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German Pages 322 Year 2008
Linguistische Arbeiten
525
Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Gereon Mller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Elisabeth Stark und Richard Wiese
Pia Bergmann
Regionalspezifische Intonationsverl'ufe im Kçlnischen Formale und funktionale Analysen steigend-fallender Konturen
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-30525-0
ISSN 0344-6727
( Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzul HI LI LI JA (-) mir=h¨ ann sogar noch=e FLURprozession LI L* H-> HI LLI do gehn wir dann [ins WILDt[al LI L* HHI LLI [
Der in der Notation des Intonationsverlaufs verwendete Pfeil (→) verweist auf ‘Spreading’ des vorangehenden Tons, d.h. die Tonh¨ohe wird auf dem angegebenen Niveau beibehalten (vgl. Kap. 2.2.2, Fußnote 27).
70 21 22 23 24 25
FR01b FR01a AL-1 FR01b
[hm:: hmhm ACH ja [was pasSIERT da [bei mir AUCH
Quelle: FR01-1162ff (aus: Peters 2006a: 423-424)
¨ Die konturtragenden Außerungen in den Zeilen 16, 18 und 19 sind nach Peters “jeweils un¨ abh¨angig von nachfolgenden Außerungen kommunikativ relevant” (ebd.: 424). Mit jeder der ¨ drei Außerungen sei der thematische Beitrag zur Situation im Stadtteil Herdern potenziell abgeschlossen und ein thematischer Wechsel m¨oglich.
4.1.2.6
Mannheim (Gilles 2005, Peters 2006a)
Auch im Mannheimerischen kommt die steigend-fallende Kontur vor. Die Auspr¨agung und tonologische Analyse des Verlaufs heben sich jedoch deutlich von den bisher beschriebenen Variet¨aten ab. Statt eines unmittelbaren Anstiegs der Tonh¨ohe nach der tiefen Nukleussilbe mit Erreichen des hohen Tonh¨ohenniveaus sp¨atestens in der Folgesilbe zur Nukleussilbe zeigt sich hier keine Abh¨angigkeit des H-Tons von der Nukleussilbe, sondern von einer postnuklearen lexikalisch betonten Silbe. Plateauf¨ormige Auspr¨agungen sind sehr selten; zumeist wird ein einsilbiger Tonh¨ohengipfel realisiert (vgl. Gilles 2005: 345). In der folgenden Abbildung erstreckt sich der nukleare Verlauf u¨ ber die Silben RUNner gflo:ge der Gesamt¨außerung “sin die bOmbe schon RUNner gflo:ge”. Nach der tiefen Nukleussilbe steigt die Tonh¨ohe bis zum postnuklearen Tonh¨ohengipfel auf der Silbe gflo: an und f¨allt zur IP-Grenze wieder auf tiefes Niveau ab.
Abbildung 4.9: Steigend-fallende Kontur im Mannheimerischen (aus: Peters 2006a.: 381)
Zur Beschreibung des Verlaufs im Mannheimerischen wird bei Gilles (2005) die Tonfolge L* H- L% angesetzt. Der H-Phrasenakzent verdeutlicht die Ausrichtung des Tonh¨ohengipfels an
71 einer lexikalisch betonten Silbe im Nachlauf. Die final tiefe Tonh¨ohe wird auf einen tiefen Grenzton zur¨uckgef¨uhrt. Im Gegensatz zu Gilles (2005) f¨uhrt Peters (2006a) den finalen Abfall auf einen tonal unspezifizierten Epiton zur¨uck, der nach H-T¨onen tiefe Tonqualit¨at annimmt. (Das Ph¨anomen des Epitons wird bei der Darstellung der k¨olnischen steigend-fallenden Konturen noch ausf¨uhrlich besprochen; siehe Kapitel 4.1.2.7) Er stellt fest, dass die Konturen mit finalem Abfall ¨ jeweils ein Aquivalent ohne die final fallende Tonh¨ohenbewegung aufweisen. Einige der untersuchten Sprecher verwenden ausschließlich Konturen ohne finalen Fall, andere verwenden nur solche mit finaler Fallbewegung und wieder andere verwenden sowohl die eine als auch die andere Auspr¨agung. Nach Peters’ Analyse stehen die Gebrauchsgewohnheiten der Sprecher nicht in Verbindung mit dem Dialektalit¨atsniveau ihrer Sprache, sondern mit ihrer regionalen Herkunft. Dies sei darauf zur¨uckzuf¨uhren, dass Mannheim an der Grenze zwischen zwei Dialektregionen liege, in deren s¨udlichem Abschnitt die final fallenden Varianten bevorzugt werden, im n¨ordlichen Teil hingegen die Varianten ohne finalen Fall. Dar¨uber hinaus l¨asst sich ein Zusammenhang des Konturengebrauchs mit verschiedenen Fragetypen feststellen, dergestalt dass Entscheidungsfragen im s¨udlichen Abschnitt mit steigend-fallender Kontur realisiert werden, Erg¨anzungsfragen hingegen mit einer anderen final fallenden Kontur (vgl. Peters 2006a: 385ff.). Grunds¨atzlich teilt Peters die steigend-fallende Kontur mit tiefer Nukleussilbe, postnuklearer H¨ohe und finalem Fall in drei Konturen ein, von denen zwei im Gegensatz zur Analyse von Gilles einen bitonalen Akzentton L*H aufweisen, eine wie auch bei Gilles einen monotonalen Akzentton L*. Bei den beiden Erstgenannten handelt es sich um eine steigendsteigend-fallende Kontur und um eine steigend-gleichbleibend-fallende Kontur. Sie heben sich gegen¨uber der Kontur mit monotonalem Akzentton durch einen schnelleren Anstieg zu hohem Tonh¨ohenniveau ab, auf das vor dem finalen Fall entweder ein gleichbleibendes Plateau oder ein nochmaliger Anstieg im Bereich einer lexikalisch betonten Silbe erfolgt. Die entsprechenden Tonfolgen lauten L*H HI LI f¨ur die steigend-steigend-fallende Kontur und L*H ØLI f¨ur die steigend-gleichbleibend-fallende Kontur. Die Tonfolge L* HI LI umschreibt die oben nach Gilles als L* H- L% beschriebene Grundkontur, die sich durch einen flacheren Anstieg zum einsilbigen Tonh¨ohengipfel auszeichnet und von Peters mit tief-steigend-fallend benannt wird. Im Gegensatz zur steigend-fallenden Kontur im Freiburgischen stehen alle steigendfallenden Konturvarianten in Mannheim im Zusammenhang mit konversationeller Weiterweisung. Der Gebrauch der Kontur signalisiert somit, dass der Sprecher beabsichtigt weiterzusprechen. Die Kontur kann dementsprechend nicht turnfinal vorkommen (vgl. Gilles 2005: 365). Peters beschreibt sie als “kommunikativ nicht unabh¨angig von einer nachfolgenden ¨ Außerung relevant” (ebd.: 394), wodurch ebenfalls ihr weiterweisender Charakter zum Ausdruck kommt. In Hinblick auf die von ihm festgestellten Konturvarianten unternimmt er eine funktionale Unterscheidung, indem er die Verl¨aufe mit bitonalem Akzentton L*H und Pla¨ teaubildung (steigend-gleichbleibend-fallend) Außerungen in sequenziellen Aufz¨ahlungen ¨ zuschreibt, die Verl¨aufe mit monotonalem Akzentton L* hingegen Außerungen, die in elaborativen Sequenzen vorkommen. F¨ur die steigend-steigend-fallende Kontur wird keine funktionale Spezifikation vorgenommen (vgl. ebd. 394ff.). ¨ Ein Beispiel f¨ur eine solche steigend-steigend-fallende Außerung im Kontext gibt der n¨achste Gespr¨achsauszug. Thematisiert werden “Verladetechniken im Hafen fr¨uher und heute”.
72 ¨ Uber Verladetechniken im Hafen fr¨uher und heute
(11)
→
01 02 03 04 05 06 07 08 09
AL-2
10 11 12
MA06b MA06a
13
AL-2
MA06a AL-2 MA06b MA06a
und die hatten wohl fr¨ uher noch SACKtr¨ ager die (-) die die SCHIFfe leer gemacht habm JA (.) dEs is schon LANG her kann [k¨ onn (...) [des sIn e paar JOH(re) ja Isch ¨ ah: kann noch ¨ ah misch erINnern wo noch sAckgut AUSgelade worre is (-) awwer seit die conTAIner kumme sin LI -> L* H HI LI ah is ja ALles in denne KISCHde drin (--) des gIbt doch (--) ¨ ah (--) von hAnd sowas ¨ uberHAUPT ni=mer hm
Quelle: MA06-737ff (aus: Peters 2006a: 394)
Im Gegensatz zu den steigend-fallenden Konturen im Freiburgischen zeigt sich hier deutlich, ¨ dass die konturtragende Außerung (Z 9) keinen konversationellen Abschluss darstellen kann. Sie ist sowohl inhaltlich als auch syntaktisch von der Folge¨außerung des Sprechers in Z 11 abh¨angig (vgl. ebd.: 394).
4.1.2.7
K¨oln (Gilles 2005, Peters 2006a)
Im K¨olnischen zeigt die steigend-fallende Kontur ein h¨oheres Vorkommen als in Mannheim oder Duisburg (s.u.). Der Verlauf wird von Gilles wie in Mannheim durch L* H- L% beschrieben, wodurch zum einen die Unabh¨angigkeit des postnuklearen Hochtons von der Nukleussilbe zum Ausdruck kommt, zum anderen die finale Tiefe wiederum auf einen tiefen Grenzton zur¨uckgef¨uhrt wird (vgl. Gilles 2005: 353ff.). Peters (2006a) geht demgegen¨uber von einem tiefen Epiton aus, der im Anschluss an hoch abschließende IPs realisiert wird und somit einen Tonh¨ohenabfall bewirkt. Der Begriff des Epitons geht auf K¨unzel & Schmidt (2001) zur¨uck, die ihn im Zusammenhang mit den mittelfr¨ankischen Tonakzenten einf¨uhren. In ihrer Studie zur Realisierung der mittelfr¨ankischen ¨ Tonakzente in interrogativen Außerungen stellen die Autoren IP-final einen leichten Abfall der Tonh¨ohe fest, der allerdings nur dann erscheint, wenn die Nukleussilbe phrasenfinal auftritt und zugleich ein TA1-Wort darstellt. Sie f¨uhren den Tonh¨ohenabfall hypothetisch auf die schnelle Anstiegsbewegung der Tonh¨ohe bei TA1-W¨ortern zur¨uck, die einen “komplexen Ausschwingvorgang der Stimmb¨ander” (437) nach sich ziehe (vgl. ebd.: 436ff.). Der finale Abfall w¨are somit artikulatorisch-phonetisch bedingt und k¨onnte kein phonologisches intonatorisches Merkmal darstellen. Auch Peters weist dem tiefen Epiton keinen phonologischen Status zu, der etwa in tonalem Kontrast zu finalen H-T¨onen stehen w¨urde. Vielmehr generalisiert Peters das Konzept
73 des Epitons und geht, unabh¨angig von Tonakzenten und Position der Nukleussilbe, davon aus, dass jeder finale Ton von einem tiefen Epiton gefolgt werde, der nur nach H-T¨onen realisiert werde. Steht zu wenig segmentelles Material f¨ur die Realisierung des Epitons zur Verf¨ugung oder liegt hohe Sprechgeschwindigkeit vor, so wird der Abfall trunkiert (vgl. Peters 2006a: 276). Durch diese Auffassung wird der phonologische Kontrast zwischen final steigend-fallenden Verl¨aufen und final steigenden Verl¨aufen aufgehoben. In Peters’ Sinne gibt es somit im K¨olnischen keine einfach steigenden Verl¨aufe, da sie alle von einem Epiton gefolgt werden. Diese Konzeptionierung hat m.E. den Nachteil, dass sie stark von der sprachlichen Oberfl¨ache abstrahiert und letztendlich nicht mehr nachvollziehbar macht, ob es sich bei den grunds¨atzlich als final fallend ausgewiesenen Verl¨aufen um einen phonetisch steigenden oder steigend-fallenden Verlauf handelt. Auch die funktionale Analyse nimmt bei Peters die generellen Konturen mit (angenommenem) Epiton als Ausgangspunkt, so dass eventuelle Unterschiede zwischen phonetisch steigenden und steigend-fallenden Konturen von vornherein nicht feststellbar sind. Weiterhin erscheint unplausibel, dass alle oberfl¨achlich steigenden Verl¨aufe im K¨olnischen auf Trunkierung zur¨uckzuf¨uhren sein sollten. Auf diesen Aspekt wird das folgende Kapitel 4.2 zur phonetischen Gestaltung der steigend-fallenden Konturen zur¨uckkommen. Abgesehen von der von Gilles (2005) abweichenden Konzeptionierung des finalen Falls stellt Peters analog zum Mannheimerischen zus¨atzlich drei verschiedene Varianten des Verlaufs heraus, die sich hinsichtlich der Anstiegsgeschwindigkeit und der Auspr¨agung der postnuklearen H¨ohe unterscheiden. Zwei Varianten weisen einen bitonalen Akzentton auf, wodurch ein steiler Anstieg der Tonh¨ohe in der Folge der Nukleussilbe zum Ausdruck gebracht wird. Die erste dieser Varianten ist durch einen weiteren Anstieg gekennzeichnet, bevor die Tonh¨ohe ab der Kopfsilbe des letzten Fußes wieder abf¨allt. Diese steigend-steigend-fallende Variante wird durch die Tonsequenz L*H HI LI bezeichnet. Als Beispiel gibt Peters den fol¨ ¨ genden Verlauf auf der Außerung “in der OFfentlischkeit”:
Abbildung 4.10: Steigend-fallende Kontur im K¨olnischen: L*H HI LI (aus: Peters 2006a: 270)
Die zweite der Varianten mit bitonalem Akzentton bleibt nach Erreichen der hohen Tonh¨ohe flach und f¨allt final zu tieferer Tonh¨ohe ab. Sie ist demnach durch ein Hochplateau gekennzeichnet und wird durch die Tonfolge L*H ØI LI umschrieben (steigend-gleichbleibend-fal-
74 ¨ ¨ lend). Die konturtragende Außerung des entsprechenden Verlaufs lautet “wenn die BLUten alle runterkommen”:
Abbildung 4.11: Steigend-fallende Kontur im K¨olnischen: L*H ØI LI (aus: Peters 2006a: 270)
Demgegen¨uber steht als dritte Variante ein Verlauf mit monotonaler Akzentsilbe. Der Anstieg nach der Nukleussilbe erfolgt hier flacher, die postnukleare Tonh¨ohe wird auf einer lexikalisch betonten Silbe (der Kopfsilbe des letzten Fußes) erreicht, von wo aus sie zur Grenze hin abf¨allt. Diese nach Peters tief-steigend-fallende Kontur gibt die Tonfolge L* HI LI wie¨ ¨ der. Der nukleare Abschnitt MObel kriejen der Gesamt¨außerung “da kOnn se hUndertmal ¨ neue MObel kriejen” weist eine zun¨achst flach tief bleibende Tonh¨ohe auf, bevor auf krie der postnukleare Tonh¨ohengipfel erreicht wird.
Abbildung 4.12: Steigend-fallende Kontur im K¨olnischen: L* HI LI (aus: Peters 2006a: 271)
Die steigend-fallende Kontur fungiert grunds¨atzlich wie auch in Mannheim als Weiterweisungssignal; sie kommt nicht turnfinal vor (vgl. Gilles 2005: 347ff.). Entsprechend der Funktionen der Mannheimer steigend-fallenden Konturen beschreibt Peters auch die K¨olner kon¨ ¨ turtragenden Außerungen als “kommunikativ nicht unabh¨angig von einer nachfolgenden Außerung relevant” (Peters 2006a: 291-292). Er stellt f¨ur die Konturen mit bitonalem Akzentton das Vorkommen in additiven Sequenzen fest, f¨ur die Kontur mit monotonalem Akzentton hingegen das Vorkommen in elaborativen Sequenzen. Dies veranschaulichen die folgenden
75 beiden Beispiele. Das erste Beispiel zeigt einen Gespr¨achsausschnitt mit steigend-fallenden Konturen mit bitonaler Akzentsilbe. Der Sprecher a¨ ußert sich zum Thema “Altern”. ¨ Uber das Altern
(12) 01
→
02 03 04
→
05
→
06 07 08 09
FF
dann sAg ich mEnsch da h¨ att die frAU (...) die AUgen zugemacht h¨ att se dat leid alles erSPART un die oma AUCH / ne (--) aber wie=ich jetz hIEr wo=isch ¨ uber FUFFzisch bin LI -> L* H HI LI (-) mein mutter die geht uff de ACHTzig an= LI -> L* H HLI =die oma uff die NEU:Nzig LI -> LL* H HLI dat is doch KLAR dat die mal gehen m¨ ussen LI -> H* L-> LI (1,0) nur dat se jetzt zerST¨ UKkelt so wird dat find isch OCH doof
Quelle: K01-218ff (aus: Peters 2006a: 292)
¨ In diesem Beispiel sind die Außerungen in Z4, Z5 und Z6 als steigend-fallend verzeichnet. ¨ Sie werden als von der Außerung in Z7 kommunikativ abh¨angig beschrieben, da sie nur “insofern relevant [sind], als sie Gr¨unde f¨ur die Aussage in Z7 liefern.” (ebd.: 292). Wie auch in Mannheim zeigt sich hier deutlich die konversationell weiterweisende Funktion der steigend-fallenden Kontur. Es ist allerdings zu beachten, dass die Analyse der Konturen als steigend-fallend teilweise der automatischen Hinzuf¨ugung des tiefen Epitons geschuldet ist, wie bereits angemerkt ¨ wurde. So ist im gegebenen Beispiel zwar die Außerung in Z 4 mit einem auch auditiv und ¨ akustisch-phonetisch steigend-fallenden Verlauf verkn¨upft, die Außerungen in den Zeilen 5 und 6 jedoch tragen eine nach H¨oreindruck und akustischer Analyse final steigende Kontur. Die funktionale Analyse der steigend-fallenden Kontur bei Gilles (2005) spricht bemerkenswerterweise gegen eine Gleichbehandlung der zur Diskussion stehenden Konturen als steigend-fallend. Seine Analyse weist die steigend-fallende Kontur in Kontexten mit sukzessiv reihender Weiterweisung aus. Sie komme dem gegen¨uber nicht bei gleichordnend reihender Weiterweisung vor, wie sie beispielsweise bei Listen oder generell der Reihung von gleichrangigen Fakten vorliegt. Hier seien vielmehr final steigend-gleichbleibende Verl¨aufe zu beobachten (vgl. Gilles 2005: 364ff.). Es l¨asst sich demzufolge eine systematische Verteilung der steigend-fallenden Kontur gegen¨uber den steigenden Konturen feststellen, die auch im obigen Beispiel nachvollziehbar ist. Dies legt nahe, auditiv und akustisch-phonetisch steigende von steigend-fallenden Verl¨aufen getrennt zu betrachten.11 11
Auch die eigene Analyse wird zeigen, dass sich die steigenden von den steigend-fallenden Konturen hinsichtlich der funktionalen Funktionen voneinander abgrenzen lassen. Siehe dazu insbesondere Kap. 4.4.1.5 und 4.4.1.6
76 Der zweite Gespr¨achsausschnitt veranschaulicht nun noch den Gebrauch der steigendfallenden Kontur mit monotonaler Akzentsilbe L*. Die Sprecherin thematisiert den schmerzlichen Verlust von Verwandten. ¨ Uber den Verlust von Verwandten
(13)
→
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AF
wenn man dann en lIEben menschen verLIEren sollte alsodat dat wIEgt dat Allet nit AUF da k¨ Onn se hUndertmal nEUe M¨ Obel kriejen LI H* L H* L H* L LL* -> HI LI neues AUto kriejen LI LL* -> HI LI (-) in dEm moment is ihnen alles eGAL LI H* L !H* LLI ne=da w¨ Urden se gerne auf alles verZICHten (2.0) und (-) ich WEESS et nit also et Is Is TRAUrig
Quelle: K01-53ff (aus: Peters 2006a: 294)
¨ Auch hier sind die konturtragenden Außerungen weiterweisend und “kommunikativ nur zu¨ sammen mit der Außerung in Z. 6 relevant.” (Peters 2006a: 294). Im Gegensatz zu den kon¨ turtragenden Außerungen im vorangegangenen Beispiel werden sie als Bestandteile einer ¨ elaborativen und nicht einer additiven Außerungssequenz beschrieben. In der Sequenz werden Elemente angef¨uhrt, die nach Ansicht der Sprecherin den Verlust eines nahe stehenden Menschen nicht aufwiegen k¨onnten.
4.1.2.8
Duisburg (Gilles 2005, Peters 2006a)
Wie f¨ur Mannheim und K¨oln wird die Duisburger steigend-fallende Kontur von Gilles (2005) durch die Tonfolge L* H- L% beschrieben. Der postnukleare Tonh¨ohengipfel ist einsilbig und an einer lexikalisch betonbaren Silbe im Nachlauf ausgerichtet. Plateaubildungen sind nicht registriert. Der Fall erreicht zumeist mittlere Tiefe. Peters (2006a) stellt zwei Varianten steigend-fallender Konturen fest, die er insofern in Beziehung zu den Konturen des Nordstandarddeutschen (NSD) setzt, als sie zu denjenigen mit hohem finalen Grenzton eine finale Fallbewegung hinzuf¨ugen. Die beiden Varianten unterscheiden sich untereinander hinsichtlich der Falltiefe: Bei der einen Variante “wird das F0-Maximum auf der Kopfsilbe des letzten Fußes der IP erreicht, und F0 f¨allt von da bis zur IP-Grenze nur leicht ab. Bei der [anderen] Variante wird das F0-Maximum wie bei der [ersten] Variante auf der Kopfsilbe des letzten Fußes erreicht, wonach F0 deutlich abf¨allt, a¨ hnlich wie im K¨olnischen.” (ebd. 333). Tief fallende IP-Grenzen kommen im Anschluss an hoch-steigende Konturen (mit hoher Nukleussilbe H*) und zweifach-steigende Konturen (mit tiefer Nukleussilbe L*) vor, flach fallende Grenzen ebenfalls im Anschluss an diese beiden Konturen und zus¨atzlich auch nach tief-steigenden Konturen (mit tiefer Nukleussilbe
77 L*). Der tiefe Fall wird durch einen zus¨atzlichen finalen L-Ton zum Ausdruck gebracht, die flach fallenden Verl¨aufe erhalten keine zus¨atzliche tonale Spezifikation. Es ergeben sich somit die Tonfolgen L* HI - f¨ur die tief-steigend-fallende Kontur, L*H HI LI bzw. L*H HI - f¨ur die zweifach-steigende Kontur und H* HI LI bzw. H* HI - f¨ur die hoch-steigende Kontur. Die zuletzt genannte hoch-steigende Kontur weist als einzige der bisher vorgestellten Konturen eine hohe Nukleussilbe H* auf. Sie geh¨ort deshalb im engeren Sinne nicht zu den nuklear steigend-fallenden Konturen und wird aus diesem Grund im Folgenden außer Acht gelassen. ¨ Funktional stehen die steigend-fallenden Außerungen in Duisburg wie auch in Mannheim ¨ und K¨oln im Zusammenhang mit konversationell weiterweisenden Außerungen (vgl. Gilles 2005: 365). Alle Varianten sind wiederum kommunikativ nicht unabh¨angig vom Folgenden relevant. Die Verl¨aufe mit bitonaler Akzentsilbe stehen, wie im K¨olnischen, im Zusammenhang mit additiven Sequenzen, die mit monotonaler Akzentsilbe hingegen mit elaborativen Sequenzen (vgl. Peters 2006a: 348ff.). Funktionale Unterschiede hinsichtlich der Falltiefe der Verl¨aufe werden nicht erw¨ahnt. ¨ Die folgende Tabelle gibt abschließend einen Uberblick u¨ ber die Verwendung und tonologische Interpretation der steigend-fallenden Verl¨aufe in den regionalen Variet¨aten des Deutschen. Es wird jeweils die Notationsweise der entsprechenden Autoren u¨ bernommen. ¨ Tabelle 4.2: Uberblick u¨ ber steigend-fallende Verl¨aufe in den regionalen Variet¨aten des Deutschen Tonologische Interpretation
Verwendung
Tirolisch
L*+H L-
¨ neutrale deklarative Außerungen
BSG
L*+H LI
¨ neutrale deklarative Außerungen
L*+H HL- L% (Gilles 2005)
¨ deklarative Außerungen konversationeller Abschluss generell unabh¨angig kommunikativ relevante ¨ Außerungen
Freiburg
Schw¨abisch
L*H HI L LI L*H HI L ØI (Peters 2006a)
bei listenartigen Aufz¨ahlungen
L*+H L% bzw. L*H L% L*+H L-L% bzw. L*H+L%
deklarative und interrogative ¨ Außerungen weiter Fokus enger Fokus bzw. S IGNIFICANT
L* H- L% (Gilles 2005) Mannheim L*H HI LI L*H ØI LI L* HI LI (Peters 2006a)
¨ deklarative Außerungen konversationelle Weiterweisung, sukzessiv-reihend generell kommunikativ nicht unabh¨angig relevant bei sequenziellen Aufz¨ahlungen bei elaborativen Sequenzen continue
78 Tonologische Interpretation
Verwendung
L* H- L% (Gilles 2005)
¨ deklarative Außerungen konversationelle Weiterweisung, sukzessiv-reihend generell kommunikativ nicht unabh¨angig relevant bei additiven Sequenzen
K¨oln L*H HI LI L*H ØI LI L* HI LI (Peters 2006a) Obers¨achsisch
bei elaborativen Sequenzen ¨ interrogative Außerungen Erwartungen hinsichtlich der Antwort
L*+H L
¨ deklarative Außerungen konversationelle Weiterweisung, sukzessiv-reihend
L* H- L% (Gilles 2005) Duisburg
generell kommunikativ nicht unabh¨angig relevant bei additiven Sequenzen bei elaborativen Sequenzen
L*H HI L* HI - (Peters 2006a)
Die Verl¨aufe lassen sich in vier Typen unterteilen, die im Folgenden anhand schematischer Abbildungen vorgestellt werden. Die Typen abstrahieren von den jeweiligen intonatorischen Systemen, die die einzelnen Autoren zu Grunde legen und stellen eine rein deskriptive Darstellung des Verlaufs dar. Tabelle 4.3: Die tonologischen Varianten des steigend-fallenden Verlaufs in (Regional-)Variet¨aten des Deutschen
- Schw¨abisch Typ 1
- Obers¨achsisch l%
l*+h
- Standarddeutsch - Tirolisch
Typ 2
- Schw¨abisch l*+h
l-
%
continue
79
- Berner Schweizerdeutsch Typ 3
- Freiburg l*+h
hl-
l%
- Mannheim - K¨oln
Typ 4
- Duisburg l*
h-
l%
Typ 1 zeichnet sich durch einen raschen Anstieg nach der tiefen Nukleussilbe und einen kontinuierlichen Abfall bis zur IP-Grenze aus. Bei Typ 2 ist die finale Tiefe demgegen¨uber an einer postnuklear betonbaren Silbe ausgerichtet; im Anschluss daran bleibt die Tonh¨ohe bis zur IP-Grenze tief. Auch Typ 3 ist durch einen raschen Anstieg zu hoher Tonh¨ohe gekennzeichnet; im Gegensatz zu den ersten beiden Typen kommt es jedoch zu einem Hochplateau. Die Tonh¨ohe f¨allt dann auf einer betonbaren Silbe im Nachlauf steil ab und wird bis zur IPGrenze tief gehalten. Typ 412 schließlich weist einen kontinuierlichen Anstieg von der tiefen Nukleussilbe bis zu einer betonbaren Silbe im Nachlauf auf; von dort f¨allt die Tonh¨ohe bis zur IP-Grenze (meist) bis auf mittlere Tiefe ab. Selten kommt diese Variante auch mit einem Hochplateau vor. Bei der k¨olnischen steigend-fallenden Kontur handelt es sich um Typ 4. Die phonetischen Varianten und Details der Ausrichtung des Tonh¨ohengipfels im Nachlauf der IP werden in den Kapiteln 4.2 und 4.3 beschrieben.
4.1.3
Nuklear steigend-fallende Konturen in anderen Variet¨aten
Final steigend-fallende Verl¨aufe werden auch f¨ur Standard- und Regionalvariet¨aten außerhalb des deutschen Sprachraums erw¨ahnt. Besonders bekannt sind hier die steigend-fallenden Verl¨aufe im Ungarischen, Rum¨anischen und Griechischen, die als Eastern European Question Tune (EEQT) zusammengefasst werden (vgl. Ladd 1996, Grice et al. 2000, K¨ugler 2004) sowie die steigend-fallenden Verl¨aufe einiger englischer Variet¨aten (vgl. Ladd 1996, Cruttenden 2 1997, Grabe 2002, Grabe et. al. 2002). W¨ ahrend es sich bei den Konturen im Englischen um ¨ deklarative Außerungen handelt, ist die Kontur in den genannten osteurop¨aischen Sprachen ¨ typisch f¨ur interrogative Außerungen. Es folgt zuerst eine knappe Darstellung der Kontur im Englischen, danach wird die EEQT vorgestellt.
12
Die tonologische Beschreibung weicht von Peters (2006a) ab, der f¨ur die Variet¨aten sowohl monoals auch bitonale Akzentt¨one vorsieht (siehe Tab. 2).
80 4.1.3.1
Variet¨aten des Englischen
Cruttenden (1997) stellt fest, dass sich die nordenglischen St¨adte prinzipiell durch einen geh¨auften Gebrauch steigender Verl¨aufe auszeichnen. Diese steigenden Verl¨aufe unterteilt er in vier Varianten, von denen zwei einen finalen Abfall der Tonh¨ohe vorsehen: der “riseplateau-slump” und der “rise-fall”. Den rise-plateau-slump charakterisiert er als “a jump-up on the unaccented syllable following the nucleus and the maintenance of this level on succeeding unaccented syllables, except that the last one or two syllables may decline slightly” (ebd.: 133). Der rise-fall hingegen wird als “a rise-fall in which the voice reaches the baseline and which is accomplished without any plateau between rise and fall” (ebd.: 133) beschrieben. W¨ahrend der steigend-fallende Verlauf ohne Plateau (rise-fall) in erster Linie dem Welsh English zugeschrieben wird, sei der steigend-fallende Verlauf mit Plateau und nur leichtem finalen Abfall (rise-plateau-slump) in den Variet¨aten von Belfast, Liverpool, Tyneside und Birmingham dominant (vgl. ebd. 133ff.). Die Beschreibung des rise-plateau-slump legt eine Abh¨angigkeit des Anstiegs von der tiefen Nukleussilbe nahe, da er offenbar in ihrer unmittelbaren Folge auftritt. Aus der Beschreibung des rise-fall hingegen geht nicht hervor, in welchem Abstand zur Nukleussilbe der Anstieg erfolgt. Ladd (1996) widmet sich detailliert dem steigend-fallenden Verlauf in Glasgow, den er als “a low valley immediately preceding the accented syllable and a high peak in the following unstressed syllable, followed by a gradual fall to the utterance-final low” (ebd. 124) beschreibt. Die Beschreibung entspricht einem steigend-fallenden Verlauf ohne Plateau, was die folgende Abbildung aus Ladd (1996) veranschaulicht.
Abbildung 4.13: Steigend-fallende Kontur in Glasgow (aus: Ladd 1996: 124)
Ladd f¨uhrt zun¨achst aus, dass die Ausrichtung des L- und H-Tons des Anstiegs unmittelbar vor bzw. nach der Nukleussilbe Probleme bei der tonologischen Analyse der T¨one mit sich bringe. Der L-Ton ist nicht eindeutig mit der betonten Silbe verkn¨upft, so dass es sich nicht um einen “starred tone” im engen Sinne handele. In Anbetracht der Tatsache, dass auch das
81 Griechische bei pr¨anuklearen Akzenten eine a¨ hnliche Ausrichtung der T¨one aufweise, die demzufolge nicht ungew¨ohnlich sei, wenn auch abweichend vom nordamerikanischen Standardenglisch, entscheidet Ladd sich letztendlich doch f¨ur einen L*-Ton. Zur Beschreibung der gesamten Kontur zieht Ladd die Tonfolge L*..H..L% heran. Er r¨aumt allerdings ein, dass das Alignment des L- und des H-Tons generell sehr variabel sei, so dass m¨oglicherweise auch Kombinationen wie H*..H..L% oder L*+H..H..L% denkbar seien. Weiterhin sei unklar, ob in der Variet¨at von Glasgow ein intonatorischer Unterschied zwischen Aussagen und Fragen bestehe (vgl. Ladd 1996: 144ff.). Die neueren Untersuchungen von Grabe et al., die im Rahmen des IViE-Projekts durchgef¨uhrt wurden, best¨atigen den steigend-fallenden Verlauf mit Plateau in deklarativen Aussagen in der Variet¨at von Belfast. In deklarativen Fragen (d.h. Fragen mit Verbzweitstellung) kommt dieser Verlauf auch in Dublin vor. Liverpool hingegen findet in diesem Zusammenhang keine Erw¨ahnung, obwohl es ebenfalls zu den untersuchten St¨adten z¨ahlte. Auch Cardiff, das nach Cruttenden (1997) einen steigend-fallenden Verlauf ohne Plateau aufweisen sollte, wird nicht erw¨ahnt. Tonologisch wird der Verlauf durch die Tonfolge L*H L% umschrieben, wobei L*H einen bitonalen Akzentton darstellt (vgl. Grabe 2002, Grabe et al. 2002). In den Beschreibungen des Englischen wird der H-Ton demzufolge wie im Standarddeutschen und den meisten deutschsprachigen Variet¨aten als abh¨angig von der Nukleussilbe dargestellt.
4.1.3.2
Eastern European Question Tune (EEQT)
Die ausf¨uhrlichste neuere Behandlung der steigend-fallenden Konturen in den osteurop¨aischen Sprachen stellt Grice et al. (2000) dar. Sie widmen sich der EEQT vor dem Hintergrund der Diskussion um den Status von Phrasenakzenten in der intonatorischen Phonologie. Unter Phrasenakzenten sind Grenzt¨one zu verstehen, die “an additional or alternative tendency to co-occur with a stressed syllable or some other designated tone-bearing unit” (Grice et al. 2000: 144) aufweisen (vgl. Kapitel 4.3). Deutlich wird dies an einer steigend-fallenden Kontur, die im Standard-Ungarischen, -Rum¨anischen und -Griechischen sowie einigen ihrer Nicht-Standard-Variet¨aten vorkommt. Sie zeichnet sich durch eine tiefe Nukleussilbe aus, auf die ein Anstieg zu hoher Tonh¨ohe mit anschließendem Abfall zur Grenze folgt (vgl. ebd.: 148ff.). Wie zum Teil auch in den oben beschriebenen Variet¨aten des Mannheimerischen, K¨olnischen und Duisburgischen weist der Anstieg nun keine Abh¨angigkeit zur tiefen Nukleussilbe auf. Sofern der nukleare Abschnitt lang genug ist, ist er statt dessen entweder fest mit der vorletzten Silbe der Intonationsphrase verkn¨upft (Standard-Ungarisch), oder er ist an einer postnuklearen, lexikalisch betonten Silbe ausgerichtet (Standard-Griechisch, Standard-Rum¨anisch). Die Nicht-Standard-Variet¨aten verhalten sich zum Teil anders als ihre ¨ standard sprachlichen Aquivalente. So richtet das Zypriotische Griechisch beispielsweise den postnuklearen Tonh¨ohengipfel generell an der letzten oder vorletzten Silbe der Intonationsphrase aus, unabh¨angig von einer eventuell vorhandenen lexikalisch betonten Silbe (vgl. ebd. 153ff.). Generell zeigt sich jedoch die Tendenz, den H-Ton unabh¨angig von der Nukleussilbe zur rechten Phrasengrenze hin auszurichten, so dass in allen F¨allen von einem Phrasenakzent gesprochen wird. Die Tonfolge wird deshalb als L* H- L% angegeben.
82 Interessant ist weiterhin, dass sowohl das transsilvanische Rum¨anisch als auch das Ungarische offenbar ausschließlich plateauf¨ormige Auspr¨agungen der steigend-fallenden Kontur aufweisen. Auf die tiefe Nukleussilbe erfolgt ein sofortiger Anstieg zu hoher Tonh¨ohe, die bis zum Abstieg hoch gehalten wird. W¨ahrend der Tonh¨ohenabfall im transsilvanischen Rum¨anisch mit einer postnuklear betonten Silbe verkn¨upft ist, richtet er sich im transsilvanischen Ungarisch an der vorletzten Silbe der IP aus. Die Plateaubildung wird nichtsdestotrotz vollst¨andig auf einen H-Phrasenakzent zur¨uckgef¨uhrt und nicht etwa durch einen zus¨atzlichen H-Ton beschrieben, der den fr¨uhen Anstieg zu hoher Tonh¨ohe gew¨ahrleisten k¨onnte. Dies steht vor dem Hintergrund des Bestrebens, sowohl die Auspr¨agung mit Plateau als auch die Auspr¨agung ohne Plateau auf eine gemeinsame Tonfolge zur¨uckzuf¨uhren. Der Beginn des Plateaus wird deshalb auf einen kopierten H-Phrasenakzent zur¨uckgef¨uhrt (vgl. ebd. 158ff.). Auch f¨ur die steigend-fallende Kontur mit Plateau gilt deshalb die Tonfolge L* H- L% (siehe Kapitel 4.3 zur tonologischen Analyse der steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen). Die vorangegangene Darstellung hat alle vorliegenden Beschreibungen der steigend-fallenden Verl¨aufe in deutschsprachigen Variet¨aten und exemplarisch einige Vorkommen in anderen Variet¨aten zusammengefasst. Es ist nat¨urlich nicht auszuschließen, dass die Kontur auch in anderen, hier nicht beschriebenen Variet¨aten auftritt, die in der bisherigen Forschungsliteratur noch nicht erfasst werden. Es hat sich gezeigt, dass die Verl¨aufe trotz oberfl¨achlicher ¨ Ahnlichkeit unterschiedliche tonologische Interpretationen nach sich ziehen k¨onnen und auch mit unterschiedlichen Funktionen verkn¨upft sein k¨onnen. Allen gemeinsam ist die Annahme einer tiefen Akzentsilbe. Die postnukleare Tonh¨ohe wird entweder als hoher Trailington, hoher Phrasenakzent oder eine Kombination aus beidem aufgefasst. F¨ur den finalen Abfall wird entweder ein finaler tiefer Grenzton, eine Kombination aus tiefem Phrasenakzent und tiefem Grenzton oder ein tiefer Epiton verantwortlich gemacht. Der n¨achste Abschnitt beschreibt die phonetische Variation der steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen.
4.2 Phonetische Varianten Die untersuchten 350 steigend-fallenden Verl¨aufe im K¨olnischen variieren phonetisch hinsichtlich der H¨ohe und Auspr¨agung der Nukleussilbe, hinsichtlich der Anstiegsbewegung unmittelbar nach der Nukleussilbe und hinsichtlich der Tiefe des finalen Falls. Die Nukleussilbe kann tief oder auch mittelhoch realisiert werden. Dar¨uber hinaus kann sie sich durch einen flachen Verlauf oder eine mehr oder weniger steile Anstiegsbewegung auszeichnen. Sowohl bei flachem als auch bei steigendem Verlauf kann ein tiefer oder mittel hoher H¨oreindruck vorliegen. Bei der Anstiegsbewegung nach der Nukleussilbe lassen sich kontinuierliche gegen¨uber sprunghaften Anstiegen sowie flachere (flach bleibende) gegen¨uber steileren Verl¨aufen feststellen. Der finale Fall schließlich kann tief, mittel tief oder hoch enden. Dar¨uber hinaus kommt der steigend-fallende Verlauf mit plateauartiger und mit einsilbiger Auspr¨agung des postnuklearen Tonh¨ohengipfels vor (siehe auch Kap. 4.1, 4.3). Die phonetische Variation ist bei beiden Auspr¨agungsformen gleichermaßen gegeben.
83 Grunds¨atzlich ist zu fragen, ob die phonetische Variation durch sprachliche Faktoren bedingt ist. So ist beispielsweise denkbar, dass die Tiefe des finalen Falls mit dem zur Verf¨ugung stehenden segmentellen Material zusammenh¨angt. Auf diesen Aspekt wurde im vorangegangenen Abschnitt im Zusammenhang mit der Trunkierung des Epitons nach Peters verwiesen. Wie unten noch weiter ausgef¨uhrt wird, ist es außerdem nicht ausgeschlossen, dass die H¨ohe und Auspr¨agung der Nukleussilbe im Zusammenhang mit den mittelfr¨ankischen Tonakzenten steht, die von zwei Sprechern m¨oglicherweise noch realisiert werden (vgl. Peters 2006a: 278ff.). In diesem Abschnitt werden nun die oben genannten Variationsparameter anhand von Beispielen vorgestellt und in ihrer Vorkommensh¨aufigkeit beschrieben. Es wird außerdem diskutiert, ob die Variation auf sprachliche Faktoren zur¨uckzuf¨uhren ist.
4.2.1
Variation der Nukleussilbe
Nach Gilles (2005) u¨ berwiegen bei den steigend-fallenden Konturen im K¨olnischen flach ausgepr¨agte Nukleussilben. Dies wird durch das hier untersuchte Korpus best¨atigt. Einen Verlauf mit flach ausgepr¨agter Nukleussilbe veranschaulicht die folgende Abbildung (Abb. 4.14). 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
die mAUer vom
BAHN
0
ge
h
l
län
de 1.18789
Time (s)
Abbildung 4.14: k06-241-a, flache Nukleussilbe
Die Nukleussilbe BAHN ist tief und flach. Es folgt ein kontinuierlicher Anstieg zum postnuklearen Tonh¨ohengipfel auf l¨an, bevor die Tonh¨ohe abschließend auf maximal tiefes Niveau f¨allt. Die plateauartige Auspr¨agung der Nukleussilbe kann leicht fallend, leicht steigend oder, wie in der obigen Abbildung, g¨anzlich flach sein. Steil steigende Verl¨aufe sind gegen¨uber den flachen sehr selten. Einen typischen steil steigenden Beleg zeigt das folgende Bild (Abb. 4.15). Auf der Nukleussilbe WA steigt die Tonh¨ohe steil an. Sie steigt daraufhin bis zum Tonh¨ohengipfel auf he weiter steil an und f¨allt schließlich auf mittleres Niveau. Die wahrgenommene Tonh¨ohe der Nukleussilbe ist mittel hoch.
84 400
Pitch (Hz)
300
200 m
sEtzt man (–) n
WA
h
gn
he
m
ber
drun
0
ter 1.88941
Time (s)
Abbildung 4.15: bb95z-423-sbr, steil steigende Nukleussilbe
¨ Der Ubergang zwischen steil steigenden und nur leicht steigenden Verl¨aufen in der Nukleussilbe kann fließend sein. Die beiden oben abgebildeten Verl¨aufe (Abb. 4.14, 4.15) repr¨asentieren in dieser Hinsicht Extrempole. Die folgende Abbildung zeigt hingegen einen weniger deutlichen Fall, bei dem der Anstieg nicht so steil ist wie im vorherigen Beispiel. 400
Pitch (Hz)
300
200 m
fängt an
RO
dn
h
l
kir
schen
0
1.365 Time (s)
Abbildung 4.16: k07-1552-a, Nukleussilbe steil steigend m. Vorb.
¨ Mit ca. 70 Hz werden in der Nukleussilbe etwa ein Drittel des Gesamtranges der Außerung ¨ durchschritten, in der vorangegangenen Außerung sind es mit ca. 80 Hz gut die H¨alfte des ¨ Außerungsumfangs. In Abb. 4.15 deutet sich zudem eine leicht konkave Bewegung an, die in Abb. 4.16 nicht vorliegt. Beide Nukleussilben sind offen und weisen einen Langvokal im Silbenkern auf. Es ist also auszuschließen, dass die unterschiedlich steilen Anstiegsbewegungen in der Nukleussilbe durch das zugrundeliegende segmentelle Material bedingt werden. Von allen 350 steigend-fallenden Belegen weisen 317 Belege flache Auspr¨agungen des Nukleussilbenverlaufs auf, in nur 23 F¨allen wird die Nukleussilbe steil steigend realisiert. 10 Verl¨aufe in der Nukleussilbe wurden als steil steigend unter Vorbehalt eingestuft. Diese Verteilung verdeutlicht die starke Tendenz, die Nukleussilbe der steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen flach zu realisieren.
85 Hinsichtlich der Tonh¨ohe der Nukleussilbe stellt Gilles (2005) fest, dass sie u¨ berwiegend tief realisiert werde, seltener auch auf mittlerem Tonh¨ohenniveau. Das vorliegende Korpus setzt sich mit 126 mittel hohen Nukleussilben immerhin zu einem guten Drittel aus Nukleussilben auf mittlerem Niveau und zu zwei Dritteln aus Nukleussilben auf tiefem Niveau zusammen. Prototypen dieser beiden Auspr¨agungen zeigen die folgenden beiden Abbildungen (Abb. 4.17, 4.18), deren nuklearer Abschnitt sich jeweils u¨ ber 4 Silben erstreckt. Das erste Bild veranschaulicht einen Verlauf mit tiefer Nukleussilbe, das zweite einen Verlauf mit mittel hoher Nukleussilbe. Die mittel hohe Nukleussilbe ist in diesem Fall flach ausgepr¨agt. In einigen F¨allen wurden jedoch auch steigende Nukleussilben als mittel hoch eingestuft, sofern der H¨oreindruck dies nahe legte (vgl. Abb. 4.15, 4.16). 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
der rIschter wollte dann=ene
BRÜ
0
cke
h
l
bau
en 2.00301
Time (s)
Abbildung 4.17: k06-2186-a, tiefe Nukleussilbe
Abbildung 4.18: k07-1366-a, mittel hohe Nukleussilbe
86 4.2.1.1
Exkurs: Einfluss der Tonakzente?
Peters (2006a) diskutiert sowohl die H¨ohe als auch die Verlaufsauspr¨agung der Nukleussilbe im Zusammenhang mit den mittelfr¨ankischen Tonakzenten im K¨olnischen.13 Seiner Analyse liegt zum Teil das gleiche Korpus zugrunde wie den Analysen der vorliegenden Arbeit. Er stellt fest, dass die hier als fv und fm bezeichneten Sprecher bestimmte Variationen bei dem Verlauf der Nukleussilbe produzieren, die als Reflexe der Tonakzente gedeutet werden k¨onnen. Diese Varianten sollen im Folgenden kurz erl¨autert werden. Wie bereits im vorangegangenen Abschnitt beschrieben wurde, geht Peters f¨ur das K¨olnische grunds¨atzlich von zwei steigend-fallenden Konturvarianten mit bitonalem Akzentton L*H und einer Konturvariante mit monotonalem Akzentton L* aus. Diese beiden Varianten zeigen ein unterschiedliches Verhalten, wenn ihre Nukleussilbe zugleich ein potenzieller Tr¨ager von TA1 bzw. TA2 ist. Phonetisch deutlicher ist die Beeinflussung durch die Tonakzente offenbar bei den Varianten mit bitonalem Akzentton. Hier zeigt sich bei m¨oglicherweise durch TA1 gepr¨agten W¨ortern eine steil steigende Nukleussilbe (s. Abb. 4.19), bei TA2-W¨ortern hingegen eine flach ausgepr¨agte Nukleussilbe (s. Abb. 4.20). Folgt der postnukleare Tonh¨ohengipfel unmittelbar auf die Nukleussilbe, so wird diese unter Einfluss von TA2 auf mittel hohes Niveau angehoben (s. Abb. 4.21), unter Einfluss von TA1 bleibt der steile Verlauf auf der Nukleussilbe unver¨andert.
Abbildung 4.19: Steigend-fallende Kontur (mit L*H); steil steigende Nukleussilbe (aus: Peters 2006a: 284)
Die ersten drei Abbildungen veranschaulichen Auspr¨agungen der steigend-fallenden Kontur mit L*H-Akzent. Abbildung 4.19 zeigt einen steilen Anstieg in der Nukleussilbe (Variante A bei Peters), Abbildung 4.20 hingegen eine flache Auspr¨agung der Nukleussilbe (Variante B). Im dritten Beispiel (Variante B) folgt unmittelbar auf die Nukleussilbe der postnukleare Tonh¨ohengipfel, die Nukleussilbe ist mittel hoch. Es handelt sich in allen F¨allen um ¨ Außerungen des Sprechers fv. Peters schreibt hierzu: “Der Kontrast zwischen Variante A und Variante B l¨asst sich bei Akzentsilben mit mindestens zwei sonoranten Moren als Tonakzentkontrast interpretieren, wobei Variante A Akzent 1 im K¨olner Stadtdialekt entspricht und Variante B Akzent 2.” (ebd.: 285). 13
Zu den Tonakzenten im K¨olnischen siehe auch Kap. 3.1.2.
87
Abbildung 4.20: Steigend-fallende Kontur (mit L*H); tiefe, flache Nukleussilbe (aus: Peters 2006a: 284)
Abbildung 4.21: Steigend-fallende Kontur (mit L*H); mittel hohe, flache Nukleussilbe (aus: Peters 2006a: 285)
Bei der Konturvariante mit monotonalem Akzentton lassen sich nach Peters bei TA1-W¨ortern keine Ver¨anderungen gegen¨uber der Realisierung ohne TA feststellen, die Nukleussilbe wird also flach realisiert. Bei TA2-W¨ortern kommt es hier im Gegensatz zu den TA2-W¨ortern bei den Varianten mit bitonalem Akzentton nicht zur Erh¨ohung der Nukleussilbe auf mittleres Niveau; sie wird hier mit gew¨ohnlichem tiefem Plateau realisiert. Gegen¨uber der L*-Variante mit TA1 hebt sie sich durch eine st¨arkere Dehnung der Nukleussilbe und einen langsameren Anstieg zur postnuklearen Tonh¨ohe ab. F¨ur die Varianten der L*-Konturen unterstreicht Peters ausdr¨ucklich, dass nicht mit Sicherheit von einer Verursachung durch die Tonakzente ausgegangen werden k¨onne: “Die Zuordnung von Variante A und Variante B zu Akzent 1 und Akzent 2 des Stadtdialekts wird durch die vorhandenen Daten zwar nahe gelegt, f¨ur eine verl¨assliche Einsch¨atzung ist die Anzahl der Belege jedoch zu gering.” (ebd.: 288). Auf der Grundlage der eigenen Analyse kann die Beeinflussung des Tonh¨ohenverlaufs durch die Tonakzente noch weiter beleuchtet werden. Zun¨achst zur mittel hohen Realisierung der Nukleussilbe: Nach Peters kommt sie bei L*HKonturen unter Einfluss von TA2 und mit postnuklearem Tonh¨ohengipfel auf der Folgesilbe zur Nukleussilbe vor (siehe Abb. 4.21). Diese Beobachtung von Peters stimmt allerdings
88 mit der hier durchgef¨uhrten Untersuchung nicht u¨ berein. Wie bereits oben erw¨ahnt wurde, zeichnen sich etwa ein Drittel (n=126) aller steigend-fallenden Konturen durch eine mittel hohe Nukleussilbe aus. 112 davon sind zus¨atzlich auch flach ausgepr¨agt. Das Beispiel (4.18) verdeutlicht allerdings, dass solch mittel hohe, flache Nukleussilben auch dann vorkommen, wenn der postnukleare Tonh¨ohengipfel nicht unmittelbar auf die Nukleussilbe folgt. Insgesamt kommen 47,6% der flachen, mittel hohen Nukleussilben bei Verl¨aufen vor, bei denen der Tonh¨ohengipfel direkt auf die Nukleussilbe folgt. Der Rest ist bei Verl¨aufen festzustellen, die einen gr¨oßeren Abstand zwischen Nukleussilbe und Tonh¨ohengipfel aufweisen. Dar¨uber hinaus finden sich mittel hohe Nukleussilben nicht nur bei den Sprechern fv und fm, sondern auch bei anderen Sprechern, die von Peters nicht als Sprecher mit noch aktiv produzierter Tonakzentdistinktion ausgewiesen sind. Es lassen sich außerdem mittel hohe Nukleussilben vor postnuklearem Gipfel feststellen, die nur eine sonorante More aufweisen (z.B. IS (von sein)), was der Mindestvoraussetzung von zwei sonoranten Moren f¨ur das Tonakzentvorkommen widerspricht. ¨ Ahnliches gilt f¨ur die steil steigenden Verl¨aufe (siehe Abb. 4.19). Auch sie kommen zum Teil bei Sprechern vor, die die Tonakzente h¨ochstwahrscheinlich nicht mehr realisieren und in zumindest einem Fall auch bei einer Nukleussilbe mit nur einer sonoranten More (WES in westernfilm). Die hier gemachten Beobachtungen deuten darauf hin, dass die phonetischen Varianten der Nukleussilbe nicht notwendigerweise auf einen Zusammenfall mit den Tonakzenten zur¨uckzuf¨uhren sind. Zwar ist es nicht auszuschließen, dass einige Realisierungen tats¨achlich im Zusammenhang mit den Tonakzenten stehen, die Produktion der entsprechenden Varianten durch Sprecher ohne aktive Tonakzentdistinktion und in abweichenden phonetischen Kontexten sprechen jedoch daf¨ur, dass die beschriebene phonetische Variation der Nukleussilbe auch ohne Tonakzentvorkommen gegeben ist.
4.2.2
Variation der Anstiegsbewegung
Gilles (2005) beschreibt die Anstiegsbewegung zur postnuklearen Tonh¨ohe im K¨olnischen als “mehr oder weniger kontinuierlichen Anstieg [...], der sich je nach L¨ange des Nukleus u¨ ber mehrere Silben erstrecken kann.” (348). Da er die Nukleussilbe u¨ berwiegend als flach charakterisiert, wird der Beginn der Anstiegsbewegung f¨ur den Nachlauf angesetzt. Peters (2006a) stellt unterschiedliche Verlaufsformen der Anstiegsbewegung fest, die sich in seiner Unterscheidung in einen monotonalen und einen bitonalen Akzentton niederschlagen. Konturen mit bitonalem Akzentton L*H zeichnen sich durch eine fr¨uhere Anstiegsbewegung aus als Konturen mit monotonalem L*-Akzent (ebd.: 271). Sowohl Peters als auch Gilles konstatieren somit eine Variabilit¨at der Anstiegsbewegung. Auch die Untersuchung des vorliegenden Korpus best¨atigt, dass die Anstiegsbewegung der steigend-fallenden Kontur variiert. Es kommen zu etwa gleichen Teilen flache und steile Anstiegsbewegungen vor, die jeweils sowohl kontinuierlich als auch “gesprungen” verlaufen k¨onnen. Die folgenden vier Abbildungen veranschaulichen die m¨oglichen Kombinationen.
89 Der erste Verlauf ist steil und kontinuierlich steigend (Abb. 4.22), der zweite hingegen steil und sprunghaft steigend (Abb. 4.23). Gegen¨uber diesen steilen Anstiegs- oder Sprungbewegungen zeigen die n¨achsten beiden Abbildungen flachere Verl¨aufe. Im ersten Beispiel handelt es sich um einen flachen, kontinuierlichen Verlauf (Abb. 4.24), im zweiten um einen flachen, “gesprungenen Anstieg” (Abb. 4.25).
400
Pitch (Hz)
300
200
150 l
bei Uns hier wat
HO
len
h
l
woll
te
0
1.2851 Time (s)
Abbildung 4.22: k06-1549-i, Steiler kontinuierlicher Anstieg
250 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
weil
BOH
nen
0
h
m
ka
ffee 1.02673
Time (s)
Abbildung 4.23: k06-422-a, Steiler gesprungener Anstieg
Die Steilheit der Anstiegsbewegung h¨angt nicht notwendig mit der Silbenanzahl des Nukleus zusammen. Sowohl lange als auch kurze Nuklei bzw. große und kleine Abst¨ande zwischen Nukleussilbe und postnuklearem Tonh¨ohengipfel weisen steile und flache Anstiegsbewegungen auf. Die sprunghaften oder stufenartigen Anstiege kommen erwartungsgem¨aß nach flachen Nukleussilben vor und hier vor allem dann, wenn die Silbengrenze nicht sonorant ist ¨ und/oder ein ungespannter Vokal als Silbenkern vorliegt (z.B. GLUCKSf¨ alle, STADTanzeijer). Dies ist sicherlich auf das fehlende sonorante Material f¨ur eine gleitende Anstiegsbewegung zur¨uckzuf¨uhren.
90 250 200
Pitch (Hz)
150
100
70 m
n bin mit EInem jahr hier nach
KÖLN
je
h
m
zo
gen
0
2.04971 Time (s)
Abbildung 4.24: k07-4197-a, flacher kontinuierlicher Anstieg.
200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
vom
h fm
WEIH
nachts
0
jeld 0.865093
Time (s)
Abbildung 4.25: k03-459-ff, Anstieg flach gesprungen
¨ Es ist wiederum anzumerken, dass die Uberg¨ ange zwischen den phonetischen Varianten fließend verlaufen. Die dargestellten Belege verk¨orpern prototypische Auspr¨agungen. Dies stellt m.E. auch ein Problem f¨ur die kategorische Unterscheidung in L*-Konturen und L*HKonturen bei Peters dar. Zwar gibt es eindeutige F¨alle wie beispielsweise den Verlauf in Abb. 4.25, der auch in der Folgesilbe zur Nukleussilbe flach bleibt und so auf einen monotonalen Akzentton schließen l¨asst. Ebenso legt der steile Anstieg in Abb. 15 einen bitonalen Akzentton L*H nahe. Zahlreiche Belege machen jedoch eine Entscheidung f¨ur einen mono- oder bitonalen Akzentton extrem schwierig. So zeigt der Beleg in Abb. 4.17 einen deutlichen Anstieg in der Folgesilbe zur Nukleussilbe, bevor in der darauf folgenden Silbe der postnukleare Tonh¨ohengipfel erreicht wird. Dennoch ist unklar, ob dieser Anstieg auf den H-Ton eines bitonalen Akzenttons zur¨uckzuf¨uhren sein sollte oder als einfache Interpolation zwischen einer tiefen monotonalen Akzentsilbe und dem folgenden postnuklearen H-Ton aufzufassen ist. Dies gilt auch f¨ur das Beispiel (Abb. 4.22) und das noch folgende Beispiel (Abb. 4.31) sowie f¨ur etliche andere Belege im Korpus. Besonders problematisch gestaltet sich die Zuordnung, wenn der postnukleare Tonh¨ohengipfel unmittelbar in der Folgesilbe der Nukleussilbe vor-
91 liegt, da die Folgesilbe hier zwangsl¨aufig durch einen Anstieg gekennzeichnet ist. Dies ist bei der Mehrzahl der dreisilbigen Belege und bei allen zweisilbigen Belegen der Fall. Die Unterschiede in der Anstiegsbewegung werden deshalb im Folgenden als graduell aufgefasst, wobei die Extrempole des flach bleibenden Verlaufs und des steil steigenden Verlaufs durchaus existieren. Im Zusammenhang mit der funktionalen Analyse (Kap. 4.4) wird nochmals auf die kategorische Unterscheidung von Peters eingegangen, da er f¨ur die beiden Konturvarianten unterschiedliche konversationelle Funktionen annimmt.14 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Konturen mit plateauartiger Auspr¨agung des Tonh¨ohengipfels sowohl steile als auch flache Anstiegsbewegungen aufweisen. Dies widerspricht der Beobachtung von Peters (2006a), nach der die Plateaubildung nur bei Konturen mit bitonaler Akzentsilbe vorkommt (vgl. ebd. 270ff.). Die folgende Abbildung veranschaulicht demgegen¨uber einen Verlauf, der als prototypischer Vertreter einer flach bleibenden Anstiegsbewegung zu betrachten ist (Abb. 4.26). 400
Pitch (Hz)
300
200
150 l
und als die
WÄH
h
rungs
re
form
h fm
dann
kam
0
1.41798 Time (s)
Abbildung 4.26: k07-4265-a, Anstieg flach bleibend mit Plateaubildung
Die Folgesilbe zur tiefen Nukleussilbe bleibt flach. Es kommt dann zu einem stufenartigen Anstieg zum postnuklearen Hochplateau, das sich u¨ ber drei Silben erstreckt. Der finale Fall setzt in der letzten Silbe der IP ein. Verl¨aufe wie diese sprechen dagegen, dass die Anstiegsbewegung von der Nukleussilbe abh¨angt, wie dies bei einem bitonalen Akzentton zu erwarten w¨are. Dies wird im n¨achsten Abschnitt zur tonologischen Interpretation des postnuklearen Gipfels diskutiert (siehe Kap. 4.3).
14
Das Problem der kategorischen Unterscheidung der Konturvarianten spielt auch f¨ur die Diskussion der durch m¨ogliches Tonakzentvorkommen verursachten Varianten eine Rolle, da Peters hier von unterschiedlichen Effekten ausgeht, je nachdem, ob es sich um L*- oder L*H-Konturen handelt. Da bereits die Entscheidung f¨ur oder gegen einen mono- bzw. bitonalen Verlauf h¨aufig schwer f¨allt, bereitet es umso mehr Probleme, dievorkommenden phonetischen Varianten zuverl¨assig auf Tonakzente zur¨uckzuf¨uhren.
92 4.2.3
Variation der Falltiefe
Die finale Fallbewegung ist nach Gilles (2005) und Peters (2006a) u¨ berwiegend als Fall auf mittleres Tonh¨ohenniveau ausgepr¨agt. Fallbewegungen bis zur maximalen Tiefe werden hingegen als selten eingestuft. F¨ur die vorliegende Untersuchung wurde eine dreistufige Kategorisierung in minimal, mittel und maximal tief fallende Verl¨aufe vorgenommen. Die Grenze wurde als tief eingestuft, wenn das Tonh¨ohenniveau in etwa dem des tiefsten Punkts der IP entspricht, was in den meisten F¨allen die Nukleussilbe oder bei mittel hohen Nukleussilben die pr¨anukleare Silbe ist. Dies veranschaulicht die folgende Darstellung eines maximal tief fallenden Verlaufs (Abb. 4.27): 250 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
TACH
zu
h
l
sam
en
0
0.65445 Time (s)
Abbildung 4.27: k06-742-a, Grenze maximal tief
Einen Beleg mit mittlerer Falltiefe veranschaulicht die folgende Abbildung (Abb. 4.28). Die Fallbewegung ist deutlich ausgepr¨agt, erreicht jedoch nicht das tiefe Niveau der Nukleussilbe. 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
da werden am tAch tAUsendzweihundert 0
AU
hm
tos
ge
baut 2.15945
Time (s)
Abbildung 4.28: k03-495-ff, Grenze mittel tief
Abbildung (4.29, siehe n¨achste Seite) zeigt einen steigend-fallenden Verlauf mit nur minimal fallender Tonh¨ohenbewegung am IP-Ende. Die Fallbewegung ist dennoch deutlich als solche h¨orbar.
93 200
Pitch (Hz)
150
100
70 l
janz
je
HEIM
0
h fm
nis
voll 1.0065
Time (s)
Abbildung 4.29: k06-1681-a, Grenze minimal tief
Im Korpus der 350 steigend-fallenden Belege weisen 102 Belege maximale Tiefe auf, 165 Belege mittlere Tiefe und 83 Belege minimale Tiefe. Wie auch Gilles (2005) und Peters (2006a) feststellen, ist der Abfall in die maximale Tiefe gegen¨uber den minimal und mittel tief fallenden Verl¨aufen somit deutlich seltener. Grunds¨atzlich ist f¨ur die Realisierung des finalen Falls ein Minimum an segmentellem Material erforderlich. Ist dies nicht gegeben, kommt es zur Trunkierung der Fallbewegung. Gilles veranschlagt mehrere sonorante Segmente (wie in [fi:na:]) oder dehnbare Segmente (wie in [pe:g@l]) als Minimum f¨ur die Fallbewegung. Auch Peters (2006a) schreibt, dass es zur Trunkierung komme, sobald die finale Silbe mit H-Ton “nur einen kurzen stimmhaften Abschnitt aufweist.” (ebd.: 276). Bei der vorliegenden Analyse hat sich eine More pro Ton als minimale Anforderung f¨ur die Realisierung der Kontur herausgestellt. Die Fallbewegung kann so auch auf offener Reduktionssilbe wie in [ti:K@:] realisiert werden, wenn diese gedehnt ist. Auch ein einsilbiger Nukleus mit steigend-fallender Kontur ist belegt. Der Silbenreim besteht aus einem gedehnten Diphthong, so dass drei Moren zur Realisierung der T¨one vorliegen: [mE.k5.KaI:]. (Der Silbenonset wird im Deutschen f¨ur gew¨ohnlich nicht zum Silbengewicht hinzu gez¨ahlt (vgl. Auer 1991a: 11ff.)). Diese Beobachtung steht in Einklang mit der Annahme, dass im K¨olnischen die More als tontragende Einheit fungiert (vgl. Schmidt 2002: 222). Steigend-fallende Konturen mit weniger zugrundeliegendem segmentellen Material kommen nicht vor (vgl. hierzu auch Kapitel 4.3.2). Wie die folgenden beiden Abbildungen veranschaulichen, l¨asst sich kein zwingender Zusammenhang zwischen der Tiefe des Falls und dem zur Verf¨ugung stehenden Material feststellen. Der erste Beleg (Abb. 4.30) zeigt einen zweisilbigen Nukleus mit silbischem Nasal in IP-finaler Position. Die Fallbewegung erreicht trotz des geringen Materials maximale Tiefe. Demgegen¨uber zeigt die n¨achste Abbildung (4.31) einen viersilbigen Beleg, bei dem der H-Ton auf der vorletzten Silbe lokalisiert ist. Dennoch ist das finale Tonh¨ohenniveau nur minimal tief. Dies verdeutlicht, dass die Falltiefe nicht vollst¨andig durch das vorhandene segmentelle Material bedingt ist.
94 400
Pitch (Hz)
300
200
150
isch kAnn nisch (heut) anfangen zu
l
hl
KO
chen
0
1.6536 Time (s)
Abbildung 4.30: k01-2637-ft, Grenze maximal tief (auf zwei Silben)
400
Pitch (Hz)
300
200
150 l
bis auf die
UN
ter
h
fm
ho
se
0
0.807532 Time (s)
Abbildung 4.31: bb96-74-jrg, Grenze minimal tief (auf vier Silben)
In Kapitel 4.1 wurde das Konzept des Epitons eingef¨uhrt, der nach K¨unzel & Schmidt (2001) und Peters (2006a) f¨ur den finalen Abfall der Tonh¨ohe verantwortlich gemacht wird.15 Nach Peters ist der tiefe Epiton bei allen hoch abschließenden Intonationsphrasen im K¨olnischen zu erwarten, so dass phonetisch hoch endende Phrasen nur bei Trunkierung des finalen Falls vorkommen sollten. Wie in Kapitel 4.1.2 bereits angesprochen wurde, nimmt Peters im Gegensatz zu Gilles (2005) somit keine Unterscheidung zwischen final steigend-gleichbleibenden und steigend-fallenden Konturen im K¨olnischen vor, sondern konzipiert sie statt dessen als phonotaktisch bedingte Varianten einer Kontur (vgl. Peters 2006a: 273ff.). Gem¨aß den hier erzielten Untersuchungsergebnissen besteht keine Notwendigkeit zur Trunkierung, sobald f¨ur jeden Ton eine More zur Verf¨ugung steht. Es ist allerdings einzukalkulieren, dass erh¨ohte Sprechgeschwindigkeit ebenfalls zur Trunkierung der Fallbewegung f¨uhren kann (vgl. Peters 2006a: 276). Dennoch weist das Korpus Belege f¨ur final steigende bzw. 15
Zu den spezifischen Vorkommensbedingungen des Epitons bei K¨unzel & Schmidt (2001) vgl. Kapitel 4.1.
95 hoch bleibende Konturen in Kontexten auf, die eine Trunkierung nicht notwendigerweise erforderlich machen. Dies veranschaulicht das folgende Beispiel (Abb. 4.32). Der nukleare Abschnitt TENnis spielt erstreckt sich u¨ ber drei Silben. Die letzte betonbare Silbe der IP spielt weist gen¨ugend Moren auf, um einen H-Ton und einen L-Ton zu realisieren. Dennoch ist die Tonh¨ohe flach hoch ausgepr¨agt. Eine Fallbewegung ist weder auditiv wahrnehmbar, noch akustisch-phonetisch nachzuvollziehen. Dies spricht dagegen, steigendgleichbleibende Konturen im K¨olnischen als phonotaktische, d.h. durch Trunkierung bedingte, Varianten der steigend-fallenden Kontur aufzufassen (siehe hierzu auch Kap. 4.1.2). 150
Pitch (Hz)
100
70 l
dat die wIrklisch wieder WELTklasse 0
TEN nis
h
spielt 2.27691
Time (s)
Abbildung 4.32: k02-35-fv, Final steigender Verlauf
4.2.4
Zusammenfassung
Abschließend werden nun die phonetischen Varianten in stilisierter Form dargestellt. Die erste Abbildung veranschaulicht die Variante mit wenigstens einer flach bleibenden Silbe nach der Nukleussilbe (Abb. 4.33). Bei der zweiten Variante ist die Nukleussilbe flach ausgepr¨agt, die Tonh¨ohe steigt ab der postnuklearen Silbe an (Abb. 4.34). Die dritte Variante schließlich ist durch einen steil steigenden Verlauf in der Nukleussilbe gekennzeichnet (Abb. 4.35). Bei allen drei Varianten kann die H¨ohe der Nukleussilbe zwischen tiefem (l) und mittel hohem (m) Niveau variieren, ebenso kann die Anstiegsbewegung zwischen kontinuierlich und gesprungen variieren. Die finale Tonh¨ohe kann minimal (fm), mittel (m) oder maximal tief (l) sein. Alle Varianten k¨onnen zudem einsilbige oder plateauartige postnukleare Gipfel aufweisen. Dies wird durch ein zus¨atzliches, eingeklammertes “h” zum Ausdruck gebracht.
96
minimal tief (fm) mittel tief (m) maximal tief (l) m/l
(h) h
l
Abbildung 4.33: Variante 1: Flache Nukleussilbe, flach bleibend
minimal tief (fm) mittel tief (m) maximal tief (l)
m/l
(h) h
l
Abbildung 4.34: Variante 2: Flache Nukleussilbe, Anstieg ab Folgesilbe
minimal tief (fm) mittel tief (m) maximal tief (l) m/l
(h) h
l
Abbildung 4.35: Variante 3: Steil steigende Nukleussilbe
Die letzte Variante mit steil steigender Nukleussilbe stellt mit Abstand die seltenste Auspr¨agung des steigend-fallenden Verlaufs dar: Mit nur 23 Belegen macht die Variante einen ¨ Anteil von 6,6% aller konturtragenden Außerungen im Korpus aus. 218 Belege wurden Variante 2 mit relativ flacher Nukleussilbe und Anstieg in der Folgesilbe zugeordnet. Dies entspricht einem Anteil von 62,3%. Als Auspr¨agung der Variante 1 mit flacher Nukleussilbe und flach bleibender Folgesilbe ¨ wurden 71 Belege kategorisiert, was einen Anteil von 20,3% aller konturtragenden Außerungen darstellt. Die restlichen 38 Belege konnten keiner Variante eindeutig zugeordnet werden: 28 Bele¨ ge (8%) wurden als Ubergang zwischen Variante 1 und Variante 2 kategorisiert, 10 Belege ¨ (2,9%) als Ubergang zwischen Variante 2 und Variante 3. Diese Verteilung veranschaulicht die folgende Abbildung (4.36, siehe n¨achste Seite). Hinsichtlich der u¨ brigen Variationsparameter l¨asst sich zusammenfassen, dass mittel hohe Nukleussilben mit einer Vorkommensh¨aufigkeit von ca. 33% wesentlich seltener sind als tiefe Nukleussilben. Demgegen¨uber kommen minimal und mittel tiefe finale Tonh¨ohen deutlich
97 h¨aufiger vor als maximal tiefe Fallbewegungen. Diese machen nur ca. 29% aller steigendfallenden Verl¨aufe aus. 7%
20%
3% V1 8%
.
V1-V2 V2 V2-V3 V3
62%
Abbildung 4.36: Quantitative Verteilung der phonetischen Varianten
Wie durch die obige Einf¨uhrung von Zwischenvarianten deutlich wird, ist generell zu beden¨ ken, dass die hier zusammengefassten Variantengruppen durch kontinuierliche Uberg¨ ange gekennzeichnet sind. Eine kategorische Unterteilung in die Gruppen kann an dieser Stelle nur vorl¨aufig sein und ist anhand der Zuordnung zu konversationellen Funktionen zu u¨ berpr¨ufen. Ebenso wird zu pr¨ufen sein, ob die H¨ohe der Nukleussilbe, die Tiefe der finalen Fallbewegung und die Unterscheidung in Konturen mit und ohne Plateaubildung, die alle nicht eindeutig auf sprachliche Bedingungsfaktoren zur¨uckgef¨uhrt werden konnten, in Zusammenhang mit verschiedenen konversationellen Funktionen zu bringen sind. Dies wird Aufgabe des u¨ bern¨achsten Kapitels sein (Kap. 4.4). Das n¨achste Kapitel widmet sich zun¨achst der tonologischen Interpretation des steigendfallenden Verlaufs.
4.3 Tonologische Varianten: Eine OT-Analyse Ziel dieses Kapitels ist die tonologische Bestimmung des postnuklearen Tonh¨ohengipfels. Zu diesem Zweck wird die Position des Gipfels bei unterschiedlichem zur Verf¨ugung stehendem segmentellen Material analysiert. Die zur Diskussion stehenden Konturen erstrecken sich u¨ ber minimal 1 Silbe und u¨ ber maximal 8 Silben. Handelt es sich um einen hohen Trailington wie bei den in Abschnitt 4.1 beschriebenen steigend-fallenden Konturen des (Standard-) Deutschen und einiger anderer Variet¨aten, so ist zu erwarten, dass sich der H-Ton unmittelbar an die Nukleussilbe anschließt. Alternativ ist eine Interpretation als Grenzton denkbar, wobei der H-Ton in Abh¨angigkeit zur Grenze der Intonationsphrase steht und somit einen bitonalen Grenzton hl% bilden w¨urde. Eine letzte M¨oglichkeit im Rahmen des g¨angigen autosegmental-metrischen Toninventars besteht darin, den H-Ton als Phrasenakzent zu interpretieren, der auf einer lexikalisch betonten oder unbetonten Silbe zwischen der Nukleussilbe
98 und der Grenze stehen kann und teilweise als Grenzton einer intermedi¨aren Intonationsphrase aufgefasst wird (vgl. Grice & Baumann 2002).16 Grundlage der Analyse bilden die 350 steigend-fallenden Belege des Korpus. Besonders zu ber¨ucksichtigen ist bei der tonologischen Analyse die Variation zwischen Verl¨aufen mit Plateaubildung und jenen ohne Plateaubildung, da die Verl¨aufe mit Plateaubildung einen zus¨atzlichen hohen tonalen Zielpunkt aufweisen m¨ussen, der das Hochplateau verursacht. Zur Erinnerung werden die beiden Varianten in der folgenden Abbildung nochmals veranschaulicht (siehe auch Kap. 4.1). Bei der ersten Variante bildet die postnukleare Tonh¨ohe einen Gipfel, der mit nur einer Silbe verkn¨upft ist. Bei der zweiten Variante erstreckt sich die postnukleare Tonh¨ohe u¨ ber wenigstens zwei Silben und bildet ein Hochplateau.
(a)
(b)
Abbildung 4.37: Stilisierter steigend-fallender Verlauf ab der Nukleussilbe mit (a) einsilbigem Tonh¨ohengipfel und (b) Hochplateau
Von den 350 steigend-fallenden Konturen werden 59 mit Plateau realisiert, 291 mit einsilbigem Tonh¨ohengipfel. Unter den 291 steigend-fallenden Konturen ohne Plateau befinden sich mit jeweils 106 Belegen u¨ berwiegend drei- und viersilbige Abschnitte, 24 Belege erstrecken sich u¨ ber 5 Silben, 20 Belege u¨ ber 6 bis 8 Silben. Es kommen außerdem 34 zweisilbige und 1 einsilbiger Beleg vor. Bei den steigend-fallenden Konturen mit Hochplateau zeigen ¨ jeweils 17 Außerungen eine Ausdehnung u¨ ber 4 und 5 Silben. 11 Plateaus kommen bei den dreisilbigen Nuklei vor, 14 Plateaus bei den sechs- bis achtsilbigen Nuklei. Diese Verteilung veranschaulicht die folgende Abbildung (4.38, n¨achste Seite). Der n¨achste Abschnitt widmet sich der Ausrichtung des postnuklearen Tonh¨ohengipfels in der steigend-fallenden Kontur. Es werden zuerst die Konturen mit einsilbigem Tonh¨ohengipfel besprochen (4.3.2), dann die Konturen mit hohem Plateau (4.3.3). Es werden jeweils Kriterien aufgestellt, die die Positionierung des Tonh¨ohengipfels bestimmen. In Anlehnung an die Optimalit¨atstheorie werden die Kriterien als Constraints formuliert und nach ihrem Stellenwert f¨ur die Festlegung des Tonh¨ohengipfels geordnet. Zuletzt werden die beiden Konturvarianten mit und ohne Plateau auf eine gemeinsame, variable Constrainthierarchie zur¨uckgef¨uhrt (4.3.3). Es folgt zun¨achst eine kurze Einf¨uhrung in die Optimalit¨atstheorie (4.3.1).
16
Zu tonologischen Varianten der steigend-fallenden Kontur in Variet¨aten des Deutschen siehe Kap. 4.1.
99 100%
20 24
14 > 5er
75% 5er
106
17 4er
50% 3er 17
106
2er
25% 1er 34
11
1
ohne Plateau (n=291)
mit Plateau (n=59)
Abbildung 4.38: Verteilung der Kontur mit und ohne Plateau auf ein- bis achtsilbige Nuklei
4.3.1
Grundlagen der Optimalit¨atstheorie
Die Optimalit¨atstheorie entwickelte sich in den 1990er Jahren vor dem Hintergrund der generativen Grammatik (vgl. im Folgenden Archangeli & Langendoen 1997, Kager 1999). Sie versteht sich als Theorie, auf deren Grundlage sowohl dem Universalit¨atsanspruch einer Grammatik Gen¨uge getan werden kann als auch der sprachlichen Variation zwischen verschiedenen Sprachen. Sie geht von einer zugrundeliegenden Repr¨asentation sprachlicher Strukturen aus, dem Input, aus dem unter Einhaltung bestimmter Bedingungen (Constraints) die optimale sprachliche Oberfl¨achenform (Output) abgeleitet wird. Das formale Modell, das diese Operation gew¨ahrleistet, setzt sich deshalb aus dem Generator und dem Evaluator zusammen, der wiederum die Constraints beinhaltet. Der Generator bringt f¨ur einen bestimmten Input eine Vielzahl theoretisch m¨oglicher Outputkandidaten hervor, aus denen im Evaluator der optimale Kandidat ausgew¨ahlt wird. Die Auswahl erfolgt auf der Basis der Constraints, die Postulate bez¨uglich sprachlicher Strukturen darstellen. So sagt beispielsweise das Constraint N O R ISE bezogen auf Tonh¨ohenverl¨aufe aus, dass innerhalb einer Silbe keine Kombination eines L-Tons und eines H-Tons vorkommen soll (vgl. Gussenhoven 2004: 146ff.). Ein durch den Generator hervorgebrachter Kandidat mit einer solchen Kombination w¨urde bei Beachtung des Constraints demnach als m¨oglicher Outputkandidat ausscheiden, sofern ein Kandidat existiert, der dem Constraint Gen¨uge leistet. Das Besondere an den Constraints ist jedoch, dass sie zwar Anspruch auf Universalit¨at erheben, sprachspezifisch aber verletzbar sind. Eine Sprache, die ein Tal mit folgendem Tonh¨ohengipfel in einer Silbe aufweist, zeigt lediglich, dass N O R ISE gegen¨uber einem h¨oher gerankten Constraint als weniger wichtig einzustufen ist. Dies wird im Folgenden anhand eines (hypothetischen) Beispiels veranschaulicht: Im Input befinden sich die T¨one L und H sowie eine Silbe (σ), die als tontragende Einheit dient. Der Generator erstellt nun verschiedene Kandidaten, die eine unterschiedliche Verteilung der T¨one auf die Silbe aufweisen. Theoretisch sind dem Generator bei der Erstellung von Outputkandidaten keine Grenzen gesetzt, sofern sich die Kandidaten aus zul¨assigen
100 sprachlichen Elementen wie Silben, Moren etc. zusammensetzen (vgl. Kager 1999: 20). Der Einfachheit halber werden im Folgenden nur zwei Kandidaten er¨ortert.17 Diese sind in der linken Spalte der folgenden Tableaus untereinander angef¨uhrt. Die oberste Zeile beinhaltet die Constraints in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit: links stehende Constraints dominieren die rechts davon stehenden Constraints. Die notwendigen Constraints zur Auswahl eines der beiden Kandidaten sind: (14)
N O R ISE(σ):
(15)
M AX -IO(T):
L und H d¨urfen nicht in einer Silbe auftreten Alle T aus dem Input m¨ussen in den Output u¨ bernommen werden
Das erste Tableau gibt das Ranking f¨ur eine Variet¨at wieder, in der Kombinationen von LH in einer Silbe m¨oglich sind.18 M AX -IO(T) >> N O R ISE (σ)
(16) Input:
σ L, H
Max-IO(T)
NoRise(σ)
σ a.
*! L σ
b.
+
* L
H
¨ Kandidat b) stellt mit der Ubernahme beider T¨one in den Output den optimalen Kandidaten dar. N O R ISE(σ) wird zwar verletzt, das h¨oher stehende M AX-IO aber eingehalten. Kandidat a) hingegen scheidet aus, da er zwar keinen Anstieg in einer Silbe beinhaltet, aber nicht alle im Input gegebenen T¨one in den Output u¨ bernimmt; er verletzt M AX-IO und weist dadurch einen gr¨oberen Verstoß gegen die Constraints auf als Kandidat b). M AX-IO(T) dominiert somit in dieser Variet¨at N O R ISE(σ): M AX-IO(T) >> N O R ISE(σ). Demgegen¨uber zeigt das n¨achste Tableau das Ranking der Constraints, das sich f¨ur eine Variet¨at ergibt, die LH nicht in einer Silbe zul¨asst. Der optimale Kandidat ist nun a), der den H-Ton aus dem Input nicht in den Output u¨ bernimmt und so die Assoziierung der Silbe mit den zwei T¨onen vermeidet. Die Reihenfolge der beiden Constraints kehrt sich in diesem Fall um: N O R ISE(σ) >> M AX-IO(T).
17
Da die Beispiele an dieser Stelle in erster Linie der Veranschaulichung des Auswahlmechanismus in der OT dienen sollen, sind sie so einfach wie m¨oglich gestaltet. M¨ogliche Kandidaten, bei denen die Silbe statt mit einem L-Ton nur mit einem H-Ton oder auch mit keinem der T¨one verkn¨upft sind, werden deshalb nicht diskutiert. Siehe daf¨ur aber Gussenhoven (2004: 146ff.). 18 Die graue Unterlegung der Tableaufelder zeigt an, dass das entsprechende Constraint nicht mehr ausschlaggebend f¨ur die Auswahl des Kandidaten ist. Bereits die Verletzung des weiter links stehenden Constraints durch einen der beiden Kandidaten schließt diesen als optimalen Kandidaten aus. Dies signalisiert das Ausrufezeichen hinter dem Asterisk, der generell f¨ur die Verletzung eines Constraints steht.
101 N O R ISE (σ) >> M AX -IO(T)
(17) Input:
σ L, H
NoRise(σ)
Max-IO(T)
σ a.
+
* L σ
b.
*! L
H
Das Beispiel verdeutlicht, dass Outputkandidaten trotz der Verletzung von Constraints als optimal eingestuft werden k¨onnen, sofern sie weniger schwerwiegende Verletzungen aufweisen als die u¨ brigen Kandidaten. Obwohl die Constraints als (tendenziell) universal g¨ultig angesehen werden, sind sie demnach doch einzelsprachlich verletzbar. Sprachspezifische Grammatiken k¨onnen somit durch das unterschiedliche Ranking universaler Constraints dargestellt werden (vgl. Archangeli et al. 1997, Kager 1999). Es werden drei Typen von Constraints angenommen: Faithfulness-, Markedness- und ¨ Alignment-Constraints. Faithfulness-Constraints beziehen sich auf die Ubereinstimmung von Input und Output. Bei dem oben bereits eingef¨uhrten M AX-IO handelt es sich um ein solches Faithfulness-Constraint. W¨ahrend es daf¨ur sorgt, dass alle Elemente aus dem Input in den Output u¨ bernommen werden, erfordert ein weiteres Faithfulness-Constraint, D EPIO, dass der Output nur Elemente enth¨alt, die eine Entsprechung im Input haben. Weiterhin gew¨ahrleistet das Constraint I DENT(element), dass die Auspr¨agung eines Inputelements a¨ quivalent zum entsprechenden Outputelement ist, dass also beispielsweise ein H-Ton im Input nicht als L-Ton im Output erscheint (vgl. Gussenhoven 2004: 147ff.). Markedness-Constraints machen Aussagen u¨ ber die Markiertheit von sprachlichen Formen. F¨ur die Beschreibung intonatorischer und tonaler Ph¨anomene f¨uhrt Gussenhoven (2004) zwei wesentliche Gruppen von Markedness-Constraints an, OCP (Obligatory Contour Principle) und N O C ONTOUR. OCP wirkt der Abfolge gleichartiger T¨one entgegen, N O C ON TOUR hingegen der Abfolge verschiedenartiger T¨ one. Das im obigen Beispiel eingesetzte Constraint N O R ISE stellt eine Spezifizierung des Constraints N O C ONTOUR dar. Alignment-Constraints schließlich geben Auskunft u¨ ber die Positionierung sprachlicher Elemente in Bezug auf die Struktur der Bezugsdom¨ane. So w¨urde ein finaler Grenzton L einer Intonationsphrase das Alignment A LIGN-L(IP, RT) aufweisen, wobei in Klammern die Bezugsdom¨ane (IP) und deren rechter Rand (RT) als Ausrichtungsort des L-Tons angegeben ist. Gussenhoven (2004) trifft in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen dem Alignment und der Assoziation von T¨onen. Die Notwendigkeit dieser Unterscheidung f¨uhrt Gussenhoven zum einen auf die Tatsache zur¨uck, dass T¨one nicht zwangsl¨aufig mit einem Element der segmentellen Ebene assoziiert sein m¨ussen, jedoch dennoch realisiert werden, also auf der Oberfl¨ache “aligniert” sind. Dies gelte beispielsweise f¨ur Trailingt¨one, die keine feste Assoziation zur Segmentkette haben, sondern in Abh¨angigkeit zum vorangehendem Akzentton stehen. Ihre Lokalisierung richtet sich nach der Position des Akzenttons, und sie gehen keine eigenst¨andige Assoziation mit einem tontragenden Element ein (siehe da-
102 zu auch Kap. 2.1). Zum anderen sei es m¨oglich, dass zwei T¨one mit zwei verschiedenen Dom¨anen assoziiert sind, die unter Umst¨anden an der sprachlichen Oberfl¨ache zusammenfallen k¨onnen. Als Beispiel f¨uhrt Gussenhoven Tonakzente in einigen mittelfr¨ankischen Dialekten der Niederlande an, deren lexikalischer H-Ton mit dem rechten Rand der Silbe verkn¨upft ist, w¨ahrend zugleich ein L-Grenzton auftreten kann, der mit dem rechten Rand der IP verkn¨upft ist. Kommt die tontragende Silbe nun IP-final vor, fallen die Assoziationsstellen der T¨one entsprechend zusammen. Das Alignment kann nun beschreiben, welcher der T¨one an der Oberfl¨ache zuerst erscheint (vgl. Gussenhoven 2004: 148ff.). W¨ahrend also alle realisierten T¨one ein Alignment aufweisen, setzt dies nicht voraus, dass sie auch grunds¨atzlich bzw. an dieser Stelle assoziiert sind: “Thus, the task of alignment is to determine the location of each tone, while association to a TBU [tone bearing unit, PB] will follow if a legitimate TBU is available in the location concerned. In this view, all tones are aligned, but only some are associated.” (Gussenhoven 2000: 157).
4.3.2
Der Tonh¨ohengipfel bei Konturen ohne Plateau
Der folgende Abschnitt setzt sich zum Ziel, die Positionierung des postnuklearen H-Tons bei einsilbigen Tonh¨ohengipfeln mit Hilfe der Optimalit¨atstheorie zu beschreiben. AlignmentConstraints werden dabei zwangsl¨aufig eine große Rolle spielen. Da in dieser Arbeit ein oberfl¨achennaher Ansatz zur Beschreibung der Formen und Funktionen von Intonation verfolgt wird, richtet sich das Hauptinteresse der Analyse auf das Alignment des H-Tons. Um den tonologischen Status des H-Tons bestimmen zu k¨onnen, werden Fragen der Assoziation jedoch im weiteren Verlauf ebenfalls ber¨ucksichtigt. Die Assoziation des Akzenttons l* mit der nuklearen Silbe wird im Folgenden ebenso vorausgesetzt wie das Alignment des finalen Grenztons l% mit der rechten Grenze der Intonationsphrase.
4.3.2.1
Der H-Ton: Bestandteil einer bitonalen Tonsequenz oder Phrasenakzent? C ONCATENATE vs. H → σLex
Die verschiedenen Optionen zur tonologischen Interpretation des H-Tons machen ein unterschiedliches Alignment des Tons in Bezug auf die anderen T¨one der Kontur und auf die ¨ segmentelle Außerungsbasis erwartbar. Wie oben erw¨ahnt, ist es wahrscheinlich, dass der H-Ton entweder als Trailington zu einem tiefen Akzentton, als erster Ton eines bitonalen Grenztons oder als Phrasenakzent zu interpretieren ist. Die folgende Analyse wird zeigen, dass die Interpretation des H-Tons als Phrasenakzent zutreffend ist. In den ersten beiden eben genannten F¨allen (Trailington oder bitonaler Grenzton) ist davon auszugehen, dass der HTon in unmittelbarer N¨ahe des zweiten Tons der bitonalen Kombination erscheint. Dies kann durch das Constraint C ONCATENATE ausgedr¨uckt werden, das fordert, dass die T¨one einer bitonalen Kombination in zeitlicher N¨ahe zueinander erfolgen, also “miteinander aligniert” sind (vgl. Gussenhoven 2004): (18)
C ONCATENATE:
Die T¨one einer bitonalen Kombination sind miteinander aligniert
103 Handelt es sich bei dem H-Ton hingegen um einen Phrasenakzent, richtet sich sein Alignment nicht nach dem vorausgehenden Akzentton oder dem nachfolgenden Grenzton, sondern nach ¨ der morphologischen Struktur der zugrundeliegenden Außerung: Phrasenakzente weisen zumeist eine Ausrichtung an lexikalisch betonbaren Silben auf (vgl. Grice et al. 2000), was mit dem Constraint H → σLex zum Ausdruck gebracht wird. (19)
H → σLex :
Der H-Ton ist mit einer lexikalisch betonbaren Silbe aligniert
Die lexikalische Betonbarkeit bezieht sich auf den unabh¨angig von seiner Realisierung in ¨ der konkreten Außerung gegebenen Wortakzent. Als lexikalisch betonbar gelten in der Regel die sogenannten Inhaltsw¨orter gegen¨uber Funktionsw¨ortern, die abgesehen von Kontrastierungen nicht betonbar sind (vgl. Uhmann 1991: 221ff.). Auch Nebenakzente oder sekund¨are Wortakzente in komplexen Wortformen wie Pflegeheime, abschneiden und hinstellen werden als lexikalisch betonbar aufgefasst. Sie stellen zwar nicht den Hauptakzent des Wortes dar, sind aber metrisch prominenter als die u¨ brigen Silben des Wortes (vgl. Liberman & Prince 1977: 256ff., 263ff., Ramers 2002: 115ff.). Es ist zu u¨ berlegen, ob sich das Kriterium der lexikalischen Betonbarkeit durch ein rein prosodisches Kriterium f¨ur die Alignierung des H-Tons ersetzen l¨asst. In Frage kommt die ¨ Fußstruktur der Außerung, wobei der Kopf des Fußes der hauptbetonten Silbe entspricht. ¨ Der Nachteil bei einer Ubernahme der Fußstruktur ist, dass sie im Zusammenhang mit dem ¨ Rhythmus der Außerung stehen soll, aber dennoch meistens a priori auf der Basis der abstrak¨ ten Wortformen bestimmt wird (vgl. Hayes 1995: 9ff.). Der tats¨achliche Außerungsrhythmus bleibt daher bei Beschreibungen der Fußstruktur oftmals unber¨ucksichtigt. Die Zuweisung ¨ der Fußstruktur auf der Basis der Außerung jedoch ist insbesondere bei der vorliegenden steigend-fallenden Kontur problematisch, denn der H-Ton tr¨agt m¨oglicherweise selbst dazu bei, die Tr¨agersilbe als rhythmisch schwer wahrzunehmen, so dass diese als Kopfsilbe eines Fußes klassifiziert wird. Daraus erg¨abe sich die Schlussfolgerung, dass der H-Ton mit der Kopfsilbe eines Fußes assoziiert sein muss, so dass sich die Untersuchung der Fußstruktur im Zusammenhang mit dem Alignment des H-Tons als zirkul¨ar erweist. Um dieser Gefahr zu entgehen, wird die Fußstruktur im Folgenden nicht als relevantes Kriterium f¨ur das Tonalignment verwendet, sondern, wie oben beschrieben, die lexikalische Betonung.19 Dies entspricht der in GToBI u¨ blichen Beschreibung, die allerdings keine Definition von lexika¨ lischer Betonung beinhaltet. Es steht jedoch nicht in Ubereinstimmung zu den Arbeiten von Peters (2002b) zu postnuklearen Tonh¨ohengipfeln im K¨olnischen und Duisburgischen. ¨ F¨ur die Uberlegung, ob bei der Alignierung des H-Tons das Constraint C ONCATENATE o- der H → σLex wirksam ist, sind die Belege besonders aussagekr¨aftig, die sich u¨ ber eine m¨oglichst große Anzahl an Silben erstrecken, denn hier sind die Optionen zur Lokalisierung des H-Tons vielf¨altig. Auch die Gefahr, dass die an den l*-Ton bzw. den l%-Ton angrenzende Silbe zugleich lexikalisch betonbar ist, kann so eher umgangen werden. Diese Gefahr zeigt sich bei den folgenden beiden Belegen, die sich u¨ ber vier Silben erstrecken und lexikalisch betonbare Silben nach bzw. vor dem potenziellen tiefen Bezugston aufweisen. Diese tragen den postnuklearen H-Ton. 19
Es ist allerdings zu beachten, dass diese Entscheidung im Wesentlichen auf die besondere Problematik der steigend-fallenden Kontur zur¨uckzuf¨uhren ist. Generell wird in der vorliegenden Arbeit ¨ davon ausgegangen, dass die Fußstruktur auf die rhythmische Struktur der tats¨achlichen Außerung bezogen sein sollte.
104 (20)
l* h l% RAUS.ge.hen..mal
(21)
l* h l% BIER..ge.trun.ken
Es ist anhand dieser Belege nicht m¨oglich, C ONCATENATE und H → σLex zueinander zu gewichten, da beiden entsprochen wird. Allerdings l¨asst sich bereits hier vermuten, dass eine h¨ohere Gewichtung von C ONCATENATE gegen¨uber H → σLex unwahrscheinlich ist, da es nicht plausibel ist, den H-Ton einmal als Bestandteil eines bitonalen Grenztons zu alignieren und einmal als Bestandteil eines bitonalen Akzenttons. C ONCATENATE bleibt demnach in beiden F¨allen zwar unverletzt, l¨asst aber unterschiedliche Schl¨usse auf den tonologischen Status des H-Tons zu, da es sich auf bitonale Kombinationen generell bezieht, ungeachtet ihrer Position in der IP. Die folgenden f¨unf- und sechssilbigen Belege, die noch mehr Raum f¨ur die Lokalisierung des H-Tons geben, best¨atigen die Vermutung, dass das Constraint H → σLex h¨oher zu bewerten ist als C ONCATENATE. (22)
l* h l% JELD..ver.die.nen..muss
(23)
l* h l% ka.MEL.le..schmei.ßen..sin
(24)
l* h l% SIE.ben.je.bir.re.je
(25)
l* h l% WIE.se..lie.gen..ge.habt
Die Beispiele belegen die Unabh¨angigkeit des H-Tons sowohl vom vorangehenden Akzentton als auch vom nachfolgenden Grenzton. Die Position des H-Tons variiert stattdessen mit der postnuklearen, lexikalisch betonbaren Silbe. Die Gewichtung der zur Diskussion stehenden Constraints kann daher auf H → σLex >> C ONCATENATE festgelegt werden. Da das Constraint C ONCATENATE als ein spezifisches Constraint f¨ur das Alignment bitonaler Kombinationen formuliert ist, wird es im Folgenden außer Acht gelassen: Bei dem H-Ton handelt es sich erwiesenermaßen nicht um einen Bestandteil einer bitonalen Kombination, so dass die Strukturbedingungen f¨ur die Anwendung des Constraints nicht gegeben sind. Es stellt damit ein vacuous Constraint dar (vgl. Kager 1999: 9), dessen Weiterf¨uhrung keinen Gewinn bei der Beschreibung der Alignierung des H-Tons bringt. Mit H → σLex steht ein erstes wesentliches Constraint f¨ur die Ausrichtung des H-Tons fest. Welche Regelm¨aßigkeiten lassen sich jedoch feststellen, wenn der Nachlauf mehr als eine oder keine lexikalisch betonbare Silbe aufweist? Diesen Fragen widmet sich der n¨achste Abschnitt. Es werden zuerst die vielsilbigen Belege er¨ortert, die mehr als eine postnukleare, lexikalisch betonbare Silbe aufweisen. Darauf folgt die Er¨orterung der Belege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf.
105 4.3.2.2
Der H-Ton bei mehr als einer lexikalisch betonbaren Silbe im Nachlauf
4.3.2.2.1
D EP-IO(T) und A LIGN-RT
¨ Zu den zur Diskussion stehenden Außerungen mit mehr als einer lexikalisch betonbaren Silbe im Nachlauf geh¨oren die Folgenden: (26)
l* h l% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en
(27)
l* h l% WERK.statt..ma.ch.en..konn.te
(28)
l* h l% an..der..THEK..mit..e.rum..la.berst
Es f¨allt auf, dass die lexikalisch betonbaren Silben den H-Ton auf sich ziehen, die weiter rechts in der Intonationsphrase stehen. Die generelle Tendenz zum rechten Rand der IP wird u¨ blicherweise durch ein Alignmentconstraint A LIGN-H(H,RT,IP,RT) zum Ausdruck gebracht (im Folgenden verk¨urzt zu A LIGN -RT). (29)
A LIGN -RT:
Der H-Ton ist an der rechten Grenze der IP aligniert
Es handelt sich hierbei um ein graduelles Constraint, das mit jeder Silbe, die der H-Ton von der Grenze entfernt ist, einmal verletzt wird (vgl. Zhang 2000). Die folgenden Tableaus verdeutlichen die Rangfolge der zwei Constraints, die zum korrekten Output f¨uhrt. Im ersten Tableau wird die Rangfolge A LIGN -RT >> H → σLex evaluiert, im zweiten die Rangfolge H → σLex >> A LIGN -RT. Die Rangfolge A LIGN -RT >> H → σLex Tableau (30) ist nicht in der Lage, den optimalen Kandidaten zu bestimmen. Die dargestellte Dominanz von A LIGN -RT u¨ ber H → σLex f¨uhrt f¨alschlicherweise zur Auswahl von a) als optimalem Kandidaten.20 (30)
A LIGN -RT >> H → σLEX
Input: a. * + b. c.
20
σ', σ, σLex, σ, σLex , σ L* , H, L% l* hl% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en l* h l% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en l* h l% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en
Align-Rt
H → σLex *
*! *!**
Es w¨are m¨oglich, an dieser Stelle auch Kandidaten zu ber¨ucksichtigen, die ein Hochplateau zwischen l* und l% aufweisen. Dieses k¨onnte durch die Dominierung durch ein Faithfulness-Constraint D EP-IO(T) oder auch durch ein Constraint N O S PREAD verhindert werden, die die Hinzuf¨ugung eines H-Tons bzw. dessen Ausbreitung verbieten (vgl. Gussenhoven 2004: 149). Da sich Kapitel 4.3.3 jedoch gesondert den steigend-fallenden Konturen mit Hochplateau widmet, sollen solche Kandidaten vorerst außer Acht gelassen werden.
106 Demgegen¨uber zeigt sich, dass die Dominanz von H → σLex u¨ ber A LIGN -RT zum erw¨unschten Output-Kandidaten f¨uhrt (Tab. 31). Kandidat a) verst¨oßt einmal gegen H → σLex und ist dadurch im Nachteil gegen¨uber den Kandidaten b) und c). Diese verstoßen nicht gegen H → σLex . Kandidat b) und c) unterscheiden sich in der Anzahl der Verletzungen von A LIGN -RT. W¨ahrend b) das Constraint nur einmal verletzt, bringt Kandidat c) drei Verst¨oße mit sich. Das bedeutet, dass das Ranking korrekterweise zu Kandidat b) als optimalem Output f¨uhrt. (31)
H → σLEX >> A LIGN -RT
Input: a. b.
+
c.
σ', σ, σLex, σ, σLex , σ L* , H, L% l* hl% GR¨ OSS.te..kir.sche..bau.en l* h l% ¨ GROSS.te..kir.sche..bau.en l* h l% ¨ GROSS.te..kir.sche..bau.en
Align-Rt
H → σLex
*! * *!**
F¨ur die bis hierhin vorgestellten Belege l¨asst sich somit folgendes Ranking der Constraints festhalten: (32)
H → σLex >> A LIGN -RT
4.3.2.2.2
Einschr¨ankung von A LIGN -RT: N O FALL
Den im vorangegangenen Abschnitt vorgestellten Belegen ist gemeinsam, dass die letzte Silbe der Phrase eine Reduktionssilbe ist. Eine weitere interessante Spezifikation des Rankings ergibt sich nun, wenn man Belege ber¨ucksichtigt, deren letzte Silbe zugleich lexikalisch betonbar ist. Den Constraints H → σLex und A LIGN -RT k¨onnte in diesen F¨allen durch Positionierung des H-Tons auf der letzten Silbe entsprochen werden. Dies gilt tats¨achlich f¨ur die folgenden vier- und f¨unfsilbigen Belege: (33)
l* h l% AU.tos..ge.baut
(34)
l* hl% K¨ U.sch.en.per.so.nal
Es gilt jedoch nicht f¨ur Belege wie die Folgenden. Es handelt sich um drei- bis sechssilbige Belege, bei denen die letzte Silbe lexikalisch hauptbetont ist. Es ist daher zu erwarten, dass der postnukleare Tonh¨ohengipfel mit dieser Silbe assoziiert wird. Stattdessen zeigt sich jedoch, dass die vorletzte Silbe oder eine fr¨uhere Silbe den postnuklearen Gipfel tr¨agt. (35)
l* h l% grade.AUS..jetz..fahrn
107 (36)
l* h l% FERN.weh..mehr
(37)
l* h l% K¨ O.nigs.forst..fahrn
(38)
l* h l% SCH¨ ON.heits.farm..war
(39)
l* h l% JELD..ver.die.nen..muss
(40)
l* h l% WIE.se..lie.gen..ge.habt
(41)
l* h l% STIN.ke.fin.ger..ge.zeigt
Ganz offensichtlich wird in diesen Belegen gegen A LIGN -RT verstoßen. Wodurch l¨asst sich dieser Verstoß rechtfertigen? Im Unterschied zu der vorangegangenen Beleggruppe weist diese Gruppe eine zus¨atzliche, weiter vorne stehende Silbe auf, die lexikalisch betonbar ist. Diese erh¨alt den H-Ton. Unter der Voraussetzung also, dass H → σLex weiterhin entsprochen werden kann, wird die Positionierung des H-Tons auf der letzten Silbe vermieden. Dies l¨asst sich aus der Tendenz erkl¨aren, zwei T¨one m¨oglichst nicht auf einer Silbe zu realisieren (vgl. Gussenhoven 2004: 146). Es wird deshalb das Constraint N O FALL eingef¨uhrt, das es erlaubt, die Kompression von hohem Ton und tiefem Ton auf einer Silbe zu vermeiden. (42)
N O FALL:
Die T¨one H und L d¨urfen nicht mit derselben Silbe verkn¨upft sein
Das folgende Tableau veranschaulicht das korrekte Ranking H → σLex >> N O FALL >> A LIGN -RT anhand des sechssilbigen Belegs STIN.ke.fin.ger..gezeigt. Im Input befinden sich sechs Silben sowie die T¨one L*, H und L%. (43)
H → σLEX >> N O FALL >> A LIGN -RT
Input: a. b. c.
+
σ', σ, σLex, σ, σLex , σ L* , H, L% l* h l% STIN.ke..fin.ger..ge.zeigt l* h l% STIN.ke..fin.ger..ge.zeigt l* h l% STIN.ke..fin.ger..ge.zeigt
H → σLex
NoFall
Align-Rt
*! *** *!
****
Kandidat c) verletzt H → σLex einmal und scheidet deshalb gegen¨uber den Kandidaten a) und b) aus, die das Constraint nicht verletzen. Zwischen den Kandidaten a) und b) f¨allt die korrekte Entscheidung auf den Kandidaten b), der zwar dreimal gegen A LIGN -RT verst¨oßt, aber das h¨oher stehende N O FALL beachtet. W¨urde A LIGN -RT das Constraint N O FALL dominieren, k¨ame es f¨alschlicherweise zur Auswahl von Kandidat a) als optimalem Kandidaten.
108 Obwohl die Rangfolge von H → σLex und N O FALL in Belegen mit mehreren lexikalisch betonbaren Silben keine Rolle spielt, (die beiden Constraints k¨onnten in dem Tableau ohne Probleme vertauscht werden), zeigt sich die Dominanz von H → σLex u¨ ber N O FALL in solchen Belegen, die nur eine lexikalisch betonbare Silbe in IP-finaler Position aufweisen (siehe die Belege (33) und (34)). Die Dominanz von N O FALL u¨ ber H → σLex w¨urde zum Ausschluss des tats¨achlich vorkommenden Outputkandidaten f¨uhren, wie das folgende Tableau f¨ur den Beleg AU.tos..ge.baut veranschaulicht. N O FALL >> H → σLEX >> A LIGN -RT
(44) Input:
a. * + b.
σ', σ, σ, σLex L* , H, L% l* h l% AU.tos..ge.baut l* h l% AU.tos..ge.baut
NoFall
H → σLex
Align-Rt
*
**
*!
Es zeigt sich also, dass das zuvor bestimmte Ranking H → σLex >> N O FALL >> A LIGN -RT sowohl in der Lage ist, bei Belegen mit IP-finaler lexikalisch betonbarer Silbe ohne Ausweichm¨oglichkeit auf eine fr¨uhere Silbe den richtigen Kandidaten auszuw¨ahlen, als auch bei Belegen mit einer solchen Auswahlm¨oglichkeit. Ebenso umfasst es die unter (26) bis (28) vorgestellten Belege mit Reduktionssilbe als letzter Silbe der IP. Zwar ist das Constraint N O FALL hier ohne Relevanz, da durch die h¨ohere Einstufung von H → σLex keine Gefahr besteht, den H-Ton gemeinsam mit L% mit der IP-finalen Silbe zu verbinden.21 Das Constraint wird dadurch aber nicht verletzt, so dass seine Aufnahme in die Constrainthierarchie unproblematisch ist. Trotz leicht voneinander abweichender Strukturen des Inputs in Bezug auf die Anzahl, Struktur und Position der Silben kann f¨ur das Alignment des H-Tons in der steigendfallenden Kontur ohne Plateau folglich ein Ranking der Constraints angenommen werden, das folgendermaßen gestaltet ist: (45)
H → σLex >> N O FALL >> A LIGN -RT
Die gegebene Constrainthierarchie ist tauglich f¨ur die konturtragenden Belege mit wenigstens einer lexikalisch betonbaren Silbe im Nachlauf, die entweder IP-final oder fr¨uher erscheint. Sie legt fest, dass der H-Ton mit einer lexikalisch betonbaren Silbe verkn¨upft wird, die m¨oglichst weit rechts steht, dass jedoch die Bildung einer Fallbewegung auf einer Silbe verhindert wird, sofern die Verkn¨upfung mit einer lexikalisch betonbaren Silbe weiterhin gew¨ahrleistet ist.
21
Denkbar w¨are allerdings ein steiler Fall auf der lexikalisch betonbaren Silbe mit anschließendem Tiefplateau bis zur IP-Grenze. Um diesen steilen Abfall zu initiieren, m¨usste aber ein zus¨atzlicher L-Ton im Anschluss an den postnuklearen H-Ton angenommen werden.
109 4.3.2.3
Der H-Ton ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf
4.3.2.3.1
M AX-IO(T) und N O R ISE, T → µ und D EP-IO(µ)
Der folgende Abschnitt wendet sich nun der Frage zu, was geschieht, wenn der Nachlauf keine lexikalisch betonbare Silbe aufweist. Die bisherige Hierarchie h¨atte in diesem Fall zur Folge, dass der H-Ton noch auf der Nukleussilbe realisiert wird. Die Daten belegen jedoch, dass dies nicht der Fall ist, wie weiter unten gezeigt wird. Die Konturbelege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf setzen sich vor allem aus Belegen zusammen, die sich u¨ ber zwei Silben erstrecken. Selten sind dreisilbige Belege. Auch ein einsilbiger Beleg liegt vor, bei dem die Nukleussilbe IP-final ist. Neben Fragen der Ausrichtung des H-Tons tritt bei diesen Belegen die Frage nach den segmentellen Minimalanforderungen f¨ur die Realisierung der Kontur in den Vordergrund. Gilles (2005: 333ff.) stellt fest, dass die Kontur zu ihrer Realisierung wenigstens zwei Silben ben¨otigt, deren zweite mindestens aus einem Reduktionsvokal mit schließendem sonoranten Konsonanten bestehen muss. Diese Feststellung l¨asst sich auf der Basis des von mir untersuchten Korpus nicht best¨atigen. Die folgenden Beispiele veranschaulichen zum einen, dass auch zweisilbige Nuklei mit offener Reduktionssilbe konturtragend sein k¨onnen. Sie veranschaulichen zum anderen, dass der H-Ton nicht mit der Nukleussilbe verkn¨upft ist, wie es auf der Grundlage der erstellten Constrainthierarchie erforderlich w¨are. Es werden zuerst nur die drei- und zweisilbigen Belege eingef¨uhrt, der einsilbige Beleg wird sp¨ater besprochen. (46)
l* h l% ANT.wor.ten
(47)
l* h l% WOH.nung
(48)
l* h l% FLIE.gen
(49)
l* h l% VOR.ne:
Das sonorante Material f¨ur die Realisierung der T¨one nimmt bei den Beispielen von oben nach unten ab. Das erste Beispiel erstreckt sich u¨ ber drei Silben, deren letzte reduziert ist. W¨ahrend die postnukleare und zugleich IP-finale Silbe im zweiten Beispiel noch einen Vollvokal aufweist, haben die beiden folgenden Belege einen Reduktionsvokal im Silbenkern. In Beispiel (48) wird die Silbe durch einen sonoranten Konsonanten geschlossen, in Beispiel (49) hingegen ist sie offen. Der auslautende Vokal im letzten Beispiel ist deutlich gedehnt. In keinem Beispiel ist der H-Ton mit einer lexikalisch betonbaren Silbe verkn¨upft. Durch welche Constrainthierarchie kann nun dieser Output erreicht werden? Das Alignment betreffend ist zun¨achst zu verhindern, dass der H-Ton noch in der Nukleussilbe auf den tiefen Akzentton folgt. Analog zum Constraint N O FALL wird zu diesem Zweck das Constraint N O R ISE eingef¨uhrt: (50)
N O R ISE:
Die T¨one L und H d¨urfen nicht mit derselben Silbe verkn¨upft sein
110 Sofern N O R ISE das Constraint N O FALL dominiert, verhindert es zwar, dass der H-Ton noch in der Nukleussilbe erreicht wird. Die – wenn auch geringere – Wirkkraft von N O FALL in Kombination mit N O R ISE jedoch w¨urde eine Realisierung des H-Tons unm¨oglich machen, wenn es nicht durch ein Faithfulness-Constraint dominiert w¨urde, das die Realisierung aller im Input befindlichen T¨one gew¨ahrleistet: (51)
M AX -IO(T):
Jeder Ton im Input muss eine Entsprechung im Output haben
Sowohl N O R ISE als auch M AX-IO(T) m¨ussen N O FALL dominieren, damit die Kontur in der gegebenen Outputform realisiert wird. Eine Gewichtung der neuen Constraints ist f¨ur die Erzielung der bisherigen Outputkandidaten nicht notwendig. Das folgende Tableau veranschaulicht das Ranking dieser drei Constraints. Im Input befinden sich zwei Silben sowie die drei T¨one L*, H und L%: M AX -IO(T), N O R ISE >> N O FALL
(52) Input: a. b. c. d.
+
σ', σ L* , H, L% l* h l% WOH.nung l* h WOH.nung l* l% WOH.nung l* hl% WOH.nung
Max-IO(T)
NoRise
NoFall
*! *! *! *
Wenden wir uns nun dem einsilbigen Beleg zu: (53)
l* hl% me.k.e.REI:
Alle drei T¨one sind mit der Nukleussilbe verkn¨upft. Diese ist, ebenso wie die finale Silbe im obigen Beleg VOR.ne:, stark gedehnt. Dies gibt einen Hinweis auf die Minimalanforderungen f¨ur die Realisierung der Kontur. Zwar ist die Reduktionssilbe im Beispiel VOR.ne: nicht durch einen sonoranten Konsonanten geschlossen, dieser Mangel wird jedoch durch die Dehnung ausgeglichen. Bedenkt man, dass die tontragende Einheit im K¨olnischen die More ist (vgl. Schmidt 2002: 222), so wird deutlich, dass die Kontur realisiert wird, sobald f¨ur jeden Ton eine freie More zur Verf¨ugung steht. Dies wird im zweisilbigen Beleg VOR.ne durch Dehnung der Reduktionssilbe erzielt, die dadurch zwei Moren erh¨alt. Im einsilbigen Beleg ¨ wird die diphthongische Nukleussilbe gedehnt, so dass sie drei Moren aufweist. Uberschwere Silben, die u¨ ber (die im Standarddeutschen u¨ blichen) zwei Moren hinausgehen, erhalten in diesem Zusammenhang somit im K¨olnischen Relevanz (vgl. Auer 1991a: 16). Die resultierende Silbenstruktur veranschaulichen die folgenden Abbildungen:
111 σ
σ
O
R N
f
O N
C
µ
µ
O
5
R
n
L
C
µ
µ
@
:
H
L
Abbildung 4.39: Struktur des zweisilbigen Nukleus ‘VOR.ne:’
σ O
R N
K
C
µ
µ
µ
a
I
:
L
H
L
Abbildung 4.40: Struktur des einsilbigen Nukleus ‘me.k.e.REI:’
In Hinblick auf die zu erstellende Constrainthierarchie sind nun folgende Aspekte zu ber¨ucksichtigen: Die minimale segmentelle Grundlage f¨ur die vollst¨andige Realisierung der Kontur besteht aus einer More pro Ton. Diese Voraussetzung kann durch das Constraint T → µ ausgedr¨uckt werden (vgl. Gussenhoven 2004: 148ff.). (54)
T → µ:
Jeder Ton ist mit einer More verkn¨upft
Steigend-fallende Konturen auf der Grundlage von weniger segmentellem Material sind nicht dokumentiert. Es ist also davon auszugehen, dass beispielsweise der Ausfall der Dehnung der offenen Reduktionssilbe zur Trunkierung des finalen L-Tons der Kontur f¨uhrt. Besonders bemerkenswert ist, dass es auch unter diesen Umst¨anden nicht zur Alignierung des H-Tons mit der Nukleussilbe kommt, obwohl diese immer wenigstens zwei Moren aufweist (siehe Abb. 4.39). Die Kombination der Tonfolge LH auf einer Silbe findet sich nur in dem einsilbigen Beleg. Dies bedeutet zum einen, dass das Constraint N O R ISE offenbar f¨ur den einsilbigen Beleg einen anderen Stellenwert hat als f¨ur alle u¨ brigen Belege. Es bedeutet zum anderen, dass die M¨oglichkeit der Dehnung, die einen Verstoß gegen ein Faithfulness-Constraint darstellt (der Output enh¨alt mehr Moren als der Input), eher genutzt wird als die Kombination der T¨one LH in einer Silbe. N O R ISE ist demnach h¨oher einzustufen als das Constraint D EPIO(µ), das sich folgendermaßen formulieren l¨asst:
112 (55)
D EP -IO(µ):
Der Output darf nicht mehr Moren aufweisen als der Input22
Das Fehlen von Konturen auf zweisilbigen Nuklei, die eine zweimorige Nukleussilbe und eine einmorige finale Silbe aufweisen (also beispielsweise VOR.ne ohne Dehnung der Reduktionssilbe), l¨asst weiterhin darauf schließen, dass N O R ISE st¨arker beachtet wird als das Faithfulness-Constraint M AX-IO(T), denn unter diesen Umst¨anden kommt es offensichtlich zur Trunkierung eines Tons, so dass die Tonfolge LHL nicht mehr als steigend-fallende Kontur realisiert wird.23 L¨asst man zun¨achst den einsilbigen Beleg außer Acht, ergibt sich folgende Rangfolge, die zur Generierung des richtigen Kandidaten f¨uhrt: N O R ISE >> T → µ >> M AX-IO(T) >> D EP-IO(µ) >> N O FALL. Die Hierarchie wird im folgenden Tableau exemplifiziert. N O R ISE >> T → µ >> M AX -IO(T) >> D EP -IO(µ) >> N O FALL
(56) Input: a. b. c. d.
+
σ', σ L* , H, L% l* h l% VOR.ne l* l VOR.ne l* hl% VOR.ne: l* hl% VOR.ne
NoRise
T → µ
Max-IO(T)
Dep-IO(µ)
NoFall
*
*
*! *!
*!
*
Die Hierarchie f¨uhrt zum optimalen Outputkandidaten c). Kandidat a) kombiniert die T¨one L und H in einer Silbe und verst¨oßt dadurch gegen N O R ISE. Kandidat b) tilgt den H-Ton, wodurch M AX-IO(T) verletzt wird. Kandidat d) schließlich realisiert zwar alle Inputt¨one und verst¨oßt auch nicht gegen N O R ISE, verkn¨upft aber drei T¨one mit nur zwei Moren, wodurch T → µ verletzt wird.
22
Kager (1999: 156) bezeichnet dieses Constraint auch als anti-lengthening-Constraint. Er gibt es als D EP-µ-IO wieder; aus Gr¨unden der Einheitlichkeit wird es in der vorliegenden Arbeit analog zu den u¨ brigen Faithfulness-Constraints als D EP-IO(µ) bezeichnet. 23 Diese Uberlegung ¨ ist selbstverst¨andlich bis zu einem gewissen Grad spekulativ, da sie nur auf negativer Evidenz, also dem Nicht-Vorkommen des Konturverlaufs, beruht. Um von Trunkierung auszugehen, muss f¨ur einen Output beispielsweise der Form LH ein abweichender, komplexerer tonaler Input angenommen werden, z.B. LHL. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich trotz anderer Erscheinung an der sprachlichen Oberfl¨ache um diese Tonfolge handelt, kann in experimentellen Daten ¨ dadurch kontrolliert werden, dass funktional vergleichbare Außerungen in identischem Kontext auf variierendem segmentellen Material produziert werden. Beim hier untersuchten Korpus handelt es ¨ sich jedoch um Außerungen aus spontansprachlichen Daten, die aufgrund der funktionalen Komplexit¨at und der Vielf¨altigkeit ihrer kontextuellen Einbettung keine Vergleichbarkeit gew¨ahrleisten.
113 4.3.2.3.2
Spezifizierung von N O R ISE
Wie verh¨alt sich nun der einsilbige Beleg zu den eingef¨uhrten Constraints? Er verst¨oßt gegen N O R ISE und beachtet dennoch T → µ und M AX-IO(T). Geht man jedoch von der oben gegebenen Constrainthierarchie aus, ist N O R ISE undominiert. Es m¨usste zwangsl¨aufig zur Tilgung des H-Tons kommen, so dass ein final tiefer Konturbeleg als optimaler Kandidat bleiben w¨urde, wie das n¨achste Tableau veranschaulicht. (57)
N O R ISE >> T → µ >> M AX -IO(T) >> D EP -IO(µ) >> N O FALL
Input: a. b. * + c. d.
σ' L* , H, L% l* h me.k.e.REI l* me.k.e.REI l* hl% me.k.e.REI l* hl% me.k.e.REI:
NoRise
T → µ
*!
Max-IO(T) Dep-IO(µ)
NoFall
* **
*! *!
*
* *
*
Kandidat b) wird durch diese Hierarchie als optimaler Kandidat bestimmt. Der tats¨achlich vorkommende Kandidat ist jedoch d). Dieser kann aber nur erreicht werden, wenn N O R ISE hinter T → µ und M AX-IO(T) eingeordnet wird. Vor dem Hintergrund des Bestrebens, f¨ur alle Belege unabh¨angig von der zugrundeliegenden Silbenzahl eine generell g¨ultige Constrainthierarchie zu bestimmen, stellt sich die Frage, ob diese Umstellung der Constraints f¨ur den einsilbigen Beleg vermieden werden kann. Alle 291 konturtragenden Belege mit Ausnahme des einsilbigen Belegs beachten N O R ISE, so dass dessen undominierter Status außer Zweifel steht. Eine L¨osungsm¨oglichkeit liegt in der Ber¨ucksichtigung der IP-finalen Position der Nukleussilbe. Zhang (2000) stellt in Bezug auf komplexe Konturt¨one in der Tonsprache Kukuya fest, dass die Kombination LHL nur in phrasenfinalen Silben vorkommt. Dies setzt sie in der optimalit¨atstheoretischen Darstellung durch ein positional tonal markedness constraint“ (Zhang 2000: 608) um, das die Kombination al” ler T¨one nur auf der finalen Silbe zul¨asst: *T1 T2 T3 -σnonfinal : no HLH or LHL is allowed on ” a nonfinal ?. (ebd. 608). Dieses spezifische positionelle Constraint kann als phonetisch be” gr¨undet (phonetically grounded, vgl. Kager 1999: 11) und damit universal angesehen werden, da phrasenfinale Silben durch final lengthening zus¨atzlich gedehnt werden und so mehr Zeit f¨ur die Realisierung der T¨one geben (vgl. Zhang 2000: 605ff.). F¨ur die vorliegenden Zwecke gen¨ugt es, das Constraint N O R ISE in dieser Hinsicht zu spezifizieren: N O R ISE-σnonfinal . Es blockiert alle Kombinationen von L und H in einer nicht phrasenfinalen Silbe (vgl. Gussenhoven 2004: 157ff.). (58)
N O R ISE-σnonfinal :
Die T¨one L und H d¨urfen nicht gemeinsam mit einer nicht phrasenfinalen Silbe verkn¨upft sein
114 Die Ersetzung des generellen N O R ISE durch dieses Constraint erlaubt es, die einsilbigen Belege gemeinsam mit den u¨ brigen Belegen unter einer Constrainthierarchie zusammenzufassen. Es kann f¨ur alle Belege undominiert gelten. Die Constrainthierarchie f¨ur die besprochenen ein- und zweisilbigen Belege lautet nun: (59)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> D EP -IO(µ) >> N O FALL
Die Hierarchie ist g¨ultig f¨ur alle Belege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf, beginnend bei der Grundlage von einer Silbe bis hin zu drei Silben (ANT.wor.ten, AR.bei.ten). Sie bewirkt, dass die Kombination von L und H in einer Silbe blockiert wird, sofern es sich nicht um die IP-finale Silbe handelt. Jeder Ton muss einer More zugewiesen werden k¨onnen, um realisiert zu werden. Das Einf¨ugen einer zus¨atzlichen More durch Dehnung ist m¨oglich, um ¨ die Ubernahme aller T¨one aus dem Input in den Output zu erm¨oglichen. Fallbewegungen auf einer Silbe kommen zugunsten der Einhaltung der u¨ brigen Constraints vor. Die ersten drei Constraints der Hierarchie stellen nun gewissermaßen die Minimalanforderungen dar, die gegeben sein m¨ussen, damit die Kontur u¨ berhaupt realisiert wird. Eine Verletzung eines der Constraints ist f¨ur die steigend-fallende Kontur fatal.
4.3.2.4
Kombination der Constrainthierarchien
Es ist jetzt zu fragen, ob sich das soeben erstellte Ranking mit dem f¨ur die mehrsilbigen Belege mit lexikalisch betonbarer postnuklearer Silbe in Einklang bringen l¨asst, so dass letztendlich eine Hierarchie aufgestellt werden kann, die f¨ur alle Inputs der steigend-fallenden Kontur die Realisierung des korrekten Outputkandidaten gew¨ahrleistet. ¨ Der Ubersichtlichkeit halber wird die Hierarchie f¨ur die Belege mit lexikalisch betonbarer Silbe an dieser Stelle nochmals angef¨uhrt (vgl. (45)): (60)
H → σLEX >> N OFALL >> A LIGN -RT
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Anwendung dieser Hierarchie auf die Belege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf falsche Aussagen u¨ ber den korrekten Outputkandidaten macht. Umgekehrt f¨uhrt auch die Anwendung der Constrainthierarchie in (59) auf die Belege mit lexikalisch betonbarer Silbe im Nachlauf zur Auswahl des falschen Kandidaten: Jeder Kandidat k¨ame in Frage, der den H-Ton nicht auf der Nukleussilbe und nicht auf der letzten Silbe platziert. Um die Ausrichtung des H-Tons f¨ur alle vorkommenden segmentellen Grundlagen zu beschreiben, ist deshalb eine Kombination der beiden Hierarchien notwendig. Es ist hierbei davon auszugehen, dass die Constraints, die im Zusammenhang mit den ein- bis dreisilbigen Belegen aufgestellt wurden, weiter links einzuordnen sind, d.h. h¨oher gewichtet werden als andere. Sie geben die Minimalanforderungen an die Realisierung und Ausrichtung des Tons wieder und werden auch von den vielsilbigen Belegen nicht verletzt – wenn sie bei diesen auch nicht in der Lage sind, den korrekten Kandidaten zu bestimmen. Umgekehrt jedoch verletzen alle Belege ohne lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf per definitionem ein wesentliches Constraint der Hierarchie f¨ur die Belege mit lexikalisch betonbarer Silbe im Nachlauf, n¨amlich H → σLEX . Diese Verletzung ist zwar nicht fatal, da das Constraint in den gegebenen F¨allen ein vacuous Constraint darstellt, das auf die Strukturbedingungen
115 des Inputs nicht zutrifft (es gibt keine lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf). Es ist aber dennoch nicht sinnvoll, es den anderen Constraints, die f¨ur alle Belege relevant sind, voranzustellen. W¨ahrend also die Rangfolge N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX-IO(T) >> D EP-IO(µ) >> N O FALL von allen Belegen ber¨ucksichtigt wird, gilt dies f¨ur die Rangfolge H → σLEX >> N O FALL >> A LIGN-RT nicht. Sie ist spezifischer und erfordert mehr Auswahlm¨oglichkeiten f¨ur die Ausrichtung des H-Tons. ¨ Eine Uberschneidung der Hierarchien ergibt sich bei dem Constraint N O FALL. Es kommt in beiden Hierarchien vor. Alle vor N O FALL eingestuften Constraints m¨ussen auch in der kombinierten Hierarchie vor ihm stehen, und alle dahinter vorkommenden Constraints m¨ussen in der kombinierten Hierarchie dahinter stehen. H → σLEX verh¨alt sich indifferent gegen¨uber D EP-IO(µ), beide aber dominieren N O FALL. Es ergibt sich somit die folgende Hierarchie: (61)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX, D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT
Die kombinierte Constrainthierarchie ist in der Lage, f¨ur alle Belege den korrekten Outputkandidaten auszuw¨ahlen. Dies soll exemplarisch an zwei Belegen durchgespielt werden, von denen der erste zwei lexikalisch betonbare Silben im Nachlauf besitzt (RAUS.ge.hen..mal), der zweite hingegen keine (TIE.re:).
b. c. d.
+
*!
Align-Rt
NoFall
Dep-IO(µ)
l* h l% RAUS.ge.hen..mal l* h l% RAUS.ge.hen..mal l* h l% RAUS.ge.hen..mal l* hl% RAUS.ge.hen..mal
H → σLex
a.
Max-IO(T)
σ', σLex , σ, σLex L* , H, L%
T → µ
Input:
NoRise-σnonfinal
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX , D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT
(62)
*** ** *!
* *!
Kandidat a) scheidet aufgrund einer Verletzung des hoch gerankten Constraints N O R ISEσnonfinal aus. Zur Auswahl stehen dann noch die Kandidaten b), c) und d). Kandidat c) verletzt das Constraint H → σLEX , weshalb nun noch b) und d) als optimale Kandidaten in Frage kommen. Ausschlaggebend ist nun das Constraint N O FALL, das von d) verletzt wird, von b) jedoch beachtet wird. Kandidat b) steht damit als korrekter optimaler Outputkandidat fest. Es folgt die Evaluierung des zweisilbigen Beleges TIE.re:
116
b. c.
+
d.
*!
Align-Rt
NoFall
Dep-IO(µ)
l* h l% TIE.re l* hl% TIE.re l* hl% TIE.re: l* h TIE.re
H → σLex
a.
Max-IO(T)
σ', σ L* , H, L%
T → µ
Input:
NoRise-σnonfinal
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX , D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT
(63)
* *!
* * *!
* *
*
*
Die Kandidaten a), b) und d) sind nicht optimal, da sie gegen N O R ISE-σnonfinal , T → µ bzw. M AX-IO(T) verstoßen. c) bleibt ohne Verstoß gegen diese Constraints und stellt damit den optimalen Kandidaten dar. Es f¨allt auf, dass die Verletzung von H → σLEX hier bereits keine Relevanz mehr f¨ur die Evaluierung des Outputs hat. Dies steht im Gegensatz zu den mehrsilbigen Belegen, die eine lexikalisch betonbare Silbe im Nachlauf aufweisen. Das bedeutet, dass im K¨olnischen f¨ur alle steigend-fallenden Belege ohne Plateau eine g¨ultige Constrainthierarchie aufgestellt werden kann, deren Relevanzbereiche aber abh¨angig vom Input variieren. Je mehr Optionen f¨ur die Alignierung des H-Tons gegeben sind, desto mehr Constraints m¨ussen ber¨ucksichtigt werden, um den korrekten Kandidaten zu erhalten.
4.3.2.5
Variation innerhalb der steigend-fallenden Kontur ohne Plateau
Obwohl die oben gegebene Constrainthierarchie den korrekten Output f¨ur die u¨ berwiegende Mehrzahl der vorkommenden steigend-fallenden Belege ausw¨ahlt, lassen sich doch einige Belege finden, die sich durch die Hierarchie nicht bestimmen lassen. Es handelt sich um insgesamt 18 Belege, die vor dem Hintergrund der erstellten Constrainthierarchie als nicht wohlgeformt zu bezeichnen sind. Die Abweichungen sind als unbegr¨undete Verst¨oße gegen die Constraints H → σLEX , A LIGN-RT und N O FALL beschreibbar, wie die folgende Auflistung veranschaulicht.
4.3.2.5.1
Verletzung von H → σLEX und A LIGN -RT
Gegen H → σLEX in seiner Interaktion mit A LIGN -RT verstoßen die folgenden Belege:
117 (64)
l* h l% SCHAT.ten..da
(65)
l* h l% TREPP.chen..is
(66)
l* h l% ver.LIE.ren..soll.te
(67)
l* h l% J¨ U.te..sie.jel
(68)
l* h l% WEI.ter..ent.wi.ck.eln
(69)
l* h l% ZU.ge.zo.ge.nen
(70)
l* h l% SPON.so.ren..nit
(71)
l* h l% SALZ.was.ser..schluck
(72)
l* h l% VOR.ruh.stand..ma.ch.en
(73)
l* h l% MIR.sie.ben..wo.ch.en
(74)
l* h l% WA.gen.he.ber..drun.ter
(75)
l* h l% EIN.ge.zo.gen..wor.den
(76)
l* h l% ho.TEL..be.kom.men..h¨ at.ten
(77)
l* h l% WA.gen..kau.fen..woll.te
(78)
l* h l% RAT.schl¨ a.ge..in..d=a.po.the.ke
(79)
l* h l% ¨ KRUTH.stra.ße..ge.born..is
Die ersten acht Belege verstoßen gegen H → σLEX . Die optimalen Kandidaten w¨urden H → σLEX in keinem der Belege verletzen. Die Belege (72) bis (79) verletzen zwar nicht H → σLEX , ausgehend von der Wirksamkeit von A LIGN -RT wird in den gegebenen Beispielen jedoch die falsche lexikalisch betonbare Silbe ausgew¨ahlt. Die Constrainthierarchie w¨urde beispielsweise in Beleg (72) die Silbe mach als Tr¨agersilbe bestimmen, in den Belegen (73) und (74) die Silben woch und drun. In Beispiel (79) w¨urde unter Mitwirkung von N O FALL die Silbe born als Tr¨agersilbe ausgew¨ahlt.
118 4.3.2.5.2
Verletzung von N O FALL
Gegen das Constraint N O FALL verstoßen die folgenden zwei Belege: (80)
l* hl% ¨ FAHRT..man..da
(81)
l* h l% GAR..nichts..mehr
H → σLEX wird in beiden Belegen nicht verletzt. Die Rangfolge H → σLEX >> N O FALL >> A LIGN -RT jedoch w¨urde dazu f¨uhren, den H-Ton auf der jeweils vorletzten Silbe man bzw. nichts zu realisieren. Knapp die H¨alfte der Abweichungen betrifft die Rechtsausrichtung des H-Tons bei mehr als einer lexikalisch betonbaren Silbe (8 Belege). Ebenfalls knapp die H¨alfte der Abweichungen missachtet die Ausrichtung an H → σLEX generell (8 Belege). Die u¨ brigen 2 Belege schließlich bewerten den Zwang zur Rechtsausrichtung h¨oher als das Constraint N O FALL. Es l¨asst sich folglich kein einheitliches Muster f¨ur alle Abweichungen aufstellen. Eine Ver¨anderung der bestehenden Constrainthierarchie ist deshalb nicht gerechtfertigt.
4.3.3
Der Tonh¨ohengipfel bei Konturen mit Plateau
Wie eingangs erw¨ahnt wurde, kommt die steigend-fallende Kontur im k¨olnischen Korpus in 59 F¨allen auch mit hoher Plateaubildung vor. Der folgende Abschnitt widmet sich nun der Frage, wie die Plateaubildung im Rahmen der Optimalit¨atstheorie beschrieben werden kann. F¨ur die OT-Analyse ist zun¨achst eine grunds¨atzliche Entscheidung zu treffen, n¨amlich, ob als Input ein oder zwei H-T¨one angenommen werden sollen. In der Literatur vorliegende tonologische Analysen dieses Konturverlaufs in K¨oln weisen zwei H-T¨one auf (vgl. Kapitel 4.1). Der erste an der Sprachoberfl¨ache auftretende H-Ton wird als Trailington zur tiefen Nukleussilbe interpretiert, der zweite H-Ton weiterhin als Phrasenakzent, so dass sich die Tonfolge L*+H H- L% ergibt (vgl. Gilles 2005, Peters 2004). Dies soll die Tatsache widerspiegeln, dass der erste H-Ton in Abh¨angigkeit zur Nukleussilbe steht und in ihrer unmittelbaren N¨ahe aligniert ist. Sowohl Peters als auch Gilles weisen allerdings auf große Variation bei der Ausrichtung des ersten H-Tons hin. Diese Variation l¨asst sich auch im vorliegenden Korpus nachweisen. Das Plateau kann in der Folgesilbe zur Nukleussilbe, aber auch erst (maximal) drei Silben sp¨ater und auf allen Silben dazwischen einsetzen, wie die folgenden Beispiele zeigen: (82)
l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um
(83)
l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te
(84)
l* h h l% ¨ WAH.rungs.re.form..dann..kam
119 (85)
l* h h l% FAR.be..drauf..ge.tr¨ au.felt
Der Beginn des Plateaus, und damit die Ausrichtung des ersten H-Tons, ist demnach so variabel, dass es meines Erachtens nicht sinnvoll ist, von einem bitonalen Akzentton auszugehen. Dar¨uber hinaus erscheint es nicht w¨unschenswert, die steigend-fallende Kontur in dem einen Fall durch einen bitonalen Akzentton mit Phrasenakzent zu beschreiben und im anderen Fall durch einen monotonalen Akzentton mit Phrasenakzent.24 Nichtsdestotrotz muss die plateauartige Auspr¨agung in Abgrenzung zum einsilbigen Tonh¨ohengipfel durch irgendein zus¨atzliches tonales Ereignis erkl¨art werden. Bis auf wenige Ausnahmen endet das Plateau auf der letzten lexikalisch betonbaren Silbe der Intonationsphrase, so dass der zweite H-Ton offenbar die Anforderungen des “gew¨ohnlichen” Phrasenakzents erf¨ullt, der im vorangegangenen Unterabschnitt beschrieben wurde: Er ist mit einer lexikalisch betonbaren Silbe verbunden und weist eine Tendenz zur rechten Phrasengrenze auf. Erkl¨arungsbed¨urftig verbleibt somit der Beginn des Plateaus, also der tonologische Status des ersten H-Tons. Dieser ist weder regelm¨aßig mit einer lexikalisch betonbaren Silbe verkn¨upft, noch orientiert er sich systematisch an der Grenze des prosodischen Wortes oder irgend einer anderen prosodischen Konstituente, wie die oben gegebenen Beispiele bereits andeuten. Es l¨asst sich im gesamten Korpus der 59 Belege keine einheitliche Tendenz f¨ur die Ausrichtung des ersten H-Tons feststellen. Die u¨ berblicksartige Darstellung zu “Tonausbreitung und mehrfacher Ausrichtung” in Peters (2006a: 38ff.) stellt drei M¨oglichkeiten zusammen, um plateauf¨ormige Auspr¨agungen auf der Basis eines Tones zu konzipieren: Mehrfache Assoziation, mehrfaches Alignment und tone copying. W¨ahrend mehrfache Assoziation und mehrfaches Alignment in nur einem Ton resultieren, f¨uhrt tone copying zu mehr als einem Ton. Mehrfache Assoziation und mehrfaches Alignment unterscheiden sich unter anderem darin voneinander, dass bei mehrfacher Assoziation nur ein phonetischer Zielpunkt spezifiziert ist, bei mehrfachem Alignment aber mehr als einer. Im vorliegenden Fall ist weiterhin von Bedeutung, dass die zeitliche Realisierung bei mehrfacher Assoziation stabiler sein soll als bei mehrfachem Alignment. Eine stabile zeitliche Realisierung ist bei den zur Diskussion stehenden Plateaubildungen in keinster Weise gegeben. Auch das Konzept des mehrfachen Alignments ist jedoch problematisch, da hier zwar eine gewisse Variabilit¨at in der zeitlichen Realisierung zul¨assig ist, jedoch eigentlich eine Ausrichtung an der “Kante” einer prosodischen Konstituente oder eines Tons erkennbar sein sollte. Wie oben bereits gezeigt wurde, l¨asst sich jedoch kein solches Element ausmachen. Beide Konzepte scheinen somit f¨ur das untersuchte Datenmaterial nicht ohne weiteres zutreffend zu sein. Die dritte M¨oglichkeit des tone copying wird von Grice et al. (2000) u.a. im Zusammenhang mit dem EEQT (Eastern European Question Tune) angesprochen. Die EEQT besteht aus einer steigend-fallenden finalen Tonh¨ohenbewegung, die je nach Sprache und Dialekt – wie im K¨olnischen – mit und ohne plateauartige Auspr¨agung vorkommen kann (siehe hierzu auch Kap. 4.1). Die Plateauform f¨uhren Grice et al. nun auf einen H-Phrasenakzent zur¨uck, der zu einer weiteren Assoziationsstelle “kopiert” wird. Die von ihnen untersuchten Variet¨aten mit hohem Plateau (transsilvanisches Ungarisch und Rum¨anisch) weisen einen steilen An24
Kapitel 4.4 wird obendrein zeigen, dass es hinsichtlich des konversationellen Gebrauchs keinen Unterschied zwischen den steigend-fallenden Konturen mit plateauf¨ormigem Gipfel und denen mit einsilbigem Gipfel gibt.
120 stieg zum Plateau auf, so dass sie den ersten H-Ton mit der nuklearen Silbe in Verbindung bringen: “Specifically, we analyse the plateau as being the result of two occurrences of a H- phrase accent tone, one associated with the nuclear syllable and one with the appropriate postnuclear stressed syllable. [...] With either a multiple association or a copying analysis, [...] the high plateau can be explained as the reflex of the H- phrase accent.” (ebd. 160)
Wie dem Zitat zu entnehmen ist, interpretieren Grice et al. das Plateau als “Reflex” des hohen Phrasenakzents, wobei sie weder tone copying noch mehrfache Assoziation ausschließen. Kopierte T¨one sollen sowohl Downstep als auch Deklination unterliegen (vgl. Peters 2006a: 41), was allerdings bei den zur Diskussion stehenden Plateaukonturen nicht u¨ berpr¨uft werden kann, da der H-Ton zum einen nach links kopiert wird und zum anderen nicht in einem Downstep hervorrufenden tonalen Kontext erscheint (es geht kein anderer H-Ton vorweg). Es muss an dieser Stelle daher gesagt werden, dass auf der Basis des vorhandenen Datenmaterials keine endg¨ultige Entscheidung hinsichtlich des zutreffenden Konzeptes getroffen werden kann. Es ist zu bedenken, dass nur 59 spontansprachliche Konturbelege zur Verf¨ugung stehen, die in Hinblick auf den Plateaubeginn stark variieren. Eine Analyse auf der Grundlage eines gr¨oßeren Korpus kann hier m¨oglicherweise deutlichere Tendenzen zu Tage f¨ordern und zu mehr Klarheit hinsichtlich des angemessenen Konzeptes f¨uhren. Im Folgenden soll nun die OT-Analyse auch f¨ur die Konturbelege mit Hochplateau fortgesetzt werden; das Konzept, das der Analyse zugrunde gelegt wird, ist das des tone copying, wobei nicht auszuschließen ist, dass sich nach zuk¨unftigen Analysen andere Konzepte als angemessener herausstellen werden.
4.3.3.1
Der Plateaubeginn: Ausrichtung des ersten H-Tons
Im Gegensatz zu den Hochplateaus der ungarischen und rum¨anischen Variet¨aten erscheint der erste H-Ton der steigend-fallenden Konturen im K¨olnischen nicht in unmittelbarer Folge der Nukleussilbe. Seine Ausrichtung ist im untersuchten Korpus variabel und nur durch einen Mindestabstand sowohl zur vorangehenden tiefen Nukleussilbe als auch zum das Plateau abschließenden H-Ton eingeschr¨ankt. Die OT-Analyse muss folglich in der Lage sein, dieses variable Alignment des ersten H-Tons zum Ausdruck zu bringen. F¨ur den zweiten H-Ton tritt die zuvor unter (61) bestimmte Constrainthierarchie in Kraft. Die erforderliche Variabilit¨at der Hierarchie f¨ur den ersten H-Ton wird durch Unterdeterminierung der Hierarchie erreicht. Ihr Einsatz f¨uhrt damit nicht zu einem optimalen Output, sondern erbringt mehrere Kandidaten, die gleichermaßen als optimal gelten. Im Input befindet sich als zugrundeliegende Form wie bei der steigend-fallenden Kontur ohne Plateau nur ein H-Ton. Input und Output weichen also in der Anzahl der vorhandenen T¨one voneinander ab, da an der sprachlichen Oberfl¨ache von zwei H-T¨onen ausgegangen werden muss. Es muss deshalb ein Constraint geben, das eine “Kopie” des H- Phrasenakzents erstellt: H-C OPY.25 25
Ein solches Constraint verst¨oßt gegen OCP-Constraints, weshalb der zweite h-Ton besser durch ein externes Kriterium erzwungen werden sollte (Richard Wiese, p.c.). Bei den vorliegenden Daten ist
121 (86)
H-C OPY:
Kopiere den H-Ton
F¨ur das Alignment des zus¨atzlichen H-Tons ist nun die Einhaltung von N O R ISE erforderlich, da der Ton nie bereits in der Nukleussilbe erscheint. Das Constraint N O R ISE bleibt damit undominiert. Im Gegensatz zum zweiten H-Ton, (und zur gew¨ohnlichen eingipfligen Kontur mit H-Phrasenakzent), ist es nicht notwendig, von einem spezifischen Constraint wie H → σLEX auszugehen. Um sicherzustellen, dass der H-Ton an der Oberfl¨ache erscheint, gen¨ugt das Constraint H-C OPY. Hinsichtlich der Silbenstruktur ist der H-Ton mit einer beliebigen Silbe aligniert. Sie kann, muss aber nicht lexikalisch betonbar sein. Auch reduzierte Silben sind als Positionierungsstelle m¨oglich, selbst wenn eine lexikalisch betonbare Silbe als potenzielle Tr¨agersilbe vorhanden ist. Die sich ergebende Rangfolge N O R ISE-σnonfinal >> H-C OPY reicht jedoch noch nicht aus, um die Plateaubildung ausreichend einzuschr¨anken, wie das folgende Tableau anhand des Belegs VOR..dei.nem..a.qua.ri.um veranschaulicht. Die Rangfolge ist nicht in der Lage, Kandidaten zu verhindern, die das Plateau zur Phrasengrenze hin ausrichten, den kopierten H-Ton also hinter dem u¨ blichen H-Phrasenakzent positionieren. N O R ISE-σnonfinal >> C OPY-H
(87) Input: a.
+
b. * +
σ', σLex, , σ, σ, σLex , σ, σ L* , H, L% l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um
NoRise-σnonfinal
H-Copy
Kandidat a) wird korrekterweise ausgew¨ahlt, da der H-Ton auf einer der Silben zwischen L* und H- positioniert wird. Kandidat b) hingegen wird f¨alschlicherweise ausgew¨ahlt. Es sind keine F¨alle belegt, bei denen das Plateau nach dem ordnungsgem¨aß auf der letzten lexikalisch betonbaren Silbe ausgerichteten H-Phrasenakzent produziert wird. Die inkorrekte Auswahl zeigt, dass das Constraint zur Verhinderung dieser Positionierung des kopierten H-Tons noch weiter spezifiziert werden sollte, indem die Richtung angegeben wird, in die der Ton kopiert werden soll:26 (88)
H-C OPY-LT:
Kopiere den H-Ton nach links
es jedoch m.E. unklar, worin dies bestehen sollte, da sich keine eindeutigen Assoziations- und/oder Alignmentkriterien f¨ur den h-Ton ausmachen lassen. Die einzige M¨oglichkeit best¨unde m.E. darin, den Beginn des Plateaus nicht mit dem H-Phrasenakzent in Beziehung zu setzen, sondern auf einen H-Trailington zur¨uckzuf¨uhren, der variabel ausgerichtet ist, wie dies Gilles (2005) und Peters (2006a) tun. Dadurch w¨urden allerdings die zur Diskussion stehenden Varianten der steigendfallenden Kontur einen unterschiedlichen Input aufweisen, so dass der Versuch, sie in einer Constrainthierarchie abzubilden, ohnehin hinf¨allig w¨are. 26 Dieses Constraint ist in Anlehnung an Gussenhovens (2004: 153ff.) Constraints f¨ ur mehrfaches Alignment gebildet.
122 Durch dieses Constraint ist gew¨ahrleistet, dass nur Silben als Tr¨agersilben in Frage kommen, die links von H- stehen. Es ergibt sich folgendes Ranking der Constraints: (89)
N O R ISE -σnonfinal >> H-C OPY-LT
Das n¨achste Tableau zeigt alle m¨oglichen Outputkandidaten, die von der Hierarchie als optimal bestimmt werden. Sie zeigt zudem den Ausschluss des obigen Kandidaten, der jetzt H-C OPY-LT verletzt. N O R ISE-σnonfinal >> H-C OPY-LT
(90) Input: a.
+
b.
+
c.
+
d. e. f.
σ', σLex, , σ, σ, σLex , σ, σ L* , H, L% l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um l* h h l% VOR..dei.nem..a.qua.ri.um
NoRise-σnonfinal
H-Copy-Lt
*! *! *!
Die Constrainthierarchie bestimmt die Kandidaten a) bis c) als optimal, die Kandidaten d) bis f) hingegen scheiden aus. N O R ISE verhindert die Positionierung des kopierten H-Tons noch in der Nukleussilbe (f), C OPY-H-LT verhindert sowohl, dass dem Input kein weiterer H-Ton hinzugef¨ugt wird (e), als auch die Verschiebung des kopierten H-Tons hinter den HPhrasenakzent (d). Es wird somit nicht ein einziger optimaler Kandidat erw¨ahlt, sondern mehrere Formen. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass alle diese Kandidaten gleichermaßen wohlgeformt sind.
123 4.3.4
Gemeinsame Constrainthierarchie der tonologischen Varianten
Es ist nun zu u¨ berlegen, ob die beiden Varianten des Inputs L* H- L% in einer Constrainthierarchie zusammengefasst werden k¨onnen. Die folgende Abbildung veranschaulicht noch einmal die vorkommende Variation. Gemeinsamer Input: L* H- L%
I Kontur ohne Plateau
II Kontur mit Plateau
Position von H-:
Position von kopiertem H-: (generell variabel)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX, D EP -IO(µ)
N O R ISE-σnonfinal >> H-C OPY-LT
>> N O FALL >> A LIGN -RT → gilt f¨ur 273 Belege
→ gilt f¨ur 59 Belege
Abweichungen: • Verst¨oße gegen diverse Constraints → 18 Belege
Abbildung 4.41: Vorkommen und Constrainthierarchien der tonologischen Varianten der steigendfallenden Kontur
Die steigend-fallende Kontur weist zwei Varianten auf: eine Variante mit hoher Plateaubildung und eine Variante ohne Plateaubildung. Mit insgesamt 291 Belegen ist die Auspr¨agung ohne Plateau wesentlich h¨aufiger als die mit Plateau, die 59 Belege aufweist. Die Ausrichtung des H-Phrasenakzents ist als sehr regelm¨aßig zu bezeichnen: nur 18 der 291 Belege weichen von der erstellten Constrainthierarchie ab. Bei den Plateaus entspricht die Position des zweiten H-Tons, der das Ende des Plateaus festlegt, dem H-Phrasenakzent und ist entsprechend regelm¨aßig. Der Beginn des Plateaus jedoch, der auf einen kopierten H-Ton zur¨uckgef¨uhrt wird, ist variabel. Die Constrainthierarchie ist entsprechend unterdeterminiert, um jeweils alle vorkommenden Auspr¨agungen als optimale Outputkandidaten bestimmen zu k¨onnen. Ein gemeinsames Ranking muss in der Lage sein, die zwei (und nur die zwei) Varianten als optimalen Output zu bestimmen. Das Ranking sollte außerdem in der Lage sein, ann¨ahernde Aussagen u¨ ber die H¨aufigkeitsverteilung der Varianten zu machen. Zur Darstellung von Variation im Rahmen der Optimalit¨atstheorie sind verschiedene Vorschl¨age gemacht worden. Ihnen ist gemeinsam, dass die Rangfolge der Constraints gelockert wird. Der urspr¨ungliche Anspruch der OT, jedes einzelne Constraint in Hinblick auf jedes andere Constraint eindeutig bewerten zu m¨ussen, wird dadurch aufgehoben. Stattdessen besteht die M¨oglichkeit, beispielsweise durch eine “partial order” (Anttila & Cho 1998) oder ein “floating constraint” (Nagy & Reynolds 1997) Variation systematisch in die Hierarchie zu integrieren.
124 Zur Darstellung der vorliegenden Variation wird der Ansatz der floating constraints gew¨ahlt. Er besagt, dass ein oder mehrere Constraints nicht fest an eine Stelle in der Hierarchie gebunden sind, sondern in einem bestimmten Bereich floaten k¨onnen, also mehrere Ankerpunkte in der Hierarchie aufweisen k¨onnen. Auch benachbarte Constraints k¨onnen untereinander floaten und so einmal den einen, einmal den anderen Kandidaten als optimal ausw¨ahlen. Ein Blick auf die beiden dargestellten Constrainthierarchien verdeutlicht, dass zun¨achst ein Constraint ben¨otigt wird, das die Kopie des H-Tons verhindert. Dieses k¨onnte dann als floating constraint eingesetzt werden. Da durch die Kopie des H-Tons ein zus¨atzlicher Ton im Output erscheint, der nicht im Input gegeben ist, bietet es sich an, zu dessen Vermeidung ein Faithfulness-Constraint einzusetzen, das die Hinzuf¨ugung eines Tones bestraft: D EP-IO(T).27 (91)
D EP -IO(T):
Jeder Ton im Output muss eine Entsprechung im Input haben
Steht dieses Constraint nun vor H-C OPY-LT, so gewinnt der Kandidat ohne Plateaubildung, steht es jedoch hinter H-C OPY-LT, so gewinnt der Kandidat mit Plateaubildung.
(92)
. . . >>
H-C OPY-LT >> . . . D EP -IO(T)
Die geschweiften Klammern machen deutlich, dass die beiden Constraints untereinander floaten. Je nachdem, welches bei der Auswahl des Kandidaten h¨oher gerankt ist, kommt es zur Auswahl eines anderen Kandidaten. Die Variation zwischen Plateau und Nicht-Plateau kann somit durch das Floaten der beiden Constraints erzielt werden. Dieses Teilranking w¨urde allerdings bedeuten, dass jeweils in 50% der F¨alle ein plateauf¨ormiger bzw. nicht-plateauf¨ormiger Kandidat gewinnt. Das entspricht nicht der tats¨achlichen H¨aufigkeitsverteilung, wie sie im Korpus festgestellt wurde. Diese liegt bei einem Verh¨altnis von ca. 5:1, d.h. die Auspr¨agung ohne Plateau kommt f¨unfmal h¨aufiger vor, als die Auspr¨agung mit Plateau. Um diese H¨aufigkeitsverteilung zu erzielen, muss der Floatingbereich des Constraints ver¨andert werden. Der Bereich muss in der Weise gestaltet sein, dass mehr Hierarchien einen Kandidaten ohne Plateau als optimal ausweisen als einen Kandidaten mit Plateau. Das bedeutet, dass D EP-IO(T) keinesfalls noch weiter hinter H-C OPY-LT floaten darf, denn in diesen F¨allen bestimmt die Hierarchie einen Kandidaten mit Plateau als optimal. D EP-IO(T) muss stattdessen, wenn m¨oglich, weiter nach links floaten, da wann immer es vor H-C OPY-LT eingestuft ist, nicht-plateauf¨ormige Kandidaten ausgew¨ahlt werden. H-C OPYLT muss den Constraints N O R ISE-σnonfinal und T → µ unterstellt sein, gegen¨uber den u¨ brigen Constraints verh¨alt es sich indifferent. Eine einfache M¨oglichkeit besteht deshalb darin, das Constraint H-C OPY-LT an letzter Stelle der Hierarchie einzuordnen und das Constraint D EPIO(T) entsprechend floaten zu lassen. Die als Mindestanforderung f¨ur die Realisierung der Kontur herausgestellten ersten drei Constraints fallen auf diese Art nicht in den Floatingbereich von D EP-IO(T). Der relevante Constraintbereich f¨ur das floating constraint D EP-IO(T) ist folgendermaßen zu beschreiben:
27
Bei alternativen Konzipierungen des Plateaus durch mehrfache Assoziation oder mehrfaches Alignment m¨usste man an dieser Stelle wohl mit den Constraints N O S PREAD oder N OTARGET in Interaktion mit entsprechenden Assoziations- und Alignmentcontraints arbeiten, die die Ausbreitung des Tones erfordern (vgl. Gussenhoven 2004: 148ff.).
125 (93)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >>
............ . . . . . . ........ . . . ..........D EP -IO(T)............. . . . ......... . . . . . . ........ H → σLex , D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT >> H-C OPY-LT
Die geschweiften Klammern geben den Bereich an, in dem das Constraint floatet. Es kann zum einen vor H → σLex , D EP-IO(µ), N O FALL, A LIGN -RT und H-C OPY-LT stehen, zum anderen aber auch hinter H-C OPY-LT. Nur im letzten Fall kommt es zur Auswahl eines Kandidaten mit Plateaubildung, in den u¨ brigen f¨unf F¨allen hingegen zur Auswahl eines Kandidaten ohne Plateau. Dieses Constraintranking sagt somit eine H¨aufigkeitsverteilung von 5:1 vorher.28 Die folgenden exemplarischen Evaluierungen verschiedener Kandidaten sollen erweisen, ob D EP-IO(T) tats¨achlich in allen dargestellten Positionen stehen kann und zur Auswahl des optimalen Kandidaten f¨uhrt. Die Positionen werden von links nach rechts vorgestellt. Im ersten Tableau steht D EP-IO(T) also vor H → σLex , im zweiten vor D EP-IO(µ) usw.
d. e. f.
+
NoFall
*!
*!
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
Dep-IO(µ)
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
H → σLex
a.
Dep-IO(T)
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
Max-IO(T)
Input:
T → µ
Erste Position von D EP -IO(T): Kein Plateau NoRise-σnonfinal
(94)
** ** ***
*
*!*
*
* *
*!
*
*
*
* *
Die Evaluierung verdeutlicht, dass das Ranking den korrekten Outputkandidaten ohne Plateaubildung ausw¨ahlt. Das Gleiche gilt f¨ur die folgenden vier Evaluierungen, bei denen – bei nach rechts floatendem D EP-IO(T) – ebenfalls der Kandidat ohne Plateau als optimal bestimmt wird.
28
Geht man davon aus, dass auch die Constraints H → σLex und D EP-IO(µ) ihre Positionen tauschen k¨onnen, erh¨alt man ein Verh¨altnis von 6:1.
126
d. +
f.
*!
NoFall
Dep-IO(µ)
*!*
*
*
*
*
*
* *
d. +
NoFall
*!
*!
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
Dep-IO(T)
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
Dep-IO(µ)
a.
H → σLex
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
f.
*
Dritte Position von D EP -IO(T): Kein Plateau
Input:
e.
** ** ***
*
Max-IO(T)
(96)
*!
T → µ
e.
*!
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
Dep-IO(T)
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
H → σLex
a.
Max-IO(T)
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
T → µ
Input:
NoRise-σnonfinal
Zweite Position von D EP -IO(T): Kein Plateau
NoRise-σnonfinal
(95)
** ** ***
*
*!*
*
* *
*!
*
*
*
* *
127
d. +
f.
*!
*
Dep-IO(T)
NoFall
*!*
*
*
*
*
b. c. d. +
* *
*!
*
*!*
*
* *
*
H-Copy-Lt
** ** ***
*
*!
Dep-IO(T)
*
Align-Rt
*!
NoFall
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
Dep-IO(µ)
a.
H → σLex
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
f.
*
F¨unfte Position von D EP -IO(T): Kein Plateau
Input:
e.
** ** ***
*
Max-IO(T)
(98)
*!
T → µ
e.
*!
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
Dep-IO(µ)
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
H → σLex
a.
Max-IO(T)
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
T → µ
Input:
NoRise-σnonfinal
Vierte Position von D EP -IO(T): Kein Plateau
NoRise-σnonfinal
(97)
*
*! * *
128 Erst die folgende Constrainthierarchie erwirkt einen gravierenden Unterschied und erw¨ahlt nun nicht mehr Kandidat e) ohne Plateau, sondern Kandidat d) mit Plateau als optimalen Output.
d. e. f.
+
*!
** ** ***
*
*!*
*
*
* * *!
*
*
Dep-IO(T)
H-Copy-Lt
c.
*
Align-Rt
b.
*!
NoFall
l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* h l% AB.ge.m¨ aht..hat.te l* hl% AB.ge.m¨ aht..hat.te
Dep-IO(µ)
a.
H → σLex
σ', σ, σLex , σLex , σ L* , H, L%
Max-IO(T)
Input:
T → µ
Letzte Position von D EP -IO(T): Plateau NoRise-σnonfinal
(99)
* *! *
Die Evaluierungen haben erwiesen, dass alle dargestellten Positionen von D EP-IO(T) zur Auswahl des korrekten Kandidaten ohne (5x) bzw. mit Plateau (1x) f¨uhren. Die durch das floating constraint variabel gestaltete Constrainhierarchie ist somit in der Lage, die steigendfallenden Konturen im K¨olnischen mit ihren Varianten und deren Vorkommensh¨aufigkeiten zu beschreiben. Das obige Schaubild zur Variation der Kontur im K¨olnischen kann nun um die gemeinsame Constrainthierarchie f¨ur die beiden Varianten erg¨anzt werden.
129 Gemeinsamer Input: L* H- L%
I Kontur ohne Plateau
II Kontur mit Plateau
Position von H-:
Position von kopiertem H-: (generell variabel)
N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >> H → σLEX, D EP -IO(µ)
N O R ISE-σnonfinal >> H-C OPY-LT
>> N O FALL >> A LIGN -RT → gilt f¨ur 273 Belege
→ gilt f¨ur 59 Belege
Abweichungen: • Verst¨oße gegen diverse Constraints → 18 Belege
Gemeinsame Constrainthierarchie N O R ISE-σnonfinal >> T → µ >> M AX -IO(T) >>
............ . . . . . . ........ . . . ..........D EP -IO(T)............. . . . ......... . . . . . . ........ H → σLex , D EP -IO(µ) >> N O FALL >> A LIGN -RT >> H-C OPY-LT
Abbildung 4.42: Gemeinsame Constrainthierarchie der tonologischen Varianten der steigend-fallenden Kontur
4.3.5
Zusammenfassung
Die Darstellung der Positionierung des H-Tons bei einsilbigen postnuklearen Tonh¨ohengipfeln und bei postnuklearen Hochplateaus hat erwiesen, dass der H-Ton bzw. das Plateauende an einer lexikalisch betonbaren Silbe ausgerichtet ist. Zugleich weist er eine Tendenz zur rechten Phrasengrenze auf. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass es sich bei dem Gipfel der final steigend-fallenden Konturen um einen H- Phrasenakzent handelt (vgl. Grice et al. 2000, Grice & Baumann 2002). Die Auspr¨agungen mit und ohne Plateau k¨onnen beide auf diesen Phrasenakzent zur¨uckgef¨uhrt werden. Der erste H-Ton der Plateaus, der den fr¨uheren Anstieg zur hohen Tonh¨ohe bewirkt, wird zum gegebenen Zeitpunkt als eine “Kopie” des H-Phrasenakzents konzipiert. Dies hat den Vorteil, dass beide Auspr¨agungen der steigendfallenden Kontur als Varianten einer Kontur aufgefasst werden k¨onnen. Die tonologischen Varianten werden im Folgenden als l* h- l% und l* hc h- l% wiedergegeben. Das indizierte ‘c’ verweist auf den Status des ersten H-Tons als “kopierter” H-Phrasenakzent. Die funktionale Analyse muss erweisen, ob es sich bei diesen Varianten um Allotone in freier Variation handelt, oder ob sie sich mit unterschiedlichen konversationellen Funktionen korrelieren lassen, also als komplement¨ar distribuierte Allotone zu beschreiben sind.
130
4.4
Phonologische Interpretation: Konversationelle Funktionen
Das folgende Kapitel widmet sich den Funktionen der final steigend-fallenden Konturen im K¨olnischen. In Abschnitt 4.1 wurde bereits ein Forschungs¨uberblick u¨ ber Untersuchungen zu Funktionen steigend-fallender Konturen im Deutschen gegeben, darunter auch zum K¨olnischen. In diesem Abschnitt werden nun die eigenen Ergebnisse der funktionalen Analyse vorgestellt. Zun¨achst ist darauf hinzuweisen, dass die steigend-fallende Kontur im K¨ol¨ ¨ nischen sowohl bei deklarativen Außerungen als auch bei interrogativen Außerungen vor¨ ¨ kommt, wobei die deklarativen Außerungen im untersuchten Korpus von 350 Außerungen mit 307 Konturvorkommen den weitaus gr¨oßeren Anteil ausmachen als die interrogativen ¨ Außerungen, auf die 43 Konturvorkommen entfallen. Beide Vorkommen werden getrennt ¨ voneinander behandelt: Kapitel 4.4.1 widmet sich den deklarativen Außerungen, in Kapitel ¨ 4.4.2 werden die interrogativen Außerungen besprochen. Methodisch orientiert sich die Analyse in beiden F¨allen an der Interaktionalen Prosodieforschung. Der umgebende Kontext der Kontur, die Kookkurrenz mit anderen sprachlichen Merkmalen und vor allen Dingen die Rezipientenreaktionen auf die Kontur bilden die Basis der Analyse. Die Analyse umfasst sowohl quantitative als auch qualitative Verfahren.
4.4.1
¨ Deklarative Außerungen
Die Analyse konzentriert sich auf die Funktionen der steigend-fallenden Kontur f¨ur die Einheitenkonstruktion und den Sprecherwechsel (Kap. 4.4.1.1 bis 4.4.1.3) sowie auf spezifische Kontextualisierungsfunktionen im Zusammenhang mit konversationellen Aktivit¨aten (Kap. 4.4.1.6). Weiterhin werden typische Sequenzformate des Vorkommens der Kontur vorgestellt (Kap. 4.4.1.5).
4.4.1.1
Einleitung: Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel
Mit der Arbeit von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) sind die Einheitenkonstruktion und der Sprecherwechsel als von den Interaktionsteilnehmern gemeinsam zu bew¨altigende Aufgabe in den Vordergrund konversationsanalytischen Interesses ger¨uckt. Seitdem sind zahlreiche Publikationen erschienen, die sich mit diesem Thema, insbesondere auch im Zusammenhang mit Intonation, besch¨aftigen.29 Drei grundlegende Aspekte des wegweisenden Artikels bestimmen auch die folgende Analyse: Erstens, Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel werden als interaktive Leistungen betrachtet. Zweitens, diese Leistungen werden als Ph¨anomene mit inh¨arentem zeitlichem Charakter betrachtet, und drittens, zur Umsetzung von Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel werden Mittel verschiedener sprachlicher Ebenen eingesetzt. Dieser letzte Aspekt bleibt bei Sacks et al. zwar weitgehend unber¨uhrt – sie erw¨ahnen knapp syntaktische und intonatorische Mittel, legen die weitere Analyse der 29
Siehe z.B. zum Englischen French & Local (1983, 1986) Cutler & Pearson (1986), Wells & Pepp´e (1996), Furo (2001); zum Holl¨andischen Caspers (1998, 2003); zum Deutschen Selting (1995), Auer (1996b).
131 sprachlichen Merkmale von Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel aber zuk¨unftiger linguistischer Forschung nahe (vgl. Sacks et al. 1974: 703, siehe auch Kap. 2.3). Die (interaktional orientierte) linguistische Forschung hat sich diesem Themenbereich dann auch zugewandt und einige Ergebnisse erzielt, die als Diskussionshintergrund f¨ur die Analyse dienen werden (vgl. Schegloff 1996: 53). Zur Kl¨arung der Rolle der final steigend-fallenden Intonationskontur f¨ur die Konstruktion von Turneinheiten und den Sprecherwechsel wird nun zun¨achst dieser Diskussionshintergrund n¨aher beleuchtet. Was ist unter einer Turneinheit zu verstehen, und wie wird sie konstruiert? Welche sprachlichen Ebenen sind relevant f¨ur die Umsetzung von Turnabgabe und Turnbeibehaltung? Um diese Fragen beantworten zu k¨onnen, wird zuerst knapp das Turn-Taking-Modell von Sacks et al. vorgestellt und diskutiert. Es werden dann die sprachlichen Ebenen, auf denen Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel organisiert werden, dargestellt. Wie oben erw¨ahnt wurde, stellen die interaktive Koordination, der zeitliche Charakter und die sprachliche Umsetzung auf verschiedenen Ebenen (und damit auch die Beobachtbarkeit des Ph¨anomens, vgl. Kap. 2.3) wesentliche Aspekte des Turn-Taking-Modells von Sacks, Schegloff und Jefferson (1974) dar. Das Modell soll kontextfrei und kontextsensitiv sein, es abstrahiert also von Gegebenheiten des aktuellen (situativen) Kontexts und stellt einen Mechanismus dar, der an aktuelle Kontexte angepasst werden kann (699). Es besteht aus einer turn-constructional component und aus einer turn-allocation component, die die Konstruktion und Zuweisung von Redebeitr¨agen regulieren. Die Konstruktion eines Redebeitrags beruht auf verschiedenen unit-types, die von den Sprechern eingesetzt werden. Besonderes Merkmal solcher unit-types ist, dass sie Projektionen hinsichtlich ihrer Beendigung aufbauen. Zum Zeitpunkt ihrer Beendigung entsteht dann eine M¨oglichkeit zur Turn¨ubergabe, der turn¨ubergabe-relevante Raum (transition-relevance place oder TRP), der auf der Grundlage der aufgebauten Projektion f¨ur die anderen Interaktionsteilnehmer “vorhersehbar” ist. Eine Turnkonstruktionseinheit (turn constructional unit, im Folgenden auch TCU) m¨undet demnach in einen TRP, der von Teilnehmern zum Sprecherwechsel genutzt werden kann, aber nicht muss. Diese Komponente des Modells bildet die Basis daf¨ur, dass zumeist nur ein Sprecher spricht, dass Phasen gemeinsamen Sprechens zwar vorkommen, aber kurz sind, und dass ¨ Sprecherwechsel u¨ berwiegend ohne oder mit nur minimalen Uberlappungen oder Pausen vorkommen (vgl. die Beobachtungen (2) bis (4), die der Erl¨auterung des Modells bei Sacks et al. vorweg gehen (700-701)). Die Turnzuweisung wird mit Hilfe eines Regelapparates gew¨ahrleistet, der die Selbstwahl und Fremdwahl des n¨achsten Sprechers umfasst. Wenn durch den aktuellen Redebeitrag ein n¨achster Sprecher gew¨ahlt wird (“current speaker selects next”), so hat nur dieser das Recht und die Verpflichtung, den Turn zu u¨ bernehmen30 (Regel 1a). Wird durch den aktuellen Beitrag kein neuer Sprecher ausgew¨ahlt, so erh¨alt der Sprecher den Turn, der zuerst einsetzt 30
Es ist zu beachten, dass das Format ‘current speaker selects next’ offenbar nicht die Selbstwahl des aktuellen Sprechers umfasst. Im Zusammenhang mit der lokal regulierten Verteilung der Redebeitr¨age schreiben die Autoren zwar: “rule 1a allows current speaker to select any other party as next speaker” (711; Hervorhebung P.B.). Regel 1c legt jedoch die Interpretation nahe, dass Selbstwahl des aktuellen Sprechers nicht in ‘current selects next’ beinhaltet ist: “If the turn so-far is so constructed as not to involve the use of a current speaker selects next’ technique, then current speaker may, but ’ need not continue, unless another self-selects.” (704). Die Turnbeibehaltung nach einem TRP tritt
132 (Regel 1b). Erst wenn dies nicht der Fall ist, kann der aktuelle Sprecher fortfahren, muss dies aber nicht tun (Regel 1c). Die Regeln sind rekursiv, setzen also bei dem n¨achsten TRP in gleicher Abfolge erneut ein (Regel 2). Durch die Turnzuweisungsregeln wird explizit der Tatsache Rechnung getragen, dass die meisten Sprecherwechsel durch “no gap and no overlap” oder “slight gap or slight overlap” (701) gekennzeichnet sind. Der interaktive Aspekt des Modells ist leicht darin zu erkennen, dass sich das Modell der Koordination einer gemeinsamen Aufgabe aller Interaktionsteilnehmer widmet. Sprecherwechsel und Turnbeibehaltung gehen immer auf das Agieren aller Beteiligten zur¨uck. Der interaktive Charakter der Turnzuweisungskomponente mag offensichtlicher sein, als der der Turnkonstruktionskomponente. Da die Einheitenkonstruktion jedoch in Hinblick auf den (m¨oglichen) Turn vorgenommen wird und von den u¨ brigen Teilnehmern auch in Hinblick darauf interpretiert wird, ist auch die Turnkonstruktionskomponente nicht von der Interaktionalit¨at zu trennen (vgl. auch Schegloff 1996: 54ff.). Der inh¨arent zeitliche Charakter des Modells zeigt sich ebenfalls sowohl in der Turnkonstruktionskomponente als auch in der Turnzuweisungskomponente. Die Konstruktion von Turneinheiten mit Projektion ihrer erwartbaren Beendigung ist ebenso als ein Prozess zu verstehen wie die Koordination des Sprecherwechsels. Bei diesem wird die Abfolge der Regeln als ein Nacheinander entworfen, das zeitliche Konsequenzen haben muss. So ist durch die oben beschriebene Abfolge zu erwarten, dass eine Turnbeibehaltung an einem TRP (d.h. die Wiederaufnahme durch den gleichen Sprecher) mit leichter Verz¨ogerung vonstatten geht, da sie erst nach der Option der Selbstwahl eines anderen Sprechers als neue Option zur Verf¨ugung steht. Die von Sacks et al. gegebenen Beispiele weisen dementsprechend Pausen auf, bevor der aktuelle Sprecher an seinen Beitrag ankn¨upft (vgl. 704, Fußnote 14).31 Die Konstruktion von Turneinheiten selbst ist im Sinne einer online-Produktion und -Prozessierung der unit types ebenfalls zeitlich gepr¨agt (vgl. Auer 2005: 10). Voraussetzung f¨ur das Funktionieren der Turnzuweisungsregeln ist ja, dass alle Teilnehmer darin u¨ bereinstimmen, wo oder vielmehr wann ein TRP vorliegt. Verantwortlich f¨ur die “Vorhersehbarkeit” oder Projektion des TRPs sind die unit types, die als linguistische Konstruktionsschemata mit gestalthaften Eigenschaften aufgefasst werden und deshalb ihr Ende projektieren: “Linguistic construction schemata typically have a beginning, a trajectory, and an end. The initiation of a particular construction schema, as well as its emergent production, can be used as a device to project schema closure or completion.” (Selting 2000a: 492)
Sacks et al. selbst sprechen zwar nicht von der Gestalthaftigkeit der unit types, sehen aber deren Projektionsf¨ahigkeit vor. In Hinsicht auf die sprachlichen Ebenen, die eine solche Projektion zulassen, erw¨ahnen sie in erster Linie die syntaktische Ebene: demzufolge erst dann in Kraft, wenn kein anderer Sprecher den Turn u¨ bernommen hat. Der aktuelle Sprecher kann sich an einem TRP folglich nicht selbst als pr¨aferierten n¨achsten Sprecher einsetzen. F¨ur diese Interpretation sprechen auch die Erl¨auterungen zur Rangfolge der Regeln (704ff.), wo u.a. erw¨ahnt wird, dass “[c]urrent speaker may continue (rule 1c) if self-selection is not done”. Die Fortsetzung des gleichen Sprechers scheint demnach nicht durch “self-selection” m¨oglich zu sein. Die Turnbeibehaltung muss deshalb in erster Linie durch die Projektion gr¨oßerer unit-types geleistet werden und erst zweitrangig durch die Turnzuweisung an einem TRP. 31 F¨ ¨ ur eine empirische Uberpr¨ ufung dieser Annahme anhand des eigenen Korpus siehe Kapitel 4.4.1.2.
133 “There are various unit-types with which a speaker may set out to construct a turn. Unit-types of English include sentential, clausal, phrasal, and lexical constructions [...]. Instances of the unittypes so usable allow a projection of the unit-type under way, and what, roughly, it will take for an instance of that unit-type to be completed.” (Sacks et al. 1974: 702)
Die Autoren machen an anderer Stelle deutlich, dass die Syntax nicht das einzige Mittel zur Konstruktion von TCUs darstellt. Erw¨ahnung findet auch die Prosodie: “Clearly, in some understanding of ‘sound production’ (i.e. phonology, intonation etc.), it is also very important to turn-taking organization” (722). Prosodie und Syntax geh¨oren heute zu den am gr¨undlichsten untersuchten sprachlichen Ebenen im Zusammenhang mit der Organisation des Sprecherwechsels. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sie in der Reichweite der durch sie aufgebauten Projektionen divergieren. W¨ahrend die Syntax global projektieren kann, wird der Prosodie lokal projektierende Kraft zugesprochen (vgl. Selting 1995, Auer 1996a). Als weitere sprachliche Ebenen, die aufgrund ihrer Projektionsf¨ahigkeit Relevanz f¨ur Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel haben, werden außer Prosodie und Syntax die Lexiko-Semantik, die Semantik und die Pragmatik angenommen (vgl. Ford et al. 1996, Selting 2000a, Auer 2005, Gilles 2005). Die Ebenen zeichnen sich dadurch aus, dass sie unterschiedlich weit projektieren k¨onnen. Besonders weitreichende Projektionen sind auf der pragmatischen Ebene m¨oglich. Hierunter fallen unter anderem auch die sogenannten big packages wie beispielsweise konversationelle Erz¨ahlungen. Durch die Einleitung eines solchen big package, u¨ ber dessen strukturellen Ablauf die Interaktionsteilnehmer Schemawissen besitzen, kann der aktuelle Sprecher einen ausgedehnten Redebeitrag f¨ur sich “reservieren” (vgl. Auer 2005: 9, Selting 2000a: 504ff.). Die Tatsache, dass die Reichweite der Projektion auf verschiedenen sprachlichen Ebenen unterschiedlich weit sein kann, wirft die Frage auf, wie sich diese Ebenen zu Einheitenkonstruktion und Sprecherwechsel verhalten. Im besprochenen Turn-Taking-Modell von 1974 ist eine TCU dadurch gekennzeichnet, dass an ihrem Ende ein TRP erfolgt, der zum Sprecherwechsel genutzt werden kann, aber nicht muss. Wenn die Fortsetzungsprojektionen auf den sprachlichen Ebenen nun unterschiedlich weit reichen, ist fraglich, wann ein TRP erreicht ist. Werden TCU und TRP als streng miteinander verbunden angesehen, so muss die am weitesten projektierende Ebene als eine TCU betrachtet werden. Eine konversationelle Erz¨ahlung w¨urde dementsprechend eine TCU darstellen, an deren Ende dann der TRP in Kraft tritt. Alle “kleineren” sprachlichen Einheiten – beispielsweise syntaktische und prosodische Einheiten – innerhalb dieser TCU m¨ussten als TCU-interne Phrasierungseinheiten analysiert werden. Selting (2000a) stellt dieser M¨oglichkeit die M¨oglichkeit gegen¨uber, TCU und TRP voneinander zu trennen. Auf diese Weise k¨onnen alle kleineren Einheiten innerhalb eines big package als TCUs gelten, ohne zwangsl¨aufig zu einem TRP zu f¨uhren. Eine TCU stellt dann eine sprachlich definierte Einheit dar, ein TRP hingegen stellt eine Einheit dar, die in Hinblick auf den potenziellen Turnabschluss definiert ist. Dieser tritt erst dann in Kraft, wenn auch auf der am weitesten projektierenden Ebene ein Abschluss erreicht ist. Selting spricht in diesem Fall von finalen TCUs; kommen die Einheiten innerhalb eines TRPs vor, von nicht-finalen TCUs (vgl. Selting 2000a: 487ff.). F¨ur diese Annahme spricht die empirisch belegte Beobachtung, dass Sprecherwechsel am h¨aufigsten bei komplexer Abschlusssignalisierung, d.h. Abschlusssignalisierung auf allen sprachlichen Ebenen, vorkommt (vgl. Ford & Thompson 1996).
134 Im Folgenden werden Turnkonstruktionseinheiten daher als linguistisch abgrenzbare Einheiten aufgefasst, die erst bei Abschluss auch auf der weitest projektierenden Ebene zu einem TRP f¨uhren. Welches sind nun die sprachlichen Ebenen, die zur Konstruktion von TCUs beitragen? Selting (2000a) zeigt, dass sowohl Prosodie als auch Syntax in ihrem Zusammenspiel notwendig sind, um eine TCU zu definieren. Prosodie alleine reiche nicht aus, da prosodisch vollst¨andige Einheiten bei unvollst¨andiger Syntax als nicht abgeschlossen behandelt werden, also keine eigenst¨andige Turnkonstruktionseinheit bilden. Syntax alleine reiche nicht aus, da syntaktisch abgeschlossene Einheiten durch prosodische Mittel als nicht abgeschlossen oder erweiterbar markiert werden k¨onnen (vgl. auch Auer 1996b). “A TCU is thus a unit that is constituted and delimited by the interplay of syntax and prosody: it is constituted as a cohesive whole by the deployment of syntactic and prosodic construction schemata, and it ends with the co-occurrence of a possible syntactic and a possible prosodic unit completion in its sequential context.” (Selting 2000a: 504)
Zur Veranschaulichung der Interdependenz von Prosodie und Syntax dienen die folgenden beiden Beispiele aus Selting (2000a). Das erste Beispiel zeigt eine syntaktische Einheit, die in mehrere prosodische Einheiten aufgespalten ist.32 (100) 30
31 32
33
IDA:
und: (.) SECHS stunden; F[M(\ )
man kann das nur SECHS stundn:, (.)
(\ / ) INnerhalb ¨ a:hm (..) von den FOLgenden sechs STUNden. F(\ \ \− )
nachDEM es pasSIERT ist. N¨ Ahen.=ne, F(\ \− ) (\ /)]
(aus: Selting 2000a: 498)
Das Beispiel zeigt, dass prosodische Vollst¨andigkeit33 nicht gen¨ugt, um eine Turnkonstruktionseinheit bereitzustellen: Vier vollst¨andige Intonationsphrasen werden verwendet, um eine syntaktische Einheit zum Abschluss zu bringen (vgl. Selting 2000a: 499ff). Das zweite Beispiel belegt den umgekehrten Fall, dass syntaktische Abgeschlossenheit allein nicht ausreicht, um eine Turnkonstruktionseinheit zu bilden.
32 33
Die Transkriptionskonventionen werden auf Seite XII eingef¨uhrt. Zum Begriff der prosodischen Vollst¨andigkeit siehe unten.
135 (101) ((...)) 981 NAT: ((...)) 984 985
JAA:; geNAU; da mußt ich ARbeiten; M(\ ) M(\ ) M(\ ) genau da mußt ich ARbeiten un dann: war ich noch F(\ auf ner ANdern fete einge[laden. \ )
((...)) (aus: Selting 2000a: 494-495)
Sowohl in Zeile 981 als auch in Zeile 984 kommt das Wort genau vor. Es wird jedoch prosodisch unterschiedlich behandelt. W¨ahrend genau in Z 981 eine eigenst¨andige prosodische Einheit darstellt (Akzent auf NAU, Abgrenzung vom folgenden da durch flach fallende Intonation), ist es in Z 984 prosodisch in die Gesamt¨außerung integriert (keine Akzentuierung und abgrenzende Intonationsbewegung). Das Wort genau, das als Interjektion eine syntaktisch vollst¨andige Einheit darstellen kann, wird erst mit Hilfe der Prosodie als eigenst¨andige TCU (Z 981) oder integriertes Element (Z 984) umgesetzt (vgl. Selting 2000a: 495). Prosodie und Syntax in Kombination dienen demnach dazu, TCUs zu bilden. An dieser Stelle ist eine Bemerkung zur prosodischen Vollst¨andigkeit notwendig. Als pro¨ sodisch vollst¨andig werden f¨ur gew¨ohnlich solche Außerungseinheiten bezeichnet, die wenigstens eine akzentuierte Silbe, einen Grenzton (abgrenzende Tonh¨ohenbewegung), finale ¨ Dehnung und eventuell eine Pause im Anschluss an die Außerung aufweisen (vgl. Grabe 1998a: 40ff., siehe auch Kap. 2.1.1). In diesem Sinne wird die Bezeichnung auch bei Selting (2000a) gebraucht, wenn sie beispielsweise die beiden Realisationen von genau (Bsp. (101)) als prosodisch vollst¨andig (Z 981) bzw. nicht vollst¨andig (Z 984) beschreibt. Auch bei der Analyse von Beispiel (100) zeigt sich diese Verwendungsweise: Alle in einer Zeile dargestell¨ ten Außerungseinheiten gen¨ugen dem Anspruch, wenigstens eine akzentuierte Silbe und eine finale, abgrenzende Tonh¨ohenbewegung aufzuweisen. Es ist jedoch zu beachten, dass die ver¨ schiedenen Außerungseinheiten ungeachtet der Art der finalen Tonh¨ohenbewegung als abgeschlossen analysiert werden: W¨ahrend Z 30 eine leicht fallende Tonh¨ohenbewegung aufweist, ist Z 31 durch eine leicht steigende Bewegung gekennzeichnet. Problematisch wird diese Begriffsverwendung bei Beispielen wie dem Folgenden. Eine syntaktisch unvollst¨andige Einheit ist hier mit einer prosodisch vollst¨andigen Einheit mit steigender Tonh¨ohenbewegung verkn¨upft. Es handelt sich um einen vorangestellten wenn-Satz (Z 1, 2), der zur Vollst¨andigkeit die durch dann eingeleitete Apodosis erfordert (Z 4). (102) 01 02 03 04
NAT:
bloß wenn es darum ging daß ICH seine hilfe BRAUCHte? .hh is egal wIe? (.) dann gIng das I:Rgendwie GINGS dann nich;
(aus: Selting 2000a: 481)
136 Selting argumentiert anhand dieses Beispiels mit Lerner (1996), dass die syntaktische Signalisierung von Unvollst¨andigkeit hier die prosodische Signalisierung von Vollst¨andigkeit “¨uberbiete”: “[...] he can here confirm the primacy of syntax over prosody for the interpretation of the entire complex sentence as a TCU.” (Selting 2000a: 482). Selbstverst¨andlich handelt es sich in den Zeilen 1-2, 3 und 4 um vollst¨andige (“complete”) Intonationsphrasen. Es ist jedoch missverst¨andlich, hieraus den Schluss zu ziehen, dass die Syntax die Prosodie u¨ berbiete. Die final steigende Intonation macht in diesem Fall deutlich, dass eine Fortsetzung durch den gleichen Sprecher zu erwarten ist. Nicht nur auf syntaktischer Ebene, sondern auch auf intonatorischer Ebene ist hier also kein Abschluss zu erwarten. Dieses Beispiel verdeutlicht die Notwendigkeit, nicht nur die intonatorische Vollst¨andigkeit, sondern auch die tonale Gestaltung des Abschlusses systematisch zu ber¨ucksichtigen, worauf auch Selting (2000a: 508ff.) in einem sp¨ateren Abschnitt ihres Artikels hinweist. W¨ahrend auf syntaktischer Ebene Unvollst¨andigkeit mit Weiterweisung und Vollst¨andigkeit mit potenziellem Abschluss verkn¨upft sind, muss auf intonatorischer Ebene zwischen vollst¨andigen und “abschließenden” Intonationsphrasen unterschieden werden. Vollst¨andige Intonationsphrasen k¨onnen sowohl abschließend als auch weiterweisend sein. Als weiterweisend oder progredient gelten in der Regel gleichbleibende und (flach) steigende finale Tonh¨ohenbewegungen. Fallende und (steil) steigende Verl¨aufe werden zumeist als abschließend eingestuft (vgl. Selting 1995, 2000a, von Essen 1956). Der in der vorliegenden Arbeit zur Diskussion stehende final steigend-fallende Verlauf wird, sofern er u¨ berhaupt besprochen wird, als weiterweisend charakterisiert (vgl. Gilles 2005, Wennerstrom et al. 2003). Wie oben bereits erw¨ahnt wurde, spielen neben der Prosodie und Syntax auch andere sprachliche Ebenen eine Rolle f¨ur die Koordination des Sprecherwechsels. Aufgrund ihrer Projektionsf¨ahigkeit tragen sie dazu bei, den Zeitpunkt eines m¨oglichen TRPs zu bestimmen, der m¨oglicherweise u¨ ber mehrere TCUs hinaus geht. Bei den sprachlichen Ebenen handelt es sich um die Lexiko-Semantik, die Semantik und die Pragmatik, und es wird im Folgenden zu fragen sein, wie sie zur Konstruktion ausgedehnterer Redebeitr¨age (von Selting (2000a: 504) als multi-unit turn bezeichnet) beitragen. Wie kann also projektiert werden, dass u¨ ber eine TCU hinaus die Fortsetzung des gleichen Sprechers zu erwarten ist? Mit anderen Worten: Wann kann eine TCU als weiterweisend bezeichnet werden? Hinsichtlich der Intonation wurden oben bereits (flach) steigende und gleichbleibende Intonationskonturen als typischerweise weiterweisend aufgef¨uhrt. Bez¨uglich der Syntax ergibt sich vor dem Hintergrund der vorangegangenen Erl¨auterungen, dass sie eigentlich gar nicht u¨ ber die Grenze einer TCU hinausweisen kann. Da das syntaktische Weiterweisungspotenzial auf der Unvollst¨andigkeit m¨oglicher syntaktischer Konstruktionen beruht (z.B. vorangestellte Nebens¨atze, Linksversetzungen etc.), Voraussetzung f¨ur eine TCU aber eine syntaktisch (und prosodisch) vollst¨andige Einheit sein soll, kann die Syntax folglich nicht dazu dienen, u¨ ber eine TCU hinweg zu projektieren. Die syntaktische Unvollst¨andigkeit wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung dennoch eine wesentliche Rolle spielen. Dies erkl¨art sich vor dem Hintergrund des Untersuchungsziels dieses Kapitels, das im Folgenden deshalb nochmals skizziert werden soll. Es wird weiterhin die Vorgehensweise der empirischen Korpusanalyse dargelegt.
137 4.4.1.2
Zielsetzung und Vorgehensweise der empirischen Analyse
Wie anfangs erw¨ahnt wurde, setzt sich dieses Kapitel zum Ziel, das Weiterweisungspotenzial der final steigend-fallenden Kontur im K¨olnischen herauszuarbeiten. Weiterweisung ist in der Regel begrifflich als Fortsetzungserwartung durch den gleichen Sprecher gefasst: Der Sprecher signalisiert, dass er seinen Redebeitrag fortsetzen m¨ochte (vgl. Gilles 2005: 52ff.). In Zusammenhang damit steht der Begriff der Projektion, der jedoch etwas vom Begriff der Weiterweisung abweicht. Schon im Turn-Taking-Modell von 1974 wird davon ausgegangen, dass bestimmte unit-types “allow a projection of the unit-type under way, and what, roughly, it will take for an instance of that unit-type to be completed.” (Sacks et al. 1974: 702, s.o.). Der Begriff der Projektion wird hier somit erstrangig im Sinne einheiteninterner Erwartung verwendet, w¨ahrend Weiterweisung immer im Sinne einer Fortsetzungserwartung u¨ ber eine TCU hinaus gebraucht wird. Weiterhin wird durch den Begriff der Projektion auch das “wie” der Fortsetzung ber¨uhrt. Die Projektion gilt als Ph¨anomen, das die Interaktionsteilnehmer kognitiv entlastet, indem es die Fortsetzungsm¨oglichkeiten sukzessiv einschr¨ankt (vgl. Auer 2005: 9). Eine Projektion kann beinhalten, dass der gleiche Sprecher u¨ ber eine TCU hinaus fortfahren m¨ochte, sofern das entsprechende Schemawissen dies beinhaltet (wie beispielsweise bei Erz¨ahlungen). Sie kann aber auch das genaue Gegenteil beinhalten (wie beispielsweise bei der Paarsequenz Frage - Antwort). Im Gegensatz zur Weiterweisung, die immer f¨ur Fortsetzungserwartung steht, kann die Projektion somit auch Abschlusserwartung umfassen. Die folgende Analyse besch¨aftigt sich ausschließlich mit der Weiterweisung. Paarsequenzen, die einen Sprecherwechsel erwartbar machen, wie Frage und Antwort, werden deshalb aus der Analyse ausgeschlossen.34 Bei der Analyse des Weiterweisungspotenzials der steigend-fallenden Kontur werden zwei konversationsanalytische Verfahren angewandt, die Aufschluss dar¨uber geben sollen, wie die Kontur von den Interaktionsteilnehmern eingesetzt und bearbeitet wird. Zum einen wird untersucht, mit welchen anderen sprachlichen (Weiterweisungs-)Elementen der Intonationsverlauf kookkurriert, und zum anderen wird untersucht, wie die Interaktionsteilnehmer auf das Konturvorkommen reagieren, d.h. ob es im Anschluss an die Kontur zum Sprecherwechsel kommt oder nicht (vgl. dazu Couper-Kuhlen & Selting 1996, Local et al. 1986, siehe auch Kapitel 2.3.2 sowie 3.3). Diese Verfahren sind im Einklang mit der ethnomethodologischen Grundannahme der “Vollzugswirklichkeit” (vgl. Bergmann 1981: 12), die auch dem Turn-Taking-Modell zugrundeliegt. Der Sprecherwechsel muss von den Interaktionsteilnehmern lokal ausgehandelt werden, und die Aushandlung muss an der Oberfl¨ache sichtbar werden. Die Interaktionsteilnehmer zeigen sich durch ihre (Folge-)Handlungen auf, wie sie das Vorangegangene verstanden haben (display) und konstruieren dadurch prozesshaft ihre Realit¨at (siehe hierzu ¨ ausf¨uhrlich Kap. 2.3.2). Kommt es also im Anschluss an die konturtragende Außerung regelm¨aßig zur unproblematischen Turnbeibehaltung – unproblematisch sei hier zun¨achst im Sinne von ‘no/slight gap, no/slight overlap’ verstanden –, so zeigen die Interaktionsteilnehmer durch dieses Verhalten, dass sie die Kontur als weiterweisend auffassen. Da die sprachliche Signalisierung von Sprecherwechselabsichten h¨aufig redundant ist, also auf mehreren Ebenen gleichzeitig geleistet wird, gibt auch die Kookkurrenz mit der Weiterweisungssignalisierung auf anderen Ebenen Aufschluss u¨ ber das Weiterweisungspotenzial der Kontur. 34
¨ Die interrogativen Außerungen des Korpus werden in Kap. 4.4.2 detailliert behandelt.
138 Ausschlaggebend f¨ur die Bestimmung der Kontur als weiterweisend oder abschließend sind letztendlich jedoch die Sprecherreaktionen im Anschluss an die Kontur. ¨ Den Ausgangspunkt der Analyse bilden ausschließlich die Außerungen mit final steigend¨ fallender Kontur. Zur Analyse liegen damit 307 deklarative Außerungen vor, die alle dem K¨olner Intonationskorpus aus Interviewdaten, Fußbroichs- und Big-Brother-Daten entnom¨ men sind. Die konturtragenden Außerungen dienen als Fixpunkt f¨ur die Untersuchung der Kookkurrenz mit anderen sprachlichen Weiterweisungssignalen und f¨ur die Untersuchung des Sprecheranschlusses. Hierin liegt auch die oben angedeutete Tatsache begr¨undet, dass bei der Analyse des Weiterweisungspotenzials auch unvollst¨andige syntaktische Einheiten zum Tragen kommen werden: Da es sich bei der Kontur um eine finale Tonh¨ohenbewegung ¨ handelt, sind alle zur Diskussion stehenden, konturtragenden Außerungen intonatorisch vollst¨andig im oben erl¨auterten Sinne (siehe S. 135). Sie k¨onnen nun aber sowohl mit abgeschlossener Syntax als auch mit unabgeschlossener Syntax kookkurrieren. Bei Kookkurrenz mit vollst¨andiger Syntax handelt es sich dann um vollst¨andige TCUs, deren Weiterweisungspotenzial u¨ ber die TCU hinaus beurteilt werden kann. Bei Kookkurrenz mit unvollst¨andiger Syntax ist das Konturvorkommen TCU-intern. Eine Fortsetzung des gleichen Sprechers ist hier auf der Basis der syntaktischen Projektion erwartbar. ¨ Alle Außerungen werden zun¨achst auf ihr Weiterweisungspotenzial hin analysiert und kategorisiert. Dies erm¨oglicht Aussagen u¨ ber die Vorkommensverteilung der Kontur in Korrelation mit der Weiterweisung auf anderen sprachlichen Ebenen, gibt also Aufschluss u¨ ber die Kookkurrenz intonatorischer und anderer Weiterweisungssignale. Die Kriterien zur Bestim¨ mung des Weiterweisungspotenzials einer Außerung sind die syntaktische Unabgeschlossenheit sowie lexiko-semantische und semanto-pragmatische Weiterweisungssignale. Diese Kriterien werden weiter unten anhand von Beispielen detailliert vorgestellt. F¨ur die Untersuchung des Sprecherwechsels im Anschluss an die Kontur wird auch die Komplexit¨at der Weiterweisung ber¨ucksichtigt. Unter komplexer Weiterweisung ist zu verstehen, dass Weiterweisungssignale auf mehreren sprachlichen Ebenen gleichzeitig vorkommen. Die Entscheidung, bei der Untersuchung des Sprecherwechsels die Komplexit¨at der Weiterweisung zu ber¨ucksichtigen, steht vor dem Hintergrund, dass f¨ur die Abschlusssignalisierung festgestellt werden konnte, dass komplex signalisierte Abschl¨usse signifikant h¨aufiger zu Sprecherwechseln f¨uhren als einfache (vgl. Ford & Thompson 1996: 155ff.). Analog dazu kann f¨ur die Weiterweisungssignalisierung vermutet werden, dass komplexe Weiterweisung ¨ h¨aufiger zu Turnbeibehaltung f¨uhrt als einfach signalisierte Weiterweisung. Alle Außerungen wurden deshalb nach der Komplexit¨at ihres Weiterweisungspotenzials eingestuft, und die Weiterweisungskomplexit¨at wurde mit dem Vorkommen oder Nichtvorkommen eines Spre¨ cherwechsels im Anschluss an die Außerung in Beziehung gesetzt. Als Sprecherwechsel wird jede Turn¨ubernahme gewertet, die einen lexikalischen Beitrag35 leistet. Lachen und Interjektionen wie boah etc. wurden ebenfalls als Sprecherwechsel gewertet. Nicht als Sprecherwechsel gewertet wurden H¨orersignale und Lautproduktionen wie Husten, R¨auspern o.¨a. (vgl. Wennerstrom et al. 2003). 35
Der Terminus “lexikalischer Beitrag” lehnt sich an Wennerstrom et al. (2003: 82ff.)) an, die bei den Reaktionen der Interaktionspartner zwischen “nonlexical sounds” / “backchannels” und “lexical responses” unterscheiden. Sie basieren die Unterscheidung im Wesentlichen auf den semantischen Gehalt des entsprechenden Beitrags, r¨aumen jedoch Schwierigkeiten bei der Zuordnung von Beitr¨agen zu einer der beiden Kategorien ein.
139 Das weitere Kapitel gliedert sich folgendermaßen: Es werden zuerst die Kriterien zur Be¨ stimmung des Weiterweisungspotenzials einer Außerung veranschaulicht (4.4.1.2.1). Darauf folgt die exemplarische Darstellung der komplexen Weiterweisungskategorien (4.4.1.2.2). Das n¨achste gr¨oßere Kapitel (4.4.1.3) widmet sich dann den Ergebnissen der quantitativen Analyse von Kookkurrenz und Sprecherwechsel. Es wird dargestellt, wie h¨aufig die kontur¨ tragenden Außerungen mit Weiterweisungssignalen welcher Art kookkurrieren und wie das quantitative Verh¨altnis von Weiterweisungskomplexit¨at und Sprecherwechsel ist.
4.4.1.2.1
Kriterien zur Bestimmung von Weiterweisung
¨ Im Folgenden werden die Kriterien zur Bestimmung des Weiterweisungspotenzials von Außerungen vorgestellt. Es wird zuerst die Weiterweisung auf der Basis syntaktischer Kriterien beschrieben, danach werden die lexiko-semantische, semantische und pragmatische Weiterweisung dargestellt. Semantische und pragmatische Weiterweisung werden zu SemantoPragmatik zusammengefasst (s.u.).
4.4.1.2.1.1 Syntax Wie oben bereits beschrieben wurde, wird syntaktisch motivierte Weiterweisung durch syntaktische Unabgeschlossenheit erzielt. Da die Bezugsgr¨oße die vollst¨andige Intonationsphrase ist, bezieht sich die Unabgeschlossenheit nicht auf das Phraseninnere, sondern muss u¨ ber die Phrase hinausweisen: “Bei der syntaktisch motivierten Weiterweisung befindet sich in der Phrase eine explizit projektierende syntaktische Konstruktion, die eine Fortf¨uhrung in der Folgephrase erforderlich macht. Damit ist also nicht die projektierende Kraft der (emergenten) Syntax innerhalb einer Intonationsphrase gemeint, sondern ausschließlich die u¨ ber die IP hinausweisende Projektion.” (Gilles 2005: 52-53)
Diese projektierende Kraft besitzen beispielsweise vorangestellte Nebens¨atze, Linksversetzungen und (bis zum Intonationsphrasenende) unvollst¨andige syntaktische Konstruktionen, ¨ wie die folgenden Beispiele veranschaulichen. Die konturtragende Außerung ist jeweils durch einen Pfeil markiert. Im ersten Beispiel liegt eine temporale wenn-dann Konstruktion mit vorangestelltem wennSatz vor. Dieser macht eine Vervollst¨andigung erwartbar, die im Beispiel in der Folge¨außerung geliefert wird. (103) ⇒
k07-wagen kamen; V1
1364 k07 1365
l h m un wenn dann die schweren WAgen kamen da kamen die polizIsten und dr¨ uckten uns ALle je=en de WAND; ne,
140 Das folgende Beispiel zeigt eine Linksversetzung, die in einer eigenen Intonationsphrase produziert wird und eine Vervollst¨andigung erfordert. (104) ⇒
386 387
k03-weihnachtsjeld; V1 ff
l h m und vom WEIHnachtsjeld da lassen macht sisch dat schOn beMERKbar; ne,
¨ Auch die n¨achsten Beispiele zeichnen sich durch eine syntaktisch unvollst¨andige erste Außerung aus, die eine Fortsetzung projektiert. Im ersten Beispiel ist die erste Phrase konturtragend. Syntaktisch bildet sie gemeinsam mit der Folgephrase eine Topikalisierung, deren rhematischer Teil im Folgenden wie zu erwarten geliefert wird. Es ist auff¨allig, dass die kon¨ turtragende Außerung hier ebenso wie in den bisherigen Beispielen die Vor-Vorfeldposition einnimmt. (105)
⇒
k09-bohnenkaffee; V1/V2
705
k09a
706 707 707 708 709 711
k09b k09a
712 713 714 715
banKROTTm¨ ull is der au' K¨ OLsche ausdruck f¨ ur ne KAFfeem¨ uhle [gewesen. [ja (--) ja dat=dat hat doch heut ¨ uberhaupt keine beDEUtung mehr. KAFfee (.) wird immer BILliger. krist beim Aldi et pfund f¨ ur isch WE:ß nit wat et kost. (.) aber datl h m hm: fr¨ uher (.) eschter BOHnenkaffee l h m den man MAHlen musste .h da muss=te f¨ ur !SPA!ren. da gingen die leute bank!ROTT! dran.
In Beispiel (106) kommt die steigend-fallende Kontur zweimal vor.36 Sie erscheint beide Male auf der gleichen Tr¨ager¨außerung (Z 293 und Z 295), die syntaktisch unvollst¨andig ist, da die ¨ Valenz des Verbs nachweisen noch nicht ausgef¨ullt ist. W¨ahrend auf die erste Außerung ein Einschub erfolgt, wird die Fortsetzungserwartung im Anschluss an die zweite konturtragende ¨ ¨ Außerung erf¨ullt. Auch hier r¨uckt die konturtragende Außerung in die Vor-Vorfeldstellung, da die Folge¨außerung mit Verbzweitstellung und nicht als (erwartbarer) subordinierender Konjunktionalsatz produziert wird. (106) ⇒
36
293
k04-nachweisen; V2/V2 fv
l h l du musst NACHweisen
¨ Zum zweimaligen Vorkommen der Kontur sowie zur Stellung der konturtragenden Außerungen in der Vor-Vorfeldposition siehe Kapitel 4.4.1.5 bzw. 4.4.1.6.
141
⇒
¨' die k¨ o onne nit jede PENner hier UPPnemme der liegt hier=eRUM. l h fm (.) du musst NACHweisen hier isch hab JELD? isch lebe von MEInem jeld, Oder isch ARbeite hier.
295 296 297 298
4.4.1.2.1.2 Lexiko-Semantik Gilles (2005) spricht von semantisch motivierter Weiterweisung, “wenn ein lexikalisches Element in einer Phrase eine Entsprechung in der Folgephrase erwartbar macht.” (Gilles 2005: 53). Dies kann durch Ausdr¨ucke wie erstmal, erst, f¨angt an oder zwar und nicht nur geleistet werden. Da diese Art der semantischen Weiterweisung immer an bestimmte lexikalische Ausdr¨ucke gekn¨upft ist, wird hier die Bezeichnung lexiko-semantisch bevorzugt. ¨ Im ersten Beispiel der Gruppe der lexiko-semantisch weiterweisenden Außerungen wird durch erst signalisiert, dass eine Folge¨außerung zu erwarten ist. Diese wird mit und dann ¨ unmittelbar an die konturtragende Außerung angeschlossen. (107) ⇒
843 844
k07-sieschf¨ahre; V3 k07
m h fm Erst mit der kleenen SIESCHf¨ ahre und dann mit der rhEInf¨ ahre auf die ander SEIte,
Eine sofortige Erwartungseinl¨osung erfolgt auch in den Beispielen (108) und (109). Hier werden die Konstruktionen zwar und nich nur in den Folge¨außerungen durch aber und ja ¨ auch vervollst¨andigt. In Beispiel (109) ist die projektierende Außerung zus¨atzlich in zwei Phrasen aufgespalten. (108) ⇒
k07-mittelschule; V2
2616 k07 2617
(109) ⇒
806
⇒
807 808
m h m die gingen zwar auf die MITtelschule .hh aber von abiTUR war ja konnt ja gar keine REde sein; ne,
k06-ausdr¨ucke, k06-reschtschreibung; V2/V2 k06a
l h m et sIn ja nit nur die AUSdr¨ ucke l h m oder die RESCHTschreibung et geht ja auch um=um gramMATische: sachen.
142 4.4.1.2.1.3 Semanto-Pragmatik Der Bereich der semanto-pragmatischen Weiterweisung ist am schwierigsten zu operationalisieren, da die Bestimmung bis zu einem gewissen Grad intuitiv bleibt. Auf diese Schwierigkeit verweisen zahlreiche Autoren (vgl. Ford & Thompson 1996, Gilles 2005, Schegloff 1996, Wennerstrom et al. 2003). Alltagssprachlich kann formuliert werden, dass von semantopragmatisch motivierter Weiterweisung dann gesprochen werden kann, wenn aus dem Kon¨ text hervorgeht, dass mit der zur Diskussion stehenden Außerung eine bestimmte Handlung oder ein bestimmter Inhalt noch nicht sinnvoll abgeschlossen ist. So ist beispielsweise bei Erz¨ahlungen zu erwarten, dass der Erz¨ahler auch eine Pointe pr¨asentiert und nicht die Erz¨ahlung nach der Orientierungsphase abbricht. Semantischer und pragmatischer Abschluss liegen folglich dann vor, wenn keine handlungsbezogenen oder inhaltlichen Erwartungen mehr offen sind (vgl. Gilles 2005: 53ff.). Zu dieser Weiterweisungsgruppe z¨ahlen Bestandteile der bereits erw¨ahnten big packages wie Erz¨ahlungen oder Argumentationen, u¨ ber deren sequenziellen Ablauf die Interaktionsteilnehmer Schemawissen besitzen. Nicht zu dieser Gruppe z¨ahlen demgegen¨uber Paarsequenzen, die zwar die eindeutigste pragmatische Projektion vornehmen (vgl. Auer 2005: 9), aber einen Sprecherwechsel implizieren, also nicht unter die hier verwendete Definition von Weiterweisung fallen. Wie schwierig die Kategorisierung von (semanto-)pragmatischer Weiterweisung ist, zeigt die ¨ Analyse einer Außerung, die von Schegloff (1996) als pragmatisch abschließend eingeordnet, aber mit einer Fußnote versehen wird, dass sie auch als weiterweisend beurteilt werden ¨ k¨onne. Es handelt sich um die Außerung “He’s flying” in folgendem Telefongespr¨achsauszug aus Schegloff (1996). Es ist ein Gespr¨ach zwischen einem geschiedenen Ehepaar, deren beinah vollj¨ahriger Sohn Joey beim Vater lebt, die Ferien aber bei der entfernt lebenden Mutter verbracht hat. Der Vater ruft am Tag der geplanten R¨uckkehr des Sohnes an. Der Auszug beginnt unmittelbar nach der Begr¨ußung mit der Frage der Mutter, ob Joey bereits nach Hause gekommen sei:37 (110) ((...)) Marsha: Tony: Marsha: Tony: Marsha: Marsha:
37
Did Joey get home yet? Well I wz wondering when ‘e left. (0.2) .hhh Uh(d) did Oh: .h Yer not in on what ha:ppen’.(hh) (d) No(h)o= =He’s flying. (0.2) En Ilene is going to meet im: .Becuz the to:p wz ripped off’v iz car (...) (aus: Schegloff 1996: 70)
Die Transkriptionskonventionen im vorliegenden Beispiel weichen in folgenden Punkten von den GAT-Konventionen ab: Unterstreichung (z.B. Joey, when) markiert die Hervorhebung des Wortes, graduell nach St¨arke der Hervorhebung. Wortinterne, eingeklammerte Buchstaben (z.B. No(h)o) verweisen auf Atmen, Lachen oder a¨ hnliche Laut¨außerungen (vgl. Ochs et al. 1996: 461ff.).
143 ¨ Die Außerung “He’s flying” wird als projektierte Fortsetzung der (pr¨asupponierten) Aussage, dass etwas passiert sei, interpretiert und als auf allen Ebenen vollst¨andig beschrieben: “It is built to be complete, syntactically, prosodically, and pragmatically” (Schegloff 1996: 71). Die entsprechende Fußnote jedoch f¨ugt hinzu: “The last of these [i.e. pragmatically, P.B.] is open to question, for the ‘preface’ – ‘you’re not in on what happened’ – could be taken to project not (only) an announcement but a story, in which case there is projectably more (more telling, that is) to come after ‘He’s flying’ ” (Schegloff 1996: 119). Dieses Beispiel veranschaulicht die Probleme, die mit der Entscheidung f¨ur oder gegen pragmatische Weiterweisung verkn¨upft sind. ¨ In der vorliegenden Arbeit w¨urde die Außerung “He’s flying” als weiterweisend analysiert, da sie auf inhaltlicher Ebene keinen ad¨aquaten Abschluss f¨ur die Aussage, dass etwas passiert sei, darstellt. Dies untermauert die Notwendigkeit, bei der Beurteilung von Weiterweisung auch die semantische Ebene zu ber¨ucksichtigen. Deshalb werden Semantik und Pragmatik hier in einer Kategorie zusammengefasst. Im Folgenden werden zwei Beispiele f¨ur die semanto-pragmatische Weiterweisung gegeben, wobei nun wieder Beispiele mit steigend-fallender Intonation gew¨ahlt werden. ¨ Bei allen Beispielen sind die konturtragenden Außerungen nur auf semanto-pragmatischer Ebene weiterweisend. Sie zeigen keine syntaktischen oder lexiko-semantischen Weiterweisungssignale. Dem ersten Gespr¨achsausschnitt geht eine scherzhafte Diskussion voraus, in deren Verlauf Jrg die Ansicht vertritt, in chinesischen Restaurants werde Hunde- und Katzenfleisch verwertet. Zur Veranschaulichung schildert er, wie und wo dieses Fleisch erworben wird. Im Kontext ¨ kann die erste Außerung dieser Veranschaulichungssequenz (“die gehn in=n TIERheim”) als weiterweisend beurteilt werden, obwohl sie isoliert keine lexikalischen oder syntaktischen ¨ Kennzeichen einer weiterweisenden Außerung tr¨agt. (111)
⇒
bb72-tierheim; V2
1256 1257 1258 1259
Jrg
1260 1261 1262 1263 1264
Jrg
Ver
Ver Jrg
ja was MEINST=e wie die das SONST mit dem preis machen. (1.5) die beZAHlen nix f¨ ur des flEIsch. ((schnauft)) m h l (-)die gehn in=n TIERheim (-)und dann (.) so ALte (-) ((kichert)) ja die se EH ni=mehr quItt kriegen; die wer=n dann MITgenommen.
F¨ur die Bestimmung der semanto-pragmatischen Weiterweisung ist die kontextuelle Einbet¨ tung der zur Diskussion stehenden Außerung unbedingt zu ber¨ucksichtigen. Nur so k¨onnen beispielsweise auch Einsch¨ube, die eine laufende Handlung suspendieren, zu der anschließend zur¨uckgekehrt wird, als weiterweisend interpretiert werden. Hinsichtlich der Weiter¨ weisungsfunktion sind solche Außerungen bivalent: Sie sind abschließend in Hinblick auf die eingeschobene Handlung, w¨urden aber im gegebenen Kontext eine Turn¨ubernahme des
144 Gegen¨ubers sinnlos erscheinen lassen. Nur vor dem Hintergrund des umgebenden Kontexts ist die Fortsetzungserwartung des gleichen Sprechers sinnvoll. Das folgende Beispiel veranschaulicht einen solchen Einschub. Der Ausschnitt steht im Kontext einer ausgedehnteren Erkl¨arungssequenz, in der Jrg die notwendigen Schritte zur Bew¨altigung einer Aufgabe beschreibt. (112) 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 ⇒
47 48 49 50
bb96-unterhose; V2 Jrg
Sbr Jrg
Sbr
=diese umRANdung, .h und dann tYpische mErkmale (.) da DRAUFmalen oder dranh¨ angen oder wa; wie auch IMmer. ((Gemurmel)) JA; paß=AUF; ((Jrg und Sbr beginnen sich auf Holz zu malen)) was MACHST du;
ja=sch (.) zieh misch erstmal AUS? m h fm (.) bis auf die UNterhose; und dann machst=e umRANdung. nIsch mit den klaMOTten, (-) NEE-
¨ Die zu beurteilende konturtragende Außerung (Z 47) liefert in Form einer prosodisch eigenst¨andigen syntaktischen Ausklammerung eine Pr¨azisierung des zuvor ge¨außerten Arbeitsschritts (vgl. Auer 1996b). Dieser ge¨außerte Arbeitsschritt (Z 46) ist auf lexiko-semantischer Ebene durch erstmal als weiterweisend markiert. Die dadurch projektierte Fortsetzung (ein folgender Arbeitsschritt) wird jedoch durch die Folge¨außerung nicht eingel¨ost, so dass die Fortsetzungserwartung weiterhin besteht. Die Weiterweisung wird somit nicht durch die eingeschobene Pr¨azisierung bewirkt, sondern durch das Vorangegangene. Im folgenden Abschnitt werden die Kategorien komplexer Weiterweisung vorgestellt, die die Grundlage f¨ur die Analyse des Sprecherwechsels bilden.
4.4.1.2.2
Komplexe Weiterweisung
Die soeben dargestellten Weiterweisungskriterien bilden die Grundlage f¨ur die Kategorien ¨ der komplexen Weiterweisung. In der konturtragenden Außerung k¨onnen theoretisch syntaktische, lexiko-semantische und semanto-pragmatische Weiterweisungssignale gemeinsam vorkommen (S+LS+SP), es k¨onnen jeweils zwei der Signale gemeinsam vorkommen (S+SP, S+LS, LS+SP) oder nur eines (S, LS, SP). Im letzten Fall liegt nicht komplexe, sondern einfache Weiterweisung vor. Hinzu kommt die M¨oglichkeit, dass auf keiner der vorgestellten Ebenen weiterweisendes Potenzial festzustellen ist ((-S)+(-LS)+(-SP) oder Ø). Die m¨oglichen Kombinationen abnehmender Komplexit¨at sind in folgendem Schaubild zusammenfassend
145
Abnehmende Weiterweisungskomplexit¨at
dargestellt. Es ist zu beachten, dass die Kombinationen S+LS+SP, S+LS, S und LS im Korpus nicht belegt sind; die belegbaren Kombinationen werden im Schaubild durch Fettdruck markiert: S+LS+SP
S+SP, S+LS, LS+SP
LS, SP
(-S)+(-LS)+(-SP)
Abbildung 4.43: M¨oglichkeiten komplexer Weiterweisung
Die genannten drei Kombinationen, die im untersuchten Korpus nicht vorkommen, beinhalten zwar Weiterweisungssignale auf lexiko-semantischer und/oder syntaktischer Ebene, aber keine semanto-pragmatische Weiterweisung. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass sich diese theoretisch zwar m¨oglichen Kombinationen empirisch nicht belegen lassen, denn sobald auf syntaktischer oder lexiko-semantischer Ebene Unabgeschlossenheit vorliegt, steht zu¨ meist auch auf semanto-pragmatischer Ebene eine weitere Außerung aus, um eine bestimmte Handlung oder einen Inhalt sinnvoll zum Abschluss zu bringen. Die folgenden Korpusbelege veranschaulichen die belegbaren Kombinationen.
4.4.1.2.2.1 Syntax + Semanto-Pragmatik (S+SP) Als Beleg f¨ur die Kombination aus syntaktischer und semanto-pragmatischer Weiterweisung l¨asst sich das schon als (104) gegebene Beispiel anf¨uhren. Die erste, konturtragende Intonationsphrase stellt eine Linksversetzung dar, die auf syntaktischer Ebene eine Fortsetzung pro¨ jektiert. Auch auf semanto-pragmatischer Ebene ist nach der Außerung mit einer Fortf¨uhrung zu rechnen. Der Ausschnitt stammt aus den “Fußbroichs”. Die Sprecher thematisieren die Tatsache, dass ff ausschließlich in der Nachtschicht arbeite. Ff begr¨undet seine Entscheidung, dies noch bis Weihnachten zu tun, mit dem (h¨oheren) Weihnachtsgeld, das er dann bekomme. (113) 379 380 381 382 383 384 385
k03-weihnachtsjeld; V1 fs ff fs ff fm ff
wie lang willst=e dat noch DURCHziehn? ja bis WEIHnachten NOCH; (.) [noch (des WEIHnachtsjeld,) [hast=e LETZtes jahr AUCH gesagt. [NEI:N. [h¨ Omma et gibt ja auch mEhr SCHOTter; ne, ja JUT-=
146 ⇒
386 387 388
fm
l h m =un:d vom WEIHnachtsjeld da lassen macht sisch dat SCHON ja: dAt is RISCHtisch;
4.4.1.2.2.2 Lexiko-Semantik + Semanto-Pragmatik (LS+SP) Der folgende Ausschnitt belegt die Kombination aus lexiko-semantischer und semanto-pragmatischer Weiterweisung. Er wurde ebenfalls bereits als Beispiel (90) angef¨uhrt. Die Weiterweisung auf lexiko-semantischer Ebene wird durch die Formulierung “nicht nur - sondern auch” (Z 807-809) geleistet. Zugleich liegt Weiterweisung auf semanto-pragmatischer Ebe¨ ne vor, da die Ausf¨uhrung von k06a nach den zur Diskussion stehenden Außerungen nicht sinnvoll abgeschlossen ist. Der Sprecher a¨ ußert sich zu der Notwendigkeit, sich neben dem Dialekt auch in einer standardnahen Variet¨at ausdr¨ucken zu k¨onnen. Im zur Diskussion ste¨ henden Abschnitt mit den konturtragenden Außerungen schildert der Sprecher, wodurch sich die (schriftliche) Standardsprache vom Dialekt unterscheide. (114)
k06-ausdr¨ucke, k06-reschtschreibung; V2/V2
789 790 791 792 793 794 795 796 797 798 799 800 801 802 803 804 805 806
k06
⇒
807
k06
⇒
808 809
i k06 i k06
i k06 i k06 i k06 i
man sollte schon SO spreschen k¨ onnen:dass man sisch ¨ Uberall auch verST¨ ANdigen kann. .h uberall in DEUTSCHland. ¨ isch mein- ((lacht)) zuMINdest (.) ja. JA. zuMINdest .hh sisch verST¨ ANdigen kann, .h ¨ ah: UN: man soll=et rischtisch SCHREIben k¨ onnen. dAt denk isch is also [AUCH ganz wischtig [ !NEIN!
dass man sich in einem TEXT den man SCHREIBT; jaju:t oKAY= =gramMAtisch [rischtig ausdr¨ uckt.= [ l h m =et sIn ja nit nur die AUSdr¨ ucke l h m oder die RESCHTschreibung et geht ja auch um=um gramMATische: sachen.
4.4.1.2.2.3 Semanto-Pragmatik (SP) Allein semanto-pragmatisch weiterweisend ist der folgende Beleg. Die Sprecherin berichtet von einem Krankheitsfall in ihrer Familie und der Reaktion ihres Sohnes Frank auf diese
147 ¨ Situation. Die konturtragende Außerung ist in eine Zwischensequenz eingebettet, so dass ein ¨ konversationeller Abschluss nach der Außerung nicht zu erwarten ist. (115) ⇒
47 48
k01-krankenhaus; V2 fm
49 50 51 52 53
(wir war=n) a ¨h wAr der le' ¨ ah n TACH VORher war der noch l h h m bei der Uroma im KRANkenhaus- .hh (--) un isch kAm dann von der ARbeit. un da saß PIa saß nebenAn; hatten sisch KAFfee gemacht- (1.8) frank kam von der toiLETte; un dann (.) war der am !HEU!len;
4.4.1.2.2.4 Kein Weiterweisungspotenzial ((-S)+(-LS)+(-SP)) Einen Beleg ohne Weiterweisungspotenzial veranschaulicht der folgende Gespr¨achssausschnitt. Er stammt aus dem Interview k07. Die Sprecherin k07 berichtet von den Fahrradtouren, die sie mit ihrem Mann unternommen hat. Die Aufnahmeleiterin erkundigt sich in diesem Zusammenhang, ob das Gep¨ack bei diesen Touren von einem Gep¨ackdienst transportiert worden sei. Die Sprecherin f¨uhrt daraufhin aus, dass sie alles selbst gemacht h¨atten und “einfach gefahren” seien. Vor diesem Hintergrund a¨ ußert sie, dass sie (trotzdem) immer ¨ Unterkunft gefunden h¨atten und veranschaulicht dies durch die Außerungen in den Zeilen ¨ 766-767. Nach der konturtragenden Außerung ist ein potenzieller Abschlusspunkt gegeben. (116) 760
i
761 762 763 764
k07
765 766 ⇒
k07-hotel bekommen h¨atten; V2
767
i k07
hAm sie dat SO organisIErt dass irgend en gep¨ Ackdienst das [WEIter gefahrn hat[nEIn nEIn nEIn; wir ham ALles sElbst ge[macht. [ [wir sind EINfach gefahren .hhh penSION oder hoTEL bekommen h¨ atten
Es folgt nun die Vorstellung der quantitativen Ergebnisse. Es werden zuerst die Ergebnisse zur Kookkurrenz vorgestellt, dann die Ergebnisse zur Analyse des Sprecherwechsels.
148 4.4.1.3
Quantitative Ergebnisse: Kookkurrenz und Sprecherwechsel
4.4.1.3.1
Kookkurrenz
Vorkommensh¨aufigkeit (abs.)
Die erste Graphik veranschaulicht das gemeinsame Vorkommen der steigend-fallenden Kontur mit den Weiterweisungssignalen auf den anderen sprachlichen Ebenen. Wie oben erw¨ahnt wurde, existieren keine Belege f¨ur die Kookkurrenz der steigend-fallenden Kontur mit den Kategorien S+LS+SP, S+LS, S und LS. Sie werden in der Graphik deshalb nicht aufgef¨uhrt. 160 126
122
SP
(-LS)+(-S)+(-P)
120
80 42
40 17 LS+P
S+P
Abbildung 4.44: Kookurrenz der steigend-fallenden Kontur (n=307) mit Weiterweisung auf anderen Ebenen
Am h¨aufigsten kookkuriert die Kontur mit einfach semanto-pragmatischer Weiterweisung ¨ (n=126). Innerhalb der als weiterweisend eingestuften Außerungen folgt die Kookkurrenz mit komplex syntaktisch und semanto-pragmatisch signalisierter Weiterweisung (n=42), daraufhin die Kookkurrenz mit komplex lexiko-semantisch und semanto-pragmatisch signalisierter ¨ Weiterweisung (n=17). Eine Kookkurrenz der Kontur mit Außerungen, die kein Weiterweisungspotenzial zeigen, liegt in 122 F¨allen vor. Das bedeutet, dass die Kontur in insgesamt 185 F¨allen mit Weiterweisungssignalen auf anderen Ebenen kookkurriert. Das entspricht 60,3% ¨ aller konturtragenden Außerungen. In 39,7% (=122) aller F¨alle l¨asst sich keine Kookkurrenz mit anderen Weiterweisungssignalen feststellen. Als Vergleich l¨asst sich eine Referenzgruppe mit 50 final (flach) steigenden Intonationsverl¨aufen heranziehen, die zu diesem Zweck ausgewertet wurde. Final (flach) steigende Intonationsverl¨aufe werden zumeist als weiterweisend charakterisiert (vgl. Kap. 4.4.1.1), und es ¨ zeigt sich, dass hier eine ganz a¨ hnliche Verteilung vorliegt. 34% (=17) der Außerungen der Referenzgruppe kookkurrieren mit keinerlei Weiterweisungssignalen auf nicht-intonatorischer ¨ Ebene. Von den u¨ brigen 66% verteilen sich 46% auf die Außerungen mit semanto-pragmatisch signalisierter Weiterweisung, 18% (=9) auf die komplex syntaktisch und semanto-pragmatisch signalisierte Weiterweisung und 2% (=1) auf die komplex lexiko-semantisch und semantopragmatisch signalisierte Weiterweisung. Die vermutete Tendenz zur Kookkurrenz der steigend-fallenden Kontur mit Weiterweisung auf anderen sprachlichen Ebenen zeigt sich best¨atigt: In knapp zwei Dritteln der F¨alle ist die ¨ Kontur auf weiterweisende Außerungen verteilt. Aufschluss u¨ ber die tats¨achliche Wirkung der Kontur muss die Analyse der Sprecherreaktionen im Anschluss an das Konturvorkom-
149 ¨ men geben. Besonders interessant ist hier die Außerungsgruppe, die kein Weiterweisungspotenzial auf den u¨ brigen sprachlichen Ebenen aufweist. Es ist hier zu erwarten, dass geh¨auft Sprecherwechsel auftreten, da die Fortsetzungserwartung des aktuellen Sprechers auf keiner ¨ der diskutierten sprachlichen Ebenen signalisiert wird. Uberwiegen jedoch deutlich die Turnbeibehaltungen, so kann dies nur auf die Wirkung der Intonation zur¨uckgef¨uhrt werden. Die steigend-fallende Kontur w¨are im K¨olnischen damit als weiterweisend zu interpretieren.
4.4.1.3.2
Sprecherwechsel
Vorkommensh¨aufigkeit (in %)
¨ Um zu untersuchen, wie h¨aufig die konturtragenden Außerungen unterschiedlicher Weiterweisungskomplexit¨at von Sprecherwechseln gefolgt werden, musste zun¨achst eine leichte Reduzierung des Korpus vorgenommen werden. Dies ist darauf zur¨uckzuf¨uhren, dass die Fußbroichs- und Big-Brother-Daten monologische Abschnitte38 enthalten, bei denen kein Sprecherwechsel m¨oglich ist. Diese Abschnitte wurden aus der Auswertung herausgenom¨ men. Es ergibt sich eine Gesamtmenge von 290 Außerungen, die sich wie folgt auf die Weiterweisungskategorien verteilen: LS+SP = 16, S+SP = 41, SP = 120 und (-LS)+(-S)+(-SP) = ¨ 113. Im Anschluss an die untersuchten Außerungen kommen insgesamt 28 Sprecherwechsel ¨ vor. Dies entspricht einem prozentualen Anteil von 9,1% der konturtragenden Außerungen; ¨ auf knapp jede zehnte Außerung folgt somit ein Sprecherwechsel. ¨ Die folgende Graphik zeigt, wie h¨aufig die Außerungen der verschiedenen Weiterweisungskategorien von einem Sprecherwechsel gefolgt werden. Die Weiterweisungskategorien, bei denen keine Kookkurrenz mit der steigend-fallenden Kontur festzustellen war, werden nicht aufgef¨uhrt. 20
18.6 %
15
10 5%
5 2.4 % LS+P
S+P
SP
(-LS)+(-S)+(-P)
Abbildung 4.45: Vorkommen von Sprecherwechsel (n=28) bezogen auf die Weiterweisungskategorien
Die Graphik verdeutlicht, dass die Gruppe der nicht oder nur intonatorisch weiterweisenden ¨ ¨ Außerungen die meisten Sprecherwechsel nach sich zieht: 18,6% aller Außerungen der Ka38
Bei diesen monologischen Abschnitten handelt es sich im Fall der Big-Brother-Daten um die sogenannten “Statements”, also Kommentare, die die Bewohner des Hauses zu bestimmten Zeiten alleine in einem geschlossenen Raum vor laufender Kamera abgegeben haben. Im Fall der FußbroichsDaten kommen ebenfalls Passagen vor, wo sich einzelne Beteiligte alleine vor der Kamera a¨ ußern.
150 tegorie (-LS)+(-S)+(-SP) werden von einem Sprecherwechsel gefolgt (21 Sprecherwechsel abs.). Demgegen¨uber folgt auf 5% (abs. 6) der einfach semanto-pragmatisch weiterweisen¨ den Außerungen und auf 2,4% (abs. 1) der syntaktisch und semanto-pragmatisch weiterwei¨ senden Außerungen ein Sprecherwechsel. In der Gruppe der komplex lexiko-semantisch und ¨ semanto-pragmatisch weiterweisenden Außerungen kommt kein Sprecherwechsel vor. 75% ¨ aller Sprecherwechsel entfallen damit auf die Gruppe der nicht-weiterweisenden Außerungen.
Vorkommensh¨aufigkeit (in %)
¨ ¨ Auch hier l¨asst sich eine deutliche Ahnlichkeit zwischen den steigend-fallenden Außerungen ¨ und den steigenden Außerungen der Referenzgruppe (n=50) feststellen. Diese weist zu 6% ¨ Sprecherwechsel im Anschluss an die Außerungen auf. Alle Sprecherwechsel erfolgen nach ¨ ¨ Außerungen der Kategorie (-LS)+(-S)+(-SP), die insgesamt 17 Außerungen umfasst. Da¨ mit werden in der Referenzgruppe 17,7% der nicht-weiterweisenden Außerungen von einem Sprecherwechsel gefolgt. ¨ Dem l¨asst sich eine Gruppe abschließender Außerungen mit final fallender Intonation und ohne weitere Weiterweisungssignale (n=50) gegen¨uberstellen, die zu Vergleichszwecken un¨ tersucht wurde. Die Analyse hat erwiesen, dass hier 44% der Außerungen von einem Spre¨ cherwechsel gefolgt werden. W¨ahrend in der Gruppe der nicht-weiterweisenden Außerungen ¨ mit final fallender Intonationsbewegung also nahezu jede zweite Außerung (44%) von einem Sprecherwechsel gefolgt wird, gilt dies in der entsprechenden Gruppe der steigenden und ¨ ¨ der steigend-fallenden Außerungen nur f¨ur knapp jede f¨unfte Außerung (17,7% bzw. 18,6%). Diese Verteilung veranschaulicht die folgende Graphik: 60 44 %
45
30 17.7 %
18.6 %
steig
steig-fall
15
fall
Abbildung 4.46: Sprecherwechselvorkommen im Anschluss an nicht-weiterweisende final steigende, steigend-fallende und fallende Intonationsverl¨aufe in %
Die Verteilung spricht deutlich f¨ur die Auswirkungen von Intonation auf die Weiterweisungssignalisierung im Allgemeinen und f¨ur die weiterweisende Wirkung der steigend-fallenden Kontur im Besonderen. Analog zur Beobachtung von Ford & Thompson (1996) bez¨uglich der Abschlusssignalisierung l¨asst sich abschließend festhalten, dass komplexe Weiterweisung deutlich seltener zur ¨ Turnabgabe f¨uhrt als einfache Weiterweisung. Die Außerungen ohne Weiterweisungssignale auf syntaktischer, lexiko-semantischer und semantopragmatischer Ebene weisen die meisten ¨ Sprecherwechsel auf. Die Außerungen, die komplex weiterweisend sind, weisen die wenigsten oder sogar gar keine Sprecherwechsel auf. Weiterhin kann festgehalten werden, dass die
151 ¨ intonatorische Gestaltung der Außerung einen deutlichen Einfluss auf das Sprecherverhal¨ ten hat: Final steigend-fallende und steigende Außerungen f¨uhren gegen¨uber final fallenden ¨ Außerungen deutlich seltener zu Sprecherwechseln. Die weiterweisende Wirkung der final steigend-fallenden Kontur kann somit quantitativ als best¨atigt angesehen werden. Nichtsdestotrotz bleiben die auftretenden Sprecherwechsel jedoch problematisch und erkl¨arungsbed¨urftig. Sie werden daher am Ende dieses Kapitels noch detailliert untersucht (siehe Kap. 4.4.1.4.2). Als problematisch kann außerdem die uneinheitliche Datengrundlage angesehen werden, die aus Interviewdaten und aus interaktionalen Daten (Fußbroichs und Big Brother) besteht. In Interviews besteht zumeist eine st¨arkere Tendenz zur Turnbeibehaltung durch den Interviewten, da der Gespr¨achsleiter eine rege Beteiligung des Interviewpartners anstrebt. Unter Ber¨ucksichtigung der Datengrundlage m¨ussen die Ergebnisse daher m¨oglicherweise relativiert werden, wenn sich herausstellen sollte, dass s¨amtliche Turnbeibehaltungen in der Interviewsituation stattfinden. F¨ur die Gruppe (-LS)+(-S)+(-SP) m¨ussten sich demnach in den interaktionalen Daten keine oder kaum Turnbeibehaltungen finden lassen. Alle Sprecherwechsel m¨ussten hingegen diesen interaktionalen Daten entstammen. Es folgen deshalb nun einige Bemerkungen zur Verteilung der Sprecherwechsel auf die verschiedenen Datentypen: ¨ Von den insgesamt 307 konturtragenden Außerungen kommen 133 in den interaktionalen ¨ Daten vor, 174 in den Interviewdaten. Von den interaktionalen Daten sind 116 Außerungen auswertbar f¨ur die Analyse des Sprecherwechsels. Die u¨ brigen befinden sich in monologischen Abschnitten. Ohne Ber¨ucksichtigung der Weiterweisungskategorien verteilen sich die 28 Sprecherwechsel folgendermaßen auf die Daten: 18 Sprecherwechsel kommen in den interaktionalen Daten vor, die restlichen 10 in den Interviewdaten. Das bedeutet, dass 15,5% aller interaktio¨ nalen Außerungen von einem Sprecherwechsel gefolgt werden, aber nur 5,7% der Interview¨außerungen. Erwartungsgem¨aß ist der Anteil der Sprecherwechsel bei den interaktionalen Daten damit h¨oher als bei den Interviewdaten. Dennoch zeigt sich auch bei den inter¨ aktionalen Daten eine deutliche Tendenz zur Turnbeibehaltung, da 84,5% aller Außerungen keinen Sprecherwechsel nach sich ziehen. Außerdem zeigt sich, dass auch in den Interviewdaten einige Sprecherwechsel zu verzeichnen sind. Der Drang zur Turnbeibehaltung ist also ¨ nicht so zwingend, dass Sprecherwechsel nach weiterweisenden Außerungen vollst¨andig blockiert w¨urden. ¨ Wie verh¨alt es sich nun mit den Außerungen der Gruppe (-LS)+(-S)+(-SP) in den interaktionalen Daten? Die Verteilung der Sprecherwechsel auf die verschiedenen Weiterweisungskategorien innerhalb der interaktionalen Daten ergibt, dass 14 der 18 Sprecherwech¨ sel in der Gruppe (-LS)+(-S)+(-SP) vorkommen. Diese Gruppe umfasst 60 Außerungen, so ¨ dass insgesamt 23,3% der nicht- bzw. nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen von ¨ einem Sprecherwechsel gefolgt werden. 7,7% der komplex weiterweisenden Außerungen sind durch einen Sprecherwechsel gekennzeichnet. Innerhalb der Interviewdaten verteilen sich die 10 Sprecherwechsel in a¨ hnlicher Weise auf die Weiterweisungskategorien: 7 der 10 Sprecherwechsel kommen in der Gruppe (-LS)+(-S)+(-SP) (n=53) vor. Das entspricht einem prozentualen Anteil von 13,2% Sprecherwechseln in dieser Gruppe. Die Gruppen der kom¨ plex weiterweisenden Außerungen (n=121) weisen demgegen¨uber einen Anteil von 2,5% an Sprecherwechseln auf.
152 Die quantitativen Ergebnisse f¨ur beide Datengruppen verdeutlichen wieder, dass nur intonatorische Weiterweisung weniger zwingend f¨ur eine Turnbeibehaltung ist als komplex signalisierte Weiterweisung. Die Gefahr, den Turn zu verlieren, ist bei den interaktionalen Daten erwartungsgem¨aß h¨oher als bei den Interviewdaten, obwohl auch hier Turnabgaben vorkommen. Auch bei den interaktionalen Daten werden 76,7% aller nur intonatorisch wei¨ terweisenden Außerungen durch den gleichen Sprecher fortgesetzt. Turnbeibehaltungen sind demnach bei den Interviewdaten zwar wahrscheinlicher, da das Risiko des Rederechtsverlust hier offensichtlich nicht so hoch ist wie bei den interaktionalen Daten. Der hohe Anteil der Turnbeibehaltungen auch bei den interaktionalen Daten zeigt jedoch, dass die Turnbeibehaltungen keineswegs nur als Reflex der Interviewsituation gewertet werden k¨onnen. Die weiterweisende Funktion der steigend-fallenden Kontur wird dadurch nochmals best¨atigt. Es folgt nun die quantitative Analyse der interaktionalen Gestaltung der Sprecherwechsel. Es ¨ werden das Vorkommen von Pausen und Uberlappungen im Anschluss an die konturtragen¨ den Außerungen besprochen.
4.4.1.4
Die interaktionale Gestaltung des Sprecherwechsels
4.4.1.4.1
Quantitative Analyse
Ausgangspunkt der Analyse ist zun¨achst die bereits angesprochene Beobachtung aus Sacks et al. (1974), dass die u¨ berwiegende Mehrzahl der Sprecherwechsel durch “no gap, no overlap” bzw. “slight gap, slight overlap” gekennzeichnet ist. Sollten die Turn¨ubergaben durch ¨ auff¨allig viele l¨angere Pausen und Uberlappungen gekennzeichnet sein, k¨onnte dies ein Indiz auf problematische Turn¨ubergaben darstellen. Im Zentrum der Analyse wird dement¨ sprechend zuerst die quantitative Analyse des Pausen- und Uberlappungsvorkommens im ¨ Anschluss an die konturtragende Außerung stehen. Da mittlerweile weithin anerkannt ist, ¨ dass Pausen und Uberlappungen nicht zwangsl¨aufig auf interaktionale Probleme hindeuten m¨ussen (vgl. G¨unthner 1998), ist diese quantitative Analyse nur als erster Schritt zu verstehen, der den Boden f¨ur die sp¨atere qualitative Analyse bildet. Hier wird dann diskutiert ¨ werden, ob sich die Pausen und Uberlappungen als Zeichen eines Turn¨ubergabeproblems deuten lassen. ¨ F¨ur die quantitative Auswertung wurden alle Pausen gemessen und alle Uberlappungen re¨ gistriert, die sich an die konturtragende Außerung anschließen. Zwar bildet den Schwerpunkt der Analyse die Gestaltung des Sprecherwechsels, als Referenzwert wird jedoch auch das ¨ ¨ Pausen- und Uberlappungsvorkommen bei den Außerungen mit Turnbeibehaltung gemes¨ sen. Auf diese Weise kann die Vorkommensh¨aufigkeit der Pausen und Uberlappungen bei Sprecherwechseln in Relation zu ihrer Vorkommensh¨aufigkeit bei den Turnbeibehaltungen betrachtet werden. Als Pausen wurden alle Passagen ohne Lautproduktion gemessen, die zwischen dem Ab¨ schluss der konturtragenden Außerung und der Folge¨außerung auftreten. Nicht als Pausen gewertet wurden beispielsweise gehaltene Glottalverschl¨usse (vgl. Local & Kelly 1986 zu “holding silences”). Die Pausen wurden entsprechend ihrer Dauer in 4 Gruppen unterteilt. Vor dem Hintergrund der angenommenen Wahrnehmbarkeit von Pausen ab 0.3 Sekunden
153 umfasst die erste Gruppe die minimale Dauer von >0 bis 0.2 Sekunden, die weiteren Gruppen beinhalten die Dauern von 0.3-0.5 Sekunden, 0.6-0.9 Sekunden und ab 1.0 Sekunden. Die Entscheidung f¨ur diese Gruppen steht im Zusammenhang mit Forschungen zur Korrelation von Pausendauer und der Wahrscheinlichkeit von Sprecherwechsel, auf die weiter unten noch eingegangen wird (vgl. Wennerstrom et al. 2003). Das folgende Beispiel veranschaulicht einen Konturbeleg mit einer Pause von 1.0 Sekunden Dauer. (117) ⇒
452 453 454
k03-vorlage; V2 fm
m h l oder gib mir irgend=ne VORlage (1.0) dann weis=isch UCH alles.
¨ Als Uberlappungen wurden alle simultanen Lautproduktionen zweier oder mehrerer Sprecher gewertet, sofern es sich nicht um H¨orersignale und/oder R¨uckversicherungen handelt. Es wur¨ den sowohl Uberlappungen gez¨ahlt, die innerhalb des nuklearen Abschnitts der konturtragenden Intonationsphrase beginnen, als auch solche, die bereits davor einsetzen. Voraussetzung ¨ ist allerdings, dass die u¨ berlappte Außerung eindeutig als steigend-fallend zu identifizieren ¨ sein muss. Weiterhin wurden solche Uberlappungen ber¨ucksichtigt, die im Vorlauf der Fol¨ ge¨außerung, d.h. vor der ersten Akzentsilbe der Folge¨außerung, auftreten. Uberlappungen k¨onnen zur Turnabgabe f¨uhren, wenn der hereinkommende Sprecher den Turn u¨ bernimmt, sie k¨onnen aber auch von einer Turnbeibehaltung gefolgt sein, wenn der hereinkommende Sprecher seinen Redebeitrag zur¨uckzieht oder einen nur sehr kurzen Beitrag a¨ ußert. Der fol¨ gende Gespr¨achsausschnitt veranschaulicht eine Uberlappung im Vorlauf der Folge¨außerung. Der Sprecher k09a a¨ ußert sich zu der Frage, in welchen Kontexten sein Sohn den k¨olnischen Dialekt h¨atte erwerben k¨onnen. (118) 530 ⇒
531 532 533 534 535
k09-familie nit spreschen; V1-2 k09a
k09b k09a
ja ansonsten wo soll der dat wirklisch jeLERNT haben. m h l wenn ma=t in der faMIlie nit spreschen .hhh oh: [wenn et in der SCHUle nit jesprochen wird¨ [SCHUlewenn et also gar nit gehtun: wo=wo willste dat denn sonst HERkriegen.
¨ Die Uberlappung erfolgt in Zeile 533 durch Sprecher k09b, nachdem k09a im Anschluss an ¨ ¨ die konturtragende Außerung ein gedehntes Verz¨ogerungssignal produziert hat. Die Uberlappung setzt vor der ersten Akzentsilbe der Folge¨außerung ein; es handelt sich um einen sehr kurzen Beitrag, k09a beh¨alt seinen Turn bei. Es werden nun die Ergebnisse der quantitativen Auswertung zum Pausenvorkommen und ¨ zum Uberlappungsvorkommen vorgestellt.
154 4.4.1.4.1.1 Pausen ¨ Insgesamt treten im Anschluss an die 307 untersuchten Außerungen 142 Pausen auf. 46,3% ¨ der konturtragenden Außerungen sind damit von einer Pause gefolgt, bevor entweder der gleiche Sprecher fortf¨ahrt oder ein neuer Sprecher einsetzt. Die Auswertung hinsichtlich des Pausenvorkommens bei Turnabgabe und Turnbeibehaltung zeigt jedoch keinen relevanten Unterschied: 42,9% aller Sprecherwechsel kommen mit Pausen vor. Bei den Turnbeibehaltungen entstehen in 46,6% aller F¨alle Pausen. Ein gr¨oßerer Unterschied zeigt sich, wenn man das Pausenvorkommen auf die verschiedenen Weiterweisungskategorien bezieht: Es folgen auf ¨ 64,8% aller nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen eine Pause, w¨ahrend nur 34,1% ¨ aller komplex weiterweisenden Außerungen von einer Pause gefolgt sind. Der Wert der Referenzgruppe mit steigender Intonation zeigt demgegen¨uber ein wesentlich geringeres Pausenvorkommen mit insgesamt 28% (=14) Pausen im Anschluss an die ¨ Außerungen. Auch l¨asst sich kein besonders ausgepr¨agter Unterschied zwischen komplex ¨ und nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen feststellen: 35% der nur intonatorisch ¨ ¨ weiterweisenden Außerungen und 24% der komplex weiterweisenden Außerungen werden von Pausen gefolgt. Das generelle Pausenvorkommen ist im Anschluss an die steigend-fallende Kontur somit ¨ sehr hoch; bei komplex weiterweisenden Außerungen ist es deutlich geringer als bei nur ¨ ¨ intonatorisch weiterweisenden Außerungen, und Außerungen ohne Sprecherwechsel weisen ¨ ein h¨oheres Pausenvorkommen auf als Außerungen mit Sprecherwechsel. Wie gestaltet sich nun das Pausenvorkommen unter Einbeziehung der Pausendauer? Nimmt man die Reihenfolge der Turnzuweisungsregeln des Turn-Taking-Modells von Sacks et al. ernst, ergeben sich als zeitliche Konsequenzen, dass die Option des Sprecherwechsels fr¨uher in Kraft tritt als die der Turnbeibehaltung. Die Regelung, dass der zuerst einsetzende nicht aktuelle Sprecher den Turn erh¨alt, sofern keine current selects next Technik eingesetzt wurde, verst¨arkt noch den Zwang, m¨oglichst schnell an den vorangegangenen Turn anzuschließen. Die Option der Turnbeibehaltung hingegen setzt erst dann ein, wenn kein anderer Sprecher u¨ bernommen hat. Spricht der aktuelle Sprecher nicht weiter, werden die Regeln von neuem g¨ultig. In der “zweiten Runde” w¨are dann also wieder zuerst ein Sprecherwechsel zu erwarten, nach kurzer Verz¨ogerung die Turnbeibehaltung usw. Ein Sprecherwechsel ist dementsprechend entweder sofort oder nach l¨angerer Pause zu erwarten. ¨ Auch Wennerstrom et al. (2003) nehmen diese Uberlegungen als Ausgangspunkt f¨ur ihre Untersuchung zum Zusammenhang von Pausendauer und Wahrscheinlichkeit von Sprecherwechsel in nat¨urlichen Gespr¨achen. Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit f¨ur einen Sprecherwechsel innerhalb der ersten 0.5 Sekunden tats¨achlich leicht sinkt und danach wieder ansteigt. W¨ahrend Sacks et al. in ihrem Modell keinen Unterschied zwischen intonatorisch weiterweisenden und abschließenden TCUs machen, korrelieren Wennerstrom et al. Pausendauer und Wahrscheinlichkeit f¨ur Sprecherwechsel mit dem Auftreten verschiedener Intonationskonturen: Folgt die Pause auf weiterweisende Intonationskonturen (low rise-, partial fall-, plateau-Konturen), sinkt nicht nur die generelle Wahrscheinlichkeit f¨ur einen Sprecherwechsel, sondern sie erreicht auch ihren Tiefpunkt bereits etwas fr¨uher, n¨amlich nach ca. 0.4 Sekunden. Der Bereich der geringsten Wahrscheinlichkeit f¨ur einen Sprecherwechsel nach weiterweisenden Konturen umfasst in etwa den Zeitraum von 0.3 bis 0.5 Sekunden. Danach steigt die Wahrscheinlichkeit wieder auf ihr anf¨angliches Niveau an und bleibt ab et-
155
Vorkommensh¨aufigkeit (abs.)
wa 0.9 Sekunden auf diesem Niveau (vgl. Wennerstrom et al. 2003: 93ff.). Diese Ergebnisse best¨atigen die bei Sacks et al. implizierte zeitliche Struktur der Sprecherwechselorganisation. Der Zeitraum um die 0.4 Sekunden herum ist (bei weiterweisender Intonation) demnach als der Zeitraum zu betrachten, nach dem die Option f¨ur den Sprecherwechsel verstrichen ist und der aktuelle Sprecher mit seinem Turn fortf¨ahrt. Danach setzt die Zeitspanne ein, in der das Turn¨ubernahmerecht wiederum an den nicht aktuellen Sprecher geht. Dass die zeitlichen Implikationen des Turn-Taking-Modells so ohne weiteres auf weiterweisende Konturen u¨ bertragbar sein sollen, ist sicherlich erstaunlich. Es wirft sich hier wieder ¨ die Frage auf, ob intonatorisch weiterweisende Außerungen u¨ berhaupt als TRP gewertet werden k¨onnen oder nicht, da sie zwar vollst¨andig sind, aber keinen Sprecherwechsel erwarten lassen. Wennerstrom et al. a¨ ußern sich dazu nicht, stellen aber fest, dass f¨ur die Behandlung der Pausen zus¨atzlich zur Intonationskontur auch die Syntax eine Rolle spielt. Ist weiterweisende Syntax mit der Intonationskontur partial fall verkn¨upft, kommt es ungeachtet der Pausendauer nicht zum Sprecherwechsel (vgl. Wennerstrom et al. 2003: 99ff.). Dies deutet darauf hin, dass auch hier komplex signalisierte Weiterweisung sicherer zur Turnbeibehaltung f¨uhrt als einfach signalisierte Weiterweisung. F¨ur die Analyse der Sprecherwechsel in den eigenen Daten bedeuten diese Ergebnisse, dass die meisten Sprecherwechsel ohne Pause oder in der Zeitspanne von 0.1-0.2 Sekunden zu erwarten sind, sofern es sich um unproblematische Sprecherwechsel handelt. Im Zeitraum von 0.3-0.5 Sekunden hingegen sollten kaum Sprecherwechsel auftreten. Sprecherwechsel, die ab einer Pause von 0.6 Sekunden auftreten, sind als Sprecherwechsel der “zweiten Runde” zu werten, d.h. hier sind die u¨ blichen Optionen zur Turn¨ubernahme und Beibehaltung bereits verstrichen, was auf eine Unsicherheit der Interaktionsteilnehmer hinsichtlich der Turn¨ubernahme hindeuten kann. Um die Vergleichbarkeit mit den Daten von Wennerstrom et al. (2003) zu gew¨ahrleisten, werden nur die interaktionalen Daten f¨ur die Analyse herangezogen. Die Datenmenge wird dadurch recht klein und bel¨auft sich auf 18 Sprecherwechsel in den interaktionalen Daten. Die Repr¨asentativit¨at der Ergebnisse ist daher stark eingeschr¨ankt. Die folgende Graphik veranschaulicht die Verteilung der Sprecherwechsel auf die verschiedenen Pausendauern. 20
15 12 10
5 2 0
0.1-0.2
1 0.3-0.5
2 0.6-0.9
1 ab 1.0
Pausendauer (in sec.) Abbildung 4.47: Vorkommen der Sprecherwechsel (n=18) bezogen auf die Pausendauer
156 Tats¨achlich zeigt sich bei den Daten, dass die u¨ berwiegende Mehrzahl der Sprecherwechsel ohne Pause oder nach einer minimalen Pause bis zu 0.2 Sekunden vorgenommen werden (n=14; 77,8% der Sprecherwechsel). In der Zeitspanne von 0.3 bis 0.5 Sekunden findet sich nur ein Sprecherwechsel, zu den kritischen Sprecherwechseln der zweiten Runde sind drei Sprecherwechsel zu z¨ahlen. Der zeitliche Einsatz der Sprecherwechsel entspricht den Erwartungen des Turn-TakingModells und den Ergebnissen von Wennerstrom et al. Es ist allerdings weiterhin zu beden¨ ken, dass dieses Ergebnis vor dem Hintergrund der Hypothese, dass die Außerungen weiterweisend sind, fragw¨urdig ist. Das Turn-Taking-Modell soll schließlich auf m¨ogliche TRPs ¨ anwendbar sein, zu denen die weiterweisenden Außerungen nicht zu z¨ahlen sind. Dass die zeitliche Gestaltung des Sprecherwechsels bei weiterweisenden und bei abschließenden Intonationskonturen kaum voneinander abweicht, wie Wennerstrom et al. feststellen, widerspricht jeglicher Intuition und stellt die Plausibilit¨at der zeitlichen Implikationen des gesamten Modells in Frage.
Vorkommensh¨aufigkeit (abs.)
Von Interesse ist nun, wie sich die Turnbeibehaltungen auf die Pausendauern verteilen. Best¨atigt sich auch hier die zeitliche Tendenz des Turn-Taking-Modells? Komplement¨ar zu den steigenden und sinkenden Wahrscheinlichkeiten f¨ur den Sprecherwechsel ist hier zu erwarten, dass die Mehrzahl der Turnbeibehaltungen nach 0.3 bis 0.5 Sekunden auftritt, fr¨uher und sp¨ater m¨ussten weniger Turnbeibehaltungen zu finden sein. ¨ Grundlage der Auswertung bilden die 116 nicht monologischen Außerungen der interaktionalen Daten, von denen 18 durch einen Sprecherwechsel gekennzeichnet sind. Es kommt also zu 98 Turnbeibehaltungen. Bei 43 der nicht monologischen Turnbeibehaltungen treten Pausen auf. 43,9% der interaktionalen Turnbeibehaltungen entstehen demnach mit Pausen. ¨ Die folgende Graphik gibt einen Uberblick u¨ ber die Verteilung der Turnbeibehaltungen auf die verschiedenen Pausendauern. 60
55
45
30 17 15
11
9
0.6-0.9
ab 1.0
6 0
0.1-0.2
0.3-0.5
Pausendauer (in sec.) Abbildung 4.48: Vorkommen von Turnbeibehaltungen (n=98) bezogen auf die Pausendauer
Die generelle Aussage, dass Turnbeibehaltungen erst als zweite M¨oglichkeit nach der Turnabgabe und damit zeitlich verz¨ogert auftreten sollten, zeigt sich in den interaktionalen Daten nicht best¨atigt: 54 (56,1%) der 98 Beibehaltungen folgen ohne Pause. Eine schwache Ten-
157 denz, die Turnbeibehaltungen im Zeitraum von 0.3 bis 0.5 Sekunden anzusiedeln, l¨asst sich allerdings feststellen. In dieser Hinsicht ließen sich die Beobachtungen von Wennerstrom et al. demnach best¨atigen. Die Auswertung verdeutlicht, dass auch die Turnbeibehaltungen schwerpunktm¨aßig ohne Pause auftreten. Dies ist ein erwartbares Ergebnis, wenn man davon ausgeht, dass die ¨ Außerungen weiterweisend sind. Es zeigt jedoch auch, dass die Anwendbarkeit des TurnTaking-Modells und der Ergebnisse von Wennerstrom et al. auf die zur Diskussion stehenden ¨ ¨ Außerungen tats¨achlich fragw¨urdig ist. Auch die Ubereinstimmung der zeitlichen Erwartungen des Modells mit den Sprecherwechseln relativiert sich vor dem Hintergrund der Beibehaltungsergebnisse: Sowohl Beibehaltungen als auch Abgaben weisen ja einen deutlichen Schwerpunkt beim Einsatz ohne oder mit minimaler Pause auf. Dies deutet auf eine generelle ¨ Tendenz hin, m¨oglichst schnell an die vorige Außerung anzuschließen, unabh¨angig davon, ob es sich dabei um den aktuellen Sprecher oder einen anderen Sprecher handelt. Abschließend l¨asst sich sagen, dass die quantitative Analyse des Pausenvorkommens keine R¨uckschl¨usse auf m¨ogliche problematische Sprecherwechsel im Anschluss an die konturtra¨ gende Außerung zul¨asst. Hinsichtlich des allgemeinen Pausenvorkommens lassen sich kaum Unterschiede zwischen Sprecherwechsel und Turnbeibehaltung feststellen. ¨ 4.4.1.4.1.2 Uberlappungen ¨ 7,6% (n=22) aller konturtragenden (nicht monologischen) Außerungen (n=290) kommen mit ¨ ¨ Uberlappungen vor. Die Referenzgruppe mit final steigender Tonh¨ohe weist ein Uberlappungsvorkommen von insgesamt 10% auf, die Referenzgruppe mit final fallender Intonation hingegen ein Vorkommen von 22%. Vergleichbar zum Pausenvorkommen l¨asst sich auch hier ¨ ¨ feststellen, dass die komplex weiterweisenden Außerungen durch weniger Uberlappungen ¨ gekennzeichnet sind als die nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen: Auf 11,5% ¨ ¨ (n=13) der nur intonatorisch weiterweisenden Außerungen folgt eine Uberlappung, aber nur auf 5,1% (n=9) der komplex weiterweisenden (bei der Referenzgruppe mit steigender Intonation entsprechend 23,5% gegen¨uber 3%). Anders als beim Pausenvorkommen ist das ¨ Uberlappungsvorkommen außerdem durch deutliche Unterschiede bei der Verteilung auf Sprecherwechsel und Turnbeibehaltung gekennzeichnet. Beinahe jeder dritte Sprecherwech¨ sel (32,1%) steht in Zusammenhang mit einer Uberlappung, aber nur knapp 5% (4,7%) aller ¨ Turnbeibehaltungen kommen mit einer Uberlappung vor. Dass das nicht darauf zur¨uck zu ¨ f¨uhren ist, dass Beibehaltungen m¨oglicherweise generell seltener mit Uberlappungen vor¨ kommen, wird dadurch deutlich, dass 40,9% aller Uberlappungen einen Sprecherwechsel ¨ nach sich ziehen, aber sogar 59,1% eine Turnbeibehaltung. Es enden also mehr Uberlappungen in einer Turnbeibehaltung als in einer Turnabgabe. Dies ist der Fall, wenn der hereinkommende Sprecher seinen Redebeitrag zur¨uckzieht, wie eingangs veranschaulicht wurde. ¨ Ob diese deutliche H¨aufung der Uberlappungen bei Sprecherwechsel als Hinweis auf dessen Dispr¨aferiertheit im Anschluss an die Kontur zu werten ist, wird die qualitative Analyse der Sprecherwechsel erweisen. Zusammenfassend l¨asst sich sagen, dass es sowohl in den komplex weiterweisenden als auch ¨ in den einfach intonatorisch weiterweisenden Außerungsgruppen zu “gaps” und “overlaps” ¨ kommt. Uberlappungen sind weniger h¨aufig als Pausen. Die Pausen stehen in deutlichem
158 ¨ ¨ Zusammenhang zum Weiterweisungspotenzial der Außerungen, w¨ahrend die Uberlappungen eine deutliche Korrelation mit dem Sprecherwechsel aufweisen. Der folgende Abschnitt widmet sich der qualitativen Analyse der auftretenden Sprecherwechsel.
4.4.1.4.2
Die interaktionale Gestaltung des Sprecherwechsels: Qualitative Analyse
Mit etwa 9% (n=28) aller Anschl¨usse an die steigend-fallende Kontur im K¨olnischen stellen die Sprecherwechsel einen relativ geringen Anteil der Anschl¨usse dar. Vor dem Hintergrund ¨ ¨ der quantitativen Uberzahl der Außerungen mit Turnbeibehaltung ist das Vorkommen der Sprecherwechsel jedoch von besonderem Interesse. Es besteht zum einen beispielsweise die M¨oglichkeit, dass die Sprecherwechsel von den Beteiligten als kompetitive Turn¨ubernahmen ¨ behandelt werden. In diesem Fall w¨aren die konturtragenden Außerungen trotz des Sprecherwechsels als weiterweisend einzustufen. Zum anderen besteht die M¨oglichkeit, dass die Turn¨ubernahmen ohne Anzeichen von Kompetitivit¨at gestaltet werden. In diesen F¨allen ließe sich zun¨achst nicht ohne weiteres von einem Weiterweisungspotenzial der konturtragen¨ den Außerung ausgehen. Es w¨are stattdessen zu u¨ berlegen, welchen Bedingungen der nichtweiterweisende Gebrauch der Kontur unterliegt. Hierbei ist allerdings zun¨achst zu bedenken, ¨ dass auch nicht-kompetitive Ubernahmen vorkommen k¨onnen, die das Weiterweisungspo¨ tenzial der konturtragenden Außerung nicht in Frage stellen. So k¨onnen beispielsweise kollaborative Vervollst¨andigungen durch einen anderen Sprecher ein Hinweis auf das Weiterwei¨ sungspotenzial der konturtragenden Außerung sein, obwohl in diesen F¨allen ein Sprecherwechsel vorliegt. ¨ Prim¨ares Ziel der qualitativen Analyse ist es somit, herauszustellen, ob die Außerungen mit ¨ steigend-fallender Kontur auch bei folgendem Sprecherwechsel als weiterweisende Außerungen eingestuft werden k¨onnen, oder ob sich keine Evidenz f¨ur das Weiterweisungspotenzial feststellen l¨asst. Die Analyse hat ergeben, dass tats¨achlich sowohl Belege existieren, die ¨ f¨ur die Weiterweisungsannahme der konturtragenden Außerung sprechen als auch solche, die gegen diese Annahme sprechen. Dies bedeutet, dass das Bedeutungspotenzial “Weiterweisung” offenbar nicht f¨ur alle Konturvorkommen G¨ultigkeit besitzt. Zu kl¨aren bleibt dann, unter welchen Bedingungen bzw. in welchen Kontexten die steigend-fallende Kontur nicht weiterweisend wirkt. Im Folgenden werden nun zuerst die Belege vorgestellt, die keine Weiterweisungsinter¨ pretation der konturtragenden Außerung zulassen. Wie soeben erw¨ahnt wurde, ist hier von ¨ besonderem Interesse, ob sich diese Außerungen in bestimmter Weise gruppieren lassen, so dass spezifische Gebrauchsbedingungen der Kontur bei Nicht-Weiterweisung herausgestellt werden k¨onnen. Die Analyse legt nahe, von drei Gruppen von nicht-weiterweisenden Konturvorkommen auszugehen: Die Kontur tritt in Vorwurfssequenzen, Argumentationen und handlungsbegleitend auf, was sogleich veranschaulicht wird. Es folgen danach die Belege, die ¨ trotz Sprecherwechsels daf¨ur sprechen, die konturtragende Außerung als weiterweisend einzustufen. Auch hier konnten drei wesentliche Gruppen herausgearbeitet werden: zum einen sind die Sprecherwechsel, wie oben bereits angedeutet wurde, teilweise auf kollaborative Vervollst¨andigungen zur¨uckzuf¨uhren. Zum anderen existieren Sprecherwechsel, die im weiteren Verlauf des Gespr¨achs als problematisch bearbeitet werden. Schließlich stehen eini-
159 ge der Sprecherwechsel im Zusammenhang mit Zwischensequenzen, die zur Kl¨arung eines Sachverhalts eingef¨ugt werden und in deren Anschluss die erwartbare Ankn¨upfung an die ¨ konturtragende Außerung erfolgt.
4.4.1.4.2.1
Konturvorkommen ohne Weiterweisungspotenzial
Im Folgenden werden zun¨achst exemplarisch die Konturvorkommen mit Sprecherwechsel in Vorwurfssequenzen und in Argumentationen vorgestellt. Ihnen ist gemeinsam, dass durch die ¨ konturtragende Außerung keine Weiterweisungserwartung etabliert wird. Die sequenzielle ¨ Einbettung der Außerung legt vielmehr eine Turn¨ubernahme durch den anderen Sprecher nahe.
4.4.1.4.2.1.1 Vorwurfssequenzen Das Konturvorkommen in Vorwurfssequenzen zeigen die ersten drei Beispiele. Die kontur¨ tragende Außerung tr¨agt keinerlei Weiterweisungspotenzial. Sie ist mit einem Vorwurf oder einer Rechtfertigung verkn¨upft, die eine Reaktion des Gegen¨ubers – eine Rechtfertigung, einen Gegenvorwurf, eine Einlenkung etc. – erwartbar macht. Die Verwendung der Kontur in diesem Kontext stellt folglich einen eindeutigen Widerspruch zur Weiterweisungsfunktion dar. Beim ersten Beispiel handelt es sich um einen Auszug aus den Fußbroichs, in dem ein h¨aufig thematisierter Streitpunkt zwischen dem Sohn (fs) und seiner Freundin (ft) zu Tage tritt: die Frage, wer f¨ur Haushalt und Kochen zust¨andig ist. Die anderen beiden Beispiele stellen scherzhafte Vorw¨urfe in spielerischen Situationen dar. (119)
⇒
k01-kochen; V2 ((Fs kommt zu seiner Freundin ft nach Hause und hat offenbar erwartet, dass sie bereits gekocht hat.))
1328 1329 1330 1331 1332
fs
1333 1334
ft
1335 1336 1337 1338 1339 1340 1341
ft fs
fs ft
N:¨ A:. (-) l hl isch kann nisch noch anfangen zu KOchen (-)
(---)
160
¨ Die konturtragende Außerung (Z 1335) steht als Rechtfertigung in der Folge des Vorwurfs von fs, dass das Essen noch nicht zubereitet sei (Z 1328, 1331, 1332). Ft verneint zun¨achst ¨ die in Zeile 1332 formulierte Erwartung und liefert mit der konturtragenden Außerung eine Rechtfertigung f¨ur ihr Handeln. Es folgt darauf eine Pause, und die Vorwurfssequenz wird durch die Frage von fs retrospektiv als abgeschlossen markiert. (120)
⇒
k04-salzwasser schluck; V2 ((Fm und fv befinden sich in Mallorca im Wasser und tauchen sich gegenseitig unter.))
576 577 578 579
fm
580 581 582 583 584 585 586
fm fv fm fv
fv
fm fv
!UI! (1.0) (ekel hast das) SALZwasser [(nisch geschluckt). [ ( [ ) l h h fm [dat is UNgesund wenn man SALZwasser schluck. JA:? da sin bakTErien drin. is och schlescht wenn man seinen MANN untertaucht. (1.0) krist=e WIDder. isch WARne disch.
In diesem Beispiel wendet sich fm mit einer Belehrung an fv (Z 580), die vor dem Hintergrund, dass fv sie soeben untergetaucht hat, als impliziter Vorwurf interpretiert werden kann. Nachdem eine Rechtfertigung oder ein Gegenvorwurf durch fv in Zeile 581 ausbleibt, untermauert fm die Gef¨ahrdung durch das Salzwasser (Z 582). Es folgt nun eine Rechtfertigung von fv (Z 583), der sein Handeln als Konsequenz bzw. “Revanche” ihres eigenen Handelns darstellt. Nach einer Pause k¨undigt fm ihrerseits eine Revanche an (Z 585). (121)
⇒
bb72-meckerei; V2-3 ((Sabrina hat die Aufgabe, J¨urgen f¨ur einen “chinesischen Abend” als Chinesen anzumalen. Die Situation ist eine spielerische; Frotzeleien zwischen den beiden Beteiligten sind h¨aufig.))
10 11 12 13 14 15
Jrg
16 17 18 19
Sbr
Sbr Jrg
Jrg
((kichert)) (3.0) n¨ a; NOCH nisch; lh m
[JA. d' ¨ oh sch' es gibt da LOTsen, (.) un die f¨ Uhrn einen dann dursch [dieses: FELsije
180 .h MAgellanstraße dursch? 1045 1046 1047 1048 1049 1450
i k08
i
[ jAbis hinten andere seite chI:le wieder RAUF? bis ma oben PAnamakanal warn; auf dieser tour hatt=n wa ZW¨ OLF h¨ Afen.
¨ Den Beispielen ist gemeinsam, dass die dazwischen geschobene Außerung nach der steigendfallenden Kontur den Turn nicht dauerhaft f¨ur sich beansprucht. Das prinzipielle Rederecht geht dem vorherigen Sprecher nicht verloren. Die Belege des letzten Abschnitts haben gezeigt, dass die vorkommenden Sprecherwechsel keinen Widerspruch zu dem Weiterweisungspotenzial der steigend-fallenden Kontur darstellen. Die kollaborativen Anschl¨usse, die dispr¨aferierten Wechsel und die Zwischensequenzen ¨ mit Wiederankn¨upfen an die steigend-fallende Außerung machen die Orientierung der Sprecher auf eine erwartbare Fortsetzung des ersten Sprechers deutlich. Der vorherige Abschnitt hingegen hat deutlich gemacht, dass die Kontur ebenso in Kontexten vorkommt, die keine Weiterweisungserwartung wecken. Auch die Kontur f¨uhrt nicht zum Aufbau einer solchen Erwartung. Vor dem Hintergrund der in Kapitel 4.4.1.3 erzielten Ergebnisse zum quantitativen Zusammenhang von finalem Intonationsverlauf und folgendem Sprecherwechsel ließe sich vermuten, dass die Sprecherwechsel nach steigend-fallender Kontur u¨ berdurchschnittlich h¨aufig auf solche Verl¨aufe folgen, die final maximale Falltiefe aufweisen. Dies ist jedoch nicht der Fall: ¨ Die quantitative Verteilung zeigt, dass die konturtragenden Außerungen mit folgendem Spre¨ cherwechsel (n=28) zu 28,6% (n=8) maximal tief enden. Die konturtragenden Außerungen ohne folgenden Sprecherwechsel (n=322) enden in 29,2% (n=94) der F¨alle maximal tief. Der Anteil der Verl¨aufe mit maximaler Falltiefe ist bei Belegen mit und ohne Sprecherwechsel also nahezu identisch. Es kann somit ausgeschlossen werden, dass die finale Falltiefe der steigend-fallenden Kontur einen Einfluss auf den Sprecherwechsel hat. Auch im Zusammenhang mit den auf der qualitativen Analyse beruhenden Vorkommenskontexten der Konturbelege mit Sprecherwechsel ergeben sich keine nennenswerten Auff¨alligkeiten hinsichtlich des Gebrauchs der verschiedenen Konturvarianten. Es muss an dieser Stelle bedacht werden, dass die Gruppen, die sich aus der qualitativen Analyse ergeben, zum Teil sehr klein sind. So beinhaltet die Gruppe der Konturvorkommen in Vorwurfssequenzen nur 3 Belege, die zwar ausschließlich die phonetischen Varianten V2 und V2-3 aufweisen, es ist jedoch sehr fraglich, ob sich hieraus Schl¨usse auf einen systematischen Gebrauch der Konturvarianten ziehen lassen. Innerhalb der Gruppe der Argumentationen, die sechs Belege umfasst, lassen sich bereits alle Konturvarianten (V1, V2, V3) feststellen. Auch die u¨ brigen untersuchten Konturvorkommen geben keinen Anlass zu der Annahme, dass ein fester Zusammenhang zwischen Variantengebrauch und Vorkommenskontext besteht. Der aus Gr¨unden der induktiven Herangehensweise gew¨ahlte Ansatz, bei der funktionalen Analyse die phonetischen Varianten als Grundlage zu nehmen (vgl. Kap. 1, Kap. 3), scheint zumindest in Hinblick auf die beschriebenen phonetischen Variationsparameter f¨ur die untersuchten Funktionen keine aussagekr¨aftigen Ergebnisse zu erzielen.
181 Im folgenden Kapitel wird nun das Konturvorkommen bei quantitativ dominierender Turnbeibehaltung beschrieben. Es folgt zuerst eine Darstellung der typischen sequenziellen Einbettung der Kontur (Kap. 4.4.1.5). Danach wird das Kontextualisierungspotenzial der Kontur detailliert betrachtet (Kap. 4.4.1.6).
4.4.1.5
Spezifisches zur Weiterweisung: Das Sequenzformat und seine Varianten
Im vorangegangenen Kapitel wurde die steigend-fallende Kontur im K¨olnischen als Kontur herausgestellt, die meistens weiterweisend wirkt. Der speziellen Ausformung der Weiterweisung widmet sich nun dieses Kapitel. Es wird gezeigt, dass die Fortsetzung nach der ¨ konturtragenden Außerung nicht v¨ollig beliebig ist, sondern dass sich ein bestimmtes Sequenzformat ausmachen l¨asst, f¨ur das das Konturvorkommen typisch ist. In Anlehnung an ¨ Jefferson (1972) wird unter einer Sequenz eine nicht-zuf¨allige Abfolge von Außerungen verstanden, die “zusammen geh¨oren”: “The term ‘sequence’ refers to events that occur as a ‘serial unit’, which belong together and follow one after another” (304). Zu dem prototypischen Sequenzformat existieren Varianten, die jedoch die allgemeine G¨ultigkeit des grundlegenden Formats nicht in Frage stellen. Das Vorkommen der Kontur in einer bestimmten sequenziellen Abfolge deutet zugleich darauf hin, dass es sich bei der Kontur nicht um eine beliebige Weiterweisungskontur handelt, die in s¨amtlichen Kontexten mit Fortsetzungserwartung eingesetzt werden kann. Vielmehr ist ihr Vorkommen an bestimmte Bedingungen gekn¨upft, die im Folgenden beschrieben werden. Das grundlegende Format f¨ur das Konturvorkommen ist eine zweiteilige Sequenz, mit ¨ deren erster Außerung der steigend-fallende Tonh¨ohenverlauf verkn¨upft ist. Der zweite Teil ¨ weist immer fallende Intonation auf und schließt die Sequenz ab. Die beiden Außerungen stehen dabei inhaltlich in engem Zusammenhang, der aus einem Kontrast, zwei aufeinander folgenden Handlungsschritten oder a¨ hnlichem bestehen kann. Zumeist handelt es sich um ¨ ¨ gleichrangige, koordinierte Außerungen. Die enge Zusammengeh¨origkeit der beiden Außerungen wird zum Teil durch die Kookkurrenz mit lexiko-semantischen oder syntaktischen Weiterweisungssignalen unterstrichen. Dies veranschaulichen die folgenden beiden Beispiele: (141)
⇒
01 02
(142)
⇒
01 02
LS+SP, k07-mittelschule; V2
k07
m h m die gingen zwar auf die MITtelschule aber von abiTUR war ja konnt ja gar keine REde sein; ne,
S+SP, k07-wagen kamen; V1
k07
l h m un wenn dann die schweren WAgen kamen da kamen die polizisten und dr¨ uckten uns alle je=n de WAND; ne,
182 Das erste Beispiel ist durch ein lexiko-semantisches Weiterweisungssignal (zwar) gekennzeichnet, das zweite Beispiel durch ein syntaktisches (den vorangestellten wenn-Satz). Beide erfordern einen zweiten Teil, der dann den Abschluss der Sequenz darstellt. Auch ohne Kookkurrenz mit lexiko-semantischen oder syntaktischen Signalen ist die zweiteilige Struktur zu beobachten, wie die n¨achsten Beispiele zeigen: (143)
⇒
01 02
(144)
⇒
01 02
SP, k05-arbeite; V2
fm
l h m isch ARbeite und wenn isch lust hab fahr isch ins ST¨ ADTschen.
(-LS)+(-S)+(-SP), k03-stern drinne; V3
fv
l h l da war hier=n STERN drinne und da liefen die FARben so WEG.
Das erste Beispiel ist im Kontext semanto-pragmatisch weiterweisend, das zweite weist keinerlei nicht-intonatorisches Weiterweisungspotenzial auf. Dennoch ist die zweiteilige Struktur deutlich zu erkennen, die prosodisch durch die abschließende, fallende Intonation der ¨ zweiten Außerung markiert wird. ¨ Die beiden Außerungen bilden gemeinsam einen abgeschlossenen Komplex. Aufgrund der f¨ur gesprochene Sprache typischen Erweiterbarkeit sprachlicher Strukturen, sind Erweiterungen dieses Komplexes allerdings m¨oglich und tats¨achlich h¨aufig. Die zweiteilige Struktur ist entsprechend als Grundger¨ust zu verstehen, das auf verschiedene Arten variiert werden kann. Eine M¨oglichkeit zeigt das folgende Beispiel aus einem Interview, bei dem die Sprecherin verschiedene Stationen eines Radwegs am Rhein entlang schildert. Der Stadtteil Rodenkirchen stellt den Ausgangspunkt des Wegs dar. (145)
⇒
965 966 967 968 969 970 971 972 973 974
k07-rodenkirschen; V2-3
k07
i k07
m h l (.) ¨ ah: ROdenkirschen und dann kommt (.) der wEIße RHEINbogen? und dann kommt S¨ URTH? .hh und dAnn m¨ ussen se (--) ¨ ah: m¨ ussen se HOCH. (-) m¨ ussen se quasi (.) ¨ uber den RADwesch der be: NEUN fahren; weil se um den godorfer HAfen rum m¨ ussen; hm und dann hm WESseling do' ¨ ahm ¨ ahm WESseling m¨ ussen sie AUCH ah (.) ¨ ¨ uber die STRAße fahrnund dann k¨ onnen sie (.) wieder runter (--) an den RHEIN, und dann k¨ onnen sie quasi bis bonn bad GOdesberg
183 Dieses Beispiel zeigt, dass es nicht bei den zwei Bestandteilen der Sequenz bleiben muss. ¨ Auf die konturtragende Außerung folgt eine mehrz¨ugige Beschreibung der Etappen auf dem Weg von K¨oln nach Bonn. Bemerkenswert ist, dass die Kontur nur auf dem ersten Teil der ¨ Beschreibung steht. Alle anderen, internen Außerungen sind durch final steigende, flach steigende oder auch fallende Tonh¨ohenverl¨aufe gekennzeichnet. Mit Erreichen des “Ziels” und mit Abschluss der Sequenz wird eine final fallende Kontur produziert. Dies verdeutlicht, dass das zweiteilige Grundger¨ust zwar erweitert werden kann, dass die Zweiteiligkeit als Klammerstruktur aber erhalten bleibt. Weiterhin ist zu erkennen, dass die steigend-fallende Kontur nicht als gew¨ohnliche Weiterweisungskontur eingesetzt wird. In diesem Fall w¨are sie auch im Inneren der Sequenz zu erwarten, wo jedoch nur die u¨ blichen progredienten Konturen zu finden sind. Statt dessen hat sie am Sequenzbeginn eine exponierte Position inne. Von besonderem Interesse ist es auch, die Analyse bereits einige Zeilen vor dem oben beschriebenen Konturvorkommen anzusetzen. Hier kommt n¨amlich die Kontur ebenfalls vor, ohne aber zu der beschriebenen Klammerstruktur zu f¨uhren. Dennoch ist der Ausschnitt nicht als Gegenbeispiel zur beschriebenen zweiteiligen Struktur zu sehen, sondern ganz im Gegenteil als ein Argument f¨ur deren Wirksamkeit, was sogleich n¨aher erl¨autert wird. (146) ⇒
962 963 964
⇒
965
k07-rodenkirschen; V2-3 / V2 k07
m h l also f¨ angt an ROdenkirschen ne, (-) wir (.) k¨ onn ja von hier aus bIs k¨ Oln am RHEIN entlang fAhren; ne, m h m (.) ¨ ah: ROdenkirschen
¨ Nach der ersten konturtragenden Außerung “also f¨angt an ROdenkirschen ne,” folgt ein durch tieferes Tonh¨ohenniveau prosodisch abgesetzter Einschub, der inhaltlich nicht mit einer erwartbaren Fortf¨uhrung der projizierten Wegbeschreibung anschließt, sondern Hintergrundwissen bereitstellt (Z 963-964). Entsprechend sind diese drei aufeinanderfolgenden ¨ Außerungen nicht als eine zusammengeh¨orende Sequenz zu bewerten, sondern als eine be¨ gonnene und durch den Einschub suspendierte Sequenz. In der ersten Außerung nach dem ¨ Einschub (Z 965) wird nun die erste konturtragende Außerung zum Teil wiederholt, und zwar wieder mit der steigend-fallenden Kontur. Erst jetzt setzt die oben beschriebene Beschrei¨ bung ein, die mit der inhaltlich und prosodisch abschließenden Außerung in Zeile 974 endet ¨ (siehe Bsp. 145). Die Hintergrundwissen liefernden Außerungen in Zeile 963-964 werden dadurch auch retrospektiv als Einschub und somit nicht regul¨arer Abschluss der vorherigen ¨ Außerungsabfolge markiert. Das Beispiel widerspricht damit nicht der G¨ultigkeit der zweiteiligen Struktur, sondern untermauert vielmehr die er¨offnende Funktion der steigend-fallenden Kontur und die Not¨ wendigkeit des inhaltlichen und prosodischen Abschlusses durch die zweite Außerung der Klammerstruktur. Das Beispiel vermittelt einen ersten Eindruck davon, dass das zweiteilige Grundger¨ust durch verschiedene Erweiterungen ver¨andert werden kann, die dann zu Varianten des Formats f¨uhren. ¨ Die Sequenzerweiterungen setzen in diesem Beispiel nach der konturtragenden Außerung
184 ¨ ein, sie k¨onnen aber auch im Bereich der zweiten, abschließenden Außerung entstehen. Sie bestehen entweder aus weiteren Ausf¨uhrungen des aktuellen Sprechers, oder aus H¨orersignalen oder Zwischenfragen eines anderen Sprechers. Zum Schluss folgt immer eine intona¨ ¨ torisch fallende Außerung des ersten Sprechers, die sich inhaltlich auf die erste Außerung r¨uckbezieht und den ge¨offneten Rahmen schließt. Im Folgenden werden die Varianten der zweiteiligen Sequenzen vorgestellt. Es folgen zuerst die Erweiterungen durch den aktuellen Sprecher, dann die Erweiterungen, die auf den anderen Sprecher zur¨uckzuf¨uhren sind: H¨orersignale und Zwischenfragen.
4.4.1.5.1
Variante 1: Erweiterungen durch den aktuellen Sprecher
Die erste Variante der zweiteiligen Sequenz entsteht durch zus¨atzliches Material, das der Sprecher einf¨uhrt, bevor es zum Abschluss der Sequenz kommt. Dieses zus¨atzliche Materi¨ al wird im Anschluss an die konturtragende Außerung produziert oder im Rahmen der ab¨ schließenden Außerung. Es folgen zuerst Beispiele f¨ur die Erweiterungen im Anschluss an ¨ die konturtragende Außerung, dann werden Beispiele f¨ur die Erweiterungen im Bereich des zweiten Teils der Sequenz gegeben.
4.4.1.5.1.1
¨ Position 1: Erweiterungen im Anschluss an die konturtragende Außerung
Wie das obige Beispiel gezeigt hat, k¨onnen Einsch¨ube oder weitere Bestandteile einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung zur Erweiterung der Sequenz f¨uhren. Der Einschub war in diesem Beispiel dadurch gekennzeichnet, dass die Kontur mit der R¨uckkehr zur suspendierten Sequenz erneut produziert wird. Weitere M¨oglichkeiten, das zweiteilige Format auszudehnen sind korrigierende Nachtr¨age und Elaborierungen des aktuellen Sprechers. Die erste ¨ und letzte Außerung bleiben dabei als Klammerstruktur der Sequenz erhalten. ¨ Hinsichtlich der intonatorischen Gestaltung sind die dazwischen liegenden Außerungen noch genauer zu spezifizieren. In den bisher gegebenen Beispielen zeichnen sich die Erweiterungen mit zus¨atzlichen, chronologisch reihenden Bestandteilen u¨ berwiegend durch steigende oder gleichbleibende finale Intonationsverl¨aufe aus, aber auch durch einige fallende Verl¨aufe. Der vorgestellte Einschub weist final (flach) fallende Intonation auf. Weitere Beispiele f¨ur diese Erweiterungen best¨atigen dies im Folgenden.
4.4.1.5.1.1.1 Erweiterungen durch chronologisch reihende Bestandteile Die ersten beiden Beispiele veranschaulichen erneut die M¨oglichkeit des Sprechers, im An¨ schluss an die konturtragende Außerung weitere, chronologisch aufeinander folgende Schritte eines Ereignisses zu erw¨ahnen. Im ersten Beispiel wird eine Radroute geschildert, auf der bestimmte F¨ahren u¨ ber die Fl¨usse Sieg und Rhein benutzt werden m¨ussen. Das Beispiel verl¨auft strukturell analog zu Beispiel (145), wobei deutlich weniger Zwischenetappen geschildert werden. Der Ausgangspunkt ist mit der steigend-fallenden Kontur belegt, es folgt
185 ¨ ¨ eine flach steigende Außerung, die abschließende Außerung, die den R¨uckweg schildert, ist mit fallender Intonation belegt. (147) ⇒
01 02 03
k07-sieschf¨ahre; V3 a
m h fm Erst mit der kleenen SIESCHf¨ ahre un dann mit der rhEInf¨ ahre auf die ander SEIte, und dann hier am rhEIn entlang wieder zuR¨ UCK.
¨ Die Sequenz im zweiten Beispiel dehnt sich ebenfalls u¨ ber drei Außerungen aus. Das Beispiel entstammt den Fußbroichs-Daten und steht im Zusammenhang einer Auseinandersetzung u¨ ber das Rauchen und das Abnehmen. Fv, der nicht raucht und unter seinen Gewichtsproblemen leidet, schildert den u¨ brigen Anwesenden, dass er im Gegensatz zu seiner Frau nicht rauchen, sondern essen w¨urde. (148)
k02-bierknacker; V3
1060 fv 1061 1062 fm ⇒
1063 fv 1064 1065
ISCH han de HUNger; isch=¨ on jetz am [k¨ UHlschrank[gAnz EINfach. l h m nem mir zwei BIERknacker (.) un ESS die- (--) un SIE m¨ a:t si=ne zigaRETT oder [ZWEI a:n.
Der syntaktisch integrierte, aber prosodisch abgegrenzte Nachtrag “un ESS die-” erweitert die Klammerstruktur von “nem mir zwei BIERknacker” und “un SIE m¨a:t si=ne zigaRETT oder ZWEI a:n”. Er tr¨agt einen final gleichbleibenden Intonationsverlauf. Inhaltlich wird hier deutlich ein Kontrast produziert, bei dem fv sein eigenes Verhalten dem seiner Frau gegen¨uber stellt. Dieser Kontrast ist in Zeile 1065 abgeschlossen.
4.4.1.5.1.1.2 Einsch¨ube Das n¨achste Beispiel zeigt demgegen¨uber erneut, dass nach einem Einschub die gleiche Kontur nochmals produziert wird, um die unterbrochene Sequenz erneut einzuleiten und zum Abschluss zu bringen. Es handelt sich wiederum um einen Ausschnitt aus den Fußbroichs, in dem die M¨oglichkeit, als Ausl¨ander auf Mallorca zu leben, thematisiert wird. (149) 288 289 290 291 292
k04-nachweisen; V2 / V2 fv
ja du mUßt doch von wat LEben. (1.2) de spanier wirft disch RAU:S, wenn de nit ARbeitest; (.) du mußt dat SPARbuch zeigen; wat de HAST,
186 293 ⇒
294 295
⇒
296 297 298 299
DANN darfste rEIn. (---) l h l du mußt NACHweisen '¨ u die k¨ onne nit jede PENner hier UPPnemme der liegt hier eR¨ OM. (-) l h fm du mußt NACHweisen HIER isch hab JELD? isch lebe von MEInem jeld- (-) od=isch ARbeite hier.
Der Sprecher fv beginnt in Zeile 294 eine Veranschaulichung seines Standpunkts, unterbricht sich dann mit einem neuen Argument, das als Appell an den common sense des Gegen¨ubers zu werten ist, und wiederholt danach wortgetreu und mit gleicher intonatorischer Gestaltung ¨ die Außerung vor dem Einschub. Es folgt dann eine fiktive Redewiedergabe, die die Bedingungen veranschaulicht, unter denen ein bleibender Aufenthalt auf Mallorca m¨oglich ist. Intonatorisch zeigt sich wieder die typische Gestaltung, bei der nach der ersten, steigendfallenden Kontur gew¨ohnliche progrediente Konturen verwendet werden (Z 297, 298), bevor es mit dem inhaltlichen Abschluss der Sequenz zu einer fallenden Kontur kommt (Z 299).
4.4.1.5.1.1.3 Reparaturen und Elaborierungen Zu belegen bleiben nun noch die erw¨ahnten Reparaturen und Elaborierungen, die dazu f¨uhren k¨onnen, die zweiteilige Struktur auszudehnen. Bei beiden Erweiterungstypen werden die er¨ weiternden Außerungen mit steigenden Verl¨aufen produziert. Zuerst folgt ein Beispiel f¨ur eine Korrektur. Es handelt sich um einen Interviewausschnitt, bei dem die Sprecherin von ihrer R¨uckkehr aus der Evakuierung berichtet. (150) 321 322 323 324 325 ⇒
326 327 328
k07-rausfuhren; V2 k07
da si=mer zu FUSS bis nach' (---) sin wer ZW¨ OLF tage zu FUSS gelaufen wir kInder; (-) mein brUder war grade VIER, .hhh (1.0) und NEUN tage auf einem OFfenem g¨ Uterwagen wieder nach k¨ Oln rEIn. da war der krIEch dann zu ENde; ne? l h l (--) .h und Immer in dem Ort wo wIr RAUSfuhrenoder rAUsGINGen, kam von hInten der RUSse rEIn.
Die Sprecherin schildert in den Zeilen 321-325 knapp ihren R¨uckweg aus der Evakuierung (in Th¨uringen) und f¨ugt dann hinzu, dass ihnen dabei die russischen Soldaten unmittelbar gefolgt seien. Diese Episode, die die Dramatik der R¨uckkehr unterstreicht, wird mit der zweiteiligen ¨ Klammer gebildet. Sie wird durch eine Außerung erweitert, die das zuvor gegebene RAUSfuhren (Z 326) zu rAUsGINGen modifiziert. Die markierte Akzentuierung der Silbe GING
187 ¨ verdeutlicht die Kontrastierung zu dem vorherigen fuhren und pr¨asentiert die Außerung als Reparatur. Im Gegensatz zu den vorherigen Beispielen wird hier also weder ein Einschub eingef¨ugt noch werden weitere, aufeinander folgende Schritte geschildert. Stattdessen wird ein gegebenes Element modifiziert bzw. ersetzt. Der Intonationsverlauf ist flach steigend. Das Gleiche gilt f¨ur die folgenden beiden Beispiele zur Veranschaulichung von Erweiterungen durch Elaborierung des aktuellen Sprechers. ¨ Der erste Ausschnitt zeigt einen Relativsatz, der auf die konturtragende Außerung folgt und den gerade eingef¨uhrten “Chef” des Sprechers charakterisiert. Das Beispiel ist den Interviewdaten entnommen. Die Beteiligten sprechen u¨ ber ihre Gewohnheiten des Dialektgebrauchs in Abh¨angigkeit von dem Gespr¨achspartner und den situativen Gegebenheiten. (151) ⇒
01 02 03
k09-chef spresche; V2 k09b
l h m aber wenn isch mit meinem CHEF spresche der die k¨ olsche art auch gerne MA:CH, ah: da merk ich dann jar ni-mehr dat isch rischtisch K¨ ¨ OLSCH am reden bin.
¨ Die konturtragende Außerung stellt die Protasis einer wenn-dann-Konstruktion dar. Bevor jedoch die Apodosis eingef¨ugt wird, erfolgt zun¨achst eine Erweiterung des wenn-Satzes um einen Relativsatz, der zus¨atzliche, relevante Information hinsichtlich des Chefs liefert. Der Relativsatz ist durch flach steigende Intonation gekennzeichnet, die folgende Apodosis durch final fallende Intonation. Die Klammerstruktur ist deutlich zu erkennen und wird durch die syntaktische Struktur unterstrichen. Ein weiteres Beispiel f¨ur eine Erweiterung durch Elaboration ist der folgende Ausschnitt. W¨ahrend das vorangegangene Beispiel durch einen Relativsatz erweitert wurde, entsteht die Erweiterung hier durch eine Rechtsversetzung, an die noch ein Kommentar angeh¨angt wird. Das Beispiel ist einem Interview entnommen; die Sprecherin berichtet von ihren Erinnerungen an den Aufbruch aus der Evakuierung zur¨uck nach K¨oln. (152)
⇒
k07-vater vor der t¨ur; V1
305 306 307 308
k07
309
k07
310 311 312
i
(.) und ¨ ah dann (.) sind wir da HINgekommen, (---) (1.5) und da WAR der krIEch ja noch nIch; da wUr' da fIElen keine BOMben in DEM sInn; ne? ja. l NUR .hh (--) stand EInes tAges dann unser VATer vor der h m t¨ ur (.) mim HUND, (.) verjEss isch NIE, (-) und sAgte wir m¨ ussen hier WEG;
¨ Die zweiteilige Klammer erstreckt sich von der konturtragenden Außerung “...VATer vor der ¨ t¨ur” (Z 309) bis zur Außerung “und sAgte wir m¨ussen hier WEG;”, die mit fallender Intona¨ tion produziert wird. Die letzte Außerung schließt durch die Konjunktion und unmittelbar an
188 ¨ ¨ die erste Außerung an. Die dazwischen liegenden Außerungen liefern Detailwissen hinsichtlich des beschriebenen Ereignisses und kommentieren den Stellenwert, den das Ereignis f¨ur ¨ die Sprecherin hat. Prosodisch sind die Außerungen deutlich voneinander und von den voran¨ gegangenen bzw. folgenden Außerungen abgegrenzt. Sie tragen beide u¨ bliche progrediente, n¨amlich flach steigende finale Tonh¨ohenverl¨aufe. Eine intonatorische Besonderheit weist das letzte Beispiel zur Veranschaulichung der Elaborierungen auf: die steigend-fallende Kontur erscheint zweimal hintereinander in unmittelbarer Abfolge. Das Beispiel stammt ebenfalls aus den Interviewdaten. Der Sprecher erkl¨art, wie es zu der k¨olnischen Bezeichnung “Bankrottm¨ull” (Bankrottm¨uhle) f¨ur Kaffeem¨uhle gekommen ist. (153)
⇒
k09-bohnenkaffee; V1 / V2
705
k09a
706 707 708 709 710 711
k09b
712 713 714 715
k09a
¨Lsche ausdruck f¨ banKROTTm¨ ull is der au' KO ur ne KAFfeem¨ uhle [gewesen. [ja (--) ja dat=dat hat doch heut ¨ uberhaupt keine beDEUtung mehr. KAFfee (.) wird immer BILliger. krist beim Aldi et pfund f¨ ur isch WE:ß nit wat et kost. (.) aber datl h m hm: fr¨ uher (.) eschter BOHnenkaffee l h m den man MAHlen musste .h da muss=te f¨ ur !SPA!ren. da gingen die leute bank!ROTT! dran.
Wie schon in Beispiel (151) handelt es sich bei der Folge¨außerung zur ersten konturtragen¨ den Außerung um einen Relativsatz, in dem Information zur Charakterisierung des zuvor eingef¨uhrten Elements (BOHnenkaffee) gegeben wird. Im Gegensatz zum vorangegangenen Beispiel ist diese Information jedoch aus dem Element selbst erschließbar: Bohnenkaffee muss immer gemahlen werden, bevor er weiter verarbeitet werden kann. Die doppelte Ver¨ wendung der Kontur, im Fall der zweiten Außerung auf redundanter Information, deutet auf eine besondere informatorische Heraushebung hin (siehe dazu auch Kap. 4.4.1.6). Der Eindruck der Heraushebung wird außerdem durch die syntaktische Struktur des Abschnitts ¨ unterstrichen. Die Außerungen in den Zeilen 712 und 713 sind topikalisiert und stehen im ¨ Vor-Vorfeld der abschließenden Außerungen in den Zeilen 714 und 715, die syntaktisch und ¨ prosodisch parallel strukturiert sind. Diese beiden Außerungen weisen zudem sehr ausgepr¨agte Akzentuierungen auf, so dass generell der Eindruck der Heraushebung des Abschnitts entsteht. Bezogen auf die zweiteilige Klammerstruktur liegt hier also wieder eine Erweiterung durch Elaboration vor, wobei die Besonderheit des doppelten Konturvorkommens zu beachten ist.
189 Die bisherigen Beispiele haben Erweiterungen des ersten Teils der zweiteiligen Struktur gezeigt. Sie kamen durch Einsch¨ube, weitere Bestandteile einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung, Korrekturen und Elaborierungen zu Stande.
4.4.1.5.1.2 Position 2: Erweiterungen im Bereich des zweiten Teils Im Folgenden soll gezeigt werden, dass auch Erweiterungen des zweiten Teils der Klammer m¨oglich sind. Das erste Beispiel zeigt wieder eine wenn-dann-Konstruktion. Diesmal erfolgt die Erweiterung jedoch nicht vor der Apodosis, sondern diese wird unterbrochen, um einen adressatenbezogenen Kommentar einzubringen. Bei dem Beispiel handelt es sich um einen Interviewausschnitt, in dem die Beteiligten (Vater und Tochter) u¨ ber Heimatgef¨uhle sprechen. (154) 165 166 167 168 169 170 171 ⇒
k06-hause kam; V2 k06
i k06
172 173 174 175
SCH¨ ON wird dat ganze DAdursch dat man sisch dann doch !WOHL! f¨ uhlt hier. (--) JA? (.) [hm, [un: mit den LEUten zurescht kommt; mit der LEbensart zurescht kommt, (---) oh: (.) dat ma hIEr ¨ ¨ oh::m (1.0) ((schmatzt)) oh !KL¨ ¨ AN!ge h¨ ort an die ma jeW¨ OHNT is; .h l h fm isch weiß' (.) we=ma so aus=m Urlaub nach HAUse kam da hab ich also: OFT gesAgt, dat musst=e disch vielleischt AU noch dran erINnern k¨ onn.hh ma kUcken wen ma als ERstes sehn wen ma KENNT.=
¨ In der Folge¨außerung zur konturtragenden Außerung wird erwartungsgem¨aß mit dem resumptiven Pronomen da an die Protasis der wenn-dann-Konstruktion angeschlossen (Z 173). ¨ ¨ Die Außerung k¨undigt eine Redewiedergabe an, die jedoch nicht in dieser Außerung realisiert wird. Stattdessen f¨ugt der Sprecher nach der Ank¨undigung einen Kommentar an seine Tochter ein (Z 174) und a¨ ußert erst danach die direkte Rede (Z 175). Der zweite Teil der Klammerstruktur wird hier also zu Gunsten eines adressatenbezogenen Kommentars aufgebrochen. Das n¨achste Beispiel zeigt demgegen¨uber eine eingeschobene Selbstreparatur. Der Sprecher veranschaulicht die Verst¨adterung eines K¨olner Stadtteils durch einen Vergleich mit seiner Jugendzeit, als dieser jetzige Stadtteil noch durch Kornfelder gepr¨agt war. (155) ⇒
01 02 03 04
k10-hinfuhren; V2 k10a
l h fm wenn wir da HINfuhren da fuhren se (.) wIrklich (.) stUndenlangNICH stUndenlang; aber so ne hAlbe stunde durch KORNfelder dursch.
190 Wie im obigen Beispiel schließt auch hier erwartungsgem¨aß die durch da eingeleitete Apodosis an die vorangegangene Protasis der wenn-dann-Konstruktion an (Z 1-2). Der Sprecher bricht diese nach dem Element stUndenlang ab und modifiziert seine Aussage (Z 3). Nach einer weiteren Modifikation, die prosodisch in die Folge¨außerung integriert ist, kn¨upft er an die zuvor begonnene Konstruktion an und schließt die Satzklammer (Z 4). ¨ Das letzte Beispiel f¨ur die Erweiterungsm¨oglichkeiten im Bereich der zweiten Außerung der Klammerstruktur zeigt diesmal keine wenn-dann-Konstruktion. Auch handelt es sich bei dem eingeschobenen Element weder um eine Korrektur noch um einen adressatenbezogenen Kommentar. Vielmehr wird ein eingef¨uhrtes Element durch einen Relativsatz n¨aher umschrieben. Es handelt sich folglich wieder um eine Elaboration. Das Beispiel entstammt den Big-Brother-Daten und steht im Zusammenhang einer scherzhaften Diskussion um die Herkunft des Fleischs in chinesischen Restaurants. (156)
bb72-tierheim; V2
1256 Jrg 1257 1258 1259 Ver ⇒
1260 Jrg 1261 1262 Ver 1263 Jrg 1264
ja was MEINST=e wie die das SONST mit dem preis machen. (1.5) die beZAHlen nix f¨ ur des flEIsch. ((schnauft)) m h l (-)die gehn in=n TIERheim (-)und dann (.) so ALte (-) ((kichert)) ja die se EH nimmer quItt kriegen; die wer=n dann MITgenommen.
¨ Die konturtragende Außerung “die gehn in=n TIERheim” ist semanto-pragmatisch weiterweisend und stellt den ersten Teil einer Veranschaulichung dar. Der zweite Teil der Klammer¨ struktur schließt sich unmittelbar an die erste Außerung an, ist aber mehrfach aufgebrochen. Zum einen folgt nach dem Referenten so ALte ein Abbruch, und der Referent wird durch den folgenden, prosodisch eigenst¨andigen Relativsatz n¨aher charakterisiert. Zum anderen liegt ¨ wieder eine Topikalisierung vor. Die schließende Außerung “die wer=n dann MITgenom¨ men” wird mit Verbzweitstellung realisiert, so dass die beiden vorigen Außerungen in die Vor-Vorfeldstellung r¨ucken. Bei diesen Beispielen, die eine Erweiterung des zweiten Teils der Struktur zeigen, wird die intendierte Klammerstruktur besonders deutlich, da der zweite Teil immer unmittelbar ¨ an die konturtragende Außerung angeschlossen und letztendlich auch zu Ende gef¨uhrt wird. Generell ist die Erweiterbarkeit der zweiteiligen Struktur zwar nicht auf die steigend-fallende Kontur zur¨uckzuf¨uhren, sondern in der Struktur gesprochener Sprache angelegt. Die Kookkurrenz der Kontur mit dem ersten Teil der Klammer ist jedoch ein typisches Kennzeichen des Konturvorkommens, so dass man davon sprechen kann, dass die Kontur das Erscheinen des zweiten Teils bedingt erwartbar macht. Die folgende Graphik fasst die m¨oglichen Positionen f¨ur Erweiterungen der Klammerstruktur zusammen: Die einfachste M¨oglichkeit zur Umsetzung der Klammerstruktur besteht in einer Realisierung der a¨ ußeren Bestandteile 1 und 2 (kursiv und fett gedruckt). Kommt es zu einem Einschub nach dem ersten Klammerteil, wird dieser wiederholt. Einsch¨ube weisen abschließend fallende Intonation auf. Auf den ersten Teil der Klammer, ganz gleich ob mit vorhe-
191
Klammerteil
1
Finaler
Kategorie
Tonh¨ohenverlauf
1. Teil der Klammer: Er¨offnung
Einschub
1
1. Teil der Klammer, Wiederaufnahme Bestandteile einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung, Reparaturen, Elaborierungen
2
2. Teil der Klammer, Abbruch Kommentare, Reparaturen, Elaborierungen
2
2. Teil der Klammer: Abschluss
Abbildung 4.49: Die Klammerstruktur und M¨oglichkeiten ihrer Erweiterung durch den aktuellen Sprecher
rigem Einschub oder nicht, k¨onnen Bestandteile einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung, Korrekturen oder Elaborierungen folgen. Nur bei den Bestandteilen einer chronologisch reihenden Erz¨ahlung kann es (selten) zu fallender Intonation kommen, u¨ blich sind ansonsten die gew¨ohnlichen progredienten, d.h. gleichbleibende oder flach steigende, Intonationsverl¨aufe. Der zweite Klammerteil kann abgebrochen und durch Kommentare, Korrekturen oder Elaborierungen erweitert werden. Hier ließen sich u¨ berwiegend gleichbleibende und flach steigende, selten auch fallende Intonationsverl¨aufe feststellen. Zum Abschluss folgt die obligatori¨ sche, inhaltlich schließende Außerung als zweiter Klammerteil mit fallender Intonation.
192 4.4.1.5.2
Variante 2: Erweiterungen durch andere Sprecher
Die Vollendung der Klammerstruktur wird auch dann geleistet, wenn ein anderer Sprecher nach dem Konturvorkommen einen Redebeitrag einbringt. Im Gegensatz zu den soeben vorgestellten Erweiterungen durch den aktuellen Sprecher kommen diese nur im Anschluss an ¨ die konturtragende Außerung vor. Im untersuchten Korpus handelt es sich bei diesen Redebeitr¨agen zum einen um H¨orersignale43 und zum anderen um Zwischenfragen, die Kl¨arungssequenzen nach sich ziehen. Die beiden M¨oglichkeiten werden im Folgenden anhand von Beispielen veranschaulicht.
4.4.1.5.2.1 H¨orersignale Es folgen zun¨achst drei Beispiele f¨ur die Erweiterung durch H¨orersignale. Das erste Beispiel ist einem Interview entnommen. Die Sprecherin berichtet von den Problemen, mit denen man als Radfahrer an der Rheinpromenade konfrontiert ist: (157) 910
k07-spazierg¨anger; V2 k07
911 ⇒
912 913 914
i
¨nes WETter is is das = = m h m spaZIERg¨ anger [.hhh [hm und dAnn die ganzen
210 784 785 786 787 788 789 790 791 792 793 794 795 796
fv
fm fv
fm
da [m¨ ast du nur de HAUShalt. [ isch sitz nit zu HAUS, isch hab ¨ an AUto dann. isch fahr disch zur ARbeit, und dann bin isch WEG(--) na LEverku[se. [JA'.
[
Zu Beginn des Ausschnitts vertritt fm ihre Ansicht der Zukunftsperspektive von fv (Z 743746). Die beiden Folge¨außerungen verdeutlichen, dass hieran die Manifestierung der Mei¨ nungsverschiedenheit ankn¨upft, die auch die n¨achsten (zum Teil herausgek¨urzten) Außerungen beherrscht. Die hohe Lautst¨arke und h¨aufige starke Akzentuierung beider Beteiligter verdeutlicht die Emphase. In diesem Kontext leitet die steigend-fallende Kontur die zweiteilige Veranschaulichungssequenz ein, die fv ein negatives Zukunftsbild vor Augen f¨uhrt, das nach Ansicht von fm zwangsl¨aufig aus seinem Verhalten resultieren wird. Die Sequenz wird wieder inhaltlich und prosodisch als Einheit realisiert, indem sie einen Kontrast aufstellt und durch hohe Lautst¨arke von der eigenen Folge¨außerung fms abgehoben ist. Diese wird auch sofort durch den lauten Einsatz fvs u¨ berlappt. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen kommt es hier nicht zur Ratifizierung der von fm vertretenen Position. Der Ausschnitt endet mit dem Gegenentwurf der Zukunft durch fv und der resignativen Reaktion von fm. ¨ Das folgende Beispiel zeigt, dass die konturtragende Außerung von den Interaktionsteilnehmern auch in scherzhaften Interaktionen eingesetzt wird. Das Beispiel stammt aus den Big-Brother-Daten. Die kontextuelle Einbettung der Kontur ist prototypisch f¨ur das Konturvorkommen mit offen divergenten Positionen: An eine Behauptung J¨urgens, die nicht positiv ¨ aufgenommen wird, schließt er eine Veranschaulichungssequenz an, deren erste Außerung konturtragend ist. Dieser Behauptung geht eine Kontroverse u¨ ber die Herkunft des Fleischs in chinesischen Restaurants voraus. Verena begegnet der Ansicht J¨urgens, dass es sich dabei um Hunde-, Katzen- (und sp¨ater auch Hamster-)Fleisch handele, mit Unglauben. Sabrina stellt sich gegen den Standpunkt J¨urgens. (Da es sich um ein gemeinsames Essen handelt, sind John und Andrea ebenfalls anwesend, sie beteiligen sich aber nicht an der Auseinandersetzung). (174)
bb72-tierheim; V2
1222 Ver 1223 1224 Jrg 1225 1226 1227 Jhn
=oKEEis zwar nur katze und [HUND drin? aber[kann mir von EUsch] eener (-) ne
211
1228 Ver 1229 Sbr 1230 Adr 1231 Jrg 1232 1233 1234 1235 Ver 1236 Jrg 1237 (...) 1247 Ver 1248 1249 Sbr 1250 1251 Jrg 1252 1253 Sbr 1254 Jrg 1255 Sbr 1256 Jrg 1257 1258 1259 Ver ⇒
1260 1261 1262 1263 1264 1265 1266 1267
Jrg Ver Jrg Ver Sbr Jrg
zi(g)aRETte [geben? [((lacht)) J¨ URgen; ja KLAR (--) streunende HUNde; (.) und KATzen.
(-) aber das sind doch keine KATzen und HUNde. (-)
[ [KLAR. [GOLDhamster; ALLes. [RED nisch mit IH:M. ((lacht leise)) (jetz AUS.) ja was MEINST=e wie die das SONST mit dem preis machen. (1.5) die beZAHlen nix f¨ ur des flEIsch. ((schnauft)) m h l (-)die gehn in=n TIERheim (-)und dann (.) so ALte (-) ((kichert)) ja die se EH ni=mehr quItt kriegen; die wer=n dann MITgenommen. ((kichert))
((lacht))
Nachdem die abweichenden Ansichten der Beteiligten offengelegt sind, wendet sich J¨urgen mit einem expliziten Appell und einem common-sense-Argument (“ja was MEINST=e wie die das SONST mit dem preis machen.”) an seine Interaktionspartner. Dieser Appell verhallt ohne Resonanz, woraufhin J¨urgen die Behauptung “die beZAHlen nix f¨ur des flEIsch.” produziert. Auch diese erf¨ahrt keine positive Resonanz. Zur St¨utzung seiner Position f¨uhrt J¨urgen nun die herausgehobene Veranschaulichung an, die “Pseudo-Fakten” hinsichtlich der Beschaffungsweise des Fleisches darstellt. Die Veranschaulichungssequenz zeigt nicht nur eine typische Einbettung in den gr¨oßeren Kontext, sondern ist auch intern typisch zweiteilig strukturiert (siehe dazu Abschnitt 4.4.1.5, Beispiel 156). ¨ Die Scherzhaftigkeit der Auseinandersetzung wird durch die Ubertreibung des Hauptsprechers (KLAR. GOLDhamster; ALLes., Z 1252), durch die Drastik seiner Position und vor allem die Drastik der Veranschaulichung der Fleischbeschaffung (Z 1260-1264) deutlich: Der Ausdruck quItt kriegen, der in etwa “etwas loswerden” bedeutet, wird im Allgemeinen nicht
212 im Zusammenhang mit Lebewesen, sondern mit alten, wertlosen Gegenst¨anden gebraucht. Die Orientierung auf die Scherzhaftigkeit a¨ ußert sich dar¨uber hinaus in wiederkehrenden Lachpartikeln und im abschließenden Lachen, das die witzige und unterhaltende Funktion der Passage best¨atigt. Merkmale einer m¨oglichen Kontroverse oder Meinungsverschiedenheit tra¨ gen zun¨achst die Außerungen Verenas, die Unglauben erkennen lassen (Z 1235, 1247). Eine Kontroverse besteht zwischen J¨urgen und Sabrina, die sich J¨urgen gegen¨uber tadelnd verh¨alt ¨ (Z 1229, 1266). Es kommt außerdem zu Uberlappungen (Z 1250-1253), die ebenfalls als Merkmale einer offenen Kontroverse gedeutet werden k¨onnen. Auch hier zeigen sich jedoch ¨ ¨ Ubertreibungen, die die scherzhafte Uberformung der Interaktion andeuten, n¨amlich das an Verena gerichtete “RED nisch mit IH:M” (Z 1253) und das eigentlich f¨ur den Umgang mit Hunden gebrauchte “jetz AUS.” (Z 1255). Trotz der Scherzhaftigkeit der Interaktion zeigt die Kontur vordergr¨undig ihre typischen Funktionen in Kontexten mit offen divergenten Positionen, n¨amlich, das Gegen¨uber von der eigenen Position zu u¨ berzeugen, indem (vermeintliche) Fakten in einer Veranschaulichungssequenz dargeboten werden. W¨ahrend die Kontur in den vorangegangenen Beispielen eine fiktive Veranschaulichung zur St¨utzung der Position eingeleitet hat, werden im folgenden Beleg zu diesem Zweck Fakten eingebracht, die dem Gegen¨uber nicht bekannt sind. Auch ist das Beispiel nicht durch allgemeine Emphase gepr¨agt. Die divergierenden Positionen treten vor Kontureinsatz nicht offen zu Tage. Vielmehr schildert der Sprecher eine Einsch¨atzung, die vor dem Hintergrund der kulturell g¨ultigen Normanspr¨uche außergew¨ohnlich und m¨oglicherweise auch kritisierbar ist, n¨amlich, dass er die Kinder von Bekannten mehr groß gezogen habe als deren eigener Vater. Sein Verhalten zeigt, dass er sich an dieser potenziellen Streitbarkeit orientiert, da er im Anschluss an seine Behauptung Fakten liefert, die seine Position st¨utzen (vgl. Deppermann 1997, Deppermann & Lucius-Hoehne 2003). Diese st¨utzenden Fakten tragen die steigendfallende Kontur: (175)
k09-arbeiten gewesen; V1 / V1
251 252 253
i k09b i
254 255 256
k09b
258
i
⇒
259
k09b
⇒
260 261 262 263
i
wArn dirk un daniel da schon auf der WELT? ja=JA:, als ihr da geWOHNT habt? (-) sch=w¨ urd sAgen isch hab die g- die: ZWEI:dIrk und dAniel MEHR groß gezogen wie der HArald. (--) .h weil isch war grade zu dem ZEITpunkt auch wo die kk- klein warn hab isch=ja bei denen geWOHNT. (-) jA. l h m un der hArald is ja abends ARbeiten gewesen l h m der musst ja nAchmittags immer zum STADTanzeiger Is der=hAt der ne norMAalso nich nur NACHTSCHICHT gehabt? sondern IMmer, (-)
213 264
k09b
265 266 267 268 269
i k09b
der hat fas ¨ ah: (seine) nEUnzisch prozEnt IMmer (.) von nAchmittags DREI? bis Abends ZW¨ OLF oder so. (.) oder von ZWEI [bis zw¨ Olf. [ (--) .hhh von DAher hab ich also mit den kIndern SCHON (1.5) sa=ma MEHR kontAkt gehabt wie der HArald.
Die Behauptung, dass k09b die Kinder seiner Bekannten mehr groß gezogen habe als deren eigener Vater wird durch sch=w¨urd sAgen eingeleitet und damit als subjektive Einsch¨atzung produziert (Z 254-255). Dies stellt nun eine erkl¨arungsbed¨urftige Aussage dar, da sie den u¨ blichen Normvorstellungen widerspricht. Die Orientierung an diesem Erkl¨arungsbedarf zeigt k09b in der angeschlossenen Begr¨undung, dass er dort gewohnt habe, als die Kinder klein waren. I reagiert nach einer kurzen Pause minimal best¨atigend. (Da I und k09b miteinander bekannt sind, ist die gegebene Begr¨undung f¨ur I keine neue Information). Die ¨ folgenden konturtragenden Außerungen liefern beide Fakten, die dazu dienen k¨onnen, den ungew¨ohnlichen Umstand zu erkl¨aren. Aussagekr¨aftig ist hier der Gebrauch der Modalpar¨ tikel ja in allen begr¨undenden Außerungen (Z 256, 259, 260). Sie kommt h¨aufig im Zusammenhang mit Argumentationen vor und ist dort u¨ berwiegend mit der Pr¨asentation von Fakten verkn¨upft und erf¨ullt so die Argumentfunktion der Begr¨undung (vgl. Rost-Roth 1998: 303ff.). ¨ Die Kookkurrenz der Partikel mit den konturtragenden Außerungen unterstreicht deren Fak¨ tizit¨at. Wieder kommen die Konturen nicht bei den als subjektiv markierten Außerungen vor, sondern sind mit objektiven Informationen verkn¨upft, die zur St¨utzung der eigenen Position geeignet sind. Informationsbezogene Heraushebung zum Zweck, dem Gegen¨uber die eigene ¨ Position nahe zu bringen, stellt also auch hier die Funktion der Außerungen mit steigend¨ fallender Kontur dar. Die Zwischensequenz, die sich an die konturtragenden Außerungen ¨ anschließt, verdeutlicht, dass auch I den Informationswert der Außerungen als wesentlich und relevant f¨ur die Begr¨undung der Situation auffasst. Die Sequenz kl¨art die Arbeitszeiten des Vaters der Kinder, vor deren Hintergrund der Umstand der ungew¨ohnlichen Erziehungsverh¨altnisse plausibel wird, und vertieft damit den in den Begr¨undungen angef¨uhrten Aspekt. I schließt die Sequenz durch Ratifizierung ab. K09b kn¨upft daraufhin mit von DAher an seine vorherige Begr¨undung an und wiederholt leicht abgeschw¨acht die nun unproblematische Behauptung. Damit ist auch die zweiteilige Struktur der konturtragenden Sequenzen gewahrt, wie bereits in Kapitel 4.4.1.5 beschrieben wurde. Die Ursache f¨ur die informationsbezogene Heraushebung lag in den vorangegangenen Beispielen in offen oder potenziell divergierenden Positionen. Die Interaktionsteilnehmer produzieren Veranschaulichungen und Argumente und manifestieren dadurch, dass sie im gegebenen Kontext die Notwendigkeit sehen, ihre Position gegen¨uber dem Interaktionspartner zu st¨utzen. Die steigend-fallende Kontur leitet die Veranschaulichungen und Argumente ein, wobei die entsprechenden Sequenzen deutlich von den umgebenden subjektiven und ¨ teilweise emphatischen Außerungen abgegrenzt sind und selbst nicht mit Merkmalen emphatischen Sprechens kookkurrieren. Die Heraushebungsfunktion auf informationsbezogener Ebene wird dadurch unterstrichen. Die steigend-fallende Kontur kontextualisiert in diesem Zusammenhang die eingeleitete Sequenz als wichtige, verl¨assliche Information zur Unterst¨utzung des eigenen Standpunkts.
214 Dass die informationsbezogene Heraushebung zum Bedeutungspotenzial der steigendfallenden Kontur z¨ahlt, veranschaulichen auch die folgenden Beispiele. Sie zeigen die Kontur in einem weiteren typischen Vorkommenskontext, der allerdings nicht, wie oben, durch divergierende Positionen gekennzeichnet ist. Es handelt sich statt dessen um Wissensasymmetrien, bei denen ein Interaktionsteilnehmer mit Wissensvorsprung dem anderen einen Sachverhalt schildert. Es zeigt sich, dass die Funktionen der informationsbezogenen Heraushebung und der Weiterweisung konstant bleiben, dass aber die Ursache f¨ur den Einsatz dieser Funktionen kontextbedingt sind: Nicht die St¨utzung einer pers¨onlichen Position verursachen hier den Gebrauch der konturtragenden Sequenz, sondern die Notwendigkeit, dem Gegen¨uber einen Sachverhalt nahe zu bringen. Die Kontextualisierung der Sequenz als wichtige und verl¨assliche Information bleibt demnach erhalten, ist aber kontextuell bedingt anders begr¨undet.
4.4.1.6.2.3 Warum informationsbezogene Heraushebung? Kontext II: Wissensasymmetrien Die n¨achsten Beispiele veranschaulichen Wissensasymmetrien, die durch Nachfragen eines Interaktionsteilnehmers offen gelegt werden. Die steigend-fallende Kontur ist in diesen F¨allen ¨ mit der ersten Außerung von zweiteiligen Erkl¨arungssequenzen verkn¨upft. Die ersten beiden Beispiele stammen aus den Big-Brother-Daten, das letzte Beispiel aus den Fußbroichs-Daten. (176)
⇒
804
Adr
805 806 807
Sbr
808 809 810 811 812
(177)
64 65 66 ⇒
bb72-warm machen; V3 ((Andrea m¨ochte kochen und dabei den Wok benutzen. Sie erkundigt sich nun bei Sabrina, die die Gebrauchsanweisung des Woks gelesen hat, nach dessen Funktionsweise.))
67
Adr Sbr Adr
nee NUR ob man den nochmal vorher richtig hEIß AUSwaschen mußob der einmal DURCHkochen muß ¨ ahm-= =ach SO:, das WEISST du nisch;= l h m =man muß den einmal WARM machen; ne, und dann mit ¨ Ol AUSwischen.>
ne?
bb96-98-108; V2 / V2 ((J¨urgen erkl¨art Andrea die Wochenaufgabe, die die Hausbewohner gestellt bekommen haben.)) Adr Jrg
(1.3)
215
⇒
68 69 70 71
Adr Jrg Adr
72 73 74 75 76 77 78
Jrg Adr Jrg Adr
[ [dann mach=st ne umRANdung?> .h ach SO; dann [muss das AUSgeschnittenm h m [ aber du machst nisch disch SELber, sondern DISCH [macht jEmand. [jemandhm,
Die Wissensasymmetrie wird in beiden Beispielen durch die nichtwissende Interaktionsteilnehmerin manifestiert. Im ersten Beispiel schließt sich an die Ratifizierung der Wissensl¨ucke durch Sabrina die zweiteilige Erkl¨arungssequenz an, deren erster Teil die steigend-fallende Kontur tr¨agt. Im zweiten Beispiel f¨uhrt J¨urgen nach der Nachfrage Andreas schrittweise die zu vollbringenden Handlungsschritte ein. Die intonatorische Phrasierung ist sehr kleinr¨aumig, was wiederum heraushebenden Effekt hat und J¨urgens Orientierung auf die Verstehensleistung Andreas anzeigt. Diese bekundet ihr Verstehen durch ausgepr¨agtes R¨uckmeldeverhalten. Da es sich in beiden Beispielen um explizit erfragte Information handelt, kann davon ausgegangen werden, dass der Informationswert f¨ur die Rezipientin entsprechend hoch ist. Auch hier werden die durch die Kontur eingeleiteten Sequenzen als wichtige und verl¨assliche Information kontextualisiert. Die gleiche Kontextualisierungsfunktion l¨asst sich f¨ur das folgende Beispiel veranschlagen. Ff erh¨alt nach einer offenen Frage von fm das Rederecht f¨ur einen ausgedehnten Redebeitrag, in dem er seine berufliche T¨atigkeit erkl¨art. Innerhalb dieser Erkl¨arung entsteht wiederum ein erkl¨arungsbed¨urftiger Unteraspekt. Dieser wird unter Nutzung der steigend¨ fallenden Kontur in einer zweiteiligen Sequenz behoben. Ahnlich wie in Beispiel (175) des vorangegangenen Unterabschnitts, bearbeitet der Sprecher auch hier ein potenzielles Verstehensproblem, das noch nicht offen zu Tage getreten ist. Im Unterschied zu diesem Beispiel bezieht sich die potenzielle Problematik aber auf das Verstehen eines Sachverhalts und nicht auf die Unterst¨utzung einer subjektiven Behauptung. (178) 395 396 445 446 447 ⇒
448 449 450 451 452
k03-produktion gefahren; V1 fm ff
wat MACHSTe=n da. isch bin ¨ ahm (2.0) inSTANThaltungskoordinator. also .hhh wir sind daf¨ ur ZUst¨ andisch, auf NACHT alle reparaturen durschzuf¨ uhren die auf fr¨ Uh und ¨ spAt .hh anfallen.= =weil auf fr¨ Uh und sp¨ At kann man nix repaRIEren, l h m da wird nur .hh produkTION gefahrn und wIr machen die reparaTURen alle NACHTS. (-) viel mit der NEUen teschnikmit RObotern (-) CE en CE(.) und mir fahren noch ne klEIne st¨ uckzahl an produkTION;
216
Das Konturvorkommen (Z 448) f¨uhrt Informationen ein, die notwendig sind, um den zuvor erkl¨arungsbed¨urftig gewordenen Aspekt zu begr¨unden. Ff beginnt seinen Redebeitrag im Anschluss an fms Frage zun¨achst mit seiner Berufsbezeichnung und f¨uhrt dann seinen Zust¨andigkeitsbereich aus: in der Nachtschicht die angefallenen Reparaturarbeiten zu leisten. Die daraufhin durch weil angekn¨upfte Begr¨undung verdeutlicht, dass er diese Ausf¨uhrung ¨ f¨ur erkl¨arungsbed¨urftig h¨alt. Die folgende konturtragende Außerung wiederum erl¨autert die Ursache, warum in der Fr¨uh- und Sp¨atschicht keine Reparaturarbeiten geleistet werden. Sie bildet zugleich eine Einheit mit der Folge¨außerung, indem sie einen Kontrast aufbaut zwischen dem, was da in der Fr¨uh- und Sp¨atschicht gearbeitet wird, n¨amlich produkTION gefahrn und dem, was sie in der Nachtschicht leisten: die anfallenden Reparaturarbeiten. Die wesentliche Information zum Verst¨andnis des Sachverhalts, dass in den anderen Schichten keine Reparaturarbeiten geleistet werden, wird durch die steigend-fallende Kontur herausge¨ hoben. Auf sie folgt die abschließende, wiederholende Außerung der eigenen T¨atigkeit. Die ¨ Tatsache, dass ff im Anschluss an die abschließende Außerung (“und wIr machen die reparaTURen alle NACHTS.”) mit einer Detaillierung fortfahren kann, ohne dass Zwischenfragen erfolgen, verdeutlicht, dass dieser zu Beginn als erkl¨arungsbed¨urftig behandelte Sachverhalt nun als unproblematisch eingestuft wird. Zuletzt soll noch ein weiterer Kontext angef¨uhrt werden, in dem die steigend-fallende Kontur Heraushebungsfunktion auf informationsbezogener Ebene erf¨ullt. Dies ist ihr Vorkommen in Erz¨ahlungen.
4.4.1.6.2.4 Warum informationsbezogene Heraushebung? Kontext III: Erz¨ahlungen Aussagekr¨aftig f¨ur die funktionale Interpretation der Kontur in Erz¨ahlungen ist die Tatsache, ¨ dass sie nicht mit Außerungen verkn¨upft ist, die sich in der Komplikation oder Pointe befin¨ den, sondern mit Außerungen des Orientierungsteils. Komplikation und Pointe zeichnen sich zumeist durch geh¨aufte erz¨ahlerische Inszenierungsverfahren und emphatischen Sprechstil aus (vgl. Quasthoff 1980, Selting 1994). Dies gilt nicht f¨ur den Orientierungsteil, der dazu dient, die notwendigen Protagonisten und Lokalit¨aten der Erz¨ahlung einzuf¨uhren. Dass die Kontur hier erscheint, unterstreicht einmal mehr ihre informationsbezogene Heraushebungsfunktion. Dies verdeutlicht die folgende Erz¨ahlung, die dem Interview zwischen der Gespr¨achsleiterin und ihrem Vater entnommen ist. Dem Ausschnitt geht bereits eine Erz¨ahlung mit witziger Pointe und gleichem Protagonisten voraus. Zu Beginn des Ausschnitts leitet k06 durch “ja aber geNAUso?” zu dieser Erz¨ahlung u¨ ber und k¨undigt sie dadurch als ebenfalls witzige Erz¨ahlung an. Geschildert wird ein Missverst¨andnis, das sich aus der ungew¨ohnlichen r¨aumlichen Gestaltung der G¨arten in der Nachbarschaft des Erz¨ahlers ergibt. Diese sind nicht voneinander abgetrennt, so dass es m¨oglich ist, zum einen Haus hineinzugehen und aus einem anderen herauszukommen. Der Protagonist “H¨annes” wird (wie auch in der unmittelbar zuvor erz¨ahlten Geschichte) als u¨ bertrieben pflichtbewusster, aber nicht sehr intelligenter “Aufpasser” der Nachbarschaft dargestellt, der in der vorliegenden Geschichte aufgrund dieser Eigenschaften einem Missverst¨andnis zum Opfer f¨allt.
217 (179)
k06-garten; V2 / V2
1002 k06 1003 1004 1005 1006 1007 i 1008 k06 1009 1010 1011 1012 1013 ⇒
1014
⇒
1015 1016 1017 1018 1019 1020 i 1021 k06 1022 1023 1024 1025 1026 1027 1028 1029 1030 1031 1032 1033 1034 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041 1042 1043 1044 1045
i k06
i k06
die T¨ Uren AUfhaben ALle. (.) in den G¨ ARten. (-) ne? die g¨ arten ham ja keine Z¨ AUne? (.) ah un: [un: .hh (-) ¨ [ja'; ma kann ja hier bei ¨ oh: bei m¨ Ullers eRIN:? un beim: bei dOhms eRUS. (--) JA? dat ¨ ah: dat' dat JEHT ja. .hhh (---) sO: un: (--) m: der THIlo is mal- (1.2) isch glaub bei UNS oder bei M¨ ULlers !REI:N!? .h (-) l h m hat DANN hier hinten im: GARten l h h l INGrid getroffen .h (-) ingrid wo:t dem thilo jet ZEIgen im: haus? un dann wollt de thilo nach HAUse? .hh (--) un kam DANN? (---) an der T¨ UR bei dOhms raus. (-) ja. (--) JA? (.) un et Ingrid sagt dann TSCH¨ O, un SO wat; .hh (--) un dann kam ne stunde SP¨ Ater, kam de Oliver nach HAUse, .hh (--) PARKte? (-) direkt vorm HAUS? (.) PARKplatz, (--) steigt AUS, (--) m¨ a:t de H¨ ANnes det FENster rus? un s¨ a:t (.) zum Oli? kumm=ens HER? (--)
l h fm janz jeHEIMnisvoll .hh (--) un da s¨ a:t de=¨ ah: (---) m da s¨ a:t de H¨ ANnes? .h (-)
der h¨ at immer zum Oli gesagt de BARTmann.
h¨ at der immer geSAGT, .hh (--) der jeht an dinge FRAU; wenn du nit DO bis, ((lacht [ )) [((lacht))
218 In der Orientierungsphase der Erz¨ahlung (Z 1003-1023) gibt der Sprecher relevante Informationen u¨ ber den Ort des Geschehens. Der Protagonist l¨asst sich aus dem vorangegangenen Kontext erschließen, die u¨ brigen Beteiligten ergeben sich aus der Ortsbeschreibung (die H¨auser der unmittelbaren Nachbarschaft) und werden im Laufe der Erz¨ahlung spezifiziert. Nach dem wesentlichen Teil der Orientierung kommt es zu einem kurzen R¨uckversicherungsaustausch zwischen I und k06, bevor dann mit der R¨uckkehr des Ehemanns der Frau Ingrid die Komplikation einsetzt (Z 1024). Diese tr¨agt zahlreiche Merkmale der erz¨ahlerischen Inszenierung. Hierzu z¨ahlen die Verwendung des Pr¨asens (Z 1029-1035), die (imitierende) Redewiedergabe (Z 1032, 1036-1038) und auch die “ ‘Atomisierung’ des Ereigniskontinuums” mit kleinr¨aumiger intonatorischer Phrasierung (vgl. Quasthoff 1980: 28, 216ff.). Der Abschnitt der Orientierung, in dem die Kontur zweimal unmittelbar hintereinander vorkommt, tr¨agt demgegen¨uber wesentlich weniger Anzeichen von Inszenierung. Nichtsdestotrotz l¨asst ¨ sich auch hier die Heraushebungsfunktion der konturtragenden Außerungen rechtfertigen. ¨ Die beiden Außerungen bilden syntaktisch eine Einheit, sind aber prosodisch eigenst¨andig, was den Bestandteilen mehr Gewicht verleiht und den Heraushebungseffekt unterstreicht. Sie f¨uhren zudem Information ein, die zum Verst¨andnis der Erz¨ahlung notwendig ist und stellen damit den Interpretationsrahmen f¨ur das Kommende bereit. Auch im Kontext von Erz¨ahlungen l¨asst sich somit die informationsbezogene Heraushebung als Funktion der steigend-fallenden Kontur best¨atigen. Durch ihr Erscheinen in der Ori¨ entierungsphase der Erz¨ahlung sind die Außerungen zudem weiterweisend auf semanto-pragmatisch Ebene. Die sonst u¨ bliche Weiterweisung mit Projektierung eines abschließenden zweiten Teils, l¨asst sich in diesem Kontext nicht feststellen. Der Zwang, in der Orientierung schrittweise notwendige Information einzuf¨uhren und dann zur Komplikation u¨ berzugehen, ¨ steht dem typischen zweiteiligen Sequenzformat aus konturtragender erster Außerung und ¨ final fallender, inhaltlich abschließender Außerung entgegen. Es zeigt sich folglich auch hier wieder des Bedeutungspotenzial der Kontur, informationsbezogene Heraushebung zu kontextualisieren. Die Ursache f¨ur den Einsatz dieser Funktion liegt nicht in divergierenden Positionen, vor deren Hintergrund bezweckt wird, dem Gegen¨uber die eigene Position nahe zu bringen. Der Einsatz ist auch nicht durch offene Wissensasymmetrien und die Notwendigkeit, einen Sachverhalt zu vermitteln, verursacht. Statt dessen werden schrittweise orientierende Informationen eingef¨uhrt, die dem Aufbau eines Szenarios dienen, vor dessen Hintergrund sich die kommende Komplikation und Pointe einer Erz¨ahlung abspielen. Zwar l¨asst sich die zweiteilige Struktur nicht best¨atigen, die generelle Weiterweisungsfunktion bleibt in diesem Kontext jedoch erhalten.
4.4.1.6.3
Fazit
Auf der Grundlage der vorgenommenen funktionalen Analyse unter Einbeziehung der Kookkurrenz der Kontur mit besonderen syntaktischen Formaten und ihrer weiteren kontextuellen Einbettung lassen sich zusammenfassend folgende Aussagen machen:
219 Zum Bedeutungspotenzial der steigend-fallenden Kontur z¨ahlt ihre Heraushebungsfunktion auf informationsbezogener Ebene. Sie dient dazu, die gegebene Information als wichtig und verl¨asslich zu kontextualisieren. Hierbei ist bemerkenswert, dass das Konturvorkommen in der Regel nicht mit Emphase verkn¨upft ist, wie man aufgrund der ausgepr¨agten intonatori¨ schen Bewegung im Nukleus der Außerung vermuten k¨onnte. Zumeist zeigt sich das Vorkommen in zweiteiligen Sequenzen best¨atigt, wobei die Kontur ¨ mit der ersten Außerung der Sequenz verkn¨upft ist. Weiterweisung und Heraushebung stellen somit einen wichtigen Bestandteil des Bedeutungspotenzials dar. W¨ahrend sich die Heraushebung jedoch als stabile Funktion erwiesen hat, unterliegt die Weiterweisung kontextuellen Bedingungen. Zum einen kann die spezifische Weiterweisungsfunktion, die das Erscheinen des zweiten Sequenzteils bedingt erwartbar macht, in bestimmten Kontexten hinter andere sequenzielle Zw¨ange zur¨ucktreten, wie die Analyse der Erz¨ahlung gezeigt hat. Zum anderen lassen sich Konturvorkommen anf¨uhren, die kein Weiterweisungspotenzial aufweisen. Dies ist der Fall bei den im vorherigen Kapitel beschriebenen Vorwurfssequenzen, Argumentationen und handlungsbegleitenden Kommentaren. Kontextuell bedingt sind weiterhin die Ursachen, die der Nutzung der besonderen Kontextualisierungsfunktion zugrundeliegen. Die Heraushebung von Information als relevant und verl¨asslich wird in Kontexten mit offen oder potenziell divergierenden Positionen eingesetzt, um dem Gegen¨uber die eigene Position nahe zu bringen. In Kontexten mit offenen Wissensasymmetrien stellt die Kontur aufgrund ihres Kontextualisierungspotenzials ebenso eine geeignete Ressource f¨ur die Interaktionsteilnehmer dar, wobei es hier nicht um das Nahebringen einer Position oder pers¨onlichen Einstellung geht, sondern um die Vermittlung eines Sachverhalts. Die gleiche Kontextualisierungsleistung wird in den Orientierungsabschnitten von Erz¨ahlungen genutzt. Hier geht es darum, mit der Information ein Szenario zu entwerfen, das das Verst¨andnis der folgenden Erz¨ahlung erm¨oglicht.
4.4.2
¨ Interrogative Außerungen
4.4.2.1
Einleitung
¨ Die bisherige funktionale Analyse widmete sich den deklarativen Außerungen mit steigend¨ fallender Kontur, nun sollen die restlichen 43 interrogativen Außerungen hinsichtlich ihrer konversationellen Funktionen beschrieben werden. Das Vorkommen der steigend-fallenden ¨ Kontur mit interrogativen Außerungen ist vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse zun¨achst einmal erstaunlich, wurde doch der Großteil der konturtragenden deklarativen ¨ Außerungen als weiterweisend analysiert. Weiterweisung im Sinne der Turnbeibehaltung ist bei Fragen jedoch nicht zu erwarten. Selting (1995) definiert eine (konversationelle) Frage in folgender Weise, die auch die Grundlage der vorliegenden Untersuchung bildet: “Eine ‘konversationelle Frage’ ist [...] eine konversationelle Aktivit¨at einer Sprecherin bzw. eines Sprechers, die eine ‘Antwort’reaktion des Rezipienten konditionell relevant macht. Eine Frage fokussiert einen Sachverhalt als ‘offen’, f¨ur deren Beantwortung dem Adressaten ein ‘Expertenwissen’ zugeschrieben wird. Die Form der ‘Frage’ legt dabei einer m¨oglichen ‘Antwort’reaktion” des Rezipienten Restriktionen auf: Sie schließt koh¨arent an und liefert z.B. die ‘erfragte’, fokussierte Information”. (Selting 1995: 235)
220 ¨ ¨ Im Gegensatz zu den deklarativen Außerungen mit Kontur ist bei den interrogativen Außerungen dementsprechend eine Turnabgabe erwartbar. Weiterhin ist zu erwarten, dass die Folge¨außerung inhaltlich koh¨arent an die Frage anschließt und eine darin markierte Wissensl¨ucke schließt. Traditionell orientiert sich die Besch¨aftigung mit der Intonation im Zusammenhang mit Fragen im Wesentlichen an zwei Fragestellungen: Zum einen an der Frage, was die Differen¨ ¨ zierung zwischen interrogativen Außerungen und deklarativen Außerungen (verschiedener Modi) bewirkt, und zum anderen an der Frage, welche Bedeutungsdifferenzierungen sich ¨ innerhalb von interrogativen Außerungen feststellen lassen und wodurch sie bewirkt werden (bspw. h¨oflich vs. unh¨oflich, beteiligt vs. unbeteiligt). Die meisten vorliegenden Untersuchungen zur Frageintonation sind dabei experimentell (vgl. Oppenrieder 1988, Batliner 1989a, b, van Heuven & Haan 2002) oder gehen bei der Interpretation des Bedeutungsgehalts der Intonation introspektiv vor (vgl. von Essen 1956, Pheby 1975, Klein 1982). Seltings Arbeit (1995) bildet hier eine Ausnahme, indem sie konversationelle Fragen kontextgebunden auf der Basis spontansprachlicher Daten untersucht und die Interpretation der “Bedeutung” an das Verhalten der Interaktionsteilnehmer zur¨uckbindet. Grice & Savino (1997) machen darauf aufmerksam, dass der Konturgebrauch bei Fragen stark von dem zugrundeliegenden Datentyp abh¨angt. W¨ahrend Entscheidungsfragen in ihren Lesedaten zu 78% mit final steigender Intonation realisiert werden, kommt der gleiche Fragetyp bei spontansprachlichen Daten (Map-Task-Dialoge) zu nur 13% mit final steigender Intonation vor, die restlichen 87% werden fallend produziert (vgl. ebd.: 1, 3ff.). Dieses Ergebnis ist zugleich bedeutsam in Hinblick auf die f¨ur Fragen oftmals als “Normalfall” angenommene final steigende Intonationsbewegung. Dies betrifft vor allem solche Fragen, die syntaktisch nicht als Interrogative markiert sind, so dass der Intonation hier disambiguierende Funktion zugesprochen wird. Bereits in den 1980er Jahren hat jedoch Geluykens (1989) darauf hingewiesen, dass final steigende Intonation bei deklarativen Fragen (“Queclaratives”) durchaus nicht den Normalfall darstelle, sondern dass hier u¨ berwiegend fallende Intonation vorkomme (vgl. ebd.: 569). Oppenrieder (1988) auf der anderen Seite stellt auf der Basis seiner experimentellen Untersuchung final steigende Verl¨aufe als quantitativen Prototypen f¨ur deklarative Fragen heraus. Da es sich bei dem von Geluykens verwendeten Datenmaterial im Gegensatz zu Oppenrieder (1988) um spontansprachliche Daten handelt, ist zu vermuten, dass die Datengrundlage ein ausschlaggebender Faktor f¨ur die abweichenden Ergebnisse von Geluykens und Oppenrieder ist. Weiterhin ist zu beachten, dass der finale ¨ Tonh¨ohenverlauf nicht das einzige Merkmal zur Signalisierung einer Frage darstellt. Uber den finalen Verlauf hinaus spielen weitere Faktoren wie die H¨ohe des Gesamtregisters der ¨ Außerung, die H¨ohe des Onsets der Intonationsphrase und auch die H¨ohe und horizontale Position der einzelnen Akzentt¨one eine Rolle (vgl. Batliner 1989b: 147ff., Gussenhoven & Chen 2000: 2ff., Haan-van Ditzhuyzen 2001: 53, Oppenrieder 1988: 179ff., Selting 1995: 242ff.). Van Heuven & Haan (2002) erw¨ahnen zudem die kontrastive Akzentuierung des Ob¨ jekts als f¨orderlich f¨ur die Interpretation einer Außerung als Frage (vgl. ebd.: 80ff.). Neben prosodischen Einflussfaktoren sind auch lexikalische, syntaktische und pragmatische Faktoren zu ber¨ucksichtigen. Unter pragmatischem Gesichtspunkt sei es beispielsweise von Bedeu¨ tung, ob eine Außerung “question-prone” oder “statement-prone” sei (vgl. Geluykens 1987: ¨ ¨ 484ff.). Unter einer question-prone Außerung ist eine Außerung zu verstehen, die Informati¨ on thematisiert, die dem Sprecher nicht zug¨anglich sein kann, wie in der Außerung “You feel ¨ ill”, die Geluykens (1987) als Beispiel heranzieht. Eine Außerung wie “I feel ill” hingegen
221 wird als statement-prone angesehen, da hier Wissen thematisiert wird, das nur dem Sprecher zug¨anglich ist. Nach Geluykens macht das Vorkommen der entsprechenden pragmatischen Signale intonatorische Merkmale nahezu u¨ berfl¨ussig: “Provided pragmatic cues are sufficiently strong to determine speech act status, rising intonation is shown to be virtually without impact; if, on the other hand, pragmatic cues do not favour any particular speech act type, intonation may, but need not, act as a cue for determining questionstatus.” (ebd.: 483)
Lexikalische Einflussfaktoren werden von Batliner (1989b) erw¨ahnt, der darauf aufmerksam macht, dass die Verbsemantik und bestimmte Modalpartikeln wie etwa einen Hinweis auf den interrogativen Modus (gegen¨uber exklamativem oder imperativischem Modus) einer ¨ Außerung geben k¨onnen. Syntaktische Einflussfaktoren beruhen auf den verschiedenen Positionen des Verbs im Zusammenhang mit eventuellen einleitenden w-W¨ortern oder -Phrasen, die sich noch zu den lexikalischen Merkmalen von Fragen z¨ahlen lassen. ¨ Die Identifizierung einer Außerung als Frage beeinflussen folglich zahlreiche Faktoren. Noch ist nicht gekl¨art, in welcher Weise die Faktoren dabei zusammenwirken. Das obige Zitat von Geluykens deutet auf eine Entlastung beispielsweise der intonatorischen Signalisierung ¨ hin, wenn auf der pragmatischen Ebene bereits gen¨ugend Hinweise auf den Außerungsmodus existieren. Ebenso spricht Haan-van Ditzhuyzen (2001: 56) von einem “functional tradeoff” zwischen verschiedenen Signalen, was letztendlich auf eine m¨oglichst o¨ konomische Verwendung der zur Verf¨ugung stehenden Signalisierungsm¨oglichkeiten hinweist. Auf der anderen Seite werden Fragen mit Verberststellung, d.h. syntaktisch als interrogativ markierte ¨ Außerungen, von verschiedenen Autoren als h¨aufig steigend beschrieben (vgl. Pheby 1975, Oppenrieder 1988, mit Einschr¨ankung auch Geluykens 1988), so dass hier eine mehrfache, gleichlaufende Signalisierung auf verschiedenen sprachlichen Ebenen vorliegt. Auch im Rahmen der Interaktionalen Linguistik wird davon ausgegangen, dass die Kontextualisierung bestimmter Funktionen oftmals redundant ist, dass also funktional gleichlaufende Signale auf verschiedenen Ebenen kookkurrieren. ¨ Ebenso wie das Problem der Identifizierung einer Außerung als Frage ist auch oder vor allem das Problem der speziellen Interpretation einer gegebenen Frage mit divergierenden Intonationsverl¨aufen nicht gel¨ost. Es werden beispielsweise attitudinale Kriterien zur Unterscheidung herangezogen, die eine Frage als mehr oder weniger h¨oflich, ungeduldig, freundlich usw. charakterisieren (Pheby 1975, Scherer et al. 1984).48 Informationsstrukturelle Funktionen verschiedener Intonationsverl¨aufe stellen Grice & Savino (1995) f¨ur eine Variet¨at des Italienischen und K¨ugler (2003, 2004) f¨ur die Variet¨aten Obers¨achsisch und Schw¨abisch fest. So sei eine final steigend-fallende Entscheidungsfrage in obers¨achsischen spontansprachlichen Dialogen gegen¨uber einer einfach steigenden Frage dadurch gekennzeichnet, dass der Sprecher davon ausgehe, dass die Antwort keine v¨ollig neue Information f¨ur ihn enthalte. Der Sprecher hat hinsichtlich des Informationsstatus der Antwort also bestimmte Erwartungen (vgl. K¨ugler 2003: 19ff.). Ganz a¨ hnlich stellen Grice & Savino (1995) bei der Analyse von Map-Task-Dialogen exklusive intonatorische Markierungen f¨ur Fragen fest, die “confident” 48
Ziel des Artikels von Scherer et al. (1984) ist allerdings nicht in erster Linie die Kategorisierung der Fragentypen, sondern die Untersuchung der Frage, in welcher Weise intonatorische und verbale Mittel miteinander interagieren, um emotionalen Affekt zu signalisieren.
222 oder “very confident” hinsichtlich der Bekanntheit der erfragten Information sind. Es handelt sich bei den Fragen um versichernde R¨uckfragen, sogenannte “Checks” und “Aligns”. Die u¨ brigen Kategorien “Query” und “Object”, die f¨ur eine informationssuchende Frage bzw. eine problemmanifestierende Frage stehen, sind hinsichtlich der Intonation nicht voneinander abzugrenzen. Auch bei diesen Untersuchungen spielen zus¨atzlich zu den informationsbezogenen Aspekten (given vs. new information in der Antwort) demnach attitudinale Kriterien eine Rolle, um die Funktion der Intonation innerhalb einer Fragekategorie wie “Entscheidungsfrage” zu erfassen.
4.4.2.2
Vorgehensweise
Ziel dieses Kapitels kann nun keine ersch¨opfende Diskussion der Frageintonation im K¨olnischen sein. Ausgangs- und Zielpunkt der Analyse bilden die steigend-fallenden interro¨ gativen Außerungen und ihre m¨oglichen funktionalen Besonderheiten. Um diese herauszu¨ arbeiten werden die steigend-fallenden Außerungen Fragen ohne steigend-fallende Kontur gegen¨ubergestellt. Die Vorgehensweise orientiert sich wie im vorangegangenen Kapitel an den Nachweisstrategien der Interaktionalen Linguistik (siehe Kap. 2.2), so dass die Frage¨außerung bez¨uglich ihrer Kookkurrenz mit anderen sprachlichen Mitteln, ihrer sequenziellen Position im gegebenen Gespr¨achsauszug und der weiteren Bearbeitung durch die Interaktionsteilnehmer untersucht wird. Die Analyse kn¨upft an Selting (1995) an, die eine Taxonomie konversationeller Fragen erstellt: Um die konversationellen Funktionen einer Frage herauszuarbeiten, betrachtet sie syntaktische, semantische und intonatorische Merkmale im B¨undel und verbindet sie auf der Grundlage der empirischen Analyse spontansprachlicher Daten mit bestimmten Funktionen. Die syntaktischen Merkmale umfassen die u¨ blichen topologischen Formate zur Charakterisierung von Satztypen wie Verberststellung, Verbzweitstellung mit w-Wort etc. (s.u.). Die semantischen Merkmale beziehen sich auf den thematischen Bezug der Frage zum unmittelbar vorangegangenen Gespr¨ach. Die thematische Relation wird durch die drei Kategorien Neufokussierung, Fokusweiterf¨uhrung und Refokussierung beschrieben. Neufokussierende Fragen beinhalten einen Themenwechsel oder eine Fokusverschiebung innerhalb eines thematischen Rahmens, w¨ahrend fokusweiterf¨uhrende Fragen ein Element eines bestehenden Themas aufgreifen und vertiefend weiterf¨uhren. Refokussierende Fragen nehmen einen Sachverhalt eines zuvor behandelten Themas auf und stellen ihn in Frage. Die syntaktischen und semantischen Kategorien werden in den n¨achsten beiden Abschnitten anhand von Beispielen erl¨autert. Als intonatorische Merkmale legt Selting final fallende und steigende Verl¨aufe zugrunde. Weiterhin ber¨ucksichtigt sie die globale Tonh¨ohe, die Lautst¨arke und relative St¨arke der Akzente bzw. der lokalen Tonh¨ohenbewegungen, die die Frage als prosodisch markiert oder unmarkiert kennzeichnen k¨onnen (vgl. ebd.: 238ff.). In der vorliegenden Untersuchung stellen die finalen Verl¨aufe den Ausgangspunkt dar: Es soll untersucht werden, ob sich f¨ur den steigend-fallenden Verlauf ein spezifisches Gebrauchsprofil in Hinblick auf die Kookkurrenz mit den syntaktischen und semantischen Kategorien feststellen l¨asst. Zu diesem Zweck wird zuerst die quantitative Verteilung der steigendfallenden und nicht steigend-fallenden Verl¨aufe auf die beiden Kategorien ermittelt und miteinander verglichen. Zus¨atzlich zu den 43 steigend-fallenden Fragen wurden als Referenzgruppe 50 nicht steigend-fallende Fragen aus dem Material zuf¨allig ausgew¨ahlt, so dass f¨ur
223 die Analyse insgesamt 93 Fragen zur Verf¨ugung stehen. Von den 50 nicht steigend-fallenden Fragen sind 24 final fallend und 26 final steigend. Es ist zu beachten, dass die Datenmenge f¨ur eine statistische Auswertung nicht ausreicht. Die quantitative Auswertung der Verteilung auf die syntaktischen und semantischen Kategorien dient der Ermittlung von m¨oglichen Tendenzen und Auff¨alligkeiten. F¨ur die qualitative Analyse der konversationellen Funktionen der Fragen werden die nach ihrem intonatorischen Verlauf gruppierten Fragen einander in “Minimalpaaren” gegen¨ubergestellt. Bei gr¨oßtm¨oglicher syntaktischer und semantischer Gemeinsamkeit soll der spezifische Beitrag des Intonationsverlaufs zur konversationellen Funktion der Frage herausgearbeitet und auf diese Weise das besondere Bedeutungspotenzial der steigend-fallenden Kontur bei Fragen ermittelt werden. Grundlage der Minimalpaarbildung sind die von Selting erstellten Merkmalsb¨undel, die entsprechend ihrer Taxonomie die gleichen konversationellen Funktionen erf¨ullen. Die Taxonomie wird weiter unten im Anschluss an die Erl¨auterung der syntaktischen und semantischen Kategorien vorgestellt. Das Kapitel gibt nun zun¨achst eine Erl¨auterung der syntaktischen und semantischen Analysekategorien. Daran schließt sich die quantitative Auswertung der fallenden, steigenden und steigend-fallenden Verl¨aufe an. Dann werden die Minimalpaargruppen eingef¨uhrt und einige Minimalpaare exemplarisch diskutiert. In diesem Zusammenhang wird das Bedeutungspotenzial der steigend-fallenden Kontur erl¨autert. Die Analyse wird zeigen, dass sich die steigendfallenden Fragen durchg¨angig von den final fallenden Fragen abgrenzen lassen, w¨ahrend sie ¨ deutliche funktionale Uberschneidungen mit den final steigenden Fragen aufweisen.
4.4.2.2.1
Syntaktische Kategorien
F¨ur die Beschreibung der syntaktischen Formate haben sich die folgenden Formate als notwendig herausgestellt: V1-Stellung, die traditionell als Entscheidungsfrage bestimmt wird, V2-Stellung mit w-Wort (trad. Erg¨anzungsfrage), V2-Stellung ohne w-Wort (trad. Assertivfrage), elliptische Formate mit w-Wort und elliptische Formate ohne w-Wort. Weiterhin wurde eine Klasse f¨ur Sonderf¨alle eingef¨uhrt, in der u¨ berwiegend elliptische Frageformate zu finden sind, die als Ausklammerungen oder Nachtr¨age an eine vorangehende Frage angeschlossen sind. Im Folgenden werden die syntaktischen Formate der Reihe nach vorgestellt und ihre gemeinhin angenommene intonatorische Gestaltung knapp beschrieben. Wenn m¨oglich, wird f¨ur jede Kategorie je ein Beispiel f¨ur die drei finalen Tonh¨ohenbewegungen (steigend, fallend, steigend-fallend) gegeben.
4.4.2.2.1.1 V1-Stellung ¨ Die V1-Stellung des Verbs wird bei interrogativen Außerungen traditionell als Entscheidungsfrage bezeichnet. (In diese Kategorie wurde auch ein Vorkommen einer Alternativfrage mit final fallender Intonation eingeordnet. Andere Satzarten mit V1-Stellung wie z.B. uneingeleitete Konditionals¨atze werden hier nicht ber¨ucksichtigt). Nach Oppenrieder (1988) und Pheby (1975) weist dieser Fragetyp u¨ berwiegend steigende finale Tonh¨ohenbewegungen auf,
224 kommt aber auch mit final fallender Intonation vor, was laut Pheby mit einer “vergewissernden Implikation” einhergeht. ¨ Die folgenden drei Außerungen veranschaulichen V1-Stellungen mit fallendem, steigendem und steigend-fallendem Verlauf: (180)
final fallend (k07-2779-i) h l hatten sie dat jesch¨ aft HIER drin
(181)
final steigend (k06-1130-i) l h ham die dat wirklisch geLERNT so in der SCHUle
(182)
final steigend-fallend (k08-446-i; V2) l hm wAr=n sie in braSIlien
Im Korpus kommen demnach alle drei finalen Verl¨aufe mit V1-Stellung vor, fallende Verl¨aufe sind mit nur 4 Belegen bei insgesamt 41 V1-Fragen jedoch selten. Weiterhin liegen 11 einfach steigende und 26 steigend-fallende Belege vor. Hinsichtlich der finalen Falltiefe der steigendfallenden Verl¨aufe l¨asst sich feststellen, dass 11 Belege maximal tief enden, 12 Belege auf mittel tiefem Niveau und nur 3 Belege auf minimal tiefem Niveau.
4.4.2.2.1.2 V2-Stellung mit w-Wort Dieses syntaktische Format wird traditionell mit Erg¨anzungsfragen in Verbindung gebracht. Es wird nach Oppenrieder (1988) im Deutschen zu 80% mit final fallender Intonation realisiert (vgl. ebd.: 197ff.). Pheby (1975) bringt fallende, steigende und fallend-steigende Verl¨aufe mit unterschiedlichen Bedeutungen der Frage¨außerungen in Verbindung, wobei fallende Verl¨aufe “neutral” und “unbeteiligt” sein k¨onnen, steigende Verl¨aufe “skeptisch”, “beteiligt” und “expressiv”, und fallend-steigende Verl¨aufe wiederum “neutral” (vgl. ebd. 155ff.). Beispiele f¨ur Fragen mit V2-Stellung und w-Wort geben die n¨achsten drei Belege (183) bis (185): (183)
fallend (k01-1652-fv) h l warum SETZ de disch dann nit
(184)
steigend (k01-1577-fv) l h und wie soll isch dat auf der arbeit MAchen
225 (185)
steigend-fallend (k07-2414-i; V1-2) l h l wie lang IS der zuch hier
Wieder kommen alle drei finalen Intonationsverl¨aufe mit diesem syntaktischem Format vor. ¨ Von insgesamt 20 Außerungen dieses Formats sind 12 fallend, 5 steigend und 3 steigendfallend (2 x bis zu mittlerer Tiefe, 1 x bis zu maximaler Tiefe).
4.4.2.2.1.3 V2-Stellung ohne w-Wort Fragen mit V2-Stellung ohne w-Wort gelten als Assertivfragen. Sie enden nach Oppenrieder (1988) prototypisch hoch (vgl. aber die Einleitung zu diesem Kapitel). Im K¨olner Korpus gibt es sowohl steigende als auch steigend-fallende und fallende Fragen dieser syntaktischen Kategorie, wie die folgenden Beispiele belegen: (186)
fallend (k08-22-i) h h l un et gibt auch keinen Anderen platz wo se LEben wollen
(187)
steigend (k06-790-i) l h der hat ne LIVEsendung gemAcht
(188)
steigend-fallend (k06-1622-i; V1) h l h fm aber der hat NICH die poliZEI angerufen
Von insgesamt 12 Frage¨außerungen dieser Kategorie sind 5 final fallend, 4 final steigend und 3 final steigend-fallend (1 x minimal tief, 2 x mittel tief).
4.4.2.2.1.4 Elliptisch mit w-Wort Elliptische Formate werden bei Oppenrieder (1988) und Pheby (1975) nicht ber¨ucksichtigt. Im vorliegenden Korpus kommen sie nur mit fallender Intonation vor. Einen Beleg gibt das folgende Beispiel: (189)
fallend (k04-533-fm) h l wieso REISCH
Es liegen insgesamt 3 Belege dieser Kategorie vor.
226 4.4.2.2.1.5 Elliptisch ohne w-Wort Auch dieses syntaktische Format wird bei Oppenrieder (1988) und Pheby (1975) nicht behandelt. Im Gegensatz zu den elliptischen Auspr¨agungen mit w-Wort kommen hier nur final steigende oder steigend-fallende Verl¨aufe vor, was die folgenden beiden Beispiele belegen. ¨ Die Kategorisierung der Außerungen als Frage ergibt sich aus ihrer sequenziellen Position. ¨ Im ersten Fall stellt die Außerung den ersten Teil einer Paarsequenz dar. Der angesprochene Interaktionspartner liefert in seiner Antwort die eingeforderte Information. Der zweite Beleg stammt aus einer multi-party Situation, in der eine zuvor gestellte Frage durch eine Zwischensequenz suspendiert wurde und nach Abschluss der eingeschobenen Sequenz erneut ge¨außert wird. (190)
steigend (k10-856-i) h l h un dat TAkufeld dann AUCH schon
(191)
steigend-fallend (k04-1243-fm; V2) m h m KAFfee trinken
Es liegen insgesamt 12 elliptische Fragen ohne w-Wort vor, wobei jeweils 6 final steigend bzw. steigend-fallend sind; (von diesen sind je zwei Belege minimal, mittel und maximal tief fallend).
4.4.2.2.1.6 Sonstiges In die Kategorie “Sonstiges” wurden solche Belege aufgenommen, die als Expansion an die ¨ eigentlich interrogative Außerung angeschlossen sind. In der Referenzgruppe der einfach stei¨ genden und fallenden interrogativen Außerungen findet sich kein Beleg dieser Kategorie. Die folgenden beiden Belege mit steigend-fallender Kontur veranschaulichen das Format: (192)
01 ⇒
02
(193)
01 02
steigend-fallend (k06-1871-i; V2) l h sa=ma wart ihr eigentlisch bei der SPARk¨ asschenauszahlung l h l im KORNbrenner
steigend-fallend (bb96-112-jrg; V3) l h wusstes DU dass=s sowas gibt lh bee HAS
227 ⇒
03
m h l schon mit siliKON drinne
Diese Kategorie umfasst 6 Belege, die alle final steigend-fallende Verl¨aufe aufweisen. Alle 43 steigend-fallenden Belege und alle 50 Belege der Referenzgruppe ohne steigendfallende Kontur wurden in eine der Kategorien eingeordnet. Ein vorl¨aufiger Blick auf die quantitative Verteilung zeigt, dass die steigend-fallende Kontur in ihrer Verteilung auf die ¨ syntaktischen Formate mehr Ahnlichkeit zu einfach steigenden als zu einfach fallenden Verl¨aufen aufweist. Kommt ein Format nicht mit allen Verl¨aufen vor, so liegen entweder nur final fallende Verl¨aufe vor (so bei elliptischem Format mit w-Wort), oder es liegen nur final steigende und steigend-fallende, aber keine final fallenden Verl¨aufe vor (so bei elliptischem Format ohne w-Wort). Eine Ausnahme bilden die sonstigen F¨alle, die nur mit steigend-fallenden Verl¨aufen belegt sind. Hier ist allerdings anzumerken, dass die zuf¨allige Auswahl der Belege f¨ur die Referenzgruppe diese L¨ucke verursacht haben kann, da die ausgeklammerten ¨ Außerungen nicht auf den ersten Blick als Frage zu identifizieren sind und so bei der Auswahl m¨oglicherweise nicht ber¨ucksichtigt wurden.
4.4.2.2.2
Semantische Kategorien
Zur semantischen Kategorisierung der Belege wurden die Kategorien Neufokussierung, Fokusweiterf¨uhrung und Refokussierung zugrundegelegt. Wie oben bereits beschrieben wurde, ¨ geben diese die Koh¨arenzbeziehung zwischen der Frage und den vorangehenden Außerungen an. Als Vorwegnahme der konversationellen Funktionen der Merkmalsb¨undel l¨asst sich sagen, dass sie außerdem in engem Zusammenhang mit der Art der Bearbeitung der Frage durch den Gespr¨achsteilnehmer stehen. Neufokussierende Fragen wirken nach Selting immer nicht-einschr¨ankend, d.h. sie geben dem Rezipienten uneingeschr¨ankt Raum zur Beantwortung der Frage, den dieser zumeist auch in Anspruch nimmt. Sie fungieren h¨aufig als Gespr¨achsfortsetzungsinitiativen. Sowohl fokusweiterf¨uhrende als auch refokussierende Fragen erf¨ullen hingegen verschiedene einschr¨ankend weiterf¨uhrende Funktionen; sie fordern das Gegen¨uber nicht zu elaborierten Ausf¨uhrungen zu einem Thema auf, sondern bearbeiten beispielsweise Verstehensprobleme oder wirken inferenz¨uberpr¨ufend (vgl. Selting 1995: 241, 258ff.). Diese Funktionen werden f¨ur die semantischen Kategorien unabh¨angig von ihrem syntaktischen Format angenommen. In der vorliegenden Arbeit ergeben sich bei der semantischen Kategorisierung Schwierigkeiten mit einer kleinen Gruppe an Fragen, die eine fiktive oder tats¨achliche Redewiedergabe darstellen. Solche Redewiedergaben sind h¨aufig aus dem Kontext herausgehoben, und es ist nicht unproblematisch, sie in eine der semantischen Kategorien einzuordnen. Das gr¨oßte Problem allerdings ist darin zu sehen, dass f¨ur die wiedergegebene Rede nicht die gleichen konditionellen Relevanzen angesetzt werden k¨onnen wie f¨ur das aktuelle Gespr¨ach (vgl. Br¨unner 1991). Selbst wenn sich f¨ur eine Frage eine plausible semantische Kategorie ausmachen l¨asst, entspricht die Aufnahme durch den (fiktiven) Adressaten der Frage nicht notwendigerweise der erwartbaren Reaktion. Zum einen ist es m¨oglich, dass die Antwortreaktion gar nicht in
228 die Redewiedergabe aufgenommen wird, zum anderen ist die m¨oglicherweise wiedergegebene Antwort nicht mit einer tats¨achlichen Reaktion des Adressaten gleichzusetzen. Aus diesem Grund werden die Redewiedergaben als Sonderkategorie behandelt und im Abschnitt “Qualitative Analyse” diskutiert. ¨ Eine weitere Anderung gegen¨uber der Taxonomie von Selting betrifft die neufokussierenden Fragen, die immer nicht-einschr¨ankende Funktion haben sollen. Im vorliegenden Korpus haben sie unter bestimmten Bedingungen jedoch auch einschr¨ankende Funktion, was weiter unten erl¨autert wird. Es folgt nun zun¨achst eine knappe Darstellung der semantischen Kategorien auf der Basis von Beispielen von Selting (1995).
4.4.2.2.2.1 Neufokussierung Unter Neufokussierung ist zu verstehen, dass es gegen¨uber dem zuvor Ge¨außerten zu einem Themenwechsel oder zu einer Fokusverschiebung innerhalb eines thematischen Rahmens kommt. Die Fragen fungieren als nicht-einschr¨ankende, offene Fragen. Dies veranschaulicht das folgende Beispiel aus Seltings Arbeit. Hier ist deutlich die Funktion als Gespr¨achsfortsetzungsinitiative zu erkennen, da zwar das vorherige Thema gerade beendet wurde, das Gespr¨ach aber mit einem neuen Thema weitergef¨uhrt wird.49 (194)
49
.
208 209 210
R: N: I:
ich weiß gar nich wie ich das verschriftlichen soll ((lacht)) ((lacht))
211 *
N:
wie SIEHTS jetzt eigntlich AUS mit dem fach muSIK F(\ \ /)
212
N:
also da H¨ ORT man ja auch gar nichts mehr ne F(\ /)
213
R:
im moMENT . ¨ ah: weiß ich AUCH nichts neues ... M(/ \ )
214
R:
das das: ¨ oh scheint auf EIS zu liegen oder M(\ )
215
R:
216
I:
217
N:
JEdnfalls so .. rein nach AUssen hin T(\ \ ) mhm nhn \/
Zur Erl¨auterung der Transkriptionskonventionen bei diesem und den folgenden Beispielen aus Selting (1995) siehe S. XII.
229 218 219 220
N: R: R:
un wer letz das: ¨ ahn der der .. ¨ ahm ... lehrbetrieb is jetzt sonst w . ¨ ah ganz normal weitergelaufn
(aus: Selting 1995: 244)
4.4.2.2.2.2 Fokusweiterf¨uhrung Fokusweiterf¨uhrung stellt gegen¨uber der Neufokussierung eine Beibehaltung der bisherigen Fokussierung dar, wobei “der Gespr¨achsgegenstand sukzessive detaillierend (weiter) verschoben wird” (ebd.: 240). Dies gilt f¨ur die Frage im n¨achsten Beispiel aus Selting, die detaillierte Informationen bez¨uglich der zuvor eingef¨uhrten ANdern methodn erbittet: (195)
.
307
L:
m: und ...... also es GIBT da auch GUTE arbeitn= S(\ / )
308
L:
=aber die beN¨ UTzn: MEIstens ohne er zu sagn
F(\ \
309
L:
auch diese ANdern methodn ne \ /)
310
C:
311 *
E:
hn: \ ja WIE siehtn das konkret AUS (?) F(/ \ )
312
L:
es is EIgnlich M(/ )
313
L:
also ICH empf:inde das als eine ¨ ahm: .. F(/
314
L:
ah NACHerz¨ ¨ ahlung mit PSYCHOanalytischem vokabuLAR ..... \ \ \)
315
E:
316
L:
AUS der sicht . des SCHREIbenden F(\ \ ) mhm \/
[...] (aus: Selting 1995: 260-261)
230 4.4.2.2.2.3 Refokussierung Refokussierung schließlich bezieht sich auf die Wiederaufnahme eines zuvor fokussierten Sachverhalts, wie das n¨achste Beispiel zeigt. Die Frage wirkt einschr¨ankend weiterf¨uhrend und verdeutlicht, dass L ein Bedeutungsverstehensproblem hat. Sie ist somit problemmanifestierend. (196)
.
268
E:
un das ERste mal in einer SALzadisko F(/ \ )
269 * 270
L:
was is DAS denn F(\ ) *mhm \/
271
E:
dassis irgnwie ne ne beSTIMMte art von M(/
272
E:
TANZ ¨ oh ... den die da offensichtlich TANzn \ \ /)
273
?:
mhm \/
274
E:
aber ich hab das also NICH unterscheiden k¨ onnen F(/
275
?:
276
E:
C:
nhn \/ von . ganz normalem DISko ... TANzen .. \ \ )
(aus: Selting 1995: 287)
Neufokussierende Fragen stehen laut Selting also im Zusammenhang mit nicht-einschr¨ankenden, offenen Fragen, fokusweiterf¨uhrende und refokussierende Fragen hingegen mit einschr¨ankend weiterf¨uhrenden. Wie oben angedeutet wurde, l¨asst sich dieser Zusammenhang f¨ur die eigenen Daten allerdings nicht durchgehend nachweisen. Eine Abweichung ergibt sich ¨ bei den Außerungen, die in handlungsbegleitenden sprachlichen Interaktionen vorkommen. Es zeigt sich bei diesen, dass auch neufokussierende Fragen einschr¨ankend weiterf¨uhrende Funktionen haben k¨onnen. Ihnen ist gemeinsam, dass mit der neufokussierenden Frage ein ¨ Element aus dem situativen Kontext thematisiert wird. Die interrogative Außerung ist in solchen F¨allen zumeist mit der Manifestation eines Erwartungsproblems vergleichbar. Hinsichtlich der Rezipientenreaktion stellt eine ein Erwartungsproblem manifestierende Frage eine “Aufforderung an den Rezipienten zur Beteiligung an der Widerspruchskl¨arung” (ebd. 294)
231 dar. Problemmanifestierende Fragen zeichnen sich weiterhin dadurch aus, dass sie das Be¨ zugselement aus einer vorhergehenden Außerung refokussierend wieder aufnehmen (siehe Bsp. (196)). Der Refokussierung auf ein Element im sprachlichen Kotext entspricht in handlungsbegleitenden Beispielen allerdings die Neufokussierung auf ein Element im situativen Kontext. Neufokussierung kann somit im Zusammenhang mit einschr¨ankenden Fragen stehen, wenn Referenten aus dem situativen Kontext thematisiert werden. W¨ahrend sich die Analyse Seltings ausschließlich auf den sprachlichen Kotext bezieht, muss f¨ur die eigene Analyse deshalb auch der situative Kontext ber¨ucksichtigt werden, wenn die Koh¨arenzbeziehungen beurteilt werden sollen.50 Die Kategorie “Neufokussierung” wird aus diesem Grund aufgespalten in Neufokussierung auf der Basis des sprachlichen Kontexts auf der einen Seite und Neufokussierung auf der Basis des situativen Kontexts auf der anderen Seite. Nachdem im vorangegangenen Unterkapitel die auftretenden syntaktischen und semantischen Formate eingef¨uhrt wurden, widmet sich das folgende Kapitel der quantitativen Verteilung der Formate auf die Intonationsverl¨aufe. F¨ur die final steigend-fallenden, steigenden und fallenden Verl¨aufe werden auf diese Weise quantitative Gebrauchsprofile ermittelt.
4.4.2.3
Quantitative Auswertung
Die quantitative Auswertung zeigt, wie sich die syntaktischen und semantischen Kategorien auf die fallenden, steigenden und steigend-fallenden Verl¨aufe verteilen. Es wurde oben bereits ¨ angedeutet, dass sich, ausgehend von den syntaktischen Formaten, eine Ahnlichkeit zwischen den steigenden und den steigend-fallenden Verl¨aufen feststellen l¨asst. Ziel der folgenden ¨ quantitativen Auswertung ist es, m¨ogliche Ahnlichkeiten oder Besonderheiten der steigendfallenden Kontur im Kontrast zu den anderen beiden Verl¨aufen herauszustellen. Wie schon ¨ bei der Analyse der deklarativen Außerungen dient die quantitative Auswertung zun¨achst ¨ als Hinweis auf solche Ahnlichkeiten oder Besonderheiten, die dann durch eine qualitative Analyse u¨ berpr¨uft werden m¨ussen. Es wird nun zuerst die Verteilung der Intonationsverl¨aufe auf die syntaktischen Kategorien beschrieben, dann die Verteilung auf die semantischen Kategorien.
4.4.2.3.1
Syntax
Die folgenden Diagramme stellen syntaktische Gebrauchsprofile der jeweiligen Intonationsverl¨aufe dar. Die erste Abbildung veranschaulicht, wie sich die final fallenden Verl¨aufe auf die verschiedenen syntaktischen Kategorien verteilen. Die zweite Abbildung stellt dies f¨ur die final einfach steigenden Verl¨aufe dar und die dritte Abbildung f¨ur die final steigendfallenden Verl¨aufe. Die in der Legende angegebenen Kategorien beziehen sich auf die in Kapitel 4.4.2.2.1 eingef¨uhrten syntaktischen Kategorien.
50
¨ Eine hilfreiche Operationalisierung der Koh¨arenzbeziehungen von Außerungen im Zusammenhang mit dem situativen Kontext und dem sprachlichen Kotext bieten Linell & Korolija (1997).
232 13%
0%
0%
22% V1 13%
V2 +w-Wort V2 -w-Wort
.
ell +w-Wort ell -w-Wort sonstig
52%
Abbildung 4.51: Kookkurrenz des finalen Falls (n=24) mit syntaktischen Formaten 43%
0%
V1 V2 +w-Wort V2 -w-Wort
.
ell +w-Wort 23%
ell -w-Wort 19%
sonstig
15% 0%
Abbildung 4.52: Kookkurrenz des finalen Anstiegs (n=26) mit syntaktischen Formaten 60%
V1 V2 +w-Wort V2 -w-Wort
.
ell +w-Wort 7%
ell -w-Wort sonstig
7% 12% 14%
0%
Abbildung 4.53: Kookkurrenz des final steigend-fallenden Verlaufs (n=43) mit syntaktischen Formaten
233 Die Gegen¨uberstellung der drei Verl¨aufe macht deutlich, dass die final fallenden Verl¨aufe (Abb. 4.51) und die final steigend-fallenden Verl¨aufe (Abb. 4.53) in ihrer Verteilung auf die syntaktischen Kategorien kaum Gemeinsamkeiten aufweisen. W¨ahrend beinahe die H¨alfte ¨ aller final fallenden Verl¨aufe auf Außerungen mit V2-Stellung und w-Wort entfallen, machen diese nur 7% aller steigend-fallenden Verl¨aufe aus. Die final steigenden Verl¨aufe liegen hier mit 19% dichter bei den steigend-fallenden als bei den fallenden Verl¨aufen. Der deutliche ¨ Schwerpunkt der steigend-fallenden Konturen liegt mit 60% bei den Außerungen mit V1Stellung, die wiederum einen nur geringen Anteil der fallenden Konturen ausmachen (13%). Wieder liegen die final einfach steigenden Konturen mit 43% Vorkommen mit V1-Stellung dichter bei den steigend-fallenden Konturen als bei den fallenden Konturen. Gemeinsam ist den steigenden und den steigend-fallenden Konturen, dass sie nicht mit elliptischen Formaten mit w-Wort vorkommen, wohingegen die syntaktische Kategorie “elliptisch ohne w-Wort” ausschließlich durch diese beiden Intonationsverl¨aufe besetzt ist. Die Verteilung in der Kategorie V2-Stellung ohne w-Wort“ untermauert die zu Beginn des ” ¨ Kapitels wiedergegebenen Ergebnisse, dass auch syntaktisch unmarkierte Außerungen in spontansprachlichen Daten mit final fallenden Konturen vorkommen k¨onnen. 21% der fallenden Konturen, 7% der steigend-fallenden Konturen und 15% der steigenden Konturen kookkurrieren mit diesem syntaktischen Format. Das bedeutet, dass 41,7% (n=5) der Fragen mit Verbzweitstellung ohne w-Wort mit final fallender Kontur realisiert werden. Die restli¨ chen 58,3% werden durch die final steigenden und die final steigend-fallenden Außerungen gestellt. Es muss hinzugef¨ugt werden, dass 2 der 5 final fallenden Verl¨aufe ein steigendes R¨uckversicherungssignal ne im Anschluss an den Fall aufweisen. Auf die u¨ brigen 3 Verl¨aufe trifft dies allerdings nicht zu, und die Tatsache, dass sie dennoch problemlos als Fragen eingeordnet werden k¨onnen (und von den Interaktionsteilnehmern auch so behandelt werden), ¨ verdeutlicht, wie wichtig die kontextuelle Einbettung f¨ur die Interpretation von Außerungen ist. Grunds¨atzlich ist also festzuhalten, dass sich die steigend-fallenden Konturen gemessen an ihrer quantitativen Verteilung auf die syntaktischen Formate eher mit den final steigenden Verl¨aufen gruppieren lassen als mit den final fallenden Verl¨aufen.51 Inwiefern sich die quantitative Verteilung allerdings weiter interpretieren l¨asst, ist fraglich. Funktionszuweisungen auf der Basis der u¨ blichen Kategorien “Entscheidungsfrage”, “Erg¨anzungsfrage” usw. sind f¨ur eine Analyse der konversationellen Funktionen sicherlich nicht ausreichend. Wie auch Seltings Ergebnisse nahe legen, lassen sich syntaktische Frageformate nicht eindeutig auf bestimmte konversationelle Funktionen abbilden. Erst im Zusammenspiel mit den semantischen Kategorien ergeben sich zuverl¨assige Hinweise auf konversationelle Funktionen. So k¨onnen V1-Fragen je nach semantischer Kategorie “nicht-einschr¨ankend, offen” (bei Neufokussierung), “einschr¨ankend, enger” (bei Fokusweiterf¨uhrung) oder “erstaunte Nachfragen” (bei Refokussierung) sein. “Nicht-einschr¨ankend, offen” k¨onnen bei Neufokussierung aber auch ebenso Fragen mit w-Wort wirken. Die Syntax alleine l¨asst hier demnach noch keinen Schluss auf die konversationelle Nutzung der Frage zu. Die Kombination von syntaktischem Format mit semantischer Kategorie wird weiter unten noch ausf¨uhrlich behandelt. Zun¨achst folgt die quantitative Verteilung der Intonationsverl¨aufe in Hinblick auf die semantischen Kategorien. 51
Nicht ohne weiteres in dieses Bild passt die Verteilung auf die Kategorie “Sonstiges”. Auf das m¨ogliche Zustandekommen dieser Verteilung wurde bereits weiter oben hingewiesen.
234 4.4.2.3.2
Semantik
Im Folgenden werden die semantischen “Gebrauchsprofile” der drei untersuchten Intonationsverl¨aufe beschrieben. Die erste Abbildung (Abb. 4.54) veranschaulicht die Verteilung der final fallenden Verl¨aufe, die zweite Abbildung (Abb. 4.55) die der final steigenden Verl¨aufe und die letzte Abbildung (Abb. 4.56) schließlich die der steigend-fallenden Verl¨aufe. Es ist zu beachten, dass sich die Datenmenge durch die Herausnahme der Redewiedergaben um 11 Belege reduziert hat. In der Gruppe der final fallenden Fragen liegen 4 Redewiedergaben vor, in der Gruppe der final steigenden 3 und in der Gruppe der final steigend-fallenden Fragen wiederum 4, die jeweils abgezogen wurden. 40%
Neufok sit Neufok spra
.
0% 25%
Fokuswei Refok
35%
Abbildung 4.54: Kookkurrenz des final steigend-fallenden Verlaufs (n=20) mit syntaktischen Formaten
26% 22% Neufok sit Neufok spra
.
Fokuswei Refok
30%
22%
Abbildung 4.55: Kookkurrenz des finalen Anstiegs (n=23) mit semantischen Formaten
Besonders auff¨allig an der quantitativen Verteilung auf die semantischen Kategorien ist der große Anteil an neufokussierenden Fragen bei der steigend-fallenden Kontur: 61% aller stei¨ gend-fallenden interrogativen Außerungen fallen in diese Kategorie. Dem stehen 38% neufokussierende Fragen bei den steigenden und 29% neufokussierende Fragen bei den fallenden Fragen gegen¨uber. Auff¨allig ist weiterhin der relativ geringe Anteil an refokussierenden Fragen bei den steigend-fallenden Fragen (14%) im Vergleich zu den steigenden Fragen (mit 23%) und vor allen Dingen den fallenden Fragen (mit 33%). Auch die fokusweiterf¨uhrenden
235 15% 23% Neufok sit 18%
Neufok spra
.
Fokuswei Refok
44%
Abbildung 4.56: Kookkurrenz des final steigend-fallenden Verlaufs (n=39) mit semantischen Formaten
Fragen bilden gegen¨uber den u¨ brigen Intonationsverl¨aufen bei den steigend-fallenden Konturen den kleinsten Anteil mit 18% gegen¨uber 30% bzw. 25% bei den steigenden und den fallenden Fragen. Im Gegensatz zu der Verteilung auf die syntaktischen Formate l¨asst sich hier nicht eindeutig f¨ur ein a¨ hnliches Verhalten der steigenden und der steigend-fallenden Fragen argumentieren. Zwar weisen die final steigenden Fragen beispielsweise einen h¨oheren Anteil an neufokussierenden Fragen auf als die final fallenden Fragen, ber¨ucksichtigt man jedoch auch die eingef¨uhrte Unterteilung in Neufokussierung auf der Basis des sprachlichen Kontexts bzw. auf der Basis des situativen Kontexts, so zeigt sich, dass die fallenden Fragen bei den Erstgenannten durch einen wesentlich h¨oheren Prozentsatz gekennzeichnet sind als die steigenden Fragen (35% vs. 22%). Die steigend-fallenden Fragen liegen in ihrer Verteilung (44% Neufok spra) damit tendenziell dichter bei den fallenden Fragen, und da die beiden Neufokussierungskategorien unterschiedliche konversationelle Bearbeitungen nach sich ziehen, m¨ussten ¨ sie in ihren konversationellen Funktionen hier mehr Ahnlichkeit mit den fallenden Konturen aufweisen als mit den steigenden Konturen. Im Fall der anderen Neufokussierungskatego¨ rie (Neufok sit) jedoch ließe die quantitative Verteilung auf eine Ahnlichkeit der steigenden Verl¨aufe mit den steigend-fallenden Verl¨aufen schließen. Ebenso wie bei den neufokussie¨ renden Außerungen ergibt sich auch bei den fokusweiterf¨uhrenden und den refokussierenden ¨ Außerungen kein einheitliches Bild. Die quantitative Verteilung auf die semantischen Kategorien erm¨oglicht demnach keine Gruppierung der steigend-fallenden Kontur mit einem der anderen Verl¨aufe. Da die semantischen Kategorien aber nach Selting mit verschiedenen Formen der konversationellen Bearbeitung in Verbindung gebracht werden k¨onnen, lassen sich bereits anhand der Verteilung der steigend-fallenden Verl¨aufe einige funktionale Tendenzen vermuten. Ausgehend von Seltings Taxonomie konversationeller Fragen wirken neufokussierende Fragen immer nichteinschr¨ankend und offen, fokusweiterf¨uhrende und refokussierende Fragen hingegen immer einschr¨ankend weiterf¨uhrend. Die fokusweiterf¨uhrenden Fragen sind dabei verst¨andigungsbearbeitend, die neufokussierenden Fragen problemmanifestierend (vgl. Selting 1995: 241). Der u¨ berdurchschnittlich hohe Anteil an (sprachlich) neufokussierenden Fragen bei der steigend-fallenden Kontur weist entsprechend darauf hin, dass die steigend-fallenden Fragen
236 wesentlich h¨aufiger als die anderen Fragen nicht-einschr¨ankend wirken und ausgedehnte Redebeitr¨age des Interaktionsteilnehmers nach sich ziehen. Zugleich deutet der hohe Prozentsatz an neufokussierenden Fragen generell darauf hin, dass kein besonders enger inhaltlicher Zusammenhang zum Vorangegangenen bestehen muss, dass mit der konturtragenden Frage also eine inhaltliche Z¨asur gesetzt werden kann. Die konturtragenden Fragen werden offensichtlich nicht bevorzugt in Kontexten eingesetzt, die inhaltlich eng an Vorangegangenes anschließen und dieses dem Gegen¨uber zwecks Verst¨andigungs- oder Problembearbeitung pr¨asentieren. Diese Hypothesen werden im n¨achsten Abschnitt anhand exemplarischer Analysen u¨ berpr¨uft.
4.4.2.4
Qualitative Analyse: “Minimalpaare”
Es wurde oben darauf hingewiesen, dass sich erst bei Ber¨ucksichtigung der Syntax im Zusammenhang mit den semantischen Kategorien zuverl¨assige Aussagen u¨ ber m¨ogliche konversationelle Funktionen machen lassen. Eine einzelne Beschreibung der Verteilung auf syntaktische und semantische Formate ist dennoch sinnvoll, da die Syntax nicht bei allen semantischen Kategorien einen Unterschied bei den konversationellen Funktionen bewirkt und einige syntaktische Formate sich diesbez¨uglich zu Gruppen zusammenfassen lassen. Die folgende ¨ tabellarische Auflistung gibt einen Uberblick u¨ ber das Zusammenspiel von Syntax und Semantik und die resultierenden Funktionen. Die Grundlage bildet die Taxonomie von Selting (1995). Tabelle 4.6: Konversationelle Funktionen semantischer und syntaktischer Frageformate nach Selting (1995: 241). Semantik
Syntax
Konversationelle Funktion
Neufokussierung
V1-Stellung, w-Wort
nicht-einschr¨ankend, offen
Fokusweiterf¨uhrung
V1-Stellung, w-Wort
einschr¨ankend, enger
V2-Stellung ohne w-Wort
Inferenz¨uberpr¨ufung
V1-Stellung, V2 ohne w-Wort
“erstaunte Nachfrage”
w-Wort
“Nachfrage” Referenzverstehensproblem akustisches Verstehensproblem wieso / warum Nachfrage “erstaunte Nachfrage”
Refokussierung
Die Tabelle verdeutlicht, dass die Syntax innerhalb der neufokussierenden Fragen keine “bedeutungsunterscheidende” Funktion innehat. Allerdings werden nach Selting auch nicht alle syntaktischen Formate in dieser semantischen Kategorie verwendet. Innerhalb der fokusweiterf¨uhrenden Fragen lassen sich Fragen mit V1-Stellung und Fragen mit w-Wort zusammen gruppieren, innerhalb der refokussierenden Fragen hingegen Fragen mit V1-Stellung und Fragen mit V2-Stellung ohne w-Wort. Diese Gruppierungen sollen im Folgenden die Grundlage ¨ f¨ur die exemplarische Analyse der steigend-fallenden interrogativen Außerungen im Kon-
237 text sein. Es wird f¨ur jede Gruppe ein steigend-fallender Verlauf vorgestellt. Wenn m¨oglich, werden die steigend-fallenden Belege mit steigenden und fallenden Fragen kontrastiert. Die Gegen¨uberstellung entspricht damit gewissermaßen der Bildung von intonatorischen Minimalpaaren, so dass sich hier u¨ ber die quantitative Verteilung hinaus das besondere Funktionspotenzial der steigend-fallenden Kontur zeigen kann. Es ist allerdings zu bedenken, dass eine “Minimalpaarbildung” im eigentlich Sinne mit spontansprachlichen Daten kaum m¨oglich ist, da zu viele Faktoren nicht kontrollierbar sind. Die kontrastive Analyse kann so aber zumin¨ dest auf Fragen mit gr¨oßtm¨oglicher Ahnlichkeit eingeschr¨ankt werden. ¨ Die folgende Tabelle gibt einen Uberblick u¨ ber die Verteilung der Intonationsverl¨aufe auf die Minimalpaargruppen. Die farbig unterlegten Zeilen entsprechen den von Selting herausgestellten Gruppen. Diese umfassen jedoch nicht alle im Korpus vorkommenden Kombinationen von Semantik und Syntax. Deshalb werden in den unteren, nicht farbig markierten Zeilen die zus¨atzlichen Kombinationen angegeben und die Verteilung der Konturen angezeigt. F¨ur diese Kombinationen ist noch keine funktionale Gruppierung m¨oglich, so dass die syntaktischen Formate einzeln aufgef¨uhrt werden. Tabelle 4.7: Verteilung der finalen Intonationsverl¨aufe auf semantische und syntaktische Kategorien L* H-L% (abs.)
L* H% (abs.)
H* L% (abs.)
V1-Stellung, w-Wort
10
3
5
V1-Stellung, w-Wort
4
3
3
V2-Stellung ohne w-Wort
1
4
2
V1-Stellung, V2 ohne w-Wort
5
6
4
w-Wort
1
0
3
V2-Stellung / elliptisch ohne w-Wort
3
2
2
Sonstige
4
0
0
V1-Stellung
7
3
0
w-Wort
0
0
0
V2-Stellung / elliptisch ohne w-Wort
2
2
0
Sonstige
0
0
0
Fokusweiterf¨uhrung
Sonstige
2
0
0
Redewiedergaben
V1-Stellung
4
0
0
w-Wort
0
3
4
V2-Stellung / elliptisch ohne w-Wort
0
0
0
Sonstige
0
0
0
Semantik
Syntax
Neufok spra Fokusweiterf¨uhrung
Refokussierung
Neufok spra
Neufok sit
238 Es wird deutlich, dass viele der Gruppen nicht oder nur sehr sp¨arlich besetzt sind. Um eine vollst¨andige Analyse der intonatorischen Kennzeichnung verschiedener Fragetypen durchzuf¨uhren, ist eine wesentlich umfangreichere Datenmenge erforderlich. F¨ur die folgende qualitative Analyse werden die grau unterlegten Gruppen exemplarisch herausgegriffen. Zus¨atzlich werden zur Veranschaulichung des spezifischen Bedeutungspotenzials der steigend-fallenden Kontur die Belege vorgestellt, die sich in dieser Hinsicht als besonders aussagekr¨aftig erwiesen haben. Es handelt sich dabei um elliptische Fragen ohne w-Wort, bei denen sich die steigend-fallenden von den steigenden Fragen abgrenzen lassen, sowie um die Redewiedergaben, bei denen die steigend-fallende Kontur ihr exklusives Bedeutungspotenzial deutlich entfaltet. Es folgt zuerst die Darstellung neufokussierender Fragen, dann werden die fokusweiterf¨uhrenden und refokussierenden Fragen beschrieben. Schließlich werden die elliptischen Fragen ohne w-Wort und die Fragen in Redewiedergaben diskutiert.
4.4.2.4.1
Exemplarische Analysen: Neufokussierung
Wie bereits erw¨ahnt wurde, handelt es sich bei (auf der Grundlage des sprachlichen Kontexts) neufokussierenden Fragen um nicht-einschr¨ankende, offene Fragen, die h¨aufig die Funktion haben, das Gegen¨uber zum Erz¨ahlen aufzufordern. Die Adressaten produzieren im Anschluss an die Frage entsprechend ausgedehnte Redebeitr¨age, so auch im ersten Beispiel mit steigendfallender Kontur. Es stammt aus einem Interview und veranschaulicht sehr deutlich den offenen Charakter dieses Fragetyps. Die Interviewpartnerin antwortet auf die Frage mit einer ausgedehnten Beschreibung, die an das konkret Erfragte anschließt, dann aber in dem gesetz¨ ten thematischen Rahmen weiter ausschweift. Ubergeordnetes Thema sind Fahrradtouren, die k07 fr¨uher mit ihrem Mann unternommen hat. (197)
⇒
k07-weitergefahrn hat; V1
752 753 754 755 756 757 758 759 760 761
k07
762 763 764 765 766 767 768
k07
i
i k07
wir sind also d'=¨ ube ¨ uber den F¨ AHRmannsund r¨ uber; (.) auf die insel FEHmarn; und dann zuR¨ UCK, timmendorfer STRANDund RATzeburschund und ALles so beFAHren; ne? .hh immer so so ACHT tAge. immer so EIne . (.) ham sie dat SO organisiert dass irgend en gep¨ Ackdienst das l h l [WEIter gefahrn hat [ wir ham ALles sElbst gemacht. [. [wir sind EInfach geFAHren, wir ham auch IMmer Unterkunft gekriegt. wir mussten nicht ein EINziges mal l¨ anger FAHren, weil wir kein .hh pensIOn oder hoTEL bekommen h¨ atten;
239 769 770 771 772 773
.h allerdIngs sind wir auch NICH in der hAUptsaison gefahren. wir ham uns also IMmer so Ende auGUST, bis ANfang sepTEMber. genommen. weil dann der HAUPTstrom ja WEG is; ne,
Die Reaktion von k07 erfolgt bereits u¨ berlappend mit der Frage von i (Z 760, 761). Sie verneint sie und f¨ahrt dann fort, im Allgemeinen auszuf¨uhren, wie sie und ihr Mann ihre fr¨uheren Fahrradtouren organisiert haben. Besonders deutlich ist die Funktion der konturtragenden Frage als Gespr¨achsfortsetzungsinitiative zu erkennen. Das vorherige Thema l¨auft aus, was ¨ in diesem Beispiel durch die Wiederholung der eigenen Außerung und die kurze Pause im Anschluss an k07s Beitrag zum Ausdruck kommt (Z 758-760). Das Beispiel ist in dieser Hinsicht typisch f¨ur die neufokussierenden Fragen mit steigend-fallender Kontur. Es zeigt sich somit sowohl die Annahme der Z¨asurbildung durch die entsprechende Frage best¨atigt als auch ihr “raumgebendes” Potenzial. Die Fragen mit steigend-fallender Kontur unterscheiden sich darin jedoch nicht von einfach steigenden neufokussierenden Fragen, wie der folgende Ausschnitt veranschaulicht. Er ist ebenfalls einem Interview entnommen und zeigt sogar eine wesentlich st¨arkere inhaltliche Z¨asur durch die neufokussierende Frage “un a¨ hm wissen sie warum et frIngsveedel FRINGSveedel jenannt wird”, die sich inhaltlich deutlich von der zuvor thematisierten Integration von Ausl¨andern in das st¨adtische Leben abhebt. (198) 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 ⇒
k08-187-i k08
i k08
i
118
119 120 121 122 123 124 125
k08
i k08
k¨ Oln is huMA:N, un wer mit uns nit KLAR kommt, isset SELbert SCHULD un:(--) ((lacht)) ( ) sie ORDnen sich schon unter;
mit ihren moSCHEEN.h un wAs se mittlerweile hier in k¨ oln HAben; ne,
h l un ¨ ahm wIssen sie warum et frIngsveedel FRINGSveedel jenannt l wird .hh JA:, nach dem ¨ ah: KIRschenf¨ ursten. .h im f- FRINGS. nIsch von dem ¨ ah KARdinal frings den wir in k¨ oln hattensondern VORher schon. ah JA. aus dem MITtelalter heraus; ne,
240 Die Frage wird mit einem Gliederungs- und einem Verz¨ogerungssignal (un a¨ hm) eingeleitet, und ihr geht die zweimalige Best¨atigung stimmt des zuvor Ge¨außerten von k08 voran (Z 116, 117). Im Anschluss an die Frage erfolgt zun¨achst die Bejahung durch k08 und dann ein etwas schleppender Einstieg in einen ausf¨uhrlicheren Redebeitrag u¨ ber den Namensgeber des Stadtviertels, der sich nach dem Ausschnitt noch fortsetzt. Auch hier zeichnet sich die neufokussierende Frage demnach durch eine inhaltliche Z¨asur zum Vorangegangenen und die Zuweisung eines ausgedehnten Redebeitrags aus. Interessanterweise lassen sich die neufokussierenden Fragen mit final fallender Intonation nicht durch diese Funktionen charakterisieren, wie das n¨achste Beispiel veranschaulicht. Auch hier wird eine inhaltliche Z¨asur zum Vorangegangenen gesetzt, die Bearbeitung der Frage durch den angesprochenen Gespr¨achspartner beinhaltet aber keinen ausgedehnten Redebeitrag. Der Gespr¨achsauszug ist den Fußbroichs entnommen, der Freund des Sohnes fs berichtet der Mutter fm von der Produktionsweise bei seiner Arbeitsstelle. (199)
⇒
k03-502-fm
407 408 409
ff
410 411 412 413 414 415 416
fm
417
ff
ff fm ff fm
da werden am tAch tAUsendzweihundert AUtos gebaut (.) wenn die FR¨ UH und die SP¨ AT nur neunhundert bAUen, .hh (-)
h l wieviel a' wieviel leute ARbeiten an sOlschen sachen denn SO: viel k¨ onnen dat ja U nit sein; [ne? [n¨ a SIN ni=mehr viele, so=n so=n ROboter oder wat [wEIß=isch[