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German Pages 269 [271] Year 2022
Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung herausgegeben von der
Gesellschaft für Rechtsvergleichung e.V.
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Maximilian Wörner-Schönecker
Rechtstransfers Eine Analyse anhand von Typologien
Mohr Siebeck
Maximilian Wörner-Schönecker, geboren 1989; Studium der Rechtswissenschaft an der Bucerius Law School, Hamburg; Auslandsaufenthalt an der Boston University School of Law; 2020 Promotion an der Bucerius Law School und am Centre for Socio-Legal Studies der University of Oxford; Referendariat am Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg; seit 2022 Rechtsanwalt in Hamburg.
ISBN 978-3-16-160732-5 / eISBN 978-3-16-160733-2 DOI 10.1628/978-3-16-160733-2 ISSN 1861-5449 / eISSN 2569-426X (Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Times gesetzt, von Gulde Druck in Tübin gen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Meinen Eltern – in ewiger Dankbarkeit
Vorwort Im Winter 2020/2021 wurde die vorliegende Arbeit an der Bucerius Law School als Dissertation angenommen. Meinem Doktorvater, Professor Dr. Michael Fehling, LL.M. (Berkeley), gilt mein besonderer Dank. Ihn als Betreuer gehabt zu haben, war ein großes Glück. Die Entstehung dieser Arbeit hat er durch seine ständige Bereitschaft zur Diskussion und durch seine vielen Anregungen begleitet. Seine Neugierde und Offenheit waren Motivation und Inspiration zugleich. Er ist in vielerlei Hinsicht ein großes Vorbild. Ebenso danke ich Professor Dr. Dr. h. c. mult. Katharina Boele-Woelki für ihre Förderung und die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Den Herausgebern der Schriftenreihe „Rechtsvergleichung und Rechtsvereinheitlichung“ danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Großer Dank gilt auch der Friedrich-Ebert-Stiftung, die die Entstehung dieser Arbeit mit einem Promotionsstipendium gefördert hat. Ferner danke ich der Bucerius Law School für das großzügige Forschungsstipendium, das mir ein promotionsbegleitendes Fellowship am Centre for Socio-Legal Studies der University of Oxford ermöglichte. Bedanken möchte ich mich außerdem bei den vielen Gesprächspartnern und Förderern; es wäre unmöglich, sie alle hier aufzuzählen. Herausheben möchte ich Russell Miller (Washington & Lee University of Law), Marina Kurkchyian und Bettina Lange (beide Centre for Socio-Legal Studies, University of Oxford), Dr. Martin Käerdi (Kanzlei Ellex, Talinn) und Professor Dr. Dr. h. c. mult. Reinhard Zimmermann (Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, Hamburg). Für die emotionale Unterstützung in Zeiten des Zweifelns danke ich Niklas Drexler. Von ganzen Herzen möchte ich mich bei meiner Familie bedanken. Zunächst meiner lieben Oma Nonna, deren Stolz und Zuneigung mir für dieses Projekt jederzeit Kraft gegeben hat. Meiner Lebensgefährtin Lena Haffner danke ich für die vielen schönen Momente während meiner Promotionszeit – und danach. Größter Dank gilt meinen Eltern Susanna Schönecker und Dr. Hans-Joachim Wörner: Dafür, dass sie zu jeder Zeit mein Fels in der Brandung waren und mich unermüdlich gefördert haben. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Hamburg, den 11. April 2022
Maximilian Wörner-Schönecker
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV
A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Einführung in die Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rezeption der „MacArthur-Verfassung“ in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rezeption des deutschen Sachenrechts in Estland . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Rezeption des Konzepts der Independent Regulatory Agencies in Deutschland (über das Unionsrecht) aus den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Independent Regulatory Agencies in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Übernahme des Konzepts der Independent Regulatory Agencies in Deutschland und ihre Schwierigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 7 8 9 11 14 19 22 22 26
B. Rechtstransfer als Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Das simplistische Einheitsmodell von legal transplants in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 III. Phasen eines Rechtstransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie . . . . . . . . . 39 I. Unzureichendes Verständnis des Rechts der fremden Rechtsordnung . . 40 1. Problematik und Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
X
Inhaltsverzeichnis
II. Unzureichende rechtsdogmatische Integration fremden Rechts in das heimische Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 1. Problematik und Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Grenzen in der Rechtsordnung des Rezipienten . . b) Unterschiede in der Staatsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterschätzte Wirkungsdimension des rezipierten Rechts . . . . . . . . . . . . d) Unzureichende Harmonisierung von wesensverwandten Norminhalten . e) Sprachliche Barrieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die Notwendigkeit zusätzlicher Rechtsinstitute oder Institutionen . . . . . 2. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45 47 48 50 52 52 54 55
III. Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede zwischen Geber- und Nehmerland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Problematik und Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die rechtskulturelle Kluft zwischen der Schweiz und der Türkei . . . . . . b) Die richterliche Kontrolldichte in Japan im Gegensatz zu den USA . . . . c) Das Problem des Vorbehalts des Gesetzes bei der Rezeption des Modells der unabhängigen Regulierungsbehörden in Deutschland . . 2. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56 59 61 64 68
IV. Mangelnde gesellschaftliche Adoption des fremden Rechts aufgrund sozio-kultureller Unterschiede zwischen Geber- und Nehmerland . . . . . 69 1. Problematik und Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Gründe für Widerstand aufgrund sozio-kultureller Unterschiede . . . . . . . . . 75 3. Arten des gesellschaftlichen Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
V. Resümee und weiterführende Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten . . . . . . . . 81 I. Mehrwert einer problemorientierten Rechtstransfertypologie . . . . . . . . 81 II. Typologieansätze in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Millers Typologie zu den Beweggründen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . a) Rechtstransfer zwecks Zeit- oder Kostenersparnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition und Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer“ als Subtyp des Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ . . . . . . . . . . . . . . . d) Prestigeerzeugender Rechtstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ergänzungen durch Cohn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtstransfers zu inhaltlichen Optimierungszwecken . . . . . . . . . . . . . .
83 83 84 86 86 87 88 90 90
Inhaltsverzeichnis
XI
b) Rechtstransfers zwecks Rechtsharmonisierung mit ausländischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 c) Rechtstransfers zwecks „Signalwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 d) Die spektrale Beschreibung von Rechtstransfermerkmalen . . . . . . . . . . . 94 3. Bedingungen beim Rezipienten nach Kviatek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Strukturelle Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Ideelle Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 c) Institutionelle Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4. Nutzen dieser Ansätze für eine problemorientierte Rechtstransfertypologie 99
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie von Rechtstransfereigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Grundkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die drei Ordnungsmuster für eine problemorientierte Typologie . . . . . . b) Veranschaulichung: Aufbau der Typologie am Beispiel des ersten Ordnungsmusters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zweites Ordnungsmuster: Rechtstransferspezifische Faktoren . . . . . . . . . . . a) Oberbegriff: Norminhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kulturelle Verwurzelung der Norm nach Rechtsgebieten . . . . . . . . . bb) Steuerungsfunktion des zu übertragenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . cc) Durch die Norm betroffene gesellschaftliche Gruppen . . . . . . . . . . . b) Oberbegriff: Normbeschaffenheit im weiteren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Technische Norm“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe . . . . . . . cc) Grad des Auslegungs- und Ermessensspielraums . . . . . . . . . . . . . . . 3. Drittes Ordnungsmuster: Übertragungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Am Rezeptionsprozess beteiligte Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Mittelbare Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übertragungsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Direkter Rechtstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vermittelter Rechtstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Eklektischer Rechtstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorschläge für Subtypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Subtypen zu Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ . . . . . . . . . . . . . b) Subtypen des „Prestigeerzeugenden Rechtstransfers“ . . . . . . . . . . . . . . . c) Faktoren für ein strukturelles Näheverhältnis (Subtypen) . . . . . . . . . . . .
101 101 101 104 104 104 112 115 116 118 118 118 119 120 120 120 121 122 122 122 122 124 126 126 129 133
IV. Vorschlag für eine problemorientierte Rechtstransfertypologie . . . . . . . 136
XII
Inhaltsverzeichnis
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers am Beispiel der Rezeption der MacArthur-Verfassung in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 1. Erster Schritt: Identifikation von Problemen des untersuchten Rechtstransfers und deren Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zweiter Schritt: Identifikation von Typenmerkmalen des untersuchten Rechtstransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ordnungsmuster 1: Ausgangssituation beim Rezipienten . . . . . . . . . . . . b) Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . c) Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Überblick über die identifizierten Merkmale und ihre Bedeutung . . . . . . 3. Dritter Schritt: Zusammenhang zwischen den Typenmerkmalen und den Problemursachen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Transplant-Bias“ führt zu Verständnisproblemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Externer Druck (durch militärische Besatzung) führt zu Problemen aufgrund sozio-kultureller Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsgebiet mit typischerweise hohem kulturellem Gehalt führt zu Problemen aufgrund rechts- bzw. sozio-kultureller Unterschiede . . . . d) Grad der Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe – Probleme aufgrund rechtskultureller Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vierter Schritt: Identifikation von erfolgsfördernden Maßnahmen und Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fünfter Schritt: Einfügung der Ergebnisse in das Aufmerksamkeitsraster . .
141 143 143 147 148 149 151 152 153 153 158 158 159
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters am Beispiel der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei . . . . . . . . . . . . . . 162 1. Erster Schritt: Identifikation von Typenmerkmalen im geplanten Rechtstransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ordnungsmuster 1: Ausgangssituation beim Rezipienten . . . . . . . . . . . . b) Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . c) Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Überblick über die identifizierten Merkmale und ihre Bedeutung . . . . . . 2. Zweiter Schritt: Identifikation möglicher Problemrisiken aufgrund von Erfahrungswerten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Dritter Schritt: Identifikation möglicher Strategien zur Vermeidung von Problemen bei Rechtstransfers aufgrund der Erfahrungswerte . . . . . . . a) Strategien während der Vorbereitungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Prüfung, ob Rechtstransfer als Reforminstrument geeignet ist . . . . . bb) Blick auf kulturelle Nähe bei der Wahl des Exportlandes . . . . . . . . . cc) Einbeziehung von (externen) Expertengremien . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Übernahme von kodifiziertem Recht vs. Fallrecht . . . . . . . . . . . . . . ee) Kontextanalyse des zu transplantierenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
ff) Einbeziehung der vom Rechtstransfer betroffenen (Interessen-)Gruppen im Vorfeld der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strategien während der Implementationsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Eine wirkungsorientierte Rechtsübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Berücksichtigung aller „Rechtsformanten“ im Übernahmeprozess . cc) Grundüberlegung: Großflächige Ersetzung des eigenen Rechts vs. kleinteilige Ergänzungen und korrespondierende Anpassung des eigenen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Übergangsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Ausführlich geregelte Gesetze anstatt Normen mit weitem Auslegungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Schulung der Rechtsanwender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . gg) Rechtsvergleichung als Auslegungstopos bei Rechtstransfers . . . . . hh) Rechtliche Rahmenbedingungen für die soziale Anpassung an das fremde Recht schaffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Strategien während der Nachbesserungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Evaluationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Austausch der Wissenschaft und Praxis im Nachgang der Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Einbeziehung der vom Rechtstransfer betroffenen Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ansatz für eine „Strategientypologie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Modifikation des Übertragungsgegenstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Erscheinungsformen von Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Modifikationen als möglicher (zusätzlicher) Risikofaktor . . . . . . . . cc) Gründe für eine Modifikation – Ansätze einer Typisierung . . . . . . .
XIII
179 181 181 182 183 186 187 187 189 193 193 193 194 196 196 199 200 202 206
III. Das Problem der Erfolgsmessung bei der Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 1. Die Kriterien für den Erfolg eines Rechtstransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 2. Zeitpunkt der Evaluation des Rechtstransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
F. Ergebnisse und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 I. Problemorientierte Rechtstransfertypologie – Methodik . . . . . . . . . . . . . II. Aufmerksamkeitsraster – Grundgedanke und Methodik . . . . . . . . . . . . . III. Strategien für „bessere“ Rechtstransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Grenzen des Aufmerksamkeitsrasters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Betrachtung von Rechtstransfers als mehrstufigen Prozess . . . . . . . . . . . VI. Perspektiven für die Rechtstransferforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219 221 222 224 225 225
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Phasen eines Rechtstransfers (nach Kurkchiyan) . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 2: Grundaufbau einer problemorientierten Typologie . . . . . . . . . . . . Abbildung 3: Grundaufbau einer problemorientierten Typologie mit ersten Einfügungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 4: Integration der Ansätze aus C. – Ordnungsmuster „Ausgangssituation beim Rezipienten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 5: Ansatz einer spektralen Beschreibung des kulturellen Normgehalts nach Rechtsgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 6: Spektrum kultureller Normgehalt (abstrakt) . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 7: Steuerungsfunktionen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 8: Rechtstransfertypen nach „gesellschaftlichen Gemeinschaften“ . . Abbildung 9: Subtypen zu Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ . . . . . . . Abbildung 10: Ordnungsmuster 1: Ausgangsituation beim Rezipienten . . . . . . . Abbildung 11: Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Eigenschaften . . . Abbildung 12: Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten . . . . . . . . . . . . . . .
37 102 102 103 112 112 113 116 130 137 138 138
A. Einleitung I. Grundlagen Der Begriff „legal transplant“ – oder „Rechtstransfer“ – beschreibt den Vorgang, bei dem ein Rechtsetzer1 Recht aus einer fremden Rechtsordnung in die eigene überträgt.2 Im wissenschaftlichen Kontext wird mit diesem Begriff gemeinhin die Erforschung von Bedingungen und Konsequenzen der Verwendung fremder Rechtsbestandteile bezeichnet.3 Die Wanderung von Recht zwischen Jurisdiktionen ist kein neues Phänomen.4 Seit Anfang des letzten Jahrhunderts gewinnen Integrationsprozesse, die Rechtsübernahmen oder -angleichungen zum Gegenstand haben, zunehmend an Bedeutung. Die „Ära integrativer rechtlicher Globalisierung“5 hat dazu geführt, dass Rechtsetzer immer häufiger bewährte Normen anderer Rechtssysteme als Vorbild für die eigene Rechtsordnung heranziehen. Die zunehmende Angleichung der technischen und wirtschaftlichen 1 Anstatt des Begriffs „Gesetzgeber“ wird im Folgenden der Begriff „Rechtsetzer“ verwendet. Denn grundsätzlich sollen auch exekutive und judikative Formen der Rechtstransplantation in die Debatte miteinbezogen werden. Zur Eingrenzung des Begriffs des Rechtstransfers siehe unten B. II. 2 Der Begriff „legal transplant“ und die Debatte um diesen Begriff wird meist mit dem Rechtshistoriker Alan Watson in Verbindung gebracht. Rechtsrezeptionen waren allerdings schon lange Zeit vor der Veröffentlichung von Watsons „Legal Transplants: An Approach to Comparative Law“ Gegenstand verschiedenster Untersuchungen. Für die Analyse der Rezeptionen von Römischem Recht im europäischen Raum und deren Folgen ist insbesondere Koschaker zu erwähnen (z. B. Koschaker, Europa und das Römische Recht). Im Zusammenhang mit der Debatte zu Harmonisierungen und Rechtsübernahmen in den Kolonialgebieten, wie auch schon zum Römischen Recht, ist Walton als Herausgeber des Journal of Comparative Legislation and International Law hervorzuheben. Dieser nutzte wohl auch als erster die Methapher „transplantation“ für die Übernahme – oder Verpflanzung – fremden Rechts. Eine gute Zusammenfassung von Waltons Arbeit findet sich bei Cairns, Georgia Journal of International and Comparative Law 41 (2014), 637 (688 ff.). Hinzu kamen viele Autoren wie Hirsch, die das Phänomen Rechtstransfer an konkreten Rezeptionsvorgängen analysierten. 3 Vgl. nur Kischel, Rechtsvergleichung, S. 63 Rn. 34. 4 Schon im 17. Jahrhundert v. Chr. gab es Rechtsrezeptionen. Dies zeigt Watson unter anderem an einer Bestimmung aus dem sumerischen Gesetz von Hammurabi, das eine deutliche Ähnlichkeit zu einem etwa hundert Jahre älteren Gesetz von Eschnunna aus dem Zweistromland hat. Für Watson deutet dies auf eine Rechtsrezeption hin. Watson, Legal Transplants, S. 22 ff. Zum Einfluss des griechischen Rechts auf das Römische Recht, vgl. Barta, „Graeca non leguntur?“, S. 511 ff. 5 So die Formulierung bei Mistelis, International Lawyer 34 (2000), 1055 (1057).
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A. Einleitung
Lebensbedingungen und der damit verbundenen juristischen Aufgabenstellungen des Staates erhöht die Attraktivität von Rechtsrezeptionen.6 Kulturelle Annäherungsprozesse und der Abbau von Informations- und Sprachgrenzen haben zudem positive Auswirkungen auf die Zugänglichkeit zu fremdem Recht. In Zeiten von gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen – wie etwa nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion in den Neunzigerjahren7 – haben Staaten umfassende Rechtsübernahmen vollzogen, um möglichst effektive und zügige rechtliche Reformen einzuleiten. Auch bei weniger umfassenden Normvorhaben berücksichtigen Rechtsetzer immer häufiger fremde Lösungen oder übertragen sie sogar in ihr eigenes Rechtssystem. Rechtstransfers sind somit Teil des politischen Alltagsgeschäfts geworden. Die Übertragung fremden Rechts kann den Rechtsetzer aber auch vor Probleme stellen. Diese Arbeit wird sich mit der Frage näher befassen, wie solche Probleme antizipiert bzw. bewältigt werden können. Das genaue Erkenntnisinteresse und die methodische Vorgehensweise sollen sogleich näher thematisiert werden. Davor lohnt sich aber noch ein kurzer Überblick über weitere Perspektiven, aus denen sich die Wissenschaft mit dem Phänomen des „legal transplant“ beschäftigt. Eine solche Übersicht erscheint zum einen sinnvoll, um die Thematik dieser Arbeit innerhalb des Spektrums dieser unterschiedlichen Betrachtungsweisen einzuordnen. Zum anderen können dadurch bereits einige Themengebiete vorgestellt werden, auf die im Laufe der Arbeit noch Bezug genommen wird. Rechtstransfers spielen im Bereich der Rechtsgeschichte eine bedeutende Rolle. Die Rechtsgeschichte setzt sich zum einen mit dem dogmatischen Gehalt konkreter Rechtsübernahmen oder deren historischen Wurzeln auseinander.8 Zum anderen versucht sie, Rechtstransfers als Teil eines großen historischen Gesamtbildes zu erfassen.9 Dabei ist es das Ziel, mithilfe von Rezeptionen ein besseres Verständnis für historische Rechtsentwicklungen zu erlangen. Auch die Ideen von „Rechtskreisen“ oder „Rechtsfamilien“ entstammen zum großen Teil einer systematischen (und historischen) Betrachtung von überregionalen Rechtseinflüssen.10 Europäische Rechtswissenschaftler werfen traditionell ein besonderes Augenmerk auf die Verbreitung und Rezeption des Römischen 6
Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 15. Rezeptionen durch Länder der ehemaligen Sowjetunion vgl. unter anderem: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum; Jessel-Holst/Kulms/Trunk, Private Law in Eastern Europe; Kviatek, Explaining Legal Transplants; Fodor, Rechtsreform durch Normtransplantation in Mittel- und Osteuropa. 8 Kaiser, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 391 (402) unter Bezugnahme auf Kaden, Rechtsvergleichung, S. 16 ff.; Zimmermann, in: Hewett/ Zimmermann (Hrsg.), Larva legis aquiliae, S. 49; Lohsse, in: Shin (Hrsg.), Rezeption europäischer Rechte in Ostasien, S. 19. 9 Z. B. Watson, American Journal of Comparative Law 44 (1996), 335; Watson, Roman law & comparative law. 10 Zu den verschiedenen Rechtskreisen und deren Beeinflussung durch Rezeptionen vgl. 7 Zu
I. Grundlagen
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Rechts innerhalb Europas.11 Andere haben die Rezeption und Entwicklung des „Common Law“ analysiert. Dazu gehört vor allem der Einfluss des britischen „Kolonialexports“ auf die Rechtsentwicklung vieler Jurisdiktionen.12 Die Erkenntnisse aus diesen rechtsgeschichtlichen Untersuchungen werden aktuell auch für Harmonisierungsbestrebungen genutzt. Dazu gehört etwa das Projekt eines einheitlichen oder zumindest angeglichenen europäischen Privatrechts auf der Grundlage eines gemeinsamen „Common Cores“.13 Teilweise wird sich mit dem Phänomen Rechtstransfer befasst, um die Rolle von Recht als Instrument für gesellschaftlichen und rechtlichen Wandel besser zu verstehen.14 In seiner viel beachteten Monografie Legal Transplants. An Approach to Comparative Law stößt Watson diese Debatte eher beiläufig an. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf einer rechtsgeschichtlichen Aufarbeitung der Entwicklung des (insbesondere Römischen) Privatrechts innerhalb Europas. Ein Ergebnis seiner jahrelangen Studien ist, dass die Übertragung von Recht den Hauptfaktor für rechtlichen Wandel darstellt.15 Eine weitere Schlussfolgerung: „Law is socially easy. [Laws] move easily and are accepted into the system without too great difficulty. This is so even when the rules come from a very different kind of system.“16
Recht könne also grundsätzlich ohne große Schwierigkeiten von einem Rechtssystem in ein anderes übertragen werden, selbst wenn sich die Systeme sehr deutlich voneinander unterscheiden. Fremdes Recht könne sich ohne Weiteres in neue soziale Rahmenbedingungen einfügen. Diese These entfachte eine neue Debatte um die Frage des Verhältnisses von Recht und Gesellschaft. Für viele war sie eine Gegenposition zur sogenannten „Spiegel-Theorie“ Montesquieus.17 Diese besagt, dass Recht ein Abbild gesellschaftlicher Strukturen und etwa Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 96 ff., 214 ff.; Constantinesco, Rechtsvergleichung, S. 462 ff. 11 Zur Verbreitung des Römischen Rechts in Europa und zu seinen Auswirkungen auf die heutigen Rechtssysteme: Koschaker, Europa und das Römische Recht; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit; mit Blick auf die kulturellen Einflüsse: Zimmermann, Juristenzeitung 2007, 1. 12 Vgl. dazu beispielhaft Nelson, The Common Law in Colonial America; Stoebuck, William & Mary Law Review 10 (1968), 393. 13 Dazu etwa Zimmermann, Roman Law, Contemporary Law, European Law. 14 Diese Debatte wurde insbesondere durch das Law and Developlement Movement in den 1970er Jahren angestoßen. Vgl. dazu grundlegend: Burg, American Journal of Comparative Law 25 (1977), 492; Merryman, American Journal of Comparative Law 25 (1977), 457. 15 „Transplanting is, in fact, the most fertile source of development.“ Watson, Legal Transplants, S. 95. 16 Watson, Legal Transplants, S. 95 f. 17 Bereits ohne direkten Bezug auf Watson: Kahn-Freund, The Modern Law Review 37 (1974), 1 (6); Als Reaktion auf Watson vgl. nur: van Wallendael, in: Filipiak, Agnieska/Kania, Eliza/Van den Bosch, Jeroen/Wiśniewski, Rafał (Hrsg.), Evolving dependency relations, S. 75 (77); Ewald, The American Journal of Comparative Law 43 (1995), 489; Jupp, Cambridge Journal of International and Comparative Law 2014, 381 (393).
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A. Einleitung
daher jedem Staat eigen sei (esprit général). Die Gesetze verschiedener Nationen unterscheiden sich gemäß Montesquieu nach den natürlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Begebenheiten.18 Watson beschreibt Recht hingegen als ein relativ eigenständiges, von gesellschaftlichen Entwicklungen losgelöstes Instrument. Er widerspricht damit der Idee, dass sich Recht als Spiegelbild des „Volksgeistes“ in einer Gesellschaft verfestigt. Dieser Trennung zwischen Recht und Kultur stimmen einige Autoren nicht zu. So etwa Legrand, der die „Unmöglichkeit von Rechtstransfers“ behauptet.19 Seine Argumentation: Der Inhalt einer Regel, die übertragen werden soll, trage die Kultur des Geberlandes in sich. Da der „kulturelle Teil“ der Regel aber der Kultur des Geberlandes eigen sei, könne dieser Teil nicht „mitübertragen“ werden. Da dieser „kulturell aufgeladene Teil“ der Regelung aber selbst für den Inhalt der Regelung unabdingbar sei, schlage die Übertragung schließlich fehl.20 Ob man diese These überzeugend findet oder nicht, sei dahingestellt.21 Jedenfalls gab sie den Anstoß für eine konzeptionelle Debatte, an der sich eine Vielzahl von Rechtsvergleichern und Rechtssoziologen beteiligte.22 Einzelheiten können hier außer Betracht bleiben. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich die 18 La Montesquieu, De l’Esprit des Lois, Buch 1, Kapitel 3 (Des lois positives) S. 8. „Elles doivent être tellement propres au peuple pour lequel elles sont faites, que c’est un très-grand hasard si celles d’une nation peuvent convenir à une autre. […] Elles doivent être relatives au physique du pays, au climat glacé, brûlant ou tempéré; à la qualité du terrain, à sa situation, à sa grandeur, au genre de vie des peuples, laboureurs, chasseurs ou pasteurs: elles doivent se rapporter au degré de liberté que la constitution peut souffrir; à la religion des habitants, à leurs inclinations, leurs richesses, à leur nombre, à leur commerce, à leurs mœrs, à leurs maniéres.“ Übersetzt: „Sie [gemeint: das politische (öffentliche) Recht und das Zivilrecht jeder Nation] sollten so genau auf das Volk, für das sie gemacht werden, zugeschnitten sein, dass es reiner Zufall wäre, wenn die Gesetze einer Nation die Bedürfnisse einer anderen Nation befriedigen würden […] Sie sollten abhängig von der Geographie des Landes sein, zu seinem Klima, ob kalt, tropisch oder mild; zu der Beschaffenheit des Landes, seiner Situation, seiner Größe; zu der Lebensform des Volkes, ob Bauern, Jäger, oder Schäfer; sie sollten abhängig zu dem Grad an Freiheit sein, die die Verfassung aushalten kann; zur Religion seiner Bewohner, zu seinen Neigungen, seinem Wohlstand, seiner Bevölkerungsanzahl, dem Handel, Gebräuche und Verhaltensweisen.“ 19 Legrand, Maastricht Journal of European and Comparative Law 4 (1997), 111 Legrand, in: Nelken/Feest, Adapting Legal Cultures, S. 57 ff. 20 Legrand, in: Nelken/Feest (Hrsg.), Adapting Legal Cultures, S. 57. 21 Der Schlussfolgerung, Rechtstransfers seien unmöglich, ist nicht zu folgen. Die von Legrand formulierte Erkenntnis, dass Recht kulturell geprägt ist, stellt nicht das Ende, sondern gerade einen Ansatz der Erforschung von Rechtstransfers dar: Wie und in welchem Ausmaß verändern sich Rechtsregeln bei ihrer Übertragung? So Kischel, Rechtsvergleichung, S. 67 Rn. 38. Richtig ist auch Kischels Erkenntnis, dass Legrand einen im Vergleich zu Watson deutlich enger gefassten Begriff von Rechtstransfer nutzt. Scheinbar sind für Legrand Übernahmen, die schlussendlich nicht komplett identisch sind, sondern etwa an das neue Rechtssystem angepasst wurden, keine Rechtstransfers. Dazu noch unten B. II. 22 Beispielhaft: Kahn-Freund, The Modern Law Review 37 (1974), 1; Ewald, The American Journal of Comparative Law 43 (1995), 489.
I. Grundlagen
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Diskussion um das Spannungsverhältnis zwischen zwei unterschiedlichen Konzepten von legal transplants dreht: Auf der einen Seite steht ein eher zuversichtlicher Ansatz, nach dem Rechtsübertragungen das wichtigste Instrument für gesellschaftlichen Wandel darstellen (Watson); auf der anderen Seite steht ein eher pessimistischer Ansatz, nach dem Recht stark kulturell behaftet ist und somit grundsätzlich nur schwierig (oder gar „unmöglich“) zu übertragen ist (Legrand). Diese Ansätze stehen einander als Extrempositionen diametral gegenüber. Das dadurch gekennzeichnete Spannungsfeld bietet im Weiteren eine wichtige Grundlage für die methodische Herangehensweise an das Thema Rechtstransfer. Weder ein für vorbehaltlos möglich gehaltener Rechtstransfer (Watson) noch die allzu restriktive Auffassung Legrands tragen dem Umstand Rechnung, dass es sich bei einem Rechtstransfer um einen iterativen Prozess handelt, in welchem eine gegenseitige Angleichung von Recht und Gesellschaft stattfindet und der damit eine differenzierte Betrachtungsweise erforderlich macht. Deutlich weniger theoretisch befasst sich die klassische Rechtsvergleichung23 (auf Mikroebene24) mit dem Phänomen der Rechtsübernahme. In der Rechtsvergleichung wird nach Gründen für eine bestimmte Ausgestaltung des Rechts sowie dessen Funktion gefragt.25 Sie ist insbesondere bei der gedanklichen Vorarbeit aber auch im Implementationsprozess der zu übertragenen Regeln von Bedeutung. Eine wiederum andere Perspektive auf das Thema Rechtstransfer nehmen schließlich die Untersuchungen bestimmter Rezeptionsprozesse und deren Auswirkungen auf das rechtliche und soziale Umfeld des Rezipienten ein. Damit werden auch spezifische durch Rechtstransfers hervorgerufene Probleme identifiziert und analysiert.26 Diese „Länderberichte“27 sind oft verbunden mit rechtspolitischen Empfehlungen. Teilweise werden sie jedoch auch als Instrument genutzt, um induktive Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Gelingensbedingungen für Rechtstransfers im Allgemeinen zu ziehen. 23 Die Rechtstransferforschung gehört nicht unmittelbar zur Rechtsvergleichung, „sondern zu ihrer Auswertung zur Ermittlung bestimmter ursächlicher Faktoren.“ Vgl. Strebel, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 405 (407). 24 In der rechtsvergleichenden Methodik stellt die sogenannte „Mikroebene“ die Analyse eines bestimmten Rechtsproblems anhand zweier (oder mehrerer) Rechtssysteme dar. Die sogenannte „Makroebene“ repräsentiert den Vergleich unterschiedlicher Rechtskreise und Rechtsfamilien. Vgl. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 4. 25 Dazu grundlegend: Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 12 ff., 31 ff. 26 Für diese Arbeit besonders bedeutende Autoren in diesem Bereich sind etwa Hirsch, Käerdi, Inoue oder Matsui. Auf sie wird diese Arbeit an vielen Stellen zurückkommen. 27 Vgl. statt vieler Fleischer, Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht 7 (2004), 1129; Kurzynsky-Singer/Zarandia, in: Kurzynsky-Singer (Hrsg.), Transformation durch Rezeption?, S. 107; Markovits, Cornell International Law Journal 34 (2004), 95; Varul, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 51; Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan; Loeber, in: Basedow/Drobnig/Elger/Hopt/Kulms/Kötz/Mestmäcker (Hrsg.), Aufbruch nach Europa, S. 943; Mikk, Jahrbuch für Ostrecht 42 (2001), 31; Dupré, Importing the Law in Post-Communist Transitions.
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A. Einleitung
Eine weitere – bislang eher kleinere – Gruppe in der Literatur befasst sich mit der Frage, wie der (gesetzgeberische) Prozess eines Rechtstransfers in der Praxis ausgestaltet sein muss. Die Disziplin steht vor der Herausforderung, die Eigenheiten von Rechtstransfers für die Gesetzgebungstechnik herauszuarbeiten. Teilweise wird versucht, Theorien aus der Rechtsvergleichung mit bewährten Systemanalysen aus den Sozialwissenschaften oder der Gesetzgebungstheorie zu verknüpfen. Ziel dabei ist es, Vorschläge und Leitlinien zur Optimierung des Gesetzgebungsprozesses zu entwickeln.“28 Zusammengefasst ergibt sich also das folgende Bild: Rechtstransfers sind für Rechtshistoriker interessant, da Rezeptionen fremden Rechts zu einem der wichtigsten Motoren für Rechtsentwicklungen gehören. Die (Rechts-)Soziologie beschäftigt sich mit Rechtstransfers in zweierlei Perspektiven: Dabei geht es zum einen um die Debatte „Recht als (geeignetes?) Instrument für sozialen Wandel“, zum anderen um die Analyse (konkreter) sozialer Auswirkungen durch die Übernahme fremden Rechts. Mit der (funktionellen) Rechtsvergleichung und der Gesetzgebungslehre kommen schließlich noch zwei Perspektiven hinzu, die sich dem Thema Rechtstransfer aus einer methodischen Sicht nähern. Diese Arbeit wird sich mit dem Phänomen „Rechtstransfer“ aus einer abermals anderen Perspektive befassen: Es geht um mögliche Wege, um Probleme bei Rechtstransfers, mit denen Rechtsetzer bei der Übernahme von fremdem Recht konfrontiert sind, besser zu verstehen. Diese Perspektive ist eng verknüpft mit den soeben vorgestellten anderen Bereichen der „Rechtstransferforschung“. Daher wird an vielen Stellen auf deren Erkenntnisse zurückgegriffen werden. Von „Problemen“ bei Rechtstransfers ist die Rede, wenn bestimmte Faktoren die Aufnahme des Rechts im System des Rezipienten verhindern oder erschweren. Möchte ein Rechtsetzer fremdes Recht kopieren, will er regelmäßig nicht nur eine „leere Hülse“ an Worten übertragen. Häufig geht es ihm um die Übertragung eines konkreten, erfolgreich geregelten Zustands, den er in der ausländischen Rechtsordnung beobachtet hat und den er für seine eigene Rechtsordnung anstrebt. Dabei stößt er jedoch häufig auf soziale und strukturelle Rahmenbedingungen im Exportland, die sich von den Rahmenbedingungen in seiner eigenen Rechtsordnung erheblich unterscheiden. Jene Unterschiede verursachen in der Folge häufig Probleme bei der Übertragung dieses fremden Rechts. Die zu übertragende Norm erhält nicht selten einen anderen Inhalt als in ihrer Ursprungsform. Denn dieser Inhalt wird nicht nur durch die Rechtskultur, in der sie rezipiert wird, sondern auch durch den gesellschaftlichen Diskurs beeinflusst.29 Oft stellen sich die Probleme sogar noch zu einem früheren Zeit28 29
Z. B. Xanthaki, International & Comparative Law Quarterly (2008), 659. Teubner, in: Snyder (Hrsg.), The Europeanisation of Law, S. 243; Kurzynsky-Singer, in: Kurzynsky-Singer (Hrsg.), Transformation durch Rezeption?, S. 4 (6).
II. Erkenntnisinteresse
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punkt: Denn erste Vorbedingung jeden Rechtstransfers ist die Vorkenntnis und schließlich das Verständnis des vorgesehenen Rechts in seinem ursprünglichen Rechtskontext. Insbesondere ein profundes Verständnis des Rechts als Teil der ausländischen Rechtswirklichkeit ist häufig schwierig zu erlangen. Wie kann man versuchen, diesen Problemen im Zusammenhang mit Rechtsübertragungen zu begegnen? Hilfreich wäre ein Instrument, mit dem man die Erfolgsaussichten einer ins Auge gefassten Rechtstransplantation voraussehen kann. Eine solche Prognose gestaltet sich jedoch häufig als schwierig.30 Sie stößt schon aufgrund der Vielzahl an möglichen externen Faktoren, die auf den Rechtstransfer nach seiner Implementation einwirken können, an Grenzen. Eine exakte „Vorhersage“ kann somit nicht der Anspruch an die Problemursachenforschung von Rechtstransfers sein. Ihr Anspruch liegt vielmehr darin, in einem ersten Schritt ein besseres Verständnis für die Vielfältigkeit des Phänomens zu erarbeiten. Zudem wird sie sich mit der Frage befassen, in welchen spezifischen Konstellationen typischerweise Probleme bei der Übertragung fremden Rechts auftreten. Sie kann schließlich die Grundlage für eine Strategie bilden, die uns dabei hilft, aus geglückten, problembehafteten oder gar gescheiterten Rechtstransfers Lehren zu ziehen. Dies führt zum Erkenntnisinteresse dieser Arbeit.
II. Erkenntnisinteresse Ziel der Arbeit ist es, Probleme, mit denen Rechtsetzer bei der Übernahme von fremdem Recht konfrontiert sind, mithilfe von Typologien und Erfahrungswerten verständlicher zu machen. Die Arbeit soll die Grundlage für ein handhabbares Instrument liefern, welches Rechtsetzer für typische Problemkonstellationen sensibilisieren kann. Rechtstransfers können in einer Vielzahl von unterschiedlichen Formen auftreten. Wollen wir die Ursachen von Problemen bei Rechtstransfers verstehen, können wir Rechtstransfers nicht als ein Phänomen oder Konzept betrachten, sondern als eine Art Sammelbegriff für eine Vielzahl von verschiedenen Vorgängen. Jede Facette eines Rechtstransfers verdient daher eine eigenständige Betrachtung. Um eine systematische Herangehensweise zu ermöglichen, ist daher eine „Aufspaltung“ des Begriffs „Rechtstransfer“ notwendig. Ein dafür geeignetes Instrument ist die Bildung von Typologien. Die Möglichkeiten, Rechtstransfers in bestimmte Typen aufzuspalten und zu ordnen, sind allerdings theoretisch unbegrenzt.31 Die Arbeit soll sich daher auf zwei Typologien fokus30 Kurzynsky-Singer, Transformation der russischen Eigentumsordnung, S. 20. 31 Typen können in einem beliebigen Bezug zum Phänomen Rechtstransfer gebildet
werden. Mögliche Kategorien reichen von bestimmten Merkmalen der inhaltlichen Ausgestaltung bis hin zu – für das Verständnis von Rechtstransfer womöglich weniger brauchbaren – Katego-
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A. Einleitung
sieren, die sich zur Sensibilisierung für Problemrisiken und Lösungsstrategien besonders eignen: Die erste Typenbildung befasst sich mit den unterschiedlichen Ursachen, die für Probleme bei Rezeptionen verantwortlich sein können. Dafür ist ein Blick auf den gesamten Rechtstransferprozess notwendig. Dieser umfasst nicht nur den Rechtssetzungsakt, sondern auch den Zeitraum vor der Implementation des Rechtstransfers und den Zeitraum danach. Die zweite Typenbildung befasst sich mit unterschiedlichen Merkmalen von Rechtstransfers, die potenzielle Verbindungen zu Problemursachen aufweisen können. Bei diesen Merkmalen handelt es sich um Hintergründe, Motivationen und Inhalte von Rechtstransfers sowie deren Art der Übertragung. Ziel der Arbeit ist es, das Grundgerüst für eine solche „problemorientierte Rechtstransfertypologie“ zu legen. Beide Typologien können gemeinsam die Grundlage für ein sogenanntes Aufmerksamkeitsraster darstellen. Mit diesem Raster sollen Problemkonstellationen (oder auch Erfolgskonstellationen) bei früheren Rechtstransfers abgebildet werden. Damit werden dem Rechtsetzer Erfahrungswerte zur Verfügung gestellt, die er bei eigenen Rechtstransfervorhaben nutzen kann. Das Aufmerksamkeitsraster kann den Rechtsetzer insbesondere dadurch unterstützen, indem es ihn auf bestimmte wiederkehrende Problemkonstellationen hinweist. Wie die Rechtswissenschaft durch den Gebrauch von Typologien an diese Erfahrungswerte gelangen könnte, soll in dieser Arbeit vertieft werden. Zudem soll skizziert werden, wie dieses Raster – für den Fall, dass genügend Erfahrungswerte zur Verfügung stehen – von Rechtsetzern bei ihrem eigenen Rechtstransferprojekt angewandt werden kann. Schließlich sind einige Strategien vorzustellen, die zur Vermeidung von Problemen bei Rechtstransfers beitragen können. Dazu gehört insbesondere auch die Frage, wann es sinnvoll sein kann, das fremde Recht in lediglich modifizierter Form zu übertragen.
III. Gang der Darstellung Zunächst wird in einem ersten Schritt in die vier wichtigsten Rezeptionsbeispiele eingeführt, die als Referenzgebiete zur Veranschaulichung von Problemen und Merkmalstypen dienen sollen. Diese Darstellung ist ein weiterer Teil der Einleitung (A. IV.). Im ersten Teil der Arbeit (B., C. und D.) werden dann die Grundlagen für das Modell eines Aufmerksamkeitsrasters entwickelt. Hierfür ist es erforderlich, den Untersuchungsgegenstand „Rechtstransfer“ für diese Arbeit zu präzisieren (B.). Anschließend werden die beiden Typologien ausgearrien wie etwa die Anzahl der Bearbeiter eines Rechtstransfers bei seiner Erstellung. Dementsprechend gilt es, eine Vorauswahl zu treffen, die dem Erkenntnisinteresse dient.
IV. Einführung in die Fallbeispiele
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beitet und veranschaulicht. Die erste Typologie kategorisiert die unterschiedlichen Problemursachen, wie sie bei Rechtstransfers auftauchen können (C.). Die zweite typisiert unterschiedliche Merkmale von Rechtstransfers, die bei der Entstehung von Problemen relevant werden können (D.). Auf Grundlage dieser Typologien wird schließlich die Grundidee eines Aufmerksamkeitsrasters vorgestellt. Dieses Raster soll den Rechtsetzer auf der Grundlage von Erfahrungswerten für Probleme und auch mögliche Lösungsmöglichkeiten sensibilisieren (E. I.). Wie ein solches Raster aussehen und funktionieren kann, sobald nach der vorgeschlagenen Methode ausreichend Erfahrungswerte zur Verfügung stehen, wird im zweiten Teil der Arbeit aufgezeigt (E. II.). In diesem Rahmen wird auch auf die möglichen „Best-Practice-Strategien“ einzugehen sein. Einen besonderen Blick verdient dabei die Frage, wann Recht („nur“) in modifizierter Form übertragen werden sollte. Zum methodischen Vorgehen bleibt noch folgendes klarzustellen: Die Typologien und die daraus entwickelnden Konzepte ergeben sich aus Beobachtungen und Analysen anderer Wissenschaftler sowie der im Rahmen dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse. Sie werden an Beispielen veranschaulicht, aber nicht durch empirische Studien belegt. Die Konkretisierung und Weiterentwicklung der Problemkategorien und der Typologien mittels der Empirik bleibt der rechtsvergleichenden Wissenschaft vorbehalten.
IV. Einführung in die Fallbeispiele Die Typologien, die den Schwerpunkt dieser Arbeit darstellen, sollen nicht lediglich abstrakt besprochen, sondern an konkreten Beispielen veranschaulicht werden. Hierfür werden verschiedene Rezeptionsbeispiele aus der Vergangenheit und auch der Gegenwart herangezogen. Ein großer Teil dieser Veranschaulichung wird an den nachfolgenden Beispielen vorgenommen werden: – Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches in der Türkei im Jahr 1926; – Rezeption der sogenannten MacArthur-Verfassung in Japan im Jahr 1946; – Übernahme des deutschen Sachenrechts in Estland von 1992; – Übernahme des US-amerikanischen Konzepts der unabhängigen Regulierungsbehörden über das EU-Recht nach Deutschland. An ihnen lassen sich eine Vielzahl von Problemursachen, Rechtstransfermerkmale und Problemvermeidungsstrategien darstellen. Ergänzend werden auch weitere Rezeptionsbeispiele zur Veranschaulichung hinzugezogen. In diese wird dann an der jeweiligen Stelle kurz eingeführt. Angesichts ihrer zahlreichen unterschiedlichen Merkmale sind diese vier „Hauptrezeptionsbeispiele“ geeignet, um ein breites, möglichst repräsentatives
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A. Einleitung
Spektrum an Rechtstransferproblemen und -typen abzudecken. Sie alle erfolgten in verschiedenen historischen Kontexten und Rechtsgebieten. Die Türkei rezipierte das gesamte schweizerische ZGB und Obligationenrecht. Die Ausführungen werden sich hier allerdings überwiegend auf Fragen des Familienund Erbrechts konzentrieren. Bei der japanischen Rezeption der MacArthurVerfassung handelt es sich um die Übernahme von Verfassungsrecht. Estland rezipierte mit dem Sachenrecht zivilrechtliche Regelungen aus Deutschland. Die Rezeption des Konzepts der unabhängigen Regulierungsbehörden aus den USA dreht sich vornehmlich um den Bereich des Wirtschaftsverwaltungsrechts. Jede der Rezeptionen fand zudem in einem anderen „Rechtskreis“ statt: Die Rezeption in der Türkei traf auf eine damals islamisch geprägte Rechtskultur. Die Übernahme der „MacArthur-Verfassung“ erfolgte im ostasiatischen Japan, die des deutschen Sachenrechts in Estland fand im sowjetisch-sozialistischen Rechtskreis statt. Die Rezeption der unabhängigen Regulierungsbehörden fand in Deutschland statt, wird aber – wie noch zu sehen ist – durch europäische Richtlinienvorgaben überlagert. In den meisten der Beispiele unterscheidet sich zudem die „Rechtskultur“ des Exporteurs von der des Rezipienten. Die Verfassung Japans sowie das Modell der unabhängigen Regulierungsbehörden stammen aus den Vereinigten Staaten also aus dem angelsächsischen Common-Law-Raum. Das türkische Zivilgesetzbuch sowie das deutsche Sachenrecht stammen aus der mitteleuropäischen Rechtskultur, die ihre Wurzeln vor allem im Römischen Recht hat. Bei drei der oben genannten Beispiele handelt es sich um Totalrezeptionen – also um die Übernahme ganzer Gesetzbücher. Lediglich die Rezeption des Konzepts der unabhängigen Regulierungsbehörden in Deutschland aus den USA stellt eine Teilrezeption dar. Anders als zu Zeiten der Kolonialisierung oder des Umbruchs ganzer Gesellschaftssysteme sind Totalrezeptionen heutzutage weniger häufig anzutreffen. Es gibt jedoch auch einige aktuelle Beispiele wie die Übernahme der europäischen Datenschutzgrundverordnung in vielen Ländern.32 Schließlich haben die Rezeptionsbeispiele unterschiedliche Erfolgsgrade. Während die Rezeption in Japan von einigen als (in Teilen) gescheiterte Rezeption erklärt wird, die Türkei ein durchwachsenes Bild abgibt, gilt die Arbeit der Esten bei der Übernahme deutscher Sachenrechtsnormen als überwiegend erfolgreich.33 Die Übernahme des US-amerikanischen Independent-Regulatory-Agency-Konzepts ist hingegen noch gar nicht EU-richtlinienkonform vollzogen worden.34 Es wird sich zeigen, dass die Veranschaulichung von Problem32
Vgl. nur Walters/Trakman/Zeller, Data Protection Law, S. 428 ff. Zu den Gründen sogleich unten. 34 Man kann sie jedoch auch als „vorerst gescheitert“ einstufen, da das deutsche System – jedenfalls nach Einschätzung der Europäischen Kommission – die Richtlinienvorgaben nicht umgesetzt hat. Auch dazu sogleich unten. 33
IV. Einführung in die Fallbeispiele
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ursachen und Typenmerkmalen eher den ersten beiden Rezeptionsbeispielen zufällt. Das estnische Beispiel wird vor allem bei den Strategieansätzen am Ende der Arbeit zur Geltung kommen.
1. Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB)35 in der Türkei Im Jahr 1926 beschloss die türkische Regierung unter Atatürk, die Erarbeitung eigener türkischer Gesetzbücher einzustellen36 und stattdessen europäische Kodifikationen zu übernehmen.37 Dafür gab es zum einen praktische aber vor allem politische Gründe. Die privatrechtlichen Regelungen des Osmanischen Reichs galten als unübersichtlich. Das Gesetzesrecht war lückenhaft und überschnitt sich häufig mit dem islamischen Recht (Schariʿa). Dies führte in einem erheblichen Maße zu Rechtsunsicherheit. Hinzu kam, dass für unterschiedliche Glaubensgruppen unterschiedliches Zivilrecht galt. Für Christen, Juden und Muslime galten unterschiedliche Normen vor unterschiedlichen Gerichten. Ein weiterer und wohl weitaus wichtigerer Grund für die Entscheidung, fremdes Recht zu transplantieren, war der politische Reformwille Atatürks. Die Übernahme des schweizerischen ZGB erfolgte in der Absicht einer radikalen Modernisierung der türkischen Lebensverhältnisse.38 An Stelle der seit Jahrhunderten geltenden islamischen Rechtsgewohnheiten, die von den Reformgesetzen der letzten Sultane des Osmanischen Reiches kaum berührt worden waren, sollte ein Gesetzbuch treten, das auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft 35 Gegenstand der Transplantation war das schweizerische Zivilgesetzbuch ebenso wie das Obligationenrecht. Das Obligationenrecht stellt – im Gegensatz zum schweizerischen System – keinen formellen Bestandteil des Zivilgesetzbuches dar, sondern wird als dessen Ergänzung verstanden (vgl. Vasella, in: Vasella (Hrsg.), Werte im Recht – Das Recht als Wert, S. 239 (244); Hamza, Anuario da Facultade de Dereito da Universidade da Coruña 10 (2006), 557 (564). Diese Arbeit wird sich weit überwiegend mit Beispielen aus dem ZGB befassen, sodass im Folgenden aus Einfachheitsgründen von der Rezeption des schweizerischen ZGB gesprochen wird. Zu Anwendungs- beziehungsweise dogmatischen Verständnisproblemen beim Obligationenrecht vgl. Hirsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 65 (1968), 182 (189 ff.). 36 Zu den Gründen des türkischen Gesetzgebers, die Arbeiten an einer heimischen Gesetzgebung einzustellen vgl. Erman, in: Kieser/Meier/Stoffel (Hrsg.), Revolution islamischen Rechts, S. 159 (160). 37 Eine ausführliche Einführung in das Thema „ZGB-Rezeption der Türkei“ findet sich bei Atamer, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 723 (731 ff.); Vasella (Hrsg.), in: Vasella (Hrsg.), Werte im Recht – Das Recht als Wert, S. 239 (244 ff.); Krüger, in: Scholler/Tellenbach (Hrsg.), Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach der Gründung, S. 125. 38 Krüger, in: Scholler/Tellenbach (Hrsg.), Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach der Gründung, S. 125 (130) Bülent, in: Kieser/Meier/Stoffel (Hrsg.), Revolution islamischen Rechts, S. 59; Plagemann, in: Kieser/Meier/Stoffel (Hrsg.), Revolution islamischen Rechts, S. 27.
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A. Einleitung
von ganz anderer sozialer, religiöser und wirtschaftlicher Struktur zugeschnitten war.“39 Bezeichnend hält Mahmut Esat Bozkurt in seinem Begründungsprotokoll fest: „Die Türkei ist fest entschlossen, die moderne Zivilisation mit allen ihren Grundsätzen zu übernehmen. Wenn manches an der Zivilisation als unvereinbar erscheint mit den Verhältnissen und Anschauungen in der türkischen Gemeinschaft, so liegt das nicht an einem Mangel der Fähigkeit der Türken sich diese Errungenschaften anzueignen, sondern an der mittelalterlichen Verfassung, an den geistlichen Gesetzen und Institutionen, die die Türkei fest umklammern.“40
15 Jahre nach der Verabschiedung des türkischen Zivilgesetzbuches konstatierte derselbe: „Da die türkische Nation ein Mitglied der Familie der zivilisierten Nationen ist und unbedingt sein muss, muss man bedingungslos und ohne Vorbehalte die Rechtssysteme dieser Länder sich zu eigen machen. So wie derjenige, der einem Klub oder einer Partei beitritt, die Ordnung und die Prinzipien des Klubs oder der Partei akzeptiert und sich zu eigen macht, besteht für einen Staat, der um den Eintritt in die zivilisierte Gesellschaft kämpft, der Zwang zur Aneignung der Erfordernisse dieser Gesellschaft.“41
Die Rezeption verfolgte einerseits den Zweck, das Recht vom religiösen Glauben komplett loszulösen, andererseits die Aufnahme der westeuropäischen Kultur und Zivilisation zu fördern. Sie hatte eine erzieherische Funktion, um einen bestimmten Gesellschaftszustand herbeizuführen.42 Diese Bemühungen entsprangen jedoch nicht einer Volksbewegung. Auch wenn Bozkurt von einem Willen der „Türkei“ oder der „türkischen Nation“ spricht, bleibt es dabei, dass die Kulturbewegung hin zum Westen von einer zahlenmäßig verhältnismäßig kleinen Schicht Intellektueller getragen und vorangetrieben wurde.43 Weshalb sich die Türkei im Jahr 1926 ausgerechnet für die Rezeption des schweizerischen Zivilrechts entschied, ist in Teilen umstritten. Die amtliche Begründung des Justizministeriums zum türkischen Zivilgesetzbuch verweist darauf, dass das schweizerische Gesetzbuch „das neuste, vollkommenste und volkstümlichste“ sei.44 Nach Hirsch fiel die Wahl auf das schweizerische ZGB deshalb, weil der Justizminister Bozkurt selbst im schweizerischen Fri39
Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 176.
40 Abgedruckt bei Davran, in: International Committee of Comparative Law, Die Rezepti-
on des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 101. Übersetzung nach Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (143). 41 Bozkurt, in: Istanbul Üniversitesi yay (Hrsg.), Medeni Kanunun XV. Yıl Dönümü için, 7–20; Übersetzung bei Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 34. 42 Davran, in: International Committee of Comparative Law (Hrsg.), Die Rezeption des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 101 (102). 43 Davran, in: International Committee of Comparative Law, Die Rezeption des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 101 (119). 44 So die Übersetzung bei Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (142).
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bourg studiert hatte und ihm die Normen des ZGB dadurch bekannt waren.45 Andere verweisen darauf, dass die Existenz des schweizerischen ZGB in französischer Sprache ein bedeutender Vorteil war. Dieser waren viele türkische Juristen mächtig – was unter anderem auch durch die Rezeption einiger weniger französischer Gesetze in der Mitte des 19. Jahrhunderts bedingt war.46 Der schweizerische Rechtsvergleicher Sauser-Hall begründet die Entscheidung für das schweizerische ZGB hingegen mit den formalen Qualitäten des ZGB – insbesondere seiner Kürze und seiner Klarheit. Auch er betont, dass die französische Sprache in der Türkei weiter verbreitet gewesen sei als jede andere.47 Ebenfalls habe aus politischer Sicht einiges für die Schweiz gesprochen. Sie wurde als neutraler Staat gesehen, der nicht im Ersten Weltkrieg involviert und somit auch nicht Partei des Lausanner Vertrags war.48 Letztendlich war es wohl eine Mischung aus diesen Faktoren, die schließlich zur Übernahme des ZGB führte.49 Dieses wurde weitgehend wortwörtlich übernommen.50 Eine Anpassung an das türkische Rechtssystem fand nicht statt. Dabei unterliefen dem Gesetzgeber einige Fehler, die er erst im Laufe der Zeit korrigieren konnte. Teilweise waren dies Ungenauigkeiten bei der Übersetzung des (französischen) Texts des schweizerischen ZGB.51 Teilweise scheiterten die türkischen Verantwortlichen an der besonderen Systematik des schweizerischen Rechts. So stellten sie die punktuellen Verweise des schweizerischen ZGB in das kantonale Recht vor Schwierigkeiten.52 Schließlich verfehlten einige Normen ihre Wirkung, da die Gesellschaft sie ablehnte. Davon waren insbesondere die kulturell tief verwur45 Hirsch, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 116 (1954), 201– 218 (206); Singer, in: Gauch/Tercier (Hrsg.), Gauchs Welt, S. 263 (267). 46 Neumayer/Dopffel, Annales de la Faculté de Droit d’Istanbul 5 (1956), 53 (59). 47 Sauser-Hall, Recueil de travaux publiés par la Faculté de Droit de l’Université de Genéve 1938, 325 (345 f.). 48 Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (144); Vasella, in: Vasella (Hrsg.), Werte im Recht – Das Recht als Wert, S. 239 (248); Atamer, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 723 (733). 49 Eine ausführliche Analyse der Beweggründe bei Bandak, Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches in der Türkei, S. 74 ff. 50 Singer, in: Gauch/Tercier (Hrsg.), Gauchs Welt, S. 263 (267); Aslan, Rechtsgeschichte 7 (2005), 33; Zu den wenigen bewussten Abweichungen vom schweizerischen Originaltext, vgl. Çivi, in: Kieser/Meier/Stoffel (Hrsg.), Revolution islamischen Rechts, S. 187 (190). 51 Einige dieser terminologischen Fehler wirkten sich auf den materiellen Gesetzesinhalt aus. Ein Beispiel sind die Art. 680, 724 des türkischen ZGB (entsprechend Art. 706, 752 des schweizerischem ZGB). In der deutschen Version ist vom „Verschulden“ die Rede, was in der französischen Version mit dem Begriff faute übersetzt wurde. Der türkische Gesetzgeber übersetzte faute nicht sinngemäß mit „Irrtum“. Hinzu kam schließlich noch eine in sich inkonsistente Terminologie innerhalb des türkischen Gesetzestextes. Vgl. Velidedeoglu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 60 (62), Singer, in: Gauch/Tercier, Gauchs Welt, S. 263 (267). 52 Izveren, in: International Committee of Comparative Law, Die Rezeption des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 120 (127).
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zelten affektiven Bereiche des Kindesrechts und des Familien- und Erbrechts betroffen. In der Literatur wird von einer „allergischen Reaktion des Volkskörpers“ gesprochen.53 Für Hirsch – der sich wie kein zweiter mit der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei auseinandergesetzt hat – war die Übernahme des schweizerischen ZGB eine der lehrreichsten Rezeptionen der Geschichte.54 Das lag insbesondere an der Fremdheit des Rechts für die rezipierende Türkei. „Fremdes“ Recht bedeutete in diesem Fall nicht, dass Konzepte, Begriffe, Prinzipien und Regeln eingeführt wurden, die zwar anders systematisiert oder moderner formuliert waren, dem türkischen Juristen in seinem Grundverständnis jedoch einigermaßen vertraut waren. Es handelte sich vielmehr um Recht, das einem völlig andersartigen Kulturkreis entstammte und sich unter ganz anderen soziologischen und politischen Bedingungen entwickelt hatte.55 Die Übernahme des schweizerischen ZGB war erst der Anfang eines jahrzehntelangen Implementierungsprozesses. Die Türkei versuchte, das westliche Werteverständnis, das diesen Regelwerken zugrunde lag, zu adoptieren – ein Prozess, der sich angesichts des innenpolitischen Klimas der letzten Jahre wieder umzukehren scheint.56 Ob diese Rezeption erfolgreich war oder nicht, wird unterschiedlich beurteilt.57 Es überwiegen die Stimmen, welche die Rezeption – trotz aller Schwierigkeiten – als ein letztendlich gelungenes Rechtstransferprojekt beschreiben. Konsens ist jedoch auch, dass die Rezeption vor einigen Umsetzungsproblemen stand, die in Teilen vermeidbar gewesen wären. Die türkische Rezeption des schweizerischen ZGB bietet damit im Hinblick auf die unterschiedlichen Facetten und Probleme bei Rechtstransfers einiges an Veranschaulichungsstoff.
2. Die Rezeption der „MacArthur-Verfassung“ in Japan Nachdem Japan am 2. September 1945 mit Bezugnahme auf die Potsdamer Erklärung die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet hatte, begleiteten die Alliierten den Wiederaufbau und den politischen Reformprozess Japans. Federführend für die Alliierten waren die US-Amerikaner unter der Führung des 53 Neumayer/Dopffel, Annales de la Faculté de Droit d’Istanbul 5 (1956), 53 (60); Vasella, in: Vasella (Hrsg.), Werte im Recht – Das Recht als Wert, S. 239 (251). 54 Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, S. 97. 55 Widmer, in: Büren/Emmeneger/Koller (Hrsg.), Rezeption und Autonomie, S. 11 (12). 56 Vasella, in: Vasella (Hrsg.), Werte im Recht – Das Recht als Wert, S. 239 (250). 57 Lipstein konstatiert: „While it has always been assumed that legislation […] cannot exist in the teeth of conflicting local traditions and convictions, the Turkish experiment proves the contrary.“ Lipstein, International Social Science Bulletin 9 (1957), 70 (72) Ähnlich positiv: Rehm, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 1 (5); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 175 f. – weniger euphorisch: Davran, in: International Committee of Comparative Law, Die Rezeption des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 101 (118); Teubner/Fögen, Rechtsgeschichte 7 (2005), 38 (42 f.).
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Oberkommandeurs Douglas MacArthur. Das bereits in der Potsdamer Erklärung deklarierte Hauptziel der Siegermächte war es, Japan zu einem verantwortungsvollen, demokratischen Staat zu machen, der nie wieder Krieg führen würde.58 Ein wichtiger Teil dieser Transformation war die Verabschiedung einer neuen freiheitlichen Verfassung.59 Zunächst legten die Vertreter der japanischen Regierung unter Leitung des Staatsministers Jōji Matsumoto den Alliierten im Jahr 1946 einen Verfassungsentwurf vor.60 Die Verfasser orientierten sich bei diesem Entwurf stark an der bisherigen Meiji-Verfassung des Kaiserreichs Japan. Gerade in Bezug auf die unangefochtene Stellung des Kaisers sahen sie zunächst keinen Anlass für umfangreiche Änderungen.61 Ansonsten orientierten sie sich an der Literatur zu unterschiedlichen demokratischen Verfassungen weltweit. General MacArthur gingen diese Vorschläge jedoch nicht weit genug. Für ihn waren insbesondere drei Punkte von Bedeutung:62 Erstens sollte die neue japanische Verfassung die Rolle des Kaisers auf eine symbolische Funktion beschränken. Eigenständige Rechtssetzungsbefugnisse sollten ihm nicht mehr zustehen. Zweitens sollte Japan künftig auf jegliche kriegerische Mittel verzichten und nie wieder eine Armee unterhalten dürfen. Drittens und letztens forderte MacArthur die Abschaffung des Ständerechts innerhalb des Landes – also die Abschaffung jeglicher Adelsprivilegien. Auch die weiteren Entwürfe des japanischen Kabinetts waren aus MacArthurs Sicht unzulänglich. Daher instruierte er seine Mitarbeiter, selbst eine neue Verfassung für Japan zu entwerfen, die sich stark an der US-amerikanischen Verfassung orientierte. Dem japanischen Kabinett blieb nicht viel mehr übrig, als diesen Entwurf – mit einigen wenigen Änderungen – zu akzeptieren. Die japanischen Verantwortlichen präsentierten ihn schließlich als ihren eigenen Entwurf gegenüber dem Volk und verabschiedeten ihn am 3. Mai 1947. Da die Verfassung hauptsächlich von MacArthurs Mitarbeitern ausgearbeitet war, wird sie auch oft die „MacArthur-Verfassung“ genannt.63 58
Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 1. Marutschke, Einführung in das japanische Recht, S. 47 ff. 60 Eine Abschrift dieser Entwürfe findet sich bei Röhl, Die japanische Verfassung, S. 145 ff. 61 Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 1. 62 Im Tagebuch MacArthurs finden sich die folgenden Erwägungen: „(1) The Emperor is the head of the State. His succession is dynastic. His duties and powers will be exercised in accordance with the Constitution and responsible to the basic will of the people as provided therein. (2) War as a sovereign right of the nation is abolished. Japan renounces it as an instrumentality for settling its disputes and even for preserving its own security. It relies upon the higher ideals that are now stirring the world for its defence and its protection. No Japanese Army, Navy, Air Force will ever be authorized, and no rights of belligerency will ever be conferred upon any Japanese force. (3) The feudal system of Japan will cease. No rights of peerage except those of the Imperial family will extend beyond the lives of those now existent. No patent of nobility will from this forth embody within itself any National or Civic power of Government.“ Zitat entnommen aus: Hata/Nakagawa, Constitutional Law of Japan, S. 18 f. 63 Nishikawa, 比較法文化 [Hikaku-hō bunka] 17 (2009), 51. 59 Vgl.
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Die neue japanische Verfassung ist zwar in einigen entscheidenden Punkten an die US-amerikanische Verfassung angelehnt. Sie ist jedoch keine Textkopie, ihr Aufbau entspricht vielmehr dem einiger westlicher Verfassungen.64 Dazu kommen erhebliche systemische Unterschiede. Wenn auch nicht mit Rechtssetzungsmacht ausgestattet, behielt das japanische Volk den Kaiser als ihr Symbol und Vertreter.65 Japan nahm zudem ein parlamentarisches System an. Das präsidiale System der Vereinigten Staaten kopierte es nicht.66 Das Volk wählt den Gesetzgeber (die Diet), dieser wählt wiederum den Premierminister. Schließlich findet sich in der US-amerikanischen Verfassung nichts Vergleichbares für die Kriegsverzichtklausel (Art. 9 der japanischen Verfassung). Auch die Voraussetzungen für Verfassungsänderungen sind in den beiden Ländern seit jeher unterschiedlich.67 Die japanische Staatsform gleicht eher einer parlamentarischen Monarchie, wie sie in Großbritannien existiert.68 Mit Ausnahme dieser Abweichungen, die sich insbesondere in den ersten beiden Kapiteln der japanischen Verfassung finden, weist die japanische Verfassung eine Vielzahl von unverkennbar amerikanischen Formulierungen und Verfassungsrhetorik auf.69 Bei der Übersetzung der US-amerikanischen Termini gab es jedoch eine Vielzahl von Problemen.70 Mit Blick auf die erwähnte Kriegsverzichtklausel wird die MacArthurVerfassung oft auch „Peace-Constitution“ (Friedensverfassung) genannt – tatsächlich war sie aber mindestens genauso eine „Freedom-Constitution“ (Freiheitsverfassung).71 Drei Prinzipien verdeutlichen die Vorbildrolle der USamerikanischen Verfassung: Demokratie, Individualrechte und die richterliche Kontrolle (judicial review).72 64 Schon die Vorgängerverfassung (die sog. Meiji-Verfassung) hatte in ihrer Systematik einige Ähnlichkeiten mit der Verfassung des deutschen Kaiserreichs. Siehe dazu ausführlich Andō, Die Entstehung der Meiji-Verfassung; Martin, in: Dülffer/Martin/Wollstein (Hrsg.), Deutschland in Europa, S. 98. 65 Zur neuen Stellung des Kaisers unter „MacArthur-Verfassung“ im Vergleich zur MeijiVerfassung vgl. etwa Miyazawa/Heuser/Kazuaki, Verfassungsrecht, S. 129 ff. 66 Tanaka/Smith, The Japanese Legal System, S. 643 ff., 665 ff. 67 In den Vereinigten Staaten gibt es keine Formen direkter Demokratie bezüglich der Verfassungsänderung. In Japan hingegen setzt eine Verfassungsänderung zunächst eine Zweitdrittelmehrheit in der Diet voraus und dann eine einfache Mehrheit bei einer Volksabstimmung. 68 Matsuo, in: Tay/Doeker-Mach (Hrsg.), Law and legal culture in comparative perspective, S. 50 (52). 69 Ein markantes Beispiel ist Art. 14 der Japanischen Verfassung. Dort heißt es ins Englische übersetzt: „All of the people shall be respected as individuals. Their right to life, liberty and the pursuit of happiness shall, to the extent that it does not interfere with the public welfare, be the supreme consideration in legislation and in other governmental affairs.“ 70 Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution. 71 Beer, Victoria University of Wellington Law Review 27 (1997), 15 (18). 72 Zu den nun folgenden Erwägungen siehe Nishikawa, 比較法文化 [Hikaku-hō bunka] 17 (2009), 51 (60 f.); vgl. auch Luney, Japanese Constitutional Law, S. 6.
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Das Demokratieprinzip lässt sich über die zahlreichen Bezugnahmen der Verfassung auf den Willen des Volkes ableiten.73 Es ist das Gegenmodell zum sogenannten Pseudo-Konstitutionalismus der Meiji-Verfassung, in welcher der Kaiser faktisch uneingeschränkte Souveränität genoss.74 Sie wurde lange Zeit als die „moderne Version“ einer absoluten Monarchie angesehen.75 Die Individualrechte in der „MacArthur-Verfassung“ sind ähnlich formuliert wie in US-amerikanischen Verfassungsbüchern.76 Sie bedeuteten einen starken Einschnitt für das bisherige autoritäre Staatswesen Japans. Beinahe revolutionär erschien diese Individualrechtsgarantie angesichts der sozio-kulturellen Gegebenheiten im Land. Anders als in westlichen Staaten war das Zusammenleben der Japaner keineswegs vom Individualismus geprägt. In Japan herrschten vielmehr die Tugenden wie Pflichtbewusstsein und Loyalität innerhalb der sozialen Bindungen.77 Der Individualismus – im Sinne von „Jeder ist seines Glückes Schmied“ – war somit weitgehend neu in Japan. Entsprechend einschneidend war auch die Aufnahme von Individualrechten in die Verfassung.78 Der Einfluss der US-Verfassung auf die MacArthur-Verfassung war in diesem Bereich am bedeutsamsten. Das dritte und letzte wichtige Prinzip aus dem US-amerikanischen Recht ist die richterliche Kontrolle (judicial review). Ähnlich wie in der amerikanischen Verfassung sieht Art. 81 der japanischen Verfassung eine umfassende Überprüfungsbefugnis durch das Oberste Gericht vor. Mit dieser Norm sollte das amerikanische System der richterlichen Kontrolldichte eingeführt werden.79 Die Art, wie das Oberste Gericht diese Befugnis ausübt, unterscheidet sich jedoch merkbar von der Praxis des US-Supreme Courts. Wenn es darum geht, Akte der Legislative und Exekutive für verfassungswidrig zu erklären, ist das Oberste Gericht Japans deutlich zurückhaltender.80 Er belässt dem Gesetzgeber grundsätzlich eine hohe Einschätzungsprärogative. Bei sogenannten „hoch politischen Gesetzgebungsakten“, nimmt er seine Prüfungskompetenz sogar gänz73
Das gilt ausdrücklich und in Abgrenzung zur Meiji-Verfassung für die Position und die Handlungen des Kaisers (vgl. Art. 1 und Art. 7). Ebenso eindeutig sind die Art. 41 ff. der Verfassung, welche die Diet (bestehend aus dem Ober- und Unterhaus) als das höchste Staatsorgan festlegen. Die Diet wiederum soll das Volk als „Ganzes“ repräsentieren. 74 Dahl, Tulsa Law Review 14 (1979), 515 (519). 75 Nishikawa, 比較法文化 [Hikaku-hō bunka] 17 (2009), 51 (60). 76 Zu den Individualrechten in der Japanischen Verfassung siehe Dahl, Tulsa Law Review 14 (1979), 515; Beer/Weeramantry, Universal Human Rights 1 (1979), 1. 77 Vgl. nur Beer/Weeramantry, Universal Human Rights 1 (1979), 1 (3). 78 Nishikawa, 比較法文化 [Hikaku-hō bunka] 17 (2009), 51 (61). 79 Luney, Japanese Constitutional Law, S. 16; Nishikawa, 比較法文化 [Hikaku-hō bunka] 17 (2009), 51 (62). 80 Ashibe, in: Beer (Hrsg.), Constitutional Systems in Late Twentieth Century Asia, S. 224 (248 ff.).
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lich zurück.81 Er gilt als „selbsteinschränkend“ und „konservativ“.82 Seit seiner Gründung im Jahr 1947 erklärte er lediglich acht Statuten für verfassungswidrig und nichtig.83 Aufgrund dieser Zurückhaltung war es dem japanischen Gesetzgeber erst möglich, einige wichtige Reformen vorzunehmen, die dem Wortlaut der Verfassung eindeutig widersprachen. Ein besonders hervorstechendes Beispiel ist die Wiederbewaffnung Japans trotz des – heute noch formell gültigen – Art. 9 der japanischen Verfassung, der Japan die Unterhaltung jeglicher Streitkräfte untersagt.84 Diese außerordentlich zurückhaltende und oft regierungskonforme Haltung des Obersten Gerichts hat dazu geführt, dass die japanische Verfassung in der Praxis eine eher untergeordnete Rolle gespielt hat.85 Diese Haltung wird in der eher progressiven Literatur selten geteilt. Andererseits existieren auch vereinzelte Fälle, in denen das Oberste Gericht Konzepte aus der US-amerikanischen Verfassungsrechtsprechung übernommen hat. Dazu gehört etwa die sogenannte Double Standard Theory.86 Auch heute, mehr als 70 Jahre nach ihrer Verabschiedung, existiert in Japan noch immer eine ablehnende Haltung gegen diese „Revolutions“-Verfassung nach dem Vorbild der USA. Dieser Mangel an Identifikation hat nicht wenig mit dem Entstehen der Verfassung zu tun. Er wird ganz besonders in den eher 81 Ashibe, in: Beer (Hrsg.), Constitutional Systems in Late Twentieth Century Asia, S. 224 (243 ff.). 82 Itō, The Japanese Supreme Court, S. 221 ff. Zum Konservativismus des Obersten Gericht Japans vgl. auch Winkler, The Quest for Japan’s New Constitution. 83 Stand 2009, Law, Washington University Law Review 88 (2011), 1426 Ähnlich zurückhaltend ist er auch bei der Überprüfung von Verwaltungshandeln, vgl. nur Matsui, Washington University Law Review 88 (2011), 1375 (1388–1392) Beispielhafte Illustrierungen dieser Zurückhaltung bei legislativen bzw. exekutiven/behördlichen Akten bei Itō, The Japanese Supreme Court, S. 162 ff., 175 ff. 84 Art. 9 der japanischen Verfassung lautet: (1) Im aufrichtigen Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für immer auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel, internationale Streitigkeiten zu regeln. (2) Um das im vorangehenden Absatz bezeichnete Ziel zu erreichen, werden niemals mehr Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Mittel zur Kriegsführung unterhalten werden. Das Recht des Staates auf Kriegsführung wird nicht anerkannt. Quelle: Franz, Staatsverfassung. 85 Hayashi, in: Jestaedt/Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I, S. 77 (82). 86 Die Double Standard Theory besteht im Wesentlichen aus einer Abstufung der richterlichen Kontrolldichte bezüglich staatlicher Akte, die in die Individualrechte eingreifen. Man differenziert insbesondere zwischen „Bürgerrechten“ (hohe Kontrolldichte) und „wirtschaftlichen“ Rechten (niedrigere Kontrolldichte). Für tiefere Einblicken in die japanische Praxis vgl. Ashibe, in: Beer (Hrsg.), Constitutional Systems in Late Twentieth Century Asia, S. 224 (250 ff.). Zum Inhalt der Double Standard Theory im US-amerikanischen Verfassungsrecht vertiefend Funston, Political Science Quarterly 90, 261.
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konservativ geprägten staatlichen Institutionen sichtbar.87 Seit geraumer Zeit hat die Abneigung gegenüber der japanischen Verfassung jedoch auch die politische Debatte in Japan erreicht. Aktuell stellt die Regierungspartei (LDP) wieder konkrete Bemühungen an, um sich durch eine umfassende Verfassungsänderung von der „MacArthur-Verfassung“ loszusagen.88
3. Die Rezeption des deutschen Sachenrechts in Estland Ein Beispiel für eine in weiten Teilen geglückte89 Rezeption ist die Übernahme sachenrechtlicher Normen und Grundsätze aus dem deutschen BGB durch den estnischen Gesetzgeber nach dem Fall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre. Um den Kontext dieser Rezeption besser zu verstehen, lohnt ein kurzer Rückblick in die Geschichte des estnischen Zivilrechts. Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg stand Estland unter der russischen Zarenherrschaft. Das Land hatte aber eine Sonderstellung im russischen Reich, die sich bei der Ausgestaltung des Zivilrechts bemerkbar machte. Aufgrund der unterschiedlichen Kultur- und Herrschaftseinflüsse im Ostseeraum90 bestand das Privatrecht im Baltikum in dieser Zeit aus einem Flickenteppich unterschiedlicher regionaler Rechtsquellen. Für den (häufig deutschstämmigen) Adel und für die bürgerliche Bevölkerung galten die jeweiligen Stadtrechte, für die Landbevölkerung die Bauernverordnungen.91 Spürbare Fortschritte in Richtung einer Vereinheitlichung des Privatrechts ergaben sich erst ab dem Jahre 1926, als das Justizministerium Estlands erste Novellierungsentwürfe für den Allgemeinen Teil, und das Familien- und Erbrecht vorstellten.92 Bis zu einem fertigen Gesetzesentwurf für das gesamte Zivilgesetzbuch dauerte es jedoch noch bis ins Jahr 1936. Der Entwurf wurde allerdings nicht mehr vor dem Einmarsch der Sowjetunion im Jahre 1940 verabschiedet. Wäh87
Hayashi, in: Jestaedt/Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I, S. 77 (83). zu der Diskussion in Japan: Nishihara, in: Jestaedt/Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I, S. 115. 89 Vgl. nur Schlechtriem, Juridica International VI (2001), 16 (22). 90 Für einen gelungenen Überblick über die Ursprünge der Provinzialrechte in Estland siehe Koch, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 2 (1928), 929 (930 ff.). 91 Ausführlich zum lübischen Recht in Reval bei Steinke, Die Zivilrechtsordnungen des Baltikums unter dem Einfluss ausländischer, insbesondere deutscher Rechtsquellen, S. 53 ff., für einen Überblick über Stadtrechte in anderen Städten des Baltikums vgl. S. 48 ff., zum livländischen Bauernrecht vgl. S. 42 ff. 92 Ein guter Überblick zur estnischen (Zivil-)Rechtsgeschichte in der Zwischenkriegszeit findet sich sowohl bei Steinke, Die Zivilrechtsordnungen des Baltikums unter dem Einfluss ausländischer, insbesondere deutscher Rechtsquellen, S. 181 ff. als auch bei Luts, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 27 (31 ff.); Loeber, in: Basedow/Drobnig/Elger/ Hopt/Kulms/Kötz/Mestmäcker (Hrsg.), Aufbruch nach Europa, S. 943 (943 ff.). 88 Vertiefend
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rend der sowjetischen Besatzungszeit wurde der sowjetische Zivilkodex anstelle der früheren Gesetze in Kraft gesetzt. Das sowjetische ZGB galt hierauf bis zum Fall der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre. Nach ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion am 8. Mai 1990 versuchte Estland, möglichst rasch Anschluss an die aktuelle Rechtsentwicklung in Europa zu finden. Der Vorschlag des Justizministeriums und einer Vielzahl von Professoren der Universität Tartu, das sowjetische Recht könne als eine Art Ausgangslage für die künftigen Reformen des Zivilrechts beibehalten werden, wurde spätestens nach dem Inkrafttreten der Verfassung am 28. Juni 1992 wieder verworfen.93 Mit der Vertragsfreiheit (Art. 19), der Freiheit der unternehmerischen Tätigkeit (Art. 29), (Art. 31) und der Gewährung des Privateigentums (Art. 32) setzte die Verfassung die Rahmenbedingungen für die Umgestaltung des Privatrechts nach westlichem Vorbild.94 Ausgehend von diesen Vorgaben vereinbarte die Koalition im Oktober 1992, dass ein Zivilgesetzbuch ausgearbeitet und proklamiert werden soll.95 Der Gesetzgebungsprozess war insbesondere von drei Faktoren bestimmt: Der erste war der „Kontinuitätsgedanke“. Die neue Verfassung Estlands baute auf der Idee auf, die jetzige Republik als Rechtsnachfolgerin der ersten Unabhängigkeitsperiode von 1918–1940 anzusehen.96 Dies führte dazu, dass der bereits oben erwähnte Entwurf für ein einheitliches ZGB aus dem Jahre 1936/40 zunächst die Grundlage für die Ausarbeitung eines neuen estnischen Zivilrechts sein sollte.97 Der zweite Faktor war der Zeitdruck, unter dem das Vorhaben stand. Dem estnischen Gesetzgeber fehlten zum einen die zeitlichen wie auch die personellen Ressourcen, um ein eigenes ZGB zu entwerfen. Daher entschloss er sich dazu, Einzelgesetze98 zu entwerfen. Deren Entwürfe sollten sich an bereits fertigen und bewährten Konzeptionen orientieren.99 93 Steinke, Die Zivilrechtsordnungen des Baltikums unter dem Einfluss ausländischer, insbesondere deutscher Rechtsquellen, S. 204. 94 Vertiefend zur estnischen Verfassung siehe Kofmel, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 53 (1993), 135; speziell zur Handels- und Gewerbefreiheit sowie zur Eigentumsgarantie siehe dort auf S. 143 f. 95 Weitere Literaturnachweise zu den verschiedenen Gesetzgebungsvorhaben im Rahmen der Zivilrechtsreform in Estland finden sich bei Luts, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 27. 96 Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (76). Diesen „Kontinuitätsgedanken“ hat sich auch das Parlament zu Eigen gemacht, als es am 1. Dezember 1992 die Kontinuität der Rechtsetzung durch Beschluss bestätigt hat. In diesem Beschluss heißt es, dass bei der „Vorbereitung der Gesetzesvorhaben die vor dem 16.6.1940 in der Estnischen Republik gültigen Gesetze zu berücksichtigen [sind]“. 97 Diese Grundlage war letztlich wohl eher von symbolischer Natur, da sich dieser ZGBEntwurf bald als relativ antiquiert herausstellte. Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (77). 98 Der estnische Gesetzgeber verabschiedete die Einzelgesetze in der folgenden Reihenfolge: Sachenrechtsgesetz (9. Juni 1993), Gesetz des allgemeinen Teils des ZGB (28. Juni
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Schließlich – als dritter Faktor – kamen die Ambitionen des Landes hinzu, schnellstmöglich Mitglied der Europäischen Union zu werden.100 Hierfür waren Rechtsangleichungen, ganz besonders im Bereich des Privatrechts, unbedingt notwendig.101 Auf Grundlage dieser Faktoren entschied der estnische Gesetzgeber, sein Zivilrecht konzeptionell am Vorbild ausländischer Rechtsordnungen auszurichten.102 Eine der dringendsten Aufgaben bestand in der Eigentums- und Bodenreform. Auch deshalb stellte er das Sachenrechtsgesetz aus dem Jahr 1993 an den Anfang des Kodifizierungsprozesses.103 Das Sachenrechtsgesetz entlehnte der estnische Gesetzgeber zu großen Teilen dem deutschen Sachenrecht im BGB. Für die Wahl des deutschen Sachenrechts gab es mehrere Gründe. Ein Grund lag darin, dass es sich beim BGB aus Sicht des damaligen estnischen Gesetzgebers um eine bewährte Privatrechtskodifikation handelt, die sich unter grundverschiedenen politischen Regimen als lebensfähig gezeigt hatte.104 Ein weiteres (zumindest vordergründiges) Argument war, dass schon der Entwurf des Zivilgesetzbuches von 1936/40 einige Konzepte aus dem BGB enthalten hatte. Zudem stand das estnische Recht – insbesondere die Stadtrechte – schon früher unter starkem deutschem Einfluss. Für Parlamentarier, die den „Kontinuitätsgedanken“ großschrieben, spielten diese rechtshistorischen Verbindungen eine wichtige Rolle.105 Allerdings gelangte das Parlament bald zur Einsicht, dass der ZGB-Entwurf von 1936/40 als Vorlage nicht geeignet war. Er war zu „archaisch“, um als Grundlage für eine Novellierung des Zivilrechts dienen zu können.106 „Seitenblicke“ auf andere Rechtsordnungen waren also 1994) Familienrechtsgesetz (12. Oktober 1994), Handelsgesetzbuch (15. Februar 1995), Erbrechtsgesetz (15. Mai 1996), Schuldrechtsgesetz (26. September 2001). 99 Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (78); Luts, in: Oksaar/Redecker (Hrsg.), Deutsch-estnische Rechtsvergleichung und Europa, S. 51 (59). 100 Zobel, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 89 (90); Šumilo, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 97. 101 Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (78). 102 Järvelaid, Zeitschrift für Europäisches Privatrecht 8 (2000), 873 (876 f.). 103 Mikk, Jahrbuch für Ostrecht 42 (2001), 31 (35). 104 Luts, in: Oksaar/Redecker (Hrsg.), Deutsch-estnische Rechtsvergleichung und Europa, S. 51 (60). 105 Luts, in: Oksaar/Redecker (Hrsg.), Deutsch-estnische Rechtsvergleichung und Europa, S. 51 (61); Steinke, Die Zivilrechtsordnungen des Baltikums unter dem Einfluss ausländischer, insbesondere deutscher Rechtsquellen, S. 205; Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 19 (22). Käerdi vermutet allerdings, dass dieses historische Kontinuitätsargument eher politisch vorgeschoben war. Im Vordergrund sei faktisch der von der jüngeren Juristengeneration vorangetriebene Wunsch nach einem Europa zugewandten Zivilrecht gestanden. Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (79 f.). 106 Insbesondere fehlten den damaligen Verfassern Vergleichsmaterialien sowie Kenntnisse zum Recht außerhalb des Baltikums. Mikk, Jahrbuch für Ostrecht 42 (2001), 31 (36).
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ohnehin notwendig, um am Ende ein Produkt zu haben, das modern und zeitgerecht ist. Die Übernahme des deutschen Sachenrechts war schließlich auch im Sinne einer stärkeren wirtschaftlichen und politischen Orientierung an Europa. Die deutsche Privatrechtsordnung wurde zu diesem Zeitpunkt noch als „pars pro toto“ stellvertretend für den Faktor Europa überhaupt betrachtet.107 Der Erfolg dieser Rezeption erscheint bemerkenswert. Die sozio- und rechtskulturellen Rahmenbedingungen in Estland unterschieden sich von denen Deutschlands im Zeitpunkt der Rezeption erheblich. Denn trotz der Einflüsse in der früheren Geschichte des 20. Jahrhunderts darf nicht vergessen werden, dass Estland ein knappes halbes Jahrhundert Teil der Sowjetunion war. Dies prägte freilich nicht nur die Denkweise der Bevölkerung, sondern auch die Rechtskultur Estlands. Dennoch haben einige Faktoren dazu beigetragen, dass die Rezeption einen positiven Verlauf genommen hat.108
4. Die Rezeption des Konzepts der Independent Regulatory Agencies in Deutschland (über das Unionsrecht) aus den USA a) Independent Regulatory Agencies in den USA Das letzte Rezeptionsbeispiel, in das an dieser Stelle eingeführt werden soll, kann als Rechtstransfer „über Bande“ bezeichnet werden: Das Konzept der unabhängigen Regulierungsbehörden (Independent Regulatory Agencies) stammt aus den USA und wurde über das Europarecht in das deutsche Recht übertragen.109 In den USA hatte sich das Regulierungsrecht als Modell des Verwaltungsrechts schon Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt und durchgesetzt.110 Seine Ursprünge nahm es mit der Gründung der Interstate Commerce Commission (ICC).111 Diese Behörde wurde nach einigen Jahren zu einer Art Prototyp für eine Vielzahl von weiteren Behörden mit weitgehend unabhängigen Status.112 Der Verbreitung dieser Independent Regulatory Agencies kam entgegen, dass 107
Luts, in: Oksaar/Redecker (Hrsg.), Deutsch-estnische Rechtsvergleichung und Europa, S. 51 (60). 108 Dazu noch ausführlicher unter E. II. 3. 109 Vgl. nur Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann/Vosskuhle/Baer/Albers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 677 (717) Rn. 53; Lepsius, in: Fehling/Ruffert, Regulierungsrecht, S. 3 (73). 110 Lepsius, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, S. 3 (73 f.). Dieser weist zudem darauf hin, dass Regulierungsrecht kein System ist, das von einem „allgemeinen Verwaltungsrecht“ abgesondert ist. Vielmehr stelle es seit langer Zeit den Regelungsfall des Verwaltungsrechts dar. 111 Breger/Edles, Independent Agencies in the United States, S. 18 ff. 112 Hervorzuhaben ist vor allem die Federal Power Commission und die Federal Communications Commission. Eine Liste der neugegründeten Behörden bis Ende der Dreißigerjahre findet sich bei Breger/Edles, Independent Agencies in the United States, S. 36.
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den USA schon immer eine geschlossene Ministerialbürokratie fehlte. Die USamerikanische Verwaltung besteht seit jeher aus einem „patchwork“ von mehr oder weniger verselbständigten113 Fachbehörden, die vom Konzept des Common Law und US-amerikanischen Verfassungsstruktur geprägt sind.114 Die Strukturierung der Behörden durch fachlich spezialisierte Funktionseinheiten entspricht dem „topischen Ansatz des Common Law.“115 Das Regulierungsrecht in den USA besteht nicht aus abstrakten – von der Legislative vorgegebenen – Normsetzungen sondern aus einzelfall- und problembezogenen statutes. Verfassungsrechtlich stützt sich das Behördensystem vor allem auf das Prinzip der checks and balances: Denn anders als in vielen europäischen Ländern ist es nicht die Kernaufgabe der Exekutive, über die Ernennung von Beamten zu bestimmen. In den USA ist auch das Parlament (der Kongress) an der Errichtung der Behörden beteiligt. Somit stehen die Behörden nicht als Untergliederung der Exekutiven, sondern streng genommen zwischen den verschiedenen politischen Kräften von Regierung und Legislative.116 Bei der Einführung der unabhängigen Regulierungsbehörden in den USA spielte somit die Gewaltenteilungsproblematik keine herausragende Rolle.117 Im amerikanischen System existiert zwar ebenfalls das Prinzip der separation of powers. Im Vergleich zum deutschen System haben sich dort jedoch sehr unterschiedliche Dogmen herausgebildet. In den Vereinigten Staaten wird Gewaltenteilung nach dem Prinzip der checks and balances verstanden. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist nur für den Präsidenten ausformuliert.118 Auch das im deutschen Recht fest verankerte Prinzip der Einheit der Verwaltung hat sich in den Vereinigten Staaten nicht durchgesetzt.119 Die Folge ist eine für den deutschen Juristen eigentümlich wirkende Aufgabenverteilung und Kon113 In der US-amerikanischen Verwaltungsorganisation wird zwischen zwei Grundformen von Verwaltungsbehörden unterschieden: Den Independent Agencies (im engeren Sinne) und den Executive Agencies. Erstere werden nicht nur durch den Kongress unmittelbar errichtet und finanziell ausgestattet. Sie werden auch durch „commissioners“ geleitet, die während ihrer Amtszeit lediglich „for cause“ und nicht „at will“ absetzbar sind. Die Behördenleitungen von Executive Agencies können hingegen ohne Grund – also „at will“ – entlassen werden. Sie sind auch zu einem gewissen Grad gegenüber dem Präsidenten weisungsgebunden. Vgl. dazu Miller, Duke Law Journal 215 (1988), 215 (216, 220) oder auch bei Masing, Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), 558. 114 Masing, Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), 558 (587). Zur historischen Entwicklung dieses Konzepts zur Zeit der „Progressiven Ära“ in den Vereinigten Staaten siehe ausführlich Shapiro, Who Guards the Guardians?, S. 59 ff. 115 Masing, Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), 558 (585). 116 Masing, Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), 558 (586). 117 Frühe Kritik siehe jedoch schon bei Freund, Presidential Studies Quarterly 9 (1894), 403 (410) Auch heute wird die Frage der accountability von Regulatory Agencies im Common-Law-Raum noch öfters aufgeworfen. Siehe z. B. Scott, Journal of Law and Society 27 (2000), 38. 118 Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 170. 119 Haines, American Political Science Review 26 (1932), 875 (877).
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trolle zwischen den Organen: Die Verwaltung hat faktische Rechtsetzungskompetenz (dazu noch sogleich). Die Legislative nimmt die Überprüfung des Verwaltungshandelns durch „Korrekturgesetze“ auf; und wird dadurch zu einer „auch verwaltenden Gewalt“. All dies führt dazu, dass keine der drei Gewalten (Präsident, Kongress und US-Supreme Court) einen Machtzuwachs erhält.120 Mit der Etablierung von unabhängigen Regulierungsbehörden sollte die USamerikanische Verwaltung entmonopolisiert werden.121 Das Konzept der regulation meint somit die hoheitliche Aufsicht über private Monopolstrukturen der regulated industries.122 Einzelfallentscheidungen von Behörden sollten dadurch vor „situativ-standortbezogenen politischen Erwägungen und entsprechendem Druck durch marktbeherrschende Unternehmen“ abgeschirmt werden.123 Die Agencies sollten eine Art „Schiedsrichterrolle“124 einnehmen, um ein „level playing field“ für alle Unternehmen auf dem Markt zu schaffen. Durch das Konstrukt der unabhängigen Regulierungsbehörden entwickelte sich ein technokratisches Verwaltungsverständnis125, bei dem Sachverstand gänzlich unpolitisch sein sollte.126 Diese „freedom from political influence“ der Verwaltung bildet das zentrale Element seiner Unabhängigkeit.127 120 Lepsius, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, S. 3 (74) Das liegt unter anderem daran, dass nach Art. II 2 der US-Verfassung der Präsident nicht allein über die Organisation der Verwaltung verfügt. Vielmehr ist es Sache des Kongresses, Ämter durch Gesetze zu schaffen. Aufgabe des Senats ist es wiederum der Ernennung höherer Beamter durch den Präsidenten zuzustimmen. Die Verwaltung steht damit zwischen den Kräften von Regierung und Legislative. 121 Shapiro, in: Rose-Ackerman/Lindseth/Emerson (Hrsg.), Comparative Administrative Law, S. 234 (238 ff.). 122 Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41. 123 Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (42). 124 Vgl. dazu Spangenberg, Regulierungsbehörden als neutrale Schiedsrichter im Wettbewerb oder politische eingebundene Staatsverwaltung? m. w. N. 125 Vgl. Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, 151 f. Passend verweist dieser auf die Phrase „There is no Democratic or Republican way to pave the street, only the right way.“, die den expertokratischen Ansatz der Vereinigten Staaten Anfang des 20. Jahrhunderts widerspiegelt. 126 Parteipolitische Neutralität im Sinne einer unparteilichen Rolle der öffentlichen Verwaltung ist allerdings auch dem deutschen Verwaltungsrecht nicht fremd. So ist der deutsche Verwaltungsbeamte nach den Beamtengesetzen der Länder „Diener des gesamten Volkes, nicht einer Partei.“ Dieses Prinzip stammt noch aus der Weimarer Reichsverfassung und ist Ausdruck der Parteienskepsis im Kaiserreich. Doch auch diese Relikte haben im Laufe des 20. Jahrhundert eine Verwandlung erfahren: Vom Ideal einer (scheinbar) neutralen und sachlichen Verwaltung, die von der demokratisch legitimierten Verwaltungsspitze weisungsunabhängig ist, wurde sich verabschiedet. Stattdessen erfordert das Prinzip der politischen Neutralität gar die Loyalität der Beamten gegenüber der Führung. Vgl. zu dieser Debatte ausführlich Fehling, Verwaltung zwischen Unparteilichkeit und Gestaltungsaufgabe, S. 16, 247 ff. 127 Shapiro, Journal of European Public Policy 4 (1997), 276 (279 f.); Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (43).
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Neben dieser Weisungsunabhängigkeit kommt den Regulierungsbehörden zudem eine weitreichende Rechtsetzungskompetenz zu. Die Ermächtigungsnormen des Kongresses sind meist nur vage formuliert. Sie beschränken sich häufig auf allgemeine Zielklauseln,128 welche die Verwaltungsaufgaben (wenn überhaupt) politisch konturieren.129 Die Regelungen sehen etwa vor, dass die Normsetzung der Verwaltung „reasonable and just“ (gerecht und billig) sein müsse, ein „due process“130 (ein angemessener Prozess) gewährleistet sein muss oder dass die Entscheidungsträger in ihrer Entscheidungspraxis „undue discrimination“131 (unangebrachte Diskriminierung) verhindern sollen. Oftmals verzichtet der Kongress sogar gänzlich auf Vorgaben oder gibt nur eine erste Orientierung für die Entscheidungstätigkeit.132 In diesen Fällen beschränkt er sich auf allenfalls grobe Problembeschreibungen und betraut eine Agency damit, dieses Problem in Eigenregie zu lösen. Dementsprechend beschreibt Davis die Anweisungen des Kongresses gegenüber den Behörden als Aufforderungen nach dem Motto: „Here is the problem. Deal with it.“133 Schließlich – gewissermaßen als Folge dieser eigenständigen Rechtsetzungskompetenzen – unterliegen die Entscheidungen der amerikanischen Regulierungsbehörden nur beschränkter richterlicher Kontrolle.134 So verwundert es nicht, wenn in der US-amerikanischen Literatur zu lesen ist: „Informed discretionary action is the lifeblood of the administrative process.“135 Den unabhängigen Regulierungsbehörden in den USA steht also neben der allgemeinen Verwaltungstätigkeit die Befugnis zu, verbindliche Einzelfallentscheidungen zu treffen, die nur begrenzt gerichtlich überprüfbar sind. Sie neh128
Masing, Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), 558 (588). Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 130. 130 Mit diesen allgemeinen „Floskeln“ von legislativen Aufträgen beschäftigt sich Freund in einer ausführlichen Untersuchung. Zum Begriff „reasonable“ siehe Freund, Standards of American Legislation, S. 5. Zum Begriff „in due process“ siehe Freund, Standards of American Legislation, S. 220. 131 Selten finden sich jedoch klare Hinweise darauf, was unter „undue discrimination“ zu verstehen ist. Dementsprechend sind die agencies regelmäßig mit der Kompetenz ausgestattet, allgemeine gesetzgeberische Prinzipien („legislative principles“) je nach Einzelfall anzuwenden. Phillips, The Regulation of Public Utilities, S. 119. 132 Moeskes, Immissionsschutzrecht als Rechtsinstrument, S. 118; Masing, Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), 558 (588). 133 Davis, Administrative Law Text, S. 27. Dieser betont sogar, dass es Fälle gibt, in denen der Kongress lediglich Aufgabenbereiche beschreibt, in denen die Verwaltung selbst Probleme finden und lösen soll. Sein eben zitierter Satz geht folglich weiter: „Or (Congress) may even say, in effect, ‚We, the Congress don’t know what the problems are or what they will become. Find them, or identify them as they arise, and deal with them.‘“ 134 Dies ist insbesondere der Fall, wenn bereits im statute die richterliche Kontrolle (explizit oder implizit) ausgeschlossen wird oder wenn die Agency im Rahmen ihrer discretion agiert. Die discretion einer Agency ist in der Regel umso stärker ausgeprägt, je weiter der Freiraum im Normtext des statutes gefasst ist. Siehe dazu Cole, An Introduction to Judicial Review of Federal Agency Action, S. 11 ff. 135 Davis, Administrative Law Text, S. 91. 129
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men auch Aufgaben der Normsetzung und der Rechtsprechung wahr. Dementsprechend nennt man die Agencies häufig nicht ganz zu Unrecht die „vierte Gewalt“ in der US-amerikanischen Staatsorganisation.136
b) Die Übernahme des Konzepts der Independent Regulatory Agencies in Deutschland und ihre Schwierigkeiten Die Europäische Gemeinschaft nahm die Idee der unabhängigen Regulierungsbehörden aus den USA schon bald nach ihrer Gründung auf. Sie rezipierte das Modell in zwei unterschiedlichen Bereichen: Zum einen inkorporierte sie das Konzept der unabhängigen Agenturen in ihrer eigenen Behördenstruktur.137 Zum anderen wurden – zu einem deutlich späteren Zeitpunkt – die Mitgliedstaaten qua Richtlinien dazu verpflichtet, ihre nationalen Behörden in bestimmten Bereichen von politischem Einfluss zu befreien. Die Rezeption des Konzepts der Independent Regulatory Agencies in der europäischen Behördenstruktur soll hier nicht weiter vertieft werden.138 Im Fokus steht die Rezeption des Konzepts der unabhängigen Regulierungsbehörden in Deutschland durch die Umsetzung europäischer Richtlinien. Von Bedeutung sind dabei insbesondere die Strom- und Gasrichtlinien im Telekommunikationssektor und im Energiesektor. Diese fordern die rechtliche Trennung 136 So ähnlich schon Friedman, Harvard Law Review 25 (1912), 704 (712). Siehe auch Masing, Archiv des öffentlichen Rechts 128 (2003), 558 (588); Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 172. Häufig wird jedoch auch darauf verwiesen, dass die Regulierungsbehörden die Rolle einnehmen, die früher vor allem den Gerichten zufiel. Näheres bei Breyer, Administrative Law and Regulatory Policy, S. 203. 137 Für einen Vergleich der unabhängigen Behörden auf europäischer Ebene mit den USRegulierungsbehörden siehe: Shapiro, in: Rose-Ackerman/Lindseth/Emerson (Hrsg.), Comparative Administrative Law, S. 234; Shapiro, Journal of European Public Policy 4 (1997), 276. 138 Der Aufbau der europäischen Behörden entspricht in weiten Zügen dem US-amerikanischen Modell Shapiro, in: Rose-Ackerman/Lindseth/Emerson (Hrsg.), Comparative Administrative Law, S. 234 (247). Dass sie dennoch rein rechtlich betrachtet nicht unabhängig sind, sondern in einem formellen Abhängigkeitsverhältnis zur Europäischen Kommission stehen, wurde jedoch bald durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes klargestellt. In den Verträgen der Union fehlt die Rechtsgrundlage für die Etablierung formell unabhängiger Behörden. Vgl. Meroni & Co., Industrie Metallurgiche, SpA v. High Authority of the European Coal and Steel Community; Case 9–56. Auch die Gründe für die Implementierung unabhängiger Regulierungsbehörden in Europa unterschieden sich stark von denen der Vereinigten Staaten: Die USA erhofften sich von der Etablierung – wie bereits erwähnt – eine Entpolitisierung der Behörden. Die unabhängigen Regulierungsbehörden sollten eine Art Schiedsrichterstellen zwischen Staat und Privatem einnehmen. Die Europäische Union war hingegen vor allem mit der Frage des Legitimationsproblems der europäischen Institutionen beschäftigt. Die Kommission sollte nicht noch weiter aufgebläht werden, als sie ohnehin schon wahrgenommen wurde. Diese und weitere Ausführungen zu den unterschiedlichen Hintergründen und Befugnissen von unabhängigen Regulierungsbehörden in den USA und in Europa findet sich bei Shapiro, in: Rose-Ackerman/Lindseth/Emerson (Hrsg.), Comparative Administrative Law, S. 234. Ein kurzer Überblick findet sich auch bei Breger/Edles, Independent Agencies in the United States, S. 373 ff.
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und funktionelle Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde des Mitgliedsstaats von anderen öffentlichen und privaten Einrichtungen. Insbesondere sollen die Mitgliedstaaten dafür sorgen, dass die Behörden keine Weisungen von anderen Teilen der Exekutive oder Privaten entgegennehmen.139 Allgemeine politische Leitlinien, die sich aber gerade nicht auf die „laufende Erfüllung“ von Regulierungsaufgaben und -befugnissen beziehen dürfen, bleiben hingegen zulässig.140 Wie schon der Begriff der „Regulierung“ im Allgemeinen141 ist dieses Prinzip der Weisungsfreiheit – und somit das Herzstück des ursprünglichen US-amerikanischen Konzepts – dem deutschen Wirtschaftsverwaltungsrecht fremd. Mit der Umsetzung der erwähnten Richtlinien sollte aber genau dieses „Schlüsselelement der US-amerikanischen Regulierungsphilosophie Eingang in die unionale und damit auch in die deutsche Regulierungsphilosophie“ finden.142 Aus einer normgeleiteten soll nun eine administrative Form der Regulierung entstehen.143 Die Übernahme dieser Philosophie gestaltet sich jedoch vor allem aufgrund verschiedener deutscher Verfassungsgrundsätze schwierig. Eine (relative) Weisungsabhängigkeit von Exekutivorganen passt mit dem Vorbehalt des Gesetzes und der Wesentlichkeitstheorie nicht zusammen.144 Danach muss eine inhaltliche Konkretisierung von wesentlichen zu treffenden Entscheidungen vom Gesetzgeber vorgenommen werden.145 Zum anderen gilt nach dem Demokratieprinzip, dass Amtsträger sachlich-inhaltlich hinreichend legitimiert sein müssen. Ihr Handeln muss sich nach den Weisungen der Regierung richten, sodass durch eine „ununterbrochene Weisungskette“ für eine genügende Sachverantwortung gegenüber dem Volk und dem Parlament gesorgt ist.146 Diese Wei139 Für den Telekommunikationssektor regelt dies Art. 2 Abs. 3a der Rahmenrichtlinie 2002/21/EG. Für den Energiesektor sind die Art. 35 Abs. 4 S. 2 der Richtlinie 2009/72/EG (für den Bereich Strom) und Art. 39 Abs. 4 der Richtlinie 2009/73/EG (für den Bereich Gas) maßgeblich. 140 Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (44 f.); Britz, in: Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, S. 1149 (1191) Rn. 50. 141 Siehe statt vieler Bullinger, Deutsches Verwaltungsblatt 21 (2003), 1355 (1356); Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41. 142 Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41. 143 Ludwigs, in: Schmidt/Wollenschläger (Hrsg.), Kompendium Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 527 (537 f.) Rn. 16 f. 144 Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (60). Dieser bezieht sich zusätzlich noch auf den Bestimmtheitsgrundsatz. Zu den rechtskulturellen Besonderheiten und Hintergründen des deutschen Verfassungsrechts im Vergleich zum US-amerikanischen Recht wird unter C. III. 1. c) noch näher eingegangen. 145 Vgl. nur BVerfGE 49, 89, 126: 77, 130 230 f.; 79, 174, 195 f. 146 Vgl. grundlegend Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 429 (438) Rn. 16 ff.
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sungskette soll aber durch die Vorgaben der Richtlinien gerade unterbrochen werden.147 Vor allem Aufgrund dieser „Kollisionen“ mit dem deutschen Verfassungsrecht, hat sich der Gesetzgeber bisher gesträubt, die Vorgaben zur Weisungsunabhängigkeit aus den benannten Richtlinien umzusetzen. Nach § 61 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) müssen weiterhin allgemeine Weisungen des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie im Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass Weisungen – entgegen dem klaren Wortlaut der Richtlinien – grundsätzlich sehr wohl ergehen können. Dazu kommt, dass einige Begleitverordnungen des EnWG der Bundesnetzagentur Vorgaben machen, wie Tarife und andere Vertragsbedingungen für den Netzzugang und Ausgleichsleistungen durch die Bundesnetzagentur festzulegen sind. Das „Dritte Energiepaket“, in dem die benannten Richtlinien verabschiedet wurden, feierte im Juli 2019 seinen zehnten Geburtstag. Bereits ein Jahr zuvor hatte die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.148 Sie fordert Deutschland darin auf, das Konzept der (weisungs-)unabhängigen Regulierungsbehörden nach US-amerikanischem Vorbild umzusetzen.
147 Dazu
im Einzelnen Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (47). 148 Siehe: Pressemitteilung der Europäischen Kommission v. 19. Juli 2018: „Die Bundesrepublik hat die Vorschriften über die Befugnisse und Unabhängigkeit der deutschen Regulierungsbehörde nicht vollständig eingehalten. Insbesondere verfügt die Regulierungsbehörde nicht über uneingeschränkte Ermessensfreiheit bei der Festlegung der Netztarife und anderer Bedingungen für den Zugang zu Netzen und Regelenergiedienstleistungen, da zahlreiche Aspekte der Festlegung dieser Tarife und Bedingungen weitgehend in den Einzelverordnungen der Bundesregierung geregelt werden. […]“
B. Rechtstransfer als Untersuchungsgegenstand I. Das simplistische Einheitsmodell von legal transplants in der Literatur Die Rechtswissenschaft ist nur eine unter vielen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit dem Phänomen „Rechtstransfer“ auseinandersetzt. Eine einzige und allgemeingültige Definition von Rechtstransfer wäre daher schon fast verwunderlich. Zu unterschiedlich sind die Erkenntnisinteressen der Disziplinen. Gleiches gilt auch innerhalb der Rechtswissenschaft selbst: Für einen Rechtshistoriker, der die „Wanderung von Recht“ über mehrere Jahrhunderte untersucht, bedeutet das Konzept des Rechtstransfers etwas anderes als für einen Rechtssoziologen, der die Wirkungen von Rechtstransfers in der Gesellschaft untersucht. Die unterschiedlichen Schwerpunkte im Begriffsverständnis zeigen sich zudem in den zahlreichen Metaphern, die für „Rechtstransfers“ in der Literatur verwendet werden. Sie entstammen meist der Medizin oder der Biologie. Jede dieser Metaphern beschreibt das Phänomen aus einem eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse heraus.1 Der vom Rechtshistoriker Watson geprägte Begriff „legal transplants“2 ist in der englischsprachigen Literatur am gängigsten. Er blieb aber auch nicht ohne Kritik. „Legal transplants“ erwecke den Eindruck, dass nach einer schwierigen Operation das übertragene Material identisch bleibe und seine alte Rolle im neuen Organismus spiele.3 Andere kritisieren, der Begriff suggeriere, dass das Ergebnis einer Transplantation lediglich entweder eine Abwehrreaktion, eine Ablehnung oder eine (erfolgreiche) Integration des Rechtssatzes in die neue Rechtsordnung darstelle.4 Auch wird kritisch angemerkt, dass „legal transplants“ eine „mechanistische Andeutung“ in sich trage.5 Ein Alternativvorschlag ist „legal borrowing“6 („Rechtsanleihe“). Doch auch dieser Begriff wird 1
Umfassende Zusammenfassungen und Erläuterungen zu den in der Literatur vorgeschlagenen Begriffen finden sich bei Kviatek, Explaining Legal Transplants, S. 63 ff. oder bei Mues, Rechtstransfer, S. 16 ff. 2 Insbesondere in: Watson, Cam. Law. J. 37 (1978), 313. 3 Teubner, in: Snyder (Hrsg.), The Europeanisation of Law, S. 243 (244). 4 Teubner, in: Snyder (Hrsg.), The Europeanisation of Law, S. 243 (244). So zusammengefasst in Fodor, Rechtsreform durch Normtransplantation in Mittel- und Osteuropa, S. 121. 5 Perju, in: Boston College Law School Faculty Law Papers, S. 1 (6). 6 So z. B. Nolan, Legal Accents, Legal Borrowing.
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B. Rechtstransfer als Untersuchungsgegenstand
kritisiert, da er für viele das Konzept der Rechtsübertragung nicht fassen kann. Er stehe für einen freiwilligen Austausch unter Gleichen, wobei der ausgeliehene Gegenstand nach einer festgelegten Zeit unverändert an den Verleiher und alleinigen Eigentümer zurückgegeben werde.7 Dies treffe für Rechtstransfers8 nicht zu, da sie nicht im Eigentum eines einzigen rechtlichen Systems stehen könnten. Außerdem würden sie im Transferprozess modifiziert und nicht an den Eigentümer zurückgegeben werden. Außerdem erfolgten Rechtstransfers nicht unbedingt freiwillig.9 Andere wiederum – insbesondere der deutsche Rechtswissenschaftler und Rechtssoziologe Günther Teubner – empfehlen die Nutzung des Begriffs „legal irritant“. Der Versuch, rechtliche Regelungen von einer Jurisdiktion in eine andere zu übertragen, löse eine „Irritation“ im neuen Umfeld aus. Insbesondere schaffe die Übertragung einen (rein) rechtlichen Diskurs in der rezipierenden Jurisdiktion. Die Bezeichnung „legal irritant“ beziehe sich auf die Beschreibung der Wirkung von Rechtstransfers im Rechtsgefüge des Rezipienten. Sie fokussiere sich daher nicht wie die meisten anderen Begriffe auf den Übertragungsvorgang.10 Hier könnte man kritisieren, dass „irritant“ (zu Deutsch „Reizstoff“) zwar ausdrückt, dass ein Fremdkörper in das rezipierende Rechtssystem „eingedrungen“ ist. Es beschreibt jedoch nicht, dass dieser Organismus aus einem fremden Rechtssystem kommt. Es lässt außer Betracht, dass sich fremdes Recht unter gewissen Bedingungen vollkommen problemlos übertragen lässt. Nicht jede „Injektion“ fremden Rechts wirkt sich unbedingt als „Reizstoff“ aus. Diese Diskussion zeugt davon, welche unterschiedlichen Assoziationen Wissenschaftler mit Rechtsübertragungen verbinden. Die widerstreitenden Deutungen von „legal transplants“ spiegeln exemplarisch die jeweils unterschiedlichen Ansätze wider.11 Dies bereichert einerseits die inhaltliche Debatte und gibt Einblicke in die verschiedenen Erkenntnisinteressen der Autoren.12 Auf der anderen Seite macht eine solche Begriffsdebatte erst dann Sinn, wenn man sich in der Literatur darüber einig ist, über was man inhaltlich debattiert. Eine Definition, oder wenigstens eine Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands Rechtstransfer trifft man jedoch nur in den wenigsten Beiträgen an. Selbst einige Beiträge, die sich intensiv und fast ausschließlich mit dem Thema Rechtstransfer 7
Perju, in: Boston College Law School Faculty Law Papers, S. 1 (6). Im vorliegenden Fall ging es der Autorin vor allem um den Begriff des Constitutional Transfers – also die Übertragung von Verfassungsrecht. Ihre Schlussfolgerung passt allerdings auch für andere Formen des Rechtstransfers. 9 Kritik zu diesem Begriff auch bei Scheppele, International Journal of Constitutional Law 1 (2003), 296. 10 Dazu ausführlich Teubner, in: Snyder (Hrsg.), The Europeanisation of Law, S. 243 (244 f.). 11 Deipenbrock, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 107 (2008), 343. 12 Nelken, in: Harding/Örücü (Hrsg.), Comparative law in the 21st century, S. 19 (29 f.). Für ihn ist die Debatte brauchbar, um Normentransfers zu theoretisieren. Wohl zustimmend: Schacherreiter, Das Landeigentum als Legal Transplant in Mexiko, S. 16. 8
I. Das simplistische Einheitsmodell von legal transplants in der Literatur
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beschäftigen, treffen keine klaren Aussagen darüber, was sie unter Rechtstransfer genau verstehen.13 Was ein Autor bei seiner konkreten Untersuchung unter „Rechtstransfer“ oder „legal transplant“ aber genau versteht, erklärt sich jedoch nicht von selbst. Es variiert je nach seinem Erkenntnisinteresse. Die Vermeidung solcher klaren Eingrenzungen hat dazu geführt, dass sich in der Literatur ein simplistisches Einheitsmodell breitgemacht hat. Twining nennt dies ein „naives Transfermodell“.14 Nach diesem Modell habe die Rechtswissenschaft stets ein bipolares Verhältnis zwischen zwei Staaten im Blick, das einen direkten einseitigen Transfer von rechtlichen Regeln oder Institutionen durch Regierungsbehörden mit einer formalen Inkraftsetzung oder Übernahme in einem bestimmten Zeitpunkt ohne größere Änderungen beinhalte. Ebenfalls werde grundsätzlich angenommen, dass der Standardfall einen Transfer von einem entwickelten Civil Law oder Common Law System in ein weniger entwickeltes Rechtssystem darstelle, um technologischen Fortschritt zu bringen, indem man die Lücken in diesem Rechtssystem füllt oder vorheriges lokales Recht ersetze.15 Nach Twinings Auffassung stellen solche „falschen“ Generalisierungen ein Hindernis für eine ordentliche Rechtstransferforschung dar.16 Es sei zwar Aufgabe der Wissenschaft, verallgemeinerungsfähige Muster zu identifizieren und zu beschreiben. Um die Prozesse und Ergebnisse von Rechtstransfers besser zu verstehen, müsse man aber das „komplexere Bild“ sowie eine „flexible Methodologie“ als Grundlage nehmen. Kurz gesagt fordert Twining also, dass sich die Rechtstransferforschung einen Begriff zugrunde legen möge, der die Vielfältigkeit des Phänomens würdigt.17 Twining ist grundsätzlich zuzustimmen. Die Tendenz in der Literatur, das Phänomen „Rechtstransfer“ zu simplifizieren, lässt sich auch an einigen Beispielen belegen.18 Dabei liegt das geringere Problem darin, dass einige Autoren 13
Siehe nur bei Watson, Legal Transplants; Siems, Legal Studies 2018, S. 1; Örücü, Journal of Comparative Law 1 (2006), 261; Nelken, in: Harding/Örücü (Hrsg.), Comparative law in the 21st century, S. 19; Mattei, International Review of Law and Economics 14 (1994), 3; Legrand, in: Nelken/Feest (Hrsg.), Adapting Legal Cultures, S. 57; Langer, Harvard International Law Journal 45 (2004), 1; Graziadei, Theoretical Inquiries in Law 10 (2009), 723; Jupp, Cambridge Journal of International and Comparative Law 2014, 381. 14 Zum Folgenden siehe Twining, Journal Legal Pluralism and Unofficial Law 49 (2004). 15 Schon bei Twining, Journal Legal Pluralism and Unofficial Law 49 (2004), 14 f.; vertiefend Twining, Journal of Law and Society 32 (2005), 203 (205 ff.); hier eigens übersetzt aus dem Englischen; Hervorhebungen orientieren sich am Original. 16 Twining, Journal Legal Pluralism and Unofficial Law 49 (2004), 5. 17 Twining zeigt in seinen Beiträgen die Simplistizität des Einheitsmodells konkret auf, indem er mögliche Alternativen zu den Merkmalen des Einheitsmodells beschreibt. Vgl. Twining, Journal of Law and Society 32 (2005), 203 (205 ff.); Twining, International Journal of the Legal Profession 8 (2001), 23 (34 f.). 18 Ein typisches Beispiel ist der Streit zwischen Legrand und Watson. Fast ausschließlich sprechen sie von Rechtstransfers, die auf „formalem“ Wege übertragen werden. In Rede stehen rein bipolare Verhältnisse zwischen einem Geber- und einem Nehmerland. Die Umsetzer und somit Hauptakteure bei Rechtstransfers werden stets als „legislator“ bezeichnet. Wie Twining
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B. Rechtstransfer als Untersuchungsgegenstand
einen mehr oder weniger simplistischen Rechtstransferbegriff zugrunde legen. Der Zuschnitt seines Rechtstransferbegriffs steht jeder Autor frei. Kritisch wird es erst, wenn das (voneinander abweichende) Begriffsverständnis nicht kommuniziert wird. Denn dann besteht die Gefahr, dass sich Autoren mit den vermeintlich gleichen, aber eigentlich unterschiedlichen Begriffsverständnissen missverstehen.19 Die Eingrenzung des Begriffs „Rechtstransfer“ ist daher über das Erkenntnisinteresse zu bestimmen. Ebenso wie beim Begriff „Recht“ handelt es sich bei „Rechtstransfers“ um eine Nominaldefinition, die nicht richtig oder falsch, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig sein kann.20 Es obliegt – wie gesagt – dem Verwender der Bezeichnung, festzulegen, welche Erscheinung oder welchen Sachverhalt er mit dem von ihm gebrauchten Begriff beschreiben möchte.21 Die Eingrenzung kann sich daher nur auf den Gang einer bestimmten Untersuchung beschränken.22 Im Folgenden soll nun der Versuch einer Eingrenzung des Rechtstransferbegriffs vor dem Hintergrund des Erkenntnisinteresses dieser Arbeit unternommen werden.
II. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands Gegenstand dieser Untersuchung sind die Probleme, die bei Rechtsübertragungen auftauchen können. Zweckmäßig ist daher ein Rechtstransferbegriff, der möglichst viele dieser Problemkonstellationen erfasst. Es spricht daher auf den ersten Blick vieles für einen weiten Rechtstransferbegriff. Als ersten Ausgangszurecht konstatiert, können Rechtstransfers jedoch auch theoretisch auf informellem Wege übertragen werden. Ein bipolares Verhältnis ist nicht zwingend. Ein Rechtstransfer kann auch aus einem „Mix“ aus unterschiedlichen Quellen bestehen. Schließlich ist auch der Gesetzgeber nicht der einzig mögliche Akteur, um Rechtstransfers durchzuführen. Sie bilden also keinesfalls die Vielfalt an möglichen Konstellationen von Rechtstransfers ab. Andererseits sind sich die beiden Autoren über die Weite des Begriffs von Rechtstransfer ohnehin nicht einig (dazu sogleich). 19 Ein Beispiel dafür ist (wiederum) die bereits oben skizzierte Debatte zwischen Watson und Legrand zur Übertragbarkeit von Recht im Allgemeinen. Watson legte offenbar einen sehr weiten Begriff zugrunde. Legrand begnügte sich hingegen nur mit einem sehr engen Verständnis von Rechtstransfers. Bei ihrem gemeinsamen Punkt, dass Recht an die kulturellen Gegebenheiten angepasst werden muss – wobei man sich freilich streiten kann, wie einfach dies ist – argumentieren die Autoren aneinander vorbei, weil sie von unterschiedlichen Begriffen ausgehen. Siehe auch Kischel, Rechtsvergleichung, S. 66 f. Rn. 38. Kritik auch bei Graziadei, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 441 (467 ff.); Mattei/Di Robilant, Tulane Law Review 75 (2001), 1053 (1073). 20 Mues, Rechtstransfer, S. 16. 21 Mues, Rechtstransfer, S. 16 mit Hinweis auf Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 31 ff. 22 Eine solche definitorische Eingrenzung findet sich – wie auch Twining andeutet – in der Tat selten bei Veröffentlichungen zum Thema „Rechtstransfers“. Die Gründe dafür dürften vor allem im damit verbundenen Aufwand liegen. Viele Autoren wollen sich diese Frage womöglich auch bewusst offenhalten.
II. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
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punkt für eine solche eher weite Begriffsverwendung ist die Definition von Geller: „Ein Rechtstransfer ist jeder Rechtsbegriff oder jede Regel, die – nachdem sie in einem Ursprungs-Rechtskörper (‚source body of law‘) entwickelt wurde – in einen anderen ‚Ziel‘-Rechtskörper (‚host body of law‘) eingeführt wird.“23
Die Definition berücksichtigt, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen rechtlichen Regelungsansätzen übertragen werden kann. Entsprechend weit ist der Transfergegenstand gefasst („jeder Rechtsbegriff“ und „jede Regel“). Sie umfasst etwa auch Normtransplantationen durch Urteile. Urteilsrezeptionen sind nach den Gesetzesrezeptionen die wohl bedeutungsvollste Form der Rechtsübertragung.24 Rechtsübernahmen durch die Judikative weisen allerdings auch einige Besonderheiten auf. Dies wird im Folgenden noch relevant und an anderer Stelle aufgegriffen.25 Gellers Definition lässt auch rechtliche Grundsätze und Rechtsdogmatik als mögliche Transfergegenstände zu. Dies ist auch für diese Untersuchung zweckmäßig. Rechtliche Grundsätze und Dogmatik sind ganz besonders kulturspezifisch veranlagt. Die Tatsache, dass der Rechtstransfer in einem formellen Rechtsetzungsakt (wie etwa einer Gesetzesverabschiedung oder in einem Urteil) ergangen sein muss, erscheint hingegen weniger zwingend. Zwingende Voraussetzung ist lediglich, dass es schriftlich fixierbar ist.26 Damit fallen unter den Untersuchungsgegenstand auch Rezeptionen von Lehren und Prinzipien aus fremden Rechtsordnungen.27 23
Geller, UCLA Pacific Basin Law Journal 13 (1994), 199. Selbst aus dem Englischen übersetzt. 24 Starck, in: Fehling/Grewlich (Hrsg.), Struktur und Wandel des Verwaltungsrechts, S. 123 (130) mit weiteren Nachweisen; mit ihnen hat sich das Schrifttum in letzter Zeit zunehmend intensiver auseinandergesetzt Vgl. nur Martini, Vergleichende Verfassungsrechtsprechung; Schmid/Morawa/Heckendorn Urscheler, Die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung; Zhu, Front. Law China 1 (2006), 112; Andenæs/Fairgrieve, Courts and Comparative Law, S. 25. 25 Zu den Unterschieden siehe noch unten D. III. 3 a) aa). 26 Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan, S. 13: Im Ergebnis ähnlich wie Hirsch, nach dem ein Rezeptionsgegenstand „eine Masse rechtlicher Vorstellungen, Ideen, Ideale, und Gedanken“ sind, die „zwar in der Formulierung des ausländischen Vorbilds als Gesetzesnorm fixiert“ seien, aber für den rezipierenden Gesetzgeber den Charakter von „faktischen Mustern und Modellen besäße.“ Hirsch, Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, 90 f. 27 Denkbar ist die Übernahme von Prinzipien wie z. B. der verfassungskonformen Auslegung, die das ungarische Verfassungsgericht aus Deutschland importiert hat, vgl. Sólyom, in: Bogdandy/Sonnevend (Hrsg.), Constitutional Crisis in the European Constitutional Area, S. 5 (13). Ebenfalls in Betracht käme eine Rezeption einer Lehre aus der Wissenschaft wie die Lehre vom einheitlichen gesetzlichen Schuldverhältnis, wie sie von Canaris entwickelt wurde (vgl. etwa Canaris, Juristenzeitung 20 [1965], 475; Canaris, in: Paulus/Diederichsen/Canaris [Hrsg.], Festschrift für Karl Larenz zum 70. Geburtstag, S. 37) und schließlich in der Schweiz weitgehend übernommen wurde (vgl. Wiegand, in: Heldrich [Hrsg.], Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, S. 881). Ein anderes Beispiel ist die Lehre vom judicial review (vgl. Matsui, Washington University Law Review 88 [2011], 1375. Dieses Beispiel wird
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B. Rechtstransfer als Untersuchungsgegenstand
In der Praxis kann jeder „Rechtsformant“28 Gegenstand einer Rechtstransplantation sein. Rechtsformanten sind verschiedene Elemente, die bei der Suche nach einer Rechtsnorm von Relevanz sein können. Dabei handelt es sich insbesondere um Gesetzestexte, Urteile und Literatur – also jede beliebige Rechtsquelle oder rechtlich relevanten Text für die Interpretation von Recht. Denn methodische Probleme können sich auch bei der Transplantation von Konzepten ergeben, die nicht (oder zumindest nicht vollständig) das tatsächliche Recht des Exportlandes wiedergeben. Auch ausländische „juristische Entdeckungen“ im alltäglich gelebten Recht können Gegenstand eines Rechtstransfers sein, soweit sie ihre Grundlagen direkt aus dem geschriebenen (beziehungsweise gesprochenen) Recht beziehen. Beispiele sind das (gesetzlich geregelte) Leasing, Factoring oder Franchising.29 Diese unterschiedlichen Formen von Rezeptionen können auch zu sogenannten „Überkreuzrezeptionen“30 werden. Dies meint Fälle, in denen die Verfahren der Produktion und der Rezeption sich nicht entsprechen. Ein Beispiel dafür ist die Rezeption von Rechtsprechung in der heimischen Gesetzgebung oder – umgekehrt – die Rezeption von Gesetzgebung durch die Rechtsprechung. Keine Rechtstransfers im Sinne dieser Untersuchungen sind Rechtsnormen, die eine völlig andere Gestalt annehmen als das ursprüngliche Rechtskonzept. Ausgeschlossen vom hier verwendeten Rechtstransferbegriff sind Rechtsnormtransfers im privaten Rechtsverkehr, insbesondere in Form der vertraglich getroffenen Rechtswahl im grenzüberschreitenden Austausch.31 Eine Art Grenzfall bilden Rechtsreformen, die noch keine Form von „Eigenleben“ in der Mutterrechtsordnung gefunden haben. Ein Beispiel dafür sind etwa Verordnungen der Europäischen Union an ihre Mitgliedstaaten. Bei ihnen handelt es sich nicht um Rechtstransfers im klassischen Sinne. Denn Erlasse der Europäischen Kommission, des Europäische Rats oder das Europäische Parlaments haben per se kein eigenes Rechtsleben. Erst die Mitgliedstaaten können EU-Rechtauch unten noch aufgegriffen.) Zu weiteren Formen der „Theorie-Rezeption“ und Beispielen aus dem Verfassungsrecht vgl. Häberle, Europäische Rechtskultur, S. 202. Mit einem Beispiel aus dem Zivilrecht zur Theorien-Rezeption: Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan, S. 67 ff. 28 Grundlegend Sacco, The American Journal of Comparative Law 39 (1991), 1; Sacco/ Rossi, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 59 ff. Siehe auch Örücü, The Enigma of Comparative Law, S. 48. 29 Rehbinder, in: Rehbinder/Son, Zur Rezeption des deutschen Rechts in Korea, S. 5 (14); Wiegand, American Journal of Comparative Law 39 (1991), 229 (236); Heiss, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 137 (140 f.). Andererseits stellen internationale Kautelarpraktiken i. S. v. „Best-Practice-Modellen“ keinen Rechtstransfer im Sinne der Untersuchung dar. So aber bei Ebert, in: Heckel (Hrsg.), Rechtstransfer, S. 23 (25) Siehe auch Grosheide, in: Boele-Woelki (Hrsg.), Comparability and Evaluation, S. 69. 30 Begriff nach Häberle, Juristenzeitung 21 (1992), 1035 (1037) Vgl. auch Heiss, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 137 (141). 31 So aber etwa bei Deipenbrock, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 107 (2008), 343 (345).
II. Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands
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setzungsakte mit Leben füllen, indem sie sie entweder (im Falle einer Verordnung) anwenden oder (im Falle einer Richtlinie) in nationales Recht umsetzen. Dasselbe gilt für die Inhalte (ratifizierter) völkerrechtlicher Verträge. Beide enthalten lediglich Normsetzungsbefehle an die Mitglieds- bzw. Vertragsstaaten.32 Nichtsdestotrotz spricht einiges dafür, diese Arten von Rechtsetzung hier nicht vollständig auszublenden. Die Probleme, die sich bei ihrer Umsetzung stellen, gleichen häufig den Problemen bei klassischen Normtransfers. Außerdem werden völkerrechtliche Verträge und EU-Recht häufig als „Mittler“ fremdstämmigen Rechts fungieren.33 Ein Rechtstransfer im Sinne dieser Untersuchung liegt schließlich auch vor, wenn der Rechtsetzer zwar primär nur auf einen ausländischen Entwurf Bezug nimmt (der für sich genommen noch kein eigenes Rechtsleben entfaltet), dieser Entwurf sich aber stark an eine existierende Rechtslage anlehnt. Dementsprechend ist auch die Rezeption der MacArthur-Verfassung vom Rechtstransferbegriff gedeckt. Eine für die Begriffseingrenzung ebenfalls wichtige Frage ist, welche Anforderungen an die Übernahmegenauigkeit zu stellen sind. Für einen Rechtstransfer kann es nicht ausreichen, wenn der Rezipient nur eine vage politische Idee übernimmt, er bei der konkreten Ausgestaltung der Norm aber im großen Maße von der Ursprungsform abweicht. Ansonsten läuft man Gefahr, den Rechtstransferbegriff ins Uferlose auszuweiten. Andererseits können auch nicht nur Rechtstransfers berücksichtigt werden, bei denen Rechtsetzer eine absolute Identität mit dem ursprünglichen Recht herstellen wollten. Solange die Gestalt des ursprünglichen Rechts aber im Groben gewahrt bleibt, liegt ein Rechtstransfer vor. Eine Anpassung des fremden Rechts an den neuen Kontext ändert 32 Unabhängig von der Frage, ob Verordnungen und Richtlinien ein eigenes Rechtsleben entfalten können, mag man schon daran zweifeln, ob sie überhaupt einen „Transfer“ zwischen unterschiedlichen Systemen darstellen. Dafür kommt es darauf an, ob es sich bei der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten um zwei voneinander formell unabhängige Systeme handelt. Denn eine systemische Unabhängigkeit des Rezipienten vom Exporteur ist eine Grundvoraussetzung dafür, um von einem Rechtstransfer zu sprechen. (vgl. auch Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 28.) Nur begrenzt weiter bringt uns bei dieser Frage die Diskussion, ob man mit der heutigen (herrschenden) dualistischen Völkerrechtslehre davon ausgeht, dass innerstaatliches Recht und Völkerrecht zwei getrennte Rechtsordnungen darstellen (so insbesondere die deutsche Literatur und Rechtsprechung: vgl. BVerfGE 22, 293 [296]: 31, 145 [173 f.] oder statt vieler Herdegen, Völkerrecht, § 22 Rn. 2.), oder ob man mit der monistischen Theorie von einer einheitlichen Rechtsordnung ausgeht (vgl. nur Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 147–149; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 53 f.) Für eine getrennte Betrachtung der Systeme spricht jedoch entscheidend, dass das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht keinen gemeinsamen Geltungsgrund aufweisen (so im Ergebnis auch Lohse, Rechtsangleichungsprozesse in der Europäischen Union, S. 102 f.; vgl. auch Weber, Grenzen EU-rechtskonformer Auslegung und Rechtsfortbildung, S. 103 m. w. N.). 33 Exemplarisch dafür ist das bereits erwähnte Beispiel der Übernahme der Independent Regulatory Agencies in Deutschland über das EU-Recht. Zu dem Merkmal des „vermittelten Rechtstransfer“ noch ausführlich unten unter D. III. 3. b) bb).
36
B. Rechtstransfer als Untersuchungsgegenstand
grundsätzlich nichts daran, dass es sich um einen Transfer fremden Rechts handelt. Das gleiche gilt für Modifikationen des fremden Rechts bei seiner Implementation in der neuen Rechtsordnung, solange das ursprüngliche Regelungskonzept dahinter erkennbar bleibt.34 Die Grenze kann nicht abstrakt genau festgelegt werden. Rechtstransfers im Sinne dieser Untersuchung müssen jedenfalls mehr als eine bloße Inspiration von fremden Regelungsideen sein, können aber auch weniger als eine 1:1-Kopie der Ursprungsnorm darstellen. Trotz des grundsätzlich weiten Anwendungsbereichs wird sich diese Arbeit vor allem auf Gesetzestransfer konzentrieren.35 In Einzelfällen werden auch Beispiele anderer Rechtstransfergegenstände genutzt.
III. Phasen eines Rechtstransfers Rechtstransfers sind keine punktuellen Ereignisse, sondern Prozesse mit einer zeitlichen Dimension.36 Diese Erkenntnis ist wichtig, um zu verstehen, dass Rechtstransfers zu verschiedenen Zeitpunkten auf Probleme stoßen können. Die Ursachen hierfür können in ganz unterschiedlichen Phasen innerhalb des Rechtstransferprozess liegen.37 Ein geeignetes Konzept, das die zeitliche Dimension eines Rechtstransfers darzustellen vermag, ist Kurkchyians Phasenmodell. Danach hat jeder Rechtstransfer eine Vorbereitungsphase, in der zumeist Rechtsvergleichung betrieben wird, sowie eine Implementationsphase, in der das Transferprojekt umgesetzt wird.38 Die Implementationsphase reicht wiederum von der Eingliederungsphase über die Aufnahmephase bis hin zur Anwendungsphase.39 Die Eingliederungsphase meint den Einführungsprozess des Rechtstransfers in das Rechtssystem (meistens mittels eines Rechtsetzungsaktes). Die Aufnahmephase beschreibt die Akzeptanz des Rechtstransfers durch die Rechtsgemeinschaft oder durch andere soziale Akteure. Die Anwendungsphase meint schließlich den tatsächlichen Gebrauch des Rechtstransfers als Regelungsinstrument zwischen gesellschaftlichen Akteuren.
34 Siehe noch unten: E. II. 3. e). 35 Der Einfachheit halber wird
im Folgenden an der einen oder anderen Stelle lediglich von „Gesetzesrezeptionen“ gesprochen, ohne dass dadurch automatisch andere Arten von Rezeptionen ausgeschlossen würden. 36 Vasella, in: Vasella (Hrsg.), Werte im Recht – Das Recht als Wert, S. 239 (240). 37 Dazu sogleich unter C. 38 Zu dieser Aufteilung vgl. Kurkchiyan, International Journal of Law in Context 8 (2012), 115 (123 f.). 39 Diese Unterdifferenzierung stammt von Kviatek, Explaining Legal Transplants, S. 120. Hier finden sich auch einige Hinweise zu den teilweise unterschiedlichen Termini für die Phasen von Rechtstransfer in der Literatur.
III. Phasen eines Rechtstransfers
37
Vorbereitungsphase Implementationsphase Eingliederungsphase
Aufnahmephase
Anwendungsphase
Abbildung 1: Phasen eines Rechtstransfers (nach Kurkchiyan)
Dieses Modell eignet sich besser als das Phasenmodell von Hirsch. Auch dessen Konzept baut auf der Prämisse auf, dass eine „Rezeption […] kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess [ist].“40 Hirsch teilt den Rezeptionsprozess in die folgenden Schritte ein: 1. Planung (als Aufgabe der Gesetzgebung), 2. Ausführung (als Aufgabe des Rechtsstabs), 3. Wegweisung (als Aufgabe der Rechtswissenschaft), 4. Verwirklichung (als Aufgabe der höchstrichterlichen Rechtsprechung).41 Der Nachteil des Phasenmodells nach Hirsch liegt, darin, dass es sich eher nach den Arbeitsschritten der zuständigen Institutionen richtet. Außerdem lässt es die Frage, wie die Gesellschaft das übertragene Recht aufnimmt, völlig außer Betracht.42 Schließlich konzentriert es sich voll und ganz auf Gesetzestransplantationen. Diese Arbeit wird sich zwar ebenfalls auf Gesetzestransplantationen fokussieren, befasst sich aber nicht ausschließlich mit ihnen. Das abstrakter gefasste Modell Kurkchiyans kommt diesem Ansatz entgegen. Es wird den vielfältigen Variationen, in denen ein Rechtstransfer entstehen kann, damit besser gerecht.
40
Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 12. Hirsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 65 (1968), 182 (184 ff.). 42 Hirsch erkennt freilich, dass die Annahme des Rechts in der Bevölkerung ein wichtiger Punkt in der Rezeptionsforschung ist. Das zeigt sich auch in dem folgenden Zitat: „Die Vorstellung, dass die Rezeption ein einmaliger Akt sei, beruht auf der positivistischen Vorstellung, dass allein das Wort des Gesetzgebers dazu ausreiche, das Recht zu verändern, und verwechselt die Idealität einer Rechtsnorm (dass sie gelten soll) mit ihrer Realität (dass sie faktisch gilt, d. h. befolgt und angewandt wird). Sie wird durch die Fakten widerlegt, die jeder Beobachter feststellen kann, der den Ablauf einer Rezeption verfolgt, die von einer gesetzgeberischen Instanz zwar ausgelöst, aber nicht verwirklicht wird. Denn jede Rezeption fremden Rechts stellt eine Übertragung und Einpflanzung von rechtlichem Gedankengut nicht aber von Rechtsnormen dar.“ Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 12. 41
C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie „Rezipiert werden rechtliche Vorstellungen, Ideen, Ideale, die zwar in der Formulierung des ausländischen Vorbilds als Gesetzesnormen fixiert sind, aber für den rezipierenden Gesetzgeber nicht den Charakter von Rechtsnormen, sondern von faktischen Mustern und Modellen besitzen.“1
Diese faktischen „Muster“ und „Modelle“, von denen Hirsch spricht, sind regelmäßig in sich schlüssige Konzepte mit einer in sich stimmigen Logik. Sie können in der Rechtsordnung, in die sie transplantiert werden, nur funktionieren, wenn das neue Umfeld sie aufnimmt. Diese Aufnahme geschieht nicht punktuell, sondern ist ein Prozess. Entsprechend sind auch die Probleme, die bei Aufnahme des neuen Umfelds auftauchen können, nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt begrenzt. Sie können in jeder Phase dieses Prozesses auftauchen. Mit den Ursachen solcher „Inkompatibilitäten“ und deren Folgen wird sich im nächsten Kapitel beschäftigt. Darin wird eine Typologie der Problemursachen von Rechtstransfers entwickelt. Es gilt, herauszuarbeiten, wo und was die „Baustellen“ in einem Rechtstransferprozess sind. Die Typologie kann die Debatte um die (methodischen) Probleme bei Rechtstransfers ordnen und eingrenzen. Veranschaulicht werden sollen diese Problembereiche anhand einiger Beispiele von Rechtsrezeptionen aus der Vergangenheit und der Gegenwart. Eine besonders wichtige Rolle spielen die bereits vorgestellten Rezeptionen des schweizerischen ZGB in der Türkei, der MacArthur-Verfassung in Japan und des Konzepts der Independent Regulatory Agencies aus den USA nach Deutschland. Die Problemursachentypologie bildet die erste Säule für ein Raster, das auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen dabei helfen soll, für bestimmte Problemrisiken zu sensibilisieren.
1
Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 12.
40
C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
I. Unzureichendes Verständnis des Rechts der fremden Rechtsordnung 1. Problematik und Beispielsfälle Eine Ursache für die Probleme bei der Übernahme fremden Rechts kann darin liegen, dass der Rezipient das zu übertragende Recht nicht versteht. Überträgt ein Rechtsetzer Recht aus einer fremden Jurisdiktion, so muss er dieses Recht in seiner Ursprungsform ausreichend studieren. Diese Aufgabe stellt sich ihm regelmäßig schon in der Vorbereitungsphase des Rechtstransfers. Die MacArthur-Constitution ist beispielhaft für eine Rechtsübernahme, bei der sowohl der Rezipient als auch der Exporteur die rechtlichen Konzepte des jeweils anderen nicht verstanden hat.2 MacArthur und seine Mitarbeiter verfügten über wenig Wissen über die Geschichte und die Kultur Japans, geschweige denn über japanische Sprachkenntnisse. Die meisten der am Verhandlungsprozess beteiligten Vertreter Japans hatten Englisch gelernt, doch nur einige waren darin verhandlungssicher. Kaum einer hatte ein vertieftes Verständnis für die Prinzipien, die der US-Verfassung unterlagen. Somit begriffen viele der japanischen Verhandler auch nicht die demokratischen Ideen, auf denen die Amerikaner bestanden.3 Die Gespräche zwischen beiden Seiten waren durch „sprachund kulturübergreifende Mehrdeutigkeiten“ geprägt.4 Die Folge war, dass sich die amerikanischen und japanischen Beteiligten in vielen Punkten inhaltlich komplett missverstanden. Diese Trugschlüsse verfestigten sich schließlich noch, da die Beteiligten die Ergebnisse der Verhandlungen in zwei unterschiedlichen Dokumenten festhielten – die Japaner die Resultate in japanischer, die Amerikaner in englischer Sprache.5 Jede Version enthielt Begriffe, die dem entsprechenden Begriff der anderen Seite auf den ersten Blick ähnelten, aber häufig von einem völlig anderen juristischen Vorverständnis geprägt waren. Diese Problematik lässt sich gut am Beispiel des Diskurses um die Stellung des japanischen Kaisers (Tennō) in der Verfassung veranschaulichen. Die zukünftige Stellung des Tennō in der neuen Verfassung war für beide Seiten von besonderer Bedeutung. Die amerikanischen Alliierten sahen im japanischen Kaiser Hirohito einen Despoten. Seine angebliche Machtfülle stand 2 Inoue hat sich in einer umfassenden Studie mit sprachbedingten Missverständnissen im Rahmen des Aushandlungsprozess zwischen den amerikanischen und japanischen Verhandlern auseinandergesetzt. Diese Untersuchungen betreffen zum einen die Stellung des Kaisers in der japanischen Verfassung. Zum anderen deckt sie sprachliche Missverständnisse in Bereichen der Religionsfreiheit, der Trennung von Staat und Kirche, der Würde des Menschen sowie der Geschlechtergleichberechtigung in der Ehe auf. Dazu und zum Folgenden siehe Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution. 3 Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 266. 4 Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 267. 5 Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 266 f.
I. Unzureichendes Verständnis des Rechts der fremden Rechtsordnung
41
ihrer Ansicht nach einem demokratischen und friedlichen Japan im Wege. Für die Japaner selbst war der Tennō identitätsstiftend. Vor und auch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Kaiser die Rolle eines „Familienvaters“ für das japanische Volk inne. Die Zukunft des Tennō war für viele Japaner „die Grundlage ihrer Nation“.6 Es überraschte also nicht, als die japanischen Regierungsvertreter in ihrem ersten Entwurf dem Tennō eine ähnliche verfassungsrechtliche Stellung einräumen wollten, wie ihm schon die alte Meiji-Verfassung eingeräumt hatte. In Art. 55 Abs. 1 der Meiji-Verfassung stand geschrieben, dass die (Staats-)Minister den Kaiser beraten (hohitsu) würden. Alle Gesetze, kaiserlichen Verfügungen, die mit Staatsangelegenheiten in Verbindung standen, benötigten zudem die Gegenzeichnung eines Staatsministers (Abs. 2). Der Vorschlag der japanischen Regierungsvertreter sah daher vor, dass nach Art. 3 der neuen japanischen Verfassung alle Handlungen des Kaisers, welche die Staatsangelegenheiten betreffen, die Beratung (hohitsu) des Kabinetts benötigen. Die Amerikaner, welche sogar ursprünglich erwogen hatten, auf die Abschaffung des Kaisertums zu bestehen, verweigerten sich dem Begriff hohitsu. Sie wollten einen Kaiser, der sich dem Volk und der Regierung unterwirft, und eine klare Gewaltenteilung. Dem Tennō sollte lediglich Symbolkraft zukommen.7 Die Amerikaner insistierten daher darauf, dass in Art. 3 der neuen japanischen Verfassung neben hohitsu („Rat“) ein Begriff eingefügt wird, der dem englischen Begriff approval („Zustimmung“) entspricht. Man einigte sich schließlich auf jogen-to hohitsu („Rat“ und „Zustimmung“) – auch weil die Japaner nicht wirklich eine Wahl hatten. Aus US-amerikanischer (juristischer) Perspektive mag diese Begriffsänderung Sinn ergeben haben. Doch diese Perspektive berücksichtigte nicht die Realitäten in Japan. Inoue vermutet, dass das Beharren der Amerikaner auf einem Missverständnis über die tatsächliche – juristische wie auch faktische – Stellung des Kaisers beruhte. Bereits zu Zeiten der Meji-Verfassung trug faktisch die Regierung die Verantwortung für die politischen Entscheidungen, nicht der Kaiser. Der Tennō hatte in der Praxis eine eher repräsentative Rolle. Diese war mehr mit Prestige als mit Entscheidungskompetenzen bestückt.8 Die amerikanischen Alliierten waren jedoch davon ausgegangen, dass die Macht des Tennō – oder die Macht, die in seinem Namen ausgeübt wurde – unbegrenzt war. Für einen unbefangenen Leser lässt der Wortlaut in der Meiji-Verfassung zugegebenermaßen auch eine stärkere Rolle des Kaisers zu. Die Bedeutung und Trageweite des Begriffs hohitsu hatte sich jedoch in der japanischen verfassungsrechtlichen 6
Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 164. General MacArthur, The American Draft of the Japanese Constitution, Artikel 1: „The Emperor shall be the symbol of the State and of the Unity of the People, deriving his position from the sovereign will of the People, and from no other source.“ 8 Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 168. 7 Vgl.
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
Praxis „eingespielt“.9 Vermutlich spielte auch der Wortlaut des Verfassungstextes bei dieser Rollenaufteilung eine deutlich geringere Rolle als die Jahrhunderte lange Tradition. Auf amerikanischer Seite fehlte daher insoweit ein Verständnis über die japanische Verfassungswirklichkeit während der Vorkriegszeit. Andererseits war auch das Verständnis der japanischen Beteiligten für das Anliegen der amerikanischen Seite unzureichend. Das Konzept einer strikten Gewaltenteilung im Verhältnis Kaiser und Regierung – also des Prinzips der checks and balances – war den Japanern neu.10 Insoweit verstand die japanische Seite auch nicht, welchen Mehrwert der Begriff jogen für den Verfassungstext haben sollte. Die japanische Rezeption der US-amerikanischen Verfassung ist somit ein Beispiel, in dem der Mangel an gegenseitigem Verständnis für die (Rechts-) Tradition des anderen dazu geführt hat, dass auch das Recht des jeweils anderen nicht verstanden wurde. Den Amerikanern war es somit nicht geglückt, ein westliches und positivistisches Verständnis von Gewaltenteilung in Form von klar definierten Zuständigkeiten nach Japan zu exportieren. Die japanischen Verhandler, quasi gezwungen, einem amerikanischen Modell zu folgen, konnten dieses Missverständnis ebenfalls nicht auflösen. Die tatsächlichen Konsequenzen dieses Fehlschlagens hielten sich in Grenzen. Die faktische Rolle des Kaisers in Japan beschränkte sich auch weiterhin – und wohl immer zunehmender11 – auf repräsentative Aufgaben. Die Furcht vor einem „starken Mann im Staat“, der Japan wieder in einen kriegerischen Despotenstaat verwandeln könnte, hat sich nicht bewahrheitet. Trotz dieser positiven Entwicklungen aus Sicht der Alliierten wird man hier – jedenfalls aus methodischer Sicht – von einer fehlgeschlagenen Rezeption sprechen müssen. Das Beispiel der Entstehungsgeschichte in der japanischen Verfassung zeigt auf, wie eng Verständnisprobleme von ausländischem Recht mit rechtskulturellen Unterschieden zusammenhängen können. Die japanischen und amerikanischen Repräsentanten gingen von ihren jeweils eigenen juristischen Vorverständnissen aus. Dieser Fokus auf das eigene Vorverständnis stand dem Verständnis des anderen Rechts im Wege. Zu unterscheiden sind diese Fälle jedoch von „Übernahmen“, bei denen der Rezipient die Übertragung eines fremden Rechts beansprucht, es aber bewusst, etwa aus politischem Kalkül, „falsch“ übernimmt. Ob eine Fehlleistung oder ob Kalkül vorliegt, kann jedoch oft im Nachhinein nicht mehr eindeutig nachvoll9 Art. 5 der Meiji-Verfassung gab dem Kaiser legislative Befugnisse „in Abstimmung“ mit dem Parlament. Theoretisch musste jegliche staatliche Entscheidung gegengezeichnet werden. Traditionell konnte der Tennō jedoch seine Zustimmung nicht mehr verweigern, wenn einmal das Kabinett und die Militärführer ihre Zustimmung gegeben haben. Rein formell stand er jedoch „weiterhin über der Politik und überstieg Parteiüberlegungen und Fehden, da er die gesamte Nation repräsentierte.“ Vgl. Toland, The Rising Sun, S. 23. 10 Dazu ausführlich Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 166 f. 11 Vgl. dazu Stanzel, Aus der Zeit gefallen, S. 63 ff.
I. Unzureichendes Verständnis des Rechts der fremden Rechtsordnung
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zogen werden. Ein Beispiel, bei dem eine solche Unterscheidung schwerfällt, stellt die Rezeption des ursprünglich deutschen Prinzips des „besonderen Gewaltverhältnisses“ in Spanien dar.12 Das Prinzip des besonderen Gewaltverhältnisses – heute meist „Sonderrechtsverhältnis“ genannt – entstand im 19. Jahrhundert und legt die Regelungsbefugnisse von Behörden gegenüber Bürgern fest, die sich in einem Zustand gesteigerter Bindung zum Staat befinden. Aufgrund des Prinzips des besonderen Gewaltverhältnisses in seiner ursprünglichen Form13 konnte die Exekutive die Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse mit den Betroffenen weitgehend ohne legislative Rechtsgrundlage bestimmen. Zu diesen Betroffenen gehören zum einen Bürger, die sich freiwillig in dieses enge Verhältnis mit dem Staat begeben haben – wie etwa Beamte. Zum anderen gehören dazu auch Personen, die unfreiwillig in dieses Näheverhältnis geraten sind – so etwa Gefangene im Strafvollzug. López Benítez beschreibt das Prinzip des „besonderen Gewaltverhältnisses“ Anfang der 1970er Jahre als eine „Beziehung, die durch eine tatsächliche und langfristige Einbindung einer privaten Partei in die organisatorische Sphäre der Verwaltung gekennzeichnet ist, aufgrund derer sie einem besonderen rechtlichen Regime unterworfen ist, was eine besondere Behandlung von Freiheitsund Grundrechten und deren Institutsgarantien zur Folge hat, die nach dem typischen Zweck der jeweiligen Beziehung ausgerichtet ist.“14 Diese Definition ist vergleichbar mit dem ursprünglichen Konzept des besonderen Gewaltverhältnisses nach Otto Mayer. Zum Zeitpunkt ihrer Rezeption war das Prinzip des „besonderen Gewaltverhältnisses“ aber in Deutschland unlängst relativiert worden.15 Jedenfalls der Teil der Theorie, der besagt, dass es für die Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse in diesen besonderen Beziehungen keiner gesetzlichen Grundlage mehr bedarf, wurde zu diesem Zeitpunkt im Schrifttum kaum mehr vertreten. Die Entwicklung in Spanien verlief genau umgekehrt. Dort wurde das besondere Gewaltverhältnis im Laufe der Jahre genau so verstanden. Erstmals 12 Zum folgenden Beispiel vgl. Mairal, in: Cascante/Spahlinger/Wilske (Hrsg.), Global wisdom on business transactions, international law and dispute resolution, S. 489. 13 Vgl. dazu grundlegend Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, S. 108. Zum Prinzip des besonderen Gewaltverhältnisses in seiner Entwicklung bis heute: Merten, Das besondere Gewaltverhältnis. 14 López Benítez, Naturaleza y presupuestos constitucionales de las relaciones especiales de sujeción, 162 f., eigene Übersetzung aus dem spanischen Originaltext: „Las relaciones jurídico-administrativas caracterizadas por una duradera y efectiva inserción del administrado en la esfera organizativa de la administración, a resultas de la cual queda sometido a un régimen jurídico peculiar que se traduce en un especial tratamiento de libertad y de los derechos fundamentales, así como de sus instituciones de garantía, de forma adecuada a los fines típicos de cada relación.“ 15 Insbesondere durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 33, 1. Zur Entwicklung des „besonderes Gewaltverhältnisses“ auch im Lichte dieser Entscheidung vgl. Merten, Das besondere Gewaltverhältnis.
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
war dies der Fall, als ein Gericht disziplinäre Sanktionen gegen Studenten verhängte, die gegen das Franco-Regime protestierten.16 Die Gerichte erweiterten in den darauffolgenden Jahren sogar den persönlichen Anwendungsbereich der unter dem besonderen Gewaltverhältnis stehenden Bürger und Institutionen erheblich. Betroffen waren nicht mehr nur Beamte oder Strafgefangene, sondern auch Versicherungen und Banken.17 Dieses Beispiel zeigt, dass Modelle auch als Tarnkappe genutzt werden können, um grundlegende Rechtsprinzipien (wie in diesem Fall den Gesetzesvorbehalt) auszuhöhlen. Es veranschaulicht aber auch, wie schwierig es im Einzelfall sein kann, festzustellen, ob fremdes Recht bewusst „falsch“ rezipiert wurde oder ob dem Rezipienten ein Verständnisfehler unterlag. Diese Frage lässt sich im Nachhinein häufig nicht eindeutig beantworten. Im Regelfall müssten die in der damaligen Zeit entscheidungsverantwortlichen Juristen befragt werden, was jedoch häufig in der Praxis nicht durchführbar ist. Bei dem vorliegenden Beispiel spricht vieles dafür, dass die Idee des „besonderen Gewaltverhältnisses“ zunächst aus der deutschen Literatur abgeschrieben und schließlich – womöglich beeinflusst durch das Staatsverständnis des Franco-Regimes – inhaltlich angepasst wurde. Doch auch dies ist nur eine Vermutung. Das Beispiel zeigt also vor allem auf, dass Verständnisprobleme beim Rezipienten nicht vorschnell angenommen werden sollten.
2. Schlussfolgerungen Das Beispiel der japanischen Verfassungsrezeption hat gezeigt, dass insbesondere bei der Übernahme von rechtskulturell vorgeprägten Rechtsbegriffen ein besonderes Risiko für Missverständnisse besteht. Es hat auch gezeigt, dass Zeitdruck das Risiko für Verständnisprobleme erhöhen kann. MacArthur wollte sicherstellen, dass Japan vor der Moskauer Konferenz der Außenminister der USA, Englands und der Sowjetunion im Dezember 1945 eine neue und für alle Beteiligten akzeptable Verfassung vorweisen konnte.18 Die Verhandlungen waren entsprechend kurz angesetzt. Sie dauerten nicht einmal ein Jahr, wobei die Verhandlungen zwischen Japanern und Amerikanern sogar nur wenige Monate andauerten. Dies war zu kurz für die Beteiligten, um ausreichend gründliche Studien über Einzelheiten anzustellen.19 Zeitlicher Druck war bisher insbesondere im Rahmen von umfangreichen Gesetzesvorhaben in Transformationsprozessen zu beobachten. Zeitdruckfak16 López Benítez, Naturaleza y presupuestos constitucionales de las relaciones especiales de sujeción, S. 154. 17 Parejo Alfonso, in: Cassagne/Cassese/Muñoz/Salomoni (Hrsg.), Problemática de la administración contemporánea, S. 131 (142). 18 Röhl, Die japanische Verfassung, S. 20. 19 Röhl, Die japanische Verfassung, S. 21.
II. Unzureichende rechtsdogmatische Integration fremden Rechts
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toren können jedoch auch in kleineren Rechtstransfervorhaben eine Rolle spielen, die heute sicherlich in der Praxis überwiegen. Ein auch noch heute präsentes Problem sind die sprachlichen und rechtskulturellen Barrieren20, die im Falle Japans die Hauptquelle für die Verständnisprobleme dargestellt haben. Die wachsende Bedeutung der rechtsvergleichenden Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten hat zwar zu einer größeren Vernetzung zwischen den Wissenschaftlern verschiedener Länder geführt. Hinzu kommen die Austauschprogramme und Masterstudiengänge, die sowohl Praktiker als auch Wissenschaftler interkulturell schulen. Dennoch stellen die Sprachbarrieren – wohl abgesehen vom Englischen – weiterhin eine bedeutende Hürde für das Verständnis fremden Rechts dar.21
II. Unzureichende rechtsdogmatische Integration fremden Rechts in das heimische Rechtssystem 1. Problematik und Beispielsfälle Bestehendes Recht und neu rezipiertes Recht „wirken aufeinander ein und reagieren aufeinander.“22 Jede Rechtsordnung hat systemische Eigenheiten, die sie von anderen Rechtsordnungen abgrenzen. Rechtsänderungen, sei es in Form von autochthoner Rechtsetzung oder Rechtsübernahmen, müssen mit diesen systemischen Eigenheiten abgestimmt werden. Die strukturellen Besonderheiten der Rechtssysteme werden auch bei der Übernahme von fremdem Recht relevant. Rechtstransfers müssen rechtsdogmatisch in das System des Rezipienten integriert werden. Der Wortlaut, mögliche Verweisungen, aber auch die verfahrensrechtliche Einbindung materiellen Rechts erfordern stets Anpassungen an das neue rechtliche Umfeld.23 Es ist daher notwendig, sicherzustellen, dass das neue Recht, das in einer fremden Struktur entstanden ist, mit dem rezipierenden System kompatibel ist oder kompatibel gemacht wird.24 Dieser Anpassungsvorgang ist anfällig für Probleme. Oft ist es schwierig, eine fremde Bestimmung in ein schon vorhandenes Mosaik von historisch gewachsenen und aufeinander abgestimmten Normen einzufü20 Vgl.
zur Europäischen Union Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation, S. 87. 21 Speziell zum deutschen Verwaltungsrecht, aber auf jedes Rechtsgebiet übertragbar: Fehling, in: Burgi (Hrsg.), Zur Lage der Verwaltungswissenschaft, S. 64 (90). 22 Timur, in: International Committee of Comparative Law, Die Rezeption des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 184 (188). 23 Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 53. 24 Berkowitz/Pistor/Richard, Economic Development, Legality, and the Transplant Effect, S. 98.
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
gen.25 Jede Gesetzesreform riskiert, fehlzuschlagen, wenn es nicht gelingt, das neue Recht in die rechtsdogmatische Struktur der rezipierenden Rechtsordnung zu integrieren. Die systemischen Eigenschaften einer Rechtsordnung spiegeln sich auch im Aufbau der Gesetze und in bestimmten Normstrukturen wider. Diese systemischen Eigenschaften eines Rechtssystems können Ähnlichkeiten zu den systemischen Eigenschaften anderer Rechtsordnungen aufweisen. Sie können sich aber auch stark voneinander unterscheiden. Mit „systemischen Verwandtschaften“ ganzer Rechtssysteme in Verbindung mit langwierigen rechthistorischen Entwicklungen hat sich etwa die Lehre von den Rechtskreisen auseinandergesetzt. Blickt man hingegen auf spezifische Rechtsgebiete sind systemische Verwandtschaften (oft nur punktuell durchgeführten) Rechtsrezeptionen geschuldet. Die Übernahme des schweizerischen ZGB in der Türkei, aber auch andere bekannte Beispiele wie die Übernahme des deutschen BGB in Südkorea,26 führten speziell im Zivilrecht zu rechtsdogmatischen Anpassungsvorgängen zwischen Staaten mit teilweise sehr unterschiedlichen Rechtskulturen und rechtsgeschichtlichen Hintergründen. Schließlich liegt die Anfälligkeit für Probleme bei rechtsdogmatischen Integrationsprozessen häufig auch an den spezifischen Eigenheiten der Rechtsordnung selbst. In Staaten mit einer starken Verfassung wie Deutschland kann eine Integration bereits erschwert werden, wenn die transplantierten Normen verfassungsrechtliche Bedenken in sich tragen. Auch die Staatsorganisation einer Rechtsordnung – oft eine Ausprägung verfassungsrechtlicher Vorschriften – können Hürden für die Transplantation fremden Rechts darstellen. Typische systemische Eigenheiten stellen auch die (öffentlich-rechtlichen) Organisationen oder Institutionen dar, die in einer Rechtsordnung besondere Aufgaben wahrnehmen. Diese Institutionen können in der einen Rechtsordnung vorhanden sein. In der anderen Rechtsordnung können sie hingegen fehlen oder komplett unterschiedlich konzipiert sein. Möchte beispielsweise ein Land – wie im Falle Estland geschehen – das (Immobiliar-)Sachenrecht aus Deutschland kopieren, so wird damit auch die Etablierung einer Institution erforderlich sein, die dem Grundbuchamt ähnelt. Der rezipierende Rechtsetzer muss also das Recht auch hinsichtlich der institutionellen Rahmenbedingungen für den Rechtsvollzug anpassen. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Anpassung des fremden Rechts an die eigenen systemischen Eigenheiten gelingt, stellt sich regelmäßig in der Eingliederungsphase (als Teil der Aufnahmephase) des Rechtstransferprozesses.
25 26
Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 16. Vgl. nur Kim, Archiv für die civilistische Praxis 200 (2000), 511.
II. Unzureichende rechtsdogmatische Integration fremden Rechts
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Die Probleme, mit denen Rezipienten bei der Integration fremden Rechts konfrontiert sein können, sind vielfältig. Einige von ihnen sollen im Folgenden dargestellt werden.
a) Verfassungsrechtliche Grenzen in der Rechtsordnung des Rezipienten Ein Hindernis der rechtsdogmatischen Integration eines Rechtstransfers ist seine Verfassungswidrigkeit. Das Schicksal eines Rechtsatzes, der für verfassungswidrig gehalten wird, ist jedoch je nach Rechtsordnung unterschiedlich. Verstößt beispielsweise im Vereinigten Königreich eine Rechtsvorschrift gegen die constitutional conventions entstehen regelmäßig keine juristischen Konsequenzen. Ihre Durchsetzung kann nicht – etwa durch Gerichtsentscheidungen – eingeklagt werden. Die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit als juristisches Korrektiv des Gesetzgebers ist dem Vereinigten Königreich fremd.27 In Deutschland hingegen erklärt das Bundesverfassungsgericht verfassungswidrige Gesetze regelmäßig für nichtig. Es gibt auch Zwischenformen: In der Schweiz etwa fehlt einerseits ein Normkontrollverfahren für einfache Bundesgesetze. Rechtsverordnungen können allerdings von Gerichten für nichtig erklärt werden.28 Die Reihe an Beispielen ließe sich fortführen. Sie zeigen, dass Verfassungen je nach Rechtssystem unterschiedliche Rollen einnehmen. Dies besagt jedoch noch nicht, dass verfassungsrechtlich bedenkliches Recht in Systemen wie dem Vereinigten Königreich eher hingenommen wird als etwa in Deutschland. Die formell rechtliche Folge von Verfassungsverstößen lassen nicht notwendigerweise auf die Reaktion schließen. Der Widerstand der Rechtsordnung gegen verfassungswidriges (transplantiertes) Recht hängt vielmehr davon ab, inwieweit die Verfassungen (oder Conventions) eine solch gefestigte Stellung im Rechtssystem haben, dass ihre Grundsätze gegen (ausländische) Fremdkörper verteidigt werden. Ein Beispiel für Probleme bei der Umsetzung von fremdem Recht aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken ist die deutsche Übernahme der Independent Regulatory Agencies aus den USA über das Unionsrecht. Die Delegation von Rechtsetzung auf die Verwaltung ist grundsätzlich durch Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG begrenzt. Hiernach müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der Rechtsetzungsermächtigung in einem Gesetz bestimmt werden. Die sogenannte „Wesentlichkeitstheorie“ des Bundesverfassungsgerichts29 geht darüber hinaus. Sie bedeutet ein teilweises „Delegationsverbot“ von Rechtsetzung.30 27 Die Konventionen werden vielmehr als politischen Grundkonsens geführt, bei dem Verstöße vor allem über die politische Meinungsbildung „geahndet“ werden. Dazu z. B. Marshall, Constitutional Conventions: The Rules and Forms of Political Accountability. 28 Vgl. Art. 190 Schweizerische Bundesverfassung. Vertiefend: Schubarth, Verfassungsgerichtsbarkeit. 29 Vgl. nur BVerfGE 33, 125 – Facharzt; BVerfGE 33, 303 – Numerus clausus I. 30 Kloepfer, Juristenzeitung 39 (1984), 685 (695).
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
Die wichtigsten Regelungen sind hiernach durch den vom Volk legitimierten Gesetzgeber zu treffen. Die Einführung von Regeln, durch die Regulierungsbehörden nach dem Prinzip der strengen Weisungsunabhängigkeit sowie mit weitgehenden Rechtsetzungsbefugnissen agieren, käme nicht nur mit dem aus der „Wesentlichkeitstheorie“ abgeleiteten Vorbehalt des Gesetzes in Konflikt. Es würde auch mit dem Prinzip der lückenlosen Weisungsketten und unter Umständen auch mit dem Bestimmtheitsgebot31 in Berührung kommen. Der deutsche Gesetzgeber, welcher für die Umsetzung der europäischen Richtlinien ins deutsche Recht verantwortlich ist, hat die Materie der Marktregulierung offenbar als „wesentlich“ eingestuft und ist zu dem Schluss gekommen, dass eine noch weitere Verlagerung der Normsetzungsbefugnisse auf die Behörden dem Wesentlichkeitsgrundsatz widersprechen.32 Dies hat dazu geführt, dass der deutsche Gesetzgeber bereits seit etwa zehn Jahren33 die europäischen Richtlinien mit ihren klaren Vorgaben zur Weisungsunabhängigkeit nicht umgesetzt hat.
b) Unterschiede in der Staatsorganisation Unterschiede in der Staatsorganisation kann die rechtsdogmatische Integration von fremdem Recht vor Herausforderungen stellen. Ein Beispiel dafür gibt die Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei. Im Ursprungstext des schweizerischen ZGB findet sich eine Vielzahl von Verweisungen auf das öffentliche Recht und auf das kantonale Recht.34 Letztere sind dadurch bedingt, dass die Schweiz ein Bundesstaat ist, in dem auch einige gesetzgeberische Zuständigkeiten im Bereich des Zivilrechts bei den Kantonen liegen. Die Türkei ist hingegen – nach französischem Vorbild35 – ein zentralistischer Einheitsstaat. Für die Türkei erschien es daher nicht sinnvoll, Gesetzgebungszuständigkeiten im Zivilrecht an Provinzen oder Gemeinden „herunterzureichen“. Zudem verzichtete das Land darauf, öffentliches Recht aus der Schweiz zu importieren. Mit diesen systemischen Unterschieden war der türkische Gesetzgeber in Teilen überfordert. Das betrifft zum einen das öffentliche Recht: Der türkische Gesetzgeber übernahm einige der im Gesetzestext getroffenen Verweise auf 31 Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (60). 32 Teilweise werden sogar im Hinblick auf die aktuellen (also noch nicht an die Richtlinien angepassten) Regelungen Zweifel an ihrer Vereinbarkeit mit der Wesentlichkeitstheorie geäußert. So zum Beispiel speziell zum Telekommunikationsrecht und mit einer vorläufigen Ausklammerung möglicher Kompensationsmöglichkeiten durch Organisation und Verfahren: Gonsior, Die Verfassungsmäßigkeit administrativer Letztentscheidungsbefugnisse, S. 173 ff. 33 Stand: Ende 2019. 34 Zum Folgenden siehe Hirsch, Schweizerische Juristen-Zeitung 50 (1954), 337 (339). 35 Zu den Einflüssen Frankreichs auf die Türkische Verfassung von 1924 vgl. Banks/Johnson, The French Revolution and religion in global perspective, S. 207 ff.
II. Unzureichende rechtsdogmatische Integration fremden Rechts
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das öffentliche Recht wortwörtlich in die türkische Version auf. Dies hatte zur Folge, dass die Verweise auf die öffentlich-rechtlichen Vorschriften im türkischen ZGB gegenstandslos sind. Denn mangels einer Rezeption der schweizerischen öffentlich-rechtlichen Vorschriften, waren diese im türkischen Recht nicht vorhanden. Das betrifft zum anderen auch die erwähnten zivilrechtlichen Regelungen, die der kantonalen Gesetzgebung unterlagen: Bei der „Abschrift“ des schweizerischen ZGB unterließ man es, die Lücken aufzufüllen, die man durch das Weglassen der Verweise auf das kantonale Recht geschaffen hatte. Dies musste zunächst die Rechtsprechung und später der Gesetzgeber nachholen.36 Besonders betroffen waren Regelungen im Grundstücksrecht. Das türkische ZGB hatte somit anfangs nur lückenhafte Regelungen zur Verhinderung von Zerstückelungen von Grundstücken,37 zum Nutzungs- und Wegerecht von nachbarschaftlichen Grundstücken,38 zur Beschränkung von Grundeigentum zum Allgemeinwohl,39 zum Grundwasserrecht40 oder zur Gemeinnutzung von Quellen auf Privatgrundstücken. Dieses Beispiel zeigt genau genommen zwei Problemursachen im Bereich der rechtstechnischen Integration fremden Rechts auf. Erstens: Die „blinde“ Übernahme von Verweisungen auf das kantonale Zivilrecht hängt unmittelbar mit den unterschiedlichen Staatsorganisationen der Länder zusammen. In diesem Fall hätte der türkische Gesetzgeber Nachforschungen im kantonalen Recht anstellen müssen, um die Lücken zu füllen. Dies erhöht freilich den Aufwand einer Transplantation. Die Beispiele zeigen, dass die Notwendigkeit, das fremde Recht anzupassen, die „unausweichliche Folge der Verschiedenheiten der politischen Struktur oder der Verwaltungs- und Gerichtsverfassung im Ursprungsland im betreffenden Rezeptionsland“ darstellt.41 Zweitens: Aus den ins Leere gehenden Verweisungen auf die schweizerischen Vorschriften des öffentlichen Rechts wird ersichtlich, dass der türkische Gesetzgeber das schweizerische Recht offenbar nicht in seinem systematischen Gesamtkontext begriffen hatte. Folglich war er auch nicht in der Lage, diesen Kontext bei seiner rechtsdogmatischen Integration zu berücksichtigen. Der türkische Gesetzgeber hat sich vielmehr auf den Wortlaut der zivilrechtlichen Normen beschränkt, ohne diese im Einzelfall „weiterzudenken“. Insoweit wird klar, dass die hier thematisierte Kategorie der „rechtsdogmatischen Integration“ vielfach eng mit der zuvor besprochenen Kategorie des „unzureichenden Verständnisses“ der fremden Norm zusammenhängt. 36 Izveren, in: International Committee of Comparative Law, Die Rezeption des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 120 (127). 37 Vgl. Art. 616 Schweizerisches ZGB in der Fassung vom 28. Mai 1904. 38 Vgl. Art. 695 Schweizerisches ZGB in der Fassung vom 28. Mai 1904. 39 Vgl. Art. 702 Schweizerisches ZGB in der Fassung vom 28. Mai 1904. 40 Vgl. Art. 705 S. 1, 709 Schweizerisches ZGB in der Fassung vom 28. Mai 1904. 41 Zajtay, Archiv für die civilistische Praxis 170 (1970), 251 (260).
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
c) Unterschätzte Wirkungsdimension des rezipierten Rechts Rechtsreformen durch legal transplants hören nicht dort auf, wo ein konkreter Norminhalt ergänzt oder ausgewechselt wird. Methodisch anspruchsvoll werden diese Reformen dann, wenn zu klären ist, welche Folgen diese Rechtsübernahmen auf das Umfeld der Norm haben. Mit dem Normumfeld sind insbesondere die Regelungen gemeint, die direkt auf dieser Norm aufbauen, sich auf sie beziehen oder in einem untrennbaren Regelungszusammenhang stehen. Hierfür gibt es zahlreiche Beispiele. So ist das „Recht der zweiten Andienung“ im deutschen Mangelgewährleistungsrecht bei Kaufverträgen die Grundlage für eine Vielzahl gesetzlicher Werteentscheidungen im Rahmen der §§ 437 ff. BGB.42 Eine Änderung dieses Prinzips – womöglich durch einen legal transplant – hätte entsprechend weitreichende Auswirkung auf das Grundverständnis einiger Normen. Ein anderes Beispiel, bei dem konkret ein Rechtstransfer mitgewirkt hat, ist die Übernahme der US-amerikanischen Business Judgment Rule in Deutschland: Der Bundesgerichtshof (BGH) übernahm die Business Judgment Rule bereits im Urteil ARAG/Garmenbeck im Jahr 1997. Sie besagt, dass bei Vorliegen eines Schadens eine Pflichtverletzung des Organmitglieds entfällt, wenn dieses bei seiner unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Basis angemessener Informationen zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Der BGH orientierte sich dabei an US-amerikanischer Rechtsprechung.43 Im Jahr 2005 zog der Gesetzgeber nach. Er kodifizierte die Business Judgment Rule im UMAG44 und nahm die Maßstäbe des BGH weitgehend wortgleich im Gesetz auf (§ 93 Abs. 1 S. 2 AktG). In den Erwägungsgründen zum UMAG bezieht sich der Gesetzgeber wiederum explizit auf den amerikanischen Ursprung der Business Judgment Rule („Dies entspricht Vorbildern der Business Judgment Rule aus dem anglosächsischen Rechtskreis“).45 Der Wortlaut des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG hat große Ähnlichkeit mit dem im anglo-amerikanischen Recht verbreiteten Business-Judgment-Rule-Test“. Hiernach muss der Vorstand in „good faith, loyalty and due care“ gehandelt haben.46 42
Vgl. dazu vertieft: Ebert, Neue Juristische Wochenschrift 57 (2004), 1761. den Ursprüngen der Rechtsprechung der Business Judgment Rule in den USA siehe etwa Merkt, Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht 46 (2017), 129 (130) m. w. N. 44 Abkürzung für „Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts“. 45 BT-Drucks. 15/5092, S. 11. 46 Es besteht allerdings ein Unterschied in der dogmatischen Struktur. Während die Business Judgment Rule in den Vereinigten Staaten eine im Prozess zu beachtende Beweislastregel darstellt, entscheidet die Regel im deutschen Recht über das Vorliegen einer Pflichtverletzung auf Tatbestandsebene. Praktische Unterschiede ergeben sich lediglich bei der Abberufung von Vorstandsmitgliedern durch den Aufsichtsrat nach § 84 Abs. 3 S. 2 AktG, der u. a. eine „grobe Pflichtverletzung“ als wichtigen Grund festlegt, der zu einer Entlassung führen kann. Vgl. statt vieler Fleischer, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2004, 685 (688). 43 Zu
II. Unzureichende rechtsdogmatische Integration fremden Rechts
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Bei genauerer Analyse weicht die Regelung aber auch in nicht unbedeutender Weise von ihrer amerikanischen Ursprungsform ab. Dies betrifft nicht so sehr die Business Judgment Rule selbst, sondern vielmehr ihre „Normumwelt“ – in diesem Fall das Beweisrecht. Nach der Rechtsprechung in den Vereinigten Staaten muss der Kläger darlegen und beweisen, dass der Vorstand nicht entsprechend dem Sorgfaltsmaßstab der Business Judgment Rule gehandelt hat.47 In Deutschland trifft den Vorstand die Beweislast.48 Einen inhaltlichen Grund für diese Abweichung vom amerikanischen Modell wird in der Gesetzesbegründung selbst nicht angeführt. Viele Stimmen in der Literatur kritisieren diese Lastenverteilung gerade mit Blick auf das Vorbild USA.49 Ob diese abweichenden Regelungen vom Gesetzgeber bezweckt worden waren, oder ob sie auf einem Missverständnis hinsichtlich des amerikanischen Beweisrechts beruhen, ist nicht eindeutig zu klären.50 Die Frage kann hier auch offen bleiben, denn damit ist die Problematik bereits veranschaulicht: Der deutsche Gesetzgeber war bei der Kodifizierung der Business Judgment Rule mit der Herausforderung konfrontiert, die Wirkung der Business Judgment Rule auf „Nachbargebiete“ wie das Beweiserbringungsrecht im Zivilprozess zu antizipieren. Die Business Judgment Rule selbst bestand lediglich aus einer einzelnen Norm. Sie zog aber aufgrund ihres Ausnahmecharakters eine ganze Reihe 47 Genau genommen handelt es sich um zwei-stufenartig „aufeinander abgestimmte Maßstäbe zunächst eingeschränkter und dann – möglicherweise – vollumfänglicher judizieller Kontrolle des Verwaltungshandelns des Organs“. Paefgen, Die Aktiengesellschaft 2004, 245 (256 f.). Dazu noch unter E. II. 3. e). 48 BT-Drucks. 15/5092, S. 12: „Da der Haftungsfreiraum des Satzes 2 als Ausnahme und Einschränkung gegenüber Satz 1 formuliert ist, liegt die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale beim betroffenen Organ.“ 49 Teilweise wird diese Lösung für nicht vereinbar mit dem Geist der ursprünglichen Regelung gehalten. Die Geschäftsleitung mit der Beweislast zu belegen, halten einige für ein in der Praxis unmögliches Verlangen. So statt vieler Paefgen, Die Aktiengesellschaft 2004, 245 (256 ff.). Differenzierend zwischen amtierenden und ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern z. B. Bachmann, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentags (Hrsg.), Verhandlungen des 70. Deutschen Juristentags, E1-E124 (E33 ff.). Sogar mit verfassungsrechtlichen Bedenken: Scholz, Die existenzvernichtende Haftung von Vorstandsmitgliedern in der Aktiengesellschaft, S. 244 ff. Es sprechen jedoch auch einige Gründe dafür, die Beweislastregelungen anders auszugestalten als in den Vereinigten Staaten. Im US-amerikanischen Prozess – nicht aber in Deutschland – gibt es das sog. Pre-Trial-Discovery-Verfahren. Dieses gewährt dem Kläger schon vor dem Prozess weitgehende Einsichtsrechte in die Geschäftsunterlagen des Beklagten. Teilweise wird die Kodifikation der Business Judgment Rule auch als Kompensation für die Verschärfung des Verfolgungsrechts der Aktionärsminderheit erklärt. Eingehend dazu und zu weiteren mutmaßlichen Beweggründen Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, S. 922 ff. m. w. N. 50 Die meisten Autoren bezweifeln, dass diese Frage im Bundesjustizministerium während des Gesetzgebungsverfahrens unbemerkt geblieben ist. Dagegen spricht insbesondere die Fülle an rechtsvergleichenden Veröffentlichungen zu dem Thema. Vgl. statt vieler Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, S. 923. Zu den Modifikationen der Business Judgment Rule siehe auch noch unten E. II. 3. e).
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von Anpassungsproblemen nach sich. Für diese war teilweise ein vertieftes Verständnis für das US-amerikanische Recht nötig. Die Antizipation der Wirkungsdimension einer transplantierten Norm ist somit eine große methodische Herausforderung für rezipierende Rechtsetzer.
d) Unzureichende Harmonisierung von wesensverwandten Norminhalten Eine weitere Herausforderung ist die Vermeidung von Normenwidersprüche aufgrund von „Rechtsmischung“.51 Dies ist der Fall, wenn eine Rezeption dazu führt, dass wesensverwandte aber eben nicht identische Konzepte aus unterschiedlichen Rechtsordnungen in verschiedenen Bereichen eines Rechtssystems zur Geltung kommen und damit die Verwendung eines einheitlichen Konzepts verhindern. Ein Beispiel hierfür sind die unterschiedlichen Konzepte von Treu und Glauben im liechtensteinischen Recht52: Im liechtensteinischen ABGB wurde das Sachenrecht und das Arbeitsrecht mit Gesetzen nach schweizerischem Vorbild ersetzt. Die Folge war, dass die liechtensteinischen Gerichte auch der Grundsatz von Treu und Glauben in manchen Bereichen eher nach dem schweizerischen Vorbild auslegten. In anderen Bereichen orientierten sie sich weiter am österreichischen Vorbild, dem das liechtensteinische ABGB auch seine Grundstruktur verdankt. Die Folge dieser „Rechtsmischung“ ist ein Verschwimmen des Treuund-Glauben-Grundsatzes im liechtensteinischen Zivilrecht. Der liechtensteinische Gesetzgeber nahm irrtümlich an, der Grundsatz von Treu und Glauben ließe sich in einem bestimmten Bereich des Rechts „umformulieren“, ohne dass dies Einfluss auf die Ausformungen des Prinzips Treu und Glauben in anderen Rechtsgebieten haben würde. Der Änderung fehlte es an einem Konzept, das sich mit der Frage befasste, welche Auswirkungen diese Reform auf das Prinzip Treu und Glauben im Allgemeinen haben soll. Im Fall Liechtenstein erzeugte dieses Versäumnis eine Menge an Rechtsunsicherheit – ein Problem, welches die liechtensteinische Rechtsprechung mühsam versucht, einzufangen.
e) Sprachliche Barrieren Die „Übersetzung“ des Gesetzestextes in die traditionelle Rechtssprache des Rezipienten gehört ebenfalls zur Problematik der rechtsdogmatischen Integration. Unterschiedliche Rechtssysteme unterliegen nicht nur unterschiedlichen Sprachen. Sie unterscheiden sich auch teilweise darin, wie das Instrument der Sprache genutzt wird, um Normbefehle auszusprechen. 51 So
der Terminus bei Heiss, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 137 (144 ff.). 52 Zum Folgenden eingehend: Legerer, Der Grundsatz von Treu und Glauben im liechtensteinischen Privatrecht, S. 118 ff. Dort auch der Versuch einer Systematisierung.
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Dies veranschaulicht das Beispiel der japanischen Rezeption der MacArthurVerfassung. Bei den Verhandlungen standen terminologische Differenzen und Missverständnisse zwischen den japanischen Verhandlern und den Mitarbeitern MacArthurs im Vordergrund. Die meisten dieser Missverständnisse waren unentdeckt geblieben, bis sich Inoue intensiv mit den sprachlichen Unterschieden zwischen der japanischen und der englischen Fassung auseinandersetzte.53 Ihm fiel auf, dass sich der erste japanische Entwurf und der am Ende verabschiedete Gesetzestext grammatikalisch und semantisch deutlich von dem Entwurfstext der Mitarbeiter MacArthurs unterschieden. Inoue erkannte zum einen Unterschiede bei der illokutionären Wirkung der Texte. Der amerikanische Text sei rhetorisch an eine ähnliche „Zuhörerschaft“ gerichtet wie die US-Verfassung. Er verpflichte das Volk, ein demokratisches System zu schaffen und befehle der Regierung, die Rechte und Freiheiten des Volkes nicht zu verletzen. Der japanische Text hingegen verwende eine andere Sprache. Er sei der traditionellen japanischen Rechtssprache angepasst und ganz besonders der Ausdrucksweise in der Meiji-Verfassung. Die japanische Version benutze keinen Befehlston, wie der US-amerikanische Text. Der Verfassungsgeber (also das „Volk“) befiehlt der Regierung nicht, ihre Rechte und Freiheiten zu wahren. Stattdessen bestärkt er die (allgemeine) Notwendigkeit, Individualrechte und Freiheit zu schützen.54 Die amerikanische Version der Verfassung hat also einen klaren Normadressaten. Die japanische Version klingt – wenn man dies mit einem deutschen Verfassungsbegriff beschreiben möchte – eher nach einem Konstrukt von „Staatszielbestimmungen“. Zum anderen führt Inoue eine Vielzahl an Beispielen an, mit denen er belegt, wie die unterschiedlichen Sprachen die Texte der Verfassung verändern. Eines davon ist Art. 13 der japanischen Verfassung, nach dem jeder Staatsbürger als Persönlichkeit zu respektieren ist.55 Der amerikanische Text zu Art. 13 (also das Ergebnis der Verhandlungen auf amerikanischer Seite in englischer Sprache) liest sich wie folgt: „All of the people shall be respected as individuals.“
Die japanische Endversion hingegen lautet:56 „All of the people are/will be respected as individuals.“
Während shall be eine Form der Instruktion oder des Kommandos gegenüber der japanischen Regierung darstellt, klingt are/will be nach einem erstrebens53 54
Zum Folgenden siehe vor allem Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution. Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 103. 55 Zum Folgenden: Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 87. 56 Aus dem Japanischen sinngemäß übersetzt von Inoue. Es wurde eine Form gewählt, die sowohl habituelle als auch zukünftige Aktivitäten beschreibt, also im Englischen „are/will be“ in etwa entspricht.
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werten Zustand, also einem Ziel. Inoue konstatiert, dass die Unterschiede durch Anpassungen ministerieller Gesetzgebungsarbeit entstanden seien.57 Die Gesetzesschreiber wollten den Verfassungstext mit der traditionellen Rechtssprache und auch der Rechtstradition Japans in Einklang bringen. Sie nahmen aber nicht an den Verhandlungen teil. Inoue vermutet, dass sich die ministeriellen Verantwortlichen mit den Formulierungen nicht über die amerikanischen Vorstellungen hinwegsetzen wollten. Die Änderungen seien eher eine Art rechtskultureller Reflex, mit dem ein traditionelles Staatsverständnis als Überbleibsel einer Verfassungsrechtskultur aus der Meiji-Zeit übernommen wurde. Ein Verständnis, welches – jedenfalls aus US-amerikanischer Sicht – mit der Reform gerade überwunden werden sollte. Es ist schwierig wiederzugeben, inwieweit sich die begrifflichen Unterschiede in der Rechtssprache unmittelbar auf die Praxis auswirkten. Vieles spricht dafür, dass auch eine „autoritärere“ Formulierung in der Realität keinen großen Unterschied gemacht hätte. Dies liegt vor allem an der konservativen und zurückhaltenden Praxis des Obersten Gerichts bei Verfassungsfragen. Welche Probleme bei solchen Abweichungen in der Rechtsprache potenziell entstehen können, kann dieses Beispiel jedoch andeuten. Es zeigt, dass die oft unbewusste Verwendung von traditioneller Rechtsprache ein Bremsfaktor für eine möglichst detailgetreue Übernahme von neuem Recht sein kann. Sind Rechtsetzer an einer möglichst ursprungsgetreuen Übertragung des fremden Rechts interessiert, sind sie also gehalten, auch linguistische Unterschiede bei der Rechtssprache im Blick zu halten. Das gilt genauso, wenn der Rechtsetzer grundsätzlich bereit ist, das fremde Recht auch in modifizierter Form zu übernehmen.
f) Die Notwendigkeit zusätzlicher Rechtsinstitute oder Institutionen Schließlich kann die rechtsdogmatische Integration einer Norm auch institutionelle und organisatorische Reformen nach sich ziehen. Die Frage stellt sich gewissermaßen in einem zweiten Schritt nach der Feststellung der Wirkungsdimensionen des fremden Rechts.58 Hat der Rechtsetzer erkannt, welche weiteren „Baustellen“ das zu transplantierende fremde Recht schafft, muss er sich in einem nächsten Schritt Gedanken machen, ob er diese Abweichungen in Form zusätzlicher Rechtsinstitute oder Institutionen auffangen muss. Im Rahmen der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei wurde dies etwa im Rahmen der Reform des Grundeigentums notwendig. Die schweizerischen Vorschriften setzten ein Grundbuch voraus, welches in der Türkei aber auch noch Jahre nach der Rezeption fehlte.59 Die türkische Rechtspre57 58
Zum Folgenden: Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 82. Vgl. dazu oben unter c). 59 Zum Folgenden: Zajtay, Archiv für die civilistische Praxis 170 (1970), 251 (260) m. w. N.
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chung musste sich in der Folgezeit damit behelfen, den Begriff des Eigentums vorübergehend durch den des Besitzes zu ersetzen. Nur so war es möglich, in der Übergangszeit nicht im Grundbuch eingetragenes Grundeigentum zu übertragen. Abgesehen von diesen Übergangsproblemen war das Registerrecht für die türkischen Praktiker ein in dieser Form komplett neues Rechtsgebiet. Es musste eingeführt werden, um die immobiliarsachenrechtlichen Normen aus der Schweiz umzusetzen. Gelangt der Rechtsetzer zu der Einschätzung, dass die Schaffung neuer Institute nicht zu der gewünschten Annäherung zwischen dem heimischen Recht und dem fremden Recht führt, bleibt ihm noch die Möglichkeit, das fremde Recht in lediglich modifizierter Form zu übernehmen. Ob es ein Rechtsetzer vorzieht, das eigene Recht abzuwandeln oder das zu übertragende Recht abzuändern, ist stets Gegenstand einer Abwägungsfrage, die nicht nur von praktischen, sondern auch von rechtspolitischen Gesichtspunkten abhängig ist. Auf die Rolle der Modifikation als mögliche Strategie, um schwer integrierbares fremdes Recht „passend“ zu machen, wird zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukommen sein.60
2. Schlussfolgerungen Wie dargelegt, birgt die rechtsdogmatische Integration eines Rechtstransfers in mehreren Bereichen Problempotenzial. Typische Herausforderungen bestehen darin, die potenzielle Ausstrahlungswirkung von Rezeptionen auf verschiedene Regelungsbereiche zu erkennen. Ein Rechtsetzer muss die Grenzen der Übertragbarkeit von fremden Rechtsgrundsätzen – etwa aufgrund von Verfassungsrecht – einhalten. Zudem muss er die dogmatische Kohärenz der zu übertragenden Norm mit dem rezipierenden Rechtssystem sicherstellen. Auch die Sprache kann die Integration fremden Rechts vor Herausforderungen stellen. Zum einen können Schwierigkeiten bei der Übersetzung von Rechtsbegriffen entstehen. Zum anderen ist erkennbar, dass sich die illokutionären Wirkungen der Rechtssprache unterscheiden können. Die linguistischen Aspekte von Rechtsprache sind ein im Zusammenhang mit legal transplants noch weitgehend unerforschtes Gebiet. Es ist zu vermuten, dass Globalrezeptionen grundsätzlich weniger anfällig sind für Probleme, die auf rechtsdogmatischen Anpassungsschwierigkeiten beruhen. Dort, wo ursprüngliches Recht für gänzlich unwirksam erklärt und durch ein neues, fremdes Konzept ersetzt wird, fallen bestimmte und teilweise kaum vermeidbare Anpassungsprobleme weg. Die Rechtsanwender des Rezipienten haben zwar regelmäßig ein deutlich umfangreicheres fremdes Regelungswerk zu studieren, was freilich zu anderen Arten von Problemen führen kann. Da aber bei einer Globalrezeption regelmäßig auch die Dogmatik mitübertragen werden 60
Siehe dazu unten E. II. 3. e).
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
soll, ergeben sich im Hinblick auf die rechtsdogmatische Integration weniger Probleme. Insofern beschränken sich die Probleme auf die Verzahnung des globalrezipierten Rechts mit anderen (nicht rezipierten) Rechtsgebieten. Bei der Rezeption des türkischen ZGB in der Türkei musste – wie aufgezeigt – der Rechtsetzer etwa das neue Zivilrecht mit dem (türkischen) öffentlichen Recht systematisch in Einklang bringen. Wie das Beispiel zeigt, können hier auch bei Globalrezeptionen Probleme auftreten. Dennoch sind die Risiken bei Globalrezeptionen grundsätzlich überschaubarer. Anfälliger sind dagegen Teilrezeptionen, bei denen nur ein (kleiner) Bereich in der Rechtordnung des Rezipienten ersetzt beziehungsweise ergänzt wird. In diesen Fällen muss sich eine fremde Regel in eine etablierte und verfestigte dogmatische Struktur einfügen. Die Widerstände dürften in der Regel deutlich zahlreicher und größer sein als bei einer kompletten Ersetzung. Beispiele für diese Widerstände war die Übernahme der Business Judgment Rule in Deutschland ebenso die Rezeption unterschiedlicher Konzepte des Grundsatzes von Treu und Glauben in Liechtenstein. Schließlich ist zu beobachten, dass den rechtsdogmatischen Eigenheiten eines Rechtssystems regelmäßig auch eine kulturelle Dimension zukommt. Rechtsdogmatische Anpassungsprobleme sind häufiger anzutreffen, wenn die zu transplantierende Norm ursprünglich aus einem Rechtssystem stammt, das einem anderen Rechtskreis zuzuordnen ist und durch typische Eigenheiten dieses Rechtskreises geprägt ist. Das gilt ganz besonders für die unterschiedlichen Strukturen des Common Law und des Civil Law. Bei der Übernahme der US-amerikanischen Business Judgment Rule kodifizierte der deutsche Gesetzgeber beispielsweise Rechtsprechung aus einer Common Law Jurisdiktion. Der deutsche Gesetzgeber musste sich mit Präzedenzfällen der US-amerikanischen Rechtsprechung befassen, anstatt sich an Statuten orientieren zu können. Da die Business Judgment Rule noch ein vergleichbar überschaubares Konstrukt ist, beschränkten sich in diesem Fall die Anpassungsprobleme auf einige Fragen des Beweisrechts. Bei komplexeren und umfangreicheren Regelungsübertragungen aus dem Common Law können die Ansprüche an eine rechtsdogmatische Integration hingegen noch anwachsen.61
III. Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede zwischen Geber- und Nehmerland 1. Problematik und Beispielsfälle Bei der Auslegung und Anwendung berücksichtigen Rechtsanwender regelmäßig das Zusammenspiel der verschiedenen Normen sowie die Einbettung der 61 Zur Frage, inwieweit kodifiziertes Recht sich besser zur Übertragung eignet als Fallrecht, vgl. noch unten E. II. 3. a) dd).
III. Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede 57
auszulegenden Norm in weitere Elemente der maßgebenden Regelungsstruktur.62 Die Methode bei der Normauslegung und -anwendung wird zudem von einem Vorverständnis beeinflusst. Dieses Vorverständnis basiert zum einen auf den allgemeinen Wertevorstellungen, die sich in einer Nation durch die Geschichte herausgebildet haben.63 Es basiert zum anderen auf bestimmten Denkmustern und -prinzipien, die sich in der juristischen Ausbildung durchgesetzt haben und sich in der Praxis weiterverbreitet haben. Schließlich umfasst dieses Vorverständnis auch das Selbstverständnis des (rechtsanwendenden) Juristen ebenso wie des (juristisch arbeitenden) Rechtsetzers. Dieser gemeinsame „Grundkonsens“, der einer Rechtsordnung zugrunde liegt, wird im Folgenden als Rechtskultur64 bezeichnet. Die Rechtskultur kann sich von Rechtsordnung zu Rechtsordnung stark unterscheiden. Dies hat auch Auswirkungen auf die methodische Dimension der Übertragung von fremdem Recht. Mit der Übernahme fremden Rechts wird auch ein Stück weit fremde Rechtskultur übertragen. Diese fremde Kultur zeigt sich in „anderen Begriffen und Logiken“,65 die dem fremden Recht zugrunde liegen. Diese gilt es, in die heimische Rechtskultur zu „übersetzen“. Rechtsetzer müssen dafür „sowohl die objektiven als auch die subjektiven Faktoren berücksichtigen, welche die Wirkungsmacht des ausländischen Rechts im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext vorbestimmen.“66 62
Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation, S. 81. So sinngemäß bei Rehm, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 1 (20). 64 Der Begriff „Rechtskultur“ hat viele unterschiedliche Verwendungen in der Literatur. Das Konzept von Rechtskultur für diese Arbeit, in das gerade eingeführt wurde, ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Das Konzept der Rechtskultur erscheint „vage und endlos.“ Vgl. Kurkchiyan, in: Banakar/Travers (Hrsg.), Theory and Method for Socio-Legal Research, S. 259 (261). Teilweise wird von „rechtskulturellen“ Unterschieden oft schon beim Vergleich von rechtlichen Lösungsansätzen gesprochen, die sich aufgrund unterschiedlicher sozio-kultureller Hintergründe entwickelt haben. Vgl. am Beispiel des informationellen Selbstbestimmungsrechts in den USA und Deutschland: Fehling/Schliesky, Neue Macht- und Verantwortungsstrukturen in der digitalen Welt. Unter Rechtskultur werden auch „die Ideen, Werte, die Haltungen und Meinungen [verstanden], welche Bevölkerung in einer Gesellschaft im Hinblick auf das Recht und das Rechtssystem haben.“ Vgl. Friedman, Ratio Juris 7 (1994), 117 (118). Friedman unterscheidet dann wiederum zwischen „externer Rechtskultur“ und „interner Rechtskultur“. Die externe Rechtskultur spiegele die Erwartungen von juristischen Laien an das Recht wider. Die „interne Rechtskultur“ erfasse die Vorstellungen der Juristen, die dieser zugehörig sind. Friedman, The Legal System, S. 194 und 223. Ein Versuch, das Konzept Rechtskultur in noch mehr Dimensionen aufzuteilen, findet sich bei van Hoecke/Warrington, International & Comparative Law Quarterly 47 (1998), 495 (513 ff.). Ausführlich zur Debatte über das Konzept der Rechtskultur siehe auch Acar, Ankara Law Review 3 (2006), 143. Der Rechtskulturbegriff, dem hier nachgegangen wird, ist der interne Rechtskulturbegriff nach Friedman. Im Fokus stehen also das Vorverständnis und die Erwartungen von den Rechtsanwendern, die den Rechtstransfer umzusetzen haben. 65 Hirsch, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 116 (1954), 201– 218 (212). 66 So die Definition von „Rechtskultur“ nach Nußberger, in: Häberle (Hrsg.), Jahrbuch 63
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
Es gibt zahlreiche Fälle, in denen diese „Übersetzung“ von Rechtslogiken und Begriffen in die heimische Rechtskultur nicht zufriedenstellend verlaufen ist. Dem Rechtsetzer muss es gelingen, das zu übertragene Recht sowohl terminologisch als auch dogmatisch so in die Rechtsordnung einzubetten, dass der Rechtsanwender die Norm umsetzen kann, ohne sich „verbiegen“ zu müssen. Andererseits trifft den Rechtsanwender unter Umständen auch selbst eine Verantwortung, die Fremdheit des übernommenen Rechts bei seiner Auslegung und Anwendung zu berücksichtigen.67 Die hier zu behandelnde Kategorie „Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede“ steht in einem engen Verhältnis zur vorherigen Kategorie, bei der es um die rechtsdogmatische Integration des fremden Rechts ging. Während bei der rechtsdogmatischen Integration eher die „technische“ Seite der Normintegration im Zentrum der Diskussion stand, geht es bei der Kategorie der „rechtskulturellen Problemursachen“ um die Faktoren selbst, die auf den unterschiedlichen und unter Umständen tief verwurzelten Rechts- und Systemverständnissen beruhen. Die Übergänge zwischen den Kategorien sind jedoch fließend. Gerade die technische Seite der rechtsdogmatischen Normanpassung ist freilich nicht frei von rechtskulturellen Faktoren – worauf im letzten Abschnitt bereits hingewiesen wurde. Bei der rechtsdogmatischen Integration müssen vielmehr auch stets rechtskulturelle Aspekte berücksichtigt werden. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen verfassungsrechtliche Bedenken geäußert werden.68 Der „technische Rechtsrahmen“ der Verfassung ist nur Ausdruck eines tieferen rechtskulturell geprägten Staats- und Werteverständnisses. Trotz dieser fließenden Übergänge erscheint es sinnvoll, diese beiden Kategorien – zumindest gedanklich – zu unterscheiden. Auslegungsschwierigkeiten aufgrund von rechtskulturellen Unterschieden sind stets in der Aufnahmephase (als Teil der Implementationsphase) des Rechtstransferprozesses zu beobachten. Mit dieser Art von Problemen soll sich der folgende Abschnitt beschäftigen. des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge, S. 35 (39). Nußberger bezieht sich vor allem auf Bell, Current Legal Problems 48 (1995), 63 (70 ff.), welcher Rechtskultur als eine „bestimmte Art, in der Werte, Praktiken und Konzepte zur Handhabung von Rechtsinstituten und zur Interpretation von rechtlichen Texten herangezogen werden.“ Eigene Übersetzung aus dem Englischen. Dabei handelt es sich um einen Rechtskulturbegriff, der sich lediglich auf die Auslegung von Recht bezieht. Für manche bedeutet „Rechtskultur“ auch die Werte, Ideen, Einstellungen, die eine Gesellschaft in Bezug auf das Recht hat (so u. a. bei Kurkchiyan, International Journal of Law in Context 8 [2012], 115 [123]); Andere benutzen „Rechtskultur“ sogar als wertenden Begriff, etwa im Gegensatz zum Totalitarismus, so etwa Häberle, Europäische Rechtskultur. Die Definition von Nußberger soll dieser Arbeit zugrunde gelegt werden. 67 Damit eng verbunden ist die Frage der (Notwendigkeit einer) rechtsvergleichenden Auslegung. Siehe dazu noch E. II. 3. b) gg). 68 Siehe dazu oben bereits C. II. 1. a).
III. Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede 59
a) Die rechtskulturelle Kluft zwischen der Schweiz und der Türkei Ein Beispiel für die Auslegungsschwierigkeiten bestimmter Teile des rezipierten Rechts findet sich bei der türkischen Rezeption des schweizerischen ZGB. Das überrascht nicht, da zwischen dem schweizerischen ZGB und den zivilrechtlichen Konzepten in der Türkei eine tiefe rechtskulturelle Kluft herrschte. Diese war nicht zuletzt auf die allgemeinen kulturellen und historischen Unterschiede zwischen den Staaten Anfang der 1920er Jahre zurückzuführen. In der Türkei hatte bis dahin der Islam die türkische Gesellschaft und ihre Sicht auf Fragen des Gewissens, der Moral und auch des Rechts maßgeblich geprägt. Bis zum Jahr 1839 war das Osmanische Reich ein theokratischer, danach bis zur Revolution Atatürks Anfang der 1920er Jahre ein semi-theokratischer Staat. Mit der Abschaffung des Kalifats und der Säkularisierung unter Atatürk sollte ein Bruch mit dem „rückständigen“ islamischen Recht eingeleitet werden. Die Rezeption des schweizerischen ZGB sollte eine Zäsur in der rechtskulturellen Entwicklung der Türkei darstellen:69 Sie bedeutete einen wichtigen Schritt in Richtung westlichen Denkens und westlicher Rechtskultur. Die islamische Rechtskultur wurde freilich nur auf dem Papier ausgelöscht, aber nicht in den Köpfen der türkischen Juristen. Der Gewöhnungsprozess der türkischen Rechtspraxis an das neue Recht verlief daher nicht immer reibungslos. Damit unterschied sich die Türkei von den Völkern im kontinentaleuropäischen Rechtsraum. Zumindest in Mitteleuropa verliefen die Rechtsrezeptionen untereinander meist ohne größere Probleme.70 Dies erklärt sich dadurch, dass zumindest das kontinentale westliche Europa über viele Jahrhunderte hinweg rechtskulturell zusammengewachsen ist. Das Römische Recht hatte im europäischen Rechtsraum einen gemeinsamen rechtskulturellen „Common Core“ gebildet. Die Türkei profitierte von der Verbreitung des Römischen Rechts erst sehr spät. Einflüsse aus dem Römischen Recht erreichte die Türkei nur mittelbar über Frankreich. Sie erstreckten sich auch nur auf einige wenige Rechtsgebiete.71 Für die bereits ausgebildeten türkischen Praktiker stellte die Übernahme westlichen Rechtsdenkens und westlicher Dogmatik eine große Umstellung dar. Für Hirsch „[glich] der reine Gesetzestext für sich allein betrachtet, […] einem Betongerüst, das auf seine Füllung durch sachverständige Praktiker wartete, damit der geplante Bau bezugs- und gebrauchsfähig würde.“72 Außerdem 69 Krüger, in: Scholler/Tellenbach (Hrsg.), Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach der Gründung, S. 125 (130). 70 Velidedeoglu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 60 (61 f.). 71 Das osmanische Handelsgesetzbuch (1850) und das osmanische Seehandelsgesetzbuch (1863) waren dem französischen Code de Commerce entlehnt. Für schuld-, sachen- und prozessrechtliche Bestimmungen galten jedoch die Normen der Scharia unter dem Namen Mecelle-i ahkamı adliye. Näheres bei: Atamer, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 723; Gürzumar, in: Kieser/Meier/Stoffel (Hrsg.), Revolution islamischen Rechts, S. 35. 72 Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 53.
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
„[hinkte] die Ausbildung der Juristen auf der Grundlage und im Geiste der neuen Gesetze um viele Jahre hinterher.“73 Mit noch größeren Problemen als in der Ausbildung des juristischen Nachwuchses hatte die Türkei mit der „Umschulung“ der bereits praktizierenden Juristen zu kämpfen. Es waren vor allem kaum Vorkehrungen getroffen worden, um die bereits in der Praxis stehenden Richter und Rechtsanwälte ausreichend und nachhaltig in das neue Recht einzuführen. Man ließ den Praktikern zwischen der Verkündigung und dem Inkrafttreten der neuen Gesetze nur wenige Monate Zeit, um sich in deren Texte einzulesen.74 Gesetzeskommentare in türkischer Sprache, die auf das schweizerische ZGB Bezug nehmen, wurde den Gerichten erst nach geraumer Zeit zur Verfügung gestellt.75 Die Folge war, dass sich eine der schweizerischen Urform vielfach nicht entsprechende Auslegung des Rechts verfestigte: Hirsch konstatierte, dass auch mehr als fünfzig Jahre nach der Rezeption „noch einige Irrtümer vor[kamen], die darauf beruhen, dass die gesetzlichen Bestimmungen nicht verstanden worden sind“, weil „das alte Rechtssystem im Denken der Juristen infolge langjähriger Praxis untilgbare Spuren hinterlassen hat.“76 Wie stark sich die rechtskulturellen Unterschiede zwischen dem ursprünglichen türkischen Zivilrecht und dem neuen ZGB auf die Arbeit der Gerichte auswirkten, ergibt sich aus einem Brief vom Präsidenten eines Zivilsenats des türkischen Kassationshofs an Hirsch aus dem Jahr 1926. „Es ist nicht leicht, sich auf die dinglichen Rechte insbesondere an Grundstücken beziehenden Vorschriften des Zivilgesetzbuchs zu verstehen, solange man nicht ausführliche Studien darüber anstellt. […] Vielleicht ist es möglich, in unseren geltenden Gesetzen einen Ausweg aus dieser misslichen Lage zu finden; wir Richter jedoch können ihn nicht finden, sei es, weil wir unserem überkommenen juristischen Denken verhaftet geblieben sind, sei es, weil wir unter einer die menschliche Arbeitskraft übersteigenden Aufgabenlast keine Zeit haben oder finden, um den in den Feinheiten unserer gesetzlichen Vorschriften verborgenen Rettungsweg ausfindig machen zu können. In beiden Fällen ist es jedenfalls Pflicht des Richters, danach zu fragen und zu forschen. Auch von denen, die es wissen, zu lernen, ist ihr gesetzliches Recht. Der letzte Absatz von Art. 1 unseres Zivilgesetzbuchs gewährt dem Richter dieses Recht mit den Worten: ‚Der Richter lässt sich von der gefestigten Lehre und Rechtsprechung leiten.‘ Auch unser früheres Recht kannte dieses Recht des Richters unter der Bezeichnung ‚istifta‘. So möchte auch ich, gestützt auf dieses Recht, mich von Ihrer sachkundigen wissenschaftlichen Ansicht, zu der ich volles Vertrauen habe, leiten lassen. […]“77 73 Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 57. Dieser Entwicklung versuchte die Zentralregierung jedoch bald entgegenzusteuern. Sie lud eine Reihe von ausländischen Rechtsexperten ein und gründete kurz nach der Reform eine neue Rechtsschule in Ankara, in der – so betonte Bozkurt – „das neue Recht gelehrt werden müsse“. Zudem engagierte das Ministerium eine Reihe an Gastprofessoren aus Europa, welche halfen, die ausländische Rechtslehre zu vermitteln. 74 Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 57. 75 Postacıoğlu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 54 (55). 76 Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 59. 77 Ein noch etwas ausführlicherer Ausschnitt dieses Briefes befindet sich bei Hirsch, Re-
III. Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede 61
b) Die richterliche Kontrolldichte in Japan im Gegensatz zu den USA Auch bei der Rezeption der MacArthur-Verfassung stießen zwei völlig unterschiedliche Rechtskulturen aufeinander. Röhl warnte in der Vorbemerkung seiner Abhandlung zur japanischen Verfassung davor, dass wir unsere „Interpretationsmethoden [bei der Interpretation der japanischen Verfassung] nicht unbedenklich anwenden [können], da der ‚Denkstil gefühlsbetont‘, von einer ‚poetischen Unbestimmtheit‘ geprägt und ‚für außerjuristische Einflüsse aufnahmebereiter‘“ ist.78 Vor diesem Problem stand auch der japanische Rechtsanwender, wenn er die japanische Verfassung mit US-amerikanischen rechtskulturellen Hintergrund auszulegen hatte. Die neue japanische Verfassung ist ein Paradebeispiel für die Rezeption einer Vielzahl von Begriffen und Prinzipien, die dem Rezipienten fremd und unverständlich waren.79 Das galt beispielsweise bei der Handhabung der richterlichen Kontrolldichte des japanischen Verfassungsgerichts. Zu einer erfolgreichen Übernahme von Verfassungsrecht gehört nicht nur eine ähnliche inhaltliche Interpretation und Anwendung der Verfassungsnormen selbst. Sie setzt auch voraus, dass die zuständige Kontrollinstanz im Rechtssystem des Rezipienten ihre Kompetenz in vergleichbarer Weise ausübt wie ihr Pendent im Ursprungsland. Die praktische Bedeutung der rezipierten Normen muss sich weitgehend entsprechen. Dies ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Rechtswirklichkeit des transplantierten Rechts beim Rezipienten ebenso oder zumindest ähnlich ausgestaltet ist wie im Ursprungsland. Dementsprechend lohnt ein Blick auf die Ausübung der verfassungsrichterlichen Kontrolldichte des Obersten Gerichtshof Japans80 im Zeitraum nach der Rezeption der japanischen Verfassung. Wie auch in der US-Verfassung ist die richterliche Kontrolldichte in der japanischen Verfassung (judicial review) nicht festgeschrieben.81 Der Kontrollzeption als sozialer Prozeß, S. 51 f. 78 Röhl, Die japanische Verfassung, S. 10. 79 Im Folgenden wird sich auf Fragestellungen fokussiert, die im Zusammenhang mit der Verfassungsrezeption stehen. Die Probleme, mit denen die Japaner aufgrund umfangreicher Rechtsrezeptionen konfrontiert waren, beschränken sich jedoch nicht auf das Verfassungsrecht. Auch im Bereich des Zivilrechts lassen sich bei Übernahmen einige rechtskulturelle Hürden beobachten. in Denn in Japan spielt Recht allgemein „eine geringere Rolle […], weil die soziale Ordnung nicht durch einen Kampf um das Recht mit Sieger und Besiegten, sondern einvernehmlich gelöst wird.“ Siems, Die Konvergenz der Rechtssysteme im Recht der Aktionäre, S. 335 m. w. N. Ein Beispiel, das diese „harmonische Rechtskultur“ Japans treffend veranschaulicht, folgt noch unter D. III. 2. a). bb). 80 Nach dem Vorbild des US-Supreme Courts ist dieser als höchste Instanz sowohl für die Verfassungsgerichtsbarkeit als auch für die ordentliche Gerichtsbarkeit zuständig. 81 Festgelegt ist nur der materielle Prüfumfang in Art. 81 der japanischen Verfassung: „Das Oberste Gericht ist die letzte Instanz mit der Befugnis, über die Verfassungsmäßigkeit jedes Gesetzes, jeder Verordnung, jeder Verfügung und jedes Verwaltungsaktes zu entscheiden.“ Übersetzung entnommen von www.verfassungen.net/jp/verf47-i.htm (Stand 28.01.2021). Dies sagt jedoch nichts darüber aus, welche Einschätzungsprärogativen dem Gesetzgeber oder der Exekutive überlassen sein sollen.
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
maßstab des US-Supreme Court hat sich durch dessen Rechtsprechungspraxis entwickelt. An die Überprüfung von staatlichen Akten auf die ausreichende Würdigung der verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte legt der US-Supreme Court seit jeher einen strengen Kontrollmaßstab an.82 Dieser steht im Gegensatz zur Praxis des japanischen Obersten Gerichts. Gerade bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung von staatlichen Akten ist das Oberste Gericht Japans stets sehr zurückhaltend.83 Das Gericht räumt dem Gesetzgeber und der Exekutive bei der Abwägung freiheitsrechtlicher Positionen untereinander und dem öffentlichen Interesse seit jeher einen weiten Einschätzungsspielraum ein. Zwar lässt sich beobachten, dass der Oberste Gerichtshof bestimmte Grundprinzipien zur Kontrolldichte an die Rechtsprechung des US-Supreme Courts angeglichen hat. Das gilt insbesondere in Bezug auf die relative Kontrolldichte. Die relative Kontrolldichte meint das Konzept einer abhängig von der jeweiligen Art der Freiheitseinschränkung abgestuften Kontrolldichte. Ein Beispiel dafür ist die auch vom japanischen Obersten Gericht weitgehend übernommene Double Standard Doctrine aus den USA. Hiernach hat die Redefreiheit innerhalb der grundrechtlichen Freiheiten eine besonders hervorgehobene Stellung, wodurch der US-Supreme Court – und seit der Rezeption auch der Oberste Gerichtshof Japans – eine entsprechend höhere Kontrolldichte anwendet.84 Beträchtliche Unterschiede zwischen dem US-Supreme Court und dem japanischen Obersten Gericht bestehen jedoch weiterhin im Hinblick auf die absolute Kontrolldichte des Gerichts. Bei der absoluten Kontrolldichte geht es nicht um die unterschiedliche Anwendung der Kontrolldichte je nach Art des Freiheitseingriffs, sondern um die Anwendung der richterlichen Kontrolldichte „im Allgemeinen“ im internationalen Vergleich. Während in den USA – ähnlich wie in anderen westlichen Jurisdiktionen wie Deutschland – der Supreme Court durchaus häufig staatliche Akte für verfassungswidrig erklärt hat, wurden durch das Oberste Gericht Japans seit seiner Existenz erst acht Gesetze für verfassungswidrig und nichtig erklärt.85 Auch wenn diese Zahlen natürlich nur erste Indizien darstellen können, deuten sie auf eine große Diskrepanz zwischen dem Obersten Gericht Japans und dem Verfassungsgericht der Vereinigten Staaten hin. Eine der meistgenannten Ursachen für die zurückhaltende Praxis des Obersten Gerichts ist das stark rechtskulturell geprägte Eigenverständnis der Richter am Obersten Gerichtshof. Auch die Verfassungsreform war nicht im Stande, diese Herangehensweise zu ändern. Dies lag auch an der Kontinuität des 82 Vgl. dazu Mrutzek, Geordnete Freiheit – „Levels of Scrutiny“ in der Rechtsprechung des US-Supreme Courts, S. 205 ff. 83 Matsui, Washington University Law Review 88 (2011), 1375 (1400). 84 Vgl. dazu nur Mori, in: Baer/Lepsius/Schönberger/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge, S. 3 (21). Ausführlich zur Anwendung der Double Standard Doctrine: Ashibe, in: Beer (Hrsg.), Constitutional Systems in Late Twentieth Century Asia, S. 224 (250). 85 Stand 2011, vgl. Law, Washington University Law Review 88 (2011), 1426.
III. Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede 63
Personals am Obersten Gericht seit der Meiji-Verfassung bis zum heutigen Tage. Trotz der umstrittenen Rolle des Gerichts während des Krieges, wurde nach dessen Ende kein einziger Richter am Verfassungsgericht ausgetauscht. Die „Meiji-Verfassungsrichter“ wurden also die Richter der neuen Verfassung. Unter der Meiji-Verfassung hatten die Richter noch unter der Anleitung und Kontrolle des Justizministeriums gestanden. Ihr Verhalten bei der Auslegung der neuen Verfassung war dementsprechend vorgeprägt: Vorsichtig, konservativ und bürokratisch.86 Diese zurückhaltende Praxis führten die Richter nach der Aufgabe der MeijiVerfassung weiter. Die Verabschiedung der US-amerikanisch geprägten neuen Verfassung Japans veranlasste sie nicht dazu, eine eher „US-amerikanische Interpretation“ der eigenen Rolle anzunehmen. Zu skeptisch waren die Richter gegenüber dieser neuen Verfassung, die sie eigentlich verteidigen sollten. Teilweise wird sogar vermutet, dass die Richter die Verfassungsregeln nicht als Imperativ mit rechtlich bindender Wirkung verstehen wollten, sondern eher wie ein politisches Dokument.87 Diese Praxis änderte der Oberste Gerichtshof auch in den Jahren nach der Rezeption nicht maßgeblich. Dies hing auch mit den konstant konservativen politischen Mehrheiten in Japan zusammen. Die konservative und verfassungskritische88 Partei LDP ist seit 1955 ununterbrochen an der Regierung und hat seitdem jeden Richter (auf Vorschlag des ausscheidenden Richters) ernannt. Einige Autoren halten schließlich auch die kulturellen Eigenheiten Japans für den Grund, dass sich das Oberste Gericht Japans selten gegen die parlamentarischen oder behördlichen Entscheidungsträger auflehnte. Eine niedrige Kontrolldichte entspräche dem kulturellen Ideal eines harmonischen Zusammenlebens („wa“). Das Oberste Gericht habe sich oft auch aus „Harmoniegründen“ gegen eine Intervention entschieden. Ähnliches gelte auch für die Lösung von Kontroversen innerhalb des Gremiums. Richter mit Mindermeinungen würden anstatt einer dissenting opinion nicht die Konfrontation suchen.89 Es gibt also mehrere Erklärungsansätze für die zurückhaltende Praxis des Gerichts. Alle haben einen (rechts-)kulturellen Hintergrund.
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Law, Washington University Law Review 88 (2011), 1426 (1435). Itō, Saibankan to gakusha no aida (Zwischen einem Richter und einem Wissenschaftler), S. 127 f.; Matsui, Washington University Law Review 88 (2011), 1375 (1413). 88 Die kaiserliche Meiji-Verfassung wird in der LDP immer noch idealisiert. Teile der japanischen Bevölkerung verlange seit jeher ihre Restauration. Die Totalrevision der Verfassung ist traditionell ein erklärtes Ziel der LDP, vgl. nur Hayashi, in: Jestaedt/Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung I, S. 77 (83). Dies ist auch in der jüngsten Politik spürbar: Ministerpräsident Shinzo Abe setzt sich aktuell zunehmend für eine neue Verfassung Japans ein. 89 Ausführlich dazu bei Itō, Saibankan to gakusha no aida (Zwischen einem Richter und einem Wissenschaftler), S. 116–118; Law, Washington University Law Review 88 (2011), 1426 (1430). 87
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
c) Das Problem des Vorbehalts des Gesetzes bei der Rezeption des Modells der unabhängigen Regulierungsbehörden in Deutschland Ein weiteres Beispiel ist die Übertragung des Konzepts der Independent Regulatory Agencies aus den USA über das EU-Recht nach Deutschland. Diese Rezeption zeigt auf: Je tiefer juristisches Gedankengut in einer Rechtsordnung verankert ist, desto schwerer fällt es der Praxis, die damit verbundenen Strukturen und Denkmuster abzuändern. Im Zentrum der Problematik dieser Rezeption stehen, wie bereits erwähnt, das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes und die Wesentlichkeitstheorie.90 Diese Konzepte stehen einer Abkopplung des Behördenhandelns von parlamentarischen Gesetzen im Wege, wie sie das amerikanische Modell der Independent Regulatory Agencies vorsehen. Sowohl der Vorbehalt des Gesetzes als auch die Wesentlichkeitstheorie sind in seiner Grundkonzeption keine Besonderheiten in der Verfassungslehre.91 Dem amerikanischen Recht sind diese Konzepte allerdings eher fremd. USamerikanische Praktiker sehen schon im Prinzip des Gesetzesvorbehalts eine widersinnige Dispositionsmöglichkeit des Gesetzgebers über diejenigen Bereiche der Freiheit, die dem gesetzgeberischen Zugriff gerade entzogen werden sollen.92 Erst recht sind dann der Vorbehalt des Gesetzes oder die Wesentlichkeitstheorie keine Begriffe, die in das US-amerikanische System passen.93 Zieht ein Rechtsetzer trotz dieser Unterschiede eine Rechtstransplantation in Betracht (oder – wie hier im Falle Deutschlands – muss er dies aufgrund europarechtlicher Vorgaben), so reicht es nicht aus, wenn er die Unterschiede kennt. Um rechtskulturelle Hürden erfolgreich zu nehmen, muss er die unterschiedlichen Hintergründe auch verstehen. Einer der wichtigsten Unterschiede in Bezug auf die Aufgabenverteilung zwischen Exekutive und Legislative zwischen Deutschland und den USA liegen in der historischen Bedeutung und Rolle von (Parlaments-)Gesetzen. In den USA werden Gesetze seit jeher typischerweise als Mittel der Freiheitsbeschränkung angesehen.94 Auf deutscher Seite entwickelte sich hingegen das (einfache) Parlamentsgesetz schon früh zu
90 In diese Begriffe 91 Vgl. statt vieler:
wurde bereits unter C. II. 1. a) eingeführt. In der Schweiz zum „réserve de la loi“ Borer, Das Legalitätsprinzip und die auswärtigen Angelegenheiten, S. 51. In Frankreich zum „domaine de la loi“ Grote, Das Regierungssystem der V. französischen Republik, S. 107 In Chile zur „reserva de la ley“: Cazor/Guiloff, Anuario de Derecho Publico UDP 2 (2011), 478. Zum Vorbehalt des Gesetzes im EU-rechtlichen Kontext: Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht. 92 Vgl. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 207 f. 93 Die US-amerikanische Diskussion fokussiert sich bei der Delegationsproblematik hingegen auf die Diskussion um den Gewaltenteilungsgrundsatz. Nolte, Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1993), 378 (409). Vgl. auch Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 207. 94 In diese Richtung auch Linde, Southern California Law Review 53 (1980), 601 (604 f.); Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 214 f.
III. Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede 65
einem Instrument mit „freiheitsfördernden“ Charakter.95 Den Kontrast bringt Fraenkel auf den Punkt: „Die Väter der deutschen Konstitutionen erblicken den mutmaßlichen Störer dieser Rechtsgüter (gemeint sind hier die Rechte der Verfassung) in der Exekutive und ihren zuverlässigsten Garanten in der Legislative. Die Väter der amerikanischen Verfassung erblickten den mutmaßlichen Störer dieser Rechtsgüter in der Legislative und ihren zuverlässigsten Garanten in der Justiz.“96
Zu Zeiten des Dualismus im Deutschen Kaiserreich Ende des 20. Jahrhunderts bewahrte sich die Exekutive mit Verweis auf das monarchische Prinzip die Ausübung der Staatsgewalt. Dadurch wurde das parlamentarische Gesetz zunehmend zum vorrangigen Mittel, um die Exekutive zu kontrollieren. Es entwickelte sich zum Garanten für die politische Mitwirkung und Einflussnahme von demokratisch legitimierten Volksvertretern. Gesetze sind nach deutscher Tradition das Produkt eines Ringens um Kompetenzen. Diesen positiven Charakter behielt das Gesetz auch nach dem Zweiten Weltkrieg bei. Nicht zu unterschätzen sind dabei auch die traumatischen Erfahrungen Deutschlands durch das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, welches ein Blankoscheck für die Exekutive bedeutete und das Parlamentsgesetz als freiheitsförderndes Instrument und Ausdruck der Volkssouveränität ausschaltete.97 Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass das deutsche Grundgesetz mit Art. 80 GG – als „Nahtstelle“ zwischen legislativer und exekutiver Normsetzungskompetenz – den Parlamentsgesetzen eine besonders bedeutende Funktion beimisst. In den USA hat das Parlamentsgesetz im Verhältnis zur Verwaltung hingegen keine derart herausgehobene Stellung. Dafür mag es vor allem zwei Gründe geben, die aber nicht abschließend sein müssen: Der erste Grund ist die unterschiedliche Entwicklung des amerikanischen Parlamentarismus im Vergleich zu Deutschland. Eine einschränkende parlamentarische Kontrolle der Exekutive durch das Parlament war in den USA nie als notwendig erachtet worden. 95 Betont wird gerade im Hinblick auf das Privatrecht und auf die Marktgesetze der Aspekt des freiheitsfördernden Charakters von Parlamentsgesetzen im 19. Jahrhundert. Vgl. dazu sowohl Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 141 als auch Grimm, Verfassung und Privatrecht im 19. Jahrhundert, S. 25. Mit ähnlicher Argumentation, aber in Bezug auf den Gesetzesvorbehalt siehe auch und mit weiteren Nachweisen Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 214. 96 Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, S. 174. Dazu passen auch die Thesen von den unterschiedlichen Freiheitsidealen im deutschen und amerikanischen Verfassungsstaat. So wird etwa zwischen dem „fördernden Modell“ in Deutschland und dem „privatisierenden Modell“ in den USA unterschieden. In Deutschland nehme der Staat eine stärkere (leistende) Rolle bei der Verwirklichung der Verfassungsrechte und Freiheiten ein. In den Vereinigten Staaten sei der private Sektor der Bereich der Freiheit. Eine Ausweitung des öffentlichen Sektors meine zugleich eine Einschränkung des privaten Sektors und somit eine Einschränkung der Freiheit des Einzelnen. Vgl. nur Durham, in: Kirchhof/Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, S. 41 (51 ff.). 97 Nolte, Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1993), 378 (411).
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
Eine autoritäre in der Monarchie wurzelnde (Bundes-)Verwaltung wie im Deutschen Reich hatte es in den Vereinigten Staaten nie gegeben. Daher musste sich das Volk auch keine Freiheitsräume in Form von Gesetzen erkämpfen.98 Darüber hinaus ist der „Gesetzesskeptizismus“99 ein typisches Merkmal des Common Law. Das Common Law geht traditionell weniger von abstrakt generellen Normen aus, sondern von einem Fall-zu-Fall-Denken, das sich über einen Zeitraum aus sich heraus entwickelt.100 Der zweite Grund liegt in der Entscheidungshistorie des US-Supreme Courts zum Delegationsverbot.101 Mit der Frage, inwieweit der Gesetzgeber Rechtsetzung an die Exekutive abgeben kann, hat sich der Supreme Court erstmals im Jahre 1825 beschäftigt. Im Fall Wayman v. Southard entschied das höchste USamerikanische Gericht, dass es die Aufgabe des Kongresses – nicht der Verwaltung – sei, die „wichtigsten Angelegenheiten“ („most important subjects“) zu regeln.102 In einer späteren Entscheidung (J. W. Hampton, Jr. & Co. v. United States) führte der Supreme Court zudem aus, dass es eine Zusammenarbeit zwischen den Gewalten geben müsse. Wie weit diese „Zusammenarbeit“ im Einzelfall gehen kann, bestimme sich „nach gesundem Menschenverstand und den in der Natur der Sache liegenden Zwängen.“103 Der Gesetzgeber müsse einen „nachvollziehbaren Grundsatz“ niederlegen, an dem sich die Verwaltung orientieren kann.104 Ganz ursprünglich kannte das US-amerikanische Recht also sogar eine Art „abgeschwächter Wesentlichkeitstheorie“. So waren die Entscheidungen des obersten US-amerikanischen Gerichtes in den Anfängen dem (späteren) deutschen Verständnis in seinen Grundzügen durchaus ähnlich. Allerdings führte die sogenannte „New-Deal-Krise“ im Ergebnis zu einem Sinneswandel des Gerichts zugunsten einer großzügigeren Handhabung der De98 99
Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, S. 215. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, S. 41 Fn. 19. 100 Dazu passend das Zitat von Strauss: „The emphasis on text, or on the original understanding, reflects an implicit adherence to the postulate that law must ultimately be connected to some authoritative source: either the Framers (gemeint sind die Gründerväter der US-amerikanischen Verfassung), or ‚we the people‘ of some crucial era. Historically common law has been the great opponent of this authoritative approach. The common law tradition rejects the notion that law must be derived from some authoritative source and finds it instead in understandings that evolve over time. And it is the common law approach, not the approach that connects law to an authoritative text, or an authoritative decision by the Framers or by ‚we the people‘ that best explains and best justifies, American constitutional law today.“ Strauss, University of Chicago Law Review 63 (1996), 877 (879). 101 Für eine ausführliche Übersicht zur Entwicklung siehe Aranson/Gellhorn/Robinson, Cornell Law Review 68 (1982), 1 (7 ff.) und bei Nolte, Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1993), 378 (380 ff.). 102 US-Supreme Court Wayman v. Southard, 23 U. S. 1 (1825). 103 US-Supreme Court J. W. Hampton, Jr. & Co. v. United States 276 U. S. 406 (1928). Übersetzung nach Nolte, Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1993), 378 (384). 104 US-Supreme Court J. W. Hampton, Jr. & Co. v. United States 276 U. S. 409 (1928).
III. Andersartige Anwendung des Rechts aufgrund rechtskultureller Unterschiede 67
legationsbefugnisse. Dem war vorausgegangen, dass der US-Supreme Court Anfang der 1930er Jahre kurz nacheinander zwei Gesetze für unvereinbar mit der non delegation doctrine und somit für verfassungswidrig erklärte. Dabei wendete er den „intelligible principle test“ an. In Panama Refining Co. v. Ryan hielt der Supreme Court eine gesetzliche Ermächtigung des Präsidenten, die diesem erlaubte, den Transport von Erdölprodukten zwischen US-Bundesstaaten zu verbieten, als nicht rechtens. Der Zweck der Ermächtigung sei nicht genau genug bestimmt gewesen.105 In A. Schechter Poultry Co. v. United States war es um die Rechtmäßigkeit einer gesetzlichen Ermächtigung des Präsidenten gegangen, die diesem erlauben sollte, Verhaltenskodizes für bestimmte Wirtschaftszweige zum Schutz vor unlauterem Wettbewerb zu etablieren. Sie war rechtswidrig, da sich aus ihr keine Anhaltspunkte für deren möglichen Inhalt ergaben und daher nach Ansicht des Gerichts von „präzedenzloser Weite“ gewesen wären.106 Diese Urteile sollten bis heute die einzigen bleiben, in denen der US-Supreme Court eine gesetzliche Ermächtigung der Exekutive für verfassungswidrig gehalten hat. Spätere Entscheidungen übten sich in einer weitaus großzügigeren Handhabung des „intelligible principle tests“.107 Grund für diesen Schwenk war die harsche Kritik an den Entscheidungen des US-Supreme Courts. Sowohl im Fall Panama Refining als auch in A. Schlechter Poultry ging es um Vorschriften aus dem National Industrial Recovery Act. Diese waren Teil der interventionistischen „New-Deal“-Wirtschaftspolitik des damaligen Präsidenten Roosevelt. Die Sperrhaltung des Gerichts gegen die Maßnahmen wurde in der Öffentlichkeit heftig kritisiert. Einige sprechen sogar von einer „New Deal Court Crisis“108, die darin gipfelte, als Roosevelt mit einer Aufstockung der Besetzung des Gerichts drohte, um eine Richtermehrheit im Supreme Court zu erlangen, die den Reformen positiver eingestellt war.109 Es war vermutlich eben dieser politische Druck, der zu einer neuen deutlich nachgiebigeren Einstellung des Supreme Courts führte.110 105
US-Supreme Court Panama Refining Co. v. Ryan 293 U. S. 430 (1934). Court A. Schechter Poultry Co. v. United States 295 U. S. 541 (1935). Siehe auch bei Nolte, Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1993), 378 (385). 107 Offiziell wurden die Entscheidungen Panama Refining und A. Schechter Poultry zwar nie für überholt erklärt, wohl aber in späteren Urteilen derart einschränkend ausgelegt, dass sie nur als Ausnahmefälle gelten. Dazu gehören insbesondere die Entscheidungen US-Supreme Court Yakus v. United States, 321 U. S. 414 (1944) und US-Supreme Court Fahey v. Malloney, 332 U. S. 245 (1947). Vergleiche dazu Schoenbrod, Michigan Law Review 83 (1985), 1223–1290 (1225); Nolte, Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1993), 378 (385). Zur weiteren Entwicklung der Doktrin siehe Aranson/Gellhorn/Robinson, Cornell Law Review 68 (1982), 1 (14 ff.).; Tribe, American Constitutional Law, 977 ff. 108 Shaman, DePaul Law Review 45 (1996), 605 (611); Nolte, Archiv des öffentlichen Rechts 113 (1993), 378 (412). 109 Dieser Plan wird auch als „court packing plan“ bezeichnet. Siehe nur Schoenbrod, Michigan Law Review 83 (1985), 1223–1290 (1225); Grove, Harvard Law Review 132 (2019), 2240 (2255). 110 Statt vieler Schoenbrod, Michigan Law Review 83 (1985), 1223–1290 (1225); Grove, 106 US-Supreme
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
Im Ergebnis sehen wir mit Deutschland auf der einen Seite und den USA auf der anderen Seite also im Hinblick auf die Delegation gesetzgeberischer Befugnisse höchst unterschiedliche Rechtskulturen. Dies liegt nicht nur daran, dass sie unterschiedlichen Rechtskreisen – dem Civil Law und dem Common Law – zugehörig sind. Die Differenzen lassen sich insbesondere auch durch die unterschiedlichen (rechts-)historischen Erfahrungen der Länder erklären.
2. Schlussfolgerungen Die Rechtskultur einer Gesellschaft, kann durch vielfältige Einflüsse geformt werden, die kaum auf eine einzige Formel gebracht werden können.111 Die Beispiele zeigen, dass Rechtskulturen ein komplexes Konstrukt sind. Sie sind oft selbst – oder gerade – für Rechtsanwender nur schwer greifbar. Der Brief des Richters am türkischen Kassationshof an Hirsch zeigt etwa, wie rechtskulturelle Unterschiede Verständnislücken erzeugen können. Dem verfassenden Richter war offensichtlich klar, dass ihm das notwendige Wissen fehlte, um die Norm in ihrem westlichen Verständnis zu begreifen. Er war auch offenbar gewillt, unter Berücksichtigung dieses Verständnisses eine Lösung zu finden. Ihm fehlten jedoch die Mittel. Nun ist das Beispiel der türkischen Rezeptionen natürlich in mehrfacher Hinsicht ein Extrembeispiel. Es handelt sich um eine Totalrezeption aus zwei völlig unterschiedlichen Rechtskreisen zu einer Zeit, in denen der strukturierte wissenschaftliche Austausch erst allmählich begann. Dadurch, dass gesamte Gesetzbücher rezipiert wurden, und es das Ziel war, alles Vorherige „auszulöschen“, gab es keinen Platz für vermittelnde Lösungen. Ähnliches gilt aber auch für weniger umfangreiche Rezeptionen in der heutigen Zeit. Hier erfolgt zwar regelmäßig eine Anpassung des (kulturell) fremden Rechts, sodass Rechtsetzer nicht mit einer komplett neuen Rechtskultur konfrontiert werden. Dafür besteht bei heutigen Rezeptionen umso mehr die Gefahr, dass aufgrund des hohen Zeitdrucks oft kein Raum für interkulturelle Reflektionen gelassen wird. Das Beispiel Japan hat gezeigt, dass Rechtsanwender in einigen Fällen auch willentlich rechtskulturelle Eigenheiten der heimischen Rechtsordnung nicht aufgeben wollen. Solche Tendenzen mag man als rezipierender Rechtsetzer in einigen Fällen voraussehen können. Man wird aber nur in den seltensten Fällen in der Lage sein, sie nachhaltig zu beeinflussen. Das gilt besonders dort, wo rechtskulturelle Eigenheiten in anerkannte Verfassungsgrundsätze gegossen wurden. Das deutsche Prinzip der Gewaltenteilung, des Vorbehalts des Gesetzes sowie die vom deutschen Bundesverfassungsgericht entwickelte „Wesentlichkeitstheorie“ sind untrennbar mit der deutschen Verfassungstradition verHarvard Law Review 132 (2019), 2240 (2256); Kalman, The Strange Career of Legal Liberalism, S. 19. Zurückhaltender: Yassky, Yale Law Journal 99 (1989), 431 (434). 111 Kurzynsky-Singer, Transformation der russischen Eigentumsordnung, S. 29.
IV. Mangelnde gesellschaftliche Adoption des fremden Rechts
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bunden. Entsprechend hoch – wenn nicht unüberbrückbar – dürften die Hürden für eine Reform oder zumindest eine Anpassung an die aus dem Common Law stammende Verwaltungsstruktur sein. Alle drei Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, in welcher Vielfalt sich rechtskulturelle Unterschiede bei der Normanwendung bemerkbar machen können. Im ersten Beispiel ging es um rechtskulturelle Einflüsse im Hinblick auf das Auslegungsergebnis einer Norm. Je stärker eine Norm mit einem kulturellen Vorverständnis aufgeladen ist, desto größere Schwierigkeiten können sich bei der Auslegung der Norm ergeben. Im zweiten und im dritten Beispiel beruhen die Probleme aufgrund rechtskultureller Unterschiede hingegen nicht auf dem (unterschiedlichen) Verständnis einer konkreten Norm. Die zurückhaltende Praxis der Richter spiegelt ein vom US-amerikanischen Recht abweichendes Selbstverständnis von Teilen der juristischen Praxis wider. Der deutsche Wesentlichkeitsgrundsatz und der Vorbehalt des Gesetzes lassen sich zwar teilweise aus dem Normtext ableiten. Im Grunde geht es bei den Differenzen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten aber um verschiedene Staats(-organisations-)verständnisse, die erst durch einen Exkurs in die Rechtsgeschichte verständlich werden.
IV. Mangelnde gesellschaftliche Adoption des fremden Rechts aufgrund sozio-kultureller Unterschiede zwischen Geber- und Nehmerland 1. Problematik und Beispielsfälle „Der Gesetzgeber kann Recht zwar von heute auf morgen ändern, nicht aber die Menschen, für die es gilt und die es in Zukunft anzuwenden haben.“112
Auf dieser Beobachtung basiert die vierte Kategorie von Problemursachen bei Rechtstransfers: Der gesellschaftliche Widerstand gegen neues Recht.113 Wenn die rezipierende Gesellschaft das Recht fremden Ursprungs nicht akzeptiert, kann selbst ein noch so sorgfältig übertragenes Recht nicht die vorhergesehene Wirkung entfalten. Spürbar wird dieses Problem am Ende des Rezeptionsvorgangs, und zwar in der Aufnahmephase (als Teil der Implementationsphase). Reformprozesse durch Rechtsübernahmen durchstoßen häufig gesellschaftliche Routinen. Diese Routinen sind vielfach durch früheres Recht entstanden und gefestigt worden. Oft entstehen sie auch durch Bräuche und Traditionen, 112 Koschaker, Europa und das Römische Recht, S. 145 f. 113 Bereits in der Einführung wurde die grundlegende Debatte
Gesellschaft angesprochen. Sie soll hier nicht vertieft werden.
zum Verhältnis Recht und
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
die einem Kulturkreis eigen sind. Rechtstransfers können diese Routinen „irritieren“.114 Die sozio-kulturell geprägten Routinen beim Rezipienten werden durch fremde sozio-kulturelle Muster aus dem Exportland penetriert. Die Folgen dieses „Zusammenstoßes“115 von kulturell geprägtem Recht mit diesen Routinen sind unterschiedlich. Ist eine Gesellschaft offen, ihre Routinen zu ändern und sich an neue Ideen anzupassen, können diese „Irritationen“ ohne große Probleme überwunden werden. Andere Routinen sind hingegen schwerer zu überwinden, da die betroffenen gesellschaftlichen Gruppierungen sie nicht ohne weiteres aufgeben wollen. Wenn sie sich einer Anpassung verweigern, so besteht die Gefahr, dass die Rechtslage formal auf dem Papier nicht der sozialen Realität entspricht.116 Ein Rechtsetzer möchte jedoch eine soziale Wirklichkeit transplantieren und nicht leere Worthülsen. Gesellschaftlicher Widerstand kann also dazu führen, dass eine Normentransplantation scheitert. Dabei ist allerdings zu beachten, dass mit „gesellschaftlichem Widerstand“ nicht nur Gegenbewegungen aus der „einfachen Bevölkerung“ gemeint sind. Auch politische Parteien und Entscheidungsträger können als gesellschaftliche Gruppen gelten und Teil der Auflehnung gegen rechtliche Reformen sein. Ihnen kommt zugleich aber auch die Aufgabe zu, gesellschaftliche Widerstände rechtzeitig zu erkennen und zu berücksichtigen. Gesellschaftliche Widerstände gegen gesellschaftliche Reformen lassen sich in der Geschichte vor allem dort beobachten, wo die Reformen mittels punktueller Rechtsübernahmen stattgefunden haben. In diesen Fällen kollidiert meist ein in fremdes Recht gehüllter Reformgeist mit dem konservativen Wesen eines bestimmten gesellschaftlichen Status quo.117 Ein Rückblick auf solche gesellschaftliche Transformationsprozesse vermittelt daher ein gutes Verständnis für die Probleme, die aufgrund sozio-kultureller Unterschiede bei Normentransfers entstehen können.118 Teil des radikalen Versuchs, eine komplette Gesellschaft umzuerziehen, war die Rezeption verschiedener ausländischer Rechte in der Türkei zu Zeiten Atatürks. Sie mündete in einer großen Anzahl von Adoptionsproblemen von schwei114
Vgl. zu dem Begriff des „Legal Irritants“ Teubner, in: Snyder (Hrsg.), The Europeanisation of Law, S. 243. 115 Nichols, The University of Pennsylvania Journal of International Law 18 (1997), 1235 (1273). 116 Siehe zu den möglichen Diskrepanzen zwischen rechtlichem Soll-Zustand und tatsächlichem Ist-Zustand: Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 224 Mit Bezug auf die Rechtsrezeptionen: Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan, S. 157. 117 Sinngemäß: Kubali, International Social Science Bulletin 9 (1957), 65 (68). 118 Entsprechend reich ist die Literatur an Werken, die sich mit den gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen nach solchen von Rechtsübernahmen gesteuerten Transformationsprozesse befasst haben. Vergleich statt vieler: Kviatek, Explaining Legal Transplants; Kurzynsky-Singer, Transformation durch Rezeption?; Fodor, Rechtsreform durch Normtransplantation in Mittel- und Osteuropa.
IV. Mangelnde gesellschaftliche Adoption des fremden Rechts
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zerischem Recht aufgrund sozio-kultureller Unterschiede. Die Umsetzungsprobleme sind insbesondere im Bereich des Familien- und Erbrechts (geregelt im ZGB) anzutreffen.119 Ihre Ursache lag in den geschichtlichen und sozio-kulturellen Unterschieden zwischen der Türkei und der Schweiz. Die Schweiz war Teil eines Mitteleuropas, deren Staaten sich spätestens seit dem Mittelalter kulturell stark angenähert hatten. Die wichtigsten vereinigenden Elemente der mitteleuropäischen Länder stellen die christliche Religion, die Renaissance und – zumindest in einigen Teilen – auch die Reformation dar. Der Vorgänger der Türkei, das Osmanische Reich, war hingegen noch Anfang der 1920er Jahre ein von der islamischen Religion dominierter Staat.120 Diese grundverschiedenen geschichtlichen und religiösen Hintergründe waren die Ursache für die unterschiedlichen gesellschaftliche Strukturen und Wertevollstellungen der beiden Länder. Die Verantwortlichen für die Reformbewegung in der Türkei waren sich dieser sozio-kulturellen Unterschiede bewusst. Sie zeigten sich aber (zumindest nach außen hin) betont optimistisch, dass diese kein nennenswertes Hindernis für die Rezeption der schweizerischen Gesetze darstellen sollten. So konstatierte der damalige Justizminister Bozkurt: „Zwischen den Bedürfnissen der Völker, die zur Familie der modernen Kulturstaaten gehören, besteht kein wesentlicher Unterschied. Ständige soziale und wirtschaftliche Beziehungen haben einen großen zivilisierten Block der Menschheit zu einer Art Familie gemacht. Es kann nicht behauptet werden, dass der Entwurf des Türkischen Zivilgesetzbuches, dessen Grundsätze einem fremden Lande entlehnt sind, nach seiner Inkraftsetzung mit den Bedürfnissen unseres Landes unvereinbar sei. Bekannt ist, dass insbesondere die Schweiz deutsche, französische und italienische Bevölkerungsbestandteile aufweist, die nach Geschichte und Überlieferungen verschieden sind. Wenn daher ein Gesetz elastisch genug ist, um in der Schweiz auf verschiedene Völkerschaften deutschen, französischen und italienischen Ursprungs mit Erfolg angewendet zu werden, dann kann man nicht daran zweifeln, dass es sich auch in der Türkei zur Anwendung eignen wird, nachdem die Türken zu neunzig Prozent ein einheitliches Volk darstellen.“121
Man darf Bozkurt zwar im Nachhinein insoweit Recht geben, als dass einige Normen des schweizerischen ZGB von der Gesellschaft relativ anstandslos angenommen wurden. Andere Regelungen – insbesondere im Bereich des Familien- und Erbrechts – hatten hingegen nicht den in der Gesellschaft erwünschten Effekt und mussten teilweise nachträglich an die tatsächlichen Umstände angepasst werden. 119 Einen groben Überblick zu einigen Problemen aufgrund von sozio-kulturellen Unterschieden bei der türkischen Rezeption findet sich bei Bandak, Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches in der Türkei, S. 131 ff. 120 Velidedeoglu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 60 (62). 121 Dieses Zitat entstammt der amtlichen Gesetzesbegründung des neuen türkischen ZGB. Sein Urheber ist Mahmut Esad Bozkurt, der damalige Justizminister der Türkei; Übersetzung des Zitats entlehnt aus: Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (143).
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Ein prominentes Beispiel dafür sind die Probleme bei der Einführung der obligatorischen Zivilehe. Allen voran Türken aus ländlichen Gebieten machten von dieser neuen Form der Vermählung noch Jahre später keinen Gebrauch.122. Dafür gab es zum einen praktische Gründe. Für Zivilehen galten höhere formelle Anforderungen als für die traditionelle Eheschließung. Vor der Reform hatte noch eine gegenseitige Erklärung vor zwei Zeugen an einem beliebigen Ort gereicht.123 Das neue Gesetz erforderte, dass die Ehe vor einem Standesamt geschlossen wurde. Für die ländliche Bevölkerung befanden sich die zuständigen Standesämter oft in weiter Entfernung zum Wohnort. Dies machte die Eheschließung auf legalem Wege zeit- und kostenaufwendiger.124 Nach dem neuen Recht waren Eheschließende außerdem dazu verpflichtet, eine Geburtsurkunde vorzulegen. Eine solche besaßen aber nur diejenigen, deren Eltern im Zivilregister registriert waren. Dies war aber gerade bei Familien auf dem Lande oft nicht der Fall. Schließlich mussten sich nach den Art. 122, 123 des neuen türkischen ZGB beide Ehepartner auf ihren Gesundheitsstand überprüfen lassen. Ärzte gab es aber oft auch nur in den Städten. Die Untersuchung der Frau durch einen männlichen Arzt war davon abgesehen des Öfteren auch nicht erwünscht.125 All diese Umstände hielten also vor allem große Teile der Landbevölkerung ab, sich den neuen Gesetzen zu beugen. Viele von ihnen heirateten weiterhin traditionell.126 Die Einführung der Zivilehe widersprach also tief verwurzelter gesellschaftlicher Strukturen. Das galt vor allem auf dem Lande und in den kleinen Städten, wo weder die soziologische Struktur noch die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, noch der Behördenapparat für eine so plötzliche Wandlung reif und vorbereitet waren.127 Ein weiterer Regelungsbereich im Familienrecht, der auf gesellschaftlichen Widerstand stieß, war das Verbot der Polygamie.128 Es wurde in weiten Teilen missachtet. In vielen wiederum meist ländlichen Bevölkerungsteilen waren – und sind teilweise noch heute – Mehrehen weiterhin üblich.129 Denn die Folge 122 Statistiken aus dem Jahr 1955 zeigen, dass die Zivilehen, die jährlich in der Türkei eingegangen wurden, nicht die Zahl von 70.000 überstieg. In Rumänien und Jugoslawien, die damals eine ähnliche Bevölkerungszahl hatten wie die Türkei, gab es hingegen zwischen 150 000 und 180 000 Zivilehen pro Jahr. Dies zeigt, dass in der Türkei auch noch zu diesem Zeitpunkt bei Weitem nicht alle Ehen erfasst wurden. Timur, in: International Committee of Comparative Law, Die Rezeption des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 184 (186). 123 Tatsächlich erfolgten Eheschließungen häufig – aber bei Weitem nicht immer – in Begleitung eines Imams. Eine religiöse Zeremonie war jedoch nicht notwendig für deren Wirksamkeit. 124 Zajtay, Archiv für die civilistische Praxis 170 (1970), 251 (261). 125 Timur, International Social Science Bulletin 9 (1957), 34 (35). 126 Belgesay, International Social Science Bulletin 9 (1957), 49. 127 Hirsch, Schweizerische Juristen-Zeitung 50 (1954), 337 (342). 128 Dieses wurde zwar nicht explizit durch eine Verbotsnorm ausgesprochen. Die rechtliche Missbilligung ergab sich aber aus der gesetzlichen Zivilehe, die weitere Eheschließungen nicht zuließ. Belgesay, International Social Science Bulletin 9 (1957), 49. 129 Eher untypisch in der Türkei waren sogenannte Harems. Verbreitet war, dass Landwir-
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dieser Reform war, dass sich viele Paare weiterhin für eine religiöse Trauung entschieden oder sich mit anderen traditionellen Hochzeitsbräuchen begnügten. Solche Eheschließungen waren auch weiterhin gesellschaftlich akzeptiert.130 Die Differenz zwischen dem rechtlichem Soll-Zustand und dem gesellschaftlichen Ist-Zustand schuf große Probleme bei der Frage des Rechtsstatus von „hinzugeheirateten“ Frauen und deren Kinder. Denn nach dem neuen Zivilrecht war eine zweite Eheschließung ungültig. Eine Regelung, die nach 1926 geschlossenen polygamen Ehen eine Art Bestandschutz einräumte, existierte im neuen ZGB nicht. Auswirkungen hatte dies insbesondere auf das Erbrecht. Die Konsequenz, dass „legitime“ Kinder im Erbfall bessergestellt sein sollten als „uneheliche“ Kinder, stieß in der türkischen Gesellschaft auf Ablehnung. Die Zahl der aus islamischen Ehen hervorgegangenen Kinder, die nach geschriebenem Recht plötzlich unehelich waren, aber vom Volk weiterhin als ehelich angesehen wurden, wuchs beständig an.131 Darauf reagierte zunächst die Rechtsprechung, indem sie auch nichtehelichen Kindern die gleiche Rechtsposition einräumte wie Kindern aus gültiger Ehe. Im Jahr 1933 reagierte der Gesetzgeber mit einer entsprechenden Übergangsregelung, in der er den Rechtsstatus der Kinder aus zweiten Ehen, die vor dem Jahr 1926 geschlossenen worden waren, an den Rechtsstatus „legitim“ geborener Kinder anglich.132 Diese Regelungen wurden im Jahr 1945 und 1950 noch einmal verlängert. Ebenfalls aufgrund gesellschaftlicher Widerstände schließlich zurückgenommen wurde die Regel, die das Mindestalter für Ehen auf 18 Jahre für Männer und auf 17 Jahre für Frauen festlegte.133 Das alte Recht hingegen kannte kein Alterslimit. Kinder konnten mit Einwilligung der Eltern sogar heiraten, bevor sie mündig geworden waren.134 Die aus dem schweizerischen ZGB übernommene Regelung berücksichtigte nicht den Einfluss des lokalen Klimas auf die physische Entwicklung von Kindern in ländlichen Gebieten. Jahrzehnte später wurde vermutet, dass im ländlichen Raum die Pubertät durchschnittlich früher einsetzte als in den Städten.135 Minderjährige Paare versuchten, diese neuen Regelungen zu umgehen. Mit der Behauptung, dass ihr wahres Alter deutlich te zwei Ehefrauen hatten, die sich die Arbeit im Haushalt und auf dem Feld aufteilten. Kubali, International Social Science Bulletin 9 (1957), 65 (67) Faktische Mehrehen (teilweise auch „Imam-Ehen“ genannt) gibt es in bestimmten Teilen der Türkei bis heute noch. 130 Hirsch, Schweizerische Juristen-Zeitung 50 (1954), 337 (342). 131 Vasella, in: Vasella (Hrsg.), Werte im Recht – Das Recht als Wert, S. 239 (252); Aschwanden, Plädoyer 6/10 (2010), 28 (29). 132 Velidedeoglu, in: International Committee of Comparative Law, Die Rezeption des Schweizerischen Rechts in der Türkei, S. 29 (31). 133 In außergewöhnlichen Fällen war es dem Paar erlaubt, im Alter von 15 Jahren zu heiraten. 134 In diesen Fällen konnten sie aber auch die Ehe nachträglich zurückweisen, sobald sie das entsprechende Mündigkeitsalter erreicht hatten. 135 Velidedeoglu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 60 (62).
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höher sei als im Zivilregister angegeben, beantragten viele von ihnen eine gerichtliche Verfügung, um ihr Alter entsprechend heraufzusetzen. Ausgestattet mit einem guten Verständnis für die besonderen lokalen sozio-kulturellen Umstände handhabten die Gerichte diese Anträge stets wohlwollend.136 Andere Paare wiederum entschieden sich, gar nicht erst zivilrechtlich zu heiraten, sondern nach altem Brauch. Der türkische Gesetzgeber reagierte auf diese Entwicklung erst im Jahre 1938. Er reduzierte das Mindestalter auf 17 Jahre für Männer und 15 Jahre für Frauen, und bei außergewöhnlichen Umständen auf 15 Jahre für Männer und 14 Jahre für Frauen.137 Für großen Unmut in der Bevölkerung sorgte schließlich auch die Übernahme des schweizerischen Rechts der gesetzlichen Erbfolge.138 Es sah unter anderem vor, dass nur die Abkömmlinge des Erblassers erben sollen. Existierte also solch ein Abkömmling (sei es auch nur ein Neffe), dann gingen die Eltern des Erblassers leer aus. Diese Regelung wurde von einem Großteil der türkischen Gesellschaft als ungerecht angesehen.139 Die Liste der Normen, die sich nach der Rezeption nicht bewährt haben, ließe sich fortführen.140 Auch bei der Rezeption der MacArthur-Verfassung in Japan wirkten sich sozio-kulturelle Unterschiede negativ auf die Akzeptanz der neuen Verfassung aus. Insbesondere die konservativen Kräfte des Landes konnten nicht ertragen, dass die neue japanische Verfassung vor allem durch die amerikanischen Besatzungsmächte geprägt war. So machte sich eine starke Bewegung breit, die einige Autoren als „Verfassungsrevisionismus“ bezeichnen.141 Diese Bewegung stellte die Idee einer kompletten Neufassung der MacArthur Constitution schon bald nach ihrer Verabschiedung auf die politische Tagesordnung. Die ablehnende Haltung der Revisionisten gegenüber der neuen Verfassung fand man aber nicht nur in den konservativen politischen Parteien. Sie spiegelte einen Großteil der Bevölkerung wider. Insbesondere während der Legislaturperioden unter Ichiro Hatoyama (1954–1956) und unter Yasuhiro Nakasone (1982–1987) wurden intensive Versuche unternommen, eine neue Verfassung zu etablieren.142 Ein weiterer Versuch zeichnet sich auch aktuell ab.143 Der gegenwärtige Minis136 137
Velidedeoglu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 60 (63). Gesetz Nr. 3453 vom 15. Juni 1938. 138 Der Vorschlag, den Eltern stattdessen ein Nutznießungsrecht am Nachlass einzuräumen, wurde mit dem Hinweis der Unvereinbarkeit mit dem reinen Parentelensystem des schweizerischen Zivilgesetzbuchs wieder gestrichen. Velidedeoglu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 60 (63). 139 Postacıoğlu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 54 (59); Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (170). 140 Für einen Überblick siehe Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (166 ff.). 141 Z. B. Nishikawa, 比較法文化 [Hikaku-hō bunka] 17 (2009). 142 Nishikawa, 比較法文化 [Hikaku-hō bunka] 17 (2009), 51 (63). 143 Vgl. nur Akimoto, Zeitschrift für Japanisches Recht 35 (2013), 223.
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terpräsident Japans Shinzō Abe hat eine Verfassungsreform „ganz oben auf die Agenda gesetzt“.144 Viele der Reformvorschläge in den 1950er Jahren orientierten sich an der Meiji-Verfassung. Sie wollten eine „eigene“ Verfassung, in der insbesondere der Kaiser nicht nur Symbolfigur ist, sondern wieder Machthaber. Man störte sich vor allem an dem Primat der Volkssouveränität, welche durch die MacArthur-Verfassung eingeführt worden war.145 Aktuell ist die erwähnte Kriegsverzichtsklausel (Art. 9) Hauptgegenstand der Kritik. Die Versuche, eine neue Verfassung einzuführen, scheiterten jedes Mal an der Opposition.146 Dies führte auch dazu, dass die von der Mehrheit der Diet in ihren Grundzügen stets abgelehnte Verfassung in der vergangenen Zeit nicht modernisiert wurde.
2. Gründe für Widerstand aufgrund sozio-kultureller Unterschiede Die Beispiele aus der türkischen Rezeption des schweizerischen ZGB und der japanischen MacArthur-Verfassung haben gezeigt, dass es eine Bannbreite an möglichen Ursachen dafür geben kann, dass gesellschaftliche Gruppen aus dem Ausland transplantierte Normen „abstoßen“. Aus den Beispielen ergeben sich drei Ursachen von fremdem Recht. Alle drei basieren auf sozio-kulturellen Unterschieden. Da sind zum einen die praktischen Umsetzungsschwierigkeiten der neuen Rechtsregel im neuen Umfeld. Beispiel dafür ist die Ablehnung der Zivilehe aufgrund der großen räumlichen Distanzen, die ein Paar zurücklegen muss, um legal die Ehe zu schließen. Diese Hürde beruht auf der besonderen geographischen Situation der Türkei. Verantwortlich dafür waren ihre Größe, ihre geringe Bevölkerungsdichte in einigen Gebieten und die mangelnde verkehrstechnische und behördliche Infrastruktur in ländlichen Regionen. In der Schweiz, einem schon damals im Vergleich zur Türkei dicht besiedelten Land, tauchten diese Probleme nicht auf. Zum anderen sind Formen der Ablehnung aufgrund traditioneller Praktiken in der rezipierenden Gesellschaftsordnung zu beobachten. Ein Beispiel dafür ist die Ablehnung des „Verbots“ der Mehrehe durch die Übernahme schweizerischen Rechts. Der Widerstand fußte in einem durch Ethos und Religion geprägten Brauch. Traditionelle Praktiken können auch in einem Staatsbild zum Ausdruck kommen, mit dem sich die Bevölkerung verwurzelt sieht oder zumindest 144 145
Steineck, Geschichte der Gegenwart 21.1.2018. Higuchi, in Higuchi (Hrsg.), Five decades of constitutionalism in Japanese society,
S. 351. 146 Die japanische Verfassung ist im Vergleich zu anderen Verfassungen zudem sehr änderungsresistent. Art. 96 der japanischen Verfassung schreibt vor, dass für eine Änderung der Verfassung jeweils eine Zweidrittelmehrheit beider Häuser notwendig ist, die dann vom Volk (mit einer einfachen Mehrheit) ratifiziert werden muss. Diese Hürden vermochten die revisionistischen Kräfte bisher zu keinem Zeitpunkt überspringen.
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
arrangiert hat. Die japanische Bevölkerung glaubt in Teilen heute noch an ein kaiserdominiertes Japan. Das durch die MacArthur-Verfassung aufgezwungene Konzept der Volksouveränität widerspricht diesem Idealbild. Die Folge war und ist die geringe Autorität der japanischen Verfassung. Sie regelt am gesellschaftlichen Verständnis vieler Japaner vorbei. Zumindest im Bereich der Freiheitsrechte wurde sie dadurch zum „toten Recht“. Schließlich kann eine Gesellschaft fremdes Recht ablehnen, da es sich mit den lokalen Wertevorstellungen nicht vereinbaren lässt. Ein Beispiel dafür ist etwa die negative Reaktion der Bevölkerung auf die schweizerische Regelung, die Eltern vom Erbe grundsätzlich auszuschließen. Lokale Wertevorstellungen sind regelmäßig eng mit den traditionellen Praktiken verknüpft. Teilweise bauen sie auch aufeinander auf. Ein Beispiel für die Mischung aus praktischen und traditionellen Gründen für die Umsetzungsprobleme ist die Reaktion auf die Herabsetzung des Mindestalters für die Ehemündigkeit von Kindern nach schweizerischem Standard. In ländlichen Gebieten der Türkei waren frühe Ehen aus rein pragmatischen Gründen sinnvoll. Die frühere körperliche Reife vieler Jugendlicher und die niedrigere Lebenserwartung legten eine frühere Familiengründung nahe. In der Ablehnung der neuen Regel schwang jedoch auch ein kultureller Faktor mit. Das Erfordernis der „persönlichen Reife“, um in der Lage zu sein, sich über die Folgen einer Eheschließung und beim Aussuchen des Ehepartners im Klaren zu sein, hatte in der Türkei keinen so hohen Stellenwert, wie schon damals in der Schweiz. Das zeigt unter anderem auch die Zahl der arrangierten Eheschließungen, welche man hingegen im europäischen Raum zu jener Zeit kaum mehr antraf.
3. Arten des gesellschaftlichen Widerstands Schließlich lohnt auch ein Blick auf die unterschiedlichen Wirkungsarten des gesellschaftlichen Protests auf fremde Normen. In einigen Fällen wird sichtbar, dass Recht zwar existiert, aber nicht umgesetzt wird. In anderen Fällen war der geistige Widerstand zwar vorhanden, die Reaktionen der Bevölkerung jedoch zurückhaltender. Die Regel, nach der die Eltern von der Erbschaft ihres verstorbenen Sohns oder Tochter ausgeschlossen werden sollten, wurde zunächst beachtet. Die Diskrepanz zwischen Rechtslage und sozialem Bedürfnis wurde in diesem Falle über den Weg des politischen Meinungsbildungsprozesses und dem Aufbau von politischem Druck ausgetragen. In anderen Fällen haben die Gerichte Korrektur betrieben. Ein Beispiel dafür war die großzügige Handhabung der Altersnachweise für ehewillige Jugendliche. In wiederum anderen Fällen hat sich eine Diskrepanz zwischen transplantierter Regel und gesellschaftlichen Bedürfnisses nur in einem „stillen“ Missmut geäußert, der aber die Literatur mangels gesellschaftspolitischer Folgen nicht weiter beschäftigt hat. Die Art der Reaktion hängt regelmäßig davon ab,
V. Resümee und weiterführende Gedanken
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inwiefern soziale Kräfte bereit und in der Lage sind, das fremde Recht trotz der sozio-kulturellen Diskrepanz zu bekämpfen oder es zu akzeptieren. Je stärker der soziale Druck auf einer Norm lastet, desto eher ist ein Rechtsetzer gezwungen, nachzubessern.
V. Resümee und weiterführende Gedanken Probleme bei Rechtstransfers entstehen aufgrund von vier unterschiedlichen Ursachen: Bisweilen mangelt es den für den Transfer verantwortlichen Akteuren bereits an einer fachlichen Durchdringung des fremden Rechts. Dann bestehen die Ursachen für Rezeptionsprobleme bereits im fehlenden Verständnis des Rechtsetzers bezüglich des zu übernehmenden Rechts. Teilweise ist der Vorgang der rechtsdogmatischen Integration ursächlich für die Übertragungsprobleme. Denn häufig sind die Rechtssysteme des Rezipienten und des Exporteurs so unterschiedlich konzipiert, dass sich das Recht oft nicht ohne komplizierte Anpassungsmaßnahmen in die neue Rechtsordnung „einfügen“ lässt. Auch unterschiedliche rechtskulturelle Vorverständnisse der Rechtsanwender können zu Problemen bei der Implementation des fremden Rechts führen. Schließlich kann eine Gesellschaft oder eine gesellschaftliche Gruppe eine Übernahme zu Fall bringen, wenn sie das fremde Recht ablehnt und verhindert, dass es in seinem neuen Umfeld zur Rechtswirklichkeit wird. Einige der Beispielsfälle haben gezeigt, dass sich diese Problemursachenkategorien bedingen und einander ergänzen können. Probleme bei der Integration fremden Rechts hängen beispielsweise eng mit den systemischen Eigenheiten des empfangenden Rechtssystems zusammen. Diese Eigenheiten sind wiederum häufig durch langwierige Entwicklungen innerhalb des Rechtssystems entstanden und spiegeln somit die rechtskulturellen Besonderheiten des Rezipienten wider. Recht im Kontext von Rechtstransfers muss daher als Kulturphänomen wahrgenommen werden.147 Wie bei den Verhandlungen zur Umsetzung der MacArthur-Verfassung in Japan ersichtlich wurde, können auch sprach- und kulturübergreifende Mehrdeutigkeiten im Spiel sein. Die Fähigkeit, das fremde Recht zu verstehen, hängt häufig mit der Fähigkeit zusammen, Recht „interkulturell zu denken“. Im Falle Japans waren die rechtskulturellen Unterschiede zwischen den Verhandlern eine der Hauptursachen für die Verständnisprobleme in der Vorbereitungsphase des Rechtstransfers. Die vorgenannten Problemkategorien bedingen sich teilweise gegenseitig und sind nicht immer trennscharf zu unterscheiden. Gleichwohl bleibt eine gesonderte Betrachtung dieser Kategorien sinnvoll. Das gilt auch für die Unter147
Kurzynsky-Singer, Transformation der russischen Eigentumsordnung, S. 29.
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C. Problemursachen bei Rechtstransfers – eine Typologie
scheidung zwischen rechtskulturellen und sozio-kulturellen Unterschieden. Sie kommen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Rezeptionsprozess besonders zum Tragen: Die rechtskulturellen Unterschiede beziehen sich auf die Auslegung des (kulturell vorgeprägten) Rechtsanwenders. Sozio-kulturelle Unterschiede werden in der Regel erst sichtbar, wenn der Normadressat beziehungsweise der Dritte mit dem Entscheidungsergebnis der übertragenen Norm in Berührung kommt. Um die Zeitpunkte dieser beiden Problemursachenkategorien auseinanderzuhalten, bietet sich die von Hoffmann-Riem entwickelte Einteilung der Wirkungsdimensionen von Recht an:148 Die Anwendung der Norm durch den Richter oder die anderen Normanwender hat ein konkretes Entscheidungsergebnis zur Folge, welches Hoffmann-Riem als „Output“ bezeichnet. Die Wirkung dieser Entscheidung auf die von der Entscheidung direkt betroffenen Personen ist der „Impact“. Ihre darüber hinaus gehenden gesellschaftlichen Wirkungen bezeichnet er als „Outcome“. Diese Aufteilung ist auch bei einer Analyse von Rechtstransferproblemen sinnvoll, um die Problemrisiken innerhalb eines Rechtstransferprozess analysieren zu können. In diesem Kapitel wurde außerdem aufgezeigt, dass Probleme bei Rechtstransfers in allen Phasen des Rezeptionsprozesses entstehen können. In der rechtsvergleichenden Vorarbeit steht der Rechtsetzer vor der Herausforderung, das zu transplantierende Recht in seiner ursprünglichen Form zu verstehen. Implementiert er das Recht schließlich in die Rechtsordnung, muss er dieses Verständnis nutzen, um entsprechende Systemanpassungen vorzunehmen oder das neue Recht an die rechtliche Struktur des eigenen Rechtssystems anzupassen. Ist dies erfolgt, muss das Recht auch durch den Rechtsanwender entsprechend ausgelegt werden. Verlässt sich dieser dabei nur auf sein eigenes rechtskulturelles Vorverständnis und beachtet er nicht den ausländischen Hintergrund der Norm, kann die Auslegung zu Ergebnissen führen, die vom Rechtsetzer nicht vorgesehen waren. Dieses Risiko verschärft sich noch, wenn bereits der Rechtsetzer in der Phase zuvor – bei der rechtsdogmatischen Anpassung – bestimmte rechtskulturelle Eigenheiten des eigenen und fremden Rechts nicht berücksichtigt. Denn zwar kommt auch den Rechtsanwendern grundsätzlich die Aufgabe zu, mittels der rechtsvergleichenden Auslegung eine möglichst originalgetreue Übernahme sicherzustellen. Praktiken finden aber ihre Grenzen im (mehr oder weniger klar manifestierten) Willen des Rechtsetzers. Berücksichtigt also der Rechtsetzer bestimmte kulturelle Aspekte bei der Transplantation 148 Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation, S. 89 ff. HoffmannRiem baut dabei auf den Erkenntnissen zu Wirkungsdimensionen aus den Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften auf. Insbesondere verweist er auf Windoffer, Verfahren der Folgenabschätzung als Instrument zur rechtlichen Sicherung von Nachhaltigkeit, S. 3; Franzius, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Assmann/Vosskuhle/Baer/Albers (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 179.
V. Resümee und weiterführende Gedanken
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fremden Rechts (bewusst) nicht, sind die Korrekturmöglichkeiten der Rechtsanwender nur beschränkt möglich. Schließlich kann ein Rechtstransfer auch in der Implementationsphase scheitern. Auch wenn – in der Theorie – ein Normsetzer das ausländische Recht gänzlich verstanden hat, es rechtsdogmatisch ideal in sein Rechtssystem integriert hat und Recht auch so auslegt wurde, dass die Norm dem rechtskulturellen Vorverständnis gerecht wird, selbst dann kann es geschehen, dass der Rechtstransfer nicht den erwünschten gesellschaftspolitischen Erfolg bewirkt, da sich die Gesellschaft in einer bestimmten Art und Weise gegen die neue Regelung zur Wehr setzt. Die konkreten Einflussmöglichkeiten des Rechtsetzers auf die gesellschaftliche Adoption des neuen Rechts sind häufig begrenzt. Hier helfen ihm lediglich Voraussicht und ein gutes Gespür für die sozio-kulturellen Gepflogenheiten und Neigungen seiner Bevölkerung.
D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten I. Mehrwert einer problemorientierten Rechtstransfertypologie Typenbildungen sind stets nützlich, um komplexe Phänomene zu studieren. Kategorien und Typen machen wissenschaftliche Felder besser zugänglich und greifbar. Die Vorzüge von Kategorien sind auch in Bezug auf die Problemursachen von Rechtstransfers im letzten Kapitel sichtbar geworden. Bedenkt man, in welch unterschiedlichen Formen Rechtstransfers auftreten können, so kann es für ein besseres Verständnis des Phänomens „Rechtstransfer“ hilfreich sein, auch seine verschiedenen Erscheinungsformen einer systematisierenden Untersuchung zu unterziehen. Dies gilt umso mehr, weil festzustellen ist, dass die rechtsvergleichende Literatur von einem vermeintlich „einheitlichen“ Rechtstransferbegriff ausgeht, der oft der Komplexität und Vielseitigkeit des Phänomens nicht gerecht wird. Dieses Phänomen des kritisierten „Einheitsmodells“ oder – wie Twining es formuliert – „naiven Transfermodells“ wurde bereits oben angesprochen.1 Der folgende Versuch, Rechtstransfers in ihren Merkmalen und Eigenschaften zu typologisieren soll dazu ermuntern, Rechtstransfers künftig nicht als undifferenziertes Gesamtkonzept zu analysieren. Die Typologie soll es ermöglichen die einzelnen Problemkonstellationen, die im Zusammenhang mit der Übertragung von Recht auftauchen, systematisch und gesondert voneinander zu untersuchen. Es gibt eine Reihe von Autoren, die sich mit Typenbildungen von Rechtstransfermerkmalen beschäftigt haben (dazu sogleich). Deren Ansätze sind jedoch bislang kaum aufgegriffen worden. Bisher befasst sich die Wissenschaft vornehmlich einzelfall- und kontextbezogen mit Rechtstransfers. Forschungsprojekte zur Ergründung von legal transplants werden oft unabhängig voneinander realisiert. Ihre Schlussfolgerungen werden selten mit anderen vergleichbaren Problemen verknüpft. Der Vielzahl an Modellanalysen in der Wissenschaft mangelt es also an einer Synthese.2 So lassen sich die Erkenntnisse im Bereich der Probleme von Rechtstransfers für Praktiker nur schwierig bis gar nicht überblicken. Es verwundert nicht, dass die Rechtstransferwissen1
2
Siehe B. I. Cohn, The American Journal of Comparative Law 58 (2010), 583 (589).
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
schaften – anders als mittlerweile die Rechtsvergleichung3 – in den vergangenen Jahrzehnten einen eher geringen Einfluss auf die Rechtspraxis hatten. Dabei hat das schon existente und auch künftige Datenmaterial zu Rechtstransferproblemen großes Potenzial, um Rechtsetzer für wiederkehrende „Problemmuster“ zu sensibilisieren. Dafür muss allerdings ein Maßstab gefunden werden, der es ermöglicht, Problemanalysen verschiedener Rechtstransfers miteinander zu vergleichen. Denn nur so können „Problemmuster“ überhaupt erst ausfindig gemacht werden. Diese Problemmuster können dann wiederum den Rechtsetzer auf bestimmte Problemkonstellationen hinweisen. Eine Rechtstransfertypologie hat also auch einen praktischen Mehrwert. Sie kann dazu genutzt werden, um Erkenntnisse aus konkreten Problemanalysen in einen Kontext mit den Ergebnissen anderer vergleichbarer Problemanalysen zu stellen. Hierdurch ergeben sich schließlich Erfahrungswerte. Diese wiederum können Rechtsetzer bei deren eigenen vergleichbaren Rechtstransferprojekten für bestimmte Problemkonstellationen sensibilisieren. All dies geht jedoch nur mit Typologien, die auch einen Bezug zu den erkannten Problembereichen herstellen können. Brauchbar sind daher nur Typenbildungen, deren Merkmale problemrelevant sind. Problemrelevant ist ein Merkmal dann, wenn die Erfahrung gezeigt hat – oder womöglich noch zeigen wird –, dass seine Existenz oder seine Ausgeprägtheit für den Erfolg oder Misserfolg eines Rechtstransfers eine Rolle spielen kann. Für die Identifizierung problemrelevanter Merkmale von Rechtstransfers kann teilweise auf Typologieansätze aus der Literatur zurückgegriffen werden. Miller hat auf der Grundlage einiger Rezeptionsbeispiele aus Lateinamerika eine Typologie entwickelt, welche sich mit den Interessen und Beweggründen des Rezipienten befasst.4 Cohn hat Millers Ideen präzisiert und teilweise erweitert.5 Auch Kviateks Versuche, Bedingungen beim Rezipienten zu charakterisieren, sollen Beachtung finden.6 All diese Ansätze sollen – soweit sie als brauchbar erachtet werden – im folgenden Abschnitt (II.) dargestellt und analysiert werden. Im darauffolgenden Abschnitt (III.) wird ein eigener Ansatz für eine problemorientierte Rechtstransfertypologie formuliert. Die Typologieansätze aus der Literatur sollen dabei um einige Vorschläge erweitert und ergänzt werden. Schließlich folgt der Vorschlag einer problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Darstellung eines „Typologiestammbaums“. In welcher Form die Typologie für einen solchen „Sensibilisierungsmechanismus“ verwendet werden kann, wird sodann im anschließenden Kapitel (E.) dargestellt. 3 Vgl. nur Michaels, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 66 (2002), 97 (112). 4 Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839. 5 Cohn, The American Journal of Comparative Law 58 (2010), 583. 6 Kviatek, Explaining Legal Transplants.
II. Typologieansätze in der Literatur
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II. Typologieansätze in der Literatur 1. Millers Typologie zu den Beweggründen des Gesetzgebers Für das Gelingen eines Rechtstransfer sind die Motive eines Rechtsetzers ein entscheidender Faktor.7 Miller teilt Rechtstransfers in vier Kategorien ein: (1) Rechtstransfers zum Zwecke der Zeit- oder Kostenersparnis, (2) Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“, (3) „Eigeninteressengeleitete Rechtstransfers“ und schließlich (4) Prestigeerzeugende Rechtstransfers. Nach Miller haben all diese Merkmale gemein, dass sie auf Motivationsfaktoren aufbauen.8 Miller stellt klar, dass die „pure Form“ einer dieser Typen die Ausnahme ist. Häufiger finde man Rechtstransfers, die mehrere Faktoren gleichzeitig erfüllen. Solche „Mischformen“ seien die Regel. Seine vier Kategorien könnten lediglich als Idealtypen dienen. Miller fokussiert sich bei seiner Typologie auf die Gesetzestransplantation. Während einige dieser Typen auch in Form von Rechtsprechungstransplantationen vorkommen können, sind hingegen andere – wie etwa der Rechtstransfer zur Zeit- und Kostenersparnis – in der Tat hauptsächlich bei Gesetzestransplantationen anzutreffen. Im Folgenden wird nun in die einzelnen Typen von Rechtstransfers nach Miller kurz eingeführt.
a) Rechtstransfer zwecks Zeit- oder Kostenersparnis Häufig entscheiden sich Rechtsetzer für die Übernahme fremden Rechts, um Zeit und Kosten zu sparen.9 „In Zeiten von dramatischem Wandel, gibt es oft keine Zeit, um sorgfältig ‚organische‘ hausgemachte Gesetzgebung anzufertigen. […] Jedenfalls in einigen Rechtsgebieten macht es Sinn, das Rad nicht neu zu erfinden.“10
Das Phänomen der Zeit- und Kostenersparnis spielt auch in zweier der oben behandelten Beispielsfälle eine wichtige Rolle. In Estland brauchte man nach dem Fall der Sowjetunion möglichst rasch ein Sachenrecht, welches westlichem Standard entsprach.11 Den langwierigen Prozess, den die europäischen Staaten 7 Rehm, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 1 (36). 8 Zum Folgenden: Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (842). 9 Vgl. nur Watson, Georgia Journal of International and Comparative Law 2013, 605 (606): „Why is law borrowed? Because it is there! Borrowing is much easier than thinking. It saves time and effort.“ 10 Waelde/Gunderson, International & Comparative Law Quarterly 43 (1994), 347 (368). Eigene Übersetzung aus dem Englischen. Vgl. auch Münch, Neue Juristische Wochenschrift 1994, 3145 (3146). 11 Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (77).
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
mit ihrer Rechtsentwicklung bis zum damaligen Stand vollzogen hatten, konnte Estland offensichtlich nicht in so kurzer Zeit nachholen. Man befürchtete, dass Estland den Anschluss an die europäische Integration verlieren könnte, wenn es wichtige Reformen verpasste. Zusätzlich spielten ressourcentechnische Fragen eine Rolle. Estland verfügte weder über die finanziellen noch die personellen Mittel, um den Reformprozess allein zu gestalten. Es musste also fremdes Recht als Grundlage für ihre Reformen heranziehen. Auch zügige Umsetzung der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei ist (unter anderem) auf Zeitnot zurückzuführen.12 Es waren vor allem politische Gründe, die besonders zügige Reformen in der Türkei notwendig machten:13 Die Reformbewegung unter Atatürk hatte ein großes Interesse daran, das politische Momentum auszunutzen, um die geplanten Reformen zu bewältigen. Die Türkei war durch den Lausanner Friedensvertrag verpflichtet worden, religiöse Minderheiten nicht weiter unter das bis dahin geltende muslimische Recht zu stellen. Sie sollten von da an ihrem eigenen Gewohnheitsrecht unterstellt werden. Die Ausgestaltung dieses Gewohnheitsrechts sollte nach dem Lausanner Vertrag eine Ad-hoc-Kommission vornehmen. Atatürk, dem die Souveränität der Türkei sehr wichtig war, sah in der Übertragung des schweizerischen ZGB eine Möglichkeit, diese Ad-hoc-Regelungen rasch obsolet zu machen. Eine Ausarbeitung eines eigenen Gesetzbuches war bei einem solch umfänglichen Vorhaben ebenfalls keine Option.14
b) Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ Ein weiterer Rechtstransfertypus aus Millers Typologie ist der so von ihm benannte „externally dictated transplant“. Er beschreibt den Fall, dass ein internationaler Akteur die Übernahme eines ausländischen Rechtsmodells zur Vorbedingung macht für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit oder für die Gewähr gewisser politischer Autonomie für das dominierte und rezipierende Land.15 Der Beweggrund eines Rechtsetzers liegt in diesen Fällen also vor allem darin, diese politischen Akteure durch eine Rechtsübernahme zufrieden zu stellen.16 12 13
Kubali, International Social Science Bulletin 9 (1957), 65 (68). Zum Folgenden: Postacıoğlu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 54. 14 Vgl. auch Vasella, in: Vasella (Hrsg.), Werte im Recht – Das Recht als Wert, S. 239 (247). 15 So die Definition bei Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (847). 16 In der Literatur wird darüber diskutiert, ob der „Rezeptionsbegriff“ nur freiwillige Rechtsübernahmen erfassen solle. Begründet wird dies damit, dass die Aufnahme fremder Rechte mit der Vernichtung oder Überwältigung eines Volkes durch ein anderes die Identität der rezipierenden Rechtsgemeinschaft selbst zerstöre. So etwa Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 127; Koschaker, Europa und das Römische Recht, S. 162; Rheinstein, in: Annales de la faculté de Droit d’Istanbul, S. 31 (33). Aus methodischer Perspektive ist dieser Ansatz aber nicht gewinnbringend.
II. Typologieansätze in der Literatur
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Miller erläutert diesen Rechtstransfertypus mit einigen Fallbeispielen, darunter etwa die Übernahme von Teilen des US-amerikanischen Finanzrechts in Argentinien. Diese war erst durch die Forderung einiger US-Investoren zustande gekommen. Als Beispiel aus dem Verfassungsrecht erwähnt er auch die japanische Verfassung, die dem Land nach dem Zweiten Weltkrieg de facto aufgezwungen worden war. Tatsächlich ist die japanische Verfassungsrezeption ein Paradebeispiel für einen aufgezwungenen Rechtstransfer. Zwar hatte das japanische Parlament die formelle Entscheidungsgewalt über den Inhalt der Verfassung, den sie 1946 verabschiedete. Faktisch war dieser Inhalt jedoch ein Diktat der US-amerikanischen Besatzungsmächte. Ihr Druck bestand in der militärischen Dominanz des japanischen Hoheitsgebiets. MacArthur nahm als „externer Akteur“ nicht nur im Hinblick auf das „Ob“ einer Übernahmeentscheidung Einfluss. Er machte den japanischen Verantwortlichen auch klare Vorgaben im Hinblick auf das „Wie“ der Umsetzung – also der inhaltlichen Ausgestaltung der Verfassung. Im Falle Japans hat bereits die Tatsache, dass die Verfassung „erzwungen“ und „unjapanisch“ war, dazu geführt, dass bestimmte Interessengruppen in Japan diese als Konstrukt bis heute ablehnen.17 Das Ergebnis war kein inländisch ausgehandelter Kompromiss, kein Konzept einer Verfassung, das die japanischen Offiziellen freiwillig verfolgt hätten. Sie waren vielmehr gezwungen, diese neue Verfassung anzunehmen. Je größer der Druck, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Einflussnehmer auch direkt im Transplantationsprozess verhaltenssteuernd auf den Rechtsetzer einwirkt. Externer Druck kann also die Arbeits- und Entscheidungsweise des Rechtsetzers erheblich beeinflussen. Es spricht vieles dafür, dass externer Druck für sich genommen das Risiko für ein Fehlschlagen des Rechtstransfers erhöht.18 Auch wenn Miller den Typus „externally dictated transplants“ nennt, zeigen seine Veranschaulichungsbeispiele, dass er in Wahrheit von einem deutlich weiteren Anwendungsbereich ausgeht. Er erfasst auch Drucksituationen und bloße Einflussnahmen externer Akteure. Beispielhaft ist die erwähnte Lobbyarbeit von US-Investoren in Argentinien. Für den Paradefall des „diktierten 17 Bis heute ist im Einzelnen umstritten, wie viel Entscheidungsfreiheit MacArthur den Japanern bei der Anpassung der Verfassung einräumte. Manche betonen, dass Japan durchaus signifikanten Einfluss auf die Verfassung nehmen konnte. Teilweise wird von einer japanischamerikanischen Kollaboration gesprochen. Vgl. Maki, Japan’s Commission on the Constitution, S. 224 ff.; Kawagishi, Yale Law School Dissertations 4 (2003), 445 f. Konsens besteht jedoch darin, dass den Japanern in einigen Eckpunkten klare Vorgaben gemacht wurden, über die sie sich nicht hinwegsetzen konnten. Insoweit bleibt das Ausmaß der Druckausübung im Verhandlungsprozess zwar umstritten. Unumstritten ist jedoch, dass das Gesamtkonzept einer neuen japanischen Verfassung nach US-amerikanischem Vorbild keine Entscheidung war, die aus eigenem Antrieb getroffen wurde. Dies reicht bereits, um von einer Motivation „aufgrund externen Drucks“ zu sprechen. 18 Berkowitz/Pistor/Richard, The American Journal of Comparative Law 2003, 163 (179, 180 und 189).
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
Transplants“, in dem ein Staat dem anderen eine Übernahme von Recht formal und durch physische Gewalt auferlegen möchte, existieren heutzutage nur noch wenige Beispiele.19 Oft ergeht der Druck in subtilerer Form. Dazu gehören insbesondere finanzielle und wirtschaftliche Druckmittel. Diese „schwächeren“ Formen von Einflussnahmen können sich jedoch ebenfalls stark auf das Normprogramm auswirken. Auch – oder sogar gerade – diese Formen des Drucks wollte Miller unter dem Typus „externally dictated transplant“ erfasst wissen. Die hier gewählte Übersetzung Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ entspricht daher auch dem Ansatz Millers.
c) Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer aa) Definition und Beispiele Die Idee für die Kategorie des „Eigeninteressengeleiteten Rechtstransfers“ – bei Miller „Entrepreneurial Transplant“ genannt – ist den Untersuchungen von Dezalay und Garth entnommen. Die Autoren belegen am Beispiel von Reformen aus dem lateinamerikanischen Raum, dass Rechtstransfers oft durch den Einfluss bestimmter Gruppen zustande kommen, die dabei individuelle Interessen verfolgen. Bei diesen Interessengruppen handele sich regelmäßig um soziale Eliten, die ihre Stellung dazu ausnutzen, um ihre Macht zu sichern. Diese Personenkreise versuchten, eine ausländische Rechtsstruktur zu festigen, weil sie diese etwa aufgrund ihrer Abschlüsse oder ihrer Netzwerke im Ausland besser verstünden als die lokal Ansässigen.20 Miller veranschaulicht diese Art von Rechtstransfer am Beispiel von Beratungstätigkeiten von (international tätigen) Anwaltskanzleien bei Gesetzgebungsverfahren.21 Diese Kanzleien verfolgten dabei seiner Ansicht nach oft weniger ideelle, sondern eben Eigeninteressen. Ihr Engagement diene vor allem der Reputation der Kanzlei und schaffe zudem eine besondere Expertise auf dem Rechtsgebiet der jeweiligen Gesetzesreform.22 19 Darunter das eben beschriebene Beispiel der Verfassungsrezeption in Japan, ansonsten vor allem Beispiele aus der Kolonialzeit. 20 Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (850) mit Verweis auf Dezalay/Garth, The Internationalization of Palace Wars, S. 7. Dieses Phänomen wird in den Sozialwissenschaften schon länger unter dem Stichwort „Norm Entrepreneurs“ behandelt. Finnemore/Sikkink, International Organization 52 (2007), 887 übertrugen dieses Phänomen des „Norm Entrepreneurs“ von sozialen Normen auf Gesetzgebungsprozesse. Dass inländische (elitäre) Minderheiten Recht ohne die Berücksichtigung anderer gesellschaftlichen Interessen übernehmen, erinnert zudem an Watson: Nach ihm sind Rechtstransfers grundsätzlich das Ergebnis der Arbeit einer Juristenelite, die völlig abgekoppelt sei, von sozialen Zwängen und Einflüssen. Siehe Watson, Society and Legal Change, S. 89. 21 Ein prominentes deutsches Beispiel ist das Engagement der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer bei der Erstellung des Finanzmarktstabilisierungsgesetzes (Gesetz vom 17. Oktober 2008, BGBl. I, S. 1982), siehe speziell dazu: BT-Drucks. 17/9266 vom 5. April 2012 sowie Kalagi, Zeitschrift für Parlamentsfragen 45 (2014), 647 Zu den ethischen Fragen: Kellenberg, Marquette Law Review 76 (1993), 343. 22 Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (850).
II. Typologieansätze in der Literatur
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Auch in der Rezeption des schweizerischen ZGB durch die Türkei finden sich Merkmale eines „Eigeninteressengeleiteten Rechtstransfers“: Einige Jahre vor der Übernahme des schweizerischen Rechts hatte der türkische Justizminister Bozkurt an der Universität im schweizerischen Fribourg Rechtswissenschaften studiert.23 Ihm waren die Normen des ZGB durch sein Masterstudium bekannt.24 Aus Sicht der Türkei gab es eine Reihe von Gründen, gerade das schweizerische ZGB zu rezipieren.25 Dazu gehören etwa seine Kürze, seine Klarheit, und die weite Verbreitung der französischen Sprache in der Türkei.26 Der Hintergrund Bozkurts war allerdings – so sagen zeitgenössische Rechtswissenschaftler – ein mindestens ebenso wichtiger Aspekt. Bozkurt war im Bereich des schweizerischen Zivilrechts für einen türkischen Funktionär selbst fachlich spezialisiert. Dies wirkte sich positiv auf seinen inhaltlichen Einfluss bei der Übernahme der schweizerischen Gesetzestexte aus. Er konnte als Justizminister die Arbeit nicht nur dirigieren und delegieren. Er war auch fachlich in der Lage, in die juristischen Probleme einzusteigen. Dies machte ihn zum Experten und Verantwortlichen zugleich. Nicht umsonst werden die Reformen ab dem Jahr 1925 weniger mit dem Namen Atatürk, sondern mit dem Namen Bozkurt in Verbindung gebracht. Es darf vermutet werden, dass diese Aspekte bei der Wahl speziell des schweizerischen ZGB zumindest auch eine Rolle gespielt haben dürften. Bei Bozkurt handelt sich streng genommen zwar nicht um einen externen Akteur. Vielmehr gestaltete er die Reform kraft seines Amtes als Justizminister mit. Insofern liegt zumindest kein klassischer Fall des „Ermessensgeleiteten Rechtstransfers“ vor.
bb) „Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer“ als Subtyp des Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ Miller scheint selbst aufgefallen zu sein, dass ein „Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer“ strukturelle Ähnlichkeiten mit einem Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ aufweist. Er schlägt vor, die Typen im Hinblick auf ihr Ziel voneinander abzugrenzen.27 Seine Formulierungen sind allerdings an dieser Stelle ein wenig kryptisch.28 Ein Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ ziele auf die Übernahme eines Rechts ab, während hingegen es beim „Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer“ auf eine konkrete „facilitation“ ankom23 24
Kieser, Turkey Beyond Nationalism, S. 21. Hirsch, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 116 (1954), 201– 218 (206). 25 Dazu bereits oben A. IV. 1. 26 Sauser-Hall, Recueil de travaux publiés par la Faculté de Droit de l’Université de Genéve 1938, 325 (345 f.). 27 Siehe dazu Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (854). 28 „[…] unlike the externally-dictated transplant, the external incentives for an entrepreneurial transplant are directed at the facilitator, rewarding facilitation rather than adoption.“ Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (854).
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
me. Mit „facilitation“ meint Miller wohl eine bestimmte Wirkung, die den spezifischen Interessen des handelnden Akteurs zugutekommen soll. Dazu könnte beispielsweise die Angleichung der Rechtslage an die eigene Expertise gehören. Die Motivation des Rechtsetzers bei Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ soll hingegen nicht in einer solchen „Facilitation“ liegen. Die „Belohnung“ besteht aus Millers Sicht in der Übernahme des Rechts selbst („adoption“). Diese Unterscheidung wirkt ein wenig gekünstelt. Sie lässt außer Acht, dass der Rechtsetzer bei einem Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ regelmäßig die Interessen des externen Drucks ausübenden Akteurs realisieren möchte. Das Ziel des externen Akteurs wird sich nur selten darauf beschränken, dass Recht übertragen wird. Er verbindet damit in vielen Fällen zudem eine Erwartung an konkreten Folgen durch diese Übernahme – sei es ein bestimmter gesellschaftspolitischer Zustand oder auch nur eine politische Wirkung. Diese Folgen können eigennützig sein, sie können aber auch uneigennützig sein. Sie können auf einen Wettbewerbsvorteil dieses Akteurs gerichtet sein, wie Miller sie beschreibt. Dies erscheint jedoch nicht zwingend. Millers Differenzierungsversuch überzeugt methodisch nicht wirklich. Vielmehr spricht einiges dafür, dass der Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ den „Eigeninteressengeleiteten Rechtstransfer“ miteinschließt. Genau genommen beschreibt der „Eigeninteressengeleitete Rechtstransfer“ einen Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“, der das besondere Phänomen der Eigeninteressenverfolgung zur Statussicherung beziehungsweise Statuserweiterung verfolgt. Der „Eigeninteressengeleitete Rechtstransfer“ ist also ein Subtyp des Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“.29 Er soll im Folgenden als ein solcher behandelt werden.
d) Prestigeerzeugender Rechtstransfer Wenn es nach Koschaker geht, ist die Rezeption eines ausländischen Gesetzes „eine Frage der Autorität und nicht der Qualität […].“ Man rezipiere fremdes Recht nicht, weil man es für das beste hält. Vielmehr ist die Empfänglichkeit eines fremden Rechtssystems eine Machtfrage, die Folge einer wenigstens geistigen und kulturellen Machtstellung des rezipierten Rechts.“30 Was Koschaker 29 Auch dies ist nicht zwingend. Auf ein anderes Ergebnis käme man, wenn man den Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ schon deutlich enger fassen würde. Wenn der Begriff „externer Druck“ nur auf Sachverhalte mit real drohenden negativen Folgen Anwendung fände, bestünde womöglich nicht einmal eine Überlappung zwischen dem Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ und dem „Eigeninteressengleiteten Transfer“ auf horizontaler Ebene. Beiden Kategorien ist jedenfalls gemein, dass sie sich um von Eigeninteresse bestimmte Einflussfaktoren drehen, welche typischerweise nicht dem Interesse des Rezipienten entsprechen. 30 Koschaker, Europa und das Römische Recht, S. 138 Einige Autoren haben dies aufgegriffen: Ajani, The American Journal of Comparative Law 43 (1995), 93; Mancuso, in: Oliveira/Cardinal (Hrsg.), One country, two systems, three legal orders, S. 75 (77 f.) Schacherreiter, Das Landeigentum als Legal Transplant in Mexiko, S. 34 f.
II. Typologieansätze in der Literatur
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als geistige oder kulturelle Machtstellung bezeichnet, versteckt sich hinter dem Begriff „Prestigeerzeugender Rechtstransfer“ (oder: „prestige generating transplant“). In diesen Fällen wird Recht in Form von „Prestige“ übertragen.31 Der Typus hat also ein autoritätsförderndes Element.32. Millers Ansicht nach kann das „Prestige“ einer fremden Regel das Autoritätsdefizit eines lokalen Rechtsetzers ausgleichen.33 Schon allein die Tatsache, dass der Rechtstransfer aus einer prestigeträchtigen Jurisdiktion stammt, könne den Rechtfertigungsaufwand für den lokalen Rechtsetzer verringern. Nichts anderes meint auch Koschaker, der mit der Betonung der „kulturellen oder geistigen Machtstellung“ des Exporteurs allerdings eher die Beziehungen zwischen dem Rezipienten und dem Exporteur beschreibt. Miller betont hingegen die Bedeutung und zugleich die Motivation von Rechtsetzern, „prestigeträchtiges Recht“ zu übernehmen. In solchen Fällen stellt also die Herkunft des Rechtstransfers eine eigene Autorität dar. In seiner „Reinform“ ist der „Prestigeerzeugende Transplant“ weitgehend losgelöst von einer inhaltlichen Debatte über die Sinnhaftigkeit des Rechtstransfers. Folgt man Miller, kann der Grund für das Prestige einer bestimmten Rechtsordnung in der ökonomischen Effizienz dieser Rechtsordnung liegen, muss es aber nicht.34 Welche Formen von „Prestige“ von Bedeutung sein können, lässt Miller offen. Er spricht lediglich von der „Wirksamkeit und der globalen Bedeutung“ des Geberlandes als Quelle für Prestige.35 Es lässt sich vermuten, dass er vor allem die politische und ökonomische Bedeutung des Exporteurs im Auge hat. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass er sich bei der Erläuterung seiner Typologie fast ausschließlich auf Rezeptionen aus einem Industrieland in ein Entwicklungsland bezieht.36. Der „autoritätsgenerierende Faktor“ kann jedoch auch bei Rechtsübernahmen zwischen ähnlich entwickelten oder ähnlich mächtigen Staaten eine Rolle spielen. In diesen Fällen sind dann weniger wirtschaftliche Vorbilder von Bedeutung, sondern womöglich eher eine anerkannte Rechtstradition oder Legislatur. Zwei der anfangs beschriebenen Rechtstransferbeispiele beinhalten Elemente eines prestigeerzeugenden Rechtstransfers. Dies gilt für die Rezeption des 31 Zur
Rolle von Prestige bei Rechtsübernahmen vgl. Sacco, The American Journal of Comparative Law 39 (1991), 343 (398 ff.). 32 Dies hat auch Watson hervorgehoben. „[…] it helps the new law to become acceptable because it has a recognized pedigree.“. Watson, Georgia Journal of International and Comparative Law 2013, 605 (606). 33 Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (857). 34 Zu diesem Ergebnis kommt Miller nach einer aufwendigen Auseinandersetzung mit zwei Aussagen Matteis. Diesem nach sei „Prestige“ ein weitgehend leerer Begriff. Rechtstransfers könnten durch das Streben nach Effizienz erklärt werden. Vgl. zur Diskussion: Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (855 f.) sowie Mattei, International Review of Law and Economics 14 (1994), 3 (4). 35 Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (854). 36 Es scheint ein wenig so, als ob auch Miller seinen Ausführungen ein etwas „naives Rechtstransferverständnis“ zugrunde legt, wovor Twining warnt, vgl. schon oben B. I.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
deutschen Sachenrechts in Estland ebenso wie die Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei. Estland übernahm das deutsche Sachenrecht aufgrund des Prestiges der deutschen Sachenrechtsdogmatik. Die Türkei – in Person von Justizminister Bozkurt – hielt das schweizerische ZGB für ein Abbild der „geistige[n] und kulturelle[n] Führungsposition von Europa im Ganzen“. Es wurde in seiner Gänze rezipiert, ohne dass größere inhaltliche Diskussionen geführt wurden. Beide Beispiele entsprechen auch in etwa dem Bild, welches Miller von dem typischen „prestigeerzeugenden Rechtstransfer“ zeichnet: Beide Staaten befanden sich zum Zeitpunkt der Rechtsübernahme in politischen Transformationsprozessen.37 Estland übernahm das deutsche Sachenrecht, als es sich von der gefallenen Sowjetunion loszusagen versuchte und sich dem Westen – insbesondere Europa – zuwandte. In der Türkei ging es Anfang der Zwanzigerjahre um die Befolgung des radikalen Reformwillens Atatürks. Dieser wollte die Türkei ebenfalls westlich ausrichten und religiöse Einflüsse auf das Recht ausschalten.38
2. Ergänzungen durch Cohn Cohn hat die Typologie Millers um weitere Aspekte ergänzt. Einige dieser Aspekte können auch für eine problemorientierte Rechtstransfertypologie brauchbar gemacht werden. Zum einen verdienen ihre Vorschläge für weitere Typen von Beweggründen des Rechtsetzers Beachtung (unten a) bis c)). Zum anderen lohnt sich ein Blick auf ihren Ansatz, Rechtstransfers nicht nur in starren Dichotomien, sondern in Form von Spektren zu beschreiben (unter d)).
a) Rechtstransfers zu inhaltlichen Optimierungszwecken Der Typus „zum Zweck der Optimierung“ beschreibt die Entscheidung eines Rechtsetzers, sich ausländischen Rechts aufgrund dessen „Überzeugungskraft“39 zu bedienen.40 Dieser Typus steht für den „legislativen Reflex auf Entwicklungen, die sich jenseits der nationalen Grenzen in vergleichbarer Form bereits eingestellt haben.“41 Dieser Motivationsgrund ist der am häufigsten verbreitete. Er ist Ausdruck des Gestaltungswillens, den Rechtsetzer typischer37 Miller erwähnt den im lateinamerikanischen Raum typischen Fall der post-diktatorischen Regime, die „schnellstmöglich Institutionen mit sofortiger Legitimität etablieren müssen.“ Vgl. Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (857). Eigene Übersetzung aus dem Englischen. 38 Kubali, International Social Science Bulletin 9 (1957), 65 (68). 39 Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 31. 40 Vgl. auch Starck, in: Fehling/Grewlich (Hrsg.), Struktur und Wandel des Verwaltungsrechts, S. 123 (129). Manche Autoren bezeichnen dieses Phänomen auch als „lesson drawings“. Z. B. Rose, Journal of Public Policy 11 (1991), 3 (4). 41 Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 33.
II. Typologieansätze in der Literatur
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weise verfolgen. Sowohl die türkische Rezeption des schweizerischen ZGB als auch die Rezeption des deutschen Sachenrechts in Estland sind Beispiele für Rechtstransfer, die (auch) zu inhaltlichen Optimierungszwecken durchgeführt wurden. Womöglich war dieser Typus gar zu trivial, als dass ihn Miller extra erwähnen wollte. Das heißt aber nicht, dass nicht auch Fälle denkbar sind, in denen diese Motivation in den Hintergrund rückt oder gar gänzlich fehlt. Gerade bei aufoktroyierten Rechtstransfers kann dies der Fall sein. Denn hier kommen die Entscheidung und Motivation selten vom Rechtsetzer selbst, sondern von einem Dritten, der zudem noch eigene Interessen vertritt. Der Rechtsetzer sieht in diesen aufgedrängten Transplantationen selbst keinen Mehrwert, sondern will sich nur dem Druck beugen. Ein Beispiel dafür ist die Rezeption der Mac-Arthur-Verfassung in Japan. Wäre es nach den Volksvertretern und den Verantwortlichen aus dem Justizministerium des besiegten Japans gegangen, hätte das Land seine Verfassung nicht dermaßen stark an westliche Verfassungen angepasst. Für den japanischen Gesetzgeber bestand kein Reformbedarf in Richtung einer Verfassung nach westlichem Vorbild. Selbst nachdem die Alliierten ihnen befahlen, einen ersten Entwurf für eine neue Verfassung auszuarbeiten, orientierten sich die Verantwortlichen an der Meiji-Verfassung.42 Die Verwestlichung geschah dann erst auf Druck der Entwürfe der Alliierten. Die japanischen Verantwortlichen waren also vermutlich gar nicht der Überzeugung, dass die Reformen den Zustand verbessern würden.43 Die Rezeption der MacArthur-Verfassung stellt jedoch eines der wenigen Beispiele dar. Die relative Häufigkeit des Typus „Rechtstransfers zu inhaltlichen Optimierungszwecken“ führt dazu, dass dieses Merkmal im Vergleich zu anderen Typen nicht spezifisch problemrelevant ist und deshalb kaum als Abgrenzungsmerkmal zu anderen Rechtstransfers dienen kann. Umgekehrt bedarf es jedoch besonderer Beachtung, sofern Zweifel bestehen, dass ein in der Regel vorauszusetzender inhaltlicher Optimierungszweck ausnahmsweise nicht vorliegt.
b) Rechtstransfers zwecks Rechtsharmonisierung mit ausländischem Recht Beweggrund eines Rechtsetzers kann es ebenfalls sein, das Regelwerk seines eigenen Rechtssystems an das eines anderen oder mehrerer anderer Rechtssysteme anzugleichen. Harmonisierung bedeutet hier jedoch nicht „irgendeine“ 42 Inoue, MacArthur’s Japanese Constitution, S. 1. 43 Es bleibt natürlich unbestritten, dass die neue Verfassung
Japans durch das Parlament formell verabschiedetet wurde. Es handelt sich also nicht um eine formelle Oktroyierung, wie sie teilweise in der Kolonialzeit vollzogen worden waren. Allerdings deuten die meisten Literaturquellen darauf hin, dass die Unterstützung der Verfassung durch das Parlament das Ende eines durch die Besatzungsmächte dominierten Aushandlungsprozess war. Ihre Annahme war somit eine politische Notwendigkeit und nicht das Ergebnis von parlamentarischer Meinungsbildung.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
Angleichung an ein fremdes Rechtssystem oder an mehrere Rechtssysteme. Gemeint sind systematische Harmonisierungsbestrebungen, die Teil einer breitflächigeren Integrationsagenda oder zumindest einer zielgerichteten Initiative sind.44 Die Breitflächigkeit ist ein gutes Abgrenzungsmerkmal zu jeder anderen – eher punktuellen – Rechtsangleichung. Ein passendes Beispiel für einen Rechtstransfer aufgrund von Harmonisierungsbestrebungen ist die Übernahme deutscher Zivilrechtsnormen in Estland, ganz besonders der schuldrechtlichen Bestimmungen. „Estland versuchte durch die Anwendung rechtsvergleichender Methoden […], an die neueren Zivilrechtsentwicklungen in Europa anzuknüpfen. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Umsetzung von EG-Richtlinien in verschiedenen europäischen Ländern.45 Insbesondere im Bereich des Schuldrechts konnte man so die als Grundprinzipien eines (womöglich) zukünftigen europäischen Zivilgesetzbuches bezeichneten „Principles of European Contract Law der […] Lando-Kommission und die ähnlichen Principles of International Commercial Contracts des UNIDROIT-Instituts […] zusammen mit anderen modernen Kodifikationen – wie das neue niederländische ZGB oder das novellierte deutsche BGB – berücksichtigen.“46 Wie der Rechtstransfer zwecks Zeit- und Kostenersparnis (siehe oben D. II. 1. a)) kann auch die Rechtsharmonisierung zu „Kostenersparnissen“ im weiteren Sinne führen. Die Angleichung von Recht schafft auch wirtschaftliche Hürden ab. So fußt die Idee des europäischen Binnenmarkts auf dem Prinzip der Normharmonisierung. Der Rechtstransfer zwecks- Zeit- und Kostenersparnis meint aber eine andere Art der Kostenersparnis. Gemeint sind Ressourcenersparnisse im Rechtsetzungsprozess selbst. Der Rechtstransfer aufgrund Rechtsharmonisierung mit ausländischem Recht zielt hingegen auf die positiven Konsequenzen ab, welche die Entwicklung von ähnlichen rechtlichen Normen mit sich bringen. Der Beweggrund „Harmonisierung“ stellt also eine sinnvolle Ergänzung von Millers Typologie dar. Für den Erfolg eines Rechtstransfers kann er eine wichtige Komponente darstellen. So hat Estland schon zu einem frühen Zeitpunkt den Rat ausländischer Experten gesucht. Dadurch entstand ein akademisches Netzwerk, das für die Entwicklung der Reform sowie für die weitere Begleitung des Rezeptionsprozesses sehr hilfreich war. Andererseits sind Harmonisierungsbestrebungen auch eher anfällig für die Außerachtlassung sozio-kultureller Unterschiede. Wird ein rechtlicher Angleichungsprozess mit anderen Staaten von der Gesellschaft nicht akzeptiert, kann so ein „Harmonisierungsschwung“ auch zu Konflikten mit der Bevölkerung führen. Da Harmonisierungsbestreben oft strategische Entscheidungen sind, teilweise auch auf rechtlichen Verpflichtun44 45
Platsas, The Harmonisation of National Legal Systems, S. 7. Vgl. dazu ausführlich Lohse, Rechtsangleichungsprozesse in der Europäischen Union. 46 Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 19 (22) Dazu näher: Kull, Juridica International 14 (2008), 122; Varul, Juridica International 5 (2000), 104.
II. Typologieansätze in der Literatur
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gen beruhen, besteht hier die erhöhte Gefahr, dass sie gesellschaftlichen Belangen übergeordnet werden. Werden letztere aber nicht ausreichend beachtet, geht ein Rechtsetzer das Risiko ein, dass seine Rezeption nicht fruchtet.
c) Rechtstransfers zwecks „Signalwirkung“ Ein Rechtstransfer zum Zweck der Signalwirkung – oder „Signaling“ – liegt dann vor, wenn ein Rechtsetzer eine Rechtsübernahme als Mittel benutzt, um ein politisches Zeichen in die Welt zu senden.47 Cohn entlehnt diesen Typus einem Beitrag von Likhovski, der sich mit diesem Phänomen anhand der Analyse zweier rechtlicher Kooperationsprojekte Israels befasst hat.48 Likhovskis Schlussfolgerung ist, dass zumindest einer der Gründe dafür, dass diese Programme existierten, der Wille war, ein Signal von Stärke und Stabilität zu senden. Zudem bezieht er sich auf Rechtsübernahmen von US-amerikanischem Recht in Lateinamerika, die seiner Ansicht nach auch als politische Signale des Rezipienten verstanden werden können. Die politischen Signale bestünden zum einen darin, dass der rezipierende Staat mit der Rechtsübernahme seine Kooperationsbereitschaft gegenüber dem Exporteur anzeige. Zum anderen signalisiere die Rechtsübernahme auch eine bestimmte Zugehörigkeit oder zumindest Verbundenheit mit dem Exporteur.49 Die Rezeption des ZGB durch die Türkei und die Abkehr vom islamischen Recht stellt ein Beispiel für eine unmissverständliche politische Signalwirkung dar. Die Türkei solle „Teil der zivilisierten Gesellschaft“ werden, so der damalige türkische Justizminister Bozkurt.50 Dieses Zitat zeigt, dass die Türkei nicht nur wirtschaftliche Beziehungen mit dem Westen aufbauen und dafür ihr Recht angleichen wollte. Sie wollte mit der Reform auch eine politische Verbundenheit mit dem Westen – insbesondere den europäischen Ländern – aufzeigen, die über rein rechtliche Strukturanpassungen hinausging. Die Rechtsübernahme schweizerischen Rechts war also nicht nur eine technische Adaption. Sie war auch Symbolpolitik – oder wurde zumindest als eine solche zelebriert. Likhovski stellt klar, dass es den Rechtstransfer zwecks Signalwirkung in seiner Reinform kaum gibt.51 Der Beweggrund „Signalwirkung“ vermengt sich regelmäßig mit anderen Beweggründen. Die Entscheidung, einen Rechtstransfer lediglich als politisches Mittel zu verwenden, kann auch die weitere Entwicklung des übernommenen Rechts beeinträchtigen. Steht bei einer Rezeption die Signalwirkung im Vordergrund und nicht der Optimierungsgedanke, kann sich dies negativ auf die Umsetzung des fremden Rechts auswirken. Denn in solchen Konstellationen besteht die Gefahr, dass der Rezipient bei der Wahl des 47
Cohn, The American Journal of Comparative Law 58 (2010), 583 (588). Siehe dazu Likhovski, Theoretical Inquiries in Law 10 (2009), 619 (628 ff.). Likhovski, Theoretical Inquiries in Law 10 (2009), 619 (626). 50 Siehe schon oben A. IV. 1. und C. IV. 1. 51 Likhovski, Theoretical Inquiries in Law 10 (2009), 619 (651). 48 49
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
fremden Rechts politische Erwägungen voranstellt. Wichtige Gesichtspunkte wie „Passt dieses Recht in mein System?“, „Werde ich dieses Recht umsetzen können?“ werden hingegen vernachlässigt. So kann es sein, dass der Rezipient Recht überträgt, das für sein Rechtssystem aus verschiedenen Gründen ungeeignet ist. Der Schwerpunkt auf der „Signalwirkung“ kann sich auch auf den Implementationsprozess auswirken. Es kann sein, dass dem Rechtsetzer vor allem daran gelegen ist, dass fremdes Recht übertragen wird, ihn die Frage, ob es originalgetreu umgesetzt wird, aber deutlich weniger interessiert. Nach alledem ist zu vermuten, dass auch der Rechtstransfer zwecks Signalwirkung, potenziell „problematisch“ ist.
d) Die spektrale Beschreibung von Rechtstransfermerkmalen Schließlich schlägt Cohn vor, sich bestimmten Rechtstransfermerkmalen in Form von Spektren zu nähern. Sie ist der Meinung, dass binäre Unterscheidungen dem Verständnis von Rechtstransfers nicht zuträglich sind. Typologien sollten besser in Form von Spektren und Kontinuen beschrieben werden, da dies die Wirklichkeit besser wiedergebe.52 Cohn möchte Typologien dazu nutzen, um die „starren Dichotomien“ aufzugeben. Auch Millers Typen bestehen freilich nicht aus starren Realtypen, sondern aus Idealtypen. Wenngleich Miller seine Typen mit Fallbeispielen veranschaulicht, sind sie begrifflich und sachlich von Merkmalen der sozialen Realität abstrahiert.53 Das zeigt sich bereits daran, wie sich diese Typen in der Realität regelmäßig überschneiden und teilweise auch überzeichnen. Cohn sieht diesen Idealtypus nur als einen Anfangspunkt für weitere – spektrale – Ausdifferenzierung. Dies zeigt sie unter anderem am Beispiel des Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ auf, welches sie als „Typology of legal transplants, ordered by de facto sovereignty“ bezeichnet.54 Anstatt die Typologie – wie Miller – um die Frage „externer Druck“ oder „kein externer Druck“ bzw. „freiwillig“ oder „unfreiwillig“55 aufzubauen, fragt sie danach, inwieweit Druck bei der Entscheidung, fremdes Recht zu übernehmen, eine Rolle gespielt hat. Cohn interessiert sich also für Zwischenformen, die ein differenzierteres Bild von der Drucksituation des Rechtsetzers geben sollen. Diese Zwischenformen – oder nach 52 Cohn, The American Journal of Comparative Law 58 (2010), 583 (590): „[…] the development of multi-item sorting mechanisms contributes to the rejection of binary, two-faceted distinctions. Typologies, especially when offered in the form of a spectrum or continuum, are a useful alternative to dichotomies. The rejection of binary ordering in favour of multi-faceted analysis is necessary for better-tuned research, since realities are usually anything but binary.“ 53 Vgl. zu dieser Definition grundlegend Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 191 f. 54 Zum Folgenden: Cohn, The American Journal of Comparative Law 58 (2010), 583 (591 f.). 55 So z. B. bei Berkowitz/Pistor/Richard, The American Journal of Comparative Law 2003, 163 (179).
II. Typologieansätze in der Literatur
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Cohns Auffassung: „Typen“ – ordnet sie in eine Skala ein, die das Spektrum von „Null Souveränität“ bis „Höchstmögliche Souveränität“ wiedergibt. Ihr Vorschlag lautet: (Koloniale) Oktroyierung – Transnationale Verpflichtung – Äußerer Druck – Erzeugtes Ansehen – Freiwillige Adoption – „Negative Befruchtung“ – Innovation (kein Rechtstransfer).56
Mit dem Typus „(koloniale) Oktroyierung“ meint sie Rechtstransfers, die vom Rechtsexporteur initiiert wurden. Dem Rezipienten wird keine Wahl gelassen, ob er das Recht übernehmen möchte oder nicht.57 Den darauffolgenden Typus „transnationale Verpflichtung“ erläutert sie mit dem Verweis auf die unmittelbare Anwendbarkeit „bestimmter europarechtlicher Regeln“.58 Die häufigsten und bedeutendsten Fälle solcher Verpflichtungen sind Quid-pro-quo-Vereinbarungen in Form von (bilateralen) völkerrechtlichen Verträgen zwischen zwei Staaten. In diesen Verträgen verpflichtet sich ein Staat – zumindest indirekt – zur Übernahme bestimmter Regeln des Geberstaates. Ein typisches Beispiel für solche Quid-pro-quo-Vereinbarungen sind Freihandelsverträge, durch die das US-amerikanische Investitionsschutzrecht in die Rechtssysteme vieler Staaten gelangt ist. Diese Verträge schufen die Perspektive für einen besseren Zutritt auf den US-amerikanischen Markt – im Austausch für die weitgehende Übernahme US-amerikanischer Investitionsschutzvorschriften.59 Zum Typus „Externer Druck“ gehören nach Cohns Erläuterungen auch quasi-verpflichtende Anreize. Beispiele dafür fänden sich insbesondere im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit: Hier verpflichtet sich der Rezipient nicht ausdrücklich zur Übernahme einer bestimmten rechtlichen Regel. Sie wird aber 56 Cohn, The American Journal of Comparative Law 58 (2010), 583 (592) mit eigener Übersetzung aus dem Englischen. Dort im Original: „colonial imposition – transnational commitment – external pressure – prestige generated – voluntary adoption – negative fertilization – innovation (no transplant).“ Die hierauf folgenden Ausführungen beziehen sich weitgehend auf ihre Erläuterungen, siehe dazu Cohn, The American Journal of Comparative Law 58 (2010), 583 (591 f.). 57 Vgl. nur Kitagawa, Rezeption und Fortbildung des europäischen Zivilrechts in Japan, S. 19; Koschaker, Europa und das Römische Recht, S. 167, am Beispiel des britischen Kolonialreiches. 58 Damit wählt Cohn ausgerechnet ein Beispiel, das – nach der hiesigen Definition – kein Rechtstransfer im eigentlichen Sinne ist. Den transplantierten Regeln fehlt es an einem Eigenleben im Geberland. Europäische Normen können nur das Vehikel für die Übertragung fremden Rechts sein. Unabhängig davon hat Cohns Typus „transnationale Verpflichtung“ seine Berechtigung. Es gibt eine Vielzahl an Beispielen, bei denen vertragliche Übereinkünfte der Grund für die Übernahme von (gelebtem) Recht ist. 59 Ein aktuelles Beispiel ist der „African Growth and Opportunity Act“. Afrikanische Länder müssen hiernach Reformen nach US-amerikanischem Vorbild vollziehen, um an Handelspräferenzen mit den USA zu gelangen. Dazu und weiterführend zu den Hintergründen des fortwährenden Bilateralismus bei Investitionsregimen wie etwa dem Prinzip der Sozialisierung juristischer Eliten anderer Länder durch normative Überzeugungsarbeit vgl. Morin/Gagné, International Journal of Political Economy 36 (2007), 53 (59, 64 f.).
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
zur Voraussetzung gemacht, um an die Vorzüge der Entwicklungshilfe zu kommen, sodass sie jedenfalls faktisch eine Art von bindendem Charakter aufweisen. Etwas Ähnliches gilt auch für die Rezeptionen „westlichen Rechts“ in den Ländern Osteuropas während der Neunzigerjahre. Diese im Grunde freiwilligen Rechtsübernahmen waren eine Art „Attest“ für die Europafähigkeit potenzieller Beitrittsländer zur Europäischen Union. Der Typus „prestigeerzeugender Rechtstransfer“ soll eine Vorstufe zur (komplett) freiwilligen Übernahme von Recht darstellen.60 Mit dem Typus „freiwillige Übernahme“ endet Cohns Skala für den Bereich der Rechtstransfers. Cohns Entwurf enthält einige verwertbare Gedanken, er ist jedoch auch kritikwürdig. Sie geht vor allem von Stereotypen aus und berücksichtigt nicht, dass sich von der Art des Drucks nicht notwendigerweise auf die (praktische!) Intensität schließen lässt. Die Tatsache, dass ein Land die Umsetzung einer völkerrechtlichen Norm, welche die Übernahme bestimmter rechtlicher Standards fordert, trotz ihrer bindenden Wirkung vernachlässigt, mag rein rechtlich einen offensichtlichen und schwerwiegenden Verstoß gegen das Völkerrecht bedeuten. Doch die faktischen Auswirkungen, mit denen das Land zu kämpfen hätte, wenn die erwarteten Entwicklungsgelder nicht kämen, können in einigen Fällen deutlich schwerwiegender sein. Die pauschale Kategorisierung auf der Skala mag mithin in vielen Fällen zutreffen, in vielen Fällen aber auch nicht. Auch die Einordnung des prestigeerzeugenden Rechtstransfers in der Souveränitätsskala wirkt ein wenig befremdlich. Dieser Typus kann, muss aber kein Druckelement in sich bergen. Wie bereits herausgearbeitet mag ein Rechtsetzer bei einem prestigeerzeugenden Rechtstransfer zwar regelmäßig Zeitdruck verspüren. Ein solcher „innerer Druck“ stellt sich jedoch in fast allen politischen Abwägungen, mit denen sich ein Rechtsetzer konfrontiert sieht. Die Frage des Prestiges ist daher nicht unter dem Gesichtspunkt der Souveränität von typologischer Relevanz. Er ist als ein neuer Motivationstypus gesondert zu betrachten. Der Mehrwert von Cohns Darstellung liegt für diese Arbeit also eher in ihrer Grundidee selbst als in ihrer Veranschaulichung. Die relative Darstellung bestimmter Rechtstransfermerkmale in Form von Spektren ist für eine problemorientierte Rechtstransfertypologie von großem Nutzen. Spektren widersprechen jedoch nicht dem Prinzip einer „dichotomischen“ Typologie. Sie sind vielmehr eine brauchbare Ergänzung zu dichotomischen Beschreibungen. Sie können in eine – im Grundaufbau „dichotomische“ – Typologie integriert werden. In einer problemorientierten Rechtstransfertypologie erfüllen Typenmerk60 Richtigerweise weist Cohn jedoch darauf hin, dass die Unterscheidung zwischen freiwilliger Adoption und Übernahme zur Legitimitätserzeugung wohl eher einen eigenen Punkt in der allgemeinen Typologiedebatte „Motivation des Rechtsetzer“ einnehmen kann. Der Typus „negative Befruchtung“, den sie dem Beitrag von Smith, in: Beatson/Tridimas (Hrsg.), New Directions in European Public Law, S. 101 entnimmt, verdient hier keiner weiteren Vertiefung.
II. Typologieansätze in der Literatur
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male und Spektren unterschiedliche Rollen: Während die Typen und Subtypen das allgemeine Raster der Systematik bilden, dienen Spektren dazu, den Grad der Ausprägung bestimmter Merkmale ergänzend zu veranschaulichen.
3. Bedingungen beim Rezipienten nach Kviatek Kviatek befasst sich mit Bedingungen im Rechtssystem des Rezipienten, welche die Zugänglichkeit der zu transplantierenden Norm in dieses System beeinflussen können. Auch sie bedient sich dabei dem Instrument von Typologien.61 Nach Kviatek bestehen diese Bedingungen aus „Strukturellen Bedingungen“, „Ideellen Bedingungen“, „Institutionellen Bedingungen“ und „Psychologischen Bedingungen“.62
a) Strukturelle Bedingungen Mit „strukturellen Bedingungen“ sind Eigenschaften eines rezipierenden Rechtssystems gemeint, welche die Empfänglichkeit dieses Systems für eine bestimmte Norm oder bestimmte Normen erleichtert oder erschwert. Erheblich für die strukturellen Bedingungen sind Faktoren, die ein Näheverhältnis („proximity“) oder gar „wechselnde Abhängigkeiten“ („interdependence“) von Rezipienten und Exportland etablieren. Konkret nennt Kviatek die geografische Nähe, den „Transplant Bias“63 des Rezipienten, und sonstige strukturelle Ähnlichkeiten wie in der Ideologie, im sozio-politischen Umfeld, in der Verwaltung und in der Verfügbarkeit von wirtschaftlichen Ressourcen.64 Kviatek geht davon aus, dass ein solches strukturelles Näheverhältnis zwischen dem Exportland und dem Rezipienten positive Effekte für das Schicksal des Rechtstransfers haben kann. Das Fehlen eines solchen Näheverhältnisses hemme den Erfolg von Rechtstransfers hingegen regelmäßig.65 61 Kviatek verweist wiederum auf die Diskussion bei Parsons. Dieser schlägt eine Typisierung von Argumenten zu politischen Handlungen vor, die Kviatek für ihre Typologie brauchbar macht. Siehe dazu Parsons, How to Map Arguments in Political Science. 62 Auf Ausführungen zur letzten Gruppe „Psychologischen Bedingungen“ wird aufgrund mangelnder Eignung für eine problemorientierte Typologie verzichtet. 63 Den Begriff des „Transplant Bias“ übernimmt Kviatek von Watson. Dieser meint damit die Empfänglichkeit eines Rechtssystems für eine bestimmte ausländische Rechtsnorm. Sie ist unter anderem abhängig von Faktoren wie der linguistischen Tradition, die der Rezipient mit dem potenziellen Exportland teilt, dem allgemeinen Ansehen des Exportlandes beim Rezipienten und schließlich einer gemeinsamen Rechtstradition von Exporteur und Rezipienten. Vgl. dazu Watson, University of Pennsylvania Law Review 131 (1983), 1121 (1147). Kviatek führt diese sehr weitläufige Kategorie des „Transplant Bias“ unter dem Oberbegriff „strukturelle“ Bedingungen. Mit „Prestige“ und „Ansehen“ enthält diese Kategorie Elemente, die man auch unter die Kategorie „Ideelle Bedingungen“ subsumieren könnte (siehe dazu sogleich). 64 Kviatek, Explaining Legal Transplants, S. 116 f. 65 Kviatek, Explaining Legal Transplants, S. 117.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
Inwieweit diese Kategorien vorliegen, kann – nach Vorbild Cohns – in Spektren dargestellt werden. Eine solche Veranschaulichung verschafft dem Rechtsetzer einen Überblick, bei welchen strukturellen Bedingungen seine Reformvorhaben voraussichtlich gute Erfolgschancen haben und bei welchen ihm eher Steine in den Weg gelegt werden.
b) Ideelle Bedingungen Der Oberbegriff „Ideelle Bedingungen“ knüpft an die Reaktionen auf das Reformvorhaben innerhalb der Bevölkerung an. Unter diesen Begriff fallen Faktoren, die indizieren, inwieweit eine Gesellschaft im Stande ist, Kräfte zu entwickeln, die das Reformvorhaben unterstützen beziehungsweise beeinträchtigen können. Wenn sich in der Gesellschaft keine Widerstände gegen die Neuregelung auftun, lassen sich Rechtstransfers – vorausgesetzt, sie werden rechtsdogmatisch sauber in das neue System integriert – meist beschwerdefrei umsetzen. Tun sich Widerstände auf, haben die Erfahrungen bei der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei gezeigt, dass diese zu Umsetzungsproblemen führen können. Mit „ideellen Bedingungen“ sind jegliche von der Gesellschaft ausgehenden Widerstandsbewegungen umfasst, die nach der Umsetzung des Rechtstransfers eintreten können. Von Millers Typus Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ unterscheidet sich dieser Typus in zweierlei Hinsicht. Zum einen handelt es sich bei den ideellen Bedingungen um „interne“ Faktoren der rezipierenden Rechtsordnung. Die vom Rechtstransfer betroffenen sozialen Gruppen sind zwar nicht unmittelbar an der formellen Umsetzung des Rechtstransfers beteiligt. Sie sind aber bei der Implementation des fremden Rechts direkt eingebunden. Zum anderen werden die ideellen Bedingungen stets zu einem anderen Zeitpunkt relevant als Faktoren in Zusammenhang mit „externem Druck“: Letzterer stellt auf Faktoren ab, welche die Motivation des Rechtsetzers vor der Umsetzung des Rechtstransfers erfassen. Die „ideellen Bedingungen“ beziehen sich hingegen auf Reaktionen nach oder frühestens bei der Implementierung des Rechtstransfers, nachdem dieser bereits in das Rechtssystem eingeführt wurde. Kviatek nennt auch konkrete Faktoren, welche den Prozess eines Rechtstransfers positiv beeinflussen können: „Einen starken Einsatz für das Vorhaben durch die herrschende Elite“66, „mobilisierte Unterstützung für das Vorhaben“, „fehlende Opposition“, „eine auf Konsens bedachte politische Kultur“.67 Wie schon in a) sind auch diese Faktoren sinnvoller Weise in Spektren darzustellen. 66 Mit dem Verweis auf Örücü, International & Comparative Law Quarterly 51 (2002), 205 (212 f.). 67 Kviatek, Explaining Legal Transplants, S. 117.
II. Typologieansätze in der Literatur
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c) Institutionelle Bedingungen Mit der Kategorie „Institutionelle Bedingungen“ meint Kviatek organisatorische Muster, die für die Implementation eines Rechtstransfers entweder förderlich oder hinderlich sein können. Unter „Institutionen“ versteht sie insbesondere Behörden, Verbände usw., also für die Umsetzung bestimmter Normen wichtige staatliche oder nichtstaatliche Organisationen. Sind diese Institutionen mit dem importierten Recht befasst, fördert es die Chancen für den Erfolg eines Rechtstransfers, wenn sie in vergleichbarer Weise ähnlich aufgebaut und funktionieren wie beim Exporteur. Umgekehrt kann es einen Rechtstransfer erschweren, wenn sich die Organisationsstrukturen beim Rezipienten von den Organisationsstrukturen im Exportland stark unterscheiden. Besonders relevant werden institutionelle Bedingungen bei Normen, deren Funktionsfähigkeit davon abhängen, dass sie vom Staat oder durch die Praxis geschaffene Institutionen vollzogen werden. Ein Beispiel für Normen, die stark von der Praxis bestimmter Institutionen abhängig sind, ist das Rundfunkrecht.68 Um (beispielsweise) die deutsche Rechtswirklichkeit zu übernehmen, müsste ein Rezipient dafür sorgen, dass die eigenen Behörden, die für die Umsetzung des Rundfunkrechts zuständig sein sollen, dem deutschen Konzept der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten ähneln. Nur so kann der Rechtsetzer sicherstellen, dass die Normen des Rundfunkrechts, für deren Einhaltung in Deutschland die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zuständig sind, auch ordentlich umgesetzt werden. Verfügt der Rezipient über keine entsprechenden Institutionen, steht er stets vor der Herausforderung, ein geeignetes Pendant zu erschaffen.
4. Nutzen dieser Ansätze für eine problemorientierte Rechtstransfertypologie Millers Typologie erklärt, warum Rechtsetzer motiviert sind, fremdes Recht zu übernehmen. Die Motivation hinter Rechtsübernahmen gehört zu den wichtigsten Informationen für eine Analyse von Problemen im Rechtstransferprozess. Diese Beweggründe bringen auch Besonderheiten von Rechtstransfers im Vergleich zu Normen mit nicht ausländischem Ursprung zum Vorschein. Bei der Entscheidung, fremdes Recht zu übernehmen, spielen nicht nur länderinterne Interessengruppen eine Rolle, wie dies regelmäßig bei autochthonen Normen der Fall ist. Millers Typologie zeigt, wie sich teilweise auch äußere Einflüsse auf den Rezipienten und dessen Motivation auswirken können. Die äußeren Einflüsse lässt der Rechtsetzer teilweise freiwillig zu, in anderen Fällen unfrei68 Damit sind insbesondere die einfachgesetzlichen Regelungen aus dem Rundfunkstaatsvertrag, den Landesrundfunkgesetzen und den Landesmediengesetzen der Bundesländer gemeint.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
willig. Sie alle beeinflussen sowohl den Willen des Rechtsetzers als auch dessen Erwartungen an den Rechtstransfer. Darüber hinaus können sogar in gewisser Wese „sachfremde“ Erwägungen bei der Übernahme von Recht eine Rolle spielen. Das ist insbesondere beim Rechtstransfer zur Signalwirkung, aber auch beim Rechtstransfer aufgrund fremden Prestiges denkbar. In manchen Fällen führen diese Motivationen dazu, dass dem Rechtsetzer eine originalgetreue Umsetzung besonders wichtig ist. Sie können aber auch dazu führen, dass der Wunsch nach einem funktionierenden Regelwerk in den Hintergrund gerät. Somit ist es auch nicht fernliegend, dass die Motivationstypen unter Umständen auf bestimmte Problemrisiken indizieren können. Etwa bei Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ hat die Erfahrung gezeigt, dass die Umsetzung häufig nicht den Erfolg gebracht hat wie in Fällen, in denen die Rechtsübernahme freiwillig und aus eigenen Motiven erfolgt ist. Wird dies durch empirische Analysen bestätigt, kann also schon dieser Motivationstypus für bestimmte Problemkonstellationen sensibilisieren. Folgerichtig ist daher, die Motivationen für Rechtsübernahmen als Kategorie in eine problemorientierte Rechtstransfertypologie zu integrieren. Bei Kviateks Typologie geht es teilweise um eine Analyse von Rechtsstrukturen und dem institutionellen Umfeld von Normen („Strukturelle Bedingungen“, „Institutionelle Bedingungen“), teilweise um ein Verständnis für die Denkweisen und Interessen innerhalb der rezipierenden Gesellschaft. Die „Strukturellen Bedingungen“ werden regelmäßig durch rechtsvergleichende Methoden herausgearbeitet. Etwas Ähnliches gilt für die „Institutionellen Bedingungen“. Für ein Verständnis der „Ideellen Bedingungen“ hilft hingegen die Rechtsvergleichung nicht weiter – dafür aber Erkenntnisse aus dem Bereich der (Rechts-)Soziologie und aus weiteren mit dem Recht befassten Wissenschaften.69 Ein Rückgriff auf Gebiete außerhalb der Rechtswissenschaften wird in der problemorientierten Rechtstransfertypologie regelmäßig nötig sein. Das gilt im Übrigen auch für die Analyse von Millers Typen, die durch die Ansätze von Cohn ergänzt wurden. Millers und Cohns Typologie zu den Motivationsgründen zu Rechtstransfers und Kviateks Ideen von den „Bedingungen“ eines Rechtstransfers bilden gemeinsam einen guten Ausgangspunkt für die Entwicklung einer problemorientierten Rechtstransfertypologie. Ihre Ansätze stellen jedoch erst den Anfang für ein weites Feld von unterschiedlichen Typenmerkmalen dar, die für den Erfolg oder Misserfolg von Rechtstransfers von Relevanz sein können. Im folgenden Abschnitt werden weitere mögliche Typen herausgearbeitet.
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Siehe auch Hoffmann-Riem, Zeitschrift für Rechtssoziologie 38 (2018), 20 (22).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie von Rechtstransfereigenschaften 1. Grundkonzept a) Die drei Ordnungsmuster für eine problemorientierte Typologie Die Grundlage für eine problemorientierte Typologie bilden drei Ordnungsmuster. Sie sind der Ausgangspunkt für den „Typologiebaum“. Das erste Ordnungsmuster überspannt die Konzepte von Miller, Cohn und auch Kviatek, welche im vorherigen Kapitel ausführlich dargestellt wurden. Alle drei Autoren beschäftigen sich mit Faktoren, die mit dem speziellen Verhältnis zwischen dem Rezipienten und dem zu übertragenden Recht in Verbindung stehen. Miller und Cohn legen den Fokus auf typische Erwägungsgründe bei Rechtstransfers. Kviatek hat sich mit weiteren „Bedingungen“ beim Rezipienten auseinandergesetzt, welche die Aufnahmebereitschaft des Rezipienten beeinflussen können. Ein für diese Typologien passender übergeordneter Begriff ist „Ausgangssituation beim Rezipienten“. Das zweite Ordnungsmuster trägt den Namen „Rechtstransferspezifische Faktoren“. Unter dieses Ordnungsmuster fällt die Typisierung von Norminhalten und Normeigenschaften. Während das zuvor benannte Ordnungsmuster sich mit den Motivationen beziehungsweise „Bedingungen“ in der rezipierenden Rechtsordnung befasst, liegt der Fokus dieses Ordnungsmuster auf der zu übertragenen Norm oder den zu übertragenden Normen. Es beschäftigt sich also mit dem Gegenstand der Rechtstransplantation. Unter das dritte und letzte Ordnungsmuster fallen die verschiedenen „Übertragungsmodalitäten“, nach denen ein Rechtstransfer abgewickelt werden kann. Dieses Ordnungsmuster betrifft zum einen bestimmte Typen von Akteuren, die beim Übernahmevorgang eine Rolle spielen können. Es betrifft zum anderen die unterschiedlichen Formen, in denen Recht übertragen wird. Zugleich stellen die Ordnungsmuster die drei weitesten Oberbegriffe für den „Typologiebaum“ dar. Unter sie sammeln sich die mit dem Oberbegriff thematisch zusammenhängenden Typen und Subtypen.
b) Veranschaulichung: Aufbau der Typologie am Beispiel des ersten Ordnungsmusters Im Folgenden soll die soeben dargestellte Grundidee der problemorientierten Rechtstransfertypologie am ersten – bereits weitgehend herausgearbeiteten – Ordnungsmuster „Ausgangssituation beim Rechtsetzer“ veranschaulicht werden. Zunächst wird in Abbildung 2 der Grundaufbau der Typologie erklärt. Hiernach soll aufgezeigt werden, wie sich die Typen unter dem Ordnungsmus-
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
Ordnungsmuster (1)
Oberbegriff für Typisierung (A) Oberbegriff für Typisierung (B)
Typ 1 Typ 2
Subtyp 1 Subtyp 2
Typ 1 Typ 2
Abbildung 2: Grundaufbau einer problemorientierten Typologie
Ausgangssituation beim Rezipienten (Ordnungsmuster 1)
Bedingungen beim Rezipienten Politischer/motivatorischer Hintergrund des Rechtstransfers (nach Miller/Cohn)
Typ 1 Typ 2
Subtyp 1 Subtyp 2
Typ 1 Typ 2
Abbildung 3: Grundaufbau einer problemorientierten Typologie mit ersten Einfügungen
ter „Ausgangssituation beim Rechtsetzer“ in dieses Raster einfügen lassen (Abbildung 3 und Abbildung 4). In dieses Raster können die Ordnungsmuster, Typen sowie Subtypen eingetragen werden. Die in C. beschriebenen Typologien von Miller, Cohn und Kviatek können das Ordnungsmuster „Ausgangssituation beim Rechtstransfers“ bereits weitgehend ausfüllen. Für den ersten Typenstrang ergibt sich somit zunächst das folgende Bild (Abbildung 4). Die weiteren Typenstränge, die dem Ordnungsmuster 2 („Inhalt des Rechtstransfers“), und dem Ordnungsmuster 3 („Übertragungsmodalitäten“) unterstehen, müssen noch herausgearbeitet werden. Wie bereits oben aufgezeigt, können Typen sowohl in Form von abgrenzenden Kategorien als auch in Form von spektralen Beschreibungen dargestellt werden.70 Eindeutige Kategorienbegriffe bieten sich dort an, wo Typen klare voneinander abgrenzbare Alternativen und Varianten bilden. Eine spektrale Beschreibung lohnt sich hingegen dort, wo sich zwei Extreme gegenüberstehen. Zwischen diesen Extremen ist dann eine Vielzahl von Konstellationen denkbar, die aber eher fließend ineinander übergehen als durch starre Kategorien abgrenzbar sind (wie z. B. „sehr viel externer Druck auf einen Rechtsetzer bezüglich der Übernahme einer bestimmten Norm“ ge70 Siehe oben D. II. 2. d) in Bezugnahme auf Cohn, The American Journal of Comparative Law 58 (2010), 583.
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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Geografische Nähe Strukturelle Bedingungen
Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen „Transplant Bias“
Bedingungen beim Rezipienten (nach Kviatek)
Idelle Bedingungen
Unterstützung durch die herrschenden Elite Auf Konsens bedachte politische Kultur Oppositionsbewegungen
Institutionelle Bedingungen
Ähnliche Ausgestaltung und Funktionsweise der staatlichen Institutionen
Rechtstransfer zwecks Zeit- und Kostenersparnis Rechtstransfer aufgrund externen Drucks
Politischer/motivatorischer Hintergrund des Rechtstransfers (nach Miller/Cohn)
Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer
Prestigeerzeugender Rechtstransfer Rechtstransfer zu inhaltlichen Optimierungszwecken Rechtstransfer zwecks Rechtsharmonisierung mit ausländischem Recht Rechtstransfer zwecks Signalwirkung (Likhovski)
Abbildung 4: Integration der Ansätze aus C. – Ordnungsmuster „Ausgangssituation beim Rezipienten
genüber „überhaupt kein externer Druck“). Im Folgenden sollen beide Arten der Typendifferenzierung verwendet werden. Während das Ordnungsmuster „Ausgangssituation beim Rezipienten“ also bereits weitgehend ausgefüllt ist, fehlen bisher Typenbildungen für das zweite und das dritte Ordnungsmuster. Das Ordnungsmuster „Rechtstransferspezifische Faktoren“ wird im Folgenden unter (2.) behandelt werden. Dem folgen
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
Ausführungen zum Ordnungsmuster „Übertragungsmodalitäten“ (3.). Abschließend befassen wir uns mit einigen möglichen Subtypen, die innerhalb aller drei Ordnungsmuster in Betracht kommen (4.).
2. Zweites Ordnungsmuster: Rechtstransferspezifische Faktoren a) Oberbegriff: Norminhalt Dass bestimmte Rechtsinhalte einfacher zu übertragen sind als andere, scheint eine intuitive Vermutung vieler Autoren zu sein. Es gibt jedoch kaum Studien, die der Frage nachgegangen sind, welche Rechtsinhalte als tendenziell rechtstransferaffin oder als eher risikobehaftet einzustufen sind. Die folgende Typologie zeigt auf, bei welchen spezifischen Inhalten von Rechtstransfers es zumindest denkbar ist, dass sie das Risiko für Rezeptionsprobleme erhöhen. Anhaltspunkte dafür können wir zum einen einigen Thesen aus der Literatur entnehmen. Zum anderen können auch die Beobachtungen aus den in dieser Arbeit näher behandelten Rezeptionsbeispielen hilfreich sein.
aa) Kulturelle Verwurzelung der Norm nach Rechtsgebieten „Je stärker der sozio-kulturelle oder politische Gehalt einer Norm […], desto schwieriger ist es, den Erfolg rezipierter Gesetze unter ganz anderen historischen, kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen vorherzusagen.“71
Viele Stimmen in der Literatur stimmen dieser These zu.72 Die kulturelle Vorprägung einer Norm zu durchdringen, kann eine komplexe Aufgabe darstellen. Rechtsetzer (insbesondere Gesetzgeber) haben in den meisten Fällen die fachlichen Ressourcen zur Verfügung, um die kulturellen Hintergründe einer Norm zu erforschen. Rechtsanwendern (also insbesondere Richtern, Behörden oder auch Rechtsanwälten) und den von der Norm betroffenen gesellschaftlichen Gruppen wird es in der Regel jedoch schwerer fallen, den kulturellen Kontext der Norm zu durchdringen. Ihnen fehlen nicht nur die personellen und zeitlichen Ressourcen, sondern häufig zudem der Wille, sich mit diesen Fragen ausgiebig zu befassen. An den Aspekt der „kulturellen Verwurzelung einer Norm“ schließt sich die Frage an: Gibt es Rechtsgebiete, die typischerweise besonders tiefe kulturelle Wurzeln in der Gesellschaft haben, in der sie gelten? Gibt es Rechtsgebiete, welche typischerweise nicht allzu sehr kulturell vorgeprägt sind? In der Literatur finden sich einige vorsichtige Versuche, um den Grad der kulturellen 71 Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 34. 72 Siehe etwa bei Kahn-Freund, The Modern Law Review
37 (1974), 1 (8); Lipstein, International Social Science Bulletin 9 (1957), 70 (72); Dölle, in: Caemmerer (Hrsg.), Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, S. 19 (44).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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Verwurzelung von Normen – oft auch gleich gesetzt mit ihrer „Transferierbarkeit“73 – je nach Rechtsgebiet zu typisieren. Eine Reihe von Autoren vertritt die These, dass Normübertragungen im öffentlichen Recht im Vergleich zum Privatrecht besonders schwierig durchzuführen seien.74 Einige dieser Autoren stammen allerdings aus dem angloamerikanischen Rechtskreis, wo der Begriff des öffentlichen Rechts oft mit „politischem Recht“75 oder auch Verfassungsrecht verschwimmt. Somit wird für kontinentaleuropäische Juristen nicht immer klar, was jene unter dem Begriff des öffentlichen Rechts genau verstehen.76 Eine klare dogmatische Abgrenzung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht ist in dieser Debatte zunächst jedoch nicht wichtig. Sie wird erst dann wichtig, wenn eine handhabbare Abgrenzung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht für die Typologie benötigt wird. Aus den Ausführungen der Autoren ergibt sich, dass sie im weitesten Sinne das Verhältnis Bürger-Staat meinen. Erfasst sind also jedenfalls das Verfassungsrecht und wahrscheinlich auch Teile des Verwaltungsrechts. Der Grund für die Schwierigkeiten bei der Übertragung von Verfassungsrecht liegt nach Ansicht dieser Autoren darin, dass Verfassungsrecht mit der „Zuordnung politischer Macht und Eingriffen in lokale Begebenheiten“ befasst sei.77 Werden gesellschaftliche Machtverhältnisse in einer „ausländischen Weise“ verändert, kann es zu Widerständen durch die betroffenen Interessengruppen kommen. Gerade das Verfassungs- oder Verwaltungsrecht seien dafür zuständig, die Machtverhältnisse zwischen Interessengruppen auszutarieren.78 Ähnliche Stimmen findet man auch bei europäisch-stämmigen Autoren. So wird betont, dass der Erfolg einer Rezeption von Normen, welche „Machtstreben“ und den „politischen Gestaltungswillen“ betreffen, grundsätzlich stärker von den spezifischen historischen und politischen Besonderheiten der rezipierenden Gesellschaft abhänge.79 Privatrecht sei hingegen „homogener“. Denn die Menschen hätten „historische Argumentationswege gefunden, die aufgrund von Wiederholung und allgemeiner grenz- und zeitüberschreitender Beachtung den Status von Lösungen zu unterschiedlichen Problemen angenommen haben, die im Kontext von Interaktionen mit privaten Individuen aufkommen kön73
Z. B. bei Kahn-Freund, The Modern Law Review 37 (1974), 1 (1 ff.). Kahn-Freund, The Modern Law Review 37 (1974), 1; deLisle, University of Pennsylvania Journal of International Economic Law 20 (1999), 179 (289). 75 deLisle, University of Pennsylvania Journal of International Economic Law 20 (1999), 179 (289). 76 Unklar ist die Zuordnung etwa bei den Verweisen von Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (843, 857); Rosenkrantz, International Journal of Constitutional Law 1 (2003), 269 (283). 77 Kahn-Freund, The Modern Law Review 37 (1974), 1 (13); Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (857). 78 Kahn-Freund, The Modern Law Review 37 (1974), 1 (13). 79 Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 35. 74
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
nen.“80 Privatrecht reguliere nur eine Art von Interaktion, die durch die unmittelbare Beziehung zwischen den Parteien charakterisiert ist. Öffentliches Recht hingegen regle indirekt die Beziehungen zwischen einer Vielzahl an Personen und orientiere sich dabei an kollektiven Zielen.81 An dieser Stelle lohnt ein Seitenblick auf die Debatte zu den Unterschieden zwischen öffentlich-rechtlicher Rechtsvergleichung und der Privatrechtsvergleichung. Ähnlich zur hier interessierenden Frage, ob sich öffentliches Recht oder Privatrecht grundsätzlich einfacher übertragen lässt, wird hier unter anderem diskutiert, welches der beiden sich besser zum Rechtsvergleich eignet. Die Debatten zur Vergleichbarkeit und Transferierbarkeit von Recht sind zwar nicht identisch, jedoch eng miteinander verwandt. Insoweit können auch ausgewählte Debattenbeiträge zur Frage der („besseren“) Vergleichbarkeit wertvolle Anhaltspunkte für die Diskussion zur besseren Transferierbarkeit liefern. In der rechtsvergleichenden Literatur überwiegt die Ansicht, dass das öffentliche Recht ein weniger geeigneter Vergleichsgegenstand sei als das Privatrecht: Dafür wird angeführt, dass das öffentliche Recht im Vergleich zum Privatrecht nicht von einer immanenten Sachgesetzlichkeit, sondern vom politischen Gestaltungswillen determiniert ist.82 Regelungen und Einrichtungen der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht seien allgemein stärker durch geschichtliche Kräfte bestimmt als die des Privatrechts.83 Öffentliches Recht sei so „im gegebenen Raum stärker verankert.“84 Die Begriffe des öffentlichen Rechts seien in höherem Maße von „Grundüberzeugungen verfassungspolitischer, moralischer oder auch staatsmythischer Provenienz, mitunter auch in eigenartiger Mischung dieser Elemente, geprägt und gefüllt oder lassen sich damit nach Belieben aufladen.“85 Überhaupt arbeite das öffentliche Recht besonders stark mit Rahmenvorschriften und ausfüllungsbedürftigen Wertbegriffen.86 Die Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht sei außerdem in einem höheren Maße auf die Hilfe der Rechtssoziologie und der Rechtsgeschichte angewiesen als die Privatrechtsvergleichung.87 80 Rosenkrantz, International Journal of Constitutional Law 1 (2003), 269 (283). Eigene Übersetzung aus dem Englischen. 81 Weinrib, The Idea of Private Law, S. 8. 82 Bernhardt, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 431 (432). 83 Kaiser, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 391 (402). 84 Kaiser, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 391 (403). 85 Kaiser, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 391 (396). 86 Bernhardt, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 431 (433, 451). 87 Kaiser, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 391 (401 f.).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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Sowohl die Literatur zu Rechtstransfers als auch die rechtsvergleichende Literatur scheinen also davon auszugehen, dass sich das öffentliche Recht typischerweise weniger für die Transplantation oder für die Vergleichung eignet. Ob dieser These (jedenfalls heutzutage) noch zuzustimmen ist, erscheint jedoch zweifelhaft. Zu unterschiedlich sind die Ausprägungen innerhalb der Rechtsgebiete. Zwar umfasst das öffentliche Recht durchaus einige Regelungsbereiche, die den Anspruch haben, die Wertevorstellungen einer Gesellschaft gerade im Verhältnis Bürger-Staat zu erfassen. Diese Wertevorstellungen sind eng mit den kulturellen Besonderheiten einer Gesellschaft und der Staatsstruktur verknüpft. Verfassungen haben oft diesen Anspruch. Daher verwundert es auch nicht, dass die Autoren sich häufig auf Verfassungsrezeptionen beziehen. Dass insbesondere kulturfremde Verfassungen schwer zu implementieren sind, hat auch die Rezeption der japanischen Verfassung gezeigt. Dies gilt aber nicht für alle Formen des öffentlichen Rechts. Extreme Beispiele bilden z. B. „technische Verordnungen“ (wie etwa die Trinkwasserverordnung oder die Lärmschutzverordnung). Auch diese sind im öffentlichen Recht angesiedelt und haben einen politischen Wertegehalt. Ihr Rückbezug auf die Kultur und die Wertevorstellungen einer Gesellschaft ist jedoch gering. Dies deutet bereits an, wie grundsätzlich verschieden die Verknüpfung von Norm und Kultur im Bereich des öffentlichen Rechts ausgeprägt ist. Entscheidend gegen eine Pauschalisierung spricht aber vor allem die stärkere Internationalisierung des öffentlichen Rechts in einer zunehmend globalisierten Welt. Die Vielzahl an Verfassungsrezeptionen hat dazu einen erheblichen Beitrag geleistet. Ganz besonders in der Zeit nach dem Fall der Sowjetunion übernahmen viele osteuropäische Länder westliche Verfassungen. Auch die Übernahme beziehungsweise Angleichung von Regulierungs- und Verwaltungsstrukturen wurde durch das Projekt der europäischen Union vorangetrieben. Nicht zu vergessen sind schließlich die zahlreichen Modernisierungs- und Dezentralisierungsprojekte in der Entwicklungshilfe.88 Auch diese führten zu einem internationalen Diskurs über Institutionen des öffentlichen Rechts. Die Zurückhaltung bei der Übertragung von öffentlich-rechtlichen Normen in der Praxis in den letzten Jahrzehnten ist also deutlich geschwunden. Seitdem mehren sich auch die Versuche, die Vorschriften im Bereich des öffentlichen Rechts aneinander anzugleichen. Diese Internationalisierung hat wiederum dazu geführt, dass bestimmte kulturelle Wurzeln in den Hintergrund getreten sind. Auch dem propagierten einheitlichen Bild des Privatrechts als einer „immanenten Sachgesetzlichkeit“, welches sich besonders einfach übertragen lässt, ist nur eingeschränkt zuzustimmen. Das schweizerische ZGB zeigt, dass die „Transferierbarkeit“ zivilrechtlicher Normen erheblich variiert. So konstatiert 88 Vgl. nur Peetz, New Public Management und Demokratie in Lateinamerika: Fallbeispiel Mexiko; Beier, Dezentralisierung und Entwicklungsmanagement in Indonesien.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
Velidedeoglu, dass die Einführung des schweizerischen ZGB im Bereich des Vertragsrechts zu keinen großen Schwierigkeiten geführt habe. Der Grund dafür sei, dass Verträge wie Verkauf, Miete oder Darlehen überall auf der Welt bekannt seien. Eine Reform würde nicht allzu stark in die soziale Struktur eingreifen. Ganz anders sei es aber im Familien- oder im Erbrecht – Rechtsgebiete, die in hohem Maße kulturell verwurzelt seien.89 Der erste Eindruck, das Privatrecht bestehe nur aus technischen und kulturell weitgehend neutralen Normen, die sich „geschichtlich einspielen“ können, trügt. Die Annahme mag bei Rechtsgrundsätzen wie etwa Pacta sunt servanda zutreffen. Doch auch das Privatrecht erstreckt sich in Regelungsbereiche, wo ideologische und kulturelle Besonderheiten von großer Bedeutung sind. Neben dem bereits erwähnten Familien- und Erbrecht ist das Verbraucherschutzrecht ein klassisches Beispiel. Ob Verbraucherschutzrecht von einer Gesellschaft angenommen wird, entscheidet sich an vielen Faktoren, die unmittelbar mit dem ideologischen Grundverständnis und Gerechtigkeitsvorstellungen einer Bevölkerung verbunden sind. Diese Vorstellung hängt wiederum vom Verhalten der unterschiedlichen Akteure in einer Gesellschaft ab. Dazu gehören etwa die Reaktion von Lobbyverbänden und anderen Interessengruppen, aber auch – um beim Beispiel des Verbraucherschutzrechts zu bleiben – das Selbstverständnis des Verbrauchers selbst. Diese Vorstellungen und Haltungen variieren von Kultur zu Kultur erheblich. Hinzu kommt schließlich, dass – wie bereits eingangs erwähnt – eine kategorische Trennung zwischen Privat- und öffentlichem Recht schon aufgrund der unterschiedlichen Verwendung der Begriffe in den verschiedenen Rechtsordnungen problematisch ist. Es ist aber der Anspruch dieser Typologie, Begrifflichkeiten zu verwenden, die (möglichst) keine Missverständnisse hervorrufen. „Öffentliches Recht“ und „Privatrecht“ sind jedoch ihrerseits rechtssystemabhängige Begriffe, die in verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedlich genutzt werden.90 Welches Begriffsverständnis von „öffentlichem Recht“ sollte für die Rechtstransfertypologie angesichts dieser Unterschiede zugrunde gelegt werden? Die Typologie würde vermutlich selbst in die rechtskulturelle Begriffsfalle tappen, wenn sie Begriffe verwendet, die einen nicht einigermaßen einheitlichen Funktionscharakter aufweisen. Somit sprechen sowohl inhaltliche als auch begriffstechnische Gründe dafür, auf eine starre Abgrenzung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht zu verzichten. Stattdessen lohnt sich aber ein Blick auf weitere Ansätze, mit denen versucht wird, die kulturelle Verwurzelung von Recht zu typisieren. So wird – wie soeben schon angedeutet – insbesondere das Familien- und Erbrecht als typi89
Velidedeoglu, International Social Science Bulletin 9 (1957), 60 (65). in Rechtskreisen des Common-Law ist eine solche Aufteilung sogar unüblich. Lesenswert zu den Hintergründen der unterschiedlichen Bedeutung von öffentlichem Recht und Privatrecht in den Vereinigten Staaten und Europa: Merryman, Journal of Public Law 17 (1968), 3. 90 Gerade
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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scherweise kulturell stark verwurzeltes Rechtsgebiet eingeschätzt.91 Bestätigt wird dies – wie bereits erwähnt – durch die Beobachtungen bei den Rezeptionsproblemen der Türkei. Auch das Staatsangehörigkeitsrecht oder das Wahlrecht werden teilweise für Rechtsgebiete mit typischerweise starkem sozio-kulturellem Einschlag gehalten.92 Andere sehen hingegen Teile des Wahlrechts gerade als ein eher „rechtstransferfreundliches“ Rechtsgebiet an. Die Einführung der 5 %-Hürde, die nach deutschem Vorbild in einer Vielzahl ost-europäischer Staaten eingeführt wurde, sei ein Beispiel der „self-executing law reforms“. Diese Normen seien besonders einfach zu transplantieren, da sie kaum Berührungspunkte mit der Bevölkerung hätten, sondern durch Staatsorgane umgesetzt würden.93 Damit wird vorgeschlagen, dass selbst Regeln, die in der Staatstradition eines Landes stark verwurzelt sind, weitgehend problemlos reformiert werden können, wenn die praktischen Protestmöglichkeiten gegen eine solche Reform beschränkt sind. Doch auch dieser Einschätzung kann nicht uneingeschränkt zugestimmt werden. Die Aussage, dass Träger staatlicher Gewalt aufgrund ihrer Funktion eher dazu tendieren, Recht ursprungskonform umzusetzen, ist zumindest in dieser Allgemeingültigkeit zweifelhaft. Ein Gegenbeispiel ist etwa der deutsche Umgang mit den EU-Richtlinien, welche die Mitgliedstaaten verpflichten, Regulierungsbehörden wie die Bundesnetzagentur von ministeriellen Weisungen unabhängiger zu machen. Bei diesen Implementationsschwierigkeiten sind beinahe ausschließlich staatliche Funktionsträger am Werk. Differenzierter erscheint der Versuch Levys, eine grobe „Rangordnung“ von Rechtsgebieten hinsichtlich ihrer Rezeptionsfähigkeit aufzustellen. Bei seinem Versuch steht ebenfalls der typische kulturelle Gehalt der Norm im Vordergrund: Das Rechtsgebiet mit dem höchsten kulturellen Gehalt habe das Familien- und Erbrecht. An zweiter Stelle stehe das Immobilienrecht („law of real property“), allerdings nur soweit der ländliche Raum betroffen ist. Auf der anderen Seite – da nur „lose mit der Vergangenheit des Volkes verbunden“ und damit besser übertragbar – sei das Recht des persönlichen Eigentums („law of personal property“), insbesondere in Bezug auf Handelsgüter. Das gelte ebenfalls für das Vertragsrecht. Jene Rechtsgebiete seien eher durch wirtschaftliche Interessen bestimmt als von nationalen Bräuchen und Empfindungen. Sie seien deshalb seit jeher der beste Nährboden für Rezeptionen gewesen.94 Diese Tendenz passt zu den Erkenntnissen aus den bereits erörterten Veranschaulichungsbeispielen. Die Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei hat in den Bereichen des Vertragsrechts beispielsweise weitgehend gut funktioniert. Im Bereich des Familien- und Erbrechts und auch im Immobilienrecht, scheiterten die Rezeptionen einiger Normen hingegen. Ein Beispiel für eine eher problemlose Übertra91
Lipstein, International Social Science Bulletin 9 (1957), 70 (72). Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 34. Markovits, Cornell International Law Journal 34 (2004), 95 (98). 94 Levy, Washington Law Review 25 (1950), 233 (244). 92 93
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
gung von Recht ist die estnische Übernahme des deutschen Sachenrechts. Das Sachenrecht besteht aus einem positivistisch ausgestalteten einheitlichen Regelwerk, welches an keine tiefgreifenden kulturell geprägten Wertefragen anknüpft. Ausnahmen mag es – wie eben schon angedeutet – im Rahmen von alteingesessenen Besitz- und Eigentumsstrukturen im ländlichen Raum geben. Stimmen aus der rechtssoziologischen Literatur halten hingegen eine pauschale Eingrenzung von Themengebieten überhaupt für problematisch. Die kulturelle Bedeutsamkeit von Rechtsgebieten sei je nach Gesellschaft unterschiedlich. Generalisierungen bezüglich der „kulturellen Aufgeladenheit“ von Rechtsgebieten verböten sich grundsätzlich.95 So wird auch der Annahme widersprochen, dass Rechtstransfers, welche „wirtschaftliche Angelegenheiten“ betreffen, grundsätzlich keine sozio-kulturellen Hürden hervorrufen können. Ökonomische Interessen entwickelten und äußerten sich auch im Rahmen von geschäftlichen Bindungen. Solche Interessengruppen seien auch in der Lage, Reformen mit Regelungsinhalten abzustoßen, die ein vom kulturellen Verständnis weitgehend unabhängiges Ziel verfolgen.96 Das Problem der „kulturellen Relativität“ zeigt sich verstärkt, wenn man den geschichtlichen und kulturellen Wandel von Gesellschaften berücksichtigt. Während des Kalten Krieges mied die Rechtsvergleichung bei ihren Studien zwischen Ost und West Rechtsgebiete, die enge Verbindungen zum Wirtschaftssystem aufwiesen. Die systemischen und sozio-kulturellen Unterschiede der Rechtsordnungen waren in dieser Zeit so gewaltig, dass sich ein Vergleich kaum lohnte. Daher fokussierte man sich während dieser Periode auf die Rechtsvergleichung in weniger systemisch vorgeprägten Gebieten wie dem Familienrecht. Nach dem Fall der Sowjetunion und der Annäherungen der Wirtschaftssysteme des Ostblocks an die des Westens haben sich diese Vorbehalte weitgehend gewandelt. Heute wird das Familienrecht – vor allem mit Blick auf die arabischen Rechtstraditionen – als eines der Rechtsgebiete gesehen, die schwierig zu transplantieren sein dürften.97 Doch auch hier muss differenziert werden: Einer Harmonisierung des Familienrechts innerhalb der Europäischen Union wird durchaus optimistisch entgegengesehen.98 Bei den Versuchen, einen „Common Core“ für ein mögliches künftiges „Europäisches Familienrecht“ zu bilden, hat insbesondere die Commission on European Family Law (CEFL) eine bedeutende Rolle gespielt.99 95
Nelken, Windsor Yearbook of Access to Justice 20 (2001), 349 (356). Cotterrell, in: Nelken/Feest (Hrsg.), Adapting Legal Cultures, S. 71 (82). Dieser bezieht sich auf das (sehr spezielle) Beispiel des türkischen Geldleihers, der gegen die Übernahme des Insolvenzrechts und Vollstreckungsrechts aus der Schweiz Widerstand leistet. Näheres siehe auch bei Belgesay, International Social Science Bulletin 9 (1957), 49 (50 f.). 97 Dieser Gedanke bei Ajani, in: Clark, Encyclopedia of law & society, S. 1508 (1509). 98 Boele-Woelki, Perspectives for the Unification and Harmonisation of Family Law in Europe. 99 Zur Arbeit der CEFL siehe beispielsweise: Boele-Woelki, in: Verbeke/Scherpe/Declerck 96
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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Die Kritik aus der rechtssoziologischen Literatur hat somit grundsätzlich ihre Berechtigung. Und dennoch muss sie mit Berücksichtigung auf das Ziel und den Anspruch dieser problemorientierten Typologie relativiert werden. Ziel dieser Typologie ist es nicht, für jede einzelne Kultur eine maßgeschneiderte Risikoanalyse zu entwickeln. Ihre Aufgabe ist es vor allem Rechtsetzer für Problembereiche und -risiken zu sensibilisieren. Daher reicht es an dieser Stelle aus, auf der Grundlage bestimmter Beobachtungen Grundtendenzen ausfindig zu machen, welche an späterer Stelle zu verifizieren sind. Dementsprechend widerspricht auch das Problem der „Relativität“ des Kulturgehalts einer Norm je nach Rechtskultur nicht einer Kategorisierung von Rechtsgebieten nach ihrem (tendenziellen) kulturellen Gehalt. Die erhobenen Einwände aus der rechtssoziologischen Literatur sind vielmehr Teil des methodischen Problems, diese möglichst allgemeingültigen Grundtendenzen ausfindig zu machen. Als Zwischenergebnis kann hier festgehalten werden: Die in der Literatur oft vorzutreffende Kategorisierung von Privatrecht, wonach dieses im Vergleich zum öffentlichen Recht weniger kulturell verwurzelt sein soll, ist so nicht haltbar. Hilfreich sind hingegen die Vorschläge der Literatur zur Typisierung speziellerer Rechtsgebiete. So bleibt das Verfassungsrecht ein Rechtsbereich, das den meisten Autoren als besonders stark kulturell geprägt erscheint. Diese Sichtweise wird durch Beispiele wie der Rezeption der MacArthur-Verfassung bestärkt. Verfassungen sind stets das Ergebnis und die Leistung kultureller Prozesse – eine Art „kulturelles Erbe“.100 Wenn der Wille und die Fähigkeit fehlen, dieses kulturelle Erbe aufzunehmen und zu verstehen, kann eine Verfassung auch zu „totem Recht“ werden. Der oftmals besonders starke kulturelle Gehalt von Normen im Familien- und Erbrecht wurde mit dem Beispiel der türkischen Rezeption bereits veranschaulicht. Das Vertragsrecht löste in der türkischen Rezeption des schweizerischen ZGB hingegen nur wenige Probleme aus. Ein eher rechtsdogmatisches geprägtes Gebiet und vom gesellschaftlichen Diskurs weitgehend befreit ist das (deutsche) Sachenrecht. Die gute Übertragbarkeit von sachenrechtlichen Normen ohne größeren gesellschaftlichen Widerstand wurde am Beispiel der estnischen Übernahme des deutschen Sachenrechts ersichtlich. Hier führen weniger etwaige sozio-kulturelle Unterschiede zwischen dem Rezipienten und dem Exporteur zu Problemen, sondern eher rechtsdogmatische Denkmuster und Traditionen (wie etwa die Einordnung von Eigentum und Besitz, die im Common Law Raum beispielsweise im Vergleich zu Deutschland abweichend ausgestaltet ist). Aus diesen Erkenntnissen kann ein erster Versuch unternommen werden, eine Differenzierung zwischen unterschiedlichen Rechtsgebieten im Hinblick (Hrsg.), Confronting the Frontiers of Family and Succession law, S. 167; Pintens, in: Meng/ Ress/Stein (Hrsg.), Europäische Integration und Globalisierung, S. 359. 100 Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 29.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
auf ihre typische (rechts-)kulturelle Verwurzelung aufzuzeigen.101 Dieser nun folgende Vorschlag ist nur ein erster fragmentarischer Ansatz. Er kann und sollte durch weitere Rechtsgebiete ergänzt werden:
Grundlagen des Verfassungsrechts
Familienund Erbrecht
Vertragsrecht
Sachenrecht
(sehr hoher kultureller Gehalt)
(hoher kultureller Gehalt)
(eher niedriger kultureller Gehalt)
(eher niedriger kultureller Gehalt)
Abbildung 5: Ansatz einer spektralen Beschreibung des kulturellen Normgehalts nach Rechtsgebieten
Neben dieser Indikation durch bestimmte Rechtsgebiete kann der kulturelle Gehalt eines Rechtstransfers auch als Spektrum ausgedrückt werden. Die Skala mag von „mit sehr starker kultureller Verwurzelung“ bis „mit kaum/gar keiner kulturellen Verwurzelung“ reichen. Beide Formen der Darstellung schließen sich jedoch noch nicht aus, sondern ergänzen sich.
Norm mit sehr starker kultureller Verwurzelung
Norm mit eher starker kultureller Verwurzelung
Norm mit eher weniger starker kultureller Verwurzelung
Norm mit kaum/gar keiner kultureller Verwurzelung
Abbildung 6: Spektrum kultureller Normgehalt (abstrakt)
bb) Steuerungsfunktion des zu übertragenden Rechts Die Reaktionen des neuen Rechtsumfelds auf eine fremde Norm mag auch davon abhängen, welche Steuerungsfunktion der neuen Norm zugewiesen ist.102 Die Steuerungsfunktion bestimmt sich danach, welches Verhalten die Norm von der Gesellschaft des Rezipienten erzeugen oder auslösen kann. Für einen Überblick über die unterschiedlichen Arten von Steuerungsmechanismen 101 Denkbar ist stattdessen auch eine Aufteilung des kulturellen Gehalts einer Norm in unterschiedliche Regelungssphären. „Private und religiöse Sphären“ könnte man als tendenziell stark kulturgebunden ansehen, „wirtschaftliche Angelegenheiten“ als tendenziell weniger kulturgebunden. 102 Die Frage, inwieweit die gezielte Steuerung gesellschaftlicher Abläufe oder individuellen Verhaltens durch Recht überhaupt möglich ist, wird kontrovers diskutiert. Siehe Hoffmann-Riem, in: Hof/Wengenroth (Hrsg.), Innovationsforschung, S. 387 (394).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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können Teile der Typologie zu den Steuerungsfunktionen im Recht von Hoffmann-Riem herangezogen werden:103 Imperatives Recht
– Ge- und Verbote – sonstige Schrankensetzungen, verbindliche Standards
Leistendes Recht
– Aufbau und Erhalt von Infrastrukturen – Subventionsgewährung
Stimulierendes Recht
– Verhaltensermöglichung – Anreizsysteme – Anstöße/„Anschubsen“/Nudging, Bereitstellung von Standardisierungen
Abbildung 7: Steuerungsfunktionen des Rechts
Die Steuerungsinstrumente können unterschiedlich stark in die Strukturen einer Gesellschaft einzuwirken. Ihr Gebrauch ist teilweise von Kultur zu Kultur unterschiedlich (dazu sogleich unten). Diese Komponenten können sich auch bei einer Rezeption auswirken. Folgt man dem Grundsatz „Je weniger soziale Disruption, desto einfacher die Übertragung“, so bedeutet das, dass sich die Art der gesetzgeberischen Zielverfolgung auch auf den Erfolg der Maßnahme auswirken kann. Überträgt ein Rechtsetzer lediglich leistendes Recht, mag die Gefahr einer Ablehnung durch die Gesellschaft geringer sein als bei imperativem Recht. Rechtstransfers, die leistendes Recht beinhalten, stören soziale Strukturen selten stark, es sei denn, sie regeln etwa bedeutende Fragen in der Verteilungspolitik. Dies gilt jedenfalls, solange unter Wahrung des Grundsatzes der Gleichbehandlung nur neue Rechtspositionen gewährt werden. Imperatives Recht erweitert die Rechtsposition des Normadressaten hingegen nicht, sondern schränkt ihn weiter ein. Bei imperativem Recht sind die Gefahren eines disruptiven Effektes des Rechts daher regelmäßig größer als bei leistendem Recht.104 Die Erkenntnisse Hoffmann-Riems aus der Innovationsforschung dazu sind direkt auf Rechtstransfers übertragbar: „Das traditionelle mit Ge- und Verboten arbeitende imperative Recht ist in modernen Gesellschaften zwar weiterhin unverzichtbar und wird in großem Umfang weiter genutzt. Allerdings taugt es als Geburtshelfer von Innovationen nicht besonders gut.“105 Leistendes Recht ist 103 Nicht
berücksichtigt werden hier folgende Kategorien: Formen des informellen/ schlichten Verwaltungshandelns und konsensorientierten Rechts. Denn der hier bearbeitete Rechtstransferbegriff befasst sich mit formell wirksam gewordenem Recht. Dazu passen diese Steuerungsweisen nicht. 104 Auch davon gibt es freilich Ausnahmen. Insbesondere Subventionen können in ihrer Art und Umfang auch sehr starke disruptive Effekte auslösen. Einschneidender wird das leistende Recht grundsätzlich dann, wenn es zu (starken) Ungleichbehandlungen führt, die bei dem Dritten wir eine Benachteiligung wirken können. 105 Hoffmann-Riem, in: Hof/Wengenroth (Hrsg.), Innovationsforschung, S. 387 (395).
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
insoweit oft „innovationstauglicher“ als imperatives Recht. Ebenso geeignet für Neuerungen innerhalb eines Rechtssystems ist das stimulierende Recht, „dessen Befolgung leicht erkennbar auch den eigenen Interessen seiner Adressaten nutzt, das kreative Fantasie freisetzt und dennoch Anreize enthält, den (häufig durch Ordnungsrecht gekennzeichneten) Korridor der Gemeinwohlverträglichkeit nicht zu verlassen.“106 Das stimulierende Recht kann als eine Art goldener Mittelweg zwischen leistendem und imperativem Recht gesehen werden. Es versucht, mit sanfter Eingrenzung innovative Spielräume zu ermöglichen. Diese Grundidee kann auch auf Rechtstransfers übertragen werden. In diesem Fall geht es um eine Art von „kulturellem Spielraum“ für die rezipierende Gesellschaft bei Rechtserneuerungen in Form von Rechtsübertragungen. Dieser „kulturelle Spielraum“ bestimmt letzten Endes, ob und wenn ja, wie die Anreize vom Normadressaten aufgenommen werden. Dies – also die tatsächliche Wirkung der Anreize – kann sich wiederum von Kultur zu Kultur massiv unterscheiden. Es sei festgehalten: Die unterschiedlichen Steuerungsfunktionen im Recht lassen unterschiedliche Disruptionsgrade beim Rezipienten vermuten. Es spricht vieles dafür, dass uns diese Grundlagen aus der Innovationsforschung dabei helfen können, die Wirkung von fremdem – also für den Rezipienten quasi „innovativem“ – Recht besser zu verstehen. Wie oben erwähnt gibt es noch einen zweiten Aspekt, der eine Unterscheidung zwischen unterschiedlichen Steuerungsmechanismen interessant macht. Dieser baut auf der Idee auf, dass Rechtskulturen unterschiedliche Bräuche darin haben, Recht zu setzen. In einigen Kulturen ist etwa das Verbot traditionell ein beliebtes Mittel, um gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Andere Kulturen halten sich in dem gleichen Regelungsgebiet hingegen eher an andere Regelungstechniken wie dem leistenden Recht oder gar dem stimulierenden Recht. Während also in der einen Rechtskultur das Mittel des imperativen Rechts kulturell anerkannt und akzeptiert ist, kann die Wahl dieses Mittels in einer anderen Rechtskultur Widerstände hervorrufen. Grund dafür können etwa die unterschiedlichen hierarchischen Strukturen in der Gesellschaft sein. In der einen Kultur gebieten es die Strukturen „von oben herab“ Befehle zu erteilen und (unter Umständen sanktionsbewehrte) Verbote zu erlassen, in der anderen Kultur, werden Rechtsetzungsziele womöglich eher in Form von integrativen Steuerungsmechanismen umgesetzt – vielleicht nicht einmal in Form von „formellem Recht“. Allzu „drastische“ und starre Arten der Rechtsetzung wie das imperative Recht stoßen hingegen eher auf Irritationen. Diese Beschreibung mag etwa auf einige ost-asiatische Länder zutreffen. So beeinflusste etwa das traditionelle Leitbild einer konfliktvermeidenden Gesellschaft in Japan die 106 Hoffmann-Riem, in: Hof/Wengenroth (Hrsg.), Innovationsforschung, S. 387 (395) Siehe auch Schuppert, in: Schliesky/Ernst/Schulz/Schmidt-Jortzig (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, S. 291 (302).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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Steuerungsmethoden der verwaltungsrechtlichen Praxis. So war es in Japan lange typisch, dass die zuständige Behörde einen Bauantrag, der auf Widerstände stieß, nicht immer unverzüglich bearbeitete, sondern vor der Prüfung der gesetzlichen Voraussetzungen abwartete, bis zwischen dem Bauherrn und den Konfliktgegnern eine hinreichende Verständigung erreicht worden war.107 Diese Praxis, eine Genehmigung für einen angemessenen Zeitraum zurückzuhalten, um Kompromissbereitschaft zu erreichen, war in Japan höchstrichterlich anerkannt. Diese traditionelle, informelle Verwaltungsanleitung (gyôsei shidô)108 ist ein Beispiel für eine Verwaltungspraxis, die von ihrer Möglichkeit der imperativen Rechtsetzung nur zurückhaltend Gebrauch macht. Sie setzt – statt einer sofortigen Verwendung imperativen Rechts – auf ein informelles Verwaltungshandeln, welche eine einvernehmliche Lösung stimulieren soll. Dabei ist wichtig zu betonen, dass der japanischen Verwaltung sehr wohl das Instrument des imperativen Rechts zur Verfügung steht.109 Die Besonderheit zu westlichen Rechtsordnungen liegt vielmehr bei der praktischen Handhabung dieser Normen. Im Falle einer Übernahme von fremdem Verwaltungsrecht in Japan lägen die Probleme also weniger bei der rechtsdogmatischen Integration des fremden (imperativlastigen) Normtextes. Die Herausforderung läge eher darin, den womöglich unterschiedlichen praktischen Umgang mit diesen neuen Normen durch die japanischen Rechtsanwender zu antizipieren.
cc) Durch die Norm betroffene gesellschaftliche Gruppen Cotterrells Typologie von den Gemeinschaften hilft uns dabei, zu verstehen, wie (kulturbedingter) Widerstand gegen eine Rechtsreform entstehen kann.110 Mit „Gemeinschaften“ meint Cotterrell gesellschaftliche Gruppierungen, die durch bestimmte Faktoren verbunden und damit in der Lage sind, Einfluss auf die Umsetzung von Rechtstransfers auszuüben. Nach Cotterell gibt es vier Typen von Gemeinschaften111: Die instrumentelle Gemeinschaft, die traditionelle Gemeinschaft, die Glaubensgemeinschaft und die affektive Gemeinschaft. Mit der instrumentellen Gemeinschaft meint er 107 Beispiel nach Bullinger, Verwaltungsarchiv 84 (1992), 65 (67) Vgl. auch Ohashi, Verwaltungsarchiv 82 (1991), 220. 108 Vertiefend zu diesem Konzept siehe Shiono, International Review of Administrative Sciences 48 (1982), 239. 109 Tatsächlich rezipierte Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Elemente europäischer Verwaltungssysteme, unter anderem auch aus Preußen. Vgl. Ohashi, Verwaltungsarchiv 82 (1991), 220 (221) Insoweit ähneln sich die Strukturelemente des japanischen Verwaltungsrechts mit denen einiger westeuropäischer Länder. Vertiefend: Ule, Deutsches Verwaltungsblatt 80 (1989), 303. 110 Zum Folgenden vgl. Cotterrell, in: Nelken/Feest (Hrsg.), Adapting Legal Cultures, S. 71 (80 ff.). 111 Cotterrell bezieht sich dabei auf die vier Idealtypen sozialen Handelns nach Max Weber. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 11 ff.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
vor allem kommerzielle Gemeinschaften Form von „puren Zweckgemeinschaften“. Dazu gehören etwa Produzenten und Konsumenten, Händler oder Dienstleister.112 Mit der traditionellen Gemeinschaft meint Cotterrell eine Gruppe, die aus einer Gewohnheit bestimmten Handlungen nachgeht. Das können sowohl Bräuche also auch kulturell verfestigte Verhaltensweisen sein. Bei der affektiven Gemeinschaft geht es um Beziehungen, die „intimen, privaten und nicht berechnenden“ Charakter haben. Sie betreffen meistens das Familienleben.113 Der Typus „Glaubensgemeinschaft“ dreht sich um Gemeinschaften, die aufgrund ähnlicher Weltanschauungen und Religionen bestehen. Diese „Typen“ von Gemeinschaften, wie sie Cotterrell entwickelt hat, stellen keine normativ geprägten Begriffe dar. Sie können aber mit dem Regelungsgehalt einer bestimmten Norm verknüpft werden. Dies geschieht dann, wenn die Norm den Interessenbereich einer (oder mehrerer) dieser Gemeinschaften berührt. Jede der Gemeinschaften – so Cotterrell – kann Rechtsreformen auf ihre eigene Art vereinfachen oder erschweren.114 Diese Fähigkeiten mögen qualitativ sehr unterschiedlich voneinander sein. Man wird sie auch nicht in Kategorien wie „besonders reformavers“ oder „weniger reformavers“ einteilen können. Aufgabe der Rechtstransferwissenschaft – und besonders der Soziologie – wird es sein, die Besonderheiten der Reaktion dieser Interessengruppen auf (bestimmte Typen von) Rechtstransfers zu identifizieren.
Rechtstransfer, der die „instrumentellen Gemeinschaften“ betrifft
Rechtstransfer, der die „traditionellen Gemeinschaften“ betrifft
Rechtstransfer, der die „Glaubensgemeinschaften“ betrifft
Rechtstransfer, der die „affektiven Gemeinschaften“ betrifft
Abbildung 8: Rechtstransfertypen nach „gesellschaftlichen Gemeinschaften“115
b) Oberbegriff: Normbeschaffenheit im weiteren Sinne Der Oberbegriff „Normbeschaffenheit im weiteren Sinne“ soll für sonstige Besonderheiten verwendet werden, die auf den Erfolg eines Rechtstransfers Auswirkungen haben können. Ein besonderes Augenmerk verdienen beispielsweise Normen mit auslegungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriffen oder Er112 Cotterrell, in: Nelken/Feest (Hrsg.), Adapting Legal Cultures, S. 71 (82) Für Van Hoecke ist beispielsweise jede Reform, die auf die Harmonisierung von Regelungen abzielt, für typischerweise mit „instrumentellen Gemeinschaften“ verbunden. Vgl. van Hoecke, in: Nobles/ Schiff (Hrsg.), Law, Society and Community, S. 273 (288). 113 Cotterrell, in: Nelken/Feest (Hrsg.), Adapting Legal Cultures, S. 71 (82). 114 Cotterrell, in: Nelken/Feest (Hrsg.), Adapting Legal Cultures, S. 71 (81). 115 Die Reihenfolge dieser Darstellung ist beliebig.
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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messensspielräumen. Hier verzichtet der Rechtsetzer auf eine eigene Detailgesetzgebung, sondern „delegiert“ die weitere Konkretisierung an das zuständige Organ der Exekutive oder der Judikative. Wenn der Rechtsetzer eine Norm mit unbestimmten Rechtsbegriffen oder mit Ermessensspielräumen aus einer fremden Jurisdiktion wählt, geht er das Risiko ein, dass die Rechtspraxis diese Norm auf Grundlage ihres eigenen (rechts-)kulturellen Vorverständnisses auslegt und dabei den kulturellen Hintergrund der Norm nicht ausreichend berücksichtigt. Was für Folgen dies haben kann, wurde etwa am Beispiel der japanischen Rezeption der MacArthur-Verfassung ersichtlich: Die Begriffe hohitsu beziehungsweise jogen-to hohitsu („Rat“ beziehungsweise „Rat und Zustimmung“) waren solche unbestimmten Rechtsbegriffe.116 Sie waren teilweise schon in der Meiji-Verfassung genutzt worden und damit dem ein oder anderen japanischen Juristen „ein Begriff“. Das Beispiel zeigt, dass es den amerikanischen Besatzern wie auch den japanischen Vertretern nicht gelungen ist, die Unterschiede zu erforschen und zu verstehen. Hätte man – womöglich in Form eines abschließenden Katalogs – konkretisiert, was „Rat“ und „Zustimmung“ in der Praxis bedeuten soll, hätte man dieses Missverständnis vielleicht vermeiden können. Trotz der heutzutage besseren Vernetzung der Rechtswissenschaft über Ländergrenzen hinweg wird es für die Praxis auch weiterhin eine Herausforderung bleiben, unbestimmte Rechtsbegriffe oder vage formulierte Normen aus einer anderen Rechtskultur zu erfassen. Je unbestimmter der Rechtsbegriff und je weiter der durch die Norm eingeräumte Ermessensspielraum, desto schwieriger hat es ein Rechtsanwender, die Norm im Sinne der beabsichtigten Neuregelung „kulturgerecht“ auszuführen. Sind Normen übertragen worden, die den Rechtsanwendern einen Ermessensspielraum belassen, ist eine ähnliche Problematik zu beobachten. Möchte man die übertragenen Normen mustergültig in ihrer tatsächlichen Anwendung verstehen, muss man sich mit behördlichen oder gerichtlichen Einzelfallentscheidungen beim Exporteur auseinandersetzen. Solche Analysen können von Gesetzgebern regelmäßig besser durchgeführt werden als von rezipierenden Behörden oder Gerichten. Denn während der Gesetzgeber über die notwendige Zeit und Ressourcen verfügt, kommen Rechtsanwender oft schon aus Kapazitätsgründen schnell an ihre Grenzen. Zudem ist zu befürchten, dass die Kenntnis um den Ursprung des transplantierten Rechts bei Behörden und Gerichten grundsätzlich geringer ist. Dies birgt zusätzlich die Gefahr, dass auf Rechtsanwendungsebene die Sensibilität für die kulturellen Unterschiede fehlt. Es bleibt festzuhalten: Sowohl unbestimmte Rechtsbegriffe als auch Normen mit Auslegungs- und Ermessensspielräumen sind Einfallstore für (rechts-) kulturell geprägte Werteentscheidungen. Sie bergen ein erhöhtes Risiko für die Fehlanwendung von rezipierten Normen. Um dieses Problemfeld in die pro116
Siehe dazu schon C. I. 1.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
blemorientierte Typologie zu integrieren, empfiehlt sich wiederum eine kategorisierende Aufteilung:
aa) „Technische Norm“ Normen mit dem geringsten Grad an Auslegungsspielraum des Anwenders sind regelmäßig technische Normen. „Je technischer eine Gesetzesmaterie (beispielsweise Straßenverkehrsrecht, Gesundheitsrecht oder Gewerberecht), desto leichter ihre Übertragbarkeit.“117 Rechtsbegriffe, die aufgrund naturwissenschaftlicher Methoden eindeutig zu bestimmen sind, können regelmäßig ohne Weiteres übertragen werden. Zu den Normen, die solche Rechtsbegriffe beinhalten, gehören etwa Grenzwerteregelungen im Immissionsschutzrecht. Sie bieten regelmäßig wenig Raum für Interpretationsspielräume.118
bb) Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe Je eindeutiger und konkreter sich der Normbefehl aus dem Normtext selbst ergibt, desto geringer ist der „Korridor“119 des Rechtsanwenders, um die Norm mit Leben zu füllen. Rechtskulturelle Besonderheiten spielen bei der Normumsetzung erst dann eine Rolle, wenn dem Rechtsanwender auch der normative Raum gegeben wird, um sein eigenes kulturelles Vorverständnis einzubringen. Je weniger Auslegungs- und Anwendungsspielräume eine Norm bietet, desto geringer ist die Gefahr, dass Rechtsanwender bei der Auslegung der Norm aufgrund ihres rechtskulturellen Vorverständnisses zu anderen Ergebnissen kommen als Praktiker im Exportland. Ein gutes Beispiel für Normen mit einer typischerweise geringen Offenheit sind Regelungen zur Fristenberechnung (z. B. §§ 187–193 BGB). Demgegenüber gibt es auch Regelungen, die das Gesetz selbst kaum spezifiziert, sondern deren Konkretisierung weitgehend dem Rechtsanwender überlassen ist. Sie bieten dem Rechtsanwender eine deutlich größere Optionenvielfalt, bergen aber wiederum das erhöhte Risiko einer Fehlanwendung, wenn ein Rechtsanwender sein eigenes Rechtsverständnis „auslebt“ und die (rechts-)kulturellen Besonderheiten und Hintergründe der Norm bei der Normanwendung außer Acht lässt.
cc) Grad des Auslegungs- und Ermessensspielraums Der Befehl an den Rechtsanwender, eigene Erfahrungen und Wertungen bei der Subsumtion einer Norm zu berücksichtigen, kann sich auch aus dem Normtext 117 Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 34; so auch schon Bernhardt, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 24 (1964), 431 (437). 118 Etwas anderes gilt freilich, wenn die Norm – neben diesen technischen Rechtsbegriffen – andere Einfallstore für Interpretationsspielräume oder Ermessenserwägungen aufweist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn die Norm eine „Kann“-Vorschrift ist. 119 Hoffmann-Riem, in: Hof/Wengenroth (Hrsg.), Innovationsforschung, S. 387 (395).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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selbst ergeben. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Norm ihm Auslegungs- oder Ermessensspielräume belässt.120 Im Verfassungsrecht sind Begriffe wie „Gestaltungsspielraum“ oder „Einschätzungsprärogative“ gängig. Sie alle öffnen dem Rechtsanwender Spielräume für unterschiedliche Vorgehensweisen, bei denen er die Kontextbedingungen, auch nichtrechtliche, zu berücksichtigen hat.121 Es gilt ein ähnlicher Grundsatz wie schon beim Grad an „Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe“: Je mehr Auslegungs- oder Ermessensspielräume eine transplantierte Norm dem Rechtsanwender gewährt, desto größer ist das Risiko, dass der rezipierende Rechtsanwender bei der Ausübung dieser Spielräume zu anderen Ergebnissen kommt als von der Norm ursprünglich vorgesehen. Andererseits können Auslegungs- und Ermessensspielräume auch eine Chance bieten, die fremde Norm so zu modifizieren, dass sie sich in den neuen Kontext einfügen lässt. Des Weiteren geben Auslegungs- und Ermessensspielräume den Rechtsanwendern eine Chance, das Recht harmonisierend auszulegen. Dies ist insbesondere im Rahmen von (dynamischen) Harmonisierungsprozessen von Vorteil. Auslegungs- und Ermessensspielräume erlauben der Praxis flexibler auf Veränderungen im ausländischen Recht zu reagieren, an die man sich unter Umständen anpassen möchte. Ob die Chancen oder Risiken überwiegen, hängt letzten Endes auch davon ab, ob auch die Praxis offen für rechtsvergleichende Arbeit ist (wie beim Beispiel der Business Judgment Rule) oder sich dem eher verschließt (wie beim Beispiel der MacArthur-Verfassung). Um dies als Chance zu begreifen, muss der Rechtsetzer den Rechtsanwendern vertrauen, die Normen so umzusetzen, wie es das Vorbild aus der fremden Rechtsordnung nahelegt. Normen, die Ermessens- beziehungsweise Beurteilungsspielräume gewähren, spielen vor allem im Verwaltungsrecht eine bedeutende Rolle. Jedenfalls im deutschen Verwaltungsrecht kann zwischen „Muss-“, „Soll-“ und „KannVorschriften“ unterschieden werden. Bei der „Muss-Vorschrift“ ist der Ermessensspielraum stets auf Null reduziert. Bei der „Soll-Vorschrift“ bleibt der Behörde ein eingeschränkter Ermessensspielraum. Bei „Kann-Vorschriften“ bleibt ihr ein relativ hoher Ermessensspielraum, der nur durch die Grenzen des Rechts beschränkt wird. „Muss-“, „Soll-“ und „Kann-Vorschriften“ sind daher gut geeignet, den Grad des Ermessensspielraums typologisch abzubilden.
3. Drittes Ordnungsmuster: Übertragungsmodalitäten Das dritte Ordnungsmuster erfasst unterschiedliche Durchführungsformen von Rechtstransfers. Die Übertragung fremden Rechts ist nicht auf Konstellationen 120 121
Siehe nur Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 148 f. Hoffmann-Riem, Zeitschrift für Rechtssoziologie 38 (2018), 20 (22) Zur Bedeutung der Kontextbezogenheit vgl. auch Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation, 57 ff., 64 ff., 108 ff.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
beschränkt, in denen eine Norm von einer Rechtsordnung „direkt“ in eine andere übertragen wird. Bei Transferprozessen können auch weitere Akteure im Spiel sein. Es gibt somit eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie die fremde Norm ihren Weg in das neue Rechtssystem findet.
a) Am Rezeptionsprozess beteiligte Akteure aa) Gesetzgeber Der wichtigste, da häufigste Akteur bei einem Rechtstransfer ist der Gesetzgeber. Auch die Veranschaulichungsbeispiele von Rezeptionsvorgängen sind in dieser Arbeit – mit einigen wenigen Ausnahmen – Gesetzestransfers.
bb) Gerichte Wie am Beispiel der Übernahme der US-amerikanischen Business Judgment Rule zu sehen ist, kann auch die Rechtsprechung Initiatorin eines Rechtstransfers sein. Auch sie steht vor der Herausforderung, fremde Rechtsprinzipien, die sie übertragen möchte, zu verstehen (vgl. dazu oben C. I.). Das Problem der rechtsdogmatischen Integration der Norm (vgl. dazu oben C. II.) stellt sich der Rechtsprechung ebenfalls – wenn auch regelmäßig in etwas anderer Form. Die Rechtsprechung muss keine gesetzgeberische Arbeit leisten. Sie muss keine umfangreichen Normenkomplexe in die eigene „Rechtssprache“ übersetzen oder sie in das heimische dogmatische Normgefüge integrieren. Die Rechtsprechung ist im Zusammenhang mit Rechtstransfers regelmäßig mit der rechtsdogmatischen Integration ausländischer konkreter Problemlösungen beschäftigt. Sie kann (rein inhaltliche) Lösungsansätze übertragen, aber auch – und das unterscheidet sie vom Gesetzgeber – fremde Rechtsdogmatiken kopieren. Das liegt daran, dass die Entwicklung von Rechtsdogmatik nicht die primäre Aufgabe des Gesetzgebers ist, sondern der Gerichte. Mit den Problembereichen der rechtskulturellen und sozio-kulturellen Unterschiede ist die Rechtsprechung jedoch wiederum gleichermaßen konfrontiert wie ein Gesetzgeber (vgl. dazu oben C. III. und IV.). Gesetzgeber und Gerichte stehen bei der Übernahme fremden Rechts also vor ähnlichen Herausforderungen. Gleichwohl unterscheiden sich die Anforderungen an die beiden Akteure bei der Rezeption von fremdem Recht grundlegend voneinander. Das liegt zum einen schon an ihren unterschiedlichen Aufgaben. Aufgabe der Rechtsprechung ist es, Einzelfallentscheidungen zu treffen. Sie nimmt eine fremde Norm in der Regel nur bruchstückhaft – also in Form einer einzelfallbezogenen Subsumption – in die Rechtsordnung auf. Der Gesetzgeber hat dagegen regelmäßig eine abstraktere und damit in der Regel auch deutlich breitere Regelungsabsicht. Seine Aufgabe ist nicht eine Aufarbeitung von Vergangenem. Er arbeitet für noch unbekannte Fälle in der Zukunft und un-
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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terliegt damit auch anderen externen Zwängen als ein Richter, der retrospektiv ein bereits in der Welt befindliches Problem lösen muss.122 Dies zeigt auch ein Blick auf die oben beschriebenen motivatorischen Faktoren für Rechtstransfer nach Miller (vgl. D. II. 1.). Eine Rechtsübernahme „aufgrund externen Drucks“ durch die Rechtsprechung ist beispielsweise selten. Die richterliche Unabhängigkeit schützt (jedenfalls in der Theorie) die Gerichte weitgehend vom Einfluss bestimmter Interessengruppen, die einen Rechtstransfer befürworten (oder ihm entgegenstehen). Andere Aspekte wie das Prestige einer anderen Rechtsordnung oder zeitsparende Faktoren können hingegen auch bei der Übernahme von Recht durch die Rechtsprechung eine Rolle spielen. Bei der Rezeption fremden Rechts durch die Gerichte spielt allerdings auch der Gewaltenteilungsgrundsatz eine nicht unbedeutende Rolle. Die mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz verbundenen Einschränkungen der politischen Gestaltungsmöglichkeiten von Gerichten variiert freilich von Rechtssystem zu Rechtssystem. Während Gerichte im „Civil-Law-Rechtskreis“ sich im Zweifel eher zurückhalten, gestalterisch tätig zu werden, entspricht es dem Selbstverständnis der Common-Law-Gerichte traditionell deutlich stärker, neue Lösungsansätze als „Case Law“ zu schöpfen. Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die Anforderungen an Gesetzgeber und Gerichte bei der Transplantation von Normen weiter zu differenzieren. Diese Diskussion muss an anderer Stelle fortgeführt werden. Durch eine Aufteilung zwischen Gesetzestransfers und Urteilstransfers weist die Typologie auf diese Unterschiede hin.
cc) Interessengruppen Neben dem Gesetzgeber und der Rechtsprechung können noch eine Vielzahl von anderen Akteuren am Rechtstransferprozess beteiligt sein. Dafür kommen vor allem Personen oder Organisationen in Betracht, die den Rechtsetzer zu irgendeinem Zeitpunkt im Rezeptionsprozess unterstützen oder auf sonstige Weise beeinflussen. Dies kann bereits in der Vorbereitungsphase der Fall sein – etwa durch einen eigenen Entwurf. Ihre Beteiligung kann jedoch auch erst zu einem späteren Zeitpunkt einsetzen, etwa in der Umsetzungsphase. Typische einflussnehmende Gruppen sind Nicht-Regierungsorganisationen, Lobbyverbände123 und auch Rechtsanwaltskanzleien124, die den (formellen) Rechtsetzer durch ihr „Know-How“ unterstützen. 122 Eine Ausnahme bilden Grundsatzurteile hoher Gerichte, die oft auch gezielt für zukünftige Fälle lanciert werden. Dies ändert jedoch nichts an der grundsätzlichen Aufgabe der Gerichte, bestehendes Recht zu interpretieren und nicht „schöpferisch“ tätig zu werden. 123 Anschauungsmaterial bieten Beiträge zur Debatte um den Einfluss zahlreicher Lobbyverbände auf die Gesetzesvorhaben der Europäischen Unioin. Siehe dazu etwa Moessing, Lobbying Uncovered?; Krajewski, Zeitschrift für Rechtspolitik 46 (2013), 236. 124 Siehe bereits oben zum Einfluss der Kanzlei Freshfields Bruckhaus Deringer bei den Entwürfen zum Finanzmarkstabilisierungsgesetz.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
dd) Mittelbare Akteure Schließlich kommen noch Akteure in Betracht, die eine Rechtsübernahme einleiten, ohne je direkten Kontakt mit dem Rechtsetzer aufgenommen zu haben. Ein Beispiel für einen solchen „mittelbaren Akteur“ ist die Kautelarpraxis. Dort, wo vertragsrechtliche Normen dispositiv sind, konzipieren Kautelarjuristen häufig ihr eigenes auf den jeweiligen Sektor zugeschnittenes Vertragsrecht. Dabei können sie sich auch Regelungen einer bestimmten Jurisdiktion zum Vorbild nehmen. Bemerkt ein Gesetzgeber, dass sein Recht den Entwicklungen in der Vertragsgestaltung „hinterherhinkt“, bewegt ihn dies oft dazu, seine zivilrechtlichen Normen an diese Praxis anzupassen. Besondere Bedeutung hat diese Form der Vertragsgestaltung bei Harmonisierungsbestrebungen, wie etwa im Hinblick auf ein einheitliches Europäisches Zivilgesetzbuch.125
b) Übertragungsweg Auswirkungen auf den Erfolg eines Rechtstransfers kann auch die Art und Weise haben, wie ein Rechtstransfer von seinem Ursprung in das neue Rechtsumfeld gelangt. Mues unterteilt diese Übertragungswege in direkt, vermittelt und eklektisch ein.126
aa) Direkter Rechtstransfer Der häufigste und klassische Übertragungsweg ist der direkte Weg vom Exporteur zum Rezipienten: Ein Normsetzer lässt sich von der Rechtswirklichkeit in einer fremden Jurisdiktion inspirieren und überträgt dieses Recht auf direktem Wege in seine eigene. Normübertragungen sind auf allen Regelungsebenen möglich. Supranationale Organisationen können sich etwa auch auf das Recht nationaler Organisationen beziehen und umgekehrt.127
bb) Vermittelter Rechtstransfer Als „vermittelten“ Rechtstransfer bezeichnet Mues Normentransfers, die nicht direkt zwischen zwei normativen Ordnungen vollzogen werden, sondern bei denen ein „Vermittler“ zwischengeschaltet ist. Sie nennt dafür das Beispiel der Rezeption des Römischen Rechts in Deutschland und im restlichen Kontinentaleuropa. Der Inhalt dieser Rezeption basiere zwar auf dem Corpus Iuris, wurde jedoch durch die italienische und französische Rechtswissenschaft im 12. Jahrhundert in abgeänderter Form wei125 Vgl.
nur Schwartze, in: Martiny/Witzleb (Hrsg.), Auf dem Wege zu einem Europäischen Zivilgesetzbuch, S. 33 (46). 126 Vgl. im Folgenden Mues, Rechtstransfer, 35 ff. 127 Mit Beispielen: Mues, Rechtstransfer, 35 f.
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
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tergegeben.128 Ein ebenfalls typisches Beispiel für einen vermittelten Transfer ist die Verbreitung von Modellgesetzen durch internationale Organisationen. So wurde etwa das Modellgesetz der UNICITRAL129 über die Handelsschiedsgerichtsbarkeit aus dem Jahr 1985 mittlerweile von mehr als 50 Staaten ganz oder teilweise übernommen. Modellgesetze spielten aber auch im Rahmen von Transformationsprozessen in Osteuropa und der Sowjetunion eine wichtige Rolle.130 Einige Autoren bewerten sie positiv als „eine weniger schwerfällige und verpflichtende Methode, um zu einheitlichen Rechtsstrukturen zu gelangen.“131 Ein weiterer Fall eines vermittelten Rechtstransfers ist die Übertragung des Independent-Regulatory-Agency-Konzepts aus den USA über Europa nach Deutschland. Das Prinzip der Independent Regulatory Agency stammt – wie bereits erwähnt – vor allem aus EU-Richtlinien.132 Dieser Rechtstransfer „über Bande“ hat die Besonderheit, dass in diesem Fall eben kein deutsches Rechtsetzungsgremium über die Transplantation entschieden hat. Das Europäische Parlament und der Rat sind als Gremien außerhalb des deutschen Rechtssystems (im engeren Sinne) aktiv geworden. Ihnen kommt lediglich durch die Europäischen Verträge Rechtsetzungsgewalt zu. Daher nehmen sie bei der Transplantation lediglich eine Mittlerrolle ein.133 Die Richtlinien sind somit ein zwischen 128
Mues, Rechtstransfer, S. 37. UNICITRAL war eine von den Vereinten Nationen eingesetzte Kommission, die den Auftrag hatte, „fortschreitende Harmonisierung und Vereinheitlichung des internationalen Handelsrechts zu fördern.“ Vgl. Vereinte Nationen, Resolution der Generalversammlung 2205 (XXI) vom 17. Dezember 1966. 130 Die wichtigsten internationalen Organisationen, die mittels solcher Modellgesetze in postsowjetischen Ländern an Reformen mitgewirkt haben, waren die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, der Europarat und die Europäische Union. Vgl. dazu Chanturia, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 114 (115); Chanturia, in: Düring, Das Jahr 1991, S. 125 (132); Arthur/Ermoliev/Kanovski, European Journal of Operational Research 30 (1987), 294 (253 ff.). 131 Positive Bemerkungen insbesondere bei Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 37; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 24; Fedtke, Die Rezeption von Verfassungsrecht, S. 37. 132 Ganz besonders für den Energiesektor: Die Richtlinie 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. 7.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/54/EG, ABl. 2009, Nr. L 211/S. 55 sowie die Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.7.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG, ABl. 2009, Nr. L 211/S. 94. Für den Telekommunikationssektor: Richtlinie 2002/140/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25.11.2009 zur Änderung der Richtlinie 2002/21/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsgesetze und -dienste, der Richtlinie 2002/19/EG über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung und der Richtlinie 2002/20/EG über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste, ABl. 2009, Nr. L 337/S. 37. 133 Wie bereits oben angedeutet, wird hier bei der Frage, ob das Gemeinschaftsrecht und 129 Die
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der Ursprungsrechtsordnung und dem Nehmerland zwischengeschaltetes „Vehikel“. Daran ändert auch nichts, dass die Richtlinien noch in einem zweiten Schritt vom nationalen Gesetzgeber umgesetzt werden müssen.134 Bei dieser Form der Übertragung können auch mehrere „Mittler“ im Spiel sein. Ein Beispiel für eine „doppelte Vermittlung“ fremden Rechts wird bei der Entwicklung der Verbandsklage im deutschen Umweltrecht ersichtlich. Ihre Einführung erfolgte durch das Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz135, welches die EG-Richtlinie 2003/35/EG in nationales Recht umsetzen sollte. Mit dieser Richtlinie wollte die Europäische Union die Vorgaben der Århus-Konvention136 realisieren, welche nicht nur alle EU-Mitgliedstaaten, sondern auch die Europäische Union selbst unterzeichnet hatte. Diese Regelung der Århus-Konvention wurde wiederum durch das amerikanische Vorbild der Citizen Suits inspiriert.137 In den USA war es schon mit dem Clean Air Act von 1979 den Bürgern und Umweltverbänden Regelungen ermöglicht worden, an der Durchsetzung des Umweltrechts mitzuwirken.138 In diesem Fall hat also die Århus-Konvention das ursprüngliche Konzept an die Europäische Kommission „vermittelt“, die es wiederum über eine EU-Richtlinie an die Mitgliedsstaaten „weitervermittelt“ hat.
cc) Eklektischer Rechtstransfer Wählt ein Rezipient nicht das Recht lediglich einer einzigen Rechtsordnung aus, sondern stellt er sich sein Normkonstrukt aus Regeln mehrerer Rechtsordnungen zusammen, liegt ein „eklektischer Rechtstransfer“ vor.139 Ein Beidas nationale Recht zwei getrennte oder eine Rechtsordnung darstellen, die (gemäßigte) dualistische Theorie vertreten. Diese geht davon aus, dass zwei getrennte Rechtsordnungen vorliegen. 134 Ein noch „klassischerer“ Fall des vermittelten Rechtstransfers liegt vor, wenn der Richtlinientext ausnahmsweise direkte Anwendung findet. Zur direkten Anwendung des Richtlinientextes kann es kommen, wenn dieser nicht fristgerecht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde (ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. nur: EuGH, Urt. v. 19.01.1982 – 8/81 [Rs. Becker]; Slg. 1982, 53 = Neue Juristische Wochenschrift 1982, 499). Ebenfalls unter die Kategorie des „Vermittelten Rechtstransfers“ fällt die europarechtskonforme Auslegung einen Text am (von der EU importierten) Richtlinientext vor Ablauf der Umsetzungsfrist. Hier können Gerichte nationales Recht bereits im Lichte der Richtlinie auslegen. 135 „Gesetz über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EU-Richtlinie 2003/35/EG“ vom 7. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2816). 136 Kurz für: „Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vom 25. Dezember 1998“. 137 Vgl. statt vieler Kloepfer, Umweltrecht, § 8 Rn. 82 ff. Ausführlich bei Schlacke, Überindividueller Rechtsschutz, S. 425 ff. 138 Ausführlich bei Adler, Duke Environmental Law & Policy Forum 12 (2001), 39 Mit einem Überblick über die Århus-Konvention, den gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen, den daraus entstehenden deutschen Rechtsgrundlagen sowie dem US-amerikanischen Recht: Spießhofer, Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft 6 (2009), 415. 139 Mues, Rechtstransfer, S. 38.
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spiel für einen solchen Transfer stellt die Zivilrechtsreform in Estland dar. Der ganz überwiegende Teil der Normen des neuen estnischen Sachenrechts entstammt dem deutschen BGB. Bei einigen wenigen Normen im Allgemeinen Teil entschied sich der estnische Gesetzgeber jedoch gezielt gegen die deutsche Lösung und übernahm Teile140 des Louisiana Civil Codes.141 Die ungarische Verfassung142 oder das polnische Schuldrecht143 sind weitere der zahlreichen Beispiele von gesetzgeberischem „Rosinenpicken“. Selbst bei der Rezeption der MacArthur-Verfassung kann man darüber nachdenken, ob nicht ein eklektischer Rechtstransfer vorliegt. Der größte Teil der Normen ist dem US-amerikanischen Recht entlehnt. Mit der Entscheidung, den Kaiser als – mehr oder weniger entmachteten – Monarchen bestehen zu lassen, etablierten die Verhandler eine Staatsform, die der parlamentarischen Monarchie Großbritanniens stark ähnelte.144 Diese Entwicklung war jedoch keine mutwillige Entscheidung der Verhandler. Die Ähnlichkeit der Staatsstruktur Japans mit der des Vereinigten Königreichs ist nicht darauf zurückzuführen, dass man sich das britische Modell zum Vorbild genommen hat. Daher ist zweifelhaft, ob die japanische Rezeption tatsächlich als „eklektischer Rechtstransfer“ gelten kann. Der Vorteil einer Zusammenstellung von unterschiedlichen Normen liegt darin, dass sie es dem Rezipienten ermöglicht, auf rechtssystemische und kulturelle Besonderheiten je nach Notwendigkeit in differenzierter Weise einzugehen. So kann er Inkohärenzen, die sich bei der kompletten Übernahme eines Konzeptes stellen würden, aus dem Weg gehen, indem er ein passenderes Konzept aus einer anderen Jurisdiktion „einspringen“ lässt. Andererseits kann sich ein Rezipient mit einem solchen „Zusammenfügen“ auch Probleme schaffen. Bei einem eklektischen Transfer muss er nicht nur zwei Rechtsordnungen aufeinander abstimmen, sondern drei (oder womöglich sogar mehrere). Das macht 140
Zu den Gründen dieser Modifikation des deutschen Konzepts siehe noch unten E. II. 3. e). 141 Steinke, Die Zivilrechtsordnungen des Baltikums unter dem Einfluss ausländischer, insbesondere deutscher Rechtsquellen, 207 f. Louisiana ist einer der wenigen US-amerikanischen Staaten, dessen Zivilgesetzbuch auf der Grundlage von kontinentaleuropäischem Zivilrecht, also Civil Law, aufbaut. Im Einzelnen umstritten ist, ob der Louisiana Civil Code seine Grundlage im Napoleonischen Code Civil oder im spanischen Recht hat. Zu dieser Debatte siehe Montero de Pedro, The Spanish in New Orleans and Louisiana, 190 f. 142 Sie besteht aus einer Mischung aus amerikanischer, deutscher, französischer, italienischer und spanischer Verfassungsnormen, so das Beispiel auch bei Mues, Rechtstransfer, S. 38. 143 Dieses entstand in den 1990er Jahren und war ein „deutsch-französischer Hybrid“. Gessel-Kalinowska vel Kalisz, European Review of Private Law 4 (2017), 789 (797). 144 Es ist umstritten, ob Japan eine parlamentarische oder eine konstitutionelle Monarchie ist. Vgl. Shimizu, in: Marutschke (Hrsg.), Beiträge zur japanischen Verfassungsgeschichte, S. 177 (179) Prominent ist die Auffassung, dass das japanische System eine Kombination von einer „britischen parlamentarischen Monarchie und den amerikanischen Theorien der Gewaltenteilung“ darstellt. So statt vieler Ukai, in: Beer (Hrsg.), Constitutionalism in Asia, S. 111 (116).
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
es unter Umständen komplizierter, die fremden Rechtsfragmente miteinander in Einklang zu bringen. Gerade bei der rechtsdogmatischen Integration des fremden Rechts – oder in diesem Fall der fremden Rechte – steht ein Rechtsetzer bei einem eklektischen Rechtstransfers stets vor größeren Herausforderungen als bei einem direkten oder einem vermittelten Rechtstransfer.145
4. Vorschläge für Subtypen Die problemorientierte Rechtstransfertypologie hat den größten Nutzen, wenn sie die problemrelevanten Merkmale von Rechtstransfers so eng wie möglich eingrenzt. Das gilt zum einen auf horizontaler Ebene durch klare Abgrenzungen der Typen voneinander. Das gilt zum anderen auf vertikaler Ebene durch eine Spezifizierung der jeweiligen Typen durch entsprechende Subtypen. Diese Arbeit kann weder eine erschöpfende Auflistung aller Subtypen bieten – sie ist schon hinsichtlich der Oberbegriffe und (Haupt-)Typen nicht umfassend. Noch kann sie die empirischen Belege liefern, die nachweisen, dass die Etablierung bestimmter Subtypen gewinnbringend für den methodischen Lernprozess von Rechtsetzern ist. Im Folgenden soll gleichwohl anhand einiger ausgewählter Beispiele das Prinzip der Subtypen veranschaulicht werden.
a) Subtypen zu Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ Millers Typus vom Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ (vgl. oben D. II. 1. b)) bedarf der weiteren Ausfüllung durch Subtypen. Bereits oben wurde herausgearbeitet, dass der von Miller als Haupttypus benannte „Eigeninteressengeleitete Rechtstransfer“ vom Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ umfasst ist. Weitere Ideen für Subtypen zum Typus Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ finden sich bei van Wallendael.146 Er möchte die folgende Aufteilung vornehmen: 1. Die Beziehung zwischen Gewinnern und Verlieren in militärischen Konflikten; 2. Die Beziehung zwischen mehr oder weniger mächtigen Mitgliedern einer politischen oder militärischen Organisation oder eines sonstigen Bereichs, der eine politische oder militärische Wirkungskraft auf ein Land hat; 3. Die Beziehung zwischen einem Mitgliedsstaat einer internationalen oder supranationalen Organisation und der Organisation selbst; 145 So auch Mues, Rechtstransfer, S. 39; Herrnfeld, Recht europäisch, S. 17; Knieper, in: Knieper (Hrsg.), Rechtsreformen entlang der Seidenstraße, S. 39; Chanturia, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 114 (116) Fn. 7; Black/ Kraakman/Tarassova, Guide to the Russian Law on Joint Stock Companies, Vorwort. 146 van Wallendael, in: Filipiak/Kania/Van den Bosch/Wiśniewski (Hrsg.), Evolving dependency relations, S. 75 (80).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
127
4. Die Beziehung zwischen einem Anbieter und einem Empfänger von finanzieller Unterstützung. Van Wallendaels Vorschläge geben einige erste brauchbare Hinweise für eine Subtypologie. Sie sollen im Folgenden berücksichtigt werden. Zuvor wird jedoch nach den möglichen Akteuren beziehungsweise nach der Herkunft der Druckausübung differenziert. „Extern“ bedeutet nicht notwendigerweise „ausländisch“. Auch inländische Akteure können für den Rechtsetzer externen Druck aufbauen. Insofern ist als erster Schritt eine Differenzierung zwischen „ausländischen“ und „inländischen Akteuren“ geboten. Unter dem Subtypus „ausländische Akteure“ können dann van Wallendaels Ideen Eingang finden. Hier kann zum einen im Hinblick auf die „Art des Drucks“ und zum anderen auf die „möglichen Druck ausübenden Akteure“ differenziert werden. Der erste Subtypus unter der Kategorie „Art des Drucks“ ist die „Androhung physischer Gewalt“. Er umfasst die von van Wallendael angeführten Beispiele wie die Oktroyierung von Recht durch Kolonialmächte. Auch damit verwandte Formen der Druckausübung wie etwa durch militärische Besatzung (Beispiel: Die Rezeption der MacArthur-Verfassung in Japan) sind von diesem Subtypus erfasst. Der zweite Subtypus trägt die Überschrift „Druck aufgrund rechtlicher Bindungen“.147 Die vom Rezipienten befürchtete Konsequenz liegt hier nicht in der Anwendung physischer Gewalt durch den Druckausübenden. In diesem Subtypus geht es vielmehr um eine formalrechtliche Bindung des Rezipienten an externe Vorgaben. Der Druck ergibt sich somit aus den befürchteten Folgen, die der Rechtsetzer ertragen muss, wenn er das Recht nicht gemäß diesen formalrechtlichen Vorschriften übernommen hat. Den Rahmen für eine solche rechtliche Bindung kann insbesondere ein „völkerrechtlicher Vertrag“ bieten.148 Unter diese Kategorie fallen auch große Teile des EU-Rechts. Das gilt unabhängig von der Bindungswirkung der EU-Normen.149 Sie leitet sich aus den (völkerrechtlichen) EU-Verträgen ab.150 Insoweit hat auch die Über147 148
Schon bei Lohse, Rechtsangleichungsprozesse in der Europäischen Union, S. 101. Mit der Problematik, ob normativer Zwang überhaupt zu einem Rechtstransfer im engeren Sinne führen kann oder ob jede Übernahme völkerrechtlicher Normen in eine nationale Rechtsordnung eine Rechtsübernahme darstellt, befasst sich Lohse in Lohse, Rechtsangleichungsprozesse in der Europäischen Union, 101 f. Für den Rechtstransferbegriff im hier verwendeten Sinne gilt, wie soeben angeführt, dass Richtlinien regelmäßig „vermittelte Rechtstransfers“ darstellen. 149 Vgl. grundlegend: EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1253 – Costa/E. N. E. L. 150 Die Frage, inwieweit EU-Recht (soweit es in den Mitgliedstaaten unmittelbare Anwendung findet und dort auch Anwendungsvorrang hat) Völkerrecht im engeren Sinne darstellt, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Denn hier wird lediglich hinsichtlich der Urheberschaft des rechtlichen Drucks differenziert. Insoweit bestehen keine nennenswerten Unterschiede zwischen dem EU-Recht und dem Völkerrecht.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
tragung des Prinzips der Independent-Regulatory-Agencies aus den USA über die europäische Gesetzgebung nach Deutschland den Charakter eines Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ in Form von rechtlichen Bindungen. Ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland aufgrund der nicht zureichenden Umsetzung der Richtlinie wurde bereits eingeleitet.151 Ebenso bedeutsam wie multilaterale völkerrechtliche Verträge sind bilaterale Verträge wie Regierungs- und Verwaltungsabkommen. Auch hier können Staaten dazu verpflichtet werden, fremdes Recht nachzubilden. Hält ein Rechtsetzer diese Verpflichtungen nicht ein, drohen ihm möglicherweise Sanktionen. Die Art und Höhe dieser Sanktionen hängen freilich von den konkret getroffenen Vereinbarungen im völkerrechtlichen Vertrag ab. Teilweise mag die Sanktion in einer Geldstrafe liegen, teilweise aber „lediglich“ im schwindenden politischen Vertrauen im Ausland. Der dritte Subtypus erfasst Arten von Druck, die sich weder einem physischen Zwang noch einer vertraglichen Bindung zuweisen lassen. Bei diesem Subtypus geht es vor allem um De-facto-Bindungen, die meist aus wirtschaftlichen Zwängen heraus entstehen. Die praktisch bedeutsamsten Fälle dieser faktischen Bindungen kennen wir aus den US-Modellgesetzen, wie etwa dem Washington Consensus. Diese Modelle waren nicht (immer) Teil eines völkerrechtlichen Vertrages. Somit bestand keinerlei rechtliche Bindung für die Staaten, diese Modellgesetze umzusetzen. Die Modellgesetze stellten lediglich Empfehlungen dar. Die meisten von ihnen waren für Regierungen verschiedener Entwicklungsländer ausgearbeitet worden. Es waren „Vorbildregelungen“, von denen man sich versprach, dass sie auch in diesen Ländern zur Förderung von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum beitragen könnten. Entwicklungsländer, die freiwillig kooperierten und diese Modellgesetze übernahmen, konnten auf die weitere Förderung durch die Vereinigten Staaten hoffen. Dazu gehörte beispielsweise ein besserer Zugang zu Strukturanpassungsprogrammen sowie bessere Bewertungen durch die „Indicator Surveys“.152 Da viele Staaten faktisch auf diese Programme angewiesen waren, übten die Modellgesetzprojekte einen indirekten Druck auf diese Länder aus.153 Die Differenzierung zwischen „Androhung physischer Gewalt“, „rechtlicher Bindung“ und „De-facto-Bindungen“ ist sinnvoll. Die Art der Drucksituationen kann einen nicht unerheblichen Einfluss auf das methodische Vorgehen des rezipierenden Rechtsetzers bei Rechtstransfers haben. So sind die Mitwirkungs151 Siehe: Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland, Pressemitteilung vom 19.7.2018. Abrufbar unter (https://ec.europa.eu/germany/news/20180719-bundesnetzagenturnicht-unabhaengig-kommission-verklagt-deutschland_de; Stand 28.01.2021). 152 Vgl. nur Kaneko, Journal of International Cooperation Studies 19 (2012), 1. 153 Die Übernahme von Modellgesetzen kann auch unter den Typus „Rechtstransfer aufgrund fremden Prestiges“ zur Geltung kommen. Das Abgrenzungskriterium ist die (faktische) Autonomie, die dem Rechtsetzer bei seiner Entscheidung, fremdes Recht zu übernehmen, gewährt ist. Die Übergänge sind jedoch auch hier stets fließend.
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
129
möglichkeiten eines Rezipienten im Rahmen des kolonialen Transfers oder im Rahmen von kriegerischen Besatzungen regelmäßig sehr eingeschränkt. Häufig ist er nicht einmal mehr in vollem Umfange eigenverantwortlich tätig. Die Hoheit über die Entscheidung, ob und wie das fremde Recht rezipiert werden soll, wird ihm – zumindest in letzter Konsequenz – in diesen Fällen regelmäßig genommen. Wie im Fall der Rezeption der MacArthur-Verfassung in Japan überwacht der externe Akteur die Rechtsetzung oder nimmt sogar auf das Resultat der Übernahme Einfluss. Bei Rechtstransfers, die ein Rechtsetzer aufgrund einer vertraglichen Bindung durchführt, ist dieser hingegen meist autonomer. Sein Risiko besteht lediglich in der öffentlichen Kritik, einer (gerichtlichen) Feststellung, dass die Verpflichtung nicht erfüllt wurde, oder hinsichtlich (nachträglicher) Sanktionen. Bei De-facto-Bindungen“ spielen wiederum sehr unterschiedliche Fragen eine Rolle. Inwieweit sich ein Rechtsetzer dem indirekten Druck durch solche Programme wie dem Washington Consensus beugt, hängt schließlich auch verstärkt von ideologischen, strategischen und politischen Faktoren ab. Auf die unterschiedlichen ausländischen Akteure, die bei einem Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ mitwirken können, wurde bereits eingegangen. Dies sind zum einen fremde Staaten, supranationale Organisationen und internationale Organisationen, welche Ausdruck des Willens bestimmter Staaten sind („staatliche Akteure im weiteren Sinne“). Zum anderen sind dies global agierende NGOs und sonstige transnationale Interessenverbände („gesellschaftliche Akteure“). Geht man nun wieder einen Schritt im Typologiebaum zurück und befasst sich mit möglichen Subtypen für Rechtstransfers, bei denen inländische Akteure Druck ausgeübt haben: Hier kann man unterscheiden zwischen Akteuren, die direkten Einfluss auf den Rechtsetzungsprozess haben („politische Akteure“) und Akteuren, die ihre Machtstellung aus der Gesellschaft heraus für die Beeinflussung des Rechtsetzerwillens ausnutzen („gesellschaftliche Akteure“). Zum ersten Typus zählen etwa politische Parteien, zum zweiten Typus gehören interessengetriebene Gruppen wie Lobbyverbände, Gewerkschaften oder NGOs. Nun folgt ein Überblick über den „Typologiebaum“ speziell zum Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ – diesmal unter Einbeziehung der soeben herausgearbeiteten Subtypen (Abb. 9).
b) Subtypen des „Prestigeerzeugenden Rechtstransfers“ Auch der „prestigeerzeugende Rechtstransfer“154 gibt Anlass für Subkategorisierungen. Prestige bedeutet, dass auf die Autorität einer bestimmten Rechtsordnung oder Institution vertraut wird. Die Autorität hat die Folge, dass der Rechtstransfer aufgrund seiner Herkunft weniger inhaltlicher Rechtfertigung 154
Siehe bereits oben unter D. II. 1. d).
Zweckrichtung der Druckausübung Verfolgung öffenlicher Interessen
Drittinteressenvertretung
Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer
Druck durch ausländische Akteure
Abbildung 9: Subtypen zu Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“
Rechtstransfer aufgrund externen Drucks
Druck ausübende Akteure
Druck durch inländische Akteure
Art des Drucks
Akteure
Gesellschaftliche Akteure
Politische Akteure
De-factoBindungen
Rechtliche Bindung
Androhung physischer Gewalt
Gesellschaftliche Akteure
Staatliche Akteure im weiteren Sinne
Multilaterale Beziehungen
Bilaterale Beziehungen
Militärische Besatzung
Kolonisierung
130 D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
131
bedarf.155 Das „Prestige“ eines fremden Rechts ist selten der einzige Grund für eine Rechtsübernahme. Es ist häufig nur einer von vielen Gründen, dafür aber vermehrt anzutreffen. In der Literatur finden sich unterschiedliche Begriffe für „Prestige“ im Zusammenhang mit der Übernahme von Recht: Die Rede ist von „intellektuellem Prestige“, von „politischem und/oder ökonomischem Prestige“156 und schließlich von Prestige, welches auf „Bewunderung“ oder einer ausgeprägten „Werteidentifikation“ beruht.157 Träger von intellektuellem Prestige im Zusammenhang mit Rechtstransfers sind regelmäßig wissenschaftliche Fachkreise oder Institutionen im Geberland, die einen Ruf für qualitätvolle Arbeit haben. Intellektuelles Prestige geht meist von starken Rechtstraditionen aus. Intellektuelle Prestigeträger weisen oft eine internationale Präsenz auf und sind offen für den rechtswissenschaftlichen Diskurs. Auch wenn intellektuelles Prestige in der Theorie in keinem Zusammenhang mit der ökonomischen Stärke eines Landes stehen muss, beobachten einige Autoren, dass es meistens die wirtschaftlich stärkeren Nationen sind, aus denen prestigeträchtige Rechtsideen entstehen.158 Intellektuelles Prestige besteht also nicht nur aus „guten Ideen“, die auf einer internationalen Plattform angepriesen werden. Es müssen auch Ideen sein, die den Ruf haben, sich in das rechtskulturelle Umfeld des Rezipienten einpflegen zu lassen. In der Regel ist dafür wiederum die kulturelle Nähe zweier Rechtssysteme von Bedeutung. Ob ein Land Recht aus einer anderen Jurisdiktion aufgrund deren Prestiges übernimmt, hängt stark davon ab, inwieweit Geberland und Rezipient auf ähnliche Traditionen zurückgehen.159 Der Grundsatz, dass das (relative) Prestige eines Rechtssystems mit der kulturellen Nähe von Recht des Rezipienten korreliert, verliert jedoch erfahrungsgemäß dann an Bedeutung, wenn sich ein Rezipient in einem politischen oder kulturellen Transformationsvorgang befindet. Besonders eindrücklich zeigt dies das Beispiel der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei. Hier forcierte die türkische Regierung einen rechtskulturellen Wandel vom islamischen Recht hin zu einem westlich-orientierten Rechtssystem. Man wählte mit dem schweizerischen Recht eine Jurisdiktion aus, die den türkischen Juristen völlig 155 156
Miller, The American Journal of Comparative Law 51 (2003), 839 (880). DeLisle, University of Pennsylvania Journal of International Economic Law 20 (1999), 179 (281,302). 157 Blum, Stanford Law Review 60 (2008), 2131 (2160). 158 So z. B. Mattei, American Journal of Comparative Law 42 (1994), 195. Dort auch zu möglichen Einflussfaktoren von intellektuellem Prestige am Beispiel von Frankreich, Deutschland und den USA. 159 Nur durch die gemeinsamen Wurzeln im römischen Recht konnten die Ideen berühmter Rechtswissenschaftler Frankreichs und später Deutschlands grenzüberschreitende Wirkung entfalten. Ein aktuelles Beispiel ist die Übernahme der von Canaris geprägten Rechtsprinzipien der Vertrauenshaftung und des „einheitlichen gesetzlichen Schuldverhältnisses“ in der Schweiz. vgl.: Wiegand, in: Heldrich (Hrsg.), Festschrift für Claus-Wilhelm Canaris zum 70. Geburtstag, S. 881.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
fremd war. Entscheidend für die Wahl des schweizerischen Rechts war unter anderem aber das Prestige des schweizerischen ZGB als „das neuste, vollkommenste und volkstümlichste“.160 Man orientierte sich also nicht an „kulturell näheren“ Rechtsordnungen oder wirtschaftlich bedeutenden Nationen wie Deutschland oder Frankreich. Unter den vielen in Betracht kommenden Rechtsordnungen wählte die Türkei die Schweiz – aufgrund eines „intellektuellen Prestiges“. Mit dem Recht selbst „importierte“ man auch Wissenschaftler, die das Prestige der schweizerischen Rechtsordnung verkörperten und den Rezeptionsvorgang fachlich begleiten sollten.161 Beim politischen Prestige wird meist abstrakt auf eine globale gesellschaftliche Führungsrolle Bezug genommen. Beispiele sind die bereits erwähnten Übernahmen der Modellgesetze durch Entwicklungsländer – etwa auf Grundlage des Washington Consensus.162 Bei diesem Typus von Prestige geht es nicht zentral um den Inhalt der Norm, sondern um die Anerkennung einer wirtschaftlichen Vormachtstellung oder einer globalen Führungsrolle des Prestigeträgers.163 Auch die Rezeption des ZGB in der Türkei hat Komponenten eines Transfers aufgrund politischen Prestiges. Die Wahl des schweizerischen ZGB war zugleich die Wahl für ein modernes Recht, das man wählte, um sich dem mittel- und westeuropäischen Rechtskreis anzunähern. Man versprach sich dadurch eine größere Nähe zu wirtschaftlich und politisch bedeutenden Nationen. Auch die Übernahme des deutschen Sachenrechts durch Estland ist in die Kategorie „politisches beziehungsweise ökonomisches Prestige“ einzuordnen. Der estnische Gesetzgeber war „bereit, einen Schritt zu einer neuen, durch westliche Standards geprägten Rechtskultur zu machen“.164 Das Prestige bestand für Estland also nicht vordergründig in der inhaltlichen Überzeugungskraft europäischer Normen, sondern in der (wirtschaftlichen) Attraktivität der Europäischen Union für die Zukunft Estlands. In diesem Fall standen also insbesondere ökonomische Anreize im Vordergrund. 160 So in der amtlichen Begründung des Gesetzes durch Bozkurt – die Übersetzung übernommen von Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (142). 161 Örücü, Journal of Comparative Law 1 (2006), 261 (265) Besonders zu erwähnen ist der schweizerische Wissenschaftler Sauser-Hall, der von 1925–1931 im türkischen Justizministerium tätig war und zudem an der Istanbuler Fakultät der Rechtswissenschaften lehrte. Eine ebenfalls bedeutende Rolle spielte der deutschstämmige Jurist Ernst Hirsch, der im Jahr 1933 in die Türkei emigrierte und den Reformprozess in der Türkei akademisch begleitete. Vgl. Mumcu, in: Scholler/Tellenbach (Hrsg.), Westliches Recht in der Republik Türkei 70 Jahre nach der Gründung, S. 17 (44 f.). Zu den Hintergründen der Emigration einiger deutscher Wissenschaftler zu dieser Zeit siehe auch Widmann, Exil und Bildungshilfe – Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933. 162 Siehe dazu bereits oben unter a). 163 Eine Abgrenzung zwischen dem Typus Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ und dem Typus „Prestigeerzeugender Rechtstransfer“ fällt in diesen Konstellationen – wie bereits erwähnt – nicht immer leicht. 164 Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (80 f.).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
133
Schließlich kann Prestige auch Ausdruck einer Werteverbundenheit oder Sympathie mit dem Rezipienten sein. Typisch für diese Kategorie sollen kulturelle und geschichtliche Verbindungen von Kolonialstaaten zur ehemaligen Kolonialmacht sein, die zu Nachahmungen führten.165 Ein anderes Beispiel ist die Rezeption des deutschen Zivilrechts in China und Japan Ende des 19. Jahrhunderts beziehungsweise Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Deutsche Kaiserreich galt als Staat mit einer feudalen und auf einem starken Militär beruhenden Tradition. Sein nur begrenztes koloniales Engagement in der ost-asiatischen Region, erfreute sich ganz besonders in China und Japan einer besonderen Sympathie. Dies spielte bei der Entscheidung, gerade deutsches Recht zu übernehmen, eine Rolle.166
c) Faktoren für ein strukturelles Näheverhältnis (Subtypen) Markovits spricht zwei Rechtstransfermerkmale an, die dem Typus des „strukturellen Näheverhältnisses“ (nach Kviatek)167 als Subtypen zuzuordnen sind. Zum einen geht es um den „Innovationsgrad“ einer Norm an – also wie „neu“ der Regelungsinhalt einer transferierten Norm für das Rechtssystem des Rezipienten ist. Zum anderen geht es um den Faktor der „System(un)abhängigkeit“ einer Norm. Damit ist gemeint, inwieweit ein zu übertragendes Regelungswerk in seiner praktischen Anwendung mit anderen Regelungen des Rezipienten in Berührung kommt oder es als „eigenes System innerhalb des Systems“ funktioniert. Diese beiden Merkmale können sich auch auf den Erfolg oder Misserfolg eines Rechtstransfers auswirken. Die Integration einer Norm in ein fremdes System – so der Gedanke – verläuft reibungsloser, wenn die Norm so wenig wie möglich mit dem etablierten System in ihrem neuen Umfeld verknüpft ist.168 Das gilt zum einen für den „Innovationsgrad“ einer Norm: Wird eine bestehende Regel durch eine neuartige Regel ersetzt, sind – so die These – weniger Widerstände zu erwarten als in Fällen, in denen eine Regel im neuen Rechtssystem modifiziert wird. Bei dieser These hatte Markovits insbesondere Rezeptionen in osteuropäischen Ländern vor Augen. Hier unterzogen sich die Staaten einem großen strukturellen Wandel, der auch eine Vielzahl von Rechtsrezeptionen aus westlichen Staaten nach sich zog. Zudem bestanden häufig große (rechts-)kulturelle Unterschiede zwischen dem Rezipienten und dem Exporteur. In Anbetracht dessen wird ihre These plausibel: Versucht ein Rechtsetzer einerseits ein Rechtsgebiet, welches bereits stark in seiner Rechtskultur verankert 165 Blum, 166 Siehe
Stanford Law Review 60 (2008), 2131 (2160). besonders zu Japan: Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 292; Wendehorst, in: Jehle/Lipp/Yamanaka (Hrsg.), Rezeption und Reform im japanischen und deutschen Recht, S. 19 (23) Zu China: Shao, Juristenzeitung 54 (1999), 80 (83). 167 Vgl. oben D. II. 3. a). 168 Markovits, Cornell International Law Journal 34 (2004), 95 (99 ff.).
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
ist, nur an einigen Stellen mittels fremden Rechtskonzepten zu reformieren, und versucht er andererseits aber andere Teile des Systems in seiner ursprünglichen Form beizubehalten, kann dies manchmal zu größeren Schwierigkeiten führen, als wenn ein für das Rechtssystem komplett neues, dafür aber erprobtes Gesamtkonzept aus dem Ausland übernommen wird. Als Beispiel für einen Rechtstransfer mit hohem Innovationsgrad kann die Übernahme kartellrechtlicher und konkursrechtlicher Regeln durch die „Ostblock-Staaten“ nach dem Fall der Sowjetunion dienen.169 Beide Rechtsgebiete waren dort noch „unbekannte Güter“.170 Selbst Länder, die bereits einige wenige Erfahrungen in diesen Rechtsgebieten gemacht hatten, vermieden es, diese zur Grundlage für ihre Reformen zu machen. Vielmehr orientierten auch sie sich weitgehend „unvoreingenommen“ an den Regeln mittel- und westeuropäischer Staaten. Dieses Vorgehen scheint – nach Markovits Beobachtungen – in vielen osteuropäischen Staaten erfolgreich gewesen zu sein. Ihre These zum Innovationsgrad mag für Länder zutreffen, die einen radikalen systemischen und gesellschaftlichen Wandel vollziehen. Möchte man seine althergekommene Rechtskultur und gesellschaftlichen Strukturen „loswerden“, so mag es sinnvoll sein, komplett neue Rechtsinstitute zu schaffen. Dies ist aber freilich nicht die Regel. Die Regel ist vielmehr, dass der Rechtsetzer einen methodischen Balanceakt zwischen der Anpassung des eigenen Systems an die fremde Norm und der Anpassung der fremden Norm an das eigene System vollziehen. Der Grundsatz „Im Zweifel alles neu“, wie ihn Markovits vorschlägt, würde diese kleinteilige Arbeit zu Unrecht erschlagen. Es ist somit zweifelhaft, ob ihre These als allgemeiner Grundsatz gelten kann. Gerade bei Rechtstransfers mit geringerem Umfang oder bei Reformen, bei denen keine großen rechtskulturellen Unterschiede zwischen Exporteur und Rezipienten existieren, wird der Innovationsgrad regelmäßig kein entscheidendes Kriterium für den Erfolg oder Misserfolg sein. Solange diese Einschränkung klar ist, spricht allerdings auch nichts dagegen, das Merkmal „Innovationsgrad“ in die Typologie zu integrieren. Ein weiterer struktureller Aspekt, der für den Erfolg von Rechtstransfers relevant sein kann, stellt die „System(un)abhängigkeit“ der zu rezipierenden Norm dar. Je unabhängiger das zu transplantierende Regelungskonstrukt von anderen Normen im neuen Rechtssystem ist, desto weniger Probleme können bei der rechtsdogmatischen Integration der Normen aufkommen. Je weniger das transplantierte ausländische Recht mit anderen Normen aus der heimischen Rechtsordnung „ineinandergreifen“ muss, desto einfacher lässt sich dieses neue Rechtsinstrument in das heimische System integrieren. Diesen Faktor der „System(un)abhängigkeit“ einer Norm vergleicht Markovits mit der Eigenschaft 169 170
Markovits, Cornell International Law Journal 34 (2004), 95 (99 f.). Markovits, Cornell International Law Journal 34 (2004), 95 (100).
III. Eigener Ansatz für eine problemorientierte Typologie
135
einer Topfpflanze: Sie spricht von Normen als „eigenständige Organismen, die ihre eigenen Lebensgrundlagen mit sich tragen und die, wie eine Topfpflanze, überall dort hingestellt werden können, wohin der Rezipient es sich wünscht (und das Licht gut ist).“171 Markovits Beispiel für einen Regelungsbereich mit einem hohen Grad an Systemunabhängigkeit sind die Regelungen zum Alternativen Konfliktlösungsverfahren. Diese Regelungen seien „einfach zu verkaufen, da sie sich nicht mit dem Rechtssystem des Rezipienten verzahnen müssen.“172 In der Tat haben Regelungen173, welche die gesetzlichen Rahmenbedingungen für alternative Konfliktlösungen festlegen, regelmäßig weniger Verweise und Querverbindungen in andere Rechtsgebiete. Ob man der These, dass der Rechtsbereich des „Alternative Dispute Resolution“ deshalb per se ein besonders gut geeigneter Rechtstransfergegenstand darstellt, kann allerdings bezweifelt werden. Speziell in diesem Bereich haben verschiedene rechtsvergleichende Studien – nicht zuletzt solche, die sich mit der Übernahme des skandinavischen Ombudsman-Modells beschäftigen174 – aufgezeigt, wie sehr unterschiedlich die traditionellen Lösungsansätze im Bereich alternativer Konfliktlösungen sind. Unabhängig davon, kann aber überhaupt schon daran gezweifelt werden, dass die Systemunabhängigkeit notwendigerweise eine Erleichterung für die Transplantation fremden Rechts bedeuten muss. Die Herstellung von dogmatischen Verknüpfungen und die damit einhergehende Integration fremden Rechts kann dabei helfen und ist manchmal sogar notwendig, um fremdes Recht in seinem neuen Umfeld funktionstüchtig zu machen. Eine – wie sie Markovits propagiert – „inselhafte“ von anderen Rechtsstrukturen weitgehend isolierte Einbettung des fremden Rechts kann hingegen dazu führen, dass das fremde Recht stets ein Fremdkörper im neuen System bleibt. Eine Systemabhängigkeit muss daher besonders kritisch hinterfragt werden. Ebenso wie der Aspekt des „Innovationsgrads der Norm“ ist mithin auch die Frage der „System(un)abhängigkeit“ einer Norm ambivalent. Dennoch lohnt es sich, auch dieses Merkmal in die Typologie aufzunehmen. Denn dass die System(un)abhängigkeit der transplantierten Norm durchaus einen Einfluss auf den Erfolg oder Misserfolg eines Rechtstransfers ausüben kann, wurde in der Diskussion deutlich.
171 Markovits, Cornell International Law Journal 34 (2004), 95 (99). Eigene Übersetzung aus dem Englischen. 172 Markovits, Cornell International Law Journal 34 (2004), 95 (99). 173 Im deutschen Recht regeln diesen Bereich das 10. Buch der Zivilprozessordnung sowie einige Einzelgesetze wie das Mediationsgesetz oder das Verbraucherbeilegungsgesetz. 174 Vgl. speziell zur Transplantation des Ombudsmann-Modells in unterschiedliche nationale Rechtsordnungen: Creutzfeldt, Ombudsmen and ADR, S. 36 ff.
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten
IV. Vorschlag für eine problemorientierte Rechtstransfertypologie Aus den Typologieansätzen in der Literatur und den ergänzten eigenen Ideen folgt ein eigener ganzheitlicher Vorschlag einer problemorientierten Rechtstransfertypologie. Die folgenden Ausführungen sind nicht abschließend. Zudem ist anzumerken, dass diese Typologie keine statische oder eine für immer geltende Bestandsaufnahme darstellt. Die Problemrelevanz bestimmter Merkmale wandelt sich mit der Bedeutung des Rechtstransfers und der Art und Weise ihrer Umsetzung. So ist es etwa nicht ausgeschlossen, dass sich mit zunehmender Harmonisierung die rechtskulturelle Problematik irgendwann deutlich weniger stellen wird als bislang. Ebenso ist es möglich, dass sich bestimmte Systeme wieder zunehmend auf ihre Wurzeln berufen, sodass rechtskulturelle Unterschiede sich mit der Zeit sogar verfestigen könnten. Die Rolle von Rechtsübernahmen hängt auch davon ab, inwieweit die Entscheidungsträger weiterhin die Bereitschaft verspüren, Recht von fremden Jurisdiktionen zu übernehmen. Diese Entwicklungen sind freilich schwer vorauszusehen und auch nicht Teil dieser Arbeit. Eine problemorientierte Rechtstransfertypologie muss sich diesen Entwicklungen ebenfalls anpassen. Sie ist beschreibender Teil eines dynamischen Prozesses. Der methodische Nutzen einer solchen Typologie steigt, wenn sie die relevanten Eigenschaften und Merkmale von Rechtstransfer möglichst „engmaschig“ ausdifferenziert. Je breiter der Anwendungsbereich der Typen, desto geringer ist ihre Aussagekraft. Die Rechtstransferwissenschaft muss induktiv weitere Kausalitäten bestimmter Rechtstransfermerkmale mit Problemfeldern entdecken und in die Typologie einordnen. Dies kann zumindest anfangs nach dem „Trial-and-Error“-Verfahren funktionieren. „Trial“ bedeutet hier, an einem oder mehreren Rechtstransfervorgängen Merkmale ausfindig zu machen, die – womöglich – für die Frage des Erfolgs des Rechtstransfers von Relevanz waren. Zeigen jedoch weitere Untersuchungen, dass diese Konstellation in ähnlichen gelagerten Rechtstransfers zu keinen Problemen geführt hat, verliert dieses Merkmal auf lange Sicht seinen „Status“ als problemrelevanter Faktor („Error“). Bestätigen sich hingegen diese Tendenzen empirisch, etabliert sich auch der Typus langfristig im Aufmerksamkeitsraster. Die Notwendigkeit, die Problemrelevanz durch Erfahrungswerte zu überprüfen, betrifft selbstverständlich auch die hier erarbeiteten Rechtstransfertypen. Im Folgenden sollen diese zusammengefasst dargestellt werden:
IV. Vorschlag für eine problemorientierte Rechtstransfertypologie
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Geografische Nähe Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen Strukturelle Bedingungen
Innovationsgrad der zu transplantierenden Norm Grad der Systemabhängigkeit der zu transplantierenden Norm „Transplant Bias“
Bedingungen beim Rezipienten (nach Kviatek)
Unterstützung durch die herrschenden Elite Idelle Bedingungen
Oppositionsbewegungen Auf Konsens bedachte politische Kultur
Institutionelle Bedingungen
Ähnliche Ausgestaltung und Funktionsweise der staatlichen Institutionen Grad an institutioneller Verflechtung
Rechtstransfer zwecks Zeit- und Kostenersparnis Rechtstransfer aufgrund externen Drucks (siehe Abb. 9, S. 130)
Politischer/motivatorischer Hintergrund des Rechtstransfers (nach Miller/Cohn)
Prestigeerzeugender Rechtstransfer Rechtstransfer zu inhaltlichen Optimierungszwecken
Intellektuelles Prestige Politisches Prestige Werteidentifikation
Rechtstransfer zwecks Rechtsharmonisierung mit ausländischem Recht Rechtstransfer zwecks Signalwirkung (Likhovski)
Abbildung 10: Ordnungsmuster 1: Ausgangsituation beim Rezipienten
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D. Die Typisierung problemrelevanter Rechtstransferarten Kultureller Gehalt der Norm nach Rechtsgebieten Kultureller Gehalt der Norm als Spektrum
Bedingungen beim Rezipienten (nach Kviatek)
Steuerungsfunktion des zu übertragenden Rechts (nach Hoffmann-Riem)
Imperatives Recht Leistendes Recht Stimulierendes Recht Instrumentelle Gemeinschaften Traditionelle Gemeinschaften
Durch die Norm betroffene gesellschaftliche Gruppen (nach Cotterell)
Glaubensgemeinschaften Affektive Gemeinschaften
Technische Norm
Normbeschaffenheit im weiteren Sinne
Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe Grad des Ermessensbzw. Beurteilungsspielraums des Rechtsauslegers
Abbildung 11: Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Eigenschaften Gesetzgeber Am Rezeptionsprozess beteiligte Akteure
Gerichte Interessengruppen Mittelbare Akteure Direkter Transfer
Übertragungsweg
Vermittelter Transfer Eklektischer Transfer
Abbildung 12: Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis Sinn und Zweck der problemorientierten Rechtstypologie ist es, Probleme bei Rechtstransfers für Rechtsetzer sichtbarer und überschaubarer zu machen. Die Idealtypen zeigen die Bandbreite an verschiedenen Konstellationen auf, in denen Rechtstransfers vorkommen können. Die Problemursachentypen machen deutlich, welche Hindernisse dem Gelingen von Rechtstransfers im Weg stehen können. Beide Typologien haben eine Aussagekraft. Keine der beiden Typologien ist aber für sich genommen bereits praxistauglich. Hilfreich für den Praktiker werden beide Typologien nur, wenn sie zusammengeführt – quasi kombiniert – werden. Das bereits erwähnte Konzept des Aufmerksamkeitsrasters soll genau diese Verknüpfung herstellen. Rechtsetzer, die ihr Rechtstransfervorhaben auf mögliche Risiken überprüfen, soll dieses Raster auf manche potenziellen Probleme „aufmerksam“ machen. Die Verknüpfung zwischen Problemursachentypen von Rechtstransfers auf der einen Seite und den Idealtypen auf der anderen Seite kann nur mittels der Empirik realisiert werden. Damit drängt sich die Frage auf: Welcher empirischen Methoden muss sich bedient werden, damit die Idealtypen und die Problemtypen so zueinander finden, dass das Aufmerksamkeitsraster funktionieren kann? Diese Frage wird sogleich unter (I.) erörtert werden. Eine ebenso wichtige und weiterführende Frage ist, wie der Rechtsetzer das Aufmerksamkeitsraster später anwenden soll. Dies ist Gegenstand des zweiten Teils des Kapitels (II.). Im dritten Teil soll schließlich auf verbleibende methodische Herausforderungen bei der Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters eingegangen werden (III.).
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers am Beispiel der Rezeption der MacArthur-Verfassung in Japan Die unter D. herausgearbeitete problemorientierte Rechtstransfertypologie orientiert sich an Idealtypen von Rechtstransfers. Ihr kommt Veranschaulichungswert zu, da sie das breite Spektrum von Eigenschaften, Hintergründen und Motivationen aufzeigt, mit denen Rechtstransfers in Verbindung stehen. Etwas Ähnliches gilt auch für die zuvor herausgearbeitete Typologie von Problem-
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
typen. Sie zeigt auf, welche Arten von Problemen zu welchem Zeitpunkt im Rechtstransferprozess entstehen können. Auch dies kann Rechtsetzer schon als Sensibilisierung für eigene Rechtstransferaufgaben dienen. Beide sind für sich genommen aber zu abstrakt. Ihre Erkenntnisse lassen sich nicht unmittelbar auf der Ebene der Praxis anwenden. Wie schon eingangs erläutert, kann der Nutzen für die Praxis in einer empirischen Verknüpfung der beiden Typologien liegen. Hat man empirische Daten darüber erhoben, die darüber Auskunft geben, bei welchen (Ideal-)Typen von Rechtstransfers tendenziell häufiger welche Typen von Problemen auftauchen, können diese Ergebnisse auch für konkrete Rechtstransfervorhaben brauchbar gemacht werden. Die Praxistauglichkeit des Aufmerksamkeitsrasters hängt stark davon ab, wie treffsicher und in welcher Menge diese Daten erhoben werden. „Treffsicherheit“ bedeutet, dass im Rahmen der empirischen Untersuchungen unter dem jeweiligen Idealtyp auch eine treffende Subsumtion des untersuchten Rechtstransfers erfolgt. Das kann insbesondere dort zu Problemen führen, wenn die Typen nicht klar eingegrenzt werden. Ein weiterer Aspekt, der zu berücksichtigen sein wird, ist, dass die erarbeitete problemorientierte Rechtstransfertypologie nicht aus Realtypen, sondern aus Idealtypen besteht. Idealtypen sind idealisierte theoretische Modelle, die in einer Reinform (praktisch) nicht zu finden sind. Eine empirische Verknüpfung zwischen Rechtstransfertypen und Rechtstransferproblemen erfordert jedoch stets eine Subsumtion des zur Datenerhebung untersuchten Rechtstransfers unter einen Typus. Diese Subsumtion kann schon deshalb nicht immer eindeutig sein, da ein Idealtyp üblicherweise eher eine Art „Überzeichnung“ ist als ein klar umrissener Begriff, unter dem eindeutig subsumiert werden kann. Damit gehen auch begriffliche Unschärfen einher, die sich wiederum bei der Subsumtion bemerkbar machen. Aus diesen Gründen ist es also umso wichtiger, die Rechtstransfermerkmale so klar wie möglich voneinander abzugrenzen. Ebenfalls von Bedeutung ist die Menge an Daten, mit denen das Aufmerksamkeitsraster „gefüttert“ wird. Die „Fütterung“ des Aufmerksamkeitsrasters geschieht durch Analysen verschiedener Rechtstransfers im Hinblick auf ihre Typeneigenschaften und auf ihre Umsetzungsprobleme.1 Diese Analysen müssen schließlich in den „Datensatz“ des Aufmerksamkeitsraster „eingepflegt“ werden. Je mehr solcher Rechtstransferstudien im Aufmerksamkeitsraster berücksichtigt werden können, desto aussagekräftiger ist das Aufmerksamkeitsraster für die Sensibilisierung des Rechtsetzers für mögliche Probleme bei seiner Rechtstransplantation. Um an diese Daten zu gelangen, muss sich die Rechtstransferwissenschaft mit den Zusammenhängen von Rechtstransfermerkmalen und den Problemursachentypen häufiger und strukturierter auseinandersetzen. Rechtstransferstudien müssten künftig auf das Aufmerksamkeitsraster aus1
Dazu noch sogleich unter I.
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
141
gerichtet werden. Dazu ist erforderlich, in der Vergangenheit liegende Rechtstransfers auf ihre Merkmale und Probleme zu untersuchen und die Ergebnisse in einem Raster zu speichern. Im besten Fall bringt die Untersuchung jedes einzelnen Rechtstransfers Hinweise darauf, ob bestimmte Merkmale des Rechtstransfers für die Entstehung der Probleme (mit-)ursächlich waren oder nicht. Des Weiteren sollen aber auch Maßnahmen identifiziert werden, die für den Erfolg des jeweiligen Rechtstransfers förderlich waren. So schafft es das Raster langfristig, sowohl Verknüpfungen von Typenmerkmalen und Problemen herzustellen als auch Strategien für das Gelingen von Rechtstransfers zu entwickeln. Die Untersuchung läuft mithin in fünf Schritten ab. Im ersten Schritt (unter 1.) ist auszuarbeiten, welche Probleme bei dem untersuchten Rechtstransfer aufgetreten sind. Grundlage für diese Untersuchung bietet die Problemursachentypologie (siehe oben unter C.). Im zweiten Schritt (unter 2.) sind die Typenmerkmale des untersuchten Rechtstransfers zu identifizieren. Hierbei kann die oben entwickelte problemorientierte Rechtstransfertypologie herangezogen werden. Die Typenmerkmale lassen sich mithilfe einer Art „Subsumtion“ des Rechtstransfers unter die oben herausgearbeiteten Idealtypen bestimmen. Zudem sollten die Typenmerkmale untereinander im Hinblick auf ihre (konkrete) Bedeutung gewichtet werden. Im dritten Schritt (unter 3.) ist zu prüfen, ob irgendein Zusammenhang zwischen den in (1.) identifizierten Problemursachen und den in (2.) identifizierten Rechtstransfertypen besteht. Zum Beispiel: War die Tatsache, dass der Rechtsetzer unter externem Druck handelte, (mit-)ursächlich dafür, dass rechtskulturelle Unterschiede (oder irgendeine andere Problemursache) zu Anwendungsproblemen geführt haben? In einem vierten Schritt (unter 4.) werden mögliche erfolgsfördernde Maßnahmen in dem untersuchten Rechtstransfer identifiziert. Welche Maßnahmen hat der Rechtsetzer ausgeführt, um seinen Rechtstransfer erfolgreich zu gestalten? Schließlich müssen die Ergebnisse der Analyse in einem fünften Schritt (unter 5.) in das Aufmerksamkeitsraster „eingefügt“ werden.
1. Erster Schritt: Identifikation von Problemen des untersuchten Rechtstransfers und deren Ursachen Ein bedeutendes Problemfeld bei der Rezeption der US-amerikanischen Verfassung war, dass die Verhandlungsteilnehmer von japanischer Seite einige Normideen der amerikanischen Besatzer unter General MacArthur nicht verstanden. Beispielhaft wurde die begriffliche Auseinandersetzung um den Rechtsbegriff jogen-to hohitsu (Rat und Zustimmung) bereits dargestellt.2 Hierbei handelt es 2
Siehe oben C. I. 1.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
sich um ein rechtsbegriffliches Missverständnis. Es wurde insbesondere bei den Regelungen zur verfassungsrechtlichen Aufgabe des Kaisers relevant, also an einer zentralen Stelle der Verfassung. Probleme bei der rechtsdogmatischen Integration waren in einigen Bereichen der neuen japanischen Verfassung ebenfalls zu beobachten. Auch hier waren sprachliche Hindernisse im weiteren Sinne die ausschlaggebende Ursache für die unplanmäßige inhaltliche Abänderung einer Vielzahl von übertragenen Rechtsprinzipien. Ein Beispiel sind die unterschiedlichen Gepflogenheiten im amerikanischen und im japanischen Recht, verfassungsrechtliche Normbefehle auszudrücken.3 Rechtskulturelle Unterschiede waren ebenfalls Ursachen für die Divergenzen in der Anwendung zwischen der japanischen Verfassung und der Verfassung der Vereinigten Staaten. Dies zeigt ein Vergleich der richterlichen Kontrolldichte des japanischen Obersten Gerichtshof und des US-Supreme Court auf.4 Schließlich haben sich bei der Übernahme der MacArthur-Verfassung auch sozio-kulturelle Unterschiede negativ ausgewirkt. Große Teile der Bevölkerung lehnten die neue japanische Verfassung als ein der japanischen Gesellschaft fremdes Geschöpf ab. Politische und soziale Kräfte sehnten sich (und sehnen sich teilweise immer noch)5 nach einer Verfassung, in welcher sich die Kultur Japans widerspiegelt. Die japanische Verfassung hatte keinen gesellschaftlichen Rückhalt und wurde mithin in vielen Bereichen praktisch irrelevant – quasi totes Recht. Zentrale Vorschriften, wie der Art. 9 der japanischen Verfassung (Verbot der Kriegsführung) wurden durch den japanischen Gesetzgeber umgangen. In Reaktion auf die US-amerikanische Besetzung von Korea wurde schon im Jahr 1950 die japanische Nationale Polizeireserve (keisatsu yobitai) errichtet, ohne dass dafür Art. 9 Verfassung abgeschafft oder geändert wurde.6 Zwar wurde diese Organisation offiziell den Ergänzungskräften der Polizei zugerechnet. Tatsächlich handelte es sich aber um einen militärischen Apparat, der nach zwei Jahren bereits 75.000 Mann umfasste und auch mit Kriegsartillerie wie Panzerfäuste, Haubitzen und Panzer ausgestattet war. Dieser Verstoß gegen die japanische Verfassung wurde auch nicht durch den Obersten Gerichtshof verhindert.7 So wies der Oberste Gerichtshof eine Klage ohne Sachprüfung mit dem Verweis auf seine fehlende Befugnis ab, über die Verfassungsmäßigkeit 3
Siehe oben C. II. 1. e). oben C. III. 1. zu der gegenwärtigen Diskussion mit Einbeziehung der historischen Debatte um Art. 9 der japanischen Verfassung: Kurishima, Zeitschrift für Japanisches Recht 21 (2016), 38. 6 Vgl. zum Folgenden Kurishima, Zeitschrift für Japanisches Recht 21 (2016), 38 (46); ausführlicher bei Abe, in: Leibholz (Hrsg.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge, S. 513 (546 f.). 7 Im Folgenden Kurishima, Zeitschrift für Japanisches Recht 21 (2016), 38 (47 f.) Dort mit weiteren Nachweisen zum Verfahrensgang. 4 Siehe 5 Siehe
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
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einer Norm bzw. eines Aktes des Staates abstrakt zu entscheiden. Auch in einem weiteren Fall ging der Oberste Gerichtshof der Frage der Verfassungsmäßigkeit aus dem Weg. So hatte ein erstinstanzliches Gericht die Verfassungswidrigkeit der „Streitkräfte“ festgestellt.8 Das zweitinstanzliche Gericht und der Oberste Gerichtshof vermieden jedoch eine Auseinandersetzung mit der Frage, indem sie den Klägern schon ein schutzwürdiges Interesse absprachen.
2. Zweiter Schritt: Identifikation von Typenmerkmalen des untersuchten Rechtstransfers Ziel dieses Arbeitsschrittes ist es, ein „Merkmals-Cluster“ für den untersuchten Rechtstransfer zu erstellen. Bei der Identifikation der Typenmerkmale wird auf die problemorientierte Rechtstransfertypologie zurückgegriffen. Dementsprechend orientiert sich die folgende Untersuchung an der Reihenfolge der oben entwickelten drei Ordnungsmuster und den darunter herausgearbeiteten weiteren Begriffsebenen. Aus Übersichtlichkeits- und Platzgründen wird im Folgenden nicht auf jedes einzelne Merkmal des Schemas eingegangen. Es wird sich vielmehr auf diejenigen Merkmale fokussiert, die als besonders relevant erscheinen. Die Gewichtung der Kategorien untereinander erfolgt am Ende der Darstellung jedes Ordnungsmusters.
a) Ordnungsmuster 1: Ausgangssituation beim Rezipienten Der erste Oberbegriff unter dem Ordnungsmuster „Ausgangssituation beim Rezipienten“, ist „Bedingungen beim Rezipienten“ (nach Kviatek). Im Hinblick auf die „Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen“ muss die ökonomische Situation zwischen Japan und den Vereinigten Staaten verglichen werden. Die Wirtschaftskraft Japans lag kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch bei einem Bruchteil des Vorkriegsniveaus.9 Es herrschte also zu diesem Zeitpunkt ein starkes wirtschaftliches Ungleichgewicht zwischen den Vereinigten Staaten und Japan. Der „Innovationsgrad“ der neu gefassten japanischen Verfassung war gering. Blickt man auf die Struktur und den Aufbau der neuen Verfassung sieht man große Ähnlichkeiten zur bis dahin geltenden Meiji-Verfassung. Japan war das Konzept einer Verfassung also nicht fremd. Die neue Verfassung war eine – ihrem Inhalt nach grundlegend reformierte – Fortsetzung einer Verfassungstradition, die mit der Meiji-Verfassung bereits begonnen hatte. Der „Grad der Systemunabhängigkeit“ der neuen Verfassung in8 Hierbei ging es um den Plan des Verteidigungsministeriums, in einem Naturschutzgebiet eine Langstrecken-Flugabwehranlage zu bauen. Gegen die Genehmigung des Ministeriums für Forst- und Landwirtschaft, wodurch die Waldschutzbestimmungen erst aufgehoben werden konnten, legten einige Anwohner Klage ein. Kurishima, Zeitschrift für Japanisches Recht 21 (2016), 38 (47). 9 Itasaka, in: Itasaka (Hrsg.), Kodansha encyclopedia of Japan.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
nerhalb des japanischen Rechtssystems war ebenfalls gering. Die Verfassung liegt in der Normenhierarchie der japanischen Rechtsordnung10 zwar grundsätzlich „über“ sonstigen Rechtsakten und Gesetzen. Aus rechtsdogmatischer Sicht mag es also richtig sein, dass die japanische Verfassung die Auslegung sonstiger Normen beeinflusst – aber nicht umgekehrt. Diese dogmatische „Unabhängigkeit“ der Verfassung von anderem Recht berücksichtigt jedoch nicht, dass die Verwirklichung einer Verfassung als Leitlinie für eine Rechtsordnung davon abhängt, ob die Gesetze diesen Richtlinien auch Folge leisten. Die japanische Verfassung und die sonstigen Rechtsakte im japanischen Rechtssystem haben also eine Wechselwirkung: Die japanische Verfassung wirkt – zumindest in der Theorie – als Grundlage und zugleich als Autorität für sonstige Rechtsakte. Diese Grundlagen- und Autoritätsfunktion muss jedoch durch die Rechtsetzungspraxis immer wieder neu bestätigt werden. Aus diesem Grund ist die Verfassung nicht vergleichbar mit dem „Prototyp“ des systemabhängigen Rechtsgebiets wie die Regeln zur alternativen Konfliktlösung.11 Die nächste Subkategorie ist der „Transplant Bias“. Dieser von Watson geprägte Begriff beschreibt, wie ein Rezipient aufgrund linguistischer Traditionen oder aufgrund des hohen Ansehens des Normexporteurs für einen bestimmten Rechtstransfer aus ebendiesem Exportland besonders prädestiniert sein kann. Japan hat insbesondere Ende des 19. Jahrhunderts einige Normen aus Deutschland (Preußen) übernommen.12 Recht aus der „westlichen Welt“ hatte Prestige in Japan. Auch die Meiji-Verfassung war nach preußischem Vorbild entstanden,13 sodass in Japan auch Rezeptionen auf dem Gebiet des Verfassungsrechts nicht neu waren. Komplettes Neuland für die Japaner waren andererseits Rezeptionen aus den Vereinigten Staaten. Alle Rezeptionen hatten bis dahin ihren Ursprung in Rechtsordnungen des Civil Law, nicht des Common Law. Gemeinsame linguistische Traditionen zwischen Japan und den Vereinigten Staaten gibt es nicht. Bei der Frage des „Transplant Bias“ ergibt sich im Falle Japans also ein gemischtes Bild. Der Oberbegriff „Ideelle Bedingungen“ führt zu der Subkategorie „Unterstützung durch die herrschende Elite“. Die MacArthur-Verfassung erhielt kei10 Eine dem deutschen Recht vergleichbare Normenhierarchie existiert auch im japanischen Recht. Vgl. z. B. Hohmann, Angemessene Außenhandelsfreiheit im Vergleich, S. 276. 11 Siehe oben D. III. 4. c). 12 So etwa die Gemeindeordnung (1888), Teile der Meiji-Verfassung (1889); das Handelsgesetzbuch, die revidierte Strafprozessordnung, die Zivilprozessordnung, das Gerichtsverfassungsgesetz, das Verwaltungsgerichtsgesetz, die Präfektur- und Kreisordnung (alle 1890), das BGB (1898), das revidierte Strafgesetzbuch (1907). Dazu kamen einzelne Anlehnungen an andere europäische Länder wie Österreich oder Frankreich. Siehe zum Überblick auch: Matsumoto, Europäische Geschichte Online 2012, Rn. 7. 13 Allerdings mit beträchtlichen Änderungen: Die Meiji-Verfassung enthält etwa nicht die Artikel über Religionsgesellschaften, das Schul- und Unterrichtswesen und die Freiheit der Wissenschaft und Lehre. Diese waren in der ihr als Modell dienenden preußischen Verfassung von 1850 vorhanden (dort. Art. 12, Art. 22 und Art. 20.).
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
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nerlei Unterstützung von den Entscheidungsträgern der japanischen Gesellschaft. Die Übernahme war aufgezwungen. Gerade die konservativen Kräfte, die sich seit der Besatzungszeit ununterbrochen an der Macht gehalten haben, hegten von Beginn an große Vorbehalte gegen die neue japanische Verfassung. Kaum war der Friedensvertrag von San Francisco vom 8. September 1951 geschlossen, arbeiteten die japanischen Eliten bereits an deren Abschaffung. Bisher konnten sie sich allerdings noch nicht mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit durchsetzen.14 Entsprechend mächtig waren die „Oppositionsbewegungen“ innerhalb Japans, die sich gegen die Verfassung auflehnten. Die konservativen Strömungen in Japan setzten schließlich durch, dass Art. 9 der Verfassung umgangen wurde.15 Umfragen zeigten, dass die japanische Bevölkerung die Streitkräfte schon bald nach ihrer Einführung billigte oder sogar als notwendig betrachtete.16 Das dritte und letzte Submerkmal für die ideellen Bedingungen ist schließlich die „Konsensorientierung“ des politischen Systems in Bezug auf den Rechtstransfer. Diesem Merkmal liegt die Prämisse zugrunde, dass fremde Normen bessere Chancen haben, Anschluss zu finden, wenn im Rechtssystem des Rezipienten eine politische Kultur vorherrscht, die von Kompromissbereitschaft geprägt ist. Im Hinblick auf die MacArthur-Verfassung – und insbesondere auf Art. 9 – „verläuft ein tiefer und unheilvoller Graben durch das japanische Volk.“ Die „Fronten [waren] verhärtet.“17 Dies steht in einem gewissen Kontrast zu der ansonsten sehr wohl eher konsensorientierten Streitkultur Japans.18 Jedenfalls in Bezug auf die Anerkennung der Verfassung herrschte zu dieser Zeit keine auf Konsens gerichtete Politik.19. Der zweite Oberbegriff unter dem Ordnungsmuster „Ausgangssituation beim Rezipienten“, ist „Politischer/motivatorischer Hintergrund des Rechtstransfers“ (nach Miller/Cohn). Wie oben bereits veranschaulicht, ist die Rezeption des US-amerikanischen Verfassungsrecht ein Paradebeispiel für einen Rechtstransfer „aufgrund exter14
Neumann, Änderung und Wandlung der japanischen Verfassung, S. 12. oben 1.; ausführlich bei Kurishima, Zeitschrift für Japanisches Recht 21 (2016), 38; Abe, in: Leibholz (Hrsg.), Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Neue Folge, S. 513 (546 ff.) und bei Neumann, Änderung und Wandlung der japanischen Verfassung, 13 ff. 16 Siehe zusammenfassend Neumann, Verfassung und Recht in Übersee 15 (1982), 5 (18 f.). 17 Neumann, Änderung und Wandlung der japanischen Verfassung, S. 10. 18 Kaspar/Schön, Einführung in das japanische Recht, S. 5; Fenzel, MaxPlanckForschung 2011, 84. 19 Sehr wohl auf Konsens ausgerichtet war hingegen nach Ansicht einiger Autoren das Verhältnis zwischen dem Obersten Gericht und den politischen Entscheidungsträgern. Siehe bereits oben unter A. IV. 2., ausführlich bei Itō, Saibankan to gakusha no aida [Zwischen einem Richter und einem Wissenschaftler], 116 ff. Diese Harmoniebedürftigkeit führte nach Ansicht dieser Autoren zu der zurückhaltenden Praxis des Gerichts. Dazu kritisch: Matsui, Washington University Law Review 88 (2011), 1375 (1400). 15 Sie
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
nen Drucks“. Folgt man diesem Typologiestrang weiter, stößt man auf die herausgearbeiteten Subtypen. Der Druck gegenüber dem japanischen Parlament, die MacArthur-Verfassung umzusetzen, stammt von „ausländischen und staatlichen Akteuren, aufgrund von Androhung physischer Gewalt“ (aufgrund militärischer Besatzung). Schließlich bleibt noch das Merkmal der „Zweckrichtung der externen Druckausübung“. Zweck des Drucks der Vereinigten Staaten war zuvörderst die Friedenssicherung. Mit einer demokratischen Verfassung sollte sichergestellt werden, dass Japan nicht wieder in die Rolle des Aggressors fällt. Diese Zweckrichtung fällt unter die Kategorie „Öffentliche Belange“. Diese stellen die wichtigsten Kategorien des ersten Ordnungsmusters dar und sind nun im Verhältnis zueinander zu gewichten. Dafür ist zunächst festzustellen, dass eine solche Priorisierung nicht abstrakt erfolgen kann. Sie muss stets am konkret zu untersuchenden Fall vorgenommen werden. Das wohl prägendste Charakteristikum der Rezeption der US-Verfassung in Japan war der Umstand, dass sie keine freiwillige Rezeption darstellte. Insofern ist der Kategorie „aufgrund externen Drucks“ (und deren Subtypen) den höchsten Stellenwert einzuräumen. Sie war die Hauptursache dafür, dass die Rezeption überhaupt vorgenommen wurde. Die Initiative ging allein vom politischen Willen der Alliierten aus. Dieser Druckfaktor bestimmte auch den Verlauf der Verhandlungen und das „Kompromissergebnis“ maßgeblich. Ein weniger zentrales, aber durchaus prägnantes Merkmal ist, dass die Rezeption eben nicht – im Gegensatz etwa zur Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei – von den gesellschaftlichen Eliten getragen wurde. Dies beeinflusste nicht so sehr den Aushandlungsprozess selbst, dafür aber umso mehr die spätere Entwicklung der damals neuen japanischen Verfassung nach deren (formelle) Implementierung. Der Grund, warum viele Bereiche der Verfassung als totes Recht gelten, liegt zum einen an der ablehnenden Haltung der (seitdem in Japan konstant regierenden) Polit-Elite, aber auch an den Führungsebenen in der Verwaltung und der Justiz. Damit eng verbunden – und von ebenso großer Bedeutung – waren auch die oppositionellen Kräfte in der Bevölkerung gegen die Rechtsübernahme. Ähnlich großem Gewicht kommt in diesem Zusammenhang der – hier fehlenden – Konsensorientierung in der Debatte um die neue Verfassung zu. Ein beachtlicher, aber im Verhältnis weniger hoher Stellenwert ist in diesem Fall der Kategorie „Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen“ einzuräumen. Dies liegt auch am Gegenstand der Rezeption. Verfassungen enthalten typischerweise Grundentscheidungen wie die Grundrechte, Staatszielbestimmung oder Regelungen zur Staatsorganisation. Die Umsetzbarkeit solcher Regelungen hängt zumindest nicht primär von den wirtschaftlichen Möglichkeiten eines Staates ab. Gute wirtschaftliche Bedingungen können Durchsetzung aber freilich begünstigen. Ebenfalls beachtlich sind die Faktoren, die unter dem Stichwort des „Transplant Bias“ zur Geltung kommen. Die kulturellen, linguis-
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
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tischen Unterschiede auf der einen Seite und die durchaus vorhandenen Rezeptionserfahrungen Japans auf der anderen Seite sind für sich genommen wichtige Aspekte für die Einordnung des Rechtstransfers. Die restlichen erwähnten Kategorien sind von eher geringer Bedeutung. Für das erste Ordnungsmuster ergibt sich also – grob – die folgende Gewichtung. Tabelle 1 Kategorie
Relative Bedeutung
– „Aufgrund externen Drucks“ – „Unterstützung durch herrschende Eliten“ – „Opposition aus der Gesellschaft“ – (Fehlende) „Konsensorientierung“ – „Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen“ – „Transplant Bias“
Sehr hoch Hoch Hoch Hoch Beachtlich Beachtlich
b) Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Faktoren Das Ordnungsmuster „Rechtstransferspezifische Faktoren“ besteht aus den beiden Oberbegriffen „Norminhalt und Normbeschaffenheit im weiteren Sinne“. Bei Ersterem stellt sich die Frage, ob sich die Rezeption der MacArthur-Verfassung einem „Rechtsgebiet“ zuordnen lässt, dem die Typologie „(abstrakt) weniger bzw. mehr kulturellen Gehalt“ beimisst. Wie oben bereits ausgeführt, haben Verfassungen typischerweise sehr starke kulturelle Wurzeln. Gerade die US-Verfassung ist geprägt von den besonderen sozio-kulturellen Hintergründen, wie etwa ihrer Gründungsgeschichte.20 Schließlich erfasst der Oberbegriff „Norminhalt“ die „unterschiedlichen Steuerungsfunktionen“ des Rechtstransfers. Die MacArthur-Verfassung enthält vor allem Elemente des „imperativen Rechts“. Gerade die Freiheitsrechte gewähren den Bürgern aber auch Rechtspositionen gegenüber dem Staat. Somit hat die Verfassung auch Elemente von „leistendem Recht“. Der „Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit“ einiger Normen der Verfassung ist hingegen als hoch einzustufen. Das wurde beispielsweise an den bereits angesprochenen Fragen der Aufgabenverteilung zwischen Kaiser und Regierung sichtbar. Weitere Beispiele sind die Freiheitsrechte. Diese kommen erst in der Rechtswirklichkeit an, wenn sie der Gesetzgeber bei der Verabschiedung von Gesetzen, die Rechtsanwender bei deren Anwendung und schließlich die Gerichte bei ihrer Interpretation verinnerlichen. Viele der übertragenen Verfassungsnormen lassen den staatlichen Akteuren dabei einen „Umsetzungsspielraum“. 20 Siehe statt vieler Tushnet/Graber/Levinson, The Oxford Handbook of the U. S. Constitution; Hamilton et al., Die Federalist-Artikel.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Die bedeutendsten Kategorien dieses zweiten Ordnungsmusters sind der „kulturelle Gehalt“ der Norm, deren Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit sowie die Umsetzungsspielräume, welche die Norm dem Rechtsanwender gibt. Alle drei Begriffe hängen eng miteinander zusammen. Die Auslegung zentraler Verfassungsbegriffe variiert stark in der japanischen und US-amerikanischen Verfassungskultur. Das Beispiel der richterlichen Kontrolldichte zeigt dies deutlich auf. Jede Norm der japanischen Verfassung musste mit Leben gefüllt werden. In den Jahren nach ihrer Verabschiedung zeigten die japanischen Rechtsanwender, dass sie dies in einer anderen Weise zu tun pflegen als ihr US-amerikanisches Vorbild. Doch auch der japanische Gesetzgeber nutzte seinen „Umsetzungsspielraum“, den ihm die Verfassung bot (oder eigentlich nicht bot?), um den US-amerikanischen Geist der Verfassung verblassen zu lassen. Von wohl eher geringerer Bedeutung ist hier die Kategorie der „Steuerungsfunktion“ des transplantierten Rechts. Dies liegt schon daran, dass die japanische Verfassung sich hier nicht einer einzigen Kategorie zuordnen lässt. Für das zweite Ordnungsmuster ergibt sich somit die folgende Priorisierung: Tabelle 2 Kategorie
Relative Bedeutung
– „Kultureller Gehalt der Norm“ – „Ausfüllungsbedürftigkeit der Norm“ – Durch die Norm ermöglichte „Umsetzungsspielräume“ – Steuerungsfunktion des übertragenen Rechts
Hoch Hoch Hoch Eher niedrig
c) Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten Das Ordnungsmuster „Übertragungsmodalitäten“ erfasst die „unterschiedlichen Akteure, die am Rezeptionsprozess beteiligt sind“, sowie den „Übertragungsweg“ des Rechtstransfers. Die wichtigsten Akteure bei der Genese der MacArthur-Verfassung waren der japanische „Gesetzgeber“ und die US-amerikanischen Besatzer. Dies geschah nicht nur in „beratender“ Form, sondern quasi imperativ. Am Rezeptionsprozess war somit auch noch eine weitere „Interessengruppe“ beteiligt. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Übertragungswege stellt sich die Frage, ob ein „Direkter Transfer“, ein „Vermittelter Transfer“ oder ein „Eklektischer Transfer“ vorliegt. Bei einem direkten Transfer handelt es sich um eine Übertragung zwischen „normativen Regelungssystemen“.21 Dies setzt voraus, dass die MacArthur-Verfassung in einem anderen Regelungssystem als dem japanischen bereits bestanden hat und von dort direkt übernommen wurde. Zweifel an einem solchen „direkten Transfer“ nährt die Tatsache, dass die MacArthur-Verfassung – so nah sie dem US-amerikanischen Verständnis 21
Mues, Rechtstransfer, S. 35.
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I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
in bedeutenden Punkten auch ist – nur auf einem Entwurf von MacArthur beruht. Die MacArthur-Verfassung passt also eher zum Konzept des „Vermittelten Transfers“. MacArthur und die ihm unterstellten Mitarbeiter waren also Vermittler zwischen einer „gelebten“ US-amerikanischen Verfassung und dem japanischen Staat als Rezipienten. Auch an einen „eklektischen Transfer“ könnte man denken. Dafür spricht, dass sich die japanische Verfassung bei der Stellung des japanischen Kaisers nach Ansicht vieler stark an der parlamentarischen Monarchie im Vereinigten Königreich orientiert hat. Andererseits ist – wie bereits angesprochen – mehr als zweifelhaft, ob das Vorbild „Vereinigtes Königreich“ bei den Verhandlungen tatsächlich im Gespräch war. Für die Annahme eines eklektischen Transfers wäre eine zielgerichtete Orientierung aber vonnöten.22 Von wesentlicher Bedeutung ist die Besonderheit, dass neben dem Gesetzgeber auch weitere Interessengruppen beteiligt waren. Unterstrichen wird dies durch die Intensität der Präsenz und der Einflussnahme der US-amerikanischen Besatzungsmacht. Ebenfalls von nicht geringer Bedeutung ist die Tatsache, dass es sich nicht um einen direkten, sondern um einen vermittelten Transfer gehandelt hat. Tabelle 3 Kategorie
Relative Bedeutung
Weitere Interessengruppen am Transferprozess beteiligt „Vermittelter Rechtstransfer“
Hoch Beachtlich
d) Überblick über die identifizierten Merkmale und ihre Bedeutung Die Rezeption der MacArthur-Verfassung beinhaltet also die folgenden Merkmale der problemorientierten Rechtstransfertypologie: Tabelle 4 Typenmerkmale/Kategorien
Resultat der Untersuchung
Bedeutung
Ordnungsmuster 1: Ausgangssituation beim Rezipienten Oberbegriff: Strukturelle Bedingungen
– Geographische Nähe – Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen – Innovationsgrad – Grad der Systemunabhängigkeit – „Transplant Bias“
22
Siehe bereits oben D. III. 3. b) cc).
Gering Eher gering Gering Gering „gemischtes Bild“
Gering Beachtlich Gering Gering Gering
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Typenmerkmale/Kategorien Oberbegriff: Strukturelle Bedingungen
– Unterstützung durch herrschende Elite – Oppositionsbewegungen – Konsensorientierung der politischen Entscheidungsträger – Ähnliche Struktur und Funktionsweise der für die Umsetzung des Rechtstransfers zuständigen Institutionen
Oberbegriff: Ausgangssituation beim Rezipienten
– Rechtstransfer zu Zwecken der Zeit und Kostenersparnis – Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“
Drückausübende Akteure
– Ausländische Akteure – Staatliche Akteure im weiteren Sinne
Art des Druckes
– Androhung physischer Gewalt – Militärische Besatzung
Zweckrichtung des Drucks
– Öffentliche Belange – Prestigeerzeugender Rechtstransfer – Rechtstransfer zu Zwecken der Optimierung – Rechtstransfer zu Zwecken der Harmonisierung – Rechtstransfer zu Zwecken der Signalwirkung
Resultat der Untersuchung
Bedeutung
Kaum existent Starke Präsenz Eher gering
Hoch Hoch Hoch
Hier nicht abschließend bewertbar
–
Nein
–
Ja
Sehr hoch
Ja Ja
Sehr hoch Sehr hoch
Ja Ja
Sehr hoch Sehr hoch
Ja Nein Nein Nein Nein
Gering – – – –
Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Faktoren Oberbegriff: Norminhalt
– Kultureller Gehalt der Norm nach Rechts gebieten – Kultureller Gehalt der Norm als Spektrum – Steuerungsfunktionen der Norm – Betroffene gesellschaftliche Gruppen (nach Cotterrell)
Hoch (Verfassungsrecht) Hoch Imperatives Recht, leistendes Recht (gemischt) jegliche
Oberbegriff: Normbeschaffenheit im weiteren Sinne
– Technische Normen – Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe – Grad des Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum
Hoch Hoch Eher niedrig Gering
Nein Hoch
– Hoch
Eher hoch
Gering
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I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
Typenmerkmale/Kategorien
Resultat der Untersuchung
Bedeutung
Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten Oberbegriff: Am Rezeptionsprozess beteiligte Akteure
– Gesetzgeber – Gerichte – Interessengruppen – Mittelbare Akteure
Oberbegriff: Übertragungsweg
– Direkter Rechtstransfer – Vermittelter Rechtstransfer – Eklektischer Rechtstransfer
Ja Nein
Gering –
Nein
–
Nein Ja Nein
– Beachtlich –
Ja
Hoch
3. Dritter Schritt: Zusammenhang zwischen den Typenmerkmalen und den Problemursachen? In einem dritten Schritt muss der Versuch unternommen werden, einen Zusammenhang zwischen den Merkmalen aus (2.) und den in (1.) identifizierten Problemen herzustellen. War also beispielsweise Typenmerkmal X dafür (mit-)verantwortlich, dass die Gesellschaft das übertragene Recht aufgrund sozio-kultureller Unterschiede nicht angenommen hat? Oder: War die Tatsache, dass das Merkmal Y nur gering ausgeprägt war, dafür (mit-)verantwortlich, dass rechtskulturelle Unterschiede eine ordentliche Umsetzung des übertragenen Rechts entgegenstanden? Diese Verknüpfung ist der zentrale Teil des Aufmerksamkeitsrasters. Je häufiger Rechtstransfers auf diese Weise untersucht werden, desto aussagekräftiger wird das Aufmerksamkeitsraster. Vermutungen, dass bestimmte Rechtstransfermerkmale häufiger zu Problemen führen als andere, werden empirisch belegt (oder widerlegt). Die Verknüpfung von Rechtstransfermerkmalen mit bestimmten Problemursachentypen kann das Aufmerksamkeitsraster mithin praxistauglich machen. Bis dahin gilt: Sofern ein Zusammenhang zwischen einem Typenmerkmal und einer der Problemursachen besteht, ist dies in den meisten Fällen bereits ein Indiz dafür, dass das Typenmerkmal das Gelingen auch künftiger Rechtstransfer potenziell erschweren kann. Dieses Indiz verstärkt sich jedoch mit der Anzahl an Verknüpfungen, welche die Rechtswissenschaft zwischen dem Typenmerkmal und dem jeweiligen Problembereich herstellt. Weisen Analysen künftiger Rechtstransfers ähnliche Zusammenhänge nach, deutet vieles darauf hin, dass sich dieses Typenmerkmal nicht nur vereinzelt, sondern regelmäßig negativ auf das Gelingen von Rechtstransfers auswirken kann. Bei alledem darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Problemursachen bei Rechtstransfers häufig auch auf einem Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren beruhen, die wiederum auf (teilweise) unterschiedliche Typenmerk-
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
male zurückzuführen sind. Es kann also nicht lediglich das „relevanteste“ der Merkmale „herausgepickt“ werden, während Typenmerkmale, die zumindest auf den ersten Blick weniger zu dem Problem beigetragen haben, nicht weiter in der Typologie berücksichtigt werden. Die Identifikation von Typenmerkmalen, bei denen nur ein vager Zusammenhang zu einem Problembereich nachgewiesen wurde, hat ebenfalls einen empirischen Wert. Das Merkmal wie „ähnliche wirtschaftliche Ressourcen zwischen Exporteur und Rezipienten“23 mag zwar regelmäßig kaum eine eigenständige Verknüpfung mit einer Problemursache aufweisen. Dennoch mag dieser Faktor ein kleines Puzzlestück in einem komplexen Kontext darstellen. Dies führt dazu, dass es zumindest in einer Gesamtschau zu berücksichtigen sein wird. Deshalb lohnt es sich, auch die identifizierten Typenmerkmale, die keinen klaren Beitrag zu einem Problem geliefert haben, in dem Raster statistisch zu erfassen. Sie helfen auch dabei, weitergehende Profile von typischerweise problembehafteten Rechtstransfertypen zu erstellen. Im Folgenden soll nun an einigen Beispielen aufgezeigt werden, welche spezifischen Merkmale bei der Rezeption der MacArthur-Verfassung im Zusammenhang mit den identifizierten Problembereichen stehen. In Betracht kommt ein Zusammenhang des Typenmerkmals „Transplant Bias“ mit den Verständnisproblemen des japanischen Verfassungsgebers (sogleich unter a)), ein Zusammenhang zwischen dem Merkmal „aufgrund externen Drucks“ mit Problemen aufgrund sozio-kultureller Unterschiede (sogleich unter b)), ein Zusammenhang zwischen der Eigenschaft der Rezeption als ein „Rechtstransfer mit hohem kulturellen Gehalt“, dem Problembereich der rechts- bzw. sozio-kulturellen Unterschieden (sogleich unter c)) und schließlich dem Merkmal eines „hohen Grades an kultureller Ausfüllbedürftigkeit“ und Problemen aufgrund rechtskultureller Unterschiede (sogleich unter d)).
a) „Transplant-Bias“ führt zu Verständnisproblemen Der von Watson geprägte Begriff des „Transplant Bias“ ist ein Sammelbegriff für „gute Vorbedingungen“ beim Rezipienten für einen spezifischen Rechtstransfer.24 Liegen diese Vorbedingungen hingegen nicht vor, indiziert dies schlechtere Ausgangsbedingungen für das Gelingen einer Rechtsreform. Wie bereits oben herausgearbeitet wurde, sind im Rahmen dieses „Transplant Bias“ insbesondere die linguistischen Differenzen zwischen den japanischen Vertretern und den amerikanischen Besatzern am Verhandlungstisch ein bedeutsames Problem gewesen. Es wurde bereits oben näher beschrieben, wie sich die Sprachbarrieren auf das Verständnis für die gegenseitigen rechtlichen Vorstellungen negativ auswirkten.25 Diese Verständnislücken des japanischen Gesetz23
Siehe oben D. II. 3. a). Siehe oben D. II. 3. a). 25 Siehe oben C. II. 1. e). 24
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
153
gebers kamen schon in den Verhandlungen zum Ausdruck und verfestigten sich schließlich im Gesetzestext. Insoweit waren die – zumindest in Bezug auf die sprachlichen und kulturellen Hindernisse – schlechten Ausgangsbedingungen Japans für die Rezeption der MacArthur-Verfassung einer der Ursachen dafür, dass der japanische Gesetzgeber ein mangelndes Verständnis für das zu transplantierende Recht hatte.
b) Externer Druck (durch militärische Besatzung) führt zu Problemen aufgrund sozio-kultureller Unterschiede Der japanische Gesetzgeber übernahm den Verfassungsentwurf MacArthurs, da ihm keine andere Wahl blieb. Das Beispiel der japanischen Verfassungsrezeption zeigt, dass das Aufzwingen von fremdem Recht durch externe Kräfte dazu führen kann, dass rechtskulturelle und sozio-kulturelle Eigenheiten und Interessen in seinem Rechtssystem nicht ausreichend berücksichtigt werden. Denn schon bald nach dem Ende der amerikanischen Besatzung formierte sich eine „verfassungsrevisionistische Bewegung“.26 Die Revisionisten leugneten die Legitimität der Verfassung, da sie von den Besatzern aufgezwungen sei. Dieser Bewegung gehörte die Mehrheit der Liberaldemokratischen Partei (LDP) an, die sich im Jahr 1955 gründete und seitdem bis zum Jahr 1993 durchgängig das Land regierte.27 Diese revisionistische Bewegung zeigt, dass eine wichtige politische Kraft, die zudem einen großen Teil der Bevölkerung repräsentiert, die japanische Verfassung gerade deshalb ablehnt, weil sie aufgezwungen und bereits deswegen „unjapanisch“ sei. Ganz speziell in Bezug auf die von den USamerikanischen Besatzern aufgezwungene Kriegsverzichtsklausel (Art. 9 der japanischen Verfassung) gab es auch Widerstand aus der Bevölkerung.28 Somit ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Oktroyierung amerikanischen Verfassungsrechts und den Abwehrreaktionen in der japanischen Gesellschaft belegt.
c) Rechtsgebiet mit typischerweise hohem kulturellem Gehalt führt zu Problemen aufgrund rechts- bzw. sozio-kultureller Unterschiede Rezeptionsgegenstand ist Verfassungsrecht, also ein Rechtsgebiet, dessen Funktionstüchtigkeit typischerweise in hohem Maße von den sozio-kulturellen 26
Higuchi, in: Higuchi (Hrsg.), Five decades of constitutionalism in Japanese society, S. 351 f.; Nishikawa, 比較法文化 [Hikaku-hō bunka] 17 (2009), 51, (62 ff.). Eine Revision der Verfassung selbst konnte diese Bewegung trotz ihrer konstanten Mehrheiten allerdings bisher nicht erreichen. Dies verdankt die Verfassung vor allem ihrer hohen Hürden für Verfassungsänderungen: Nach Art. 96 Abs. 1 der japanischen Verfassung benötigt es dafür eine Zweidrittelmehrheit im Parlament sowie eine Volksbefragung. 27 Higuchi, in: Higuchi (Hrsg.), Five decades of constitutionalism in Japanese society, S. 351 (352). 28 Siehe bereits oben E. I. 2. a).
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
und historischen Begebenheiten in einem Land abhängt. Allerdings gilt dies nicht notwendigerweise für jeden einzelnen Teil der Verfassung. Auch eine Verfassung hat Bestandteile, die weniger starken „kulturellen Gehalt“ aufweisen.29 Möchte man nun eine Verknüpfung zwischen dem hohen kulturellen Gehalt der MacArthur-Verfassung und den Problemen aufgrund sozio-kultureller Unterschiede herstellen, ist entsprechend zu differenzieren. Das Attribut „Rechtsgebiet mit grundsätzlich hohem sozio-kulturellem Gehalt“ bezieht sich auf einzelne Regelungsblöcke, teilweise sogar nur auf einzelne Normen der Verfassung. An dieser Stelle gilt es, herauszuarbeiten, welche (konkreten) Bereiche einen hohen sozio-kulturellen Gehalt haben und zu Problemen geführt haben.30 Wie oben dargestellt31, traten die Umsetzungsprobleme vor allem bei den Regelungen zur Rolle des Tennō im Lichte der Gewaltenteilung (Art. 55 Abs. 1 japanische Verfassung)32, der Kontrolldichte des Obersten Gerichts (Art. 81 japanische Verfassung)33 und schließlich den Freiheits- und Gleichheitsrechten (Art. 10–40 japanische Verfassung, Abschnitt „Rechte und Pflichten des Volkes“) auf. Andere Regelungen ließen sich hingegen reibungsloser adoptieren. Die formelle Entmachtung des Kaisers war die Konsequenz des Prinzips der Volkssouveränität, welches die amerikanischen Besatzer in der MacArthurVerfassung verankern wollten. Diese neue japanische Verfassung liest sich – ähnlich wie die US-Verfassung – in der 1. Person Plural.34 Gemeint ist das 29
Dies wurde bereits oben … herausgearbeitet. eine vertiefte Prüfung dieser Problemzusammenhänge den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, wird sich an dieser Stelle auf die Darstellung der Grundprinzipien und einige allgemeine Hinweise zum Fall der MacArthur-Verfassung beschränkt. 31 Siehe oben C. I. 1. 32 Art. 55 Abs. 1 japanische Verfassung: „Jedes Haus entscheidet selbst über Streitigkeiten bezüglich der Qualifikation seiner Mitglieder. Um jedoch einem Mitglied sein Mandat abzuerkennen, ist ein Mehrheitsbeschluss von mindestens zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder notwendig.“ 33 Art. 81 japanische Verfassung: „Das Oberste Gericht ist die letzte Instanz mit der Befugnis, über die Verfassungsmäßigkeit jedes Gesetzes, jeder Verordnung, jeder Verfügung und jedes Verwaltungsaktes zu entscheiden.“ Konkrete Anweisungen an das Gericht zur Ausübung dieser Befugnis fehlen im Verfassungstext. 34 Die Präambel der neuen japanischen Verfassung lautet: „Wir, das japanische Volk, vertreten durch die ordnungsgemäß gewählten Abgeordneten des Reichstags, entschlossen, die Früchte friedlicher Zusammenarbeit mit allen Völkern und die Segnungen der Freiheit im ganzen Lande uns und unseren Nachkommen zu erhalten, und einig in dem Bestreben, dass niemals wieder die Schrecken des Krieges durch die Politik unserer Regierung über uns kommen sollen, erklären ausdrücklich, dass die Souveränität allein beim Volke ruht, und geben uns unabänderlich diese Verfassung. Die Regierungsgewalt ist ein unverletzliches Vertrauensunterpfand des Volkes, deren Autorität vom Volke ausgeht, deren Machtbefugnisse von den Repräsentanten des Volkes ausgeübt werden und deren Nutzen dem Volke zugutekommt. Auf dieses allgemein gültige Prinzip der Menschheit gründet sich diese 30 Da
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
155
japanische Volk. Die Meiji-Verfassung signierte hingegen noch der Kaiser persönlich.35 Das Prinzip der Volkssouveränität ist ein grundlegender Gedanke der US-amerikanischen Verfassung und auch Teil der amerikanischen Rechtstradition.36 Den japanischen Verhandlern fiel es schwer, dieses pur individualistisch geprägte Prinzip der Volkssouveränität zu verstehen und umzusetzen. Das Ergebnis war die oben näher beschriebenen Scheindiskussionen über rechtliche Begrifflichkeiten. Das übertragene Prinzip der Volksouveränität hat somit einen besonders starken eigenen rechtskulturellen Gehalt. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Kontrolldichte des Obersten Gerichts Japans. Mit der Frage, warum gerade in Japan eine im Vergleich zu den Vereinigten Staaten und zu einigen anderen westlichen Jurisdiktionen wie Deutschland37 eher zurückhaltende richterliche Kontrolldichte üblich ist, befasst sich Verfassung. Wir verwerfen und widerrufen alle Einrichtungen, Gesetze, Verordnungen und Erlasse, die dem widersprechen. Wir, das japanische Volk, wünschen den Frieden für alle Zeiten und sind uns zutiefst der hohen Ideale bewusst, welche die menschlichen Beziehungen regeln, und wir haben beschlossen, unsere Sicherheit und Existenz im Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Redlichkeit der friedliebenden Völker der Welt zu bewahren. Wir möchten einen ehrenvollen Platz in einer Völkergemeinschaft einnehmen, die um die Erhaltung des Friedens kämpft und bemüht ist, Gewaltherrschaft, Knechtschaft, Unterdrückung und Unduldsamkeit für immer von dieser Erde zu verbannen. Wir erkennen an, dass alle Völker der Welt das Recht haben, in Frieden und frei von Furcht und Not zu leben. Wir sind der Überzeugung, dass kein Volk nur sich selbst verantwortlich ist, sondern dass die Gesetze politischer Moral allgemein gültig sind, und dass der Gehorsam gegenüber diesen allen Nationen obliegt, die ihre eigene Souveränität bewahren und ihre souveränen Beziehungen zu anderen Nationen rechtfertigen wollen. Wir, das japanische Volk, verpfänden unsere nationale Ehre dafür, dass wir mit allen Mitteln um die Erfüllung dieser hohen Ideale und Ziele bemüht sein werden.“ 35 Vergleiche dazu nur die Präambel der Meiji-Verfassung aus dem Jahr 1889: „Nachdem wir durch die Tugend und den Ruhm Unserer Vorfahren den Thron bestiegen haben, der seit ewigen Zeiten Unserer Dynastie angehörte, in dem Wunsch, die geistigen und sittlichen Fähigkeiten Unserer geliebten Untertanen zu fördern und zu erhalten, wie es schon die liebevolle Fürsorge Unserer Vorfahren war, in der Hoffnung, das Gedeihen des Staates in Übereinstimmung und mit der Hilfe Unseres Volkes zu fördern, verkünden Wir hiermit in Bestätigung Unseres Kaiserlichen Erlasses vom 12. Tag des 10. Monats vom 14. Jahre Meiji eine fundamentale Staatsgesetzgebung, welche die Grundsätze enthält, von denen Wir Uns in Unserer Verwaltung leiten lassen wollen und nach denen sich Unsere Nachfolger, Unsere Untertanen und deren Nachkommen für immer richten sollen. Wir haben von Unseren Vorfahren die Herrscherrechte ererbt und werden dieselben Unseren Nachfolgern hinterlassen; weder Wir noch sie werden in Zukunft jemals verfehlen, sie in Übereinstimmung mit der Verfassung, die hiermit gewährt wird, auszuüben. Wir erklären hierdurch, dass Wir die Rechte und das Wohl des Volkes schützen und achten wollen und ihm den Genuss derselben innerhalb der Verfassung und des Gesetzes sichern werden.“ 36 Dies wird bei einer Lektüre des US-amerikanischen Verfassungstext aus dem Jahr 1787 deutlich. Die Präambel beginnt mit den Worten „We the People of the United States […] establish this Constitution of the United States of America.“ 37 Vgl. Law, Washington University Law Review 88 (2011), 1426.
156
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
die rechtsvergleichende Wissenschaft.38 Ebenso wie das Prinzip der Volkssouveränität findet sich die Übertragung der US-amerikanischen Vorstellung des „selbstbewussten“ Richters39 nicht in einer konkreten Norm wieder. Der judicial review ergibt sich aus dem rechtskulturell geprägten Gewaltenteilungsverständnis. Diesen findet man lediglich „zwischen den Zeilen“ der Verfassung. Entwickelt wurde er durch die Rechtsprechung und Literatur. Auch die richterliche Kontrolldichte in Japan hatte ihren eigenen kulturellen Hintergrund. Von besonderer Bedeutung war die bereits mehrfach angeführte Meiji-Verfassung als „Vorgänger-Verfassung“ der MacArthur-Verfassung. In Art. 57 der Meiji-Verfassung bezieht sich die richterliche Gewalt noch auf den Kaiser.40 Sie ist nicht dem Obersten Gerichtshofs (als Organ) übertragen, sondern dem Tennō. Richter handelten nur an dessen Stelle. Auch aufgrund dieses Loyalitätsverhältnisses zwischen Oberstem Gericht und Kaiser entwickelte sich die Meiji-Verfassung hin zu einer eher zurückhaltenden Institution. Da sich die personelle Besetzung des Gerichts nach der Besatzung Japans nicht änderte, wurde diese Kultur der Kontrolldichte fortgesetzt.41 Die neue Formulierung des Art. 76 Abs. 1 der MacArthur-Verfassung stellte dazu einen starken Kontrast dar.42 Ein weiterer Schritt war die Einführung von Art. 77 Abs. 1, der dem Obersten Gericht – wie in vielen Common-Law-Rechtsordnungen typisch – weitgehende Kompetenzen zur Gerichts- und Verfahrensordnung einräumt.43 Bei den Freiheits- und Gleichheitsrechten ergibt sich ein ähnliches Bild. Das japanische Oberste Gericht und der US-Supreme Court verstehen diese Rechte auf eine teilweise höchst unterschiedliche Art. Die amerikanischen 38
Matsui, Washington University Law Review 88 (2011), 1375. sei aber angemerkt, dass sich auch in den Vereinigten Staaten bei der richterlichen Kontrolldichte keine absolut lineare Entwicklung erkennen lässt. Das gilt ganz besonders für die Verfassungsgerichtsbarkeit. So schenkte man etwa der Theory of Judicial Restraint von Thayer Ende des 19. Jahrhunderts in jener Zeit große Beachtung. Sie setzte sich allerdings nicht durch. Zu einem Überblick über die Entwicklung des Judicial Constraint in den Vereingten Staaten vgl. ausführlich: Posner, California Law Review 100 (2012), 519. 40 Art. 57 Abs. 1 der Meiji-Verfassung lautet noch: „Die richterliche Gewalt wird im Namen des Kaisers durch die Gerichte gemäß dem Gesetz ausgeübt.“ Art. 76 Abs. 1 der japanischen Verfassung lautet: „Die gesamte richterliche Gewalt liegt bei einem Obersten Gericht und den vom Gesetz geschaffenen unteren Gerichten.“ 41 Matsui stellt diesbezüglich sogar einen Zusammenhang mit dem unter japanischen Rechtsanwendern verbreitete Rechtspositivismus her. Dieser war über die Rezeptionen von deutschem Recht aus der Kaiserzeit nach Japan gelangt. Matsui, Washington University Law Review 88 (2011), 1375 (1400 ff.). 42 Art. 76 Abs. 1 lautet: „Die gesamte richterliche Gewalt liegt bei einem Obersten Gericht und den vom Gesetz geschaffenen unteren Gerichten.“ 43 Art. 77 der japanischen Verfassung stattet das Oberste Gericht mit der Befugnis aus, die Gerichtsordnung zu gestalten. Auf deren auf deren Grundlage soll sie die Prozess- und Verfahrensordnung, die Anwälte betreffenden Angelegenheiten sowie der Hausordnung und der Gerichtsverwaltungsordnung bestimmen. 39 Es
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
157
Freiheits- und Gleichheitsrechte fußen auf einem individualistischen Gesellschaftsverständnis. Dieses unterscheidet sich stark von dem kollektivistischen Verständnis Japans in dieser Zeit, welches den Staat als eine Art Familie mit dem Oberhaupt des Kaisers wahrnahm.44 Schon aus diesen unterschiedlichen Grundansätzen zeigt sich, dass auch die Umsetzung von Freiheits- und Gleichheitsrechten Normen sind, deren Anwendung sehr stark vom kulturellen Hintergrund des Rechtsanwenders abhängt. Abzugrenzen sind diese kulturell stark verankerten Regelungsbereichen von anderen Bereichen in der Verfassung, die weniger stark kulturell verankert waren und damit auch weniger Umsetzungsprobleme verursachten. Als Beispiel können hier etwa die ebenfalls stark amerikanisch geprägten Artikel 41 ff. der neuen japanischen Verfassung dienen. Diese enthalten die wichtigsten Regelungen zu den beiden parlamentarischen Häusern (Repräsentantenhaus und Senat). Dieser Abschnitt wurde mit Vorschriften angereichert, welche die Rechte der Parlamentarier – im Vergleich zur Meiji-Verfassung – stärkten.45 Typische Beispiele dafür sind etwa Art. 43. Abs. 1,46 Art. 4547 oder Art. 4648 der japanischen Verfassung, welche die Zuständigkeiten und die Zusammensetzung des Parlaments regeln. Ihre Umsetzung stellte für das japanische Rechtssystem im Gegensatz zu den anderen Regelungen keine großen Schwierigkeiten dar. Diese hier (zu Veranschaulichungszwecken) kurz gehaltenen Analysen reichen nicht aus, um zweifelsfrei darzulegen, dass in der (gesamten) japanischen Verfassung die rezipierten Normen mit starker kultureller Verwurzelung auf mehr Probleme stoßen als Normen mit weniger oder gar keiner kultureller Verwurzelung. Dafür sind weitere und tiefgründigere Studien notwendig, für die an dieser Stelle kein Raum ist. Tendenziell kam es jedoch dort, wo die Normen der Verfassung eine besondere (rechts-)kulturelle Vorgeschichte hatten, zu erheblicheren Übertragungsschwierigkeiten. Diese ersten Indizien müssten allerdings durch weitere Studien verifiziert werden.
44 Vgl. dazu Röhl, Die japanische Verfassung, S. 56 ff. mit einigen Beispielen, die aufzeigen, wie unterschiedlich der Oberste Gerichtshof die im Verfassungstext ähnlich lautenden Freiheits- und Gleichheitsrechte interpretiert und angewandt hat. 45 Die wichtigste Regelung ist Art. 41 der japanischen Verfassung, der das Parlament als das „höchste Organ der Staatsgewalt und das einzige Gesetzgebungsorgan des Staates bezeichnet.“ 46 Art. 43 Abs. 1 der japanischen Verfassung lautet: „Beide Häuser bestehen aus gewählten Mitgliedern, welche das ganze Volk vertreten.“ 47 Art. 45 japanischen Verfassung lautet: „Die Amtszeit der Mitglieder des Repräsentantenhauses beträgt vier Jahre. Die Amtszeit gilt jedoch schon vorher als beendet, wenn das Repräsentantenhaus aufgelöst wird.“ 48 Art. 46 der japanischen Verfassung lautet: „Die Amtszeit der Mitglieder des Senats beträgt sechs Jahre, wobei alle drei Jahre die Hälfte der Mitglieder gewählt werden.“
158
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
d) Grad der Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe – Probleme aufgrund rechtskultureller Unterschiede Die Rezeption der MacArthur-Verfassung scheiterte insbesondere bei Regelungen, die durch die Praxis erst mit Leben gefüllt werden mussten. Verfassungsbegriffe wie „Gleichheit“ oder auch die Freiheitsrechte bedürfen einer solchen Ausfüllung durch gesetzgeberisches Handeln. Dies gilt sowohl für die Verwaltung als auch für die Judikative. Sie müssen Rechtsbegriffe im Geiste der verfassungsrechtlichen Normen umsetzen. Die Verfassung Japans verfügt über eine Vielzahl solcher ausfüllungsbedürftigen Begriffe. Einige von ihnen wurden bereits im letzten Abschnitt vorgestellt. Es hat sich gezeigt, dass je mehr Wertungsoptionen eine Norm dem Rechtsanwender lässt, desto höher die Wahrscheinlichkeit ist, dass dieser einen anderen Weg einschlägt als die Norm in ihrer Ursprungsform. Es gibt Normen, die wenige Optionsräume lassen. Ein Beispiel dafür ist Art. 79 Abs. 1 Hs. 1 der japanischen Verfassung. Hier ist die Besetzung des Obersten Gerichts aus einem Obersten Richter und einer gesetzlich festgelegten Zahl von Richtern festgelegt. Auch wenn diese Norm – was hier nicht der Fall ist – aus einer fremden Jurisdiktion übernommen worden wäre, bestünde vermutlich kein hohes Risiko einer abweichenden Subsumtion. Abweichendes ergibt sich beim hier schon vielfach erwähnten Art. 81 der japanischen Verfassung, welcher dem Obersten Gericht die Befugnis zur verfassungsrechtlichen Prüfung von Gesetzen, Verordnungen usw. verleiht. In Bezug auf die richterliche Kontrolldichte – also die Frage, wie die Richter diese Entscheidungsbefugnis ausüben sollen – erlaubt der Wortlaut eine Vielzahl an Praktiken. Eben an jenen Stellen wie Art. 81, wo den heimischen Rechtsanwendern Interpretationsspielräume eingeräumt werden, führte dies zu Diskrepanzen bei der Umsetzung in die mit dem Rechtstransfer eigentlich angestrebte Rechtswirklichkeit. Die Freiheits- und Gleichheitsrechte sind hierfür weitere Beispiele. Normen mit weniger Ausfüllungsbedürftigkeit stießen bei der japanischen Rezeption hingegen kaum auf Hürden bei der Adoption. Neben dem erwähnten Art. 79 Abs. 1 sind weitere Beispiele etwa die Kompetenzvorschriften der Art. 43 ff. Sie geben klare Normbefehle, die nur in Einzelfällen einer weiteren Konkretisierung bedürfen. Die These, dass Auslegungs- und Konkretisierungsspielräume das Risiko einer vom ursprünglichen Rezeptionszweck abweichenden Rechtinterpretation erhöht, wird am Beispiel der MacArthur-Verfassung also weitgehend bestätigt.
4. Vierter Schritt: Identifikation von erfolgsfördernden Maßnahmen und Eigenschaften Das Aufmerksamkeitsraster beschränkt sich nicht nur auf die Identifizierung von Problemfeldern, sondern macht bestenfalls auch Erfolgskonzepte für Rechts-
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
159
transfers ausfindig. Die reine Abstinenz von Problemen mag einen Rechtstransfer zwar schon zu einem Erfolg machen. Doch sagt dies noch nichts über die darüber hinaus existierenden erfolgsfördernden Konzepte aus. Denn bestimmte Merkmale oder Strategien können die Aufnahme eines fremden Rechts auch – zusätzlich – positiv beeinflussen. Unter Umständen kann es negative Einflüsse sogar aufwiegen. Liegen beispielsweise keine oder nur geringe Sprachbarrieren zwischen dem Exporteur und dem Rezipienten vor,49 kann dies die Rahmenbedingungen für einen Rechtstransfer verbessern – und etwaige kulturelle Unterschiede überbrücken. Häuft sich eine bestimmte Art von erfolgsfördernden Faktoren bei Rechtstransfers, müssen auch sie in dem Aufmerksamkeitsraster „vermerkt“ werden. Beim konkreten Beispiel der Rezeption der MacArthur-Verfassung in Japan zeigen sich allerdings nur wenige Faktoren, die sich auf die Gestaltung des Rechtstransfers positiv ausgewirkt haben. Der Entwicklungsgrad der Institutionen, der Bildungsstand der Bevölkerung und andere Faktoren waren jedenfalls kurz vor dem Krieg in beiden Staaten ähnlich. Dies mag eventuell die Umsetzung einiger (weniger problematischer) Regelungen in der Verfassung vereinfacht haben. Eindeutige Hinweise ergeben sich allerdings nicht.
5. Fünfter Schritt: Einfügung der Ergebnisse in das Aufmerksamkeitsraster Schließlich müssen die Ergebnisse aus dem zweiten, dritten und dem vierten Schritt in das Aufmerksamkeitsraster „aufgenommen“ werden. Dieser Aufnahmeprozess sorgt dafür, dass die Erkenntnisse aus der Rechtstransferuntersuchung – in diesem Fall veranschaulicht an der Rezeption der MacArthurVerfassung in Japan – gesammelt und mit anderen Untersuchungen verknüpft werden. Das Aufmerksamkeitsraster ist somit eine Vorstrukturierung für eine Art Datenbank, welche Zusammenhänge von Problemursachentypen und Typenmerkmalen sowie Erfolgskonzepten von Rechtstransfers darstellt. Für die Ausgestaltung einer solchen Datenbank gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die einer weiter vertiefenden Untersuchung an anderer Stelle bedürfen.50 Ihre Grundaufgabe besteht darin, die Ergebnisse aus den Untersuchungen zu erfassen und auf zunehmend anwachsender empirischer Grundlage weitere Schlussfolgerungen für zukünftige Rechtsrezeptionen zu ermöglichen. Das Aufmerk49 Geringe sprachliche Barrieren finden sich etwa in den häufig voneinander „abschreibenden“ spanisch-sprachigen Ländern Lateinamerikas. Obwohl in diesen Ländern grundsätzlich dieselbe Sprache gesprochen wird, werden juristische Begriffe teilweise sehr unterschiedlich gebraucht. Vergleiche dazu nur Samtleben, Internationales Privatrecht in Lateinamerika, S. 82 ff. 50 Auch einige Ansätze der (rechtsvergleichenden) Rechtswissenschaft können dabei behilflich sein. Dazu etwa Siems, Comparative Law, S. 180 ff.
160
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
samkeitsraster dient dabei als wesentlicher Zwischenschritt im Sinne einer Vorstrukturierung. Wie die Grundstruktur dieses Rasters aussehen kann, zeigt diese Tabelle am Beispiel der eben zur Veranschaulichung untersuchten Rezeption der MacArthur-Verfassung in Japan: Tabelle 5 Typenmerkmale/Kategorien
Liegt vor?
Verknüpfung mit Problemursache
Erfolgsfördernd
Ordnungsmuster 1: Ausgangssituation beim Rezipienten Oberbegriff: Strukturelle Bedingungen
– Geographische Nähe – Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen – Innovationsgrad – Grad der Systemunabhängigkeit – „Transplant Bias“
Gering Eher gering
Nicht ersichtlich Nicht ersichtlich
Nein U. U. ja
Gering Gering Eher Gering
Nicht ersichtlich Nicht ersichtlich Ja, Probleme beim Verständnis des fremden Rechts
Nein Nein Nein
Ja, Probleme aufgrund gesellschaftlicher Ablehnung Ja, Probleme aufgrund gesellschaftlicher Ablehnung Ja, Probleme aufgrund gesellschaftlicher Ablehnung Hier nicht bewertbar
Nein
Oberbegriff: Strukturelle Bedingungen – Unterstützung durch h errschende Elite
Kaum existent
– Oppositionsbewegungen
Starke Präsenz
– Konsensorientierung der politischen Entscheidungsträger
Eher gering
– Ähnliche Struktur und Funktionsweise der für die Umsetzung des Rechtstransfers zuständigen Institutionen – Grad der institutionellen Verknüpfung
Hier nicht abschließend bewertbar Hier nicht abschließend bewertbar
Oberbegriff: Ausgangssituation beim Rezipienten
– Rechtstransfer zu Zwecken der Zeit und Kostenersparnis – Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“
Nein Nein
Hier nicht bewertbar
Nein
Nein
Nein
Ja
Ja, Probleme aufgrund gesellschaftlicher Ablehnung
Nein
161
I. Problemorientierte Analyse von Rechtstransfers
Typenmerkmale/Kategorien
Liegt vor?
– Ausländische Akteure
Ja
– Staatliche Akteure im weiteren Sinne
Ja
Oberbegriff: Art des Druckes
– Androhung physischer Gewalt
Ja
– Militärische Besatzung
Ja
– Prestigeerzeugender Rechtstransfer – Rechtstransfer zu Zwecken der Optimierung – Rechtstransfer zu Zwecken der Harmonisierung – Rechtstransfer zu Zwecken der Signalwirkung
Verknüpfung mit Problemursache
Erfolgsfördernd
Ja, Probleme aufgrund gesellschaftlicher Ablehnung Ja, Probleme aufgrund gesellschaftlicher Ablehnung
Nein Nein
Nein
Nein
Ja, Probleme aufgrund gesellschaftlicher Ablehnung Ja, Probleme aufgrund gesellschaftlicher Ablehnung Nein
Nein
Nein
Nein
Nein
Nein
Nein
Nein
Nein
Nein
Nein
Nein
Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Faktoren Oberbegriff: Norminhalt
– Kultureller Gehalt der Norm nach Rechtsgebieten – Kultureller Gehalt der Norm als Spektrum – Steuerungsfunktionen des Rechtstransfers
Hoch (Verfassungsrecht) Hoch Imperatives Recht, leistendes Recht
Ja, Probleme aufgrund rechtskultureller Unterschiede Ja, Probleme aufgrund rechtskultureller Unterschiede Nein
Oberbegriff: Normbeschaffenheit im weiteren Sinne
– Technische Normen – Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe
Nein z. T. hoch
– Grad des Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraums
z. T. hoch
Nein Ja, Probleme aufgrund rechtskultureller Unterschiede Ja, Probleme aufgrund rechtskultureller Unterschiede
Nein Nein Nein
Nein Nein
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Typenmerkmale/Kategorien
Liegt vor?
Verknüpfung mit Problemursache
Erfolgsfördernd
Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten Oberbegriff: Am Rezeptionsprozess beteiligte Akteure
– Gesetzgeber – Gerichte
– Interessengruppen – Mittelbare Akteure
Oberbegriff: Übertragungsweg
– Direkter Rechtstransfer – Vermittelter Rechtstransfer – Eklektischer Rechtstransfer
Ja Ja, durch die (im Ergebnis fehlende) Übernahme US-ameri kanischer Verfassungsrechtsprechung Ja Nein
Nein Nein
Nein Nein
Nein Nein
Nein Nein
Nein Ja Nein
Nein Nein Nein
Nein Nein Nein
Diese Tabelle zeigt auf, wie die Ergebnisse einer Untersuchung vor der Übertragung in das Aufmerksamkeitsraster dargestellt werden können. Die weiteren Untersuchungen sollten in einer ähnlichen Weise aufbereitet werden. Im Aufmerksamkeitsraster werden die herausgearbeiteten Zusammenhänge zwischen bestimmten Merkmalstypen und Rechtstransferproblemen gesammelt und als empirische Daten abrufbar gemacht. Diese Zusammenhänge zwischen Merkmalstypen und Rechtstransferproblemen sind die Informationen, die für die Praxis von Bedeutung sind.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters am Beispiel der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei Dieser Abschnitt dreht sich um die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters für geplante Rechtstransfers. Es richtet sich an Rechtsetzer, die im Begriff sind, fremdes Recht in das eigene System zu übertragen. Wie die Erfahrungswerte für das Aufmerksamkeitsraster gesammelt und systematisiert dargestellt werden können, wurde im letzten Abschnitt erörtert. In diesem Abschnitt geht es darum, zu veranschaulichen, wie ein Rechtsetzer vorgehen muss, um das Aufmerksamkeitsraster anzuwenden. Dabei stoßen wir freilich auf das Problem, dass die empirischen Untersuchungen zu den Zusammenhängen zwischen bestimmten Rechtstransfermerkmalen und Problemursachentypen noch nicht vorliegen. Die Idee des Aufmerksamkeitsrasters ist erst
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
163
im Entstehen. Der Mehrwert eines solchen empirischen Vorgehens ist von der rechtsvergleichenden Wissenschaft bisher noch nicht entdeckt worden. Dementsprechend kann eine echte „Veranschaulichung“ einer Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattfinden. Dennoch lohnt es sich, die methodischen Schritte einmal nachzuvollziehen, die ein Rechtsanwender gehen sollte, wenn er das Aufmerksamkeitsraster anwendet. Die Anwendung läuft in drei Schritten ab. Im ersten Schritt (sogleich unter 1.) muss der Rechtsanwender anhand der hier herausgearbeiteten und noch weiterzuentwickelnden Typologie feststellen, aus welchen Typenmerkmalen der Rechtstransfer besteht, den er durchführen möchte. Dafür muss er sein Rechtstransferprojekt unter die Typenmerkmale (der problemorientierten Rechtstransfertypologie) subsumieren. In einem zweiten Schritt (sogleich unter 2.) muss der Rechtsetzer die Merkmale seines Rechtstransferprojektes mit den Erkenntnissen des Aufmerksamkeitsrasters abgleichen. Praktisch bedeutet dies, dass er die Zusammenhänge zwischen den Rechtstransfermerkmalen, die er in seinem Rechtstransferprojekt (in Schritt 1) ausgemacht hat, und die möglichen Problemursachen zur Kenntnis nimmt. Soll zum Beispiel sein eigener (geplanter) Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ ergehen und ergibt sich aus den Untersuchungen, dass Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ vermehrt auf Probleme infolge gesellschaftlicher Ablehnung stoßen, kann den Rechtsetzer diese Information „aufhorchen“ lassen. Das Aufmerksamkeitsraster kann insoweit die Funktion eines „Frühwarnsystems“ einnehmen, welches den Rechtsetzer in die Lage versetzt, sich auf das zu erwartende Problem frühzeitig einzustellen und – im Extremfall – sogar vom Rechtstransfer Abstand zu nehmen. Schließlich kann das Aufmerksamkeitsraster auch Quelle für Strategieideen sein, die ein Rechtsetzer für sein eigenes Rechtstransferprojekt nutzen kann. Sie können sich insbesondere aus den Erkenntnissen zu erfolgsfördernden Maßnahmen ergeben, die bereits im letzten Abschnitt unter 4. vorgestellt wurden. Unter 3. werden einige dieser möglichen Strategieansätze vorgestellt. Wie ein Rechtsetzer das Aufmerksamkeitsraster nutzen kann, wird im Folgenden am Beispiel der Rezeption des türkischen ZGB in der Türkei aufgezeigt. Wir begeben uns also zur Veranschaulichung in die (hypothetische) Position des türkischen Gesetzgebers vor der Rezeption des ZGB. Wir nehmen an, er würde das Aufmerksamkeitsraster verwenden wollen.
1. Erster Schritt: Identifikation von Typenmerkmalen im geplanten Rechtstransfer Der erste Schritt verläuft ähnlich wie bei der Anwendung der „Problemorientierten Rechtstransfertypologie“ im vorherigen Abschnitt: Zunächst muss der Rechtsanwender herausarbeiten, welche Rechtstransfertypen in seinem Rechts-
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
transferprojekt vorliegen. Wie bereits im letzten Abschnitt muss er dabei auch eine Gewichtung der Typenmerkmale untereinander vornehmen. Das hilft ihm, einzuordnen, welche Rechtstransfertypen in seiner Problemrisikoabschätzung eine besondere Beachtung verdienen. Wie auch schon im letzten Abschnitt wird im Folgenden nicht jedes einzelne Merkmal behandelt. Es wird sich ebenfalls auf die bedeutenden Merkmale beschränkt.
a) Ordnungsmuster 1: Ausgangssituation beim Rezipienten Im Hinblick auf die „Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen“ lässt sich sagen, dass die Schweiz bereits zum Zeitpunkt der Rezeption wirtschaftlich deutlich fortschrittlicher war als die Türkei. Die Schweiz hatte eine ähnliche wirtschaftliche Entwicklung genommen wie die sie umgebenden europäischen Staaten.51 Die Industrialisierung der Türkei wurde erst mit dem Kemalismus unter Atatürk vorangetrieben.52 Somit besteht eine geringe Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen. Der „Innovationsgrad“ des importierten ZGB war hoch. Das neue türkische ZGB sollte die zivilrechtlichen Regelungen des Osmanischen Reichs komplett ersetzen. Die „Unterstützung durch die herrschende Elite“ (als Subkategorie zu „ideellen Bedingungen“) war besonders stark ausgeprägt. Die Rezeption des schweizerischen ZGB war ein Prestigeprojekt. Sie war die gesetzliche Untermauerung einer gen Westen gewandten Politik der Kemalisten. Dafür fehlte der Bewegung die Unterstützung der breiten Bevölkerung. Es bildeten sich zwar keine aktiven (politischen) „Oppositionsbewegungen“ im Vorfeld der Transplantation. Dafür überforderten aber einige Bereiche des ZGB die Bevölkerung, sodass sich im Ergebnis ein ähnliches Bild wie eine Oppositionsbewegung darstellt. Über den Oberbegriff „Institutionelle Bedingungen“ stellt sich die Frage, ob die für die Umsetzung des schweizerischen ZGB zuständigen „Institutionen“ in der Türkei „ähnlich strukturiert sind“ wie die Institutionen in der Schweiz „und in vergleichbarer Weise funktionieren“. Dem türkischen Gesetzgeber war bewusst, dass die Übertragung des schweizerischen ZGB keine großartigen institutionellen Reformen bedeuten würde. Die Etablierung von Grundbuchämtern nach schweizerischem Vorbild bildete eine Ausnahme. Die Grundlage für eine Gerichtsstruktur nach französischem und deutschem Vorbild war bereits Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden.53 Sie vereinfachte die Umsetzung der Reformen durch die dem schweizerischen ZGB entsprechenden staatlichen Institutionen. 51 Zur wirtschaftlichen Situation der Schweiz unter anderem zu Zeiten der Rezeption siehe beispielsweise Halbeisen/Müller/Veyrassat, Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. 52 Zur kemalistischen Wirtschaftspolitik und der wirtschaftlichen Situation der Türkei vor den Reformbewegungen siehe ausführlich Biyikli, Die außenpolitische Stellung der Türkei im Nahen und Mittleren Osten, besonders nach dem Kalten Krieg bis Ende 1999, S. 32 ff. 53 Vgl. dazu Plagemann, Von Allahs Gesetz zur Modernisierung per Gesetz, S. 106 f.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
165
Hiernach führt das Raster zur Kategorie „Politischer/motivatorischer Hintergrund des Rechtstransfers“ (nach Miller/Cohn). Für die Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei war nicht eine einzige Motivation ausschlaggebend, sondern ein ganzes Motivationsbündel. Eine Rechtsübernahme aus der Schweiz wurde zum einen gewählt, da man sich dadurch „Zeit und Kosten“ für ein eigenes „westliches“ Konzept „ersparte“.54 Die Rezeption enthält aber auch Elemente eines Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“. Die Türkei war an den Lausanner Friedensvertrag vom 23. Juli 1923 gebunden. Die Übernahme des schweizerischen Rechts (und anderem ausländischen Recht in anderen Rechtsgebieten) geschah somit in Erfüllung einer völkerrechtlichen Verpflichtung.55 Es war eine Gegenleistung für die Aufhebung der Kapitulationen. Die „Druck ausübenden Akteure“ kamen mithin aus dem „Ausland“ und sind „staatlichen“ Institutionen zuzuordnen. Bei der Kategorie „Art des Druckes“ ist das Merkmal „rechtliche Bindung“ einschlägig. Diese erfolgte aus einem „multilateralen“ Verhältnis, genau genommen aus dem Lausanner Vertrag. Dieser galt insbesondere der Friedenssicherung nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem Griechisch-Türkischen Krieg, der im Jahr 1922 geendet hatte.56 Die Übernahme des schweizerischen ZGB durch die Türkei hat zudem Elemente eines „prestigeerzeugenden Rechtstransfers“. Die Entscheidung des türkischen Gesetzgebers für das schweizerische Recht wurde auch mit der besonderen Qualität und Modernität des schweizerischen ZGB gerechtfertigt.57 Eng damit verbunden ist auch die Motivation, das türkische Rechtssystem durch diesen prestigeträchtigen Rechtstransfer zu optimieren. Ebenso war es Ziel der Türkei, der Welt zu „signalisieren“, dass sie sich künftig gesellschaftlich am Westen orientieren wolle. Somit hatte die Reform schlussendlich auch einen symbolischen Charakter.58 Möchte man diese Merkmale des ersten Ordnungsmusters nun untereinander gewichten, stellt man fest, dass der vorliegende Rechtstransfer teilweise ganz andere Schwerpunkte aufweist als die Rezeption des US-Verfassungsrechts in Japan, die noch im letzten Abschnitt behandelt wurde. Dies zeigt, dass eine Gewichtung auch von Bedeutung ist, um den Besonderheiten jedes Rechtstransfers Rechnung zu tragen. Ein wichtiger Faktor für die – zumindest in weiten Teilen – erfolgreiche Rezeption war, dass in der Türkei und in der Schweiz bereits vor der Rezeption ähnliche Struktur vieler Verwaltungs- und Gerichtsinstitutionen existierten. Dass diese Institutionen in ähnlicher Weise funktionierten, stellte für die Umsetzung eines so umfassenden neuen Regelungswerks nach dem de.
54 55 56
Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 36. Dort finden sich eine Reihe weiterer Grün-
Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 35 f. Vgl. bereits oben D. II. 1. a). 57 Siehe schon oben A. IV. 1. 58 Siehe auch schon oben D. II. 2. c).
166
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Originalvorbild einen großen Mehrwert dar. Mindestens ebenso wichtig war die Frage, welche Teile der Gesellschaft die Rechtsübernahme unterstützten. Die Unterstützung der progressiven Elite auf der einen Seite und die Oppositionsbewegungen aus der „einfachen“ Bevölkerung auf der anderen Seite sollten die Entwicklung des Rechtstransfers nachhaltig prägen. Ähnlich bedeutsam sind die erwähnten Beweggründe, die den türkischen Rechtsetzer veranlassten, diese Rezeption durchzuführen. Beachtlich ist hier, dass es nicht einen einzigen Anlass für diese Rechtsrezeption gab, sondern – wie bereits erwähnt – ein ganzes Motivationsbündel. Aus diesem Bündel sticht jedoch die Vorstellung heraus, ein prestigeträchtiges Zivilrechtsmodell in die Türkei zu importieren. Doch wie stark die einzelnen Motivationen im Verhältnis zueinander ausgeprägt waren, und welche möglicherweise den Ausschlag für die mutige Entscheidung einer Gesamtrezeption gegeben hat, kann im Nachhinein kaum seriös nachvollzogen werden. Von geringerer Bedeutung aber immer noch beachtlich sind die unterschiedlichen wirtschaftlichen Ressourcen der Schweiz und der Türkei. Dieser Faktor sollte sich insbesondere bei der Verbreitung des Rechtstransfers in ländlichen Gegenden in der Türkei auswirken. Viele Normen aus der Schweiz waren für dichter besiedelte Gegenden geschaffen worden. Beispiele wie die weiten Entfernungen zu den Standesämtern für die ländliche Bevölkerung wurden bereits dargestellt. Ein ebenfalls in mittlerem Maße relevantes Merkmal war der Innovationsgrad des übernommenen Rechts. Die Tatsache, dass man einen – kompletten – Neuanfang wagte und (jedenfalls auf dem Papier) jegliches alte Recht über Bord warf, ist ebenfalls eine beachtenswerte Eigenschaft des Rechtstransfers. Daraus ergibt sich für das erste Ordnungsmuster die folgende Übersicht: Tabelle 6 Kategorie
Relative Bedeutung
– Ähnliche institutionelle Strukturen zwischen der Türkei und der Schweiz – Unterstützung durch Elite vs. (stiller) Widerstand in der Gesellschaft – Oppositionsbewegungen – Motivationsbündel (insbesondere Prestigeträchtigkeit) – Ungleichheit der wirtschaftlichen Ressourcen – Hoher Innovationsgrad der Normen
Sehr hoch Sehr hoch Sehr hoch Hoch Beachtlich Beachtlich
b) Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Faktoren Unter dem Oberbegriff „Norminhalt“ stellt sich zunächst die Frage, ob sich die Übertragung des ZGB einem Rechtsgebiet zuordnen lässt, bei dem die Erfahrungen zeigen, dass ihm ein „schwächerer bzw. stärkerer kultureller Gehalt“ zukommt. Das zu übertragende schweizerische ZGB gliederte sich in viele einzelne Regelungsgebiete. Es umfasste schuldrechtliche Regelungen ebenso wie
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
167
Regelungen im Familien- und Erbrecht. Viel deutet darauf hin, dass ganz besonders das Familien- und das Erbrecht in der Regel stark kulturell verwurzelte Rechtsgebiete sind. Regelungsgebiete wie das Schuldrecht gelten hingegen als weniger kulturell verwurzelt. Es ergibt sich also ein gemischtes Bild. Das ZGB betrifft auch alle relevanten „sozialen Interessengruppen“. Das Familien- und Erbrecht allein berührt schon die affektive Gemeinschaft und die traditionelle Gemeinschaft. Bei transplantierten Normen, die auch eine religiöse Dimension (beispielsweise die Polygamie) haben, sind auch die Glaubensgemeinschaften betroffen. Darüber hinaus sind die Interessengemeinschaften berührt. Das ZGB legt schließlich auch die Rahmenbedingungen für „Zweckgemeinschaften“ wie Geschäfts- und Vertragspartner fest. Unter dem zweiten Oberbegriff der „Normbeschaffenheit im weiteren Sinne“ fällt die Kategorie der „technischen Normen“ (im engeren Sinne). Sie sind in Zivilgesetzen eher untypisch und waren auch im schweizerischen ZGB kaum vorhanden. Schließlich geben auch die Normen des ZGB den Rechtsanwendern einen „Umsetzungsspielraum“. Das gilt besonders für die Normadressaten selbst, denn viele Normen im Schuld- aber auch im Familien- und Erbrecht sind dispositiv. Ob die juristische Praxis also tatsächlich das kodifizierte Recht „annimmt“, steht ihnen bis zu den Grenzen frei, die ihnen das zwingende Recht setzt. Bei der Gewichtung der Rechtstransfermerkmale aus dem zweiten Ordnungsmuster sticht vor allem der Grad an kulturellen Gehalt der Normen heraus. Bezüglich des Grades des kulturellen Gehalts ergab sich zwar ein gemischtes Bild. Jedoch dort, wo ein hohes kulturelles Gehalt vorliegt (z. B. im Familienund Erbrecht), führte dies schließlich zur Ablehnung einiger Regelungen durch die Gesellschaft oder teilweise sogar deren Umgehung. Bedeutsam ist auch, dass die Sphären aller sozialen Interessengruppen (nach Cotterrell) durch die Rezeption berührt wurden. Dies machte sie erst zu einem umfassenden gesellschaftlichen (Reform-)Projekt. Als nicht ganz so bedeutsam sind hier die Kategorien der Normbeschaffenheit im engeren Sinne und die Umsetzungsspielräume einzustufen. Insbesondere erlangte die Frage der Dispositionsmöglichkeit der ZGB-Norm – zumindest im Anfangsstadium der Rezeption – keine besondere Bedeutung. Für die relevanteren Kategorien aus dem zweiten Ordnungsmuster ergibt sich also das folgende Bild: Tabelle 7 Kategorie
Relative Bedeutung
– Kultureller Gehalt der Normen
(Dort, wo Gehalt hoch) sehr hoch Hoch Eher gering
– Berührung aller sozialer Interessengruppen nach Cotterrell – Umsetzungsspielräume
168
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
c) Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten Der türkische Gesetzgeber war der einzige „Akteur“, der am „Rezeptionsprozess beteiligt war“. Es war ein reformatorischer Alleingang – Interessenverbände, soweit sie existierten, nahmen an dem Prozess kaum bis gar nicht teil. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Übertragungswege stellt die Rezeption des schweizerischen Zivilrechts in der Türkei den klassischen Fall eines „direkten Transfers“ dar. Es handelt sich also um eine „klassische“ Übertragung durch den Rechtsetzer. Mangels größerer Besonderheiten ist hier auch eine Gewichtung der Merkmale untereinander nicht notwendig.
d) Überblick über die identifizierten Merkmale und ihre Bedeutung Am Ende der Untersuchung des Rechtstransfers auf unterschiedliche Typenmerkmale, hat der Rechtsetzer ein Raster, das die Eigenschaften des Rechtstransfers übersichtlich darstellt. Dies könnte wie die folgende Übersicht aussehen: Tabelle 8 Typenmerkmale/Kategorien
Resultat der Untersuchung
Bedeutung
Ordnungsmuster 1: Ausgangssituation beim Rezipienten Oberbegriff: Strukturelle Bedingungen
– Geographische Nähe – Ähnlichkeit der wirtschaftlichen Ressourcen – Innovationsgrad – Grad der Systemunabhängigkeit – „Transplant Bias“
Oberbegriff: Strukturelle Bedingungen
– Unterstützung durch herrschende Elite – Oppositionsbewegungen – Konsensorientierung der politischen Entscheidungsträger – Ähnliche Struktur und Funktionsweise der für die Umsetzung des Rechtstransfers zuständigen Institutionen
Oberbegriff: Ausgangssituation beim Rezipienten
– Rechtstransfer zu Zwecken der Zeit und Kostenersparnis – Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“
Druck ausübende Akteure
– Ausländische Akteure – Staatliche Akteure im weiteren Sinne
Mittelmäßig Gering Hoch Mittelmäßig bis hoch Mittelmäßig
Gering Beachtlich Beachtlich Gering Eher gering
Besonders hoch Kaum Nicht abschließend beurteilbar Relativ ähnlich
Sehr hoch Sehr hoch – Sehr hoch
Ja
Beachtlich
Ja
Beachtlich
Ja Ja
Beachtlich Beachtlich
169
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
Typenmerkmale/Kategorien Art des Druckes
– Rechtliche Bindung – Multilaterales Verhältnis
Zweckrichtung des Drucks
– Öffentliche Belange – Prestigeerzeugender Rechtstransfer – Rechtstransfer zu Zwecken der Optimierung – Rechtstransfer zu Zwecken der Harmonisierung – Rechtstransfer zu Zwecken der Signalwirkung
Resultat der Untersuchung
Bedeutung
Ja Ja
Beachtlich Beachtlich
Ja Ja Ja Ja Ja
Beachtlich Hoch Beachtlich Beachtlich Beachtlich
Ordnungsmuster 2: Rechtstransferspezifische Faktoren Oberbegriff: Norminhalt
– Kultureller Gehalt der Norm nach Rechtsgebieten – Kultureller Gehalt der Norm als Spektrum – Steuerungsfunktionen der Norm – Betroffene gesellschaftliche Gruppen (nach Cotterrell)
Teilweise hoch (Familien- und Erbrecht); teilweise niedrig (z. B. Schuldrecht) Teilweise hoch, teilweise niedrig (z. B. Schuldrecht) Insbesondere imperatives, aber auch dispositives Recht jegliche
Oberbegriff: Normbeschaffenheit im weiteren Sinne
– Technische Normen – Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe – Grad des Ermessens- bzw. Beurteilungs spielraum
Kaum Eher gering
Gering
Sehr hoch (dort, wo betroffen) Sehr hoch (dort, wo betroffen) Niedrig Hoch
Niedrig Eher gering Gering
Ordnungsmuster 3: Übertragungsmodalitäten Oberbegriff: Am Rezeptionsprozess beteiligte Akteure
– Gesetzgeber – Gerichte – Interessengruppen – Mittelbare Akteure
Oberbegriff: Übertragungsweg
– Direkter Rechtstransfer – Vermittelter Rechtstransfer – Eklektischer Rechtstransfer
Ja Nein Nein Nein
Gering Gering Gering Gering
Ja Nein Nein
Gering Gering Gering
170
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
2. Zweiter Schritt: Identifikation möglicher Problemrisiken aufgrund von Erfahrungswerten In diesem zweiten Schritt muss der Rechtsetzer die identifizierten Typenmerkmale mit den Erfahrungswerten aus dem Aufmerksamkeitsraster abgleichen. „Abgleichen“ bedeutet an dieser Stelle, dass der Rechtsetzer mithilfe der Übersicht (siehe soeben 1.) über die Rechtstransfermerkmale untersuchen kann, ob die empirischen Erkenntnisse aus dem Aufmerksamkeitsraster (siehe oben I.) ihm relevante Informationen geben kann. Ergeben die Erfahrungswerte, dass ein bestimmtes Merkmal in früheren Rechtstransfers bereits vielfach zu Problemen bei der Umsetzung von Rechtstransfers geführt hat, kann dies den Rechtsetzer sensibilisieren. Haben Typenmerkmale hingegen gezeigt, dass sie für das Gelingen des Rechtstransfers sogar förderlich sein können, ist auch dies eine wertvolle Information, die ein Rechtsetzer bei der bevorstehenden Transplantation nutzen kann. Das Aufmerksamkeitsraster erlaubt dem Rechtsetzer nicht nur, Erfahrungswerte bezüglich spezifischer Typenmerkmale abzulesen. Das Raster gibt ihm einen Überblick über typische und womöglich wiederkehrende Konstellationen von Rechtstransfers. Diese Erkenntnisse eröffnet dem Rechtsetzer die Perspektive, Rechtstransfers in ihren Kontexten besser zu verstehen.
3. Dritter Schritt: Identifikation möglicher Strategien zur Vermeidung von Problemen bei Rechtstransfers aufgrund der Erfahrungswerte Hat ein Rechtsetzer die Typenmerkmale des Rechtstransfers, den er vornehmen möchte, identifiziert (Schritt 1), und hat er dieses Ergebnis mit den Erfahrungswerten abgeglichen (Schritt 2), stellt sich für ihn die Frage, welche Strategien er zur Verfügung hat, um den Rechtstransfer erfolgreich zu gestalten. Diese „Strategien“ sind nicht zu verwechseln mit Typenmerkmalen, die für das Gelingen eines Rechtstransfers förderlich sind.59 Diese Strategien lassen sich nicht nur über eine Abgleichung der (unter 1.) erstellten Übersicht und dem (in I. vorgestellten) Aufmerksamkeitsraster herleiten. Sie ergeben sich auch aus den Erfahrungen mit problembehafteten Rechtstransfers. 59 So ist zum Beispiel ein starker „Transplant Bias“ eines Rezipienten keine Strategie, um Probleme zu verhindern. Er ist vielmehr eine dem Rechtstransfers anhaftende Eigenschaft, die sich erfahrungsgemäß positiv auf das Gelingen des Rechtstransfers auswirken kann. Strategien bilden die Grundlage für zusätzliche Maßnahmen, die eingeleitet werden können, um Probleme bei Rechtstransfers zu verhindern. Erfolgsfördernde Merkmale und Strategien sind jedoch regelmäßig eng miteinander verknüpft. Merkmale, die nach dem Aufmerksamkeitsraster bestimmte Risiken indizieren können, deuten oft auf bestimmte Problemvermeidungsstrategien hin. Daher ist es auch bei der Herleitung von Erfolgsstrategien sinnvoll, solche Merkmale zu berücksichtigen. Andererseits gibt es auch Strategien, die sich nicht mit einer Eigenschaft eines Rechtstransfers verknüpfen lassen.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
171
Im Folgenden sollen einige dieser Strategien vorgestellt und an einigen Beispielen erläutert werden. Diese Vorschläge sind weder erschöpfend60 noch sind sie für jeden Rechtstransfer in gleicher Weise geeignet. Rechtstransfers entstehen in ganz unterschiedlichen Kontexten. Probleme müssen daher auch mit entsprechend unterschiedlichen Strategien begegnet werden. Die überwiegende Zahl der folgenden Strategieansätze scheinen jedoch für grundsätzlich alle Typen von Rechtstransfers geeignet zu sein. Wie schon bei der Kategorisierung der Problemursachen bei Rechtstransfers (vergleiche oben unter C.) ist auch hier eine Einordnung der Strategien nach zeitlichen Phasen gewinnbringend. Einige der Strategien sollte der Rechtsetzer beachten, bevor er den Rechtstransfer überhaupt in Gang setzt – also während der Vorbereitungsphase. Andere werden erst bei der konkreten Ausarbeitung der Reform relevant – also während der Implementationsphase. Wiederum andere machen erst nach der (formellen) Umsetzung des Rechtstransfers Sinn. Dazu gehört die Phase, welche Örücü als „Tuning“ beschrieben hat61 – sie wird im Folgenden als „Nachbesserungsphase“ bezeichnet.
a) Strategien während der Vorbereitungsphase aa) Prüfung, ob Rechtstransfer als Reforminstrument geeignet ist Kann das angestrebte rechtspolitische Ziel durch die Transplantation fremden Rechts erreicht werden oder nur durch die Weiterentwicklung eigenen Rechts? Neben der Frage nach dem rechtspolitischen Ziel ist dies die vermutlich wichtigste Frage, die sich ein Rechtsetzer zu Beginn seines Rechtsetzungsprozesses stellen muss. Die Rezeptionsbeispiele, die in dieser Arbeit vorgestellt wurden, haben gezeigt, dass sozialer Wandel manchmal nur schwer (allein) durch rechtliche Reformen herbeigeführt werden kann. Bei der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei ist festzustellen, dass die Reformen im Familienund Erbrecht in einigen Teilen der türkischen Gesellschaft noch heute nicht angekommen sind. Das gilt beispielhaft für den Bereich der Mehrehen.62 Dies zeigt klar auf: Recht ist zuweilen nicht in der Lage, gesellschaftliche Änderungen herbeizuführen. In diesem Fall hat es als Instrument zum Antrieb sozialen Wandels versagt. Koschakers Zitat sei noch einmal mit Nachdruck aufgeführt: „Recht kann man zwar von heute auf morgen ändern, nicht aber die Menschen, für die es gilt und die es in Zukunft anzuwenden haben.“63 60 Diese beziehen sich lediglich auf die Person des Rechtsetzers. Strategien für Rechtsanwender oder gar für die von der Norm betroffene Bevölkerung mag es auch geben. Sie werden hier allerdings außer Betracht gelassen. 61 Örücü, in: Örücü/Nelken (Hrsg.), Comparative Law, S. 169 (176 ff.). Zur Rolle der Rechtsprechung in diesem „Tuning“-Prozess Örücü, in: Örücü/Nelken (Hrsg.), Comparative Law, S. 411 (429). 62 Siehe dazu bereits oben C. IV. 1. 63 Koschaker, Europa und das Römische Recht, S. 145 Vgl. bereits oben C. IV. 1.
172
E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Es gibt jedoch auch Gegenbeispiele. Die Rezeption des deutschen Sachenrechts in Estland hat den erstrebten gesellschaftlichen Wandel hin zum Westen stark gefördert. Dieser geglückte Transfer ist ein Beispiel dafür, dass Recht das Verhalten von Menschen zwar vielleicht nicht von „heute auf morgen“, aber zumindest mittelfristig ändern kann. Es gibt also sowohl positive als auch negative Beispiele für die Wirksamkeit von Recht als Instrument für gesellschaftlichen Wandel. Inwieweit das Instrument der Rechtsreform die Hoffnungen auf eine soziale Veränderung erfüllen kann, wird der Rechtsetzer jedes Mal genau zu prüfen haben. In der Abwägung kommen dann alle Faktoren zur Geltung, die für und gegen einen Erfolg der Reform als Rechtstransfer beitragen können. Je stärker die zu transplantierenden Regeln in das kulturelle Selbstverständnis einer Bevölkerung eingreifen, desto kritischer muss hinterfragt werden, ob anderswo geltende Regelungen das richtige Instrument sind, um sozialen Wandel zu erzeugen. Umgekehrt: Je mehr andere (nicht rechtliche) Einflussfaktoren (wie z. B. Medien) die rechtliche Reform mitbegleiten und eine ähnliche Zielsetzung verfolgen wie die Reform selbst, desto wahrscheinlicher ist es, dass Recht als Instrument grundsätzlich geeignet ist. Die Entscheidung, fremdes Recht zu übertragen, bedarf also einer vorausgegangenen sorgfältigen Abwägung. Ein Innehalten und ein Sondieren anderer möglicher Wege hin zu einer gesellschaftlichen Reform ist hierfür ein erster wichtiger Schritt.
bb) Blick auf kulturelle Nähe bei der Wahl des Exportlandes Um Reibungsverluste bei der Umsetzung seines Rechtstransferprojekts zu vermeiden, ist dem Rechtsetzer grundsätzlich zu raten, die Wahl des Exporteurs wohl überlegt zu treffen. Das gilt umso mehr, wenn das Grundkonzept, welches der Rechtsetzer übernehmen möchte, nicht nur in einer fremden Rechtsordnung zu finden ist, sondern gleich in mehreren. Möchte der Rechtsetzer lediglich Ideen, aber keine Normen oder dogmatischen Grundstrukturen übertragen, ist diese Wahl eher unbedeutend. Überträgt er jedoch nicht nur ein vages Konzept, sondern auch fremde Strukturen und Dogmatiken, wird er verstärkt darauf Acht geben müssen, dass eigenes Recht und neues Recht miteinander kompatibel sind. Je stärker die (rechts-)kulturellen Unterschiede zwischen zwei Staaten sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich schon bei der Normsetzung und spätestens bei der Umsetzung des neuen Rechts Probleme ergeben. Ein Beispiel für eine solche Inkompatibilität stellt die Übernahme des schweizerischen ZGB in der Türkei dar.64 Die Rezeption des deutschen Sachenrechts in Estland zeigt hingegen umgekehrt, wie engere (rechts-)kulturelle Bindungen für den Erfolg eines Rechtstransfers nützlich sein können. Bereits einleitend wurden die deutschen Ursprünge des baltischen 64
Im Einzelnen dazu oben C. III., IV.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
173
Zivilrechts skizziert.65 Diese Ursprünge vermochten auch die Zeit überstehen, in der Estland Teil der Sowjetunion war. Wie anfangs näher beschrieben wurde die (rechts-)kulturelle Nähe des deutschen Rechts zum estnischen Recht vor dem Zweiten Weltkrieg sogar als Argument für eine Übernahme speziell des deutschen Sachenrechts genutzt. Das – nie in Kraft getretene – estnische ZGB von 1936/40 war bereits von der deutschen Rechtswissenschaft geprägt.66 Der Reformentwurf lag zunächst nur in deutscher Sprache vor. Estland hat sich bei seiner Sachenrechtsreform nur in einigen wenigen Einzelfragen von dem „kulturell nahen“ deutschen Sachenrecht abgewendet und sich den etwas ferneren Louisiana Civil Code zum Vorbild genommen. Von den in Betracht kommenden Rechtsordnungen in Europa wählte der estnische Gesetzgeber somit die Rechtsordnung aus, die ihm kulturell am nächsten lag. Dies war eine erfolgreiche Strategie, die es sich auch grundsätzlich lohnt, zu verfolgen.
cc) Einbeziehung von (externen) Expertengremien Die für die estnische Rezeption des deutschen Sachenrechts Verantwortlichen in den Ministerien haben eine weitere Maßnahme getroffen, die dem Land bei der Rezeption sehr geholfen hat: Sie banden deutsche Sachenrechtsexperten frühzeitig in das Projekt ein und ließen sie an den Beratungen teilhaben. Dieser stetige Austausch half dabei, den estnischen Verantwortlichen das deutsche Sachenrecht verständlich zu machen. Von besonderer Bedeutung war dafür die Vereinbarung zwischen der Republik Estland und der Deutschen Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit vom 2.12.1992.67 Auch andere europäische Länder und US-amerikanische Institutionen hatten Interesse daran, in Estland ihr Recht „unterzubringen“. Letztendlich entschieden sich die estnischen Verantwortlichen aber (weitgehend) für das deutsche Modell. Dadurch unterscheidet sich Estland von anderen rezipierenden Ländern. Ein Gegenbeispiel ist die Türkei bei deren Rezeption des schweizerischen Zivilrechts. Auch die türkische Regierung sorgte zwar dafür, dass externe Experten bei der Umsetzung des Projektes halfen. Diese Experten wurden aber nicht – oder zumindest kaum – im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses und oder im Vorbereitungsprozess involviert. Ihr Rat wurde erst einige Zeit nach der Implementation gesucht. Die estnisch-deutsche Zusammenarbeit begann hingegen zeitlich weit vor den eigentlichen Gesetzesverabschiedungen. Sie war Teil der vorbereitenden Arbeit und vermittelte den estnischen Verantwortlichen aus den 65 66
Siehe oben A. IV. 3. Vgl. nur Schlinker, in: Graser/Löhnig (Hrsg.), Rezeption, S. 34 (36). 67 Steinke, Die Zivilrechtsordnungen des Baltikums unter dem Einfluss ausländischer, insbesondere deutscher Rechtsquellen, S. 206. Die daraus hervorgehenden Beratungen wurden nicht von der Stiftung als solcher durchgeführt. Vielmehr wurden Experten wie etwa die Notare Prof. Dr. Günter Brambring und Dr. Sigrun Erber-Faller für den Bereich Sachenrecht um Beratungsleistungen gebeten. Zu deren Einfluss auf Gesetzgebungsprozess vgl. z. B. Kõve, Kieler Ostrechts-Notizen 15 (2012), 13 (19).
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Ministerien somit auch früh ein Bewusstsein für mögliche Schwachstellen im deutschen Recht oder andere Problempunkte. Dass der Türkei eine frühere Einbeziehung von externen Beratern nützlich gewesen wäre, indizieren schon die groben Fehler, die ihr bei der Integration des schweizerischen Rechts unterlaufen sind. Dazu zählt insbesondere die Auslassung der Verweise auf die kantonale Gesetzgebung und auf das öffentliche Recht.68 Diese Fehler hätten durch eine enge Absprache mit Experten im schweizerischen Recht zu einem früheren Zeitpunkt vermieden werden können. Es ist also zu empfehlen, Rechtstransfers in enger Beratung mit Experten aus der exportierenden Rechtsordnung zu erwägen und gegebenenfalls auch mit deren Hilfe auszugestalten.69 Andererseits ist auch bei den ausländischen Beratern „rechtsinterkulturelle“ Kompetenz gefragt. Erfahrungen haben gezeigt, dass der Mehrwert von externen Beratern in Rezeptionsprozessen steigt, wenn sie sich mit der Geschichte und dem Kontext des rezipierenden Landes intensiv befassen.70 Ein Beispiel dafür ist das erwähnte Engagement von mitteleuropäischen Zivilrechtsexperten. Diese waren bald nach ihrer Ankunft der türkischen Sprache mächtig und befassten sich eingängig mit den kulturellen Begebenheiten. Einige von ihnen – allen voran Hirsch – gelten heute noch als eine der Koryphäen des türkischen Zivilrechts. Es ist zu vermuten, dass ihr Einfluss auf die Entwicklung des türkischen Rechts noch bedeutender gewesen wäre, wenn sie die juristische Praxis nicht nur erst im Nachhinein beraten hätten, sondern bereits im Rahmen des Gesetzesentwurfs ihre Expertise gegeben hätten.
dd) Übernahme von kodifiziertem Recht vs. Fallrecht Die Wahl des ausländischen Rechts hängt stark davon ab, inwieweit es sich in die Rechtsordnung des Rezipienten einfügen lässt oder nicht. Dies führt auch zu der Frage, inwieweit kodifiziertes Recht und das im anglo-amerikanischen Raum verbreitete Fallrecht unterschiedlich gut für Rezeptionen geeignet sind. Zu diesem Thema konstatierte schon Lipstein: „Das Common Law ist hauptsächlich ungeschrieben und primär darauf ausgelegt, Streitfälle zu lösen, nicht um Policen durchzusetzen. Obschon nicht minderwertig in seiner Qualität und vielleicht sogar überlegen in seiner Subtilität, ist es weniger passend, um einen weitreichenden gesellschaftlichen Wandel zu vollziehen. Dafür ist ein kodifiziertes Recht notwendig, wie die britische Erfahrung in ihren kolonialen Territorien bestätigt.“71 68 Vgl. dazu schon oben C. II. 1. a). 69 So auch schon Rehm, Rabels Zeitschrift
für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 1 (41). 70 Kritisch zu dieser Praxis: Knieper, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 72 (2008), 88 (98 f.) Vgl. auch Birdsall, Seven Deadly Sins: Reflections on Donor Failings, S. 5. 71 Lipstein, International Social Science Bulletin 9 (1957), 70 (81). Eigene Übersetzung aus dem Englischen.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
175
Lipstein spricht dem kodifizierten Recht also einen Vorteil gegenüber dem Fallrecht als Gegenstand von Rechtsübernahmen zu. Dabei bezieht er sich aber in erster Linie auf das Produkt der Rezeption – also der endgültigen Form des rezipierten Rechts in der Rechtsordnung des Rezipienten. Die für einen rezipierenden Rechtsetzer regelmäßig noch interessantere Frage ist jedoch, welcher der beiden Rechtstypen sich besser als Transfergegenstand eignet. Auf den ersten Blick mag auch hier das kodifizierte Recht Vorteile haben. Kodifiziertes Recht ist für den im fremden Recht regelmäßig nicht bewanderten Rezipienten übersichtlicher, strukturierter und damit oft greifbarer. Dies hilft ihm insbesondere bei umfangreichen Rechtstransfers, bei denen regelmäßig nicht nur einzelne Regelsätze übertragen werden, sondern ein oft notwendigerweise ineinandergreifendes Gesamtkonstrukt. Umfangreiche Gesetzestexte sind im Regelfall eingängiger als umfangreiche Fallsammlungen. Auch dies mag ein Grund gewesen sein, warum sich Estland schlussendlich auf die auf Kodifikationen basierende Sachenrechtsgesetzgebung aus Deutschland verlassen und sich gegen die Common-Law-Konzepte entschieden hat.72 Ein entsprechend negatives Beispiel finden wir in der Rezeption der US-Verfassung in Japan.73 Es zeigt auf, wie wichtig es ist, den sozio-kulturellen Kontext von Regeln, die man übertragen möchte, zu verstehen. Dies kommt bei der Übertragung von (Verfassungs-)Rechtsprechung noch deutlicher zum Tragen als bei Kodifikationen. Denn Urteilen liegt nicht nur ein (kulturell beeinflusster) Wertungsspielraum des Richters zugrunde, sondern auch noch ein konkreter Sachverhalt, der sich wiederum in einem besonderen sozialen Kontext abspielt. Dieser Zugang fehlte den japanischen Rechtsetzern. Für die Japaner stellte es ein großes Hindernis dar, diese Urteile und Prinzipien in ihrem sozio-kulturellen Kontext zu verstehen. Vor welchen praktischen Herausforderungen fremde Jurisdiktionen stehen, wenn sie fremdes Fallrecht anwenden, zeigen zudem einige Beispiele aus der Zeit des britischen Kolonialismus. Die Rezeption des britischen Fallrechts in Indien führte beispielsweise zu einem „äußerst verworrenen, geradezu chaotischen“ Zustand.74 Nicht jeder Präzedenzfall aus dem britischen Recht war automatisch in der Kolonie anwendbar. Richter sollten aber nach „justice, equity and good conscience“ urteilen. Nach einem Urteil75 des „Privy Council“ bedeutete dies insbesondere die Anwendung der Common-Law-Regeln, es sei denn 72
Selbst bei einer der wenigen Abweichungen vom deutschen Sachenrecht durch die Einführung von Art. 490 des Louisiana Civil Codes. Vgl. dazu E. II. 3. e) cc). 73 Zwar ist die US-Verfassung, an der sich der japanische Gesetzgeber orientierte, ein Normtext. Doch der große Teil der übertragenen Verfassung entstammt freilich nicht dem Originaltext der Verfassung. Er ist ein Konglomerat von Verfassungsgrundsätzen, die wiederum zu einem Großteil vom US-Supreme Court entwickelt worden waren. 74 Vgl. zum Folgenden und näher Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 222. 75 „ […] the matter must be decided by equity and good conscience, generally interpreted
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
die besonderen Verhältnisse in der indischen Gesellschaft erforderten etwas anderes. Wann besondere lokale Umstände vorlagen, wurde jedoch sehr uneinheitlich beurteilt. So legten die Gerichte in den „Presidency towns“ das Common Law in größerem Umfang an als die Provinzgerichte. Das Fallrecht in Verbindung mit der „Öffnungsklausel“ für die besonderen Verhältnisse – also einer Öffnung für die Berücksichtigung kultureller Besonderheiten – hat hier dazu beigetragen, dass die Rezeption des Common Law in Indien einige Probleme mit sich brachte. Dies führte (unter anderem) dazu, dass im Jahre 1833 durch ein britisches Gesetz bestimmt wurde, dass das indische Recht vereinheitlicht und kodifiziert werden sollte. Hier wurde somit auch von britischer Seite eingesehen, dass die Übertragung von Fallrecht jedenfalls bei Rezeptionen von großem Umfang zu Schwierigkeiten führen kann und in diesem Fall bereits geführt hat. Die Kodifizierung des indischen Rechts wäre womöglich von Anfang an die bessere Wahl gewesen. Bei Rezeptionen kleineren Umfangs erzielt das Fallrecht hingegen ähnlich gute Ergebnisse wie Übernahmen in Form von kodifiziertem Recht. Genau genommen stellen kodifiziertes Recht und Fallrecht den Rechtsetzer vor unterschiedliche Herausforderungen: Bei der Übernahme von Fallrecht stehen Rechtsetzer häufig vor dem Problem, dieses bereits einzelfallbezogene Recht auf eine abstrakte Ebene zu überführen. Bei der Übernahme von kodifiziertem Recht ergibt sich das umgekehrte Problem: Rechtsetzer müssen das oftmals allzu abstrakt gehaltene Recht auf eine konkrete und damit für den Rechtsetzer „greifbare“ Ebene bringen. In Fällen, in denen das kodifizierte Recht so abstrakt gehalten ist, dass es vor allem durch höchstrichterliche Entscheidungen fortentwickelt wurde,76 ergeben sich wiederum zwischen Case Law und kodifiziertem Recht aus methodischer Sicht keine nennenswerten Unterschiede. Bei weniger umfangreichen Rezeptionen ist also weder das Fallrecht noch das kodifizierte Recht abstrakt zu bevorzugen. Entgegen der ersten Tendenz von Lipstein ist Case Law für den Rechtsetzer sogar oftmals greifbarer und damit zugänglicher. Ein gutes Beispiel für eine in weiten Teilen geglückte Übertragung von Case Law ist die Rezeption der US-amerikanisch geprägten Business Judgment Rule in Deutschland.77 Rezipiert wurde keine „statutory provision“, sondern die verschiedenen (teilweise auch uneinheitlichen) Gerichtsentscheidungen verschiedener US-Bundesstaaten. Dennoch hat die Business Judgment Rule ihren Weg relativ einfach nach Deutschland und in sehr viele weitere Rechtsordnungen dieser Welt gefunden.78 Ein Grund dafür ist, to mean the rules of English law if found applicable to Indian society and circumstances“ (im Fall Waghela Rajsanji v. Shekh Masludin [1887] Law Reports 14 I. A. 89, 96). 76 Das gilt ganz besonders für Rechtsgebiete, die zwar kodifiziert sind, in der Praxis aber zu einem ganz erheblichen Teil von der Rechtsprechung bestimmt werden. Eines der vielen Beispiele im deutschen Recht ist etwa das Kündigungsschutzgesetz. 77 Siehe schon oben C. II. 1. c). 78 Vgl. zur Rechtslage in Japan nach dem Apamanshop Case (Oberster Gerichtshof, Ent-
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dass es sich zwar um ein vielschichtiges aber auch um ein überschaubares Konzept handelt. Schließlich ist folgendes festzuhalten: Solange wir über umfangreichere Rechtsübertragungen sprechen, ist kodifiziertes Recht als Rechtstransfergegenstand in der Regel besser geeignet als Fallrecht. Dies gilt aber nur, solange sich die zu übernehmenden (kodifizierten) Regeln auch tatsächlich überwiegend aus dem kodifizierten Text selbst ergeben und nicht erst aus der Rechtsprechung verständlich werden. Bei weniger umfangreichen Rechtsübernahmen haben weder kodifiziertes Recht noch Fallrecht grundsätzliche Vorteile.
ee) Kontextanalyse des zu transplantierenden Rechts Während der Vorbereitungsphase eines Rechtstransferprozesses stellt sich regelmäßig die Frage, wie man die kulturellen Barrieren zwischen der zu transplantierenden Norm und der rezipierenden Rechtsordnung abbauen könnte. Einige Theoretiker sprechen in diesem Kontext von dem Ideal eines „kontextneutralen“ Rechtstransfers. Danach ist „der beste Rechtstransfer […] ein denationalisierter, gekleidet in eine Erscheinung von Objektivität, die regionale Widerstände aufgrund kultureller Identität vereiteln kann.“79 Solche Ideen sind theoretisch einleuchtend, aber für die Praxis weitgehend undienlich. Rechtstransfers können nicht ihrem Kontext entrissen werden. Das Verstehen einer Norm ist nur möglich, wenn man den Kontext miteinbezieht. Dieser Kontext besteht aus den „Komplementaritäten zwischen Recht, Gesellschaft, Kultur und dem politischen Prozess eines jeden Landes“.80 Lässt man diesen Kontext außen vor, enthält man kein „reines“ oder „neutrales“ Bild einer Norm, sondern ein schlichtweg unvollständiges.81 Statt einer künstlichen Auftrennung von Norminhalt und kulturellen Besonderheiten sollte man versuchen, diesen Kontext zu verstehen. Dazu ist ein tiefer Blick in die Rechtsordnung des Exporteurs notwendig. Dabei interessieren rezipierende Rechtsetzer vor allem drei Aspekte: scheidung vom 15. July 2010 – Fall Nr. 2009, 183), näheres bei Puchniak/Nakahigashi, SSRN Electronic Journal 2012. Zur Transplantation der Business Judgment Rule in Kolumbien: Boada Morales, Indonesian Journal of International & Comparative Law 5 (2018), 147. Vgl. zur Entwicklung in Australien: Legg/Jordan, Adelaide Law Review 34 (2014), 403. 79 Ajani, in: Clark, Encyclopedia of law & society, S. 1508 (1509). 80 Ahlering/Deaking, Law & Society Review 41 (2007), 865. 81 Dieses Ideal einer „Dekontextualisierung“ findet sich auch bei Frankenberg speziell für den Bereich des Verfassungsrechts. Nach dessen „IKEA-Theorie“ muss der soziale Kontext einer Norm abgelegt werden, bevor diese transplantiert oder – in Frankenbergs Worten – beim Rezipienten „rekontextualisiert“ – wird. Frankenberg stellt sich diesen Vorgang bildlich wie den Einkauf in einem globalen Warenhaus vor. Wie es aber ein Rechtsetzer methodisch schaffen soll, eine Norm zu „entkontextualisieren“, bleibt unklar. Vgl. zu dieser Theorie Frankenberg, International Journal of Constitutional Law 8 (2011), 563 (570) Siehe dazu auch Michaels, in: Frankenberg (Hrsg.), Order from Transfer, S. 56.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
– der geschichtliche Hintergrund der zu transplantierenden Norm; – die juristischen (im Sinne von dogmatischen) Eigenschaften und Besonderheiten des zu transplantierenden Rechts; – die Rechtswirklichkeit – also die tatsächliche Wirkung des Rechts in der fremden Rechtsordnung. Besonders der letzte Punkt bedarf einer Erläuterung: Für ein besseres Verständnis für die realen Auswirkungen des Rechts in der fremden Rechtsordnung muss sich der Rechtsetzer mit der Wirkung der Norm in ihrem ursprünglichen Umfeld befassen. Dabei kann auf die bereits oben erläuterten Wirkungsdimensionen von Recht nach Hoffmann-Riem zurückgegriffen werden.82 Rechtsetzer müssen zunächst analysieren, welche Entscheidungsergebnisse bei der Anwendung der Norm im Exportland zu erwarten sind (Output): Dazu gehören Fragen wie: Welche praktische Bedeutung hat die Norm in ihrer Ursprungsrechtsordnung? Was sind typische Subsumtionsergebnisse (durch Rechtsanwender, Gerichte oder auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur)? Als zweites muss der Rechtsetzer studieren, wie diese (typische) Normanwendung im Regelfall auf die von der Norm adressierten Individuen einwirkt (Impact); dazu gehört insbesondere die Frage, welches Verhalten die Norm typischerweise bei den Adressaten hervorruft. Schließlich muss der Rechtsetzer die darüber hinaus gehenden Auswirkungen der Anwendungspraktik der Norm auf die Gesellschaft analysieren (Outcome). Allein mit einer Analyse der Wirkungsdimensionen sind die kulturellen Hürden freilich noch nicht übersprungen. Die Erkenntnisse aus dieser Analyse stellen vielmehr erst die Entscheidungsgrundlage für das weitere Vorgehen dar. Die Entscheidung des Rechtsetzers kann dahin gehen, dass der Rezipient die kulturellen Hürden und Umsetzungsprobleme in Kauf nehmen möchte. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn er nicht bereit ist, das fremde Recht zu modifizieren, sondern die „Rechtswirklichkeit“ mehr oder weniger 1:1 übertragen möchte. Sie kann aber auch dahin gehen, dass diese kulturellen Unterschiede zu einer anderen, kulturell an den Rezipienten angepassten Regelung führen oder sogar in einigen zentralen Punkten abgeändert werden.83 Folge davon wäre womöglich eine aufwändige, aber dafür differenzierte Rechtsübertragung. Sie könnte dabei helfen, Übertragungsprobleme zu antizipieren. Schließlich kann sich der Rechtsetzer auch dazu entscheiden, das Rechtstransferprojekt auf Grundlage seiner Informationen abzubrechen. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn die Analyse und der Abgleich ergeben, dass die kulturellen Hürden und die dadurch zu erwartenden Umsetzungsprobleme zu groß werden und nicht ohne beträchtlichen Aufwand zu kompensieren wären.84 82
Siehe oben C. V. Zu dem Gesichtspunkt der Modifikation von Rechtstransfers siehe noch unter e). 84 Die Frage, wann ein oder weshalb ein Rechtsetzer die eine oder andere Entscheidung 83
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
179
Werden diese Analysen nicht oder nur rudimentär durchgeführt, hat dies stets negative Auswirkungen. Drei der vier Problemursachenfelder, die unter C. herausgearbeitet wurden, können bei einer zu unkritischen Übertragung relevant werden. Wird der ausländische Kontext nicht eingehend analysiert, fehlt es regelmäßig an einem ausreichenden Verständnis für das ausländische Recht. Ohne eine profunde Kontextanalyse wird es auch stets schwieriger, die rechtskulturellen Besonderheiten des Exporteurs ausfindig zu machen. Beispiele, welche diese Folgen aufzeigen, sind in dieser Arbeit besprochen worden: An der Rezeption der MacArthur-Verfassung sowie der Übernahme des schweizerischen ZGB wurde oben schon aufgezeigt, dass ein mangelndes Verständnis für die Norm in ihrem ursprünglichen Kontext zu einem (teilweisen) Fehlschlagen der Rechtsübernahme führen kann. Rechtsetzern fehlt jedoch meist der Wille oder die Fähigkeit, vor einer Rechtsübernahme profunde Kontextanalysen durchzuführen. Den japanischen Verhandlern fehlten für eine tiefgründige Analyse vermutlich die Ressourcen und die Zeit. Atatürk fehlte vermutlich sogar ein Interesse an solchen Studien. Sein Ziel war ein radikaler – und aufoktroyierter – Wandel. Atatürk wollte möglichen reaktionären Strömungen zudem durch schlagartiges Handeln begegnen.85 Somit standen auch hier Zeitfaktoren einer profunden Analyse der schweizerischen Normen in ihrem Kontext entgegen. In allen anderen Fällen sollte vor jeder Rezeption hingegen eine Kontextprüfung unbedingt durchgeführt werden. Sie ist vor allem dort unabdingbar, wo der Rezipient und der Exporteur große (rechts-)kulturelle Unterschiede aufweisen.
ff) Einbeziehung der vom Rechtstransfer betroffenen (Interessen-)Gruppen im Vorfeld der Rezeption Eine ebenfalls wirksame Strategie, um Unmut gegen die Einführung fremden Rechts vorzubeugen, ist eine frühzeitige Einbeziehung der vom Rechtstransfer betroffenen Gruppen. „Betroffene Gruppen“ sind vor allem die Normadressaten des Rechtstransfers sowie Personen, die mittelbar mit dem fremden Recht in Berührung kommen. Die Inklusion dieser Gruppen sollte bestenfalls bereits in der Vorbereitungsphase des Rechtstransfers vonstattengehen. Diese Beteiligung zielt nicht nur auf eine gesellschaftliche Befriedung ab, sondern kann dem Rechtsetzer auch ein besseres Verständnis für mögliche Widerstände gegen seine Reformpläne geben. Die Beteiligung der Interessengruppen erleichtert den unter (ee) erwähnten Abgleich von fremdem Kontext mit eigenem Konauf Grundlage dieser Inhalte trifft, liegt freilich außerhalb eines methodischen Strategiekonzepts. Sie sind rechtspolitische Entscheidungen in Form von Kosten-Nutzen-Abwägungen, für die es keine abstrakt richtigen Maßstäbe geben kann. Strategien für ein besseres Gelingen von Rechtstransfers können lediglich Maßnahmen vorschlagen, die diesen Entscheidungsprozess einfacher machen. 85 Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (140).
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
text. Denn je stärker gesellschaftliche Gruppen in den Prozess der Adoption eingebunden werden, und je mehr ihnen auch Einflussmöglichkeiten auf das Ergebnis gewährt werden, desto besser stehen die Chancen, dass sie das fremde Recht akzeptieren. Die Beteiligung solcher Gruppen sollte daher regelmäßig so früh wie möglich erfolgen. Welche soziale Gruppe durch den Rechtstransfer unmittelbar betroffen ist, ergibt sich durch eine Analyse des voraussichtlichen „Impacts“ der Norm (nach Hoffmann-Riem86). Dieser umfasst insbesondere die Normadressaten. Welche Gruppierungen durch den Rechtstransfer mittelbar betroffen sind, findet man heraus, indem man sich den voraussichtlichen „Outcome“ der Norm anschaut. Damit werden darüber hinaus gehende Auswirkungen der Anwendungspraktik der Norm auf die Gesellschaft beschrieben. Bei der Identifikation dieser mittelbar betroffenen Gruppen können wiederum Cotterrells Kategorien von Interessengruppen hilfreich sein. Auch sie wurden bereits oben näher beschrieben: Dabei handelt es sich vor allem um sogenannte instrumentelle Gemeinschaften, traditionelle Gemeinschaften, Glaubensgemeinschaften sowie affektive Gemeinschaften.87 Diese Gemeinschaften teilen nicht nur jeweils unterschiedliche Interessen, sondern haben auch unterschiedliche Mobilisierungsmöglichkeiten gegen Normen, die ihren Interessen oder Traditionen widersprechen. Auch die Form ihrer Einbindungsmöglichkeiten in rechtsetzerische Prozesse variiert teilweise erheblich. Bestimmte Arten von instrumentellen Gemeinschaften können – etwa in Form von Lobbyverbänden – gut organisiert sein. Das gleiche kann für Glaubensgemeinschaften – wie etwa für die Kirche – gelten. (Rein) traditionelle Gemeinschaften sind hingegen oft eher lose miteinander verbunden. Ihr Zusammenhalt ergibt sich aus einer Gewohnheits- und meist auch Werteverbundenheit. Die Stärke des Widerstands einer gesellschaftlichen Gruppe gegen eine Norm hängt meist von der Bedeutung der Norm für die Interessengruppe ab. Ist die durch fremdes Recht zu ändernde Norm nicht nur schon seit langer Zeit in der Rechtsordnung des Rezipienten verwurzelt, sondern ist sie auch von großem Gewicht für die Belange der Interessengruppe, verstärken sich regelmäßig die gesellschaftlichen Widerstände gegen eine Änderung. Dies gilt umso mehr, je grundlegender die Änderung durch den Rechtstransfer für die Interessen dieser Gruppe ist. Damit eng verbunden ist schließlich die Frage, inwieweit das „Gegenangebot“ durch den Rechtstransfer eine tatsächliche Verbesserung der Lebensverhältnisse dieser Gruppen bedeutet. Die Sinnhaftigkeit von Traditionen und Bräuchen wird nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nostalgie verstanden. Wird ein Recht übernommen, welches ein überzeugenderes Konzept anbietet, 86 87
Zu diesen Wirkungsdimensionen des Rechts siehe bereits C. V. Siehe ausführlich oben D. III. 2. a) dd).
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
181
ist davon auszugehen, dass selbst kulturell verwurzelte Gesellschaftsgruppen an ihren Haltungen nicht weiter festhalten werden. Zeigt das neue Konzept hingegen keinen klaren (absehbaren) Vorteil, wirken die traditionellen Kräfte stärker und weisen die Reform im Zweifel ab. Eine Sonderstellung stellt hier regelmäßig die Interessengruppe der Glaubensgemeinschaften oder allgemein der Weltanschauungen dar. Eine „objektiv bessere und effizientere“ Weltanschauung ist selten nachzuweisen, denn ihr Wert lässt sich kaum verobjektivieren. Somit ist es in der Regel kaum möglich, den „Mehrwert“ einer durch einen Rechtstransfer aufgestülpten Weltanschauung glaubhaft zu machen.
b) Strategien während der Implementationsphase Die Implementationsphase umfasst den Rechtsetzungsakt – also etwa die gesetzgeberische Verabschiedung des Rechtstransfers – sowie die spätere Rechtsauslegung und -anwendung. Es folgen nun Vorschläge für Strategien, die in die Gestaltungsmöglichkeiten des Rechtsetzers und in die des Rechtsanwenders fallen. Ausgenommen sind noch nachträgliche – also korrektive – Maßnahmen. Diese werden unter c) behandelt.
aa) Eine wirkungsorientierte Rechtsübernahme In den meisten Fällen von Rechtsübernahmen geht es dem Rechtsetzer darum, eine bestimmte Rechtswirklichkeit aus einer fremden Jurisdiktion zu übernehmen. Recht ist lediglich ein Instrument zur Veränderung sozialer Realität. In einigen Fällen mag eine Rechtsänderung für diese Veränderung ausreichen. In anderen Fällen kann sie diesen Prozess teilweise – also als ein Instrument aus einem Bündel von vielen Instrumenten – anstoßen. In manchen Fällen hängt die Tauglichkeit von Recht als Instrument für gesellschaftlichen Wandel vom Zeitpunkt seines Einsatzes ab. Recht kann auch verfrüht zum Einsatz kommen, sodass sich Widerstände ergeben.88 In einigen (freilich wenigen) Situationen mag Recht sogar ein überhaupt ungeeignetes Instrument sein. Diese Erkenntnis darf jedoch nicht nur in der Vorbereitungsphase eine Rolle spielen.89 Sie muss sich auch in der methodischen Ausarbeitung der Reform niederschlagen. Rechtsetzer (und später auch die Rechtsanwender) müssen das zu übertragende Recht so formen (oder es so anwenden), dass die mit dem Rechtstransfer angestrebten Ziele auch erreicht werden können. Dafür ist es zunächst notwendig, zu verstehen, welche konkreten Wirkungen der Rechtsetzer von dem Rechtstransfer erwartet. Wichtig ist, sich dabei über die Bewirkungsfunktion des Rechts im Klaren zu sein.90 Eine Übertragung von Worten, die im abträglichsten Fall – um es mit 88 Das mag etwa für einige der erwähnten fehlgeschlagenen Normentransfers aus dem schweizerischen ZGB in die Türkei gelten. 89 Siehe dazu bereits oben a) aa). 90 Vgl. dazu allgemein Hoffmann-Riem, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Informationsordnung, Verwaltungsverfahren, Handlungsformen, S. 943.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
den Worten Legrands zu beschreiben – als „leere Hülse“ in der Rechtsordnung des Rezipienten ankommen, ist zu vermeiden. Ein wortwörtliches „Kopieren“ ist nicht zielführend, dafür aber ein wirkungsorientiertes Vorgehen. Die Strategie einer wirkungsorientierten Rechtsübernahme knüpft an die bereits unter a) (ee) vorgestellte Strategie der Kontextanalyse an. Eine Studie über die kontextuellen Besonderheiten des ursprünglichen Rechts bereitet eine wirkungsorientierte Rechtsübernahme vor. Sie beantwortet Fragen wie: Wie genau wird das Recht im Exportland umgesetzt? Was sind (sozio-)kulturelle oder rechtsdogmatische Prämissen dafür, dass die Umsetzung des Rechts dort funktioniert? Welche Ziele werden im Exportland damit verfolgt? Diese Fragen sind wichtig, um sich als Rezipient abermals darüber klar zu werden, welchen gesellschaftlichen Zustand man mit der Transplantation erreichen möchte. Erst wenn ihm diese Zielvorstellungen klar sind, kann er sich die Frage stellen, wie er das fremde Recht an die eigenen Strukturen anpassen oder es unter Umständen modifizieren möchte.91 Eine wirkungsorientierte Strategie kann auf Erkenntnisse aus der Innovationsforschung92 sowie der Effektivitäts- und Wirkungsforschung93 von Recht zurückgreifen. Eine bedeutende Rolle spielen hierbei auch die Bewirkungsformen von Recht, auf die bereits eingegangen wurde:94 Der Rechtsetzer steht vor der Herausforderung, für die Umsetzung der zu übernehmenden Regelung das für seine Rechtskultur „richtige“ Steuerungsinstrument auszuwählen. Er steht etwa vor der Entscheidung, ob er die fremden Rechtsinhalte in Form von imperativem Recht, leistendem Recht oder in Form von Anreizsetzung übernehmen möchte. Die Präferenz für eine Steuerungsfunktion hängt stets auch von der Rechtskultur und der Einstellung der Bevölkerung ab. Die gewählte Steuerungsform kann jener im Ursprungsland ähneln, kann aber auch von ihr abweichen. Wichtig ist am Ende nur, dass das erwünschte soziale Verhalten – also das Wirkungsziel des Rechtstransfers – mit der Transplantation fremden Rechts erreicht wird.
bb) Berücksichtigung aller „Rechtsformanten“ im Übernahmeprozess Eine weitere Strategie, um Rechtstransfers möglichst originalgetreu zu übertragen, ist eine möglichst umfassende Recherche der Rechtsformanten.95 Rechtsformanten bestehen aus unterschiedlichen Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel die Rechtswirklichkeit einer bestimmten rechtlichen Fragestellung formen 91
Zu dem Gesichtspunkt der Modifikation siehe noch unten unter e).
92 Hervorzuheben etwa: Hoffmann-Riem, Innovation und Recht, Recht und Innovation. 93 Beispiehaft: Raiser/Voigt, Durchsetzung und Wirkung von Rechtsentscheidungen; Cot-
tier/Estermann/Wrase, Wie wirkt Recht?. 94 Siehe dazu bereits D. III. 2. a) bb). 95 Zu diesem Begriff siehe schon oben unter B. II. Grundlegend bei Sacco, The American Journal of Comparative Law 39 (1991), 343.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
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können. Rechtsformanten sind etwa der Wortlaut einer Norm, ebenso aber auch Rechtsprechung und Meinungen in der Literatur. Es ist die Aufgabe des Rezipienten, diese Formanten zu verstehen und aus ihnen schließlich die Rechtswirklichkeit abzuleiten. Denn sie gemeinsam „formieren“ das zu übertragende Recht. Das Verständnis der Rechtsformanten ist – wie der soeben besprochene wirkungsorientierte Ansatz – die Fortsetzung der „Kontextbildung“, die bereits oben unter a) (ee) behandelt wurde. Dort werden die Grundlagen für die sozio-kulturelle Einordnung der Norm im fremden System gelegt. Die Klärung der Rechtwirklichkeit anhand der Rechtsformanten ist der nun darauffolgende zweite Schritt. Er bedeutet eine juristische Aufbereitung der zu übertragenden Problemlösung im Ausland. Eine intensive Beschäftigung mit dem ausländischen Recht im Rahmen der Rechtsübertragung hat sich stets ausgezahlt. Ein Beispiel dafür ist die Übertragung des deutschen Sachenrechts nach Estland. Wie bereits erwähnt haben die ministeriellen Verantwortlichen das deutsche Sachenrecht tiefgründig erforscht und dabei Rechtsrat eingeholt. Zudem haben sie auch die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung berücksichtigt und den Normtext teilweise ergänzt.96 Insoweit kann man sagen, dass das estnische Sachenrecht das deutsche Recht in einigen wenigen Teilen „genauer“ wiedergibt als das BGB selbst.
cc) Grundüberlegung: Großflächige Ersetzung des eigenen Rechts vs. kleinteilige Ergänzungen und korrespondierende Anpassung des eigenen Rechts Nach abgeschlossener Kontextanalyse steht der Rechtsetzer vor der entscheidenden Frage, wie viel neues Recht er übernimmt, und wie viel Altes er belässt. Hat er dies entschieden, muss er sich mit einer weiteren etwas subtileren aber nicht minder komplexen Frage beschäftigen: Passt er bestehende Normen an die neue Regelung an, behält aber die dogmatischen Strukturen bei? Oder entscheidet er sich dafür, auch das weitere Regelungsumfeld der zu reformierenden Normen durch die fremden Strukturen zu ersetzen? Entscheidet sich der Rechtsetzer für eine weitgehende Beibehaltung der heimischen „Grundstrukturen“ mag man von der Adaption seiner Rechtsordnung an das fremde Recht sprechen. Entscheidet er sich hingegen dafür, diese Grundstrukturen aufzugeben und weitgehend durch die ausländischen zu ersetzen, nimmt er eine Adoption dieser fremden Grundstrukturen vor. Die Entscheidung, welchen der beiden Wege er wählt, hat bedeutende Auswirkungen auf die endgültige Gestalt des Rechtstransfers. Dass diese Entscheidung nicht immer einfach ist, zeigt das Dilemma des estnischen Gesetzgebers im Rahmen der Rezeption des deutschen Sachenrechts. 96
Heiss, in: Heiss (Hrsg.), Zivilrechtsreform im Baltikum, S. 137 (151).
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Nach dem Fall der Sowjetunion gab es einen Richtlinienkampf zu der Frage Adoption oder Adaption. Bedeutende Stimmen – insbesondere vertreten von Professoren der Universität Tartu – forderten, das sowjetische Recht als Grundlage für die Reformen beizubehalten und nur mit den „allernötigsten Reparaturen“ zu versehen.97 Die neuen Regelungen sollten in die Gesetzesstruktur des sowjetischen Rechts eingebettet werden. Das ausländische Recht98 sollte also an die gegebenen Strukturen adaptiert – angepasst – werden. Die anderen Stimmen – insbesondere vertreten vom estnischen Justizministerium – favorisierten hingegen eine komplette Aufgabe der bisherigen Struktur. Sie forderten eine Adoption – eine komplette Einverleibung – der fremden Dogmatik.99 Das Konzept der Adoption siegte schlussendlich.100 Die Folge war kein Flickenteppich von teilweise sowjetischem Zivilrecht und westlichen Rechtskonzepten, sondern ein Neuanfang. Diese Grundentscheidung wird bei jeder Rezeption auf die eine oder andere Weise getroffen. Auch die Türkei entschied sich für eine Adoption. Es war gerade das Ziel, die osmanischen Rechtsinstitutionen zu enterben und ein westliches Recht zu verankern. Bei der MacArthur-Verfassung handelt es sich wohl um einen Grenzfall. So sind der Aufbau und auch viele Begrifflichkeiten der alten Meiji-Verfassung entlehnt. Von außen betrachtet entsteht eher das Bild einer reformierten Meiji-Verfassung. Allerdings sind die Äußerlichkeiten durch umfassende Neuregelungen nach dem US-amerikanischem Vorbild überlagert, sodass man wohl immer noch von einer Adaption sprechen muss. Diese Frage stellt sich nicht nur bei Totalrezeptionen wie den gerade beschriebenen. Sie stellt sich auch bei kleineren Vorhaben. Der deutsche Gesetzgeber entschied sich bei der Übernahme der Business Judgment Rule gezielt dafür, das Beweisrecht in der ZPO nicht an das US-amerikanische Recht anzupassen.101 Er ließ der Übernahme der Business Judgment Rule keine weiteren Reformanpassungen folgen. Die Konsequenz waren die beschriebenen An97 Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (79). 98 Die Rede ist hier freilich nicht nur vom Sachenrecht, sondern auch von anderen Bereichen des Zivilrechts. 99 Genau genommen sollte auf der „Grundlage des [bereits erwähnten] Entwurfs von 1940 und unter Heranziehung rechtsvergleichender Quellen eine völlig neue Rechtsordnung geschaffen werden.“ Käerdi, in: Heiss (Hrsg.), Brückenschlag zwischen den Rechtskulturen des Ostseeraums, S. 75 (79). 100 Der Widerstand gegen eine weitergehende Übernahme fremden Rechts war auch Teil eines Interessenkonflikts, der fernab von methodischen Gesichtspunkten ausgetragen wurde. Universitätsprofessoren und betagtere Richter wollten es vermeiden, sich an komplett neues Recht gewöhnen zu müssen. Diese Faktoren waren hingegen bei den politischen Verantwortlichen und in den Ministerien weniger ausschlaggebend. Diese Informationen konnten dankenswerter Weise in einem persönlichen Gespräch mit dem Rechtsanwalt und Experten auf dem Gebiet des reformierten estnischen Zivilrechts Martin Käerdi gewonnen werden. 101 Wobei es unklar bleibt, ob er sich der Konsequenzen bewusst war. Siehe auch schon oben: C. II. 1. d).
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
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passungsschwierigkeiten im Bereich des Beweisrechts, die man versuchte, über Umwege einzufangen.102 Andererseits behielt das Zivilprozessrecht damit seine Kohärenz, da der Gesetzgeber es vermieden hatte, durch eine weitergehende „Adoption“ US-amerikanischen Rechts ein neues „Fass“ im Beweisrecht „aufzumachen“. Wie schon angedeutet verlaufen die Grenzen zwischen Adaption und Adoption fließend. Die Entscheidung folgt nicht dem starren Schema „EntwederOder“. Die Entscheidung zwischen Adoption und Adaption kann auch innerhalb eines Transfervorhabens abhängig vom Regelungsbereich variieren. Die Fragen, die sich ein Rechtsetzer stellen muss, sind jedoch stets identisch: Orientiere ich mich bei der Rechtsübertragung nur grob an den Funktionen des ausländischen Rechts? Gibt es Möglichkeiten, dasselbe Ziel zu erreichen, wenn ich die Norm rechtstechnisch anders ausgestalte? Möchte ich nur das Ziel übertragen, oder soll die Übernahme auch konkrete Strukturen oder Dogmatik erfassen? Was im Einzelfall vorzuziehen ist, bestimmt sich nach den konkreten Umständen. Bei Rechtstransfers zum Zweck der Harmonisierung mit fremden Recht mag eine Adoption in der Regel die bessere Variante sein. Doch auch hier kommt es auf den geforderten – oder gewünschten – Harmonisierungsgrad an. Eine Adaption kommt hingegen vor allem bei weniger umfangreichen Reformvorhaben in Betracht. Denn hier stehen die Disruptionen, welche mit Adoptionen einhergehen, oft nicht im Verhältnis zum Änderungsgehalt des Rechtstransfers. Doch auch dies ist nur eine „Faustregel“. Pauschale Antworten verbieten sich. Die Entscheidung, ob sich ein Rechtsetzer für eine Adaption oder für eine Adoption stellt eine wichtige Grundausrichtung für die Entwurfsarbeit dar. In (den meisten) Fällen, in denen sich der Rechtsetzer nicht eindeutig für eines dieser beiden Extreme entscheidet, ist eine intelligente Verzahnung von fremden und heimischen Rechtselementen von großer Bedeutung. Hierbei spielt wiederum eine rechtsvergleichende Analyse der verbleibenden und zu übernehmenden Konzepte eine tragende Rolle. Am Ende braucht der Rechtsetzer keinen Flickenteppich von Konzepten, die wesensfremd sind und sich nicht in Einklang bringen lassen. Er braucht Konzepte, welche miteinander kompatibel sind – beziehungsweise kompatibel gemacht werden können. Adaption vs Adoption bedeutet eine Grundentscheidung von quantitativer Art. Die qualitative – also das In-Einklang-Bringen der Konzepte – bleibt die wichtigste Aufgabe während der Implementationsphase. Eng verbunden mit der Frage Adaption vs. Adoption ist der Aspekt der Modifizierung fremden Rechts. Dieser Gesichtspunkt wird unten unter e) gesondert behandelt. 102 Die Rede ist insbesondere vom sog. Pre-Trial-Discovery-Verfahren. Siehe schon oben C. II. 1. d).
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
dd) Übergangsregelungen Ein sinnvoller Katalysator für Probleme aufgrund rechts- oder sozio-kultureller Unterschiede zwischen Exporteur und Rezipienten sind Übergangsregelungen. Sie geben dem Rechtsanwender und der Gesellschaft Zeit, auf die Neuerung zu reagieren. Das gilt für jedwede Rechtsreform, ganz besonders aber für Rechtstransfers, die einen tiefgreifenden Änderungsdruck auf die Gesellschaft und die Rechtsanwender ausüben können. In der Türkei wurde den Praktikern und der Bevölkerung lediglich etwa fünf bis sechs Monate Zeit gegeben, um sich an das neue Recht zu gewöhnen. Nach Hirschs Auffassung reichte diese Zeit unter keinen Umständen aus, um sich an die Reformen anzupassen. Er vermutet, dass vielleicht eher fünf Jahre notwendig gewesen wären.103 Tatsächlich wäre die Einführung solcher Übergangsphasen bei den oben dargestellten problematischen Teilen der Rezeption möglich und wohl auch dringend notwendig gewesen. Bei der Übernahme der Regelungen, die dem Konzept der Mehrehe entgegenstehen,104 hätte man mit Übergangsregelungen zum Schutz der Kinder einige der bereits beschriebenen Probleme antizipieren können. Insbesondere die rechtliche Benachteiligung von Kindern aus Mehrehen, die nach der Gesetzesverabschiedung geschlossen worden sind, hätte der türkische Gesetzgeber verhindern können. Solche Übergangsregelungen schuf man aber erst einige Jahre später, und reagierte damit auf eine Problematik, die bei einer Übergangslösung gar nicht erst aufgekommen wäre. Eine solche Übergangsregelung hätte beispielsweise beinhalten können, dass bis zu drei Jahre nach der Gesetzesverabschiedung solche Ehen, die nicht vor einem Standesamt geschlossen worden sind, wirksam sind. Alternativ hätte man zumindest die rechtliche Anerkennung von Kindern aus (unter Umständen nichtigen) Mehrehen übergangsweise regeln können. Dennoch – so ist zuzugeben – bedeuten diese Übergangsregelungen auch politische Kompromisse, die nicht immer im Interesse der politischen Entscheidungsträger sind. Insofern muss stets eine Abwägung zwischen den genauen Ambitionen des Rechtsetzers und den Vorteilen von Übergangsregelungen erfolgen. Übergangsvorschriften sind allerdings auch kein Allheilmittel gegen kulturelle Hürden bei der Transplantation fremder Normen. Das Beispiel der Türkei hat gezeigt, dass selbst Jahrzehnte nach der – nachträglichen – Einführung von Übergangsregeln noch immer ein gesellschaftlicher Zustand herrschte, in denen Mehrehen (und die damit verbundenen rechtlichen Komplikationen) Bestand hatten. Übergangsregelungen sind daher ein Instrument, um eine zeitliche Zäsur zwischen dem Gesetz (als politisches Signal für einen bevorstehenden Wandel) und der tatsächlichen zur Wirklichkeit werdenden Reform zu setzen. 103 104
Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 59. Vgl. dazu bereits oben A. IV. 1. und C. IV. 1.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
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Dies schafft aber noch keinen Ersatz für einen Wandlungsprozess, den die gesellschaftlichen Akteure unter Umständen beschreiten müssen.
ee) Ausführlich geregelte Gesetze anstatt Normen mit weitem Auslegungsspielraum Dass Normen mit weiten Auslegungsspielräumen eher Risiken für ihre erfolgreiche Übernahme darstellen können als etwa „technische Normen“, wurde oben bereits dargelegt.105 Diesen Risiken kann der rezipierende Rechtsetzer entgegenwirken, indem er die Normen konkreter fasst als im Ausgangsland. Rechtstechnisch ist dies etwa in Form von Katalogen möglich oder durch ein Regelungskonzept, welches eine verdichtete Darstellung der Rechtsprechung und Literatur im Exportland aufführt. Die Sinnhaftigkeit solcher Normkonkretisierungen hängt vom Einzelfall ab. Man wird annehmen dürfen, dass es bei der Übernahme von Rechtsnormen mit hohem Innovationsgrad tendenziell sinnvoll ist, den Rechtsanwendern ein enges Korsett an Normen an die Hand zu geben. Auch bei Gesetzen, die kulturelles Neuland für den Rezipienten darstellen, gilt dieser Grundsatz. Es erscheint sinnvoll zu sein, die für die Anwendung des ausländischen Rechts entscheidenden Gerichtsentscheidungen in die Normierung aufzunehmen. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Normen einen ausreichenden Abstraktionsgrad haben und nicht zu „Einzelfallgesetzen“ werden. Es gilt: Je enger eine Norm begrifflich gefasst ist, desto unwahrscheinlicher sind Abweichungen bei der Anwendung der Norm aufgrund lokal unterschiedlicher Auslegungspraktiken. Wie eng ein Rechtsetzer Normen fasst, hängt stets auch davon ab, inwieweit die Normanwender wie die Gerichte oder auch die Verwaltung in der Lage sind, die Rechtswirklichkeit des Exportlands bei der Auslegung der Rechtsbegriffe zu berücksichtigen.106 Bedienen sich diese Akteure bei der Anwendung von Recht fremden Ursprungs regelmäßig der rechtsvergleichenden Auslegung, kann ein Rechtsetzer darauf hoffen, dass sie die Normen auch ohne Kataloge ursprungsgetreu auslegen.
ff) Schulung der Rechtsanwender107 Ein Gesetz bleibt toter Buchstabe, wenn nicht versucht wird, es in den Köpfen und Entscheidungen der Betroffenen, also in der Rechtswirklichkeit, zu verankern.108 Je umfangreicher und komplexer die Rechtsübertragung ist, desto 105 Vgl. oben D. III. 2. b) cc). Dort wurde auch bereits darauf hingewiesen, dass weitere Auslegungsspielräume auch eine Chance für Harmonisierungsprozesse darstellen können. 106 Dazu noch sogleich unter gg). 107 Die Schulung von Rechtsanwendern ist eine Strategie, die sowohl während der Implementationsphase als auch für eine nachträgliche Optimierung (unten noch unter c) geeignet ist. Sie soll aber nur an dieser Stelle behandelt werden. 108 Rehm, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht72 (2008), 1 (40).
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
größer ist die Herausforderung für Rechtsanwender, das neue Recht zügig zu verstehen und anwenden zu können. Die Verinnerlichung einer Rechtsreform ist nicht von heute auf morgen möglich. Noch schwieriger wird es für die Rechtsanwender, wenn diese Reform fremdem juristischem Denken entstammt. Die frühzeitige Schulung der Rechtsanwender im neuen Recht ist eine der wirksamsten Strategien, um Umsetzungsproblemen beizukommen.109 In der Vergangenheit haben umfangreiche Schulungen nicht nur das Verständnis für das neue Recht, sondern auch die Anerkennung des neuen Rechts unter den Juristen gefördert. Dies zeigt etwa die Übernahme des deutschen Sachenrechts in Estland. Die estnischen Richter erhielten bald nach der Reform Unterricht im neuen Recht. Im Jahr 1995 – kurz nach der Reform – wurde zudem das Sachenrechtslehrbuch von Schwab in die estnische Sprache übersetzt.110 All dies verhalf dem Land zu einer einheitlichen Praxis und überzeugte auch reformkritische Praktiker von den neuen Bestimmungen. In der Türkei hat man ähnliches versucht: Das Justizministerium stellte Richtern bald nach der Einführung übersetzte Handkommentare des schweizerischen ZGB auf Türkisch zur Verfügung. Auch brachte der türkische Staat den Züricher Kommentar zum Zivil- und Obligationengesetzbuch kostengünstig auf den Markt.111 Die Türkei stand jedoch offenbar vor dem Problem, dass es Schulungen und Hilfsliteratur in einem solch großen Land nicht flächendeckend an den Mann bringen konnte. Dazu fehlte es an den finanziellen Mitteln.112 Somit hatte die türkische Regierung jedenfalls anfangs Schwierigkeiten, den Rechtsanwendern das neue Recht zu vermitteln. Gleichwohl hatten die Bemühungen zumindest langfristig Erfolg. Noch Jahrzehnte danach war es in der türkischen Justiz üblich, insbesondere bei dissenting opinions schweizerische Kommentare zu zitieren.113 Das bloße Angebot solcher Schulungen stellt nicht nur eine sinnvolle Strategie dar, sie ist auch rechtlich weitgehend unproblematisch. Möchte allerdings der Gesetzgeber die Rechtsanwender zur Teilnahme an solchen Schulungen zwingen, kann er hier an rechtliche Grenzen stoßen.114 Während verpflichtende Schulungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung aufgrund der Weisungsgebundenheit weitgehend unproblematisch sind, laufen Rechtsetzer bei der 109 Vgl. auch Hirsch, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 116 (1954), 201–218 (212). 110 In Estland heißt dieses Werk Schwab, Asjaõigus. 111 Dazu und zu einem weiteren Überblick über die weiteren Maßnahmen des türkischen Justizministeriums vgl. Hirsch, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 116 (1954), 201–218 (212). 112 Hirsch, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 116 (1954), 201– 218 (212). 113 Örücü, Journal of Comparative Law 1 (2006), 261 (268). 114 Vgl. zu den rechtlichen Grenzen und den wechselseitigen Argumenten: Henning/Sandhaus, Deutsche Richterzeitung 91 (2013), 396.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
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Verpflichtung von Richtern Gefahr, mit der richterlichen Unabhängigkeit (in Deutschland: Art. 97 Abs. 1 GG) in Konflikt zu geraten.115
gg) Rechtsvergleichung als Auslegungstopos bei Rechtstransfers Eine mögliche Strategie für ein besseres Verständnis für übernommenes Recht ist die rechtsvergleichende Auslegung.116. Konkret bedeutet dies, dass der Anwender einer transplantierten Norm die Hintergründe, Konzepte und Lösungsansätze des Exporteurs berücksichtigt. Er legt das transplantierte Recht also gewissermaßen „im Geiste“ seines Ursprungs aus. Diese Strategie ist für sich gesehen nichts Neues. Schon nach der Rezeption des schweizerischen ZGB forderten prominente Wissenschaftler, dass türkische Richter im Zweifel die Originalversion des ZGB zu Rate ziehen sollen.117 Eine ausdrückliche Regelung, welche die Rechtsvergleichung als Auslegungshilfe für Rechtsimporte anordnet, fehlt allerdings in den meisten Rechtsordnungen. Nur in einigen wenigen finden sich explizite Hinweise darauf. Ein Beispiel ist Art. 39 Abs. 1 lit. c) der südafrikanischen Verfassung, wonach Gerichte bei der Auslegung der „Bill of Rights“ auch ausländisches Recht berücksichtigen können.118 Auch das schweizerische Zivilgesetzbuch eröffnet dem Richter 115 Allerdings
sind verpflichtende Weiterbildungsprogramme für Richter in einigen Teilen Deutschlands bereits Realität. So sieht etwa das Landesrecht Baden-Württembergs (§ 8a BWRichtergesetz) schon jetzt eine ausdrücklich auch für Richter geltende Fortbildungspflicht vor. In vielen weiteren Bundesländern wird eine solche Fortbildungspflicht teilweise aufgrund der Verweisung in den Landesrichtergesetzen auf die Landesbeamtengesetze angenommen. 116 Häberle, Juristenzeitung 44 (1989), 913 spricht als erstes von der Rechtsvergleichung als „fünfte Auslegungsmethode“ in Anknüpfung an die in der juristischen Ausbildung bekannten Auslegungstopoi „Wortlaut“, „Systematik“, „Sinn und Zweck“ sowie „Historie“ nach Savigny. Bei Rechtstransfers braucht man diesen „neuen Topos“ nicht, da die rechtsvergleichende Auslegung Teil der historischen Auslegung ist. Das gilt jedenfalls für Aspekte, die zeitlich vor der Transplantation der Norm aufkommen. Auf die Debatte, inwieweit auch autochthone Normen mithilfe der Rechtsvergleichung ausgelegt werden können, muss hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. dazu grundlegend Zweigert, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 15 (1949/1950), 5–21. Mit Schwerpunkt auf dem öffentlichen Recht Busse, Die Methoden der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als richterliches Instrument der Interpretation von nationalem Recht, S. 130 ff. Für einen Überblick über die Debatte vgl. auch Kischel, Rechtsvergleichung, S. 74 ff. 117 Hirsch leitet dies noch aus Art. 1 Abs. 2 des türkischen ZGB ab (Dieser entspricht den noch heute gültigen Art. 1 Abs. 3 des schweizerischen ZGB: „[Das Gesetz] folgt […] bewährter Lehre und Überlieferung“). Dies verpflichte den Richter, in den Fällen einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Abweichung vom ausländischen Vorbild den ausländischen Originaltext und seine Erläuterungen als „konstante Lehre“ kraft Gesetzes zu beachten. Vgl. Hirsch, Rezeption als sozialer Prozeß, S. 210 Anmerkung 28; Pritsch hält diese Herleitung gar für unnötig. Seiner Ansicht nach ist die Berücksichtigung des ausländischen Originaltexts und seinen Erläuterungen eine „Selbstverständlichkeit, wenn er alle zu Gebote stehenden Auslegungsmittel heranziehen will“ Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (149). 118 Er lautet: „When interpreting the Bill of Rights, a court, tribunal or forum […] may
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
für bestimmte Fälle zumindest implizit die Möglichkeiten einer rechtsvergleichenden Auslegung. Art. 1 Abs. 2 ZGB schreibt vor, dass in Fällen von Regelungslücken, die nicht durch Gewohnheitsrecht gefüllt sind, der Richter „nach der Regel entscheiden soll, die er als Gesetzgeber aufstellen würde.“ Hier wird die Rechtsvergleichung zwar nicht explizit als Methode genannt. Die „bewährte Lehre und Überlieferung“ können jedoch auch aus dem Ausland stammen. Daher spricht nichts dagegen, dass das Gericht bei der Aufstellung der eigenen Norm sich des Instruments der Rechtsvergleichung bedient.119 Andererseits regelt Art. 1 Abs. 2 ZGB ausdrücklich nur den Fall der Regelungslücke. Dies muss bedeuten, dass der Gesetzgeber zunächst alle Möglichkeiten der Gesetzesinterpretation (erfolglos) ausgeschöpft haben muss. Daraus wiederum folgt, dass die Rechtsvergleichung selbst in der Schweiz keine Auslegungsmethode im engeren Sinne ist. Vielmehr ist sie eine Art (ultima-ratio -)Instrument, welches es Richtern erlaubt, Lücken im Gesetz zu schließen, indem sie (womöglich rechtsvergleichend) kreativ sind. Der Auslegungstopos der Rechtsvergleichung ist also eher selten im kodifizierten Recht zu finden. In der Praxis hat sich die rechtsvergleichende Auslegung bei zuvor transplantierten Normen in den meisten Jurisdiktionen jedoch durchgesetzt.120 So hat etwa der deutsche Bundesgerichtshof Gesetzesmaterialien121 oder sogar die Rechtsprechung122 des Exporteurs zu Rate gezogen. Das gleiche gilt für das deutsche Bundesverfassungsgericht.123 Auch in anderen Rechtsordnungen wird die rechtsvergleichende Auslegung von Gerichten gelegentlich praktiziert.124 Trotz dieser Entwicklung kann die Rechtsvergleichung selbst bei der Auslegung von transplantiertem Recht nur einen Topos darstellen, consider foreign law.“ – Bei der Interpretation der Bill of Rights kann ein Gericht, ein Tribunal oder „Forum“ ausländisches Recht berücksichtigen. Eigene Übersetzung aus dem Englischen. 119 Vgl. Zweigert, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 15 (1949/50), 5 (9); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 17; Rusch, Jusletter 2006, 1; kritisch: Kischel, Rechtsvergleichung, S. 77 Rn. 60. 120 Zum Folgenden auch: Drobnig, in: Drobnig/van Erp (Hrsg.), The Use of Comparative Law by Courts, S. 127 (134 f.). A. A. noch Häberle, Juristenzeitung 21 (1992), 1035 (1037), der konstatiert, dass die „spätere Interpretation […] eher zum Hausgemachten, Eigenwüchsigen [neigt]“. 121 Verweise auf Gesetzesmaterialien der Modellgesetzgebung von der Schweiz beziehungsweise Österreich finden sich etwa in BGHZ 4, 369 (375); BGHZ 24, 214 (219); BGHZ 32, 218 (220). 122 Verweise auf die Rechtsprechung des Ursprungslandes finden sich etwa bei BGHZ 21, 112 (119) und RGZ 51, 166 (169) (hier Verweis auf die Rechtsprechung des Exporteurs). 123 Vgl. dazu nur Martini, Vergleichende Verfassungsrechtsprechung mit zahlreichen Beispielen. Ansonsten auch Cárdenas Paulsen, Über die Rechtsvergleichung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts; Busse, Die Methoden der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht als richterliches Instrument der Interpretation von nationalem Recht, 61 ff. 124 Das gilt etwa für griechische Gerichte, die wiederholt bei ihren Entscheidungen auf die deutsche Rechtspraxis verwiesen haben. Vgl. Agallopoulou/Deliyanni-Dimitrakou, in: Drobnig/van Erp (Hrsg.), The Use of Comparative Law by Courts, S. 149 mit einigen Beispielen.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
191
der den anderen Auslegungsmethoden nachgeordnet ist. Auch wenn Rechtstransfers fremden Ursprungs sind, muss ihre Auslegung zunächst nach den allgemein bekannten Auslegungsregeln des Rezipienten erfolgen. Ansonsten wird die Rechtsvergleichung zu einer Art „Rechtsquelle“. Dies würde aber gegen den Grundsatz verstoßen, dass die Auslegung von Recht inhaltlich auf den vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber erstellten Gesetzestext Bezug nehmen muss.125 Die rechtsvergleichende Auslegung kann dem Rechtsanwender daher regelmäßig nur eine Hilfestellung sein, um den eigenen (bzw. „domestizierten“) Text besser zu verstehen.126 In der Praxis kann schon dies dazu führen, dass die Rechtsvergleichung einen Status erlangt, der dem eines Auslegungstopos ähnlich ist. Die Grenze einer solchen Praxis muss jedoch dort liegen, wo die üblichen Auslegungstopoi auf andere Ergebnisse hinweisen. Die rechtsvergleichende Interpretation kann diese Hinweise nicht verdrängen. Eine echte Rolle spielt die Rechtsvergleichung als „Auslegungsmethode“ daher nur in besonders komplexen Fällen und solchen, die besonders problematische Wertungsfragen auszeichnen.127 Vielerorts sind die Gerichte selbst bei transplantiertem Recht mit der Anwendung einer rechtsvergleichenden Interpretation eher zurückhaltend.128 So bildet die rechtsvergleichende Auslegung insgesamt immer noch eine große Ausnahme.129 Grund dafür ist aber in der Regel weniger der fehlende Wille der Richter, sondern ihre hohe Auslastung und der vielerorts schlechte Zugang zu den relevanten Informationen.130 Hat eine Rechtsordnung aber ein Interesse daran, dass Rechtstransfers künftig mit dem nötigen interkulturellen Bewusstsein angewendet werden, müssen die Rahmenbedingungen für die rechtsvergleichende Auslegung verbessert werden. Es liegt an der Wissenschaft, den Gerichten ein an ihre Bedürfnisse angepasstes Anschauungsmaterial zur Verfügung zu stellen.131 Bei besonders tiefgreifenden 125
Eine Ausnahme ist dann gegeben, wenn sie ausdrücklich als Rechtsquelle benannt ist. Vgl. z. B. Art. 38 Abs. 1 lit. c des Statuts des Internationalen Gerichtshofs, nach dem allgemeine Rechtsgrundsätze eine wichtige Rechtsquelle im Völkerrecht sind. Vgl. auch auf der europäischen Ebene Art. 340 Abs. 2 AEUV, wonach die Union im Rahmen der außervertraglichen Haftung den durch ihre Bedienstete, Organe usw. entstandenen Schaden „nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“ ersetzt. Siehe ausführlich bei Kischel, Rechtsvergleichung, S. 89 ff. Rn. 81 ff. m. w. N. 126 Kischel, Rechtsvergleichung, S. 87 Rn. 78. 127 Kischel, Rechtsvergleichung, S. 83 f. Rn. 72. Dieser verweist dort auf Beispiele wie der Bezugnahme des BGH auf ausländische Rechtsordnungen bei der Frage des immateriellen Schadensersatzes im Rahmen von § 253 BGB, oder dem Verwertungsverbot von Aussagen eines nicht zuvor über seine Rechte belehrten Beschuldigten nach der Strafprozessordnung. Siehe dazu S. 84 Rn. 73. 128 Zu den folgenden Gründen siehe ausführlich Kischel, Rechtsvergleichung, S. 80 Rn. 65 ff. 129 Kischel, Rechtsvergleichung, S. 86 Rn. 77. 130 Kötz, in: Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/Widmaier (Hrsg.), Handels- und Wirtschaftsrecht, Europäisches und Internationales Recht, S. 825 (837). 131 Kötz, in: Canaris/Heldrich/Hopt/Roxin/Schmidt/Widmaier (Hrsg.), Handels- und Wirt-
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
und bedeutenden Reformen kann sogar dem Staat diese Aufgabe zukommen. Zusätzlich müssen Grundlagen der rechtsvergleichenden Methode bestenfalls bereits in der Juristenausbildung berücksichtigt werden. Zumindest sind Schulungen beziehungsweise Weiterbildungen von angehenden und praktizierenden Richtern im Bereich der rechtsvergleichenden Methode erwägenswert. Dies sind Beispiele, die dabei helfen können, Rahmenbedingungen für eine selbstbewusste Rechtsvergleichungspraxis in der Justiz schaffen. Je mehr es in einer Rechtskultur als „üblich“ gilt, dass ursprungsfremdes Recht als solches erkannt und behandelt wird, desto einfacher tut sich diese Rechtskultur damit, das fremde Recht umzusetzen. Bestenfalls beschränken sich die Gerichte bei ihrer Auslegung nicht nur auf Materialien, die dem Gesetzgeber vor der Transplantation zur Verfügung standen. Im Idealfall berücksichtigen sie auch die Rechtsentwicklungen im Exportland nach der Umsetzung des Rechtstransfers. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass der Wille des Gesetzgebers bei der Auslegung vom Recht stets im Mittelpunkt zu stehen hat. Ein dynamischer rechtsvergleichender Ansatz ist aber dann zu rechtfertigen, wenn sich eine „mittelbare, ideengeschichtliche Beziehung“ zwischen der Norm in der Rechtsordnung des Rezipienten und der Ursprungsnorm im Exportland erkennen lässt. Dieses Konzept wird auch zur Rechtfertigung einer kulturell-rechtsvergleichenden Auslegung von Normen verwendet, die keinerlei unmittelbare Verknüpfung wie im Falle einer Rechtsübertragung haben. Solange die Rechtsvergleichung nicht als Auslegungstopos im engeren Sinne verstanden wird, sondern mehr im Sinne einer (den üblichen Auslegungsmethoden nachgeordnete) Auslegungshilfe, kann auch einem dynamischen Ansatz nichts entgegenstehen.132 Die dynamische Rechtsvergleichung kann also dabei helfen, das ursprünglich fremde und nun eigene Recht als Konzept besser zu verstehen. Seitenblicke auf die Rechtsentwicklungen im Ursprungsland lohnen sich vor allem im unmittelbaren Anschluss an die Transplantation.133 In dieser Phase werden die Weichen dafür gestellt, ob der Rechtstransfer in seiner neuen Umgebung funktionieren kann. Die Entwicklungen transplantierten Rechts im Exportland liefern den Rezipienten brauchbare Denkanstöße. Diese können den Rezipienten auch in die Lage versetzen, eine schlussendlich eigenständige Dogmatik zu entwickeln.
schaftsrecht, Europäisches und Internationales Recht, S. 825 (841). Zustimmend unter anderem auch Markesinis/Fedtke, Rechtsvergleichung in Theorie und Praxis, S. 111. 132 Vgl. dazu etwa Kischel, Rechtsvergleichung, S. 79 f. Rn. 63 ff. m. w. N. 133 So auch schon Pritsch, der eine solche „moderne Auslegungsmethode“ empfiehlt, dabei aber betont, dass sie für den Richter freilich nicht bindend sei. Pritsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 59 (1957), 123 (148 f.).
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
193
hh) Rechtliche Rahmenbedingungen für die soziale Anpassung an das fremde Recht schaffen Der Erfolg von Rechtstransfers hängt wie bereits dargestellt nicht immer nur von einer fehlerfreien rechtsdogmatischen Integration ab. Zuweilen ist die soziale Integration der neuen Norm mindestens ebenso wichtig. Die Bedingungen für das Gelingen einer „sozialen Integration“ hängen stark vom sozialen Kontext der Norm ab. In einigen Bereichen ist vor allem das Wertegerüst einer Gesellschaft (beziehungsweise der betroffenen sozialen Gruppen134) entscheidend. Dafür sei beispielhaft das kulturell stark verwurzelte Familienverständnis in der Türkei erwähnt, das bei der Rezeption des schweizerischen ZGB zu Problemen bei der formellen Abschaffung der Polygamie geführt hat.135 In anderen Fällen hingegen hängt die Funktionstüchtigkeit eines Rechtstransfers nicht so sehr von den Werteanschauungen einer Gesellschaft, sondern von den institutionellen Strukturen ab. Ein gutes (hypothetisches) Beispiel ist die Übertragung von Verbraucherschutzrecht nach deutschem Verständnis. Der Erfolg von Verbraucherschutzrecht hängt in der Praxis stark davon ab, inwieweit es eine Gesellschaft leisten kann, diese Rechte auch durchzusetzen. In Deutschland – sowie in ganz Europa – spielen dabei regelmäßig die Verbraucherschutzverbände eine ganz entscheidende Rolle. Möchte also ein Drittstaat das Verbraucherschutzrecht Deutschlands kopieren, sollte er sich bewusst sein, dass für eine erfolgreiche Umsetzung eine starke Verbandsstruktur existieren muss. Existiert sie noch nicht, muss er auch diese Strukturen kopieren oder zumindest ähnliche rechtliche Grundlagen schaffen, die diesem Konzept weitgehend entsprechen.
c) Strategien während der Nachbesserungsphase aa) Evaluationen Dass ein nicht unerheblicher Teil der türkischen Bevölkerung selbst Jahrzehnte nach der ZGB-Reform in der Türkei noch Polygamie ausübt, bleibt einer Gesellschaft nicht verborgen. Auch das heraufgesetzte – und auf Druck der Gesellschaft wieder herabgesetzte – Mindestehealter war rasch Gegenstand eines öffentlichen Diskurses. Diese Defizite waren problemlos sichtbar. Sie berührten die Bevölkerung unmittelbar und in zahlreichen Fällen. Diese offensichtlichen – und öffentlichkeitswirksamen – Fälle des Scheiterns von Normtransplantationen sind jedoch in der Minderzahl. Häufiger kommt es hingegen zu Fällen, in denen Fehler bei der Übertragung fremden Rechts nicht sofort auf der Hand liegen. Die fehlenden Regeln zur gemeinschaftlichen Nutzung von Quellen auf Privatgrundstücken wie im 134 135
Zu den sozialen Interessengruppen nach Cotterrell vgl. D. III. 2. a) dd). Vgl. bereits oben A. IV. 1. und C. IV. 1.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Fall der ZGB-Rezeption in der Türkei136 sind für die Gesellschaft – außer im konkreten Streitfall – weit weniger sichtbar. Hier fehlt es an einer entsprechenden Öffentlichkeitswirksamkeit und somit an einer Kontrollinstanz. „Versteckte“ Probleme bei der Übertragung von fremdem Recht können nur gefunden und antizipiert werden, wenn der Rechtsetzer das transplantierte Recht nach der Transplantation evaluiert. Dass stetige Evaluationen einer Reform zu einem (relativen) Erfolg verhelfen können, hat der Übernahmeprozess bei der Umweltverträglichkeitsprüfung gezeigt. Die Idee der Umweltverträglichkeitsprüfung war ursprünglich stark an das Konzept des US-amerikanischen Environment Impact Statement (EIS) angelehnt, welches wiederum aufgrund des National Environmental Policy Act (NEPA), eines US-Bundesgesetzes, bereits im Jahr 1969 in den Vereinigten Staaten eingeführt worden war.137 Die EU-Richtlinien und das daraus entstandene deutsche Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz (UVPG) wurden nach der Übernahme durch eine große Anzahl an Evaluationen und entsprechenden Nachbesserungen begleitet.138 In diesem Fall waren die Evaluationen freilich (auch) die Konsequenz der Bindungswirkung des EU-Rechts: Die Umsetzung der UVP-Richtlinie in deutsches nationales Recht war immer wieder begleitet von Verdikten des Europäischen Gerichtshofes.139 Stetige Evaluationen von Rechtstransfers lohnen sich allerdings auch bei Rechtstransfers ohne „rechtlicher Bindung“.
bb) Austausch der Wissenschaft und Praxis im Nachgang der Rezeption Der Austausch von Experten aus der Wissenschaft und Praxis hat sich als hilfreich für die Optimierung von Rechtstransfers erwiesen. Seitens der Türkei 136 Diese entstanden dadurch, dass der türkische Gesetzgeber Normen des schweizerischen ZGB, die auf kantonales Recht verwiesen, außer Betracht ließ. Siehe ausführlich oben C. II. 1. a). 137 Weber/Hellmann, Neue Juristische Wochenschrift 43 (1990), 1625. Bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, wie sie heute existiert, handelt es sich also – ähnlich wie bei der Übernahme des erwähnten Independent-Regulatory-Agency-Konzepts – um einen Rechtstransfer „über Bande“. 138 Nachbesserungsversuche gab es sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene. Auf europäischer Ebene wurde die ursprüngliche „Übernahme“ des Konzepts der Umweltverträglichkeitsprüfung aus den USA schon durch die Richtlinie 2001/42/EG (27. Juni 2001) sowie durch die Richtlinie 2011/92/EU (15. Mai 2014) evaluiert und inhaltlich überarbeitet. Letztere Richtlinie wurde schließlich vom deutschen Gesetzgeber in der UVP-Novelle vom 28. August 2017 umgesetzt. Für einen Überblick vgl. etwa: Wolf, Zeitschrift für Umweltrecht 29 (2018), 457. Unabhängig davon wurden in Deutschland schon zu einem früheren Zeitpunkt Evaluationen zum Konzept der Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt. So z. B. die „Evaluation des UVPG des Bundes: Auswirkungen des UVPG auf den Vollzug des Umweltrechts und die Durchführung von Zulassungsverfahren für Industrieanlagen und Infrastrukturmaßnahmen.“ vom August 2008“. 139 Vgl. EuGH, Slg. 1998, I-6135; Erbguth, Zeitschrift für Umweltrecht 25 (2014), 515 (517).
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
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wurde vieles dafür getan, um die Kompetenz ausländischer Gelehrter ins Land zu holen. Die Türkei schuf Lehrstühle für prominente Juristen aus dem deutschen oder dem schweizerischen Raum. Der Türkische Rechtsverein lud regelmäßig ausländische Gelehrte ein, um „den lebendigen Kontakt mit der Rechtsentwicklung des Auslandes und seinem Gedankengut aufrechtzuerhalten.“140 Diese Kontakte erlaubten zudem ein ständiges Hinterfragen des transplantierten Rechts und ein Abgleichen mit dem originalen schweizerischen ZGB. Die Folge war eine „dynamische Rechtsvergleichung“ durch die Wissenschaft, wie sie bereits oben vorgeschlagen wurde.141 Mit diesem intensiven Austausch wurden in der Türkei gute Erfahrungen gemacht. Ein Beispiel, das symbolhaft für den Einfluss deutscher Gelehrter auf die Rechtsentwicklung herangezogen werden kann, ist der Briefwechsel von Ernst Hirsch mit einem Präsidenten eines Zivilsenats des türkischen Kassationshofs aus dem Jahr 1926.142 Dieser zeugt davon, dass die Gelehrten nicht nur im Bereich der Wissenschaft und Lehre eine wichtige Stellung innehatten, sondern auch bei der Entscheidung konkreter Rechtsfragen zu Rate gezogen wurden. Die Übersiedlung von europäischen Wissenschaftlern im Anschluss an die Rezeption war ein großes Glück für die Türkei. Ein wesentlicher Grund dafür, warum die Rezeption verschiedentlich in der Gesamtschau als „Erfolg“ gewertet wird, ist ihre gründliche Nachbereitung. Das Beispiel der Türkei zeigt aber auch, dass es nicht ausreicht, dass sich lediglich die (rechtsvergleichende) Wissenschaft mit der Weiterentwicklung und Evaluation des transplantierten Rechts beschäftigt. Zudem ist ein reger Austausch zwischen Richtern und anderen Praktikern notwendig. Praktiker müssen in die Lage versetzt werden, die tatsächlichen Verhältnisse und geistigen Strömungen einer fremden Rechtsordnung zu verstehen. Praktiker brauchen Schulungen in der rechtsvergleichenden Methode.143 Da der Wandel und auch die Wirkung von Recht durch metajuristische Faktoren bestimmt ist, wäre eine Grundlagenausbildung im Bereich der Rechtssoziologie ebenfalls gewinnbringend.144 Zudem erscheint es ratsam, grundlegende Kenntnisse in diesen Gebieten schon im Rahmen der juristischen Grundausbildung zu vermitteln.145 140 Hirsch, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 116 (1954), 201– 218 (213). 141 Siehe dazu oben E. II. 3. c) bb). 142 Ein Teil dieses Briefwechsels findet sich oben unter C. II. 1. 143 Hirsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 65 (1968), 182 (222). 144 Denn nur auf rechtssoziologischer Grundlage kann Rechtsvergleichung (beziehungsweise die Rechtstransferforschung) zu gesicherten Ergebnissen führen, vgl. Hirsch, Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft 65 (1968), 182 (223); Zweigert, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 15 (1949/1950), 5–21; Drobnig, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 18 (1953), 295. 145 Rechtssoziologische Kurse führten beispielsweise die Türkei nach der Rezeption des schweizerischen ZGB ein. Vgl. dazu Hirsch, Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Konkursrecht 116 (1954), 201–218 (211).
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
cc) Einbeziehung der vom Rechtstransfer betroffenen Interessengruppen Eine Einbeziehung der durch den Rechtstransfer betroffenen Interessengruppen scheint nicht nur in der Vorbereitungsphase, sondern nach der Implementationsphase des Rechtstransfers sinnvoll zu sein. Gerade bei Rechtstransfers, die große sozio-kulturelle Einschnitte für eine bestimmte Interessengruppe in einem Land darstellen, ist es wichtig, die Reform auch im Nachgang zu begleiten. Mögliche Formen der Einbeziehung sind vielfältig. Ist ein direkter Austausch mit den Gruppen nicht möglich, kann die Einbeziehung auch über deren Interessenvertreter (Lobbyverbände, Verbraucherverbände, Kirchen usw.) erfolgen. Würden zum Beispiel Normen im Mietrecht transplantiert werden, böten sich etwa Gespräche mit den Mietervereinen an. Solche Gespräche helfen nicht nur, die Reform aus Sicht der Betroffenen zu „legitimieren“. Regelmäßig helfen sie dem Rechtsetzer auch dabei, mögliche Probleme aus erster Hand zu erfahren.
d) Ansatz für eine „Strategientypologie“ Neben der zeitlichen Einordnung in Rechtstransferphasen (so wie eben geschehen), können die Strategien auch nach sachlichen Gesichtspunkten kategorisiert werden. Wie dies geschehen könnte, wird im Folgenden aufgezeigt. Strategien für bessere Rechtstransfers stellen sehr unterschiedliche Anforderungen an die Beteiligten. Teilweise sind es Hinweise zur gedanklichen Vorarbeit (z. B. oben a) aa), a) bb), a) dd)).146 Teilweise betreffen die oben genannten Strategien die konkrete rechtstechnische Umsetzung des Transfers (z. B. b) aa), b) bb), b) cc), b) dd), b) ee)). Andere befassen sich eher mit den rechtlichen Rahmenbedingungen im weiteren Sinne. (z. B. b) gg), b) hh)). Wiederum andere behandeln die Kommunikation und die Wissensvermittlung zwischen den am Rechtstransferprozess Beteiligten (z. B. a) cc), a) ee), b) ff ), c) bb), c) cc)). Es spricht vieles dafür, dass sich auch diese Strategien sinnvoll in eine Typologie einordnen lassen. Die eben angedeuteten Ordnungsmuster dürften hierfür noch ein wenig vage sein. Sie genügen aber als erster Ansatz. Der Mehrwert einer solchen Typologie könnte in einer Art „To-Do-Liste“ liegen, die ein Rechtsetzer, wenn er fremdes Recht überträgt, zu Rate ziehen kann. Auch bei einer weiteren Ausarbeitung kann eine „Strategientypologie“ dem Rechtsetzer jedoch keine schrittweise „Anleitung“ für die Vornahme eines Rechtstransfers geben. Dafür unterscheiden sich die Rahmenbedingungen von Rechtstransfers zu sehr voneinander. Dementsprechend sind auch Vorschläge von allgemeingültigen „Transplant-Konzepten“ oder „Blaupausen“ für die Erstellung von Rechtstransfers mit Skepsis zu betrachten. Beispielsweise ver146 Viele dieser Aspekte finden sich auch in der rechtsvergleichenden Methodik wieder – mit dem Unterschied, dass sich Rechtstransferstudien auch mit Fragen der „Umsetzbarkeit“ beschäftigen müssen.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
197
sucht sich Xanthaki an einer solchen Art von Blaupause für legal transplants im Rechtsetzungsprozess.147 Sie beschreibt, wie und zu welchem Zeitpunkt des Rechtsetzungsprozesses ein Transplant-Concept erstellt werden sollte – ein „generisches“ zu Beginn, ein „konkretes“ im Anschluss. Hiernach soll sich ein Transplant Comparative Research Design in Form von Fallstudien anschließen. Ein solches Konzept mag – intuitiv – eine sinnvolle Herangehensweise sein. Für einen echten Mehrwert fehlt es ihm jedoch an der Allgemeingültigkeit. Wie ein Rechtsetzer methodisch einen Gesetzesentwurf erarbeitet, hängt stark von den äußeren Rahmenbedingungen des Rechtstransfers ab. Die Frage, welche sozialen Gruppen oder Experten der Rechtsetzer miteinbezieht oder wie er soziale Interessenvertreter für das Vorhaben mobilisiert, wirkt sich erheblich auf seine Herangehensweise aus. Auch die Vorgeschichte der Rechtstransfers in der eigenen Rechtsordnung (Beispiel: Pre-Rezeption durch die Rechtsprechung wie bei der Business Judgment Rule oder komplett unbekannte Regel?) spielt eine wichtige Rolle. Schließlich befasst sich die Idee von Xanthaki nur mit der Vorbereitungs- und mit Teilen der Implementationsphase. Die Nachbesserungsbzw. Evaluationsphase lässt sie gänzlich außer Betracht. Diese Phasen lassen sich aber nicht immer sinnvoll trennen. Vielmehr verbindet ein Gesamtkonzept für eine Rechtsübertragung im Idealfall alle drei Phasen. Dies und weitere Faktoren führen dazu, dass eine solche abstrakte methodische Anleitung kaum einen Mehrwert schafft. Eine „To-Do-Liste“ ist hingegen frei von Vorschlägen zum methodischen Vorgehen. Ihr Mehrwert ergibt sich aus den Hinweisen auf mögliche Problemkreise, mit denen der Rechtsetzer während der Vorbereitungs-, Implementations- oder Nachbesserungsphase konfrontiert ist. Sie erhebt auch nicht den Anspruch, allgemeingültige Lösungsstrategien aufzuzeigen, sondern beschränkt sich auf allgemeine Hinweise. Inwieweit der Rechtsetzer diese befolgen möchte und kann, bleibt eine Frage des Einzelfalls. Insoweit hat die „Strategientypologie“ – ebenso wie das Aufmerksamkeitsraster – die Funktion einer Disziplinierung, die zu einer Sensibilisierung für problemrelevante Aspekte im gesamten Rezeptionsprozess führt. Aufbauend auf den Ergebnissen in diesem Abschnitt könnte eine „Strategientypologie“ wie folgt aussehen:
147
Zum Folgenden: Xanthaki, International & Comparative Law Quarterly (2008), 659.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Strategie
Phase im Rechts transferprozess148
Oberkategorie
Prüfung, ob Rechtstransfer als Reforminstrument zur Erreichung des rechtspolitischen Ziels geeignet ist
Vorbereitungsphase
Gedankliche Vorarbeit
Blick auf kulturelle Nähe bei der Wahl des Exportlandes
Vorbereitungsphase
Gedankliche Vorarbeit
Kontextanalyse des zu transplantierenden Rechts
Vorbereitungsphase
Gedankliche Vorarbeit
Einbeziehung von (externen) Expertengremien
Vorbereitungsphase
Kommunikation und Wissensvermittlung
Einbeziehung der vom Rechtstransfer betroffenen Interessengruppen im Vorfeld der Rezeption
Vorbereitungsphase
Kommunikation und Wissensvermittlung
Übernahme von kodifiziertem Recht
Vorbereitungsphase
Rechtstechnische Umsetzung des Rechtstransfers
Berücksichtigung aller „Rechtsformanten“ im Übernahmeprozess
Implementationsphase
Rechtstechnische Umsetzung des Rechtstransfers
Grundüberlegung: Adoption oder Adaption?
Implementationsphase
Rechtstechnische Umsetzung des Rechtstransfers
Übergangsregelungen
Implementationsphase
Rechtstechnische Umsetzung des Rechtstransfers
Ausführlich geregelte Gesetze anstatt Normen mit weitem Auslegungsspielraum
Implementationsphase
Rechtstechnische Umsetzung des Rechtstransfers
Rechtsvergleichung als Auslegungstopos bei Rechtstransfers
Implementationsphase
Rechtliche Rahmenbedingungen im weiteren Sinne
Rechtliche Rahmenbedingungen für die soziale Anpassung an das fremde Recht schaffen
Implementationsphase
Rechtliche Rahmenbedingungen im weiteren Sinne
Schulung der Rechtsanwender
Implementationsphase
Kommunikation und Wissensvermittlung
Austausch der Wissenschaft und Praxis im Nachgang der Rezeption
Nachträgliche Optimierung
Kommunikation und Wissensvermittlung
Einbeziehung der vom Rechtstransfer betroffenen Interessengruppen im Nachgang der Rezeption
Nachträgliche Optimierung
Kommunikation und Wissensvermittlung
Abbildung 13: Ansatz einer „Strategientypologie“ (geordnet nach Ordnungsmustern) 148 Gemeint ist nur die Phase, in der die Strategie typischerweise auftaucht. Wie bereits angedeutet, haben die Phasen im Rechtstransferprozess keine starren Grenzen. Dementsprechend kann auch der Zeitpunkt der Strategien variieren.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
199
e) Modifikation des Übertragungsgegenstands Wie an einigen Stellen dieser Arbeit bereits angedeutet, hängt der Erfolg einer Übertragung stets auch von der Entscheidung ab, ob das zu übertragene Recht mehr oder minder identisch übertragen wird, oder ob es modifiziert wird. Denn die methodische Herausforderung für den Rechtsetzer besteht – wie dargelegt – in der Integration des fremden Rechts in den neuen Kontext. Dementsprechend sind Strategien, die ihm dabei helfen, das transplantierte Recht „passend zu machen“, von großer Wichtigkeit. In vielen Fällen bietet es sich an, das fremde Recht an das heimische Recht (dogmatisch) zu „adaptieren“. In anderen Fällen mag es besser sein, das fremde Recht gänzlich zu „adoptieren“ – mit der Folge, dass die eigenen Rechtsstrukturen an das fremde Recht (dogmatisch) angepasst werden.149 Schließlich gibt es aber auch Fälle – und diese sind keine Ausnahme – in denen keine der beiden Strategien funktioniert. Die einzigen beiden Wege lauten dann, entweder keine Rezeption durchzuführen oder das zu rezipierende Recht vor der Transplantation (teilweise) inhaltlich zu modifizieren. Der Aspekt der Modifikation ist ein wichtiger Bestandteil der (methodischen) Rechtstransferdebatte. Wir erinnern uns, dass der Begriff „Rechtstransfer“, wie er hier verwendet wird, nicht ausschließlich Übertragungen meint, die das fremde Recht 1:1 im heimischen Recht abbilden. Dies wäre ein allzu enger Rechtstransferbegriff, der auch in den meisten Debattenbeiträgen zu Rechtstransfers nicht für sinnvoll erachtet wird.150 Solange bei der Übertragung die Elemente des ursprünglich fremden Rechtskonzepts die neuen – modifizierenden – Elemente überwiegen, wird weiterhin von einem Rechtstransfer gesprochen.151 Passend hierzu ist das Zitat von Häberle, der konstatiert, Rechtsetzer täten häufig besser daran, Recht nachzubilden, als es sklavisch nachzuahmen.152 „Nachbilden“ ist ein treffender Begriff, um das Phänomen Rechtstransfer und seine Modifikationen zu beschreiben. Nachbilden bedeutet eine engere Orientierung am Original als etwa bei einer „Inspiration“. Der Begriff erlaubt aber auch nicht unbedeutende Abweichungen vom Original, solange das Gesamtkonzept des Originals weiter erkennbar bleibt. Dies kann verdeutlicht werden, wenn man den Rechtstransfer mit der Nachbildung eines Gebäudes in einer fremden Umgebung vergleicht. Bauliche Replikate können auch aus anderen Baumaterialien bestehen als ihre Vorbilder. Genauso kann es den einen oder anderen Raum mehr oder die eine oder andere Funktion weniger haben, ohne dass man ihm die Eigenschaft des „Replikats“ absprechen würde. Auch Nachbesserungen in der Statik können bei nachgebildeten Gebäuden vonnöten sein, um das Gebäude 149 Vgl. bereits oben E. II. 3. b) cc). 150 Außer wohl bei Legrand, Maastricht
Journal of European and Comparative Law 4 (1997), 111 – siehe dazu bereits oben B. I. und II. 151 Vgl. dazu bereits oben B. II., ähnlich auch bei Lohse, Rechtsangleichungsprozesse in der Europäischen Union, S. 106. 152 Häberle, Juristenzeitung 21 (1992), 1035.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
an die vom Original abweichende unmittelbare Umgebung – etwa die Bodensubstanz oder das städtebauliche Umfeld – anzupassen. Diese Beobachtungen können dem Sinne nach auch auf Nachbildungen im Rahmen von Rechtstransplantationen übertragen werden. Die Baumaterialien entsprechen den unterschiedlichen Rechtssetzungsformen, mit denen ein Rechtstransfer „errichtet“ werden kann: Kodifikation, Rechtsprechung, Verwaltungspraxis und so weiter. Im Rahmen der Transplantation der Business Judgment Rule sprachen sich beispielsweise einige Stimmen in der Literatur dafür aus, die Regel gar nicht zu kodifizieren, sondern das Prinzip zunächst – wie in den USA – durch Einzelfallentscheidungen durch die Rechtsprechung weiterzubilden.153 Hat eine Kodifikation von Rechtsprechung auch inhaltliche Konsequenzen für die (Weiter-) Entwicklung des Rechts, stellt bereits diese Änderung der Rechtsetzungsform eine Modifikation dar. Wie ein nachgebildetes Gebäude eine andere Anzahl von Räumen und Funktionen haben kann als sein Vorbild, so können entsprechend auch bei der Übernahme fremden Rechts neue zusätzliche Tatbestände geschaffen oder Regelungsbereiche verändert werden. Schließlich muss auch bei einem Rechtstransfer eine „Einfügung“ in die unmittelbare Umgebung erfolgen. Was bei einem Gebäude die Bodensubstanz oder das städtebauliche Umfeld ist, stellt bei einem Rechtstransfer die Struktur des heimischen Rechtssystems sowie dessen rechtskulturellen Grundlagen dar. In sie muss der Rechtstransfer eingebettet werden, wenn nötig mithilfe einer inhaltlichen Anpassung. Modifikationen verschließen also nicht die Tür zur Rechtstransferdebatte. Sie sind vielmehr ein Phänomen, das in vielseitiger Form beobachtet werden kann. Modifikationen können Rechtstransfers „passend machen“, die ansonsten gescheitert wären. Der Rückgriff auf Modifikationen stellt somit einen weiteren Strategieansatz dar. Rechtsetzer können sie gezielt einsetzen, um den oben angesprochenen Problemursachen entgegenzutreten. In diesem Abschnitt soll sich dem Phänomen der Modifikation angenähert werden. Zunächst wird es darum gehen, zu ergründen, welche Erscheinungsformen von Modifikationen es gibt (aa). Danach wird an einem Beispiel erläutert, dass Modifikationen auch einen Risikofaktor darstellen können (bb). Schließlich soll der Versuch unternommen werden, die Anlässe für Modifikationen zu typisieren (cc).
aa) Erscheinungsformen von Modifikationen Bei der Modifikation nimmt der Rechtsetzer gezielte inhaltliche Änderungen vor. Tatbestände des zu übertragenen Rechts werden etwa ganz bewusst gestrichen. Diese Auslassungen können ersatzlos sein. Sie können aber auch mit der Ersetzung oder Ergänzung durch neue – eigene – Konzepte verbunden werden, die ihren gedanklichen Ursprung beim Rezipienten (oder einer anderen Rechts153 Allen
voran Fleischer, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2004, 685 (687).
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
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ordnung) haben. Insoweit ist zu unterscheiden zwischen substanziellen Modifikationen und funktionalen Modifikationen. Diese Unterscheidung hilft dabei, die Tragweite der Modifikation einzuordnen. Bei einer substanziellen Modifikation wird das zu übertragene Recht selbst in seiner Substanz modifiziert. Ein Beispiel für eine substanzielle Modifikation stellt die Rezeption des Treu-und-Glauben-Grundsatzes (good faith) im englischen Recht dar. Dieses in der englischen Rechtstradition unbekannte Prinzip wurde über das Europäische Privatrecht154 in das englische Recht transplantiert. Im Gegensatz zu seinem (wohl) deutschen Urheber155 versteht die englische Judikatur unter „good faith“ primär das subjektive Wissen oder Nichtwissen der Kontrahenten und intendiert keinesfalls eine objektive Auslegungsanweisung für den Richter zur Inhaltskontrolle einer vertraglichen Abrede.156 Bei funktionalen Modifikationen hingegen wird das übertragene Recht selbst weitgehend unangetastet gelassen. Es werden lediglich sonstige aber für das Funktionieren des Transplants wichtige Regeln erlassen oder modifiziert. Ein Beispiel für eine funktionale Modifikation hält die deutsche Rezeption der Business Judgment Rule bereit.157 Bei diesem Rechtstransfer wurde zwar der Haftungsmaßstab aus dem US-amerikanischen Recht weitgehend wortgleich übernommen. Allerdings wurden bedeutende Änderungen bei der Beweislastverteilung vorgenommen. Die Beweislastverteilung ist zwar für das Funktionieren der Regel von großer Bedeutung. Sie stellt aber keinen Teil der „Substanz“ der Business Judgment Rule dar, sondern ist ihrem unmittelbaren Normumfeld zuzuordnen. Auch in zeitlicher Hinsicht kann bei Modifikationen von Rechtstransfers differenziert werden: Modifikationen müssen nicht notwendigerweise schon bei der formellen Übernahme (z. B. bei der Verabschiedung des Gesetzes) geschehen. Nachträgliche Änderungen eines Rechtstransfers können durch den Gesetzgeber vollzogen werden; sie können aber auch – wie bei der Frage des Vermählungsalters nach ZGB-Rezeption in der Türkei – durch eine „angepasste“ Gesetzesauslegung der Gerichte ergehen. Aus rein methodischer Sicht sind vermeidbare nachträgliche Modifikationen regelmäßig unerwünscht. Oft lassen sie sich aber selbst bei einer methodisch „sauberen“ Transplantationsarbeit nicht vermeiden, etwa wenn dem Rechtsetzer bestimmte Informationen zum Zeit154 Exemplarisch: Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen. 155 Das deutsche Treu-und-Glauben-Prinzip leitet sich wiederum vom bona-fides-Grundsatz aus dem Römischen Recht ab. Vgl. dazu grundlegend Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB. 156 Vgl. Ranieri, in: Basedow/Hopt/Zimmermann, Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts, S. 1496 (1499 f.) Siehe auch bei Kötz, in: Cane (Hrsg.), The Law of Obligations, S. 243. Mit zahlreichen Fallstudien zu anderen europäischen Ländern: Zimmermann/Whittaker, Good Faith in European Contract Law. 157 Erstmals unter C. II. 1. c).
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
punkt der Transplantation nicht zur Verfügung standen. Dasselbe gilt, wenn sich nach der Übernahme des fremden Rechts innerhalb der rezipierenden Gesellschaft bestimmte Wertevorstellungen verändern, die Einfluss auf dessen Umsetzung haben. Auf der anderen Seite kann sich aber auch die Funktion der Rechtsnorm in ihrer alltäglichen Anwendung verändern. Weder die gesellschaftliche Haltung gegenüber einer Rechtsnorm noch die Rechtsnorm selbst sind statisch. Sie sind dynamisch und nicht entwicklungsresistent. Verändert sich die gesellschaftliche Haltung gegenüber einer Norm nachträglich, kann die Regelung „gerettet“ werden, indem man sie modifiziert. Umgekehrt ist es auch möglich, dass der rezipierte Gegenstand in das „Koordinatensystem“ des rezipierenden Staates hineinwächst.158 Dann wird das fremde Recht erst im Laufe der Zeit Teil des rezipierenden Systems. In diesem Fall ist eine Modifikation nicht notwendig. Schließlich kommt es vor, dass sich die Funktion des transplantierten Rechts mit der Zeit selbst verändert.159 Führt dieser Funktionswandel zu praktischen Anwendungsschwierigkeiten der Regelung, wird der Rechtsetzer in der Regel ebenfalls nachbessern müssen.160 Modifikationen des fremden Rechtsinhalts können eine Chance darstellen. Der Rechtsetzer kann versuchen, durch Modifikationen mögliche Probleme vermeiden, die durch eine vorbehaltlose Übertragung entstehen würden. Bei umfangreichen Rezeptionen kann dies zu einer Art „Rosinenpicken“ (im positiven Sinne) führen: Der Rechtsetzer übernimmt die Teile des fremden Rechts, die er für durchführbar hält, und vermeidet andere, die für ihn problematisch oder inkompatibel mit dem eigenen System erscheinen.
bb) Modifikationen als möglicher (zusätzlicher) Risikofaktor Andererseits bergen Modifikationen von fremdem Recht auch Risiken. So bestehen – abhängig vom Umfang der Modifikation – zusätzliche Anforderungen an den Rechtsetzer, um das zu übertragende Recht mit all seinen Prämissen, Hintergründen und (dogmatischen) Eigenarten zu verstehen. Diese Besonderheiten muss der Rechtsetzer nun zusätzlich im Rahmen der Modifizierung würdigen. So besteht für den Rechtsetzer die Gefahr, dass er das fremde Recht nicht mehr als Teil eines Gesamtgefüges betrachtet, sondern nur als „künstliche Bruchstücke“ übernimmt, die aber konzeptionell als ein Ganzes gedacht waren. Entscheidet sich also ein Rechtsetzer dafür, fremdes Recht vor der Transplantation zu modifizieren, ist er genau genommen mit zwei (methodischen) Problem158
Häberle, Juristenzeitung 21 (1992), 1035. Wise, The American Journal of Comparative Law 38 (1990), 1 (17) spricht von einem „functional shift“ des Rechts. Örücü, International & Comparative Law Quarterly 51 (2002), 205 (208); Graziadei, in: Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, S. 441 (462) Lohse, Rechtsangleichungsprozesse in der Europäischen Union, S. 106. 160 Zu anderen Strategien, die zu einer Nachbesserung der Rechtstransfers führen können, siehe noch unten unter c). 159
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
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kreisen konfrontiert: Die eine Herausforderung besteht (ohnehin) darin, das zu integrierende fremde Recht mit der heimischen Rechtsordnung abzustimmen. Die weitere Herausforderung, die erst bei einer Modifikation aufkommt, liegt darin, zu untersuchen, ob das fremde Recht in seiner abgeänderten Form noch sinnvoll als Vorbild dienen kann beziehungsweise sollte. Denn möchte der Rechtsetzer eine fremde Rechtswirklichkeit übernehmen, bedeuten Modifikationen des zu übertragenden Gesamtkonzepts regelmäßig Brüche dieses Konzepts. Dementsprechend wird der Rechtsetzer im Einzelfall genau prüfen müssen, ob der zu modifizierende Teil für das zu übertragende Gesamtkonzept von Bedeutung ist – und wenn ja, inwieweit ein solcher Bruch womöglich bestimmten Prämissen zuwiderläuft, auf deren Grundlage man sich ursprünglich für die Übernahme des Konzepts entschieden hat. Eine Modifikation kann also – abhängig von ihrem Einsatz – zum einen als Instrument dienen, welches (rechts-)kulturelle und dogmatische Unterschiede von Systemen ausgleichen kann. Es kann aber zum anderen auch die Komplexität des Rechtstransfers erhöhen. Dass ein Rechtstransfer durch eine Modifikation den Rechtsetzer und auch die Rechtsanwender vor zusätzliche Herausforderungen stellen kann, zeigt – einmal mehr – beispielhaft die Übernahme der Business Judgment Rule in Deutschland. Hier entschloss sich der deutsche Gesetzgeber dazu, die Beweislastregelungen des US-amerikanischen Rechts nicht zu übernehmen. Die Beweislastregelungen in den USA sind zweistufig:161 Auf der ersten Stufe muss der Kläger (also der Aktionär, die den Vorstand verklagende Gesellschaft oder der Insolvenzverwalter) dem Vorstand einen Loyalitäts- oder Sorgfaltspflichtverstoß beweisen. Bricht der Kläger durch diesen Schutzschild, muss der Vorstand auf der zweiten Stufe einer vollständigen richterlichen Überprüfung (dem sogenannten entire fairness test) standhalten. Hier überprüft das Gericht, wie die Entscheidung konkret zustande gekommen ist und wie die Ergebnisse und ihre Auswirkungen mit dem Interesse der Gesellschaft und ihrer Aktionäre vereinbar sind.162 Das Gericht erkennt in diesem Fall keine Ermessensspielräume des Vorstands mehr an.163 In Deutschland liegt nach h. M. die Beweislast in vollem Umfang beim beklagten Vorstand.164 Dieser muss beweisen, dass er die Sorgfalt eines ordent161
Im Folgenden nach Paefgen, Die Aktiengesellschaft 2004, 245 (256 ff.). Radin/Block/Barton, The Business Judgment Rule, S. 28 ff., 377 ff. 163 Vgl. auch Supreme Court of Delaware, Nixon v. Blackwell, 626 A.2d 1366, 1376 (Del. 1993): „Where there is no independent corporate decision maker, the court may become the objective arbiter.“ 164 Noch vor der Kodifizierung zum GmbH-Recht BGHZ 152, 280 (283); statt vieler Dauner-Lieb, in: Henssler/Strohn (Hrsg.), Gesellschaftsrecht: § 93 AktG Rn. 36; Spindler, in: Goette/Habersack/Kalss (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Aktiengesetz: § 93 AktG Rn. 205; Fleischer, in: Spindler/Stilz (Hrsg.), Aktiengesetz: § 93 AktG S. 77 Hingegen für eine (niedrige) Beweisschwelle für den Kläger nach dem Vorbild des US-amerikanischen Rechts: Paefgen, Die Aktiengesellschaft 2004, 245 (258 f.); Paefgen, Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht 2009, 891 (893). 162
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lichen und gewissenhaften Geschäftsleiters angewandt hat. Damit weicht § 93 Abs. 1 S. 2 AktG von dem allgemeinen Grundsatz ab, nach dem jede Partei die Voraussetzungen einer ihr günstigen Norm zu beweisen hat. Nicht direkt aus dem Wortlaut der modifizierten Rechtsübernahme ergibt sich, inwieweit den Kläger Darlegungs- und Beweispflichten treffen. Diese Lücke hat die höchstrichterliche Rechtsprechung gefüllt. Laut BGH – und einem beträchtlichen Teil der Literatur165 – muss der Kläger darlegen und beweisen, dass und in welcher Höhe ein Schaden entstanden ist und dass dieser Schaden auf einer bestimmten Handlung oder Unterlassung des Vorstandsmitglieds beruht.166 Außerdem muss der Kläger Anhaltspunkte darlegen, nach denen das dem Vorstandsmitglied angelastete Verhalten „möglicherweise“ pflichtwidrig sein könnte. Das zentrale „deutsche“ Argument dafür, dass den Vorstand die Beweislast treffen soll, liegt darin, dass er aufgrund seiner Kenntnis des Unternehmens die Pflichtgemäßheit seines Verhaltens besser überschauen kann. Die klagende Gesellschaft oder (erst recht) die Aktionäre haben hier hingegen stets eine Beweisnot.167 Um aber eine probatio diabolica und eine Erfolgshaftung zu vermeiden,168 reicht dem BGH nicht irgendeine Behauptung des Klägers. Das Informationsgefälle ist in den USA hingegen weniger ausgeprägt. Insoweit stellt sich dieses „deutsche“ Argument in dieser Form auch nur in Anbetracht der deutschen zivilprozessualen Regelungen. In dem bereits oben erwähnten Pre-Trial-Discovery-Verfahren steht den Klägern in den Vereinigten Staaten ein „Ausforschungsbeweis“ zu Verfügung.169 Ein solches Instrument fehlt in Deutschland. Es steht aber außer Frage, dass sich die Business Judgment Rule in den USA in untrennbarer Verbindung mit diesen Erleichterungen entwickelt hat. Insofern galt es für den deutschen Gesetzgeber abzuwägen, ob er ein solches Instrument einführen möchte, oder ob er die Beweislastverteilung bezüglich der Business Judgment Rule gesondert – also ohne Anlehnung an die US-amerikanische Rechtssituation – regeln möchte. 165 Vgl. statt vieler Koch, in: Hüffer/Koch (Hrsg.), Aktiengesetz: § 93 AktG Rn. 53; Spindler, in: Goette/Habersack/Kalss (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Aktiengesetz: § 93 AktG Rn. 208. 166 BGH Urt. V. 22.2.2011 – II ZR 146/09. 167 So schon BGHZ 152, 280 (283). Teilweise wird dieses Informationsdefizit bzw. dessen Durchschlagskraft in der Literatur jedoch relativiert. So sieht Paefgen lediglich zwischen dem klagenden Aktionär und dem beklagten Vorstand regelmäßig ein starkes Informationsgefälle. Dieser habe zum einen Anspruch auf Regel- und ad-hoc-Berichterstattung des Vorstands nach § 90 AktG. Zum anderen hat er ein umfassendes Einsichtsrecht in die Bücher und Schriften der Gesellschaft nach § 111 Abs. 2 S. 1 und 2 AktG. Dasselbe gilt für den Insolvenzverwalter, dem nach §§ 22 Abs. 2 S. 3, 97 ff., 101 Abs. 1 S. 1 und Abs. InsO umfassende Informationsrechte hinsichtlich der Angelegenheiten der Gesellschaft zustünden. Diese seien also nicht allzu sehr schutzwürdig. Was den Aktionär anging, so könne man speziell für die Aktionärsklage nach § 148 Abs. 2 AktG eine entsprechende Beweislastumkehr festlegen. 168 Paefgen, Die Aktiengesellschaft 2004, 245 (257). 169 Hein, Die Rezeption US-amerikanischen Gesellschaftsrechts in Deutschland, S. 923.
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
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Das Fass einer möglichen „Mittransplantation“ des Pre-Trial-DiscoveryVerfahrens in das deutsche Recht wollte der Gesetzgeber nicht aufmachen. Gegen eine solche Ausweitung sprach der tief in der deutschen Rechtskultur verwurzelte – und auch im Zivilprozess geltende170 – nemo-tenetur-Grundsatz. Die Parteien können grundsätzlich nicht zu einem Verhalten verpflichtet werden, das am besten der Wahrheitsfindung dient.171 Hinzu kommt, dass im deutschen Zivilprozess mit seinem liberalen Grundverständnis der Beibringungsgrundsatz und die Dispositionsmaxime gelten. Es wird nicht als Aufgabe der Gerichte gesehen, die „echte“ Wahrheit zu finden, sondern zuvörderst eine „formelle“ Wahrheit, die sich aus den Tatsachenbehauptungen und der benannten Beweismittel der Parteien ergibt.172 Diese beiden Grundsätze – der nemo-tenetur-Grundsatz sowie der Grundsatz der Wahrheitsermittlung – stehen im Widerspruch zur Pre-Trial Discovery in den Vereinigten Staaten. Oft wird dies mit dem Schlagwort „Verbot des Ausforschungsbeweises“ beschrieben.173 Die Pflicht, der Gegenseite, Einsicht in die eigenen Unterlagen zu gewähren, ist in Deutschland deutlich begrenzter.174 Nach der Rechtsprechung muss die herausverlangte Urkunde stets genau bezeichnet werden.175 Mit Verweis auf die anglosächsische Praxis wurde diese Rechtslage zwar auch Anfang der 2000er Jahre hin und wieder kritisiert.176 Praktiken eines Ausforschungsbeweises waren der deutschen Zivilprozessrechtskultur zu jenem Zeitpunkt jedoch weitestgehend fremd.177 So sah der deutsche Gesetzgeber mit Blick auf die Reform durch das UMAG keinen Änderungsbedarf. 170
Siehe BGH, Urteil v. 11.06.1990 – II ZR 159/89. Siehe BGH, Urteil v. 11.06.1990 – II ZR 159/89. Brand, Neue Juristische Wochenschrift 70 (2017), 3558 (3560). 173 So z. B. bei BGH, Urteil v. 27.05.2014 – XI ZR 264/13; Osthaus, Informationszugang für den internationalen Prozess zwischen lex fori und lex causae, S. 41 f. 174 Zu den Rechtsgrundlagen der Sachverhaltsaufklärung im deutschen Recht im Vergleich zum amerikanischen vgl. ausführlich Landwehr, Die Pretrial Discovery. 175 BGH, Urteil v. 27.05.2014 – XI ZR 264/13. 176 Vgl. z. B. Schlosser, Juristenzeitung 46 (1991), 599. 177 Andererseits wurde im Jahr 2008 – also schon kurz nach der Kodifizierung des UMAG – in Umsetzung der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.4.2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, ABl. 2004 L 157, 45 das Patentgesetz verabschiedet, das sich dem Prinzip einer Pre-Trial Discovery zumindest annähert: Nach § 140c PatG hat der Rechtsinhaber gegen den hinreichend in Verdacht stehenden Patentverletzer einen Anspruch auf Vorlage von Urkunden oder auf Besichtigung von Sachen, die sich in der Verfügungsgewalt des Patentverletzer befinden, soweit dies zur Begründung des Anspruches erforderlich ist. Eine noch umfassendere Regelung sieht nun auch § 33 GWB vor (Gesetzeslage seit 9. GWB-Novelle aus dem Jahr 2017 in Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. 2014 L 349). Hier kann derjenige, der glaubhaft macht, einen Kartellschadensersatzanspruch zu haben, sämtliche Beweismittel herausverlangen, die für die Erhebung eines auf Schadensersatz gerichteten Anspruchs erforderlich sind. Vgl. dazu ausführlich Rosenfeld/Brand, Wirtschaft und Wettbewerb 171 172
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Anstatt die Regeln zur Pre-Trial Discovery zu übernehmen, entschied sich der deutsche Gesetzgeber dafür, eine Regel „neu zu erfinden“. Ob dem deutschen Gesetzgeber die Modifizierung durch die Beweislastverteilung im umfassenden Sinne geglückt ist, muss hier offenbleiben. Was wir aber festhalten können, ist, dass der Gesetzgeber mit der Modifikation aus methodischer Sicht ein Risiko eingegangen ist. Die Modifikation war die weniger aufwendige Variante, machte die Frage der Geschäftsführerhaftung in Aktiengesellschaft aber zu einem komplexeren Thema als zuvor. Die modifizierte Business Judgment Rule im AktG ist eine für den deutschen Rechtsanwender weitgehend neuartige Konstruktion. Der Wortlaut des § 93 Abs. 2 AktG war keineswegs eindeutig. Dies führte zunächst zu Rechtsunsicherheit, bis die Rechtsprechung klarstellte, dass auch den Kläger einige Anforderungen an die Beweisstellung treffen. Ein schneller Erfolg der Übernahme der „reinen“ Business Judgment Rule hätte wohl auch davon abgehängt, wie und in welcher Qualität deutsche Gerichte rechtsvergleichende Erkenntnisse bei der Auslegung des neuen Rechts berücksichtigen würden. Zudem hätte das deutsche Zivilprozessrecht und die -praxis einen nicht zu unterschätzenden Anpassungsprozess durchlaufen müssen. Unabhängig davon hat man sich durch die Modifikation „Hunderte[r] von Entscheidungen“ zur Business Judgment Rule aus den Vereinigten Staaten verwehrt und damit einen „erfahrungsgesättigten Lösungsvorrat, der weltweit seines Gleichen sucht“, nicht genutzt.178 Mit Modifikationen geht der Rechtsetzer das Risiko ein, dass ihm diese Vorteile entgehen. Das bedeutet zwar nicht, dass die Modifikationen unbedingt zu einem schlechten Gesamtergebnis führen müssen. Die Frage „Modifizierung, ja oder nein?“ ist schließlich immer das Ergebnis einer Abwägungsentscheidung, in denen nicht nur methodische Aspekte, sondern vor allem der politische Wille zur Geltung kommen.
cc) Gründe für eine Modifikation – Ansätze einer Typisierung Es lassen sich drei Kategorien von Gründen für Modifikationen aufstellen, die sich auch inhaltlich überschneiden können. Einige von ihnen spiegeln sich in den bereits oben typisierten Problemursachentypen bei Rechtstransfers wider.179 Das überrascht nicht, denn Modifizierungen des übernommenen Rechts sind nichts anderes als ein Instrument, um Probleme bei Rechtstransfers zu vermeiden. Sie sind ein Instrument zur Umsetzung der bereits erwähnten „rechtsdogmatischen Integration“. Darüber hinaus kann es jedoch auch noch andere 67 (2017), 247. Diese Regel hat zwar nur einen engen Anwendungsbereich. Ihre Ähnlichkeiten mit den Pre-Trial-Discovery-Regeln aus den USA sind jedoch beträchtlich. Insoweit lassen sich zumindest in der jüngeren Zukunft einige Annäherungen an das US-amerikanische Recht beobachten. Angestoßen werden sie – wie auch schon das Konzept der Independent Regulatory Agencies – vor allem durch europäische Richtlinien. 178 Fleischer, Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht 7 (2004), 1129 (1135). 179 Siehe dazu oben C.
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Beweggründe geben, um weiteres fremdes Recht zu modifizieren. Man mag also unterscheiden zwischen der „politisch motivierten Modifikation“, der „Modifikation zum Ausgleich (rechts-)systemischer Unterschiede“, und der „Modifikation aufgrund verfassungsrechtlicher Grenzen“. Die „politisch motivierte Modifikation“ beschreibt den Fall, in dem das zu übertragende rechtliche Gesamtkonzept nur teilweise dem politischen Willen des Rezipienten entspricht und deshalb abgeändert werden muss. Der Rechtsetzer betreibt also „Rosinenpickerei“. Er übernimmt nur einen Teil des übertragenen Rechts und modifiziert einen anderen Teil. Die Gründe für eine „politisch motivierte Modifikation“ können aber auch weniger ideologische als pragmatische sein. Bei der Rezeption des deutschen Sachenrechts in Estland stand etwa die Entscheidung für die Modifikation des deutschen Rechts nicht in Verbindung mit ideologischen Zweifeln bezüglich des deutschen Rechts. Für den estnischen Gesetzgeber gaben vielmehr – unliebsame – Vorbedingungen den Ausschlag für eine abweichende Regelung:180 Diese lagen in der sonderbaren Eigentumsstruktur von Grundstücken und Gebäuden, die Estland von der Sowjetunion geerbt hatte. Estland stand vor der Herausforderung, die vorsowjetischen Eigentumsverhältnisse wiederzustellen. Grundstücks- und Gebäudeeigentümer waren hier jedoch oft nicht mehr identisch. Diese Tatsache ließ sich auch nicht von „heute auf morgen“ durch eine sofortige Neuordnung der Eigentumsverhältnisse ändern. Vielmehr machte dies Abweichungen vom deutschen Sachenrecht notwendig. Ganz konkret passten die deutschen Regelungen der §§ 94, 946 BGB nicht in das estnische System. Hiernach ist ein Gebäude grundsätzlich ein wesentlicher Bestandteil eines Grundstücks und ist daher in der Regel nicht verkehrsfähig. Sind aber – wie im postsowjetischen Estland – Grundstücksund Gebäudeeigentümer in vielen Fällen unterschiedliche Personen und möchte man nicht alle Gebäudeeigentümer mit einem Schlag „enteignen“, brauchte man eine andere Lösung. Für dieses Problem fanden die estnischen Verantwortlichen die Lösung in Art. 490 des Louisiana Civil Codes: Ein Gebäude, das sich auf einem rechtmäßig genutzten Boden befindet, gilt seitdem nach § 13 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum estnischen Sachenrechtsgesetz bis zur Eintragung ins Grundbuch nicht als wesentlicher Bestandteil des Grundstücks, sondern als eine Sache, die Gegenstand eines selbstständigen Rechts sein kann. Eine vergleichbare Vorgeschichte, die eine solche Regelung notwendig macht, fehlt im deutschen Sachenrecht. Das Ausweichen auf den Louisiana Civil Code war somit eine Modifikation, die der estnische Rechtsetzer nicht aufgrund einer ideologischen Missbilligung von §§ 94, 956 BGB durchgeführt hat, sondern aus pragmatischen Gründen.
180 Zum Folgenden: Steinke, Die Zivilrechtsordnungen des Baltikums unter dem Einfluss ausländischer, insbesondere deutscher Rechtsquellen, S. 207 f.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Ebenfalls ein Beispiel für eine solche gezielte Modifikation sind die verschiedenen Anpassungen bei der Übertragung der Umweltverträglichkeitsprüfung aus den Vereinigten Staaten (über das EU-Recht) ins deutsche Recht. Die UVP-Richtlinie181 wurde im Jahr 1985 verabschiedet. Bei ihrer Umsetzung ins deutsche Recht182 nahm der deutsche Gesetzgeber jedoch im Vergleich zur Rechtssituationen in den USA bedeutende Änderungen hinsichtlich der Klagemöglichkeiten für nicht direkt vom Vorhaben betroffene Individuen bei Verstößen gegen das UVP-Verfahren vor.183 Die Umweltverträglichkeitsprüfung wurde im deutschen Recht lediglich als eine Verfahrensvorschrift übertragen. Dritten fehlte es somit regelmäßig mangels persönlicher (möglicher) Rechtsverletzung an der Klagebefugnis, um gegen eine Zulassungsentscheidung vorzugehen (vgl. § 42 Abs. 2 VwGO).184 In den USA waren die Klagemöglichkeiten zu jenem Zeitpunkt bereits deutlich weiter gefasst. Sie ermöglichten schon damals eine Art „Popularklage“. Ein solches Szenario wollte der deutsche Gesetzgeber vermeiden. Diese Änderung stellt eine gezielte Modifikation dar. Die Abänderung erfolgte als Konsequenz eines rechtspolitischen Willens des deutschen Gesetzgebers.185 Unter die zweite Kategorie fallen Modifikationen, die zum Ausgleich von systemischen Unterschieden durchgeführt werden. In Abgrenzung zur vorherigen Kategorie möchte hier der Rechtsetzer durch die Modifikation – im Ergebnis – keine von der Ursprungsnorm abweichende Regel produzieren. Vielmehr möchte er das fremde Recht so originalgetreu wie möglich abbilden. Die Modifikationen sind also gerade dazu da, um der transplantierten Norm eine vergleichbare Wirkung zu geben. Häufig sind diese Modifikationen nicht wie in der ersten Kategorie aufgrund einer rechtspolitischen Agenda erfolgt, sondern weil die systemischen Unterschiede zwischen der eigenen Rechtsordnung und der des Exporteurs den Rechtsetzer dazu „zwingen“. 181 Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten. 182 Erstmals: Das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung vom 12. Februar 1990 (BGBl. I S. 205). 183 Zu weiteren Beschränkungen und zum Folgenden siehe Weber/Hellmann, Neue Juristische Wochenschrift 43 (1990), 1625 (1627 ff.). 184 Vgl. nur die damalige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts: BVerwG, Urteil v. 31.10.1990 – 4 C 7/88; siehe auch Prelle, Die Umsetzung der UVP-Richtlinie in nationales Recht und ihre Koordination mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht, S. 96 f. 185 Seit dem Erlass des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) von 2006 (und dessen Novelle im Jahr 2013) wurde dieser Grundsatz jedoch aufgeweicht. Weiterführend: Beckmann, Zeitschrift für Umweltrecht 25 (2014), 541 (546) Umweltverbände haben seitdem gemäß § 2 Abs. 1 UmwRG eine Klagebefugnis und können so gegen UVP-Fehler vorgehen. Ob dies auch für (nicht unmittelbar betroffene) Individuen gilt, ist seitdem noch umstritten. Konkret wird darüber diskutiert, ob § 4 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 i. V. m. Abs. 1 UmwRG ein subjektiv-öffentliches Recht auf Vermeidung der dort genannten UVP-Fehler statuiert. Vgl. dazu Fellenberg/Schiller, in: Beckmann/Durner/Mann/Röckinghausen (Hrsg.), Umweltrecht: § 4 UmwRG 51 ff.; Kloepfer, Umweltrecht, § 5 Rn. 721.
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Ein Beispiel für eine (weitgehend) erzwungene Modifikation stellt die Übernahme der Business Judgment Rule ins deutsche Recht dar. Wie bereits dargestellt, hätte eine exakte Kopie des US-amerikanischen Konzepts einen großen System(um)bruch im deutschen Beweisrecht bedeutet. Daher musste der deutsche Gesetzgeber die Beweisregeln entsprechend modifizieren – in der Hoffnung, dass sich diese Unterschiede nicht allzu sehr auf die Praxis auswirken. Es handelt sich hier also um einen klassischen Fall einer Modifikation zum Ausgleich von systemischen Unterschieden. Die dritte und letzte Kategorie erfasst Modifikationen, die der Rechtsetzer aufgrund verfassungsrechtlicher Grenzen oder Bedenken durchführt. Fürchtet sich ein Rechtsetzer davor, mit der vollständigen Übernahme fremden Rechts gegen die Verfassung zu verstoßen, muss er den Rechtstransfer modifizieren. Solche Anpassungen verdienen eine spezielle Beachtung, denn sie haben in der Regel eine Art Zwitterstellung. Sie enthalten sowohl Elemente einer Modifikation aufgrund einer politisch motivierten Entscheidung (der ersten Kategorie) also auch Elemente einer systemischen Anpassung (der zweiten Kategorie). Der politisch-motivierte Charakter ergibt sich stets daraus, dass sich Verfassungen ändern lassen. Bei einem Rechtstransfer, der (teilweise) verfassungsrechtlichen Grundsätzen widerspricht, ist daher die Entscheidung, ob man die Verfassung deswegen ändert oder nicht, grundsätzlich auch eine politische. Andererseits ist zu beachten, dass Rechtsetzer bei grundlegenden Verfassungsänderungen in der Praxis erfahrungsgemäß eher zurückhaltend sind. Hinzukommt, dass auch nicht alle Rechtsetzer die Kompetenz haben, die Verfassung zu ändern.186 Schließlich sind Verfassungen auch regelmäßig mehr als nur ein Ausdruck eines rechtspolitischen Standpunktes. Sie sind Werteordnungen und haben tiefe rechtskulturelle Wurzeln, auf denen viele weitere Werteentscheidungen und dogmatische Strukturen einer Rechtsordnung aufbauen. Durch diese „Mitprägung“ der sie umgebenden Rechtsordnung, hat jede Verfassung auch eine systembildende Komponente. Diese ist freilich je nach Rechtsordnung unterschiedlich stark ausgeprägt. Ein Beispiel für eine perspektivische Modifikation aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken stellt die Übernahme des Independent-Regulatory-Agency-Konzepts am Beispiel der Bundesnetzagentur dar. „Perspektivisch“ deshalb, da der deutsche Gesetzgeber zumindest nach Ansicht der Europäischen Kommission die EU-rechtlichen Vorgaben zur Unabhängigkeit der Regulierungsbehörde (der Bundesnetzagentur) noch nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat. Deutschland wird daher – sollte das Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH dazu führen – Korrektur betreiben müssen. Nach Ansicht der Kommission könne die Bundesnetzagentur derzeit noch nicht – wie in der Richtlinie 186 Das gilt offensichtlich für die Gerichte, die Verwaltung und für die juristische Literatur, welche – wie anfangs ausgeführt – allesamt mögliche Rezipienten fremden Rechts sein können.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
vorgesehen – völlig unabhängig die Tarife und andere Vertragsbedingungen für den Netzzugang und Ausgleichsleistungen festlegen. Denn viele Elemente für die Festlegung dieser Tarife und Vertragsbedingungen seien weiterhin in großen Teilen in detaillierten Vorschriften der Bundesregierung geregelt.“187 Andererseits begründen ressortfreie Verwaltungseinrichtungen – wie etwa unabhängige Regulierungsbehörden – erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken, solange sie nicht über die sachliche Legitimation verfügen, die neben dem Gesetz vor allem das Weisungsrecht des Ministers vermittelt.188 Der deutsche Gesetzgeber wird sich die Frage stellen müssen, wie er sein Recht in Einklang mit der EURichtlinie bringt, aber dennoch seinen verfassungsrechtlichen Prinzipien treu bleibt. Durch das bereits erwähnte eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren erhöht sich nunmehr der Druck auf die Bundesrepublik, diese Entscheidung zeitnah zu treffen. Die Frage, mit welchen Modifikationen ein Rechtstransfer verfassungsrechtlich „passend gemacht“ werden kann, ist regelmäßig sehr komplex. Sie wird noch komplexer, wenn der Vermittler des Rechtstransfers an den Rechtsetzer – wie hier die EU-Kommission als Richtliniengeber – ebenfalls bindende Vorgaben stellt. Die Umsetzung der Richtlinienvorgaben stellt einen Rechtstransfer aufgrund „rechtlicher Bindung“ dar.189 Sollte es dem Rechtsetzer nicht möglich sein, durch die Modifikation beiden – sowohl dem eigenen Verfassungsrecht als auch den Richtlinienvorgaben – gerecht zu werden, muss er sich mit der Frage beschäftigen, welche er vorrangig berücksichtigen muss. Grundsätzlich gilt hier der Vorrang des Unionsrechts. Dieses könnte – jedenfalls nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts190 – aber durchgebrochen werden, wenn die Richtlinie gegen die sogenannte „Ewigkeitsklausel“ verstößt (Art. 79 Abs. 3 GG, Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG). Eine hinreichende demokratische Legitimation der Regulierungsbehörden ist Teil des Demokratieprinzips (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG),191 auf das Art. 79 Abs. 3 GG verweist. Mithin kann das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Identitätskontrolle nachprüfen, ob die verfassungsrechtlichen Bedenken durchgreifen. Schlagen die Zweifel durch, wäre es für den deutschen Gesetzgeber von primärem Interesse, den Rechtstransfer so zu modifizieren, dass er verfassungskonform ist.192 Dies könnte zum einen da187 Vgl. Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 19.17.2018. Abrufbar unter https://ec.europa.eu/germany/news/20180719-bundesnetzagentur-nicht-unabhaengigkommission-verklagt-deutschland_de; Stand 28.01.2021). 188 Kahl, in: Wanitzek/Bernreuther/Freitag/Sippel/Leible (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Spellenberg zum 70. Geburtstag, S. 697 (711). 189 Als eine Unterkategorie des Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“, siehe dazu bereits oben D. III. 4. a). 190 Vgl. dazu BVerfGE 123, 267 Rn. 240 – Vertrag von Lissabon. 191 Mayen, Die öffentliche Verwaltung 57 (2004), 45 (50 f.); Kahl, in: Wanitzek/Bernreuther/Freitag/Sippel/Leible (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Spellenberg zum 70. Geburtstag, S. 697 (711). 192 Mit der Frage des hinreichenden demokratischen Legitimationsgrads der Bundesnetz-
II. Die Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters
211
durch gelingen, indem man einen zwingend erforderlichen Grund für die Einräumung ministerialer Freiräume findet, der das Minus an demokratischer Legitimation ausgleicht.193 In diesem Fall könnte der Gesetzgeber sogar auf eine Modifikation verzichten. Ob dies gelingen kann, ist aber zweifelhaft. Die weit überwiegenden Stimmen aus der Literatur halten die weitgehende Weisungsabhängigkeit der Bundesnetzagentur gerade für kein Hindernis für ihre Effektivität und tatsächliche Unabhängigkeit.194 Zwingend erforderliche Gründe für eine Reform werden nicht gesehen. Auch die Tatsache, dass das Präsidium der Bundesnetzagentur nach § 3 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 BNetzAG durch die Bundesregierung benannt und vom Bundespräsidenten ernannt wird, ändert daran nichts. Dies stellt zwar ein Mehr an personeller Legitimation da, kann aber eine komplette Unterbrechung der inhaltlich-sachlichen Legitimationskette (oder hier: die „Weisungskette“) nicht ausgleichen.195 Eine solche wird in der Richtlinie aber gerade gefordert. Eine andere Möglichkeit, um der Bundesnetzagentur mehr sachlich-inhaltliche Legitimation zu geben, wären stärkere parlamentarische Einflussnahmerechte. Dafür werden oft Ex-post-Kontrollrechte durch das Parlament vorgeschlagen.196 Derzeit gibt es bereits nach § 5 BEGTPG197 einen Beirat, der aus 16 Mitgliedern des Bundestages und 16 Mitgliedern des Bundesrates besteht. Diesem stehen jedoch keine Kontrollmöglichkeiten zu. Er hat lediglich Antrags-, Beratungs- und Auskunftsfunktion, sowie das Recht auf Anhörung (vgl. § 120 TKG). Eine Einwirkung tatsächlicher oder rechtlich bindender Art auf die Entscheidungsfindung hat der Beirat jedoch nicht – weder vor der Entscheidung noch nachher in Form von irgendwelchen Kontrollrechten.198 Daher agentur ohne ministeriale Weisung befasst sich ausführlich Lee, Demokratische Legitimation der Vollzugsstruktur der sektorspezifischen Regulierungsverwaltung, S. 182 ff. Im Folgenden wird lediglich auf die wichtigsten Rechtfertigungsgründe eingegangen. 193 In der Literatur ist umstritten, welche genauen Anforderungen an eine Rechtfertigung für die Einbußen an demokratischer Legitimation zu stellen sind. Siehe dazu ausführlich Mayen, Die öffentliche Verwaltung 57 (2004), 45 (50 f.). 194 Siehe statt vieler Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (48) m. w. N. 195 So die herrschende Meinung: BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats v. 5.12.2002 – 2 BvL 5/98, Rn. 135. In der Literatur: Vgl. Emde, Die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung, S. 329 f. Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (51); Lee, Demokratische Legitimation der Vollzugsstruktur der sektorspezifischen Regulierungsverwaltung, S. 183; eine Totalsubstituierung hingegen grundsätzlich für möglich haltend: Gersdorf, Öffentliche Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Demokratie- und Wirtschaftlichkeitsprinzip, S. 173 f. m. w. N. 196 So schon Franzius, Die öffentliche Verwaltung 66 (2013), 714 (716); Lewinski, Deutsches Verwaltungsblatt 128 (2013), 339 (347). 197 Abkürzung für Gesetz über die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen. 198 Vgl. nur Attendorn/Geppert, in: Geppert/Schütz (Hrsg.), Beck’scher TKG-Kommentar: § 120 TKG Rn. 6.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
sollte die Kompensationskraft durch den Beirat – zumindest nach jetziger Gesetzlage – nicht überschätzt werden.199 Erwägen könnte man allerdings, zusätzlich zu diesem Beirat einen parlamentarischen Kontrollausschuss einzuführen. Doch auch hier stößt man alsbald auf verfassungsrechtliche Grenzen – in diesem Fall aufgrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung. Eine Art legislatives Veto gegenüber regulierungsbehördlichen Einzelfallentscheidungen wird aus diesen Gründen meist abgelehnt.200 Andererseits könnten andere Einwirkungsformen wie etwa Zitierrechte die Möglichkeiten einer Einflussnahme erhöhen. Für einen Weg in diese Richtung spricht schließlich auch, dass zum einen die Erwägungsgründe der Richtlinien201 und zum anderen der EuGH ausdrücklich in einem Urteil202 klarstellen, dass eine parlamentarische Kontrolle einer rechtmäßigen Umsetzung der Richtlinie nicht entgegensteht. Dieser Exkurs in die verfassungsrechtliche Debatte im Hinblick auf die Umsetzung der EU-Richtlinien zu den unabhängigen Regulierungsbehörden hat gezeigt, dass der Korridor zwischen einer richtlinienkonformen Umsetzung einerseits und der Einhaltung geltenden Verfassungsrechts andererseits recht eng ist und den deutschen Gesetzgeber vor ein Dilemma stellt. Er hat auch gezeigt, dass die Modifikation aufgrund verfassungsrechtlicher Grenzen einen Sonderfall darstellt, der besondere Beachtung verdient. Diese drei Kategorien mit ihren Beispielen haben gezeigt, wie vielfältig die Herausforderungen bei Modifikationen bei Rechtstransfers sein können. Es sei der Ordnung halber erwähnt, dass sich diese Kategorien nicht gegenseitig ausschließen. In der Regel werden sie fließend ineinander übergehen. Jede Modifikation hat einen individuellen Charakter und stellt den Rechtsetzer dementsprechend vor unterschiedlich große Herausforderungen. Welche der Kategorien tendenziell zu größeren Problemen führt, lässt sich pauschal nicht beantworten. Allerdings mag man feststellen, dass die Herausforderungen regelmäßig verschieden sind. Rechtspolitisch motivierte Änderungen können die Idee eines Rechtstransfers in gewisser Weise „auf den Kopf stellen“. Hier steht der Rechtsetzer vor der Herausforderung, einzuschätzen, ob der abgeänderte Rechtstransfer die erhoffte Funktionalität durch die Modifikation nicht verliert. Hat sich der Rechtsetzer bei der Wahl des Rechtstransfers etwa auf Studien aus dessen Heimatland verlassen oder hatte ihn ursprünglich ein Gesamtkonzept überzeugt, wird er prüfen müssen, ob die damit verbundenen Prognosen auch auf die mo199
Lee, Demokratische Legitimation der Vollzugsstruktur der sektorspezifischen Regulierungsverwaltung, S. 193. 200 Ludwigs, Die Verwaltung: Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften 44 (2011), 41 (54). 201 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 34 S. 2 der Richtlinie 2009/72/EG und Erwägungsgrund Nr. 30 S. 2 RL 2009/73/EG. 202 Vgl. EuGH, Urteil v. 9.3.2010 Rs C-18/07, wo sich der EuGH mit der Frage beschäftigt hat, inwieweit unmittelbare parlamentarische Einflussnahme bei der Arbeit von DatenschutzKontrollstellen – als ebenfalls unabhängige öffentliche Stellen – zulässig sind.
III. Das Problem der Erfolgsmessung
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difizierte Form des Rechtstransfers zutreffen. Stellt der Rechtstransfer rechtspolitisches Neuland dar oder handelt es sich um einen besonders komplexen Regelungsgegenstand, mag ihm diese Einschätzung stets schwerer fallen. Auch mit der Bedeutung der Änderung des zu modifizierenden Regelungskomplexes steigt mitunter das Erfordernis einer weitgehenderen Prüfung. Bei Modifikationen zum Ausgleich systemischer Unterschiede dreht es sich um die Anpassung des Rechtstransfers an die heimischen Umstände („Adaption“) oder die Anpassung der heimischen Rechtsordnung an den Rechtstransfer („Adaption“). Hier liegt der Schwerpunkt der Herausforderung nicht in der inhaltlichen Anpassung. Er liegt vielmehr darin, Methoden zu finden, um dem fremden Recht durch die Modifikationen eine ähnliche Funktionsweise zu geben, die dem Original in der Ursprungsrechtsordnung gleichkommt. Wie an der Übernahme der Business Judgment Rule in Deutschland ersichtlich, kann auch dies durchaus komplex sein. Bei der Modifikation aufgrund verfassungsrechtlicher Grenzen als eine Art Zwitterkategorie kommt zusätzlich das Problem der formell starren, aber im Einzelfall oft schwer auszumachenden Grenzen durch das Verfassungsrecht hinzu. Dort, wo das übernehmende Recht sogar verbindlichen Charakter hat – wie z. B. bei der Übernahme von Richtlinien – kann dies dazu führen, dass dem Rechtsetzer ein unter Umständen nur schmaler „Korridor“ zur Rechtsanpassung verbleibt.
III. Das Problem der Erfolgsmessung bei der Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters Abschließend wird ein Problembereich aufgegriffen, der für das Grundkonzept einer problemorientierten Rechtstransferforschung von großer Bedeutung ist, aber den diese Arbeit – so viel sei vorweggenommen – nicht gänzlich auflösen kann. Es geht um den Aspekt der Erfolgsmessung eines Rechtstransfers. Begriffe wie „Erfolg“ und „Problem“ sind in Verbindung mit Rechtstransfers in dieser Arbeit häufig gefallen. Bevor man sie verwendet, müsste man also streng genommen die Frage stellen: Wann sind wir eigentlich „zufrieden“ mit der Rezeption fremden Rechts? Den Ausführungen zu den Problemursachentypen (oben unter C.), zur Typologie problemrelevanter Rechtstransfereigenschaften (oben unter D.) und ganz besonders zur Anwendung des Aufmerksamkeitsrasters selbst (in diesem Kapitel E.) liegt die Prämisse zugrunde, dass es nicht nur einen Problemzustand bei Rechtstransfers gibt, sondern umgekehrt auch einen Erfolgszustand. Wann – und „wann“ gilt hier sowohl in qualitativer Hinsicht (sogleich unter 1.) als auch in zeitlicher Hinsicht (2.) – ist ein Rechtstransfer als erfolgreich zu bewerten? Die Antwort ist nicht eindeutig. Ihr soll sich aber im Folgenden angenähert werden.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
1. Die Kriterien für den Erfolg eines Rechtstransfers Woran wird genau gemessen, ob ein Rechtstransfer erfolgreich war oder ob er fehlgeschlagen ist? Dieser Frage gehen scheinbar viele Autoren aus dem Weg – teilweise bewusst203, teilweise wohl unbewusst. Sie ist komplex und die Antworten sind stark abhängig vom Erkenntnisinteresse.204 Von daher verbietet sich schon ein abstrakter Erfolgsmaßstab, der den Anspruch erhebt, für jede Herangehensweise zum Thema Rechtstransfer Geltung zu beanspruchen. Speziell für die methodische Perspektive auf das Phänomen Rechtstransfer ist die Frage des Erfolgsmaßstabs aber von großer Bedeutung. Denn sofern Rechtstransfers evaluiert werden, muss es zumindest eine grobe Marschrichtung geben, die vorgibt, wann ein Rechtstransfer als erfolgreich gelten kann. Zunächst erscheint es naheliegend, den rechtspolitischen Willen des Rechtsetzers als ersten Referenzpunkt heranzuziehen. Dieser knüpft an einen zuvor identifizierten Regelungsbedarf an, welcher nicht durch die Weiterentwicklung eigenen Rechts, sondern mittels einer Rechtsübernahme (bzw. einer Mischung aus beidem) gedeckt werden soll. Als ersten Ansatz für einen Erfolgsmaßstab könnte man also formulieren: Ein Rechtstransfer ist dann erfolgreich, wenn das Ergebnis des Rechtstransfers – also seine gesellschaftliche Wirkung – als Antwort auf die ursprüngliche Problemanalyse den Rechtsetzer zufriedenstellt. Mit anderen Worten: Ein Rechtstransfer gilt dann als erfolgreich, wenn das Transplantationsergebnis dem Willen des Rechtsetzers zum Zeitpunkt der Transplantation entspricht. Dieser Maßstab wird – gewissermaßen intuitiv – während der gesamten Arbeit zugrunde gelegt. Denn die Arbeit befasst sich vorwiegend mit der Frage: Wie kann ein Rechtsetzer seine Arbeitsmethoden bei der Übertragung fremden Rechts optimieren? Doch hier stoßen wir bereits auf ein praktisches Problem: Der „tatsächliche“ Wille des Rechtsetzers ist in den meisten Fällen rein hypothetischer Natur. Eindeutig ergibt er sich nur aus den Gesetzesmaterialien (wie z. B. Gesetzgebungsbegründungen) und womöglich noch aus den Aussagen vereinzelter Parlamentsabgeordneter.205 Die dortigen Bekundungen sind aber häufig nicht ergiebig genug, um gerade bei subtilen Anpassungsschwierigkeiten als Evaluationsgrundlage zu dienen.206 Gesetzesmaterialien enthalten meist – wenn überhaupt – allgemein gehaltene Absichtserkundungen. Referenzen auf konkrete 203
Z. B. Kurzynsky-Singer, Transformation der russischen Eigentumsordnung, S. 17 Fn. 75. 204 Mit einigen, aber speziell für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nur teilweise brauchbaren Ansätzen Nelken, Windsor Yearbook of Access to Justice 20 (2001), 349. 205 Davon grundsätzlich abzugrenzen ist die Debatte um die Autorität solcher Materialien für die Auslegung von Gesetzen. Bei der Diskussion um die Ermittlung des „wahren“ Gesetzgeberwillens durch Gesetzesmaterialien ergeben sich einige Parallelen: Für eine Übersicht siehe etwa Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, S. 80 ff. 206 Zum Problem der Abgrenzung zwischen Fehlschlagen und Kalkül sogleich.
III. Das Problem der Erfolgsmessung
215
Vorstellungen des Rechtsetzers, geschweige denn im Voraus bedachte Problembereiche bei der Implementation des Rechtstransfers sind meist gar nicht vorhanden. Stellt man der Evaluation aber auf die Erwartungen des Rechtsetzers ab, kommt es genau auf diese Informationen an. Fehlen sie, ist eine Evaluation insoweit nicht durchführbar. Inwieweit – abgesehen davon – Gesetzesmaterialien überhaupt in der Lage sind, einen realen im Sinne von repräsentativen Willen des Gesetzgebers abzubilden, ist ein weiterer Problempunkt. Oft ist dieser Wille, der als Maßstab für den Erfolg eines Rechtstransfers zugrunde gelegt werden soll, also gar nicht zweifelsfrei ermittelbar. Möchte man diesen Maßstab aber grundsätzlich beibehalten, bleibt in vielen Fällen nur die Möglichkeit, diesen hypothetischen Rechtsetzerwillen zu „vermuten“. Ein Indiz für eine erfolgreiche (denn dem Willen des Rechtsetzers gerechte) Übernahme könnte der Abgleich der Rechtswirklichkeit beim Rezipienten mit der Rechtswirklichkeit im Exportland schaffen. Denn häufig – wenn auch nicht immer – ist es das Ziel des Rechtsetzers, mit dem Rechtstransfer eine bestimmte Rechtswirklichkeit aus dem Ausland einzuführen. Je näher also die Rechtsrealität beim Rezipienten der Rechtsrealität im Ursprungsland kommt, desto wahrscheinlicher ist es, dass der Rechtstransfer so verlaufen ist, wie es der Rechtsetzer angestrebt hatte. Ein weiterer Hinweis darauf, dass ein Rechtstransfer erfolgreich war, könnte die Akzeptanz der Rechtswirklichkeit in der Gesellschaft darstellen. Auch das Ausbleiben weiterer Normanpassungen durch die Rechtsprechung oder den Gesetzgeber kann ein positives Indiz darstellen. Doch auch solche Indikatoren sind weitgehend nutzlos, wenn feststeht, dass sich Anhaltspunkte, welche diese Indizien widerlegen könnten, in der Regel nicht zweifelsfrei festzustellen sind. Denn selbst wenn sich ein (vager) Gesetzgeberwille feststellen lässt, folgt das Problem, dass sich aus diesen Äußerungen selten eindeutige Intentionen im Hinblick auf konkrete Problembereiche schließen lassen. Die Intentionen des türkischen Gesetzgebers bei der Rezeption des schweizerischen ZGB – oder genauer gesagt den „Hintermännern“ wie Justizminister Bozkurt – sind dafür ein gutes Beispiel. Der kemalistische Reformismus hatte vor allem die Modernisierung nach westlichem Vorbild zum Ziel. Diese musste zügig von statten gehen. Alles musste sich ihr unterordnen. Dennoch wird man wohl nicht annehmen können, dass die Kemalisten die Nichtbefolgung bestimmter Gesetze guthießen (oder gutgeheißen hätten). Wie viel Widerstand haben sie bei diesen Reformen (wissentlich) riskiert? Die Frage ist nicht zu klären. Sie wird sich in nur seltenen Fällen klären lassen. Unabhängig von dem Problem der Umsetzbarkeit sprechen allerdings auch andere Gründe gegen eine ausschließliche Fokussierung auf den historischen Willen des Rechtsetzers bei der Festlegung des Erfolgsmaßstabs. Denn ein solcher Maßstab berücksichtigt nicht, ob sich die Neuregelung im Angesicht sich wandelnder Verhältnisse in der Gesellschaft – z. B. im Hinblick auf die Interessen unterschiedlicher sozialer Gruppen – auf Dauer bewährt hat. Diese Aspekte
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
sollten beim Maßstab für den Erfolg von Rechtstransfers aber zumindest nicht komplett ausgeblendet werden. Es wurde an mehreren Stellen darauf hingewiesen, dass Rechtsetzer auch die äußeren (auch weitgehend unvorhersehbaren) Einflüsse auf das fremde Recht sowie nachträgliche Entwicklungen („ex ante“) erkennen und ihnen vorbeugen sollen. Wenn dem so ist, müssen konsequenterweise diese Aspekte aber auch bei einer Ex-post-Betrachtung in die Erfolgsbewertung miteinbezogen werden. Andererseits erscheint es sehr weitgehend und nach derzeitigem Stand zu anspruchsvoll, den Erfolgsmaßstab an den Grad der rechtspolitischen Zielerreichung – etwa im Wege einer den gesellschaftlichen Entwicklungen angepassten Interpretation des Normzwecks des rezipierten Rechts – auszurichten. Denn vielfach begegnen die mit der Rechtsrezeption verfolgten Ziele ihrerseits einem gesellschaftlichen Wandel, was wiederum die Anforderungen an das rezipierte Recht verändern kann. Eine abstrakte Festsetzung eines auch realistischerweise evaluierbaren Erfolgsmaßstabs von Rechtstransfers sowie die Ermittlung der dafür notwendigen Informationen im Einzelfall sind demnach schwierig zu bewältigen. Ein möglichst klar definierter Erfolgsmaßstab bleibt für die Grundlagen einer methodischen Perspektive zum Phänomen Rechtstransfer gleichwohl ein wichtiges Ziel. Nach dem derzeitigen Stand wird man sich vorläufig damit behelfen müssen, sich bei der Ermittlung des Erfolgs wenigstens an den oben genannten Indikatoren zu orientieren. Diese sind: – Rezipiertes Recht wird Rechtsrealität im Ursprungsland; – Akzeptanz der Rechtswirklichkeit in der Gesellschaft; – Ausbleiben weiterer Normanpassungen. In vielen Fällen mögen diese ausreichen, um ein Problembewusstsein zu schaffen, welches bei der Sensibilisierung für Probleme schließlich auch im Vordergrund steht. Es wird Aufgabe der Rechtstransferwissenschaft sein, sich mit der Frage nach weiteren Kriterien für den Erfolg von Rechtstransfers eingehender zu befassen. Ist ein allgemeingültiger abstrakter Maßstab nicht zu finden (wonach es aussieht), könnte wiederum die Rechtstransfertypologie dabei helfen, eine nach Typen differenzierte Lösung für einen Erfolgsmaßstab zu finden. Der Versuch einer solchen Ausarbeitung würde allerdings den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
2. Zeitpunkt der Evaluation des Rechtstransfers Neben den Problemen bei der Herleitung eines (qualitativen) Erfolgsmaßstabs stellt sich auch die Frage, wie ein für die Evaluationen geeigneter Zeitpunkt festgelegt werden kann. Das Bild, das ein Rechtstransfer abgibt, mag nach einigen Monaten deutlich anders aussehen als nach mehreren Jahren. Eine Re-
III. Das Problem der Erfolgsmessung
217
zeption geht unter Umständen zeitlich weit über die Phasen des Rechtstransferprozesses hinaus. Sie kann sich über Jahre, gar Jahrzehnte hinziehen. Ob Verständnisprobleme vorliegen oder nicht, kann bis zur Aufnahmephase festgestellt werden. Denn mit der Verabschiedung des Gesetzes ist der Verständnisprozess und der dogmatische Integrationsprozess durch den Gesetzgeber abgeschlossen. Was den dogmatischen Integrationsprozess durch die Literatur und Rechtsprechung, sowie die erwähnten rechtskulturellen und sozio-kulturellen Gesichtspunkte angeht,207 gestaltet sich die Frage des relevanten Evaluationszeitpunkts dagegen etwas komplizierter. Diese Problembereiche kommen erst in der Implementationsphase zur Geltung. Ihre Evaluation verlangt eine langfristige Analyse. Ob die Normausleger in der Praxis das fremde Recht den heimischen Strukturen angepasst und dabei die rechtskulturellen Unterschiede berücksichtigt haben, wird man nicht immer schon nach der ersten Gerichtsentscheidung abschließend bewerten können. Dasselbe gilt (in womöglich noch stärkerer Form) für die Evaluation der gesellschaftlichen Akzeptanz der übernommenen Regelung. Dass in einigen Gebieten der Türkei noch Jahrzehnte später ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung entgegen der gesetzlichen Vorschriften Polygamie praktizierte, konnte sich beispielsweise erst nach längerfristigen Studien ergeben. Die Frage der „Evaluationsreife“ eines Rechtstransfers wird nochmals komplexer, wenn man bedenkt, dass das langfristige Schicksal von Normen auch durch (nachträgliche) gesellschaftliche Entwicklungen beeinflusst wird. Zu Zeiten Atatürks haben westliche Regelungen als Vorbild gedient. Unter der aktuellen türkischen Regierung findet hingegen in einigen Bereichen des Zivilrechts eine Rückbesinnung auf islamische Rechtstraditionen statt. Das betrifft im Übrigen ganz besonders das Familien- und Erbrecht. Die einst aufgrund ihres Prestiges übertragenen schweizerischen Regeln verlieren in der Türkei immer mehr an ihrer Vorbildfunktion – zumindest bei den politischen Entscheidungsträgern. Aber ist das Jahr 2019 noch ein Zeitpunkt, in denen eine Transplantation von 1926 evaluiert werden kann? Vermutlich nicht. Nachträgliche, selbstständige und unkalkulierbare Entwicklungen müssen also ab einem gewissen Zeitpunkt unberücksichtigt bleiben. Eine Evaluation kann nur äußere Einflüsse auf Rechtstransferprozesse einbeziehen, die zum Zeitpunkt der Transplantation noch im Rahmen des Vorhersehbaren waren. Welche Entwicklungen für den Rechtsetzer (noch) vorhersehbar sind, muss bei jeder Evaluation im Einzelfall geprüft werden. Stellt man dabei auf die tatsächlichen Umstände – also das Wissen des Rechtsetzers – ab, ergeben sich aber die gleichen praktischen Probleme wie unter (1.). Ist schon der Wille des Gesetzgebers häufig rein hypothetischer Natur, so gilt das gleiche oftmals auch für dessen tatsächliches Wissen. Hilfreich kann es dann in solchen Fällen sein, auf eine Art „objektive 207
Siehe oben C. III. und IV.
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E. Anwendung der problemorientierten Rechtstransfertypologie in der Praxis
Vorhersehbarkeit“ abzustellen, welche die tatsächlichen Umstände indizieren können. Insoweit scheint bei der Frage des Zeitpunkts der Evaluation weniger die „rein zeitliche Komponente“ entscheidend zu sein. Es stellen sich vielmehr die folgenden Fragen: Welche „zusätzlichen“ Faktoren haben im Laufe der Zeit auf die Entwicklung des Rechtstransfers eingewirkt? Waren diese Faktoren bereits zum Zeitpunkt der Transplantation vorhersehbar? Welches Erkenntnisinteresse besteht daran, diese Entwicklung weiterzuverfolgen und zu bewerten?
F. Ergebnisse und Ausblick Der Begriff „Rechtstransfer“ ist nur als Oberbegriff für das Phänomen der Wanderung von Gesetzen brauchbar. Jeder Kontext eines Rechtstransfers ist einzigartig. Er wird bestimmt von speziellen politischen und kulturellen Bedingungen, die sich nirgendwo 1:1 wiederholen. Eine einheitliche Theorie zu Rechtstransfers, welche sämtliche Arten von Rechtstransfers erfasst und erklärt, kann es daher nicht geben. Um dieses Phänomen der Wanderung von Recht besser zu verstehen, muss es kleinteilig in seinen verschiedenen Facetten erforscht werden. Das gilt ganz besonders dann, wenn eine methodische Perspektive auf die Wanderung von Recht eingenommen werden soll. Typologien sind ein geeignetes Mittel, um die Komplexität und Vielschichtigkeit dieses Phänomens begrifflich zu kategorisieren und zu bündeln. Sie helfen dabei, zu verstehen, in welchen Kontexten Rechtstransfers vorkommen können. Sie sind auch ein geeignetes Instrument, um bestimmte Problemmuster, die im Rahmen von Rechtstransfers wiederholt auftauchen, zu identifizieren und schließlich weiter zu erforschen. Wie sich dem Phänomen Rechtstransfer durch Typologien genähert werden kann, wurde in dieser Arbeit eingehend behandelt. Die wichtigsten Ergebnisse sollen im Folgenden zusammengefasst werden.
I. Problemorientierte Rechtstransfertypologie – Methodik Mit der „problemorientierten Rechtstransfertypologie“ wurde veranschaulicht, wie eine Kategorisierung von Rechtstransfers konkret aussehen kann. Dafür wurden zunächst einige ausgewählte Ansätze von Typologisierungen aus der Literatur analysiert. Insbesondere die Ansätze von Miller und Cohn aus dem Bereich der Rechtssoziologie und von Kviatek aus der Rechtswissenschaft konnten für die problemorientierte Rechtstransfertypologie verwendet werden. Sie wurden in der Arbeit aufgegriffen, teilweise präzisiert und in ein eigenes Konzept einer problemorientierten Rechtstransfertypologie integriert. Die Bildung von Typologien und ihr Gebrauch macht stets auch ein interdisziplinäres Arbeiten erforderlich. Mit der Kategorie der „wirtschaftlichen Ressourcen“ wurde angedeutet, dass bei der Bildung von Rechtstransfertypen auch volkswirtschaftliche Aspekte eine Rolle spielen können. Für die Kategorien würde
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F. Ergebnisse und Ausblick
beispielsweise auf die Typologie zu den sozialen Interessengruppen nach Cotterrell – also auf die Sozialwissenschaften – Bezug genommen. Auch die Motivation zur Übertragung fremden Rechts oder die Analyse der Wirkungen von legal transplants lassen sich nur über eine (rechts-)soziologische Betrachtung bestimmen. Die Rechtswissenschaft kann bei der Typenbildung hingegen lediglich einen Teil der Arbeit leisten. Die „problemorientierte Rechtstransfertypologie“ baut auf drei verschiedenen Typologiesäulen (oder Ordnungsmustern) auf. Die erste Säule enthält Typeneigenschaften, die in der Sphäre des Rezipienten – sprich in seinem Rechtssystem oder gesellschaftlichen Umfeld – liegen. Die zweite Säule blickt auf die besonderen Eigenschaften des Rechtstransfers selbst – daher ist von „rechtstransferspezifischen Faktoren“ die Rede. Die dritte und letzte Säule erfasst die Modalitäten einer Rechtsübertragung. Diese drei Säulen bilden gewissermaßen die Wurzel des „Typologiebaums“. Sie werden durch weitere Oberbegriffe und Subtypen spezifiziert. Dadurch bleibt die Typologie nicht bei vagen Kategorien stehen, sondern nähert sich den realen Lebenssachverhalten an, in denen Rechtstransfers vorkommen. Einige dieser Subtypen ergeben sich durch die Analyse einiger Rezeptionsbeispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart, in die teilweise schon am Anfang der Arbeit eingeführt worden ist. Die Darstellung der (Sub-)Typen erfolgt teilweise in Form von (Unter-)Fallgruppen, teilweise auch in Form von Spektren. Dabei wurde auch darauf geachtet, dass die Typologie sich auf Merkmale konzentriert, welche auch potenziell „erfolgsrelevant“ sind. „Erfolgsrelevant“ meint, dass die Anwesenheit oder Abwesenheit des Merkmals zumindest potenziell dafür bedeutend ist, ob ein Rechtstransfer Erfolg haben wird oder nicht. Diese Eingrenzung war notwendig, da die Typologie darauf ausgerichtet ist, auf mögliche Probleme bei der Transplantation fremden Rechts hinzuweisen. Die in dieser Arbeit herausgearbeiteten Typen und Subtypen von Rechtstransfers bilden ein „Starterkit“ für weitere Typenbildungen. Sie müssen durch rechtsvergleichende Studien weitergeführt und präzisiert werden. Bei der Entwicklung der problemorientierten Rechtstransfertypologie war induktiv vorzugehen. Viele (wiederkehrende) Merkmale konnten nur durch die Analyse konkreter Beispiele und deren Abgrenzung voneinander hergeleitet werden. Insofern ist es auch für eine Weiterentwicklung der „problemrelevanten Rechtstransfertypologie“ notwendig, eine möglichst große Anzahl von Rechtstransfers zu analysieren. In dieser Arbeit wurden insbesondere die Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei, die Rezeption der sog. MacArthur-Verfassung in Japan, die Rezeption des deutschen Sachenrechts in Estland sowie die Rezeption des US-amerikanischen Konzepts der Independent Regulatory Agencies in Deutschland als Veranschaulichungsbeispiele gewählt. Diese (und die weiteren) Beispiele umfassen zwar bei Weitem nicht das gesamte Spektrum von Rechtstransfertypen. Gleichwohl ermöglichte deren Analyse, zahlrei-
II. Aufmerksamkeitsraster – Grundgedanke und Methodik
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che und vielfältige typischerweise problemrelevante Aspekte herauszuarbeiten. Sie dient als erste Grundlage für eine Rechtstransfertypologie, die auch unter Berücksichtigung weiterer Rechtstransferbeispiele fortentwickelt werden muss. Die auf diesen Fallbeispielen aufbauende problemorientierte Rechtstransfertypologie erweitert das bisherige Bild von Rechtstransfers. Sie ist ein Gegenmodell des in der Literatur häufig aufzufindenden und dort teilweise auch kritisierten „simplistischen Einheitsmodells“. Die Typologie zeigt nicht nur auf, in welch vielfältiger Form Rechtstransfers auftreten können. Sie erlaubt auch einen Einstieg in die Analyse möglicher Risiken von Rechtstransplantationen.
II. Aufmerksamkeitsraster – Grundgedanke und Methodik Die problemorientierte Rechtstransfertypologie war zudem ein wichtiger Zwischenschritt für die Entwicklung eines „Tools“, mit dessen Hilfe Rechtsetzer auf Rechtstransferproblematiken aufmerksam gemacht werden können. Dieses „Tool“ wird in dieser Arbeit als Aufmerksamkeitsraster bezeichnet. Das Aufmerksamkeitsraster macht sich die Problemursachentypologie (siehe C.) und die problemorientierte Rechtstransfertypologie (siehe D.) zunutze, um auf empirischem Wege Zusammenhänge zwischen bestimmten Rechtstransfereigenschaften und Problemtypen zu erforschen. Die empirischen Daten, die für eine solche Analyse benötigt werden, entstehen durch eine Analyse der Typenmerkmale einer Vielzahl von Rechtstransfers. Die Arbeit hat aufgezeigt, wie ein solches Aufmerksamkeitsraster funktionieren kann. Zum einen müssen Erfahrungswerte und Rezeptionsanalysen von Rechtstransfers zusammengetragen und in das Raster integriert werden. Das Raster erfordert also einen regelmäßigen Dateninput durch Analysen von spezifischen Rezeptionsproblemen. Nur wenn das Raster mit Erfahrungswerten „gefüttert“ wird, kann es aussagekräftige Informationen zur Problemrelevanz bestimmter Rechtstransfertypen geben. Wie dieses „Füttern“ funktionieren kann, wurde am Beispiel der Rezeption der sog. MacArthur-Verfassung in Japan dargestellt. Am Beispiel der Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei wurde dann veranschaulicht, wie ein solches Raster – wenn es einmal mit genügend empirischen Daten „gefüttert“ worden ist – konkret bei der Vorbereitung eines Rechtstransfers von Nutzen sein kann.1 Mit dem Aufmerksamkeitsraster wurden auf der Grundlage der Auswertung ausgewählter konkreter Beispiele von Rechtstransfers erste Ansätze geschaffen, die dabei helfen können, Rechtsetzer auf die Risiken und Probleme bei Rechtstransplantationen vorzubereiten. Der Anspruch an das Raster kann es nicht sein, ein Patentkonzept bereitzustellen. Es stellt jedoch einen neuen Ansatz dar, der 1
Siehe oben E II.
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F. Ergebnisse und Ausblick
dabei unterstützen kann, Folgen und Probleme von spezifischen Rechtstransfers zu identifizieren und einzuordnen. Das Aufmerksamkeitsraster kann zudem die Grundlage bilden für weitergehende Versuche, das Phänomen der Rechtstransplantation mithilfe von empirischen Datensätzen weiter zu ergründen. Für eine Ausarbeitung eines solchen Konzepts fehlt dieser Arbeit der Raum. Doch auch ohne ein solches Konzept kann das Aufmerksamkeitsraster, wie es hier ausgearbeitet wurde, bereits Sensibilisierungseffekte für mögliche bevorstehende Probleme bei geplanten Rechtstransfer erzeugen.
III. Strategien für „bessere“ Rechtstransfers In der Arbeit wurden zudem einige Strategien dargestellt, die dabei helfen können, Problemen bei Rechtstransfers entgegenzuwirken.2 Diese Strategien beruhen auf den Erfahrungswerten aus dem herausgearbeiteten Aufmerksamkeitsraster. Sie stellen mit ihren lösungsorientierten Ansätzen quasi ein positives Gegenstück zur eben beschriebenen Problemsensibilisierung dar. Noch fehlen diesem Raster ausreichende Erfahrungswerte, um solche Strategiemodelle tatsächlich empirisch herzuleiten. Die hier dargestellten Konzepte stammen deshalb aus den Lehren, die aus den Veranschaulichungsbeispielen gezogen werden konnten. Langfristig sollte es jedoch auch möglich sein, konkrete Strategien aus dem Erfahrungsmaterial des Aufmerksamkeitsrasters zu ziehen. Dies wird davon abhängen, ob es künftig Untersuchungen geben wird, die sich an diesem Raster – oder ähnlichen Ansätzen – orientieren werden. Doch auch ohne umfangreiche Erfahrungswerte konnten in dieser Arbeit einige Strategien vorgestellt werden, die den Rechtsetzer unterstützen können, Probleme bei Rechtstransfers zu vermeiden. So haben die Beispiele etwa gezeigt, wie wichtig es ist, sich im Vorfeld eingängig mit den zu übertragenen Regelungen in der fremden Rechtsordnung zu beschäftigen. Ein sowohl juristisches als auch kontextuelles Verständnis des fremden Rechts ist eine Grundvoraussetzung für jeden Transfer. Erforderlich ist nicht nur, das fremde Recht in seiner normativen Bedeutung zu verstehen. Rechtsetzer müssen es auch als Teil eines Gesamtkonzepts auf- und erfassen.3 Daraus ergibt sich, dass ein Rechtsetzer gut beraten ist, schon frühzeitig im Rechtstransferprozess ausländische Expertise in Anspruch zu nehmen.4 Die Zusammenarbeit mit den im fremden Recht fachkundigen Experten sollte auch nach der Transplantation fortgeführt werden.5 Bereits in der Vorbereitungsphase sollten Rechtsetzer die Vor- und Nachteile einer Rechtsübernahme gegenüber einer autochthonen Rechtsetzung 2
Siehe oben E. II. 3. Siehe oben E. II. 3. a) ee). Siehe oben E. II. 3. a) cc). 5 Siehe oben E. II. 3. c) aa) und bb). 3 4
III. Strategien für „bessere“ Rechtstransfers
223
abwägen. Die Aspekte, die im Ergebnis für oder gegen einen Rechtstransfer sprechen können, sind von Fall zu Fall unterschiedlich. Für eine Übernahme fremden Rechts spricht häufig etwa der erwähnte Zeit- und Kostenfaktor. Auch fremder Druck bzw. Einflussnahme kann Rechtsetzer dazu bringen, Recht aus einer anderen Jurisdiktion zu übernehmen. Rechtsetzer dürfen aber auch hier nicht den Blick dafür verlieren, ob die angedachte Transplantation fremden Rechts überhaupt für die Herstellung eines bestimmten gewünschten sozialen Zustands geeignet ist.6 Ebenso wichtig wie die Erforschung des ausländischen Kontextes ist es, die inländischen Rahmenbedingungen für den Rechtstransfer zu verstehen und die Umsetzung des Rechtstransfers an diese anzupassen. Ein Rechtsetzer sollte zunächst die von der Reform betroffenen Interessengruppen ausfindig machen und deren potenziellen Widerstand gegen die Reform einschätzen.7 Bestenfalls bezieht er diese Kräfte in seinen Entscheidungsprozess über die Ausgestaltung des Rechtstransfers ein. Durch zeitlich gestreckte Übergangsregelungen kann er versuchen, Widerstände vieler gesellschaftlicher Gruppen abzufedern.8 Auch die Rechtsanwender können – gewollt oder ungewollt – Widerstände gegen eine ursprungsgerechte Umsetzung des Rechtstransfers darstellen. Die Herausforderung für Rechtsanwender liegt meist darin, die andersartigen juristischen Denk- und Organisationsmuster, die dem transplantierten Recht zugrunde liegen, zu verstehen und in der eigenen Rechtsanwendung zu berücksichtigen. Die rechtskulturellen Unterschiede zwischen der eigenen Rechtsordnung und der ausländischen Rechtsordnung, die in dem transplantierten Recht zum Ausdruck kommt, können Rechtsetzer überfordern.9 Viele dieser Probleme „aufgrund rechtskultureller Unterschiede“ lassen sich durch eine an die eigenen Bedürfnisse angepasste Umformulierung und Anpassung der fremden Rechtsätze vermeiden. Es dürfte regelmäßig hilfreich sein, auslegungsoffene Rechtsbegriffe oder Tatbestände aus dem Ursprungsland in die eigene „Rechtssprache“ zu übersetzen.10 Darüber hinaus können Schulungen zum fremdstämmigen Recht alsbald nach der Reform helfen, Missverständnisse zu vermeiden.11 Dem Rechtsetzer steht schließlich die Option offen, den Rechtstransfer zu modifizieren. Modifikationen können zentrale Elemente des Rechtstransfers betreffen. Es kann sich aber auch um einige wenige Rechtsanpassungen handeln, die dazu da sind, die drohenden Wertungswidersprüche oder Systembrüche im heimischen System zu vermeiden. Ebenfalls kann in Bezug auf die Motivation unterschieden werden. Modifikationen, die aus einem klaren politischen Willen 6 7
Siehe oben E. II. 3. a) aa). Siehe oben E. II. 3. a) ff). 8 Siehe oben E. II. 3. b) cc). 9 Siehe oben C. III. 10 Siehe oben E. II. 3. b) ee). 11 Siehe oben E. II. 3. b) ff).
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F. Ergebnisse und Ausblick
heraus erfolgen, stehen im Gegensatz zu Modifikationen, zu denen der Rechtsetzer aus rechtsdogmatischen möglicherweise aber auch aus verfassungsrechtlichen Gründen „gezwungen war“. Es hat sich auch gezeigt, dass Modifikationen nicht nur vor der (ersten) formellen Implementation erfolgen können, sondern auch erst später im Laufe der Zeit. Ebenso wurde herausgearbeitet, dass Modifikationen einen Rechtstransfer zu einer besseren Umsetzung verhelfen können, ihn sogar vor möglichen Problemen bewahren können. Sie können aber auch Risiken darstellen. Rechtsetzer sollten zudem stets darauf Acht geben, dass die fremde Rechtsidee nach den Modifikationen noch die erhoffte Wirkung entfalten kann.
IV. Grenzen des Aufmerksamkeitsrasters Das Aufmerksamkeitsraster kann Rechtsetzern eine Hilfe bei der Übertragung fremden Rechts sein. Wo der Nutzen dieses Instruments an Grenzen stößt, wurde an verschiedenen Stellen in der Arbeit offengelegt. Hier sei dies kurz zusammengefasst: Es ist nicht Aufgabe des Aufmerksamkeitsrasters, inhaltliche Empfehlungen an den Rechtsetzer abzugeben, wie er einen Rechtstransfer durchzuführen hat. Erst recht kann es die sorgfältige Vorbereitung eines geplanten Rechtstransfers nicht ersetzen, sondern nur unterstützen. Dies hat zwei Gründe. Der erste Grund besteht in der bereits erwähnten kontextuellen Einzigartigkeit jedes Rechtstransfers. Selbst große Ähnlichkeiten zwischen Rechtstransferprojekten bedeuten nicht automatisch, dass der Rechtsetzer sie auf eine ähnliche Art und Weise durchführen sollte. Die zahlreichen Rechtsübernahmen in den osteuropäischen Ländern in den Neunzigerjahren haben dies gezeigt – ähnliche Methoden, ähnliche Rechtsgebiete, ähnliche gesellschaftliche Rahmenbedingungen führten dennoch zu teilweise sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Das Aufmerksamkeitsraster wird auch bei Berücksichtigung zahlreicher zusätzlicher Erfahrungswerte nicht in der Lage sein, um Rechtsetzern eine Anleitung für Rechtstransferprojekte zu bieten. Der zweite Grund liegt in der Aufgabe und somit auch im Anspruch an die Rechtstransferwissenschaft. Diese hat – ähnlich wie die Rechtsvergleichung – nicht die Rolle, dem Rechtsetzer inhaltliche (also politische) Empfehlungen auszusprechen. Einige der Hauptbeispiele der Arbeit haben gezeigt, wie komplex die Interessenlage von Rechtsetzern in Bezug auf das Ziel einer Rechtstransplantation sein kann.12 Rechtsetzer sind in der Vergangenheit häufig – willentlich – von einer „methodisch sauberen“ Übertragung abgewichen. Die Rechts12 Ein Beispiel dafür ist vor allem die Rezeption der MacArthur-Verfassung in Japan, womöglich auch die Rezeption des schweizerischen ZGB in der Türkei. Siehe oben E. e). 1.
VI. Perspektiven für die Rechtstransferforschung
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transferforschung sollte die Erfahrungswerte daher so „wertfrei“ wie möglich präsentieren. Das Aufmerksamkeitsraster – deshalb auch diese Bezeichnung – hat vor allem die Aufgabe, für wiederkehrende Problemkonstellationen und für die Vielfältigkeit des Phänomens Rechtstransfer zu sensibilisieren.
V. Betrachtung von Rechtstransfers als mehrstufigen Prozess Die Arbeit hat schließlich gezeigt, dass es zielführend ist, die Übertragung und Rezeption fremden Rechts als einen mehrstufigen und zeitlich gestreckten Prozess zu behandeln. Die Einteilung in Vorbereitungsphase und Implementationsphase (letztere besteht aus der Eingliederungsphase, der Aufnahmephase und der Anwendungsphase) scheint ein hilfreicher und plausibler Ansatz zu sein.13 Dies gilt besonders für die zeitliche Verortung möglicher Probleme bei Rechtstransfers. Bei der Frage, welche Strategien für einen erfolgreichen Rechtstransfer in Betracht kommen, lohnt sich eine Differenzierung zwischen drei Rechtstransferphasen: Vorbereitungsphase, Implementationsphase und Nachbesserungsphase. Die Darstellung einer Rezeption als „Zeitstrahl“, der in mehrere Phasen eingeteilt werden kann, hilft auch der methodischen Perspektive auf das Thema „Rechtstransfer“. Hierdurch werden sowohl für die unterschiedlichen Problemursachentypen als auch für die Entwicklung von Strategien klare zeitliche Anknüpfungspunkte geschaffen.
VI. Perspektiven für die Rechtstransferforschung Die Untersuchung von Rechtstransfers anhand von Typologien ist eine effektive Möglichkeit, um sich dem Thema „Rechtstransfers“ anzunähern. Die Grundlagen der Rechtstransferforschung liegen in der Rechtswissenschaft. Diese Arbeit hat jedoch gezeigt, dass sie an vielen Stellen auch auf andere Wissenschaftsbereiche angewiesen ist. Es ist deutlich geworden, dass die Innovationsforschung einige beachtliche Parallelen zur Rechtstransferforschung aufzuweisen hat. So könnten etwa einige Ansätze und Ideen aus der Innovationsforschung herangezogen werden. Dazu gehören insbesondere die unterschiedlichen Wirkungsdimensionen14 sowie die Steuerungsfunktionen von Recht.15 Die Innovationsforschung fragt: Wie kann man durch Recht Raum für Innovation schaffen? Die Rechtstransferforschung fragt (unter anderem): Wie kann fremdes Recht so übernommen werden, dass es Raum für kulturelle Besonderheiten lässt und dennoch funktioniert? Die Steuerungsfunktionen von Recht beschrei13
Siehe oben B. III. Siehe oben E. II. 3. a) ee). 15 Siehe oben D. III. 2. a) bb). 14
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F. Ergebnisse und Ausblick
ben unterschiedliche Rechtssetzungsmethoden, mit denen ein Rechtsetzer versuchen kann, bestimmte soziale Ergebnisse zu erzielen. Es wurde aufgezeigt, wie die Verwendung der Steuerungsmechanismen sich von Kultur zu Kultur unterscheiden kann. Solche und weitere Erkenntnisse können auch Rezipienten von fremdem Recht dienlich sein. Für sie könnte es beispielsweise vorteilhaft sein, Recht aus einer fremden Kultur mit einem anderen (an die eigenen Gegebenheiten angepassten) Steuerungsmechanismus zu übertragen. Diese Parallelen sprechen dafür, die Rechtstransferforschung und die Innovationsforschung künftig stärker miteinander zu verknüpfen. Ein weiterer für die Fortentwicklung der Rechtstransferforschung bedeutender Wissenschaftsbereich ist die (Rechts-)Soziologie. Gerade im Hinblick auf die Frage der Erfolgsmessung von Rechtstransfers verdient vor allem die Rechtswirkungsforschung Beachtung,16 das gilt insbesondere für die Gebiete der Gesetzesfolgenanalyse und der Implementationsforschung. Ebenfalls in dieser Arbeit nur angedeutet17 werden konnte die Frage der technischen Umsetzung des Aufmerksamkeitsrasters. Hier erscheint es sinnvoll, eine „Rechtstransfer-Datenbank“ zu erstellen, welche die Merkmale und Erfahrungswerte des Rasters enthält. Darüber hinaus wäre es möglich, die Erfahrungswerte mit einer intelligenten Software auszuwerten. Bei diesen Bemühungen müssen jedoch auch stets der erhoffte Erkenntnisgewinn und der damit verbundene Aufwand in einem angemessenen Verhältnis stehen. Wann dies der Fall ist, hängt auch davon, inwieweit die Probleme, die bei der Übertragung fremden Rechts entstehen können, weiterhin als eine bedeutende Herausforderung für die Arbeit des Rechtsetzers angesehen werden. Erst dann wird es sich die Wissenschaft zum Anlass nehmen, Erfahrungen aus weiteren Rechtstransfers festzuhalten und in das Aufmerksamkeitsraster „einzupflegen“. Die Entwicklung des Themas „Rechtstransfertypologien“ wird stark von globalen „Rechtssetzungstrends“ sowie von den künftigen (unter Umständen auch neuen)18 Formen der Rechtsanwendung abhängen. Die konstante Fortentwicklung von Recht – etwa aufgrund neuer Technologien, neuer Lebensformen – wirkt sich auch auf den Inhalt der Rechtstransfertypologie aus. Durch den Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse können einige Typenmerkmale an Bedeutung gewinnen, andere an Bedeutung verlieren. Wiederum andere Typenmerkmale entstehen womöglich erst durch diesen Wandel. Das auf der Rechtstransfertypologie basierende Aufmerksamkeitsraster ist mithin kein statisches
1.
16 17
Zu einem Überblick siehe Wrase/Schweiwe, Zeitschrift für Rechtssoziologie 38 (2018),
Vgl. E. I. 5. Dazu gehört unter anderem das aktuell häufig diskutierte Thema der zunehmenden Automatisierung rechtlicher Dienstleistungen. Diese könnten langfristig – so sie denn in der Breite relevant werden nicht unerheblichen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie fremdes Recht rezipiert wird. 18
VI. Perspektiven für die Rechtstransferforschung
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Konstrukt, das – einmal herausgearbeitet – für alle Zeit Geltung beanspruchen kann. Es ist vielmehr ein dynamisches Konzept, das im Zuge der Folgepraxis angepasst und fortentwickelt werden muss.
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Sachverzeichnis A. Schechter Poultry Co. v. United States 67 Abschaffung des Ständerechts 15 Adaption 183 Adoption 183 Alan Watson 1 Allergische Reaktion des Volkskörpers 14 Alliierten 14 Amtliche Begründung des Justizministeriums zum türkischen Zivilgesetzbuch 12 Anwendungsphase 36 ARAG/Garmenbeck 50 Atatürk 11 Aufmerksamkeitsraster 8, 139 Aufnahmephase 36 Ausgangssituation beim Rezipienten 101 Auslegungstopos der Rechtsvergleichung 190 Bauernverordnungen 19 Beweiserbringungsrecht im Zivilprozess 51 Blaupause 196 Bundesnetzagentur 28 Business Judgment Rule 50 checks and balances 23, 42 Common Core 3 Constitutional Conventions 47 Cotterrells Typologie von den Gemeinschaften 115 Definition von Rechtstransfer 29 Demokratieprinzip 27 Deutsches Mängelgewährleistungsrecht 50 Deutsches Sachenrecht 21
Deutsche Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit 173 Die Rezeption des deutschen Sachenrechts in Estland 19 Die Rezeption des Konzepts der Independent Regulatory Agencies in Deutschland 22 Die Rezeption des schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) in der Türkei 11 Diet 16 Direkter Rechtstransfer 122 Double Standard Doctrine 62 Douglas MacArthur 15 Drittes Energiepaket 28 due process 25 Eigeninteressengeleitete Rechtstransfers 83 Eigeninteressengeleiteter Rechtstransfer 86 f. Eigentums- und Bodenreform 21 Einführung in die Fallbeispiele 9 Eingliederungsphase 36 Einschätzungsprärogative 17 Eklektischer Rechtstransfer 124 Energiewirtschaftsgesetz 28 Entwurf des estnischen Zivilgesetzbuches von 1936/40 21 Erfahrungswerte 8 Erfahrungswerten 7 Erfolgsmaßstab für Rechtstransfers 214 Erkenntnisinteresse 7 Ermächtigungsgesetz 65 Ernst Hirsch 12, 14 Estland 20 Estnisches Sachenrechtsgesetz aus dem Jahr 1993 21 Europäische Gemeinschaft 26 europäische Richtlinien 26
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Sachverzeichnis
Ewigkeitsklausel 210 Exportland 6 externally dictated transplants 85 facilitation 88 Franco-Regime 44 funktionale Modifikationen 201 funktionelle Unabhängigkeit 27 Gang der Darstellung 8 Gesetzesskeptizismus 66 Gewaltenteilung 23, 42 Globalrezeptionen 55 good faith 201 Grad an Ausfüllungsbedürftigkeit zentraler Rechtsbegriffe 118 Grad des Auslegungs- und Ermessensspielraums 118 Grundbuchamt 46 Grundsatz von Treu und Glauben 52 gyôsei shidô 115 Hammurabi 1 Hirohito 40 hoch politische Gesetzgebungsakte 17 hohitsu 41 Ideelle Bedingungen 97 f. Implementationsphase 36 Independent Regulatory Agencies 22, 26 Individualismus 17 Individualrechtsgarantie 17 Innovationsforschung 113 Institutionelle Bedingungen 97, 99 Interstate Commerce Commission (ICC) 22 J. W. Hampton, Jr. & Co. v. United States 66 japanische Nationale Polizeireserve 142 japanische Verfassung 42 jogen-to hohitsu 41 Jōji Matsumoto 15 judicial review 16 f. justice, equity and good conscience 175 Kontinuitätsgedanke 20 f. Kontrolldichte 62
Korrekturgesetze 24 Kriegsverzichtklausel 16 Kriegsverzichtsklausel 75 Kulturelle Verwurzelung der Norm 104 Kurkchyians Phasenmodell 36 Länderberichte 5 legal borrowing 29 legal irritant 30 legal transplant 1 Legrand 4 level playing field 24 liechtensteinisches ABGB 52 Louisiana Civil Code 173 MacArthur-Verfassung 15 Mahmut Esat Bozkurt 12 Mehrehe 75 Meiji-Verfassung 15, 63 Metaphern 29 Millers Typologie zu den Beweggründen des Gesetzgebers 83 Mittelbare Akteure 122 Modifikation des Übertragungsgegenstands 199 Modifikationen, aufgrund verfassungsrechtlicher Grenzen 209 Modifikationen des fremden Rechts 36 Modifikationen zum Ausgleich von systemischen Unterschieden 208 naives Transfermodell 31 New-Deal-Krise 66 Oberste Gericht Japans 17 Optimierung des Gesetzgebungsprozesses 6 Osmanisches Reich 11 Ostseeraum 19 Outcome 78 Output 78 Panama Refining Co. V. Ryan 67 Partei LDP 63 Peace-Constitution 16 Phasen eines Rechtstransfers 36 politisch motivierte Modifikation 207 polygame Ehen 73
Sachverzeichnis
Potsdamer Erklärung 14 Presidency towns 176 Prestigeerzeugende Rechtstransfers 83 Pre-Trial-Discovery 204 Prinzip des besonderen Gewaltverhältnisses 43 Privy Council 175 Problemen 6 Problemmuster 82 Problemorientierte Rechtstransfertypologie 8 Problemursachenforschung von Rechtstransfers 7 Problemursachentypologie 39 Pseudo-Konstitutionalismus 17 reasonable and just 25 rechtsdogmatische Normanpassung 58 rechtsdogmatischer Integrationsprozess 46 Rechtsetzer 1 Rechtsformant 34 Rechtsgeschichte 2 Rechtsmischung 52 Rechtsrezeptionen 2 Rechtssoziologie 4 Rechtstransfer 1 Rechtstransfer „aufgrund externen Drucks“ 84 Rechtstransferbegriff 32 Rechtstransferforschung 6 Rechtstransfers „aufgrund externen Drucks“ 83 Rechtstransferspezifische Faktoren 101 Rechtstransfers zum Zwecke der Zeitoder Kostenersparnis 83 Rechtstransfers zwecks Rechtsharmonisierung mit ausländischem Recht 91 Rechtstransfers zwecks „Signalwirkung“ 93 Rechtstransfer „über Bande“ 22 Rechtstransfer zum Zwecke zur Zeit- oder Kostenersparnis 83 rechtsvergleichende Interpretation 191 Rechtsvergleichung 5 Römisches Recht 59 Sauser-Hall 13
253
Schariʿa 11 separation of powers 23 simplistische Einheitsmodell 29 Sprachliche Barrieren 52 Staatszielbestimmungen 53 Stadtrechte 19 statutes 23 Steuerungsfunktionen im Recht 114 Strategie 7 Strategientypologie 196 Strukturelle Bedingungen 97 substanzielle Modifikationen 201 Technische Norm 118 technokratisches Verwaltungsverständnis 24 Tennō 40 Typologien 7 Übergangsregelungen 186 Überkreuzrezeptionen 34 Übertragungsmodalitäten 101 Umsetzungsprobleme 14 Umweltverträglichkeitsprüfung 194 Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz (UVPG) 194 unabhängige Regulierungsbehörden 25 undue discrimination 25 Universität Tartu 20 Unterschätzte Wirkungsdimension des rezipierten Rechts 50 Untersuchungsgegenstand 29 ununterbrochene Weisungskette 27 Ursachen von Problemen bei Rechtstransfers 8 Verfassungsrevisionismus 74 Vermittelter Rechtstransfer 122 Vertragsverletzungsverfahren 28 Volkssouveränität 65 Vorbehalt des Gesetzes 27 Vorbereitungsphase 36 Wayman v. Southard 66 Weisungsabhängigkeit 27 Weisungsunabhängigkeit 25 Wesentlichkeitstheorie 27, 47 Wiederbewaffnung Japans 18
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Sachverzeichnis
Wirkungsdimensionen des fremden Rechts 54 Wirkungsdimensionen von Recht 78
zentralistischer Einheitsstaat 48 Zivilregister 74