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German Pages XIX, 458 [471] Year 2020
Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung
Kathrin Bernateck
Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern Eine Analyse von Verberuflichungsprozessen anhand erzählter Lebensgeschichten
Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung Reihe herausgegeben von Andreas Hanses, Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit, TU Dresden, Dresden, Sachsen, Deutschland Henning Schmidt-Semisch, FB 11: Human- und Gesundheitswissensch, Universität Bremen, Bremen, Deutschland
Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung untersucht gesellschaftliche Verhältnisse auf der Makro-, Meso- und Mikroebene in ihren Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit. Im Fokus der Betrachtung stehen die staatlichen und sozialen, die kulturellen und gemeinschaftlichen, die individuellen und biographischen Be- und Verarbeitungen von Gesundheit und Krankheit sowie von gesundheitlichen Risiken und Krisen. Dabei nimmt eine sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung sowohl die sozialen und psychosozialen Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Gesellschaft in den Blick als auch das Verhältnis von individuellem Handeln und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Besondere Bedeutung kommt hier den gesellschaftlichen und diskursiven Aushandlungsprozessen von Gesundheit und Krankheit und den damit verbundenen sozialen Konstruktionen von Normalität und Abweichung zu. In der Reihe erscheinen gleichermaßen theoretisch wie auch empirisch orientierte Bände.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15849
Kathrin Bernateck
Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern Eine Analyse von Verberuflichungsprozessen anhand erzählter Lebensgeschichten
Kathrin Bernateck Kleinmachnow, Deutschland Zugl. Dissertation, Dresden, Technische Universität Dresden, 2020.
ISSN 2523-854X ISSN 2523-8558 (electronic) Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung ISBN 978-3-658-31355-5 ISBN 978-3-658-31356-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Die theoretische Auseinandersetzung mit der Berufsgruppe der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ist nicht zuletzt eigenen berufsbiographischen Entwicklungen geschuldet. Als ich in den 1990er Jahren als Physiotherapeutin tätig wurde, stieß ich mit zunehmender Wissensaneignung und Berufserfahrung an die rechtlichen Grenzen selbstständiger Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der Berufsausübung. Dies wurde verstärkt durch eine mehrjährige Tätigkeit in Großbritannien. Dort war der Professionalisierungsprozess der Physiotherapie bereits weiter vorangeschritten als in der BRD. Nach meiner Rückkehr blieb nur der Heilpraktikerabschluss als ‚Hilfskonstruktion‘, um meine diagnostische und therapeutische Arbeitsweise weiter ausführen und vervollkommnen zu können. Allerdings eröffneten sich mit der amtsärztlichen Erlaubniserteilung zur umfassenden Ausübung der Heilkunde überraschende Möglichkeiten. Mit Abschluss eines gesundheitswissenschaftlichen Studiums und nach mehrjähriger sozial- und bildungswissenschaftlicher Forschungsperspektive waren mir professionssoziologische und -theoretische Arbeiten vertraut. Ich kannte die kritische Sicht auf die gesundheitsbezogene Deutungs- und Handlungshoheit der Profession der Medizin, ebenso die intensiven Professionalisierungsprozesse der Psychotherapie, der Pflege, der Sozialen Arbeit, aber auch der Ergo- und Physiotherapie. Immer noch nebenberuflich als Heilpraktikerin tätig, war mir die Ablehnung des Berufsstandes der Heilpraktiker durch die Medizin und damit verbundene Herausforderungen beruflicher Praxis bekannt. Ebenso teilte ich lange Diskussionen um optimale Behandlungsmöglichkeiten von Patientinnen und Patienten bei Treffen mit Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern auf Tagungen, bei Seminaren und in Arbeitskreisen.
V
VI
Vorwort
Hinzu kam die Ermutigung von Peter Alheit, auf meine langjährige praktische berufliche Erfahrung zurückzugreifen und über innovative Versorgungskonzepte nachzudenken. Für seinen Impuls danke ich ihm an dieser Stelle sehr. Er führte mich zur Fragestellung nach Heilpraktiker*innen-Potenzialen aus Versorgungssicht, zu ihrer Professionalität, dem hauptsächlichen Kritikpunkt von Seiten der Medizin, sowie, ganz konkret, zu ihrer je individuellen Verberuflichung. Mit einem Abstand von mehr als zehn Jahren zur Erlaubniserteilung, als Heilpraktikerin tätig zu sein, entschied ich, mich diesem Beruf auch wissenschaftlich zu nähern. Diese Arbeit entstand in den Jahren 2015 bis 2019. Sie ist die aktualisierte Fassung meiner im August 2019 bei der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Dresden eingereichten Dissertation. Ich danke an dieser Stelle den vielen Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, die mich in so unterschiedlicher Weise an ihrem Leben teilhaben ließen, um der Frage nachzugehen, wie sie ihren Weg in die alternative Heilkunde gefunden haben und wie sie den Beruf für sich gestalten. Ohne ihre Erzählbereitschaft wäre diese Forschungsarbeit nicht zustande gekommen. Besonders in den westlichen Bundesländern war dieses Vorhaben eine Gratwanderung zwischen Offenheit und (subjektiv gefühlter) Gefahr, zu viel von sich preiszugeben – als Vertreterinnen und Vertreter eines Berufsstandes, der sich ständig erklären und ‚beweisen‘ muss. Besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Andreas Hanses, der die Erstbetreuung meiner Arbeit übernommen hat. Er hat meinen wissenschaftlichen Denkprozess auf vielfältige Weise unterstützt. Darüber hinaus hat Frau Professorin Dr. Heidrun Herzberg die Betreuung meiner Arbeit übernommen. Ihr danke ich für die Geduld, mit der sie an meinen vielfältigen Suchbewegungen teilhatte, um meinen eigenen Weg zur fertigen Dissertation zu finden. Auf entscheidende Weise hat sie mir theoretische und methodische Denkanstöße gegeben und mich in Forschungswerkstätten beim Interpretieren der Daten begleitet. Dabei entstanden lebhafte Diskussionen unter den Teilnehmenden, die einen gemeinsamen Lernprozess ermöglichten. Im Laufe der Zeit erhielt ich von vielen Menschen Anregung und Ermutigung für meine Arbeit. Einigen möchte ich hier stellvertretend danken: Jutta Wergen, Andrea Bettels, Maureen Grimm, Daniela Kuptz und Joseph Kuhn. Meinem Mann Daniel danke ich für die unerschöpfliche Geduld in den Jahren des Promotionsalltags und dafür, dass er die knappe gemeinsame Zeit mit vielen Ideen zum Auftanken der Kräfte gefüllt hat.
Vorwort
VII
Schließlich danke ich meinem Sohn Martin für die jugendliche Ungeduld, mit der er mich ‚angetrieben‘ hat weiterzuschreiben, um endlich fertig zu werden. Auch er musste auf gemeinsame Familienzeiten verzichten und hat mich im Alltag auf vielfältige Weise unterstützt. Ihm widme ich diese Arbeit. Kleinmachnow Juni 2020
Kathrin Bernateck
Summary
This thesis focuses on the occupation of non-medical practitioners (Heilpraktiker), from a perspective of occupational research and biographical theory. The occupation of state-licensed, non-medical practitioner is historically constituted as little institutionalised and non-professionalised, remaining in an exceptional position. In spite of few standards of professional training nonmedical practitioners are allowed to comprehensively practice complementary and alternative medicine therapies, as long as their performance is consistent with the ‘Heilpraktiker’-law. This fact provokes criticism of professions particularly of the medical profession. The field of non-medical practitioners is socially and professionally heterogenous. The number of non-medical practitioners is continually increasing, thus becoming a considerable part of (private) primary health care. Currently there is none qualitative research about the professional orientations and social practices of non-medical practitioners. Missing professionalism requires a recourse to individual professional and biographical knowledge and resources. Peter Alheit named the individual code to adapt biographical experiences in life long biographical learning processes as “biographicity”, expressed in the individual biographical habitus. The biographical habitus enlarges the concept of Bourdieus’ social habitus, involving postmodern requirements of structuring and adapting learning processes between complex structural and individual dialectics. The study describes processes of individual biographical learning and adapting processes to professionalise in the newly-chosen occupation. It shows that professional performance is based on biographically developed knowledge, orientations and action resources.
IX
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Summary
Three maximum contrasts of biographical habitus and its professional performance are introduced. The contrast cases were derived from a sample of 30 narrative biographical interviews. Theoretical framework of analysis is the grounded theory. Developed were 1) the biographical habitus of adaptation, performing in the social and professional practice of knowing how health is being regained; 2) the biographical habitus of self-fulfilment, socially performing as enabling and promoting health and 3) the professional habitus of conflict, performing as (over-)caring. A process model of professionalisation along biographical constructions could be derived which refers to the relevance of biography for categories of professionalism.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teil I
1
Berufssoziologische und biographietheoretische Vorüberlegungen; Forschungsstand
2 Der Beruf des Heilpraktikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Definition und berufssoziologische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Bedeutung des Heilpraktikers im Kontext von Gesundheitssystem und -politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Berufszugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Berufsausübung und Therapieverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Historische Entwicklung des Berufes und seine kontroverse Sonderstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Berufsständische Organisation und Verantwortung der Heilpraktikerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Selbstverwaltung und Berufspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 Aus- und Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Studien mit Bezug zur konkreten beruflichen Tätigkeit des Heilpraktikers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2 Studien zur Weiterentwicklung des Heilpraktikerberufes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.2.1 Studien mit rechtswissenschaftlichem Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9 9 16 22 22 27 29 35 35 38 41 41 49 49
XI
XII
Inhaltsverzeichnis
2.6.2.2 Studien mit bildungswissenschaftlichem Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Studien zur Perspektive der Patientinnen und Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.4 Zwischenfazit und Forschungslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Theoretische Bezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das Habituskonzept von Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Einordnung und Beschreibung des Habituskonzepts in seiner Komplexität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Strukturelle Besonderheiten des Sozialraums der ehemaligen DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zur Habitusbildung und -entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der professionelle Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Theoretische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Empirische Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Ableitungen aus der Theorie und Empirie . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Grundlagen zur Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft . . . . . . . . 3.4.2 Biographisch anzueignende Dimensionen des Transformationsprozesses in der ehemaligen DDR . . . . . . 3.5 Biographizität als unverwechselbarer, innerer Verarbeitungscode lebenslanger Lernprozesse – der biographische Habitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Biographie in institutionalisierten Rahmungen und Praxen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Professionalität, Professionalisierung und Biographie . . . . 3.6.3 Biographie und Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.4 Anforderungen an die professionelle Praxis und wissenschaftliche Weiterentwicklung; Chancen für den Heilpraktikerberuf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Offene Fragen – Die Fragestellung der eigenen Arbeit . . . . . . . . .
52 57 65 69 69 69 77 80 82 82 84 91 94 94 101
105 112 112 115 123
131 137
Inhaltsverzeichnis
Teil II
XIII
Empirische Studie – Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern und sein beruflicher Ausdruck
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Grounded Theory als methodologisches Rahmenkonzept . . . . . . . 4.1.1 Zum Verhältnis von Theorie und Empirie in der Grounded Theory-Methodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Grundlegende Prinzipien, Kodierprozess . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Autobiographisch-narrative Interviews als empirische Basis der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Erzähltheoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Kodierparadigma der kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Felderkundung und -zugang, theoretisches Sampling . . . . 4.3.2 Konzept und Transkription der biographisch-narrativen Interviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Verlaufsprotokoll, formale Textanalyse, offenes und axiales Kodieren, biographische Kurzbeschreibung . . . . . . 4.3.4 Kernstelleninterpretation, fallübergreifender Vergleich und theoretische Verdichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln – Wissen, wie Gesundheit hergestellt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Interviewsituation und Praxis des Heilpraktikers . . . . . . . . . . . 5.2 Biographisches Porträt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Kernstelleninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Eingangspassage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Die Entscheidung, Heilpraktiker zu werden . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Sozialisation – Habituserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.4 Erste berufliche Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.5 Krankheitsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.6 Zweite berufliche Karriere – den Heilpraktikerberuf erlernen und ausüben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.7 Motivation und biographische Reflexivität . . . . . . . . . . . . . 5.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143 144 144 148 151 151 155 160 161 166 170 172 179 179 179 183 183 186 189 203 208 219 254 260
XIV
Inhaltsverzeichnis
6 Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung – Gesundheit ermöglichen und gestalten . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Interviewsituation und Praxis der Heilpraktikerin . . . . . . . . . . 6.2 Biographisches Porträt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Kernstelleninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Eingangspassage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Sozialisation – Habituserwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Berufliche Karriere – Zwischen Bildungsaspiration, Freiheit und doppelter Vergesellschaftung . . . . . . . . . . . . . . 6.3.4 Höhepunkt künstlerischer Karriere und ‚Wende‘ . . . . . . . . 6.3.5 Heilpraktikerin werden und sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.6 Sexualität und Gender als biographisches Thema . . . . . . . 6.3.7 Biographische und professionelle Reflexivität . . . . . . . . . . 6.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld – Versorgung zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde . . . . . . . . . . 7.1 Die Interviewsituation und Praxis der Heilpraktikerin . . . . . . . . . . 7.2 Biographisches Porträt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Kernstelleninterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Eingangspassage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Konflikte zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Berufsbiographie – Zwischen strukturellen Grenzen die Chancen ausloten und die biographische Identität entwickeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Heilpraktikerin werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.5 Umgang mit der eigenen Erkrankung – der Schulmedizin folgen, abgrenzen und Alternativen finden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.6 Ökonomische Ambivalenzen der Heilpraktikertätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.7 Sozialer Austausch als Dimension der biographischen Lern- und Verarbeitungsstrategie – Verwirklichung im Heilpraktikerin-Sein . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275 275 276 281 281 283 288 296 301 314 322 325 337 337 338 342 342 345
362 372
376 380
384 387
Inhaltsverzeichnis
XV
8 Zusammenführung und Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Der biographische Habitus – kontrastiver Vergleich der untersuchten Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Methodische Reflexion und Forschungsdesiderate . . . . . . . . . . . . .
403
Literatur- und Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
Transkriptionsnotationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
457
404 419 424
Abkürzungsverzeichnis
Abb. AMG AMK Anm. d. Verf. BA BÄK BayEUG BfArM BGB BMG BtMG bzw. ca. CAM DDH d. h. DM EschG EStG etc. e. V. FN ggf. GKV HebG
Abbildung Arzneimittelgesetz Arzneimittelkommission der deutschen Heilpraktikerverbände Anmerkung der Verfasserin Bundesagentur für Arbeit Bundesärztekammer Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Bürgerliches Gesetzbuch Bundesministerium für Gesundheit Betäubungsmittelgesetz beziehungsweise circa complementary and alternative medicine/komplementäre und alternative Medizin Dachverband Deutscher Heilpraktikerverbände e. V. das heißt Deutsche Mark Embryonenschutzgesetz Einkommensteuergesetz etcetera; und so weiter eingetragener Verein Fußnote gegebenenfalls Gesetzliche Krankenversicherung Hebammengesetz
XVII
XVIII
HeilprG HeilprGDV 1 Hervorh. i. O. i. e. S. i. S. (v.) IfSG IGeL
JAS Kap. KastrG KMK MBO-Ä MPG MPVerschrV NHV o. g. OP RöV StBA StGB StrlSchV SVR TFG TPG u. a. u. U. vgl. vs. z. B. Z./Zn. ZHKG zit. n. zugl.
Abkürzungsverzeichnis
Heilpraktikergesetz Erste Durchführungsverordnung zum Heilpraktikergesetz Hervorhebung im Original im engeren Sinn(e) im Sinne (von) Infektionsschutzgesetz Individuelle Gesundheitsleistungen, die nicht zum Leistungskatalog der GKV gehören und von den Versicherten privat zu zahlen sind Joseph Angerer Heilpraktiker-Schule München Kapitel Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden Kultusministerkonferenz (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte Medizinproduktegesetz Verordnung über die Verschreibungspflicht von Medizinprodukten Naturheilverfahren oben genannt/e/r Operationssaal Röntgenverordnung Statistisches Bundesamt Strafgesetzbuch Strahlenschutzverordnung Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Transfusionsgesetz Transplantationsgesetz unter anderem; und andere unter Umständen vergleiche versus; im Gegensatz zu zum Beispiel Zeile/Zeilen Zahnheilkundegesetz zitiert nach zugleich
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 4.1 Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung
5.1 6.1 7.1 8.1
Kategorienschema „Biographischer Habitus“ – Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker . . . . . . . . . . . . . . . . Der biographische Habitus von Karl Mitteldorf . . . . . . . Der biographische Habitus von Elsa Wessig . . . . . . . . . . Der biographische Habitus von Karin Plüschke . . . . . . . . Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174 274 335 402 422
XIX
1
Einführung
Bei der Auseinandersetzung mit der gesundheitlichen Versorgung in der BRD auf einer Makro- und Meso-Ebene, im Speziellen aus Sicht der beruflichen Akteure, stößt man auf intensive Modernisierungs- und Professionalisierungsprozesse verschiedener Gesundheitsberufe. Zwischen wissenschaftlicher Disziplinbildung, der Ausbildung eines ‚modernen‘ beruflichen Selbstverständnisses und eines erstarkenden berufspolitischen Einflusses entstehen Berufe mit erweiterter und neu bzw. klar definierter Ausrichtung, die sich zunehmend von der Deutungshoheit der Medizin emanzipieren und im zukünftigen Versorgungsprozess bewähren wollen. In diesem Zusammenhang eröffnet sich der Blick auf ein deutsches Phänomen: den Beruf des Heilpraktikers. Diesen gibt es als Beruf mit ähnlich weitreichenden Berufsausübungs-Kompetenzen in keinem anderen Land der Welt. Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker üben nach dem Heilpraktikergesetz (HeilprG) umfassend berufsmäßig die Heilkunde aus. Dies ist in der BRD gleichermaßen nur der Profession der Medizin erlaubt, die zudem mit der gesellschaftlichen Legitimation über den Zentralwert Gesundheit ausgestattet ist. Hieraus speisen sich Spannungen, die seit Inkrafttreten des HeilprG im Jahre 1939 und der grundrechtskonformen Neuauslegung nach 1945 nicht überwunden werden konnten. Insbesondere die geringe Institutionalisierung und Professionalisierung des Heilpraktikerberufes, die im Gegensatz zu den zugestandenen Kompetenzen nach HeilprG stehen, sind Grund für Kritik und Ablehnung. Die medizinische Profession lehnt den Heilpraktikerberuf (berufspolitisch) aus folgenden Gründen ab: fehlendes Verständnis der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker für die Grenzen ihrer Tätigkeit, Vorhandensein eines begrenzten medizinischen Wissens durch eine ungeregelte Ausbildung, aber auch die vermehrte Abdeckung naturheilkundlicher Bereiche durch Ärztinnen und Ärzte selbst (vgl. u. a. Joos et al. 2008: 2, 6 f.; © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2_1
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2
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Einführung
BÄK 2008: 105; Nöldner 1987: 21 ff.). Die berufspolitischen Vertreter der Heilpraktikerschaft argumentieren, dass nur durch den Beruf des Heilpraktikers das naturheilkundliche Wissen erhalten werde und der gesundheitlichen Versorgung zur Verfügung stünde (vgl. Liebau 1987: 18 f.). Der Heilpraktiker sei durch seine individuelle, ganzheitliche Behandlungsweise „Lückenschließer“ (Liebau 1987: 19) des Systems der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Hier könnte zukünftig die Bedeutung des Heilpraktikerberufes sogar zunehmen: In Zeiten demographisch bedingter Probleme der gesundheitlichen Versorgung wie dem Fachkräftemangel in der Medizin und Pflege sowie Versorgungsengpässen im ländlichen Raum könnten praktizierende Heilpraktikerinnen auch im erweiterten Sinne ‚Lückenschließer’ sein, dies durchaus positiv gemeint. Der Beruf des Heilpraktikers gehört in der ambulanten Versorgung der BRD zu den Gesundheitsberufen mit besonders starken personellen Zuwächsen (vgl. RKI 2015: 303). Allerdings erfordern innovative Sichtweisen auf die Versorgung und entsprechende Lösungsansätze eine Offenheit aller Seiten, die es zum jetzigen Zeitpunkt (noch) nicht gibt. Vor allem die Exklusivität des Heilpraktikerbesuches würde sich in der gesellschaftlichen Sichtweise verändern (müssen). Spätestens im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Versorgungsfragen drängt sich die Auseinandersetzung um eine Institutionalisierung und Professionalisierung des Heilpraktikerberufes auf. Dies müsse, so Sasse (2011), zentrale Aufgabe der berufspolitischen Selbstverwaltung der Heilpraktikerschaft sein. Darüber hinaus ist die Politik gefordert, ihren Pflichten auf gesetzgeberischer Ebene nachzukommen. Dies legt der Stand der Rechtswissenschaften nahe. Weitgehender Konsens herrscht über die Notwendigkeit einer Neuregulierung des Heilpraktikerrechts, auch wenn es zu deren regulatorischem Umfang sowie Ergebnis unterschiedliche Meinungen gibt. Sie bewegen sich zwischen der konsequenten Weiterentwicklung des Heilpraktikerberufes unter aktiver Einbindung der Heilpraktikerschaft und Vermeidung einer Überreglementierung (vgl. Sasse 2011: 18 f.) sowie der Abschaffung des Berufes mit Plädoyer für ein Ärztemonopol (vgl. Ehlers 1995: 275 ff.). Das zentrale Spannungsfeld mit der Medizin berührt professionssoziologische und -theoretische Fragen: Im Heilpraktikerberuf wird die medizinische Deutungshoheit, die die nicht-ärztlichen Heilberufe (noch) dominiert, weitgehend aufgehoben. Ein Heilpraktiker erhält mit der amtsärztlichen Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde Kompetenzen, die mit denen eines praktizierenden Arztes vergleichbar sind. Dem gegenüber steht, dass die Bildungsprozesse beider Heilberufe keineswegs vergleichbar sind. Dem hochinstitutionalisierten langjährigen universitären Ausbildungsweg mit konkreten Vorgaben der späteren Berufsausübung der Medizin stehen ein staatlich ungeregelter Weg der Ausbildung bis zur
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Einführung
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formalen Erlaubniserteilung durch die zuständigen Gesundheitsämter sowie ein ebenfalls frei zu gestaltender Weg der Berufsausübung als Heilpraktikerin oder Heilpraktiker gegenüber. Hinzu kommt das unübersichtliche Feld an Therapieverfahren. Diese werden unter einer ganzheitlichen Erfahrungsheilkunde subsumiert und beinhalten naturheilkundliche Therapien und Verfahren der komplementären und alternativen Medizin, die im gesellschaftlichen Diskurs weitgehend nicht etabliert sind bzw. deren Wirksamkeit nach den Kriterien evidenzbasierter Medizin, die das legitimierte Wissenschaftsverständnis im Gesundheitsbereich widerspiegeln, unzureichend nachgewiesen sind. Diese Sonderstellung des Heilpraktikerberufes legt nahe, dass sein Ergreifen aus individueller Sicht erklärungsbedürftig ist. Ebenso sichert die Berufsbezeichnung Heilpraktiker keineswegs die berufliche Identität. Diese Grundbedingungen führen zu einer Heterogenität des Feldes der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker aus beruflicher und sozialer Sicht. Die formalen Anforderungen der Erlaubniserteilung wie das Mindestalter von 25 Jahren bedingen, dass der Beruf des Heilpraktikers in der Regel nicht als Erstberuf ergriffen wird. Vor dem Zugang zum Heilpraktikerberuf stehen andere (berufs-)biographische Entwicklungen. Um diesen Beruf je individuell zu erschließen und ein berufliches Können auszubilden, ist der Rückgriff auf vorhandene (berufs-)biographische Ressourcen notwendig. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es keine empirischen Studien, die sich mit den individuellen Verberuflichungsprozessen von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern auseinandergesetzt haben. Die vorliegende Studie nimmt diese Berufsgruppe (berufs-)biographisch genauer in den Blick. Die (subjektive) Binnenperspektive handelnder Akteurinnen und Akteure rückt in den Mittelpunkt. Je weniger ein Beruf institutionalisiert ist, also je weniger professionelle Wissensbestände, berufliche Prägungen und Kanonisierungen es im Zuge der Ausbildung und Berufsausübung gibt, desto mehr ist das Individuum herausgefordert, im eigenen Bildungsprozess auf je individuelle Ressourcen und Verarbeitungsstrategien zurückzugreifen, auf soziale Lern- und Verlernprozesse im zeitlichen Verlauf des Lebens (vgl. Dausien 2001: 102). Den dahinterliegenden Verarbeitungscode hat Peter Alheit (2019 u. a.) theoretisch und empirisch mit dem Konzept der Biographizität fundiert. Die Fähigkeit der Biographizität enthält zugleich ein Potenzial zur Erweiterung der Habitusgrenzen. Dies verweist auf die Erweiterung des Bourdieuschen Habituskonzepts – ausgedrückt im biographischen Habitus. Um die Prozesse individueller Verberuflichung zu analysieren, vor allem in ihrer kontinuierlichen Entwicklung über die Zeit sowie in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, eignet sich eine biographietheoretische Rahmung sowie der empirische Zugang über die Biographie.
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Fragestellung ist, wie es biographisch dazu kommt, dass sich Menschen für den alternativen Weg in die Heilkunde entscheiden. Was ist für sie das Besondere am Beruf, für das sie sich auf den neuen, mit Unsicherheiten verbundenen Werdegang einlassen? Es wird herausgearbeitet, welche biographischen Habitualisierungsprozesse sie im Lebensverlauf durchlaufen und wie sich diese im neu erworbenen Beruf ausdrücken. Wie gehen sie mit den Anforderungen und Möglichkeiten des (neuen) Berufes um – welche Handlungspotenziale, aber auch Grenzen werden sichtbar, und welche Kompetenzen kommen ihnen dabei zugute oder umgekehrt, welche Kompetenzen erwerben sie in ihrem individuellen Verberuflichungsprozess? Nicht zuletzt werden ‚soziale Realitäten‘ herausgearbeitet, die sich im empirischen Datenmaterial entdecken lassen. Es geht darum, was der wenig institutionalisierte und professionalisierte Beruf des Heilpraktikers für die Akteurinnen und Akteure im Feld bedeutet bzw. welchen Einfluss die ungeregelten Rahmenbedingungen auf die individuellen Verberuflichungsprozesse haben. Mit der Entscheidung für den Zugang zu den persönlichen Erfahrungen der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker über deren individuelle Biographie ist die Auswahl der Interviewmethode des autobiographisch-narrativen Interviews (vgl. Schütze 1983/2016) verbunden. Als „analytisches Instrumentarium“ (Herzberg 2004: 14) dienen die kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens (vgl. Schütze 1984), mit deren Hilfe individuelles Handeln und strukturelle Bedingungen in ihrer wechselseitigen Beziehung methodisch kontrolliert untersucht werden können. Als methodologisches Rahmenkonzept der Studie fungiert die Grounded Theory-Methodologie (vgl. Strauss 1998). Die empirische Basis der vorliegenden Studie bilden 30 autobiographischnarrative Interviews mit Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern aus West- und Ostdeutschland. Sie wurden 2015 im Rahmen dieser Studie geführt. Im Zuge des theoretischen Samplings hat sich die Entscheidung verdichtet, die Auswertung auf die ostdeutschen Interviews zu konzentrieren. An ihnen lässt sich die gesellschaftliche Konstitution biographischer Perspektiven sowie die biographische Aneignungsleistung besonders erlebbar machen. Mit der doppelten biographischen Perspektive – der individuellen Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess sowie der je individuellen Aneignung des Heilpraktikerberufes, der erst mit dem Transformationsprozess in den Blick der Akteurinnen und Akteure gerät, wird das unmittelbare Zusammenfallen von Biographie und Gesellschaft – Subjekt und Struktur – plastisch. Damit wird zugleich die enge Verbindung von Biographie und Beruf oder Profession deutlich. Die biographische Erfahrungsaufschichtung bildet die Grundlage für das berufliche Handeln der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker, einhergehend mit Grenzen und (ungenutzten) Potenzialen.
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Einführung
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An drei Lebensgeschichten werden die subjektiven biographischen Erfahrungsaufschichtungen, Deutungen und Orientierungsmuster der interviewten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ausführlich analysiert. Sie belegen eindrucksvoll deren biographische Habitualisierungsprozesse. Der je individuelle berufliche Habitus zeigt sich als Ausformung des biographischen Habitus. Im biographischen Habitus drückt sich die je individuelle biographisch wirksame Semantik sozialer Strukturen aus, entlang derer sich die jeweilige Biographie ausformt und entlang weiterer Erfahrungen ausdifferenziert, sowie, in gewissen Grenzen, neu formiert und auf die gesellschaftlichen Strukturen zurückwirkt. Herausgearbeitet werden der biographische Habitus der Anpassung, der sich in der beruflichen Handlungspraxis des Wissens ausdrückt, der biographische Habitus der Selbstverwirklichung und persönlichen Entwicklung, der sich in der beruflichen Handlungspraxis von Ermöglichen und Gestalten widerspiegelt, sowie der biographische Habitus des Konflikts, der sich in der Handlungspraxis der (Über-)Versorgung zeigt. Die Studie ist wissenschaftlich interdisziplinär angesiedelt. Sie leistet einen bildungswissenschaftlichen Beitrag, indem erstmals systematisch die individuellen Bildungsprozesse von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen untersucht werden. Der Blickwinkel der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung ermöglicht dies. Zudem wird ein Beitrag zur Professionsforschung in nicht-professionalisierten, modernisierungsbedürftigen Berufen geleistet, zumal im Gesundheitswesen als Bereich intensiver Wandlungsprozesse der Professionen und Berufe. Die Studie leistet auch einen Beitrag zu gesundheitswissenschaftlich relevanten Fragestellungen zukünftiger Versorgung, indem sie auf der Mikroebene des Systems einen bedeutenden Akteur des ambulanten Versorgungssystems in den Blick nimmt, was eine Basis ist, um innovative Versorgungskonzepte und Strategien zu denken und zu entwickeln, z. B. unter Beteiligung der Heilpraktikerschaft. Hier ist durchaus ein Potenzial vorhanden, berücksichtigt man den gesellschaftlichen Anspruch, alle gesundheitsbezogenen Berufe nach ihren Ressourcen bestmöglich einzubinden (vgl. SVR 2007). Bevor der Aufbau der Arbeit beschrieben wird, folgt ein Hinweis zur Lesbarkeit: Die Nennung des Heilpraktikers, aber auch der Ärzte oder Patienten erfolgt in der weiblichen und männlichen Form in loser Abwechslung, ggf. auch als Nennung beider Geschlechter. Dies soll die Herausforderung lösen, sich in einer größeren Abhandlung fortgesetzt für eine Form zu entscheiden, vor allem vor dem Hintergrund des sich wandelnden Diskurses um eine gendergerechte Schreibweise. Die fortgesetzte Erfassung beider Geschlechter durch das Maskulinum erscheint unzureichend, da der Beruf, um den es hier geht, vorrangig
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von Frauen ausgeübt wird. Bei allgemeinen Aussagen zum Beruf des Heilpraktikers wird jedoch die männliche Form verwendet. Selbstverständlich wird dieses Vorgehen im empirischen Teil aufgehoben: Wenn es dort um eine Heilpraktikerin geht, wird sie auch als Heilpraktikerin bezeichnet. Dies gilt analog für einen Heilpraktiker. Zum Aufbau der Arbeit: Im ersten Teil wird der Heilpraktikerberuf ausführlich vorgestellt (Kap. 2). Er wird berufssoziologisch und versorgungsrelevant eingeordnet sowie in den rechtlichen Rahmenbedingungen zu Berufszugang und -ausübung beschrieben. Zudem wird die historische Entwicklung dargelegt, die zur heutigen Sonderstellung des Berufes geführt hat, sowie die (unverbindliche) berufsständische Organisation beschrieben. Es folgen der verfügbare Forschungsstand zum Heilpraktikerberuf aus verschiedenen Perspektiven mit der Ableitung der Forschungslücke. Danach werden die theoretischen Bezüge vorgestellt (Kap. 3). Dies ist das Habituskonzept von Bourdieu, ergänzt um die theoretischen und empirischen Befunde zum professionellen Habitus. Hinzu kommt das Konzept der Biographie, das die subjektiven Konstruktionsleistungen der handelnden Akteurinnen in den Blick nimmt, in Auseinandersetzung mit den strukturellen Rahmenbedingungen. In Zusammenführung beider Konzepte wird die biographietheoretisch fundierte Erweiterung des Habituskonzepts vorgenommen. Hierzu wird das Konzept der Biographizität genutzt, das die individuelle selbstreferenzielle Kompetenz der Auslegung und Verarbeitung der biographischen Erfahrungen und Erlebnisse fasst, mittels der sich ein Potenzial zur Erweiterung der Habitusgrenzen unter postmodernen Bedingungen eröffnet. Dies wird im biographischen Habitus zusammengeführt. Weiterhin werden Aspekte der Biographie beleuchtet, die für eine Berufstätigkeit als Heilpraktikerin relevant sind. Teil zwei der Studie widmet sich ausführlich der Empirie. Die theoretischmethodische Anlage der Studie wird entfaltet und das Forschungsvorgehen dokumentiert (Kap. 4), bevor die drei ausgewählten Lebensgeschichten ausführlich die biographischen Habitualisierungsprozesse der Erzählenden beschreiben (Kap. 5, 6, 7). Die Zusammenführung der Fälle nimmt noch einmal die Dialektik zwischen Individuum und Struktur in den Blick und kontrastiert die biographischen Habitus sowie ihren spezifischen beruflichen Ausdruck (Abschn. 8.1). Da die Biographie die relevante Dimension individueller Verberuflichung der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ist, kann ein Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen abgeleitet werden (Abschn. 8.2). Die Arbeit schließt mit einer methodischen Standortbestimmung nach dem Verständnis konstruktivistischer Grounded Theory und formuliert offene Forschungsfragen (Abschn. 8.3).
Teil I Berufssoziologische und biographietheoretische Vorüberlegungen; Forschungsstand
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Der Beruf des Heilpraktikers
2.1
Definition und berufssoziologische Einordnung
Dieses Kapitel nähert sich dem Beruf des Heilpraktikers entlang seiner Definitionen aus verschiedenen Perspektiven und verortet ihn innerhalb der Berufe und Professionen im Gesundheitswesen. Übergeordnet kann der Beruf des Heilpraktikers zunächst zu den Gesundheitsberufen gezählt werden. Unter diesen Begriff werden alle Berufe im Gesundheitswesen subsumiert, die, unabhängig von Art und Umfang der Ausbildung, „personenbezogene Dienstleistungen erbringen, die auf Gesunderhaltung, Heilung, Pflege oder Wiederherstellung der Gesundheit durch Rehabilitation ausgerichtet sind“ (Dielmann 2013: 150). Die gesundheitsbezogenen Berufe in der BRD werden, auch abhängig vom Kontext, verschieden definiert und können nicht immer trennscharf eingeordnet werden (vgl. SVR 2007: 42). In der Schwierigkeit der begrifflichen Definition zeigen sich die Komplexität und hohe Differenzierung des Berufsfeldes Gesundheit mit seiner Vielzahl an Berufsgesetzen (vgl. Bollinger 2016: 13) und seiner Zergliederung in Qualifizierungen und Teilqualifizierungen (vgl. Dielmann 2013: 150), aber auch die Vielfalt der beruflichen Anforderungen im Gesundheitsbereich, Probleme der Vereinbarkeit unterschiedlicher Perspektiven sowie aktuelle Modernisierungsbedarfe und -prozesse. Der Heilpraktikerberuf gehört im Speziellen zu den Heilberufen. Igl (2013: 287 ff.) und Dielmann (2013: 150 ff.) verwenden den Begriff der Heilberufe im beruferechtlichen und bildungsbezogenen Bezug: Zu den Heilberufen gehören die
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2_2
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Der Beruf des Heilpraktikers
Gesundheitsberufe, die unter die Rechtsgrundlage des Art. 74 I Nr. 19 Grundgesetz (GG) und somit im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung unter die Gesetzeskompetenz des Bundes fallen.1 Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) verwendet den Begriff der Gesundheitsberufe synonym zu den Heilberufen und folgt damit der Definition von Theobald/Erdle (2000) in einer Weiterentwicklung der Definition von Neubauer (1987), der den Begriff der Heilberufe in einer früheren Einordnung nur für die Ärzte und Heilpraktiker (im Anschluss an das HeilprG) verwendete (vgl. SVR 2007: 42). Gesundheits- bzw. Heilberufe sind „Berufe innerhalb des Versorgungssystems, deren Tätigkeitsinhalte unmittelbar darauf abzielen, Krankheiten oder gesundheitliche Beeinträchtigungen zu diagnostizieren, zu heilen, zu lindern oder zu verhüten.“ (SVR 2007: 42) Die Definition des SVR belegt die Nähe zum Begriff der Heilkunde, wie er gemäß § 1 II HeilprG verwendet wird. Die Klassifikation der Berufe der Bundesagentur für Arbeit (BA) („KLdB2010“)2 ordnet den Heilpraktikerberuf in Anlehnung an internationale Standards (vgl. BA 2011: 8) den Berufen in der Heilkunde und Homöopathie (vgl. BA 2011: 1277) zu und definiert ihn dort folgendermaßen: „Angehörige dieser Berufe betrachten Krankheiten als Ausdruck von Störungen innerhalb des komplexen seelischen und körperlichen Gesamtsystems eines Menschen. Sie wenden insbesondere naturheilkundliche bzw. alternative medizinische Methoden an.“ Zu den Aufgaben, Tätigkeiten, Kenntnissen und Fertigkeiten gehören: • „Anamnesen durchführen und Diagnose stellen, z. B. Untersuchungen mithilfe der Irisdiagnose, Reflexzonendiagnose, Konstitutionsdiagnose durchführen • Beratungsgespräche führen, Therapiemöglichkeiten und -wirkungen besprechen und erläutern • therapeutische Maßnahmen, z. B. homöopathische Behandlungen, Kinesiologie, Akupunktur, chiropraktische Behandlungen und osteopathische Maßnahmen durchführen • Arzneimittel aus natürlichen Substanzen aus der Tier-, Mineral- und Pflanzenwelt verordnen und verabreichen • durchgeführte Maßnahmen dokumentieren, Behandlungsfortschritte auswerten
1 Berufsgesetze
der Heilberufe sind z. B. das Heilpraktikergesetz (HeilprG), die Bundesärzteordnung, das Pflegeberufegesetz und das Masseur- und Physiotherapeutengesetz. 2 Diese ersetzt die „Klassifikation der Berufe 92 – KldB-92“ (vgl. StBA 2015: 4). Weiterführend zur Klassifikation der Berufe vgl. BA (2011).
2.1 Definition und berufssoziologische Einordnung
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• Beratungen von Einzelpersonen, Familien und Kommunen in Gesundheits-, Ernährungs- und Lebensstilfragen durchführen“ (BA 2011: 1277).3 Mit dieser Berufsklassifikation und -beschreibung erfährt der Heilpraktikerberuf eine inhaltliche Erweiterung im Vergleich zur vorherigen.4 Die Aufgabenbereiche, Tätigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten verweisen auf die Notwendigkeit eines umfangreichen theoretischen und praktischen Wissens, aber auch patienten-/klientenbezogener Kompetenzen in der direkten fallbezogenen Interaktion, wie sie z. B. mit unterschiedlicher Zielsetzung für eine professionelle Beratung notwendig sind. Bemerkenswert ist die Erweiterung um die Beratungstätigkeit, die explizit für die kommunale Ebene aufgeführt ist.5 Somit eröffnen sich Potenziale der beruflichen Entwicklung in gesellschaftlich legitimierten Tätigkeitsfeldern (vgl. zur Sonderstellung des Berufes Abschn. 2.3 und 2.4). Die verwendete (Fach-)Sprache in der Klassifikation belegt die Nähe des Berufes zur Medizin, auch wenn auf die alternativmedizinischen und naturheilkundlichen Diagnostik- und Therapieansätze sowie die Ganzheitlichkeit der Berufsidee verwiesen wird. Die Selbstbeschreibung des Berufsbildes des Heilpraktikers durch den Dachverband Deutscher Heilpraktikerverbände e. V. (DDH 2020) orientiert sich an einem Heilkundebegriff, der die umfassende Selbstregulation der Natur in den Mittelpunkt rückt. Der Gesundheitsbegriff orientiert sich an der „Bewahrung der Integrität einer Persönlichkeit in seiner Geist-Körper-Seele-Einheit“ (DDH 2020). Die Selbstheilungskräfte werden als „Ausdruck der allgemeinen Heilkraft der 3 Die
Systematik der BA unterscheidet weiterhin die fachlich ausgerichteten Tätigkeiten, in die die Heilpraktiker explizit eingeordnet sind, sowie die komplexen Spezialistentätigkeiten. In diese Gruppe fallen die Homöopathen, jedoch nicht Ärztinnen und Ärzte (vgl. BA 2011: 1277 ff.). An dieser Stelle soll angenommen werden, dass es eine Gruppe von Heilpraktikerinnen gibt, die sich nach mehrjähriger Spezialisierung in der (klassischen) Homöopathie als Homöopathinnen bezeichnet. Ein anderer Weg zur legalen Berufsbezeichnung eines Homöopathen, der nicht Arzt ist, erschießt sich mir nicht. Für das Jahr 2015 betrug die Gruppe der aufgeführten Spezialisten jeweils 4.000 Heilpraktiker, also etwa 8,5 % aller erfassten Heilpraktiker (vgl. StBA 2017: 11). 4 Der Beruf wurde in der alten Klassifikation (KldB-92) (StBA 2013: 7) wie folgt definiert: „Heilpraktiker erkennen und heilen Krankheiten, die vor allem Störungen des seelischen u. körperlichen Gesamtsystems sind, durch die Stärkung der natürlichen Abwehrkräfte. Dabei wenden sie Therapieverfahren an, die grundsätzlich aus der Natur- und Volksheilkunde übernommen sind, zum Beispiel Akupunktur, Iris-Diagnose und Homöopathie.“ 5 Hier werden insbesondere präventive und gesundheitsförderliche Angebote notwendig. Darauf, dass der Heilpraktiker in diesen Arbeitsfeldern Potenzial hat, verweist Hollmayer (2010).
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Der Beruf des Heilpraktikers
Natur, die in der Lebenskraft einer Persönlichkeit begründet sind“ (DDH 2020), verstanden. Erst ein komplexes Geschehen, nicht eine Ursache allein, kann das ganzheitliche System der Lebenskraft so stören, dass Krankheit entsteht. Auf die „Gesamtperson des Kranken“ (DDH 2020) abgestimmte Therapieverfahren sollen „dem gestörten biologischen System die Möglichkeit geben, durch Selbstorganisation die Gesundheit wiederherzustellen“ (DDH 2020). Zur Anamnese und Klinik eines Erkrankungsgeschehens kommen qualitative diagnostische Elemente wie die Beurteilung von Konstitution, Disposition und Diathese mittels Irisdiagnostik oder bioenergetischer Verfahren hinzu. Heterogene therapeutische Verfahren berücksichtigen den ganzheitlichen, selbstregulierenden Ansatz in einer jeweiligen Zielstellung wie der Entgiftung des Organismus (Ausleitungsverfahren), Simulation von Störungen zur verbesserten Adaptation (Hydrotherapie, Homöopathie) oder Schonung der Systeme (Ernährung, Lebensweise). Sie basieren auf den Traditionen der Naturheilkunde. (vgl. DDH 2020) Auf die hohe Ausdifferenzierung der Berufe im Gesundheitswesen wurde bereits verwiesen. Dabei dominiert die Profession der Medizin in qualitativer Hinsicht das Berufsfeld Gesundheit (Zentralwertbezug): Sie besitzt größtenteils das Monopol auf die Diagnosestellung und Therapie von Patienten, legt also fest, wann die anderen Gesundheitsberufe diagnostisch und therapeutisch tätig werden dürfen (vgl. Bollinger 2016: 13; Kälble 2016: 47). Hier zeigt sich eine erste „absolute Ausnahmestellung“ (Engler/Donhauser 2011/2012: 33) des Heilpraktikerberufes im Bereich gesundheitlicher, sozialer und pflegerischer Berufstätigkeit: Neben Ärzten, Zahnärzten und Psychotherapeuten ist es in der BRD nur den Heilpraktikern berufsmäßig erlaubt, umfassend selbstständig und eigenverantwortlich die Heilkunde auszuüben (vgl. Sasse 2017: 1). Damit sind Heilpraktiker direkt und unmittelbar in der Krankenversorgung tätig. Allerdings ist der Heilpraktikerberuf vom gesetzlichen Sozialversicherungssystem ausgeschlossen, was eine zweite Besonderheit unter den bundeseinheitlich geregelten Heilberufen darstellt. Die Medizin verfügt über die Deutungsmacht an den Schnittstellen von Krankheit/Gesundheit und Gesellschaft: Dies bezieht sich auf sozialversicherungsrechtlich relevante Beispiele der Feststellung von Arbeitsunfähigkeit, Grad einer Behinderung, Anspruch auf Rehabilitations- und Kurmaßnahmen, Festlegung von Pflegegraden und die damit verbundene gutachterliche Tätigkeit sowie auch legitimierte Funktionen im Rahmen gerichtlicher Verfahren (Bescheinigung einer Schuldfähigkeit etc.). Ferner sind Ärztinnen und Ärzte führend in die Ausbildung und Berufszulassung der (nicht-ärztlichen) Heilberufe sowie häufig auch in deren Weiterbildung eingebunden. (vgl. Bollinger 2016: 14) In diesem Zusammenhang kann auf eine dritte Besonderheit des Heilpraktikerberufes
2.1 Definition und berufssoziologische Einordnung
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verwiesen werden: Heilpraktiker müssen sich zwar einer amtsärztlichen Überprüfung unterziehen, diese entspricht jedoch nicht einer Fachprüfung. Zudem ist nicht gesetzlich geregelt, wie die konkrete Berufsausbildung als Voraussetzung einer Berufszulassung zu erfolgen hat und es existiert keine rechtsverbindliche Berufsordnung, die Berufspflichten definiert (vgl. Sasse 2011: 113). Die Berufe des Gesundheitswesens befinden sich seit vielen Jahren in intensiven und umfassenden Modernisierungsprozessen (vgl. Bollinger 2016; Kälble 2006), die vorrangig unter dem Begriff der Professionalisierung gefasst werden (vgl. Bollinger 2016; Dewe 2006; Pundt 2006). Dieser Wandel berührt einerseits die wissenschaftliche Diskussion um eine ‚Deprofessionalisierung‘ der Medizin6 (vgl. Kolkmann et al. 2004; Bollinger/Hohl 1981). Andererseits zeigen sich umfassende Entwicklungen in den anderen Heilberufen und es entstehen gänzlich neue Gesundheitsberufe wie die Dentalhygiene (vgl. Theobald 2004) sowie akademische Studiengänge wie Public Health, Gesundheitsförderung oder Management im Sozial- und Gesundheitswesen (vgl. Bollinger 2016: 16). Im Fokus besonderer Aufmerksamkeit stehen systemrelevante Berufsgruppen wie die Pflege, die die meisten Beschäftigten im Gesundheitswesen stellt, aber auch die Physiotherapie/Massage als Berufsgruppe mit hohen Zuwächsen (vgl. Bollinger 2016: 13 f.), die gemeinsam mit den anderen therapeutischen Gesundheitsberufen (Ergotherapie/Logopädie) den eigenen Professionalisierungsprozess gestaltet (vgl. Walkenhorst 2006, 2011). Zentraler Bestandteil des Professionalisierungsprozesses ist eine Teil- oder Voll-Akademisierung der beruflichen Bildung
6 Diese
wird entlang der die Autonomie einschränkenden Ökonomisierungs- und Rationalisierungstendenzen im Gesundheitswesen (vgl. Dick 2016: 2), übertriebenen Tendenzen einer Evidenzbasierung (vgl. Vogd 2002), aber auch unter dem Aspekt der (lebenslangen) Lernkulturalisierung (vgl. Pfadenhauer 2016) und der Entstehung von Experten generierenden Wissensberufen als idealtypischer Ausprägung der modernen Berufsform, gleichrangig zu Professionen (vgl. Kurtz 2007), gesellschaftlich geführt. Klemperer (2006: 62) wendet den Begriff der Deprofessionalisierung zu einer Chance der „Reprofessionalisierung“ im Zuge der Erwartungen an eine moderne Medizin, die z. B. auf ökonomische Bedarfe, Anforderungen an interprofessionelle Kooperation und Shared Decision Making oder die Erweiterung des biomedizinischen Krankheitsmodells reagiert. Bollinger (2016) interpretiert aus der Perspektive der subjektorientierten Berufssoziologie die Veränderung und Erweiterung der Berufe und Arbeitskraftmuster im Gesundheitswesen, auch zwischen Hochschulbildung und klassischer Berufsbildung. Er differenziert dies speziell für das Beispiel der Pflege aus. Ebenso stellt er die Entwicklung von Pflege und Medizin in einen historischen Kontext. Er führt die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse in Überwindung vormoderner ständischer Arbeitsformen zwischen Profession, Dienst und Beruf zusammen als „Normalisierung und zeitgemäße Modernisierung der Berufe Medizin und Pflege, mithin als Verberuflichung zu interpretieren“ (Bollinger 2016: 28).
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Der Beruf des Heilpraktikers
(vgl. Kälble 2016, 2006). Diese geht einher mit der wissenschaftlichen Disziplinbildung und Systematisierung der besonderen Wissensbestände sowie Explikation beruflicher Handlungslogiken, aber auch der Bearbeitung von Fragen, wie akademische Fachkräfte (im Nebeneinander von alten und neuen Qualifikationsformen) in der Praxis tätig werden können (vgl. Bollinger 2016: 17 ff.) und wie sich berufliches Selbstverständnis und Identitäten der Berufsinhaber verändern – zwischen Akademisierung und fachschulischer Ausbildung, unter neuen beruflichen und gesellschaftlichen Anforderungen, z. B. ohne die Leitprofession der Medizin (vgl. Schämann 2005). Gleichzeitig sind intensive (berufs-)politische Aushandlungsprozesse unter Einbezug verschiedenster institutioneller Akteure im jeweiligen berufsspezifischen Bereich notwendig. Die genannten Aspekte verdeutlichen die Komplexität eines beruflichen Konstitutionsprozesses zwischen jeweils aktuellen gesellschaftlichen, sozioökonomischen, gesundheits-, sozial- sowie bildungspolitischen Rahmenbedingungen (vgl. Dewe 2006), dem Druck berufspolitischer Interessen (vgl. Bollinger 2016: 22, 28) sowie der Berücksichtigung des Grundgesetzes und weiterer rechtsverbindlicher Normen (vgl. Sasse 2011). Der Heilpraktikerberuf scheint von einer ähnlichen Professionalisierungsdiskussion7 unberührt8 bzw. es wird die Professionalisierungsdebatte eher von außen an den Beruf herangeführt – implizit durch die anhaltende Kritik am Beruf aus verschiedenen disziplinären und politischen Richtungen, aber auch explizit durch konkrete modellhafte Vorschläge zur Weiterentwicklung (vgl. Sasse 2011; Donhauser 1996: 154 ff.; Münsteraner Kreis 2017). Diese ambivalente Situation mag damit zusammenhängen, dass der Heilpraktikerberuf als Leistungserbringer vom gesetzlichen Sozialversicherungssystem sowie vom staatlichen System der beruflichen Bildung ausgeschlossen ist. Gerade letzter Aspekt bleibt damit (auf kollektiver Ebene des Berufes, aber auch auf individueller Ebene der einzelnen Berufsangehörigen) weitgehend ungeklärt und wissenssoziologisch kann 7 Vgl.
Bollinger (2016) und Nittel (2000: 49 ff.) zur Auseinandersetzung um die Begriffe und Theorien zur Professionalisierung und Verberuflichung. Die o. g. Heilberufe Pflege, Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie orientieren sich in ihrem Vorgehen an den Professionstheorien, insbesondere den interaktionistischen, die sich mit Logiken beruflichen Handelns auseinandersetzen (vgl. Bollinger et al. 2016). 8 Zu den Chancen einer Professionalisierung sowie zur ablehnenden Haltung der Berufsverbände vgl. Sasse (2011: 105 f.); zu innerberuflichen konträren Haltungen entlang der Generationen vgl. Donhauser (1996: 239). Die vorliegenden Studien über den Zeitverlauf (z. B. Riese 1979; Prokein 1980; Rogalla/Wollert 1980: 5; Westphal 1988: 56) verweisen auf das Ziel der Berufsverbände, das HeilprG nicht anzutasten, jedoch die Überprüfungsleitlinien bundesweit zu vereinheitlichen. Dies wurde 2018 umgesetzt (vgl. BMG 2017).
2.1 Definition und berufssoziologische Einordnung
15
sogar hinterfragt werden, ob es sich ohne das konstitutive Element der beruflichen Ausbildung/Qualifizierung, also der geregelten Aneignung von Berufswissen9 und praktischen Handlungskompetenzen, überhaupt um einen Beruf handelt, in Abgrenzung zur Arbeit (vgl. Kurtz 2007: 497). Nichtsdestotrotz hat sich der Heilpraktiker seit Bestehen der BRD als freier Beruf10 mit formulierten Binnenstandards für die organisierte Heilpraktikerschaft etabliert. Die berufspolitischen Aktivitäten scheinen eine erfolgreiche Interessenverteidigung zu gewähren, unter Beachtung der weit gefassten gesetzlichen Regelungen (vgl. Abschn. 2.3, 2.5). Gleichwohl diffundieren andere Berufsgruppen im Zuge des eigenen Professionalisierungsprozesses zunehmend in den Beruf des Heilpraktikers oder führen Tätigkeiten aus, die unter das HeilprG fallen. Dies betrifft z. B. die Pflege, die im Rahmen von Modellvorhaben die selbstständige Versorgung von Menschen mit chronischen Wunden, Diabetes, Herzinsuffizienz und Demenz (Substitution; § 63 III c SGB V) (vgl. auch Igl 2013: 345) durchführt. Ebenso dürfen die therapeutischen Gesundheitsberufe seit 2009 mit der beschränkten Heilpraktikerzulassung im Direktzugang selbstständig tätig werden, auch wenn sich diese Erlaubnis strikt
9 Nach
Dewe (2006: 28) verwendet Daheim (1992) den Begriff des Berufswissens i. S. eines tradierten Erfahrungswissens sowie kognitiven und normativen Regeln der Berufsausübung. Weitere berufs- oder professionsrelevante Wissensarten sind wissenschaftliches Wissen i. S. von technischem Problemlösungs- als auch Deutungswissen sowie das Alltagswissen, das eine besondere Relevanz für die Interaktion in der beruflichen Praxis aufweist. Nach außen tritt der Kern wissenschaftlichen und Berufswissens in Form professioneller Standards oder Verhaltenskodizes. Zudem bringen diese Wissenskomponenten spezifische Formen von Expertise hervor, die sich gegenüber der wissenschaftlichen als auch der Seite des alltäglichen Handlungswissens auszeichnen. Diesen analytischen Wissensbeschreibungen fehlen allerdings Erklärungen, wie dieses Wissen in komplizierten Interaktionssituationen fallspezifisch, situationsbezogen und ganzheitlich berufspraktisch verausgabt wird. 10 Dieser Begriff ist i. S. einer freiberuflichen Tätigkeit nach § 18 EStG gemeint. Die Übertragung des soziologischen ‚freien Berufes‘ i. S. einer Profession, wie sie aus der angelsächsischen Professionstheorie auf die deutsche Berufssoziologie erfolgt ist (vgl. Dewe 2006: 24), ist nicht deckungsgleich möglich. Insbesondere der Bezug auf die akademische Wissensbasis ist beim Heilpraktikerberuf unpassend. Die Übersetzung des englischen Begriffs profession führt zudem dazu, dass in der Berufssoziologie die Kategorien Beruf und Profession häufig synonym verwendet werden (vgl. Dewe 2006: 23). Dies hängt mit der Definition des Gegenstands zusammen: Weder ‚freie‘ noch ‚akademische‘ Berufe erweisen sich als adäquate Entsprechungen des englischen Begriffs profession (vgl. Pfadenhauer/Sander 2010: 361). Zur rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff des freien Berufes in Bezug auf den Heilpraktiker, auch unter dem Grundsatz freier Berufsausübung gemäß Art. 12 I GG, vgl. Sasse (2011: 114, 117 f./FN 398).
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Der Beruf des Heilpraktikers
auf das jeweilige Berufsfeld, z. B. die Physiotherapie, bezieht. Auch die Schulmedizin öffnet sich verstärkt naturheilkundlichen Behandlungskonzepten, was sich in den Zusatzbezeichnungen „Naturheilverfahren“, „Akupunktur“ und „Homöopathie“ widerspiegelt, die relevant zunehmen und zudem von der Etablierung vereinheitlichender Standards begleitet sind (vgl. Sasse 2011: 107 f.).11 Diese Entwicklungen verweisen darauf, dass der Heilpraktikerberuf vom Prozess der Neustrukturierung der Gesundheitsberufe auf Dauer nicht unberührt bleiben kann. Zukünftig mögen die eigene Schärfung des Berufsbildes sowie Abgrenzung des Berufsfeldes zunehmend in den Fokus der beruflichen Protagonistinnen rücken. Sasse (2011: 112) macht den Fortbestand des Berufsbildes des Heilpraktikers langfristig von einer Professionalisierung abhängig.12 Das nächste Kapitel belegt die Bedeutung des Heilpraktikerberufes und der Naturheilkunde sowie komplementären und alternativen Medizin insgesamt.
2.2
Bedeutung des Heilpraktikers im Kontext von Gesundheitssystem und -politik
Der Beruf des Heilpraktikers zählt in der ambulanten Versorgung zu den Gesundheitsberufen mit besonders starken personellen Zuwächsen (vgl. RKI 2015: 303). Eine ältere Studie (Sawade 1984: 1) geht von einem Rückgang der Heilpraktikerzahlen nach Inkrafttreten des HeilprG am 17.02.1939 von über 10.000 nichtschulmedizinischen Behandlern auf etwa 2.400 zum Ende 1953 aus. Diese Zahl blieb bis Ende der 1960er Jahre konstant und stieg ab 1970 kontinuierlich an. Im Jahr 2015 gab es 47.000 statistisch erfasste Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in der BRD (vgl. StBA 2017: 11). Im Jahr 1997, der erstmaligen 11 Weitere ‚Bedrohungen‘ für den Heilpraktikerberuf unter der aktuellen Rechtslage liegen in der mangelnden Abgrenzungsmöglichkeit zu pseudowissenschaftlichen Behandlern und Therapieformen, der fehlenden europaweiten Anerkennung, dem problematischen Honorarrecht, das eine kaum objektivierbare Liquidation nach sich zieht, sowie jederzeit drohenden, gefahrenabwehrrechtlichen Einschränkungen der Berufsausübung (z. B. Arztvorbehalten, Verbot von Behandlungsmethoden), wie das Beispiel der Neuraltherapie zeigte (vgl. Sasse 2011: 109 ff.). Erstgenannte Gefahr der mangelnden Abgrenzung sieht z. B. Schröder (2013: 27) am Beispiel des Geistheilers nicht. 12 Nittel (2000: 61) differenziert in seinem differenztheoretischen Zugang Professionalisierung begrifflich und inhaltlich aus: Er bezeichnet Professionalisierung ohne das Merkmal der Verwissenschaftlichung als Verberuflichung. Dies entspricht dem Stand und den Bestrebungen der Heilpraktikerschaft aktuell am ehesten. Zudem verweist Nittel auf individuelle und kollektive Dimensionen der Professionalisierung (berufliche Reifung sowie Bündelung der Berufsrollen) sowie die Steuerung von intern oder extern.
2.2 Bedeutung des Heilpraktikers im Kontext …
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systematischen Erfassung der Berufe im Rahmen einer Gesundheitspersonalrechnung, waren es noch 13.000 (vgl. Afentakis/Böhm 2009: 9, 40).13 Damit liegt die Zahl der Heilpraktiker über der von niedergelassenen Internisten und etwa im Bereich der von Allgemeinmedizinern (vgl. Linde et al. 2014: 117). Auch beim Heilpraktikerberuf bestätigt sich, dass das Gesundheitswesen eine „Frauendomäne“ (Afentakis/Böhm 2009: 10) ist. Die Zahlen des Jahres 2015 (vgl. StBA 2017: 11) zeigen dies beispielhaft: Von den 47.000 Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern waren 37.000 Frauen.14 Weiterhin findet sich eine hohe Zahl an Teilzeit- und geringfügig Beschäftigten: 2015 waren von den insgesamt 47.000 Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern 28.000 in Teilzeit tätig, darunter 24.000 Frauen. Heilpraktikerinnen arbeiten oft nebenberuflich und überwiegend selbstständig. Nur wenige sind in Praxen oder in privaten Kur- oder Rehabilitationseinrichtungen angestellt oder als Pharmareferentinnen für Hersteller naturheilkundlicher Arzneimittel tätig. Zudem unterrichten einige Heilpraktikerinnen neben ihrer Praxistätigkeit in privaten Heilpraktikerschulen, leiten diese oder bereiten in eigener Verantwortung Heilpraktikeranwärterinnen auf die amtsärztliche Überprüfung vor. (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 29 f.) Internationale Literatur zeigt die große Bedeutung komplementärer Behandlungsverfahren: So führen Bühler et al. (1996: 30) für die USA 1990 an, dass 425 Millionen Besuche beim Heilpraktiker, Chiropraktiker oder Akupunkteur etwa 388 Millionen hausärztliche Konsultationen gegenüberstanden. Eine systematische Übersichtsarbeit bundesweiter Repräsentativbefragungen zwischen 1993 und 2012 (Linde et al. 2014) verweist darauf, dass die Inanspruchnahme
13 Dies ist ein Anstieg um ca. 261 %, durchschnittlich etwa 14,5 % jährlich. Es ist nicht möglich, vollständige, gesicherte Zeitreihen über die Zahl zugelassener Heilpraktiker und Heilpraktikerinnen bis heute darzustellen. Die einzige öffentliche Datenquelle bundesweiter Zahlen ist die jährliche Gesundheitspersonalrechnung. Sie ist ein sekundärstatistisches Rechenwerk des Statistischen Bundesamtes zur Zusammenführung der im Bereich des Gesundheitswesens verfügbaren Datenquellen zur Ermittlung der Beschäftigtenzahlen (vgl. Afentakis/Böhm 2009: 7). Das Rechenwerk orientiert sich an der Klassifikation der Berufe der Bundesagentur für Arbeit, die zum Berichtsjahr 2012 grundlegend revidiert wurde. Zahlen vor und nach der Revision gelten wegen der nunmehrigen Nichterfassung der Auszubildenden als nicht vergleichbar und werden statistisch nicht zusammengeführt (vgl. StBA 2013: 7; StBA 2015: 4). Dies sollte jedoch aufgrund der Spezifik des Heilpraktikerberufes vernachlässigbar sein, weshalb die Zahlen von 1997 und 2015 ins Verhältnis gesetzt werden können. 14 Dieses Verhältnis hat sich umgekehrt: Noch in den 1980er Jahren war die überwiegende Zahl zugelassener Heilpraktiker männlich (vgl. Westphal 1988: 60).
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2
Der Beruf des Heilpraktikers
von Naturheilverfahren, komplementärer und alternativer Medizin (NHV/CAM)15 in Deutschland im internationalen Vergleich eher hoch ist (vgl. auch Frass et al. 2012; Eardly et al. 2012). Die Studie zeigt, dass in der BRD zwischen 61 % und 86 % der Befragten schon einmal NHV/CAM16 angewendet haben, eine Veröffentlichung der Allensbacher Untersuchungen (Institut für Demoskopie Allensbach 2010: 3) weist z. B. 70 % der Befragten nach. Neben den am häufigsten genutzten klassischen naturheilkundlichen Verfahren Bewegungs-, Phyto- und Hydrotherapie sowie Massagen finden die alternativen/komplementärmedizinischen Verfahren Homöopathie und Akupunktur verbreitet Anwendung (vgl. Härtel/Volger 2004). Erhebungen, die differenziert den Anteil davon in Heilpraktikerbehandlungen untersuchten, fehlen (vgl. Linde et al. 2014: 116). Ein Hinweis findet sich in Huber et al. (2004: 34): Von den befragten 350 stationären Patienten mit internistischen und psychosomatischen Erkrankungen hatten innerhalb der letzten fünf Jahre 26 % einen Arzt, der auch komplementäre und alternative Medizin praktiziert, aufgesucht, und 19 % einen Heilpraktiker. Sawade (1984: 1) konstatiert in Auswertung verschiedener vorliegender Studien der 1970er und 1980er Jahre, dass bereits zu diesem Zeitpunkt 20 % bis 30 % der Gesamtbevölkerung jemals einen Heilpraktiker aufgesucht haben. Dabei gehen deutlich mehr Frauen als Männer zum Heilpraktiker (vgl. Sasse 2011: 19). Nach Engler/Donhauser (2011/2012: 30) nehmen 5 % bis 10 % der Bevölkerung regelmäßig heilpraktische Behandlungen in Anspruch.
15 Zur Begriffsbildung und Definition: Durch Medizinerinnen angewendete klassische Naturheilverfahren schließen Phyto-, Hydro-, Bewegungs-, Ernährungs- und Ordnungstherapie ein; komplementäre und alternative Medizin berücksichtigt Verfahren wie die Chirotherapie, Akupunktur und Homöopathie. International wird der zusammenfassende Begriff der Complementary und Alternative Medicine (CAM) gebraucht. Somit bildet die Verwendung der Terminologie NHV/CAM den Versuch einer Zusammenfassung mit der Analysemöglichkeit möglichst vieler Studien, die jeweils unterschiedlich und oft nicht trennscharf definieren (vgl. Linde et al. 2014: 112). 16 In vielen Studien ist nicht zu unterscheiden, durch wen die naturheilkundlichen oder alternativen Verfahren angewendet werden bzw. bei wem Patientinnen diese in Anspruch nehmen. Hausärzte und Orthopäden scheinen führend zu sein, insbesondere in der Anwendung von Phytotherapie und Chiropraktik (vgl. Linde et al. 2014). Zur Kritik an der mangelnden Abgrenzung vgl. z. B. Hakimi (1999).
2.2 Bedeutung des Heilpraktikers im Kontext …
19
Obwohl Heilpraktikerinnen in ihrer je individuellen beruflichen Tätigkeit aus einem heterogenen ‚Fundus‘ von naturheilkundlichen und alternativen Therapieverfahren schöpfen, deren Wirksamkeit17 nach den Kriterien evidenzbasierter Medizin überwiegend nicht überzeugend nachgewiesen ist18 , scheint genau in dieser Spezifik die gesellschaftliche Bedeutung des Heilpraktikerberufes zu liegen: So „scheint der Heilpraktiker insbesondere durch die Anwendung von Naturheilverfahren eine in der Bevölkerung empfundene Lücke gesundheitlicher Versorgung zu schließen“ (Engler/Donhauser 2011/2012: 25) (vgl. auch Liebau 1987: 18 f.). Dies bestätigen medizinische Arbeiten zum Thema Gründe für einen Heilpraktikerbesuch (vgl. Schneeloch 1998: 106 ff.; Hewer 1980: 52, 66; Rogalla/Wollert 1980: 1). Doris Schaeffer (1990: 11 ff.) konstatiert in ihrer Studie zur Psychotherapie im Stadium des Übergangs von der vorprofessionellen Phase zur Professionalisierung, dass es immer dann zur Entwicklung und Nachfrage alternativer Konzepte kommt, wenn bestehende gesellschaftliche Problemlagen durch etablierte Professionen nicht abgedeckt werden können. Dem offensichtlichen Bedarf an Alternativen zur Schulmedizin steht der Fakt gegenüber, dass Heilpraktiker vom System der GKV ausgeschlossen sind. Das 17 Zur wissenschaftlichen Bewertung und Nutzen-Risiko-Analyse von wichtigen naturheilkundlichen und komplementärmedizinischen Verfahren vgl. Ernst (2005). Nach Köntopp/Ebersberger (2008) ist die (subjektiv wahrgenommene) Wirksamkeit wichtigste extrinsische Motivation der Inanspruchnahme bestimmter komplementärmedizinischer Verfahren (Phytotherapie, Homöopathie, TCM). 18 Vgl. hierzu kontrovers Würger (2013), Garvelmann (2018), aber auch Sasse (2011). Würger (2013: 240–252) weist am Beispiel der Klassischen Homöopathie Hahnemanns nach, dass sich die Kriterien der evidenzbasierten Medizin theoretisch und methodisch nicht eignen, um die Wirksamkeit Klassischer Homöopathie zu belegen. Somit könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese Therapieform an sich wirkungslos sei. Vielmehr müsse die Klassische Homöopathie deren Evidenz von den Einzelfallanalysen her aufbauen. Diesbezüglich könne sie auf eine Evidenz verweisen, die teilweise auf einen Zeitraum von über 200 Jahren zurückzuführen sei (vgl. Würger 2013: 247 f.). Würger plädiert gegen Bestrebungen der pragmatischen Homöopathie, sich den Wirksamkeitskriterien evidenzbasierter Schulmedizin zu unterwerfen (vgl. Würger 2013: 251 f.). Sasse (2011: 120 ff.) entfaltet aus rechtswissenschaftlicher Sicht Fragen der Wirksamkeit naturheilkundlicher Verfahren der Heilpraktiker. Diese ist aus naturwissenschaftlicher Sicht der Schulmedizin unzureichend belegt. Allerdings gibt es für die Naturheilkunde der Heilpraktiker keine naturwissenschaftlichen Standards, sondern Binnenstandards entlang der langjährigen Tradition naturheilkundlicher Anwendung, aus der sich ein breites und akzeptiertes Erfahrungswissen speist. Es kann nicht automatisch geschlossen werden, dass bei fachgerechter Anwendung gemäß den Regeln der Kunst der Heilpraktiker keine Therapieerfolge eintreten würden. Garvelmann (2018) verweist auf die humoralmedizinische und konstitutionsorientierte Fundierung (vs. zellularpathologischer und kausal-analytischer) der Iridologie.
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Der Beruf des Heilpraktikers
heißt heilpraktische Behandlungen sind von den Patientinnen privat zu finanzieren, es sei denn sie sind privat krankenversichert bzw. haben Anspruch auf staatliche Beamtenbeihilfe gemäß § 13 Bundesbeihilfeverordnung. Heilpraktikerinnen treten damit in direkte Konkurrenz zu den wissenschaftlich ausgebildeten und approbierten Medizinerinnen, die im Rahmen der GKV Leistungen erbringen und von denen ca. 30 % naturheilkundliche und alternative Verfahren (NHV/CAM) anbieten. Die Zahl zugelassener Ärzte mit Zusatzbezeichnungen wie Manuelle Medizin/Chirotherapie, Akupunktur, Naturheilverfahren oder Homöopathie ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, vor allem Hausärztinnen und Orthopäden bieten NHV/CAM an (vgl. Linde et al. 2014: 113 ff.). Die Kosten ihrer Behandlung legt jede Heilpraktikerin selbst fest, ggf. in Orientierung an der (unverbindlichen) Gebührenordnung für Heilpraktiker. Sie belaufen sich auf ca. 60 Euro für eine Erstbehandlung und 30 Euro bis 80 Euro für jede weitere Behandlung. Der Durchschnittsverdienst eines Heilpraktikers soll zwischen 40.000 und 50.000 Euro brutto im Jahr, ggf. bis zu 100.000 Euro betragen. Es bleibt ein Nettoverdienst von 30 % bis 50 %. Die direkte Konkurrenz zur gesellschaftlich legitimierten Medizin sowie die breit gefächerte Angebotsstruktur im deutschen Gesundheitswesen und Wellnessbereich führen zu einer hohen Erwartungshaltung der selbstzahlenden Patientinnen sowie einem entsprechenden Erfolgsdruck bei den berufstätigen Heilpraktikerinnen. (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 30 f.) Aufgeschlossene Mediziner setzen die Grenzen einer ergänzenden Mitarbeit durch Heilpraktiker bei leichten und psychischen Erkrankungen entlang der klaren Beachtung therapeutischer Grenzen sowie Vermeidung von Eingriffen in das ArztPatient-Verhältnis bzw. fortlaufender schulmedizinischer Therapien, aber auch transparenter, medizin-diskriminierungsfreier Regelungen der Kostenerstattung durch Krankenkassen sowie der Sorge um eine weitere Erhöhung der Komplexität bestehender Patientenversorgung (vgl. Thanner et al. 2013). Eine qualitative Studie mit Allgemeinmedizinern erkundete deren kollektive Einstellung zu Heilpraktikern im Rahmen komplementärer und alternativer Medizin in der BRD. Heilpraktiker werden als Konkurrenten, aber auch als Unterstützende im Erfüllen individueller Bedarfe nach angemessener Zeit, Menschlichkeit und Empathie im Rahmen gesundheitlicher Versorgung angesehen. Negative Einstellungen gegenüber Heilpraktikern sind z. B. deren unterstellte unzureichende Qualifizierung im Vergleich zur Schulmedizin, die zu vereinfachten Krankheitstheorien oder dem Nichterkennen von medizinischen Notfällen führe; die Beförderung eines ‚Pathologisierungsprozesses‘ mit künstlichem Erhalt eines Therapiebedarfs sowie die Förderung einer passiven Patientenrolle. Positiv bewertet werden der zeitliche Therapierahmen der Heilpraktiker. Zudem sehen
2.2 Bedeutung des Heilpraktikers im Kontext …
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die diskutierenden Allgemeinmediziner den Heilpraktiker als Repräsentant einer Volks- und Laienmedizin, die für einige Patienten eine besser geeignete Versorgungsform auf Augenhöhe darstellen könne, als eine wissenschaftliche, übergeordnete Perspektive, was die Mediziner positiv in Bezug auf die Compliance jener Patienten einschätzen. Zudem vermuten sie ein mangelndes Vertrauen in das System der Gesundheitsversorgung und unterstellen, dies könne durch Heilpraktiker ausgenutzt werden. Nicht zuletzt gehen die Meinungen dahin, dass viele Patienten noch nicht zwischen einem Heilpraktiker und Mediziner, der alternative Verfahren anwendet, unterscheiden könnten, was auf mangelnde Transparenz und einen stärkeren kollektiven Definitions- und Organisationsbedarf verweise. Durch neue Vergütungsmodelle, die z. B. den Zeitfaktor in einer gelingenden Arzt-PatientInteraktion berücksichtigen, aber den Heilpraktiker auch konsequent von allen versicherungsbezogenen Vergütungsformen ausschließen, könne es gelingen, die verstärkte Suche nach Alternativen zur Schulmedizin einzudämmen. (vgl. Joos et al. 2008: 6 ff.)19 Aus gesundheitsökonomischer Sicht ist die These interessant, dass heilpraktische Behandlungen zumeist kostengünstiger seien als schulmedizinische Alternativen, weshalb von einem Entlastungseffekt für das System der GKV ausgegangen wird (vgl. Sasse 2017: 9 f.; Commandeur/Neumann 1991: 122 f.)20 . Sasse (2017: 10) sieht hier sogar Möglichkeiten der Optimierung „durch eine Qualifizierung der Heilpraktiker“, ohne an der Stelle näher auszuführen, wie zu qualifizieren sei21 und ob er dies an eine (teilweise) Kostenerstattung von Heilpraktiker-Leistungen durch die GKV bindet. Denkt man darüber hinaus daran, dass die heilpraktisch erbrachten Leistungen generell nicht zu Lasten der GKV gehen, kann ein diskutierter Einspareffekt aufgrund des gesellschaftlichen Mandats der Schulmedizin über den Zentralwert Gesundheit, verbunden mit der rechtsgültigen Begutachtung von Rehabilitations-, Renten- u. ä. Bedarfen oder der Attestierung von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, hinterfragt werden. Hier ist eher von Doppelbehandlungen auszugehen, denn auch wenn Hilfesuchende in ihren (insbesondere chronischen) Erkrankungs- und Gesundungsprozessen eine ausschließlich alternativmedizinische Behandlung bevorzugen würden, zwingt sie 19 Diese Ergebnisse belegen die manifeste Entfremdung zwischen der Profession der Medizin und der Heilpraktikerschaft, verbunden mit der übergeordneten Position der Medizin. Eine Annäherung, Prüfung und ggf. Änderung der eigenen Orientierungen könnte in gemeinsamen kommunikativen Praktiken versucht werden. 20 Eine Falsifizierung durch systematische Modellrechnungen ist mir nicht bekannt, aber hier auch nicht Fokus. 21 Vgl. zu seinem rechtswissenschaftlichen Vorschlag zukünftiger Qualifizierung ausführlich Sasse (2011).
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2
Der Beruf des Heilpraktikers
das System der Gesetzlichen Sozialversicherung mit seinen einzelnen Säulen wie der Kranken-, Renten- oder Pflegeversicherung auf verschiedenen Ebenen zur Inanspruchnahme schulmedizinischer Leistungen. Das nächste Kapitel beinhaltet rechtliche Grundlagen der Heilpraktikertätigkeit.
2.3
Rechtliche Rahmenbedingungen
2.3.1
Berufszugang
Das HeilprG vom 17.02.1939 erlaubt Nichtärzten die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde nach Erteilung einer (amtsärztlichen) Erlaubnis (§ 1 I HeilprG22 ). Sie führen die Berufsbezeichnung Heilpraktiker (§ 1 III HeilprG). Das HeilprG schließt Heiler von der Tätigkeit unter dem Berufsbild „Heilpraktiker“ aus und verdeutlicht die Unterschiede ärztlicher Tätigkeit zu der von Heilpraktikern (vgl. Sasse 2011: 33–49). Ausübung der Heilkunde im Sinne des HeilprG ist jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen, auch wenn sie im Dienste von anderen ausgeübt wird (§ 1 II HeilprG). Die Erlaubnis ist an bestimmte allgemeine Voraussetzungen gebunden, wie dem Erreichen der Altersgrenze von 25 Jahren23 , einer abgeschlossenen Volksschulbildung, dem Nachweis einer sittlichen Zuverlässigkeit und gesundheitlichen Eignung sowie dem in einer Überprüfung erbrachten Nachweis, mit seiner Ausübung der Heilkunde keine Gefahr für die Volksgesundheit darzustellen (§ 2 I HeilprGDV 124 ). Besonders Letztgenanntes verdeutlicht, dass die Überprüfung im Sinne einer Gefahrenabwehr erfolgt. Das heißt, dass nicht fachliche 22 Vollzitat: „Heilpraktikergesetz in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2122-2, veröffentlichten bereinigten Fassung, das zuletzt durch Artikel 17e des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3191) geändert worden ist“. 23 Das als Korrektiv für die fehlende geregelte Ausbildung und fachliche Berufszugangsprüfung gedachte Merkmal menschlicher und charakterlicher Reife wird von Sasse (2011: 61 ff.) als „historische Diskriminierung“ (Sasse 2011: 66) für verfassungswidrig in Bezug auf Art. 12 I GG beurteilt. Er schlägt ein Mindestalter von 21 Jahren vor (vgl. Sasse 2011: 231). 24 Vollzitat: „Erste Durchführungsverordnung zum Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung (Heilpraktikergesetz) in der im Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 2122-2-1, veröffentlichten bereinigten Fassung, die zuletzt durch Artikel 17f iVm Artikel 18 Absatz 4 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3191) geändert worden ist“.
2.3 Rechtliche Rahmenbedingungen
23
schul- oder naturheilkundliche Kenntnisse im Sinne einer Berufsqualifizierung Hauptbestandteil der Überprüfung sind. Es geht vielmehr darum, als zukünftige Heilpraktikerin oder Heilpraktiker die „eigenen tatsächlichen und rechtlichen Grenzen“ (Sasse 2017: 4) der beruflichen Tätigkeit zu kennen und einzuhalten. Hierzu gehört z. B. exakte Kenntnis darüber, welche Erkrankungen nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) meldepflichtig sind bzw. nicht behandelt werden dürfen. Auch ein Notfall muss erkannt und seine Erstversorgung geleistet werden können, bevor im Weiteren medizinische Behandlung sicherzustellen ist. In diesen Zusammenhängen wird ein grundlegendes rechtliches und medizinisches Wissen theoretisch und ggf. praktisch überprüft. In der Präambel zu den aktuellen Heilpraktikerüberprüfungsleitlinien des Bundes (BMG 2017: 2) heißt es: Die Leitlinien „orientieren sich am Ziel der Gefahrenabwehr und sollen die Feststellung ermöglichen, ob die Heilpraktikeranwärterinnen und -anwärter die Grenzen ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten zuverlässig einschätzen, sich der Gefahren bei Überschreitung dieser Grenzen bewusst und bereit sind, ihr Handeln angemessen daran auszurichten. Damit dies gelingt, bedarf es sowohl einer Überprüfung der rechtlichen wie medizinischen Kenntnisse der Heilpraktikeranwärterinnen und -anwärter, aber auch einer der späteren Tätigkeit entsprechenden Demonstration von Fertigkeiten in der praktischen Anwendung dieser Kenntnisse.“ Der Gesetzgeber hatte Ende 2016 aus Gründen eines besseren Patientenschutzes sowie einer höheren bundesweiten Standardisierung der amtsärztlichen Überprüfungen nach Aufforderung durch die 89. Gesundheitsministerkonferenz § 2 I HeilprG sowie § 2 I lit. i. HeilprGDV 1 diesbezüglich angepasst. Zudem hatte er das Bundesgesundheitsministerium (BMG) aufgefordert, die Leitlinien zur Überprüfung der Heilpraktikeranwärter zu prüfen und ggf. auszuweiten (vgl. Deutscher Bundestag 2016: 141 ff.). Neue bundesweit gültige Leitlinien sind zum 22.03.2018 in Kraft getreten (vgl. BMG 2017). Sie ersetzen die Leitlinien aus dem Jahre 1992. Positive Folge dürften eine weitere Vereinheitlichung und Erhöhung der Qualitätsstandards amtsärztlicher Überprüfungspraxis sein (vgl. Sasse 2017: 4 f.). Mit der Verankerung im HeilprG ist die rechtliche Verbindlichkeit der Leitlinie gestiegen (vgl. Deutscher Bundestag 2016: 142). Auf Basis dieser Überprüfungsleitlinien erlassen die Bundesländer eigene Richtlinien, an denen sich die zuständigen Gesundheitsämter in ihrer Überprüfungspraxis orientieren. Die Richtlinien regeln verbindlich die Überprüfungsgegenstände und spezifizieren somit die allgemeinen Anforderungen an die Erlaubniserteilung zur Führung der Berufsbezeichnung Heilpraktiker. Sasse (2017: 3) führt beispielhaft den Runderlass des Gesundheitsministeriums NordrheinWestfalens vom 18.05.1999 auf, der u. a. folgende Überprüfungsgegenstände
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Der Beruf des Heilpraktikers
festlegt: Berufs- und Gesetzeskunde, insbesondere bezüglich der rechtlichen, diagnostischen und therapeutischen Grenzen und Gefahren nicht-ärztlicher Heilkunde; grundlegende (pathologische) anatomische und physiologische Kenntnisse; Grundkenntnisse allgemeiner Krankheitslehre, Erkennung häufiger Krankheiten wie Stoffwechsel-, Herz-Kreislauf- sowie degenerativer und übertragbarer Krankheiten, bösartiger Neubildungen sowie seelischer Erkrankungen; Erkennung und Erstversorgung akuter Notfälle und lebensbedrohlicher Zustände; Praxishygiene, Desinfektion und Sterilisation; Techniken und Methoden der Anamnese (Inspektion, Palpation, Auskultation, Perkussion, Reflexprüfung, Puls- und Blutdruckmessung); Bewertung grundlegender Laborwerte; Techniken der Injektion und Punktion. Die konkrete Gestaltung der Prüfungsfragen und -situation bleibt letztlich in der individuellen Verantwortung der zuständigen Gesundheitsämter, ebenso eine Kontrolle der späteren Tätigkeit. Im Zuge des Überprüfungsverfahrens sind von den Teilnehmenden ein polizeiliches Führungszeugnis (Nachweis persönlicher Zuverlässigkeit) sowie eine ärztliche Gesundheitsbescheinigung einzureichen (vgl. Sasse 2017: 3). Sasse (2017: 3) konstatiert, dass die Überprüfungen zum Teil inhaltlich an Fachprüfungen grenzen und somit über die reine Gefahrenabwehr hinausgehen. Die amtsärztlichen Überprüfungen können nur mit gezielter Vorbereitung bzw. qualifizierter Ausbildung bestanden werden (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 13 f.). Der Widerspruch zwischen Ausbildungsstand und Überprüfungsniveau zeigt sich in hohen Durchfallquoten. Sie werden mit bundesweit zwischen durchschnittlich 50 % (Engler/Donhauser 2011/2012: 14) bis 70 % Sasse (2017: 3) bzw. noch darüber angegeben (Stiegele 2020: 16; Commandeur/Neumann 1991: 129).25 An dieser Stelle spiegelt sich die anhaltende Diskussion um die Grenzen der Heilpraktikertätigkeit wider, wie auch die Präambel der Überprüfungsleitlinien (BMG 2017: 2) zeigt: „Die bis heute andauernden Diskussionen über den Heilpraktikerberuf, die sich immer wieder auch mit den Grenzen der Tätigkeit von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern befassen, haben den Gesetzgeber veranlasst, eine Weiterentwicklung der […] Leitlinien vorzuschreiben, die stärker als bisher auf eine bundesweit einheitliche Heilpraktikerüberprüfung abzielt und dabei den Schutz der einzelnen Patientin oder des einzelnen Patienten deutlicher als bisher in den Blick rückt.“ 25 Zudem wird auch auf die Schwierigkeiten in der (privatrechtlich geregelten) Berufsausübung verwiesen, z. B. würde jede zweite Praxis nach kurzer Zeit wieder schließen (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 14). Commandeur und Neumann (1991: 103 ff.) gehen hier von 80 % aus – die ressourcenintensive Spezialisierung und unsichere Gestaltung des eigenen Bildungsweges lassen den Beruf eher zu einer Berufung werden.
2.3 Rechtliche Rahmenbedingungen
25
Allerdings fixieren die Leitlinien nur Mindestanforderungen an die Überprüfung. Weitere Vorgaben liegen in den Durchführungskompetenzen der Bundesländer bzw. darüber hinausgehende Regelungen zum Heilpraktikerberuf unterliegen dem Parlamentsvorbehalt (vgl. BMG 2017: 2). Hier zeigt sich ein Spannungsfeld des heilkundlichen Berufsrechts. Der Heilpraktiker wird eigenverantwortlich in der unmittelbaren Gesundheitsversorgung tätig, was außer ihm nur der Medizin so umfassend erlaubt ist. Gleichzeitig hat der Gesetzgeber die Ausbildung zum Heilpraktiker bis heute nicht staatlich geregelt, eine institutionalisierte berufliche Ausbildung ist also nicht zwingend vorgeschrieben. Hinzu kommt das fehlende konstitutive Berufsausübungsrecht (vgl. Sasse 2011). „Insofern stehen die qualitativen Anforderungen an den Arzt, der Heilkunde ausübt, und an den Heilpraktiker, der Heilkunde ausübt, fast in einem diametralen Gegensatz.“ (Igl 2013: 345), (vgl. dazu auch Bohne 2012: 60). Mit dieser Rechtslage ist der Gesetzgeber bemüht, den Eindruck einer staatlichen Anerkennung des Heilpraktikerberufes zu vermeiden (vgl. Sasse 2017: 2). Hinzu kommt die Schwierigkeit, sowohl die Heterogenität des Heilpraktikers als Berufsinhaber gemäß dem HeilprG, als auch die Heterogenität naturheilkundlicher und alternativmedizinischer Verfahren in verbindlichen Ausbildungsinhalten zu fixieren. Sasse (2017: 4 f.) benennt gemäß dem HeilprG eine Behandlungsbreite von Methoden und Konzepten der Traditionellen Chinesischen Medizin über die Chiropraktik, Homöopathie, den Schamanismus und die Geistheilung bis hin zu Behandlungen wie das Unterspritzen von Falten oder das Entfernen von Tätowierungen mittels Laser. Auch hier bietet die aktuelle rechtliche Lage die Gewähr, die Kenntnis der persönlichen und rechtlichen Grenzen anhand schulmedizinischer Standards nachzuweisen. Zudem kann auch hier der Eindruck staatlicher Anerkennung von Verfahren, die nicht auf schulmedizinischer Evidenz beruhen, vermieden werden. Die aktuelle Rechtslage lässt also zu, dass die Heilpraktikerausbildung jeweils individuell zu organisieren, aber auch zu bewältigen ist. Auch wenn ein hoher Kenntnisstand bei den Überprüfungen nachzuweisen ist, kann die Ausbildung auch autodidaktisch erfolgen. Schaffert (2007: 171) entdeckt das Phänomen bei hochqualifizierten Frauen, dass diese in familienbedingten Berufsunterbrechungen ihren Lernprozess bis zur amtsärztlichen Erlaubnis als Heilpraktikerin durchschreiten, diesen Beruf jedoch gleichzeitig als Hobby einordnen. Studien verweisen auf einen hohen Anteil an medizinischen Vorkenntnissen der Heilpraktikeranwärterinnen. Commandeur und Neumann (1991: 49) belegen, dass ca. die Hälfte der befragten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker auf Kenntnisse aus einem medizinischen Vorberuf zurückgreife.
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Der Beruf des Heilpraktikers
Private Anbieter bieten verschiedene Möglichkeiten einer institutionalisierten Ausbildung an, ein Vergleich zwischen Heilpraktikerschulen gestaltet sich schwierig (vgl. Plöthner et al. 2011). Es können Intensivkurse gebucht werden, die speziell auf die amtsärztliche Überprüfung vorbereiten, aber auch Ausbildungsprogramme, die darüber hinausgehen und auf die eigenverantwortliche Praxisreife vorbereiten (vgl. das Beispiel in Abschn. 2.5.2). Die Ausbildung kann als Direktunterricht in Vollzeit oder Teilzeit (berufsbegleitend in Wochenend- oder Abendschulen), begleitet durch E-Learning-Kurse, oder insgesamt im Fernunterricht durch zugelassene Institutionen erfolgen. Ausbildungsinstitute sind oft an Heilpraktikerverbände angeschlossen. Deren Dachverband empfiehlt einen theoretischen Ausbildungsumfang von 3.000 Unterrichtsstunden (vgl. Demling 2002). Es können aber auch einzelne Heilpraktiker selbstständig ausbilden. Die privatwirtschaftliche Organisation der Anbieter mag auf ökonomische Interessenskonflikte, verbunden mit einem niedrigen Niveau der individuellen Zulassung zu einer Ausbildung, verweisen. Eine nicht-repräsentative Umfrage unter Heilpraktikerschülern und Berufsanfängern ergab private Ausbildungskosten zwischen 9.000 Euro und 15.000 Euro. Ggf. können staatliche Zuschüsse beantragt werden. (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 44–137) Neben der umfassenden Heilpraktikererlaubnis gibt es seit 1983 auch eine beschränkte Heilpraktikererlaubnis für das Gebiet der Psychotherapie. Sie beruht auf einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.02.1983 (BVerwG – 3 C 21.82) und ermöglichte zunächst Diplom-Psychologen26 , später auch Diplom-Pädagogen (BVerwG, Urteil vom 21.01.1993 – 3 C 34/90) und DiplomSoziologen (Beschluss BVerwG, Urteil vom 24.10.1994) die selbstständige berufliche Tätigkeit (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 138 ff.). Zunehmend bemühen sich auch andere Gesundheits-/Heilberufe um Möglichkeiten der formalen Kompetenzerweiterung und Unabhängigkeit von der Medizin, indem sie die beschränkte Heilpraktikererlaubnis (zum sog. sektoralen Heilpraktiker) anstreben. Auf Basis der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 26.08.2009 (BVerwG 3 C 19.08 – BverwGE 134: 345 ff.; zit. n. Sasse 2017: 1; dazu auch Igl 2013: 344; Igl 2012: Nr. 30.1, Erl. zu § 1 HeilprG, Rn. 10) kann die Heilkunde in einem Teilgebiet ohne ärztliche Verordnung ausgeübt werden. Diese beschränkten Heilpraktikerzulassungen, denen ebenfalls eine Überprüfung
26 Bis zum Inkrafttreten des eigenen Berufsgesetzes zum 01.01.1999 (Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Psychotherapeutengesetz – PsychThG)).
2.3 Rechtliche Rahmenbedingungen
27
durch das Gesundheitsamt vorausgeht27 , wurden bereits für die Berufe der Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie sowie Podologie vergeben. Die sektorale Erlaubniserteilung bezieht sich dabei ausschließlich auf spezifische Fragen und Bereiche der Berufsausübung, nicht auf eine umfassende (natur-)heilkundliche Tätigkeit an sich: So können Behandlungen eigenverantwortlich fortgeführt werden, ohne dass es einer erneuten Rezeptierung durch einen Arzt oder eine Ärztin bedarf. Es handelt sich also um eine „Ausweitung der schulmedizinischen Kompetenzen eines staatlich regulierten Gesundheitsfachberufs“ (Sasse 2017: 1). Diese beschränkte Zulassung wird auch kritisch gesehen. Igl (2013: 344) merkt an: „In der Praxis hat eine beschränkte Heilpraktikererlaubnis mittlerweile eine Art rechtlicher Perversion dadurch erfahren, als eine beschränkte Heilpraktikerlaubnis bei einigen Heilberufen dazu verwendet wird, einen Zugang zur selbstständigen Leistungserbringung zu erreichen, der ihnen sonst heilberuferechtlich versagt wäre.“28 Auch die führenden Heilpraktikerverbände begrüßen diese Entwicklungen der nicht-ärztlichen Heilkundeausübung unter dem HeilprG keineswegs (vgl. DDH 2014: 3).
2.3.2
Berufsausübung und Therapieverfahren
Der Heilpraktiker übt, vorwiegend auf selbstständiger Basis, eine freiberufliche Tätigkeit (§ 18 EStG) gemäß den Regelungen zum Dienstvertrag mit den Patienten (§§ 611-630 BGB) aus (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 27). Die rechtlichen Regelungen zur Berufsausübung zielen ebenfalls grundsätzlich auf die Gefahrenabwehr (nicht die Klärung einer Wirksamkeit) sowie das Vermeiden (des Eindrucks) staatlicher Anerkennung naturheilkundlicher Verfahren. Es stehen weder staatliche Weiterbildungen für Heilpraktiker zur Verfügung, noch gibt es ein einheitliches Gebührenrecht. Von der Leistungserstattung im Rahmen der GKV ist der Heilpraktiker ausgeschlossen. Die Durchführung von Operationen u. a. invasiven Verfahren ist aufgrund eines restriktiven Zuganges zu rezeptpflichtigen Medikamenten eingeschränkt. Die zuständigen Gesundheitsämter (ggf. auch Ordnungsämter) sind für die Aufsicht über die Heilpraktiker zuständig: So muss dort eine Praxistätigkeit angezeigt werden. Ebenso unterliegen Heilpraktiker der 27 Eine Ausnahme bildet z. B. das Urteil des Verwaltungsgerichts München (M 27 K 17.693), das dem Kläger, einem hochqualifizierten Physiotherapeuten, die Erlaubniserteilung für das Gebiet der Chiropraktik ohne Kenntnisprüfung zusprach. 28 Alt (2016: 12) konstatiert, dass zum Zeitpunkt seines Statements weit über 2.000 Physiotherapeuten über die beschränkte Heilpraktikererlaubnis Physiotherapie verfügten.
28
2
Der Beruf des Heilpraktikers
Hygieneüberwachung durch die zuständigen Gesundheitsämter.29 Diese können einzelne Therapien untersagen, wenn besondere Gefahren oder Risiken für die Hilfesuchenden bestehen. Bei Missachtung beruferechtlicher Vorgaben kann die Heilpraktikerzulassung widerrufen werden (§ 7 HeilprGDV 1). Dies betrifft auch die fehlerhafte Einschätzung, wann ein Patient schulmedizinischer Hilfe bedarf. Gemäß § 630 a II BGB hat der Heilpraktiker auch besondere zivilrechtliche Sorgfaltspflichten: Seine Behandlung ist am Binnenstandard der Heilpraktikerschaft auszurichten. Aus Gründen des Verbraucher-/Patientenschutzes unterliegen Heilpraktiker strengen Werbebeschränkungen, z. B. bezüglich der Wirksamkeitsaussagen ihrer Verfahren, sofern sie nicht wissenschaftlich belegt sind. Zudem gibt es absolute Werbeverbote, z. B. zur Behandlung von Krebserkrankungen, Suchterkrankungen (nicht Nikotinabhängigkeit) oder meldepflichtigen Krankheiten nach dem Infektionsschutzgesetz (IfSG). Arzneimittelrechtliche Vorgaben regeln die eigene Herstellung von Medikamenten und verbieten es, bedenkliche Medikamente in Verkehr zu bringen. Heilpraktiker haben gemäß § 630 e BGB sowie Patientenrechtegesetz ihre Patientinnen vor Behandlungsbeginn aufzuklären, besondere Bestimmungen beziehen sich auf die Behandlung austherapierter Krebspatienten (z. B. Information zu Möglichkeiten der Palliativmedizin). Sollte ein Heilpraktiker verschleiernde oder unrealistische Aussagen treffen oder nicht lege artis handeln (Strafecht30 ), gilt die Einwilligung des Patienten zu einer Therapie nicht. Untersagt sind Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern die folgenden heilkundlichen Tätigkeiten: a) Ausübung der Zahnheilkunde (§ 1 I, III ZHKG); b) Behandlung von Personen, die an bestimmten übertragbaren Krankheiten leiden, dessen verdächtig sind oder die mit einem bestimmten Krankheitserreger infiziert sind (§ 24 IfSG); c) Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen (§§ 218 ff. StGB); d) Kastrationen (§ 2 I KastrG); e) Organentnahme beim Organspender (§ 3 I, Nr. 3, § 8 I S. 1 Nr. 4 TPG), einschließlich einer Aufklärung vor einer Organentnahme beim lebenden Organspender (§ 8 II TPG); f) Entnahme einer Blutspende (§ 7 II TFG); g) Durchführung einer künstlichen Befruchtung etc. (§ 9, § 11 EschG); h) Durchführung von Röntgenbehandlungen und -untersuchungen gemäß § 23 I, § 24 I RöV; h) Verabreichung und Verschreibung von Betäubungsmitteln (§ 13 I BtMG); i) Verschreibung bestimmter Arzneimittel i. S. § 48 AMG; j) Verschreibung bestimmter Medizinprodukte (§ 1 I MPVerschrV); k) Aufklärung vor einer klinischen Prüfung nach AMG (§ 40 II S. 1, IV Nr. 3, § 41 I, II, III AMG) und dem MPG (§ 20 I Nr. 2, 29 Kritisch zur Erfüllung der Hygienestandards der überprüften Praxen sowie den Möglichkeiten des öffentlichen Gesundheitsdienstes äußern sich Heudorf et al. (2010). 30 Zu den Sorgfaltspflichten der Heilpraktiker aus strafrechtlicher Sicht vgl. Tamm (2007).
2.4 Historische Entwicklung des Berufes …
29
IV Nr. 4, § 21 Nr. 3 MPG) bzw. nach § 41 VI StrlSchV; l) Geburtshilfe (§ 4 HebG) sowie m) Leichenschau und Ausstellung eines Totenscheins. (vgl. Sasse 2017: 5 ff. sowie angegebene Gesetzestexte) Eine Zusammenarbeit mit Ärzten ist unter dem aktuellen Berufsrecht der Mediziner (§ 29a und § 23b MBO-Ä) nur eingeschränkt möglich (vgl. Wienke/Wienke 2018). Im deutschsprachigen Europa gestaltet sich die Situation heterogen: Während in Österreich die Ausübung der Heilkunde durch Nicht-Ärzte verboten ist, sich keine „offizielle Heilpraktikerszene“ (Bertschi-Stahl 2013: 62) etablieren konnte, haben sich in der Schweiz zwei Drittel aller Stimmberechtigten und aller Stände 2009 für die Aufnahme der Komplementärmedizin in die Bundesverfassung ausgesprochen. Damit wurde ein Entwicklungsprozess in Gang gesetzt, der als erstes Land in Europa die Ausbildung des Heilpraktikers mit dem Abschluss eines eidgenössischen Diploms gesetzlich regelt (vgl. Bertschi-Stahl 2013: 63 f.) und Möglichkeiten der Berufsausübung eröffnet (vgl. Becker/Senn 2013; Itin 2013). Insgesamt ist die Arbeitnehmerfreizügigkeit bzw. Berufsausübung als Heilpraktiker in Gesamt-Europa stark eingeschränkt, denn den Heilpraktikerberuf i. S. der deutschen Rechtslage gibt es in keinem anderen EU-Mitgliedsstaat (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 3231 ). Dies verbietet ihm aktuell die Ausübung der Heilkunde nach dem HeilPrG außerhalb der BRD (vgl. Sasse 2011: 83 ff.). Wie deutlich geworden ist, nimmt der Heilpraktikerberuf im Kanon der Gesundheitsberufe im Gesundheitssystem der BRD, aber auch international eine Sonderstellung ein. Dies ist historisch gewachsen und führt, insbesondere aus medizinischer Sicht, zu Kontroversen, wie die folgenden Ausführungen aufzeigen.
2.4
Historische Entwicklung des Berufes und seine kontroverse Sonderstellung
Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker üben ihre Tätigkeit auf Grundlage des HeilprG von 193932 aus. Historischer Hintergrund und Ziel dieses Gesetzes waren, die bis dahin bestehende Kurierfreiheit aufzuheben und, zwischen ideologischer Gleichschaltung, Etablierung einer „Neue[n] Deutsche[n] (Volks-)Heilkunde“ 31 Zur Lage in der EU vgl. auch Heudorf et al. (2010), Freder (2003: 162) sowie Ernst (1997). 32 Zum historischen Überblick – der Trennung von akademischer und nicht-akademischer, erfahrungsbasierter Heilkunde sowie den Verhältnissen vor dem Erlass des HeilPrG vgl. Freder (2003) und Donhauser (1996).
30
2
Der Beruf des Heilpraktikers
(Sasse 2011: 25) sowie der Homogenisierung der Heilpraktikerschaft, einen Überblick über nicht-ärztliche ‚Heilkundige‘ zu erlangen. Darüber hinaus sollte der mit dem Gesetz neu definierte Berufsstand des Heilpraktikers letztendlich abgeschafft werden (vgl. u. a. Freder 2003: 75 ff.; Sasse 2011: 25 ff.). Damit wäre ein Ärztemonopol für die Heilkunde geschaffen worden, wie es von Seiten der Ärztevereinigungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts verstärkt gefordert worden war (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 12 f.). Damit einhergehend war die Übernahme der Naturheilkunde durch die Schulmedizin angedacht (vgl. Sasse 2011: 27). Im Vorfeld dieser Entwicklungen waren bereits alle Heilpraktiker unter einem verbindlichen Berufsrecht sowie unter dem Dach des „Heilpraktikerbundes Deutschland e. V.“ zusammengefasst worden (vgl. Sasse 2011: 26; Freder 2003: 71). Diese standesrechtliche Vertretung erließ berufsbezogene Vorgaben, die im neu geschaffenen HeilprG fehlten (vgl. Sasse 2011: 28). Mit dem Erlass des HeilprG 1939 waren die Ausbildung sowie die Neuzulassung in diesem Beruf nicht mehr vorgesehen. Möglich wurden sie erst nach dem Ende des Nationalsozialismus, nachdem das Bundesverfassungsgericht dieses Verbot im HeilprG neu und grundrechtskonform ausgelegt hatte (vgl. Sasse 2011: 30 f.). Im Zuge dieses Prozesses entfielen auch alle standesrechtlichen Verpflichtungen und Vorgaben (vgl. Sasse 2011: 29). Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR wurde der Heilpraktikerberuf ohne Neuzulassungen (vgl. Donhauser 1996: 19) konsequent unterdrückt, mit der Folge, dass es zum Zeitpunkt der ‚Wende‘ 1989 nur noch elf Heilpraktiker gab (vgl. Freder 2003: 3, 7). Deren Zivilcourage und persönlichem Engagement, die Arbeit selbst unter staatlichen Sanktionen und der schwierigen Versorgungslage fortzusetzen, ist das dortige Überleben des Berufes überhaupt zu verdanken, denn die Bevölkerung selbst war interessiert an der Naturheilkunde und vertraute der Tätigkeit der wenigen Heilpraktiker (vgl. Freder 2003: 146 f.). Nach dem gesellschaftlichen Transformationsprozess 1989 konnte sich der Heilpraktikerberuf in der ehemaligen DDR wieder etablieren. Diese gesellschaftliche Dimension wird sich empirischen Teil dieser Studie von besonderer Bedeutung erweisen (vgl. Teil II). Der parallele Fortbestand von professionalisierter Schulmedizin und nichtprofessionalisiertem Heilpraktikerwesen unterhält bis heute Spannungen. Sie spitzen sich immer dann zu und rücken in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs, wenn spektakuläre Behandlungen öffentlich werden, die entweder misslingen und/oder sich an der Grenze der rechtlichen Legalität bewegen, wie es 2016 nach mehreren (tödlich verlaufenden) Krebsbehandlungen durch einen Heilpraktiker der Fall war (vgl. SZ 2016).
2.4 Historische Entwicklung des Berufes …
31
Dies scheinen Einzelfälle zu sein, folgt man dem Bundesverfassungsgericht: Heilpraktiker „dürfen Patienten aber nur im Rahmen ihres persönlichen Könnens behandeln. Obwohl Heilpraktiker hiernach Patienten an Ärzte verweisen müssen, sobald Grenzen ihrer heilkundlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erreicht werden, sind über Jahrzehnte hinweg keine Missstände zu Tage getreten, die für den Gesetzgeber im Interesse des Schutzes der Volksgesundheit Anlass zum Einschreiten gewesen wären.“ (BVerfGE 2007: 119, 59 ff., Beschl. v. 03.07.2007 – 1 BvR 2186/06, zit. n. Sasse 2017: 9). Diesmal scheint der o. g. Fall zum Eingreifen des Gesetzgebers beigetragen zu haben, denn Ende 2016 wurden mit dem Pflegestärkungsgesetz III der § 2 I HeilprG sowie der § 2 I lit. i. HeilprGDV 1 i. S. einer stärkeren und verbindlichen Überprüfungsregelung zur Zulassung von Heilpraktikern geändert (vgl. Deutscher Bundestag 2016). Dass der Ärzteschaft die gesetzlichen Regelungen zum Heilpraktikerberuf in der BRD von Beginn an nicht weit genug gingen, zeigt deren berufspolitischer Diskurs zur Reformierung des Heilpraktikerrechts. Dieses spiegelt sich z. B. in den Entschließungen des Deutschen Ärztetages im Verlaufe der Jahre wider. Gefordert werden Beschränkungen der Berufsausübungskompetenzen (vgl. BÄK 2013; 2017) sowie die Verhinderung des Zugewinns neuer, welche ebenso weitere Berufsgruppen unter dem Mantel des HeilprG erwerben könnten (vgl. BÄK 2009; 2008), eine staatlich geregelte Ausbildung (vgl. BÄK 2008; 2009), eine konsequente Berufsaufsicht (vgl. BÄK 2009) bzw. letztendlich die Abschaffung des HeilprG (vgl. BÄK 2008). Letzteres schlägt sich in folgender Formulierung (BÄK 2008: 105) nieder: „Der Gesetzgeber muss sich endlich dazu bekennen, dass das Heilpraktikergesetz vom 17.02.1939 restlos veraltet ist und den Erfordernissen der medizinischen Versorgung der Bevölkerung in keiner Weise mehr entspricht.“ Dass es für das Heilpraktikerwesen schwierig sein dürfte, jemals von der Medizin auf Augenhöhe anerkannt zu werden, wird an gleicher Stelle (BÄK 2008: 105) deutlich, wenn es heißt: „Patienten wird auf diese Weise verschleiert, dass eine echte Qualifikation nicht zugrunde liegt. Selbst eine vom Staat vorgegebene formalisierte Ausbildung zu diesem Beruf kann kein Ersatz für ein medizinisches Studium sein. Ein Heilpraktiker kann keinesfalls alle Facetten der Diagnostik und Therapie beherrschen.“ Der zu sichernde Führungsanspruch der Medizin gegenüber allen Gesundheitsberufen (Arztvorbehalt, Einheitlichkeit der Heilkundeausübung) in zunehmend notwendig werdenden Versorgungsformen multiprofessioneller Zusammenarbeit wird in gleichem Protokoll deutlich, in den gesundheitspolitischen Leitsätzen der Ärzteschaft, dem sog. Ulmer Papier (BÄK 2008: 118/11).
32
2
Der Beruf des Heilpraktikers
Dies belegt auch die Auseinandersetzung des 112. Deutschen Ärztetages 2009 um die Berufsbezeichnung Osteopathie für nicht-ärztliche Heilberufe. Die Bundes- und Landesregierungen wurden aufgefordert, „mit der Bezeichnung „Osteopathie“ für Physiotherapeuten, Masseure, Medizinische Bademeister und Heilpraktiker nicht auf diesem Wege ein neues Berufsfeld zu schaffen, welches ihnen Tätigkeiten ermöglicht, die aus Sicht des Patientenschutzes nicht zu vertreten sind“ (BÄK 2009: 103). Die Kritik trifft insbesondere den Beruf des Heilpraktikers: „Mit großer Sorge sieht der Deutsche Ärztetag die aktuelle Beschlusslage der Hessischen Landesregierung, Physiotherapeuten […], vor allem aber Heilpraktiker[n] nach erfolgreicher Zusatzfortbildung als „Osteopathen“ anzuerkennen“ (BÄK 2009: 103). In diesem Zusammenhang wurde vom Bundesgesetzgeber gefordert, „eine deutschlandweit gültige, einheitliche und anerkannte Berufsausbildung mit einer konsequent geregelten Berufsaufsicht für Heilpraktiker einzuführen“ (BÄK 2009: 104). Der 116. Deutsche Ärztetag 2013 forderte den Gesetzgeber auf, Heilpraktikern invasive kosmetische Behandlungen zu verbieten, da deren Ausbildung die Beherrschung möglicher Nebenwirkungen nicht absichere (vgl. BÄK 2013: 265). Auch in der Entschließung des 120. Deutschen Ärztetages 2017 forderte die Ärzteschaft ein Verbot invasiver Therapien wie chirurgischer Eingriffe, Injektionen und Infusionen sowie ein Verbot der Behandlung von Krebserkrankungen (vgl. BÄK 2017: 229 ff.). Ein generelles Verbot von Heilpraktikern ist aus verschiedenen Gründen nicht praktikabel, wie Sasse (2017: 2) darlegt: Zum einen würden naturheilkundliche Behandlungen in die Illegalität gedrängt und staatlich nicht mehr zu überwachen. Zum anderen widerspräche die vollständige Eingliederung der Naturheilkunde in die Schulmedizin deren naturwissenschaftlichem Paradigma der Evidenzbasierung. Zudem könne ein Ärztemonopol dem Bedürfnis der Bevölkerung nach einer alternativen Versorgung nicht gerecht werden. Diesem konträr argumentieren die Mitwirkenden des interdisziplinären Münsteraner Kreises (2017), die in ihrem Memorandum im Zuge einer Diskussion um Patientenschutz, Qualitätssicherung und Medizinethik eine Reform des Heilpraktikerwesens fordern – mit Plädoyer für ein Ärztemonopol. Das Heilpraktikerwesen, dem die Fähigkeit der Modernisierung abgesprochen wird (vgl. Münsteraner Kreis 2017: 5), sei durch ein „eklatante[s] Missverhältnis“ (Münsteraner Kreis 2017: 11) von Ausbildung und Tätigkeitsbefugnissen gekennzeichnet, das es aus Gründen einer möglichen Patientengefährdung abzuschaffen gelte. Zu dem o. g. Widerspruch komme der inakzeptable Zustand der „medizinische[n] Parallelwelten“ (Münsteraner Kreis 2017: 11) im deutschen Gesundheitswesen in Form von Doppelstandards bei der Ergebnisbewertung und Qualitätskontrolle. Die vorrangig angewandten alternativ- und komplementärmedizinischen Methoden seien nach
2.4 Historische Entwicklung des Berufes …
33
Kriterien der evidenzbasierten Medizin überwiegend wirkungslos bzw. wirkten als Placebos. Für die Lösung der „Heilpraktiker-Problematik“ (Münsteraner Kreis 2017: 9) werden zwei Strategien mit jeweils zwei Optionen vorgeschlagen: 1) Strategie der konsequenten Begrenzung der Heilpraktikerbefugnisse als „Beschränkungslösung“ (Münsteraner Kreis 2017: 9) in Form eines Verbots weiterer ärztlicher Tätigkeiten bzw. in Form einer strikten ärztlichen Weisungsbindung als „arztzentrierte Lotsenlösung“ (Münsteraner Kreis 2017: 9). 2) Diese Strategie bildet die präferierte Lösung des Münsteraner Kreises. Sie soll den „Kompetenzmangel der Heilpraktiker“ (Münsteraner Kreis 2017: 9) beseitigen durch die konsequente „Abschaffungslösung“ (Münsteraner Kreis 2017: 9) bzw. die „Kompetenzlösung“ (Münsteraner Kreis 2017: 9), die die Befugnisse des Heilpraktikers auf ein Fachgebiet beschränkt und an die staatliche Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf bindet. Somit würde an die Stelle des Heilpraktikers nach jetziger Gesetzeslage ein „Fach-Heilpraktiker“ (Münsteraner Kreis 2017: 10) mit wissenschaftsorientierter Ausbildung und staatlicher Prüfung treten. Denkbar wäre eine fachhochschulische Ausbildung mit Modulen zum wissenschaftlich fundierten Umgang mit komplementär alternativen Verfahren, einer wissenschaftstheoretischen Ausbildung sowie einem Schwerpunkt auf Kommunikation und Empathie. Ziel ist, die Heil-Befugnisse auf das jeweilige Fachgebiet, z. B. die Physiotherapie, zu beschränken, was sich auch in einer entsprechenden Berufsbezeichnung „…und Fach-Heilpraktiker“ (Münsteraner Kreis 2017: 11) ausdrücken soll. Für eine längere Übergangslösung sollen bereits zugelassene Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in ihren Handlungskompetenzen gemäß der ersten Strategie konsequent beschränkt werden. (vgl. Münsteraner Kreis 2017: 9 ff.) Die vorgeschlagene Lösung belegt zum einen die Forderung nach dem Ärztemonopol und zeigt gleichzeitig Ähnlichkeiten zur ursprünglichen Intention des Heilpraktikergesetzes, den Beruf letztendlich abzuschaffen. Gleichzeitig bietet sie jedoch eine konkrete Idee, wie der Beruf im Zuge von Qualitätssicherung und Professionalisierungsprozessen im Gesundheitswesen (vgl. Reichardt/Friedrich 2018) modernisiert werden könne. Auf dieser Basis mag eine berufs-, bildungsund gesundheitspolitische Diskussion um den Heilpraktikerberuf ermöglicht werden. Jedoch sind beide Berufsgruppen, die Medizin sowie Heilpraktikerschaft, gleichberechtigt zu beteiligen. Letzterem widerspricht die Aussage in der systematischen Analyse aller negativen Reaktionen auf das Münsteraner Memorandum (vgl. Reichardt/Friedrich 2018) mit dem Argument, eine HeilpraktikerRegulierung bedürfe keiner „Insiderinformationen“ (Reichardt/Friedrich 2018: 31), da es um die „Sicherstellung von Patientendienlichkeit und -sicherheit innerhalb des Gesundheitssystems“ (Reichardt/Friedrich 2018: 31) ginge, zu der sich
34
2
Der Beruf des Heilpraktikers
Externe wie die Vertreter des Münsteraner Kreises aus Medizin, Recht, Ethik und Wissenschaftstheorie vorrangig anböten (vgl. Reichardt/Friedrich 2018: 31)33 . Der zunehmend kritischere öffentliche Diskurs und politische Druck haben dazu geführt, dass das BMG Ende 2019 ein Rechtsgutachten zur umfassenden Aufarbeitung des Heilpraktikerrechts und Prüfung der Reformmöglichkeiten des Heilpraktikerberufes beauftragte, dessen Ergebnisse Mitte 2020 erwartet werden (vgl. Stiegele 2020: 14). In der Argumentation der aktiven Kritiker des Heilpraktikerwesens, insbesondere aus den Reihen der evidenzbasierten Medizin, wird der machtbezogene Diskurs deutlich. Es geht um die Deutungshoheit über das gesellschaftlich höchst angesehene Gut der Gesundheit (Zentralwertbezug), aber auch um ökonomische Interessen bezüglich knapper Mittelverteilung im Gesundheitswesen – zum einen, wenn Krankenkassen alternative Therapieverfahren (Heilpraktikern) vergüten, zum anderen aber auch, wenn sich Patientinnen entscheiden, ihre begrenzten Mittel für Behandlungen in heilpraktischen Praxen auszugeben und dafür seltener arztbezogene (Zusatz-)Leistungen, z. B. IGeL-Leistungen, in Anspruch zu nehmen. Hinzu kommen Ansprüche weiterer Heilberufe wie der Physiotherapie bezüglich weisungsunabhängiger Handlungskompetenzen im Rahmen eigener Professionalisierungsprozesse.34 33 Reichardt
und Friedrich (2018: 34) schlussfolgern in ihrer Analyse, dass Bedingung für ein Festhalten an den beiden Heilberufen der Ärzte und Heilpraktiker die „Einführung evidenzbasierter Ausbildungsstandards und Anhebung der Qualitätssicherung“ sei. Zudem verweise die inhaltliche Argumentation vieler Kritiker auf den „bestehenden Bedarf der Vermittlung nicht nur wissenschaftlichen Denkens und Handelns und abgesicherter Ergebnisse, sondern auch der damit verbundenen Haltungen und Wahrhaftigkeitspflichten. Denn damit Auseinandersetzungen über die Vorzugswürdigkeit spezifischer Theorien sachorientiert und kompetent geführt werden können, sind ein profundes Wissenschaftsverständnis und eine entsprechende Vorbildung unabdingbar“ (Reichardt/Friedrich 2018: 34). Kontrovers zum medizintheoretischen Verständnis der evidenzbasierten Medizin als Handlungswissenschaft stehen die Überlegungen Würgers (2013), der am Beispiel der Klassischen Homöopathie Hahnemanns die wissenschaftstheoretische Fundierung dieses therapeutischen Konzepts sowie entsprechende Wirksamkeitsnachweise aufführt. Er warnt vor einer unreflektierten Übernahme evidenzbasierter Nachweisführung i. S. der Schulmedizin (im Bestreben um gesellschaftliche Anerkennung), da somit der Theorie und Praxis der Klassischen Homöopathie kaum Überlebenschancen blieben. Folge der Argumentation der evidenzbasierten Medizin kann gleichzeitig sein, mögliche neue Erkenntnisse, die nicht diesem Paradigma folgen, dieses vielleicht sogar infrage stellen, von Anfang an zu blockieren. 34 Ohne auf eine gesonderte empirische Untersuchung zum sozialen Feld der Ausübenden der Heilkunde in der BRD, insbesondere der Schulmediziner und Heilpraktikerschaft, zurückgreifen zu können, können die eben geschilderten Dynamiken, im Anschluss an
2.5 Berufsständische Organisation …
35
Die berufspolitische Vertretung der Heilpraktikerschaft ist bestrebt, starker Akteur für den Erhalt des Berufes zu sein. Ihre Organisation und Aktivitäten zeigt das folgende Kapitel, u. a. die Verantwortung für die Aus- und Weiterbildung des Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker.
2.5
Berufsständische Organisation und Verantwortung der Heilpraktikerschaft
2.5.1
Selbstverwaltung und Berufspolitik
Zugelassene Heilpraktiker sowie ggf. Heilpraktikeranwärter können freiwillig einem der verschiedenen ‚Berufsverbände‘ beitreten, die die Belange und Interessen des Berufsstandes nach außen vertreten, jedoch keine Standesordnung mit gesetzlichem Auftrag darstellen (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 34). Die fünf größten bundesweiten Heilpraktiker-Berufs- und Fachverbände – der Fachverband Deutscher Heilpraktiker e. V. (FDH), der Freie Heilpraktiker e. V. (FH), Freier Verband Deutscher Heilpraktiker e. V. (FVDH), die Union Deutscher Heilpraktiker e. V. (UDH) sowie der Verband Deutscher Heilpraktiker e. V. (VDH) – sind in einem gemeinschaftlichen Gremium, dem Dachverband Deutscher Heilpraktikerverbände e. V. (DDH), vereinigt. Sitz des DDH ist Bonn. Auf der Internetseite des DDH heißt es zur Aufgaben- und Zielstellung der gemeinsamen Verbandsarbeit: „Gemeinsam vertreten sie die überwiegende Mehrheit der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in allen Fragen der Berufs-, Medizinal- und Standespolitik. Der DDH mit den Einzelverbänden ist damit der Ansprechpartner für Politik, Medien, Versicherungen sowie andere Gesundheitsberufe. Diese gut funktionierende Kooperation der Verbände ist unerlässlich, um die Interessen der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in fachlichen, rechtlichen und berufsständischen Fragen gezielt und effektiv gegenüber politischen Institutionen, sowie in der Öffentlichkeit vertreten zu können.“ (DDH 2020a). Diese Notwendigkeit wird als umso wichtiger eingeschätzt, da die Zahl zugelassener Ärzte, die durch die Bundesärztekammer vertreten wird, ungleich höher Bourdieu (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006: 124–147; Abschn. 3.1.1), mit den Eigenlogiken und Kämpfen in den spezifischen sozialen Feldern erklärt werden. Dabei wird die (dynamische) Struktur der Felder kontinuierlich vom Stand der Machtverhältnisse zwischen den Akteuren, die entscheidend von ökonomischen Ressourcen abhängen, mitbestimmt. Institutionen und Akteure mit unterschiedlichen Machtgraden ringen um die Sicherung oder auch Änderung von feldkonstitutiven Regularien zu ihrem Vorteil. Diesbezüglich sind Felder immer Orte permanenten Wandels.
36
2
Der Beruf des Heilpraktikers
ist. Hinzu kommt, dass es zwar ein übergreifendes Bekenntnis der politischen Fraktionen zur Naturheilkunde, jedoch nicht zu den Heilpraktikern als Berufsgruppe gibt. Ziel solle sein, „das Verständnis zu schaffen, dass Naturheilkunde und Heilpraktiker eine Einheit sind“ (DDH 2020h: 2). Zudem solle eine ‚Gegenposition‘ zur Ärzteschaft aufrechterhalten werden, in einer beruflichen Tätigkeit als „Gesundheitsdienstleister […], die sich auf die Naturheilkunde, die Homöopathie und viele andere nicht universitär anerkannte Heilmethoden spezialisiert haben“ (DDH 2020h: 2). In diesem Zusammenhang wird der Schutz durch die Gesetzgebung und Rechtssicherheit für die Berufsausübung gefordert. Gleichzeitig werden die sektoralen Heilpraktikerzulassungen unter dem HeilprG abgelehnt. (vgl. DDH 2020h: 2 f.) Zu den wichtigsten Aufgaben gehörte die Erarbeitung und Verabschiedung einer gemeinsamen Berufsordnung für Heilpraktiker (vgl. DDH 2020b). Diese ist nicht allgemein rechtsverbindlich (vgl. DDH 2020b), sondern i. S. eines Binnenstandards nur für organisierte Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker bindend (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 35). Auch die gemeinsame Formulierung des Berufsbildes des Heilpraktikers (vgl. DDH 2020c) ist als wichtiges Ergebnis übergreifender Verbandsarbeit zu bewerten. Darunter subsumiert findet sich z. B. die Beschreibung der spezifischen Heilkunde des Heilpraktikers (vgl. DDH 2020; Abschn. 2.1), ihrer historischen Bezüge (vgl. DDH 2020d), der Aufgaben eines Heilpraktikers (vgl. DDH 2020e) und seiner Beziehung zum Patienten (vgl. DDH 2020f). Deutlich wird auch hier das Bestreben, die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu erfüllen, bei gleichzeitiger Abgrenzung von „Systemzwängen oder dem jeweils herrschenden Wissenschaftsbild“ (DDH 2020c), verbunden mit dem Ziel des Erhalts der Naturheilkunde als Kulturgut sowie einer „Therapiefreiheit und Therapievielfalt“ (DDH 2020e). In einer Diagnostik und Therapie nach dem „Ganzheitsprinzip“ (DDH 2020c), orientiert an den „Gesetzmäßigkeiten der Natur“ (DDH 2020c) und der „Gesamtperson des Kranken“ (DDH 2020), wie sie auf der Internetseite beschrieben ist, findet sich allerdings auch eine der Medizin inhärenten defizitorientierten Sicht, die eng auf individuelle Bedingungen der Krankheitsentstehung bezogen ist. Soziale und gesellschaftliche Dimensionen von Gesundheit sowie Ressourcen in Gesundungsprozessen, die über den Bezug auf die (individuellen) Selbstheilungskräfte hinausgehen, bleiben unberücksichtigt.35 35 Ebenso lassen sich neoliberale Einflüsse ableiten, wenn es zum einen um die Erfüllung individueller Bedarfe über den regulierten Markt des Gesundheitswesens hinaus geht, zum anderen darum, den Menschen zu beeinflussen, dass er sich gesundheitsförderlich entsprechend den gesellschaftlichen Normen und ökonomischen Zwängen verhält:
2.5 Berufsständische Organisation …
37
Zentrale Themen der übergreifenden Verbandsarbeit beziehen sich auf die Arzneimittelversorgung, Gebühren36 (vgl. auch DDH 2020g) sowie Gesundheitspolitik, wie die gemeinsame Bestellung und Finanzierung der Arzneimittelkommission der deutschen Heilpraktikerverbände (AMK), der Gebühren- und Gutachterkommission der Heilpraktikerverbände im DDH sowie des Ressorts Politik belegt (vgl. DDH 2020a). Die AMK stellt z. B. wichtige aktuelle Mitteilungen wie Arzneimittelrückrufe, Kommissionsprotokolle der Routinesitzungen nach § 63 AMG in BfArM sowie geltende gesetzliche Regelungen zur Verfügung. Ebenso können Präparatebeschreibungen wie die ROTE LISTE in der aktuellen Fassung als Sonderausgabe für Heilpraktiker bestellt werden (vgl. AMK 2020). Die politische Beteiligung des DDH sowie der Partizipationsanspruch im Rahmen von Prozessen der Legislative zur Weiterentwicklung des Berufsbildes bzw. des HeilprG belegt die Presseerklärung des DDH vom 1. März 2017 zur Änderung des HeilprG. Während die Beteiligung des DDH am Gesetzesverfahren auf Bundesebene und die Mitarbeit an der Erarbeitung der neuen bundesweiten Überprüfungsleitlinien begrüßt wurde, gab es Kritik an der Praxis des Gesundheitsausschusses des Landes Nordrhein-Westfalen, der die sachverständige Erörterung eines FDP-Antrages zur Begrenzung der Handlungskompetenzen der Heilpraktiker ohne Einbezug fachlich versierter Vertreter eines HeilpraktikerBerufsverbandes durchführte (vgl. DDH 2017). Ein weiteres Beispiel, hier für den Schutz des eigenen Berufsstandes, stellt die Normenkontrollklage des DDH dar, die 2008 gegen die Hessische OsteopathieVerordnung erhoben wurde, die die Aus- und Weiterbildung in der Osteopathie für Physiotherapeuten, Masseure und medizinische Bademeister ohne Heilpraktikererlaubnis zugelassen hatte (vgl. DDH 2009). Drohenden gesetzlichen Veränderungen oder Reglementierungen, die die Freiheit der Berufsausübung gemäß dem bestehenden Heilpraktikerrecht gefährden könnten, wird mit den verfügbaren berufspolitischen und juristischen Möglichkeiten entgegengewirkt, wie sich aus umfangreicher Literaturrecherche und Dokumentenanalyse zu den Diskussionen und Aktivitäten der Verbandspolitik ergibt37 . „Der Heilpraktiker empfindet sich als geeigneter Ansprechpartner und sinnvolle Ergänzung eines aufgeklärten und für seine Gesundheit mitverantwortlichen Bürgers in unserer Gesellschaft“ (DDH 2020f). 36 1985 erarbeiteten die Heilpraktikerverbände ein Gebührenverzeichnis anhand statistischer Durchschnittswerte der Honorare vieler naturheilkundlicher Standardbehandlungen. Dieses hat keine rechtliche Verbindlichkeit (vgl. Sasse 2011: 172). 37 Bezogen wird sich, neben den Recherchen in Sasse (2011: 105 f./FN 347), der die Frage der Selbstverwaltung im Zuge einer Neuregelung des Berufsausübungsrechts ausführlich
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2
Der Beruf des Heilpraktikers
Die Sonderstellung des Berufes gilt es mit allen Mitteln zu schützen. Das HeilprG, ergänzt um die Urteile von Bundesgerichtshof und -verfassungsgericht, werden als in Europa einmaliges Instrument modernen Verbraucherschutzes hervorgehoben (vgl. DDH 2020h: 3). Hierbei unterschätzen die berufspolitischen Vertreter jedoch zum einen die dem Beruf drohenden Gefahren unter dem bestehenden Heilpraktikerrecht, zum anderen aber auch die Chancen einer rechtlichen Weiterentwicklung und damit einhergehenden Professionalisierung, die mit den internen Interessen der Berufsorganisationen harmonisieren (vgl. Sasse 2011: 105 ff.; Abschn. 2.1/FN 11). Neben dem Kampf um ein Mandat über das eigene naturheilkundliche Wissen in anerkannter Alternative und Ergänzung zur Schulmedizin, geht es hierbei vorrangig um die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Berufsausübung. Diese soll das Vertrauen der Patienten in die Kompetenzen der Heilpraktiker rechtfertigen, insbesondere weil sich die Patientenbasis vergrößert – durch die Zunahme chronischer Erkrankungen, das gestiegene Interesse an naturheilkundlichen und alternativmedizinischen Therapien, einer zunehmenden Skepsis gegenüber der Schulmedizin, die zudem mit einem abgeschwächten Wachstum innerhalb der eigenen Profession kämpft. Auch die Möglichkeiten einer interprofessionellen Kooperation beider Heilberufe gewinnen unter einem staatlich anerkannten Berufsbild des Heilpraktikers und rechtlicher Ausdifferenzierung der Kooperationsmöglichkeiten an Bedeutung (vgl. Sasse 2011: 236). Um die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten unter dem Druck der Gefahr der umfassenden Neuregelung des Heilpraktikerrechts durch den Gesetzgeber 2019 zu erhalten, hat der Freie Heilpraktiker e. V. (FH) ein eigenes Rechtsgutachten beauftragt, in Vorbereitung auf das Mitte 2020 zu erwartende Rechtsgutachten des BMG zur Reformierung des Heilpraktikerberufes (vgl. Stiegele 2020: 18).
2.5.2
Aus- und Weiterbildung
Auch wenn für die Heilpraktikerzulassung keine institutionalisierte Ausbildung erforderlich ist (vgl. Igl 2013: 344), übernehmen die Heilpraktikerverbände eine aktive Rolle bei der Aus- und Weiterbildung ihrer Mitglieder, u. a. in Heilpraktiker-Schulen, die den einzelnen Verbänden organisational angegliedert
aufarbeitete, insbesondere auf die umfangreiche, öffentlich zugängliche Quellenlage der Online-Präsenz des DDH (2020a, einschließlich der Unterseiten wie die fortlaufenden Nachrichten des Verbandes DDH-Aktuell).
2.5 Berufsständische Organisation …
39
sind (vgl. Engler/Donhauser 2011/2012: 3338 ). Um u. a. die Homogenität der Ausbildung und beruflichen Standards in einer größeren bundesweiten Zusammenarbeit aller Heilpraktiker-Verbände und Fachgesellschaften zu erhöhen, etablierte sich 2018 die Gesamtkonferenz Deutscher Heilpraktikerverbände und Fachgesellschaften; Ende 2019 gründete sich das Heilpraktiker-Netzwerk als ihr juristisches Organ für die bundeseinheitliche Interessenvertretung (vgl. Stiegele 2020: 18). Beispielhaft wird im Folgenden die Ausbildung der Joseph Angerer Heilpraktiker-Schule München dargestellt. Diese Schule hat den Status einer Berufsfachschule nach dem Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) und befindet sich in Trägerschaft des Heilpraktikerverbandes Bayern e. V. als Landesverband des Fachverbandes Deutscher Heilpraktiker e. V. (FDH). Die vollständige Berufsausbildung erfolgt über drei Jahre mit 3.000 Unterrichtsstunden. Sie kostet ca. 12.000 Euro. Sie zielt auf die fachliche Praxisreife mit der Befähigung, eine eigene Praxis selbstständig zu führen. Abgedeckt werden folgende Ausbildungsinhalte: schulmedizinische Grundlagen (theoretische Fächer wie Anatomie, Physiologie, Pathologie, Pharmakologie, medizinische Fachgebiete wie Orthopädie, Kardiologie und Gynäkologie; praktischer Unterricht in klinischer Diagnostik und Labordiagnostik); die naturheilkundliche Ausbildung in Diagnose und Therapie, einschließlich Verfahren komplementärer und alternativer Medizin (z. B. alternative Labordiagnostik wie Blut-Dunkelfeld, Augenoder Pulsdiagnose, traditionelle europäische Medizin (TEM), Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), Biochemie, Klassische und Komplexhomöopathie, Neuraltherapie, Phytotherapie, Osteopathie, Chiropraktik und Massagen); praktische Ausbildung im schuleigenen Lehrambulatorium unter Praxisbedingungen (Patientenbehandlungen unter Supervision, Kleingruppenarbeit); Vorbereitung auf die theoretischen und praktischen Inhalte der amtsärztlichen Überprüfung gemäß aktuellen Überprüfungsleitlinien sowie die Vorbereitung auf das selbstständige Arbeiten in einer eigenen Praxis (Gründung, Management, Marketing). Der Unterricht erfolgt in festen Klassenverbänden mit freiwilliger Überprüfung des jeweiligen Wissensstandes. (vgl. JAS o. J.; o. J. a) Über die Ausbildung hinaus gibt es keinen verpflichtenden praktischen Weiterbildungsteil, wie z. B. in der ärztlichen Weiterbildung obligatorisch. In den Qualitätskriterien der Ausbildung in der Schulleitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Schulleitungen der Heilpraktikerschulen des FDH (FDH o. J.: 5) wird jedoch ein Praktikum in einer Heilpraktiker-Praxis empfohlen. An gleicher Stelle findet sich ebenso der Verweis auf eine kontinuierliche Fort- und Weiterbildungspflicht 38 Zu einer umfassenden Übersicht über Ausbildungseinrichtungen vgl. Engler/Donhauser (2011/2012: 44–137).
40
2
Der Beruf des Heilpraktikers
gemäß Berufsordnung für Heilpraktiker. Dass überwiegend Praktiker Praktiker ausbilden, belegen die Qualitätskriterien (FDH o. J.: 2) ebenfalls: Mindestens 60 % des Lehrerkollegiums an Schulen des FDH e. V. sind zugelassene Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker, die zudem über mehrjährige Erfahrungen im Rahmen einer Praxistätigkeit verfügen. Die Schulleitung obliegt einer Heilpraktikerin oder einem Heilpraktiker. Außerdem wird auf die fachliche und didaktische Qualifikation der Dozentinnen in den von ihnen jeweils unterrichteten Fächern verwiesen. Konkrete Angaben, worin diese bestehen können oder sollten, finden sich nicht. Zum Thema Weiterbildung unter dem Dach der Berufsverbände gehört die Organisation des jährlichen Deutschen Heilpraktikertages, der als „zentraler Treffpunkt der Naturheilkunde“ (Kropmanns 2017) gilt. Die mehrtägige Veranstaltung dient dem bundesweiten Austausch, der Wissenserweiterung in Intensivfortbildungen sowie dem Dialog mit Anbietern naturheilkundlicher Produkte und Dienstleistungen. Zudem finden traditionell berufspolitische Beratungen und interne Versammlungen der einzelnen Verbände sowie der Funktionsträger des DDH statt. (vgl. Kropmanns 2017) 2017 fand die Tagung bereits zum 27. Mal statt, was auf die Bedeutung und Traditionsbildung verweist. Die 225 Aussteller der Industrieausstellung belegen das (ökonomische) Interesse der Industrie. Die thematische Breite der angebotenen 48 Veranstaltungen zeigt die Heterogenität des Berufsfeldes und Breite seiner Arbeitsbereiche bzw. Fortbildungsbedarfe relevanten Berufswissens: „Von der urheimischen Medizin zu Infekten der Blase, aktueller Mikrobiomforschung, – [sic!] Enzymtherapie, Dunkelfeldanalyse, Psychotherapie, Fersensporn und Schulter-Arm-Syndrom, homöopathischer Unterstützung im Klimakterium, TCM-Schmerzbehandlung, Homöopathie und Spiritualität bis hin zur korrekten Rechnungsstellung, Notfallmaßnahmen, Praxisführung und Praxishygiene reichte die thematische Palette.“ (Kropmanns 2017) Nach den Ausführungen zur Bedeutung des Berufes, seiner rechtlichen Rahmenbedingungen und berufsständischen Organisation zeigt das folgende Kapitel die empirische Studienlage zum Heilpraktikerberuf aus verschiedenen disziplinären Perspektiven. Dabei enthalten einige Studien sowohl berufssoziologisch relevante Ergebnisse als auch die Perspektive der Patientinnen und Patienten. Diese Ergebnisse werden getrennt in den Abschn. 2.6.1 und 2.6.3 aufgeführt.
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
2.6
41
Empirie zum Heilpraktikerberuf
Trotz des Stellenwertes des Heilpraktikerberufes für die unterschiedlichen Berufsgruppen des Gesundheitswesens sowie der berufspolitischen und juristischen Kontroverse, die um die Rahmenbedingungen des Berufes in seiner Sonderkonstruktion geführt wird, vielleicht aber auch gerade deshalb (vgl. Demling 2002), findet sich nur eine geringe Zahl und überwiegend ältere empirische Studien zum Heilpraktikerberuf. Sie sind hauptsächlich in den 1970er bis 1990er Jahren entstanden und liegen vorrangig als Dissertationen vor. Sie bearbeiten die jeweiligen Fragestellungen in Literaturrecherchen oder quantitativen Untersuchungsdesigns, mit teilweise sehr enger Fragestellung und methodischem Design39 . Studien mit einem qualitativen Forschungsdesign, die die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker als handelnde Subjekte in den Fokus der Analyse rücken, wurden nicht gefunden. Es finden sich Arbeiten aus rechtswissenschaftlicher, sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive, mit medizinischem und psychologischem Forschungsinteresse, sowie eine Studie, die aus einem sozialwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse den Beruf des Heilpraktikers und seine curriculare Weiterentwicklung fokussiert. Diese Studien werden im Folgenden dargestellt.
2.6.1
Studien mit Bezug zur konkreten beruflichen Tätigkeit des Heilpraktikers
Aus verschiedenen Bereichen der Medizin liegen Studien vor, die schlussfolgern, dass die rechtliche Grundlage des Heilpraktikerberufes dringend überholungsbedürftig und die Ausbildungssituation zum Beruf des Heilpraktikers unzureichend sei. Im Zuge ihrer Analysen gehen sie auf die diagnostischen und therapeutischen Verfahren des Heilpraktikers ein, mit der Schlussfolgerung, dass diese heterogen und nicht wissenschaftlich fundiert seien. Maßstab der Analysen sind die akademische ärztliche Ausbildung sowie die ärztliche Berufsausübung. In Anbetracht der wenig verfügbaren Studien zum Heilpraktikerberuf sollen auch zentrale Ergebnisse der alten Studien kurz vorgestellt werden. Sie zeigen die kritische Sicht auf den Beruf aus medizinischer Perspektive und belegen die sozial, institutionell und gesellschaftlich bis heute manifestierte Situation, 39 Zudem weisen sie teilweise methodische Schwächen auf bzw. entsprechen nicht immer den heute geltenden wissenschaftlichen Gütekriterien (vgl. z. B. Riese 1979; Prokein 1980; Koehl 2015).
42
2
Der Beruf des Heilpraktikers
den Heilpraktikerberuf zwar als ‚vorhanden‘ zu akzeptieren, jedoch nicht zu legitimieren. Die alten Studien können diesbezüglich auch als wichtige historische Dokumente ihrer Zeit interpretiert werden, deren Ergebnisse heute nicht uneingeschränkt übertragbar sind. Dies gilt z. B. in Bezug auf die Kritik an den naturheilkundlichen und alternativen Heilverfahren, wenn man berücksichtigt, dass sich heute ein starker Zweig der Komplementärmedizin in Forschung und Praxis etabliert hat40 . Die eingeschränkte Gültigkeit der Daten wird in der Darstellung berücksichtigt. Aus dem Institut für Rechtsmedizin der Universität Marburg liegen drei Dissertationen vor. 1) Peter Ausserehl (1968) analysiert anhand einer Literaturstudie, dem Besuch einer Heilpraktiker-Schule, einer Korrespondenz mit Berufsorganisationen der Heilpraktiker sowie Gesprächen mit einzelnen Heilpraktikern die Ausbildungsformen sowie die diagnostischen und therapeutischen Methoden des Heilpraktikers (vgl. Ausserehl 1968: 104). Er stellt die Bedeutung der Heilpraktikerverbände für die Ausbildung heraus und schließt am Beispiel des schulischen Lehrplans einer Heilpraktiker-Fachschule darauf, dass die Heilpraktikerausbildung der (fünfsemestrigen) vorklinischen Ausbildung auf geringerem Niveau ähnelt: „Im Grunde bietet die Fachschule mit ihren begrenzten Möglichkeiten eine verkürzte, weniger anspruchsvolle, medizinische Ausbildung unter besonderer Berücksichtigung der von Heilpraktikern geübten Methoden“ (Ausserehl 1968: 17). Dabei kritisiert er die Verlagerung auf die technischen und formellen Inhalte heilpraktischer Tätigkeit sowie die geringere Qualität der Lehre, nicht zuletzt aufgrund mangelhaft ausgebildeter Lehrkräfte. (vgl. Ausserehl 1968: 16 ff.) Sein Vergleich zur Ausbildung anderer bundesdeutscher Gesundheitsfachberufe sowie zum Chiropraktiker in den USA sowie seine Analyse der diagnostischen und therapeutischen Verfahren belegen zum einen die Heterogenität diagnostischer (nicht wissenschaftlich anerkannter) Verfahren, zum anderen die Spannung zwischen einer geforderten Ordnung der Wissensbestände in einer staatlich geregelten Ausbildung und der Ablehnung einer staatlichen Anerkennung dieser Verfahren durch eine Fachprüfung. Ausserehl kritisiert, dass die Diagnostik des Heilpraktikers aufgrund eines breiten Indikationsspektrums und der indifferenten Wirkung der naturheilkundlichen und alternativen Therapieverfahren in den Hintergrund tritt und nicht 40 Krug et al. (2016: 3) verweisen z. B. auf die Akupunktur und Phytotherapie als evidenzbasierte Verfahren. In neueren Studien tritt das widersprüchliche Verhältnis der Schulmedizin zur komplementären und alternativen Medizin hervor, die zumal von Ärzten und Heilpraktikern ausgeführt werden kann. Modelle der Integration werden diskutiert, mit der Präferenz, die Therapiehoheit in den Händen der Schulmedizin zu belassen (vgl. z. B. Koehl 2015: 57 ff., 65 ff.).
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
43
objektivierbar sei im Gegensatz zur wissenschaftlichen Medizin. (vgl. Ausserehl 1968: 24 ff., 35 ff.) Nach akribischer (inhaltlicher) Aufarbeitung der therapeutischen Methoden der Heilpraktiker jener Zeit wie Neuraltherapie, Akupunktur, Biochemie etc. folgert er, dass die rezeptartige Befolgung der in sich geschlossenen Regelsysteme ohne Prämissen oder medizinische Wissensgrundlagen auskäme. Heilpraktische Anamnese und Befund entsprächen nicht der Zielstellung in der Schulmedizin, die angewendete Therapie wäre prinzipiell immer dieselbe. Ebenso seien theoretische Grundlagen der eigenen Verfahren und Methoden unklar, auch wenn der therapeutische Nutzen einiger Verfahren (z. B. Chiropraktik, Akupunktur) anerkannt sei. (vgl. Ausserehl 1968: 98 f., 104). 2) Michael Riese greift die Thematik 1979 erneut auf und untersucht darüber hinaus Gebiete, auf denen er eine Zusammenarbeit zwischen Schulmedizin und Heilpraktikerschaft für möglich und förderungswürdig erachtet. Sein Überblick zur Ausbildungssituation schließt an die Ergebnisse Ausserehls an. Die Bedeutung der verbandseigenen Fachschulen hervorhebend, kritisiert er die von ökonomischen Interessen getragenen Privatanbieter. Es würden entweder eher praktische Aspekte der Heilpraktikertätigkeit vermittelt, bei Vernachlässigung medizinischen Grundlagenwissens oder aber nur medizinisches Grundlagenwissen aus Lehrbüchern, bei Vernachlässigung berufsbezogener praktischer Aspekte. Riese plädiert für eine gesetzliche Novellierung des Heilpraktikerrechts hin zur Schaffung einer einheitlichen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Heilpraktiker, um die Qualität der berufsbezogenen Ausbildung zu erhöhen. Hierbei schlägt er die gemeinsame Erarbeitung der Ausbildungsinhalte durch Ärzte und Heilpraktiker vor. Zudem befürwortet er eine Zusammenarbeit zwischen Medizin und Heilpraktikerschaft aus Gründen des Patientenschutzes und fordert eine stärkere Verantwortung der Medizin für die Erweiterung eigener naturheilkundlicher/alternativmedizinischer Wissensbestände. (vgl. Riese 1979: 31–38, 142 f.) Riese stellt repräsentative diagnostische und therapeutische Methoden vor und bewertet diese kritisch. Die Auswahl der Methoden erfolgt auf Basis einer eigenen empirischen Untersuchung: einer standardisierten Fragebogenerhebung von 28 in Nordrhein-Westfalen tätigen Heilpraktiker sowie 30 ihrer Patienten. Die Heilpraktiker befragte er u. a. zur Ausbildung, den angewandten diagnostischen und therapeutischen Methoden, zu bestehenden und/oder erwünschten Kontakten zur Schulmedizin sowie einer Einschätzung eigener Fähigkeiten; weiterhin zu soziodemographischen Angaben ihrer Patienten, deren Beschwerden und schulmedizinischer Vorbehandlung, der Behandlungsdauer pro Patient und dem berechneten Honorar. (vgl. Riese 1979: 5 f.)
44
2
Der Beruf des Heilpraktikers
Folgende berufssoziologisch relevante Ergebnisse arbeitet Riese heraus:41 Alle Befragten hatten vor ihrer Tätigkeit „hilfsmedizinische Berufe“ (Riese 1979: 24) wie Krankenpfleger, Masseur, Sanitäter, medizinisch-technische Assistentin oder Arzthelferin (vgl. Riese 1979: 38). 85 % der Befragten haben vor amtsärztlicher Erlaubniserteilung eine Heilpraktikerschule besucht, davon 50 % eine zweijährige Schule, je 18 % eine vier- bzw. einjährige und 8 % eine dreijährige Schule. Durch alle Befragten wurde die Ausbildung als hilfreicher Bestandteil der Berufsausübung eingeschätzt. 64 % aller Befragten waren vor ihrer eigenen Berufstätigkeit bei einem Berufskollegen oder einer Kollegin assistierend tätig. Die Befragten setzen die folgenden Methoden zur Diagnostik ein: 100 % die Irisdiagnostik, die Inspektion, Puls- und Blutdruckkontrolle; 86 % diagnostizieren mithilfe der Weihe’schen Druckpunkte. Hinzu kommen Laboruntersuchungen, Palpation und Auskultation. Die wichtigsten therapeutischen Methoden der Befragten sind: die Homöopathie und Biochemie nach Schüssler – eingesetzt von allen Befragten; die Neuraltherapie nach Huneke (85 % der Befragten); die Akupunktur (71 % der Befragten); die Chiropraktik (64 % der Befragten); Ableitungen (61 % der Befragten) und das Schröpfen – eingesetzt von der Hälfte (50 %) der Befragten. Chirurgische Eingriffe wurden von keinem der Befragten vorgenommen. Die befragten Patienten bestätigten, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen homöopathisch behandelt wurde (83 %), dass keine chirurgischen Eingriffe sowie gesetzlich verbotenen Anwendungen oder Therapien an ihnen vorgenommen wurden. Zudem waren alle Patienten vor ihrem Besuch beim Heilpraktiker in schulmedizinischer Behandlung. 82 % der Befragten pflegten zum Befragungszeitpunkt Kontakte zu praktischen Ärzten und Ärztinnen oder einer Klinik und alle Befragten wollten diese intensivieren oder neu aufnehmen. Die Befragten berechnen ihr Honorar dem jeweiligen Einkommen der Patienten entsprechend zwischen 20 und 40 DM pro Sitzung, was die befragten Patienten bestätigen. Teilweise liegen die Honorare darunter. Wie die Heilpraktiker auf die Einkommenssituation ihrer Patienten schließen und 41 Es fehlen soziodemographische Angaben wie Geschlecht und Alter der befragten Heilpraktiker und Patienten. Die männliche Sprachform kann auf eine alleinige Befragung von männlichen Heilpraktikern hindeuten. Dass dies nicht abwegig ist, darauf verweist eine soziodemographische Analyse von Westphal (1988: 60): Von den zum damaligen Stichtag der Untersuchung in Schleswig-Holstein zugelassenen Heilpraktikern und Heilpraktikern waren 66 % Männer und 34 % Frauen; bundesweit 67 % und 33 %. Vielmehr ist jedoch davon auszugehen, dass Riese die allgemein übliche männliche Sprachform verwendete, die beide Geschlechter einschließt. Somit ist kein Rückschluss auf den Anteil befragter Heilpraktikerinnen möglich. Ebenso bleibt bei Riese offen, ob die befragten Patienten alle beim gleichen Heilpraktiker in Behandlung waren bzw. wie viele der befragten Heilbehandler durch ihre Klientel erfasst wurden.
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
45
nach welchen Kriterien sie die Gebühren abstufen, bleibt offen. (vgl. Riese 1979: 24 ff., 29 f.; zu weiteren Ergebnissen der Patientenbefragung vgl. Abschn. 2.6.3) In der Ergebnisdiskussion bleibt bei Riese unreflektiert, dass alle befragten Heilpraktiker einen medizinischen Vorberuf mitbrachten, der ihnen die Aneignung medizinischen Wissens und praktischer Kenntnisse erleichtert haben mag bzw. auf deren Wissensbestände sie in der neuen Berufsausübung zurückgegriffen haben werden. Auch die Assistenz der Mehrheit der Berufsnovizen bei einem Berufskollegen vor Beginn der eigenen Heilpraktikertätigkeit bleibt in der Ergebnisdiskussion unerwähnt. Die schulmedizinische Vorbehandlung aller befragten Patienten bildet in gewisser Weise eine ‚schützende Schranke‘, sodass davon auszugehen ist, dass sowohl die Patienten als auch die Heilpraktiker, die dies in der Anamnese erhoben haben sollten, von dem Fakt ausgehen könnten, dass ein Verdacht auf schwerwiegende Diagnosen abgeklärt worden wäre – auch wenn dies kein Plädoyer darstellen soll, dass ein Heilpraktiker oder eine Heilpraktikerin sich auf die vormedizinische Diagnostik und Behandlung verlassen sollen oder können. Ohne Überlegungen bleibt auch, welche therapeutischen Methoden dem Heilpraktiker blieben, wenn wissenschaftlich nicht fundierte wegfallen sollen, wie Riese (1979: 38) es fordert. Auch wenn er nicht explizit die Abschaffung des Berufes fordert, kommt der obige Fakt dieser gleich. Riese übersieht z. B. auch, dass die Homöopathie als hauptsächliches medikamentöses Therapeutikum für den Heilpraktikerstand unentbehrlich ist, da ihnen der Zugang zu rezeptpflichtigen Medikamenten gesetzlich verschlossen ist. 3) Helga Prokein (1980) greift die Thematik von Ausserehl (1968) und Riese (1979) noch einmal auf. Da ihre Studie sich sehr an die von Riese (1979) anlehnt, werden die Ergebnisse nicht dargestellt. Sie fordert allerdings explizit die Abschaffung des Heilpraktikers nach dem Vorbild des Zahnheilkundegesetzes (vgl. Prokein 1980: 80 f.). Dass dieser Vorschlag, der eine Überführung von Heilpraktikern in einen staatlich anerkannten Heilberuf beinhaltet, nicht realisierbar ist, greift Jürgen Westphal (1988: 53) in seinen Überlegungen anhand einer Literatur- und Sekundärdatenanalyse auf: Die Dentisten waren in staatlich geregelten Ausbildungsberufen geprüft, sodass der Übergang in eine bestallte Tätigkeit als Zahnarzt unter dem Zahnheilkundegesetz möglich war. Auf einen geregelten Ausbildungsweg können die Heilpraktiker jedoch nicht verweisen. In Auseinandersetzung mit verschiedenen Möglichkeiten zur Problemlösung um den Heilpraktikerberuf – Aufhebung der Kurierfreiheit mit Überführung der Heilpraktiker in den Stand der Ärzte, Medizin-analoger Ausbildungsweg, beschränkte Kurierfreiheit – schlägt er vor, die Überprüfungsrichtlinien bundesweit zu vereinheitlichen. Dies würde auch den
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2
Der Beruf des Heilpraktikers
Vorstellungen der Heilpraktikerverbände entsprechen, die sich für eine stärkere und einheitliche Überprüfungspraxis einsetzten. Diese Minimalforderung ist heute mit den Überprüfungsleitlinien des BMG (2017) umgesetzt. Westphals konkreter Vorschlag zum Berufszugang enthält eine zweistufige Überprüfung: Nach bestandener amtsärztlicher Überprüfung folgt eine zwölfmonatige Praxiszeit als Heilpraktiker im Praktikum mit anschließender praktischer Prüfung durch ein offiziell berufenes Heilpraktikergremium. Die geprüften Inhalte werden in der Zulassung erfasst, weitere Fachgebiete müssten in Fortbildungen nachgewiesen werden. (vgl. Westphal 1988: 53 ff.) Folgt man Sasses Ausführungen bezüglich der bis heute bestehenden Gesetzeslage zur Heilpraktikerausbildung (Sasse 2011, 2017), kommt dieser Vorschlag jedoch einer gesetzlich nicht normierten Fachprüfung nahe. An die Überlegungen der o. g. Studien mit der präferierten Lösung, den Heilpraktikerberuf abzuschaffen, setzt auch Christoph Raab (1989) nach seiner Literaturrecherche an. Er konstatiert jedoch eine starke Unterstützung der Heilpraktiker durch Politik und Industrie. Zudem ist er überzeugt, dass der Heilpraktiker notwendig ist, um den subjektiven Bedarf für jene Patienten zu decken, die sich von der Schulmedizin nicht angemessen vertreten fühlen (vgl. Raab 1989: 267 ff.). Auch wenn er dies anhand einer defizitorientierten Sicht auf die Patienten, die dem Heilpraktiker positiv gegenüberstehen, entfaltet, belegen verfügbare Studien zum Arzt-Patient- oder Arzt-Heilpraktiker-Verhältnis die Funktion des Heilpraktikerbesuches als Ergänzung einer technisch-rationalen Dominanz der Schulmedizin (vgl. Abschn. 2.6.3). Anja Schneeloch (1998) greift die wachsende Bedeutung des Heilpraktikerberufes auf, um über versorgungsrelevante Fragen der Medizin nachzudenken. Sie befragte 100 Heilpraktiker-Patienten und 17 Heilpraktiker (acht Männer, neun Frauen) in einer quantitativen, nicht-repräsentativen Fragebogenerhebung. Als berufssoziologisch relevant sollen an dieser Stelle folgende Ergebnisse der Heilpraktiker-Befragung dargestellt werden: 82 % der Heilpraktiker haben das Abitur/Fachabitur abgeschlossen, 18 % haben die mittlere Reife. 43 % haben ein Hochschul- oder Universitätsstudium abgeschlossen. 88 % der Befragten haben einen Vorberuf, 53 % davon im Gesundheitswesen (Gesundheits- und Krankenpflege, Masseur/medizinischer Bademeister, pharmazeutisch-technische Assistenz, wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsmedizin). Im Durchschnitt behandeln die befragten Heilpraktikerinnen fünf Patientinnen am Tag, etwa 26 pro Woche; die langjährig tätigen Praktiker (über fünf Jahre) behandeln durchschnittlich neun Patienten am Tag (45 in der Woche), die Berufsnovizen (Praxiszulassung unter einem Jahr) durchschnittlich zwei Patienten am Tag (neun
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
47
pro Woche). Solange sich die Praxis nicht finanziell trägt, sind die Heilpraktiker auch anderweitig berufstätig. Die durchschnittliche Behandlungszeit beträgt beim Erstbesuch 90 Minuten, bei Folgesitzungen 45 Minuten. Der Stundensatz beträgt im Durchschnitt 75 DM (110 DM für die Erstbehandlung, 60 DM für die weiteren). Die hauptsächlich angewandten therapeutischen Verfahren sind: 1) die Homöopathie (angewendet von 65 %, davon behandeln 55 % der befragten Heilpraktiker ausschließlich nach der Methode der Klassischen Homöopathie); 2) Akupunktur (41 %, davon 29 % als Akupunktmassage nach Penzel und 43 % arbeiten ausschließlich mit der Akupunktur); 3) die Fußreflexzonentherapie (35 %, in Kombination mit Homöopathie, Akupunktur und Chiropraktik); 4) die Chiropraktik (29 %) sowie 5) die Neuraltherapie (18 %). Zusätzlich angewandte Verfahren sind die Osteopathie und Gesprächstherapie sowie, ferner, die Bachblütentherapie, Symbioselenkung, Eigenbluttherapie, Manuelle Neurotherapie und Kinesiologie. (vgl. Schneeloch 1998: 65 ff.) Die Forschungsgruppe um Joachim Demling (Demling et al. 2002) erforschte mittels Fragebogenerhebung von 473 stationären Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen42 , welche Diagnostik- und Therapieverfahren bei ihnen zum Einsatz kamen. Die angewandten diagnostischen Methoden sind (absteigend geordnet): Anamnese, Iridologie, physische Untersuchung, Laboruntersuchungen (Blut/Urin) sowie, seltener, Pendeln und Astrologie. Bei Patienten mit körperlichen Beschwerden trat die Anamnese hinter die körperliche Untersuchung zurück; Irisdiagnostik kam insbesondere bei den Patienten mit kombinierten physischen und nicht-physischen Beschwerden zum Einsatz. Die hauptsächlich eingesetzten therapeutischen Methoden waren die Homöopathie, Phytotherapie, Ernährungsberatung, Beratung zur Lebensführung, Gesprächstherapie und Akupunktur, seltener auch die Bachblüten-Therapie. Gesprächstherapie wurde am wenigsten bei den Patienten mit körperlichen Beschwerden eingesetzt, Homöopathie am meisten bei den Patienten mit kombiniertem Beschwerdebild. Die Patienten mit aktuellen psychiatrischen Diagnosen wurden mit folgenden Methoden behandelt: Bei affektiven Störungen kamen Gesprächstherapie, Phytotherapie, Hinweise zu Ernährung und Lebensführung, ferner Homöopathie und Akupunktur zum Einsatz. Bei Patienten mit neurotischen Störungen waren die am häufigsten eingesetzten Therapien die Homöopathie, Akupunktur, Phytotherapie sowie Hinweise zur Lebensführung. (vgl. Demling et al. 2002: 196) 42 Koehl (2015) analysiert anhand eines online-Fragebogens Einstellungen und Angebote von Heilpraktikern mit homöopathischem Schwerpunkt zur komplementären alternativen Medizin bei onkologischen Patienten. Die Ergebnisse sollen aus forschungsmethodischen Gründen nicht gesondert dargestellt werden.
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Der Beruf des Heilpraktikers
Abgesehen von der Gesprächstherapie findet sich in der Studie kein Hinweis, dass psychiatrisch Erkrankte durch ihre Heilpraktikerinnen anders behandelt werden als nicht-psychiatrisch Erkrankte (vgl. Demling et al. 2002: 199).43 Katja Krug et al. (2016: 62) bestätigen in ihrer vergleichenden Fragebogenerhebung von 567 Heilpraktiker- und Arzt-Patienten, dass zu den Standardverfahren der Heilpraktiker 1) die Homöopathie (90 %) und 2) die Akupunktur (60 %) gehören. 30 % der befragten Heilpraktiker wenden auch die Phytotherapie an, 20 % zudem die biologische Medizin, Massage und Osteopathie. Bei den Allgemeinärzten praktizieren ebenfalls die meisten die Homöopathie und Akupunktur (jeweils 39 %), 30 % die Phytotherapie, jeweils 15 % wenden die Neuraltherapie und Eigenblutbehandlung an. Hierin bestätigt sich, dass Heilpraktiker und Mediziner bei der Anwendung von NHV/CAM in Konkurrenz treten. Stefanie Kattge et al. (2017) erforschten erstmals aktuell das Tätigkeitsprofil der umfassend zugelassenen Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker SchleswigHolsteins in einer nicht-repräsentativen Fragebogenerhebung. Sie können auf 262 vollständige Fragebögen zurückgreifen, die zu 81 % von Frauen ausgefüllt wurden44 . Dies ist eine sehr niedrige Beteiligung der insgesamt 1.096 angeschriebenen Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker (24 % Rücklaufquote), die das Team kritisch auf ein mangelndes Interesse der Heilpraktikerschaft, in aktuelle Forschungen einbezogen zu werden, zurückführt (vgl. Kattge et al. 2017: 288). Die Mehrheit der Befragten ist länger als fünf Jahre im Beruf tätig, weitere 27 % länger als 20 Jahre, 16 % kürzer als fünf Jahre. Damit können die Befragten auf eine mehr oder weniger lange Praxiserfahrung zurückgreifen. Die befragten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker sehen etwa 20 Patienten in der Woche und nehmen sich durchschnittlich eine Stunde Zeit für jeden Patienten, was auf einen hohen Grad an Zuwendungszeit verweist. Weitere Gründe für den Hinweis auf eine überwiegende Teilzeittätigkeit der Befragten, werden nicht diskutiert. Die Vorberufe des Samples werden nur in Gruppen erfasst, jedoch dahingehend diskutiert, dass die Mehrheit (52 %) zur Gruppe der persönlichen Dienstleistungen gehört, die die therapeutischen, pflegerischen und bildenden/lehrenden Berufe einschließen (vgl. Kattge et al. 287 f.). Die hauptsächlichen Beschwerden, mit denen die befragten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker aufgesucht werden, sind allgemeine und unspezifische Symptome (68 %) – Schmerzen führen einen Großteil der Patienten zum Heilpraktiker 43 Es findet sich in der Studie methodisch kein Hinweis darauf, ob einige oder alle Patienten speziell ausgebildete Heilpraktiker für Psychotherapie besucht haben. Dies könnte ein anderes Ergebnis zeigen, ebenso auch eine weitere Differenzierung der Fragestellungen. 44 Das Durchschnittsalter des Samples beträgt 53 Jahre (vgl. Kattge et al. 2017: 288).
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
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(von 68 % benannt) – psychologische Probleme (64 %) sowie Muskel-SkelettBeschwerden (Nacken- und Rückenschmerzen) (53 %). Die Erfassung der angewandten therapeutischen und diagnostischen Methoden erfolgte in drei Gruppen entlang der von der BÄK anerkannten Verfahren der Naturheilkunde wie Hydro-, Phyto-, Bewegungs- und Ordnungstherapie (I), der komplementären und alternativen Medizin wie Homöopathie, Akupunktur, Manuelle Therapie/Chirotherapie und Neuraltherapie (II) sowie der nicht anerkannten, als paramedizinisch registrierten Verfahren wie die Irisdiagnostik, Bio-Resonanztherapie, Fußreflexzonentherapie, Eigenblutbehandlung und Bachblütenanwendung (III). Hierbei zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit kombinierte Verfahren aus der dritten (78 %) und zweiten (76 %) Gruppe anwendet, ein Viertel (25 %) auch aus der Gruppe der Naturheilverfahren. (vgl. Kattge et al. 2017: 286 ff.) Eine genauere Aufschlüsselung findet sich nicht. Es lässt sich jedoch vermuten, dass die Verfahren der Irisdiagnostik, Homöopathie und Akupunktur von großer Bedeutung in der heilpraktischen Diagnostik und Therapie sein werden, wie bereits vorherige Studien nahelegen.
2.6.2
Studien zur Weiterentwicklung des Heilpraktikerberufes
2.6.2.1 Studien mit rechtswissenschaftlichem Erkenntnisinteresse Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive bearbeiteten Meyer-George (1988), Ehlers (1995), Tamm (2007) sowie Sasse (2011) spezifische Fragestellungen des Heilpraktikerrechts. Alle Studien zeigen bestehende Defizite des Heilpraktikerrechts auf. An dieser Stelle sollen wichtige Überlegungen von René Sasse (2011) zusammenfassend dargestellt werden. Seine Studie ist aus rechtswissenschaftlicher Sicht am aktuellsten und bezieht systematisch auch Ergebnisse der älteren Studien sowie die einschlägige Rechtsliteratur ein. Zudem bindet er die Heilpraktikerschaft in seine Überlegungen aktiv ein und möchte den Heilpraktiker als Beruf und Berufsbild konsequent weiterentwickeln – während Ehlers (1995: 275 ff.) z. B. für ein Ärztemonopol plädiert, dies jedoch in Betracht der gesellschaftlichen Bedeutung des Berufes und der gewachsenen Struktur der Naturheilkunde als unrealistisch relativiert. Sasse entfaltet systematisch den Stand sowie Gründe für eine Weiterentwicklung des Heilpraktikerrechts. Er entwickelt Modelle, die eine Neuregelung des Berufsausübungsrechts begründen können. Seine Überlegungen zielen auf eine erhöhte fachliche Qualifizierung der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker und deren staatliche Anerkennung. Zudem prüft er die Möglichkeiten der Selbstverwaltung im Heilpraktikerwesen sowie rechtliche Grenzen der Kooperation
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Der Beruf des Heilpraktikers
zwischen Medizin und Heilpraktikerschaft. Ausdrücklicher Anspruch bei seiner Erarbeitung ist das Vermeiden „einer unangemessenen Verrechtlichung bzw. Überreglementierung der Heilpraktikerschaft“ (Sasse 2011: 18 f.) unter Berücksichtigung der „Grenzen einer verstärkten Normierung und Standardisierung“ (Sasse 2011: 19). Aus rechtswissenschaftlicher Sicht sind die staatlichen Schutzpflichten bezüglich des Berufszugangs der Heilpraktiker (strenge Überprüfungsleitlinien, ohne ein akademisches Niveau vorzutäuschen) erfüllt, jedoch besteht ein verfassungsrechtlicher Handlungsauftrag zur normativen Neugestaltung des Berufsausübungsrechts. Hierzu ist der Erlass einer gesetzlich verbindlichen Berufsordnung (Gesetzgebungskompetenz der Länder gemäß Art. 70 I GG (vgl. Sasse 2011: 146)) unabdingbar. Diese definiert die Berufspflichten verbindlich und wirkt sowohl präventiv als auch konstitutiv auf die Berufsausübung, indem sie eine Berufsausübung in gewissem Maße standardisiert, qualitative Mindeststandards an die Qualifizierung festlegt, die Transparenz im Heilkundesektor und Anerkennung des Heilpraktikerberufes erhöht, einschließlich der Vermittlung eines positiven und konkret fassbaren Berufsbildes nach außen (vgl. Sasse 2011: 113 f.). Grundlage ist die Verpflichtung zur gewissenhaften Berufsausübung im Rahmen einer Generalpflichtenklausel. Die Orientierung erfolgt an den anerkannten naturheilkundlichen Binnenstandards der Heilpraktikerschaft. Hinzu kommt das Gebot zur Selbstbeschränkung bei jeder medizinischen Tätigkeit aufgrund der begrenzten (schul-) medizinischen Kompetenz. (vgl. Sasse 2011: 117 ff., 130 f.) Zu den speziellen Berufspflichten zählen die öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur allgemein-heilkundlichen Fortbildung, eine Schweigepflicht, Dokumentations- und Aufbewahrungspflichten, die Pflicht zur Patientenaufklärung sowie der zwingende Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung. (vgl. Sasse 2011: 131–147) Auch eine staatliche Anerkennung der fachlichen, naturheilkundlichen Weiterbildung i. S. berufsqualifizierender Zusatzbezeichnungen ist verfassungskonform, sofern sie an einzelne naturheilkundliche Therapieformen wie Akupunktur oder Homöopathie gebunden ist. Hiermit erfolgt der Nachweis überdurchschnittlicher theoretischer und praktischer Spezialkenntnisse, was mit einer Anreizerhöhung zur Weiterbildung sowie einer Anhebung fachlicher Kompetenz einhergehen kann. Eine Kanalisierung gemäß dem Gebiet der Weiterbildung widerspricht Art. 12 I GG (freie Berufsausübung) – Heilpraktiker müssen trotz einer Spezialisierung berechtigt bleiben, umfassend naturheilkundlich tätig zu sein. Eine Fortbildungsverpflichtung bezüglich der erworbenen Spezialkenntnisse ist festzulegen. (vgl. Sasse 2011: 147–171)
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
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Weiterhin bildet die staatliche Reglementierung des Gebührenrechts der Heilpraktiker ein wichtiges Instrument zur Professionalisierung des Berufes. Eine konkrete Ausgestaltung des Gebührenrahmens in einer Gebührenordnung wäre verfassungsgemäß. Verbindliche Bezugsgrößen in Unterscheidung zwischen naturheilkundlich erforderlichen sowie darüber hinausgehenden Leistungen objektivieren die Werthaltigkeit der Dienstleistung der Heilpraktiker und stärken die fachlichen Binnenstandards mit einer Standardisierung im Rahmen der festgelegten Richtwerte. Sie schützen zudem Patienten vor wirtschaftlicher Übervorteilung sowie die konkurrierenden Heilpraktiker vor einem existenzbedrohenden Preiskampf. (vgl. Sasse 2011: 172–189) Die Prüfung einer Selbstverwaltungslösung des Heilpraktikerwesens ergab folgende Befunde: Zur Professionalisierung des Heilpraktikerstandes ist eine verpflichtende Verkammerung als essentieller Bestandteil einer Selbstverwaltungslösung vonnöten. Eine Stärkung der Durchsetzung der Interessen des eigenen Berufsstandes erfordert eine einheitliche Interessenvertretung mit berufsordnender Wirkung.45 Hierzu erfüllt das Heilpraktikerwesen die Voraussetzungen; der Eingriff in die Grundrechte der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ist aufgrund legitimer Zwecke zulässig und auch zumutbar. Eine durch Pflichtmitgliedschaft aller Berufsangehörigen demokratisch legitimierte öffentlich-rechtliche Kammer ermöglicht die umfassende autonome Eigenregulierung des freien Berufes des Heilpraktikers. Aufgaben der Heilpraktikerkammer berühren die kollektiven beruflichen Bereiche Standesförderung, -aufsicht sowie -vertretung wie den Erlass und Überwachung der Berufsordnung, die Konkretisierung der Weiterbildungen sowie die Ausgestaltung der Gebührenordnung. Der legitimierte Einbezug der Heilpraktikerschaft i. S. des „spezialisierten Sachverstandes“ (Sasse 2011: 210) stärkt den eigenen Berufsstand, dient dem Patienten- und Allgemeinwohl und entlastet Staat und Verwaltung. (vgl. Sasse 2011: 189–213, 235 f.) Diese Befunde würden die bereits bestehenden aktiven Strukturen der Selbstverwaltung (vgl. Abschn. 2.5) staatlich legitimieren und somit stärken. Sie sollten dem internen Interesse der organisierten Heilpraktikerschaft entgegenkommen, davon ausgehend, diese gestalteten den Diskussionsprozess um die neu zu schaffenden Einrichtungsgesetze aktiv mit. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das berufsrechtliche Verbot der Ärzte bezüglich einer Zusammenarbeit mit Heilpraktikern (über rein organisatorische Zwecke hinaus) nur teilweise verfassungskonform ist. „Ärzten ist zukünftig auch die fachliche Kooperation mit Heilpraktikern zu gestatten, sofern die Einhaltung
45 Zu
den Nachteilen einer freiwilligen Verkammerung vgl. Sasse (2011: 210 ff.).
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Der Beruf des Heilpraktikers
des ärztlichen Fachstandards gesichert ist“ (Sasse 2011: 236). Dies trifft insbesondere im Rahmen der medizinischen Kooperationsgemeinschaften (§ 23b MBO-Ä, der Heilpraktiker ist als Berufsgruppe in den Paragraphen aufzunehmen) zu, da diese den ärztlichen Fachstandard sichern. Sasse spricht sich für den Wissenstransfer, unter Beachtung des ärztlichen Berufsrechts, aus, um Synergieeffekte zwischen beiden heilkundlichen Paradigmen zum Wohle der Patientinnen zu nutzen sowie einer (weiteren) Entfremdung von skeptischen Patienten gegenüber der Schulmedizin entgegenzuwirken. Die, rechtlich mögliche, Ausgestaltung einer Kooperation sichert eine moderne effektive, effiziente und ganzheitliche Gesundheitsversorgung und fördert die Akzeptanz eines eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Patienten. (vgl. Sasse 2011: 213–229, 236)46 Die aufgeführten Befunde zum Berufsrecht der Heilpraktiker, insbesondere unter dem Fokus der Berufsausübung, zeigen die bestehenden Defizite, jedoch auch Chancen und Notwendigkeiten einer Weiterentwicklung konsequent und konkret auf. Sie verweisen zugleich auf die prekäre Lage der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker: Auf kollektiver Ebene ist der Beruf von einer Ausgrenzung aus dem staatlich legitimierten Gesundheitssystem betroffen, verbunden mit einer Entfremdung von erfahrungsbasierter Naturheilkunde und wissenschaftsbasierter Schul-, aber auch naturheilkundlicher Medizin. Dies geht einher mit dem Versuch einer Monopolbildung der naturheilkundlichen (Schul-)Medizin sowie einer Modernisierungsresistenz im Gesundheitswesen in Bezug auf die Naturheilkunde unter Einbezug des Heilpraktikerberufes. Auf individueller Ebene deuten sich zudem die Herausforderungen und Konfliktfelder für die einzelnen Berufsinhaberinnen an: Das Ergreifen des Berufes bleibt individuell erklärungsbedürftig. Ebenso sind die Berufsaneignung und -ausübung je individuell und eigenverantwortlich zu gestalten. Bei Sasse liegt der Fokus auf dem Berufsausübungsrecht. Die Berufsausbildung der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ist Erkenntnisinteresse in der älteren Studie von Hubert Donhauser (1996), die im folgenden Kapitel vorgestellt wird.
2.6.2.2 Studien mit bildungswissenschaftlichem Erkenntnisinteresse Donhauser (1996) analysiert die ungeregelte Ausbildungssituation zum Heilpraktiker und erarbeitet ein Ausbildungsprofil für den Heilpraktikerberuf auf Basis der bestehenden Rechtslage, d. h. mit dem ausdrücklichen Fokus darauf, dass sein 46 Vgl.
ausführlich auch Walburg (2010).
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
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Modell sofort umsetzbar sei. Wie auch Sasse (2011) überträgt er den Gremien der Selbstverwaltung (konkret dem übergeordneten DDH e. V.) zentrale Verantwortung für die Prozesse der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie ihrer Kontrolle. Zuvor grenzt Donhauser den Beruf des Heilpraktikers strikt von dem des approbierten Mediziners ab (vgl. Donhauser 1996: 20). Allerdings ordnet er ihn in einem Versuch professionsbezogener Systematik tendenziell den „Semiprofessionen“ zu. Dies geschieht ebenfalls entlang sowie in Abgrenzung zur Profession Medizin und zeigt erneut das ambivalente Verhältnis zwischen beiden Heilberufen sowie das Dilemma der Orientierung an der Medizin als Leitprofession um den Zentralwert Gesundheit. Die Zuordnung zu den „Semiprofessionen“ verweist zudem auf eine Professionalisierungsbedürftigkeit über ein berufsschulisches Niveau hinaus. Der fehlende Nachweis fachlichen Wissens, auch unter dem Kriterium „akademische[r] Akzeptanz“ (Donhauser 1996: 156), ist für ihn Haupthindernis einer Professionalisierung (vgl. Donhauser 1996: 154 ff.). In seinen theoretischen Grundlegungen bezieht er sich u. a. auf Oevermanns strukturtheoretische Überlegungen (vgl. Oevermann 1996) zum Problem der Vermittlung von wissenschaftlichem (Hintergrund-)Wissen und der Ebene der konkreten Anwendung in der je spezifischen (Praxis-)Situation. Dabei entfaltet Donhauser die historische Trennung der wissenschaftsbasierten akademischen Heilkunde (Schulmedizin) von der erfahrungsbasierten Naturheilkunde des Heilpraktikers, die jeweils eine unterschiedliche Basis für eine Professionalisierung bilden. Die erfahrungsbasierten Wissensbestände werden jedoch nicht expliziert.47 Donhauser
47 Weiterführend zur Differenzierung von Volks- und Erfahrungsheilkunde und Naturheilkunde schreibt Donhauser (1996: 237): „Im Gegensatz zur reinen Volks- und Erfahrungsheilkunde besitzt die Naturheilkunde ein Denkmodell, welches die gesamten menschlichen Belange und Bedürfnisse eines Individuums zusammenfassend betrachtet und berücksichtigt, darauf die Diagnose aufbaut und Therapien ableitet. […] Eine ganzheitliche Therapie eines Heilpraktikers bezieht also psychische wie auch somatisch-physische Elemente mit ein und kann sich z. B. erstrecken von psychologisch intuitiver Gesprächsführung über behandlergestützte Selbstmedikation, bis hin zu komplex verbundenen Therapieverfahren, [sic!] wie z. B. Akupunktur, Homöopathie […]“. Offen bleibt, wie in diesem Denkmodell unter dem Paradigma der Ganzheitlichkeit konkret und systematisch die Einbindung alltagsweltlicher, sozialer und biographischer Dimensionen von Erkrankung und Gesundung sowie die Orientierung an den Ressourcen der Patientinnen erfolgt. Dies bildet ernstzunehmende Notwendigkeit für eine erfolgreiche Heilpraktikerin-PatientinInteraktion in der Alltagspraxis, aber auch für eine Professionalisierung in Abgrenzung zur Schulmedizin. Sie mag bereits jetzt (unreflektierte/unterbeleuchtete) Ressource in der Heilpraktiker-Patient-Beziehung sein, worauf die Studienlage zur Patientenperspektive (vgl. Abschn. 2.6.3) verweist.
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Der Beruf des Heilpraktikers
sieht aber, wieder in Anschluss an Oevermann (1996: 95), den Professionalisierungsbedarf nicht nur in Bezug auf den wissenschaftlichen Diskurs und die Ebene der Anwendung des Wissens in der Praxis (Handlungsebene), sondern auch auf der Beziehungsebene. In Anlehnung an die klassischen Professionsmerkmale48 ist für Donhauser (1996: 158) jedoch wichtigste Empfehlung für den Heilpraktiker als Berufsgruppe, „eine tiefere wissenschaftliche Fundierung seiner Berufsausübung bzw. Tätigkeit zu erstreben“, insbesondere im Kampf um soziale und gesellschaftliche Anerkennung. (vgl. Donhauser 1996: 155 ff.) Donhauser erstellt einen Katalog zu den Berufsqualifikationsanforderungen, differenziert einen curricularen Lehrplan49 auf dem Anspruchsniveau gesundheitsbezogener berufsschulischer (nicht-akademischer) Bildung aus, gibt Hinweise zu begleitenden (Pflicht-)Praktika und dem kontinuierlichen Nachweis erbrachter Leistungen in Aus-, Fort- und Weiterbildung. Bei Letzterem unterscheidet er zwischen der Verleihung von Zertifikaten (nach bestandenem Leistungsnachweis) sowie Teilnahmebescheinigung (bei erfolglosem oder ohne Leistungsnachweis) und bezieht neben dem erforderlichen medizinischen Wissen auch psychologische sowie naturheilkundliche Inhalte auf theoretischer und praktischer Ebene in die Prüfungsinhalte ein (vgl. Donhauser 1996: 227 ff.). Wichtige Qualitätsdimensionen in seinen Überlegungen sind die nachzuweisenden Qualifikationen des Lehrpersonals vor einer Prüfungskommission, deren 48 Professionssoziologisch i. e. S. gilt ein merkmalsorientierter Ansatz als überholt (vgl. Mieg 2016: 28; Pfadenhauer/Sander 2010: 362), da er z. B. stark von der Außensicht auf eine Berufsgruppe und deren Bewertung abhängt (vgl. Seltrecht 2016: 509) sowie eine defizitäre Sicht auf eine Berufsgruppe fördert, wie sich z. B. an der Diskussion um den Begriff der Semiprofession (vgl. Etzioni 1969; dazu ausführlich Schämann 2005: 31 f.) zeigt, anstatt eine differenzierte Auseinandersetzung mit jeweils herausragenden Spezifika beruflichen Handelns und eigener Professionalität zu befördern. Dies betrifft z. B. die Interaktion Professioneller mit ihren Klienten oder Patientinnen, den Umgang mit wissenschaftlichen Wissensbeständen in Auseinandersetzung mit der Berufspraxis (vgl. Dewe 2006: 24 ff.), (berufs-)biographische Dimensionen zur Entwicklung eines professionellen Habitus oder weitere Aspekte der jeweiligen Berufskultur wie typische Wahrnehmungsweisen und Kommunikationsformen der Berufsinhaberinnen (vgl. Terhart 1996). 49 Mit der Begrifflichkeit des curricularen Lehrplanes fasst Donhauser (1996: 178 ff.) die sich ergänzenden Varianten von Lehr- und Lernplanung (Lehrplan und Curriculum). Seine Überlegungen setzen am theoretischen pädagogischen Diskussionsstand der 1970er/1980er Jahre an. Um den Dozierenden der Heilpraktikerschulen einen leichten Anschluss an seine Überlegungen zu ermöglichen, wählt er „eine schon bewährte, eher konservative Einteilungsstruktur [des] curricularen Lehrplanes bzw. der dazugehörigen Matrix und Taxonomien der Lernzielformulierungen“ (Donhauser 1996: 184). Er orientiert sich zudem an den damaligen bayerischen Lehrplänen für nicht-ärztliche Heil- und Heilhilfsberufe.
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
55
Nachweis einer mindestens fünfjährigen Praxiserfahrung sowie der Einbezug von Professionellen aus den anderen staatlichen Heilberufen bzw. der Medizin (vgl. Donhauser 1996: 175 f.). Ebenso öffnet er die schulischen Bildungsmöglichkeiten für Externe, die sich autodidaktisch auf die amtsärztliche Überprüfung vorbereiten, aber auf diese Weise den eigenen Leistungsstand und -fortschritt kontrollieren und kontinuierlich nachweisen könnten (vgl. Donhauser 1996: 177). Eine hohe Fachkompetenz voraussetzend, entwickelt Donhauser seinen curricularen Lehrplan entlang der Kategorien Lernziele, Lerninhalte und Hinweise (z. B. zur Methodik und Lernzielkontrolle) so, dass eine didaktische und methodische Freiheit der Lehrkräfte zur individuellen Unterrichtsgestaltung erhalten bleibt (vgl. Donhauser 1996: 180 f.) sowie eine Verschränkung verschiedener Lehrplaneinheiten untereinander und der Austausch dieser unter Beachtung verfügbarer Wissensgrundlagen der Lernenden ermöglicht werden. Die vorgeschlagenen Lehrplaneinheiten zu naturheilkundlichen Diagnostik- und Therapieverfahren bleiben vorbehaltlich berufsfeldspezifischer Anforderungen, interessenbedingter oder gesetzlicher Änderungen sowie gesundheitsbezogener Bedarfe (vgl. Donhauser 1996: 185 f., 222 ff.). Der Lernzielformulierung liegen die vier Schwerpunkte personaler Bildung Wissen (Information), Können (Operation), Erkennen (Probleme) und Werten (Einstellungen) zugrunde, die zudem nach einzelnen Niveaustufen unterschieden werden (vgl. Donhauser 1996: 183 f.). Über den Erwerb fachspezifischer Kompetenz hinaus sollen die Teilnehmenden z. B. befähigt werden, den Heilpraktikerberuf gesamtgesellschaftlich einzuordnen sowie in einer Praxis selbstständig und eigenverantwortlich je nach situativer Anforderung angemessen zu agieren. Hierzu verweist Donhauser auf implizite und explizite Fähigkeiten (vgl. Donhauser 1996: 184). Für sein Unterrichtskonzept schlägt Donhauser (1996: 178–226, 186) zwei Ausbildungsmodi vor: den ganztägigen Vollzeitunterricht über drei Jahre mit 3.000 Lehreinheiten (sechs Semester mit je 500 Stunden) sowie den berufsbegleitenden Unterricht, ggf. bei medizinischer Vorbildung, über zwei Jahre mit 2.000 Unterrichtsstunden (vier Semester mit je 500 Stunden). Vor- und nachgelagert plädiert er für (freiwillige) orientierende Berufspraktika sowie Assistenzpraktika, allgemein im Krankenhaus, der Notfallmedizin, einer Heilpraktiker-Praxis und/oder einem schuleigenen Ambulatorium, wie sie in ähnlicher Weise in akademischen und nicht-akademischen Gesundheitsberufen staatlich geregelt sind (vgl. Donhauser 1996: 231 ff.). Zum Modell von Donhauser lässt sich abschließend festhalten, dass es erstmalig und konkret ein didaktisches und methodisches Modell einer beruflichen nicht-akademischen Ausbildung zum Heilpraktiker bildet, unter Einbezug
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2
Der Beruf des Heilpraktikers
autodidaktisch Lernender, damit auch diese ihren Lern- und Ausbildungsstand kontinuierlich evaluieren können. Fraglich bleibt die Durchschlagskraft seiner Überlegungen vor dem Hintergrund der fehlenden gesetzlichen Verpflichtung und normativen Regelung. Da sich in den letzten Jahren auch die Curriculumforschung theoretisch und praktisch, insbesondere im Zuge der Professionalisierung im Gesundheitsbereich, entscheidend weiterentwickelt hat, ist davon auszugehen, dass die Überlegungen zudem zum gegebenen Zeitpunkt an neuere Konzepte anzupassen bzw. weiterzuentwickeln sind. Hierzu kann sich z. B. zunächst an der Handreichung der Kultusministerkonferenz zur Erstellung von Rahmenlehrplänen des berufsschulischen Unterrichts (vgl. KMK 2018) orientiert werden. Um Theorie und Praxis stärker zu verzahnen und die Mehrdimensionalität moderner Lebens- und Arbeitswelten zu fassen, werden Rahmenlehrpläne seit 1996 nach Lernfeldern strukturiert. Hiermit wurde die Perspektive gewendet, weg von der Vermittlung fachwissenschaftlicher theoretischer Inhalte und deren Verdeutlichung an praktischen Beispielen hin zu einer didaktischen Ausdifferenzierung beruflicher Aufgaben und Problemstellungen entlang des spezifischen beruflichen Handlungsfeldes mit der Integration fachwissenschaftlicher Wissensbestände in die übergreifende Handlungssystematik. Zentraler Bildungsauftrag der Berufsschule ist hierbei die Beförderung einer umfassenden Handlungskompetenz, die sich berufsbezogen und berufsübergreifend ausdifferenziert. Sie „wird verstanden als die Bereitschaft und Befähigung des Einzelnen, sich in beruflichen, gesellschaftlichen und privaten Situationen sachgerecht durchdacht sowie individuell und sozial verantwortlich zu verhalten“ (KMK 2018: 15). Handlungskompetenz vereinigt die Dimensionen der Fach-, Selbst- und Sozialkompetenz. Immanenter Bestandteil aller Kompetenzdimensionen sind die Methodenkompetenz, die kommunikative Kompetenz sowie die Lernkompetenz. (vgl. KMK 2018: 10 ff., 14 ff.) Ferner werden im konkreten schulischen Kontext die Inhalte und Methoden weiter auszudifferenzieren sein. Sie wiederholen sich bei Donhauser oft begrifflich und zielen vorrangig auf den kognitiven Aspekt des Wissenserwerbs. Aufgrund der Spezifik der Ausbildung und Ausübung des Heilpraktikerberufes, sowie in Anschluss an die neueren erwachsenenpädagogischen Überlegungen auf Basis des Konstruktivismus und einer Biographieorientierung rückt zudem aus didaktischer Perspektive der individuelle Lern- und Aneignungsprozess in den Fokus – mehr als die vermittelnde Perspektive der Lehrenden. Der individuelle (biographische) Lernprozess bildet entscheidende Ressource für alle weiteren Lernprozesse. Institutionalisierte Bildungsangebote treffen auf die vorherig gesammelten Lern- und Bildungserfahrungen und werden an und in diese eingepasst. Somit gestalten die Lernenden aktiv, eigenverantwortlich und in je
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spezifischer Weise ihren eigenen Lernprozess, der von den Lehrenden mit offenen Angeboten und Möglichkeitsräumen unterstützt werden sollte. (vgl. Alheit 2019: 169 ff.) Dies stellt besondere didaktische und curriculare Anforderungen an eine Bildungsarbeit mit Erwachsenen vor ungeregelten Rahmenbedingungen und offenen beruflichen Wissensbeständen, wie es auf den Heilpraktikerberuf zutrifft. Die eben dargestellten Überlegungen zur inhaltlichen und methodischdidaktischen Ausdifferenzierung einer Ausbildung, Donhausers anzustrebendes Ziel der Professionalisierung entlang und neben der Medizin, aber auch die zukünftige Stellung des Berufes im Kanon der Gesundheitsberufe und Professionen, berühren auch die Frage, ob eine Heilpraktikerausbildung im Zuge einer gesetzlichen Regelung von Beginn an auf akademischem Niveau anzusiedeln ist.50 Eine stringente gesetzliche normative Regelung eines staatlich anzuerkennenden akademischen Heilberufes wäre hierfür Grundbedingung, ebenso die Ausdifferenzierung des besonderen Berufswissens als notwendige Voraussetzung für das eigene professionelle Handeln (vgl. Kurtz 2007: 501 f.), im Weiteren aber auch die Rekonstruktion der eigenen beruflichen Handlungslogiken, um diese z. B. mit professionellen Handlungslogiken in Bezug zu setzen (vgl. Helsper 2016; Schütze 2014, 1996; Dewe 2009; Dewe/Otto 2012). Aktuell deutet jedoch vieles darauf hin, dass die soziale, institutionelle und gesellschaftliche Sonderkonstruktion des Heilpraktikers in seiner Beharrlichkeit Bestand haben wird, was innovative, institutionalisierte bildungswissenschaftliche und professionstheoretische Überlegungen zunächst in den Hintergrund treten lässt.
2.6.3
Studien zur Perspektive der Patientinnen und Patienten
Neben den Studien, die sich mit Dimensionen der beruflichen Rahmenbedingungen und Praktiken des Heilpraktikers auseinandersetzen, stellen weitere die Patientenperspektive in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Die Forschungsfragen werden hauptsächlich innerhalb medizinischer Kontexte gestellt und berühren die Weiterentwicklung der eigenen Profession bezüglich des ArztPatient-Verhältnisses, aber auch bezüglich der Etablierung des professionseigenen Feldes der Alternativ- und Komplementärmedizin. Diese hat sich in den letzten 50 Wissenschaftliche Bedarfserhebungen und versorgungsrelevante Modellrechnungen könnten klären, ob eine Voll- oder Teilakademisierung (sowie der Anteil akademisch zu Qualifizierender bei Letztgenanntem) angestrengt werden sollte. Eine klare Positionierung für einen Professionalisierungsprozess von Seiten der berufspolitischen Vertreter kann und muss den Prozess, in dem konträre Positionen zwischen den relevanten Akteursgruppen anzunähern sind, von innen heraus unterstützen.
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Der Beruf des Heilpraktikers
Jahren in Wissenschaft und Praxis zunehmend etabliert, was sich wissenschaftlich in der Zunahme spezifischer Forschung zeigt. Im Zuge der Diskussion um den Heilpraktikerberuf, den subjektiven Bedarfen der Patientinnen an naturheilkundlichen und alternativen Verfahren sowie Hinweisen auf unerforschte Wirkungen bzw. Potenziale neuer Versorgungsansätze, aber auch eines anderen Arzt-Patient-Verhältnisses mag der Heilpraktikerberuf i. S. eines ‚Ansporns‘ fungiert haben, die professionseigenen Fragestellungen gezielter voranzubringen, um relevante Therapieverfahren genauer kennenzulernen und nutzbar zu machen sowie letztendlich den Heilpraktikerberuf in seiner Bedeutung in den Hintergrund zu drängen. Es gibt nur wenige Studien, die aus Sicht der Komplementärmedizin den Heilpraktikerberuf gezielt einbeziehen. Je neuer die Studienlage aus der Komplementärmedizin wird, umso mehr wird diese ohne den gesonderten Ausweis des Heilpraktikers als ‚Anbieter‘ naturheilkundlicher und komplementärer Heilverfahren gefasst. Die folgenden Ausführungen zeigen zentrale Studienergebnisse aus Sicht der Patientinnen und Patienten. Riese (1979: 5 f.) befragte 30 Patientinnen und Patienten in NordrheinWestfalen (standardisierte, nicht-repräsentative Fragebogenerhebung) u. a. nach Gründen für ihren Heilpraktikerbesuch, vorangegangenen schulmedizinischen Behandlungen, ihrem Beschwerdebild, Länge und Erfolg der Therapie sowie den angewandten Methoden. Er arbeitet heraus, dass zwar alle befragten Patienten vor der heilpraktischen Behandlung bei einem schulmedizinischen Haus- oder Facharzt in Behandlung waren, sich diese Behandlungen jedoch bei 93 % der Befragten als erfolglos erwiesen und zum Aufsuchen eines Heilpraktikers führten. In diesem Zusammenhang gaben 7 % der Befragten an, ein größeres Vertrauen zum Heilpraktiker als zum Arzt zu haben. Die Befragten kamen also mit rekurrierenden oder überwiegend chronischen Beschwerden zum Heilpraktiker, worauf der Fakt der erfolglosen Vorbehandlung sowie die ermittelten Daten zu den Erkrankungen verweisen: Dies sind u. a. rheumatische und Wirbelsäulen-Beschwerden (50 %), Herz-Kreislauferkrankungen (40 %); Krankheiten der Verdauungsorgane (27 %); Kopfschmerzen und Migräne sowie Blasen- und Nierenerkrankungen (jeweils 20 %); Asthma; Nervosität und Übererregbarkeit; Ulcus cruris sowie allgemeines Unwohlsein und Erschöpfung (jeweils 17 %). Die meisten Befragten befanden sich seit einem Jahr und länger bzw. seit vier bis acht Wochen in heilpraktischer Behandlung (jeweils 40 %). Alle weiteren Befragten waren zum Befragungszeitpunkt erst kurz in Behandlung. Die Hälfte der Befragten (50 %) gab eine Besserung ihrer Beschwerden an, weitere 20 % eine vollständige Heilung, während 30 % der Befragten keine Besserung bemerkte. Die Patienten bestätigen
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die diagnostische Bedeutung der Anamnese und Irisdiagnostik, die bei allen Anwendung fand. (vgl. Riese 1979: 28 ff.) In der Diskussion bleibt bei Riese unreflektiert, dass die überwiegende Mehrheit von 93 % der Befragten keine Besserung durch die schulmedizinische Vorbehandlung erfuhr, aber auch der Vertrauensverlust in die Schulmedizin durch einen kleinen Teil der Befragten. In der Auseinandersetzung mit den einzelnen therapeutischen Verfahren der alternativen Heilkunde, wie der Homöopathie, dem maßgeblich angewandten Therapieverfahren der befragten Patienten, gesteht Riese diesen zwar Erfolge zu, geht aber letztlich von einer suggestiven Wirkung aus und davon, dass diese Therapie im Gegenzug auch Patientinnen und Patienten benötige, die dafür empfänglich seien. (vgl. Riese 1979: 70 ff.) Dorothea Rogalla und Annemarie Wollert (1980) untersuchen in einer vergleichenden quantitativen standardisierten Befragung von 100 Patientinnen und Patienten in zwei Heilpraktiker-Praxen ebenfalls Gründe für einen Heilpraktikerbesuch, aber auch die Verhaltensweisen und Persönlichkeitsstruktur sowie Erwartungen und Erfahrungen der Patientinnen, um Rückschlüsse bezüglich des Arzt-Patient-Verhältnisses zu ziehen. Von den Befragten waren 70 % Frauen. Sie wünschen sich eine natürliche Medizin und hoffen auf dauerhaften Therapieerfolg. Die hauptsächlichen Beschwerden betreffen das Herz-Kreislauf- und Lymphsystem sowie Muskel- und Skelettsystem. 80 % der Befragten sind gleichzeitig auch in ärztlicher Behandlung, 73 % mit denselben Beschwerden, was auf eine ergänzende Therapie von Schulmedizin und naturheilkundlicher Therapie, keine klare Entweder-oder-Position zur Wissenschaft bzw. naturheilkundlichem Selbstheilungsparadigma, schließen lässt. 89 % der Befragten haben ihren Arzt nicht über die heilpraktische Behandlung informiert. Der Behandlungserfolg des Heilpraktikers ist sehr hoch und steht in positivem Zusammenhang zu seiner geduldigen und einfühlsamen Persönlichkeit und offenen Kommunikation. Demgegenüber steht das weniger menschlich-persönliche Engagement des Arztes, das zu einem geringeren Behandlungserfolg beitrage. Die Patientinnen, die unzufrieden mit ihrem Arzt sind, geben eine besonders deutliche Besserung ihrer Beschwerden durch die heilpraktische Behandlung an. Zu einer gelungenen Kommunikation und ausreichend Behandlungszeit kommen kurze Wartezeiten hinzu. Auch die Compliance steht in direktem Zusammenhang zum Arzt-/Heilpraktiker-Patient-Verhältnis. (vgl. Rogalla/Wollert 1980: 1 f., 42 ff., 86, 91 ff.) Rogalla/Wollert (1980: 111) arbeiten auch eine Passung der Persönlichkeitsstruktur ihrer Patientinnen mit dem Heilpraktiker heraus: Die überwiegend introvertiert-instabile Persönlichkeitsstruktur der Patientinnen träfe auf eine extrovertiert-stabile Persönlichkeitsstruktur der beiden Heilpraktiker.
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Der Beruf des Heilpraktikers
Sie reflektieren die Zusammenarbeit von Medizin und Heilpraktikerschaft anhand der Befunde zur gleichzeitigen Behandlung, aber auch fehlenden Information der Patientinnen über den Heilpraktikerbesuch dahingehend, dass eine Offenheit von Seiten des Arztes ein erster Schritt zu einem besseren Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient sein und eine Zusammenarbeit beider Heilberufe die Bedingungen für eine erfolgreiche Therapie verbessern könne (vgl. Rogalla/Wollert 1980: 119 ff.). Ausgehend von diesen älteren Studien spezifizieren weitere die Fragestellungen aus, sodass sich spezifische Trends über den Zeitverlauf herausarbeiten lassen. Walter Hewer (1980) vergleicht in einer geschlossenen Fragebogenerhebung von 78 Arzt- und 59 Heilpraktiker-Patienten die Arzt-Patient-Beziehung mit der Heilpraktiker-Patient-Beziehung. Beide Patientengruppen erwarten eine patientenzentrierte Behandlung und dies z. B. gleichermaßen von ihrem Arzt und Heilpraktiker in Bezug auf die verfügbare Zeit und Aufklärung. Der Heilpraktiker kommt diesem Bedürfnis jedoch (statistisch hochsignifikant) subjektiv besser entgegen: Er nimmt sich viel Zeit, auch für die Besprechung von Sorgen und Nöten und hört seinen Patienten zu. Insgesamt ist der Wunsch nach dem Einbezug psychosozialer Faktoren bei den Heilpraktiker-Patienten größer. Die Arzt-Patienten äußern sich differenzierter, zwar auch überwiegend positiv, jedoch lässt sich ein Verbesserungsbedarf der Arzt-Patient-Beziehung ableiten. Hewer verweist auf die Bedeutung subjektiver Krankheitsdimensionen sowie einer tragfähigen Beziehung zwischen Arzt und Patient und ihres Potenzials, z. B. in Abwesenheit spezifischer Therapiemöglichkeiten. Aus diesem Grund regt er zudem an, sich intensiver mit Theorie und Praxis der alternativen Heilverfahren auseinanderzusetzen. (vgl. Hewer 1980: 33 ff., 58 ff., 67 ff.) Auch bei Hewer (1980: 62 ff.) gehen eher ältere Patientinnen mit chronischen somatischen Erkrankungen zum Heilpraktiker; er findet keinen Hinweis auf psychische Auffälligkeiten gegenüber der Normalbevölkerung. Peter Sawade (1984: 200) arbeitet in seiner Befragung von 100 Berliner Heilpraktikern und 436 ihrer Patienten ebenfalls den positiven Zusammenhang des Behandlungserfolgs des Heilpraktikers mit seiner Patientenzentrierung heraus – ausgedrückt z. B. in einem hohen Grad an Partnerschaftlichkeit und Mitbestimmung51 bei der Therapieentscheidung, einem unbedingten Verständnis
51 Zur positiven Bewertung einer aktiven Rolle, Autonomie und Selbstverantwortung durch die Patienten bei Anwendung von Phytotherapie im Vergleich zur chemischen Medikation vgl. die Studie von Joos et al. (2012).
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
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sowie Ernstnehmen der Beschwerden, aber auch der ausreichenden Behandlungszeit (vgl. Sawade 1984: 46, 50 ff.). Dieser Zusammenhang ist umso deutlicher, je unbefriedigender die vorherige schulmedizinische Behandlung war. Je größer das Vertrauen in den Heilpraktiker ist, desto seltener gehen seine befragten Patienten zum Arzt (vgl. Sawade 1984: 32). Zudem fand er Hinweise darauf, dass ein Großteil der Erfolge mit dem Absetzen von Chemotherapeutika bzw. ihrem Ersatz durch Naturheilpräparate zusammenhängt. Spezifische Einflüsse sonstiger Therapien auf den Behandlungserfolg kann er nicht nachweisen. Die hauptsächlich angewandten Verfahren bei den von ihm Befragten sind Homöopathie, Akupunktur und Neuraltherapie (vgl. Sawade 1984: 38). Wie Rogalla und Wollert (1980) kann Sawade (1984: 41 f.) eine hohe Compliance der Patienten bezüglich der Hinweise und Anweisungen ihrer Heilpraktiker nachweisen. Er verweist allerdings darauf, dass auch die positiv bewertete Heilpraktiker-Patient-Beziehung differenziert zu betrachten ist; z. B. bestätigen nur 53 % (ca. die Hälfte) eine Mitbestimmung bei der Therapieentscheidung. Die Einschätzung von Ausdrucksweise/Verständlichkeit ist schichtabhängig: Dort sinkt die Zustimmung mit zunehmendem Bildungsgrad, so wie im Gegenzug Unterschichtangehörige die mangelnde Verständlichkeit der ärztlichen Sprache beklagen (vgl. Sawade 1984: 37, 179 f.). Auch die bei Sawade befragten Patienten waren fast alle vorher beim Schulmediziner, die meisten parallel, und es zeigt sich zwar eine kritische Einstellung gegenüber der ärztlichen Behandlung, jedoch keine generelle Ablehnung (vgl. Sawade 1984: 174 f.). Norbert Marquardt (1995) sowie Bühler, Haltenhof und Marquardt (1996) erarbeiten am Beispiel von Patienten mit rheumatoider Arthritis die Frage, wer zum Heilpraktiker geht. Ihre Fragebogenerhebung von 211 Patienten (134 Fragebögen wurden ausgewertet) in rheumatischen Kliniken führt zum Ergebnis, dass eine positive Einstellung zum Heilpraktiker einhergeht mit der Erfahrung, dass Ärzte ihnen schon einmal nicht helfen konnten. Auch die Glaubwürdigkeit der Ärzte bzw. das Vertrauen in sie wird von den Heilpraktiker-Befürwortern niedriger eingeschätzt. Die in der Auswertung gebildete Gruppe der ehemaligen Heilpraktiker-Patienten zeigt die negativste Meinung gegenüber den Heilpraktikern: Sie sind von den unkonventionellen Behandlungen enttäuscht und schätzen ihren Arzt im Gegenzug wieder besser ein (vgl. Bühler et al. 1996: 31). Dabei wird die Expertise von Heilpraktikern von den Befürwortern, ehemaligen Heilpraktiker-Patienten, Gegnern und potenziellen Nutzern ähnlich eingeschätzt. Die ärztliche Expertise wird von den Heilpraktiker-Nutzern niedriger eingeschätzt als von den Gegner sowie potenziellen Nutzern. Für die Frauen konnte nachgewiesen werden, dass ein hoher Beschwerdedruck dazu führt, neben der ärztlichen Behandlung nach Alternativen zu suchen. Ein besonders gesundheitsförderliches
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Der Beruf des Heilpraktikers
Verhalten der Heilpraktiker-Patienten oder ein anderes Verständnis von Gesundheit und Krankheit konnte nicht nachgewiesen werden. (vgl. Bühler et al. 1996: 31 f.; Marquardt 1985: 85 f.) Verschiedene Hinweise in jüngeren Studien, dass nicht mehr nur Ältere zum Heilpraktiker gehen, sowie die Befunde, dass chronisch Kranke andere Bedarfe in Bezug auf eine gesundheitliche Versorgung haben könnten, lassen Anja Schneeloch (1998) in ihrer nicht-repräsentativen, quantitativen Fragebogenerhebung von 100 Heilpraktiker-Patienten zwischen 20 und 39 Jahren versorgungsrelevante Fragestellungen bearbeiten. In ihre vergleichende Gesamtbetrachtung bezieht sie vorangegangene Studien sowie demoskopische Umfragen zur medizinischen Versorgung ein (vgl. Schneeloch 1998: 28). Auch in ihrer Studie bestätigt sich der Wandel der Altersstruktur der Patienten: Bei niedergelassenen Ärzten sind deutlich mehr ältere Patienten als in Heilpraktiker-Praxen. Beide Versorgungsstrukturen werden eher von Frauen in Anspruch genommen, dabei kommt die Heilpraktiker-Klientel eher aus höheren sozialen Schichten (höheres Bildungsund Einkommensniveau). Letzteres gilt auch für die Patienten, die alternative Heilverfahren beim Arzt nutzen. Alle Heilpraktiker-Patienten finden auf informellem Wege, durch Empfehlung, zu ihrem Heilpraktiker (vgl. Schneeloch 1998: 76). Die meisten Heilpraktiker-Patienten finanzieren ihre Behandlungen privat, eine große Kostentoleranz konnte abgeleitet werden (für ärztliche alternativmedizinische sowie, im Speziellen, Heilpraktikerbehandlungen) (vgl. Schneeloch 1998: 36, 90 ff.). Die meisten Patienten (80 %) haben vorher eine oder mehrere (erfolglose) ärztliche Behandlungen in Anspruch genommen. Selten (18 %) sind sie gleichzeitig mit ihren Erkrankungen in ärztlicher und heilpraktischer Therapie. Dies betrifft endokrine Störungen, aber auch Erkrankungen an Herz und Gefäßen, die vermutlich eine rezeptpflichtige medikamentöse Therapie erfordern, die Heilpraktikern untersagt ist. Während jedoch nur gut die Hälfte der Patienten ihren Arzt über die heilpraktische Behandlung informiert, wissen alle befragten Heilpraktiker von der ärztlichen Vor- oder Mitbehandlung. Die Patienten wählen ihren Behandler gezielt nach ihren Beschwerden aus: Akute (banale) und potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen führen sie zum Arzt; chronische und psychische Beschwerden zum Heilpraktiker (vgl. Schneeloch 1998: 104 f.). Die häufigsten genannte Beschwerden haben muskuloskeletale Ursachen (bei 40 % der Patienten; davon geben 60 % Rücken- und Wirbelsäulenbeschwerden an), gefolgt von psychischen und geistigen Störungen (bei 36 % der Befragten; z. B. Angst, Nervosität, Unruhe, Depression) (vgl. Schneeloch 1998: 37 f.). Neben der Erfolglosigkeit schulmedizinischer Therapie zeigt sich hierbei das Bedürfnis nach einer ganzheitlichen, nebenwirkungsarmen, naturheilkundlichen Medikation sowie das
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
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größere Vertrauen in die Naturheilkunde, verbunden mit einer größeren Skepsis gegenüber chemischen Medikationen52 , im Vergleich zur Normalbevölkerung. Zudem zeigen die befragten Patienten in dieser Studie ein größeres Gesundheitsbewusstsein, im Vergleich zur Normalbevölkerung (vgl. Schneeloch 1998: 62 ff.). Auch diese Studie bestätigt, dass das Arzt-Patient-Verhältnis Defizite aufweist, die die jüngeren Patientinnen zum Wechsel zu einer Heilpraktikerin veranlassen: Von Bedeutung sind hier insbesondere das Zeit haben und Interesse am ganzen kranken Menschen, einschließlich seiner persönlichen Lebensbedingungen, das partnerschaftliche Verhalten, das die Patientinnen aktiv einbezieht, sowie die Information in einer verständlichen Sprache (vgl. Schneeloch 1998: 52 ff.). In diesem Zusammenhang verweist Schneeloch auf die strukturellen Rahmenbedingungen kassenärztlicher Versorgung, die den Arzt benachteiligen. In ihren Überlegungen zur weiteren Versorgung stehen der Umgang mit dem chronischen Kranksein im Fokus sowie die zunehmende Bedeutung psychologischer Beschwerden und psychischer Erkrankungen – Beides dominiert die Heilpraktiker-Klientel und diese scheint sich beim Heilpraktiker besser aufgehoben zu fühlen. In diesem Zusammenhang verweist Schneeloch auf die Notwendigkeit verbesserter Aus- und Fortbildungen, die eine über eine Symptomlogik hinausgehende Lehre vom kranken Menschen i. S. von Weizsäckers (1987, 1999) einbinden, und über eine präventives Leitbild unter aktiver Einbeziehung des Patienten vs. eines kurativen nachdenken. Hierzu gehört auch die vertiefte Auseinandersetzung mit den alternativen Heilverfahren. Zudem braucht es angemessene finanzielle Rahmungen, um mehr Raum für eine gelungene Arzt-Patient-Interaktion in der hausärztlichen Versorgung zu ermöglichen. (vgl. Schneeloch 1998: 43 ff., 80 ff., 121 ff., 134 ff.) Über die bisher vorgestellten Studien zu allgemeinärztlichen oder internistischen Patienten hinausgehend, befragten Joachim Demling et al. (2002) 473 psychiatrische stationär aufgenommene Patienten zu deren Inanspruchnahmeverhalten heilpraktischer Behandlungen, angewandte diagnostische und therapeutische Verfahren (vgl. Abschn. 2.6.1), ihre Zufriedenheit sowie die eingeschätzte professionelle Kompetenz der besuchten Heilpraktikerinnen. Die Auswertung der standardisierten Fragebögen ergab: 37 % der Befragten hat bereits mindestens einmal einen Heilpraktiker in Anspruch genommen – die überwiegende Mehrheit mehrmals den gleichen – ein Viertel mit der aktuellen psychiatrischen Erkrankung. 67 % wussten zu dem Zeitpunkt auch um ihre Erkrankung. Soziodemographisch bestätigte sich auch in dieser Studie, dass mehr Frauen den 52 Vgl.
hierzu auch Joos et al. (2012) am Beispiel der Phytotherapie.
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2
Der Beruf des Heilpraktikers
Heilpraktiker besuchen; das Durchschnittsalter betrug etwa 43 Jahre, die Personen mit dem höchsten Schulabschluss besuchen den Heilpraktiker weniger häufig. Patienten mit affektiven (z. B. Depressionen) und neurotischen Störungen besuchen den Heilpraktiker häufiger als jene mit Schizophrenie und Suchterkrankungen. 28 % der Patienten, die den Heilpraktiker besuchten, taten dies aufgrund der aktuellen Beschwerden, 47 % ausschließlich aufgrund somatischer Beschwerden, 9 % aufgrund unspezifischer (psychologischer) Symptome wie Angst, Schlaflosigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten und 16 % wegen einer Kombination aus physischen und nicht-physischen Beschwerden, die nicht in Bezug zur aktuellen psychiatrischen Diagnose gesetzt wurden. (vgl. Demling et al. 2002: 194 ff.) Die Einstellungen zur professionellen Kompetenz der Heilpraktikerinnen im Vergleich zur medizinischen fallen zusammenfassend bei den HeilpraktikerNutzern besser aus als bei den Nicht-Nutzern, insbesondere wenn Erstere häufig zum Heilpraktiker gehen. Es finden sich Hinweise, dass sozial stärker eingebundene Personen die Kompetenz höher einschätzen, jedoch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Diagnosegruppen. Signifikant fällt der Unterschied z. B. bezüglich der Meinung aus, ob bei schweren Erkrankungen ein Heilpraktiker aufgesucht werden solle: Dies lehnen Befragte mit höherem Bildungsstand eher ab. Die Zufriedenheit mit dem Heilpraktiker korreliert in allen geprüften Items positiv mit der Häufigkeit der Besuche, Frauen sind zudem mit ihren Heilpraktikern zufriedener als Männer. (vgl. Demling et al. 2002: 197 f.) Dass Patienten mit psychischen Auffälligkeiten häufiger NHV/CAM nutzen bzw. zum Heilpraktiker gehen, wird in den Studien immer wieder diskutiert. Demling et al. (2002: 199) führen ihr Ergebnis, dass Patienten mit affektiven und neurotischen Störungen mehr den Heilpraktiker aufsuchen als Patienten mit Schizophrenie und Suchterkrankungen, darauf zurück, dass diese Störungen mit einem höheren Bedarf einhergehen, Hilfe von außen zu suchen. Bezüglich der Einstellung der Heilpraktiker-Nutzer zu alternativen Heilverfahren fällt das Ergebnis auf, dass 51 % der Befragten erst dann für den Einsatz chemischer Medikamente sind, nachdem Phytotherapeutika versagt haben. Während das Pendeln diagnostisch abgelehnt wird, scheint eine große Gruppe der Befragten die Iridologie53 als diagnostische Methode zu befürworten. Bei der Homöopathie geht eine Mehrheit davon aus, dass der Glaube die Wirkung bestimmt. (vgl. Demling et al. 2002: 197 f.) 53 Insbesondere in den älteren Studien von Riese (1979) und Prokop (1980) wird die starke Kontroverse bezüglich dieser Methode deutlich; vgl. auch Demling et al. (2002: 199). Ernst (2000) findet keine Wirksamkeitsnachweise in den von ihm ausgewerteten Studien. Zur humoralpathologischen Fundierung der Methode vgl. Garvelmann (2018, 2018a).
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
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Krug et al. (2016) analysieren in ihrer Querschnittsstudie die Fragebögen von 567 Patienten von Heilpraktikern sowie Allgemeinärzten, die teilweise komplementäre und alternative Verfahren anwenden, zu ihrem Versichertenstatus, Gesundheitsverhaltens und Krankheitssymptomen. Hierzu vergleichen sie drei Gruppen von Patienten: 91 von 11 Heilpraktikern, 223 von 15 Allgemeinärzten, die CAM praktizieren, sowie 253 von 19 Allgemeinärzten, die keine CAM praktizieren. Soziodemographisch bestätigt die Studie, dass vorrangig Frauen sowie Personen mit höherem Bildungsstatus zum Heilpraktiker gehen. HeilpraktikerPatientinnen zeigen zudem die bereits am längsten andauernden Symptome (mehr als 40 % über fünf Jahre) und bestätigen damit, dass chronisch Erkrankte nach alternativen Hilfen suchen und zum Hauptklientel des Heilpraktikers gehören. Heilpraktiker-Patientinnen suchen zudem häufiger verschiedene Ärzte und andere Heilpraktiker auf als die Arzt-Patientinnen. Die hauptsächlichste Beschwerdegruppe aller drei Patientengruppen sind die Muskel-Skelett-Erkrankungen. Hinzu kommen bei den Heilpraktiker-Patienten die psychologischen, weniger oft die Atemwegsbeschwerden. Zudem zeigen sie ein hochsignifikant besseres Gesundheitsverhalten (Rauchverhalten, körperliche Aktivität sowie Selbsteinschätzung eigenen Gesundheitsbewusstseins) im Vergleich zu den Patienten von Ärzten, die keine CAM anbieten. Die Autorinnen diskutieren verschiedene Gründe, warum Heilpraktiker-Patientinnen sich teilweise so verschieden von den anderen Nutzerinnen des Gesundheitssystems verhalten und sich z. B. von der Schulmedizin abwenden, auch wenn diese CAM, zumal dieselben Methoden, anbietet. Zum besseren Verstehen dieser Orientierungen schlagen sie qualitative Studien vor (vgl. Krug et al. 2016: 5). Auch diese medizinische Studie endet mit einem Plädoyer für eine Neuordnung des Heilpraktikerwesens vor dem Hintergrund der steigenden Heilpraktiker-Zahlen. Diese hätten mittlerweile fast der Zahl der niedergelassenen Allgemeinmediziner erreicht, verfügten dabei jedoch nicht über eine regulierte Ausbildung, um z. B. den Bedarfen der steigenden Patientenzahlen mit chronischen und psychologischen Erkrankungen gerecht zu werden.
2.6.4
Zwischenfazit und Forschungslücke
Der Forschungsstand zum Heilpraktikerberuf ermöglicht einen Einblick in die spezifischen Spannungsfelder des Berufes auf einer Makro- und Meso-Ebene, insbesondere aus einer Außenperspektive: die fehlenden Regelungen zur Berufsausund -weiterbildung sowie Berufsausübung, die auf einen Professionalisierungsbedarf mit normativer Neuregelung verweisen, aber auch die Vorbehalte der
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Der Beruf des Heilpraktikers
wissenschaftsorientierten Medizin gegenüber dem parallel existierenden Heilberuf des Heilpraktikers. Zu seinem Standardrepertoire an diagnostischen Verfahren gehört neben einer Anamnese und ggf. körperlichen Untersuchung sowie Labordiagnostik die umstrittene Irisdiagnostik. Zum therapeutischen Standard zählen die Homöopathie, Akupunktur sowie Chirotherapie – Verfahren, die mittlerweile im Rahmen erworbener ärztlicher Zusatzbezeichnungen von den Medizinerinnen und Medizinern selbst angeboten werden. Ein relevanter Teil der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker verfügt über ein vorberufliches Wissen aus einem gesundheitsbezogenen Fachberuf. Zum Heilpraktiker gehen hauptsächlich Frauen, Menschen aus höheren sozialen Schichten und es gibt Hinweise auf deren höheres Gesundheitsbewusstsein im Vergleich zu den Arzt-Patienten. Dabei ist die Suche nach einer nebenwirkungsarmen, natürlichen Therapie von Bedeutung. Die Patienten unterscheiden gezielt, wann sie einen Heilpraktiker aufsuchen und wann einen Mediziner. Vorrangig Patientinnen mit chronischen und psychischen/psychologischen Beschwerden suchen Hilfe beim Heilpraktiker; die jüngste Studie (Kattge et al. 2017) verweist aber auch auf einen hohen Anteil an Schmerzpatienten (unabhängig von der Chronizität). Fast alle Patientinnen und Patienten haben vorher eine schulmedizinische Konsultation/Therapie in Anspruch genommen. Dies verweist direkt auf wahrgenommene Defizite schulmedizinischer Versorgung. Diese zeigen sich vor allem in den eingeschätzten Unterschieden zwischen der Arzt-Patient-Beziehung und der Heilpraktiker-Patient-Beziehung. Letztere wird vor allem mit einer ausreichenden Zeit für den ganzen Menschen, einem hohen Maß an Partnerschaftlichkeit und Wertschätzung, verbunden mit einem hohen Vertrauen in den Heilpraktiker und seine Kompetenz sowie mit einer hohen Compliance bezüglich seiner Therapien, verbunden. Neben diesen Dimensionen des Was fehlt die Erforschung des Wie. Wie konkret zeigt sich das berufliche Handeln, z. B. die Heilpraktiker-Patient-Interaktion in seinen Dimensionen von Wertschätzung, Partnerschaftlichkeit, Aktivierung oder Compliance/Adherence? Dies verweist auf die Notwendigkeit qualitativer Forschungsdesigns, z. B. der Analyse anhand teilnehmender Beobachtungen. Qualitative Studien mögen zudem neue und weitergehende Erklärungen zu den Orientierungen und Einstellungen der Patientinnen geben, warum diese zum Heilpraktiker gehen, und somit beitragen, das Phänomen des Heilpraktikerberufes, auch über die Dimension des anderen Verhältnisses zum Patienten hinaus, besser zu verstehen. Auch die Perspektive des ‚ganzen Menschen‘ bzw. der Ganzheitlichkeit verlangt nach einer empirischen und theoretischen Klärung in Bezug auf den Heilpraktikerberuf.
2.6 Empirie zum Heilpraktikerberuf
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Für die Bearbeitung dieser Fragestellungen sind die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker selbst einzubeziehen. Deren Perspektive fehlt fast durchgehend. Insbesondere die Binnenperspektive der handelnden Akteurinnen und Akteure auf die Aneignung und Ausübung des Berufes kann als Forschungslücke identifiziert werden. Welche Ressourcen und Unterstützungsbedarfe konstruieren und formulieren Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in Bezug auf ihren Ausbildungsweg, aber auch, welche Vorstellungen haben sie zu einer Zusammenarbeit mit der Schulmedizin? Wie sieht ihre Sichtweise zur alternativen Medizin, vertreten durch Schulmedizinerinnen und Schulmediziner, aus? Vor dem Hintergrund der Fülle medizinischen (Grundlagen-)Wissens sowie ungeregelter institutioneller Rahmungen, die eine selbstbestimmte Aneignung relevanten Berufswissens und die individuelle Ausprägung über die Zeit der Berufsausübung erfordern, kann gefragt werden, wie der eigene individuelle berufsbezogene Lern- und Aneignungsprozess aus der Sicht der handelnden Akteure konkret erfolgt. Diese Forschungslücke bildet die Grundlage der Fragestellung dieser Arbeit. Je weniger ein Beruf institutionalisiert ist, also je weniger professionelle Wissensbestände, berufliche Prägungen und Kanonisierungen es im Zuge der Ausbildung gibt, desto mehr ist das einzelne Subjekt herausgefordert, auf eigene Ressourcen und Verarbeitungsstrategien zurückzugreifen. Diese können, vor allem in ihrer kontinuierlichen Entwicklung über die Zeit sowie Anpassung an gesellschaftliche Rahmenbedingungen, biographietheoretisch gefasst werden. Der ungeregelte Ausbildungsweg verlangt den Lernenden hohe Fähigkeiten der Biographizität ab. Ein Scheitern ist dabei nicht auszuschließen. Das Konzept der Biographizität (Alheit 2019 u. a.), welches die einzigartige Logik des Einzelnen fasst, biographische Wissensbestände zu erwerben, zu verarbeiten und zu überformen sowie in stetiger Auseinandersetzung mit den jeweiligen sozialen, gesellschaftlichen Rahmenbedingungen neu auszulegen, fließt in die biographietheoretische Fundierung der Studie ein. Des Weiteren kann die Annahme, dass jeder Einzelne im Zuge der beruflichen Habitualisierung auf eigene, biographisch erworbene Wahrnehmungs-, Deutungsund Handlungsschemata zurückgreift, die sowohl Möglichkeiten eröffnen als auch Grenzen markieren können, mit dem Habituskonzept Bourdieus begründet werden, das den Vergesellschaftungsaspekt des Menschen in den Mittelpunkt rückt. Im Folgenden wird die biographietheoretische Rahmung der Studie entfaltet. Damit wird das konzeptionelle Schema zum Aufmerksamkeitsfokus bei der Datenanalyse beschrieben. Die vertiefte Analyse der Fälle im spiralförmigen
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2
Der Beruf des Heilpraktikers
Theorie-Empirie-Prozess bestätigte die Entscheidung für diese Aufmerksamkeitsrichtungen. Die theoretischen Ausführungen berücksichtigen dabei auch lebensgeschichtlich relevante Aspekte, die im Rahmen professioneller Arbeit in Gesundheitsberufen, speziell auch beim Heilpraktikerberuf, bedeutsam werden: Dies sind die biographischen Konstruktionen in Erkrankungs- und Gesundungsprozessen sowie die Herausforderungen, wenn die biographische Logik auf die der Institutionen trifft. Bezug genommen wird auch auf die Entwicklung der je spezifischen, aber auch kollektiven Professionalität in Verwobenheit mit der eigenen Biographie – den Zusammenhang zwischen Biographie und Profession sowie die Ausbildung eines professionellen Habitus.
3
Theoretische Bezüge
3.1
Das Habituskonzept von Bourdieu
3.1.1
Einordnung und Beschreibung des Habituskonzepts in seiner Komplexität
Dieses Kapitel ordnet das Konzept des sozialen Habitus bezüglich seiner theoretischen und empirischen Dimensionen ein und erklärt es. Da es eng mit den Begriffen Raum und Feld sowie Kapital verbunden ist, werden auch diese kurz beschrieben. Pierre Bourdieu hat sich in seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk1 insbesondere mit den Strukturen und Prozessen sozialer (gesellschaftlicher) Ungleichheit auseinandergesetzt (vgl. Scherr 2014: 284). Hervorzuheben ist hierbei die umfassende Analyse der französischen Kultur, in der Bourdieu (1987) „das ästhetische Urteil und die ästhetischen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster in den Kontext der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheit“ (Liebau 2012: 374) stellt. Hierbei erweist sich der „scheinbar individuelle Geschmack“
1 Bourdieu
steht für ein „dynamisches Verständnis“ (van Essen 2013: 17) seiner theoretischen Konzepte und sieht sie als „Denkwerkzeuge“ (Engler 2003: 231), besonders für die empirische Anwendung, um sich dort, in reflexiver Forschungsabsicht, unter normativer Enthaltsamkeit zu entfalten (vgl. Bourdieu 2006: 261; Engler 2003: 231 f., in der verkürzten Fassung auch Engler 2013). Zur historischen Rekonstruktion des Habituskonzepts im Kontext des Gesamtwerks Bourdieus vgl. Lenger et al. (2013: 15 ff.). Sie betonen die Modifikationen und Weiterentwicklungen zum Habitus im Zuge Bourdieus’ wissenschaftlicher Karriere. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2_3
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3 Theoretische Bezüge
(Liebau 2012: 374) als gesellschaftlich konstruiert und reproduziert. Er bildet „eine der wirksamsten Strategien sozialer Abgrenzung“ (Liebau 2012: 374). Der Geschmack verweist auf den Raum der Lebensstile. Dieser steht in allen Bereichen sozialer Praxis in Wechselwirkungen mit dem sozialen Raum der Positionen (vgl. Scherr 2014: 285). Der Raum der Lebensstile bezieht sich unmittelbar auf den Habitus. Der Habitus ist „Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principum divisionis) dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.“ (Bourdieu 1987: 277 f.). Der Habitus bezeichnet vor allem eine Haltung, „eine besondere Art, die Praxis in ihrer spezifischen und vor allem zeitlichen Logik zu konstruieren und zu verstehen“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 153). Er ist sowohl (unbewusste) strukturierende Struktur („modus operandi“, Bourdieu 1987: 281) der Sichtweisen und Praxisformen der sozialen Wirklichkeit, ihrer Wahrnehmungs-, Deutungsund Handlungsschemata, als auch strukturierte Struktur oder Produkt („opus operatum“, Bourdieu 1987: 281) (vgl. auch von Essen 2013: 36). Der Anschluss des Habituskonzepts Bourdieus an die Konzeption der generativen Grammatik von Noam Chomsky (1969, 1973) ermöglicht es diesem, „in unterschiedlichen Situationen eine unbegrenzte Anzahl von Äußerungen (Handlungen, Praktiken etc.) zu produzieren“ (Lenger et al. 2013: 22), die zwischen einzelnen Personen in der jeweiligen Situation variiert (interpersonelle Differenz), aber stets mit dem eigenen Set an Handlungsmustern übereinstimmt (intrapersonelle Einheit) (vgl. Krais/Gebauer 2002: 32, in Lenger et al. 2013: 22). Exkurs: Bourdieu entwickelte sein Habituskonzept in Abgrenzung zur Theorie des rational handelnden Homo Oeconomicus. Im Habitus wird die historische, soziale und ökonomische Genese verschiedener Formen von Interesse oder auch der entsprechenden Habitusvarianten belegt, die unter jeweils bestimmten ökonomischen und sozialen Bedingungen erworben werden und die notwendig sind, „um die potentiellen Chancen, die formal für alle da sind, auch wahrnehmen und nutzen zu können“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 158). Dies passiert jeweils nur in einem bestimmten Umfang. Hiermit wird gleichzeitig auch Bourdieus Abgrenzung zum Subjektivismus deutlich, indem der Habitusbegriff das Handeln als planvolle Ausführung in bewusster Absicht des freien Willens zum eigenen Nutzen einschränkt. Theoretische Intention hinter dem Habituskonzept ist, „sich zugleich der Theorie des Subjekts zu entziehen, aber ohne den Akteur zu opfern, und der Philosophie der Struktur, aber ohne darauf zu verzichten, die Effekte zu berücksichtigen, die die Struktur auf und durch diesen Akteur ausübt“
3.1 Das Habituskonzept von Bourdieu
71
(Bourdieu/Wacquant 2006: 154). Die Nähe zu John Deweys Begriff habit, in dem ein „aktives, schöpferisches Verhältnis zur Welt“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 155) im Gegensatz zu einer mechanisch-repetitiven Gewohnheit zentral ist, spiegelt sich in Bourdieus Theorie des Habitus wider. Sie zeigt das gesellschaftlich konstituierte handelnde Subjekt, „die individuelle und kollektive Geschichte der Akteure, in der sich, in einem komplexen zeitlich-dialektischen Verhältnis zu den objektiven Strukturen, von denen sie produziert werden und die sie tendenziell reproduzieren, die Präferenzstrukturen ausbilden, die in ihnen wirksam sind“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 156). Der Habitus wählt bestimmte Stimuli aus und konstruiert sie (neu) in Anreicherung mit der gesamten eigenen Geschichte, die er in sich trägt. (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006: 153–159) Engler (2003: 235 ff.) betont, dass Bourdieus Habituskonzept (wie auch seine Theorie des Sozialen insgesamt) zwar entwickelt wurde, um die dualistische Denkweise post-cartesianischer Philosophien zu überwinden (vgl. dazu auch Wacquant 2006: 24 ff.), es aber häufig „im dualistischen Substanzdenken verbleibend rezipiert“ (Engler 2003: 235) wird, nämlich in der Funktion der Vermittlung oder Brückenbildung zwischen Handeln und Struktur, Objektivismus und Subjektivismus, Individuum und Gesellschaft.2 Dahinter würde die wissenschaftlich unhaltbare Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft stehen. Dies soll das Habituskonzept überwinden, indem es im Habitusbegriff die „doppelte soziale Realität“ (Engler 2003: 236), „das Körper gewordene Soziale“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 161), fasst. Der sozialisierte Körper (das Individuum) ist eine Erscheinungsform der Gesellschaft. Es gibt keine „vorsoziale Subjektivität“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 161), die im Weiteren erst durch die gesellschaftlichen Zwänge eingeschränkt wird. Individuen und Welt konstruieren sich im Prozess sozialer Praxis gegenseitig. Dabei ist die symbolische Ordnung der Welt auch in Klassifikationssystemen wie den Macht- und Herrschaftsverhältnissen in den Akteuren ‚eingeschrieben‘ und steht implizit zur Verfügung. „Wenn man vom Habitus redet, dann geht man davon aus, daß das Individuelle und selbst das Persönliche, Subjektive, etwas Gesellschaftliches ist, etwas Kollektives. Der Habitus ist die sozialisierte Subjektivität.“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 159). Dabei ist nach Bourdieu der individuelle Habitus immer eine spezielle Abwandlung des kollektiven Habitus einer Gruppe oder Klasse in ihrer gesamtgesellschaftlichen und historischen Einbettung (vgl. Bourdieu 1987a: 113, in Lenger et al. 2013: 22).
Das Habituskonzept Bourdieus erklärt somit die strukturelle Bedingtheit des Handelns sowie auch das individuelle Handlungsvermögen eines Akteurs. Es vermittelt zwischen dem Sozialen der Makro-Ebene (wie der sozialen Felder) und dem der Mikroebene (verkörpertes Verhalten (Hexis) und Verhaltensstile) (vgl. Vester 2010: 137 f.). Der Habitus als dauerhaftes und übertragbares, nur mit gewisser
2 Zum
(kritischen) Überblick über Rezeptionsmuster von Bourdieu vgl. Kramer (2011: 13 ff., zit. n. van Essen 2013: 38) sowie Engler/Zimmermann (2002).
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3 Theoretische Bezüge
Trägheit und in bestimmten Grenzen veränderbares System der „Wahrnehmungs, Bewertungs- und Handlungsschemata, Ergebnis des Eingehens des Sozialen in die Körper (oder in die biologischen Individuen)“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 160) steht im engen Verhältnis zu den Feldern, „den Systemen der objektiven Beziehungen, Produkt des Eingehens des Sozialen in die Sachen oder in die Mechanismen, die gewissermaßen die Realität von physischen Objekten haben“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 160). Strukturelle Bedingtheit des Handelns spiegelt sich im sozialen (objektiven, dreidimensionalen) Raum der Positionen wider, als „Distribution der sozial wirksamen Ressourcen, die die von außen auf die Interaktionen und Vorstellungen einwirkenden Zwänge bedingen“ (Wacquant 2006: 29). Der Raum der Positionen ist ein Konstrukt aus der horizontal angelegten Spanne zwischen kulturellem und ökonomischen Kapital einerseits sowie der vertikal angelegten Menge verfügbaren Kapitals andererseits. Die dritte Dimension ist die zeitliche (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006: 171 ff.; Bourdieu 1987: 195; zum Modell des sozialen Raums auch Bourdieu 1985). Die jeweiligen Positionen im objektiven Raum bzw. dessen Feldern, aber auch die Wahrnehmungen und Lebensstile, sind dabei immer relational zu denken, also im Verhältnis zu anderen und aus einer bestimmten Perspektive oder Vorstellung heraus (vgl. Wacquant 2006: 126 f., 138; Scherr 2014: 286; Barlösius 2011: 135). Die sozialen Felder differenzieren den Raum der Positionen weiter aus, indem sie verschiedenste gesellschaftliche Bereiche umfassen können wie die Religion, Kultur und das Bildungssystem, oder Akteure in bestimmten Berufen in ihrer besonderen Dynamik untereinander (vgl. Barlösius 2011: 90 ff.). Van Essen (2013: 18, 29 ff.) differenziert: Während der Raum der Positionen alle Akteure aus einer gesamtgesellschaftlichen Sicht berücksichtigt, betreffen die zahlreichen sozialen Felder immer nur eine bestimmte Anzahl an Personen – je nach spezifischem Interesse und Strukturierung des Möglichkeitsraumes (vgl. dazu auch Bourdieu/Wacquant 2006: 124 ff.). Dabei zeichnen sich die Felder durch eine spezifische Eigenlogik (Nomos) aus, die den Schein von Objektivität beinhaltet, dem die Akteure (unhinterfragt) unterliegen bzw. sich ihm einordnen (Illusio), entsprechend ihrem eigenen Interesse, Teil des jeweiligen sozialen Feldes zu sein. Die Felder können in ihrer je spezifischen Eigenlogik sowie relativen (von Machtund Positionskämpfen bedrohten) Autonomie eigenständig analysiert werden. Akteurinnen und Akteure können in unterschiedlichen Feldern unterschiedlich verortet sein. Dabei handeln sie, trotz der vorhandenen Eigenlogiken der Felder und verschiedenartiger Positionierung der Akteure, oftmals ähnlich, was auf ihre identische Disposition, den Habitus zurückzuführen ist. Hinter diesem mehrperspektivischen Ansatz steht, „dass die alleinige Berücksichtigung von objektiven
3.1 Das Habituskonzept von Bourdieu
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Lebensbedingungen der sozialen Wirklichkeit nicht gerecht wird“ (van Essen 2013: 18). Die Position eines Akteurs im sozialen Raum ist abhängig von der Stärke und Struktur seines verfügbaren Kapitals. Dieses benötigt ggf. Zeit zu seinem Erwerb; seine Erscheinungsformen können sich in zeitlicher Abhängigkeit stetig verändern. Bourdieu (1983) unterscheidet zum einen das ökonomische sowie, dem gegenüber stehend, das kulturelle Kapital. Das ökonomische Kapital ist Vermögen, das „unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar“ (Bourdieu 1983: 185) ist. Das kulturelle Kapital umfasst die drei Formen des inkorporierten, des objektivierten sowie des institutionalisierten kulturellen Kapitals. Inkorporiertes – verinnerlichtes – kulturelles Kapital lässt sich im Habitus, den dauerhaften Dispositionen des Organismus, entdecken. Objektiviertes kulturelles Kapital zeigt sich in Form vorhandener kultureller Güter wie Gemälde, Bücher und Instrumente. Institutionalisiertes kulturelles Kapital manifestiert sich in Bildungsabschlüssen und Titeln. Zu den beiden Kapitalsorten des ökonomischen und kulturellen kommt das soziale Kapital hinzu. Dieses umfasst das Netz aktueller und potenzieller Ressourcen, die aufgrund von Beziehungen und Zugehörigkeiten, Kenntnis und Anerkenntnis, mobilisierbar sind (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006: 152). Als besondere Sorte von sozialem Kapital in sozialistischen Gesellschaftsformen wie der ehemaligen DDR bezeichnet Bourdieu das politische Kapital (vgl. Bourdieu 1991: 36 f.). Es kann „beträchtliche Privilegien und Profite abwerfen“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 152), durch die Bildung von Vermögen aus kollektiven Ressourcen. Wenn das kulturelle Kapital reglementiert und das ökonomische Kapital bedeutungslos geworden ist, wird, wie Bourdieu für „sowjetische“ Regime zuspitzt, „das politische Kapital zum wesentlichen Differenzierungsprinzip“ (Bourdieu 1991: 37). Der Begriff des symbolischen Kapitals bezeichnet dabei die Form, „die eine dieser Kapitalsorten annimmt, wenn sie über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen wird, die seine spezifische Logik anerkennen“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 151). Dies drückt sich z. B. in (kollektiven) Formen besonderer Ehrerbietung und Prestige aus (vgl. Bourdieu 1985: 11), verbunden mit der Ausstattung legitimer Deutungshoheiten (vgl. van Essen 2013: 20). Zusammengefasst versteht sich Bourdieus (Klassen-)Habitus als eine „(theoretische und praktische) Vermittlungsinstanz zwischen Klassenlagen und den daraus resultierenden Positionen und Dispositionsräumen einerseits und den Handlungen, Wahlen, Vorlieben, Geschmäckern, Wahrnehmungsweisen der Individuen andererseits“ (Vester 2010: 138). Dabei geht Bourdieu über die Struktur der gesellschaftlichen Klassen und Schichten im Sinne Webers hinaus,
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3 Theoretische Bezüge
indem er sich auf die Effekte der Klassenlagen bezieht (vgl. Scherr 2014: 285; Bourdieu/Wacquant 2006: 131) und soziale Klassen (theoretisch) konstruiert. Eine soziale Klasse definiert Bourdieu (1987: 182) als „Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen, die jeder derselben wie den Wirkungen, welche sie auf die Praxisformen ausübt, ihren spezifischen Wert verleiht“. Die sozialen Klassen sind nach Bourdieu (1991: 34) eine relativ homogene Gesamtheit von Akteuren, die eine identische Position im sozialen Raum einnehmen. Neben der differenzierenden sozio-ökonomischen Verteilungsstruktur des Kapitals, die zur entsprechenden Position im Raum führt, lässt sich nun ebenfalls ein Zusammenhang zwischen dem Raum der Positionen zum Raum der Dispositionen (oder Habitusformen) aufzeigen. Die relativ homogenen Akteure sind über die Existenzbedingungen hinweg auch in Bezug auf ihre kulturellen Praktiken, Konsumvorlieben, politischen Meinungen etc. möglichst homogen.3 Der Habitus bildet dabei die vermittelnde Instanz. Er umfasst kollektive, jedoch individuell zu erlernende und erprobende „Strategien der Lebensführung, die sich zu in sich geschlossenen, festen (Lebens-)Stilen verfestigt haben, denen individuelle Kompetenzen korrespondieren.“ (Liebau 2012: 363) (vgl. auch Fröhlich/Rehbein 2009: 110 ff.). Die Habitus der Akteure sind deren: „Dispositionensysteme, die sie jeweils durch Verinnerlichung eines bestimmten Typs von sozialen und ökonomischen Verhältnissen erworben haben und für deren Aktualisierung ein bestimmter Lebenslauf in dem betreffenden Feld mehr oder weniger günstige Gelegenheiten bietet“ (Bourdieu 2006: 136). Bourdieu (1987: 286 ff., 405 ff., 500 ff., 585 ff.) arbeitet unter Zugrundelegung des Gesamtumfangs an Kapital drei klassenspezifische Habitusformen heraus. Die herrschende Klasse, die über besonders viel ökonomisches Kapital (z. B. Unternehmer/Bourgeois) oder kulturelles Kapital (Hochschullehrer/Intellektuelle) verfügt, sich im oberen (rechten oder linken) Bereich des Raums der Positionen befindet, zeichnet sich durch einen Luxusgeschmack aus, hinter dem der Sinn nach Distinktion steht (vgl. Bourdieu 1987: 405 ff.). Den sozialen Akteuren ist der ungezwungene Umgang mit Kultur und Bildung bzw. mit luxuriösen Gütern seit ihrem Heranwachsen vertraut. Ihr Geschmack gilt als der legitime, dem es
3 Bourdieu
verwendet für die Räume jenseits des Raumes der Positionen unterschiedliche Begriffe. In der eingangs erwähnten Studie (Bourdieu 1987) verwendet er den Begriff des Raums der Lebensstile, der die Ebene der sozialen Praxisformen ausdrückt, die über den Habitus generiert werden. Mit dem später verwendeten Begriff des Raums der Perspektiven (vgl. z. B. Bourdieu 2009) fasst Bourdieu subjektive Sichtweisen, Orientierungen und Haltungen, die durch den Habitus hervorgebracht sind und auf diesen ebenso wieder zurückschließen lassen (vgl. dazu auch van Essen 2013: 40 ff.).
3.1 Das Habituskonzept von Bourdieu
75
nachzueifern gilt. Dies versucht insbesondere die mittlere Klasse des Kleinbürgertums. Sie zeigt sehr heterogene Ausprägungen des Gesamthabitus (vgl. van Essen 2013: 37), gefangen in der Differenz zwischen Sein und Sollen (vgl. Kastl 2007: 379). Ihre Praktiken zwischen Anspruch und Möglichkeiten lassen sich mit einem prätentiösen Habitus fassen (vgl. Bourdieu 1987: 286), der sich vor allem durch Bildungsbeflissenheit und Aufstiegswillen auszeichnet, verbunden mit dem jeweils notwendigen Verzicht, um alle verfügbaren Ressourcen für den angestrebten Aufstieg zu mobilisieren (vgl. Bourdieu 1987: 500 ff.). Den Habitus der unteren Klassen (Volksklasse) beschreibt Bourdieu als Notwendigkeitshabitus (vgl. Bourdieu 1987: 585 ff.). Vor dem Hintergrund ökonomischer und kultureller Mittellosigkeit, einem geringen Maß an Möglichkeiten, ist ihnen ein Geschmack eigen, der sich auf das Notwendige, Praktikable, beschränkt. Grenzen und Möglichkeiten kollektiver und individueller Lebensgestaltung sind also durch die wechselseitigen Bezüge von Kapitalvermögen, Position und Habitus zu umschreiben (vgl. van Essen 2013: 18). Daraus folgt, dass es im Lebensablauf für die jeweilige soziale Klasse typische oder erwartbare Verläufe, eine „typische Laufbahn als integraler Bestandteil des Systems der konstitutiven Faktoren einer Klasse“ (Bourdieu 1987: 189), gibt. Diese Verläufe können sich jedoch auch individuell oder kollektiv dramatisch ändern, z. B. wenn ein Krieg oder gesellschaftlicher Wandel wie der Transformationsprozess in der ehemaligen DDR unvermittelt auf die Biographien der Menschen trifft (vgl. Alheit 1995a; Zoll 1999), oder auch starke emotionale Bindungen biographisch bearbeitet werden und z. B. zur Migration in ein anderes Land führen (vgl. Bourdieu 1987: 187 ff.). Hervorzuheben sind die Datenlage und Umstände (statistische Erhebungen im Frankreich der 1960er Jahre), die zur empirischen und theoretischen Entwicklung der eben beschriebenen Habitusformen geführt haben.4 Diese kontinuierlich Variationen erzeugenden Grundmuster (vgl. Alheit 1992: 27) sind jeweils im historischen und kulturellen Kontext zu sehen. Sie können sich entsprechend wandeln, z. B. neue Submilieus5 hervorbringen. Der Habitus „sieht beide Möglichkeiten vor, den Wandel wie auch den Erhalt von Strukturen“ (Liebsch 2008: 83, zit. n. van Essen 2013: 39). Dies geschieht allerdings immer in gewissen Grenzen und ist mit Trägheitseffekten („HysteresisEffekt“, Bourdieu 1987: 187) verbunden. Aufgrund des Hysteresis-Effekts des 4 In
diesem Zusammenhang wird die Aktualität des Habituskonzepts auch kritisch gesehen, z. B. bei Bittlingmayer (2002: 240) in Bezug auf die moderne Wissensgesellschaft. 5 Vester et al. (2001) sowie Vester (2002) haben Bourdieus Theorien entsprechend deutscher gesellschaftlicher Verhältnisse ausdifferenziert und in Milieulandkarten zusammengefasst. Deren Konzeption der sozialen Milieus soll hier nicht entfaltet werden.
76
3 Theoretische Bezüge
Habitus können Verhaltensweisen unverständlich bleiben, wenn sich z. B. objektive Strukturen so schnell verändern, dass „die Akteure, deren mentale Strukturen von eben diesen Strukturen geformt wurden, sozusagen überholt werden und unzeitgemäß und unsinnig handeln“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 1646 ). Folge dieses Verharrens können sowohl Angepasstheit (Resignation) als auch Nichtangepasstheit (Revolte) an die neuen Bedingungen sein (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006: 164). Die „antizipierende Anpassung des Habitus an die objektiven Verhältnisse“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 164) tritt dann ein, wenn die „Bedingungen der Produktion des Habitus und die Bedingungen seines Funktionierens identisch oder homothetisch sind“ (Bourdieu/Wacquant 2006: 164). Van Essen (2013: 39) betont das Veränderungspotenzial des Habitus, das insbesondere bei starken sozialen Auf- oder Abstiegsprozessen (Laufbahnwechseln), aber auch durch aktive reflexive Prozesse wirksam werden kann. In seiner Studie zu den Möglichkeitsräumen von ehemaligen Förderschülern zeigen sich allerdings auch die engen Grenzen subjektiver Lebensgestaltung und habitueller Weiterentwicklung durch den objektiven gesellschaftlichen Hintergrund eingeschränkten Kapitals, der sich insbesondere durch den Besuch der Förderschule kaum verändert. Van Essen (2013: 259–360) arbeitet drei HabitusTypen heraus, die sich implizit oder explizit am kleinbürgerlichen Lebensstil orientieren: den verhalten-optimistischen Habitus, den angeschlagen-motivierten Habitus sowie den resignativen Habitus. Neben der semantischen Wirkung der sozialen Ungleichheit („Klasse“) auf die Entwicklung des Habitus, die bei Bourdieu im Zentrum der Überlegungen steht, verweist Alheit (2019: 120 ff.) auf weitere Semantiken wie die der Ethnizität, aber auch die des „Geschlechtercodes“, die z. B. in institutionalisierten Interaktionsordnungen (vgl. Goffman 1994) verborgen ist. Bettina Dausien (1996) hat in ihrer Untersuchung zu Biographie und Geschlecht anhand lebensgeschichtlicher Interviews mit Frauen (und ihren Ehemännern) nachgewiesen, dass sich Frauen in ihrer sozialen Wirklichkeit spezifisch konstruieren, was sich auch in deren (erzählten) biographischen (Re-) Konstruktionen widerspiegelt. Erwerbs- und Familiensystem sind über lange biographische Phasen nicht als klare „Dominanzstruktur“ voneinander abzugrenzen. Vielmehr stehen beide Systeme „als doppelt widersprüchliche Anforderungsstrukturen nebeneinander und erzeugen notwendig konflikthafte, instabile biographische Konfigurationen“ (Dausien 1996: 81). Dies lässt sich sowohl auf der Ebene (individueller) biographischer Muster als auch auf gesellschaftlicher Ebene, in deren widersprüchlichen Erwartungshaltungen, herausarbeiten. 6 Zur
Diskordanz vgl. auch Bourdieu (1987: 188).
3.1 Das Habituskonzept von Bourdieu
77
Engler (2013: 256) schreibt zur Genderdimension, die in Bourdieus Arbeiten entweder als männliche Dominanz aufträte oder kaum Berücksichtigung fände: „Allerdings zeigen sie [die Untersuchungen zum sozialen Raum bei Bourdieu; Anm. d. Verf.] auch, dass es mühsam ist, der Frage nachzugehen, ob Geschlecht oder Klasse als dominantes Ungleichheitsmerkmal anzusehen ist. Als Klassifikationssysteme, die als Dimensionen des Sozialen in den Habitus eingehen, sind sie verschieden: Geschlecht ist bipolar und mit einem körperlichen Bezugspunkt konstruiert und erscheint als natürliche Ordnung. Soziale Klassenunterschiede werden angezeigt durch Klassifikationssysteme und Unterscheidungsprinzipien, die vielfältige […] Abstufungen kennen, die in die Hervorbringung sozialer Wirklichkeit eingehen. In Untersuchungen deutet sich an, dass „Klasse“ und „Geschlecht“ als Dimensionen des Sozialen, die vermittelt über den Habitus in die Hervorbringung der Sicht der Welt und in das Handeln eingehen, in unterschiedlichen Zusammenhängen von unterschiedlicher Relevanz sein […] bzw. als Modi der Generierung von sozialen Unterschieden mal in den Vordergrund und mal in den Hintergrund treten können.“
3.1.2
Strukturelle Besonderheiten des Sozialraums der ehemaligen DDR
Gehen wir noch einmal zurück zum sozialen Raum der ehemaligen DDR. Auf ihn lässt sich das ‚westliche‘ Modell entlang der Gesamtkapitalvolumen und den Habitus prägenden Kapitalarten nicht uneingeschränkt übertragen. Das wesentliche Differenzierungsprinzip des politischen Kapitals, das an die Stelle des ökonomischen tritt, wurde bereits benannt. Zudem wies die verdeckte Sozialstruktur der DDR Kennzeichen einer vormodernen ständischen Feudalgesellschaft auf. Nachdem in den westdeutschen Besatzungszonen nach dem Krieg die ökonomische Normalisierung und allmähliche Demokratisierung des öffentlichen Lebens Zivilisierungsprozesse nach sich zog, wurde in der sowjetischen Besatzungszone mit der gesellschaftlichen Neuformierung unter einer marxistisch-leninistischen Ideologie ein gegenläufiger Trend vollzogen (vgl. Alheit 2019: 129 ff.; Alheit et al. 2004). Alheit (1995a: 99) fasst die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen des sozialen Raums der DDR folgendermaßen: „Er war gleichsam „umstellt“ von feudalen Strukturen nicht unähnlichen Instanzen, die dem sozialen Diskurs und selbst dem sozialen Wandel entzogen waren“. Dabei unterscheidet Alheit zwischen den komplementären Rahmenstrukturen der „inneren Machtelite“ (Alheit 1995a: 99) und dem „Partei- und Staatsapparat mit exekutiven und „fiktionalen“ Aufgaben“ (Alheit 1995a: 99), die beide den sozialen Raum beeinflussten.
78
3 Theoretische Bezüge
Die innere Machtelite, vorrangig bestehend aus einer durch den Kampf gegen den Faschismus legitimierten „Arbeiteraristokratie“ (Alheit 1995a: 99) war der sozialen Wirklichkeit entrückt und gleichsam immun gegen Vorwürfe politischer Fehlentscheidungen. Unterstützt durch einen gesellschaftlichen Repressionsapparat und entbunden von der Pflicht der ‚Kurskorrektur‘, verloren ihre politischen Legitimationsrituale an Akzeptanz in der Gesellschaft. Der Partei- und Staatsapparat stand zwar dem Volk näher, denn er hatte konkrete Aufgaben mit Bezug zum sozialen Leben zu erfüllen: Planung und Mittelzuweisung, Ausbildung und Qualifikation, Pflege und sozialpolitische Versorgung, Etablierung einer (politisierten) künstlerischen Öffentlichkeit. Aufgrund einer Filterfunktion der inneren Machtelite hatten viele Aufgaben des Partei- und Staatsapparates allerdings fiktionalen Charakter, verbunden mit einer allmählichen Erosion von Loyalität und Legitimation der Gesellschaftsmitglieder. (vgl. Alheit 1995a: 99 ff.; Alheit et al. 2004: 29 ff.) Diese Rahmenbedingungen, verbunden mit dem Mangel an (weiteren) sozialen Differenzierungsressourcen, führten dazu, dass die Bewegungsmöglichkeiten im sozialen Raum erheblich eingeschränkt waren. Es bildete sich ein gesellschaftliches Leben unterhalb der offiziellen Realität heraus, rekonstruierbar als ein „sozialer Raum „zweiter Ordnung““ (Alheit 1995a: 102). Dieser differenzierte sich nicht anhand der Lebensstile aus wie in kapitalistischen Gesellschaften, sondern entlang von Denkstilen. Sie beziehen sich nicht nur auf intellektuelle oder moralische Überzeugungen, sondern auf „von der offiziellen Parteidoktrin abweichende autonome Deutungen der sozialen Wirklichkeit“ (Alheit 1995a: 105). Die Ausbildung solcher konkurrierenden Denkstile betraf auch ‚Intellektuelle‘ innerhalb der SED. Sie war mit dem Besitz an kulturellem Kapital verbunden, das prinzipiell eine Variable der Nonkonformität bildete. In der Spannung zwischen überreguliertem öffentlichen und dereguliertem informellen Raum, insbesondere im sozialen Nahbereich der ‚Nische‘ Familie, überdauerte zudem zwischen den Generationen ein konservatives Mentalitätsmuster, das sich tendenziell gegen Modernisierung und Veränderung abschottet. Es wurde von Alheit et al. (2004) sowie Herzberg (2004) als intergenerationale Modernisierungsresistenz gefasst. Dieses mentalitäre Habitusmuster führte dazu, dass der soziale Subraum der ehemaligen DDR eher die Disposition zur sozialen Schließung sowie eine gewisse Trägheit zeigt, begleitet von einem kollektiven Abwehrverhalten, dem ‚ertragenden‘ Rückzug in den verlässlichen sozialen Nahbereich der Familie sowie einer verzögerten Reaktion der gesellschaftlichen Mitte auf die Herausforderungen des Transformationsprozesses nach der ‚Wende‘. (vgl. Alheit 2019: 129 ff.)
3.1 Das Habituskonzept von Bourdieu
79
Diese besonderen sozialstrukturellen Ausprägungen erklärt Peter Alheit mit den langfristigen Wirkungen eines historischen ‚deutschen‘ Mentalitätsmusters (vgl. Alheit 2019: 129 ff.) und mit dem veränderten sozialen Raum nach 1945 – dem Austausch von ökonomischem gegen politisches Kapital. Der soziale Raum kippte nach links: Die Arbeiterklasse erhielt problemlos Zugang zum politischen Kapital, sie wurde sozial aufgewertet. Die vormals etablierten bürgerlichen Schichten wurden von der politischen Macht abgeschnitten. Allerdings behielten sie ihr kulturelles Kapital, was sich im Gegenzug eine Arbeiterin oder ein Arbeiter, nun mit politischer Macht ausgestattet, nicht ohne Weiteres (schnell) aneignen konnte und auch kaum in der Parteikultur fand. Dies ging bei Letzteren mit Orientierungskrisen, dem Verlust gewachsener Beziehungsstrukturen ihres Herkunftsmilieus, einher. Hinzu kam das Dilemma der sozialpolitischen Überversorgung, die zu materiellen Vorteilen, aber ebenso zur latenten politischen und kulturellen Entmündigung führte. Diese Entwicklungen verweisen auf die Blockade der Arbeiterkultur durch den Staat selbst, der eigentlich einer für die Arbeiter und Bauern bzw. der Arbeiter und Bauern sein wollte. Das (verkleinerte) bürgerliche Milieu zog sich in gesellschaftliche Nischen wie die evangelische Kirche zurück und trat insbesondere zum Ende der DDR wieder offen hervor. Zu diesen ‚unpolitischen‘ bürgerlichen Milieus kam das bedeutendere Konfliktpotenzial, das der SED aus den bürgerlich-intellektuellen Denkstilen ihrer eigenen Parteigenossen erwuchs. Mit zunehmenden Bildungsprozessen der nachfolgenden Arbeitergeneration wuchsen die Gegendiskurse. „Kulturelles Kapital war nicht länger ein Bestandteil des Klassenhabitus, sondern wurde zur dynamisierenden Größe der „heimlichen Diskurse““ (Alheit 1995a: 107). Sich zunächst in abgeschlossenen Kreisen und unabhängig voneinander entwickelnd, kumulierten „Milieus autonomer „Denkstile“ auch im SED-Spektrum“ (Alheit 1995a: 107), spätestens in den 1980er Jahren. Dies ging einher mit der Inflation politischen Kapitals, die in der ‚Wende‘ ihren Endpunkt fand. Der Prozess war verbunden mit einer längerfristigen Verschiebung der informellen Machtbalance vom politischen zum kulturellen Kapital, zum einen durch ein verstärktes Bedürfnis nach Differenzierung und Distinktion gespeist, zum anderen durch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen ‚Annäherungen‘ beider deutscher Gesellschaften und Abfärbung der Beziehungsstrukturen des sozialen Raums Westdeutschlands auf den der DDR-Gesellschaft (z. B. durch das ‚Westfernsehen‘). (vgl. Alheit 1995a: 102 ff.)
80
3.2
3 Theoretische Bezüge
Zur Habitusbildung und -entwicklung
Die Konzeption Bourdieus beinhaltet die „Habitusformierung“ (Bourdieu 1987a: 122) als Prozess der Sozialisation. Bourdieu bezieht sich insbesondere auf die einverleibten Erfahrungen existenzieller Bedingungen im Kindheitsalter (vgl. Bourdieu 1987a: 101) und fasst die Ausprägung individueller Präferenzen als Resultat familiärer und schulischer Erziehung (vgl. Bourdieu 1987: 16 f.). Bourdieu setzt sich in seinem Habituskonzept weder theoretisch noch empirisch systematisch mit den Einflüssen sekundärer Sozialisation oder deren Beziehung zur primären Sozialisation auseinander. Insbesondere seine bildungssoziologischen Untersuchungen verweisen auf das „Primat der Primärsozialisation“ (Lenger et al. 2013: 23). Auch Liebau (2012: 363 ff.) verweist auf die mental vorgeordnete „fundamentale Bedeutung des primären Habituserwerbs“ (Liebau 2012: 365) bei Bourdieu und betont die Tendenz des Habitus zur Reproduktion. An diesen Aspekten lässt sich auch die konzeptionelle Kritik an Bourdieus Habituskonzept fassen: In der Bindung des Habituserwerbs an die Primärsozialisation eines Menschen, „bekommt das Habituskonzept einen weitaus deterministischeren Einschlag als unter Mitberücksichtigung der Sekundär- oder gar Tertiärsozialisation“ (Lenger et al. 2013: 30). Es verbleiben das Problem der Habitusgenese und -vermittlung, auch auf praktischer Ebene (vgl. Lenger et al. 2013: 30) sowie das komplexe Spannungsfeld von Determinismus und Freiheit (vgl. Bourdieu/Wacquant 2006: 166 ff.), ergänzt um differenzierte Aussagen zum sozialen Wandel (vgl. Lenger et al. 2013: 30). Heidrun Herzberg (2008: 53) bestätigt diese zentrale Grundannahme Bourdieus. Sie verweist insbesondere darauf, dass Bourdieu keine weiterführenden Überlegungen zum Umlernen habitueller Prägungen angestellt hat. Herzberg plädiert für eine biographietheoretische Erklärung des Habituserwerbs und der möglichen Habitusentwicklung, da diese „gegenüber einer sozialisationstheoretischen Begründung den Vorteil [hat], dass der Prozess des Kompetenzerwerbs aus der Perspektive des Subjekts berücksichtigt werden kann“ (Herzberg 2008: 53), ohne jedoch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu vernachlässigen (vgl. Herzberg 2008: 51). In ihrer intergenerationalen Untersuchung zur Vermittlung eines (biographischen) Lernhabitus über die Generationenschwelle (Herzberg 2004) weist sie sowohl einen bewahrenden als auch einen entwicklungsorientierten Habitus nach (vgl. Herzberg 2004: 90 f., 93–288). Trotz der nachgewiesenen partiellen Veränderung des Habitus überwiegt jedoch die Modernisierungsresistenz im von ihr untersuchten ostdeutschen Werftarbeitermilieu unter den Bedingungen
3.2 Zur Habitusbildung und -entwicklung
81
des gesellschaftlichen Transformationsprozesses (vgl. Herzberg 2008: 56; 2004: 305 ff.). Im Zusammenhang mit dem Lernhabitus kann wissenssoziologisch auf die Nähe des Habitusbegriffs mit dem „selbst oft impliziten Konzept eines „praktischen“ oder „impliziten“ Wissens“ (Kastl 2007: 375) verwiesen werden, ohne dass dieser damit zusammenfällt (vgl. Kastl 2007: 384). In diesem Bezug bindet Meuser (2001) den Habitus an „atheoretisch gegebenes, diskursiv nicht verfügbares Wissen“ (Meuser 2001: 209, zit. n. Kastl 2007: 383 f.), „eher intuitiv, denn reflexiv zugänglich“ (Meuser 2001: 209, zit. n. Kastl 2007: 384). Dabei geht der Habitus über eine rein wissenssoziologische Dimension (propositionaler Verfasstheit) hinaus: einerseits in der Berücksichtigung von auf Glaubensüberzeugungen beruhenden Verstrickungen, Vorlieben u. ä. des Menschen, die sich auch leiblich zeigen, andererseits in der Ausprägung des Habitus als „komplexe Haltungen, die ebenso Wahrnehmungen, Verhalten, Handlungen und Handlungsbereitschaften, Affekte, Passionen, Kompetenzen wie unter anderem eben: Wissen organisieren“ (Kastl 2007: 383) (vgl. Kastl 2007: 383 ff.). Kastl widerspricht in diesem Kontext den Überlegungen von Knoblauch (2003). Dieser nutzt in Anschluss an Berger/Luckmann (2003) die Theorie der Habitualisierung, um sich der von Bourdieu vernachlässigten, subjektiven Seite des Habituserwerbs anzunähern und zu zeigen, „wie die handelnden Subjekte diese [institutionelle; Anm. d. V.] Ordnung erzeugen und verändern können“ (Knoblauch 2003: 199). Mir erscheint der Bezug auf Herzberg (2004) geeignet, um Prozesse von Habituserwerb und -entwicklung zu betrachten. Sie nimmt in ihrer Studie eine biographietheoretische Erweiterung der Bourdieuschen Habitus-Konzeption vor, indem sie den Fokus von der hauptsächlichen „Vergesellschaftung eines Menschen“ (Herzberg 2008: 52) auf dessen „Individualisierungsprozess im Zuge von Lern- und Bildungsprozessen“ (Herzberg 2008: 52) über den Lebensablauf hinweg richtet und sich differenziert mit dem biographischen Habituserwerb und seiner Entwicklung durch biographische Lernprozesse auseinandersetzt. Das (implizite) biographische Wissen und sein Erwerb treten in seiner Bedeutung hervor, wenn Herzberg den Begriff des biographischen Lernhabitus definiert: „Er ist das Produkt inkorporierter sozialer Strukturen, zugleich aber auch das Erzeugungsprinzip biographischer Lern- und Bildungsprozesse“ (Herzberg 2004: 307).
82
3 Theoretische Bezüge
In Anschluss an Herzberg, aber auch Alheit (z. B. 2019: 43 ff., 64 ff.; Alheit 1995: 287 ff.; 1992: 22–32)7 kann der biographische Habitus zunächst folgendermaßen gefasst werden: In ihm drückt sich die biographisch wirksame Semantik sozialer Strukturen aus, entlang derer sich die je individuelle Biographie ausformt und entlang weiterer Erfahrungen ausdifferenziert, sowie, in gewissen Grenzen, neu formiert und auf die gesellschaftlichen Strukturen zurückwirkt. Dieser biographietheoretisch fundierten Denkrichtung in Erweiterung der Entwicklungsmöglichkeiten des Habitus, wie sie Bourdieu noch stark entlang der Grenzen der Klassenlage eingeschränkt hat, soll auch in dieser Arbeit gefolgt werden. Dies verweist zugleich auf die spezifischen Lernprozesse des Individuums, die mit dem Konzept der Biographizität gefasst werden. Bevor die Biographie sowie die Biographizität in ihrer theoretischen Begründung dargestellt werden, folgen Ausführungen zum professionellen Habitus. Dieser Zwischenschritt verdeutlicht, dass im Rahmen beruflicher Bildung Habitualisierungsprozesse relevant werden. Auch diese laufen jedoch nicht losgelöst von der eigenen Biographie ab.
3.3
Der professionelle Habitus
3.3.1
Theoretische Überlegungen
Lenger et al. (2013: 29) verweisen in ihrem Überblick zur Rezeption des Habituskonzepts Bourdieus auf seine besondere Bedeutung in der Beschreibung von Berufsgruppen und Professionen. Dies betrifft z. B. Prozesse der Einsozialisierung in die entsprechende Fachkultur einer Profession, die mit der Aneignung eines zur Kultur dieser Profession passenden Habitus einhergehen (vgl. Becker-Lenz/Müller 2009: 101). Der professionelle Habitus hat zum einen die Funktion, den Professionsinhabern die Bewältigung spezifischer Problemlagen und Handlungsanforderungen zu ermöglichen (vgl. Becker-Lenz/Müller 2009: 101 ff.). Zum anderen verwirklichen sich über ihn Distinktionspraxen (vgl. Pfadenhauer 2009).
7 Bourdieu
(2011/1998) selbst hat sich zur sozialen Konstruktion der Biographie eher kritisch positioniert. Peter Alheit greift aus biographietheoretischer Sicht die Position Bourdieus kontrovers auf, in systematischer Auseinandersetzung um die je individuell konstruierten biographischen Erfahrungsaufschichtungen mit zwar begrenzten, aber doch so großen Handlungsspielräumen, dass sie individuell nicht vollends genutzt werden können. Vgl. auch FN 15.
3.3 Der professionelle Habitus
83
Der professionelle Habitus ist zu beschreiben als „Set von Routinen, Deutungsmustern, auch körpersprachlichen Scripts, die sich durch professionelle Sozialisation und langjährige berufliche Praxis sozusagen „eingeschliffen“ haben und zu einer Art Hintergrundwissen geworden sind“ (Alheit 1995b: 57). Er stellt eine Überformung des (Gesamt-)Habitus eines Menschen durch die Anforderungen, die das soziale Feld des Berufes oder der Profession an die Akteure stellt, dar. So erfordern oft ambivalente, praktische Handlungs- und Entscheidungszwänge unter Unsicherheiten und einer (nicht immer erfüllbaren) Begründungsverpflichtung wie eine fehlende Diagnose oder nicht gesicherte Behandlungsmethoden in der Medizin (vgl. Koring 1990: 8, 12) den unhinterfragten Rückgriff auf (implizite) professionelle Handlungsund Deutungsdispositionen. Damit bildet der professionelle Habitus ein verlässliches ‚Element‘ gegenüber der Nichtstandardisierbarkeit professionellen Handelns in Professionen oder professionalisierungsbedürftigen Berufen (vgl. Becker-Lenz/Müller 2009b: 200 ff.). Zur professionellen Handlungskompetenz gehört „die Komponente des Habitus konstitutiv“ (Koring 1990: 42) dazu. Dabei ist der professionelle Habitus nach außen umso sichtbarer, je traditioneller die Profession ist, denn umso „rigider [ist] das codifizierte professionelle Wissen“ (Alheit 1995b: 57). Dem entsprechend „spezifiziert der individuelle ‚Professional‘ dabei […] das, was in seiner Profession – tradiertermaßen – als professionelle Haltung gilt“ (Pfadenhauer 2009: 9). Über den professionellen Habitus drücken sich professionelle Stile aus, als „Art und Weise, […] sich durch Verwendung und Kombination von Symbolen bzw. symbolischen Handlungen signifikant gegen andere Professionen, vor allem aber gegen Nicht-Professionelle abzusetzen“ (Pfadenhauer 2009: 9). Wesentlich für diese kollektiven Distinktionspraxen ist, „dass ‚professionelle Stile‘ nicht etwa sich zu sozialen Formationen verdichten, also Professionen konstituieren, sondern dass umgekehrt Professionen sich in distinkten ‚professionellen Stilen‘ manifestieren“ (Pfadenhauer 2009: 9). Dabei spiegelt sich im professionellen Habitus einer etablierten Profession wie der Medizin auch die besondere Bedeutung der „sozial-homogenen Rekrutierungspraxis“ (Truschkat 2009: 21) wider, in dem Maße, wie sich der professionelle Habitus am Gesamthabitus ausrichtet. Selbst im Zuge des „strukturell-normativen Kompetenzdiskurses“ (Truschkat 2009: 33) behalten die „formal-exklusiven Rekrutierungspraktiken“ (Truschkat 2009: 36) von Professionen ihre Bedeutung. Mit der spezifischen Stellung im sozialen Gefüge gehen bestimmte objektive Chancen auf die Verteilung gesellschaftlicher Positionen in besonderen (internen) Bereichen des Arbeitsmarktes einher, die relativ stabile
84
3 Theoretische Bezüge
Karrieremuster bedingen – als Distinktionsform von Professionen. Inga Truschkat konstatiert diesbezüglich kritisch, dass die „diskursive Überbetonung des Leistungsprinzips durch den strukturell-normativen Kompetenzdiskurs“ (Truschkat 2009: 36) auf einer Handlungsebene keineswegs zum sichtbaren „Bruch mit der Reproduktionslogik der Professionen“ (Truschkat 2009: 36) führt. Da sich im Gesamthabitus die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer Person, Gruppe oder sozialen Klasse tief ‚eingeschrieben‘ haben, bestimmte Praktiken innerhalb sozialer Felder gut funktionieren und aufgrund des schützenden Phänomens der Hysteresis kann davon ausgegangen werden, dass habituelle Überformungen i. S. einer bestimmten Professionalität eher schwer erreichbar sind, einen längeren Zeithorizont erfordern und mit einer zeitlichen Verzögerung auftreten. Zudem sind sie an bestimmte Bedingungen des jeweiligen professionellen Feldes gebunden. Michaela Pfadenhauer (2009: 12) konstatiert, dass aus professionssoziologischer Perspektive Professionen gerne als „homogene Einheiten“ betrachtet werden. Dieses „Vorurteil“ (Nittel 2000: 24) basiert auf der strukturfunktionalistischen Position, dass Professionen Mitglieder mit gemeinsam geteilter Berufsidentität und Wertorientierung sowie ähnlichen Rollendefinitionen und Interessen vereint, was zur Ausbildung stabiler (homogener) sozialer Aggregate führe (vgl. Nittel 2000: 24). Die Praxis jedoch vereint unter dem Dach einer Profession heterogene Ausprägungen professioneller Habitus. Beispielhaft zeigen dies Studien zum professionellen Habitus von Volksschullehrern (vgl. Streckeisen et al. 2009), Anwälten (vgl. Scheffer 2009) oder innerhalb der Medizin (vgl. Bucher/Strauss 1972). Diese Heterogenität wird umso deutlicher in neuen/nicht-etablierten Berufen oder Professionen, wo es (noch) keine tradierten professionellen Wissensbestände gibt und sich die professionellen Verhaltens-Codizes erst entwickeln (vgl. Alheit 1995b: 57), die Kanonisierung also nicht so ausgeprägt ist bzw. insgesamt der Institutionalisierungsgrad, wie zugespitzt im Heilpraktikerberuf, niedrig ist.
3.3.2
Empirische Befunde
In diesem Zusammenhang wurde die Bedeutung hochschulischer Ausbildung für die Prägung eines professionellen Habitus sowie darin sichtbarer Professionalität untersucht und Herausforderungen abgeleitet (vgl. Lengert et al. 2013: 57; Ebert 2012 sowie Becker-Lenz/Müller 2009, 2009a für die Soziale Arbeit; aber auch Reimann 2013 für die Medizin). Roland Becker-Lenz und Silke Müller
3.3 Der professionelle Habitus
85
(2009: 111) verweisen auf den geringen Studienumfang zur Wirksamkeit von Studiengängen für die Ausprägung eines professionellen Habitus. Bernhard Koring (1990) belegt in seiner Studie die Tiefe universitärer Prägeprozesse auf habitueller Ebene und deren Abhängigkeit von der subjektiven, sukzessiven biographischen Verarbeitung der Studierenden (vgl. Koring 1990: 35, 39). Dabei ist der je spezifische Lernhabitus entscheidend, der regelhafte Latenzen und diesbezügliche Frustrationen im universitären Lernprozess bewältigen muss, wenn sich z. B. Theorien und Konzepte wissenschaftlicher Bildung erst nach sukzessiver Aneignung des gesamten fachlichen Kontextes und u. U. erst in der beruflichen Praxis vollständig erschließen (vgl. Koring 1990: 13 f., 36). Insbesondere beim Doppelstudium kann eine „Habitusdifferenz“ (vgl. Koring 1990: 39) auftreten (und ist ggf. je individuell aufzulösen), wenn im Studium die Ausprägung widersprüchlicher habitueller Dispositionen erforderlich wird. Koring weist dies empirisch anhand der Fächer Mathematik und Betriebswirtschaftslehre nach, in denen das Lernen unter einem erkenntnistheoretischen wissenschaftlichen Paradigma auf ein Paradigma ökonomischer Handlungsrationalität trifft. Für die Ausprägung eines tragfähigen professionellen Habitus ist ein Umgang mit diesen Differenzen auf habitueller Ebene erforderlich. Als pädagogische Konsequenz für die Förderung professioneller Habitualisierungen leitet Koring ab, dass professionelle Handlungskompetenz auf einer Habitusebene „nicht im didaktischen Sinne rational lehrbar, sondern nur durch Partizipation (soziale Ebene) und durch den Stil des Lehrenden (personale Ebene) vermittelbar“ (Koring 1990: 42) ist. Dies zeigen auch Ergebnisse einer umfangreichen älteren Studie zur ärztlichen Sozialisation im Medizinstudium (vgl. Burkart 1983). Die „Rationalisierung universitären Lernens und Lehrens“ (Koring 1990: 42), messbar an objektivierbaren Lernzielen und Kompetenzelementen, kann dem Erwerb ärztlicher Kompetenz entgegenstehen (vgl. Koring 1990: 42, mit Bezug auf Burkart 1983: 45). Hierauf verweist auch die Aussage Swantje Reimanns (2013: 151) in ihrer Rekonstruktion der ärztlichen Orientierungen in der vorklinischen Phase, also noch am Beginn ärztlicher Ausbildung: „Studierende der Vorklinik […] verstehen sich noch nicht als (praktisch) kompetent genug, zur Lösung ambivalenter medizinischer Situationen beitragen zu können, da sie sich ihrer Sichtweise als Lernende und Anfänger (auch und gerade durch die Strukturierung und Verschulung der Ausbildung) verhaftet fühlen.“ Mit zunehmendem klinischen/praktischen Erfahrungshintergrund verändert sich diese Perspektive. In der klinischen Phase nehmen Medizinstudierende eine „Zwischenstellung“ (Reimann 2013: 203) zwischen den praktischen Anforderungen des Medizinsystems auf Versorgungsebene sowie denen der Ausbildung ein.
86
3 Theoretische Bezüge
Die Herausforderung besteht in dieser Phase auf der flexiblen kontinuierlichen Herstellung einer Passung zwischen aktuellen Anforderungen und sich schnell ändernden Bedingungen in verschiedener Hinsicht (Rollen, eigene und fremde Positionen, eigene und fremde Erwartungen etc.). Hier ist es erforderlich, (selbst-) reflexive Prozesse in den Fokus des Lernens zu rücken, sei es in Bezug auf eventuell notwendige Verhaltensanpassungen, die Verarbeitung von positiven und negativen Emotionen oder Eruierung und Erprobung von Handlungsmöglichkeiten. Die Selbstreflexion ist eine der hauptsächlichen Unterschiede zwischen einer rationalen und einer Beziehungs-Orientierung im professionellen Handeln. Diese Positionierung des ‚Dazwischen‘ tritt zunächst als Entwicklungsschritt auf, der durch Ambivalenz und Betonung negativer Erfahrungshorizonte, z. B. bezüglich des Umgangs ärztlichen und pflegerischen Personals mit den Patienten, gekennzeichnet ist und von der noch nicht klar ist, ob sie in dieser Phase eine Vorform des späteren rationalen (medizinischen) oder beziehungsorientierten (ärztlichen) Habitus-Typs8 darstellt. Eine alternative Idealform zu negativen Erfahrungen professionellen Verhaltens kann von den Studierenden in dieser Phase nicht abgeleitet werden, sodass
8 Ihre
herausgearbeiteten zwei Formen des medizinischen Habitus kennzeichnet Reimann (2013: 258 ff.) mit 1) rationaler Orientierung (i. S. der Medizinalität bei Wettreck (1998)) und 2) Beziehungs-Orientierung (i. S. der Ärztlichkeit bei Wettreck (1998)). Da sie habituelle Gemeinsamkeiten aufweisen, fasst sie sie als zwei Formen einer Basistypik (vgl. Reimann 2013: 271 f.). Die rationale Orientierung in seiner konservativen Ausformung ist gekennzeichnet durch eine funktionale Übernahme medizinischer Wissensbestände, um sich schnell und medizinisch richtig verhalten zu können, sowie eine hohe Anpassungsfähigkeit an umgebende hierarchische Strukturen. Ein über Härte und Ehrgeiz wahrgenommener medizinischer Habitus stellt die Sicherung der Position innerhalb der ärztlichen Hierarchie vor ein die Hilfesuchenden unterstützendes Verhalten. Beziehungsfehler werden in Kauf genommen, medizinische Fehler jedoch nicht. In der „modernen“ Form dieser Orientierung wird, insbesondere in weniger komplexen Situationen, das Soziale, die Reflexion des Arztes als Mensch, bedeutsamer, was mit der Infragestellung der vorab als nützlich erachteten Hierarchien einhergeht. Der beziehungsorientierte Typ ist mit seiner Arbeit für die Patienten da. Alltägliche Kommunikationssituationen werden als „Kernmerkmale der idealen ärztlichen Tätigkeit“ (Reimann 2013: 261) entfaltet. Das Gespräch hat Priorität vor dem Einsatz von Arzneimitteln oder dem chirurgischen Eingriff. Die Fähigkeit zur Empathie (Rogers) ist zentrales Professionalitätsmerkmal dieses Typs. Er agiert aus einer Haltung heraus, „die den Anderen als Mensch wahrnimmt und […] sich selber auch als Mensch zu erkennen gibt“ (Reimann 2013: 261). Dabei können medizinische Fehler akzeptiert werden, Beziehungsfehler jedoch nicht. Die Patientenzufriedenheit ist Kriterium der Anerkennung der eigenen Arbeit.
3.3 Der professionelle Habitus
87
die Dimensionen Erfahrung und Zeit in den Fokus der eigenen Professionalisierung und Ausbildung einer ärztlichen Identität rücken. (vgl. Reimann 2013: 203 f.) Die assistenzärztliche Weiterbildungsphase markiert den Vollzug vom Studierenden zum ausführenden Arzt. Als „markierende Zäsur eigener Veränderung“ (Reimann 2013: 257) gedeutete Störungen der beruflichen Identifikation zu Beginn dieser Zeit betreffen nicht nur medizinische Entscheidungen, die die Akteure mit verantworten, sondern beziehen sich vorrangig darauf, „wie ein Wechsel zwischen den beiden Positionen gut gelingen kann: Der studentische Habitus genügt den Anforderungen des medizinischen ‚Spiels‘ nicht mehr, der erforderliche medizinische Habitus ist noch nicht deutlich genug ausgeprägt, um effizient zu sein und sich als passend zu erweisen. Das heißt, es kann nicht mehr und noch nicht auf Gewohntes zurück gegriffen werden, Situationen sind keine Routinen, die sicher gehandhabt werden können. Einmal mehr wird dabei der besondere Charakter dieser Anfangszeit der Unsicherheit deutlich, der gerade in der Unmöglichkeit gipfelt, sich auf sich selbst und seine bisherigen Kompetenzen verlassen zu können“ (Reimann 2013: 257) Die professionelle Begleitung in dieser Phase der Ausprägung eines professionellen Habitus wird von allen Interviewten betont. Sie ermöglicht, die eigenen Orientierungen mit denen von Vorbildern abzugleichen und hilft, sich zu positionieren, z. B. als Hinwendung oder Abgrenzung zu einem typischen rationalen (medizinischen) oder beziehungsorientierten (ärztlichen) Habitus. Für beide Habitus-Typen ist entscheidend, „zwischen eigenen Bedürfnissen, Ansprüchen, Befindlichkeiten und Anforderungen eine geeignete Balance herzustellen und in der Art und Weise des assistenzärztlichen Ausdrucks Sinn zu erleben“ (Reimann 2013: 257). Dies berührt sowohl die Bewältigung von Routinetätigkeiten, aber auch von Extremsituationen im beruflichen Praxisalltag. Erlebte Anerkennung hilft dabei, die hohen Arbeitsanforderungen zu tragen und die eigene Entscheidung zum Medizinstudium und nun folgender ärztlicher Tätigkeit zu verifizieren. Die professionelle (pädagogische) Begleitung soll Sicherheit geben für die zukünftige berufliche Alltagspraxis zwischen Unsicherheit und Entscheidungszwang (Theorie-Praxis-Differenz). (vgl. Reimann 2013: 257 f., 262 f.) Becker-Lenz/Müller (2009, 2009a) bzw. Müller/Becker-Lenz (2008) untersuchten umfangreich Prozesse der Bildung eines professionellen Habitus in der nicht-klassischen Profession der Sozialen Arbeit.9 Sie zeigen eine ausgeprägte Heterogenität der Studierenden sowie im Studienverlauf kaum Veränderungen 9 Zum
methodischen Vorgehen vgl. Müller/Becker-Lenz (2008: 30 f.).
88
3 Theoretische Bezüge
ihres Gesamthabitus hin zu einem professionellen Habitus, der zum Umgang mit den beruflichen Handlungsanforderungen befähige (vgl. Becker-Lenz/Müller 2009: 111 f.; Müller/Becker-Lenz 2008: 34)10 . Empirisch und theoretisch fundiert leiten sie entlang der Handlungsprobleme der Berufspraxis (unklarer Auftrag, Schwierigkeiten der Diagnostik sowie angemessenen Methodenwahl und -anwendung) ein Konzept idealtypischer Professionalität ab, das habituell verinnerlicht werden könne. Hierzu gehen sie von einem Bildungsbegriff aus, der „die krisenhafte Auseinandersetzung mit einer Sache“ (Müller/Becker-Lenz 2008: 26) beinhaltet, als Grundlage für den Erwerb von Kompetenzen im tätigen Vollzug11 , um somit die Bildung eines professionellen Habitus zu unterstützen. Hinzu kommen reflektierende und reflexive Prozesse bezüglich des eigenen Habitus und spezifisch zu verändernder habitueller Dispositionen im Kontext professionellen Handelns. (vgl. Müller/Becker-Lenz 2008: 26 f., 31 f.) Die Erarbeitung von Lösungsansätzen für die herausgearbeiteten Handlungsprobleme erforderte die Auseinandersetzung mit einem uneinheitlichen, teilweise widersprüchlichen Verständnis professionellen Handelns in der Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Dieser Befund wird auf Seite der Professionellen anhand disziplinärer und professionstheoretischer Fachdiskurse sowie berufsethischer Normendokumente herausgearbeitet. Er betrifft gleichermaßen die theoretische Professionalitätskonzeption. Solche heterogenen Grundbedingungen stehen der Entwicklung eines widerstandsfähigen professionellen Habitus entgegen. Als grundlegender Bezugsrahmen für einen idealtypischen professionellen Habitus der Sozialen Arbeit werden 1) ein spezifisches Berufsethos; 2) die Fähigkeit zur Gestaltung eines Arbeitsbündnisses und 3) die Fähigkeit des (rekonstruktiven) Fallverstehens unter Einbezug wissenschaftlicher Erkenntnisse benannt. Zu 1) Ein verinnerlichtes Berufsethos als spezifisch professionelle Grundhaltung zwischen der Orientierung an der Autonomie und Integrität der Klientinnen und Klienten sowie der bestehenden Rechtsordnung begründet die professionelle Handlungsorientierung. In kodifizierter Form ermöglicht es die professionelle Selbstkontrolle und die Bildung einer Vertrauensbasis von Seiten der Klienten. Es hat überdies gesellschaftliche Legitimationsfunktion. Zu 2) Gelingt ein Arbeitsbündnis mit der Klientin, kann ein Abhängigkeitsverhältnis im Rahmen der Hilfeleistung vermieden oder überwunden werden. Die Haltung der Professionellen soll eine Freiwilligkeit bzw. innere Bindung 10 Dies bestätigt die bis zu dem Zeitpunkt vorliegende Studienlage für die Soziale Arbeit (vgl. Müller/Becker-Lenz 2008: 27 ff.). 11 Im Gegensatz zum Erwerb standardisierbaren Wissens über Lehr-/Lern-Prozesse.
3.3 Der professionelle Habitus
89
der Klientin an das Arbeitsbündnis befördern. Die Herausforderung der widersprüchlichen Einheit von diffuser Beziehung (als ganze Person) und spezifischer Beziehung (i. S. der professionellen Rolle) ist zu meistern. Dabei sind Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene sowie professionell unangemessene Kontrollmotive zu reflektieren und zu kontrollieren. Die Professionelle ist bei der Erfüllung ihres gesetzlichen Auftrages strikt der Loyalität gegenüber ihrer Klientin verpflichtet. Diese erhält Hilfe zur Selbsthilfe, was ihre Mitarbeit im Rahmen eigener Möglichkeiten erfordert. Zu 3) Die Fähigkeit des Fallverstehens ist Bedingung, um der jeweiligen Klientin in ihrer individuellen Konkretheit gerecht zu werden und somit ihre Integrität und Autonomie zu fördern. Zudem kann auf dieser Basis die Praxis mit der Theorie verbunden werden, ohne Klientinnen schematisiert zu behandeln. (vgl. Müller/Becker-Lenz 2008: 33 ff.) Folgende Empfehlungen leiten Müller und Becker-Lenz ab, um die Bildung eines professionellen Habitus im Rahmen von Bachelorstudiengängen der Sozialen Arbeit zu befördern: Am Anfang steht die Definition eines einheitlichen Professionalitätskonzepts innerhalb von Studiengängen. Dies betrifft insbesondere die berufsethischen Grundhaltungen. Aufnahmeprüfungen für Studierende können helfen, habituelle Blockaden oder zumindest schwierige Grundhaltungen und Studienmotivationen offenzulegen und zu kommunizieren. Dies eröffnet Räume für spezielle Lernprozesse im Zuge der Ausbildung. So kann z. B. eine Ausbildungssupervision einen geschützten Rahmen darstellen, um anhand von konkreten Fällen insbesondere die eigenen Haltungen, mit denen die Studierenden an ihre Klientinnen herantreten, zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Von Beginn an sind theoretische Veranstaltungen in das Studium zu integrieren, die Grundprobleme des beruflichen Handelns mit verschiedenen professionsund disziplintheoretischen Perspektiven kontrastieren, insbesondere auch unter dem Fokus einer beruflichen Ethik. Dem vorab definierten Professionalitätskonzept ist zudem die Methodenlehre und -praxis des professionellen Handelns anzupassen. Entsprechende kontinuierliche praktische Übungen in Fallwerkstätten können helfen, das Professionalitätskonzept in seinen Inhalten und Praxistauglichkeit erfahrbar zu machen sowie fallrekonstruktive Analysen zu üben. Für die Ausbildung eines professionellen Habitus ist eine enge Kooperation mit der Praxis vonnöten, idealtypisch unter der wechselseitigen Voraussetzung eines übereinstimmenden Professionalitätskonzepts. Da sich dies in den wenigsten Fällen darstellt und nicht immer Konsens erreicht werden kann, sollten Differenzen zumindest transparent sein. Ziel praktischer Kooperation sind die ‚tätige‘ Auseinandersetzung Studierender mit Grundproblemen des professionellen Handelns
90
3 Theoretische Bezüge
und die Erprobung erfolgreicher Handlungsmodelle und Haltungen. Rückbezüglich hat die Hochschule Möglichkeiten der (theoretischen) Reflexion und Sensibilisierung anzubieten. Um die zeitliche Dimension der Ausbildung eines professionellen Habitus zu berücksichtigen, sollten im Studienverlauf an die Stelle wissensfokussierter Semesterprüfungen seltenere Leistungsbegutachtungen, die den professionellen Habitus adressieren, treten. (vgl. Müller/Becker-Lenz 2008: 39 ff.; Becker-Lenz/Müller 2009: 112 f.) Bezüglich der zeitlichen Dimension einer professionellen Habitualisierung unter Einbezug sozialer Lernprozesse im praktischen Handlungsvollzug ist generell zu hinterfragen, ob das dreijährige Bachelorstudium als Zeitrahmen genügen kann. So verweist z. B. Koring (1990: 12) auf die endgültige Formierung des professionellen Habitus im Rahmen von (pädagogisch begleiteten) Praxis- oder Initiationsphasen wie dem Referendariat oder ärztlicher Assistenzzeiten. Reimann (2013) rekonstruiert den allmählichen Erwerb eines medizinischen oder ärztlichen Habitus als „Prozess der Arztwerdung“ (Reimann 2013: 63) im Verlauf der insgesamt ca. zwölfjährigen ärztlichen Aus- und Weiterbildung, die sich in die vorklinische, klinische und assistenzärztliche Phase gliedert (vgl. Reimann 2013: 62 f.). „Die allmähliche Aneignung einer ärztlichen oder medizinischen Haltung absolviert sich kontinuierlich in der Auseinandersetzung mit Denk-, Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsschemata der als bedeutend wahrgenommenen Akteure. Diese Allmählichkeit des Vollzuges zeigt sich markant an einer ambivalenten Haltung innerhalb der Klinik. Diese Haltung diffundiert, wie auch die Trivialisierungsstrategien [vorklinischer Orientierungen; Anm. d. Verf.], im Zuge von Erfahrung und weiterer Aussetzungen bestimmender Bedingungen und Strukturen in die beiden Formen der Basistypik12 und lässt sich in den assistenzärztlichen Orientierungen als ambivalente Haltung nicht mehr auffinden. Damit wird der allmähliche Erwerb eines Habitus deutlich, der in der Assistenzarztzeit seine grundlegende Ausformulierung erfährt und sich anhand dieser in der Praxis bewähren muss.“ (Reimann 2013: 272) Zudem bleibt festzuhalten, dass der professionelle Habitus im Verlauf langdauernder Berufstätigkeit ständigen Herausforderungen der Modifikation ausgesetzt ist. Herzberg und Bernateck (2019) verweisen am Beispiel der Pflege im Zuge der Erprobung neuer Versorgungsformen auf die Notwendigkeit und Möglichkeiten professioneller Habitusmodifikation. Hierzu schlagen sie im Rahmen von Weiterbildungsprozessen die Etablierung nachhaltiger sozialer Praktiken vor. Diese
12 Rationaler Orientierung und Beziehungs-Orientierung. Beide Typen weisen habituelle Gemeinsamkeiten auf (vgl. FN 8).
3.3 Der professionelle Habitus
91
sollen konsequent an den jeweiligen biographischen und professionellen Orientierungen der Akteurinnen ansetzen, um diese in ihren Sinnsetzungen zu erreichen. Im Rahmen der neu geschaffenen Praxiszusammenhänge kann zugleich implizites Wissen ausgebildet werden, das Habitualisierungen ermöglicht, die nach und nach zu Veränderungen des professionellen Habitus führen.
3.3.3
Ableitungen aus der Theorie und Empirie
Die dargestellten Überlegungen und Befunde zeigen die Spezifik und Herausforderungen professioneller Habitualisierungsprozesse. Die Überlegungen aus dem Berufsfeld der Sozialen Arbeit und Sozialpädagogik sind insbesondere deshalb interessant, da das abgeleitete Professionsideal ein dahinterliegendes Professionalitätsverständnis beinhaltet, das auch die nicht-ärztlichen Heilberufe in ihrem auf Handlungsorientierung fußenden Professionsverständnis berührt. Die professionelle Entwicklung zwischen Anschluss und Emanzipation von der Medizin sowie in Bewältigung der komplexen und widersprüchlichen Anforderungen im Gesundheitsbereich erfordert die Auseinandersetzung mit der eigenen Professionalität auf habitueller Ebene. Dies betrifft z. B. die Herausbildung von professionellen Haltungen und Handlungsorientierungen im Therapeuten-Klienten-/Patienten-Verhältnis und der Zugang zu einer subjektorientierten Behandlung über die auf Basis von quantitativen Wirksamkeitsnachweisen beruhende Evidenz hinaus. Das heißt, es braucht empirisch und theoretisch fundierte Konzepte zur ‚Fallbearbeitung‘, die den ganzen Menschen in den Blick nehmen. Hinweise für Handlungsbedarfe eröffnen sich auch auf der administrativen und politischen Ebene der Weiterentwicklung von Berufen zu Professionen – zwischen strukturellen Rahmenbedingungen und Routinen sowie berufsinternen Aushandlungsprozessen bezüglich eines einheitlichen Professions- oder Berufsverständnisses, aber auch auf bildungswissenschaftlicher und -praktischer Ebene zwischen dem Erwerb von standardisiertem fachspezifischen Wissen und der Eröffnung von Räumen für Bildungsprozesse, die die Ausprägung eines professionellen Habitus unterstützen. Für den Heilpraktikerberuf werden diese Fragen insbesondere dann bedeutsam, wenn sich eine gewollte Entwicklung hin zu einem staatlich geregelten Beruf abzeichnet. Bis dahin scheint die individuelle Berufsaneignung auf Habitusebene fast ausschließlich entlang des Gesamthabitus in seiner jeweiligen biographischen Ausformung zu erfolgen, wie im Weiteren sowie im empirischen Teil der Arbeit dargelegt wird.
92
3 Theoretische Bezüge
Auch bei institutionalisierten neuen Berufen und Professionen, dies wurde im obigen Abschnitt deutlich, ist die Ausprägung eines professionellen Habitus schwierig und zudem an Ressourcen gebunden, die über formelle Bildungsprozesse hinausgehen. Die biographischen Wissensbestände, Lern- und Handlungsressourcen werden relevant. Sie sind bedeutsam für die Berufswahl sowie in der beruflichen Habitualisierung – also der Ausbildung eines professionellen Habitus oder vorgelagerter beruflicher Selbstverständnisse. Biographische Wissensbestände und Ressourcen zeigen sich bei der Aneignung beruflicher Handlungsmodi und individuellen (Neu-)Auslegung beruflicher Handlungsanforderungen in Auseinandersetzung mit institutionellen Anforderungen des beruflichen Bildungssystems (über intendierte institutionelle Bildungsziele hinaus) oder der beruflichen Alltagspraxis. Dies belegen verschiedene (berufs-)biographische Studien (vgl. z. B. Daigler 2008; Alheit 1995b; Gieseke 1989; aber auch Witte 2010 für die Allgemeinmedizin) (vgl. auch Abschn. 3.6). Somit stellt sich auch die Frage, bis zu welchem Grad ein professioneller Habitus überhaupt institutionell ‚ausgebildet‘ werden kann, oder ob nicht immer ‚Verwerfungen‘ vorhanden sein werden, bedingt durch die habituellen Dispositionen und vor-biographischen Sinnsetzungen, die im zeitlichen Ablauf des Lebens erworben und je individuell durch die Fähigkeit der Biographizität aktualisiert werden (vgl. Abschn. 3.5). Berufliche Handlungsanforderungen treffen somit auf eine Eigenlogik biographischen Lernens der Akteurinnen und Akteure. Peter Alheit (1995b: 58 f.) hat sich professionssoziologisch unter der theoretischen Perspektive des Habitus mit der biographischen Passung der Studierenden zu ihrem gewählten Studiengang des Weiterbildungsstudiums der Bremer Universität auseinandergesetzt. Er fragte nach biographischen Mustern, die für die Wahl dieses Studienganges prädestinieren. Bedeutendes Ergebnis ist, dass das „Studium […] zunächst nicht als eigenständige berufliche Sozialisationsinstanz gesehen [wird], sondern als Phase in einem Habitualisierungsprozeß, der längst begonnen hat“ (Alheit 1995b: 61). Die Akteure setzen erfolgreich an ihre biographischen und professionellen Ressourcen an und nutzen das Studium, um ihre aktuelle Professionalität fortzusetzen oder zu ergänzen. Diesen „Passungsbedürfnissen“ (Alheit 1995b: 62) der Studierenden jener Zeit hat sich das Lehrangebot der Universität, fast i. S. eines „Klientelismus“ (Alheit 1995b: 62, Hervorh. i. O.) angepasst. Doch es gibt noch einen weiteren wichtigen Befund, der sich in einer zeitlichen Dimension der durchgeführten Forschung Alheits (1995b: 62 ff.) herausarbeiten lässt: Die Disposition zum Weiterbildungsstudium zeigt eine „beträchtliche Irritation biographischer Konstruktionsmuster“ (Alheit 1995b: 65) an. Der sog. Typus der „Patchworkers“ kann seine biographischen Vorerfahrungen für den
3.3 Der professionelle Habitus
93
beruflichen Bereich nicht als Ressourcen nutzen. Das Weiterbildungsstudium steht fast beliebig am Ende eines Suchprozesses, der gekennzeichnet ist durch „viele Einzelstücke, Collagen fast, aber nur wenig sichtbare Linien“ (Alheit 1995b: 64). Mit dem Studienbeginn ist dieser Falltypus aufgefordert „zum wiederholten Mal sein Typisierungsarsenal umzugruppieren“ (Alheit 1995b: 65). In diesem (zeitlichen) Zusammenhang entwickelt sich auch der Klientelismus der Lehrenden hin zu einem „postmodernisierten“ Lehrangebot, verbunden mit einer gewissen „Konsolidierung und Ausweitung des professionellen Basisangebots“ (Alheit 1995b: 64), aber auch mit einer zunehmenden „Beliebigkeit“ (Alheit 1995b: 64). Alheit (1995b: 69) fasst zusammen: „Diffuse Ansprüche konvergieren mit diffusen Angebotsmilieus. Professionelle Habitualisierungen werden geradezu blockiert.“13 Was diese Befunde für die professionelle Habitualisierung belegen, ist zum einen die Verschränkung von biographischen Konstruktionen mit professionellen Habitusbildungsprozessen. Zum anderen erfordern sie eine vertiefte (selbst-) reflexive Auseinandersetzung akademischer Einrichtungen, die Berufe zu Professionen entwickeln wollen, dahingehend, wie Veränderungen auf Habitusebene befördert oder eben auch blockiert werden können, und wie die professionellen Bildungsprozesse an die biographische Logik der Individuen angeschlossen werden können (vgl. z. B. Herzberg/Bernateck 2019). Dabei ist auch die gesellschaftliche Dimension in institutionalisierten Bildungsprozessen zentral. Hinzu kommt das Erfordernis, Bildungsprozesse konsequent unter das Paradigma einer Biographieorientierung zu stellen. Das bedeutet, die Individuen als aktive und selbstständige Gestaltende von Lernprozessen entlang der eigenen biographischen Logik anzuerkennen und sie in den kontinuierlich ablaufenden Prozessen 13 Alheit (1995b: 65 ff.) entfaltet seinen theoretischen Erklärungsansatz für die spezifische Problemlage, die hinter dem „biographischen Patchworking“ (Alheit 1995b: 65) steht, entlang der These der Erosion biographischer Handlungsumwelten. Dabei bedient er sich der Anregungen von Jeffrey Alexander (1993: 196 ff.) und stellt kontingentes biographisches Handeln als Prozess der Interaktion mit den Handlungsumwelten Kultur, Gesellschaft und Persönlichkeit dar, die wiederum Erzeugnis biographischen Handelns sind. Die Bildungsreform der BRD führte seit den 1970er Jahren zunächst zu einer Öffnung des sozialen Raums. Dies war verbunden mit bildungsbedingten Aufstiegsprozessen von Arbeiterkindern, der Förderung akademischer Bildung für Frauen und der Entwicklung neuer Berufe. Hier ist die erfolgreiche Kohorte des ersten Falltypus einzuordnen. „Öffnungs-Verlierer“ (Alheit 1995b: 67) oder nach Bourdieu (1987: 241 ff.) die „geprellte Generation“ ist hingegen die nachfolgende Generation, die von einer Schließung des sozialen Raums aufgrund knapper Arbeitsmarktchancen betroffen ist. Ihr Titelerwerb ist gleichzeitig mit dessen Entwertung verbunden, der Aufstiegsprozess fraglich und instabil. Alheit (1995b: 69) folgert: „Patchworking ist eine biographische Strategie, ein fortbestehendes soziales Aufstiegsversprechen mit der Erfahrung faktischer Schließung zu verknüpfen.“
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3 Theoretische Bezüge
ihrer individuellen Biographizität, die Habitusmodifikationen ermöglichen, zu unterstützen – mit einem vielleicht überraschenden Ergebnis. Den Anschluss an den Heilpraktikerberuf ermöglichen folgende Überlegungen: Da es sich um keinen professionalisierten sowie einen kaum institutionalisierten Beruf handelt, kann nicht von der Ausprägung und dem Vorhandensein eines (kollektiven) professionellen Habitus ausgegangen werden. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in ihrer beruflichen Habitualisierung an vorhandene biographische Ressourcen anschließen. Dies impliziert biographische Habitualisierungen, die Generierung einer hohen Fähigkeit der Biographizität, anstelle der professionellen Habitusbildung. Spezifische Ausformungen und Herausforderungen fallen dabei zusammen: Heilpraktikerinnen, die aus einem vorher erworbenen teil-professionalisierten Heilberuf kommen, können ggf. an diesen anschließen, ihr berufliches Handeln und die Entwicklung ihrer (neuen) Professionalität darauf aufbauen. Aber auch sie müssen mit den komplexen und widersprüchlichen Strukturen des Berufsfeldes umgehen, ohne sich z. B. auf die Beförderung professioneller Habitualisierungsprozesse in institutionellen Qualifizierungsprozessen stützen zu können. Diese Rahmenbedingungen müssen von den Akteuren mit ihren je individuellen und konkreten (berufs-)biographischen Vorerfahrungen verwoben und an die Gegebenheiten des zukünftigen Berufes angepasst werden. Die theoretischen Grundlegungen dahinter beschreiben die folgenden Kapitel.
3.4
Grundlagen zur Biographie
3.4.1
Zur Dialektik von Individuum und Gesellschaft
Ich beziehe mich im Besonderen auf die sozialwissenschaftliche Biographieforschung. Im deutschsprachigen Raum in den 1970er Jahren als Forschungsfeld wiederentdeckt (vgl. Alheit/Dausien 2009: 296), hat sich das Biographiekonzept, über das Alltagsverständnis von Biographie hinaus, heute in unterschiedlichen theoretischen und methodischen Ausformungen etabliert14 . Das Konzept der Biographie als „zentrale Dimension von Gesellschaft“ (Fischer/Kohli 1987: 25) ist theoretisches Erkenntnismodell, um „die Dialektik von Gesellschaft und Individuum, Struktur und Handeln, Zeitgeschichte und 14 Vgl.
ausführlich Alheit/Dausien (2009) zum Überblick über die historische Entwicklung, theoretische und methodische Ausdifferenzierung und Chance der Zusammenführung entlang empirischer Analysen mit dem Ziel gegenstandsbezogener Theoriebildung vs. der Bildung abstrakter Großtheorien.
3.4 Grundlagen zur Biographie
95
Lebensgeschichte“ (Alheit/Dausien 2009: 286) zu fassen. Eine zentrale Grundannahme hebt die Biographie als „soziales Konstrukt“ (Fischer/Kohli 1987: 26) oder „soziale Konstruktion“ (Hanses/Richter 2013: 64; Sander 2008: 415) hervor. Biographien werden durch soziale Prozesse und gesellschaftliche Strukturen, die sich in der Positionierung im sozialen Raum widerspiegeln, (vor-)strukturiert15 . Dies können Arbeitswelten, institutionelle Rahmungen und soziale Milieus sein, aber auch, in welche Zeit ich hineingeboren werde oder welchem Geschlecht ich mich zugehörig fühle (vgl. Alheit 2010a: 238 f.; Alheit 1992: 25 ff.). Damit ist der einzelne Mensch nicht völlig frei in der Konstruktion seiner Biographie. Er ist herausgefordert, sich die sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die ihn umgeben, biographisch anzueignen, neu auszulegen und auf dieser Basis wiederum neue Erfahrungen zu machen. Um konstruierende Prinzipien zu fassen, kann hierbei an die Potenziale der konkreten Subjekte angeschlossen werden. Die „Möglichkeitsräume“ (Sander 2008: 416) und „Gelegenheitsstrukturen des Erfahrung-Machens“ (Sander 2008: 416), die der Einzelne erschließt, sind dabei zunächst offen und auch größer, als sie jemals ausgeschöpft werden können. Dieser lebenslange Prozess der Erfahrungsaufschichtung wirkt im Gegenzug auf die gesellschaftlichen Strukturen zurück. (vgl. Hanses/Richter 2013: 64 ff.; Alheit/Dausien 2009; Sander 2008: 415 f.) Hinter dem Begriff der Biographie steht also kein abstraktes wissenschaftliches Konzept, sondern er bezieht sich in Anschluss an Alfred Schütz (1971) auf soziale Prozesse, Interaktionen und Interpretationen in der Alltagswelt und damit auf Konstruktionen erster Ordnung (vgl. Dausien 2001: 101). Die biographietheoretisch fundierte soziale Handlungskonzeption umfasst „alltägliche Deutungs-, Handlungs- und Strukturierungsprozesse“ (Schiebel 2003: 7) im wechselseitigen Austausch von Konstruktionsleistungen des Subjekts mit sozialen Rahmenbedingungen und Praktiken. Damit schließt sie an den sozialkonstruktivistischen Ansatz von Berger und Luckmann (2003/1969) an, nach dem die (oberste, alltagsweltliche) Wirklichkeit (auf Basis des alltagsweltlichen Wissens) gesellschaftlich konstruiert ist.16 Im Unterschied zu Konzepten wie der Sozialisation und dem 15 Vgl. zugespitzt Bourdieu (2011/1998) in der Kontroverse um Biographie und Laufbahnen/Verläufe („trajectoire“). Vgl. Griese/Schiebel (2018) zur Aufarbeitung der theoretischen, methodologischen und empirischen Auseinandersetzung um die „Biographische Illusion“ (Bourdieu 2011/1998) entlang der These der interaktiven (Sinn-)Konstruktion der Biographie durch den Rahmen einer Interviewsituation (vgl. Griese/Schiebel 2018: 117). Vgl. zur Kritik und Befürwortung der Position Bourdieus zur Illusion des konstruierten Lebenslaufes auch Schweiger (2011). 16 Zur biographietheoretischen Fundierung des Alltags-/Lebensweltansatzes von Alfred Schütz (sowie seiner wissenssoziologischen Fortführung im sozialkonstruktivistischen
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3 Theoretische Bezüge
Theorem der Individualisierung integriert das Konzept der Biographie bereits „auf der Ebene der Sozialwelt jene beiden Aspekte von Struktur und Handeln, Subjektund Objektperspektive, Gesellschaft und Individuum“ (Alheit 2010a: 226), ohne sie erst nachträglich auf theoretischer Ebene zusammenbringen zu müssen (vgl. Alheit 2010a: 226 f.). Unter dem Fokus des biographischen Wissens fassen Hanses und Richter (2013: 6417 ) Biographie als identitätsstiftende „Form des Wissens der Akteure über sich selbst“, in das persönliche Dimensionen, aber auch Teile des sozialen Gedächtnisses (s. u.) als Ausdruck gesellschaftlicher Rahmungen und sozialer Praktiken eingeflossen sind (vgl. Hanses 2010: 251 f.). Dieses biographische Wissen – als „komplexe Gesamtheit kognitiver, emotionaler, habitueller und körperlicher Wissensformen“ (Dausien 1997: 234, zit. n. Herzberg 2018: 331) – ist „notwendige Ressource zur Bewältigung von Lebensgeschichte und Lebenswelten in komplexen Gesellschaften und gleichzeitig eingeforderte Notwendigkeit“ (Hanses/Richter 2013: 64 f.) im ‚Ringen‘ um soziale Teilhabe. Der Erwerb biographischen Wissens erfolgt im Aufschichten und Reflektieren biographischer Erfahrungen in je konkreten Situationen im Lebensverlauf. Diese Kumulation benötigt Zeit, hat jedoch darüber hinaus auch die o. g. synthetische Qualität. So sind es nicht nur die Erfahrungen, die wir selbst gemacht haben, die Teil unseres biographischen Wissens sind. Wirksame Hintergrundmuster oder strukturen biographischer Erfahrung sind Mentalität und Intergenerationalität, die Teil eigener Erfahrung geworden sind, aber doch nicht in ihnen aufgehen (vgl. Alheit 2019: 151 ff.18 ). Zudem passt sich nicht jede Erfahrung widerstandslos Ansatz von Berger und Luckmann) nach Auseinandersetzung mit der Kritik an der handlungstheoretischen Konzeption, die sich, unter Einbezug von Habermas (1981), insbesondere um die Überbetonung der Subjekt- bzw. individuellen Seite des Handelns vs. eines im wechselseitigen Austausch mit sozialen Praktiken und Strukturen erfolgenden sozialen Handelns dreht, vgl. Schiebel (2003: 2 ff.). Die Verbindung der Biographieorientierung zu den Heuristiken Bourdieus ergibt sich daraus, dass „Habitusformationen, biographisches Wissen und Mentalitäten als Hintergrundstrukturen der Erfahrung fungieren“ (Griese/Schiebel 2018: 119, mit Bezug auf Alheit 1995: 296). 17 Mit Bezug auf Alheit (1997) und Hanses (2008). 18 Alheit schlägt in Modifizierung des Grammatik-Modells von Chomsky unter Verwendung der wechselseitigen Bezüge von Kompetenz und Performanz ein methodisches Modell der narrativen Rekonstruktion von Lebenserfahrungen vor. Er unterscheidet I) die Ebene der Performanz (konkrete Lebensgeschichten); II) die Ebene der performativen Kompetenz (Biographizität als individueller Erfahrungscode) und III) die Ebene der Hintergrundkompetenz (kulturelle Mentalitäten und soziale Habitusformen als Hintergrundmuster).
3.4 Grundlagen zur Biographie
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unseren bisherigen biographischen Typisierungen und Deutungen vergangener Erfahrungen an, sondern benötigt ggf. eine Bearbeitung, mit der Folge der je individuellen Neuauslegung unserer verfügbaren Wissensbestände. Dies erfolgt immer entlang vorstrukturierter Wissensbestände und begrenzt sich z. B. an den lebensweltlichen Grundelementen des Wissens (mit quasi-ontologischem Status wie der Historizität und Endlichkeit der individuellen Situation), die nicht auf eigener Erfahrungsaufschichtung gründen und nicht durch neue Erfahrungen modifiziert werden (vgl. Schütz/Luckmann 1979: 172, in Alheit/Hoerning 1989: 10)19 . (vgl. Alheit/Hoerning 1989: 8 ff.) Im Prozess biographischer Erfahrungsaufschichtung ist das Erinnern zentral. Es ist aktive Konstruktionsleistung – das Ordnen und Reflektieren der Ordnung, nach der biographische Erfahrungen zu biographischen Wissensbeständen und biographischen Ressourcen werden. Diese Rekonstruktionstätigkeit richtet sich am je individuellen biographischen Gesamtkonzept aus; im Durchlaufen von Vergangenheiten, dem Reflektieren und Modifizieren entsteht der eigene Erfahrungstyp – das eigene biographische Wissen (vgl. Hoerning 1989: 151 f., mit Bezug auf Fischer 1987: 466 f.). Der Prozess des orientierungswirksamen Aufschichtens lebensgeschichtlicher Erfahrungen im Rahmen des biographischen Gesamtkonzepts, das sich in dem je typischen biographischen Wissen, oder auch der Identität (vgl. Leonhard 2018: 511 f.), ausdrückt, verweist also auf den doppelten Zeithorizont von Vergangenem und Zukünftigem in der Lebensgeschichte (vgl. Hoerning 1989: 162; Leonhard 2018: 511 f.). Auch hierbei gilt, dass die biographische Konstruktion der Erfahrungen, ihre Aufschichtung und Ordnung, durch gesellschaftliche (soziale, historische) Konstitutionsbedingungen begrenzt ist (vgl. Hoerning 1989). Ausdruck des Sozialen in biographischen Konstruktionen sind die verschiedenen rekonstruierbaren Wissensformen in lebensgeschichtlichen Erzählungen, die Peter Alheit (1989) mit Bezug auf das wissenstheoretische Modell des sozialen Gedächtnisses20 in Erinnerungs- und Deutungsschemata differenziert. 19 Ähnliche Eigenschaften zeigt das Gewohnheitswissen, das uns bereits „im Horizont des Erfahrungsablaufs mitgegeben“ (Schütz/Luckmann 1979, zit. n. Alheit/Hoerning 1989: 10) ist. 20 Vgl. Leonhard (2018) zu kultur- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen des sozialen/kollektiven Gedächtnisses und ihrer Bezüge zur Biographie. Das soziale Gedächtnis wird entweder als Form des bewussten Erinnerns mit der Möglichkeit der Reflexion von Vergangenem, oder aber der latenten, nicht-deklarativen Formen der Tradierung von Wissensbeständen, wie sie sich in Bourdieus’ sozialem Habituskonzept in inkorporierten Gewohnheiten widerspiegeln, dargestellt (vgl. Leonhard 2018: 512 ff.). Das ‚soziale Gedächtnis‘ in seinem Gewordensein knüpft unmittelbar an biographische Wissensformen
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3 Theoretische Bezüge
„„Erinnerungsschemata“ sind individuelle und kollektive Wissensformen, deren Konstitutionskern die Ereignis- und Erlebnisebene darstellt“ (Alheit 1989: 140). Alheit stellt diese Schemata in einer geschichteten Anordnung dar: Auf der untersten Ebene liegen (spontane) narrative Rekapitulationen, insbesondere Stegreiferzählungen, darauf die Rekapitulationen beginnender Traditionsbildung, und darauf ist die Stufe ‚fester‘ Traditionsbildungen geschichtet. Die Erlebnisnähe nimmt mit den höheren Schichten ab, die Anreicherung mit lebensweltlichem Deutungswissen hingegen zu. (vgl. Alheit 1989: 140) Im Gegensatz dazu sind „Deutungsschemata“ „relativ selbständige, ereignisunabhängige Verarbeitungsformen sozialer Wirklichkeit“ (Alheit 1989: 142). In ihnen spiegeln sich normative Orientierungen und die Deutungsmacht einer Gesellschaft wider. Relativ nah an den Handlungsorientierungen ist die unterste Stufe der alltagsweltlichen Deutungspraxis. „Es geht um „Alltagstheorien“, um klassen- und schichtspezifische Orientierungen, um Deutungsmuster, die von subkulturellen und milieuspezifischen Erfahrungen geprägt sind“ (Alheit 1989: 142). Darüber liegen organisierte Deutungssysteme wie Massenmedien, Verbände und Parteien und obenauf die Schicht der institutionalisierten Deutungssysteme wie z. B. das schulmedizinische Wissenschaftssystem. Alle Schichten wirken auf das autobiographische Gedächtnis ein und prägen den Prozess lebensgeschichtlicher Erfahrungsbildung, worin sich der Weg „vom biographischen Wissen zum „sozialen Gedächtnis““ (Alheit 1989) von Gesellschaften unseres Typs widerspiegelt. (vgl. Alheit 1989: 139 ff.) Alheit betont zudem die konkurrierende Spannung zwischen Erinnerungs- und Deutungsschemata. Er geht von unterscheidbaren gesellschaftlichen „Wissensprofilen“ (Alheit 1989: 144) aus und unterscheidet das herrschende Wissensprofil einer Gesellschaft sowie Gegenwissensprofile. Neben der gesellschaftlichen Deutungshoheit zeichnet sich Ersteres durch einen Deutungsüberhang, verbunden mit eingeschränktem Erfahrungs- und Handlungsbezug aus, Letzteres durch einen Erfahrungsüberhang und schwach ausgebildete organisierte und institutionalisierte Deutungssysteme. Die Durchdringung und Konflikthaftigkeit beider Wissensprofile zeigen sich in der Beeinflussung der Erinnerungsschemata und alltagsweltlichen Deutungspraxis der Gegenwissensprofile durch herrschendes Wissen sowie umgekehrt in Angriffen des Erfahrungsüberhangs gesellschaftlichen Gegenwissens auf organisierte Deutungsangebote der herrschenden Seite.21 (vgl. Alheit 1989: 144 f.) und soziale Praktiken an (vgl. Leonhard 2018: 515 ff.). Durch die handelnden Akteure, die an ihm partizipieren, wandelt es sich permanent (vgl. Alheit 1989: 139). 21 In den hier geführten biographischen Interviews lassen sich Hinweise auf Gegenwissensprofile vermuten, ist doch der Heilpraktikerberuf auf der Gegenseite der Deutungshoheit
3.4 Grundlagen zur Biographie
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Die Wissensformen der Erinnerungs- und Deutungsschemata in lebensgeschichtlichen Erzählungen verweisen auf die autobiographischen Selbstthematisierungen der Akteure. Erzählungen eröffnen nicht nur einen Zugang zu deren biographischen Erfahrungen (vgl. Sander 2008: 416; vgl. Abschn. 3.4.1), vielmehr ist Biographie „narrative Konstruktion“ (Hanses/Richter 2013: 65). Sie ist immer wieder neu durch die Erzählenden hervorzubringen. Dabei stellt die erzählte (oder geschriebene) Lebensgeschichte nicht die direkte Ablichtung des tatsächlich Geschehenen dar. Vielmehr ist sie „(Re-)Konstruktionsleistung des Subjekts“ (Hanses/Richter 2013: 65) entlang einer je eigenen Logik und aus einer Gegenwartsperspektive heraus. Auf Basis der Erfahrungsaufschichtung wird eine Idee über die eigene Biographie angeeignet und in Erzählungen (re-)konstruiert. In diesen Erzählungen scheinen die sozialen Welten durch die Subjektperspektive hindurch. Nur mit der Berücksichtigung dieses auf gesellschaftliche Strukturen und soziale Praktiken verweisenden Sinnüberschusses lassen sich die subjektiven Narrationen fassen und die dahinterliegenden biographischen Konstruktionen verstehen. Damit sind individuelle Rekonstruktionen gleichzeitig Ausdruck des sozialen Allgemeinen. (vgl. Hanses/Richter 2013: 65 f.; Hanses 2008: 11 ff.) Die unauflösliche Grundspannung zwischen sozialer Situiertheit und konstruierendem Prinzip verlangt einen Fokus der Biographieforschung auf die kontextuelle Gebundenheit und Besonderheit je konkreter biographischer Konstruktionen – sie herauszuarbeiten in genauen empirischen Rekonstruktionen biographischer Prozesse, Deutungs- und Orientierungsmuster sowie Handlungsstrategien der Akteurinnen (vgl. Alheit/Dausien 2009: 309 f.).
und gesellschaftlichen Legitimation der klassischen Schulmedizin angesiedelt. Nicht zuletzt ist zu vermuten, dass auch verschiedenartige individuelle und kollektive Sichtweisen auf Krankheit und Gesundungsprozesse zum Tragen kommen. Im Gegenzug lassen sich jedoch auch Durchdringungen der Wissensprofile erwarten, angefangen beim erforderlichen abrufbereiten medizinischen Wissen für die amtsärztliche Überprüfung der Heilpraktikeranwärterinnen. Dass der oben beschriebene Erfahrungsüberhang von Gegenwissen das herrschende Wissensprofil der Schulmedizin durchdringt, zeigt sich z. B. daran, dass die vom Mediziner Samuel Hahnemann entwickelte alternative Medizin der Klassischen Homöopathie verstärkt von Medizinerinnen mit anerkannter Zusatzbezeichnung praktiziert und von der GKV vergütet wird, dies trotz fehlender methodisch anerkannter Evidenzbasierung, wie Norbert Schmacke (2015) kritisch hervorhebt. Alheit (1989: 145) spricht von Symptomen der „Umgruppierung von Wissensprofilen im „sozialen Gedächtnis“ unserer Gesellschaft“. Wie nun die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker konkret mit den weitgehend konträr liegenden Wissensprofilen umgehen bzw. ob und wie diese sie in ihrem eigenen Leben berührt haben und sich auf die Berufswahl und -aneignung auswirken, wird im empirischen Teil aufzuzeigen sein.
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3 Theoretische Bezüge
Die verschiedenen Dimensionen der sozialen Konstruktion der Biographie – als Produkt der Moderne – verändern sich unter den Herausforderungen der fortgeschrittenen Moderne. Die in wesentlichen Teilen vorgegebene soziale Orientierungsstruktur Biographie, deren normative Vorstellungen der sozialen Wirklichkeit statistisch und konkret nicht mehr entsprechen, ist von den Individuen kontinuierlich zu aktualisieren. Die Veränderungen des ‚Normallebenslaufs‘ (vgl. Kohli 1985; Sackmann 2013: 19 ff.)22 im Zuge des sozialen Wandels (vgl. Zoll 1999a: 327 ff.), die Fragilität postmoderner Lebensläufe (vgl. z. B. Alheit 1995: 276 ff.) betreffen insbesondere die Bildungs- und Berufsbiographien und spitzen sich in weiblichen Biographien (vgl. Dausien 2001) zu. Sie gehen mit erhöhten Pluralisierungschancen und Wahlmöglichkeiten einher. Zugleich sind sie von der Gefahr bedroht, dass die ständig aufzubringende individuelle und kollektive Leistung, sich neu zu orientieren und anzupassen, auf neue normative Begrenzungen trifft und die eigene biographische Leistung nicht an reale Handlungsressourcen und Wahlmöglichkeiten der Gesellschaft anschließen kann. Damit verändern sich die Freiheit zum Zwang und die optimistische Flexibilisierung des Lebensentwurfs zu Unsicherheit und Überforderung. (vgl. Alheit/Dausien 2009: 298 ff.) Dies verdeutlicht, dass die Biographien selbst zunehmend zum (riskanten) lebenslangen Lernfeld geworden sind (vgl. Alheit 2019: 17 ff.; Alheit 1995: 288)23 . Biographisches Lernen wird zur Basisstruktur von Bildungsprozessen (vgl. Alheit 2010a, 2008, 1993). Biographische Arbeit oder biographisches Lernen umfasst dabei den je individuellen Umgang mit subjektiven (individuellen und kollektiven) biographischen Herausforderungen unter Rückgriff auf die eigenen biographischen Ressourcen, das Auseinandersetzen mit dem eigenen Gewordensein und die Verbindung zur Zukunft.
22 Zur Kritik und Modellierung des Konzepts des (dreiphasigen) institutionalisierten Lebenslaufs vgl. Riley/Riley (1994) und Sackmann (2013: 25 ff.). 23 Sackmann (2013: 53 ff.) spricht im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Anforderungen an die handelnden Akteure im Prozess ihres Lebens und ihrer Ausgestaltung der eigenen Biographie von biographischer Kompetenz, als „praktische, meist nur halbbewusste Steuerung des Prozesses biografischen Handelns“ (Sackmann 2013: 53). Die biographische Kompetenz vermittelt zwischen den gesellschaftlichen Erwartungen und den individuellen Handlungsweisen und Fertigkeiten, die im Lebensablauf erworben werden. Sie berührt z. B. das Wahrnehmen von Gelegenheiten im Ringen um begehrte Positionen auf dem Arbeitsmarkt.
3.4 Grundlagen zur Biographie
101
Das ‚Lernfeld‘ Biographie wird insbesondere dann herausgefordert, wenn plötzliche, umfassende und drastische soziale und gesellschaftliche Veränderungen auftreten, die die gesamte Biographie des Einzelnen sowie ganzer Gruppen erschüttern.
3.4.2
Biographisch anzueignende Dimensionen des Transformationsprozesses in der ehemaligen DDR
Ein für diese Studie relevantes Beispiel – der Fokus im empirischen Teil der Arbeit liegt auf den Interviews mit Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, die in der ehemaligen DDR sozialisiert worden sind – ist der gesellschaftliche Transformationsprozess (die ‚Wende‘) in Ostdeutschland nach 1989. Zu seinen biographischen Herausforderungen und deren individuellen und kollektiven Verarbeitungsprozessen liegen umfangreiche theoretische und empirische Arbeiten vor (vgl. z. B. Alheit 1995a; Alheit et al. 2004; Andretta/Bethge 1996; Engler 1999, 2002; Diewald/Solga 1996; Miehlke 1991; Schiebel 2003; Zoll 1999). Im Vergleich zum soziokulturellen Wandel der fortgeschrittenen Moderne, der auch die Lebenswelt der Menschen Westdeutschlands hin zu einer „Krise der Normalität“ (Zoll 1999a: 328) verändert, die jedoch langsamer, ungleichzeitiger und als von innen heraus angesehen abläuft, trat der Transformationsprozess der DDR als umfassender und abrupter lebensweltlicher Umbruch auf. Er machte nicht nur eine biographische Neuauslegung notwendig, sondern führte zu einer Identitätskrise, insbesondere bei den Menschen der Generationen über 35–40 Jahre, die den größten Teil ihres Lebens in der ehemaligen DDR verbracht hatten und nun abrupt ihre lebensweltliche Sicherheit verloren. (vgl. Zoll 1999a: 324, 327 ff.) Der lange notwendige und nun beschleunigte Ablauf von Modernisierungsanforderungen (vgl. z. B. Alheit 1995a; Zoll 1999a) in einer sozial und gesellschaftlich hoch unsicheren Situation, in der sich neben den politischen Machtstrukturen „fast die Gesamtheit der sozialen, rechtlichen, ökonomischen und kulturellen Verankerungen der individuellen Lebenswelten zugleich“ (Miehlke 1991: Vorwort) veränderten, stellte hohe Anforderungen an die je individuelle, aber auch kollektive biographische Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess in seinen Chancen und Risiken an sich. Die berechenbare sozialstrukturelle Rahmung des DDR-Subraums fiel weg, mit der Gefahr, dass die umgehende Transformation der Denkstile in Lebensstile unter neuen Bedingungen misslingen muss und Biographie und Gesellschaft auseinander fallen (vgl. Alheit 1995a: 108 ff.).
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3 Theoretische Bezüge
Der Vertrauensverlust des lebensweltlichen Umbruchs berührte alle Ebenen und Bereiche. Sozialpolitisch wurde er z. B. ausgelöst durch den Wegfall der Arbeitsplatzsicherheit, aber auch der vertrauten Sicherungs- und Subventionssysteme, auf der politischen Ebene durch die Enttäuschung über die Führung des realen Sozialismus, aber auch über das Ausmaß der nun öffentlich gewordenen individuellen Bespitzelungen. Vormaliges ehrenamtliches Engagement wurde nun, behaftet mit dem Stigma einer staatlichen Nähe, abgelehnt. Viele Menschen, die sich aktiv an der Neugestaltung beteiligten, erfuhren schmerzhaft die Grenzen der Akzeptanz ihrer Wissensbestände und biographischen Erfahrungen durch erneut übergestülpte Strukturen sowie schwierige Kommunikationspraxen mit den Menschen aus Westdeutschland, die nun ein funktionierendes neues System im Osten Deutschlands aufbauen sollten und vergaßen, die Menschen vor Ort aktiv einzubeziehen und aktive Lernprozesse bei ihnen zu ermöglichen. Dies führte, auch bei den motivierten Menschen, überwiegend zu einer ertragenden Haltung der Passivität, die als lebensweltliche Prägung der paternalistischen Politik in der ehemaligen DDR noch vertraut war. Die anfängliche Euphorie der Freiheit vieler wandelte sich zu Rückzug und Depression. (vgl. Zoll 1999a)24 Brozus (1999: 268) konstatiert die Veränderung der Identität zum damaligen Zeitpunkt „in Form der Ausbildung einer spezifisch ostdeutschen Identität, die sich jenseits der alten Staatsform DDR konstituiert und wesentlich auf einem Rekurs auf dort einst vorhandenen „Tugenden“ basiert.“ Das neue Selbstbewusstsein vieler Menschen wird entlang einer Abgrenzung und Ablehnung
24 Die beachtlichen Unterschiede in der persönlichen Betroffenheit durch die ‚Wende‘ sollen nicht nivelliert werden. Zoll (1999a: 324) spricht z. B. von den „Krisengewinnlern“ am anderen Ende des Spannungsfeldes. Die vorgestellten Befunde der Transformationsforschung, die sich vorrangig auf biographieanalytische Studien der 1990er und 2000er beziehen, in denen die Erforschung des Transformationsprozesses einen zentralen Fokus bildete, mögen pessimistisch klingen. Da erzählte Lebensgeschichten immer aus einer Jetzt-Perspektive (re-) konstruiert werden, können heute weitere und positivere Dimensionen in den Blick rücken, zumal bei Menschen, die diese biographische Phase erfolgreich innerlich bearbeitet haben und dies auch nach außen hin präsentieren können (vgl. auch Alheit (1995, 2010) zur biographie- und bildungstheoretischen Bedeutung der subjektiven Integrations- und Identitätsleistung im lebensgeschichtlichen Prozess). Allerdings mögen insbesondere die positiven Sichtweisen in den Studien unterrepräsentiert sein, da die modernisierungswilligen, oft jungen Menschen die Region verließen und somit für die Studien fehlten (vgl. Alheit 2019: 43 ff.). Im empirischen Teil dieser Studie wird der Bezug auf diese Umbruchsituation noch einmal deutlich. Sie spiegelt sich in den Erzählungen der hier präsentierten Fälle der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker wider und trägt maßgeblich zur Neuorganisation ihres beruflichen Lebens bei.
3.4 Grundlagen zur Biographie
103
der neuen Lebensweltstrukturen konstruiert, anstelle einer möglichen kritischen Auseinandersetzung damit (vgl. Brozus 1999: 267 f.). Bei jüngeren Menschen war die Habitualisierung durch die DDR-Lebenswelt noch nicht so stark, sodass sie die neuen Bedingungen biographisch besser aktualisieren konnten; gleichwohl ging die Freisetzung bei einigen jüngeren Menschen mit der Flucht in rechtsradikale Strömungen einher (vgl. Zoll 1999a: 324). Diese Tendenz zeigte sich auch intergenerational dramatisch: Vormals unbearbeitete Themen, die über die Generationenschwellen hinweg Zeichen von Traditionsbildung und mentale Beharrungsmuster aufzeigen, brachen hervor und zwingen bis heute zu neuer individueller und kollektiver Interpretation und Bearbeitung (vgl. Alheit 2019: 137 ff.; Alheit et al. 2004). In diesem Zusammenhang zeigt sich die Persistenz habitueller Mentalitäten über die Generationenschwellen hinweg, die biographische Modernisierungsprozesse bei den jüngeren Generationen behindern können – dies gleichsam als intergenerationaler biographischer Lerneffekt. Zur biographischen Bearbeitung des gesellschaftlichen Transformationsprozesses in seinen Chancen und Risiken an sich, kommt die besondere Dimension der Arbeit in der DDR. Brose und Wohlrab-Sahr (2018: 489 ff.) konstatieren die biographische Bedeutung der Arbeit als „Biographiegenerator“ (Hahn 1988), die nicht zuletzt durch das Problem der wachsenden und anhaltenden Arbeitslosigkeit durch die De-Industrialisierungsprozesse nach der ‚Wende‘ in den neuen Bundesländern zunahm und bis heute mit Diskontinuitäten und Unsicherheiten verbunden ist. Das Selbstverständnis der Menschen in der ehemaligen DDR war gemäß der Marxschen Auffassung in erster Linie an die Arbeit gebunden (vgl. Geulen 1998: 81). Auch Engler (1999: 173–208) beschreibt in seinem Kapitel zur „arbeiterlichen Gesellschaft“ die Bindung der ökonomischen und sozialen Struktur der DDR an die „arbeitende Klasse“ (Engler 1999: 200). Sie ist hier jedoch nicht an die proletarische Klasse gebunden, deren Einfluss sich gerade nicht in der politischen Herrschaft widerspiegelte (auch wenn auf individueller Ebene der Berufsabschluss als Kennzeichen der Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse als dauerhaftes soziales Integrationsmerkmal wahrgenommen wurde (vgl. Kröplin 1999: 174)). Wichtiges Merkmal der DDR-Gesellschaft war die verfassungsrechtliche Garantie auf Arbeit. Das bisher nicht gekannte Risiko der Arbeitslosigkeit bildete die auffälligste Veränderung auf dem Arbeitsmarkt im Zuge des Transformationsprozesses (vgl. Diewald/Solga 1996: 260). Hierbei waren die Frauen doppelte Verliererinnen der ‚Wende‘ – sowohl lebensweltlich als auch beruflich (vgl. Zoll 1999a: 325). Die Selbstverständlichkeit des Nebeneinanders von Berufs- und Reproduktionsarbeit wurde irritiert. Ostdeutsche Frauen waren erstmalig mit der gesellschaftlichen Diskriminierung von
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3 Theoretische Bezüge
Frauen konfrontiert, dies jedoch nicht als strukturelles Problem der Geschlechterdifferenz, sondern als Folge der ‚Wende‘ deutend. Sie waren besonders vom Arbeitsplatzabbau und der Umschulung in Berufe mit wenig gesellschaftlichem Ansehen bzw. wenig Kompetenzen betroffen (vgl. Kröplin 1999: 183 ff.). Die Ablösung der „arbeiterlichen“ Gesellschaft durch eine „Transfergesellschaft“, deren Kennzeichen neben der Massenarbeitslosigkeit eine kollektive Abwanderung der Menschen auf der Suche nach Arbeit, aber auch der Ausgleich der strukturellen Verwerfungen durch Transferleistungen ist, ging einher mit dem Verlust sozialen Zusammenhalts. Dieser war ebenfalls über die Arbeitskollektive manifestiert worden, über die sich neben der gemeinsam verbrachten Arbeitszeit ein bedeutender Teil des Freizeitlebens organisierte. Hinzu kam die Erfahrung des sozialen Scheiterns nach der ‚Wende‘. (vgl. Engler 2002; Zoll 1999a) Biographisch ist die arbeitsbedingte Umbruchsituation mindestens auf zwei Ebenen zu verarbeiten: dem Verlust der Arbeit als solcher in ihrer lebensweltlichen Verankerung der Sinnstiftung und Orientierung sowie dem Wegbrechen der sozialen und kontextuellen Dimensionen um die Arbeit herum, die noch nicht durch neue Strukturen und soziale Praxen ersetzt werden konnten. Hinzu kam das Erfordernis der je individuellen biographischen Bearbeitung beruflicher Modernisierungsanforderungen (vgl. Andretta/Bethge 1996). In diesem Kontext bezieht sich berufliche Transformation auf die „Aneignung neuer und die Neuinterpretation alter Berufsrollen“ (Andretta/Baethge 1996: 706) sowie darüber hinaus auf „die je individuelle Neugewinnung der Berufskategorie als persönliches biographisches ebenso wie als sozialstrukturelles Organisationskonzept“ (Andretta/Baethge 1996: 706). Dabei war der Beruf als solcher „auffallend stabilisierendes Element“ (Diewald/Solga 1996: 271) im beschleunigten Strukturwandel und „entscheidendes, weil anschlußfähiges Brückenglied zwischen den Beschäftigungssystemen der DDR und der Bundesrepublik“ (Diewald/Solga 1996: 271). Hiermit verbunden ist das Kennzeichen einer hohen Beruflichkeit des Beschäftigungssystems in beiden deutschen Staaten, die letztlich zwar das Ausmaß beruflicher Verwerfungen in Grenzen hielt, allerdings auch die Offenheit beruflicher Mobilitätsprozesse. Viele Veränderungen erfolgten unterhalb der Berufsebene mit umfangreichen Qualifizierungsprozessen in Anpassung an die veränderten Anforderungen. In Leitungsfunktionen fand ein auffällig hoher Wechsel bzw. das Verlassen des Tätigkeitsfeldes nach der ‚Wende‘ statt. (vgl. Diewald/Solga 1996: 270 ff.) Insbesondere diejenigen Ostdeutschen, die vorher in staatsnahen Berufen und Positionen tätig waren, legten zum Teil weite berufliche Distanzen zurück, um ihre Erwerbsverläufe zu stabilisieren (vgl. Andretta/Baethge 1996: 710). Andretta und Baethge verweisen auf den Rückgriff auf biographische Ressourcen
3.5 Biographizität als unverwechselbarer, innerer Verarbeitungscode …
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in der Neuauslegung der Berufsbiographien im Transformationsprozess: „Unter dem Aspekt eigenständiger Organisierung der Berufsbiographie werden viele unter veränderten Vorzeichen auf alte Wahrnehmungs- und Orientierungsmuster zurückverwiesen“ (Andretta/Baethge 1996: 720). Die Befunde verweisen auf einen kollektiven Erleidensprozess mit der Verunsicherung salutogener Faktoren (vgl. Antonovsky 1997), wie Miehlke (1991: Zusammenfassung) zu gesundheitlich relevanten Auswirkungen der biographischen Herausforderung des Transformationsprozesses schreibt: „Die Zerstörung der gewohnten und überschaubaren Strukturen, die Auflösung sozialer Netzwerke durch Arbeitslosigkeit, der Überfluß und gleichzeitige Mangel an Informationen und die Entwertung des bisher Geleisteten führen in der auf diese Umstände unvorbereiteten Bevölkerung zu einer Überforderung, die sich durch deutliche Anstiege in Morbidität und Mortalität bemerkbar macht.“ In die arbeits- und berufsbezogenen Dimensionen des Transformationsprozesses fügt sich der Heilpraktikerberuf noch in einer besonderen Spezifik ein: Erst mit der ‚Wende‘ eröffnet sich in der ehemaligen DDR der Zugang zum Heilpraktikerberuf und kann als Option in den Blick genommen werden. Aufgrund seiner freien Gestaltung erfordert und ermöglicht er eine individuelle Aneignung und Interpretation. Auch hier muss das handelnde Subjekt auf seine eigenen biographischen Sinnsetzungen und Ressourcen zurückgreifen. Dies kann biographische Chance sein, ist aber auch mit Risiken verbunden und schließt Unsicherheiten sowie die Gefahr des Scheiterns ein. Wie nun die individuelle Bewältigung der Herausforderungen dieser ungeregelten Berufstätigkeit vonstatten geht und auf welche biographischen Ressourcen und Logiken die zukünftigen Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker zurückgreifen (können), soll im empirischen Teil der Arbeit an drei prägnanten Fällen aufgezeigt werden. Zuvor zeigt das folgende Kapitel theoretische Überlegungen zum inneren Verarbeitungscode biographischer Erfahrungen, der Biographizität.
3.5
Biographizität als unverwechselbarer, innerer Verarbeitungscode lebenslanger Lernprozesse – der biographische Habitus
Das Konzept der Biographizität versucht, die beiden gegenüberliegenden biographietheoretischen Endpunkte – der sozial konstruierten und durch Positionierung im sozialen Raum geprägten Konstruktionen sowie der Biographien als konstruierende Prinzipien – auf der je konkreten Ebene der subjektiven biographischen
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3 Theoretische Bezüge
Konstruktionsprozesse in ‚lokalen‘ Konstellationen im sozialen Raum einzufangen (vgl. Alheit/Dausien 2009: 309). Von Martin Kohli (1988: 37) begrifflich in die soziologische Diskussion eingeführt (vgl. Alheit 2011: 25), hat sich insbesondere Peter Alheit (z. B. 201925 , 2010a, 2008, 1995, 1993, 1992; Alheit/Dausien 2000) in den letzten drei Jahrzehnten mit dem Konzept der Biographizität auseinandergesetzt – es anhand empirischer Befunde beschrieben und theoretisch verdichtet. Biographizität stellt als „Schlüsselkompetenz in der Moderne“ (Alheit 2008: 15) unseren unverwechselbaren, selbstreferenziellen inneren Prozess der Organisation von Erfahrung und Lernen dar, mit dem wir neue Erfahrungen an einen inneren Code der Erfahrungsverarbeitung anschließen, der seinerseits bereits selbst Ergebnis vorher verarbeiteter Erfahrungen und einer entsprechenden Selektion dieser darstellt (vgl. Alheit 1995: 292; Alheit 2011, 2019). Diese sich im Prozess biographischen Lernens ständig verändernde Kompetenz sichert die individuelle Handlungsautonomie im Lebensverlauf (vgl. Alheit 2010a, 2008, 1995). Als transitorischer Bildungsprozess biographischen Lernens und biographischer Arbeit über die Zeit (vgl. Alheit 1993, 1995; Alheit/Dausien 2000: 275 ff.) wirkt sie zugleich selbst- und identitätsbildend; in der Herstellung von Kontinuität unseres „Selbst-Seins“ (Alheit 2010a: 238) in biographischer Bearbeitung von Veränderungen und Diskontinuitäten, die nicht zuletzt die sozialen Gestaltgrenzen in unserer Biographie – die Biographizität des Sozialen (vgl. Alheit/Dausien 2000) – widerspiegeln (vgl. Alheit 2010a: 238 ff.). Dabei erweist sich die Biographizität „als einzigartige „Grammatik des Sozialen““ (Alheit 2019: 120), in der „Re-Konstruktion von sozialer Wirklichkeit durch die generative Strukturlogik individueller Erfahrungsbildung“ (Dausien 2001: 102). Mit der „Grammatik“ wird auf die biographischen Handlungsressourcen der Individuen verwiesen, die sich in den jeweiligen Performanzen ausdrückt.
25 Peter Alheit (2019) bezieht sich in seinem aktuellen Werk zu einer Theorie der Biographizität (als bildungswissenschaftlicher Rahmenkonzeption, vgl. Alheit 2019: 43 ff.) auf selbst veröffentlichte deutsch-, englisch- und französischsprachige Arbeiten der Jahre 1983 bis 2016. Er zeigt die Entwicklung des Konzepts auf und verdichtet es theoretisch, unter Bezugnahme auf verwandte konzeptionelle Traditionen wie der Phänomenologie, dem Symbolischen Interaktionismus, Sozialkonstruktivismus, der Figurationstheorie sowie praxistheoretischen Überlegungen Bourdieus. Zudem kontrastiert er es mit empirischen Befunden aus verschiedenen Kulturen und Milieus. Somit entsteht ein Verständnis über das Lernen in postmodernen Gesellschaften. (vgl. Alheit 2019: 15) Da mir Peter Alheit sein deutsches Manuskript vor Übersetzung ins Katalanische zur Verfügung gestellt hat, wofür ich ihm sehr danke, finden sich hier verwendete Zitierungen in Deutsch – im Originalwerk in katalanisch.
3.5 Biographizität als unverwechselbarer, innerer Verarbeitungscode …
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Übergeordnet wirken verschiedenartige „Semantiken“ als „objektivierte Bedeutungshorizonte“ (Alheit 2019: 124) ein – neben der sozialen Ungleichheit (der „Klasse“) sind dies z. B. das Geschlecht, ethnische, religiöse und zeitgeschichtliche Semantiken. Diese werden in je einzigartiger Art und Weise – eben der Biographizität – im biographischen Prozess verarbeitet. Diese „mentale Grammatik“ (Alheit 2019: 120) bildet eine produktive Ressource des Selbst- und Weltbezugs, die sich in den erzeugten Performanzen widerspiegelt. Alheit nimmt hier theoretisch Bezug auf die Überlegungen Noam Chomskys (1969) zur generativen Transformationsgrammatik, gleichwohl anmerkend, dass bei Chomsky die Beziehungen zwischen Semantik und Grammatik sowie die Mehrdimensionalität des Grammatikbegriffs nur unzureichend geklärt sind. Jedoch ist Chomskys Grammatikbegriff anschlussfähig – als mentale Tiefenstruktur, als Erzeugungsprinzip, das durch bestimmte Transformationsregeln (syntaktisch) eine Performanzebene generiert. Hiermit fasst Alheit zunächst die Art und Weise der je individuellen Verarbeitung der verschiedenartigen gesellschaftlichen Semantiken, die sich doch strukturähnlich zeigt und damit auf relativ stabile Transformationsregeln des Erfahrungscodes der Verarbeitung verweist. In der Übertragung der linguistischen Grammatiktheorie auf den komplexen Bereich der Erzeugung von Verhaltensdispositionen, Routinen, Praktiken, Geschmäckern, impliziten Wissens- und Erfahrungsressourcen über den Lebensverlauf hinweg, also auf den Bereich biographischer Erfahrung, verweist Alheit jedoch auf die Grenze des Konzepts Chomskys, das Erzeugungsprinzip als Art angeborener Basisfähigkeit anzunehmen. Alheit betont, dass Biographizität als einzigartige „mentale/soziale Grammatik“ des Individuums im Prozess biographischer Erfahrungsaufschichtung entsteht. Im Zuge selbstreferenzieller Verarbeitung externer Impulse, unter Einbindung der Semantiken des konkreten sozialen Umfeldes, entsteht die innere Logik der Verarbeitung, die sich zugleich durch neue Impulse verändern kann. Sie verändert sich jedoch nicht nach einem regelhaften System, sondern im Rahmen der inneren Logik, die nicht zu abrupten Richtungsänderungen, sondern im Bereich anschlussfähiger Basisimpulse zu allmählichen Verschiebungen führt. Um diese Dimension zu fassen, greift Alheit auf das Habitus-Konzept Bourdieus zurück. Auch dieses nimmt Bezug auf Chomskys Grammatik. In der Unterscheidung von Opus operatum, der strukturierten Struktur, und Modus operandi, der strukturierenden Struktur (vgl. Abschn. 3.1.1), verweist Bourdieu auf ein dialektisches Erzeugungsprinzip, das auf einer vorgängigen sozialen Syntax aufbaut. Diese Tiefenstruktur wird bei Bourdieu durch die Praxis einverleibt, sie ist „geronnene Lebensgeschichte“ (Bourdieu 1997: 57 f., zit. n. Alheit 2019: 122). Hiermit nimmt Bourdieu zugleich Bezug auf Durkheim (1938, in Alheit
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3 Theoretische Bezüge
2019: 122), überbetont jedoch die Objektivierungsperspektive, ausgedrückt in der strukturbedingten eigensinnigen Widerstandskraft und Trägheit des (kollektiven) Habitus auf Basis der Klassensemantik. Dies sieht Alheit kritisch. Er erweitert den Habitus, indem er zum einen die generative Kraft des in der zeitlichen Dimension einer Biographie aufgeschichteten individuellen Erfahrungssystems betont, dessen Selbstreferenzialität eine relative Autonomie entwickelt. Zum anderen setzt Alheit die dynamische Verbindung von „Semantik“ und „Grammatik“ in einen zeithistorischen Bezug. Nicht mehr nur eine „Semantik“ – die der sozialen Klasse – ist strukturell vorherrschend, sondern viele „Semantiken“ wirken in verschiedenen Konstellationen und Gewichtungen über den Verlauf des Lebens auf die Individuen ein und können neue Dimensionen von „Grammatiken“ – Habitusformen – hervorbringen. Dabei hat sich auch die Funktion von „Grammatiken des Sozialen“ (Alheit 2019: 124, Hervorh. i. O.) von kollektiven Basisorientierungen zum Individuum selbst verschoben. Vormoderne ständische Fixierungen im sozialen Raum wechselten zu begrenzten Bewegungen bei relativer Stabilität sozialer Habitualisierungen in der Moderne. Nun, in der fortgeschrittenen Moderne, erodieren sozialstrukturelle Sicherheiten und soziale Beziehungsformen; die biographischen Risiken werden auf das Individuum selbst verlagert, soziale Beziehungen sind ständig neu herzustellen. (vgl. Alheit 2019: 120 ff.) Somit kann hervorgehoben werden, dass die „Grammatik des Sozialen“ – die „strukturierte Struktur“ und die „strukturierende Struktur“ – an den je individuellen biographischen Erfahrungsprozess gebunden ist. Die strukturierenden Prinzipien sind komplexer als je zuvor und werden je einzigartig verarbeitet – als Biographizität des Individuums – als biographischer Habitus. (vgl. Alheit 2019: 120 ff.) In ihm drückt sich die biographisch wirksame Semantik sozialer Strukturen aus, entlang derer sich die je individuelle Biographie ausformt und entlang weiterer Erfahrungen ausdifferenziert, sowie, in gewissen Grenzen, neu formiert und auf die gesellschaftlichen Strukturen zurückwirkt. Wie wird nun die Synthese von Individualität und Struktur deutlich in den jeweiligen Biographien der Menschen; wie codieren wir soziale Semantiken (vgl. Alheit/Dausien 2000: 274 ff.)? Wie gelingt die Herstellung einer je individuellen biographischen Konsistenz im Prozess des Lebens? Wie drückt sich also unser biographischer Habitus aus? Zunächst gehen wir davon aus, Planerinnen und Planer unseres Lebens zu sein, es entsprechend unserer Ideen zu gestalten und nach Bedarf anpassen zu können. Diese Disposition des intentionalen Handlungsschemas (vgl. Schütze 1981, 1984) kann jedoch irritiert werden, wenn andere Prozessstrukturen des Lebensablaufs
3.5 Biographizität als unverwechselbarer, innerer Verarbeitungscode …
109
(vgl. Schütze 1981, 1984) dominieren: wenn institutionalisierte Ablaufmuster wie Familiendynamiken, langwährende Erkrankungsprozesse oder institutionelle Prozedierungen auf uns einwirken, die zudem von generativen Strukturen wie dem Geschlecht, der Generation oder dem Herkunftsmilieu beeinflusst werden – die wiederum den (begrenzenden) Rahmen unserer Biographie bedingen. Schwierig ist auch die Erfahrung biographischer Verlaufskurven, in denen wir zunehmend die Kontrolle über unser Leben verlieren, oder das Erleben von Wandlungsprozessen, in denen wir plötzlich unserem Leben eine völlig neue Wendung geben, ohne genau zu wissen warum, und in denen noch offen ist, ob dieser biographische Prozess in eine Verlaufskurve oder ein Handlungsschema mündet. Dass wir trotzdem das Gefühl eigener Planungsautonomie behalten, liegt an der biographischen Verarbeitung des Wissens darüber. Zum einen entlasten externe Prozessoren und Routinen vom (alltäglichen) Entscheidungszwang und geben uns deshalb Spielraum für die bewusste und autonome Entscheidung über persönlich als relevant empfundene Situationen. Zum anderen sinken kontinuierlich benötigte biographische Wissensbestände ab und werden zu präskriptiven Wissensformen, die mit den Hintergrundstrukturen unserer Erfahrung verschmelzen (vgl. Schütz/Luckmann 1979: 154 ff.; Alheit/Hoerning 1989: 8 ff., zit. n. Alheit 1992: 28). Es scheint also hinter den Prozessstrukturen des Lebensablaufs nicht das Gefühl des intentionalen Handlungsschemas, des bewussten biographischen Plans, zu stehen, sondern, „eine Art versteckter ‚Sinn‘“ (Alheit/Dausien 2000: 275) als intuitive Gewissheit, dass wir es mit unserem eigenen Leben zu tun haben. Dabei ist das Nicht-Intentionale entscheidender als das Intentionale und fängt den Eindruck eines Konsistenz- und Kohärenzverlusts unserer Erfahrung ab. Zwischen den Polen von Struktur und Subjektivität, im je konkreten Anschluss biographischer Problemlagen an bereits vorhandene Erfahrungsaufschichtungen von je spezifischer Gestalt (vgl. Rosenthal 1995), entstehen die jeweiligen biographischen Konstruktionen, ein spezifisches Hintergrundwissen über die eigene Individualität, das gleichzeitig auf die Strukturen zurückwirken kann. Diese biographischen oder Lebenskonstruktionen in ihrer konkreten Gestalt verkörpern die „Verarbeitungsstruktur einer nach außen offenen Selbstreferentialität, die Außeneinflüsse mit der ihr eigenen ‚Logik‘ wahrnimmt, gewichtet, ignoriert und vereinnahmt und sich in diesem Prozeß selbst verändert“ (Alheit/Dausien 2000: 275). Dabei ist dieser Prozess als „Kommunikation interner Zustände“ (Alheit/Dausien 2000: 275) zu bezeichnen, in den zugleich „codierte Außenbedingungen“ (Alheit/Dausien 2000: 275) einfließen, „als Kette verarbeiteter sozialer ‚Perturbationen‘, deren einzigartige Abfolge die Verarbeitungslogik jeder neuen Perturbation bestimmt“ (Alheit/Dausien 2000: 275). Diese innere Verarbeitung
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3 Theoretische Bezüge
äußerer Einflüsse passiert nicht als spontane Gedächtnisleistung i. S. einer Reizreaktion, sondern als kontinuierliche Konstruktion in der Zeit, als „biographische Temporalisierung sozialer Strukturen“ (Alheit/Dausien 2000: 276). Dies verweist zugleich auf die Veränderlichkeit und Offenheit biographischer Konstruktionen im wechselseitigen gesellschaftlichen Bezug – auf deren transitorischen Charakter. Im Rahmen dieser biographischen Verarbeitungsprozesse entsteht ein Sinnüberschuss bezüglich unserer biographischen Selbstthematisierung innerhalb unserer sozialen Rahmen. Zum einen wissen wir den sozialen Raum, in dem wir uns bewegen, auszufüllen. Zum anderen haben wir innerhalb dieser Grenzen mehr biographische Handlungsoptionen, als wir jemals ausschöpfen können. Dies birgt ein hohes Potenzial an „ungelebtem Leben“ (von Weizsäcker 2005/1956). Dieses intuitive Wissen darüber ist Teil unseres „praktischen Bewusstseins“ (Giddens) (Alheit 2008: 21). Es ist reflexiv und diskursiv nicht einfach zugänglich, bildet jedoch in einer doppelten Dimension eine zentrale Ressource für Lernprozesse und die Gestaltung eigener Individualität: Wir können in Referenz auf die Sinnüberschüsse jederzeit zu uns selbst und unserer Welt eine andere Position einnehmen bzw. haben die Chance, unser Leben neu zu überdenken und andere Handlungsoptionen in den Blick zu nehmen. Deren Realisierung hängt dann von unserer bewussten Entscheidung ab. Zudem bildet biographisches Hintergrundwissen ein Potenzial zur Veränderung von Strukturen. Wenn sich individuelle Selbst- und Weltbezüge wandeln, können sich auch institutionelle Rahmenbedingungen ändern. Diese bauen auf den unhinterfragten Hintergrundgewissheiten und Vorannahmen auf, nach denen Individuen alltäglich und biographisch agieren. Sobald diese Hintergrundgewissheiten ins Bewusstsein rücken und verfügbar werden, ändern sich Strukturen. (vgl. Alheit 1992: 24–32; Alheit/Dausien 2000: 274 ff.; Alheit 1995: 290 ff.; Alheit 2008: 20 f.) Heidrun Herzberg (2004: 309) beschreibt mit Bezug auf das Konzept der Biographizität die hinter diesem „biographischen Transformationsprozess“ liegende Handlungskompetenz folgendermaßen: „Hierzu gehört offensichtlich die Fähigkeit, sich der eigenen Ressourcen und des ungelebten Lebens in einem selbstreflexiven Prozess, u. U. im Austausch mit anderen bewusst zu werden. Zugleich bedarf es auf der Seite des biographischen Akteurs einer Offenheit für Veränderungen, Entwicklungen, [sic!] neuer Einstellungen und Haltungen. Die notwendige Transferleistung zwischen alten Wissensbeständen und neuen Sinnressourcen bedarf zudem einer Entscheidungskompetenz sowie einer Verknüpfungs- und Integrationsfähigkeit.“ Dieses „versteckte Lernpotenzial der Moderne“ (Alheit 2008: 21) ist es, das Alheit als Biographizität bezeichnet. Der Zwang und die Chance, unser Leben
3.5 Biographizität als unverwechselbarer, innerer Verarbeitungscode …
111
zu planen, dementsprechend zu gestalten und bei Bedarf (planend) Änderungen vorzunehmen (vgl. Alheit 2008: 21 f.), impliziert den Bezug auf die Lebensgeschichte in Richtung ‚nach vorne‘ (vgl. Alheit 2019: 43 ff.) und rückt lebensgeschichtliche Lern- und Bildungsprozesse aus der Sicht des lernenden Subjekts (vgl. Alheit 1995) in den Fokus. Biographie als „reflexives Organisationsprinzip von sozialen Lern- und Verlernprozessen“ (Dausien 2001: 102) verbindet (formelle, institutionalisierte sowie informelle) Lern- und Bildungserfahrungen mit dem Aspekt der Identitätsentwicklung (vgl. Alheit 2010a). Im Zuge der biographischen Erfahrungen und Lernprozesse zwischen Struktur und Subjektivität entwickelt jeder Mensch seinen unverwechselbaren persönlichen Erfahrungscode, seine innere, individuelle Erfahrungslogik, mit der vorhandene Wissensbestände mit neuen Sinnhorizonten und Perspektiven verknüpft werden. Die Akteure bilden dabei, in einem interaktiven Prozess, zugleich sich selbst und die konkrete Welt, in der sie leben. Dieser innere Verarbeitungsprozess der Biographizität ist chancenreich, aber auch mit Risiken, Unsicherheiten und der Gefahr der Überforderung verbunden. (vgl. Alheit 2008: 20 ff.; Dausien 2001: 102) Die Biographie wird zur „Lerngeschichte“ zwischen Kontinuität und Diskontinuität (vgl. Alheit 2019: 43 ff.). Insbesondere die Auswirkungen der fortgeschrittenen Moderne, die sich in der Brüchigkeit von Sicherheiten und Konventionen des sozialen Konstrukts Biographie und der gestiegenen „Notwendigkeit zur Selbstregulation, d. h. zur Lebensplanung und aktiven Gestaltung der eigenen Biographie“ (Alheit 2010a: 224) manifestieren, erfordern die biographische Integration eben dieser Folgen aktueller Modernisierungsprozesse in lebenslangen Lernprozessen. „Das Individuum wird zur Agentur eines zwangsläufig selbstorganisierten Lernprozesses, dessen Ergebnis eine unverwechselbar einzigartige, aber durchaus fragile Biographie darstellt.“ (Alheit 2010a: 219 f.) Um diese Aufgabe lebenslangen Lernens aktiv zu bearbeiten, müssen implizit und explizit in die Biographien der Individuen eingreifende (ökonomische und politische) Machtstrukturen zum expliziten biographischen Wissen werden. Dies berührt politische, aber auch berufliche Bildungsprozesse. Sie sind in der Verschränkung ihrer fachlichen und alltagsweltlichen Wissensformen sowie insbesondere in ihrer biographischen Bedeutung zu reflektieren. Zudem erfordert die lebensweltliche Sinnressource Biographie selbst kontinuierliche Modernisierungsprozesse. Als Produkt der Moderne erfordert sie – Alheit begreift dies gleichzeitig als Ressource – Austausch-, Transformations- und Wiederbelebungsstrategien zwischen traditionellen und modernen Wissensbeständen, unter Ausnutzung solidarischer Strukturen, die sich zugleich in neuen sozialen Bewegungen zeigen. Hierzu ist die Kompetenz der Biographizität als Fähigkeit
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3 Theoretische Bezüge
des Anschlusses moderner Wissensbestände an biographische Sinnressourcen und die Neuauslegung dieser erforderlich. (vgl. Alheit 2019: 43 ff.; Alheit 2010a, 1995) Dies erfordert zugleich biographieorientierte Konzepte in der Bildung und eine besondere Sensibilität von Lehrenden in der Begleitung der Individuen bei der lebensgeschichtlichen Bearbeitung der Herausforderungen der Postmoderne (vgl. Alheit 2008, 2019, 1995, 1993). Alheit (2019: 169 ff.) plädiert für ein Konzept der Biographizität als Leitkonzept pädagogischen Handelns. Es bildet die Basis eines systematischen Reflexions- und Begründungsrahmens für eine biographieorientierte pädagogische Arbeit.
3.6
Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
Dieses Kapitel beleuchtet konzeptionelle Verschränkungen der Biographie mit den Institutionen der gesellschaftlichen Welt. Dies berührt den Gegenstandsbereich der Professionen, aber auch den der Gesundheit aus verschiedenen Perspektiven. Diese Gegenstandsbereiche in Bezug auf Krankheit und Gesundheit sowie gesundheitliche und soziale Dienstleistung sind für das berufliche Handeln der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker relevant oder können es zukünftig verstärkt sein. Einbezogen werden theoretische Überlegungen und empirische Befunde der Biographie- und Professionsforschung.
3.6.1
Biographie in institutionalisierten Rahmungen und Praxen
Biographie und Institution sind wechselseitig miteinander verwoben. Institutionen i. S. v. Berger/Luckmann (2003) beziehen sich auf die Alltagswelt und soziale Praxen ihrer Herstellung; sie sind an gesellschaftliche Aushandlungsprozesse gebunden (vgl. Hanses 2018: 380 f.). Dies berührt drei Ebenen: 1) die Biographie als institutionell vermittelte gesellschaftliche Erwartungshaltung; 2) das wechselseitige, spannungsreiche Verhältnis von Nutzerinnen und Institutionen bzw. in ihnen agierenden oder sie vertretenden Professionellen sowie 3) die Professionellen selbst in ihrem Verhältnis zu ihren institutionellen und organisationalen Bezügen (vgl. Hanses 2018). Hier trägt die Biographieforschung zur „berufskulturellen Selbstaufklärung“ (Nittel/Seltrecht 2016: 139) bei.
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
113
Zu 1) Mit dem Entstehen der Moderne wurde die soziale Konstruktion der Biographie als gesellschaftliches Erfordernis soweit verfestigt, dass die enge Bindung des eigenen Lebens an institutionelle Praxen oft im Impliziten verborgen bleibt (vgl. Hanses 2018: 380). Die Konstruktion unserer Identität erfolgt unter Bezugnahme auf unser Gegenüber bzw. aus der Sicht unseres Gegenübers (ich-ICH/I-Me-Bezug; vgl. Mead 1973). Damit treten die Rahmenbedingungen und Kontexte, in denen wir leben, in den Vordergrund (vgl. Fischer 2013: 186 ff.). In diesem Zusammenhang erhalten die Institutionen als „Biographiegeneratoren“ (Hahn 1988) eine besondere Bedeutung. Indem sie z. B. institutionalisierte soziale Praktiken wie die Beichte (vgl. Hahn 1982; Foucault 1983), die Psychoanalyse (vgl. Hahn 1987), die Diagnose (vgl. Hanses 2000) oder den ärztlichen Blick (vgl. Foucault 1976) verstetigen und zudem die damit verbundenen Normen und Erwartungen über gesellschaftliche Diskurse verstärken, entstehen Rahmungen, die selbstreflexive, subjektbildende Prozesse erforderlich machen, um eine Selbstkontrolle über das eigene Leben zu verinnerlichen und in einer legitimen Biographie zu präsentieren. Dies ist im Gegenzug auf das Mitwirken der sozialen Akteure angewiesen. Biographie wird zu einer „durch gesellschaftliche Institutionen vermittelten, nachhaltigen und diskursiven Subjektivierungspraxis […] mit einer systematischen Rückverweisung des Subjekts auf seine Verantwortung in der […] Herstellung von Bildung, Gesundheit und sozialer Integration“ (Hanses 2018: 383). (vgl. Alheit/Hanses 2004: 8 f.; Hanses 2018: 380 ff.) Zu 2) Institutionen symbolisieren als „Objektivationen sozialer Strukturen“ (Hanses 2008: 15) das „Apersonale“ (Hanses 2008: 15). Ihre durch Professionelle ausgeübten Praxen basieren auf „rationalen Wissensformationen“ (Hanses 2008: 15). Die auf biographischen Wissensbeständen fußenden Konstruktionen und Logiken der Subjekte, deren Probleme (wie Erkrankung oder Sucht) gemeinsam bearbeitet werden sollen, liegen häufig konträr zu den institutionellen Logiken (vgl. Hanses 2018: 380 f.). Zu diesem oft konfliktreichen Verhältnis von biographischen und alltagsweltlichen Wissensordnungen der hilfesuchenden Subjekte und dem (expertokratischen) professionellen Wissen der Helfenden (vgl. Hanses 2005) kommt hinzu, dass hinter dem Rücken der Akteure Interaktionsordnungen (vgl. Goffman 1977) ablaufen. Als „soziale Arrangements, die im Verborgenen und zugleich sehr wirkungsvoll das Gelingen von intersubjektiven Begegnungen ermöglichen“ (Hanses/Sander 2012: 7) basieren sie auf einem impliziten (Handlungs-)Wissen darüber, wie in Situationen angemessen agiert werden kann und sollte. Interaktionen können jedoch auch immer dann misslingen, wenn der Bezugsrahmen der Akteure verschieden ist (vgl. Hanses/Sander 2012: 7).
114
3 Theoretische Bezüge
Zu den institutionellen Logiken kommen organisationale Zwänge auf gesellschaftspolitischer (ökonomisch rationaler) Basis hinzu (vgl. Hanses 2018: 380 f.), die die Widersprüchlichkeit erhöhen und zu Paradoxien und Antinomien professionellen Handelns führen können (vgl. Helsper 2016; Schütze 1996, 2000). Auf Ebene der Subjekte, die Adressaten oder Nutzerinnen einer (sozialen oder gesundheitlichen) Dienstleistung sind, ist eine besondere Aneignungsleistung erforderlich, um die institutionelle Logik biographisch zu bearbeiten, an sie je individuell anzuschließen und sie somit nutzbar zu machen (vgl. Hanses 2008: 15). Hierzu verweist Andreas Hanses (2005: 68 ff.) auf die spezifischen Aneignungskompetenzen eines handlungsschematischen Aktivitätspotenzials, der Schaffung oder des Rückgriffs auf vorhandene explizite Eigentheorien über die eigene Lebenslage, der sozialen Unterstützung sowie der Fähigkeit der Biographizität – also der reflexiven Kompetenz zur Transformation biographischer Wissensformen, um Dienstleistungsangebote an das biographische Wissen anzuschließen, nach individuellen Bedarfen umzuwandeln und sie erst dann entsprechend zu nutzen oder ggf. auch abzulehnen. Unter unreflektierten institutionellen Rahmenbedingungen kann sich eine mangelnde Passung biographischen Wissens und alltagsweltlicher Sinnkonstruktionen zu den institutionellen Rahmen verschärfen (vgl. Sander 2012: 17 ff., 26 f.; Sander 2008: 418 f.; Hanses 2008: 15; Sander 2003), bis hin zur Auflösung biographischer Konstruktionen (vgl. Goffman 1972; Riemann 1987). Studien zu Gesundungs- und Krankheitsprozessen, aber auch der Versorgungsforschung belegen Konkurrenzen von Wissensordnungen und die oft konfliktreiche Auseinandersetzung der Individuen mit den Akteurinnen des Gesundheitswesens (vgl. z. B. Richter 2009; Hanses/Richter 2013; Herzberg et al. 2016). Auf Seiten der Professionellen in der Medizin drückt sich dieses Phänomen u. a. in der Aussage mangelnder Compliance von Patientinnen und Patienten aus. Dabei bleibt häufig unreflektiert, dass der Erfolg der (medizinischen) Dienstleistungen in gelingenden Aneignungsleistungen der Patientinnen liegt. Autonomes biographisches Lernen im Kontext von Erkrankungen impliziert multiperspektivische Prozesse des Verlernens und Neulernens, Umlernens, aber auch Nichtlernens (vgl. Nittel/Seltrecht 2013; Alheit/Nittel 2014: 26 f.). In diesem Verständnis liegt die Chance, aber auch die Herausforderung institutioneller Logik. Alheit und Hanses (2004: 23 f.) verweisen auf die Notwendigkeit der Selbstreflexivität der Institutionen. In einer möglichst gleichberechtigten Interaktion zwischen sozialen Akteuren in der Bewältigung komplexer Problemlagen sind Konzepte zu denken und umzusetzen, die es den Nutzern nicht nur ermöglichen, mit den eigenen biographischen Sinnhorizonten anzuschließen. Vielmehr müssen sich die institutionalisierten
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
115
Dienstleistungsangebote um die Logiken der Nutzerinnen herumgruppieren. Festgefügte Wissensordnungen der Institutionen benötigen eine Öffnung gegenüber dem biographischen Wissen der Gegenüber, um es ggf. anreichern und verändern zu können – die Rolle der Institution als „Biographiegenerator“ (Hahn 1988) wandelt sich, wenn Biographien als „Institutionsgeneratoren“ (Alheit/Hanses 2004: 23) ernst genommen werden. Professionelle Interaktionsordnungen verändern sich dabei (vgl. Hanses 2000: 376 f.). Dies eröffnet eine größere Chance auf tragfähige Arbeitsbündnisse in der Sozialen Arbeit bzw. Compliance der Patientinnen in der Medizin sowie eine konsequente Orientierung an den Ressourcen der Patientinnen zur Förderung ihrer Gesundungsprozesse (vgl. Hanses 2000: 373 f.). Weniger formal professionalisierten Professionen wie der Sozialen Arbeit gelingt diese Öffnung besser als der hochinstitutionalisierten Profession der Medizin, da Erstere sich durch eine größere Nähe zu ihren Klientinnen auszeichnen (geringere „Formalitäts-Informalitäts-Spanne“ (Elias 1989: 41, in Alheit/Hanses 2004: 11, 23), auf deren Mitwirkung setzen (müssen) und heterogene Problemlagen zu bewältigen haben, die nicht ‚pauschal‘ unter ein formales Paradigma wie das der Heilung gestellt werden können (vgl. Alheit/Hanses 2004). Um professionelle Strategien zur systematischen Berücksichtigung biographischen Wissens der Menschen (vgl. z. B. Griesehop 2003: 227 ff.; Hanses 1998) umzusetzen, bedarf es neuer Kompetenzen wie eines vertieften Verständnisses der „Biographizität“ sozialer Problemlagen in der heutigen Zeit (vgl. Alheit/Hanses 2004: 23, mit Bezug auf Alheit 1995). Zu 3) Neben der Bedeutung institutioneller Rahmungen und Praktiken für die Biographien der Nutzerinnen institutioneller Angebote gilt es auch, die Professionellen selbst in ihren institutionellen und organisationalen Handlungsbezügen in den Blick zu nehmen. Eine Vielzahl empirischer berufsbiographischer Untersuchungen belegt die Zusammenhänge von Biographie und Profession (die die Strukturdimension Institution widerspiegelt). Von hohem subjektbezogenen Erkenntniswert sind Studien, die die Prozessdimension der Professionalisierung (individuelle und kollektive Verberuflichung) sowie die Handlungsdimension der Professionalität fokussieren (vgl. Nittel/Seltrecht 2016: 139 f.). Konkrete Ausführungen folgen im nächsten Kapitel.
3.6.2
Professionalität, Professionalisierung und Biographie
Empirisch lassen sich biographisch begründete oder gerahmte Prozesse der Studien- und Berufswahl, der Aneignung und Ausführung professionellen Handelns und die gleichzeitige Rückwirkung auf die Lebensgeschichte nachweisen
116
3 Theoretische Bezüge
(vgl. Völter 2018: 475 f.). Die Studien zeigen, dass biographische Muster, die u. U. bereits zur Wahl eines bestimmten Berufes führten, professionelles Handeln beeinflussen (vgl. Witte 201026 ), dass Studienbedingungen und professionelle Habitualisierungsprozesse biographisch angeeignet (vgl. Koring 1990; Gieseke 1989) und, mehr oder weniger problematisch, in das weitere Leben eingepasst werden müssen (vgl. Alheit 1995b). Berufliches Handeln erfolgt in Auseinandersetzung mit der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Professionalität (vgl. Nittel 2000, 2002) und ist wechselseitig eingewoben in gesellschaftliche Wandlungsprozesse (vgl. Schaeffer 1990; Daigler 2008; Schiebel 2003). Dabei zeigt sich, dass die Akteure im Rahmen ihrer Verberuflichung ihre Identität verändern und berufliche Rollen und Habitusmuster annehmen, die ihr gesamtes weiteres Leben bestimmen. Die individuelle, langdauernde Professionalisierung in wissenschaftsorientierten Studiengängen und Ausbildungswegen (Professionen) geht mit tiefgreifenden Lernprozessen einher. Diese werden formell und informell über die gesamte Lebensspanne aufrechterhalten. Sie hält die Akteure in dem gewählten Beruf, auch über die aktive Phase der Berufszeit hinaus, und befähigt sie zudem, sich selbst in die entsprechenden Normen und Regeln der Profession, aber auch in deren organisationale Bezüge einzugliedern. (vgl. Nittel/Seltrecht 2016: 141 f.) Die verinnerlichten höhersymbolischen Wissensbestände der Profession (vgl. Schütze 2014), der hohe fachliche Eigenanspruch und die Selbstverantwortung der professionellen Akteure können in Konflikt geraten zu organisationalen (ökonomischen, rationalen) Zwängen, die zudem weit entfernt von eigenen biographischen Orientierungen und Sinnsetzungen liegen können. Zu reflektieren und relationieren sind die Differenz der Wissensordnungen zwischen (wissenschaftsbasierter) Theorie und (alltagsweltlicher) beruflicher Praxis, zwischen Begründungsverpflichtung und Entscheidungszwang in hochkomplexen Arbeitssituationen unter Unsicherheit und aktiver Einbindung der Patienten oder Klienten (vgl. Dewe/Otto 201227 ). Auch wenn die professionellen Wissensbestände verinnerlicht sind, greifen die Akteure in ihren alltagspraktischen 26 Nicole Witte belegt die biographische Überformung alltäglichen Praxishandelns anhand berufsbiographischer Interviews mit Hausärzten und Hausärztinnen sowie Interaktionsanalysen dieser in ihren Arzt-Patient-Begegnungen in der hausärztlichen Praxis. 27 Im Kontext einer reflexiven Professionalität ist Anspruch, expertokratischem Wissen und effizienzorientierten Praxismaßstäben an professionelles Handeln (vgl. Lorenz/Schwarz 2014: 413; Dewe/Otto 2012: 203 f., 207 f.) ein diskursives Wissen entgegenzusetzen, „das nicht nur wissenschaftlich, sondern immer auch soziokulturell und lebenspraktisch rückzubinden ist an die situativen Bedingungen der sozialen Handlungsvollzüge und Handlungsprobleme“ (Dewe/Otto 2012: 197) der Klientinnen. Im Zentrum professionellen Handelns steht nicht Expertise oder Autorität, „sondern die Fähigkeit der Relationierung und Deutung von lebensweltlichen Schwierigkeiten in Einzelfällen mit dem Ziel
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
117
Kategorisierungen durchaus unreflektiert auf alltagsweltliche Wissensbestände zurück, was zu Fehlern im professionellen Handeln führen kann, mit schwerwiegenden Folgen für die Hilfesuchenden (vgl. Schütze 2013). Hinzu kommen unauflösbare Widersprüchlichkeiten auf der Beziehungsebene zwischen funktional spezifischen, rollenförmigen Handlungsanteilen sowie diffusen (persönlichen) Anteilen (vgl. Oevermann 199628 ) – also dem Agieren zwischen dem Rollenträger einer Profession mit einem klaren Handlungsauftrag und dem sich Einbringen als ganzer Persönlichkeit, die zudem ihre biographische Ressourcen und Dispositionen im je individuellen professionellen Handeln ständig aktualisiert (vgl. Nittel/Seltrecht 2016: 142 f.). Weiterhin werden in professionellen Interaktionen und deren impliziten Ordnungen (vgl. Goffman 1977) tradierte Geschlechterkonstruktionen relevant (vgl. Sander 2008a, die es für die Zusammenarbeit von Pflege und Medizin herausarbeitet). Die genannten Aspekte betreffen auch die Ausbildung eigener Professionalität. Professionalität bezieht sich auf die stets situativ herzustellende Qualität der personenbezogenen Dienstleistung sowie auf die Befähigung und das Können des beruflichen Rollenträgers (vgl. Nittel/Seltrecht 2016: 142; Nittel 2000: 7129 ). Phänomene der Professionalität können mit handlungstheoretischen30 (vgl. Schütze 1996) und wissenssoziologischen (vgl. Dewe 200931 ) Konzepten untersucht und der Perspektiveneröffnung bzw. einer Entscheidungsbegründung unter Ungewissheitsbedingungen“ (Dewe/Otto 2012: 197 f.). 28 In seiner revidierten Professionalisierungstheorie nach Parsons (1968). 29 Nittel (2000: 71) konstatiert: „Wissen und Können bilden die beiden Quellen von Professionalität, allerdings beschränkt sie sich weder auf das Fachwissen einer akademischen Disziplin noch auf die bloße Intuition oder die reine Erfahrung des virtuosen Praktikers [Hervorh. i. O.]. Professionalität stellt vielmehr eine nur schwer bestimmbare Kombination, eine Schnittmenge aus beidem dar.“ Zum Fachwissen der eigenen Disziplin, dem Erfahrungswissen und der Intuition münden weitere „Varianten des Wissens“ (Nittel 2000: 72) in das Professionswissen ein, wie z. B. das höhersymbolische Wissen, das Werte und Normen spiegelt (vgl. Nittel 2000: 72). 30 Die interaktionstheoretische Perspektive in der Tradition der Chicago School betrachtet die konkreten Arbeitsbedingungen und -vollzüge sowie die paradoxen Anforderungen professioneller Berufsarbeit in ihren organisationalen Kontexten (vgl. Pfadenhauer/Sander 2010: 367), aber auch in sensibler Beziehung zum sozialen Wandel (vgl. Nittel 2000: 35). 31 Bernd Dewe rückt in seinen wissenssoziologischen Überlegungen zur reflexiven Professionalität systematisch die Strukturlogiken professionellen Handelns zwischen allgemeiner Wissensapplikation und individuellem Fallverstehen unter Berücksichtigung organisationaler Kontexte von Institution und Handlungspraxis in den Fokus und konstatiert eine Differenz der Wissensformen der Praxis (praktisches Handlungswissen) und Theorie (Wissenschaftswissen) (vgl. Dewe 2009: 48 f.). Reflexive Professionalität findet ihre Entsprechung in einer „professionellen Relationierung differenter Wissensformen, die sich
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3 Theoretische Bezüge
beschrieben werden. Sie sind eng an den Kontext fallbezogener Dienstleistung gebunden, was z. B. die Frage nach der Integrität, Kontrastierung und Relationierung heterogener Wissensformen, die Wahrung der Autonomie von Klientinnen oder die Förderung der Selbstständigkeit und Verantwortungsübernahme von Patientinnen im Gesundungsprozess, aber auch Probleme des beruflichen Handelns zwischen widersprüchlichen Interessenlagen betrifft. Damit rücken sowohl die Professionalität des Einzelnen als auch zentrale Probleme wie strukturelle Rahmenbedingungen und soziale Praktiken einer Berufsgruppe im Ganzen in den Blick. Professionalität i. S. eines beruflichen Könnens entwickelt sich prozesshaft zwischen (akademischer) beruflicher Bildung und praktischem Handlungsvollzug unter Einbezug informeller Prozesse des „Könnenserwerbs“ (Dewe 2004: 321) entlang der gesamten Berufsbiographie. Zum expliziten und impliziten Wissensaspekt bei der Aneignung von beruflichem Können kommen biographisch und sozial erworbene habituelle Dispositionen und Handlungsorientierungen hinzu. (vgl. Nittel 2002: 16) Das eigentliche Können wird dabei von implizitem Wissen unterlagert (vgl. Schön 1983, 1987) und konsequent durch reflektierende Prozesse geformt (vgl. Dewe/Otto 2012). Für die dargelegten Dimensionen von Professionalität, die mit kontinuierlichen berufsbiographischen Aneignungsprozessen (Professionalisierung) in Bezug als reflektierte Deutung und routinisierte Reflexivität bezeichnen lässt“ (Lorenz/Schwarz 2014: 413). Nicht die wissenschaftsbasierte Kompetenz an sich ist konstitutiv für professionalisiertes Handeln, sondern „die jeweils situativ aufzubringende reflexive Fähigkeit, einen lebenspraktischen Problemfall kommunikativ auszulegen, indem soziale Verursachungen rekonstruiert werden, um den AdressatInnen aufgeklärte Begründungen für selbst zu verantwortende lebenspraktische Entscheidungen anzubieten und subjektive Handlungsmöglichkeiten zu steigern“ (Dewe/Otto 2012: 205). Reflexive Kompetenz beinhaltet also ein deutendes Verstehen, ein reflektiertes Ringen um eine tragbare Bewältigungsstrategie in der Logik der Klientinnen in der jeweiligen Situation und eingepasst in deren soziale Kontexte (vgl. Dewe/Otto 2012: 204 ff.). Professionelles Wissen ist demnach ein „eigenständiger Bereich zwischen praktischem Handlungswissen, mit dem es den permanenten Entscheidungsdruck teilt, und dem systematischen Wissenschaftswissen, mit dem es einem gesteigerten Begründungszwang unterliegt. Im professionellen Handeln begegnen sich wissenschaftliches und praktisches Handlungswissen und machen die Professionalität zu einem Bezugspunkt, an dem die Kontrastierung und Relationierung beider Wissenstypen stattfindet“ (Dewe/Otto 2012: 209). Die Reflexivität als selbstverständliches Grundcharakteristikum einer Professionalität beschreibt die Prozesse der Selbstreferenz eines referierenden Selbst im Handlungsvollzug über eine Rekursivität hinaus (entgegen der distanzierten Form der Bezugnahme auf ein Tun i. S. einer Rückwirkung), um die unauflösbaren Paradoxien von professionellem Handeln und Konstitutionsbedingungen zu bearbeiten. Sie manifestiert sich auf den Ebenen der Verfügbarkeit im Handeln sowie der Reflexion über das Handeln (vgl. Lorenz/Schwarz 2014: 419; Schön 1983, 1987).
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
119
zu setzen sind, kann die Biographie zugleich einen produktiven als auch kontraproduktiven Referenzrahmen bilden (vgl. Nittel/Seltrecht 2016: 143). Eine für den Heilpraktikerberuf aus Zukunftsperspektive relevante Studie (Schaeffer 1990) untersucht biographisch mit einer professionssoziologischen Fragestellung zur Professionalisierung Psychotherapeuten – konkret Protagonisten der Therapiebewegung der 1970er Jahre, die Leitfiguren der modernen Formen der Psychotherapie sind oder waren. Deren Therapieverfahren waren zu jener Zeit nicht gesellschaftlich etabliert und sind vielfach aus der Kritik oder in Alternative zu bestehenden professionellen Interventionskonzepten entstanden. Im Bruch mit impliziten professionellen und gesellschaftlichen Konventionen greifen die Protagonisten auf außerprofessionelle Denktraditionen und tradierte Weltbilder (ostasiatisch, religiös, spirituelle Elemente etc.) zurück. Zugleich bemühen sie sich um Synthese alternativer und etablierter Konzepte, um moderne Interventionskonzepte zu befördern, zudem aber auch über den Anspruch von Intervention hinauszugehen, indem sie „menschliches Wachstum“ (Schaeffer 1990: 11) als Therapieziel und ganzheitliche Lebensmaxime propagieren und umzusetzen versuchen. Damit ist die neue Generation von Therapeuten Teil und Schrittmacher einer gesellschaftlichen Sozialbewegung, konstituiert aus einer gegenkulturellen Bewegung zur Gesellschaft und ihren tradierten Professionen. Diese können mit ihren Hilfeangeboten auf gesellschaftliche (soziale und gesundheitliche) Problemlagen der Menschen nicht angemessen reagieren. Im Fokus stehen hierbei die „Leidensprozesse, die dem Unvermögen an Normalitätssicherung und der Überforderung der Selbstregulationskapazität geschuldet sind. Zugleich substituieren sie [die neuen therapeutischen Interventionen; Anm. d. Verf.] den Verlust identitätsstiftender Lebenswelten und dienen der Einbindung der im Zuge der Modernisierungsprozesse freigesetzten Subjektivität“ (Schaeffer 1990: 15), indem sie Unterstützer für eine den Anforderungen der Moderne sinnvollen Lebensweise sind. Dieses Selbstverständnis verortet die neuen Therapeuten an den Rand des Komplexes professionellen Handelns, wo sie sich zwischen „avantgardehafter Sondermoral“ (Schaeffer 1990: 15) und der Unterordnung unter die Rationalitäten wissenschaftlicher Problemlösung bewegen und in die besetzten Domänen der etablierten Professionen diffundieren. Dieser gesellschaftliche Wandel sowie das (unsichere) Professionalisierungsgeschehen vom Übergang der vorprofessionellen Phase in einen Professionalisierungsprozess32 spiegelt sich in den subjektiven Konstruktionen der Interviewten wider. (vgl. Schaeffer 1990: 11 f.) 32 Dieser mündete für die (heilkundliche, nicht-ärztliche) Psychotherapie zunächst erfolgreich in einem eigenen Berufsgesetz mit Inkrafttreten zum 01.01.1999 (Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (Psychotherapeutengesetz – PsychThG)). Allerdings fasst dieses Gesetz
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3 Theoretische Bezüge
Doris Schaeffer arbeitet drei berufsbiographische Verarbeitungsformen heraus: 1) die Avantgardistin, die institutionelle Begrenzungen der beruflichen Handlungsmöglichkeiten bewältigt, ohne sie wirklich zu lösen; 2) den Missionar, der sich zwischen etablierter Profession und nicht-etabliertem Gegenpol Leidensprozessen zuwendet sowie 3) den rastlosen Konvertiten auf der Suche nach dem Ganzen, im Erwerb jener Kompetenzen, die für sein professionelles Handeln erforderlich sind, die er jedoch während des institutionalisierten Ausbildungsverlaufs nicht erworben hat, sowie im Bemühen um Integration von etablierter Profession und nicht-etabliertem Gegenpol im Rahmen psychotherapeutischer Versorgung. (vgl. Schaeffer 1990: 90–197) Alle Interviewten zeigen instabile Berufsverläufe, begründet in einer nicht gelungenen professionellen Sozialisation im Studium. Sie wenden sich in einer biographisch krisenhaften Situation der Therapiebewegung zu, dies als Professionalisierung „aus dem eigenen Leiden heraus“ (Schaeffer 1990: 202) entlang von Wandlungsprozessen fernab formalisierter Qualifizierung konstruierend. Um fehlende strukturelle Rahmenbedingungen für die Ausbildung eines professionellen Handlungstypus zu Beginn von Professionalisierungsprozessen zu überbrücken, bilden sie Charisma aus. Charismatisierung entlang biographischer Habitualisierung kann zwar auf einer individuellen Ebene der Alltagspraxis den Anforderungsdruck entlasten, jedoch das Strukturproblem fehlender Professionalisierung therapeutischen Handelns nicht lösen. Dies zeigt sich besonders darin, dass die Übernahme einer Identität als Therapeutin oder Therapeut nicht an einen Prozess systematischer Erfahrungsaufschichtung gekoppelt ist, was der Ausbildung eines professionellen therapeutischen Handelns im Sinne einer Kunstlehre33 entgegenläuft. Zudem fehlt der Rückbezug auf wissenschaftliche Rationalitäten, insbesondere systematische Wissensbestände, aber auch die Auseinandersetzung explizit nur die beiden genannten Berufe, was zum einen die Behandlungsverfahren einschränkt und einen Kampf um die Erweiterung angewandter Therapieverfahren nach sich zog, zum anderen zu jahrelangen Forderungen nach einer Ausbildungsreform führte, die aktuell in einem Gesetzentwurf zur Reform der Psychotherapeutenausbildung mündeten (vgl. BPtK 2019; BMG 2019). In diesem Sinne ist der Professionalisierungsprozess bis heute unabgeschlossen bzw. belegt die Notwendigkeit ständiger Weiterentwicklung einer Profession. Der Professionalisierungsprozess der Psychotherapie soll hier nicht entfaltet werden, auch wenn sich die nicht-ärztliche Psychotherapie in formaler Emanzipierung von der ärztlichen Deutungshoheit über einen langen Zeitraum der ‚Hilfskonstruktion‘ des Heilpraktikerabschlusses bedienen musste. 33 Vgl. dazu Schön (1983, 1987), der dies mit Rückgriff auf Polanyi (1967) an verfügbares implizites Wissen (knowing-in-action) und die Fähigkeit selbstreflexiver und -reflektierender Prozesse des reflection-in-action und reflection on reflection-in-action bindet.
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
121
mit Antinomien professionellen Handelns, was sich z. B. in unreflektierten Verstrickungen diffuser und rollenförmiger Sozialbeziehungen zeigt. Als Ergebnis ihrer Studie sieht Schaeffer eine handlungsstrukturelle Basis für das Gelingen des Professionalisierungsprozesses entlang neuer Therapieformen im Austarieren und der wechselseitigen Synthese der biographischen Strategie der Charismatisierung mit den technokratischen (ökonomisch-rational), wissenschaftsbasierten Logiken etablierter Professionen. (vgl. Schaeffer 1990: 201–214) Für die Heilpraktikersituation sind auch die Untersuchungen von Dieter Nittel (2000, 2002)34 zur Professionalität in der Erwachsenenbildung anschlussfähig. Diese basieren auf den Ergebnissen einer breit angelegten Studie, in der Erwachsenenbildner (Zeitzeugen) biographisch-narrativ interviewt wurden – unter dem differenztheoretischen Fokus einer Professionalität als Synonym für gekonnte Beruflichkeit, die Wissen und Können in einer je spezifischen individuellen Weise verbindet (vgl. Nittel 2002: 256 ff.). Die beiden herausgearbeiteten Handlungsfiguren „Zusammenspiel von lebenspraktischer Hilfe und biographischer Begleitung“ (Nittel 2002: 265) sowie „Mobilisierung von Leistungspotenzialen und die Orientierung am Schönen“ (Nittel 2002: 270) werden unter die Kernkategorie der „Amalgamierung pädagogischer Handlungsmaximen mit beruflicher Alltagspraxis“ (Nittel 2002: 277, Hervorh. i. O.) subsumiert. Die Akteurinnen und Akteure konstruieren in ihren biographischen Erzählungen, dass ihre pädagogische Praxis mit ihrem pädagogischen Orientierungswissen sowie mit normativen Relevanzen korrespondiert (vgl. Nittel 2002: 265), und zwar nicht isoliert, sondern in amalgamierter Form von Theorie und Praxis (vgl. Nittel 2002: 270). Handlung (Können) und Wissen bilden eine zirkuläre Struktur, mit einer starken Angleichung von Kompetenz und Performanz. Allerdings geht es nicht um die bloße Applikation von normativen Intentionen auf spezifische Situationen, 34 In seiner Untersuchung nähert sich Nittel dem Gegenstandsbereich der Professionalität aus differenztheoretischer Perspektive. Damit möchte er aufzeigen, dass Professionalität auch erzeugt und aufrechterhalten werden kann, ohne einer Profession anzugehören (vgl. Nittel 2002: 284). Gleichzeitig stellt Nittel den differenztheoretischen Zugang dem kompetenztheoretischen gegenüber und grenzt sich von Letzterem ab. Während das kompetenztheoretische Verständnis von einem harmonistischen Modell der Professionalität ausgeht und die Frage bearbeitet, welche Fertigkeiten und Fähigkeiten der berufliche Rollenträger benötigt, um seiner Aufgabenstruktur (zukünftig) gerecht zu werden, unter der Annahme, die Elemente der Kompetenzprofile auch miteinander vereinen zu können (vgl. Nittel 2002: 255 f.), betont das differenztheoretische Verständnis substanzielle Unterschiede wie die Differenz zwischen Wissen und Können, aber auch Unterschiede zwischen einer wissenschaftlichen und technischen Rationalität (vgl. Nittel 2000: 73). Damit schließt der differenztheoretische Zugang an Positionen sozial- und erziehungswissenschaftlicher Professionstheorie an.
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3 Theoretische Bezüge
sondern um eine „im intuitiven Erleben und Handeln geronnenen Verschränkung von Theorie und Praxis“ (Nittel 2002: 277). Diese Form der Professionalität der Erwachsenenbildner geht mit viel Intuition und Erfahrungswissen, jedoch wenig Reflexion einher, was eine Folge der Amalgamierung von Theorie und Praxis, im Angleichen der bestehenden Theorie-Praxis-Differenz, ist. Theorie als Erkenntnisressource und Reflexionsort von divergenter Praxis steht nicht zur Verfügung. Dies zeigt gleichzeitig die Risiken dieser Form der Professionalität: Grenzen zwischen persönlicher und sozialer Identität verschwinden, mit der Folge von mangelnder Distanz und persönlichem Kontrollverlust sowie Fehlern im professionellen Handeln. (vgl. Nittel 2002: 277 f.) Gleichwohl zeigt die herausgearbeitete Form der Professionalität, dass sich Professionalität nicht ausschließlich durch (akademisch habitualisierte) gesteigerte Reflexions- und Begründungsleistungen darstellt. Das Gesamtkorpus des beruflichen Handelns zeigt sich hier in einer Form intuitiven Verständnisses von Professionalität, der „Realisierung anspruchsvoller moralisch kolorierter Haltungen“ (Nittel 2002: 284), die durchaus zum legitimen Wissen zu zählen sind. Hiermit spannt sich der Bogen zwischen der Standardform herausgearbeiteter Professionalität in der Erwachsenenbildung und einer benötigten Form reflexiver Professionalität, die jedoch nicht allein durch Verwissenschaftlichung bereitgestellt werden könne. (vgl. Nittel 2002: 284 f.) Die Auswertung des Gesamtprojekts, das Erkenntnisse von mehr als 100 autobiographisch-narrativen Interviews mit Erwachsenenbildnern verschiedener Generationen vereinigt, belegt, dass „die Kombination von autodidaktischem Selbststudium und milieuspezifischen Sozialisationsformen in Kirchen, Betrieben, Volkshochschulen und Gewerkschaften vielfach ein normales akademisches Studium ersetzt und dass es trotz fehlender universitärer Ausbildung zu einer Annäherung an wissenschaftliche Denkformen kommt“ (Nittel/Seltrecht 2016: 147) sowie zur tendenziellen Ausprägung eines erwachsenenpädagogischen Berufshabitus. Einen erfolgreichen kollektiven Professionalisierungsprozess behindern jedoch u. a. die Heterogenität des Berufsfeldes und eine fehlende gesellschaftliche Anerkennung, aber auch ungünstige Bedingungen berufspolitischer Selbstorganisation (vgl. Nittel/Seltrecht 2016: 147; Nittel/Schütz 2016). Diese strukturellen Bedingungen konstituieren auch das soziale Feld und Berufsbild des Heilpraktikers und werden durch die eigenen berufspolitischen Protagonisten (re-)produziert (vgl. Kap. 2). Die obigen Ausführungen belegen, dass es zur konsequenten Verschränkung institutioneller und biographischer, alltagsweltlicher Kontexte im gesundheits-
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
123
und sozialbezogenen Dienstleistungssektor institutioneller und persönlicher Kompetenzen der (Selbst-)Reflexivität benötigt. Dass es zudem anderer oder erweiterter Zugänge zu einem Gesundheitsbegriff, mit entsprechenden Kompetenzen, diesen praktisch zu füllen, bedarf, zeigen die folgenden Ausführungen zur Biographie in Bezug auf Gesundheit.
3.6.3
Biographie und Gesundheit
Biographie und Gesundheit bzw. Krankheit sind wechselseitig verschränkt. Die Ausbildung des biographischen Selbstbildes bzw. der sozialen und personalen Identität über den Lebensverlauf, die in Auseinandersetzung und stetigem Abgleich mit der sozialen Umwelt erfolgt und unabgeschlossen bleibt (vgl. Fischer 2013: 186), schließt gesundheitsbezogene Orientierungen, Verarbeitungsund Handlungsmuster mit ein. Empirisch zeigen Alheit (2013) und Alheit et al. (1986) dies z. B. an der subjektiven Bearbeitung der biographischen Herausforderung der fortgesetzten beruflichen Schichtarbeit. Diese ist mit erheblichen gesundheitlichen und sozialen Belastungen verbunden; die Betroffenen und deren Familien richten ihr ganzes Leben entlang dieser Arbeitssituation aus. Insbesondere zeigt sich die Verbindung zur Biographie des Einzelnen jedoch an Prozessen der lebensgeschichtlichen Verarbeitung von Erkrankung bzw. damit verbundenen Gesundungsprozessen. Immer wenn Krankheit auf die Biographie eines Menschen trifft (vgl. Alheit 1995: 281), muss sie aktiv angeeignet und biographisch eingebunden werden. Dies gilt insbesondere für schwere oder chronische Erkrankungen (vgl. z. B. Corbin/Strauss 2010). Besonders hier ist das Subjekt herausgefordert, sich über lange Phasen des Lebens mit Erleidensprozessen auseinanderzusetzen, die bis zur Verlaufskurve (vgl. Strauss 1975: 47 ff.) führen können, in der die Kontrolle über das eigene Leben verlorengeht (vgl. Schütze 1981, 1995/2016a). Der Aneignungsprozess einer Erkrankung erfordert und ermöglicht oft einen Perspektivwechsel, der in den zeitlichen Ablauf des Lebens, in seine dynamischen Prozesse integriert werden muss und diese unweigerlich beeinflusst. Auf Basis biographisch erworbener Handlungsressourcen ist die Lebensplanung zu aktualisieren. Dies geht einher mit dem Erwerb neuer oder dem Verlust von Handlungsoptionen. Die Menschen folgen dabei ihrer eigenen biographischen Logik, die die äußere Symptomlogik vernachlässigt (vgl. Sander 2008: 417). Dabei besitzt die Erkrankung oder Krise erst dann das Potenzial zu einer biographischen Neukonzipierung, wenn sie mit einer biographischen
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3 Theoretische Bezüge
Krise einhergeht; dies ist zudem an die Fähigkeit des Leiberlebens sowie der biographischen Reflexivität gebunden (vgl. Hanses 1999: 126 f.). Die je individuelle Einbindung von Erkrankung ist mit unterschiedlichen Formen biographischen Lernens verbunden (vgl. Nittel/Seltrecht 2013). Konkrete Prozesse biographischen Lernens im Krankheitsfall beinhalten zunächst eine situative Aneignung von Wissen, z. B. nach Erhalt der Diagnose. Danach wird möglicherweise das Alltagsverhalten wie die Ernährung verändert. Die Annahme oder Ablehnung der Patientenrolle sowie weitere aktive Verarbeitungsstrategien wie die Teilnahme an Selbsthilfegruppen verändern letztendlich auch die Identität. (vgl. Seltrecht 2006: 159, 209 ff.) Diese biographischen Lernformen und -prozesse erfolgen im Wechselspiel mit institutionellen und gesellschaftlichen Ablauf- und Erwartungsmustern (vgl. Abschn. 3.6.1). Sie sind z. B. an Aufklärungsgespräche durch Professionelle, die sich sprachlich und lebensweltlich an den Sinnhorizonten der Subjekte orientieren (vgl. Nittel 2013: 115 f.; Seltrecht 2006: 211) gebunden, oder die gemeinsame Arbeit von Patienten und Ärzten an den biographischen Körperkonzepten der Erkrankten (vgl. Detka 2013: 216–225). Letzteres setzt voraus, dass Ärzte eine Vorstellung von der „biographischen Verwurzelung der Haltung des Patienten dem eigenen Körper gegenüber“ (Detka 2013: 224) haben, dass sie den Patienten in seinen subjektiven Sinnsetzungen erreichen, damit er sich auf eine Thematisierung einlässt und dass beide eine gemeinsame Sprache finden, um subjektbezogene und expertise Orientierungen zu einem Körperkonzept zu verbinden (vgl. Detka 2013: 224). Wie die Subjekte konkret in ihrer Biographie und Erkrankung verwoben sind, wie sie sich Erkrankungen biographisch aneignen und welche Lernprozesse sie dabei durchlaufen, welche individuellen Handlungsoptionen sie sich erschließen und auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen, belegt ein umfangreicher Forschungsstand (vgl. z. B. Alheit 2013a; Fuchs-Heinritz 2013; Detka 2011; Seltrecht 2006; Hanses 1996; 1998; Griesehop 2003; Griesehop/Holtkotte 1999; Rinken 1999). Dass Krankheit und Gesundheit biographische Konstruktionen sind (vgl. Hanses/Richter 2011: 138), geht auf das Konzept der „Biographik“ Viktor von Weizsäckers (vgl. von Weizsäcker 2005/195635 , 2010), dem Begründer der anthropologischen Medizin, zurück. Er beschreibt das Wesen jeder Erkrankung als ein biographisches und stellt das „ungelebte Leben“, die nicht verwirklichten 35 Viktor von Weizsäckers gesammelte Schriften sind in zehn Bänden von Achilles et al. (1986–2005) verfügbar. Nach von Weizsäcker ausgewertete Fallbeispiele finden sich z. B. in Raabe (2000) und Hanses (1996).
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
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Dimensionen des Lebens als krankmachendes Potenzial in das Zentrum seiner Überlegungen (vgl. ausführlich von Weizsäcker 2005/1956; vgl. Griese/Griesehop 2007: 106 ff.; Hanses 1996).36 Das ungelebte Leben verweist auf die Vergangenheit der Biographie: Eine lange unterdrückte Wut kann sich in einer Hypertonie manifestieren oder eine erotische Kränkung in einer Angina Pectoris (vgl. von Weizsäcker 2005: 278). Auch die Begegnung zwischen Arzt und Patient wird Teil der Krankengeschichte und Biographie. Bereits von Weizsäcker fordert die systematische Einbindung der biographischen Dimensionen durch die Medizin: „…weil das Wesen der Krankheit nur ein biographisches ist, […] kann auch die Erkenntnis der Krankheit immer nur eine biographische sein“ (von Weizsäcker 1956: 259, zit. n. Hanses 2000: 363). Dabei geht es nicht nur darum, die Erkrankung als Ganzes, den Leib als „Träger biographischer Erfahrungen […] [und] Ort der Einverleibung sozialer Welten“ (Alheit/Nittel 2014: 27), zu verstehen, sondern „sich „halb gelebte“ Erfahrungsressourcen bewusst zu machen“ (Alheit/Nittel 2014: 27) und um diese herum neue soziale Orientierungen zu entwickeln, auf deren Basis auch Gesundungsprozesse gelingen können. Dies verweist auf die Einheit von Körper und Leib, von Krankheit und Kranksein, von Biographie und Leib, deren Verhältnis die sozialwissenschaftliche Biographieforschung konzeptionell reflektiert (vgl. Herzberg 2018: 328; Hanses 2013; Alheit et al. 1999). Biographie und Leib werden zudem als theoretische Eckpunkte einer ganzheitlichen Gesundheitsbildung stark gemacht (vgl. Alheit/Nittel 2014). Die biographische Erzeugung von Erwartungs- und Handlungsstrukturen für mich selbst (erstpersönlich), die mit mir Interagierenden und die soziale Welt ist ohne den Leib nicht möglich. Erfahrung, Sprechen und Handeln setzen die Leiblichkeit eines Akteurs oder mehrerer im sozialen Handeln voraus. Dabei bleibt der Leib relativ unbemerkt, solange er sich nicht über die ‚normalen‘ Formen hinaus (wie z. B. ein unterdrückbares Gähnen) in die Interaktionen drängt. Insbesondere wenn sich körperliche Beschwerden zeigen, Schmerzen auftreten oder ein Gespräch durch leibliche Regungen wie Lachen oder Weinen gestört wird, kann das Erstpersönliche des Leibes nicht mehr ignoriert werden. Dies spitzt sich insbesondere im Kranksein zu, wenn eine je individuelle Auseinandersetzung von (erstpersönlicher) Leiblichkeit mit dem Objektivierbaren des Körpers (aus der Sicht Dritter) erfolgen muss. (vgl. Fischer 2013: 186 f.) Heidrun Herzberg (2018: 328) konstatiert in Anlehnung an Marcel (1978) in ihrer theoretischen Ausarbeitung 36 Auch bei Schütze (1995) findet sich ein Bezug auf das ungelebte Leben, das unter dem Konzept der Verlaufskurven des Erleidens (vgl. dazu auch Strauss 1975: 47 ff.) gefasst ist (vgl. Griese/Griesehop 2007: 109).
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zum Verhältnis von Biographie und Leib: „Der Leib wird in der Erfahrung des Krankseins zum Fokus biographischer Identität. In der körperlichen Krise bin ich unverwechselbar ich selbst.“ Auch George H. Mead (1973: 212 ff., in Herzberg 2018: 329; vgl. auch Fischer 2013: 188) legt in seiner klassischen Identitätstheorie zum leiblichen, spontanen „Ich/I“ und dem sozialen „ICH/Me“, das die Sicht von außen auf mich als „Ich/I“ verkörpert, die Verbindung von Biographie und Leib und deren sozialer Kontextualisierung dar. Beide „Ich-ICH/I-Me“-Zustände fordern sich permanent gegenseitig heraus, was zu wechselnden Identitätskonstruktionen als jeweils aktualisierten „Ich-ICH/I-Me“-Zuständen führt. Dabei tritt der Leib als aktive Dimension biographisch hervor; er verbleibt nicht in objektivierter, abgetrennter Form, wie er sich in der biomedizinischen Körperkonstruktion darstellt. Herzberg (2018: 329) verweist über Meads Identitätstheorie hinaus auf die Konzepte von Merleau-Ponty, Schütz und Plessner, die sich ebenfalls in der postcartesianischen Theorietradition mit der Zusammenführung von Biographie und Leib bzw. dem untrennbaren gemeinsamen Bestand beider auseinandersetzen. Die Medizinsoziologie hat mit dem Konzept der „biographischen Körperkonzeptionen“ (Corbin/Strauss 2010: 66) versucht, die wechselseitig in Bezug stehenden Konzepte Selbstkonzeptionen/Identität, Biographie/biographische Zeit und Körper zu verbinden (vgl. Corbin/Strauss 2010: 63–69; vgl. auch Detka 2013: 214 f.; Detka 2011: 236 ff.). Damit beinhaltet das Konzept die für ein Verstehen der Biographie konstitutiven Elemente der Temporalität, der (sozialen) Kontextualität und der lernenden Veränderung (Reflexivität) und überträgt sie im Körperbezug auf Gesundheit und Krankheit (vgl. Herzberg 2018: 334). „Wenn die Krankheit schwer und ihr Einfluss auf die Aktivität eines Menschen relativ erheblich ist, kommt es zu einem Bruch zwischen der Person, die er in der Vergangenheit war und in der Zukunft zu sein hoffte, und der Person, die er in der Gegenwart ist. Neue Konzeptionen davon, wer und was man ist – also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft -, müssen aus dem entstehen, was noch übrig ist.“ (Corbin/Strauss: 2010: 63). Selbstkonzeptionen bilden sich über die biographische Erfahrungsaufschichtung aus. Sie sind unterschiedlich in verschiedenen Situationen und sozialen Beziehungen und werden im Verlauf der biographischen Erfahrungen immer wieder interpretiert und aktualisiert. Auf dieser Basis sowie über körperbezogene Aktivitäten erfolgt das Handeln. Der Körper ist das Medium, durch das sich die Selbstkonzeptionen bilden und zeigen – im Kontakt mit der Umwelt, Wahrnehmungen, der Kommunikation durch den Körper und darauf aufbauenden Aktivitäten mit anderen sowie dem Abgleichen von gemeinsamen Symbolen, die die eigenen Sinneswahrnehmungen mit Sinn füllen (vgl. Mead 1973). Zudem
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kann der Körper aus verschiedenen eigenen und fremden Perspektiven zum Objekt werden – bewundert, stigmatisiert, sexualisiert etc. Hiermit wird er für eine Selbstreflexion, aus der Sicht anderer, zugänglich, z. B. in Bezug auf seine Leistungsfähigkeit und Erscheinung. Die eigene Auseinandersetzung führt zu Anpassungen des Selbst. Zudem muss der Körper (physisch und psychisch) bestimmte Aufgaben erfüllen können, die mit bestimmten Aspekten des Selbst verbunden sind. Das Gelingen oder Misslingen dieser Aufgaben wird kontinuierlich selbst evaluiert, was zur Ausprägung der Selbstkonzeption führt. Die genannten Aspekte werden im Lebenslauf permanent aktualisiert und weiterentwickelt und führen zur Ausbildung der Sichtweisen bezüglich der Gesamtheit eigener Identität – darüber, wer ich bin. Mit einer Erkrankung, die das eigene Handeln stark behindert, kann es eine drastische Veränderung dieser Selbst- und Fremdwahrnehmungen, der eigenen Identität, geben. Wir müssen nun unsere biographischen Körperkonzeptionen an die neuen Bedingungen anpassen. (vgl. Corbin/Strauss 2010: 65 ff.) Wie Herzberg (2018: 334) mit Bezug auf die Studie von Carsten Detka (2011) zu „Dimensionen des Erleidens“ konstatiert, bearbeitet das biographische Körperkonzept mit seiner Konzentration auf den Körper nur eine Ebene bei der Auseinandersetzung mit chronischen Krankheiten und löst dabei biographische Verarbeitungsprozesse nur teilweise. Unterbelichtet blieben Beziehungsaspekte, Herausforderungen der Alltagsorganisation und institutionelle Rahmenbedingungen. Zudem bestünde die Gefahr, in der Fokussierung auf den Körper die Trennung von Körper und Leib zu reproduzieren. Im naturwissenschaftlichen, biomedizinischen Krankheitsmodell37 ist die Trennung von Körper und Leib manifestiert, das Biographische systematisch ausgeschlossen (vgl. Hanses/Richter 2013: 67). Dies steht in der cartesianischen Tradition der Spaltung von Subjekt und Objekt. Die Ganzheitlichkeit des Leibes rückt in den Hintergrund (vgl. Herzberg 2018: 329). „Biographie reduziert sich auf den Aspekt eines zeitlosen Trägers des Krankheitsprozesses oder Informationsquelle für diagnostische und therapeutische Prozesse.“ (Hanses/Richter 2013: 67). So können Erkrankungen zwar in ihrer Symptomatik, ihren Risiken 37 Auch im biopsychosozialen Krankheitsmodell, das psychische und soziale Dimensionen berücksichtigt und das biomedizinische Krankheitsmodell erweitert (vgl. Faltermaier 2017: 56 ff.), erfolgt keine systematische Einbindung biographischer Dimensionen. Zudem orientieren sich beide Modelle am Krankheitsbegriff und nehmen damit Bezug auf Defizite vs. Ressourcen. Ein biographisch orientiertes Gesundheitskonzept (gleichwohl es als solches noch nicht ausführlich expliziert bzw. ausformuliert wurde) versucht, systematisch die Ressourcen der Subjekte zu befördern, einzubinden und für selbstbestimmte aktive Gesundungsprozesse nutzbar zu machen.
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3 Theoretische Bezüge
und ggf. notwendigen Behandlungen klassifiziert werden, doch diese körperliche Klassifikation entlang der Symptomlogik vernachlässigt den Einbezug des kranken Menschen in seinen leiblichen und biographischen Dimensionen sowie die Prozesshaftigkeit von Erkrankung und Gesundung (vgl. Alheit/Nittel 2014: 26 f.). Hiermit wird nicht auf einen Kausalzusammenhang von Biographie und Körper verwiesen. Vielmehr ist gemeint, dass die über den Leib wahrgenommenen Körperprozesse oder das in diagnostischen und therapeutischen Settings an das Subjekt herangetragene Körperwissen direkt auf die subjektiven Sinnsetzungen und Orientierungen des Gegenübers treffen und durch diese Logik hindurch bearbeitet werden (vgl. Hanses/Richter 2013: 67 f.). Das Leiberleben wird zur biographischen Ressource in der Krankheitsverarbeitung und Neuauslegung der Lebensperspektiven (vgl. Hanses 1999). „Pointiert formuliert sind Erkrankungsprozesse jenseits subjektiver Bezugnahmen des „Patienten“ auf der Grundlage seiner biographischen Wissens- und Deutungskompetenz ontologisch nicht existent.“ (Hanses/Richter 2013: 68) Dies verweist darauf, dass eine Perspektivenerweiterung der (körperlichen) Krankheit auf das je individuelle Kranksein, das sich leiblich vermittelt und sozial ausgehandelt wird, durch die entsprechenden professionellen Dienstleistungen helfen kann und muss, Subjekt- und Körperkonzepte anzunähern (vgl. Hanses/Richter 2013: 67 f.). Hierauf verweist auch Fischer (2013: 187 f.), der zudem auf die Gefahr der Engführung hinweist, wenn man sich zu sehr auf das ‚Erstpersönliche‘ des Leibes fokussiert. In einer Erkrankung ist systematisch die soziale Kontextuierung des Leibes zu berücksichtigen – einerseits als Verstehen der Funktion der Erkrankung als Basis ganzheitlicher Therapie, andererseits als Einbezug der Belastung des sozialen Kontextes (Familie u. a. Interaktionspartner) durch die kranke Person. Um Heilungs- oder Gesundungsprozesse zu ermöglichen, ist eine Rekonstitution des relevanten sozialen Umfeldes erforderlich. Bei Nichtgelingen von Strukturveränderungen im Interaktionskontext muss die erkrankte Person ggf. ihr soziales Umfeld verlassen, damit Leiblichkeit neu konstituiert werden kann, also Gesundungsprozesse beginnen können. Relevant für den Heilpraktikerberuf und im Speziellen die Homöopathinnen und Homöopathen sind die Ausführungen Wolfgang Würgers (2013: 287 ff.), der den Organismusbegriff der Homöopathischen Medizin Hahnemanns ausführlich wissenschaftstheoretisch herleitet: Dieser kulminiert im „philosophischmedizinischen Begriff des Leibes“ (2013: 287) und stellt damit – weit über eine (evidenzbasierte) naturwissenschaftlich-schulmedizinische Sicht auf Krankheit und Gesundheit hinaus – ein Konzept zur Verfügung, um den Menschen in seiner Ganzheit und Individualität des Erleidens und Gesundens zu verstehen und begleiten zu können. Würger schreibt dazu, dass der Organismus „dabei
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[…] nicht nur eine objektiv beschreibbare Einheit, sondern zugleich immer auch erlebte, erfahrene und – im Falle des kranken Menschen – auch erlittene Wirklichkeit, also, trotz aller hilfreichen objektivierbaren Klassifikatorik, stets eine höchst individuelle Realität, die Realität individueller Leiblichkeit“ (Würger 2013: 288) ist. Um nun diese „individuelle Leiblichkeit“ angemessen erfassen zu können, bildet die „substantielle und erfolgreiche Kommunikation zwischen Patient und Therapeut“ (Würger 2013: 288) Grundlage erfolgreich angewandter Homöopathie. Dies verweist auf die Bedeutung der Kommunikation, die jedoch in der Biographieforschung zum biographischen Erzählen notwendig erweitert wird, um die Erfahrens- und Erleidensprozesse über den zeitlichen Verlauf des Lebens, die subjektiven Eigentheorien, die (alltagsweltlich, gesellschaftlich konstituierten) Referenzrahmen der Biographie zu erkunden und letztlich Ressourcen zu entdecken, die für den je individuellen Gesundungsprozess relevant sind und befördert werden können.38 Dabei ist das biographische Erzählen ebenfalls an den Leib gebunden, neben dem gesprochenen Text werden Emotionen und implizites Wissen freigegeben. Dies ermöglicht Interpretationen und befördert zudem selbstreflexive Prozesse. Im nochmaligen Konstruieren erzählter Erfahrungen können subjektive Sichtweisen evaluiert und aktualisiert und somit zur biographischen Ressource im Verarbeitungsprozess von Erkrankung und der Neuauslegung von Handlungsmöglichkeiten werden, die für Gesundungsprozesse Voraussetzung sind. (vgl. Herzberg 2018: 329 f.) Der soziale Aushandlungsprozess über den (kranken) Körper bestätigt die These, dass Gesundheit und Krankheit soziale Konstruktionen (vgl. Hanses/Richter 2011: 137) sind. Dabei verweisen Hanses und Richter auf die Analyse Foucaults (1976) zum „ärztlichen Blick“, in der er herausarbeitet, „dass der Körper Produkt institutioneller Praxen […] und diskursiver Wissensarten ist“ (Hanses/Richter 2011: 137), den auch die Wissenschaft (re-)produziert. Damit wird gleichzeitig relevant, dass auch die professionelle Hilfe soziale Praxis ist (vgl. Hanses/Richter 2011: 137). Diagnosen und Therapien ergeben sich nicht einfach aus dem verfügbaren wissenschaftlichen Wissen zu einer Krankheit und deren wahrscheinlichen Prognosen, sondern müssen in Interaktionen zwischen Arzt und Patient verhandelt und hergestellt werden. Dabei ist das, was als Erkrankung und notwendige Therapie verhandelt und in ärztliches sowie patientenseitiges Handeln umgesetzt wird, schon in den sozialen Rahmen, institutionellen Praxen, Routinen und Wissensordnungen enthalten (vgl. Berger/Luckmann 2003). (vgl. Hanses/Richter 2011: 137 f.) 38 Zum
medizinischen Sinn der Erzählanalyse vgl. Schütze (2016b: 135 f.).
130
3 Theoretische Bezüge
Dass diese Bearbeitungs- und Aushandlungsprozesse nicht selten zu einer konflikthaften Auseinandersetzung eigenen biographischen Wissens und alltagsweltlichen Sinnhorizonten mit professionellen Wissensordnungen führen, zeigen z. B. die Studien von Dinkelaker (2013), Hohn/Hanses (2008) sowie Richter (2009) bzw. Hanses/Richter (2011). Dabei sind gerade Formen von Uneinsichtigkeit oder Eigensinnigkeit biographische Ressourcen für Gesundungsprozesse. So arbeiten z. B. Richter (2009) sowie Hanses und Richter (2011) in biographischen Interviews mit an Brustkrebs erkrankten Frauen vier Gruppen mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien heraus: Passung (biographische Kontinuität und Deautonomisierung), Eigen-Setzung (biographische Kontinuität und Autonomie), Neu-Auslegung (biographischer Wandel vor der Referenz der Biographie) sowie Überformung (biographischer Wandel vor dem Referenzrahmen der Medizin) (vgl. Richter 2009: 78). Insbesondere die Gruppe der EigenSetzung zeigt einen biographischen Eigensinn, der zu Abgrenzungsstrategien gegenüber der Macht medizinischer Wissensordnungen führt. Die Gruppe Passung präsentiert sich mit hoher Compliance, die sich zwar unkompliziert in die institutionelle Logik einfügt, jedoch diesen Prozess als Fortsetzung deautonomisierender biographischer Erfahrungen erlebt. Bei den Gruppen der Neu-Auslegung und Überformung kommt es zu biographischen Veränderungsprozessen. Während sich jedoch die Gruppe Neu-Auslegung neue, biographisch gerahmte Handlungsressourcen erschließt, treten bei der Gruppe Überformung die Optionen der Lebensgestaltung hinter die medizinische Prozedierung im Rahmen der Krebstherapie zurück. Vor allem für die Gruppen der Passung und Überformung können negative Folgen für Gesundungsprozesse abgeleitet werden. Die Gruppe der Eigen-Setzung irritiert in ihren Handlungen das professionelle System, dies jedoch als Ausdruck biographischer Aneignung der Erkrankung vor dem eigenen Erfahrungshintergrund, was wichtiger Bestandteil einer Gesundung ist. (vgl. Richter 2009: 187 ff.; Hanses/Richter 2011: 139 ff.) Diese Befunde verweisen auf die Herausforderungen professioneller Praxis im Umgang mit ihren Patientinnen sowie auf die Notwendigkeit, deren biographische Relevanzsetzungen zu verstehen und in der professionellen Praxis konsequent daran anzuschließen. In medizinischen und pflegerischen Kontexten werden biographische Ansätze insbesondere in der Altenpflege, der Interaktion mit Demenzerkrankten oder auch in der Palliativ- und Hospizversorgung angewendet, also dann, wenn sich das Paradigma der Heilung unter die unabänderliche Dimension der Endlichkeit des Lebens und der Unausweichlichkeit des (nahen) Lebensendes fügen muss. Dies lässt biographische Relevanzsetzungen in den Vordergrund rücken, die von den alten oder erkrankten Menschen sowie auch den Professionellen gleichermaßen zu bearbeiten sind (vgl. Hanses et al. 2015). In
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
131
diesen professionellen Kontexten lassen sich spezifische soziale Herstellungspraxen des Sterbens sowie „Professionalitätskonstruktionen“ (Heuer et al. 2015: 259) in der Arbeit mit Menschen am Lebensende herausarbeiten, die entsprechend den Berufsfeldern (Soziale Arbeit, Medizin, Pflege) und institutionellen Settings (Hospiz, Palliativstation, internistische Station, Altenheim) variieren. Je weiter die medizinische oder Dienstleistungslogik in den Hintergrund rückt, desto mehr Raum eröffnet sich für biographische Wissensbestände (vgl. Heuer et al. 2015; Hanses et al. 2015).
3.6.4
Anforderungen an die professionelle Praxis und wissenschaftliche Weiterentwicklung; Chancen für den Heilpraktikerberuf
Die Erkenntnisse der Biographieforschung belegen, dass es einer konsequenten Einbindung lebensweltlicher und biographischer Dimensionen der Hilfesuchenden, aber auch der Professionellen selbst in die Medizin, Pflege, Therapieund Gesundheitswissenschaften bedarf. Für die mangelnde Überführung der biographietheoretischen Konzepte in die Medizin und Gesundheitswissenschaften spricht für Hanses (2013: 52) die Komplexität der Konzepte von Biographie und Leib. Auf wissenschaftlicher Ebene muss zunächst die Biographieforschung mit ihren theoretischen Konzepten zu Biographie und Leib von den naturwissenschaftlich orientierten Disziplinen als Kernbestand legitimen Wissens anerkannt werden (vgl. Alheit/Nittel 2014: 27). Zudem sind Biographie- und Professionsforschung systematisch zu verzahnen, um die Zusammenhänge von Biographie und Institution sowie Biographie und Gesundheit für das professionelle Handeln in medizinischen und gesundheitlichen Versorgungsstrukturen fruchtbar zu machen. Dies ist mit Paradigmenwechseln verbunden, auch mit gefühltem Machtverlust aus rational orientierter und biomedizinischer Sicht in Prüfung der Einbindung anderer wissenschaftlicher Konzepte, aber auch im Rahmen der Entwicklung neuer Versorgungskonzepte und Unterstützungsangebote (vgl. Hanses 2005: 76 f.; Hanses/Richter 2013: 77). Professionelle und institutionelle Selbstreflexivität, die Anerkennung und professionelle Bearbeitung von Gegenwissen sowie eigenen biographischen Handlungsorientierungen, die anhand biographischer Selbstthematisierungen der Professionellen aufgedeckt werden können, können helfen, Strukturprobleme professionellen Handelns als diese zu erkennen, zentrale Perspektiven über die
132
3 Theoretische Bezüge
Hintergründe eigenen professionellen Handelns zu verstehen und beides systematisch zu den Institutionslogiken in Bezug zu setzen, um diese weiterzuentwickeln (vgl. Völter 2018: 481 f.; Hanses/Richter 2013: 71). Auf diese Weise würde nicht nur die Perspektive der Patientinnen eine zentrale Bedeutung erhalten, auch Gegenwissen wie alternative Heilverfahren könnten stärker als bisher eingebunden werden. Zudem eröffnen sich vielleicht Chancen, auch den Heilpraktikerberuf stärker in den Kanon der Gesundheitsberufe einzubinden und auf diese Weise entsprechende Bedarfe der Patientinnen auf der Suche nach einer anderen Medizin anzunehmen. Neben der Kompetenz institutioneller und persönlicher (Selbst-)Reflexivität bedarf es fallrekonstruktiver und -analytischer Fähigkeiten, die über die (evidenzbasierte) klinische Diagnostik und entsprechende Ableitung von Therapie hinausgehen (vgl. Schütze 2016b, 2014; Dewe/Otto 2012). Dies erfordert eine je individuelle Auseinandersetzung mit einem Fall entlang eines Fallbegriffs, der i. S. einer rekonstruktiven sozialwissenschaftlichen Kategorie verwendet wird: Mit der Orientierung an den biographischen Ressourcen und sozialen Kontexten, in denen die Klientinnen oder Patientinnen leben, geht diese Fallorientierung über die klinische Einzelfallorientierung i. S. eines klassischen, personalistisch orientierten Case Managements hinaus (vgl. Dewe/Otto 2012: 204 ff.; Dewe 2009: 58 ff.). Ansätze wie die biographische bzw. biographisch-narrative Diagnostik (vgl. Hanses 2011, 2000; Goblirsch 2010, 2010a; Griese/Griesehop 200739 ; Dern/Hanses 2001) oder biographische Fallanalyse und Fallarbeit (vgl. Griese/Griesehop 2007; Schütze 2014, 2016b)40 ermöglichen, konsequent an den Sinnsetzungen und Handlungsorientierungen der Patientinnen anzusetzen und somit deren Ressourcen für biographische Aneignungsprozesse von Erkrankung sowie Gesundungsprozesse konsequent anzusprechen. Griesehop (2003: 227) spricht von der Relevanz einer „narrative[n] Praxis“ zum besseren Verständnis chronisch erkrankter Menschen. Hanses (2000: 364 f.) verweist auf die potenziell heilsamen Prozesse biographischen Erzählens. Hinzu kommt die Möglichkeit, 39 Zum Begriff der Diagnose sowie Stand der Diagnostik im Kontext rekonstruktiver (biographischer) Fallanalysen vgl. Griese/Griesehop (2007: 81 ff.). 40 Dabei sind die Konzepte konsequent auf die medizinische Versorgung oder gesundheitsbezogene Dienstleistung zu beziehen und methodisch aufzubereiten. Dies ist zum einen aufgrund des je spezifischen Gegenstandsbereiches (Heilung/Gesundheit) mit den eigenen disziplinären Bezügen, zum anderen aus Gründen der Zeitökonomie bzw. „Praktikabilität des Arbeitsalltags bei gleichzeitiger Eröffnung eines methodisch kontrollierten verstehenden Zugangs“ (Hanses 2000: 365 zu den Patienten vonnöten (vgl. Hanses 2000: 365; Schütze 2016b).
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
133
das eigene professionelle Handeln vor den subjektiven Sinnsetzungen der Hilfesuchenden zu reflektieren und ggf. zu verändern, insbesondere auch vor dem Wissen, dass die professionelle Praxis eine soziale Herstellungspraxis ist (vgl. Hanses/Richter 2011: 137 f.). Um dies zu ermöglichen, müssen zunächst in Studium und Weiterbildung wissenschaftliche Methoden rekonstruktiver Falldiagnose (Untersuchung und Analyse) erlernt und trainiert werden. Ein intensives Einüben unter Anleitung befördert, dass in der alltäglichen beruflichen Interaktion Abkürzungsstrategien der Auswertungsschritte angewendet werden können, nicht ohne jedoch dabei deren Fehlerquellen zu reflektieren (vgl. Schütze 2014: 157 ff.). Zudem können systematische Hinweise in beiläufigen Erzählstücken, die häufig in den kurzen Arzt-/Therapeut-Patient-Interaktionssituationen auf Patientenseite enthalten sind, erkannt, als relevant eingeordnet und diagnostisch, aber auch zur Evaluation von Behandlungsfortschritten und Krankheitsverarbeitungsprozessen nutzbar gemacht werden (vgl. Schütze 2016). Für den Erwerb „biographischer Kompetenz“ (Herzberg 2013: 193) braucht es darüber hinaus Rahmenbedingungen für das Einüben jener spezifischen Methodenkompetenz, die den Zugang zu den subjektiven Sinnsetzungen der Patientinnen sowie die Reflexionsfähigkeiten bezüglich deren Erzählungen betreffen. Hierzu gehört auch, sich als (zukünftige) Professionelle im gegenseitigen Erzählen mit den eigenen Biographien oder Orientierungen im professionellen Handeln auseinanderzusetzen. Dies soll Fähigkeiten wie das verstehende Zuhören fördern und ermöglichen, sich selbst und andere besser zu verstehen, das eigene implizite Wissen zu explizieren und zu reflektieren. Hierauf erst bauen biographische Zugangskompetenz und Rekonstruktionskompetenz auf – die Fähigkeiten, Patientinnen zum biographischen Erzählen zu ermutigen, ihnen ohne Unterbrechung zuzuhören und in Analyseprozessen Ideen zu deren Orientierungen zu entwickeln, die als Ressourcen Gesundungsprozesse unterstützen können. Wenn diese interne Evidenz der Patientinnen mit dem externen und internen Expertenwissen in Bezug gesetzt werden kann, kann eine Synthese von lebensweltlichem, biographischem Wissen mit professionellem Wissen entstehen, die ermöglicht, die gesundheitlichen und sozialen Unterstützungsleistungen an den Bedarfen und Ressourcen der Patienten auszurichten und einen selbst verantworteten aktiven Gesundungsprozess zu begleiten. (vgl. Herzberg 2013: 193 ff.). Eine professionelle Begleitung unter dem Paradigma biographischer Kompetenz mag zudem die neue Qualität biographischer Reflexivität befördern, die Patienten benötigen, um ihre erfahrungsbasierten Sichtweisen selbstbewusst und selbstverantwortet in die therapeutische Interaktion einbringen zu können (vgl. Herzberg 2018: 333).
134
3 Theoretische Bezüge
Weiterhin braucht es Rahmungen und soziale Praxen der kontinuierlichen beruflichen Selbstreflexion, wie Dewe (2009: 58 ff.) für die Soziale Arbeit ausdifferenziert: Dies ermöglichen begleitete Praktika, Workshops mit kollegialen Fallberatungen oder Supervisionen. Ermöglicht werden soll ein besonderer Lernprozess, um implizites praktisches Handlungswissen selbstreferenziell verfügbar zu machen und somit die Kontrolle über das eigene Tun in Auseinandersetzung mit den strukturellen Handlungslogiken zu erhöhen. Die individualpsychologische Betrachtungsweise soll überschritten und durch den systematischen Einbezug lebenswelt- und milieuspezifischer Dimensionen eine sozialwissenschaftliche Perspektive erarbeitet werden, um dem verstärkten Begründungsanspruch von Gesellschaft, Klientinnen und nicht zuletzt an sich selbst als professionell Handelndem gerecht zu werden. Ausgewählte methodische Elemente hierzu sind: die Bewusstmachung eigenen Vorwissens und Vorurteile bezüglich eines Klienten; die Beobachtung sozialer Phänomene und Teilnahme am sozialen Geschehen einer Klientin, um einen Blick für die sozialen Rahmenbedingungen zu erwerben und den jeweiligen Fall systematisch beschreiben zu können; das Einüben der Erzeugung narrativer Konstruktionen, besonders in der Diagnosephase der Interaktion; die gemeinsame Rekonstruktion der objektiven und symbolischen lebensweltlichen Logik der Klientinnen an Fällen;41 der Erwerb einer akzeptierenden Haltung gegenüber der Klientinnensicht, insbesondere in der Phase der Problemdiagnose, aber auch bei der Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten – hierbei gilt, „dass die Problemdefinition des Professionellen […] eine Konstruktion „zweiten Grades“ ist, die notwendigerweise auf den Konstruktionen „ersten Grades“ unserer Klienten aufbauen muss“ (Dewe 2009: 59); Annahme der Klientinnen als gleichberechtigte reflexive Subjekte und Förderung selbstverantwortlicher Problembewältigung; vorsichtiges Umgehen mit psychotherapeutischen Problemzugriffen und Wahrnehmung der biographischen Bedeutung von Eingriffen in die Lebenspraxis der Klienten. In der Medizin sind Balint-Gruppen als Methode bekannt, um sich selbst und die eigene professionelle Praxis in Bezug auf eigene Patientinnen, berufsbiographische Verstrickungen und Widersprüche im professionellen Handeln zu reflektieren und ggf. zu verändern. Trotz ihres Nutzens werden sie jedoch wenig angewendet. (vgl. Nittel/Seltrecht 2016: 148)
41 Die beiden letztgenannten Kompetenzen finden sich als biographische Zugangs- und Rekonstruktionskompetenz auch im Modell biographischer Kompetenz bei Herzberg (2013).
3.6 Biographie, Institution, Profession und Gesundheit
135
Für den Heilpraktikerberuf setzt der systematische Anschluss an diese Überlegungen zunächst voraus, dass er eine geregelte Ausbildung42 erhält. Im Zuge der Ausbildung gilt es zudem, Strukturen herzustellen und Praktiken zu ermöglichen, die auch auf habitueller Ebene berufliche Bildungsprozesse ermöglichen. Ein biographieorientierter und lebensweltlicher Zugang zu Patientinnen und Patienten sowie die konsequente Einbindung sozialer Dimensionen von Erkrankung und Gesundung könnte für den Heilpraktikerberuf eine Chance sein, sich von der Medizin in einer alternativen Weise abzugrenzen, die über den Gegenstand der Heilverfahren hinausgeht. Die naturwissenschaftliche Medizin geht davon aus zu wissen, wie Gesundheit hergestellt wird, ohne dass systematisch die lebensweltlichen, biographischen Hintergrundressourcen der Patientinnen einbezogen werden. Dies müsste jedoch der Anspruch an eine professionelle Tätigkeit sein, wie die Empirie überzeugend belegt. Wenn der Heilpraktikerberuf ein ‚Gegenkonzept‘ zur Profession der Medizin sein soll, braucht er (wissenschaftlich fundierte) Konzepte, den Menschen mit seiner Krankheit (nicht umgekehrt) in den Blick zu nehmen, d. h. die lebensgeschichtliche Kontextualisierung einer Krankheit in den Mittelpunkt des gemeinsam getragenen Gesundungsprozesses zu rücken. Dies würde zudem den Begriff der ganzheitlichen Naturheilkunde oder Ganzheitsmedizin erweitern, mit dem sich ebenfalls auseinanderzusetzen wäre. Viktor von Weizsäcker oder Samuel Hahnemann, der allerdings nicht explizit die biographische Dimension von Erkrankung und Gesundung im zeitlichen Verlauf des Lebens in den Fokus rückte, haben dazu theoretische Ideen und praktische Hinweise geliefert. Erfahrene Protagonisten der Heilpraktikerschaft könnten aus berufspraktischer Perspektive als Vorbilder dienen, sofern es gelingt, fernab von Charismatisierung oder Polemik, deren heilkundliche Erfahrungen mit ihren Patientinnen über die Anwendung von (alternativen) Therapien hinaus auf eine Biographie- und Lebensweltorientierung zu beziehen, ggf. mit wissenschaftlich fundierten Konzepten zu kontrastieren und rückbezüglich für die Ausbildung zum Heilpraktiker anzupassen. Auch die Biographieforschung selbst stellt wissenschaftlich fundierte Überlegungen bereit, um die Trennung von Leib und Körper, wie sie die Medizin der Moderne vorgenommen hat, aufzuheben sowie die Differenz zwischen der externen Evidenzbasierung moderner schulmedizinischer Versorgung und der auf biographischem Wissen aufbauenden internen 42 Zudem beziehen sich die dargestellten empirischen Ergebnisse und theoretischen Grundlagen auf hochschulisch angesiedelte Ausbildungsgänge, die mit dem Erwerb wissenschaftlicher Wissensbestände und eigener Disziplinbildung einhergehen. Dies ist für den Heilpraktikerberuf in naher Zukunft nicht zu erwarten, kann jedoch eine ernstzunehmende Perspektive darstellen, entlang der Professionalisierungsprozesse der anderen nicht-ärztlichen Heilberufe.
136
3 Theoretische Bezüge
Evidenz der Patientinnen zu überwinden. Die Stärke der Heilpraktikerinnen ist aktuell die Zeit für den Patienten, das Zuhören und eine intensive Hinwendung zu ihm, um seine Problematik zu verstehen. Dies alles sind Bestandteile einer biographisch orientierten Professionalität. Was noch hinzuzufügen bleibt, ist die Fähigkeit, die auf biographischer Erfahrungsaufschichtung basierenden Hintergründe von Gesundheit und Krankheit zu verstehen, ernst zu nehmen und reflexiv zu bearbeiten – dies über eine ‚sozialmedizinische Sicht‘ hinaus. Somit wird auch eine systematische Orientierung an den Ressourcen der Patienten und Klientinnen möglich. Dem Heilpraktikerberuf als ‚freiem‘, wenig institutionalisiertem Beruf liegt das Potenzial der Anschlussfähigkeit an die lebensgeschichtlichen Sinnhorizonte ihrer Patienten inne. Dabei sind zwei Dimensionen relevant. Zum einen bietet der Beruf aufgrund seiner gesetzlichen ‚Freiheit‘ und berufspraktischen Heterogenität der Berufsausübung die Chance, Hilfesuchenden in solchen professionellen Arrangements gegenüberzutreten, die es jenen ermöglichen, lebensgeschichtlich anzuschließen. Dies setzt allerdings auch ein reflektiertes Wissen um gelingende Interaktionsordnungen und -prozesse voraus, damit die formalen Bedingungen der Berufsausübung auch über die gesetzliche Freiheit hinaus in der eigentlichen Interaktion biographisch anschlussfähig gestaltet werden (können). Eine zweite Dimension erscheint in Bezug auf diese empirische Studie fast noch wichtiger: Es liegt nahe, dass gescheiterte Interaktionsprozesse mit der Institution der Medizin im Rahmen von Erkrankungs- und Gesundungsprozessen dazu führen, dass sich Hilfesuchende neue bzw. andere Wege erschließen, um in ihrer je eigenen individuellen lebensgeschichtlichen Logik zu gesunden bzw. chronische Erkrankungen langfristig zu bewältigen. Sie mögen Heilpraktikerbehandlungen als Alternative erproben. Darüber hinausgehend ist ebenso denkbar, dass sich Menschen entschließen, entsprechend ihren eigenen biographischen Sinnsetzungen und habituellen Logiken den Beruf des Heilpraktikers zu ergreifen, anzueignen und auszuüben. Inwieweit sie dabei mit ihren neu erworbenen beruflichen Konzepten anschlussfähig bleiben an Hilfesuchende, die sich (mit ähnlichen biographischen Vorerfahrungen) an sie wenden, hängt nicht zuletzt von der eigenen Reflexionsfähigkeit ab.43 Somit werden tradierte Konzepte medizinischer Dienstleistung infrage gestellt und in ihrer Modernisierungsfähigkeit gefordert. Die etablierte Profession der
43 Allerdings ist davon auszugehen, dass die berufstätigen Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker, so reflektiert und kunstfertig sie auch agieren mögen, das Strukturproblem fehlender Professionalisierung nicht individuell kompensieren können.
3.7 Offene Fragen – Die Fragestellung der eigenen Arbeit
137
Medizin kann in ihrer Deutungshoheit in einen Zugzwang geraten, vorausgesetzt, Gegenwissensprofile verfestigen sich und erlangen eine gesellschaftlich relevante Position. Tradierte Wissensprofile werden überformt und institutionelle Logiken geraten unter Druck, mit der Chance der Weiterentwicklung – hin zu einer möglichen Anschlussfähigkeit Hilfesuchender an deren lebensgeschichtliche Sinnhorizonte. Mit einer Veränderung institutioneller Logiken gehen immer auch die Veränderung individueller Logiken sowie deren Rückbindung an die Institutionen einher. Im Spannungsfeld zwischen Medizin und Naturheilkunde kommt es nun darauf an, wie die einzelnen Berufsinhaber oder Professionellen mit dem verfügbaren Wissen umgehen, selbst daran anschließen (können), die Hilfesuchenden oder Patientinnen zentral im Blick behalten und sich von tradierten Dienstleistungskonzepten lösen sowie neue systematisch erproben und etablieren. Professionelle Interaktionsordnungen in institutionellen Kontexten können sich somit verändern. Genau dies kann auch für die Medizin eine interessante Perspektive darstellen, insbesondere vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft mit einer hohen Prävalenz an Multimorbidität und Chronizität von Erkrankungen sowie dem Agieren in Grenzbereichen des Lebens, in denen der wissenschaftlich-technische Fortschritt sich erschöpft bzw. ethische Fragen und persönliche Positionierungen in den Fokus geraten (vgl. Alheit/Nittel 2014: 26). Dabei ist anzunehmen, dass der Wandel mentalitärer, gesellschaftlich konstituierter (professioneller) Orientierungen, die letztendlich soziale und institutionelle Praktiken mitbestimmen, langwierig ist und nicht ohne Konflikte verlaufen mag.
3.7
Offene Fragen – Die Fragestellung der eigenen Arbeit
Wie die bisherigen Ausführungen zeigen, ist der Heilpraktikerberuf ein wenig institutionalisierter und professionalisierter Beruf. Seine Stellung im Kanon der Gesundheitsberufe, zumal in Bezug zur Medizin, ist historisch konstituiert und wird berufspolitisch/gesellschaftlich reproduziert. Der Beruf verbleibt aktuell in einer Nischen- und Ausnahmestellung. Er ist sozial konstituiert als NichtProfession mit institutioneller Blockade. Die strukturellen Probleme fehlender Professionalisierung müssen auf individueller Ebene bearbeitet werden. Diese Rahmenbedingungen führen zu einer Heterogenität des Feldes der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker aus beruflicher und sozialer Sicht. Die Berufsbezeichnung Heilpraktiker sichert keineswegs die berufliche Identität. Auch aus individueller Sicht bleibt erklärungsbedürftig, warum jemand den Beruf des
138
3 Theoretische Bezüge
Heilpraktikers oder der Heilpraktikerin ergreift. Mit den formalen Anforderungen der Erlaubniserteilung (Altersgrenze von 25 Jahren) geht einher, dass es vor dem Zugang zum Heilpraktikerberuf bereits andere berufliche und private Entwicklungen gegeben hat; der Heilpraktikerberuf wird in der Regel nicht als Erstberuf ergriffen. Ebenso kann er dauerhaft neben einem anderen Beruf ausgeführt werden. Der Prozess der Verberuflichung ist durch den einzelnen Heilpraktiker individuell und im je konkreten sozialen Kontext zu bestreiten – mit der Wissensaneignung, Entscheidung für ein konkretes Arbeitsfeld und Spezialisierung/Weiterbildung sowie der Entwicklung beruflichen Könnens. Ist die Approbation eines Arztes nach langer hochinstitutionalisierter universitärer Ausbildung und fachärztlicher Weiterbildung mit einem klaren Auftrag sowie der Ausbildung eines professionellen Habitus verbunden, lässt sich dies für eine Heilpraktikerin nicht erwarten oder voraussetzen. An diese Stelle müssen biographische Habitualisierungsprozesse treten, deren allgemeine Bedingungen, Strukturierungsregeln und mehrperspektivische Herausforderungen theoretisch und empirisch ausführlich entfaltet wurden. Die vorliegende Studie nimmt erstmals die Berufsgruppe der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker (berufs-)biographisch in den Blick. Dabei rückt die (subjektive) Binnenperspektive handelnder Akteurinnen und Akteure in den Mittelpunkt, unter dem Aspekt der Rekonstruktion eigener (berufs-)biographischer Erfahrungsaufschichtung sowie biographischer Arbeit (vgl. Schütze 2016b: 152) im Kontext kontinuierlicher Wandlungsprozesse und ungeregelter beruflicher Rahmenbedingungen. Eine offene Vorannahme war, dass die ungeregelte Berufsausbildung und Tätigkeit des Heilpraktikers spezifische, biographisch zu bearbeitende Anforderungen, also spezifische Anforderungen an die Biographizität derjenigen Akteurinnen und Akteure, stellt, die sich der Herausforderung dieses Berufes stellen. Es ist davon auszugehen, dass im Rahmen habitueller Dispositionen und biographischer Lernprozesse erworbenes (implizites) biographisches Wissen zur Verfügung steht (vgl. Alheit/Herzberg 2011: 20) und in der je individuellen Logik aktualisiert wird. Welche subjektiv verfügbaren Erwartungs- und Erfahrungshorizonte, Deutungen und Kompetenzen in spezifischer Weise für das eigene Handeln nutzbar gemacht werden, soll sich in den einzelnen Fällen zeigen. Angenommen wird, dass das Biographische in den Vordergrund tritt, entlang dessen die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ihre Beruflichkeit entwickeln – a) zunächst als Impuls für die Berufswahl und b) im eigentlichen individuellen Verberuflichungsprozess. Dabei muss der Impuls oder Zwang stark genug sein, um die bekannten Pfade zu verlassen und sich auf die neuen Herausforderungen bzw. damit verbundenen Unsicherheiten einzulassen.
3.7 Offene Fragen – Die Fragestellung der eigenen Arbeit
139
Wenn also die individuelle Verberuflichung entlang der Biographie, des biographischen Habitus, verläuft, stellt sich die Frage, wie genau die einzelnen Akteure diese Prozesse gestalten und in den biographischen Interviews konstruieren. Fragestellung ist, wie es biographisch dazu kommt, dass sich Menschen für den alternativen Weg in die Heilkunde entscheiden. Was ist für sie das Besondere am Beruf, für das sie sich auf den neuen, mit Unsicherheiten verbundenen Werdegang einlassen? Welche biographischen Orientierungen werden handlungsleitend in der Aneignung ihrer neuen Tätigkeit und bestimmen die nächsten Schritte mit bzw. wie zeigen sie sich im biographischen Handeln als subjektive Leistungen? Wie entstehen die beruflichen Deutungs- und Orientierungsmuster und fließen in das berufliche Selbstverständnis der interviewten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ein? Wie erfolgt die Rückbindung an die eigene Biographie? Welche Lernprozesse und biographischen Ressourcen lassen sich aufzeigen, aber auch, welche Risiken und Grenzen? In welcher Weise sind die habituellen Dispositionen und biographischen Orientierungen handlungsleitend und werden für das berufliche Handeln nutzbar gemacht – z. B. wenn die Akteure ihr berufliches Handeln konzeptualisieren, ihr berufliches Können erproben und weiterentwickeln? Auf welche biographischen Ressourcen greifen sie zurück, wenn sie sich mit den Handlungsanforderungen einer relativ ungeregelten Tätigkeit als Heilpraktiker auseinandersetzen, z. B. entlang der dominierenden Profession der Medizin und in Auseinandersetzung mit dieser, bezüglich der Marktanforderungen eines freien Berufes, mit dem scheinbar unüberblickbaren Feld an Therapieverfahren, aber auch in der Beziehung und Interaktion zu ihren Patientinnen und Patienten? Welche Grenzen zeigen sich in den Modi beruflichen Handelns der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker? Wie zeigt sich das berufspolitische und gesellschaftliche Spannungspotenzial um den Heilpraktikerberuf, zumal in Konkurrenz zur Schul- und, insbesondere, alternativen (wissenschaftsorientierten) Medizin, in den subjektiven Sinnsetzungen und beruflichen Handlungsmodi der Heilpraktiker? Welche anderen gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen wirken auf die Biographien der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ein, wie setzen sie sich damit auseinander und binden es im Gegenzug gesellschaftlich zurück? Mit anderen Worten: Wie wird die Synthese von Individualität und Struktur deutlich in den jeweiligen Biographien der Menschen? Wie gelingt die Herstellung einer je individuellen biographischen Konsistenz im Prozess des Lebens? Wie drückt sich also der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern aus und welchen beruflichen Ausdruck findet er?
140
3 Theoretische Bezüge
Der folgende Teil bearbeitet diese Fragestellungen. Dazu kommen drei Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ausführlich zu Wort. Vorher wird die Studie in ihrer theoretisch-methodischen Anlage und Durchführung beschrieben.
Teil II Empirische Studie – Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern und sein beruflicher Ausdruck
4
Theoretisch-methodische Anlage der Studie
Im Mittelpunkt dieser Studie stehen rekonstruktive Analysen autobiographischnarrativer Interviews mit Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern. Damit wird einem qualitativen, interpretativ-rekonstruktiven Forschungsparadigma1 gefolgt. Das interpretative Paradigma betrachtet soziale Akteure als „handelnde und erkennende „Organismen“, die soziale Wirklichkeit (interaktiv) verändern“2 (Alheit 2010: 42). Um die komplexen Wechselbeziehungen sozialer Prozesse zu erfassen und um das bisher nicht erforschte Phänomen der individuellen Verberuflichungsprozesse von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern zu untersuchen, kann nur ein qualitatives Forschungsdesign gewählt werden. Dem Auswertungsprozess liegt das methodologische Rahmenkonzept der Grounded Theory zugrunde. Frühzeitig mit der Erhebung erster Daten werden diese ad hoc in Kodierungen überführt, mit neu erhobenen Fällen und theoretischen Konzepten kontrastiert und im Vergleich der vorhandenen Fälle so verdichtet, dass nach Sättigung der Kategorien entsprechend der Datenlage eine gegenstandsbezogene Theorie mittlerer Reichweite abgeleitet werden kann. (vgl. Alheit 2010) Die Methodologie der Grounded Theory soll im Folgenden näher beschrieben werden. Ihr wird in dieser Studie im Verhältnis von Theorie und Empirie sowie 1 Vgl.
auch Rosenthal (2008). Zur Darstellung eines qualitativen Forschungsprozesses in seiner Gesamtheit vgl. auch das Arbeitsbuch von Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014), zur weiterführenden Übersicht über verschiedene theoretische Hauptlinien, methodologische Grundannahmen und die Umsetzung von Methoden der qualitativen Sozialforschung vgl. auch Flick et al. (2008). Prägnant zu Grundfragen qualitativer Sozialforschung wie Erkenntnisinteresse, Gütekriterien oder Offenheit des methodischen Zugangs vgl. Alheit (2010: 39–46). 2 Vgl. hierzu auch Berger/Luckmann (2003). © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2_4
143
144
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
den grundlegenden Prinzipien gefolgt. Hinzu kommt die systematische Reflexion der Standort- und Kontextgebundenheit von Forschung und Forscherin, die Charmaz (2014 u. a.) in ihrer konstruktivistischen Wende der Grounded Theory stark macht. Der empirischen Basis der Studie, autobiographisch-narrativen Interviews, trägt das verwendete Kodierparadigma der kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens (Schütze 1984) Rechnung. Es wird in Abschnitt 4.2 näher beschrieben. Dort wird ebenfalls auf grundlegende theoretische Merkmale biographischen Erzählens eingegangen. Anschließend folgt die Darstellung des methodischen Vorgehens in dieser Studie in den Einzelschritten.
4.1
Grounded Theory als methodologisches Rahmenkonzept
4.1.1
Zum Verhältnis von Theorie und Empirie in der Grounded Theory-Methodologie
Barney Glaser und Anselm Strauss (1967/1998)3 sind Begründer des „Forschungsstils“ (Alheit 2010: 47)4 der Grounded Theory, aus Daten, also empirisch begründet, gegenstandsbezogene oder formale Theorien mittlerer Reichweite5 zu bilden. Mit dem Ziel, „Theorien fest an Daten zu binden und durch diese zu kontrollieren“ (Hildenbrand 2010: 8) setzten sie dem damals herrschenden 3 Die
erste deutsche Übersetzung der ausführlichen Erstfassung zur Grounded TheoryMethodologie von 1967 erschien erst 1998 (vgl. Glaser/Strauss 2010: 7). Vorher wurde das Konzept auf deutsch in Glaser/Strauss (1993/1979) vorgestellt. Aufgrund der umfangreichen Aufarbeitung und unterschiedlichen Weiterentwicklung des Konzepts bis heute findet sich eine umfangreiche Literatur, die nicht auf den ersten Blick zu überschauen ist. Hier bietet sich Sekundärliteratur wie Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014: 190–223) und Mey/Mruck (2011) an. 4 Zur Einordnung der Grounded Theory als „Stil“ vs. Methode oder Technik vgl. auch Strauss (1998: 29 f.). 5 Die gegenstandsbezogenen Theorien mittlerer Reichweite (substantive theories) beschreiben einen scharf umgrenzten Bereich des sozialen Lebens. Dies kann eine Theorie über die Patientenrelevanz von Qualitätsindikatoren der Versorgung von Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz sein. Die formalen Theorien mittlerer Reichweite (formal theories) beziehen sich auf einen konzeptuellen Bereich der Soziologie, z. B. Stigmatisierung. Sie sind abstrakter und allgemeiner als die gegenstandsbezogene Theorie und ihr Geltungsbereich umfasst mehrere Gegenstandsbereiche, für die jeweils unterschiedliche gegenstandsbezogene Theorien entwickelt werden können. Beide Typen sind formal gleich aufgebaut – aus Kategorien mit ihren theoretisch bedeutsamen Merkmalen, deren Beziehungen zueinander durch Hypothesen dargestellt sind. (vgl. Kelle 1997: 289 f.).
4.1 Grounded Theory als methodologisches Rahmenkonzept
145
soziologischen Forschungsparadigma, der „datenfreie[n] Erzeugung von Theoriegebäuden als Königsweg“ (Hildenbrand 2010: 8) ein radikales neues Konzept entgegen. Aufgabe der empirischen Forschung war zu jener Zeit ausschließlich, deduktiv auf Basis (abstrakt formal gebildeter) Großtheorien oder daraus abgeleiteter Theorien mittlerer Reichweite Hypothesen zu formulieren und zu testen. Damit fehlte der empirischen Forschung der systematische Bezug zur Wirklichkeit und empirische Fragestellungen blieben der sozialen Wirklichkeit fremd. Ebenso ist es unmöglich, mit den ‚künstlich‘ abgeleiteten Hypothesen oder Variablen die Komplexität sozialer Wirklichkeiten und deren Zusammenhänge zu erfassen. (vgl. Dausien 1996: 94 f.) In ihrem paradigmatischen Gegenentwurf stellen Glaser und Strauss die Generierung neuer theoretischer Ideen aus empirischen Daten in den Vordergrund (vgl. Strauss 1998: 50). Dabei sollen die so entstehenden Theorien zugleich dicht und integriert, d. h. von einem hohen empirischen Gehalt sowie innerer Konsistenz, sein (vgl. Kelle 1997: 292). Dausien (1996: 95) und Alheit (2010: 48) verweisen darauf, dass der Wert so gewonnener Theorien in ihrer praktischen Anwendbarkeit und Bedeutung für die Praxis liegt. In der Tradition der Chicago School of Sociology6 , aus der heraus Glaser und Strauss ihre Methodologie entwickelten, geht es um das Verstehen menschlichen Handelns und z. B. darum, Leitkonzepte für professionelles Handeln in der Medizin, (Sozial-)Pädagogik oder der Politik zu entwickeln. Daran setzt auch das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit an, mit ihrem Blick auf die Verberuflichung von Heilpraktikern, die als personell wachsende Berufsgruppe die gesundheitliche und soziale Versorgung in der BRD mit übernimmt. Glaser und Strauss nutzen zur Generierung gegenstandsbezogener Theorien unterschiedlichste Datenmaterialien wie Interviews, Feldbeobachtungen oder Tagebücher, aber auch Statistiken (vgl. Strauss 1998: 25; Charmaz 2011a: 188). Im Zuge der Konzeption der Grounded Theory-Methodologie gibt es ‚Ungenauigkeiten‘ bezüglich des Verhältnisses von Empirie und Theorie. So verweisen Glaser und Strauss zunächst auf den induktiven Ansatz ihres Forschungsprozesses. Kelle (1997, 2011) spricht hier nach systematischer Aufarbeitung der Grounded Theory vom „induktivistischen Selbstmissverständnis“ (Kelle 2011: 246), kann doch aufgezeigt werden, dass Glaser und Strauss in ihren Studien selbst keineswegs induktiv, sondern theoretisch sensibilisiert in das Feld gehen. „Theoretische Sensibilität“ meint das Wissen um heuristische Konzepte, um sich ein Gegenstandsfeld erschließen zu können. Dabei geht es um „expliziertes 6 Und
des dort verankerten symbolischen Interaktionismus (Mead, Garfinkel, Goffman) (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 192, 223).
146
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
Wissen, das bestimmte Lebenserfahrungen, gezielt erhobenes Kontextwissen[7] über das Feld und auch geeignete Theoriebezüge enthält“ (Alheit 2010: 54). Die Explikation des eigenen Vorwissens führt nicht nur zu Entdeckungen über das Feld. Möglich wird auch eine selbstkritische Korrektur oder Modifikation der offenen Vorannahmen. Der Forschungsprozess stellt somit einen kontinuierlichen Lernprozess dar, indem sich die heuristischen Vorannahmen dem Feld entsprechend verändern. (vgl. Alheit 2010: 54) Dabei lenken die theoretischen Vorannahmen die Aufmerksamkeit der Forschenden auf bestimmte Phänomene, die selbst nur einen Teil des erforschten Feldes darstellen (vgl. Charmaz 2011). Darauf aufbauend können theoretisch relevante Kategorien abgeleitet und deren Zusammenhänge herausgearbeitet werden (vgl. Kelle 1997: 312) und es wird entschieden, „welche der im Material entdeckten Kategorien und Zusammenhänge zu Kernkonzepten der entstehenden Theorie ausformuliert werden sollen“ (Dausien 1996: 97). Neben diesem Zugeständnis an den Einfluss theoretischen Vorwissens auf den Forschungsprozess geht es um die Transparenz des Blickwinkels, mit der auf das Datenmaterial geblickt wird. Die aktive Konstruktionsleistung der Forschenden und die Strukturierungsleistung fallen zusammen (vgl. Dausien 1996: 98). Damit beschreibt der Forschungsprozess nach der Grounded Theory eine „spiralförmige Hin- und Herbewegung zwischen theoretisch angeleiteter Empirie und empirisch gewonnener Theorie“ (Dausien 1996: 93). Diesen Schlussmodus, der mittels „geplante[r] Flexibilität“ (Alheit 2010: 52) zu neuen Erkenntnissen führen soll, bezeichnet Peirce (1958) als Abduktion. Dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess der Grounded Theory-Methodologie liegt eine abduktive Forschungslogik zugrunde (vgl. dazu ausführlich und differenziert Reichertz 2011). In der Reflexion um die „methodologische Explikation des Ineinandergreifens von Theorie und empirischer Erfahrung“ (Dausien 1996: 98) wählen Glaser und Strauss verschiedene Vorgehensweisen und entwickeln die Methodologie unabhängig voneinander weiter (vgl. Strauss 1998; Strauss/Corbin 1996; Strübing 2011; Mey/Mruck 2011), weshalb der Verweis auf die Grounded TheoryMethodologie nicht immer Konsens über die Art und Qualität des Vorgehens
7 Zum
Kontextwissen gehören das fachtheoretische Wissen, das komplexe Erfahrungswissen aus verschiedenen Forschungskontexten sowie aus Alltagszusammenhängen (vgl. Dausien 1996: 100). Strauss (1998: 36 f., 77 ff.) verweist ausdrücklich darauf, das eigene Kontextwissen, z. B. aus beruflichem (impliziten) Hintergrundwissen über das zu erforschende Feld, einzubeziehen. Charmaz (2014, 2011, 2011a) plädiert darüber hinaus dafür, die Kontextgebundenheit des Forschungsprozesses und der Forschenden als systematischen Bestandteil der Konstruktion der Theorie zu reflektieren.
4.1 Grounded Theory als methodologisches Rahmenkonzept
147
bietet (vgl. Hildenbrand 2010: 8; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 191). Während Glaser dafür plädiert, das implizit verfügbare theoretische Vorwissen erst im Prozess der empirischen Analyse zu explizieren, d. h. konkrete empirische Phänomene unter einer bestimmten theoretischen Perspektive zu beschreiben, befürwortet Strauss (später mit Corbin) die begrifflich-analytische Explikation des theoretischen Vorwissens von Anfang an, was sich durch methodisch-technische Anpassungen wie die Einführung des Kodierparadigmas und dessen Bearbeitung im Schritt des axialen Kodierens zeigt (vgl. Kelle 1997: 308, 314, 323, 340; Kelle 2011). Neuere Entwicklungen der Grounded Theory-Methodologie berücksichtigen postmodernistische Positionen, die sich in der Situationsanalyse von Adele Clarke (2011, 2005) widerspiegeln, aber auch in der ‚konstruktivistischen Wende‘ in der Grounded Theory-Variante von Kathy Charmaz (2014, 2011, 2011a). Sie bezieht die Position der oder des Forschenden systematisch ein, in der These, dass nicht nur die ‚Beforschten‘, sondern auch die Forschenden ihre soziale Welt (re-)konstruieren (vgl. Charmaz 2011a: 188). Jede Studie ist in ihrer Zeit, in ihren örtlichen, sozialen und gesellschaftlichen Kontexten verortet, abhängig von Interaktionen zwischen ‚Beforschten‘ und Forschenden sowie von der Perspektive, von der aus auf die Daten geblickt wird. Damit erhält die Selbstreflexivität der Beobachtenden in Bezug auf die eigene Herkunft, eigene Verortung, Werthaltungen etc. eine zentrale Bedeutung. Die konstruktivistische Grounded Theory zielt darauf ab, „so gut wie möglich zu verstehen, wie die Personen, mit denen man sich unterhält oder die man untersucht, die Situation konstruieren, und zwar in dem Wissen, dass es alles der eigenen Perspektive geschuldet ist“ (Charmaz 2011: 96). Der konstruktivistische Theoriebildungsprozess versteht sich relativistisch, Wissen als sozial und interaktiv hergestellt, aus unterschiedlichen Standpunkten heraus – sowohl der Forschenden als auch der ‚Beforschten‘. Es soll so nah wie möglich an die empirischen Wirklichkeiten herangelangt werden, indem Handeln, Bedeutungen und Interpretationen sowie Beeinflussung expliziert werden. Dabei sollen die Lebenssituationen, Handlungen und Interpretationen auf die relevanten Verhältnisse bezogen werden, um die Perspektiven der Handelnden zu verstehen und zugleich eine individuelle und strukturelle Dialektik herauszuarbeiten. Somit können Beziehungen zwischen der Mikro- und Makro-Ebene der Analyse hergestellt und systematisch das Subjektive mit dem Sozialen verbunden werden. (vgl. Charmaz 2011a: 184 ff., 192 ff.) Der konstruktivistische Ansatz der Grounded Theory-Methodologie modernisiert die klassischen Positionen von Glaser (1978) sowie Glaser und Strauss (1998) und befördert die Bildung situierten und lokalen Wissens sowie eine stärkere Bewegung in Richtung interpretativer Sozialwissenschaften (vgl. Charmaz
148
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
2011a: 184, 190). Er anerkennt die grundlegenden Prinzipien (vgl. Charmaz 2011: 95), die das folgende Kapitel zeigt.
4.1.2
Grundlegende Prinzipien, Kodierprozess
Trotz der Offenheit für Neues und auch wenn Strauss (1998: 32 f.) in seinem Vorgehen der Theoriebildung keine starren Regeln vorschreiben möchte, ist das Vorgehen nicht beliebig. Zentrale Prinzipien der Methodologie der Ansätze beider Begründer sind: 1) der permanente Vergleich, 2) das theoretische Sampling, das die sofortige Datenauswertung noch im Prozess der Datenerhebung impliziert und auf dessen Basis entschieden wird, welche Daten weiter zu erheben sind, sowie 3) der Vorgang des (theoretischen) Kodierens, d. h. der Bildung theoretischer Konzepte mit einem Erklärungswert für die untersuchten Phänomene (vgl. Strauss in Legewie/Schervier-Legewie 1995: 74). Der gesamte Forschungsprozess wird zudem vom Schreiben theoretischer Memos sowie von der „den Forschungsprozess strukturierenden und die Theorieentwicklung vorantreibenden Relationierung von Erhebung, Kodieren und Memoschreiben“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 199 f.)8 begleitet. Zu 1) Der permanente Vergleich findet Anwendung bei der Kodierung des Datenmaterials, der Auswahl relevanter Fälle sowie der Bildung formaler Theorien aus verschiedenen gegenstandsbezogenen Theorien mittlerer Reichweite (vgl. Kelle 1997: 293). Zu 2) Das theoretische Sampling bezieht sich auf die Zusammenstellung der untersuchten Stichprobe. Die Forschungsfrage ist das erste Kriterium für die Suche nach Fällen, die relevante Erkenntnisse vermuten lassen (vgl. Alheit 2010: 57). Nach dem Erstzugang ins Feld erfolgt der weitere Prozess der Auswahl von Vergleichsfällen oder -gruppen entlang der gebildeten Konzepte und Kategorien, um diese weiterzuentwickeln und zu sättigen (vgl. Kelle 1997: 296; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 200). Dabei wird gezielt kontrastierend nach Maximal- oder Minimalvergleichen ausgewählt (vgl. Alheit 2010: 57). Die Maximierung von Unterschieden zielt darauf ab, eine größtmögliche Variation im Datenmaterial zu erzeugen, während die Minimierung von Unterschieden die Wahrscheinlichkeit erhöht, ähnliche Daten zu einer Kategorie zu finden und somit die theoretische Relevanz dieser oder ihrer Merkmale zu bestätigen (vgl. Kelle 1997: 297 f.). Der Prozess des theoretischen Samplings, wie auch der 8 Zum
Schreiben theoretischer Memos vgl. ausführlicher Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014: 206 ff.).
4.1 Grounded Theory als methodologisches Rahmenkonzept
149
Kodierprozess, endet bei der theoretischen Sättigung, wenn also keine theoretisch relevanten Unterschiede oder Ähnlichkeiten mehr entdeckt werden (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 200). Zu 3) Zum Kodierprozess: In der unabhängigen Weiterentwicklung der Grounded Theory-Methodologie durch die beiden Begründer liegt der Fokus neben der Konzeptualisierung der theoretischen Sensibilität auf dem Prozess des Kodierens. Diesem zentralen Element in der Verbindung von Empirie und Theorie (vgl. Kelle 1997: 314 f.) liegt ein komplexer Interpretationsvorgang zugrunde (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 191). Mit Kodieren im Sinne der Grounded Theory-Methodologie ist das Konzeptualisieren von Daten gemeint, „folglich bedeutet Kodieren, daß man über Kategorien und deren Zusammenhänge Fragen stellt und vorläufige Antworten (Hypothesen) darauf gibt. Ein Kode ist ein Ergebnis dieser Analyse (ob nun Kategorie oder eine Beziehung zwischen zwei oder mehreren Kategorien)“9 (Strauss 1998: 48 f.). Die Grounded Theory basiert auf einem „Konzept-Indikator-Modell, mit dessen Hilfe eine Reihe von empirischen Indikatoren nach Konzepten kodiert werden“ (Strauss 1998: 54)10 . Die verwendeten Daten stellen hierbei die empirischen Indikatoren dar, die zunächst vorläufig, dann zunehmend sicherer das daraus „ad hoc“ (Kelle 1997: 294, 326) abgeleitete Kategorienschema und letztendlich das Konzept bilden, indem sie unter stetigem Vergleich miteinander in einem mehrstufigen Verfahren kodiert werden, bis die Kodes überprüft und gesättigt, also die Konzepte spezifiziert sind (vgl. Strauss
9 Die
Verwendung und Abgrenzung der Begriffe Kodes, Konzepte und Kategorien in den Arbeiten von Strauss und Glaser ist nicht immer eindeutig (vgl. Kelle 1997; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 210). 10 Unter Bezugnahme auf Glaser (1978). Strauss übernimmt in seinem Kapitel zu den Hauptelementen und grundlegenden Verfahren der Grounded Theory-Methodologie fast vollständig Glasers Ausführungen zur Grounded Theory aus dessen Werk „Theoretical Sensitivity“ (vgl. Strauss 1998: 22 f., 50 f./FN 4), sodass in Strauss (1998) die grundlegenden Übereinstimmungen beider Autoren in der Konzeptualisierung zum Ausdruck kommen. Strauss ergänzt in seinem Vorgehen allerdings den Schritt des axialen Kodierens, mit dem Ziel, in theoretischer Auseinandersetzung mit den empirischen Daten anhand des Kodierparadigmas verschiedene basale Handlungsmodelle zu formulieren (vgl. Kelle 1997: 330). Dabei benutzt er den Vorgang des Dimensionalisierens (vgl. dazu Kelle: 1997: 343 f.). Glaser hingegen setzt neben das gegenstandsbezogene Kodieren das theoretische Kodieren (vgl. Kelle 1997: 315). Somit soll anhand von formalen und inhaltlichen Kodierfamilien theoretisches Vorwissen in den Prozess der Theoriebildung einbezogen werden (vgl. Kelle 1997: 319 ff.). Hierauf soll nicht weiter eingegangen werden. In den hier verfolgten Analyseprozessen wird dem Vorgehen von Strauss gefolgt, der die Theorie über den gesamten Auswertungsprozess einbezieht sowie die theoretischen (sensibilisierenden) Konzepte expliziert.
150
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
1998: 54 f.). In Auseinandersetzung der Empirie mit dem sensibilisierenden Konzept erfolgen das offene, axiale und selektive Kodieren, um letztendlich die Kodes hin zur Kernkategorie zu verdichten, die die Basis für die Ausformulierung der Theorie bildet (vgl. Alheit 2010: 59 f.). „Die Kernkategorie ist ein soziologisches Konstrukt, welches […] mit allen anderen konzeptuellen Kodes inhaltlich verknüpft ist“ (Kelle 1997: 317). Die Phasen des Kodierens werden hier zunächst nicht weiter beschrieben. Auf sie wird in Abschnitt 4.3 Bezug genommen, entsprechend dem Vorgehen in dieser Studie. Strauss (1998: 57) empfiehlt ein Kodierparadigma, in dem strukturelle und interaktive Bedingungen, die Strategien und Taktiken der Akteure sowie deren Konsequenzen berücksichtigt werden. Das Kodierparadigma ist ein gegenstandsunabhängiges theoretisches Rahmenkonzept, nach dem empirische Daten in theoretische Konzepte überführt werden (vgl. Dausien 1996: 102 f.). Es soll unterstützen, „Daten nach der Relevanz für die Phänomene, auf die durch eine gegebene Kategorie verwiesen wird“ (Strauss 1998: 57), zu kodieren.11 Diesem Kodierparadigma, wie auch dem gesamten Design der Grounded Theory-Methodologie, liegt das handlungstheoretische Modell des amerikanischen Pragmatismus zugrunde (vgl. Alheit 2010: 48 ff.; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 198 f.). Es wurde idealtypisch an spezifischen Interaktionsfeldstudien (Handlungsbedingungen und -strategien) entwickelt. In dieser Studie werden jedoch autobiographisch-narrative Interviews analysiert. Die subjektive individuelle „Aufschichtung und erfahrungsmäßige Verarbeitung von Handlungen und Ereignissen in autobiographischer Retrospektive“ (Dausien 1996: 106) rückt in den Mittelpunkt der Analyse. Um nicht nur die „Summation von Handlungssequenzen auf einer biographischen Zeitachse“ (Dausien 1996: 106) zu betrachten, sondern auch der „‚Eigenlogik‘ der autobiographischen Rekonstruktionsleistung“ (Dausien 1996: 106) gerecht zu werden, erfolgt, wie z. B. bei Dausien (1996) und Herzberg (2004), die Analyse entlang des Kodierparadigmas der kognitiven Figuren des autobiographischnarrativen Stegreiferzählens (vgl. Schütze 1984). Die kognitiven Figuren des
11 In der Zusammenarbeit mit Corbin (vgl. Strauss/Corbin 1996) erfolgt eine weitere Ausdifferenzierung des Kodierparadigmas. Dieses wird aufgrund seiner ‚rezepthaften Verkürzung‘ und verfahrensbedingten Einschränkungen der Entdeckung von Neuem durchaus kritisiert (vgl. u. a. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 199; Alheit 2010: 53). Glaser wirft Corbin eine „handwerkliche Verwässerung des Konzepts“ (Hildenbrand 2008: 41) vor, verbunden mit der Forderung, für dieses Buch den Begriff Grounded Theory nicht zu beanspruchen (vgl. Hildenbrand 2008: 41). Zur Kritik Glasers an Strauss vgl. Kelle (1997: 333–340; 2011: 242 ff.).
4.2 Autobiographisch-narrative Interviews …
151
autobiographisch-narrativen Stegreiferzählens sind in einem abduktiven Analyseprozess nach der Grounded Theory-Methodologie am Gegenstandsbereich Biographien (Schütze 1981) entwickelt worden (vgl. Strauss 1998: 20 f.). Sie ermöglichen, die Ereignisse und Kategorien in eine theoretische Ordnung zu bringen, ohne jedoch einschränkende Annahmen und Hypothesen (im Sinne hypothetiko-deduktiven Vorgehens) auf das Datenmaterial zu übertragen (vgl. Kelle 1997: 344 f.). Bevor das Kodierparadigma dieser Studie erläutert wird, folgen grundlagentheoretische Aspekte biographischen Erzählens.
4.2
Autobiographisch-narrative Interviews als empirische Basis der Studie
4.2.1
Erzähltheoretische Grundlagen
Das narrative Interview gehört grundlagentheoretisch zu den fundiertesten Methoden der qualitativen Sozialforschung. Seine methodische und methodologische Fundierung geht auf Fritz Schütze (u. a. 1976, 1977, 1983/2016) zurück, der das Verfahren vor dem Hintergrund des symbolischen Interaktionismus entwickelte (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 223). Theoretische Grundlage ist die Annahme der Konstruktion von Gesellschaft durch symbolische Interaktionen der Individuen. Jede der symbolischen Interaktionen ist als Kommunikationsprozess organisiert. Auf der Grundlage der drei Basisregeln der Kommunikation und Interaktion – der Reziprozitätskonstitution (Herstellung interaktiver Reziprozität), der Einheitskonstitution (Konstituierung sozialer Einheiten und Selbstidentitäten) und der Handlungsfigurkonstitution (innere Ordnung von Aktivitätsstadien; intentional; zeitlich-kausal) – war Schützes Anliegen, die vorgängigen alltagsweltlichen Kommunikationsstandards in den Forschungsprozess einzubeziehen, sich diesen methodisch anzupassen. Hierzu entwickelte er das narrative Interview, zunächst zur Generierung von Wissen über die Strukturen der Verständigung. Dabei ging es noch nicht um die Analyse gesamter Biographien, worauf die Datenerhebung mittels autobiographisch-narrativem Interview abzielt und wie oft mit dem narrativen Interview gleichgesetzt wird. (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 79 f.) Das narrative Interview – konkret das auf autobiographischer Stegreiferzählung basierende Interview – ermöglicht die Herstellung einer Nähe zwischen Erzählung und faktischer Erfahrung. Die Erzählpassagen des Interviews sind „diejenigen sprachlichen Ausdrucks-Formulierungen, welche die gelebte soziale
152
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
und biographisch-existentielle Wirklichkeit und damit auch die „Lebenskontextualisierung“ des Informanten am direktesten und konkretesten zum Ausdruck bringen“ (Schütze 2016: 70). Dahinter liegt die kontrovers diskutierte These der Homologie12 von Erzähl- und Erfahrungskonstitution, die Schütze auf Basis umfangreicher Empirie ableitete. Die Erzählung ist das Schema der Sachverhaltsdarstellung, das dem Handeln und Erleiden an nächsten steht, was sich in der kognitiven Aufbereitung im Rahmen der Erzählung reproduzieren lässt. Die Struktur der Erfahrung reproduziert sich in der Struktur der Erzählung am ehesten. (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 80, 227 f.) Hierzu muss das Erzählschema ratifiziert werden. Können sich die Interviewten dem Erzählfluss hingeben, werden Zugzwänge wirksam: der Gestaltschließungszwang, der Detaillierungszwang sowie der Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang. Der Gestaltschließungszwang verweist darauf, dass eine Gestalt in ihrer Präsentation von anderen abgegrenzt und in sich geschlossen werden, eine Geschichte zu Ende erzählt werden muss, damit sie verständlich wird. Der Detaillierungszwang besagt, dass jede Erzählung oder Geschichte mit ausreichenden Details oder Einzelheiten zu versehen ist, sollen die Zuhörenden sich hineinversetzen können. Der Relevanzfestlegungs- und Kondensierungszwang drückt aus, dass die Erzählenden sich entscheiden müssen, welche Aspekte sie ausführen und welche weglassen, und es muss irgendwann auf den Punkt gekommen werden. (vgl. Kallmeyer/Schütze 1977: 162, 188) Die Interviewmethode der autobiographisch-narrativen Interviews ermöglicht den Interviewten die Präsentation der eigenen Biographie in einer je individuellen Logik. Das Erzählen stellt damit eine „Konstruktionsleistung“ (Hanses 1996: 141) der Erzählenden dar. Dabei eröffnet die biographische Perspektive (in ihrem Zeitverlauf) den Blick auf Prozesse individueller Erfahrungsaufschichtung und -deutung, womit die „Einzigartigkeit eines individuellen Entwicklungsprozesses“ (Alheit 2010: 41) rekonstruiert werden kann. Für die Fragestellung der Studie nach dem beruflichen Werdegang von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern erscheint die Methode gegenstandsadäquat. Die ungerahmte Phase der Berufsaneignung sowie die Freiheit der Berufsausübung lassen den Rückgriff auf individuelle biographische Ressourcen und Verarbeitungsmuster über die Zeit vermuten, die in autobiographisch-narrativen Stegreiferzählungen rekonstruiert werden können.
12 Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014: 80) geben verschiedene Quellen an, die sich gegenüber der Homologiethese kritisch oder befürwortend positionieren. Vgl. zur kontroversen Debatte auch Dausien (1996: 112 f./FN 45).
4.2 Autobiographisch-narrative Interviews …
153
Exkurs zu Einzelfall und Allgemeinheit: Inwieweit und wie konsequent der qualitative Analyseprozess von der Häufigkeit des Auftretens sozialer Phänomene abgelöst und der Logik einer Verallgemeinerung am Einzelfall gefolgt wird, obliegt einer grundlagentheoretischen und methodischen Entscheidung des jeweiligen Forscherteams (vgl. Alheit 2010: 39 f.). Der Blick auf die biographischen Konstruktionen von Erzählerinnen und Erzählern ermöglicht, „die Aufmerksamkeit des Forschungsprozesses auf die Konkretheit des Falles lenken zu können, nicht von ihr abstrahieren zu müssen und gleichzeitig durch die Wahrnehmung des Konkreten zu einer Allgemeingültigkeit im Einmaligen zu finden“ (Hanses 1996: 139). Dabei ist die Spannung zwischen Abstraktion und Formalisierung/Typisierung sowie der konkreten Erschließung und Interpretation von übergreifenden Zusammenhängen an exemplarischen Fällen aufzulösen, denn nur so können die konkret dargelegten Entscheidungen und Handlungen, die emotionale Beteiligung der Subjekte, der sinnstiftende Inhalt ihrer biographischen Konstruktionen, berücksichtigt werden (vgl. Schulze 2015: 107 f.). Hanses begründet die Notwendigkeit der Erforschung des Konkreten mit theoretischen Bezügen auf Viktor von Weizsäcker (1988) und Lewin (1930). Von Weizsäcker bleibt „vage“ (Hanses 1996: 134) in seiner Konzeption der Einmaligkeit als ‚Möglichkeit‘, auf eine Wirklichkeit hinzuweisen. Zusammengefasst als: „Wirklich ist das, was im Einzelfall möglich wird“ (Hanses 1996: 133, Hervorh. i. O.), kritisiert von Weizsäcker die tradierte Wissenschaftstheorie von Allgemeingültigkeit und Wirklichkeit. Lewin setzt sich ausführlich mit dem Thema Einzelfall und Wirklichkeit in seiner Arbeit über die aristotelische und galileische Begriffsbildung auseinander. Beruht die aristotelische Begriffsbildung auf Abstraktion und daraus hervorgehender Klassifikation (Häufigkeiten, Regelmäßigkeiten, Durchschnittswerte), also auf der Abwendung vom Konkreten hin zum Allgemeinen, erfolgt im galileischen Gesetzesbegriff eine Bewegung hin zum konkreten Einzelfall. Im Streben nach der Gültigkeit für jeden Fall muss einerseits jeder Fall berücksichtigt werden, andererseits spiegelt sich das Gesetz letztendlich auch in jedem Fall wider. Nach Lewin kommen zum eigentlichen Gegenstand der Betrachtung die Situation und Umwelt hinzu. Neben dieser Gesamtsituation erfährt auch die Dimension der Zeitlichkeit wieder eine Bedeutung. Ist in der artistotelischen Gesetzesbildung der Blick für Prozesse und Veränderungen ‚eingefroren‘ (Konstanz), findet das Konkrete in der galileischen Gesetzesbildung auch in der zeitlichen Dimension Beachtung. Damit rücken Gewordensein, Veränderlichkeit und Wandel in der Konkretheit eines Falles in den Blick. (vgl. Hanses 1996: 131–139) Bude (1985: 84) konstatiert, dass „im Prinzip die Rekonstruktion eines einzigen Falls eine Strukturhypothese über einen sozialen Sachverhalt erbringen kann“. Die Biographieforschung nimmt die Strukturen individuellen Handelns in den Blick. Im Herausarbeiten der Gefügeordnung einer Gestalt kann über die Kategorie subjektiver Erfahrung hinaus die Struktur der Individualität nachvollzogen werden, die „Lebenskonstruktion“ (Bude 1985: 85). Damit wird die innere Allgemeinheit des Falls rekonstruierbar. Das Typische im Individuellen aufzudecken, soll im Rahmen der Fallrekonstruktion gelingen. Dabei ist jeder beliebige Fall ein typischer, auch wenn es nur einen einzigen davon geben sollte. Der Fokus ist jedoch auf
154
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
interessante Fälle zu richten, konkret auf jene, die eine gesellschaftliche Realität aufschließen. Dies verweist, unabhängig von der Verallgemeinerung am Einzelfall, darauf, dass zur individuell konstruierten Realität auch die Sozialität des Biographischen hinzukommt: Gesellschaftliche und soziale Rahmenbedingungen konstituieren den individuellen Lebenslauf mit. Auch das Erzählen an sich trägt einerseits zur individuellen Identitätsbildung bei, indem Ereignisse auf ihren Sinngehalt befragt und verarbeitet werden und somit der eigenen Lebensgeschichte eine innere Logik verliehen wird. Andererseits werden im Erzählen eine soziale Realität wiedergegeben und im intersubjektiven ‚Austausch‘ gleichzeitig neue soziale Welten konstituiert. (vgl. Hanses 1996: 140)
Im Folgenden soll gezeigt werden, dass das (handlungstheoretisch fundierte) Biographieparadigma komplexer ist als das Handlungsparadigma oder -modell, an dem sich Strauss und Corbin bei ihren Interpretationsschritten orientieren (vgl. dazu ausführlich Dausien 1996: 107 ff.). Dabei wird auf die Merkmale biographischer Erzählungen – Prozessualität, Perspektivität und Gestalthaftigkeit – Bezug genommen. Die Intentionalität und Prozessualität 13 des Handlungsmodells sind auch für das Biographieparadigma relevant (vgl. Dausien 1996: 103 f.). Mit dem Handlungsmodell könnte man zwar die Biographie als Handlungs- und Interaktionssequenzen von sehr langer Dauer sehen, jedoch lässt sich die Komplexität an Handlungs- und Interaktionssequenzen, aus denen sich ein Leben zusammensetzt, nicht problemlos berücksichtigen (vgl. Dausien 1996: 105). Zu erfassen ist die Differenz zwischen Einzelhandlung oder Einzelerlebnis und GesamtBiographie. Dies betrifft den Horizont der Handlungszeit des Einzelerlebnisses und die Dimension der übergreifenden biographischen Zeitperspektive, die sich aus der Verknüpfung der Einzelsequenzen zu übergreifenden Prozessstrukturen ergibt (vgl. Schütze 1984, in Dausien 1996: 107 f.). Die Prozessstrukturen sind abhängig vom Blickwinkel der Erzählenden, von der eigenen Haltung zu den einzelnen Erfahrungen im Lebensablauf. Diese Haltung verändert sich im Verlaufe des Lebens. Dabei ist neben der damaligen Haltung auch die aktuelle Prozessstruktur mit der Jetzt-Haltung, aus der heraus jemand erzählt, von Bedeutung.
13 Przyborski und Wohlrab-Sahr (2014: 229, mit Bezug auf Schütze 1987: 14 f.) bestimmen die Prozessualität durch folgende Merkmale: Subjektivität (Erfassung des individuellen und kollektiven Handelns und Erleidens aus Sicht der jeweils Handelnden/Erzählenden); Langfristigkeit; doppelte Dimension von Außen- und Innenperspektive (Betrachtung von äußerem Erlebnisablauf und damit verbundenen Zustandsveränderungen individueller und kollektiver Identitäten).
4.2 Autobiographisch-narrative Interviews …
155
Die Gegenwartsperspektive der Interviewten bestimmt in der biographischen Konstruktion den Rückblick auf die Vergangenheit. Zur Perspektive der Vergangenheit (Erfahrung) kommt also die Perspektive der Gegenwart hinzu, sowie ebenfalls eine Erwartungshaltung, in der sich Zukünftiges ausdrückt (Perspektivität). Im Biographiemodell interessiert nun gerade die Verknüpfung einzelner Handlungen und Erfahrungen „unter dem Aspekt der subjektiven lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung, gewissermaßen dem Identitätsaspekt“ (Dausien 1996: 109). Dabei wird in einer biographischen Erzählung die Binnenperspektive in ihrer Struktur und prozesshaften Entfaltung direkt zum Thema14 . Sie bildet erst den Zugang zum Außenaspekt. Dabei sind auch „heteronome Systembedingungen lebensgeschichtlichen Handelns und Erleidens“ (Schütze 1984: 99, in Dausien 1996: 110) zu berücksichtigen. (vgl. Dausien 1996: 108 ff., mit Bezug auf Schütze 1984) In einer lebensgeschichtlichen Gesamterzählung spiegelt sich die komplexe Gestalthaftigkeit narrativer Konstruktionen wider: Die Wirkung einer Gesamterzählung ist mehr als die Summe ihrer Einzelgeschichten (vgl. Dausien 1996: 107). Auf den Ebenen Erleben, Erinnern und Erzählen kann eine Struktur der Gestalthaftigkeit aufgefunden werden, wie Rosenthal (1995) expliziert hat. Sie leitet daraus die methodologische Konsequenz ab, die Gestalt einer erzählten Lebensgeschichte in Gänze zu rekonstruieren (vgl. Dausien 1996: 110). Die Besonderheiten biographischer Darstellungen in ihrer Komplexität finden im Konzept der kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens (Schütze 1984) Berücksichtigung, weshalb es sich als Kodierparadigma eignet (vgl. Dausien 1996: 111). Es findet auch im Analyseprozess dieser empirischen Studie Anwendung und wird nun vorgestellt.
4.2.2
Kodierparadigma der kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens
Die kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens sind „elementare Ordnungsprinzipien der autobiographischen Erfahrungsrekapitulation“ (Schütze 1984: 83) in Narrationen. Darüber hinaus kann, empirisch begründet, angenommen werden, dass „diese Darstellungsprinzipien zugleich kognitive Ordnungsprinzipien der je aktuellen autobiographischen Orientierung und der faktischen Organisation des Lebenslaufs (in den entsprechenden 14 Während sie im Handlungsmodell nur eine (vorausgesetzte) Variable im Gesamtkonzept der Handlung bildet (vgl. Dausien 1996: 109).
156
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
Aktivitäten des Biographieträgers) darstellen“ (Schütze 1984: 83). Sie sind damit im aktuellen Erleben von Handlungs- und Erfahrungsabläufen orientierungswirksam – sowohl im Alltagsleben des Erzählers als auch in einer längerfristigen autobiographischen Erfahrungsaufschichtung, die sich in einem autobiographisch-narrativen Interview als „potentieller autobiographischer Erfahrungsvorrat“ (Schütze 1984: 83) zeigt, der nun geordnet erinnert wird. (vgl. Schütze 1984: 83)15 Schütze (1984: 81) hat für das Erzählen die folgenden kognitiven Figuren herausgearbeitet: 1) Biographie- und Ereignisträger nebst der zwischen ihnen bestehenden und sich verändernden sozialen Beziehungen; 2) Ereignisund Erfahrungsverkettung; 3) Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten als Bedingungs- und Orientierungsrahmen sozialer Prozesse sowie 4) die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte. Zu 1) Biographie- und andere Ereignisträger und ihre sozialen Beziehungen untereinander: Ein biographisches Interview beginnt in der Regel mit einer Selbsteinführung des Interviewten – mit einer Beschreibung des eigenen biographischen Rahmens wie Geburt, Elternhaus, Geschwister und Kindheit sowie der Evaluation seiner Kindheit und Kennzeichnung des Potenzials dieser Bedingungen für die weitere Lebensgeschichte. Es werden grundlegende Persönlichkeitseigenschaften bzw. die „grundlegende Merkmalskonfiguration seiner Ich-Identität“ (Schütze 1984: 84) eingeführt, auf deren Basis in der weiteren Erzählung zentrale Aspekte des Lebensschicksals herausgearbeitet werden. Neben dem Biographieträger werden im Verlaufe des Interviews an passender Stelle weitere Ereignisträger eingeführt: Dies kann jede soziale Einheit sein, die von (ganz unterschiedlich gearteter) lebensgeschichtlicher Relevanz ist: belebt (Freunde, Kontrahenten, das Haustier) oder unbelebt (z. B. das Auto, mit dem eine symbolische Interaktion entsteht) oder auch eine kollektive soziale Einheit wie eine Selbsthilfegruppe. (vgl. Schütze 1984: 84 f.) Zur Charakterisierung der Ereignisträger kommen als zentrale Themen die bestehenden und sich wandelnden sozialen Beziehungen zum Biographieträger hinzu, die entsprechend dargestellt werden. Hierbei wird besonders die (offen oder verdeckt angesprochene) Umgestaltung von zentralen sozialen Beziehungen wesentlich. Ebenso kann die Darstellung sozialer Beziehungen darauf abzielen, den engen oder weiten Bedingungsrahmen für spätere soziale Prozesse oder Ereignisse sowie das Potenzial der Entfaltung dieser darzulegen, was oft mit einer 15 Die Konstruktionsregeln, die Schütze mit seinen kognitiven Figuren für Narrationen herausgearbeitet hat, sind nur eine spezifische Auswahl aus dem „Gesamtvorrat kognitiver Figuren“ (Schütze 1984: 81).
4.2 Autobiographisch-narrative Interviews …
157
Vorskizzierung der Auswirkungen auf den Biographieträger einhergeht. Unterbleibt die Charakterisierung einer wichtigen Sozialbeziehung an der Stelle der Einführung des mit ihr verbundenen Interaktionsgegenübers, muss diese in einer späteren Hintergrundkonstruktion nachgeholt werden, spätestens dann, wenn die Erlebnisse dargestellt werden, für die die entsprechende soziale Beziehung in ihrer biographischen Relevanz unwiderlegbar geworden ist. (vgl. Schütze 1984: 85 ff.) Der Biographieträger bleibt in der erzählten Lebensgeschichte der herausgehobene Ereignisträger. Er bezieht sich stets auf sich selbst zurück, was mit autobiographischen theoretischen Kommentaren einhergeht, in denen er seine Haltung zu bestimmten biographischen Erfahrungen, Dispositionen für bestimmte biographische Prozesse und Ereignisabläufe oder systematische Veränderungen seines inneren und äußeren Zustands darlegt. (vgl. Schütze 1984: 85, 87 f.) Zu 2) Erfahrungs- und Ereigniskette: Das biographische narrative Interview besteht aus einer „Abfolge von Zustandsänderungen des Biographieträgers“ (Schütze 1984: 88) über eine zeitliche Schwelle hinweg, die in seiner Verwobenheit in Ereignisabläufe begründet ist. Die Zustandsänderungen bedingen Änderungen der inneren und äußeren Erfahrungswelt des Biographieträgers. Im narrativen Interview stellt der Biographieträger die erlebten und erinnerten Einzelereignisse/-erfahrungen in einer Ereigniskette dar. Die über die Ereigniskette in systematischer Beziehung stehenden Einzelereignisse bilden übergreifende Prozessabläufe.16 (vgl. Schütze 1984: 88 f.) Entscheidendes Merkmal für den Stellenwert der Prozessabläufe in der Lebensgeschichte ist die Erfahrungshaltung, mit der der Biographieträger den biographischen Erlebnissen gegenübersteht. Schütze definiert vier grundsätzliche Haltungen gegenüber Ereignisabläufen: 1) Biographische Handlungsschemata, die vom Biographieträger geplant sein können und mehr oder weniger erfolgreich verwirklicht werden; 2) institutionelle Ablaufmuster, die im Rahmen eines gesellschaftlichen/organisatorischen Erwartungsfahrplans an den Biographieträger herangetragen werden und von diesem mehr oder weniger erwartungsgemäß erfüllt werden; 3) Verlaufskurven, in der der Biographieträger überwältigt zu werden droht, sodass er zunächst mittels konditionellen Reagierens ein labiles Gleichgewicht alltäglicher Lebensgestaltung zu erhalten oder zurückzugewinnen
16 Teilphasen lebensgeschichtlicher Prozessabläufe können in besonderen Erzählzusammenhängen dargestellt werden, die konturierte Erfahrungszusammenhänge wiedergeben. Auch isolierte Erzählsätze sind möglich. Sie treten besonders bei fokussierten thematischen Interviews auf. (vgl. Schütze 1984: 89) Da in dieser Studie mit dem Verweis auf die Berufsbiographie eine Einschränkung des Erzählimpulses vorgenommen wurde, sind solche besonderen Erzählzusammenhänge zu erwarten.
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4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
versucht sowie 4) Wandlungsprozesse, die zwar wie biographische Handlungsschemata der Innenwelt des Biographieträgers entstammen, jedoch überraschend auftreten und zur systematischen Veränderung von Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten führen. Diese vier (wechselnden) systematischen Haltungen zum Erfahrungsstrom der Lebensgeschichte ordnen die Phasen der Lebensgeschichte unter generelle Erfahrungsprinzipien. Schütze prägte für sie den Begriff der Prozessstrukturen des Lebenslaufs. (vgl. Schütze 1984: 92 f.17 ) Zu 3) Soziale Rahmen – Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten: Zustandsänderungen finden in sozialen Rahmen statt. Soziale Rahmen dienen als Bedingungsgefüge für Ereignisabläufe, „als intentional faßbarer Vorstellungs- und Orientierungshorizont“ (Schütze 1984: 98, Hervorh. i. O.) für die ablaufenden (biographischen) sozialen Prozesse. In autobiographischen Stegreiferzählungen sind solche sozialen Rahmen Interaktions- und Handlungssituationen, Lebensmilieus und soziale Welten (vgl. Schütze 1984: 98). Als Lebensmilieus bezeichnet Schütze (1984: 116, mit Bezug auf Hildenbrand 1983: 15–22) einen körperlich erfahrenen umfassenden Lebenszusammenhang, „der durch die Intimität des Erlebens, die Fraglosigkeit des Sich-Orientierens in ihm und das weitgehende Aufgehen des Selbst in ihm für den Zeitraum, in welchem sich der Biographieträger in ihm aufhält, gekennzeichnet ist“. Unter sozialer Welt versteht Schütze einen eher weiter gefassten Aktivitätsund Interessenzusammenhang (z. B. professioneller oder wissenschaftlicher Art; vgl. Wildhagen/Detka 2018: 210), „dessen Aufmerksamkeitszentrum das Schöpfen aus Sinnquellen, die durch Vorbilder gesetzt sind, und die Auseinandersetzung mit Konkurrenten um die Authentizität der Verfolgung von Sinnquellen in Arenen ist“ (Schütze 1984: 117, mit Bezug auf Strauss 1978). Dabei ist man in soziale Welten zwar intensiv, aber nicht fraglos und auch nicht mit dem gesamten Lebenszusammenhang verwoben. Auch eine symbolische Teilhabe (vs. der körperlichen eines Lebensmilieus) ist möglich. Soziale Welten bilden ein „Verbindungsstück“ (Wildhagen/Detka 2018: 212) zwischen dem Leben des Einzelnen und der gesellschaftlichen Situation. Das Agieren in ihnen kann von besonderer biographischer Relevanz werden – als Ressource oder Motivation für biographische Wandlungen: z. B. in ihrer handlungsschematischen Entfaltung, biographischen Arbeit in Bezug auf Selbstklärungsprozesse oder als Rahmen kollektiver Identitätsbildung (vgl. Wildhagen/Detka 2018: 212 ff.).18 17 Zur ausführlichen Beschreibung der Prozessstrukturen des Lebenslaufs wie den fünf Merkmalen der Perspektive, aus der der Biographieträger auf die Ereignisse und Erlebnisse schaut, vgl. Schütze (1984: 92–98); weiterführend auch Kallmeyer/Schütze (1977). 18 Zu Bedingungsgefügen für soziale Prozesse, die der Erzähler nicht intentional adressieren kann, die also nicht als Sinnhorizont fungieren und somit keine kognitive
4.2 Autobiographisch-narrative Interviews …
159
Zu 4) Gesamtgestalt der Lebensgeschichte: Sie ist als zentrale Ordnungsstruktur hervorzuheben. Die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte bildet eine eigenständige kognitive Figur, da sie formal eigene Aspekte der narrativen Darstellung aufweist oder andersherum: „weil auf sie das narrative Darstellungsverfahren in einer ganz spezifischen, nur für die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte typischen Version einwirkt“ (Schütze 1984: 102). Die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte bezieht sich auf ein autobiographisches Thema, unter das der Erzähler oder die Erzählerin die eigene Lebensgeschichte stellt. Dies kann explizit formuliert sein oder nur in bestimmten formalen Aspekten wie Erzählpräambeln oder Rahmenschaltelementen zu Beginn und zum Ende von Erfahrungsabläufen bzw. in Evaluationsmarkierern ausgedrückt werden. Damit ist auch möglich, dass autobiographische Thematisierung und biographische Gesamtformung nicht einander entsprechen, dass der Erzählerin zum Ausdruck gebrachte Aspekte der lebensgeschichtlichen Thematisierung nicht bewusst sind oder sie sie auch nicht thematisieren kann. Bestandteil der Gesamtgestalt der Lebensgeschichte sind die gewählten Erzähllinien, die die „thematisch spezifische Verknüpfung von Prozeßstrukturen des Lebensablaufs unter einem zentralen Gesichtspunkt“ (Schütze 1984: 105) widerspiegeln. Die Erzähllinien können im Rahmen analytischer Abstraktion unter Berücksichtigung der Ankündigungs- und Abschluss-, aber auch Evaluationsmarkierer als ein oder wenige Grundmuster herausgearbeitet werden, deren Kombination Schütze (1984: 104) als „biographische Gesamtformung“ bezeichnet hat. Die Konstruktion der lebensgeschichtlichen Gesamtgestalt durch die Erzählerin oder den Erzähler ist abhängig von der aktuellen Lebenssituation und gegenwärtig dominierenden Prozessstruktur des Lebensablaufs. (vgl. Schütze 1984: 102 ff.) Im Zusammenhang mit den kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens ist noch einmal die Sozialität der Biographie hervorzuheben. Die Biographie drückt niemals nur das Individuelle aus. Sie wird immer durch soziale (und gesellschaftliche) Rahmenbedingungen mitbestimmt (vgl. Abschn. 3.4.1). Die sozialen Beziehungen, der nähere und weitere soziale Raum, werden im Analyseprozess oft vernachlässigt, sind jedoch unbedingt zu berücksichtigen (vgl. Dausien 1996: 120 f.). Das Konzept der kognitiven Figuren als Kodierparadigma dieser Studie enthält sowohl den individuellen als auch den sozialen Aspekt von Biographie. Die zweite kognitive Figur fokussiert auf „die individuelle Entwicklungslinie, akzentuiert im Konzept der „Prozeßstrukturen des Lebensablaufs“ […]
Orientierungsfigur darstellen, wie es z. B. in der Prozessstruktur der Verlaufskurve vorkommt, vgl. Schütze (1984: 99) bzw. weiterführend Schütze (1976).
160
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
und das soziale Beziehungsnetz, in das die biographische Entwicklung gewissermaßen hineinverwoben ist“ (Dausien 1996: 121). Der letztgenannte Aspekt wird besonders in der ersten und dritten kognitiven Figur angesprochen. Erwartbar ist, dass in den geführten biographischen Interviews vorrangig der soziale Nahbereich dargestellt wird, in dem explizit und implizit sozialräumliche Perspektiven durchscheinen (vgl. Dausien 1996: 121 f.). Die „formale Geordnetheit des autobiographischen Stegreiferzählens“ (Schütze 1984: 108) aufgrund der kognitiven Figuren, einschließlich der Zugzwänge des Erzählens, besteht aus der sequenziellen Strukturierung der selbstständigen Erzähleinheiten (oder Erzählsätze, vgl. Schütze 1984: 89 ff.), der hierarchisierenden Einordnung der Erzählgegenstände in dominante und rezessive Erzähllinien, der Ankündigung und Ergebnissicherung des Erzählten sowie der Beurteilung der erzählten Erlebnisse und Ereignisse für die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte sowie die eigene individuelle Veränderung (vgl. Schütze 1984: 108 ff.). Diese Ordnung bildet den „Schlüssel zur Interpretation“ (Dausien 1996: 115). Innerhalb der allgemeinen Ordnungsprinzipien entfalten die Erzählenden die Spezifik des eigenen Falles. Somit liefert das Konzept der kognitiven Figuren „die allgemeinen Kategorien zur Analyse der konkreten Erfahrungsaufschichtung und narrativen Rekapitulation eines Falles“ (Dausien 1996: 115).
4.3
Dokumentation des Forschungsprozesses
Dieses Kapitel zeigt die einzelnen Auswertungsschritte dieser Studie. Der Analyseprozess folgt einem Vorgehen, das in den Forschungskontexten des Instituts für angewandte Biographie- und Lebensweltforschung Bremen (IBL) in Anlehnung an Strauss (1998) entwickelt worden ist und sich dort bewährt hat (vgl. Alheit 2010; Herzberg 2004; Dausien 1996; Hanses 1996; Richter 2009)19 . Am Ende der gesamten Studie wird das Vorgehen abschließend reflektiert, v. a. in Bezug auf die Standortgebundenheit der Forscherin, wie es Kathy Charmaz (2011a u. a.) empfiehlt.
19 Die Verschiedenheit der Studien im Vorgehen nach dem Rahmenkonzept der Grounded Theory-Methodologie zeigt die verfolgte Offenheit im Forschungsprozess entsprechend dem verwendeten Datenmaterial sowie den getroffenen Konstruktions- und Strukturierungsentscheidungen der einzelnen Forscherinnen und Forscher.
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
4.3.1
161
Felderkundung und -zugang, theoretisches Sampling
Zunächst ging es darum, das Feld bezüglich seiner Spezifika zu erkunden. Nach ersten Datenbank-Recherchen zeigte sich die Herausforderung, statistisch gesicherte Daten zu erhalten. Durch Gespräche mit einer Amtsärztin, die für die Heilpraktikerüberprüfungen sowie die Entwicklung landesweiter Richtlinien für die Zulassung und Kontrolle der Heilpraktiker in Mecklenburg-Vorpommern mitverantwortlich ist, gelang ein erster Überblick über aktuelle Rahmenbedingungen und Herausforderungen aus der Perspektive des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Erweitert wurden diese Informationen um Hinweise aus dem bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit sowie dem Bereich Gesundheitsberichterstattung des Ministeriums für Arbeit, Gleichstellung und Soziales Mecklenburg-Vorpommern. Die Vertreter beider Institutionen, Dr. Joseph Kuhn und Heinz Wagner, stellten auf Anfrage aktuelle Daten zur Verfügung. Die Felderkundung schloss somit regionale und überregionale, aber auch bundesweite Aspekte ein. Parallel wurde der Forschungsstand, zunächst allgemein zum Thema Heilpraktiker, dann zunehmend eingegrenzt auf die Beruflichkeit bzw. auf Versorgungsfragen aus Sicht der Naturheilkunde, recherchiert. Auch der berufspolitische Diskurs entlang der Spannungslinie gesundheitliche Versorgung und Profession/Nicht-Profession (Zentralwertbezug) wurde aufgearbeitet. Für die konkrete Vorbereitung der Interviewführung wurden, soweit möglich, Angaben zu Praxistätigkeiten der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in der Region überprüft: Wie viele gibt es in der näheren Umgebung, die in eigener Praxis angemeldet sind; wie lange sind sie bereits tätig; wo sind andere verblieben, die früher hier tätig waren; sind Spezialisierungen erkennbar und welche; etc. Das Forschungsfeld wurde praktisch von außen nach innen, unter Berücksichtigung der Makro-, Meso- und Mikroebene, erkundet (vgl. Alheit 2010: 54 f.). Das Design der Studie berührt die Mikroebene des Feldes der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker. Um die je subjektive biographische Erfahrungsaufschichtung in Prozessen der Berufsaneignung zu erkunden, wurde die gegenstandsangemessene Methode der Erhebung biographisch-narrativer Interviews ausgewählt. Die Auswahl der Interviewpartner und -partnerinnen erfolgte zunächst nach einem vorläufigen, nach erster Datenbasis nach dem theoretischen Sampling. Aus eigenem Kontextwissen war die soziale und (vor)berufliche Heterogenität des Feldes der Heilpraktiker bekannt, sodass von vorneherein eine große Varianz des Feldes erwartet wurde. Bestimmte Vorstellungen zum Sample waren aufgrund des Kontextwissens vorhanden. So sollte es verschiedene Geschlechter berücksichtigen und eine Varianz der Altersstruktur erfassen. Von Interesse
162
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
war, ob die Heilpraktikertätigkeit in andere berufliche Tätigkeiten eingebettet ist, getrennt nebenberuflich ausgeführt wird, oder ob sie zu einem Beenden des Vorberufes geführt hatte. In diesen Kontext gehörte auch die Unterscheidung nach verschiedenen Herkunftsberufen: Da die meisten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ihre Tätigkeit erst zu einem späteren Zeitpunkt im Leben beginnen und aus langjähriger Tätigkeit in anderen Berufen kommen, war von Interesse, ob sie aus einem medizinischen oder nicht-medizinischen Beruf kommen. Hier konnte ebenfalls interessant sein, wie mit einer parallelen Verberuflichung in einer medizinischen Tätigkeit, z. B. als Krankenschwester im ambulanten oder stationären Bereich, unter Bedingungen des neu erworbenen, alternativen und oft quer zum schulmedizinischen Paradigma liegenden Wissen sowie den neuen (Berufsausübungs-)Kompetenzen, umgegangen wird. Berücksichtigt werden sollte ebenfalls eine Varianz von Ausbildungswegen und Spezialisierungen der Heilpraktikertätigkeit. Hier war zunächst unklar, wie dies vorab herausgefunden bzw. im Weiteren eine Einschränkung vorgenommen werden könnte.20 Gemäß dem Rahmenkonzept der Grounded Theory-Methodologie verläuft der Prozess der Datenerhebung und -auswertung parallel. Die Anzahl der geführten Interviews sowie ggf. die Erhebung anderer Daten oder Abweichungen im Vorgehen bestimmen sich durch den Kodier- bzw. Forschungsprozess, unter Anwendung des permanenten Vergleichens maximaler und minimaler Kontraste. Gleichwohl wurde hier entschieden, erst einmal einige Interviews zu führen. Beim ersten Zugang ins Feld wurden auch ‚Zufallstreffen‘ genutzt, wenn sich in herausstellte, jemand sei Heilpraktiker oder Heilpraktikerin. In der ersten Interviewrunde zeigten sich einige Besonderheiten: Ein Heilpraktiker und eine Heilpraktikerin, die sich im Gespräch als solche vorgestellt hatten, hatten noch keine Prüfung abgelegt. Der Heilpraktiker war noch nicht in dem Beruf tätig geworden, obwohl seine Ausbildung bereits mehr als 20 Jahre zurücklag; die Heilpraktikerin hingegen war schon ‚berufstätig‘, auch wenn ihre eigentliche amtsärztliche Überprüfung erst noch bestanden werden musste. Einen Überprüfungstermin hatte sie noch nicht beantragt. Eine weitere Interviewpartnerin hatte 20 Strukturbedingt stößt man dabei an Grenzen, da die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker nicht verpflichtet sind, ihre Spezialisierung anzugeben und in der Regel ihr Behandlungskonzept entsprechend dem eigenen Wissens- und Erfahrungsstand erweitern oder verändern. Am klarsten wäre die Spezialisierung der Homöopathin abgrenzbar. Im Vergleich zum medizinischen Bereich ist das Sample dieser Studie am ehesten mit einem Sample aus Hausärztinnen und Hausärzten vergleichbar, die im Rahmen ihrer Berufsausübungsregelungen ihre Patienten umfassend behandeln, eigene professionelle Präferenzen einfließen lassen und erst bei Bedarf in die fachärztliche Behandlung überweisen.
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
163
die Überprüfung im zweiten Versuch vor über zehn Jahren bestanden, war jedoch bis zum Interviewtermin nicht als Heilpraktikerin tätig geworden und dachte erst seit Kurzem daran, sich in diesem Beruf niederzulassen. Drei Interviewpartnerinnen hatten aus verschiedenen Gründen die formale Anmeldung aufrechterhalten, ohne aktuell im Beruf tätig zu sein. Diese Hinweise ergaben den offenen Kode Inkonsistenzen und verwiesen auf das weitere theoretische Sampling. Es wurden explizit Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ausgewählt, die in angemeldeter Tätigkeit arbeiten. Dies sollte einen erfahrungsbasierten vertieften Einblick in die individuellen Verberuflichungsprozesse gewähren. Besonderheit in der zweiten Interviewrunde war, dass, wie in der ersten Runde bereits vereinzelt, nun vermehrt auf Unterschiede einer Berufstätigkeit in Westund Ostdeutschland hingewiesen wurde. Dies wurde z. B. begründet mit der langen Tradition des Berufes in Westdeutschland, im Vergleich zu der erst relativ kurzen Zeit der Berufserlaubnis im Osten Deutschlands, einhergehend mit einer geringen kulturellen Verankerung und mangelnden finanziellen Ressourcen bei den potenziellen Patienten dort. Aufgrund dieser Hinweise (Ost-West-Differenz) wurden weitere zehn Interviews im westdeutschen Raum geführt. Insgesamt wurden 20 biographisch-narrative Interviews im ostdeutschen sowie zehn im westdeutschen Raum erhoben, verteilt auf drei Interviewrunden. Ohne eine statistische Auswertung des Samples zu präsentieren, folgen ein paar Eckdaten zu den Angaben, die die Interviewten in einem Kurzfragebogen selbst machten: Es wurden 24 Frauen und sechs Männer im Alter von 40 bis 73 Jahren interviewt. Das Durchschnittsalter des Samples beträgt 54 Jahre. Die interviewten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker waren zum Interviewzeitpunkt zwischen eineinhalb und 26 Jahre in ihrem Beruf tätig. Von den 27 berufstätigen Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern arbeiteten zum Interviewzeitpunkt fünf in Vollzeit zwischen 40 und 50 Wochenstunden. Die 22 anderen waren zwischen zwei und 30 Wochenstunden in Teilzeit tätig; die meisten von ihnen zehn Stunden (27 %), 20 und 30 Stunden (je 18 %). Elf Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker kommen aus einem medizinischen (Vor-)Beruf. Die Mehrheit von ihnen verfügt über einen Abschluss als Kranken- und Gesundheitspfleger oder -pflegerin mit verschiedenen Fachspezialisierungen. Ein weiterer Heilpraktiker hat Tiermedizin studiert und abgeschlossen. Insgesamt haben 13 Interviewte einen hochschulischen Berufsabschluss, fast alle jedoch im wirtschaftlichen oder technischen Bereich und einer von ihnen ist promovierter Ingenieur der Verfahrenstechnik. Eine Interviewte war in der ehemaligen DDR diplomierte Staatswissenschaftlerin, ein Heilpraktiker diplomierter Politikwissenschaftler. Alle Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker haben eine institutionalisierte (schulische) Heilpraktikerausbildung besucht, eine
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4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
davon bei einem als Einzeldozent zugelassenem Heilpraktiker. Die Ausbildungen dauerten zwischen neun Monaten und fünf Jahren, sind allerdings schwer vergleichbar. Bei den meisten handelte es sich zunächst um eine Vorbereitung auf die Heilpraktikerüberprüfung bzw. um Grundlagenausbildungen. Insbesondere bei den in Klassischer Homöopathie weitergebildeten Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern schloss sich eine mehrjährige Intensivfortbildung an, die drei bis fünf Jahre in Anspruch nahm. Die Ansprache der Interviewpartnerinnen erfolgte direkt – telefonisch oder persönlich – und nach den ersten geführten Interviews auch nach dem Schneeballprinzip (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 59), vor allem in Bezug auf die westdeutschen Interviewpartner, um die das Sample erweitert worden war. Einige Interviewte waren der Interviewerin von naturheilkundlichen Weiterbildungsveranstaltungen flüchtig bekannt. Diese wurden in der ersten Interviewrunde angesprochen, um den Einstieg in das Feld zu erleichtern. Weitere Interviewte wurden im Telefonbuch unter dem Stichwort Heilpraktiker gefunden und telefonisch angesprochen. Dies sollte gewährleisten, dass es sich um beruflich tätige Heilpraktikerinnen handelte. Im westdeutschen Raum gelang es nicht, Männer für ein Interview zu gewinnen. Sie blieben unverbindlich oder lehnten entweder aus Zeitgründen bzw. ohne Begründung ein Interview ab. Ein Heilpraktiker verwies bei der telefonischen Kontaktaufnahme auf seinen Heilpraktikerverband, dort könne man alle Fragen beantworten. Ein weiterer Heilpraktiker wollte sich zunächst umfassend über die Forscherin als Person informieren. Die „taktische Vorsicht“ (Hanses 2000: 369) fiel auf, mit der der Forscherin begegnet wurde. Es gestaltete sich insgesamt leichter, Interviewpartner und -partnerinnen im ostdeutschen Raum zu gewinnen. Dies mag auch an der ostdeutschen Herkunft der Interviewerin gelegen haben. Sie kam darüber hinaus aus der Region, in der die Interviews größtenteils geführt wurden, und verfügt zudem auch über einen Heilpraktikerabschluss. Bei der Kontaktaufnahme verwies sie auf ihren Berufsabschluss als Heilpraktikerin und erklärte ihr darüber hinausgehendes Forschungsinteresse am Beruf der Heilpraktikerin. Das Zögern der Heilpraktiker im westdeutschen Raum mag jedoch noch andere Gründe haben: Sie verfügen kollektiv über eine viel längere berufliche Erfahrung in ihrer Tätigkeit als die Berufskollegen im ostdeutschen Raum. Ihre Tätigkeit ist erklärungsbedürftig, sie werden von der Profession der Medizin, aber auch von anderen Seiten wie den Medien wiederholt angefeindet und haben gelernt, sich zu schützen. Die Idee einer biographischen Selbstthematisierung im Rahmen von Beruf und Berufstätigkeit ist zwar vorhanden, kann aber in der subjektiven Wahrnehmung eben auch gefährlich sein. Die Zusage zu einem Interview oder dem
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
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Preisgeben persönlicher Informationen wird hochgradig situativ entschieden. Es kann die Sorge überwiegen, die eigene Professionalität zu beschädigen, indem ein Interview, erst recht ein biographisches, gegeben wird. Hinzu kommt, dass die starke Welle der (nicht-ärztlichen) Naturheilkunde und Therapiebewegung (1970er/1980er Jahre) abgeflaut ist und Ökonomisierungsprozesse im gesundheitlichen Bereich zu einer größeren Konkurrenz um Ressourcen geführt haben und weiter führen. Die Patientinnen schränken sich aufgrund vermehrter Zuzahlungen ein, der ‚Kampf‘ um sie wird härter. Biographien in dieser Konkurrenzsituation offenzulegen, kann als schwierig empfunden werden. Zwischen den Polen von Verdacht/Vorsicht und Vertrauen war situativ zu entscheiden, ob ein Interview gegeben wird, zumal der erste Kontakt nur telefonisch stattfand. Bei der formalen Textanalyse wurde deutlich, dass sich auch die Interviews selbst unterschieden. Bei den westdeutschen Interviews lagen andere Textsorten vor: Die berufsbiographischen Perspektiven und Selbstthematisierungen blieben überwiegend argumentativ und formal. Fachliche, professionell konnotierte Relevanzsetzungen dominierten die Struktur der Interviews. Die Interviewten ließen sich kaum darauf ein, tiefergehende private Informationen preiszugeben und, was für die Bearbeitung der Forschungsfrage noch wichtiger war, es ließ sich kaum eine Kohärenz der beruflichen Entwicklung, die in die Heilpraktikertätigkeit mündete, aufbauen. Es gab kaum längere narrative Passagen mit Nähe zum subjektiven Erleben der Interviewten bzw. waren diese durch eine geraffte und verdichtete Erzählstruktur gekennzeichnet. Damit wurde es schwierig, dichte (prozessuale) Lesarten zu einer biographisch bedingten Genese des Heilpraktikerberufes bzw. zum Zusammenhang von Biographie und Beruf herauszuarbeiten. So wurde im Forschungsprozess entschieden, sich in der weiteren Auswertung auf die Interviews zu konzentrieren, die mit Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern geführt wurden, die eine ‚ostdeutsche Sozialisation‘ mitbrachten und erst nach dem gesellschaftlichen Transformationsprozess 1989/1990 Zugang zum Heilpraktikerberuf erlangten. In deren Interviews zeigt sich eine besondere, doppelte Spannung: Zur allgemeinen Bewältigung des gesellschaftlichen und politischen Wandels kommt die Ungeregeltheit des Heilpraktikerberufes hinzu. Damit sind existenzielle Bereiche der eigenen Biographie vollkommen neu und selbstständig zu gestalten. Die in dieser Arbeit dargestellten drei Interviews bilden maximale Kontraste in ihrer individuellen Verberuflichung entlang biographischer Konstruktionen, aber auch in ihrem einzigartigen Rückgriff auf die biographischen Vorerfahrungen sowie ihre Lern- und Verarbeitungsprozesse. In allen Fällen fand ein ausführliches telefonisches oder persönliches Vorgespräch statt. In diesem wurde das Forschungsvorhaben erklärt, Fragen der
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4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
zukünftigen Interviewten beantwortet und die Anonymisierung der Daten durch die Interviewerin zugesichert, bevor ein verbindlicher Interviewtermin vereinbart wurde. Es wurde auf die Spezifik der Interviewsituation narrativer Interviews, nicht als eine Frage-Antwort-Situation abzulaufen, sowie auf die Wichtigkeit eines ausreichend langen ungestörten Zeitfensters von zwei bis drei Stunden hingewiesen. Beim eigentlichen Interviewtermin wurde neben der nochmaligen Versicherung der Anonymisierung durch die Interviewerin eine schriftliche Einwilligung zum Interview eingeholt, Kontaktdaten ausgetauscht und einige formale Angaben zur Ausbildung und Spezialisierung der Interviewten festgehalten. Die Forschungsformalien wurden nach den Interviews erfüllt, um den Verlauf nicht durch zu viel ‚universitäre/institutionalisierte Professionalität‘ zu beeinflussen. Die Interviews fanden in den Praxisräumen der Interviewten statt. Teilweise sind diese an die privaten Wohnräume angeschlossen. Im Anschluss an die einzelnen Interviews folgten ein Nachgespräch und oftmals ein Rundgang durch die Praxisräume. Bei einigen Interviewten begann der Interviewtermin auch mit dem Kennenlernen der Praxis und einer Einführung in die individuelle Arbeitsweise. Diese reicht von der Anwendung ‚geschlossener‘ Heilsysteme wie der Traditionellen Chinesischen Medizin oder der Klassischen Homöopathie bis hin zu psychotherapeutischen Therapieansätzen, energetischer Arbeit und gerätebasierten Therapieverfahren wie der Bioresonanztherapie, oft auch angewandt als Therapieund Methodenmix. Im gesamten Prozess der Felderschließung, Interviewerhebung und -analyse wurde ein Forschungstagebuch geführt, um den Forschungs- und Lernprozess zu reflektieren sowie theoretische Memos zu fixieren.
4.3.2
Konzept und Transkription der biographisch-narrativen Interviews
Mittels der speziellen Methode des biographisch-narrativen Interviews sollen methodisch kontrolliert Narrationen und die damit verbundenen Zugzwänge hervorgelockt werden, um die Darstellung von Ereignissen und Erfahrungen, die möglichst nah am Erlebten liegen, zu ermöglichen. Hierzu sind besondere Regeln der Interviewführung zu beachten, denen dieser Erhebungsprozess folgte (vgl. Alheit 1994; Schütze 1983/2016). Zum konkreten Ablauf der Erhebungsphase: Nach den ersten Interviews wurde die völlige biographische Offenheit des narrativen Erzählimpulses eingeschränkt. Als in den ersten Interviews in der Eingangserzählung offen nach der gesamten Lebensgeschichte gefragt wurde, irritierte dies die Interviewten. Zwar waren sie
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
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über das Forschungsinteresse zur berufsbiographischen Entwicklung informiert, hinterfragten jedoch, was ihr gesamtes Leben mit ihrer Beruflichkeit zu tun haben sollte und waren skeptisch bezüglich einer Darstellung der gesamten, insbesondere der privaten Lebensgeschichte. Um die Phase einer Erklärung zu vermeiden und den Gesprächsanfang nicht unnötig zu abstrahieren oder zu theoretisieren, wurde bei den weiteren Interviews beim Erzählimpuls mit einem Einleitungssatz eine thematische Einschränkung auf den besonderen lebensgeschichtlichen Aspekt der berufsbiographischen Entwicklung hin zum Heilpraktiker vorgenommen. Dies wird dem Erkenntnisinteresse am Gegenstand Berufsbiographie gerecht (vgl. Schütze 1983: 28521 ; Rosenthal 2008: 144 ff.). Die Interviewten haben sehr verschieden auf den Erzählimpuls reagiert und individuelle Relevanzen gelegt. Während es Interviews gab, die mit der Berufswahl begannen und diese stark fokussierten, teilweise auch weitgehend argumentativ blieben, gab es ebenso Interviews, die mit der Kindheit und Jugend begonnen wurden und viele narrative Anteile enthielten. Prozesse des Werdegangs wurden in allen Interviews dargelegt. Der folgende Erzählimpuls leitete die erste Haupterzählung oder „autonom strukturierte Selbstpräsentation“ (Rosenthal 2008: 14622 ) ein: „Sie wissen ja, dass mich interessiert, wie es in Ihrem Leben dazu kam, dass Sie Heilpraktiker/Heilpraktikerin geworden sind. Ich möchte Sie dazu nun bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Erzählen Sie ruhig alles, was Ihnen einfällt. Sie haben dazu so viel Zeit, wie Sie möchten. Ich werde Ihnen zunächst einmal keine Fragen stellen. Ich mache mir nur einige Notizen, zu denen ich erst dann, wenn Sie geendet haben, noch einmal genauer nachfragen möchte.“ In dieser Phase war Aufgabe der Interviewerin, aufmerksam zuzuhören, sich mit Kommentaren weitgehend zurückzuhalten und das Interesse durch Blickkontakt, Nicken oder ein bestätigendes „mhm“ kundzutun. Zu Letzterem ist Folgendes anzumerken: Durch die von Forscherin und Interviewten geteilten Wissensbestände um institutionelle Rahmenbedingungen und Handlungspraktiken von Heilpraktikern bestand Gefahr, dass die Interviewten Detaillierungen einsparen könnten. Deshalb musste behutsam mit einem „zu schnellen Verstehen“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 76) umgegangen werden, auf das vielleicht von
21 Trotz des Wiederabdrucks des Aufsatzes von Schütze (1983) im Jahre 2016 wurde die Zitation der Seitenzahlen aus 1983 beibehalten, da das Verfassen dieses Methodenkapitels bereits abgeschlossen war. 22 Rosenthal spricht von „autonom strukturierter Präsentation“, wenn die auf die Eingangsfrage folgende Sequenz kurz gehalten ist oder nicht narrativ, also vorrangig als Beschreibung oder Argumentation erfolgt (vgl. Rosenthal 2008: 146).
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4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
den Interviewten durch ein vorschnelles „mhm“ der Interviewerin geschlossen werden konnte. Nachdem durch die Interviewten, in den meisten Fällen mit einer „Erzählkoda“ (Schütze 1983: 285), deutlich gemacht worden war, dass sie ihre erste Haupterzählung beendet hatten, folgte die immanente Nachfragephase. In dieser Phase, die sich auf das unmittelbar Gesagte bezieht (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 70), wurden ‚lose Enden‘ der Stegreiferzählung aufgegriffen, unter der Beachtung erzählgenerierenden Fragens. Auch in diesem zweiten Hauptteil des Interviews sollten Verarbeitungsprozesse und subjektive Deutungen, die nahe am Erlebten liegen, herauszuarbeiten sein, indem das „tangentielle Erzählpotential“ (Schütze 1983: 285) ausgeschöpft wird. Nach dem Beantworten aller erzählimmanenten Fragen schloss sich die die exmanente Nachfragephase des Interviews an. Hier wurde das Interview, neben dem Aufgreifen eigener argumentativer Äußerungen der Interviewten, um Fragen zur Berufsaneignung und -ausübung, Professionalitätsentwicklung, zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Beruf und seiner Stellung in Bezug auf die Medizin, ergänzt. Ziel war, weitere, professionssoziologisch oder -theoretisch relevante Aussagen der Befragten zu generieren: Die Fragen hoben auf eine berufsbiographische und berufliche Reflexion und Eigentheoretisierung der Interviewten ab, um u. a. die aktuelle Wahrnehmung zur eigenen beruflichen Situation, aber auch zum Berufsstand im Allgemeinen erfassen zu können. Bei den exmanenten Nachfragen, die am „Beschreibungs- und Theoriepotential“ (Schütze 1983: 285) der Interviewten unter „Nutzung der Erklärungs- und Abstraktionsfähigkeit des Informanten als Experte und Theoretiker seiner selbst“ (Schütze 1983: 285) ansetzen, war zu erwarten, dass die Befragten eher im Modus von Beschreibungen oder Argumentationen antworten. Folgende Leitfragen dienten der Orientierung. Sie wurden an den jeweiligen Interviewverlauf angepasst. – Wie gestaltet sich Ihre jetzige Tätigkeit? – Können Sie mir noch etwas über Ihre Ausbildung zur Heilpraktikerin/zum Heilpraktiker erzählen? – Können Sie mir mehr über die Ausbildung generell erzählen? – Erzählen Sie mir doch bitte mehr darüber, wie Sie Ihr Wissen erweitern.23 23 Diese Frage wurde in keinem Interview gestellt, da die Interviewten in den Haupterzählungen bereits ausführlich darstellten, dass und wie Weiterbildungen, aber auch die persönliche Weiterentwicklung einen großen Anteil bei der Aneignung des Berufes einnimmt.
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
169
– Was ist für Sie das Besondere an Ihrer Tätigkeit als Heilpraktiker/Heilpraktikerin? Wie denken Sie über Ihre Tätigkeit? – Wie arbeiten Sie mit der Schulmedizin zusammen bzw. wie können Sie sich eine Zusammenarbeit mit der Schulmedizin vorstellen? Besonders die letzte Frage zielte auf eine Zukünftigkeit der Berufstätigkeit, vor der Reflexionsfolie der Profession der Medizin, ohne in spekulative Ausführungen abzurutschen. Die Ausführlichkeit der Antworten variierte stark. Einige Heilpraktikerinnen ließen sich auch hier auf längere Ausführungen ein und entwickelten z. B. ‚Visionen‘ einer Zusammenarbeit mit der Schulmedizin. Es fiel auf, dass die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ihre Randstellung annehmen, sie diese in ihren Ausführungen reproduzieren. Zum Wohle des Patienten wünschten sie sich jedoch mehr und andere Möglichkeiten einer Einbindung sowie Zusammenarbeit mit der Schulmedizin. In der Auswertung der Interviews wurde sich auf den offenen Teil der Interviews konzentriert, denn dieser ermöglichte eher, die Prozessualität der Berufsaneignung vor dem Hintergrund der eigenen biographischen Erfahrungsaufschichtung, deren subjektiven Konstruktionen und Deutungen, herauszuarbeiten, insbesondere wenn diese im Modus von Erzählungen und Beschreibungen und den damit verbundenen Zugzwängen dargelegt wurden. Einige Heilpraktikerinnen schrieben im Anschluss an ihr Interview noch eine Mail, in der sie ihre Ausführungen ergänzten, was zeigt, dass durch die biographischen Erzählungen Verarbeitungsprozesse und Reflexionen in Gang gesetzt werden. Diese können gelegentlich sogar eine professionelle Beratung erfordern, welche durch speziell Ausgebildete erfolgen sollte (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 76). Die Interviews dauerten zwischen 39 Minuten und zwei Stunden, 15 Minuten. Sie wurden mit einem Aufnahmegerät aufgenommen und im Anschluss in ihren Eingangspassagen, sowie diejenigen, die sich von Anfang an als ‚besonders‘ erwiesen, vor allem zunächst im Sinne maximaler Kontrastierung, vollständig transkribiert. Sukzessive wurden im Kodierprozess weitere Kernstellen nach Bedarf transkribiert. Dabei wurden keine Satzzeichen i. S. der grammatikalischen Regeln verwendet. Glättungen in der sprachlichen Übertragung wurden vermieden, d. h. hörbare Äußerungen und Signale einschließlich Pausen, Betonungen, Versprechern und Abbrüchen wurden erfasst. Auch nonverbale Ereignisse, die wichtig erschienen, um die sprachliche Darstellung zu verstehen, wurden gekennzeichnet. Die Personen- und Ortsnamen wurden anonymisiert. Ausnahme bilden allgemein bekannte Vertreter führender alternativer Therapiekonzepte wie
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4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
Samuel Hahnemann als Begründer der Klassischen Homöopathie, um dem fachlich vorgebildeten Leser einen leichteren gedanklichen Anschluss zu ermöglichen. Die verwendeten Transkriptionsnotationen finden sich am Ende der vorliegenden Arbeit.
4.3.3
Verlaufsprotokoll, formale Textanalyse, offenes und axiales Kodieren, biographische Kurzbeschreibung
Parallel zu den ersten Transkriptionen wurden Verlaufsprotokolle für jedes Interview geschrieben. Sie enthalten die thematische und strukturelle Gliederung der einzelnen Interviews (vgl. Schütze 1984: 111 ff.; Dausien 1996: 127 f.), unter Berücksichtigung der Prozessstrukturen, Rahmenschaltelemente und sprachlichen Markierer sowie der Textsorten Erzählung, Beschreibung und Argumentation (vgl. Rosenthal 2008: 139 ff.). Erzählte Lebensgeschichten bestehen neben narrativen (erlebnisnahen) Erfahrungsrekapitulationen auch aus erlebnisferneren beschreibenden oder argumentativen Anteilen, von denen besonders Letztere dann relevant werden, wenn der Erzähler theoretisch zu sich selbst und seinem Leben Stellung nimmt (vgl. Dausien 1996: 116). Aufgrund ihrer Nähe zum faktischen Handeln sind Erzählungen, wie bereits vorher erwähnt, besonders geeignet für eine Handlungs- und Erfahrungsanalyse (vgl. Schütze 1977: 1; Schütze 2016: 70). Narrative Anteile wurden allerdings nicht strikt von den nichtnarrativen getrennt (vgl. dazu Schütze 1983: 286)24 , um von Beginn an mehr Datenmaterial und den interessanten Einblick in die Selbstreferenz25 der Erzählenden einbeziehen zu können.
24 2016 wurde dieser Aufsatz neu abgedruckt und in einem Nachtrag mit einer methodischen Korrektur versehen. Schütze setzt sich darin mit der Bedeutung und Funktion nicht-narrativer, insbesondere argumentativer Passagen auseinander, die ursprünglich bis zum Abarbeiten der strukturellen Beschreibung und analytischen Abstraktion unberücksichtigt bleiben sollten. Er verlässt nun die strikte Trennung narrativer von nicht-narrativen Anteilen (vgl. Schütze 2016: 66–72). Dies bestätigt das Vorgehen im Rahmen der hier beschriebenen ersten Analyseschritte, die vor Erscheinen der methodischen Anpassung Schützes vollzogen wurden. 25 Hier fließt der (vierte) Auswertungsschritt der Wissensanalyse (vgl. Schütze 1983: 286 f.) mit hinein, in dem „die eigentheoretischen, argumentativen Einlassungen des Informanten zu seiner Lebensgeschichte und zu seiner Identität sowohl aus den Erzählpassagen […] als auch aus dem argumentierenden und abstrahierenden Abschnitt des narrativen Interviews“ (Schütze 1983: 286) expliziert werden, unter Bezug auf den lebensgeschichtlichen Ereignis- und Erfahrungsrahmen.
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
171
Gleichzeitig wurden erste ad hoc Interpretationen vorgenommen, was die Phase des offenen Kodierens einleitete (vgl. Strauss 1998: 56–62). Dabei fanden sowohl natürliche als auch soziologische Kodes Verwendung. Während natürliche Kodes Begrifflichkeiten darstellen, die von den Interviewten selbst verwendet werden und damit „einen direkten Zugang zu den alltagsweltlichen Wissensbeständen der Akteure ermöglichen“ (Kelle: 1997: 316), beziehen sich soziologische Kodes auf Konstrukte, „mit denen vorhandene theoretische Konzepte auf einen bestimmten empirischen Gegenstandsbereich übertragen und anhand empirischen Materials konkretisiert werden“ (Kelle 1997: 316). Diese Verankerung der Kodierungen in den zwei Datenquellen Empirie und Kontextwissen einschließlich (theoretischer) soziologischer Konzepte ermöglicht, die Daten analytisch aufzubrechen (vgl. Strauss 1998: 58 f.). Dieser Prozess wurde vom Schreiben theoretischer Memos zu Beziehungen der Kodes untereinander begleitet. Zeitgleich begann der Prozess der „kommunikativen Validierung“ (Alheit 2010: 42), der sich über die gesamte Zeit der Datenanalyse erstreckte: Die empirischen Daten wurden in Interpretationswerkstätten gemeinsam mit anderen Promovendinnen und Masterstudierenden unter Anleitung erfahrener qualitativer Forscherinnen Zeile für Zeile interpretiert, beginnend mit den Eingangspassagen. Die Auswertung der Eingangspassagen ist deshalb relevant, da hier wichtige Hinweise auf grundlegende biographische Konstruktionsprinzipien und subjektive biographische Thematisierungen aufgefunden werden können. Für die Rekonstruktion der Prozessstrukturen sowie der Veränderungen im Gesamtablauf der Lebensgeschichte war es jedoch später notwendig, auf weitere (kontrastive) Passagen der ausgewählten Fälle zurückzugreifen. Im Zeile-für-Zeile- oder line-by-lineAnalyseprozess wurden sowohl das Wie der Darstellung als auch die Inhalte (das Was) des Gesagten berücksichtigt. Die ersten (offenen) Kodes und daraus abgeleiteten Dimensionen bildeten die Grundlage für die Suche nach Kontrastfällen. Der intensive Analyseprozess erhielt durch die kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens Struktur. Die offenen Kodes wurden im abduktionslogischen Vorgehen im Abgleich mit sensibilisierenden Konzepten zu Schlüsselkategorien verdichtet (axiales Kodieren). Auf Basis der Verlaufsprotokolle wurden biographische Kurzbeschreibungen verfasst, in denen der Lebensverlauf unter Berücksichtigung eigener Perspektiven und Bewertungen der Erzählenden prägnant zusammengefasst wird. Die biographischen Kurzbeschreibungen ermöglichen Außenstehenden einen Überblick über den biographischen Verlauf, während die Verlaufsprotokolle der zügigen Orientierung im Zeile-für Zeile-Analyseprozess dienen (vgl. Dausien 1996: 128 f.). Die biographischen Kurzbeschreibungen der hier präsentierten Fälle sind an den Kapitelanfang der jeweiligen Falldarstellung (Kap. 5 bis 7) gestellt.
172
4.3.4
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
Kernstelleninterpretation, fallübergreifender Vergleich und theoretische Verdichtung
Die Kapitel 5 bis 7 zeigen die ausführliche Interpretation der Kernstellen der ausgewählten Fälle. Es erfolgt nicht, wie beim narrationsanalytischen Vorgehen nach Schütze (1983: 186), die strukturelle Beschreibung der gesamten Interviews bzw. seiner narrativen Anteile, auch wenn der erste Fall (Karl Mitteldorf) sehr ausführlich und mit engem Zeilen-Bezug präsentiert wird. Kernstellen (vgl. Hanses/Richter 2013: 74 f.) sollen, im Sinne abduktionslogisch begründeten selektiven Kodierens, die empirisch herausgearbeiteten Kategorien verdeutlichen (vgl. Dausien 1996: 128; Herzberg 2004: 89). Sie ermöglichen gleichzeitig einen forschungsökonomischen Umgang mit den Daten (vgl. Hanses/Richter 2013: 75). Die Entscheidung für die präsentierten Kernstellen fiel erst nach Kenntnis der jeweiligen Eigenlogik der ausgewählten Biographien, nach Herausarbeitung des Sinnüberschusses der Texte. Mit der Kenntnis der Eigenlogik des jeweiligen Falles entlang der Kontrastierung seiner Textpassagen ließ sich die biographische Gesamtgestalt des Interviews (autobiographische Thematisierung und biographische Gesamtformung) herausarbeiten. Der Blick geht dabei von der Konkretheit der einzelnen Zeile und einzelnen Lebensereignisse weg. Dies entspricht dem Arbeitsschritt der analytischen Abstraktion nach Schütze (1983: 286). Kernstellen sind somit „Resultate fortgeschrittener Interpretations(Codierungs-)Prozesse“ (Alheit 1995b: 60/FN 5). Die in ihnen manifestierte Phase des selektiven Kodierens dient der Vorbereitung der Theorie, indem die Kernkategorie gefunden wird, unter die die einzelnen idealtypischen Fälle und deren Kategorien (theoretisch) subsumiert werden können (vgl. Alheit 2010: 60; Kelle 1997: 317). Mittels vergleichender Methode soll eine gegenstandsbezogene Theorie herausgearbeitet werden, die allgemeine und empirisch möglichst hoch gesättigte Aussagen zur Forschungsfrage ermöglicht. Dabei wurde nun fallübergreifend theoretisch kontrastiert und die Schlüsselkategorien weiter verdichtet. In der Phase des offenen Kodierens wurde der enge Rückbezug der Interviewten auf die eigene Biographie und berufsbiographische Wissensbestände entdeckt, der als Ressource und Notwendigkeit die individuelle Verberuflichung als Heilpraktikerin oder Heilpraktiker begleitet und ermöglicht – als Prozess entlang der je individuellen Kompetenz der Biographizität im Sinne eines „biographischen Habitus“. Um diese Kernkategorie nun in der Phase der selektiven Kodierung bis zu ihrer Sättigung (vgl. Kelle 1997: 316) zu verdichten, wurde zunächst auf der
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
173
Ebene des einzelnen Falles interpretiert, danach fallübergreifend kontrastiert. Dieser komplexe Analyseprozess wird entlang der ausgewählten Kernstellen der drei Fälle in den folgenden Kapiteln dargestellt. Die drei Fälle zeigen besonders prägnant die zwischen Empirie und Theorie herausgearbeiteten Schlüsselkategorien. Dies sind im Überblick: – die Verberuflichung entlang biographischer Konstruktionen – diese wird insbesondere durch die Schlüsselkategorien der Konzeptualisierung der eigenen Tätigkeit, der biographischen Motivation für den Beruf, der Selbstorganisation sowie der Patient*innen-/Klient*innenorientierung spezifiziert; – die biographischen Lern- und Verarbeitungsstrategien – damit eng verbunden sind die Orientierung sowie die Krankheitsverarbeitung; – die (biographische und professionelle) Reflexivität.26 Diese Schlüsselkategorien wurden letztendlich zur Kernkategorie des „biographischen Habitus“ zusammengeführt, der gleichzeitig die zentrale Analysedimension darstellt, unter der die Biographien interpretiert wurden. In Betrachtung des Zusammenhangs zwischen dem biographischen Habitus und seinem Ausdruck im Beruf – werden die Ebenen der biographischen Habitualisierung und der Verberuflichung also aufeinander bezogen – kann die Schlüsselkategorie der Verberuflichung entlang biographischer Konstruktionen mit der Kernkategorie des biographischen Habitus gleichgesetzt werden (vgl. Abb. 4.1). Die biographischen Lern- und Verarbeitungsstrategien erfassen den Kompetenzerwerb über den Lebensablauf hinweg, als eine Dimension der je individuellen Biographizität im subjektiven selbstreferenziellen Auseinandersetzungsprozess des Individuums mit strukturellen und sozialen Bedingungen, biographischen Erlebnissen und Erfahrungen. Dabei erfasst die Kategorie der Krankheitsverarbeitung den besonderen Aspekt der biographischen Auseinandersetzung mit gesundheitsbezogenen Herausforderungen, die für die eigene Identitätsbildung (körperbezogene, leibliche, biographische Merkmale) relevant sind, aber auch für die berufliche Tätigkeit als Heilpraktikerin bedeutsam werden. Die Orientierung erfasst höhersymbolische Wissensbestände, Werte und andere Wissensformen, 26 Die Kategorien der biographischen Lern- und Verarbeitungsstrategien sowie der (biographischen) Reflexivität finden sich auch bei Herzberg (2004) in ihrer Untersuchung zum (biographischen) Lernhabitus. Auch in der hier vorliegenden Untersuchung geht es im Prozess der individuellen Verberuflichung um biographische Lernprozesse und -strategien. In der Verdichtung auf diese Kategorien, die aus dem Datenmaterial emergierten, und dem Rückbezug auf die empirisch fundierte Theorie Herzbergs spiegelt sich das abduktive Vorgehen im Forschungsprozess wider.
174
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
Biographischer Habitus
Biographische Lern- und Verarbeitungsstrategien
Verberuflichung entlang biographischer Konstruktionen
Konzeptualisierung
Orientierung
Biographische Motivation
Krankheitsverarbeitung
Selbstorganisation
(Biographische und professionelle) Reflexivität
Patient*innen-/ Klient*innenorientierung
Abbildung 4.1: Kategorienschema „Biographischer Habitus“ – Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker
entlang derer die Ausformung des biographischen Habitus erfolgt und die auch in der Verberuflichung handlungsleitend werden. Die biographische und professionelle Reflexivität erfasst die Kernkompetenz der Reflexivität als Basis expliziter (kognitiver) und impliziter Erkenntnis- und Veränderungsprozesse, das Verfügbarwerden der eigenen Ressourcen und ungelebten biographischen Potenziale. Sie ist zudem wichtiger Bestandteil von Professionalisierungsprozessen und zentrale Dimension von Professionalität. Die Reflexivität gewinnt nochmals an Bedeutung, wenn biographie- und professionstheoretisch über den Heilpraktikerberuf nachgedacht werden soll. Für die Verberuflichung entlang biographischer Konstruktionen kann weiterhin die biographische Motivation für den Beruf, also welche individuellen und strukturellen sozialen Rahmenbedingungen zum vollständigen oder teilweisen Wechsel in den Heilpraktikerberuf führen, herangezogen werden. Hinzu kommt die Schlüsselkategorie der Selbstorganisation, die die praktische Umsetzungsebene der beruflichen Aneignung und -ausübung berührt. Sie ist mit ökonomischen Dimensionen verbunden und kann über Erfolg oder Scheitern der beruflichen Karriere als Heilpraktikerin oder Heilpraktiker entscheiden. Dieser Kode war einer der auffälligsten Konstruktionen in den Interviews – die mit den ungeregelten Rahmenbedingungen einhergehenden individuell zu bearbeitenden praktischen Herausforderungen der Verberuflichung. Die Konzeptualisierung der Tätigkeit führt die fachlichen Dimensionen der beruflichen
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
175
Aneignung und -umsetzung zusammen. Dies berührt zudem die Patient*innen/Klient*innenorientierung, die in interaktionistischen Professionstheorien in der Auseinandersetzung mit dem spezifischen beruflichen Handeln zentraler Referenzpunkt ist und in der Tätigkeit von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern relevantes Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Heilberufen sein kann. Der Prozess des Ausarbeitens der Schlüsselkategorien und ihrer Subsumierung unter die Kernkategorie(n) erfolgte spiralförmig abduktiv, indem das empirische Material mit den sensibilisierenden theoretischen Konzepten fortgesetzt kontrastiert wurde. Dabei werden die anfangs vagen und allgemeinen sensibilisierenden Konzepte unter Einbezug der individuellen Sichtweisen der Akteure sukzessive zu einem definitiven Konzept ausformuliert (vgl. Kelle 1997: 346, mit Bezug auf Blumer). Relevante sensibilisierende Konzepte (vgl. Kap. 3) sind das Konzept der Biographie und das Habituskonzept Bourdieus einschließlich seiner empirischen Ausdifferenzierung eines professionellen Habitus. Diese Konzepte benötigten eine Erweiterung, wie in der Kontrastierung mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen um den Heilpraktikerberuf sowie mit den subjektiven Sichtweisen der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker deutlich wurde. In diese Erweiterung flossen insbesondere die theoretisch und empirisch fundierten Überlegungen zur Biographizität (Alheit 2019 u. a.) und dem biographischen (Lern-) Habitus (Herzberg 2004, 2008). Für die Prozesse der individuellen Verberuflichung waren und sind ebenso biographie- und professionstheoretische Konzepte entlang des Gegenstandsbereiches der Gesundheit von Bedeutung. Die Kategorien ermöglichen einen fallübergreifenden Vergleich der beruflichen Handlungsmuster sowie die Herausarbeitung von Ressourcen, Entwicklungsmöglichkeiten und Grenzen des jeweiligen biographischen Habitus, die hier entlang der Dimension der Beruflichkeit relevant werden. Die hier präsentierten Fälle bilden maximale Kontraste: in ihren Erzählstrukturen, den vorherrschenden biographischen Themen, den biographischen Lern- und Verarbeitungsstrategien, letztlich in der Auseinandersetzung mit dem Heilpraktikerberuf und seiner Aneignung.27 Die Spannbreite zeigt die Fülle subjektiver Erfahrungsaufschichtung im lebensgeschichtlichen Verlauf, konkret im Umgang mit gesellschaftlich – sozial und strukturell – bedingten beruflichen Entwicklungen und damit verbundenen Herausforderungen. Gleichzeitig können in der maximalen Verschiedenheit auch sich gleichende biographische Themen und Muster herausgearbeitet werden, die sich in der Kategorienfindung widerspiegeln.
27 Ohne explizit von einer Typenbildung (vgl. Kelle/Kluge 2010) zu sprechen, stehen die folgenden drei Fälle auch für die hier nicht dargestellten Biographien.
176
4 Theoretisch-methodische Anlage der Studie
Für die Auswahl der hier präsentierten Fälle war zunächst die Motivation für den neuen Beruf ein Entscheidungskriterium. Ebenso wichtig war die Verarbeitung (berufs-)biographischer Vorerfahrungen, die in der Konzeptualisierung der (neuen) Tätigkeit mündete. Karl Mitteldorf wurde als erster Fall ausgewählt. Er präsentiert einen biographischen Habitus der Anpassung, begründet im Aufwachsen als Außenseiter ohne gesicherte familiäre Bindungen. Für ihn ergibt sich mit der politischen ‚Wende‘ eine innere Notwendigkeit und Motivation, die berufliche und soziale Position völlig neu abzusichern. Hierfür stehen ihm nur begrenzte Möglichkeiten zur Verfügung – eine davon ist die Wahl des Heilpraktikerberufes. Entlang von Gelegenheitsstrukturen und Notwendigkeiten geht Karl Mitteldorf mit Fleiß und Disziplin an die neue Option heran. Kennzeichnend ist dabei seine habitualisierte Orientierung an Autoritäten und Regeln, die in die Übernahme eines machtvollen, anerkannten Konzepts (der Klassischen Homöopathie nach Samuel Hahnemann) im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit mündet. Dieses Konzept setzt er akribisch um und es gelingt ihm, seine Tätigkeit auf der Grundlage von (Bücher-)Wissen (als expertisem Sonderwissen) zu konzeptualisieren. Elsa Wessig, der zweite ausgewählte Fall, präsentiert einen biographischen Habitus der Selbstverwirklichung und persönlichen Weiterentwicklung. Auch bei Elsa Wessig bildet die ‚Wende‘ einen persönlichen Einschnitt. Sie begibt sich nun auf die Suche nach einer neuen Sinngebung ihres Lebens. Dabei geht es ihr um die Weiterführung einer erfolgreichen Karriere, der sie noch einmal eine neue Richtung gibt. Der Heilpraktikerabschluss dient ihr dabei als ‚Hilfskonstruktion‘. Elsa Wessig orientiert sich an ästhetischen, künstlerischen und handwerklichen Ausdrucksformen. Sie schöpft aus einem Fundus an neu erlernten körperorientierten, spirituellen und kreativen Ansätzen, die sie für ihre vorrangig weibliche Klientel individuell anpasst – mit ihnen gestaltet und ermöglicht sie Gesundheit. Als dritter maximaler Kontrast wurde Karin Plüschke ausgewählt. Bei ihr tritt habituell die Semantik des Geschlechts hervor. Sie verarbeitet ihre Erfahrungen im sozialen Austausch und gemeinsamen Handeln. Sie übernimmt in ihrer Familie die zentrale Rolle der Helfenden und Handelnden. Der biographische Habitus von Karin Plüschke lässt sich mit Konflikt fassen. Konflikthaft setzt sie sich mit dem Einfluss des Gesundheitssystems auf verschiedenen Ebenen auseinander. Selbst ausgebildete Krankenschwester, erfährt sie die Grenzen schulmedizinischer Möglichkeiten, als ihre Tochter im Kleinkindalter, ihre Mutter sowie ihre Schwester schwer erkranken. Als auch sie selbst schwer erkrankt, wird das Überleben für sie zum zentralen Lebensthema, auch zur biographischen Motivation für den neuen Beruf. Das neu erworbene Wissen bieten ihr Ergänzung und Alternative zur Schulmedizin. Sie wendet naturheilkundliche Verfahren auf die medizinische
4.3 Dokumentation des Forschungsprozesses
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Symptomlogik an. Dabei orientiert sich Karin Plüschke an einem alltags- und berufspraktischen Wissen. Ihr beruflicher Handlungsmodus lässt sich mit Versorgen umschreiben. Sie kritisiert die ökonomische Logik des Gesundheitssystems. Allerdings bleibt sie weiter hauptberuflich als Krankenschwester in ihm verortet, arbeitet fast ‚im Verborgenen‘ nur als Heilpraktikerin. Sie stagniert zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde. Im weiteren Analyseprozess wurden die eben zusammengefassten ersten Schlüsselkategorien zur Beschreibung des biographischen Habitus bzw. der beruflichen Handlungsmuster zum gesamten Kategorienschema (Abb. 4.1) erweitert. Dies zeigen detailliert die folgenden Kapitel. Sie sind der ausführlichen Präsentation der drei Fälle gewidmet. Beginnend mit einer kurzen Übersicht zur Interviewsituation und Praxis der Interviewten sowie der Vorstellung in biographischen Porträts, kommen die Interviewten in den Kernstellen ausführlich selbst zu Wort.
5
Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln – Wissen, wie Gesundheit hergestellt wird
5.1
Die Interviewsituation und Praxis des Heilpraktikers
Die Kontaktaufnahme zum Heilpraktiker erfolgte telefonisch. Karl Mitteldorf sagte spontan zu, nachdem er den Hintergrund des Interesses an seiner Lebensgeschichte im Kontext seiner beruflichen Entwicklung zum Heilpraktiker angehört hatte. Das Interview fand in der Praxis Karl Mitteldorfs statt. Sie befindet sich in einem Bürohochhaus und umfasst einen großen Raum. In dem Raum stehen an der Wand rechts neben dem Eingang einige Stühle wie in einem Wartebereich. Weiterhin befinden sich darin ein großer Schreibtisch, an dem sich Heilpraktiker und Patient oder Patientin während der Konsultation gegenübersitzen, sowie eine Behandlungsliege. Es gibt mehrere Büroschränke und Regale, in denen zahlreiche, v. a. medizinische und naturheilkundliche Fachbücher stehen. Auch auf dem Schreibtisch selbst finden sich aufgestapelt verschiedene homöopathische Bücher. Ihr Aussehen lässt auf einen häufigen Gebrauch schließen. Die Praxis erweckt einen funktionalen Eindruck. Karl Mitteldorf begrüßt mich freundlich, bittet mich, ihm gegenüber am Schreibtisch Platz zu nehmen, und ist bereit, ohne große Vorrede zu beginnen. Das Interview dauerte eine Stunde und 52 Minuten.
5.2
Biographisches Porträt
Karl Mitteldorf wird 1955 geboren, er ist zum Interviewzeitpunkt 59 Jahre alt. Er wächst mit dem Säuglingsalter in verschiedenen Kinderheimen auf, da seine alkoholabhängige Mutter „total überfordert“ mit ihm ist. Seinen leiblichen Vater, © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2_5
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5
Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
einen verheirateten Offizier, lernt er nie persönlich kennen. Mit fünfzehn Jahren kommt Karl Mitteldorf zu seiner Mutter zurück, die inzwischen geheiratet hat. Sein Stiefvater ist ebenfalls Alkoholiker. Die kurze Zeit im Elternhaus erlebt Karl Mitteldorf als „demütigend“. Er muss regelmäßig für seine Mutter den Alkohol kaufen, und er wird geschlagen. Er erhält keinerlei Bestärkung zur persönlichen Weiterentwicklung, z. B. das Abitur zu machen. Weil ihm der „Sinn“ fehlt, ist er unmotiviert zu lernen und durchlebt eine starke Trotzphase. Diese Jugendphase seines Lebens bezeichnet Karl Mitteldorf als „schwierig“ und „nie n graden Weg“. Er stellt sein Leben infrage, er kann nicht begreifen, dass es ihm zu Hause schlechter geht als im Heim. Mit 18 Jahren löst er sich von der Familie und zieht in ein Lehrlingswohnheim. Zwei „gute Lehrer“ unterstützen Karl Mitteldorf, seine Facharbeiterlehre in einem Maschinenbaubetrieb erfolgreich abzuschließen. Die Arbeit an der Maschine ist allerdings nicht „sein Ding“. Karl Mitteldorf fühlt sich „sehr zur Philosophie hingezogen“. Nachdem er ein Jahr als Jungfacharbeiter gearbeitet hat, wird er angesprochen, an die „Jugendhochschule“ in eine andere Stadt zu gehen, um auf eine Tätigkeit für die FDJ1 vorbereitet zu werden. Dieses Angebot nimmt er an. Dabei kommt ihm zugute, dass er noch ungebunden ist und flexibel den Wohnort wechseln kann. Erst ein paar Jahre später, 1980, lernt Karl Mitteldorf seine heutige Ehefrau kennen, 1981 und 1983 werden die beiden gemeinsamen Töchter geboren. Im sozialen Umfeld der Jugendhochschule hat Karl Mitteldorf „sehr gute Kollegen“ und schöpft „neuen Lebensmut“. Nach dem Studium kommt er in seinen Heimatort zurück und arbeitet bei der FDJ-Kreisleitung. Karl Mitteldorf hat „da […] schon, dieses Gefü:hl also du hast den Leuten was zu sagen“. Er lernt Reden zu halten, zu organisieren und wird nach einigen Jahren zur Parteihochschule delegiert. Im dritten Studienjahr wird er durch die „Wende“ „voll erwischt“. Das Thema seiner Abschlussarbeit ermöglicht ihm „zu retten, was zu retten geht“ und 1990 kann er sein Studium noch „mit Eins“ beenden. Besonders die Philosophie-Prüfung erinnert er, in der er Kant unter den „völlig neuen Bedingungen“ interpretiert. Nach dem Staatsexamen arbeitet Karl Mitteldorf als Geschäftsführer bei der damaligen PDS, merkt jedoch mit dem „sehr tiefgehenden Erkenntnisprozess“ in der Zeit der gesellschaftlichen Transformation, dass er die politische Tätigkeit unter den veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr ausführen kann. 1 Freie
Deutsche Jugend, der Jugendverband der ehemaligen DDR. Der Interviewte hat ausdrücklich zugestimmt, dass die Angaben zur politischen Verortung, im Weiteren auch seine Parteizugehörigkeit, nicht anonymisiert werden. Dies wurde als notwendig erachtet, um die mit seiner beruflichen Position verbundene Abwertung und gesellschaftliche Kontroverse im Zuge des Transformationsprozesses nicht zu verfälschen.
5.2 Biographisches Porträt
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Die berufliche Umorientierung geht Karl Mitteldorf planvoll an. Der Chefredakteur einer unter marktwirtschaftlichen Bedingungen „eingehenden“ DDRZeitschrift berät ihn hinsichtlich zukunftsfähiger Berufe in der Bundesrepublik. Er empfiehlt zwei Berufe – die des Versicherungsmaklers und des Heilpraktikers. Da sich Karl Mitteldorf nicht als „Verkäufer“ sieht, entscheidet er sich 1991 für eine nebenberufliche Ausbildung zum Heilpraktiker. Diese finanziert er mit dem Gehalt seiner hauptberuflichen Tätigkeit als Geschäftsführer. Trotz eines hohen Drucks aus seinem beruflichen Umfeld – so wird ihm mit Kündigung gedroht – absolviert er eine mehrjährige Grundausbildung an einer Heilpraktikerschule. Die amtsärztliche Überprüfung zur Heilpraktikererlaubnis nach Ausbildungsende verschiebt Karl Mitteldorf wegen des anstehenden Wahlkampfes um ein Jahr. Er schätzt ein, dass er in dieser Zeit nicht genügend Vorbereitungszeit haben wird und möchte seinen Prüfungserfolg nicht gefährden. Um sich intensiv vorbereiten zu können, schreibt er danach seine eigene Stelle als Geschäftsführer aus und beendet seine langjährige Berufstätigkeit in der Politik. Er meldet sich zunächst beim Arbeitsamt. Während der Heilpraktiker-Grundausbildung wird Karl Mitteldorf klar, dass er nicht „in der Breite“, sondern „in der Tiefe“ ausgebildet sein möchte. Zeitgleich mit der Grundausbildung beginnt er eine Weiterbildung in Klassischer Homöopathie, die er nach vier Jahren erfolgreich abschließt. Diese Weiterbildung, u. a. durch Ärzte, ist „sehr anspruchsvoll mit Prüfungen …“, „richtig wie sich das gehört“, sodass sich Karl Mitteldorf gefordert und gut auf die praktische Tätigkeit als Heilpraktiker vorbereitet fühlt. Im März 1995 besteht er die amtsärztliche Überprüfung. Im Juni des Jahres führt er mit Erfolg seine erste homöopathische Anamnese und Therapie durch – noch vor dem offiziellen Ende seiner Homöopathie-Ausbildung. Fünf Jahre dauert es, bis Karl Mitteldorf im Jahr 2000 seine Praxis im Vollzeiterwerb eröffnet. Die Entwicklung hin zu einer erfolgreich laufenden Praxis gestaltet sich für ihn schwierig. Gründe sieht er in der strukturschwachen Region mit wenig Privatversicherten. In den ersten Jahren seiner Heilpraktikertätigkeit, von 1995 bis 2000, führt Karl Mitteldorf weitere Tätigkeiten neben der Heilpraxis aus. So verkauft er z. B. Lexika für einen Buchverlag und leitet eine auf seine Empfehlung hin gegründete Außenstelle einer Heilpraktiker-Schule in seiner Heimatstadt. Beide Zuverdienste enden aufgrund seiner mangelnden Affinität zum Verkauf. Die Schule muss schließen. Es fehlt an Kurs-Teilnehmenden, da Karl Mitteldorf die Interessierten „ehrlich“ über die Schwierigkeiten des Heilpraktikerberufes aufklärt. Karl Mitteldorf besucht weitere homöopathische Fortbildungen und erlernt Methoden wie die Ohrakupunktur, Reiki und die Dorn-Methode zur Therapie von
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5
Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
Wirbelsäule und Bewegungssystem. Letztgenannte Methode führt er erfolgreich an Patientinnen und Patienten durch, während er Reiki eher bei sich selbst anwendet, zur Regenerierung nach dem anstrengenden Praxisalltag oder als Strategie der Prävention. Basis und Hauptanteil seiner Praxistätigkeit bildet die Klassische Homöopathie. Bei der Diagnostik geht Karl Mitteldorf „strukturiert“ vor, wie er es bei „seinen Ärzten“ gelernt hat. Neue Patientinnen und Patienten werden gebeten, vor der ersten Konsultation einen Fragebogen auszufüllen, damit er sich intensiv auf die Behandlung vorbereiten kann. Für die Erstanamnese plant Karl Mitteldorf etwa zwei bis zweieinhalb Stunden ein. Patientinnen und Patienten, die weiter entfernt leben, berät er auch telefonisch. Neben seiner nunmehr 16-jährigen Praxistätigkeit in Vollzeit unterrichtet Karl Mitteldorf auch an einer Heilpraktikerschule. Diese Tätigkeit möchte er allerdings beenden, da, aus seiner Sicht, die ökonomische Motivation der Schule die fachliche Qualität dominiert. Dies sieht Karl Mitteldorf kritisch. Als Motivation für die Tätigkeit in dem heilenden Beruf führt Karl Mitteldorf auch verschiedene gesundheitliche Probleme an, die erstmals mit seinem 18. Lebensjahr auftreten. So wird er 1973 mit Verdacht auf Multiple Sklerose aus der NVA2 ausgemustert. Die Diagnosefindung durch die behandelnden Fachärzte ist von negativen Erfahrungen begleitet. So wird er z. B. als „Simulant“ verdächtigt, der den Armeedienst umgehen möchte. Diese Erlebnisse sowie auch die Hilflosigkeit im Umgang mit seiner alkoholkranken Mutter als Kind und Jugendlicher schätzt Karl Mitteldorf als hilfreiches Hintergrundwissen ein, um empathisch auf seine Patientinnen und Patienten zugehen zu können. Die damaligen gesundheitlichen Beschwerden hat Karl Mitteldorf heute nicht mehr. Allerdings beobachtet er körperliche Symptome, wenn er „zu sehr unter Druck“ gerät. Er lernt früh „aus Erfahrung“, wie er seine Beschwerden bessern oder diesen vorbeugen kann, indem er z. B. besondere Tees trinkt und im Verlaufe seines Lebens mehr und mehr ein gesundheitsförderliches „Heilpraktikerleben“ führt. Eine persönliche Belastung ist für Karl Mitteldorf, dass seine Ehefrau, eine Diplom-Elektroingenieurin, nach der ‚Wende‘ nicht wieder in eine berufliche Perspektive findet. Er versucht, sie in seine Praxis einzubinden, z. B. in die Buchführung. An den Wochenenden arbeitet er nur in Ausnahmefällen, um seine Frau „etwas aufzurichten“. Karl Mitteldorf möchte noch etwa fünf Jahre arbeiten, dann wird er 65. Er hat sich vorgenommen, auch danach seine Dauerpatienten weiter zu behandeln und hat dies auch bereits mit ihnen besprochen. Zu seiner beruflichen Tätigkeit 2 Nationale
Volksarmee der ehemaligen DDR, in der ein Wehrdienst abzuleisten war.
5.3 Kernstelleninterpretation
183
sagt er: „das macht Spaß wenn ich vergleiche was ich da bei der FDJ … machen musste … letztendlich alles gelogen gewesen … und dann die Sinnentleerung zur Wende … und hier praktisch den richtigen Riecher gehabt“.
5.3
Kernstelleninterpretation
5.3.1
Eingangspassage
‚Wende‘ und „tiefgehender Erkenntnisprozess“ E: … ähm, nja mit der Wende war alles neu, ich hab vorher in der Politik gearbeitet ich war mal im Jugendverband? also Freie Deutsche Jugend nannte sich das damals FDJ //mhm//, äh Frau Merkel war ja auch Mitglied ist bekannt, nja und ähm, hab dort praktisch so Grundlagen der Kommunikation kennengelernt wie geht das so mit Menschen, wie kann man Menschen, helfen ne? also es war damals natürlich /nicht die richtige Art ((lacht)) wie ich dann 1989 begreifen durfte, und die Jahre danach äh ne? das war natürlich n sehr starker, Erkenntnisprozess n sehr tiefgehender Erkenntnisprozess der mir dann aber vermittelt hat also äh, nachdem ich zwar vier Jahre noch bei der heutigen Linken damals PDS als Geschäftsführer in A-Stadt gearbeitet habe? //mhm// ähm: nee das bringt’s nicht mehr du wirst zu sehr verbogen, äh das kannst du auf keinen Fall bis zur Rente durchzie:hn,
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5
Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
das krist du nich hin da du gehst da, wirst krank. ne? (21–30)3 )4
Karl Mitteldorf markiert die „Wende“ als Startpunkt für die berufliche Neuorientierung. Er konstruiert die ‚Wende‘ als Zäsur. Das „alles neu“ verweist darauf, dass sie zu einem umfassenden Wandel der sozialen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse geführt hat. Der politische Wandel ist zweifelsohne für Karl Mitteldorf der gravierendste. Hiervon ist er direkt betroffen, wie in den folgenden Ausführungen zum Ausdruck kommt. Er arbeitet vor der ‚Wende‘ „in der Politik“ – im Jugendverband der DDR, der FDJ. In dieser Nachwuchsorganisation der SED werden Jugendliche zu sozialistischen Persönlichkeiten herangebildet. Die hauptberuflichen Mitarbeiter wie Karl Mitteldorf spielen dabei eine entscheidende Rolle. Wie eine Rechtfertigung, oder auch Legitimation, nichts ‚Unlauteres‘ getan zu haben, erscheint der Verweis darauf, dass auch die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Jugend Mitglied in der FDJ war. Die Mitgliedschaft ist also kein Makel bzw. Hindernis, auch im neuen politischen System anerkannt zu sein. Karl Mitteldorf wählt hier die Frau an der Spitze politischer Hierarchien der BRD als Beispiel aus – eine anerkannte Autorität. Dabei vernachlässigt er den Unterschied zwischen der gesellschaftlichen Erwartung an eine Jugendliche in der DDR, Mitglied der FDJ zu sein, und einer hauptberuflichen Tätigkeit in dieser Organisation. Karl Mitteldorf selbst führt vorher seine Berufstätigkeit in der FDJ ähnlich ein wie man umgangssprachlich auch eine allgemeine Mitgliedschaft hätte einführen können („ich war mal im Jugendverband“). Seine tragende Rolle im politischen System der DDR spielt er damit herunter. Wichtig ist ihm vielmehr, dass er dort „Grundlagen der Kommunikation“ erlernt, auf eine „praktisch[e]“ Art, an die er gut anschließen kann. Die Arbeit mit Menschen ist ihm wichtig: „Wie geht das so mit Menschen, wie kann man Menschen, helfen“ – hier schwingt der Aspekt der Lenkung in eine bestimmte Richtung (die des sozialistischen Deutungssystems der ehemaligen DDR) mit. Es deutet sich hier an, dass
3 Diese
Angaben beziehen sich auf die Zeilennummern im Originaltranskript. In diesem wurde der Text durchgängig geschrieben, während hier die Aussagen grob in propositionale Einheiten gegliedert dargestellt sind. Die tatsächliche Zeilenanzahl stimmt deshalb nicht immer mit der Anzahl in Klammern nachgewiesener Zeilen überein. Dies dient einer besseren Übersicht und Verständnis. 4 Karl Mitteldorf geht in seiner autobiographischen Stegreiferzählung nicht chronologisch vor. In der Kernstelleninterpretation wird dies deutlich. Zu Beginn wird der Darstellungslogik Karl Mitteldorfs gefolgt. Später wird sie, gemäß der Logik der axialen und selektiven Kodierung, verlassen.
5.3 Kernstelleninterpretation
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es sich keineswegs um eine macht- und hierarchiefreie Vorstellung von Kommunikation handelt. Karl Mitteldorf betont das Wort „helfen“. Er lässt eine kurze Pause, bevor er es ausspricht. Es gibt also Jugendliche, die ‚Hilfe benötigen‘ – vielleicht, wenn sie aus „beschädigten Familienverhältnissen“ (Geulen 1998: 45) kommen5 , oder wenn sie sich, u. U. aus der Lebensphase der Pubertät, aber vielleicht auch aus einer tiefergehenden kritischen Sicht heraus, nicht im erwünschten Maße in die Gesellschaft eingliedern bzw. auf ihrem Weg dorthin ihre Schwierigkeiten haben. Dann weiß Karl Mitteldorf, wie er diese Jugendlichen unterstützen kann. Die staatliche Organisation der FDJ hat einen umfassenden und homogenisierenden Einfluss auf die Jugendlichen jener Zeit (vgl. Geulen 1998: 70 f., 73 f.), denn durch die VollzeitBerufstätigkeit beider Eltern ist ein „reduziertes Familienleben“ (Geulen 1998: 70)6 Merkmal jener Generation von Jugendlichen. Allerdings „durfte“ Karl Mitteldorf mit dem neuen politischen System „begreifen“, dass dies „damals natürlich /nicht die richtige Art ((lacht))“ war. Dies ist ein schmerzhaftes Erkennen eines Irrtums: Er lacht, als er dies einführt, ebenso verweist die distanzierte Formulierung ‚begreifen dürfen‘ darauf. Andere haben ihm gesagt, dass seine Arbeit vorher falsch war, die Erkenntnis fußt nicht notwendigerweise auf einem selbstreflexiven kritischen Prozess. Er schien sich mit dem System identifiziert zu haben. Mit „natürlich“ deutet sich an, dass Karl aus der Sicht heutiger Werte auf die damalige Berufstätigkeit schaut. Die Erkenntnis setzt abrupt ein („1989“), deren Verarbeitungsprozess setzt sich noch in den nächsten Jahren fort. Der „Erkenntnisprozess“ wird zum Akteur, der Karl Mitteldorf vermittelt, dass er nicht bis zur Rente in der Politik weiterarbeiten kann. Worin genau der Erkenntnisprozess besteht bzw. wie er abläuft, erfahren wir nicht. Karl Mitteldorf hat noch vier Jahre eine Geschäftsführerposition bei der Nachfolgepartei der SED, der damaligen PDS, inne. Er hält dort mehr oder weniger aus, versucht sich anzupassen, worauf die Konstruktion des „zwar“ verweist, die zugleich die überraschend lange Zeit einführt, in der er eigentlich schon weiß, dass er dort nicht bleiben kann und wird. Bei der PDS scheinen in der Phase 5 Wie
Karl Mitteldorf selbst, wie wir an späterer Stelle erfahren. zeigt auf, dass trotz der Einschränkungen der Sozialisationsinstanz Familie und des starken Einflusses der staatlichen Instanzen bei den 1960er Kohorten nicht eine „starke und ungebrochene Identifikation und Loyalität“ (Geulen 1998: 74) mit der DDR folgt, sondern in dieser untersuchten Kohorte „auf der Basis einer undogmatischen, demokratisch zu nennenden Grundorientierung – die schärfsten Kritiker an der politischen Kultur der DDR“ (Geulen 1998: 74) zu finden sind. Dies verweist auf ein Auseinanderklaffen des Selbstverständnisses einer ‚bildenden Institution‘ wie der FDJ mit den tatsächlichen ‚Lerneffekten‘.
6 Geulen
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5
Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
der Orientierung an die demokratischen Politikstandards und im Ringen um einen Umgang mit dem alten und neuen System und der Nachfolgeposition der SED intensive und anstrengende Aushandlungs-, Modernisierungs- und Anpassungsprozesse vor sich zu gehen. Sie werden die individuelle und kollektive Ebene tiefgreifend berührt haben. Für Karl Mitteldorf „bringt’s [das] nicht mehr“. Er wird „zu sehr verbogen“, sodass er fürchtet, in der noch langen Berufsphase bis zum Renteneintritt „krank“ zu werden. Auch aus dieser letzten Passage lässt sich folgern, dass er sich in stärkerem Maße mit dem politischen System der ehemaligen DDR, das nun entwertet wurde, identifiziert hatte. So kann er mit der neuen politischen Ausrichtung der PDS nicht mitgehen. Karl Mitteldorf erfährt mit der „Wende“ einen umfassenden Zwang der biographischen Umorientierung, der sich hier ankündigt. Er spürt ihn ‚leiblich‘. So wird Karl Mitteldorf an dieser Stelle auch erstmals umgangssprachlicher in seinen Aussagen, auch wenn er analytisch argumentiert. Die folgende Passage gibt Hinweise auf die Orientierung Karl Mitteldorfs.
5.3.2
Die Entscheidung, Heilpraktiker zu werden
Zwei berufliche Optionen E: … so und äh:m ja. was machen äh 1991 hab ich mich denn aber doch schon entschieden äh weil ich, äh Abonnent war, einer Zeitschrift aus DDR-Zeiten die hieß A-Zeitschrift. und der Chefredakteur dem war klar das Blatt, kann gegen den Blätterwald nich mehr anhalten hier äh gegenhalten, das wird eingehen aber er hat’s gut gemeint mit uns Ossis und hat uns Tipps gegeben was für Berufe könnten denn Zukunft haben in der Bundesrepublik. und daraufhin hat er zwei, aufgezählt einmal Versicherungsmakler, und einmal Heilpraktiker. so. Versicherungsmakler kam für mich schon gar nich infrage weil ich wusste keine Versicherung hat nur Bonbons zu verteilen, ich müsste die Leute zum Teil, anlügen, ich müsste also knallharten Verkauf machen um meine Provision zu sichern
5.3 Kernstelleninterpretation
187
und das is nich mein Ding. das hat mit dem Charakter zu tun (31–40)
Karl Mitteldorf steht nun vor der Überlegung, wie seine berufliche Karriere weitergehen kann. Er entscheidet sich bereits zwei Jahre nach der „Wende“ – zu einem Zeitpunkt, an dem er noch für weitere zwei Jahre Geschäftsführer bleiben wird, für einen neuen Weg, wie er hier ankündigt („1991 hab ich mich denn aber doch schon entschieden“). Dabei orientiert er sich am Chefredakteur einer Zeitschrift, die er seit Langem abonniert hatte. Die Zeitschrift wird ‚abgewickelt‘, höchstwahrscheinlich in Verantwortung des Chefredakteurs. Dass dieser aus dem Westen Deutschlands sein mag, dafür spricht die Aussage „er hat’s gut gemeint mit uns Ossis“. Dass Karl Mitteldorf diesen Begriff der „Ossis“ benutzt, deutet auf ein Erinnerungsschema hin, aus dem er spricht. Hier schließt er an die soziale Praxis jener Zeit an, in der im Osten Deutschlands die Begriffe ‚Ossi‘ und ‚Wessi‘ alltäglich benutzt wurden. Der Chefredakteur muss zwar die Zeitschrift „eingehen“ lassen, kann aber den „Ossis“ noch „Tipps“ geben für eine Berufswahl mit Perspektive in der BRD. Er bietet zwei Berufe an: Versicherungsmakler und Heilpraktiker. Das „so.“ verweist auf die Unabänderlichkeit oder Unverrückbarkeit der Situation. Karl Mitteldorf deutet die Auswahl der beiden Berufe aus einer perspektivischen Sicht („was für Berufe könnten denn Zukunft haben“). Warum mag der Chefredakteur gerade diese beiden Berufe vorgeschlagen haben? Plausibel erscheint, dass der Chefredakteur diese begrenzte Auswahl aufgrund der politischen Berufsbiographie Karl Mitteldorfs gewählt hat. Mit journalistischem Hintergrund und aus der Leitungsposition heraus kennt er den gesellschaftlichen Diskurs jener Zeit in seiner scharfen Kritik am politischen System der DDR sowie den restriktiven Umgang mit einer Eingliederung staatsnaher Positionsinhaber in neue (legitimierte) berufliche Kontexte. In beide vorgeschlagenen Berufe ist ein Quereinstieg relativ unkompliziert möglich. Die Versicherungsbranche hat zu jener Zeit einen neuen Markt zu erschließen und einen dementsprechend hohen Bedarf an selbstständigen Mitarbeitern, was sich, oberflächlich betrachtet, in ‚lukrativen‘ Arbeitsangeboten widerspiegelt. Es ist anzunehmen, dass sich Karl Mitteldorf wahrscheinlich wegen seiner politischen Vergangenheit nicht hätte rechtfertigen müssen. Der Heilpraktikerberuf ist in seiner praktischen Umsetzung weitestgehend ungeregelt und bietet dementsprechend breite Chancen für einen beruflichen Quereinstieg und Neuanfang. Die Berufe sind allerdings mit einer Selbstständigkeit verbunden. Damit sind die Akteure auf sich selbst gestellt: ökonomisch, aber auch organisatorisch. Hinzu kommt, dass der Beruf des Versicherungsmaklers ein eher niedriges Ansehen in
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
der Gesellschaft genießt. Auch der Heilpraktikerberuf wird kontrovers diskutiert und kann in der ehemaligen DDR auf keine Tradition zurückblicken. Damit wird klar, dass diese Statuspassage neben der Perspektive auch ein hohes Risiko in sich birgt. Karl Mitteldorf schließt die Option, Versicherungsmakler zu werden, kategorisch aus, denn die ökonomischen Interessen von Versicherungsunternehmen sind ihm durchaus bewusst („weil ich wusste keine Versicherung hat nur Bonbons zu verteilen“). Er müsste „die Leute zum Teil, anlügen, ich müsste also knallharten Verkauf machen um meine Provision zu sichern“. Dies entspricht nicht Karl Mitteldorfs Stärken und Interessen („und das is nich mein Ding“), ebenso wenig seinem moralischen Anspruch. Er begründet dies, aus einer Distanz heraus, „mit dem Charakter“. Es bleibt also nur die Berufsoption des Heilpraktikers, auch wenn davon auszugehen ist, dass sie wahrscheinlich nicht im Orientierungshorizont Karl Mitteldorfs gelegen hätte: „Versicherungsmakler kam für mich schon gar nich infrage“. Wenn man diese Aussage weiterdenkt, könnte hier ein ‚Heilpraktiker na ja‘ oder ‚Heilpraktiker schon eher’ folgen‘. Karl Mitteldorf scheint keine anderen Perspektiven in Betracht zu ziehen als die, die der Chefredakteur empfiehlt. Er bringt diesem Mann, einer Autorität, einen großen Vertrauensvorschuss entgegen. Immerhin wird er auf dessen Empfehlung eine neue berufliche Karriere aufbauen und damit lange Jahre seines Lebens kanonisieren. Dies deutet aber auch auf eine gewisse Pragmatik hin: Es muss gehandelt werden, dazu braucht es eine Idee. Karl Mitteldorf ist zwar unsicher über die Perspektiven, aber entschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen. Dabei orientiert er sich an der machtvollen Seite des neuen Systems, die durch den Chefredakteur vertreten wird. Gleichzeitig wird in dieser Passage sein Distinktionsbemühen gegenüber den ehemaligen Berufskollegen deutlich. Der Chefredakteur ist nach Angela Merkel die zweite Person, die in das Interview eingeführt wird. Die Orientierung Karl Mitteldorfs an (fast ausschließlich männlichen) Autoritäten, gestützt durch machtvolle institutionalisierte Deutungssysteme, wird hier deutlich. Sie wird durch weitere Stellen des Interviews empirisch bestätigt. Woher kommt diese Orientierung an starken und einflussreichen Autoritäten sowie die Tendenz zur (Über-)Anpassung? Hinweise auf den Erwerb des Habitus geben Interviewpassagen, in denen Karl Mitteldorf über seine Kindheit und Jugend spricht. Die folgende Passage bildet den Beginn des zweiten großen Erzählstranges des Interviews von Karl Mitteldorf, in dem es um die Bewältigung der schwierigen Lebensverhältnisse in seiner Kindheit und Jugend sowie das Finden einer stabilen
5.3 Kernstelleninterpretation
189
Lebenssituation geht. Karl Mitteldorf führt argumentativ in diesen zweiten Erzählstrang mit einer Reflexion über psychologische Weiterbildung, das Verstehen des eigenen Gewordenseins sowie, darauf aufbauend, der Fähigkeit der Empathie ein.
5.3.3
Sozialisation – Habituserwerb
Der Einstieg – Auseinandersetzung mit psychologischen und sozialen Aspekten von Erkrankung, Fähigkeit zur Empathie auf Basis eigener biographischer Erfahrung E: … und da mm- möchte ich auch nochmal von vorne anknüpfen, wie war das eigentlich, äh ich hab natürlich auch psychologisch ne Menge äh verstanden stud:iert äh, zum Beispiel arbeite ich gerade ähm mir ein Buch durch „Die seelischen Krankheiten des Menschen“, hab da noch wieder viele Sachen verst:anden woher kommt was, äh und äh bin auch durch die Homöopathie selbst da geht es auch viel um Seele Geist und Gemüt, was äh, für Irritationen Traumata und so führen den Menschen wohin, und bin natürlich auch (tolerant) auch da hinaus äh immer, äh aktiv äh um mich selber praktisch immer besser kennenzulernen. und da hat zum Beispiel ich weiß nicht ob Sie die Schauspielerin Katrin Sass, kennen? I: Mhm E: Ähm: die hat n interessanten Satz gesagt in einem ihrer letzten Filme, äh: „Wenn man selbst äh n:ur äh sozusagen Schläge bek:am und und nicht so ne schöne Kindheit hatte“ ne? was bei mir der Fall war, äh joa dann kann man äh auf jeden Fall, äh anderen vielleicht daraus heralso aus der Erfahrung heraus helfen.
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
dass man mehr Empathie hat, mehr Verständnis hat für Menschen, denen es eben auch, schlecht geht äh die niemand so richtig verstehen kann oder, was wo andere überfordert sind oder einfach auch, ähm n:icht die Empathie haben so ne? das zu verstehen wie geht’s dem oder der eigentlich, was hängt da dran, das is alles zu anstrengend für andere, und das is so mein Metier wo ich, ä:h mich, verstehe wo ich sage: „Ja ich, verstehe den Patienten in seiner Situation“ (121–141)
Karl Mitteldorf sucht zunächst analytisch einen Zugang, um auf sich und seine schwierige familiäre Vergangenheit zu sprechen zu kommen. Dass ihm dies nicht leichtfällt, zeigen u. a. die Unsicherheitsmarkierer („äh“, stottern, Abbrüche) in dieser Passage. Mit dem Rückbezug auf den Erzählimpuls der Interviewerin („und da mm- möchte ich auch nochmal von vorne anknüpfen, wie war das eigentlich“) verdeutlicht er, dass es neben dem gesellschaftlich konstituierten Druck einer beruflichen Neuorientierung einen weiteren Impuls in seinem Leben gab, der ihn auf den Weg der alternativen Heilkunde führte. Karl Mitteldorf setzt sich im Zuge seiner neuen Aus- und Weiterbildungen mit psychischen, psychologischen und geistigen Aspekten von Erkrankung auseinander und geht davon aus, dass er sich dadurch selbst immer besser kennengelernt hat („äh ich hab natürlich auch psychologisch ne Menge äh verstanden stud:iert äh“). Diesen Erkenntnisprozess bestreitet er intensiv, worauf das Wort „stud:iert“ verweist. Darauf, dass dieser noch nicht abgeschlossen ist, verweist neben der Dehnung des Wortes studieren (womit er auch das davor verwendete Wort „verstanden“ korrigiert) der nachfolgende Hinweis auf die Lektüre Karl Mitteldorfs, die er gerade intensiv ‚durcharbeitet‘ („zum Beispiel arbeite ich gerade ähm mir ein Buch durch „Die seelischen Krankheiten des Menschen““). Hier findet Karl Mitteldorf offenbar weitere Erklärungen für sich selbst, das eigene Gewordensein, und für die Entstehung von seelischen Erkrankungen, auch wenn er unkonkret bleibt darin, worin der Selbsterkenntnisprozess besteht, oder auch, was genau ihn an der Lektüre fesselt („hab da noch wieder viele Sachen verst:anden woher kommt was, äh“).
5.3 Kernstelleninterpretation
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In seinem Rückbezug auf die Homöopathieausbildung, zu der die Auseinandersetzung mit seelischen und geistigen Ursachen von Erkrankung gehört („und äh bin auch durch die Homöopathie selbst da geht es auch viel um Seele Geist und Gemüt, was äh, für Irritationen Traumata und so führen den Menschen wohin“), verweist er zudem implizit auf soziale Dimensionen von Erkrankung („Irritationen Traumata und so“), ohne sie jedoch als solche zu reflektieren und ohne konkret zu werden, z. B. „wohin“ sie führen. An dieser Stelle geht Karl Mitteldorf zunächst zwar weg von der körperlichen Ebene, interessant ist in seiner Argumentation aber die hergestellte Kausalität, die gleichzeitig auf die Dichotomie von Körper, Leiblichkeit und Seele verweist. Es gibt offenbar eine hier ausgeblendete Bühne von Medizin und körperlichen Symptomen sowie eine (innere) Bühne von Seele(nheilkunde), leiblichem und sozialem Erfahren. Die Frage stellt sich, ob und wie in der Naturheilkunde bzw. Homöopathie die Aspekte „Seele Geist und Gemüt“, z. B. auf der Ebene des Subjekts, wieder zusammengeführt werden oder weiter als Dichotomie bestehen bleiben. Oder auch, wie es konkret Karl Mitteldorf gelingt, dies in seiner Heilpraktikertätigkeit auf Subjektebene zu verknüpfen. An dieser Stelle argumentiert er zunächst, dass er diese Betrachtung von Erkrankung zulässt – wenn auch etwas skeptisch („und bin natürlich auch (tolerant)“) – und sie als aktive Möglichkeit der Selbsterkenntnis nutzt („auch da hinaus äh immer, äh aktiv äh um mich selber praktisch immer besser kennenzulernen“). Dieser Prozess aktiver Selbsterkenntnis mag durchaus auch zum Bestandteil homöopathischer Ausbildung gehören. Karl Mitteldorf geht allerdings darüber hinaus. Er nimmt Bezug auf eine ostdeutsche Schauspielerin, die ebenfalls schwierige lebensgeschichtliche Umstände bewältigt (hat)7 . Karl Mitteldorf kann biographisch an einen Satz anschließen, der ihm aus einer Filmrolle in Erinnerung geblieben ist. Selbst erlittene schwierige Umstände können helfen, anderen Menschen mit mehr Verständnis zu begegnen. In diesem Zusammenhang erwähnt Karl Mitteldorf erstmalig und wie beiläufig, dass er genau diese Erfahrungen gemacht hat, auf die die Schauspielerin in ihrem Satz abhebt („was bei mir der Fall war“). Karl Mitteldorf konstruiert einen direkten Zusammenhang zwischen der Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und ihnen zu helfen, sowie den eigenen biographischen Erfahrungen. Allerdings relativiert er die zunächst absolute Aussage („äh auf jeden Fall, äh anderen vielleicht daraus her- also aus der Erfahrung heraus helfen“), bleibt abstrakt und distanziert. Diese Fähigkeit der Empathie, des geduldigen Nachfühlens und Verstehens soll sich quasi selbstläufig, aus dem 7 Kontextwissen.
In der Argumentation Karl Mitteldorfs ist nicht ganz deutlich, ob er zwischen Schauspielerin als Person und gespielter Rolle klar trennt.
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
alltäglichen Erfahrungswissen heraus, einstellen. Denkt man aus professionstheoretischer Sicht weiter, stellt sich z. B. die Frage, ob und inwieweit Karl Mitteldorf Konzepte wie Nähe und professionelle Distanz, aber auch die Notwendigkeit eigener biographischer Aufarbeitung und ggf. Supervision schwieriger Therapeutin-Klientin-Beziehung/Interaktion kennen und reflektieren gelernt hat. Allerdings zeigt sich hier auch, dass professionelles Wissen auf alltagsweltlichem Wissen aufbaut. Die weiteren Ausführungen verweisen auch auf eigene biographische Erfahrungen, in denen Karl Mitteldorf möglicherweise auf Unverständnis und Überforderung des Umfeldes gestoßen ist. Er möchte genau hier in seiner therapeutischen Arbeit ansetzen. Er fühlt sich dort wohl, wo andere aufgeben oder aufgegeben haben, im Bemühen um das Verstehen des „Patienten in seiner Situation“. Karl Mitteldorf wechselt vom man zum ich, wenn er die Passage emphatisch beendet mit: „wo ich sage: „Ja ich, verstehe den Patienten in seiner Situation““. Wie ihm dies gelingt, wie er die Empathie und das Bemühen um ein ganzheitliches Verstehen des Patienten in eine gemeinsame Interaktion umwandelt und ob er dabei wirklich die Subjektebene erreicht oder eher von einer expertokratischen Deutungsebene von Erkrankung in verschiedenen Dimensionen ausgeht, bleibt hier ungeklärt. Der Modus der Argumentation lässt an dieser Stelle Letzteres vermuten, auch wenn ein hoher moralischer Anspruch dahintersteht. Diese Eingangsargumentation und Eigentheoritisierung ermöglicht Karl Mitteldorf nun, mehr zu den schwierigen Umständen seiner frühen Kindheit zu sagen.8 Die folgende Passage schließt sich direkt an. Kindheit in verschiedenen Heimen E: … da sind- es is sagenhaft wie viele also, deren Eltern oder Partner Alkoholiker sind zum Beispiel, bei mir war’s, meine Mutter, äh sie war total überfordert sie hat mich gleich ins Heim gegeben das, es gab hier mal ein Säuglingskinderheim in A-Stadt, … /ja: ((seufzt)) da bin ich die ersten drei Jahre gewesen un-ungefähr ich weiß gar nich mal so genau ne? 8 Sie
wurde deshalb an dieser Stelle, unter Berücksichtigung der Darstellungslogik des Erzählers, interpretiert. Sie hätte auch unter Abschnitt 5.3.7 eingeordnet werden können, in dem es um die biographische Selbstreflexivität Karl Mitteldorfs geht.
5.3 Kernstelleninterpretation
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also ich hab’s nur immer mal so sp- ja, sporadisch mitbekommen, dann war ich drei Jahre oder vier Jahre in A-Dorf das ‘s im A-Landkreis am wunderschönen A-See, da hab ich natürlich so die ersten Erinnerungen meiner Kindheit, und auch sicherlich die Verbindung zur Natur, ne also so herrlich wie es da ist, und äh nach wie vor und damals eben auch war, äh das hat schon geprägt denke ich, äh und dann bin ich in B-Dorf acht Jahre gewesen. das is hier an der, A-Bundesstraße Richtung ja äh C-Stadt ne, also D-Stadt äh, das is ein Schloss ein ehemaliges und, äh: da war ich bis 1970 bis zum fünfzehnten Lebensjahr (141–152)
Karl Mitteldorf führt aus seiner Erfahrung als Heilpraktiker ein, dass es sehr viele Menschen gibt, die Alkoholiker unter ihren Angehörigen haben. Mit dieser biographischen Erfahrung ist er also nicht allein. Seine Mutter war alkoholabhängig und „total überfordert“, sodass sie sich „gleich“ mit der Geburt Karl Mitteldorfs nicht in der Lage sieht, ihn großzuziehen. Karl Mitteldorf führt an dieser Stelle erstmals seine Mutter ein. Er sagt jedoch nichts weiter zu ihr, übergeht sie fast, was auf einen schmerzhaften, vielleicht (noch) nicht endgültig aufgearbeiteten Prozess deutet. Karl Mitteldorf wächst seit der Geburt bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr in verschiedenen Heimen auf. Dabei erfahren wir an dieser Stelle nichts über die Bedingungen und sozialen Beziehungen in den verschiedenen Heimen, abgesehen davon, dass es jeweils an einer langjährigen Kontinuität in einem Heim fehlt. Scheinbar gibt es bestimmte strukturelle Begrenzungen, die einen mehrfachen Wechsel des Heimes notwendig machen, wie z. B. das Alter der dort lebenden Kinder. Der Begriff „Säuglingskinderheim“ verweist darauf. Genaue Umstände erinnert er kaum, vor allem nicht in den ersten Lebensjahren. Was Karl Mitteldorf zunächst genauer beschreibt, sind die örtlichen Bedingungen, unter denen er aufwächst. Eine besondere Rolle scheint die idyllische Lage der Heime zu spielen. Die Wahrnehmung der Natur fällt mit Karl Mitteldorfs ersten Kindheitserinnerungen zusammen, und seine Naturverbundenheit ist bis heute geblieben, wie er deutet. Vielleicht bot die Natur ihm einen Rückzugsraum vom Heimalltag. Die Evaluation: „ne also so herrlich wie es da ist, und äh nach wie vor“ verweist darauf, dass er den Ort später wieder besucht hat.
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In der immanenten Nachfragephase erzählt Karl Mitteldorf mehr zu den sozialen Rahmen (Situationen, Lebensmilieus und soziale Welten – die dritte kognitive Figur nach Schütze) seiner Kindheit und Jugend im Heim. Hier erfahren wir auch mehr darüber, welche Lern- und Verarbeitungsstrategien Karl Mitteldorf entwickelt, um mit den Erfahrungen und Ereignissen seines frühen Lebens umzugehen. Sich zurückhalten und anpassen E: Ja also ich sach ma ich bin mehr so n introvertierter Typ und das war vielleicht so mein Glück. also wenn ich dann ma so extrovertiert reagiert hab dann hab ich auch Dresche gekriegt im Hei:m, die ham da zum Bespiel ma so ne Prügel, äh K- äh, Phase gehabt, und haben sich dann diese die se nich leiden konnten also so drei vier, haben sich da, is ja feige zusammengeschlossen und haben gesacht: „So und jetzt holen wir uns ma den, jetzt holen wir uns ma die“ und zwei festgehalten und der andere hat geprügelt ne? also wie man es heute leider auch in schlechten Filmen sieht. aber leider auch in der Natur also, in in ah der Gesellschaft. aber, da hab ich mich geäußert hab gesagt: „Das is ja wie im im Nazi, Regime“ ne? und die hatten mich eigentlich nich aufn Zettel aber in dem Moment war ich dann auch drauf ne? //mhm// also. da hab ich gemerkt ja es is aber manchmal auch gefährlich die Meinung zu sagen ne? also. kann schon, ganz schön, wehtun. (513–523)
Karl Mitteldorf beginnt dieses Segment mit einer Selbstcharakterisierung, ein „introvertierter Typ“ zu sein. Die Eigenschaft, als ruhiger Typ nicht aufzufallen, schätzt er als glücklichen Umstand ein, denn, nun beschreibend, legt er dar, dass es Gewalt unter den dort lebenden Kindern und Jugendlichen gibt. Auch Karl Mitteldorf ist unmittelbar Betroffener – offenbar dann, wenn er sich nicht zurückhält („also wenn ich dann ma so extrovertiert reagiert hab dann hab ich auch Dresche gekriegt im Hei:m“). Macht unter den Jugendlichen im Heim wird über Gewalt verhandelt, die sich sowohl gegen Jungen als auch Mädchen richtet („jetzt holen wir uns ma den, jetzt holen wir uns ma die“), und offensichtlich durch
5.3 Kernstelleninterpretation
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eine kleine Gruppe Jugendlicher aktiv praktiziert wird. In so einer Gewaltsituation interveniert Karl Mitteldorf verbal („Das is ja wie im im Nazi, Regime“)9 . Für seinen offenen Widerspruch gegen die Gewaltpraxis wird Karl Mitteldorf nun selbst verprügelt, auch wenn er bis dahin nicht zu den bevorzugten Opfern der ‚Schlägergruppe‘ gehörte. Er lernt hier auf schmerzhafte Weise, dass das offene Vertreten der eigenen Meinung gut abzuwägen ist: „da hab ich gemerkt ja es is aber manchmal auch gefährlich die Meinung zu sagen ne? also. kann schon, ganz schön, wehtun“. Mit der Konstruktion möchte Karl Mitteldorf zeigen, dass er sich mutig für Schwächere einsetzt und dabei ggf. auch ein Risiko eingeht. Wie es ihm gelingt, in der Gruppe akzeptiert und respektiert zu werden, zeigen die folgenden Passagen. Akzeptanz und Respekt E: … ich war im Sport war ich auch nich so schlecht also das war auch wichtig dass man so inner Mannschaft akzeptiert wurde dass man da mitmischen konnte, ja. hat man auch seine Anerkennung gehabt so, schwimmen tauchen und sowas hat Spaß gemacht, Volleyball und ‚j:a¿ ähm insgesamt (1) ‚muss ich‘ sagen ja hatt ich dann auch immer so n Kumpel mit dem, ich hab auch gern so, Judo hab ich später hier mal gemacht das hat mir sehr geholfen auch, dass ich so einigermaßen auch Muskulatur geerbt hab bisschen Kraft so, äh, da ham die gemerkt vielleicht war das auch aus Respekt äh: „Na mit dem leg“also n Einzelner hat sich mit mir nie angelegt. ne? (524-531)
Seine guten sportlichen Leistungen helfen Karl Mitteldorf, in der Gruppe („Mannschaft“) akzeptiert zu werden. Der Mannschaftssport scheint ein wichtiges Element zu sein in der Vergabe von Rangfolgen. Es geht Karl Mitteldorf in seiner Konstruktion um Akzeptanz und Anerkennung, aber auch um Spaß an sportlicher 9 Neben
dem risikoreichen Widerspruch gegen die Gewaltpraxis an sich ist anzunehmen, dass der explizite Verweis auf den Nationalsozialismus eine heikle Äußerung darstellte. Das Thema war gesellschaftlich tabuisiert, unhinterfragt galt es, zu den sozialistischen Werten zu stehen und die nationalsozialistische Vergangenheit abzulehnen (vgl. Geulen 1998: 49, aber auch Alheit et al. 2004). Dies mag sich in der konformen Erziehung unter Heimbedingungen noch zugespitzt haben, wie eine spätere Kernstelle zum Heimleiter bestätigt.
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
Betätigung. Er spricht hier allerdings in einer distanzierten Art („man“ z. B.). Persönlicher wird er erst, als er (nur randständig) einen „Kumpel“ einführt, mit dem er vermutlich gemeinsam Judo macht. Dieser Sport hilft ihm sehr. Er baut Muskeln auf und dieser Umstand, den er allerdings auf Vererbung zurückführt, („ich so einigermaßen auch Muskulatur geerbt hab bisschen Kraft so“) führt dazu, dass sich „n Einzelner“ „nie“ mit ihm anlegt. Es geht hier in der sozialen Welt der Jugendlichen im Heim also darum, sich in guter körperlicher Verfassung zu präsentieren. Über den Sport werden Rangordnungen definiert und damit auch Respekt vergeben. Karl Mitteldorf gelingt es, sich auf diese Weise Akzeptanz und Respekt zu verschaffen. Auch über den Sport hinaus möchte er zur Gruppe relevanter Jugendlicher („Clique“) dazugehören. Dass ihm dies gelingt, belegt die folgende Passage. „Dazugehören“ und „Mitschwimmen“ E: … und ähm, ja immer so irgendwie so in der Clique drin, äh mitgemischt so:: Laubhöhlen bauen im Herbst oder, auch ma wat ausgeschachtet, tiefer sogar, sowas da war da war ich immer dabei integriert und, auch wenn dann zum Beispiel als so, ja als Elf- Zwölfjährige die erste Zigarette geraucht haben dann war ich wurd ich integriert: (1) „Komm Karl, kriegst hier eine ab“, und so na dacht ich mir: „Oh guck an, biste anerkannt auch“ ne? das Gruppendenken dadurch werden ja viele Raucher ne? ja ich mein, man möcht dazugehören, nö die ham mich dann sogar richtig rangeholt da und so, also, öh, irgendwo, vielleicht, man hat niemandem was Böses getan, und äh, ja. dadurch war man so:, konnte man so mit-schwimmen sozusagen ne? //mhm// konnte man da so sein, Leben einigermaßen äh:, leben. (538–546)
Karl Mitteldorf ist „immer so irgendwie so in der Clique drin“. Das „immer“ verweist auf einen kontinuierlichen Zustand, während das „irgendwie so“ einen Unsicherheitsfaktor beinhaltet, der vielleicht auf das gesamte soziale Gefüge der gleichaltrigen Heimkinder ausgedehnt werden kann. Die Zugehörigkeit scheint keineswegs sicher und ein Selbstläufer zu sein und sie hängt auch nicht allein von Karl Mitteldorfs persönlicher Entscheidung ab, ob er dazugehören möchte. Dafür spricht z. B. die Aussage „da war ich immer dabei integriert“. Karl Mitteldorf bleibt hier in der Haltung des institutionellen Ablaufmusters. Er ist nicht
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der Typ des Anführers oder Cliquenbegründers, eher ein Mitläufer, der sich einbringt, wenn es erwünscht ist und dem dann wichtig ist, akzeptiert zu werden. Dabei ist er u. U. auch überrascht, dass er einbezogen wird. Es scheint so, dass Karl Mitteldorf die Dynamiken der Cliquenbildung und -zugehörigkeit in seinem kindlichen Umfeld selbst nicht bis ins Letzte durchschaut. Um dazuzugehören sind also gewisse Anstrengungen und Anpassungsleistungen notwendig, deren Erfolg offen ist. Gefragt ist im sozialen Gefüge der Clique Karl Mitteldorfs Kraft. Er bringt sich gerne ein, wenn es um körperliches gemeinsames Ausarbeiten im Freien geht („mitgemischt so:: Laubhöhlen bauen im Herbst oder, auch ma wat ausgeschachtet“). Wie stark die Zugehörigkeit in der Gruppe von anderen bestimmt wird, zeigt sich noch deutlicher in der Erzählung über die erste Zigarette: „Komm Karl, kriegst hier eine ab“. Es verwundert ihn fast, wenn er sagt: „na dacht ich mir: „Oh guck an, biste anerkannt auch“ ne?“ Um dazuzugehören, passt sich Karl Mitteldorf der Gruppe an und raucht die gemeinsame Zigarette. Auch wenn er aus heutiger Sicht die Gruppendynamik als ursächliche Triebkraft für den Beginn einer Karriere als Raucher oder Raucherin einschätzt („das Gruppendenken dadurch werden ja viele Raucher ne?“). Er war nicht aktiv bestrebt, gemeinsam zu rauchen, allerdings überwiegt das Konformitätsbestreben („ja ich mein, man möcht dazugehören“). So gibt er dem Druck der Gruppe nach, der zudem mit einer gewissen ‚Überzeugungskraft‘ ausgeübt worden sein mag („nö die ham mich dann sogar richtig rangeholt da und so, also, öh, irgendwo“). Karl Mitteldorf schließt die Passage damit, dass er die Fähigkeit der Anpassung als Garant einschätzt, unauffällig in der Gruppendynamik „mitzuschwimmen“ und mit den gegebenen Umständen so gut wie möglich, wenn auch mehr recht als schlecht zurechtzukommen („vielleicht, man hat niemandem was Böses getan, und äh, ja. dadurch war man so:, konnte man so mit-schwimmen sozusagen ne? //mhm// konnte man da so sein, Leben einigermaßen äh:, leben.“). Auf die strengen Regeln der Institution, die den Konformitätsdruck auf Karl Mitteldorf von außen erhöhen – hier insbesondere in Bezug auf die gesellschaftspolitische Dimension der Erziehung zu einer sozialistischen Persönlichkeit – verweist das folgende argumentative Subsegment. Umsetzen sozialistischer Normen durch den Heimleiter E: … weil eigentlich hatte ich zu diesem Staat ge:standen ich war ja so erzogen, muss man ja sehn äh ab- übers Heim äh der Heim:leiter der Erste das war noch Einer der nen Matrosenaufstand 1918 teilgenommen hat aktiv, Erich Knoll also, dis’s klar wie der uns erzogen hat ne,
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
wie der aufgepasst hat dass das auch alles eingehalten wird, die zehn Gebote des Sozialismus hingen im Flu:r, des Generals ne, das war die Gegenhalte zu den zehn Geboten der Bibel. ne? (706–711)
Karl Mitteldorf verweist hier auf die („eigentlich“) erfolgreiche sozialistische Erziehung im Heim. Dabei nimmt er noch einmal Bezug auf seine konforme Haltung zum Staat, die sich mit der ‚Wende‘ als falsch erweist. Seine Erziehung ist eng an seinen ersten Heimleiter gebunden, der noch aktiv am „Matrosenaufstand“ von 1918 teilgenommen hat. Militärischer ‚Drill‘, Fremdbestimmung und begrenzte Entscheidungs- und Handlungsautonomie schwingen hier mit, wenn Karl Mitteldorf beschreibt, wie der „General“ die Einhaltung der im Flur aufgehängten „zehn Gebote des Sozialismus“ überwacht. Schon das Aufhängen der Gebote in Abgrenzung zu den christlichen Geboten kann als besondere Strenge, mindestens jedoch als besonderes Vorgehen in der Umsetzung des sozialistischen Erziehungsauftrages, angesehen werden. Allerdings können klare Regeln für ein Kind ohne familiären Halt und Orientierung auch eine gewisse Stabilisierung seiner Lebenssituation schaffen. Im Alter von 15 Jahren erfährt Karl Mitteldorf eine Änderung seiner Lebensumstände, die sich als unglücklich erweisen wird. Eine kurze Jugendphase zu Hause E: … und meine=Mutter hatte inzwischen geheiratet denn, hier in A-Stadt, denn bin ich praktisch zu ihr und meinem Stiefvater, gezogen, bin dort, Gott sei Dank nur dreieinhalb Jahre, gewesen ist traurig das sagen zu müssen, weil es da eben tatsächlich verstärkt äh: Schläge gab ich musste, einkau:fen, was die gerade so trinken wollte, wonach ihr- ne? hier so Bier und Schnaps solche Sachen das war demütigend auch in den Einkaufsläden hier weil so viel gab’s da nich: „Wieder das Gleiche?“ also solche Sachen, äh und das hat mich schon sehr geprägt äh, wo ich dann auch das Leben selbst damals als Jugendlicher infrage gestellt hab gesagt hab: „Was ist das“ ne? //mhm//
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also so: „Das kann nich sein äh:: wieso geht es mir hier so:, äh noch schlechter als im Heim.“ ne? //mhm// da ging‘s mir ja im Heim vergleichsweise noch gut. //mhm// ‚und das is schon traurig‘ (152–161)
Mit dem 15. Lebensjahr zieht er „praktisch“ zu seiner Mutter und dem „Stiefvater“. Wir erfahren nichts darüber, wie sich die institutionellen Abläufe oder Aushandlungsprozesse gestaltet haben, um vom Heim in das Elternhaus zu gelangen. In einer Hintergrundkonstruktion teilt Karl Mitteldorf nur mit, dass seine Mutter inzwischen geheiratet hat. Es gibt nun also die Option auf die Integration in ein ‚normales‘ Familienleben. Diese „Gott sei Dank nur dreieinhalb Jahre“ dauernde Phase erweist sich allerdings im Nachhinein als unglücklich, wie Karl Mitteldorf als „traurig“ evaluiert. Er wird geschlagen und muss für seine Mutter den Alkohol einkaufen. Hier wird er umgangssprachlich, fast abfällig, wenn er bemerkt: „was die gerade so trinken wollte, wonach ihr- ne?“. Er unterbricht den Satz, der mit: „wonach ihr so war“ oder „wonach ihr der Sinn stand“ beendet werden könnte. Diese Erfahrungen beschreibt er als „demütigend“. In der von Mangel geprägten DDR-Zeit fällt anscheinend besonders auf, wer was einkauft. Karl Mitteldorf scheint in den Einkaufsläden als Person und in seinem Einkaufsverhalten bekannt zu sein („Wieder das Gleiche?“). Es mag Gerede gegeben haben. Vielleicht herrscht ein einvernehmliches Stillschweigen unter den Verkäuferinnen, wenn sie dem minderjährigen Karl Mitteldorf Alkohol für seine Mutter aushändigen. Wir erfahren jedenfalls nichts darüber, ob es Schwierigkeiten für ihn gab, den Alkohol trotz des bestehenden Jugendschutzgesetzes zu bekommen. Karl Mitteldorf scheint hier auch keine Möglichkeiten gehabt zu haben, den Forderungen der Mutter zu entgehen. Allerdings führt diese Lebensphase zu so einer tiefen Verunsicherung, dass er „das Leben selbst damals als Jugendlicher infrage“ stellt und nicht verstehen kann, „wieso“ es ihm „noch schlechter als im Heim“ geht. Es gibt hier (und auch im weiteren Interviewverlauf) keine Hinweise darauf, ob es eine Art von Vertrautheit zwischen ihm und seiner Mutter gegeben hat oder allgemein welcher Art die sozialen Beziehungen über Schläge und ‚Botengänge‘ hinaus gewesen sein mögen. Gewalt, Alkohol und Demütigung bestimmen das Leben Karl Mitteldorfs in den wenigen Jahren zu Hause.10 Diese kurze Phase zu 10 An anderer Stelle des Interviews spricht Karl Mitteldorf in einer Rückschau darüber, dass sein Stiefvater ebenfalls Alkoholiker war. Er erinnert besonders die „unfaire Behandlung“ (Z. 644) durch den Stiefvater, die die eigene Überlegenheit sichern soll. So spielen
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
Hause birgt durchaus Verlaufskurvenpotenzial für Karl Mitteldorfs Biographie, wenn man den ohnehin schwierigen Start ins Leben mitberücksichtigt. Im Vergleich schätzt Karl Mitteldorf sein Leben im Heim als „vergleichsweise noch gut“ ein und evaluiert dies nachdenklich (er spricht hier leise) als „traurig“. Diese argumentative Passage bestätigt die prekären Lebensverhältnisse, in die Karl Mitteldorf hineingeboren wird und in denen er aufwächst. Er kann keine verlässlichen sozialen Bindungen zu einer Herkunftsfamilie (Milieubezug, Stolz auf gemeinsame Zugehörigkeiten, Werte und Normen einer Klasse etc.) oder langfristige soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen aufbauen. Auch in dieser Zeit der Kindheit und Jugend ist der Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum von Karl Mitteldorf sehr gering. Bei der ersten Gelegenheit ergreift er die Chance, dies zu ändern. Abgrenzung von der Familie – Auszug und Lehre E: … aber, äh:m ich bin dann mit achtzehn auch mit Unterstützung meiner Ausbildungsstätte ausgez:ogen, äh ins Lehrlingswohnheim das war damals unkompliziert möglich Gott sei Dank, äh: sodass ich dann meine Lehre, allein, durchgezogen hab natürlich mit Unterstützung von zwei guten Lehrern auch die also auch, Mitgefühl hatten und gesagt hatten: „Pass auf Junge, kommst zu mir ma nach Hause, denn gehen wir ma die Gliederung durch und dann krisste auch n ordentlichen Facharbeiter äh Arbeit“ und dann hab ich zunächst äh, Zerspanungsfacharbeiter gelernt bei AMaschinenbaufirma hier //mhm// und das war aber natürlich auch nich mein Ding, äh ich war damals sehr auf Philosophie aus zum Beispiel. aber, da ich nicht bestärkt wurde auch mein Abitur zu machen ne? da hab ich eben auch so meine Krisen gehabt während der Schulzeit, dass ich eigentlich schon sechste siebente Klasse abgehen wollte, ne? //mhm// das war so stur, mit Sturheitsprinzip ich konnt’s selber- mir selber nich erklären
sie gelegentlich Schach und wenn Karl Mitteldorf kurz vor dem Sieg steht, stellt sein Stiefvater die Figuren zum eigenen Vorteil um.
5.3 Kernstelleninterpretation
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ich hab neben mir gestanden ich wusste nich, äh was soll’s, der äh Sinn war nicht recht da, und die Lehrer waren enttäuscht weil ich bis dahin eigentlich n guter Schüler war: „Ja was ist denn jetzt los? wieso, ist der nicht mehr motiviert wieso zieht der nicht mehr mit?“ äh das alles hab ich auch so hinter mir diese also nie n graden Weg also ne? das war immer so Krise, und Bruch und pff, schwierig, (161–176)
Sobald Karl Mitteldorf volljährig ist, zieht er von zu Hause aus.11 Seine Ausbildungsstätte unterstützt ihn „unkompliziert“ dabei, einen Platz im Lehrlingswohnheim zu erhalten. Außerdem erwähnt Karl Mitteldorf zwei „gute“ Lehrer, die ihn über das normale Maß hinaus („Mitgefühl“) beim erfolgreichen Facharbeiterabschluss in einer Maschinenbaufirma begleiten. So laden sie ihn zu sich nach Hause ein, um gemeinsam die Gliederung seiner Arbeit zu besprechen. Die Formulierung: „sodass ich dann meine Lehre, allein, durchgezogen hab“ deutet darauf hin, dass Karl Mitteldorf keine nennenswerte familiäre Unterstützung in seinem beruflichen Bildungsprozess erhalten hat, vermutlich auch nicht während der zwei Jahre im Alter von 16 bis 18, in denen er zu Hause lebte und gemäß dem normalen schulischen und beruflichen Ausbildungsweg seine Ausbildung bereits begonnen hatte. Die fehlende Vermittlung von Bildungsaspirationen und Karl Mitteldorfs damit verbundener Leidensdruck sowie sein Aufbegehren beginnen bereits vorher, denn er evaluiert, dass die Lehre an der Werkbank „auch“ nichts für ihn war. Vielmehr hat ihn die Philosophie interessiert. Dass er gerne mehr Zeit in seinen schulischen Bildungsprozess investiert hätte, kann daraus abgeleitet werden, dass er nun beklagt, nicht bestärkt worden zu sein, sein Abitur zu machen. Es gibt in der Zeit der Pubertät niemanden, der ihn motiviert zu lernen, sodass der vormals „gute“ Schüler Karl Mitteldorf eine krisenhafte Zeit voller Trotz und Aufbegehren („Sturheitsprinzip“) durchlebt, worauf die Lehrkräfte mit Enttäuschung 11 Neben dieser Entscheidung, sich vom Herkunftsmilieu loszusagen – Karl Mitteldorf wird hier den Kontakt zu Mutter und Stiefvater abbrechen – gibt es eine zweite Entscheidung, die Karl Mitteldorf aktiv trifft: Er lehnt ab, seinen leiblichen Vater kennenzulernen. Dieser bietet an, „ihn in seine Familie zu übernehmen“ (Zn. 580 f.), als Karl Mitteldorf volljährig wird und von zu Hause auszieht. Dies lehnt dieser mit der Begründung ab, „dass er sich die 18 Jahre auch nicht um ihn gekümmert hätte“ (Zn. 583 f.). Über diese kritische Enttäuschung hinaus gibt es keine Reflexion zu Verhalten oder Situation des leiblichen Vaters. Sowohl der leibliche Vater als auch der Stiefvater, die eine biographisch wichtige Funktion für Karl Mitteldorf hätten erfüllen sollen, haben ihn moralisch enttäuscht. Interessant ist dabei, dass sie beide als Armeeangehörige systemnah zu verorten sind.
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und Unverständnis reagieren. „Gut“ als Schüler kann hier in mehrfacher Hinsicht gedeutet werden: bezüglich des Notendurchschnitts, aber auch in Hinsicht auf die bisher erfolgte Anpassung an die Erwartung der Lehrenden, die Karl Mitteldorf nun vermissen lässt. Er ist nicht mehr „motiviert“ und „zieht […] nicht mehr mit“. Der innere Konflikt Karl Mitteldorfs in jener Zeit ist gut nachvollziehbar – gerade die Fremdbestimmtheit des Heimes hinter sich gelassen, steht er nun zwischen den Forderungen seiner Mutter und eigenen Entwicklungsbestrebungen. Für die Mutter stellt Karl Mitteldorf die notwendige Verbindung zur Außenwelt her, mit den klaren Aufgaben der Beschaffung von Alkohol und Geld (von der Sparkasse). Für sich selbst ist er auf der Suche nach seinem Platz in der Welt. Er denkt viel über sein Leben nach, worauf sein philosophisches Interesse und die Aussage „äh was soll’s, der äh Sinn war nicht recht da“ hindeuten. Vielleicht schätzt er die Philosophie als ein ‚Orientierungssystem‘, mit dem er sich die Welt erschließen kann, das ihm Denkprozesse ermöglicht und Werte vermittelt – in Ersatz und Abgrenzung zur familiären Orientierung12 . Vorstellbar ist, dass ihm kaum Zeit bleibt, sich in Bücher zu vertiefen und dass es wenig Möglichkeiten des Austausches, zumal in der Familie, für ihn gibt. Karl Mitteldorf ist gezwungen, sich seiner prekären Lage unterzuordnen und anzupassen. Es fällt auf, dass Karl Mitteldorf in dieser argumentativen Passage eher defizitär und wenig empathisch auf sich selbst blickt. Er evaluiert die Schulzeit als schwierige Zeit „also nie n graden Weg also ne? das war immer so Krise, und Bruch und pff, schwierig“. Dabei kann diese starke Formulierung des Krisenund Bruchhaften sogar über die Schulzeit hinaus gelten: Bis zu dieser Passage im Interview hat Karl Mitteldorf zwei hauptsächliche Erzählstränge eröffnet und ausgeführt – den Bruch der beruflichen Karriere durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess sowie die schwierige Kindheit und Jugend im Heim bzw. bei Mutter und Stiefvater. Allerdings steckt in der gewählten Formulierung („auch“ und „war“) auch der Verweis auf positive Veränderungen im weiteren Lebensverlauf. Neben dem Halt durch die beiden „guten“ Lehrer ergibt sich kurze Zeit später eine Wendung in Karl Mitteldorfs Leben.
12 Auch wenn davon auszugehen ist, dass die philosophische Bildung in der ehemaligen DDR ideologisch überformt war. Der Standard philosophischen Unterrichts war niedrig und es fehlte an einer kritischen theoretischen Auseinandersetzung mit den marxistischleninistischen Theorien, wie Geulen (1998) in seiner Studie zur politischen Sozialisation in der DDR herausarbeitete.
5.3 Kernstelleninterpretation
5.3.4
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Erste berufliche Karriere
FDJ und neuer Lebensmut E: … nachdem ich die Lehre vollendet hab äh war ich n Jahr als Jungfacharbeiter tätig so nannte man das ja damals, äh wurde dann mal angesprochen an meiner Maschine äh: „Sag ma willst du nich für die FDJ nich nach A-Großstadt gehen“ so und das hab ich dann auch getan, und da hab ma so die große weite Welt kennengelernt äh dass es auch, sach ich ma äh ähm ja über den über das kleine A-Stadt hinaus sehr interessante, Dinge gibt wo ich wieder neuen Lebensmut auch geschöpft habe auch, sehr gute Kollegen äh, erlebt habe muss ich sagen. ähm was Spaß gemacht hat ne? //mhm// also ja, und, dann hier wieder zurück dann Jugendverband in A-Stadt gearbeitet bei der FDJ-Kreisleitung und da wie gesagt schon, dieses Gefü:hl also du hast den Leuten was zu sagen. man musste da auch Schlusswörter halten, also das Reden hab ich da gelernt, das war dann sozusagenund das Organisieren hab ich gelernt äh, war kein Thema (177–187)
Nach einem Jahr Facharbeitertätigkeit erhält Karl Mitteldorf die Möglichkeit, sich weiterzubilden13 . Dies ist keine berufliche Weiterentwicklung im engeren Sinne, sondern er rückt, direkt von seiner „Maschine“ weg, in die politischen Organisationsstrukturen der ehemaligen DDR auf. Karl Mitteldorf führt nichts zu seinem Entscheidungsprozess aus. Er bleibt hier in der Haltung des institutionellen Ablaufmusters. Er ergreift die Chance, die sich ihm bietet, zumal die Arbeit an der Werkbank nicht seinen beruflichen Interessen entspricht. Die neue Perspektive ist mit einem Ortswechsel verbunden. Dies bedeutet nicht nur ein formaler 13 In einer späteren Passage wird deutlich, dass Karl Mitteldorf zur „Jugendhochschule“ delegiert wird. Es bleibt allerdings unklar, ob er hier einen Hochschulabschluss erwirbt oder eine längere Schulung im Sinne einer Weiterbildung durchläuft.
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Wechsel des Ortes, sondern auch eine Erweiterung seiner bisherigen begrenzten Lebenssituation. Karl Mitteldorf kommt nun in die Großstadt, in „die große weite Welt“ und erfährt, „dass es auch, sach ich ma […] über das kleine A-Stadt hinaus sehr interessante, Dinge gibt“. Wir erfahren nichts Genaueres darüber, was für ihn so interessant ist, dass er „neuen Lebensmut“ schöpft. Karl Mitteldorf gibt uns auch hier keinen Einblick in die ablaufenden Prozesse. Vielmehr konstruiert er seinen Lebensweg entlang der Lebensstationen (wo)14 . Er kommt zunächst erst einmal aus der „kleine[n] A-Stadt“ heraus und kann über den Tellerrand seiner alltäglichen Welt blicken. Hier schwingt die Langeweile seiner monotonen Tätigkeit an der „Maschine“ mit, die von vornherein nichts für ihn war, aber auch die allgemeine Begrenztheit seiner bisherigen Lebenswelt. Zu Mutter und Stiefvater hat er gerade „im Bösen“ (Z. 1482) den Kontakt abgebrochen. Es ist gut vorstellbar, dass Karl Mitteldorf in dieser Anfangszeit seiner Berufstätigkeit eher über wenig soziale Kontakte verfügt. Zumindest erfahren wir nichts über weitere relevante Andere. So ist auch nachvollziehbar, warum er in den Blick der Funktionäre des Betriebes gerät, auf ihrer aktiven Suche nach ‚Nachwuchskadern‘. Karl Mitteldorf ist ein an das System angepasster junger Mensch, unsicher und auf der Suche nach Sinn. Dass er sich diskussionslos den politisch vorgegebenen Regeln anzupassen vermag, scheint wahrscheinlich. Am neuen Ort schöpft er „neuen Lebensmut“. Er trifft auf „sehr gute Kollegen“. Wie die Qualität der Austauschmöglichkeiten ist, worüber die Kollegen sich austauschen, wie und was Karl Mitteldorf lernt, allgemein welche sozialen Prozesse ablaufen, bleibt in der Beschreibung offen. Die Formulierung „Kollegen äh, erlebt“ verweist auch hier auf den Aspekt der Anpassung/Konformität des jungen Karl Mitteldorfs, im Kontext institutioneller Prozedierung. Er genießt die Lebensphase der Weiterbildung mit neuen ‚Bildungspartnern‘ in der Großstadt. Anschließend kommt er wieder zurück in seine Stadt, geht jedoch nicht mehr an die Werkbank seines alten Betriebes, sondern arbeitet nun für die FDJ-Kreisleitung, in einer (regional) übergeordneten politischen Position des Jugendverbandes. Über seine Tätigkeit erfahren wir nur, dass er „Schlusswörter“ hält, „das Reden“ und „das Organisieren“ lernt, vermutlich, um parteipolitische, ideologisch gerahmte Veranstaltungen mit den Jugendlichen seines Kreises durchzuführen. Karl Mitteldorf empfindet in seiner Tätigkeit „schon, dieses Gefü:hl also du hast den Leuten was zu sagen“. Er kann seine neue Tätigkeit mit mehr Sinn versehen15 als seine Facharbeiterstelle an der „Maschine“. Dabei bezieht er sich 14 Dies
ist ein zentrales Merkmal seiner autobiographischen Selbstpräsentation. er die Sinnhaftigkeit an verschiedenen Stellen des Interviews mehrfach infrage stellt. 15 Wenngleich
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auf die Aspekte seiner Tätigkeit, in denen er Menschen etwas „sagen“ i. S. v. ‚geben‘ kann, hier aus einer Top-down-Perspektive. Er nimmt mit diesem „schon“ seine heutige Tätigkeit als Heilpraktiker voraus, in der er ebenfalls den Menschen etwas ‚geben‘ kann. Dabei scheint das Zuhören, die Menschen in ihren Wünschen, Träumen, Bedürfnissen, letztendlich in ihren Biographien, zu erkunden und verstehen zu versuchen, um sie darauf aufbauend zu beraten oder ihnen „was zu sagen“, nachrangig zu sein. In dieser Lebensphase konstruiert Karl Mitteldorf sein Leben nicht aus einer handlungsschematischen Perspektive, sondern in der Haltung des institutionellen Ablaufmusters. Er erfüllt Erwartungen, die an ihn gestellt werden. Dass ihm dies zur Zufriedenheit gelingt, wird in der folgenden Passage deutlich, allerdings auch, wie unsicher der nun folgende Bildungsaufstieg ist. Parteihochschule und „Wende“ E: … ach so dann hatte man mich sogar noch nominiert für die Parteihochschule und da hat’s mich mit der Wende dann auch voll erwischt im dritten Studienjahr ne? also, mehr als drei Studienjahre gibt’s da nich, aber, auch da: hab ich erstmal noch versucht, äh zu retten was zu retten geht hab praktisch ja zufällig n Thema gehabt, die Tätigkeit in den Wohngebieten der Partei und das war ja dann die Linke oder damals die PDS musste in die Wohngebiete und dadurch konnte ich praktisch noch- war ich noch aufgefangen in diesen Wirren der Wende, dass ich weiter studieren konnte, weiter die Sache vollenden konnte dann noch mit Eins verteidigt habe, im Juli 1990 natürlich schon unter völlig neuen Bedingungen ich hab in der Philosophie-Prüfung zum Beispiel weiß ich noch als da da ging’s um Staatsexamen dann, den Immanuel Kant, dafür studiert und hab den praktisch versucht zu erläutern wie ich ihn verstanden habe ne? was darf ich hoffen? was was bin ich ja? was werd ich äh eventuell, mal, was kann ich sein? äh und was war ne? welche Dinge sind in der Vergangenheit gewesen und was-
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wie hängt das alles miteinander zusammen, dass letztendlich der Mensch sich entfalten kann ne? //mhm// diese Dinge (187–200)
Karl Mitteldorf wird zur Parteihochschule delegiert. Dieses Studium absolviert er in den letzten drei Jahren der DDR. Er wird durch die „Wende“ „voll erwischt im dritten Studienjahr“. Karl Mitteldorf ist bemüht, „auch da:“ „zu retten was zu retten geht“. Dies entspricht seinem Habitus von Anpassung und Erfüllung normativer Vorstellungen. Hinzu kommt, dass er sich auf dem Weg des Bildungsund beruflichen Aufstiegs befindet, der verbunden mit einem Hochschulabschluss ist.16 Karl Mitteldorf würde ein Ziel nicht so einfach fallen lassen („weiter die Sache vollenden“ steht im Fokus), solange für ihn die Erfüllung einen Sinn hat. Vor allem aber bietet ihm der Abschluss dieses Studiums „in diesen Wirren der Wende“ Stabilität (er ist „aufgefangen“), solange ein neuer Weg noch nicht absehbar bzw. die Richtung überhaupt abschätzbar ist. In der gewählten Formulierung schwingt die Dramatik der damaligen Situation mit. Das Leben bricht in gewisser Weise zusammen. Es gibt für Karl Mitteldorf noch einen gewissen „praktischen“ Gestaltungsspielraum im Rahmen seiner ursprünglich neu angedachten Tätigkeit für die Partei. Die SED hatte sich schon umbenannt in „PDS“ und ist nun vor Ort bei den Menschen unterwegs. Das Thema der Abschlussarbeit von Karl Mitteldorf passt auf diesen Aspekt der Parteiarbeit. Im Juli 1990 verteidigt Karl Mitteldorf seine Abschlussarbeit „mit Eins“. Karl Mitteldorf ist stolz auf das erreichte Ergebnis, das er unter den schwierigen Bedingungen erreicht. Hier verweist er auf die „völlig neuen Bedingungen“, unter denen er seine Prüfungen ablegt. In der Philosophie-Prüfung zum Staatsexamen versucht er, Kant zu interpretieren. Hier fällt auf, dass er an dieser Stelle das „ich“ besonders hervorhebt. Aus einer so betonten Ich-Perspektive spricht Karl Mitteldorf eher selten über diesen Teil seines Lebens. Denkbar ist, dass die bisherige gesellschaftspolitische Rahmung oder Kanonisierung philosophischer Antworten weggefallen und Karl Mitteldorf nun auf sich selbst zurückgeworfen ist in seinen Interpretationen. Er wirft an dieser Stelle Fragen auf, entlang derer er Kant interpretierte, ohne sie zu beantworten. Er ist hier im Erinnerungsschema. In jener Zeit, als er nach und nach die falsch vertretenen Lehren „begreifen durfte“, wie er in der Eingangspassage seines Interviews sagt, und ihm eine neue Rahmung, an die er sich anpassen kann,
16 Diesen zu vollenden, entspricht seinem Bestreben nach Abgrenzung von den Lebensumständen, in die er hineingeboren wurde.
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noch nicht zur Verfügung steht, wird ihm eine reflektierte theoretische Interpretation von Weltsicht schwergefallen sein.17 Allerdings mag der Rückgriff auf die eigene Biographie ihm viele Anhaltspunkte gegeben haben. Vielleicht betont er das „ich“ deshalb so besonders. Ebenso taucht in dieser Passage dreimal das Wort „praktisch“ auf, was im weiteren Interview nicht auffällt. Dies könnte den pragmatischen Umgang Karl Mitteldorfs mit der damaligen Situation bestätigen. Dafür spricht ebenfalls der Begriff der „Sache“, die es zu vollenden gilt. Betrachtet man die benannten Fragen genauer, so erwecken sie an dieser Stelle des Interviews fast den Anschein, dass Karl Mitteldorf in Gedanken sein vorheriges Leben reflektiert und dann auch die Brücke in sein ‚neues‘ Leben schlägt18 . Außerdem endet hier ein langes Interviewsegment über psychologische Gedanken zum eigenen Leben in Rückbezug auf die Eingangsfrage der Interviewerin. Inwieweit das (‚philosophische‘) Nachdenken über das eigene Leben zu Karl Mitteldorfs Habitus gehört, kann hier nicht abschließend beantwortet werden.19 Sicher wird er zu jener Zeit viel über seine persönliche Situation nachgedacht haben, allerdings gilt es, die eigentliche Situation zunächst „praktisch“ „zu retten“. Bereits ein Jahr später wird Karl Mitteldorf seine neue berufliche Ausbildung zum Heilpraktiker begonnen haben. Mit der konkreten Aufzählung der Fragen führt Karl Mitteldorf verhältnismäßig viel zu seinem Studium, konkret der Philosophie-Prüfung zum Staatsexamen, aus, während er zu seiner Tätigkeit für die FDJ, die er immerhin mehr als zehn Jahre ausgeführt hat, im gesamten Interview wenig sagt bzw. sie eher aus einer Perspektive von Sinnlosigkeit bzw. Sinnentleerung mit der „Wende“ deutet.
17 Geulen (1998) weist nach, dass die politischen Eliten kaum theoretisch reflektiert über die Gesellschaft diskutieren. Somit kann davon ausgegangen werden, dass auch Karl Mitteldorf sich nicht in theoretisch reflektierten und vielleicht sogar kritischen Deutungen über die Gesellschaft ‚verfangen‘ hat. Dies würde seinem Habitus von Anpassung und der Suche nach Stabilität zuwiderlaufen. Allerdings mag auch zutreffen, dass in den Zeiten des politischen Wandels auch die Prüfenden unsicher waren, was sich in ‚toleranten‘ Prüfungsabläufen und -ergebnissen niedergeschlagen haben mag. 18 Dies führt er mit den nächsten Sätzen des Interviews kurz ein: „und äh, dann, bin ich wie gesagt äh als Geschäftsführer hier zunächst tätig gewesen hab aber 91, mit dem Geld dieses Gehaltes praktisch mir schon mal, diese neue Existenz, aufgebaut“ (Zn. 200 ff.). 19 Er verweist immer wieder im Interview auf seine Affinität zur Philosophie, wird jedoch nie konkret. In seine spezielle habituelle Semantik des Prekariats und Grammatik der (Über-)Anpassung fügt es sich nicht ungehindert ein – schon eher in seine Bestrebung nach Abgrenzung von den Herkunftsbedingungen und Stabilität. Es kann davon ausgegangen werden, dass er sich nicht umfassend mit theoretischer Reflexion philosophischer Fragen auseinandergesetzt hat. Es geht ihm vielmehr um ein Verstehen und Deuten seiner Welt.
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Karl Mitteldorfs Orientierung an (durch machtvolle Deutungssysteme gestützten) Autoritäten sowie Regeln und gesellschaftliche Normen (Konformismus) konnten als zentrale Merkmale seiner biographischen Lern- und Verarbeitungsstrategien herausgearbeitet werden. Im Folgenden soll speziell auf seine biographische Verarbeitung von Krankheit geblickt werden. Zudem verspricht dieser Aspekt interessante Hinweise auf die spätere Konzeptualisierung der Tätigkeit als Heilpraktiker. Karl Mitteldorf führt die Bedeutung der Erkrankungsverarbeitung selbst in sein autobiographisches Interview ein.
5.3.5
Krankheitsverarbeitung
Zu Beginn wird gezeigt, wie Karl Mitteldorf die Erfahrung der Alkoholerkrankung seiner Mutter konstruiert. Alkoholerkrankung der Mutter E: … und äh, als ich dann nach Hause kam hab ich das wahre, Bild gesehn, dass sie eben wirklich, völlig, ähm, zum, also Alkoholiker geworden ist. hab dann ja nachher erst, mit der Bundesrepublik begriffen seit 1968 eine K- eine Krankheit. ne? (1) dass der Mensch also nichts dafür kann dass er so geworden ist. (597–600)
Das Aufwachsen im Heim führt dazu, dass Karl Mitteldorf der „wahre“ Zustand der Mutter verborgen bleibt. Erst mit der Rückkehr zu ihr im Alter von 15 Jahren begreift er das volle Ausmaß ihrer Alkoholerkrankung. Dabei stellt Karl Mitteldorf in seinem Interview keine Überlegungen dazu an, wie es dazu kam, dass sie in diesen aussichtslosen Zustand geraten ist. Was für ihn zählt, ist die rückwirkende offizielle Legitimierung als Erkrankung. „Mit der Bundesrepublik“, vermutlich im Zuge seiner Heilpraktikerausbildung, erfährt er, dass der Alkoholismus seit 1968 als Krankheit anerkannt ist. Dies ist für ihn gleichbedeutend damit, „dass der Mensch also nichts dafür kann dass er so geworden ist“. Krankheit ist für ihn gewissermaßen ein Schicksalsschlag, der jemanden trifft. Karl Mitteldorf stellt keinerlei Überlegungen zur sozialen bzw. biographischen Kontextualisierung von Krankheit an. Dies wird auch in der folgenden Passage deutlich, wenn er über eine verspielte Chance seiner Mutter spricht. Hier zeigt sich auch der hohe soziale Druck, der auf der Mutter lastet.
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Hilflosigkeit im Umgang mit der Erkrankung der Mutter E: … über, Verwandte, n Onkel von mir also ihren Bruder, die dort gearbeitet haben die ham ihr ja ne Chance gegeben eigentlich ne? und auch da fing sie an zu trinken wieder, während der Arbeitszeit, und, musste-wu-wurde dann, gekündigt, also, böses, äh, Foul, ähm, sozial sozusagen was da so an Sprengstoff drin liegt, je-ne? dass man sacht: „Mein Gott, warum macht sie das? warum, ähm schadet sie sich so? wo liegt die Ursache?“ also da: schon so, ja durch diesen, direkten Mutterkontakt diese Probleme mit ihr, diese Hilflosigkeit wiederum als Sohn auch, was kann man da machen? kann man gar nichts machen. (616–621)
Der Bruder der Mutter vermittelt ihr einen neuen Arbeitsplatz, nachdem sie ihren ersten aufgrund des Alkoholismus verloren hatte. Karl Mitteldorf konstruiert dies hier als „eigentlich“ eine Chance, die ihr die Verwandten gegeben haben, was auf einen familiären Zusammenhalt verweist. Im Gegenzug wird von ihr erwartet, nicht mehr zu trinken. Wir erfahren nichts darüber, ob es flankierende Maßnahmen zur therapeutischen Behandlung oder sozialen Begleitung der Mutter gegeben hat oder ob der Bruder die Mutter anderweitig unterstützt hat als mit der Vermittlung des neuen Arbeitsplatzes. Ebenso erfahren wir (im gesamten Interview) nichts darüber, wie die Mutter selbst mit ihrem Alkoholproblem umgegangen ist. Die Mutter kann die Erwartung, ihren Alkoholkonsum einzuschränken, nicht erfüllen, was bei einer unbehandelten Suchterkrankten unter gleichbleibenden Lebensbedingungen erwartbar ist. Die Biographie der Mutter gerät ins Trudeln; vieles weist auf eine Verlaufskurve (Schütze 1995/2016a, 2016). Die Mutter trinkt wieder am Arbeitsplatz und ihr wird gekündigt. Damit scheint sie sich endgültig ins soziale Abseits manövriert zu haben, worauf die Formulierung von Karl Mitteldorf hindeutet: „böses, äh, Foul, ähm, sozial sozusagen was da so an Sprengstoff drin liegt, je-ne?“. Karl Mitteldorf spricht hier zwar die soziale Dramatik der Situation an, führt sie jedoch nicht näher aus. Im Gegenteil, die darauf gewählte Formulierung verweist in normativer Orientierung darauf, dass er seiner Mutter eine gewisse Mitschuld zuspricht: „Mein Gott, warum macht sie das? warum, ähm schadet sie sich so?“. Kausale Zusammenhänge oder bedingende Faktoren kann er nicht
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herleiten („wo liegt die Ursache?“). Wir wissen aus früheren Passagen, dass Karl Mitteldorf sich hilflos und gedemütigt fühlt im Umgang mit seiner alkoholkranken Mutter. Diese Lesart trägt auch hier. Hinzu kommt nun die Resignation durch das Wissen um die Diagnose der Alkoholerkrankung: „kann man gar nichts machen“. In Erinnerung an seine Zeit als halbwüchsiger Sohn der alkoholabhängigen Mutter fühlt er sich ohnmächtig. Die gewählten Formulierungen drücken durchweg eine Distanz aus. Die Mutter stirbt mit 44 Jahren an den Folgen der Alkoholerkrankung, nach einem Sturz. Karl Mitteldorf bleibt in seinen Aussagen in der Trauer und Hilflosigkeit verhaftet. Es finden sich wenig Aussagen mit (biographisch) reflexivem Gehalt. Früher Tod der Mutter – enttäuschte Erwartungen E: … also sie ist vierundvierzigjährig gestorben an den Folgen des Alkoholismus …20 wollte mich noch sprechen ich bin noch hin aber da war sie schon tot, also das war auch so n=sehr das hat mich schon sehr betroffen obw:ohl, wir so im Bösen auseinandergegangen sind war es meine Mutter ne. und aus heutiger Sicht sag ich auch sie war überfordert und ich hab ihr verziehn. für mich war das, ne Situation sie=sie hätte Hilfe gebraucht ne äh hat sie nicht bekommen und dadurch ist das alles so gelaufen ne, das ist einfach traurig äh und das war 1980, also ist schon 35 Jahre her ne (1470/71, 1480–1485)
In dieser Passage zeigt sich ein Stück „ungelebtes Leben“ (von Weizsäcker). Karl Mitteldorfs Mutter möchte ihn im Krankenhaus noch einmal sprechen. Er schafft es jedoch nicht rechtzeitig, bevor sie verstirbt. Damit bleibt unausgesprochen, was zwischen ihnen ungesagt ist. Dass die Mutter bei seiner Ankunft bereits verstorben ist, trifft ihn sehr, wie er analytisch darstellt – auch oder gerade 20 Weggelassen wurde, trotz der szenischen Darstellung mit hohem Detaillierungsgrad, die dramatische erzählerische Passage zum Sturz und der darauffolgenden intensivmedizinischen Behandlung mit Abschaltung der Geräte sowie einer Kritik an einem Arzt der Intensivstation, der die Beatmungsgeräte nicht so lange laufen lassen möchte und Karl Mitteldorf als Angehörigen deshalb „angeschnarrt“ hat. Karl Mitteldorf fühlt sich von ihm ungerecht behandelt.
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weil sie „im Bösen auseinandergegangen sind“. In der Rückschau schätzt er ein, dass sie „überfordert“ war. Gleich darauf folgt sein Verzeihen, in einer besonderen Betonung des „ich“. Er geht davon aus, dass er es ist, der hier verzeihen musste. Ohne auszuführen, worin die Überforderung der Mutter bestanden habe, wie sie hätte bearbeitet werden können, oder auch zum Prozess, der bei ihm zum Verzeihen geführt hat, klagt er fast an (zumindest bedauert er es), dass sie nicht die Hilfe bekam, die sie gebraucht hätte. Karl Mitteldorf geht davon aus, dass die Mutter nur aufgrund fehlender Unterstützung in die biographische Verlaufskurve (Alkoholikerkarriere) geraten ist.21 Auch hier fehlt die Darstellung sozialer Dimensionen von Erkrankungsentstehung und -bewältigung oder Gesundung. Enttäuschte Erwartungen an das Versorgungssystem, aber auch die Ohnmacht bezüglich der erlebten familiären Situation schwingen hier mit. Diese biographische Erfahrung mag dazu beigetragen haben, dass er sich heute besonders um die Patienten bemüht, die ähnliche Erkrankungen haben und sich in seine Behandlung begeben. Dass Karl Mitteldorf explizit hervorhebt, wie lange der Tod der Mutter zurückliegt, zeigt, dass ihm diese Situation noch immer nahe ist. Die biographischreflexive Bearbeitung scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Hier zeigt sich eine Passage aufwendiger argumentativer Ergebnissicherung, wie Schütze (2016: 68) formuliert. Sie kann hier mit „psychisch entlastender sekundärer Legitimationsfunktion“ (Schütze 2016: 70) gedeutet werden. Zu den biographischen Aneignungsprozessen von Krankheit bzw. Gesundung durch Karl Mitteldorf lässt sich auch anhand eigener Erkrankung etwas aussagen. Gesundheitliche Probleme und (enttäuschte) Erwartungen an den Arzt E: … ähm da muss ich dann auch wieder sagen, Gesundheit war vielleicht auch dann nich wieder auch so zufällig, ich hatte gesundheitliche Probleme als Achtzehnjähriger, massiv, mit Schwindel, also den man nich messen kann, mit Doppelbildern, die ich gesehen hab aber nich der Augenarzt, 21 Allerdings ist nicht auszuschließen, dass es tatsächlich Unterstützungsstrukturen im Versorgungssystem der ehemaligen DDR gab und diese auch im Fall der Mutter zum Tragen kamen. Die Versorgung des Kindes Karl wäre eine davon, auch wenn nicht bewertet werden kann, ob das Weggeben des Säuglings eine biographische Hilfestellung oder fortgesetzte Belastung für die Mutter war. Ungeklärt ist auch, welche weiteren individuellen Hilfestellungen es für die Mutter gab, um den Alkoholismus zu bearbeiten.
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
und oder Neurologe, und daraufhin wurde ich ja als Simulant beschimpft das war 1973 also zu tiefsten DDR-Zeiten: „Wollen Sie nich zur NVA?“ das war ja damals die Armee der DDR, äh also hab dann auch die Seite des Patienten erlebt wie ich ihn heute hier erlebe wie er hilflos kommt und sacht: „Keiner glaubt mir“ //mhm// also das war als Achtzehnjähriger schon halt äh, ich war bis dahin naiv, hab gedacht: „Das is jemand der hat jahrelang studiert, der is für deine Gesundheit da, da kannst du hingehen und dich dem anvertrauen und der macht mit dir, was er machen muss und denn geht’s dir wieder gut.“ und genau das is nich passiert dass man mir praktisch da wirklich äh: ja. so ne Unterstellungen an Kopf geknallt hat, ein Arzt hat allerdings das muss man auch dazu sagen es gibt solche und solche, in E-Stadt n Professor aus der damaligen Sowjetunion der hat das dann auch sehr schnell erkannt hat auch ne Punktion, Lumbalpunktion angeregt und daraufhin hat man dann festgestellt: „Jawoll, der hat ne Entzündung im Hirn gehabt“, leider zu spät gekommen. man hat mich hier praktisch zu lange von einem Arzt zum annern geschickt bis man mich endlich nach E-Stadt geschickt hat, (210–225)
Karl Mitteldorf entfaltet in der ersten Haupterzählung, dass das Thema (problematische) Gesundheit ihn auch selbst schon beschäftigt hat, als jungen Mann mit 18 Jahren. Er erkrankt „massiv“ an neurologischen Symptomen, die allerdings zunächst von keinem Facharzt bestätigt werden können. Nun wird Karl Mitteldorf als „Simulant beschimpft“, was ihn als jungen Mann irritiert. Er geht bis dahin „naiv“ davon aus, dass er sich vertrauensvoll in die Hände von studierten
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Medizinern begeben kann, die dann seine Gesundheit wiederherstellen. Er verlässt sich darauf, dass sie wissen, was zu tun ist und alles Notwendige einleiten, damit er als Patient genesen kann. Diese Erwartung leitet er aus zwei Gründen ab – einerseits der jahrelangen akademischen Ausbildung in der Medizin und andererseits deren gesellschaftlich zugeschriebenem Mandat, für die Gesundheit der Patientinnen verantwortlich zu sein. Karl Mitteldorf entfaltet hier ein strukturtheoretisches Modell der Profession Medizin sowie ein paternalistisches Modell der Arzt-Patient-Beziehung und im Weiteren eine technische Sicht auf Heilungsbzw. Gesundungsprozesse („Das is jemand der hat jahrelang studiert, der is für deine Gesundheit da, da kannst du hingehen und dich dem anvertrauen und der macht mit dir, was er machen muss und denn geht’s dir wieder gut.“). Diese Erwartung wird nicht erfüllt („und genau das is nich passiert“). Stattdessen wird er verdächtigt, sich vor dem Pflichtdienst bei der NVA drücken zu wollen. Dieser Hinweis auf die soziale Welt des 18-Jährigen zeigt verschiedene Dimensionen auf, die in Bezug auf seine gesundheitlichen Probleme gebracht werden können, die er aber auch hier wieder nicht kontextualisiert. Es scheint zunächst gängige Praxis zu sein, dass junge Männer mittels gesundheitlicher Probleme versuchen, dem Grundwehrdienst zu entgehen. Zumindest ziehen die konsultierten Ärzte diese (offensichtlich bekannte) Strategie auch bei Karl Mitteldorf in Betracht. Dabei bleibt hier unklar, ob er seine Symptome bei einer Musterungsuntersuchung zum Wehrdienst aufzeigt. Die Dimension des anstehenden Armeedienstes könnte auch aus einer anderen Sichtweise in Bezug auf das Entstehen der Erkrankung Karl Mitteldorfs interessant sein. Aus seiner Lebensgeschichte ist bekannt, dass die beiden Männer, die ihn sehr enttäuscht haben – sein leiblicher Vater sowie sein Stiefvater – bei der Armee sind. Damit bestünde theoretisch die Möglichkeit, einerseits seinem leiblichen Vater, den er bisher nur namentlich kennt und mit dem er gerade jeglichen Kontakt abgelehnt hat, dort zu begegnen. Andererseits könnte er in die Situation geraten, sich vielleicht seinem Stiefvater in den hierarchischen Strukturen der Armee unterordnen zu müssen. Gerade hat sich Karl Mitteldorf konflikthaft von seinen Herkunftsstrukturen losgesagt. Er kennt die ungerechte Behandlung durch seinen Stiefvater, mit dem Ziel, die Oberhand zu behalten. Auch der Konflikt mit der Mutter ist ungelöst, sodass Druck durch den Stiefvater diesbezüglich nicht auszuschließen ist. Denkt man Gesundheit und Krankheit in sozialen Dimensionen, liegt nahe, dass der anstehende Grundwehrdienst für Karl Mitteldorf eine heikle Situation dargestellt haben mag. Dies spürt er leiblich: Ihm ‚schwindelt‘ und er kann sich seine Situation nicht klar ansehen („Doppelbilder“). Das leibliche
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
Erleben ist mit körperlichen Untersuchungen nicht nachweisbar und bleibt medizinisch unberücksichtigt. Erst später kann ein organischer Befund nachgewiesen werden. Der Beruf des Heilpraktikers böte die Möglichkeit, die Sicht auf solche sozialen Dimensionen zu richten, Erkrankungen diesbezüglich zu verstehen und zu bearbeiten. Hier setzt Karl Mitteldorf jedoch nicht an. Für ihn ist einerseits der Aspekt wichtig, dass es professionelle Autoritäten gibt, die wissen, was zu tun ist, damit er als ‚passiver‘ Patient wieder gesunden kann. In seinem Fall trifft er auf den Professor aus der damaligen Sowjetunion22 , der das medizinische Problem schnell erkennt, eine entsprechende Diagnostik einleitet und seine Verdachtsdiagnose bestätigen kann – „leider zu spät“, erst nachdem Karl Mitteldorf „zu lange von einem Arzt zum annern geschickt“ worden ist. Er hat sich hier in der Haltung des institutionellen Ablaufmusters von der Institution der Medizin prozedieren lassen und verbleibt als junger Mann zunächst in der erwartenden Passivität. Er charakterisiert sich selbst kritisch als „bis dahin naiv“, was darauf verweist, dass im weiteren Lebensverlauf Entwicklungen zu erwarten sind, die ihn die ‚Naivität‘ überwinden lassen. Karl Mitteldorf erwirbt im weiteren Lebensverlauf wichtige Ressourcen des Umgangs mit eigener Erkrankung und zur Lebensführung, wie die folgenden beiden Passagen zeigen. Dabei durchschreitet er den Lernprozess hin zur aktiven Selbstbehandlung von Erkrankung und entwickelt konkrete Praxen eigener Gesundheitsförderung und Prävention. Selbstbehandlung auf der Basis von Erfahrung E: … und da hab ich mir dann mit Wermut:tee das is so eigentlich der Einstieg für mich selbst gewesen der direkte, äh in die heutige Geschichte gab’s ne Verbindung, ähm geholfen wo man mich in Apotheken, komisch angeguckt hat äh dass ähm: „Wieso wollen Sie den Wermut-Tee?“ Ich sag: „Na dafür“ „Nee das kann nich sein, also das schadet Ihnen nur“ Ich sage: „Verkaufen Sie mir das? is meine Erfahrung.“
22 In zwei Dimensionen weist Karl Mitteldorf ihm einen besonderen Status zu: aufgrund seines Professorentitels sowie aufgrund seiner Herkunft.
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also das is ja Erfahrungsheilkunde (249–253)
Karl Mitteldorf markiert hier eine praktische Erfahrung von Selbstbehandlung als konkreten „Einstieg“ („der direkte“) in die Naturheilkunde. Er behandelt sich bei bestimmten Beschwerden23 mit einem speziellen Tee und macht die Erfahrung, dass ihm dieser hilft. Auch die Skepsis („komisch angeguckt“) bzw. das Abraten der Apothekerinnen („Nee das kann nich sein, also das schadet Ihnen nur“) lassen ihn an seinem Erfahrungswissen festhalten. Dies macht er in der Konversation, die hier in wörtlicher Rede geführt wird, auch deutlich („Verkaufen Sie mir das? is meine Erfahrung.“). Karl Mitteldorf kann mit diesem biographisch erworbenen Erfahrungswissen auch an die Grundidee der praktischen Naturheilkunde ansetzen („also das is ja Erfahrungsheilkunde“). Dies zeigt sich auch in der Veränderung seiner Lebensweise, wie Karl Mitteldorf in der Beantwortung einer exmanenten Nachfrage zur Gestaltung der jetzigen Tätigkeit entfaltet. Ein „Heilpraktikerleben“ als Basis flexibler Arbeitsweise E: … so da hab ich inzwischen mein Kraftfutter entdeckt. mein Buchweizen meine Ernährung hab ich auch umgestellt inzwischen, ich hatte ja mal 95 Ki:lo also ich war aus der Sportzeit total raus nachher total versackt als Funktionär, äh immer mehr Kilos zugenommen, also das war nicht so toll, äh bis ich dann eben die Kurve gekriegt 1999 auch endlich äh mehr Sport wieder gemacht hab. ne? darauf zurückgekommen bin eigentlich ne so und, dann eben auch die Ernährung jetzt so seit, fü:nf Jahren ungefähr konsequent morgens mein Frühstück, ganz anders da verfahre damit, also eigentlich insofern auch das Heilpraktikerleben le:be ne, ähm auch stilles Wasser viel trinke ähmwo ich noch dran bin das ist Kaffee. also Kaffee trink ich schon ab und zu mal ganz gern mal noch so n Tässchen, 23 die
er in der Passage vorher ausführt, was hier weggelassen wurde.
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
das geb ich zu das sag ich auch den Patienten, geh ich ganz offen mit um ne, ähm aber mancher Tee schmeckt eim natürlich auch ganz gut aber da bin ich sogar mit stillem Wasser sehr zufrieden kann ich mit umgehn. ich filter mir das auch zu Hause … da nehm ich mein Wasser hier mit her ne, äh mein gefiltertes hab dann mein Käffchen mit, hab mein, mein Futter hier mit äh und bin dann weitgehend unabhängig autark und kann jede- ne so jederzeit mit jemandem telefonisch auch Beratung machen (746–763)
Karl Mitteldorf beginnt diese Passage mit einer Feststellung, sein „Kraftfutter“, („mein Buchweizen“) „entdeckt“ zu haben. Die Formulierung und Betonung verweisen fast auf eine besondere Beziehung mit „seinem“ Buchweizen. Karl Mitteldorfs Ernährungsumstellung erfolgt allerdings über dieses energieliefernde Lebensmittel hinaus. Seine vormalige Berufstätigkeit als „Funktionär“ brachte mit sich, dass er den Sport aufgegeben hatte („also ich war aus der Sportzeit total raus“), mit der Folge einer stetigen Gewichtszunahme („äh immer mehr Kilos zugenommen“). Dies missfiel ihm, wie er auf verschiedenen Ebenen aufzeigt. Zum einen erinnert er noch genau, dass er „95 Ki:lo“ gewogen hat. Er scheint sein Gewicht also zu kontrollieren, orientiert sich vielleicht an normativen Gewichtsvorgaben. Zudem charakterisiert er sich in der Lebensphase seiner Funktionärszeit kritisch als „total versackt“ und evaluiert den damaligen Zustand vorsichtig negativ („also das war nicht so toll“). Seine erste Strategie ist, wieder Sport zu treiben. Karl Mitteldorf greift hier auf eine biographische Ressource zurück („darauf zurückgekommen“). Der Sport hat sich in seiner Jugend bereits als erfolgreiche Strategie erwiesen. Dabei klingt das „äh bis ich dann eben die Kurve gekriegt“ habe, zusammen mit dem „versackt“ Sein wie ein dramatischer Zustand, der erfolgreich bewältigt wurde. Für eine lange Zeit scheint der Sport die hauptsächliche Strategie der Gesunderhaltung, zumindest in Bezug auf die Gewichtskontrolle, zu sein. Danach („seit, fü:nf Jahren ungefähr“) tritt die konsequente Ernährungsumstellung hinzu, beginnend beim Frühstück („morgens mein Frühstück, ganz anders da verfahre damit“). Karl Mitteldorf fasst zusammen und führt gleichzeitig in die nächsten Ausführungen ein: „also eigentlich insofern auch das Heilpraktikerleben le:be ne“. Er entfaltet nicht ausführlich,
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was ein „Heilpraktikerleben“ bedeutet. Er scheint aber (normative) Vorstellungen eines gesundheitsförderlichen Verhaltens zu haben. Das Trinken von „viel“ stillem Wasser gehört dazu und offensichtlich auch ein eingeschränkter Konsum von Kaffee. Während er mit dem Trinken von stillem Wasser zurechtkommt, fällt es ihm schwerer, auf Kaffee zu verzichten („wo ich noch dran bin das ist Kaffee“). Hier stellt Karl Mitteldorf dar, dass er sich noch in einem unabgeschlossenen Entwicklungsprozess befindet, („also Kaffee trink ich schon ab und zu mal ganz gern mal noch so n Tässchen“), zu dem er zwar steht, aber den er vor den Patienten rechtfertigen muss („das geb ich zu das sag ich auch den Patienten, geh ich ganz offen mit um ne“). Wahrscheinlich erfolgt diese Konstruktion Karl Mitteldorfs in Bezug auf die Regeln der Klassischen Homöopathie, die das Befolgen bestimmter Ernährungsvorschriften wie die Vermeidung von Genussmitteln mit sich bringen, um einen Therapieerfolg zu gewährleisten. Er muss in der Behandlung seinen Patientinnen diese Regeln nahebringen, relativiert sie aber mit Rückbezug auf die eigenen Schwierigkeiten. Hier schwingt Karl Mitteldorfs akribische Umsetzung vorgegebener Regeln mit und die Übernahme dieser in seine eigene Lebensführung. Wenn dies auch nicht immer gelingt, das Ziel ist definiert. Die Passage spricht er aus einer Ich-Perspektive, hier ist er nahe an seiner beruflichen und privaten Alltagspraxis, mit der er sich identifiziert. Im Weiteren zeigt sich Karl Mitteldorfs pragmatischer Umgang mit den Anforderungen, ein gesundheitsförderliches Verhalten mit den Erfordernissen seines Praxisalltags zu verbinden: Tee ist nicht so sein Geschmack, wie die distanzierte relativierende Aussage „ähm aber mancher Tee schmeckt eim natürlich auch ganz gut“ zeigt. Er bevorzugt stilles Wasser, das er sich gefiltert in die Praxis mitbringt. Auch Kaffee und Buchweizen bereitet er sich morgens zu Hause vor, um den ganzen Tag in der Praxis „weitgehend unabhängig autark“ zu sein und „jederzeit mit jemandem telefonisch auch Beratung machen“ zu können. Somit kann er in seinen Praxisräumen verbleiben und ungestört seiner Tätigkeit nachgehen. Interessant ist, dass Karl Mitteldorf gerade diese Konstruktion auf die Frage der Interviewerin nach der Gestaltung seiner jetzigen Tätigkeit auswählt. Nicht die Darlegung fachlicher Inhalte seiner Tätigkeit sind thematisierungsbedürftig, sondern die konkrete Umsetzung des Heilpraktiker-Seins im Berufsalltag. Prävention E: Reiki24 24 Schaeffer (1990: 229) zählt das auf japanischen Denk- und Heiltraditionen fußende Reiki zur Energiefeldarbeit, bei der durch Handauflegen Lebensenergie geleitet und ein ungleichmäßiger Fluss im Energiefeld ausgeglichen werden soll.
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… ich nutze es vor allem für mich selbst ne, mach dis morgens manchmal bis zu drei Stunden wenn ich dann zu früh erwache mach ich einfach meine Anwendung ne, so für sich selbst ja, alle zwölf Positionen und dann geh ich frisch in den Tag und äh bi:n gut drauf und kann also äh hab aber auch mittags hier nutz ich die Liege selber ne, und mach denn mal, Meditation hier, mit, Reiki und dann merk ich selber manchmal=innerhalb von zwanzig Minuten ist der Rechner wieder, hochgefahrn. bin ich wieder fit ne, vorher ganz schön kaputt gewesen vo-von manche Patienten sind sehr anstrengend ne, //mhm// und äh, das fordert vie:l Kraft, vor allem die Krebspatienten ne, //mhm// also das ist ja enorm aber, äh damit hält man sich dann immer noch über Wasser ne, (863–873)
Diese Passage zeigt die Strategie Karl Mitteldorfs, mit der anstrengenden Praxistätigkeit umzugehen und Überlastung vorzubeugen. Hierzu hat er für sich die Reiki-Methode erschlossen und führt sie regelmäßig an sich selbst durch. Dabei nimmt er sich am Morgen „manchmal bis zu drei Stunden“ Zeit, um „frisch in den Tag“ zu starten und „gut drauf“ zu sein. Der Verweis auf „alle zwölf Positionen“ verweist hier wieder auf ein vorgegebenes Konzept, das er übernimmt und mit Akribie und der ihm eigenen Disziplin umsetzt. Auch mittags nimmt er sich kurze Auszeiten – gleich bei sich in der Praxis („nutz ich die Liege selber“) – um sich mit Meditation oder Reiki von der „sehr“ anstrengenden Arbeit zu erholen. Dabei fordert die Arbeit mit „Krebspatienten“ besonders viel Kraft. Hier verstärkt Karl Mitteldorf die Aussage der Anstrengung mit seiner Wiederholung: „also das ist ja enorm“. Umso mehr Bedeutung gewinnt die Strategie der Selbstbehandlung und Prävention: „aber, äh damit hält man sich dann immer noch über Wasser ne“. Die gewählte Formulierung impliziert, dass es Karl Mitteldorf nur mit Anstrengung gelingt, das Gleichgewicht zwischen körperlicher und mentaler Überlastung und dem Auftanken der Kräfte zu halten. In gewisser Weise folgt Karl Mitteldorf in seiner Darlegung dem gängigen Konzept verhaltensbezogener Gesundheitsförderung und Prävention, wie es sich z. B. in § 20 SGB V findet (Ernährung, Bewegung, Stressbewältigung). Dieses setzt überwiegend am eigenen Verhalten, einer Selbstregulierung, an. Die zweite
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Seite, die Verhältnisprävention (vgl. z. B. WHO 1986), gerät nicht in den Blick von Karl Mitteldorf. In den Passagen zur Verarbeitung von Erkrankung und der alltäglichen Lebensführung unter dem Fokus der Gesundheit zeigt sich die Entwicklung Karl Mitteldorfs im Lebensablauf – von der durch Unwissenheit, enttäuschter Erwartung oder sogar Ohnmacht beförderten Passivität hin zur Aneignung von Möglichkeiten der Selbstbehandlung und Prävention. Karl Mitteldorf gewinnt Gestaltungsspielraum und Handlungsautonomie. Diese erworbenen Ressourcen helfen ihm, seine anspruchsvolle neue Tätigkeit stabil und erfolgreich gestalten zu können. Was sich jedoch auch zeigt: Karl Mitteldorf geht dabei kaum in den Austausch mit anderen: So könnte er sich z. B. einer Gruppe anschließen, um Sport zu treiben oder sich gegenseitig Reiki-Behandlungen zu geben.
5.3.6
Zweite berufliche Karriere – den Heilpraktikerberuf erlernen und ausüben
Im Folgenden wird aufgezeigt, wie Karl Mitteldorf den Weg in den Beruf des Heilpraktikers gestaltet: Wie eignet er ihn sich an? Wie konzeptualisiert er die eigene Tätigkeit? Welche weiteren Hinweise finden sich bezüglich seiner Patientenorientierung? Welche Kategorien der Selbstorganisation treten hervor? Karl Mitteldorf geht auf diesem Weg planvoll vor. Bevor er sich endgültig für die Ausbildung zum Heilpraktiker und vor allem für die entsprechende Schule entscheidet, meldet er sich zum Probeunterricht an. Wie sich diese Erfahrung für ihn gestaltet, wird in der folgenden Passage deutlich. Sie ist ein Subsegment innerhalb des Segmentes zur Heilpraktikerausbildung in der ersten Haupterzählung. Heilpraktikerausbildung – Probeunterricht E: So. und ähm, hab mich dann tatsächlich äh in, D-Großstadt dort gemeldet äh, hab angefragt: „Wie sieht’s aus“ denn wurd ich als Gasthörer, nach C-Großstadt eingeladen äh, damals noch in der A-Klinik, und da war n Top-Dozent. also das is ja auch immer Glück wer macht das gerade, und das hat richtig Spaß gemacht da ging’s um’s Knie weiß ich noch heute,
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
und es war vor dem Sommer im Juli der letzte, Unterricht sozusagen vor der Sommerpause und man merkte die Schüler waren ja eigentlich nich mehr so richtig drauf, ich selbst war hochmotiviert und wollte ja wissen wie geht das hier. ne? //mhm// hab sofort in dem Haus noch mit dem Dozenten intensive Gespräche gehabt also hat richtig Spaß gemacht, der hat auch mitgekricht dass ich neu war also hat man, auch gemerkt das is nich so oberflächlich larifari da, die kümmern sich um die Leute und die wollen auch dass man sich wohlfühlt. ne? //mhm// und was lernt. und äh, er hat auch, richtig zur Sache nachgehakt äh: „So heute machen wir ma als wenn wir Prüfung haben. jetzt hab ich Ihnen mal hier das Knie per Overhead an die Wand geschmissen und welche, einzelnen Bestandteile hat denn das Knie. erzählen Sie mir das mal.“ und denn ging Gemurre durch den Saal da hab ich mich doch sehr gewundert: „Wolln die nu Heilpraktiker werden“ also was für ne Motivation steckt dahinter genau, äh äh oder wie äh geht das hier warum sind die nich motiviert also, wolln die gar nich- die machen gar nich richtig mit. //mhm// und darüber hab ich mich mit dem Dozenten danach unterhalten und, na ja er sagt eben auch es gibt eben solche und solche, ähm, Motivation. so. (48–65)
Karl Mitteldorf setzt seinen Plan nun wirklich um („tatsächlich“). Er geht handlungsaktiv in den Entscheidungsprozess um die individuellen Rahmenbedingungen seiner neuen Berufsausbildung. Er meldet sich in einer Schule: „Wie sieht’s aus?“, und erhält eine Einladung als „Gasthörer“. Die Betonung des Wortes unterstreicht die erst vorläufige Entscheidung für die Schule. Er ist hier Akteur in einem Suchprozess, und er ist gewollt. Für die Gasthörerschaft wird er mobil und fährt in eine entferntere Großstadt. Die Vorlesung findet in einer Klinik statt. Die gewählte Konstruktion Karl Mitteldorfs („damals noch in der A-Klinik“) verweist auf verschiedene Aspekte: Formal kommt das zentrale Gestaltungsmerkmal seiner biographischen Konstruktionslogik entlang der Orte zum Ausdruck. Zum anderen wird deutlich, dass es seit der Zeit der Gasthörerschaft eine örtliche Veränderung der Unterrichtsräume gegeben haben muss. Was hier aber noch wichtiger erscheint, ist die Kennzeichnung der medizinischen Institution als Unterrichtsort. Hiermit schreibt Karl Mitteldorf
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der Ausbildung eine Legitimierung zu, die in seine biographische Logik passt – Anpassung und Orientierung an machtvollen Autoritäten und institutionalisierten Systemen, hier dem Medizinsystem. Karl Mitteldorf trifft auf einen „Top-Dozent“. Dies bewertet er als einen glücklichen Umstand („also das is ja auch immer Glück wer macht das gerade“). Ihm macht die Vorlesung so viel Spaß („und das hat richtig Spaß gemacht“), dass er nach der langen Zeit sogar noch das Thema erinnert („da ging’s um’s Knie weiß ich noch heute“). Auf dem Programm steht ein ‚handfestes‘ Thema, an dem er gut ansetzen kann. Karl Mitteldorf besucht die letzte Unterrichtsstunde vor der Sommerpause. Ihm fällt auf, dass „die Schüler […] ja eigentlich nich mehr so richtig drauf“ waren. Woran er dies festmacht, führt er nicht weiter aus. Im Gegensatz dazu stellt sich Karl Mitteldorf als „hochmotiviert“ dar. Er „wollte ja wissen wie geht das hier“. Karl Mitteldorf wirkt erfahrener als die anderen Teilnehmenden. Er unterscheidet hier zwischen sich selbst und ‚den Schülern‘ – vielleicht aus seinem Gasthörerstatus heraus, vielleicht auch, weil er sich, im Erinnerungsschema, noch nahe an seiner eigenen parteipolitischen pädagogischen Tätigkeit mit Jugendlichen und Erwachsenen verortet und damit eher zur Seite der Lehrenden gehört. Er orientiert sich im Entscheidungsprozess für oder gegen die Schule auch hier wieder an der Lehrkraft, nicht am Erfahrungswissen der dort Lernenden. Karl Mitteldorf geht mit Lerneifer und Interesse an die neue Sache heran, wie es seinem Habitus entspricht. So nutzt er „sofort“ die Möglichkeit des intensiven Austausches mit dem Dozenten (nicht mit den anderen Lernenden) („hab sofort in dem Haus noch mit dem Dozenten intensive Gespräche gehabt“), was er genießt („also hat richtig Spaß gemacht“). Der Dozent, bemerkend, dass sich hier ein neuer Bewerber für die Ausbildung interessiert („der hat auch mitgekricht dass ich neu war“), nimmt sich offensichtlich ausreichend Zeit für Karl Mitteldorf. Dies kann durchaus mit ökonomischen Interessen – der Gewinnung eines neuen Schülers für den mehrjährigen Unterricht – verbunden sein. Für Karl Mitteldorf kommt hier zur Komponente des greifbaren Unterrichtsstoffes, den er pragmatisch aneignen kann, eine zweite wichtige Dimension hinzu: ein Gefühl des Gewolltseins, eine Lernatmosphäre der Einbindung und des (kollegialen) Austausches („die kümmern sich um die Leute und die wollen auch dass man sich wohlfühlt. ne?“). Gleichzeitig ist für ihn klar, „das is nich so oberflächlich larifari da“. Karl Mitteldorf spricht hier allerdings aus einer Distanz heraus und gibt uns keinen Einblick in die Prozesse. Gleichwohl wird diese Passage im Weiteren lebendiger, wenn er ausführt, wie vorgegangen wird, damit „man“ „was lernt“. Der Dozent bleibt stringent am Lehrstoff („er hat auch, richtig zur Sache nachgehakt“) und simuliert eine Prüfungssituation („So heute machen wir ma als wenn
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
wir Prüfung haben“). In der wörtlichen Rede erzählt Karl Mitteldorf, welche Fragestellung der Dozent wählt („jetzt hab ich Ihnen mal hier das Knie per Overhead an die Wand geschmissen und welche, einzelnen Bestandteile hat denn das Knie. erzählen Sie mir das mal.“) An diesem eher autoritären Vorgehen und lerntheoretisch durchaus kritisch zu betrachtenden Frontallernen kann Karl Mitteldorf ansetzen. Er kann nicht verstehen, dass die Schüler unzufrieden damit sind. Ohne reflexiv-kritisch oder einfach empathisch zu hinterfragen, ob auch andere Gründe zum „Gemurre“ geführt haben können, z. B. die Erschöpfung oder Langeweile, vor der Sommerpause nach eigener anstrengender Berufstätigkeit zum Unterricht zu kommen und mit einer ‚Schulsituation‘ konfrontiert zu werden, also letztendlich die falsch platzierte Lehrmethode des Dozenten, bezweifelt er die Motivation der Schüler grundsätzlich („da hab ich mich doch sehr gewundert: „Wolln die nu Heilpraktiker werden“ also was für ne Motivation steckt dahinter genau, […] warum sind die nich motiviert also, wolln die gar nich“). Karl Mitteldorf ist kritisch und verwundert über die mangelnde Mitarbeit der Teilnehmenden („die die machen gar nich richtig mit“). Er würde es anders erwarten und selbst wahrscheinlich in einer ähnlichen Situation bestmöglich mitarbeiten. Er spricht auch den Dozenten darauf an („und darüber hab ich mich mit dem Dozenten danach unterhalten“). Dieser scheint das Verhalten unhinterfragt hinzunehmen („na ja er sagt eben auch es gibt eben solche und solche, ähm, Motivation.“), was darauf verweist, dass er die Reaktion bereits kennt, sie ihm vielleicht egal ist oder sogar nachvollziehbar, und er sich nun aber auch nicht darüber unterhalten möchte. Karl Mitteldorf kommt die vorgefundene Lehr-Lernsituation aufgrund seiner Sozialisation auf verschiedenen Ebenen entgegen: Der Dozent macht auf ihn einen kompetenten Eindruck. Es wird sich um Karl Mitteldorf gekümmert, sodass er sich wohlfühlt. Die vorgegebene Lernform des Frontallernens ist ihm vertraut; er kann an diese ‚Vorbahnung‘ des Lernprozesses anschließen. Dabei kommt ihm die simulierte Prüfungssituation entgegen, die ihm vermittelt, dass hier nicht „so oberflächlich larifari“ unterrichtet wird, sondern dass Ergebnisse zählen. Auch der Lernstoff an sich überzeugt ihn – ein greifbares medizinnahes Thema, das bei Bedarf auch noch einmal nachgelesen werden kann (im Gegensatz zu abstrakten Themen wie Energiearbeit o. ä.) und dass er sich zwar eigenständig, aber entlang von Vorgaben aneignen kann. Somit entscheidet er sich für die Ausbildung an der ‚erprobten‘ Schule – allerdings mit einer Einschränkung, die sich mit seinem biographischen Lernhabitus begründen lässt. Grundausbildung – Von der Breite in die Tiefe
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E: … also das war denn nachher bis 1993 äh, war praktisch diese Grundausbildung die ich in C-Großstadt mitgemacht hab ne Anatomie Physiologie Pathologie, //mhm// das war klar das wollt ich unbedingt mitnehmen, was ich aber nich gemacht habe, es gibt eine sogenannte A1, das heißt Naturheilkunde äh Homöopathie Akupunktur, Phytotherapie, Massage und, ne? so, was die immer noch machen, wo ich ja zum Teil auch Dozent bin heute, //mhm// ähm, aber äh, ich hab gemerkt das is alles zu, wenig. also äh ich wollte nich in der Breite, ganz wenig, äh sag ich mal können, sondern ich wollte in einer, an einer Stelle in die Tiefe, eindringen das war mein, Ding, wo ich- was ich gelernt hab eigentlich schon zu DDR-Zeiten. ne? so, wie man an die Dinge rangehen sollte ich muss sagen ich hab auch mit Philosophie sehr viel schon als Jugendlicher zu tun gehabt dass ich von der Prüfung befreit wurde, solche Sachen hab ich, erlebt, also das war für mich schon äh immer, klar dass ich mich auch über den großen Tellerrand hinaus, mit äh, Dingen beschäftige die nich so, vielleicht jedermanns Sache sind. aber mir macht das Spaß. und da hab ich eben schon begriffen wie gesagt, lieber eine Sache richtig als vieles nur so, larifari. (65–79)
Karl Mitteldorf beschreibt nun seinen Ausbildungsgang genauer. In etwa zwei Jahren erlernt er das medizinische Grundlagenwissen („Grundausbildung“) für die Heilpraktikerüberprüfung. Dieses schätzt Karl Mitteldorf unhinterfragt als unverzichtbar ein und eignet es sich deshalb in der gewählten Institution an („das war klar das wollt ich unbedingt mitnehmen“). Auf den weiterführenden Teil, die eigentliche naturheilkundliche Ausbildung („Naturheilkunde äh Homöopathie Akupunktur, Phytotherapie, Massage und“), verzichtet er. Dies betont er besonders („was ich aber nich gemacht habe“) und fügt zwei Hintergrundinformationen ein: Diese Ausbildung wird auch heute noch, mehr als zwanzig Jahre später, in
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der gleichen Form durchgeführt („was die immer noch machen“). Zudem ist er mittlerweile selbst nebenberuflich als Dozent an der Schule tätig („wo ich ja zum Teil auch Dozent bin heute“). Es zeigt sich an diesem Subsegment, dass Karl Mitteldorf einen konkreten, klaren Plan hat, der auf Reife, den eigenen Bildungsprozess zu strukturieren und organisieren, schließen lässt. Und er ist in der Lage, sich zu entscheiden und den Plan umzusetzen. Den Grund, dass er sich gegen den naturheilkundlichen Teil der Ausbildung entscheidet, legt Karl Mitteldorf genauer dar. Das Angebot ist ihm „alles zu, wenig.“ Er möchte kein breites, eher oberflächliches Wissen erwerben („also äh ich wollte nich in der Breite, ganz wenig, äh sag ich mal können“), sondern sich einem Thema besonders intensiv widmen und sich dieses tiefgreifend aneignen („sondern ich wollte in einer, an einer Stelle in die Tiefe, eindringen“). Sein hoher Anspruch, den Dingen auf den Grund zu gehen, entspricht seiner habituellen Veranlagung („das war mein, Ding“), der er hier in seiner biographischen Logik folgt. Die biographische Kontinuität, die er herstellt, kommt in den folgenden Ausführungen zum Ausdruck, wenn er sich auf seine Lernprozesse zu „DDR-Zeiten“ besinnt. Dabei bezieht er sich darauf, „was“ er gelernt hat, aber auch darauf, „wie man an die Dinge rangehen sollte“. Er erinnert, als Jugendlicher von der Philosophie-Prüfung befreit worden zu sein, weil er sich anscheinend mit diesem anspruchsvollen Fach selbstständig so intensiv auseinandergesetzt hatte, dass er bereits vor der eigentlichen Prüfung ein besonderes Wissen präsentieren konnte. An diese biographischen Erfahrungen schließt er an: Er setzt sich erfolgreich und intensiv mit Dingen auseinander, die über das normale Maß („über den großen Tellerrand hinaus“) hinausgehen und für die andere sich vielleicht nicht interessieren. Hieraus schöpft er Sinn („aber mir macht das Spaß“). Er beendet die Passage mit dem Rückgriff auf die biographische Vorerfahrung („und da hab ich eben schon begriffen“), dass es für ihn besser sei, „lieber eine Sache richtig als vieles nur so, larifari“ zu lernen und zu verstehen. In gewisser Weise geht es bei Karl Mitteldorf nicht um das Streben nach Aufstieg, sondern um das Streben nach Tiefe, i. S. v. Wissens- und Verständnisvertiefung. In diesen Ausführungen schwingt eine Kritik am Curriculum der Heilpraktikerschule mit – eher oberflächlich Bedarfe zu decken, die sich später als ungenügend herausstellen könnten.25 Vielleicht ist dies sogar eine übergreifende Kritik an den Rahmenbedingungen der Heilpraktikerausbildung generell.26
25 Zudem verweist die langjährige Konstanz des Modulaufbaus auf einen Anpassungsbedarf an neue Lerninhalte und -formen. 26 Auf beide Aspekte geht Karl Mitteldorf an späterer Stelle genauer ein.
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Karl Mitteldorf ist hier in der Haltung des biographischen Handlungsschemas, die er seit seiner Entscheidung für den Heilpraktikerberuf durchgängig zeigt. Nach dieser „Grundausbildung“ beginnt Karl Mitteldorfs Weg in die Klassische Homöopathie, der zunächst mit beruflichen Suchbewegungen in Weiterbildungskontexten einhergeht. Dies zeigt die sich anschließende Passage. Ebenso gibt sie weitere Hinweise auf den beruflichen Habitus Karl Mitteldorfs, der sich im Prozess der Aneignung des Heilpraktikerberufes weiter festigt und der den Rückgriff auf das implizite biographische Wissen und seine Biographizität verdeutlicht. Homöopathieausbildung – Wissen, wie Gesundheit hergestellt wird E: … und da hab ich mich dann für die Homöopathie entschieden, //mhm// ähm, bin aber da auch nicht gleich direkt äh drauf zu weil ich nich wusste wo, das is ja wieder das Nächste, wo kricht man jetzt ne ordentliche Homöopathieausbildung, bin dann über n Umweg nach E-Großstadt, hab äh, dort praktisch hier- äh an einem Kurs teilgenommen der sich mit der Ohrakupunktur beschäftigt hat, sehr intensiv, in sieben Wochenenden, oder es warn nich nur Wochenenden es warn richtig so von Donnerstag bis Sonntag, //mhm// und der Harald Walter aus B-Sta- B-Stadt am A-Fluss, der hat uns das sehr, lebendig und frisch beigebracht bis hin zur Laserakupunktur, war alles gut und interessant aber ich hab immer mehr gemerkt das is auch nich so mein Ding, und hab denn öfter die Homöopathie so eingestreut unter den Teilnehmern da. und da war einer dabei der hat gesagt: „Du mein Bruder, der ist da bei euch im Norden. in B-Großstadt.“ … und da hab ich gesagt: „Aha was is n da.“ „Na ja: musst ma, ich geb dir mal ne Telefonnummer, ruf da mal an, die ham da irgendwo ne Zentrale in D-Groß- in F-Großstadt und äh,
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der is sehr zufrieden. das geht da über mehrere Jahre und das is, bestimmt was für dich.“, und das war’s dann auch ne? //mhm// ich hab dann in B-Großstadt, an der A-Institution, von 1993 bis ‘96 meine Ausbildung gemacht, in Klassischer Homöopathie, und hab dann 200::1 zu 2, noch ein viertes Jahr rangehängt ne? //mhm// so, und zwischendurch auch immer mal Fachfortbildungen. ne? so. und das hat mir so gutgetan und das war genau richtig dass ich heute, praktisch mit Patienten egal welcher Couleur arbeiten kann, ob da einer mit A wie Allergie kommt, oder mit I wie Ischialgie oder mit Z wie Zystitis, oder mit D wie Depression, ich kann, allen erstmal sagen am Telefon: „Ich sehe Möglichkeiten für Sie, ich habe hier ein, dickes Nachschlagewerk“ und, äh also es war die richtige Spur. die richtige, was zu mir passte. ne? Homöopathie is ja auch etwas was philosophische Bestandteile enthält es gibt ja sehr viele Schattierungen da auch, George Vithoulkas macht, spricht von der Essenz, äh, ich persönlich äh, halte mich schon an die, wissenschaftliche Variante die, diese Essenz nicht vertritt, ne, also was man in B-Großstadt da vermittelt hat, wir hatten auch, Ärzte, die uns das vermittelt haben das war also sehr gediegen und, hat Spaß gemacht und war sehr anspruchsvoll mit Prüfungen, Zwischenprüfungen, Abschlussprüfungen, Halbjahresabschlussarbeit richtig, äh so wie sich das gehört. ne? //mhm// so, dass wir da also alle äh uns da auch entsprechend ernstgenommen gefühlt haben und dann hinterher gesagt haben, wir müssten jetzt eigentlich in der Praxis ganz gut, was können, weil wir so gefordert wurden. ne? das war so n Anspruch auch für mich (79–110)
5.3 Kernstelleninterpretation
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Sein Lernhabitus, sich ernsthaft und tiefgreifend ihn interessierende Themen anzueignen, führt dazu, dass er sich für die Klassische Homöopathie entscheidet. Zum Konzept der Homöopathie gelangt er auf Umwegen. Die zu ihm passende Ausbildungseinrichtung findet er mit dem ersten Versuch. Dabei schwingt an dieser Stelle eine Kritik an den ungeregelten Rahmenbedingungen der Heilpraktikerausbildung mit: „das is ja wieder das Nächste, wo kricht man jetzt ne ordentliche Homöopathieausbildung“. Auch auf diesem Suchprozess ist er mobil („E-Großstadt“). Er nimmt zunächst an einem Kurs in Ohrakupunktur teil. Auch hier hat er sich einen Kurs ausgesucht, der „sehr intensiv“ das Thema bearbeitet, weit über die Oberfläche hinausgeht – sowohl zeitlich („in sieben Wochenenden, oder es warn nich nur Wochenenden es warn richtig so von Donnerstag bis Sonntag“) als auch inhaltlich („bis hin zur Laserakupunktur“). Auch der Dozent überzeugt ihn mit seiner Art der Wissensvermittlung („der hat uns das sehr, lebendig und frisch beigebracht“). Dies entspricht zunächst seinen Ambitionen und weckt sein Interesse („war alles gut und interessant“). Allerdings wird Karl Mitteldorf im Verlauf des Kurses klar, dass dies nicht die Methode ist, mit der er zukünftig arbeiten möchte: „aber ich hab immer mehr gemerkt das is auch nich so mein Ding“. Was ihn zu dieser Entscheidung führt, bleibt ungesagt. Vielleicht ist ihm das Konzept der Ohrakupunktur zu begrenzt und bietet ihm zu wenige Anwendungsmöglichkeiten, vielleicht möchte er aber auch nicht invasiv arbeiten. Vielleicht ist ihm die Anwendung auch zu technisch, aus seiner biographischen Selbstpräsentation wissen wir, dass die Arbeit an der Maschine nichts für ihn war, sondern eher die Vertiefung in Bücher. Vielleicht bieten ihm aber auch das reine Erlernen von Meridian-Punkten am Ohr und Technik des Punktierens dieser nicht genug Vorgabe. So müsste er noch selbst entscheiden, welche Punkte er für eine entsprechende Behandlung ansticht. Dies hinge von der Kreativität sowie vom anatomischen und physiologischen Vorwissen des Therapeuten ab und von der ausführlichen ‚kommunikativen Erkundung‘ des Patienten oder der Patientin – sowohl auf der körperlichen Symptomebene als auch darüber hinaus. Interessant ist die Konstruktion der Prozessstruktur, mit der Karl Mitteldorf die Bahnung seines weiteren Ausbildungsweges darstellt. Er greift hier erneut auf die Erfahrungen anderer zurück, diesmal aktiver als es für ihn bisher üblich war. Kamen bisher in seinem Leben die Chancen eher auf ihn zu, ist er es nun, der den Informationsstrom steuert („und hab denn öfter die Homöopathie so eingestreut unter den Teilnehmern da“). Seine vor der Wende dominierende Haltung des institutionellen Ablaufmusters wechselt mit der Entscheidung für den Heilpraktikerberuf zur Prozessstruktur des biographischen Handlungsschemas und hat sich hier klar durchgesetzt.
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Durch die Freiheit der Berufsausübung, verbunden mit den wenigen klaren Vorgaben, ist er aber auch gezwungen, sich aktiv zu orientieren. Dies mag ihm zunächst mühsam erschienen sein, hier ist er mit dieser sozialen Praxis schon vertraut („und hab denn öfter die Homöopathie so eingestreut unter den Teilnehmern da“). Seinen Erfolg verdeutlicht die Zwischenevaluation: „und das war’s dann auch ne?“. Er erzählt, wie es ihm gelingt, über einen Teilnehmer der Fortbildung die Bildungseinrichtung zu finden, an der er die Homöopathieausbildung absolvieren wird. Dabei gibt er die wörtliche Rede teilweise in anweisender Form wider: „Na ja: musst ma, ich geb dir mal ne Telefonnummer, ruf da mal an“. Karl Mitteldorf hebt die Zufriedenheit des Bruders des ‚Empfehlers‘ hervor („der is sehr zufrieden“) sowie die lange Dauer der Ausbildung, aufgrund dieser der Teilnehmer schließt, dass sie geeignet sein könnte für Karl Mitteldorf („das geht da über mehrere Jahre und das is, bestimmt was für dich“). Karl Mitteldorf absolviert nun nebenberuflich27 , mit Unterbrechungen, eine vierjährige institutionell gerahmte Ausbildung in Klassischer Homöopathie, begleitet von verschiedenen „Fachfortbildungen“. Auf seine hohe Identifikation mit diesem Bildungsprozess verweisen die persönlichen Formulierungen (z. B. „meine Ausbildung“). Diese Zeit genießt er („und das hat mir so gutgetan“) und die intensive Ausbildung erweist sich für ihn als passend („und das war genau richtig“), um sich für eine Berufspraxis als Heilpraktiker ausgebildet zu fühlen. Dabei stellt Karl Mitteldorf ein gründliches Regelwerk („dickes Nachschlagewerk“) in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit, um mit „allen“ arbeiten zu können. Dies gibt er auch im Stil eines Lexikons wider: „dass ich heute, praktisch mit Patienten egal welcher Couleur arbeiten kann, […] ob da einer mit A wie Allergie kommt, oder mit I wie Ischialgie oder mit Z wie Zystitis, oder mit D wie Depression“. Der von ihm gewählte Begriff „Couleur“ verweist auf eine Offenheit für eine Vielfalt an geistig-weltanschaulichen Prägungen einer Person. Allerdings schließt Karl Mitteldorf diese Offenheit wieder, indem er mit der Begründung anhand verschiedener Symptome von Erkrankung fortfährt – und damit nah einer biomedizinischen Symptomlogik bleibt. Implizit mag Karl Mitteldorf ausdrücken, dass er es trotz seiner biographischen Vorgeschichte von weltanschaulicher Entwertung mit der ‚Wende‘ geschafft hat, im Praxisalltag Menschen verschiedener Weltanschauungen gerecht zu werden bzw. sich diesen anzunähern, wo es ihm sonst vielleicht nicht so einfach gelänge.28 Die jeweilige Erkrankung bildet dabei 27 Kontextwissen
aus diesem Interview. gibt es weitere Hinweise: Im Nachgespräch des Interviews thematisierte Karl Mitteldorf dies noch einmal, indem er darüber spricht, dass er auch mit Patienten mit CDU-Zugehörigkeit ‚gut zurechtkäme‘. 28 Dazu
5.3 Kernstelleninterpretation
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die Basis gegenseitigen Verständigens und Verständnisses. Hier hat Karl Mitteldorf den Wissensvorsprung, was ihn in gewisser Weise aufwertet und ihm Möglichkeiten der Anerkennung verschafft. Karl Mitteldorf hat die Vorstellung, dass er anhand seines Bücherwissens, das jederzeit bei Bedarf nachlesbar ist, den Menschen helfen kann („ich kann, allen erstmal sagen am Telefon: „Ich sehe Möglichkeiten für Sie, ich habe hier ein, dickes Nachschlagewerk““). Das Regelwerk29 gibt ihm dabei die erforderliche Sicherheit, auch bei Nichtwissen nachschlagen zu können. Dabei lässt er keine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Verfahren zu. Verschiedene Menschen können verschiedene Heilungswege benötigen oder bevorzugen, was hier unreflektiert bleibt. Karl Mitteldorf ist der Klassische Homöopath. An dieser Stelle ist er in seinem professionellen Denken wenig offen für den Menschen an sich. Der Mensch bleibt Symptomträger und damit folgt Karl Mitteldorf eher einem biomedizinischen Paradigma. Auch wenn er sich in den weiteren Ausführungen kurz auf seine Affinität zur Philosophie bezieht und diese in der Homöopathie wiederfindet (dabei bleibt er ungenau in der Abgrenzung von philosophischen u. a. Anteilen wie der „Essenz“), grenzt er sich im beruflichen Selbstverständnis davon ab. Er hält es wissenschaftlich („ich persönlich äh, halte mich schon an die, wissenschaftliche Variante die, diese Essenz nicht vertritt, ne“) und setzt das Konzept im Praxisalltag genauso um, wie es ihm in der Ausbildung vermittelt wurde („also was man in B-Großstadt da vermittelt hat“). Wichtig ist ihm wiederum, dass ihn einerseits „Ärzte“ unterrichtet haben, was für ihn per se mit einer hohen Qualität einhergeht („das war also sehr gediegen“). Dabei bleibt unreflektiert, dass auch unter Ärzten das Konzept der Homöopathie keineswegs unhinterfragt als wissenschaftlich gilt und kritisch diskutiert wird (vgl. z. B. Schmacke 2015). Für Karl Mitteldorf zählt die institutionelle Legitimation durch den Unterricht der Mediziner, deren professioneller Hintergrund zugleich für Wissenschaftlichkeit spricht. Zudem kann er sich ein Thema handhabbar aneignen und dies trotzdem umfassend und tiefgreifend. Karl Mitteldorf begibt sich mit Arbeitseifer in das neue Themengebiet hinein, was ihm sehr entgegenkommt („hat Spaß gemacht“). Er braucht den hohen Anspruch, an dem er sich mit Akribie und Fleiß abarbeiten kann und dessen Erfüllung ihm formal bestätigt wird („und war sehr anspruchsvoll mit Prüfungen, Zwischenprüfungen, Abschlussprüfungen, Halbjahresabschlussarbeit richtig, äh so wie sich das gehört.“). Erst dann fühlt er sich einerseits „ernstgenommen“ – dabei konstruiert er hier ein identitätsstiftendes „wir“ und fühlt sich mit den anderen Teilnehmenden verbunden – andererseits gibt ihm diese stringente Art 29 Von
denen verschiedene auf seinem Schreibtisch bereitliegen (vgl. Abschn. 5.1).
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des Lehrens und Lernens Sicherheit für die anstehende praktische Arbeit in seinem neuen Beruf („und dann hinterher gesagt haben, wir müssten jetzt eigentlich in der Praxis ganz gut, was können“. Das „gefordert werden“ stellt für ihn einen wichtigen Anspruch dar, wie er in der Schlusssequenz dieses Segmentes darlegt („weil wir so gefordert wurden. ne? das war so n Anspruch auch für mich“). Der Professionalisierungsprozess Karl Mitteldorfs verläuft hier entlang der Habitualisierung eines ‚paternalistischen Wissenshabitus‘ – entlang professionell (medizinisch/naturwissenschaftlich) geordneten Wissens. Wichtig hierbei sind für ihn: die (von ihm subjektiv belegte) Wissenschaftlichkeit eines Konzepts, das von Medizinern vermittelt wird; Stringenz und Anspruch; die Möglichkeit, sich vertiefen zu können; die Rückgriffmöglichkeit auf ‚umfassende Regelwerke‘ (festgeschriebene Wissensbestände), verbunden mit dem Gefühl sicherer Orientierung bei eigenen Wissenslücken oder Unsicherheiten, wie zu therapieren sei. Hinzu kommt das Gefühl, ernstgenommen zu werden, das sich für ihn in der hohen Qualität der Ausbildung sowie der regelmäßigen formalen Kontrolle des Lernerfolges zeigt. Karl Mitteldorf schließt hier an seine (berufs-)biographische Erfahrungsaufschichtung, seine biographische Habitualisierung, an: Zu DDR-Zeiten geben ihm Gesellschaft und Politik in gewisser Weise ‚Regelwerke‘ vor. Sein Aufwachsen im Heim verläuft entlang strenger Regeln und sein formaler Bildungsprozess ist vorgebahnt. Auch im Rahmen des Studiums der Politikwissenschaften kann und muss er sich an sozialistischen Normen und Werten orientieren bzw. mittels deren ‚Regelwerke‘ beruflich tätig werden, um „zu helfen“. Zugleich wird er im Zuge seines Aufstiegsprozesses mit politischem Kapital (Bourdieu) ausgestattet und hat somit auch legitim etwas zu sagen. Dieser Prozess kehrt sich jedoch mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess um, das politische Kapital wird entwertet. Nun findet er in dem vom Mediziner Samuel Hahnemann entwickelten (vgl. Jütte 2007) und stetig weiter ausdifferenzierten Konzept der Klassischen Homöopathie ein neues ‚Regelwerk‘, um damit den hilfesuchenden Menschen den Weg zu weisen in ihrem Gesundungsprozess. Zu diesem Expertenwissen hinzu kommt sein implizites erfahrungsbasiertes biographisches Wissen, auf das er sich in der konkreten Interaktion mit seinen Patienten beziehen kann. Was ihm im Prozess individueller Verberuflichung zugutekommt und ihn gleichzeitig fordert, sind sein Konformitätsbestreben, seine Suche nach Stabilität sowie die (strukturelle und subjektive) Notwendigkeit, den neuen Beruf zum Erfolg zu führen. Seine Affinität zum Bücherlernen und zur akribischen Umsetzung vorgegebener Regeln, aber auch die Disziplin und Fähigkeit, einen Plan selbstständig umzusetzen, sind hier unerlässliche Kompetenz.
5.3 Kernstelleninterpretation
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Der Erfolg des neuen Berufes muss sich zwar auch ökonomisch niederschlagen, wichtiger sind Karl Mitteldorf jedoch die Anerkennung der Patientinnen sowie die Sinnhaftigkeit seiner Tätigkeit. Beides kommt in der folgenden Passage des Interviews zum Ausdruck. Begeisterte Patientin und „Sinnentleerung“ im Vorberuf E: … ja, dann hab ich 1999, die Dorn-Methode noch kennengelernt, da habe ich heute gerade wieder eine Patientin, begeistern dürfen //mhm// also die hier mit äh, ner CD kam vom Freitag, Freitag wurde das festgestellt: „Ja Sie haben ne Skoliose und das muss auch nochmal per CT oder MRT weiter untersucht werden, und die Schmerzen können wir uns im Moment anders nicht erklären.“ so. und damit war sie natürlich unzufrieden. ich hab die Dorn-Methode gemacht hab das angewandt und sie sachte: „Ja sie wusste von ihrer Tochter ja eigentlich schon dass ich Wirbel für Wirbel durchgeh und nich so oberflächlich rangehe und sie ist, begeistert, was ich alles gefunden habe und was ich vorher schon vermutet habe und“, jedenfalls das ist so das Leben jetzt ne? //mhm// das macht Spaß wenn ich vergleiche, was ich da bei der FDJ manchmal äh m-machen musste //mhm// und und Überstunden, und wofür, und letztendlich alles gelo-gelogen gewesen ne und dann also, die Sinnentleerung sozusagen zur Wende. äh und hier praktisch den richtigen Riecher gehabt ne? (110–121)30
30 Diese Passage hätte auch in andere Absätze der Kernstelleninterpretation eingeordnet werden können, fügt sich hier allerdings ungebrochen in die Darstellungslogik des Erzählers ein.
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Karl Mitteldorf erlernt 1999, vor Vollendung seiner Homöopathieausbildung, noch eine weitere Methode, die er bei Patienten mit Wirbelsäulen-Beschwerden anwenden kann – die Dorn-Therapie31 . Mit diesem Verfahren kann er – in Ergänzung zur reinen ‚Büchermethode‘ – auch praktisch tätig werden. Er erzielt damit offensichtlich schnelle Erfolge bei seinen Patientinnen („da habe ich heute gerade wieder eine Patientin, begeistern dürfen“). Diese Episode beschreibt er ausführlicher und in wörtlicher Rede. Die Patientin erhält einen unbefriedigenden schulmedizinischen Befund. Karl Mitteldorf benennt hier nicht den Arzt an sich, sondern bleibt in der Distanz: „wurde das festgestellt“. Er kann die Unzufriedenheit der Patientin verstehen. In seiner Erzählung legt er Wert auf seine akribische Arbeitsweise, die sich bereits herumgesprochen hat, sodass die Patientin auf Empfehlung zu ihm gekommen ist („Ja sie wusste von ihrer Tochter ja eigentlich schon dass ich Wirbel für Wirbel durchgeh und nich so oberflächlich rangehe“). Karl Mitteldorf scheint auch vor der eigentlichen Behandlung der Wirbelsäule bereits eine Idee von den zu erwartenden Störungen gehabt zu haben, was einerseits die Patientin „begeistert“ („und sie ist, begeistert, was ich alles gefunden habe und was ich vorher schon vermutet habe“), und andererseits auf verfügbare Wissensbestände bei Karl Mitteldorf verweist, die es nun in der Diagnostik und Therapie zu überprüfen gilt. Es kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden, ob Karl Mitteldorf dabei ‚nur‘ akribisch Wirbel für Wirbel durcharbeitet, wie er es im Rahmen der Methode gelernt hat und wie es durchaus seinem biographischen Habitus entsprechen würde32 , oder ob er gezielt diagnostiziert und nach Befund nur die gestörten Wirbel behandelt33 . Karl Mitteldorf bricht an dieser Stelle ab und fasst seine jetzige Berufstätigkeit positiv evaluierend zusammen. Zunächst fällt hier auf, dass er seine berufliche Tätigkeit gleichzeitig mit seinem Leben gleichsetzt („jedenfalls das ist so das Leben jetzt ne?“). Dies, sowie die besondere Betonung, verweist auf die Bedeutung, die die Arbeit für ihn hat. Dass er einen Sinn gefunden hat, zeigt zum einen die Evaluation „das macht Spaß“ und zum anderen der biographische Rückbezug, 31 Sie ist eine sanfte manuelle Therapieform, die die Wirbelsäule (biomechanisch) ins „Zentrum des Wohlbefindens“ (Friedrich 2017: 787) rückt. Das Behandlungsspektrum der angewandten Techniken umfasst über die Wirbelsäule hinaus das gesamte Bewegungssystem (vgl. Friedrich 2017). 32 Diese Lesart unterstreicht, dass Friedrich (2017: 788) von „Untersuchungsalgorithmus“ spricht, der sich „durch nahezu alle Behandlungskonzepte der Dorn-Therapie zieht“. 33 Hier zeigt sich eine Limitation der Studie: Um konkrete und empirisch gesicherte Aussagen zum Handeln im Praxisalltag des Heilpraktikers machen zu können, wäre die Beobachtung einer oder mehrerer Sitzungen notwendig – analog etwa dem Vorgehen von Nicole Witte (2010).
5.3 Kernstelleninterpretation
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den Karl Mitteldorf hier zum Abschluss des Segments vornimmt. Dabei schwingt hier neben der Enttäuschung erstmals Kritik an seiner Tätigkeit vor der ‚Wende‘ mit – einmal bezüglich der Mehrarbeit („Überstunden“), aber auch bezüglich des Inhalts der Tätigkeit („und wofür“). Dies alles wurde letztendlich ins Absurde gesteigert („alles gelo-gelogen gewesen“) durch die „Sinnentleerung“ zur „Wende“. Dass Karl Mitteldorf die Situation erfolgreich retten konnte, zeigt die Koda, in der er auf seine intuitiv richtige Entscheidung verweist („und hier praktisch den richtigen Riecher gehabt“). Dabei stellt er den beschrittenen biographischen Weg der Auseinandersetzung mit den wenigen Optionen und der selbstständigen und erfolgreichen Aneignung des neuen Berufes eher bescheiden und nur ansatzweise selbstreflexiv dar. Dass der Aufbau seiner erfolgreichen Praxis erst nach und nach gelingt und Karl Mitteldorf diese Phase planvoll und mit zunehmender Konsequenz gestaltet, zeigen die folgenden Kernstellen zur Ökonomie und Selbstorganisation. Karl Mitteldorf entfaltet sie als Teil der zweiten Haupterzählung (erste immanente Nachfrage zum weiteren Weg der Heilpraktikerausbildung, -überprüfung und -tätigkeit). Zunächst ist die amtsärztliche Überprüfung zu bestehen. Planen und Bestehen der amtsärztlichen Überprüfung I: Und … wie ging es weiter mit Ihrer Prüfung und so E: J:a also ich hab, äh genau, die Amtsarzt-Prüfung nicht gleich 1994 gemacht wie es mir zugestanden hätte, auch vom Ausbildungsstand, sondern ich hab zugunsten, der PDS damals ich wusste 1994 is wieder Wahl:kampf Wahljahr, also äh stellst du das zurück. und da haben die sich ja gewundert drüben, im Westen als ich da im E-Großstadt zum Beispiel war wieder: „Ja wann machst du denn dein Amt- dein Heilpraktiker?“ ich sag: „1995.“ das war 1993 dann zum Beispiel mal:
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„Ja wieso denn das wieso machste das jetzt nich Ende ´93 oder nächstes Jahr?“ „Nein, da hab ich keine Zeit.“ also so war ich dann auch, dass ich von vornherein richtig einschätzen konnte da musst du so viel Überstunden wieder machen und rotieren, dass du gar nich zu deinem Eigenen kommst und, wenn du’s dann doch drauf ankommen lässt ich weiß es inzwischen von einigen Schülern die es, leider nicht so gemacht haben die sind dann durchgefallen. also man muss schon was bieten da beim Amtsarzt, der lässt nich jeden so ne? es war Doktor Paul damals ne? ähm der also ähm, jetzt inzwischen Rentner is aber, mit seinem Gremium so wie sich das gehört alles vernünftig gemacht ne? und, ja dann muss man schriftlich auch voll konzentriert sein und vor allem das Wissen, die Substanz muss vorhanden sein das merken die natürlich ne? das sehn die und dann geht’s nich und ‘95 äh habe ich dann, am fünfzehnten März meine Prüfung bestanden und dann äh, die Urkunde per siebten April bekommen, äh offiziell, Bestätigung vom Gesundheitsamt, dass ich eben äh, die Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung, vom Gesundheitsamt F-Stadt hiermit ne? mit Stempel und Unterschrift erhalte, äh und das war, im Grunde genommen der Einstieg (290–310)
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Karl Mitteldorf stellt die amtsärztliche Überprüfung um über ein Jahr zurück, da er realistisch einschätzt, dass seine damalige berufliche Situation als regionaler Geschäftsführer seiner Partei im Wahlkampf seine gesamte Kraft benötigt. Diese Tätigkeit priorisiert er zu jener Zeit. Er möchte seinen beruflichen Verpflichtungen gewissenhaft nachkommen, wie es seinem Habitus entspricht. Aus Erfahrung weiß er, dass ihm in dieser intensiven Zeit des Wahlkampfes für private Belange kaum Zeit bleibt. Diese Entscheidung ist erklärungsbedürftig bei seinen damaligen westdeutschen ‚Mitschülern‘ der Homöopathieausbildung. Karl Mitteldorf kennt seine Ressource, die Situation und seine eigene Kraft richtig einzuschätzen, und lässt sich nicht beirren. Die Erfahrung im weiteren Lebensablauf, in dem er als Dozent verschiedener Kurse von seinen Schülern von misslungenen Prüfungsversuchen erfährt, gibt ihm recht. Die amtsärztlichen Überprüfungen sind anspruchsvoll und mit ungenügender Vorbereitung kaum zu bestehen. Dass Karl Mitteldorf einerseits die Überprüfung mit Bravour gemeistert hat und ihn andererseits die Überprüfungspraxis des Amtsarztes und seines Gremiums überzeugt haben, wird in den folgenden Ausführungen deutlich. Er hat dem Amtsarzt offensichtlich ‚etwas geboten‘. Dies setzt voraus, in der schriftlichen Prüfung „voll konzentriert [zu] sein“ sowie „Wissen“ und „Substanz“ nachzuweisen. Keinesfalls wird jeder Bewerber durchgelassen und das Risiko durchzufallen, will Karl Mitteldorf nicht eingehen. Die Strategie erweist sich als richtig, sodass Karl Mitteldorf im März 1995 im ersten Versuch die Überprüfung besteht. Wie bedeutsam ihm dieses Ereignis ist, zeigen verschiedene Aspekte: die Erinnerung und Benennung der beiden konkreten Daten – des Prüfungstermins sowie der Ausstellung der Erlaubnisurkunde; die Benennung des offiziellen Titels „Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung“, mit expliziter Einführung dieses durch das Wort „offiziell“ sowie der formalen Ergänzung um den Ort des ausstellenden Amtes sowie „Stempel und Unterschrift“. Der formale „Einstieg“ in den neuen Beruf ist damit geglückt, wie Karl Mitteldorf allerdings in einer relativierenden Form („im Grunde genommen“) markiert. Was ihm noch wichtiger ist, ist der eigene Nachweis des anwendungsbereiten Homöopathiewissens. Der Praxisreife vergewissert sich Karl Mitteldorf durch zwei gelungene Anamnesen, wie die Ausführungen direkt im Anschluss zeigen. Zwei erfolgreiche Anamnesen – die Praxisreife E: … und hab dann auch am dritten Juni 1995 äh schon meine erste, große Anamnese gemacht. ne? ich war in B-Großstadt noch gar nich durch ‘96 haben wir da erst die Abschlussprüfung gehabt
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und die Abschlussarbeit äh: abgegeben, und hab aber, bin angesprochen worden von einer Ehemaligen, ja PDS äh, ne? die kannte mich hatte Vertrauen hat mitgekriegt ich hatt das auch durchaus erzählt ne? also: „Ich hab da ich mach da Ausbildung“ und so weil da musste ich zum Teil ja auch weil ich ja dann auch Wochenende manchmal nich zur Verfügung stand, meine Ausbildung gemacht hab: „Ja kannst denn nich ma gucken ich hab so Migräne“, und das hab ich ihr damals mit Lachesis geheilt schon ne? also, den Fall hab ich noch, das is insofern interessant und per dritten Juni jetzt habe ich praktisch wirklich zwanzig Jahre, kann man sagen, Heilpraktiker. I: Mhm E: Ne? das is für mich äh der der die Prüfung die bestandene das is ja, ne? da hat man das Wissen erstmal nachgewiesen ne? aber das Eigentliche jetzt… die eigentliche Prüfung war dann diese Anamnese, „Ja du kannst es“ ne? und dann kam noch im Oktober, eine auf mich zu die auch per Anamnese ne Anamnese also erforderte. ich wusste ja gar nich dass das so geht, aber wo ich gemerkt habe das war genauso n Fall wie’s uns dort vorgestellt wurde
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in B-Großstadt und ich hab zunächst gedacht ich hab nen Déjà-vu oder, ähm jetzt versuchen die mich hier zu testen das is ge-gezinkt das kann gar nich sein genau dieses seltene Beispiel Wachstumsstopp, durch Impfung ne? hat Harald Florian damals mal vorgestellt in B-Großstadt, und die Patientin erzählte das hier. die war auch relativ klein. war inzwischen fünfundzwanzig ne? und äh, ich wusste (Tulia und Thyrili idinum) ne? sind dann die Mittel, also das hab ich durch B-Großstadt dann schon mal, ganz gut, ja mir bestätigen können, ich hab da was gelernt und dass es wirklich, praxisra- äh reif is praxisanwendungsbereites Wissen. I: Mhm E: Und das hat dann, auch nochmal so n Input gegeben so ne, Bestärkung (310–346)
Kurz nach Erwerb der amtsärztlichen Erlaubnis wird Karl Mitteldorf informell von einer ehemaligen Kollegin angesprochen, ob er ihr mit ihrer Migräne helfen könne. Auffällig ist hier zunächst die formale Gestaltung, mit der Karl Mitteldorf seine Biographie weiter ausführt. Er gibt das Datum seiner ersten großen Anamnese exakt an und verortet es zwischen bestandener amtsärztlicher Überprüfung und noch ausstehendem Homöopathieabschluss. Damit wird die Bedeutung dieses Ereignisses deutlich, was sich im weiteren Teil dieser Passage mehrmals bestätigt − so z. B., wenn Karl Mitteldorf dieses Datum als Startpunkt seiner nunmehr 20-jährigen Heilpraktikertätigkeit markiert, und es bis heute noch als praxisbezogenen Fall den Teilnehmenden seiner Kurse präsentiert. Er wird hier lebhafter in seinen Ausführungen und beschreibt in wörtlicher Rede die ersten beiden großen Anamnesen. In der Zeit zwischen amtsärztlicher Überprüfung und Beendigung seiner Homöopathieausbildung wendet sich also die damalige Kollegin mit ihren gesundheitlichen Problemen an ihn. Karl Mitteldorf betont hier die kollegiale Vertrauensbasis, die dazu führt, dass sie ihn anspricht. Er ist nicht aktiv auf sie zugekommen
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und hat Hilfe angeboten, sondern hat nur im Kontext von Terminüberschneidungen auf seine nebenberufliche Ausbildung hingewiesen. Diese führt dazu, dass er nicht uneingeschränkt an den Wochenenden für seinen Arbeitgeber zur Verfügung steht. Die Doppelbelastung von Vollzeit-Hauptberuf und neuer Berufsausbildung ist nachvollziehbar. Karl Mitteldorf scheint, so gut es geht, den Erwartungen des Arbeitgebers gerecht werden zu wollen, worauf die Formulierung „manchmal nich zur Verfügung stand“ verweist. Die erste große Anamnese gelingt und die Patientin wird gesund, was Karl Mitteldorf auf seine erfolgreiche Leistung zurückführt. Dies impliziert fast eine ‚Allmachtsfantasie‘. Das Paradigma der Heilung, verbunden mit dem Erfolgszwang, lässt sich im paternalistischen schulmedizinischen Paradigma finden. Dem entgegengesetzt gehen die Homöopathie und Naturheilkunde von einer Aktivierung der Selbstheilungskräfte aus und von einer unterstützenden Tätigkeit. Dieses Paradigma verlässt Karl Mitteldorf an dieser Stelle, wenn er seinen Heilerfolg beschreibt. Sein Erfolg ist für ihn so beeindruckend, dass er den Fall noch heute in der Lehre präsentiert (was Karl Mitteldorf als „interessant“ markiert). Dies verweist darauf, dass er in der Lehre praxisorientiert und erfahrungsbasiert vorgeht. Das Datum dieser Anamnese markiert für Karl Mitteldorf den Startpunkt seiner langjährigen praktischen Heilpraktikertätigkeit, wie er in der Zwischenevaluation verdeutlicht. Diese bildet gleichzeitig den Einstieg in eine reflektierende Auseinandersetzung um die nachrangige Bedeutung des formalen Wissensnachweises bei der amtsärztlichen Überprüfung gegenüber dem für ihn praxisrelevanten und anwendungsbereiten Wissen der Homöopathieausbildung („das Eigentliche“), das er mit dieser erfolgreichen Anamnese erstmalig nachgewiesen hat („die eigentliche Prüfung war dann diese Anamnese“). Dieses praxisrelevante naturheilkundliche (Fach-)Wissen ist nicht Bestandteil der formalen Überprüfung. Interessant erscheint die selbstbewusste Konstruktion des: „Ja du kannst es“, mit der Karl Mitteldorf den Erfolg seiner ersten Anamnese evaluiert. Sie verdeutlicht den Zugewinn an Sicherheit und Gestaltungsspielraum, der für den weiteren Weg in den neuen Beruf hinein für ihn unerlässliche Basis auf seiner Suche nach berufsbiographischer Kontinuität ist. Die gewählte Formulierung ist umfassend und schließt Misserfolg aus. Eine zweite Bestätigung erhält Karl Mitteldorf etwa ein Vierteljahr später, als eine weitere Klientin auf ihn zukommt und um eine Anamnese bittet. Diese Frau präsentiert sich ihm als ein seltener Lehrbuch-Fall, was Karl Mitteldorf so überrascht, dass er zunächst an einen konstruierten Test denkt. Er führt hier einige Merkmale (nah an einer Symptomlogik) und die laut Lehrbuch anzuwendenden Mittel auf. Er hat den vermittelten Stoff abrufbereit, wie ihm dieser Fall bestätigt,
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was ihm wiederum Zuversicht gibt. Auch hier überrascht, dass Karl Mitteldorf noch nach so langer Zeit diesen Fall erinnert, was darauf hindeutet, dass er auch diesen öfter präsentieren wird bzw. diese Geschichte nicht zum ersten Mal erzählt. Über praxisbereites Wissen zu verfügen, ist allerdings nur die inhaltliche Seite zum Erfolg der neuen Beruflichkeit. Nun geht es darum, auch den Schritt in die ökonomische Selbstständigkeit zu wagen bzw. mit dieser Herausforderung umzugehen. Dies ist verbunden mit dem Aufgeben der finanziellen Sicherheit einer monatlichen Gehaltszahlung und der eigenverantwortlichen langfristigen sozialen Absicherung. Dass dieser Prozess bei Karl Mitteldorf mit Unsicherheiten verbunden ist und sich über mehrere Jahre hinzieht, zeigen die weiteren Segmente direkt im Anschluss der autobiographischen Stegreiferzählung. Schwierigkeiten einer Selbstständigkeit, Heilpraktiker im Neben- und Vollerwerb E: … muss dann aber auch die ganze Wahrheit sagen dass ich zunächst, Muffengang hatte mich in Vollerwerb niederzulassen. … und denn hab ich am, 2000 endgültig die Kurve gekriegt bis dahin hab ich’s immer wieder von zu Hause auch gemacht bin zu dem Patienten gefahren der mich gefragt hat, stand schon in den Gelben Seiten, aber der richtige sag ich mal äh Schub offiziell übers Gesundheitsamt übers Finanzamt, lief dann ab 2000. also jetzt das sechzehnte Jahr. I: Mhm E: Ne? das ist auch die ganze Wahrheit also, davor hab ich meine Anamnesen auch gemacht. ich hab auch Leuten geholfen bei ASL zum Beispiel amyotrophe Lateralsklerose ja ALS ja so rum, äh: also es is nich äh geheilt worden durch mich aber sie hatte kein Speichelfluss mehr, also schwere Krankheiten die kamen schon auf mich zu damals. hätte ich heute nich anders. Phosphor hab ich gegeben.
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und ich hab da nichts Besseres aus der Sicht der Anamnese damals. und das sind Sachen wo ich gemerkt hab: „J:a du hast es schnell begriffen, du kannst es umsetzen, es is gediegenes Wissen und die Patienten sind da, die das eigentlich brauchen“, ne? das war nur noch der Kopf. den Kopf frei zu kriegen: „D:u machst es jetzt wirklich, nur noch und nun nich mehr irgendwas anderes.“ hab dann so mit, Außendienst für, zum Beispiel ne Partnervermittlung mich noch über Wasser gehalten noch, Geld verdient, und hab dann auch für A-Verlag, die Lexikothek verkau:ft solche Sachen das lag mir natürlich auch ganz gut weil’s da auch um Wissen ging ne? hat mir eigentlich auch, schon Spaß gemacht aber, letztendlich der Verkauf natürlich nich. ich bin, kein Verkäufer. hab dann sogar, ne Heilpraktikerschule in A-Stadt gegründet, im Auftrage von D-Großstadt hab denen gesagt: „Also, zwischen A-Großstadt und C-Großstadt,“ die kennen sich ja nich aus im Osten, „gibt es eine Stadt äh die äh relativ viel Einwohner hat und, die liegt so mittendrin“ ne? „Das könnte sich vielleicht lohnen“ und dann is it auch gelungen mit 15 Teilnehmern hier ne Schule erstmal zu gründen. und, das war dann auch äh, für mich nochmal ganz gut dass ich noch Einkommen hatte, aber das brach denn wieder zusammen weil ich nich der Verkäufer bin. ich hab den Leuten dann auch immer die Wahrheit gesacht und dann ham viele zurückgezogen: „Oh, das is aber wohl doch, nich so einfach wie es in den Büchern steht oder in der Zeitung beworben wird. das is ä:h lassen wir ma lieber“ ne? so und, daraufhin warn die Zahlen die Verkaufszahlen zu gering
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der Ein- das Ein-, also der Gewinn für die D-Großstädter ne? für den … Heilpraktiker Helmut Karsten, Heilpraktiker und Kaufmann. is der Gründer der A-Heilpraktikerschule. I: Mhm E: Ne? (1) ja. also das warn so:, Sachen wo ich dann so mich mehr immer noch so über Wasser gehalten hab (346–348, 367–403)
Karl Mitteldorf leitet die folgende argumentative Sequenz zunächst damit ein, dass er die „ganze Wahrheit“ sagen muss. Den Aspekt der Wahrheit wiederholt er in der Passage mehrmals, womit er seinen heutigen Erfolg als nicht selbstverständlich und selbstläufig markiert und auf eine, teilweise tabuisierte, strukturelle Schwierigkeit der Heilpraktikertätigkeit abhebt – nämlich, den Sprung in eine Vollerwerbstätigkeit, die den Lebensunterhalt sichert, zu schaffen. Sein Wechsel zwischen persönlicher und allgemeiner Formulierung in den ersten vier Zeilen zeigt, dass sowohl er selbst betroffen ist, hier aber ebenso ein gesellschaftliches Phänomen des Heilpraktikerberufes durchscheint. Im Dilemma, das wirtschaftliche Risiko vollständig auf den neuen Beruf zu verlagern, verharrt Karl Mitteldorf etwa fünf Jahre, bis er „2000 endgültig die Kurve (…) kriegt“. Diese Phase ökonomischen Balancierens führt er genauer aus. So behandelt er Patienten sowohl von zu Hause aus als auch in Hausbesuchen, wirbt in den „Gelben Seiten“, ohne schon formal als Praxis angemeldet zu sein. Er geht genauer darauf ein, dass es ihm auch damals gelingt, Leute erfolgreich zu behandeln. Dies führt er am Beispiel einer schweren neurologischen Erkrankung aus. Beim Begriff der ALS muss er sich korrigieren, was darauf verweist, dass dies ein Beispiel ist, von dem er nicht so oft erzählt. Hier kann er den Anspruch der Heilung nicht erfüllen, führt aber das Symptom des Speichelflusses als Marker für eine Verbesserung an. Auch hier ist für Karl Mitteldorf wieder wichtig, dass er eine Idee davon hat, wie er mit Patientinnen arbeiten kann. Er würde heute noch genauso wie damals therapieren und führt das passende Mittel gleich mit an. Karl Mitteldorf vertraut auf sein „gediegenes Wissen“ und bekommt in dieser Zeit zunehmend Sicherheit, dass sein Konzept funktionieren kann – einerseits, weil er über anwendungsbereites Wissen verfügt, das er sich effektiv aneignen kann („J:a du hast es schnell begriffen, du kannst es umsetzen, es is gediegenes Wissen“), aber auch, weil es Patienten gibt, die von seiner Arbeit profitieren können
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
(„und die Patienten sind da, die das eigentlich brauchen“). Mit dem benutzten „eigentlich“ relativiert er diese Aussage, vielleicht weil seine Sichtweise, dass sein Können gebraucht wird, noch lange nicht der subjektiven Sicht potenzieller Patientinnen entsprechen muss bzw. diese auch erst den Weg zu ihm finden müssen – in der Entscheidung zwischen Schulmedizin/homöopathisch arbeitenden Medizinerinnen und nicht-legitimierter Naturheilkunde. Für Karl Mitteldorf gilt es nun, bewusst zu entscheiden, sich voll auf den neuen Beruf einzulassen: „das war nur noch der Kopf. den Kopf frei zu kriegen: „D:u machst es jetzt wirklich, nur noch und nun nich mehr irgendwas anderes.““ Dass es ihm wirtschaftlich nicht gutging, darauf verweist die Konstruktion des „über Wasser gehalten“, mit der er die Ausführungen über die ökonomischen Sicherungsversuche einführt und am Ende auch abschließt. Karl Mitteldorf arbeitet zu jener Zeit im Außendienst für eine Partnervermittlung und einen Buchverlag, für den er Lexika vertreibt. Zum klassischen Medium der Wissensvermittlung fühlt er sich zwar hingezogen, allerdings steht der vollen beruflichen Zufriedenheit und dem konsequenten Erfolg, der sich letztlich in Verkaufszahlen ausdrückt, seine mangelnde Affinität zum Verkauf entgegen. Dies betont er noch einmal explizit: „ich bin, kein Verkäufer“. Mit der Gründung einer Heilpraktikerschule in seinem Wohnort kann er sich sogar – handlungsaktiv − eine willkommene weitere Verdienstmöglichkeit erschließen, die zudem an seinem neuen Beruf anschließt. Auch dieser Nebenverdienst ist zeitlich begrenzt. Die Schule schließt aufgrund zu niedriger „Verkaufszahlen“. Karl Mitteldorf klärt die an einer Heilpraktikerausbildung Interessierten offen darüber auf, dass die erfolgreiche Berufstätigkeit als Heilpraktikerin mit Problemen verbunden sein kann. Allerdings sagt er nicht genau, welche Aspekte er besonders betont. Vorstellbar ist, dass er die ökonomischen Zwänge der selbstständigen Tätigkeit in das Zentrum seiner Beratung stellt, da er sich zu jener Zeit selbst intensiv mit dieser Problematik auseinandersetzt und sie noch nicht gelöst hat. Ebenso verweisen die explizite Nennung des kaufmännischen Abschlusses des Gründers der Heilpraktikerschule, aber auch das sprachliche Ringen um den passenden Begriff des „Gewinns“ darauf, wie wichtig und gleichzeitig vulnerabel der wirtschaftliche Erfolg einer Heilpraktikertätigkeit ist – sei es im Betreiben privater Schulen oder in einer eigenen Praxis. Für Karl Mitteldorf gestaltet sich diese Phase des beruflichen Neubeginns also zunächst als wirtschaftlich schwierige Suchbewegung („also das warn so:, Sachen wo ich dann so mich mehr immer noch so über Wasser gehalten hab“). Dass ökonomische Schwankungen bis heute Karl Mitteldorf in seiner Vollzeittätigkeit begleiten, belegt die folgende Passage. Unplanbarer ökonomischer Erfolg
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E: … ich hab natürlich auch mal so n Punkt wo ich dann 2012, ähm war mein be:stes Jahr das klingt jetzt wirklich sehr widersprüchlich, und da hab ich im Frühjahr gedacht da kommt keiner mehr. also irgendwie war da so so n Loch auf einmal (928–930)
Der wirtschaftliche Erfolg ist nicht verlässlich planbar, wie es z. B. eine Bestallung niedergelassener Kassenärzte garantieren würde. Ein schwieriger Jahresbeginn kann sich jedoch durchaus zum Positiven wenden und sogar zum besten Jahr werden, wie Karl Mitteldorf am Jahr 2012 darlegt. Dass Karl Mitteldorf dieses Jahr explizit aufführt, verweist darauf, dass er seine ökonomische Situation systematisch beobachtet, denn diese stellt die Basis seiner stabilen Lebenssituation dar.34 Die Konstruktion „also irgendwie war da so so n Loch auf einmal“ verweist darauf, dass wirtschaftliche Unsicherheiten zum beruflichen Alltag dazugehören und dass diese plötzlich und unerklärbar auftreten können. In den letzten Jahren hat sich eine gewisse ökonomische Stabilität eingestellt, die Karl Mitteldorf an einem vollen Terminkalender bemisst, entlang von Neuanmeldungen und zufriedenen Patientinnen. Ein voller Kalender und zufriedene Patientinnen E: … und so ist das praktisch jetzt jedes, Jahr für Jahr äh immer=man stau-staune ja selber immer wieder ähm wie am Kalender sich dann füllt nach und nach und, en bisschen komisch ist es immer so zum Jah:reswe:chsel s:o, das war dies Jahr nich. äh vom letzten Jahr hab ich schon Neuanmeldungen für Januar gehabt und das Jahr davor auch, aber gibt dann schon Jahre wo man dann erstmal nur Fol:gekonsultationen hat sicher nur aber nich-nicht unbedingt Anamnesen ne, 34 Die lebensgeschichtliche Selbstpräsentation entlang von Orten und Daten ist aber auch Teil seines biographischen Habitus. Dies dient der Systematisierung und Handhabbarmachung und findet analog Ausdruck in seinem beruflichen Handeln der akribischen Repertorisierung in Diagnostik und Therapie.
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das ist ja so ne das vor allem wovon man jetzt weiter, zeh:ren kann wenn jemand neu kommt und dann praktisch den weiterführt ne, //mhm// seine ‚die Anamnese mit Folgekonsultation‘ weil heute zum Beispiel heut Morgen eine Patientin so ist das Leben: „Ich bin soweit zufrieden“ der Hautausschlag vor allem an den Händen das hat sie massiv gestört das ist weg und ähm, sonst war noch ne Verschlimmerung eingetreten hab ich ihr nochmal erklärt und, jo ist sie zufrieden gegangen. das ist dann auch wieder der Gang der Dinge ist ja, normal ist wenn jemandem geholfen wurde und er dann geheilt ist dass der geht, aber äh zugleich ka-kam gleich danach eine sogar Privatversicherte wovon wir sa-ganz wenige haben ne, die unbedingt meine Hilfe wollte ne, auch gern wiederkommt ne, also das ist s:o wo man dann immer Mut schöpft und sagt: „Dat geht weiter“ ne,//mhm// das ist einfach so: inzwischen entstanden wo man sich freut, ne (971–986)
Die wirtschaftliche Stabilität nimmt Karl Mitteldorf nun seit einigen Jahren verlässlicher wahr („und so ist das praktisch jetzt jedes, Jahr für Jahr“). Dabei beobachtet er immer wieder mit Erstaunen, wie sich die Patientinnen nach und nach anmelden, wie der „Kalender sich dann füllt“. Für Verunsicherung („en bisschen komisch“) sorgt dabei, wenn sich zum Jahreswechsel noch keine neuen Patienten („Anamnesen“) angemeldet haben, sondern er erst einmal „nur“ Folgebehandlungen durchführt. Dies weist darauf hin, dass neue Patientinnen die wichtige Basis für den weiteren ökonomischen Erfolg seiner Tätigkeit bilden. Hierzu führt Karl Mitteldorf weiter aus: „das ist ja so ne das vor allem wovon man jetzt weiter, zeh:ren kann wenn jemand neu kommt und dann praktisch den weiterführt“. Formal verbleibt er hier in einer distanzierten Expertenlogik, wie es
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aus der Medizin bekannt ist, wenn er die Patienten nicht als Menschen bezeichnet, sondern als „Anamnesen“ und „Neuanmeldungen“ bzw. als „Folgekonsultation“. Diese Distanz gibt er teilweise auf, als er von der Interaktion mit einer Patientin spricht, die kurz vor dem Interview bei ihm gewesen ist. Auch hier wird wieder sein beruflicher Habitus sichtbar: Karl Mitteldorf orientiert sich an den Symptomen und arbeitet gezielt auf deren Besserung hin. Er weiß, was zu erwarten ist („Erstverschlimmerung“) und erklärt dies bei Unsicherheit den Patientinnen. Hier schwingt sein Anspruch mit, alles zu tun, damit die Patientin zufrieden mit ihm ist („Ich bin soweit zufrieden“ sowie „und, jo ist sie zufrieden gegangen.“). Gradmesser seiner Behandlung ist die Zufriedenheit der Patienten. Dabei akzeptiert er als Normalität („Gang der Dinge“), dass Patientinnen nach Besserung ihrer Symptome die Behandlung beenden („ist ja, normal ist wenn jemandem geholfen wurde und er dann geheilt ist dass der geht“). Hier wird noch einmal deutlich, dass Karl Mitteldorf dem Paradigma der Heilung folgt und er die Heilung als Folge eigener Intervention einschätzt oder auch der Intervention eines Experten allgemein, wie die allgemeine Form der Aussage impliziert. Gleichzeitig mit dem Weggang dieser Patientin kam eine neue hinzu, diesmal „sogar“ eine der seltenen Privatversicherten, was Karl Mitteldorf besonders hervorhebt. Ebenso betont er den Aspekt der unbedingten Therapieanfrage bei ihm („die unbedingt meine Hilfe wollte“), der seine Bekanntheit hervorhebt und vielleicht auch eine Patient-Therapeut-Abhängigkeit andeutet. Es gelingt Karl Mitteldorf, auch diese Patientin zufriedenzustellen, denn es scheint so, dass auch sie „gern wiederkommt“. Diese berufliche Alltagssituation hat dazu geführt, dass sich Karl Mitteldorf sicherer fühlt, wie er vorsichtig optimistisch – das Flüchtige des Zustands bleibt implizit enthalten – ausdrückt („wo man dann immer Mut schöpft und sagt: „Dat geht weiter“ ne“). Karl Mitteldorf negiert fast seinen eigenen Beitrag am beruflichen Erfolg, wenn er kindlich bescheiden evaluiert: „also das ist s:o ne, […] das ist einfach so: inzwischen entstanden wo man sich freut, ne“. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Erfolg seiner langjährigen Praxistätigkeit in einer sozialstrukturell schwachen Region das Ergebnis von Disziplin, konsequenten Bemühungen und eigener Einschränkung ist. Wie schwer Karl Mitteldorf der Weg zum ökonomischen Praxiserfolg, aber auch die Bewältigung marktwirtschaftlicher Anforderungen im Allgemeinen gefallen sein mag, darauf verweist auch eine Passage, in der er die Heilpraktikerausbildung scharf kritisiert. Kritik an der Heilpraktikerausbildung
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E: … also das ist auch etwas wo, wo man uns damals auch vieles nicht gesagt hat der kaufmännische Aspekt. ne sag ich- schimpf ich heute noch sag ich zu meiner Frau: „Das hätten die mir alles beibringen müssen das hab ich mir selber über die Jahre beigebracht das kann doch nicht wahr sein“ (1150–1153)
Der „kaufmännische Aspekt“ der Heilpraktikertätigkeit blieb offensichtlich in Karl Mitteldorfs Ausbildung unberücksichtigt35 . Ungesagt bleibt, welche kaufmännischen Aspekte ihm konkret gefehlt haben. Die Konstruktion des ‚sich selbst über die Jahre beigebracht zu haben‘ verweist auf die praktischen Bestandteile einer selbstständigen Tätigkeit. Dies mögen insbesondere Teile von Rechnungslegung, Kalkulation und Steuerrecht, aber auch die Legitimation vor dem Gesundheitsamt sein. Noch heute verbleibt er in der anklagenden Kritik („schimpf ich heute noch“; „hätten die mir alles beibringen müssen“; „das kann doch nicht wahr sein“). Die Darstellung verweist auf die Erwartungshaltung, wesentliche wirtschaftliche Inhalte in die grundständige Ausbildung zu integrieren. Allerdings scheint darüber hinaus mehr hindurch: Das „wo man uns damals auch vieles nicht gesagt hat“ kann auch eine Konstruktion des kollektiven Umgangs mit dem plötzlichen gesellschaftlichen Wandel in der ehemaligen DDR widerspiegeln. Sie steht hier als enttäuschte Erwartung. Die abrupte Ökonomisierung aller Bereiche des Lebens führte zu einer massiven Überforderung. Sie bestand im Leben von Karl Mitteldorf und seiner Frau insbesondere in der Bearbeitung des Verlusts der beruflichen und sozialen Identität und Arbeitsplatzsicherheit und dem jahrelangen Kampf um ökonomische Sicherung auf Basis eines neuen Berufes, der zudem in einer gesellschaftlichen Nischenposition verortet ist. Karl Mitteldorf wurde dabei zum alleinigen Versorger der Familie. Dies hebt zwar einerseits seinen Erfolg hervor, zu seiner sozialen Realität gehört aber auch der missglückte Versuch seiner Frau, eine berufsbiographische Kontinuität herzustellen. Das marktwirtschaftlich gesteuerte System privater Gesundheitsversorgung, wie es Heilpraktikeranwärtern in der BRD von vornherein bekannt gewesen sein mag, ist der sozialen Welt Karl Mitteldorfs mit der ‚ostdeutschen Sozialisation‘ fremd. Immer wieder stößt er in der Auseinandersetzung mit Anforderungen der
35 Vielleicht hat er ihn auch bei der Wahl seiner Grundlagenmodule ausgeblendet und deshalb kein Grundlagenwissen dazu erhalten.
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Marktwirtschaft an ihn als Partizipierenden36 an der Arbeitswelt an Grenzen. Hier hat er konkrete Unterstützung und insbesondere auch Beratung im Vorfeld erwartet. Wir wissen von Karl Mitteldorf, dass er handlungsschematisch seine Herausforderungen erfolgreich meistern kann, aber er muss sich an Vorgaben oder dem Rat von Autoritäten und Experten orientieren können. Das eben angeführte Subsegment gehört zu einem Suprasegment zur Heilpraktikerausbildung, das auf eine exmanente Nachfrage hin entfaltet wird und durchgehend eine kritische Sichtweise aufzeigt. So führt Karl Mitteldorf in das Suprasegment ein mit: „Also ich hab, ga:nz böse äh:: Erfahrungen gemacht.“ (Z. 1048). Karl Mitteldorf kritisiert verschiedene Defizite seiner eigenen Ausbildung, aber insbesondere auch der aktuellen Praxis an der Institution, in der er seit 20 Jahren lehrt. Dies ist eine der führenden Heilpraktikerschulen in der BRD. Um Karl Mitteldorfs Anonymität zu wahren, erfolgt an dieser Stelle keine Interpretation weiterer Kernstellen zu diesem Thema. Vielmehr werden prägnante Kritikpunkte zusammengefasst, die von Karl Mitteldorf dargelegt werden. Dabei argumentiert er, beschreibt aber auch und belegt mit Geschichten, wie sich Heilpraktikeranwärter mit ihren Sorgen und Nöten an ihn als einen verlässlichen Dozenten wenden. Dahinter steht zum einen, sich selbst als engagierten („ich geb natürlich alles was ich kann“, Zn. 1050 f.) und erfolgreichen Dozenten („also muss ich insofern alles richtig gemacht haben. also kann ich mich da jetzt rausnehmen aus der Kritik“, Zn. 1069 ff.) zu präsentieren. Zum anderen werden die moralischen Grundsätze Karl Mitteldorfs deutlich, die sich in seinen Erwartungen an eine hochwertige Ausbildung widerspiegeln, die Heilpraktikeranwärterinnen bestmöglich und mit einem vertretbaren ökonomischen Aufwand auf die künftige Berufskarriere vorbereiten soll − insbesondere weil der Quereinstieg in diesen Beruf eine besondere Verantwortung für Ausbildungseinrichtungen mit sich bringt („äh in der Ausbildung zum Heilpraktiker gerade weil es Quereinsteiger sind so- sollte besonders verantwortungsbewusst angepackt werden“, Zn. 1177 f.). Karl Mitteldorf, der sich biographisch immer an Autoritäten orientiert hat, ist im Laufe seines beruflichen Lebens selbst zu einer Autorität geworden, an der sich ‚Neulinge‘ in ihren Suchbewegungen orientieren (können). Ihnen möchte er nun gerecht werden und dies drückt er auch in seiner institutionellen Kritik aus. Sie mündet darin, dass er sich mit dem Gedanken trägt, seine Lehrtätigkeit an dieser Schule zu beenden („ich hab der Studienleiterin auch schon gesagt ich könnt mich da auch von verabschieden ne, also das ist mir alles z:u blöd äh da den Namen für herzugeben für diesen Sauladen“, Zn. 1080 ff.). Allerdings zeigen sich im 36 Dabei umfasst Partizipation die Doppelbedeutung „konsumierendes Teil-Nehmen und gestaltendes Teil-Haben“ (Vester 2012: 40).
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Agieren Karl Mitteldorfs auch Dimensionen, die den Schulerfolg im Allgemeinen sabotieren können. Dies passiert dann, wenn er in seiner Vorbild- und Beraterrolle den Ratsuchenden so viele Hinweise gibt, dass er die thematisch passenden Seminare vorwegnimmt, was dazu führt, dass die potenziellen Teilnehmenden von Kursanmeldungen Abstand nehmen. Im Austausch mit Karl Mitteldorf haben sie nun bereits alle relevanten Inhalte erhalten („Nö dann gehn wir doch nicht mehr zum ei:gentlichen Seminar […] Das kost zusätzliches Geld der kann uns auch auf keinen Fall Neues erzähln“, Zn. 1162–1165). Hier wird die eingeschränkte professionelle (Selbst-)Reflexivität Karl Mitteldorfs deutlich. Zudem gibt dieser Aspekt auch Hinweise auf Erwachsenenlernen und offenbart zugleich eine Grenze der institutionellen Selbstreflexivität. Offensichtlich schöpfen die durch Karl Mitteldorf angesprochenen Lernenden ihren Lernerfolg aus dem direkten Austausch mit einer Person, die authentisch aus der Praxis erzählt – im Gegensatz zu einem zusätzlichen Seminar in einer Top-down-Frontalaufbereitung. Hier gibt es mindestens lehr-lernpädagogisch und didaktisch ein Modernisierungspotenzial für die Heilpraktikerausbildung. Folgende Kritikpunkte der Strukturen und sozialen Praktiken im Rahmen der Heilpraktikerausbildung führt Karl Mitteldorf explizit aus: 1) Gewinnorientierung der Schule(n) steht über der Qualität der Ausbildung. Dies führt dazu, dass einfache Inhalte künstlich verkompliziert und zeitlich ausgeweitet werden, um höhere Gebühren verlangen zu können. 2) Dies wird verschärft durch eine umsatzabhängige Vergütung der Lehrpersonen. 3) Das ökonomische Interesse der Dozierenden scheint im Allgemeinen öfter über dem inhaltlichen Interesse an einer Lehrtätigkeit zu liegen, was sich in wiederholten Beschwerden der Kursteilnehmenden zeigt. Karl Mitteldorf kritisiert über die Motivation hinausgehend auch den Ausbildungsstand vieler beschäftigter Dozentinnen und Dozenten. Hierbei benennt er sowohl fachliche als auch pädagogische und didaktische Mängel einer qualitativ hochwertigen Lehrtätigkeit. Allerdings ist wieder die Medizin Bewertungsmaßstab, weniger die (universitäre) Erwachsenenbildung/Berufspädagogik. 4) Zunehmende Verkürzung komplexer Lehrsysteme wie der Klassischen Homöopathie oder der Traditionellen Chinesischen Medizin auf ein zeitliches Minimum, was zu einer weiteren qualitativen Einbuße führt. Den Lernenden wird nicht genügend Zeit eingeräumt, komplexe Inhalte zu durchdringen, zu verinnerlichen und sie in der späteren Praxis sicher anwenden zu können. 5) Ungeregelte Marktmechanismen führen dazu, dass professionelle und teure Werbung zu einem Marktvorteil im Kampf um Kursteilnehmende führt. Schulen mit fairen Preis-Leistungs-Verhältnissen sind im Nachteil, da sie
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weniger Geld in kostenintensive Werbung investieren. Allerdings spricht eine umfangreiche Werbung nicht notwendigerweise für eine qualitativ hochwertigere Ausbildung, was durch die Interessierten im Vorfeld nicht einschätzbar ist (Informationsgefälle). Nach Abschluss eines Vertrages mit einer Schule gibt es kaum Möglichkeiten, ohne finanzielle Nachteile aus einem Vertrag auszuscheiden. (Zn. 1046–1205) Zur Einsicht in die konkrete Berufspraxis Karl Mitteldorfs lassen sich verschiedene Segmente aus der exmanenten Nachfragephase heranziehen. Informationsaustausch per Telefon, Informationsordnung anhand von Büchern E: … ich hab auch äh so dreißig Prozent ungefähr Patienten die von größerer Entfer= aus größerer Entfernung kommen zum Beispiel H-Großstadt, ähm A-Gebiet, ä:hm aus B-Bundesland warn auch schon Leute hier, äh die ich dann auch, oder A-Insel äh B-Insel, ähm C-Großstadt auch äh dass ich dann praktisch die auch telefonisch be:rate, das geht ja auch ne, dann hab ich den Hörer in der Hand und die dicken Bücher zieh ich mir dann rüber und repertorisier dann oder wenn ich sag: „Ich komm jetzt nicht das warn zu viele Informationen“ dann legen wir gemeinsam auf dann ruf ich zurück wenn ich fertig bin ne, dann kriegt der von mir das Mittel genannt, welche Potenz woher er das herbekommt also da=da auch kümmer ich mich dass jeder äh dass keiner im Regen steht (763– 771)
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Karl Mitteldorf beschreibt hier, dass ein beachtlicher Anteil seiner Patienten aus anderen Orten – näher und weiter entfernt – kommt. Indem er sie telefonisch betreut, sichert er dieses weite Einzugsgebiet seiner Praxistätigkeit ab. Diese Konstruktion verdeutlicht zudem Karl Mitteldorfs überregionalen Bekanntheitsgrad. Er hebt weiter hervor, dass seine Art der Tätigkeit eine telefonische Beratung zulässt („das geht ja auch ne“). Der Hörer ist gleichsam die Verbindung zum sprechenden Patienten, er bringt allerdings die Arbeit aus einer Distanz heraus mit sich. Hinzu kommt, dass das eigentlich wichtige Arbeitsmittel die „dicken Bücher“ sind. Diese zieht er nahe zu sich heran und kann parallel zum Patientengespräch Symptome und Mittel abgleichen („repertorisieren“). Er ordnet die Krankengeschichte mithilfe seiner Bücher. Er ‚tüftelt‘ quasi die Lebenswirklichkeit des Patienten zurecht und für ihn aus, wie dieser wieder gesunden kann. Auf diese Weise muss er sich nicht direkt mit dem sozialen Prozess (des Lebens) des Patienten auseinandersetzen. Er bleibt Problemlöser auf Basis von Datenübermittlung. Dabei kommt es auch vor, dass Karl Mitteldorf beim systematischen Symptomabgleich mit dem Tempo der Informationsübermittlung nicht mithalten kann. Bei der Unterbrechung des Patientengesprächs hebt er die Gemeinsamkeit des Arbeitens hervor („dann legen wir gemeinsam auf“), über das Weiterführen des Gespräches bestimmt allerdings er: Wenn er die Repertorisierung vollendet hat, quasi den Hilfeplan ausgearbeitet hat, ruft er die Patientin zurück. Die weitere Interaktion beschränkt sich darauf, dass der Heilpraktiker als Experte ein Mittel in einer entsprechenden Potenz benennt, das der Patient nun einzunehmen hat. Damit fördert er keineswegs die Autonomie der Patientinnen, indem er den Gesundungsprozess moderiert und ressourcenorientiert vorgeht. Seine Idee der Heilpraktikertätigkeit geht von der Logik aus zu wissen, was für den Patienten richtig ist, einen Plan zu haben und die Patientin auf den Weg zur Gesundheit zurückzuführen. Dabei verfolgt er zweifellos ein hohes Berufsethos als verlässlicher Partner in der Heilpraktiker-Patient-Beziehung und kümmert sich, „äh dass keiner im Regen steht“. Allerdings bleibt kritisch zu hinterfragen, ob mit der alleinigen Einnahme eines Mittels ein komplexes Krankheitsgeschehen, das neben körperlichen, psychischen und geistigen auch soziale Dimensionen beinhaltet, aufgelöst werden kann. In dieser Art der Tätigkeit verbleibt Karl Mitteldorf eher in der Logik klassischer Arzt-Patient-Interaktion, die durch Expertentum, Distanz und oftmals eine mangelnde Passung der (medizinischen und alltagspraktischen) Wissensordnungen gekennzeichnet ist. Wie stark sich Karl Mitteldorf an den Vorgaben der von ihm erlernten Klassischen Homöopathie und an einer medizinischen Logik (seiner Vorbilder) orientiert, wird in der folgenden Passage deutlich.
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Strukturiertes Vorgehen und Vorbereitung auf den Termin E: … und ich arbeite auch sehr strukturiert, ich hab nen Fragebogen ((holt ihn und überreicht ihn der Interviewerin)) den hab ich von Tobias Grauer der auch eines meiner großen Vorbilder ist //mhm// den ich praktisch äh auf vier Seiten begrenze erstmal, um den Patienten nicht zu überfordern, den schick ich ihm voraus. ne und ähm bitte eben um acht Tage vor dem Termin, da äh merken Sie schon wie zielgerichtet ich arbeite, zurückzuschicken ich weiß nicht genau wann ich den, vor dem Termin, dann dem nächsten beackern kann, aber ich weiß dass ich’s dann schaff. ne und wenn’s mal am Wochenende ist. passiert auch, ne das=is das was eben auch sehr gut ankommt bei den Patienten: „Mensch der beschäftigt sich ja vorher gründlich und der stellt ja Fragen“ sagte letzte Woche gerade wieder eine Patientin: „Da sind ja Fragen drin, die hat noch nie mein Hausarzt gestellt, also das is ja unmöglich, wieso sp=sprach der sowas nicht, das muss er doch eigentlich“ naja sag ich: „Ich=ich mach das nach homöopathischem Prinzip und so hab ich das von meinen Ärzten und so weiter gelernt in B-Großstadt, und das hat sich bewährt und deswegen so“ (808–820)
Karl Mitteldorf führt mit dem Hinweis auf sein „sehr“ strukturiertes Vorgehen ein, was er nun weiter ausführen wird. Er stellt der Interviewerin den von ihm verwendeten Fragebogen vor. Diesen hat er von einem seiner „großen Vorbilder“
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erhalten und auf vier Seiten gekürzt, „um den Patienten nicht zu überfordern“. Karl Mitteldorf schickt diesen Fragebogen vor dem Ersttermin an die Patienten mit der Bitte, ihn ausgefüllt spätestens acht Tage vor dem Termin zurückzusenden. Dieses Zeitfenster benötigt er, um sich auf den anstehenden Termin vorzubereiten. Dass er umfangreich Zeit dafür einplant und akribisch, wenngleich auch technisch, dabei vorgeht, dafür spricht der verwendete Begriff „beackern“. Er nimmt sich sogar gelegentlich an den Wochenenden Zeit für die Vorbereitung auf einen Patiententermin. Er ‚opfert‘ also seine eigentlich freie Zeit, ist zugleich als selbstständiger Heilpraktiker von einer begrenzten Praxisöffnungszeit unabhängig. Mit dem Abarbeiten seines standardisierten Fragebogens folgt er einer strikten Expertenlogik, keineswegs den Relevanzsetzungen der Patientinnen. Er geht zielgerichtet vor, allerdings verfolgt er seine Zielstellung − den Fragebogen abzuarbeiten, um eine Idee von der Heilung des Patienten zu entwickeln. Damit bleibt er in seinem habituellen Muster der akribischen Umsetzung eines erlernten Systems. Raum für eine offene Beförderung eines Gesundungsprozesses in einer gemeinsamen Therapeut-Patient-Interaktion bleibt dabei kaum. Am Ende der Passage in der Argumentation wird deutlich, warum er so ausführliche Fragen stellt. Dort lässt er sich keineswegs auf ein längeres Gespräch mit den Patienten oder gar auf eine Kritik an den schulmedizinisch tätigen Ärzten ein, sondern verdeutlicht nur seine Anpassung an das von „seinen“ Ärzten erlernte Wissen, das sich „bewährt“ hat. Dass er trotz dieser geringen Offenheit für die Relevanzen seiner Patientinnen bei ihnen so gut ankommt, mag überraschen. Diese haben jedoch das Gefühl, dass sich jemand mit ihnen bereits im Vorfeld „gründlich“ auseinandersetzt. Die klassische Arzt-Patient-Interaktion unter Zeitdruck ist ihnen zutiefst vertraut, sodass sie den Unterschied positiv bemerken werden. Hinzu kommt die Fülle gestellter Fragen, die ihnen „noch nie“ der Hausarzt gestellt hat. Die Konstruktion dieser Passage verweist auf das Distinktionsbemühen Karl Mitteldorfs gegenüber ‚normaler‘ ärztlicher Praxis. Zugleich zeigt sich auch hier wenig professionelle Reflexivität (z. B. bezüglich Paradoxien professionellen Handelns im ökonomischen Handlungsdruck). Die Ernsthaftigkeit, mit der sich Karl Mitteldorf mit den Symptomen seiner Patientinnen auseinandersetzt und die ausführliche Zeit, die er ihnen widmet – beim Ersttermin sind es zwei bis drei Stunden (Zn. 820 f.) – scheinen eine besondere Bedeutung für den Gesundungsprozess der jeweiligen Patientin zu haben. Dies ist Karl Mitteldorf aber nicht in der ganzen Bedeutsamkeit bewusst. Karl Mitteldorf erwartet die Mitarbeit seiner Patientinnen dahingehend, dass sie ihm die Antworten auf seine vorbereiteten Fragen zuarbeiten. Mit der Kürzung auf vier Seiten glaubt er, dass nun alle Patientinnen damit zurechtkommen.
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Allerdings hat er bereits andere Erfahrungen gemacht, nämlich, dass es Patienten gibt, die die Fragen nicht verstehen. Dafür zeigt er wenig Verständnis, wie die folgende Sequenz zeigt, in der es darum geht, dass Karl Mitteldorf in einer kostenlosen Zeitung Werbung schaltet, als sich im Frühjahr eine Flaute ankündigt und er sich überlegt, wie er neue Patientinnen gewinnen kann. Geeignete Patientinnen E: … da bin ich massiv in die Werbung gegangen C-Zeitung zum Beispiel ne, und da merkt man dann, dieses Medium ist nicht so geeignet um Leute äh sozusagen anzusprechen die auch wirklich das Geld haben für den Heilpraktiker und auch den entsprechenden Bildungsstand, das klingt jetzt arrogant aber, äh das kriecht jeder eingeworfen und dann haben sich Leute gemeldet di-die mir gesagt haben: „Mit dem Fragebogen kann ich nichts anfangen selbst meine Schwester hat zwei Klassen mehr als ich aber auch die nicht“, ne „Ich versteh das alles nicht“ da stehn doch ganz einfache Fragen drin? aber sowas passiert eim dann ne, wenn man jetzt de-in C-Zeitung wirbt. (932–939)
Die Werbung in der Zeitung, die als kostenlose Wurfsendung in alle Haushalte gelangt, erweist sich als ungeeignet, um die Patienten zu finden, die Karl Mitteldorf als geeignet ansieht, (s)eine Heilpraktikerbehandlung in Anspruch zu nehmen. Sie müssen zum einen über finanzielle Mittel verfügen, um die Behandlung bezahlen zu können. Zum anderen erwartet Karl Mitteldorf aber auch ein Mindestmaß an Bildung, wie er unmissverständlich und in wörtlicher Rede klarstellt. Er geht keineswegs davon aus, dass der Zugang zur Heilpraktikerbehandlung allen Patientinnen möglich sein müsste, auch ohne den Fragebogen zu verstehen. Weiterhin geht er davon aus, dass seine Fragen „ganz einfache“ sind. Dass der Fragebogen ungeeignet sein könnte, lässt er als Option nicht zu. Auch wenn Karl Mitteldorf mit dieser Einstellung selbst auf Arroganz verweist, akzeptiert er die Patientenselektion. Wie er das Problem mit den ‚falschen‘ Patienten
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gelöst hat, erfahren wir nicht. Denkbar ist, dass die Behandlungen dieser keineswegs so einfach verlaufen sind, denn ihm war nicht möglich, sein Konzept in einer stringenten Frage-Antwort-Situation abzuarbeiten. Bezüglich der sozialen Lage der „Leute“ bleibt Karl Mitteldorf unreflektiert, dass seine Herkunft selbst prekär war. Er grenzt sich ab – persönlich wie auch als Vertreter des Berufsstandes der Heilpraktiker. Dass es Praktizierende geben könnte, die auch Patientinnen mit wenig Geld und Bildung behandeln, scheint er hier nicht mitzudenken. Ebenso reflektiert er nicht, dass die Klassische Homöopathie eine Behandlungsform ist, bei der je Behandlung eine größere Gebühr anfällt. Mit der Übernahme von strikt standardisiertem Expertentum und Distanz zeigt sich eine Grenze seiner Tätigkeit. Er ist auf sozial besser gestellte Klienten angewiesen und erwartet diese auch. Es fehlt ihm eine Strategie der Behandlung von Patienten niedrigerer sozialer Lagen, der Einbindung ihrer alltagsweltlichen Bezüge bzw. auch des Zugangs zum Alltagswissen der Menschen. Karl Mitteldorf geht davon aus, dass das „Entscheidende“ seiner Tätigkeit ist, diese „ordentlich“ auszuüben, um dann „empfohlen“ zu werden (Zn. 479 ff.). Dass dies funktioniert, legt er argumentativ an verschiedenen Stellen des Interviews dar. Seine Strategie ist das akribische Erarbeiten der Symptomlage anhand aller ihm zur Verfügung stehenden Informationen (vorab ausgefüllter Fragebogen, mitgebrachte Befunde (Zn. 1211–1233); Repertorien, eigenes Erfahrungswissen), die Patienten mit ihren subjektiven Beschwerden ernstnehmen (Zn. 1246–1255) und möglichst eine Diagnose zu finden, die die vorherigen Behandler nicht gefunden haben, um dort sein bewährtes Vorgehen anwenden zu können. Zudem würde er keine Heilmethoden oder Therapieverfahren anwenden, die er nicht (mehr) umfassend beherrscht (Zn. 889–893). Die Garantie, wirklich empfohlen zu werden, und darüber hinaus, dass die Patientinnen sich nach Empfehlung auch wirklich in seine Behandlung begeben, bleibt jedoch außerhalb seines Einflusses. Die letzte ökonomische Sicherheit des beruflichen Erfolges, wie sie etwa mit der Bestallung einer kassenärztlich tätigen Ärztin gegeben ist, ist mit der amtsärztlich erlaubten Heilpraktikertätigkeit nicht gewährt. Damit erhöht sich der Handlungsdruck, in Vollzeit die Tätigkeit „ordentlich“ auszuüben, und zeigt zugleich die Schwierigkeit, die Paradoxie von beruflicher Freiheit, ökonomischem Zwang und von der Medizin eingefordertem Qualitätsanspruch auf persönlicher Ebene zu bearbeiten.
5.3.7
Motivation und biographische Reflexivität
Die Individualität jedes Falles stellt Anspruch und Ansporn zugleich für Karl Mitteldorf da („das is das was mich auch, bei der Stange hält wo ich sag, jeder
5.3 Kernstelleninterpretation
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Fall ist anders, das ist einerseits anstrengend anderseits interess:ant hält mich bei der Stange so tick ich auch“, Zn. 1233 ff.). Trotz seiner, wie er sagt, „objektiven“ und „realistischen“ Einschätzung, als Heilpraktiker, aber auch als Vertreter der Klassischen Homöopathie, „am Rande der Geschichte“, „komplementär“, zu stehen bzw. „nach wie vor nur ein Anhängsel“ zu sein (Zn. 1324 f., 1359), erfüllt ihn die Tätigkeit als Heilpraktiker. Mit der Anwendung des komplexen Regelwerkes der Klassischen Homöopathie auf die Problemlage der Menschen hat er seine Philosophie gefunden („also ne das ist ei:n System das man verstehn kann den Menschen daraufhin verstehn kann anwenden kann, und das find ich faszinierend.“, Zn. 1098 f.). Damit ist es ihm gelungen, eine berufsbiographische Kontinuität herzustellen. Sein Expertentum krönt er mit einer erfolgreichen Dozententätigkeit in einer Heilpraktikerschule, die er seit nunmehr 20 Jahren ausübt37 . Karl Mitteldorf empfindet allerdings die intensive Auseinandersetzung, besonders mit schwerkranken Patientinnen und Patienten als anstrengend, wie bereits dargestellt wurde. Schon jetzt hat er geplant, seine offizielle Praxistätigkeit in fünf Jahren zu beenden. Danach wird er nur noch seinen „Lieblingspatienten“ (Z. 875) zur Verfügung stehen, was er auch bereits mit ihnen besprochen hat („Passen Se auf wenn Sie nachher Probleme haben müssen Se nicht denken weil ich offiziell zugemacht hab denn könn Se auch zu mir nach Hause kommen und dann machen wir das trotzdem in gewohnter Weise, kein Problem“, Zn. 877 ff.). Die vorn aufgeführten Bestandteile der beruflichen Tätigkeit Karl Mitteldorfs bilden Teil einer Strategie, um dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, ihm aber auch den ökonomischen Erfolg zu sichern. Dieser stellt für ihn Notwendigkeit und Motivation dar. Er sichert ihm zum einen die soziale Position (vom Geschäftsführer zum anerkannten Heilpraktiker im Vollerwerb) sowie sich und seiner Familie die Stabilität. Zur Motivation für den neuen Beruf gehören neben der schon beschriebenen Anerkennung durch die Patientinnen und Auszubildenden seiner Unterrichtseinheiten auch die erfolgreiche Gestaltung der Vorbild-, Ernährer- und Kümmererrolle. Letzteres zeigt sich noch einmal, wenn er kurz darlegt, dass seine Frau seit der ‚Wende‘ keine Arbeit mehr gefunden hat. Diese Aussage, die ein ‚trauriges‘ Kapitel des gemeinsamen Lebens berührt, bettet er in die Ausführungen zum Praxisalltag ein, wenn er kritisiert, dass die Patienten nicht bereit sind, einen Urlaubstag für ihre Gesundheit bzw. seine Behandlung zu planen und begründet, warum er selbst nicht gerne an den Wochenenden Zeit für Behandlungen freihalten möchte. An den Wochenenden nur ausnahmsweise arbeiten 37 Kontextwissen
aus dem Interview.
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
E: … also sind manche denn bisschen geizig sich selbst gegenüber und sie könn angeblich nicht an=angeblich nur Sonnabend das mach ich dann auch nur ausnahmsweise aber nicht dass das inflationär ist, das mach ich so vier=fünfmal im Jahr ne, //mhm// ansonsten nur in der Woche. also ordentlich ne, wie sich dat gehört ne? in der Arbeitszeit ne dass ich dann am Wochenende ne, mit meiner Frau was unternehmen kann und nich, ‚sie da sitzt und‘, man muss dazu sagen dass meine Frau seit der Wende ni:ch nich mehr irgendwo Fuß, gefasst hat sie konnte mal im Markt irgendwo räumen, aber ist nie wieder ä:h, ja keine ‚Arbeit‘ ne //mhm//. ist traurig ((atmet ein)) und deswegen, versuch ich sie wenigstens am Wochenende, auch n bisschen, auf:zurichten. (825–833)
Karl Mitteldorf hat genaue Vorstellungen von der formalen Gestaltung seiner Tätigkeit. Diese umfasst das regelhafte Behandeln der Patientinnen in seiner Wochenarbeitszeit zwischen Montag und Freitag. Dabei bezieht er sich auf althergebrachte normative Vorstellungen, die von wenig Verständnis für seine Klientinnen, insbesondere für deren Arbeits- und Lebensbedingungen zeugen. Er erwartet von ihnen, dass sie sich ihm anpassen und selbstverständlich ihren Urlaub ‚opfern‘. Nur im Ausnahmefall, einige Male im Jahr, ist er bereit, seine Wochenenden für Termine herzugeben. Den Grund für diese Einschränkung gibt er damit an, dass er mit seiner Frau an den Wochenenden etwas unternehmen möchte. Diese Stelle im Interview ist eine der wenigen, an denen Karl Mitteldorf über seine Frau und Töchter spricht. Seine Frau, eine studierte Elektro-/ElektronikIngenieurin38 , hat seit ihrer Entlassung kurz nach der ‚Wende‘ keine Anstellung 38 Kontextwissen
aus dem Interview.
5.3 Kernstelleninterpretation
257
mehr gefunden, bis auf gelegentliche Aushilfsarbeiten, wie er in einer Hintergrundkonstruktion erklärt. Deshalb hat sich Karl Mitteldorf zum Ziel gesetzt, „sie wenigstens am Wochenende, auch n bisschen, auf:zurichten“. Trotz der unglücklichen beruflichen Situation seiner Frau, wie Karl Mitteldorf mit hinnehmendem Bedauern evaluiert, könnte ihm diese Situation auch eine hohe Flexibilität für seine berufliche Praxis lassen – nämlich genau nicht auf die Wochenenden angewiesen zu sein, um etwas gemeinsam zu unternehmen. Dies lässt allerdings das tradierte Lebens-Arbeits-Modell von Karl Mitteldorf nicht zu, was eine gewisse Modernisierungsresistenz zeigt und zugleich die Anpassung an bürgerliche Rollenvorstellungen. Hierin zeigt sich auch, dass er die prekäre Situation seiner Frau pragmatisch bearbeitet, jedoch nicht im gesellschaftlichen Kontext reflektiert. Vormals als Frau mit einem Diplom-Abschluss in einem technischen Beruf hochqualifiziert und in das Arbeitsleben der DDR fest eingebunden, wird sie nach der ‚Wende‘ auf eine tradierte Rolle der Frau zurückgeworfen. Als sozialstrukturelles Problem der BRD traf dies viele DDR-Frauen. Dass ihr bis heute kein Neueinstieg gelang, mag auch pragmatische Gründe gehabt haben. Die staatsnahe und nun stigmatisierte Position ihres Ehemannes mag von Anfang an einen beruflichen Neueinstieg erschwert haben, sicher auch verbunden mit dem Wegbrechen sozialer Kontakte. Wir wissen auch, dass die Beziehungen im sozialen Nahbereich sich generell rapide veränderten. Die sich nun manifestierenden sozialen Ungleichheiten, verbunden mit Sozialneid, Scham und Stigmatisierung, mögen bei längerer Arbeitslosigkeit mit sozialer Isolation einhergegangen sein. Zudem war schnell klar, dass die berufliche Neuorientierung des Ehemannes eine lange Phase gemeinsamer ‚Entbehrungen‘ mit sich bringen würde. Da auch die beiden Töchter noch Unterstützung brauchten, liegt die Übernahme einer traditionellen Frauenrolle nahe. Die biographische Entwertung scheint Karl Mitteldorf durchaus bewusst zu sein. Da sein biographischer Habitus jedoch durch (Über-)Anpassung (vs. Kampf/Rebellion z. B.) gekennzeichnet ist, rückt die berufliche und soziale Stabilisierung seiner eigenen Position in den Fokus. Seine Frau kann ihn dabei unterstützen, ihm den Rücken freihalten. In seinem Fokus liegt nicht, dass auch sie sich beruflich völlig neu hätte orientieren können. Oder mehr noch, er hätte sich auch für die ‚revolutionäre Idee‘ der Änderung der traditionellen Frauenrolle in der BRD, im Vergleich der beiden Systeme, einsetzen können. Dieses Phänomen der (berufs-)biographischen Entwertung der DDR-Frauen war gesellschaftlich präsent und dies wäre als politisches Ziel in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen und in seiner Funktion in der ehemaligen PDS durchaus denkbar gewesen.
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
Die mangelnde biographische Reflexivität in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Strukturen wird auch in einer Passage deutlich, in der er biographisch über das Leben in der ehemaligen DDR reflektiert. Diese Aussage ist in der exmanenten Nachfragephase verortet, als er über die Kontrolle des sozialistischen Erziehungsauftrages durch seinen ehemaligen Heimleiter spricht. Erstaunen über Menschen, die die fehlende Freiheit in der DDR durchschaut haben E: … allein bin ich praktisch dann äh so:weit eigentlich ganz gut klargekommen muss ich sagen ne, so das ging, also ich konnte immer mei-meine Entscheidungen weitgehend auch selber treffen hatt ich zumindestens gedacht, im Nachhinein hab ich natürlich, begriffen dass viel von der SED vorgegeben wa:r und äh tja. sehr dirigistisch und ne? ja äh, ja, dogmatisch äh eigentlich in Strukturen, verharrt haben ohne es zu merken ne, also betriebsblind gewesen. ich äh ich staune heute noch über Leute die ihr Leben geopfert haben an der Mauer die diese Freiheit drüben begriffen haben und äh dass wir eingesperrt waren das ist mir heute zum Teil no:ch ein Rätsel wie die, zu dieser Erkenntnis kommen konnten ne, also, kann ich, nur staunen ne? (714–722)
Für Karl Mitteldorf hat sich als erfolgreiche biographische Strategie erwiesen, seine Probleme im Alleingang zu lösen. Damit ist er, wie er relativierend ausdrückt, „so:weit eigentlich ganz gut klargekommen“. Dies erscheint nachvollziehbar, wenn man an die Fremdbestimmtheit seiner frühen Sozialisation im Heim und die traumatischen Familienerfahrungen in seiner Jugend zurückdenkt. Es gehörte nicht zu seinem Alltag, sich einer Problemlösung im sozialen Austausch zu nähern – zu diskutieren, zu widersprechen, Optionen abzuwägen. Nun passt er sich unhinterfragt in vorgegebene Kontexte ein, ordnet sich Regeln und Normen unter und ergreift Chancen, wo sie sich ihm bieten und er sie für sich als richtig erachtet, um seine prekäre Lage zu verbessern. Umso mehr verwundert, dass er in der Erinnerung davon ausgeht, seine Entscheidungen „weitgehend
5.3 Kernstelleninterpretation
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auch selber“ getroffen zu haben. Er korrigiert sich und drückt damit Ambivalenz aus („hatt ich zumindestens gedacht“). Unhinterfragbarer Bestandteil seines Alltags war die fehlende Freiheit des Denkens und Handelns – sowohl im privaten als auch im beruflichen Leben. Aus heutiger Sicht schränkt Karl Mitteldorf die Entscheidungsfreiheit im politischen System der DDR zwar ein: Er hat „begriffen“ (hier greift er die Formulierung aus der Eingangspassage wieder auf – dort „durfte er begreifen“ (Zn. 25 f.)), dass durch die SED in dirigistischen und dogmatischen Strukturen Entscheidungen vorgegeben wurden, in denen er „betriebsblind“ verharrte. Wie sich dieser Erkenntnisprozess dorthin gestaltet hat, bleibt auch hier offen. Ausgelöst durch den Zusammenbruch des Sozialismus, hat ihn auch der gesellschaftliche Diskurs um das ehemalige System der DDR scheinbar eher oberflächlich berührt, und der Erkenntnisprozess bleibt unabgeschlossen, was auf biographische Verletzungen sowie die Trägheit mentalitären Wandels verweist. Sein Umgang mit der neuen politischen und gesellschaftlichen Situation war zunächst pragmatisch (‚Flucht‘ in einen neuen Beruf). Für den unverinnerlichten Erkenntnisprozess spricht die distanzierte Form der Aussage. Auch der Ausdruck „betriebsblind“ verharmlost die Tragweite der individuellen und kollektiven Beschränkungen. Er lässt eher an ein Werk denken, in dem nicht alle Prozesse ganz rund laufen, weil die Strukturen etwas eingefahren sind. Umso krasser wirkt der Gegensatz zum folgenden Beispiel, in dem Karl Mitteldorf auch seine sprachliche Distanz aufgibt. Nämlich, als er nun über die „Leute“ spricht, die ihr Leben im Kampf um ihre Freiheit geopfert haben. Dabei rekurriert er auf die beim Fluchtversuch an der Berliner Mauer Erschossenen. Es ist ihm bis heute unverständlich, wie es möglich war, dass sich innerhalb der engen Strukturen der DDR ein persönlicher Erkenntnisprozess vollziehen konnte, der nicht konform ging mit der herrschenden Deutungsmacht, der Kontrolle widerstand und letztendlich im Verlust des eigenen Lebens gipfelte. Auch dies spricht noch einmal dafür, wie stark sich Karl Mitteldorf mit dem damaligen System identifiziert hatte bzw. in dessen Werten und Normen politisch einsozialisiert war. Er verbleibt in der erstaunten Bewunderung für die mutigen Andersdenkenden. Bestandteil des biographischen Habitus von Karl Mitteldorf ist nur eine teilweise biographische Reflexivität: Sie ist gekennzeichnet durch kritische Auseinandersetzung als Enttäuschung und Resignation, die fehlende soziale Kontextualisierung der Lebenssituation und Erkrankung seiner Mutter und eine banalisierende und intuitive Konstruktion seiner vorherigen und jetzigen beruflichen Situation (z. B. den „richtigen Riecher“ gehabt zu haben (Z. 121)). Dies zeigt sich auch in der Auseinandersetzung mit seiner Rolle und dem Beruf des Heilpraktikers insgesamt in der Auseinandersetzung mit der Schulmedizin, wenn er sagt: „da müssen sich beide Seiten auch mehr befleißigen, aber insgesamt für
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
jeden einzelnen Patienten würde viel mehr rauskommen wenn beide zusammenarbeiten würden. es ist ein Jammer äh dass sich das so, immer noch auseinander gestaltet, so nebeneinander her.“ (Zn. 1453–1456). Er sieht den Bedarf, aber es fehlt ihm eine konkrete Idee der Neugestaltung und, biographisch habitualisiert, auch der Mut, vielleicht alternative soziale Praxen im Kleinen zu erproben, und somit auf die gesellschaftlichen Bedingungen zurückzuwirken.
5.4
Zusammenfassung
Dieses Kapitel fasst die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung Karl Mitteldorfs in ihrer Ereignisverkettung zusammen. Es wird auf die individuelle „mentale Grammatik“ (Alheit) Bezug genommen, die Karl Mitteldorf im biographischen Erfahrungsprozess in Auseinandersetzung mit seinen alltagsweltlichen, sozialen Bezügen und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausbildet. Ein besonderer Fokus sind seine vorhandenen bzw. im Lebensablauf erworbenen oder erweiterten Handlungsressourcen. Ebenso findet sich hier die vierte kognitive Figur, die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte. Karl Mitteldorf konstruiert seine (berufs-)biographische Stegreiferzählung als eine Geschichte des wohlüberlegten, mühevollen, aber erfolgreichen Aufbaus einer Karriere als Heilpraktiker, nachdem er mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess in der DDR konfrontiert wird. Karl Mitteldorf wird in eine prekäre soziale Situation hineingeboren. Seinen leiblichen Vater lernt er nie kennen. Seine Mutter ist Alkoholikerin und gibt ihn gleich nach seiner Geburt in ein Kinderheim. Nach dieser ersten tiefen Verunsicherung wächst Karl Mitteldorf dort unter strengen Regeln auf, gleichsam unter moralischer und politischer Kontrolle des Systems (vgl. Bourdieu 1991). Er lernt sich anzupassen und übernimmt Werte wie Disziplin und Strenge. Vorgebahnte Wege geben ihm Stabilität. Respekt und Anerkennung in der sozialen Welt der Jugendlichen verschafft er sich durch Muskelaufbau und körperliche Fitness, ohne sich auf stabile Solidarbeziehungen verlassen zu können. Um der Gewalt unter den Gleichaltrigen zu entgehen, lernt er, nicht aufzufallen und sensibel abzuschätzen, wann es gilt, sich zurückzuhalten. Insgesamt gelingt ihm dies erfolgreich, auch wenn klar wird, wie eingeschränkt seine Handlungsautonomie unter den gegebenen Umständen ist. Entscheidungen trifft er für sich allein. Rückzugsort ist für ihn die Natur und er bildet ein starkes Interesse für philosophische Fragen aus. So hinterfragt Karl Mitteldorf sein gesamtes Leben, als er in der Phase der Pubertät eine weitere Krisenerfahrung bewältigen muss. Er kommt zurück zu
5.4 Zusammenfassung
261
seiner Mutter, die inzwischen geheiratet hat, und verbringt bei ihr und dem Stiefvater etwa drei Jahre. Das Zusammenleben ist gekennzeichnet durch Erfahrungen von Demütigung, Gewalt und einem Gefühl von Ohnmacht, als er das volle Ausmaß der Alkoholerkrankung der Mutter versteht. Karl Mitteldorf erhält keinerlei Bildungsauftrag oder Förderung durch seine Eltern. Er ist nach dieser Phase moralisch zutiefst enttäuscht und verunsichert, was nach außen hin dazu führt, dass er den Ansprüchen seiner Lehrer trotzt und in seinen schulischen Leistungen abfällt. Teil seiner individuellen ‚mentalen Grammatik‘ ist seine Orientierung an männlichen Vorbildern und Autoritäten. Muss er sich zunächst den Forderungen des strengen Heimleiters, der den sozialistischen Erziehungsauftrag weitergibt, sowie den Demütigungen durch seinen Stiefvater beugen, entscheidet er mit der Volljährigkeit, sich nicht weiter auf Letzteren oder den leiblichen Vater, der sich nun bei ihm meldet, zu stützen. Karl Mitteldorf sucht die Orientierung außerhalb des familiären Systems. Mit dem herausgearbeiteten Fehlen des stabilen familiären Orientierungsrahmens kann Karl Mitteldorf zum Typ „beschädigte Familienverhältnisse“ (Geulen 1998: 45) gezählt werden, der sich eher einen externen Bezugspunkt für die eigene Identitätsbildung sucht. Die organisatorischen Rahmungen staatlicher Institutionen der DDR, die mit Kleingruppenstrukturen einhergingen, fungierten teilweise als familiärer Ersatz (vgl. Geulen 1998: 46). Dies lässt sich auch im weiteren Leben Karl Mitteldorfs beobachten. Gleich nach Erreichen der Volljährigkeit zieht er aus der elterlichen Wohnung aus, und mithilfe zweier Lehrer, die ihm während der Lehre als verständnisvolle ‚Bildungspartner‘ zur Verfügung stehen, schafft er einen guten Facharbeiterabschluss. Der erworbene Beruf des Zerspanungsfacharbeiters entspricht allerdings nicht Karl Mitteldorfs Neigungen. Er fühlt sich nach wie vor zur Philosophie hingezogen. Allerdings scheint ihm sein eingeschränkter Handlungsspielraum aufgrund des fehlenden Abiturs bewusst zu sein, was seine defizitäre und wenig empathische Sicht auf sich selbst in seinen Ausführungen zur Lehrzeit verdeutlicht. Er bleibt in der Haltung des institutionellen Ablaufmusters und erfüllt die an ihn gestellten Erwartungen, sich an der „Maschine“ zu bewähren. Da Karl Mitteldorfs Biographie bis zu dieser Zeit ein Potenzial zur Verlaufskurve beinhaltet39 , geben ihm dieser Beruf und die geregelte Tätigkeit allerdings auch Stabilität für den Start in das Erwachsenenleben. Nach etwa einem Jahr wird er an seinem Arbeitsplatz angesprochen, ob er für die FDJ tätig werden möchte. Dies ist damit verbunden, zur Jugendhochschule 39 Das jedoch biographisch an keinem Punkt in eine Verlaufskurve (vgl. Schütze 1995) kippt.
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
in eine Großstadt zu gehen. Hier zeigt sich, dass Karl Mitteldorf zwar in seinem bisherigen Leben prozediert wird (Prozessstruktur des institutionellen Ablaufmusters), allerdings mehr und mehr lernt, die Möglichkeitsräume auszuschöpfen, die sich ihm bieten. Er ergreift die Chance, seinem bisherigen Leben eine neue Richtung zu geben. Seine Motivation zum Studium kann damit begründet werden, dass ihm hier gelingen kann, weg von der Arbeit an der Werkbank zu kommen und Zugang zu einem Studium zu erhalten, das ihm unter anderen Umständen nicht zur Verfügung gestanden hätte. Die normale Bahnung einer beruflichen Karriere mit oder ohne Hochschulabschluss war in der DDR mit dem Eintritt in die EOS früh vollzogen (vgl. Geulen 1998: 76, 99). Auch wenn Karl Mitteldorf insgesamt wenig über seine sozialen Kontakte zu anderen darlegt, erfahren wir an dieser Stelle, dass die Kollegen, die er in der Jugendhochschule kennenlernt, relevant sind, um sich an ihnen zu orientieren und „neuen Lebensmut“ zu schöpfen. Geulen (1998: 93–99) weist nach, dass der Erfolg marxistisch-leninistischer oder philosophischer Studiengänge nicht in deren inhaltlicher Ausgestaltung lag, sondern maßgeblich in den sozialen Kontakten der Studierenden, die neben der Institutionalisierung im Rahmen der Seminargruppen auch eine informelle Seite beinhalteten. Darüber hinaus bewerteten die Teilnehmenden an Geulens Studie die Studiengänge fast durchgängig negativ – aufgrund des niedrigen Niveaus und hohen Maßes an Verschulung, wenig theoretisch fundierter Auseinandersetzung und kritischer Diskursmöglichkeit sowie schlechter didaktischer Vermittlung, verbunden mit Langeweile und einem fehlenden Bezug zur Alltagsrealität der Studierenden. Das Studium war „bloße Ansammlung von Glaubenssätzen, deren Funktion nur mehr eine symbolische Identitätsstiftung bzw. Abgrenzung war“ (Geulen 1998: 96). An dieser Stelle wird deutlich: Da es sich in der Biographie Karl Mitteldorfs um einen Bildungsprozess handelte, der ideologisch überformt war, werden auch hier Autonomie und Gestaltungsspielraum, insbesondere für individuelle Denkprozesse, eingeschränkt gewesen sein. Diesen Anspruch formuliert Karl Mitteldorf für sich auch nicht. In seinen Ausführungen bleibt er abstrakt, worin sein Interesse für Philosophie liegt. Für ihn ist die Suche nach Sinn, Zugehörigkeit und Stabilität entscheidend. Auf diesem Weg ermöglicht ihm das Studium den sozialen Aufstieg, in Abgrenzung von seinem Herkunftsmilieu. Dies führt zu einem Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem Staat, und eine „enge Loyalitätsbindung“ (Geulen 1998: 100) an diesen ist wahrscheinlich. Die Studieninhalte sind zweitrangig. Die Orientierung und Anpassung an Regeln und Vorgaben des Systems erleichtern Karl Mitteldorf diesen biographischen Prozess. Mit dem Beginn der beruflichen Tätigkeit für die Jugendorganisation der DDR beginnt für Karl Mitteldorf eine relativ kurze Phase der Zugehörigkeit
5.4 Zusammenfassung
263
zum politisch herrschenden System. In dieser Zeit wird er zum Studium an die Parteihochschule delegiert. In der Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs kann er diesen Bildungsaufstieg zwar gerade noch mit sehr gutem Staatsexamen formal vollenden, jedoch kann sich dieser Erfolg nicht dauerhaft in einer gesellschaftlich anerkannten Position manifestieren (als Besitzer politischen Kapitals in der DDR, das mit der ‚Wende‘ entwertet wird). Karl Mitteldorf übernimmt nach der ‚Wende‘ die Position eines Geschäftsführers in der SED-Nachfolgepartei. Biographisch strebt er insgesamt weniger nach Aufstieg als vielmehr nach Zugehörigkeit, Stabilität und Anerkennung. Dies sieht er in der neuen beruflichen Situation nicht gesichert. Mit der ‚Wende‘ befindet sich die SED-Nachfolgepartei in einem Erneuerungs- und Legitimationsprozess, im Kampf um gesellschaftliche und politische Akzeptanz. Hinzu kommt die persönliche Enttäuschung Karl Mitteldorfs, als ihm nach und nach klar wird, dass die sozialistischen Ideen falsch vermittelt und gelebt wurden. Bezüglich seines politischen Habitus kann Karl Mitteldorf zum Typ des „konform-identifizierten Habitus“ (Geulen 1998: 212, 334) gezählt werden, der vom Sozialismus als theoretischer Idee sowie auch von der Realität des Staates überzeugt war. Dieser Typ erlebt die ‚Wende‘ als Schock (vgl. Geulen 1998: 213 ff., 249 ff.). So wird auch nachvollziehbar, dass die neue Ausrichtung der Partei nicht mehr die seine ist. Karl Mitteldorf fühlt sich „zu sehr verbogen“. Die Umbruch-Situation lässt ihn zunächst auf die Ressourcen zurückgreifen, die ihm konkret und unmittelbar zur Verfügung stehen und die seine persönliche und familiäre Situation stabilisieren. So ist auch seine Frau nach der ‚Wende‘ von Arbeitslosigkeit betroffen und wird bis zum Interviewzeitpunkt nicht mehr in einen regulären Arbeitsprozess zurückfinden. Die beiden Töchter Karl Mitteldorfs sind noch im Schulalter. Somit hält Karl Mitteldorf als Ernährer der Familie zunächst an seinem Arbeitsplatz fest und die Familie bleibt am vertrauten Ort. Aus dieser Situation heraus erschließt er sich eine neue Perspektive. Dabei geht er planvoll und strukturiert vor und folgt seinem individuellen Verarbeitungscode: Er lässt sich von einer Autoritätsperson – dem Chefredakteur einer von ihm geschätzten Zeitung – Berufe empfehlen, die für ihn in seiner Situation und mit seinem politischen Hintergrund Perspektive haben könnten. Benannt werden genau zwei: Versicherungsmakler und Heilpraktiker. Ohne weitere Perspektiven zu eruieren, entscheidet sich Karl Mitteldorf für die Option des Heilpraktikers, auch wenn ihn beide Berufe zunächst nicht voll überzeugen. Versicherungsmakler zu werden, schließt Karl Mitteldorf sofort kategorisch aus − dafür kennt er sich mit seiner mangelnden Affinität zum Verkauf zu gut und hat eine Idee von den ökonomischen Zwängen von (Versicherungs-)Unternehmen unter kapitalistischen Verhältnissen. In diese Zwänge möchte er nicht geraten. Hier widersteht
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
er auch dem kollektiven Druck seiner ehemaligen Arbeitskollegen, von denen zu jener Zeit viele für Versicherungsunternehmen tätig geworden waren40 und hohe Provisionen verdienten. Der Chefredakteur hat als Berater oder Informationsgeber, dem Karl Mitteldorf hier folgt, eine wichtige unterstützende Funktion. Dies belegen Andretta und Baethge (1996) in ihrer Studie zur beruflichen Mobilität im Transformationsprozess. Sie identifizieren eine besondere, kleine Gruppe des aktiven Typus („relativ hohe Aktivität bei institutioneller Diskontinuität“, Andretta/Baethge 1996: 712), der in der Regel vor der ‚Wende‘ in qualifizierten, oft staatsnahen beruflichen Positionen tätig war und früh nach der ‚Wende‘ sein Schicksal in die eigene Hand nimmt: „Die Zufälligkeit einer richtigen Information zur rechten Zeit hat ihnen eine Chance zugespielt, und sie haben sie genutzt“ (Andretta/Baethge 1996: 712 f.). Dies erklärt auch die relativ pragmatische Entscheidung Karl Mitteldorfs zu handeln, ohne erst umfassend biographisch zu reflektieren. So hätte er sich z. B. nun auch entscheiden können, unter den neuen, freieren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Philosophie zu studieren – was durchaus biographisch angelegt ist, jedoch zugleich ein weites Ausschreiten, wenn nicht Überschreiten, der Habitusgrenzen bedeutet hätte. Karl Mitteldorf führt noch eine weitere Motivation für die Berufswahl des Heilpraktikers an: Diese liegt in biographischen Erfahrungen mit Erkrankungsund Versorgungsprozessen. Da gibt es zum einen die noch nicht endgültig verarbeitete Auseinandersetzung mit der sozialen und Erkrankungssituation seiner Mutter, die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung bereits an den Folgen ihres Alkoholismus verstorben war. Hinzu kommen eigene gesundheitliche Probleme, mit denen Karl Mitteldorf im jungen Erwachsenenalter konfrontiert wird. Diese Erfahrungen sind von erlebter Machtlosigkeit begleitet – aufgrund medizinischer Unwissenheit, aber auch aufgrund paternalistischer Strukturen im Medizinsystem, die dazu führen, dass er als Angehöriger einer sterbenden (alkoholerkrankten) Patientin abfällig behandelt bzw. als Subjekt in seiner Problem- und Symptomlage nicht ernstgenommen wird.
40 Andretta und Baethge (1996: 710) belegen in ihrer Studie zu Berufsbiographien im Transformationsprozess dieses Phänomen neu rekrutierter Bank- und Versicherungsmitarbeiter: „Viele waren vor der Wende im politischen Ideologieapparat tätig, sei es als Kader gesellschaftlicher Organisationen, Offiziere der NVA, Mitarbeiter des MfS [Ministerium für Staatssicherheit; Anm. d. Verf.], Dozenten aus den politisch besonders belasteten Fächern an Fach- und Hochschulen sowie als Angestellte in den Leitungsetagen der Betriebe.“
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Bleibt Karl Mitteldorf in seiner Darstellung bis zum Transformationsprozess in der ehemaligen DDR durchgängig in der Prozessstruktur des institutionellen Ablaufmusters, so wandelt sich die Haltung nun zur Prozessstruktur des biographischen Handlungsschemas. Die neue berufliche Perspektive eignet sich Karl Mitteldorf handlungsaktiv an. Dafür wird er mobil. So besucht er z. B. den jährlich stattfindenden bedeutendsten Heilpraktikerkongress und bucht eine Gasthörervorlesung an einer der führenden Heilpraktikerschulen der BRD. Die Gasthörerveranstaltung vereint verschiedene Aspekte, an denen Karl Mitteldorf biographisch ansetzen kann: Die medizinische Dominanz (als machtvolles institutionalisiertes Deutungssystem) überzeugt ihn – der professionelle Habitus des Dozenten, die Verortung der Lehrveranstaltung in einer Klinik sowie der unterrichtete, konkret handhabbare Inhalt des Kniegelenks. Dass die Lehr-Lernsituation eher autoritär ist und in Form eines Frontalunterrichts mit einer simulierten Prüfungssituation stattfindet, kommt ihm entgegen. Karl Mitteldorf zeigt kein Verständnis für die unmotivierten Teilnehmenden der Veranstaltung, sondern begibt sich in einen Austausch mit dem Dozenten zu deren fehlenden Motivation. Anstatt für die Auswahl seiner zukünftigen Bildungseinrichtung auf die Erfahrungen der Teilnehmenden zu rekurrieren, orientiert er sich an der Meinung der lehrenden Autoritätsperson. Von dieser Gasthörerveranstaltung ausgehend, und entlang der institutionellen Rahmenbedingungen der Schule, organisiert Karl Mitteldorf seinen Lernprozess zum Heilpraktiker. Hierbei zeigt sich, dass Karl Mitteldorf für seine Heilpraktikerausbildung einen konkreten, klaren Plan hat, der auf Reife, den eigenen Bildungsprozess zu strukturieren und organisieren, schließen lässt. Zudem ist er in der Lage, sich abschließend zu entscheiden und den durchdachten Plan umzusetzen. So erachtet er für wichtig, die Grundausbildung an der Heilpraktikerschule zu absolvieren – nicht jedoch die weiterführenden Kurse zu naturheilkundlichen Verfahren, von denen er heute selbst einige als Dozent unterrichtet. Er erkennt schnell, dass diese Kurse in der Wissensvermittlung zwar in vielfältige Themen einführen, jedoch zu oberflächlich bleiben – was nicht seinem Habitus entspricht, sich einem Thema besonders intensiv zu widmen und sich dieses tiefgreifend anzueignen. Hierbei zeigt sich, dass es in Karl Mitteldorfs habitueller Grammatik nicht um das Streben nach Aufstieg, sondern um das Streben nach Tiefe i. S. v. Wissensvertiefung und Fundierung geht. Letztendlich kann er sich nur dann auf das Erlernte verlassen und sich an ihm orientieren, wenn er es tiefgreifend verinnerlicht hat. Dies ist hier insbesondere deshalb von Bedeutung, weil Karl Mitteldorf darauf seine gesamte neue Berufskarriere aufbauen möchte.
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Der Anspruch „eine Sache richtig“ zu lernen und zu verstehen, führt ihn zum Konzept der Klassischen Homöopathie, das gekennzeichnet ist durch medizinische Dominanz, Umfang und Anspruch, eine intensive und langjährige Ausbildung sowie die Vorgabe klarer Regeln, die in der heilkundlichen Tätigkeit zu befolgen sind. Dies betrifft beide Seiten, sowohl den praktizierenden Arzt oder Heilpraktiker der Klassischen Homöopathie als auch den Patienten selbst, der im Genesungsprozess die Anordnungen des Therapeuten hinsichtlich Mitteleinnahme, Ernährungsumstellung etc. zu befolgen hat. Karl Mitteldorf legt zudem Wert darauf, die wissenschaftliche Variante des Konzepts umzusetzen. Dass er sich für dieses komplexe diagnostische und therapeutische System entscheidet, zeigt, dass er an seiner biographischen Lern- und Verarbeitungslogik – der Orientierung an anerkannten Autoritäten und institutionalisierten Deutungssystemen – festhält und auf dieser Basis seinen eigenen biographischen Lernprozess erfolgreich gestaltet. Dies betrifft nicht nur die Aneignung des Heilpraktikerberufes, sondern auch den lebensgeschichtlichen Lernprozess entlang eigener Krankheitsverarbeitung, der in der autobiographischen Stegreiferzählung zuerst beschrieben wird. Karl Mitteldorf durchschreitet diesen Prozess von einer passiven, durch Unwissenheit gekennzeichneten Rolle eines Patienten oder Angehörigen, der vom Medizinsystem und dem ärztlichen Agieren abhängig ist und kaum eigene Ideen zum Gesundungsprozess entwickelt, geschweige denn in der Arzt-Patient-Interaktion thematisiert, hin zu einem Menschen, der Konzepte körperlicher und psychischer Selbstbehandlung sowie Gesunderhaltung (Prävention und Gesundheitsförderung) umsetzt. Die erworbenen Ressourcen helfen ihm, seine anspruchsvolle neue Tätigkeit körperlich und psychisch durchzustehen sowie den Patienten in seiner Praxis flexibel und ohne Ablenkungen zur Verfügung stehen zu können. Karl Mitteldorf geht kaum in den Austausch mit anderen: So könnte er sich z. B. einer Gruppe Gleichgesinnter oder Berufskolleginnen anschließen, um Sport zu treiben, schwierige Fälle zu besprechen oder sich gegenseitig Reiki-Behandlungen41 zu geben. Karl Mitteldorf folgt jedoch konsequent seiner im Prozess biographischer Erfahrungsaufschichtung und -deutung herausgebildeten individuellen Grammatik, Herausforderungen allein zu lösen, in Orientierung an Expertenwissen und Regeln. Dabei bilden das Befolgen von Regeln einer gesunden Ernährung, Gewichtskontrolle und täglichen Disziplin entsprechend dem eigenen Bio-Rhythmus den 41 Diese Form der Energieübertragung kann selbst bei sich oder auch durch andere angewendet werden. Karl Mitteldorf führt sie regelmäßig als Komponente eigener Gesundheitsförderung an sich durch.
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Hauptansatz seiner Handlungsstrategie. Soziale Dimensionen von Erkrankung bleiben unberücksichtigt. Karl Mitteldorf erwähnt zwar die Auseinandersetzung mit psychosozialen Erkrankungsfaktoren anhand von Literatur (Bücherwissen), fügt dies aber nicht konsequent in seine eigene Biographie ein. So fehlt die soziale Kontextualisierung der Alkoholerkrankung der Mutter, was auf den schmerzhaften und unbearbeiteten Prozess, aber auch auf fehlende theoretische Reflexionsmöglichkeiten hindeutet. Schütze (2016b: 137) verweist auf Basis umfangreicher empirischer Forschung auf die Dominanz einer psychosozialen Verursachungskonstellation gegenüber einer somatischen. Stattdessen hat sich Karl Mitteldorf zum Ziel gesetzt, seinen Patientinnen mit ähnlichen eigenen Problemlagen oder Alkoholismus in deren Familien ein verlässlicher und empathischer Berater zu sein. Dies setzt er auf Basis seines biographischen Wissens um. Zurück zur Aneignung des neuen Berufes: Karl Mitteldorf absolviert nebenberuflich die Homöopathieausbildung in einer institutionellen Rahmung in etwa vier Jahren. Er ist begeistert von dieser Ausbildung, die durch klare Struktur, eine Fülle verfügbarer Literatur zur Mittelfindung und -beschreibung, Wissensvermittlung durch Dozenten mit medizinischem Hintergrund sowie regelmäßige Prüfungen gekennzeichnet ist. Diese Phase erfordert von ihm, neben der Bewältigung des hohen inhaltlichen Anspruchs, Disziplin, persönliche Entbehrungen sowie ein Standhalten gegenüber dem Druck aus dem damaligen beruflichen Umfeld. Dort droht man ihm mit Kündigung, falls er die Ausbildung nicht abbräche. Karl Mitteldorf bleibt jedoch konsequent auf dem von ihm richtig erkannten Weg. Gleichwohl bleibt er ein zuverlässiger Geschäftsführer der Partei im Wahlkampfjahr und verschiebt die anstehende amtsärztliche Überprüfung zum Heilpraktiker um ein Jahr. Um sich darauf intensiv vorbereiten zu können, schreibt er die eigene Stelle des Geschäftsführers aus und begibt sich in die Arbeitslosigkeit. Dieser Schritt trifft auf Unverständnis in seinem Kollegium, zumal Karl Mitteldorf mit seinem Hochschulstudium über die beste erforderliche Qualifizierung verfügt. Aber er hat erkannt, dass er die amtsärztliche Überprüfung nur bestehen kann, wenn er dem Amtsarzt ein fundiertes medizinisches Wissen bietet. Er weiß um die hohen Durchfallquoten und möchte die Prüfung im ersten Versuch bestehen. Dies gelingt ihm. Dieser Erfolg ist ihm wichtig, worauf die genaue Nennung des Datums sowie weiterer Formalien der Zulassung zum Heilpraktiker in der Stegreiferzählung verweist. Noch wichtiger ist ihm jedoch der Nachweis der Praxisreife in seinem zukünftigen Handlungsfeld der Klassischen Homöopathie. Kurz nach Bestehen der amtsärztlichen Überprüfung präsentieren sich ihm zwei Patientinnen mit einer Problemlage entsprechend klassischer Lehrbuchfälle. Er kann ihnen auf Anhieb
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helfen. Dies bestätigt ihm zwei Dinge – dass es einen Bedarf an seinen Leistungen gibt, und dass er diesen Bedarf praxisbereit bedienen kann. Zur Konzeptualisierung der neuen beruflichen Tätigkeit lässt sich Folgendes zusammenfassen: Karl Mitteldorf übernimmt mit der Klassischen Homöopathie ein vorgegebenes anerkanntes und ausdifferenziertes Konzept, das er akribisch umsetzt. Zugute kommt ihm der Wissenserwerb aus Büchern, ebenso, dass ihm die Bücher jederzeit im diagnostischen und therapeutischen Praxisalltag zur Verfügung stehen. Somit verfügt Karl Mitteldorf über ein heilkundliches System mit klaren Regeln der Anwendung. Es bildet die Basis seiner Berufstätigkeit, der er aus einer Logik expertisen Wissens, wie Gesundheit hergestellt wird, folgt. Seine Handlungspraxis basiert darauf, dass er mit seinem erworbenen Expertenwissen weiß, was für die Patienten richtig ist, einen Heilungsplan entwickelt und sie auf den ‚richtigen Weg‘ zurückführt – gleichsam, wie er es auch vorher in der Jugendarbeit mit den ihm anvertrauten Jugendlichen getan hat. Dabei verfolgt er zweifellos ein hohes Berufsethos und kümmert sich, „dass keiner im Regen steht“. Allerdings bleibt zu hinterfragen, ob mit der alleinigen Einnahme eines Mittels ein komplexes Krankheitsgeschehen, das neben körperlichen auch psychische und soziale Dimensionen beinhaltet, aufgelöst werden kann. In dieser beruflichen Handlungspraxis verbleibt Karl Mitteldorf eher in der Logik klassischer Arzt-Patient-Interaktion, die durch Expertentum, Distanz und oftmals eine mangelnde Passung der (medizinischen und alltagspraktischen) Wissensordnungen (vgl. Herzberg et al. 2016) gekennzeichnet ist. Dabei erwartet Karl Mitteldorf, dass die Patienten seine Anweisungen befolgen, sich seinem (alternativmedizinischen) Wissensvorsprung unterordnen. Der Professionalisierungsprozess Karl Mitteldorfs erfolgt entlang des Ordnungssystems „paternalistischer Wissenshabitus“. Sein Potenzial der intensiven Hinwendung zum Patienten und seines empathischen Zugangs auf Basis eigenen Erfahrungswissens bleibt trotz des Erfolgs unausgeschöpft. Mit der Umsetzung eines komplexen Regelwerkes der Klassischen Homöopathie hat Karl Mitteldorf ‚seine Philosophie‘ gefunden. Das Konzept der Klassischen Homöopathie hat er um einen kleineren Anteil körperorientierter Wirbelsäulentherapie ergänzt („90/10“), die ebenfalls auf einem klaren Algorithmus anwendbarer Techniken mit Wirbel-Organ-Bezügen beruht. Diese Methode sichert ihm den schnellen Erfolg bei den Patientinnen, die begeistert von seiner akribischen Arbeitsweise sind, wie er mehrfach darlegt. Hinzu kommt seine nebenberufliche Lehrtätigkeit an jener Heilpraktikerschule, in der er selbst seine berufsbiographische Umorientierung zum Heilpraktiker begonnen hat. Allerdings ist Karl Mitteldorf unzufrieden mit der Praxis der Schule, die ökonomische Orientierung vor die inhaltliche Qualität zu stellen, was
5.4 Zusammenfassung
269
dazu führt, dass den Auszubildenden die Lehrinhalte entweder nur oberflächlich vermittelt oder die Kurse unnötig ausgedehnt werden. Auch die fachliche Ausbildung und Motivation der Lehrkräfte kritisiert Karl Mitteldorf. Er überlegt, seine Lehrtätigkeit für diese Schule aufzugeben. Damit grenzt er sich von einer Praxis ab, die seinem hohen moralischen Anspruch zuwiderläuft, ohne die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der beruflichen Ausbildung zu reflektieren und ohne in Erwägung zu ziehen, aktiv an der Veränderung der Ausbildungsbedingungen mitzuarbeiten. Seinen Beitrag sieht er darin, den eigenen Unterricht zeitlich angemessen und in einer hohen Qualität abzuhalten, was von seinen Schülerinnen positiv bemerkt wird. Karl Mitteldorfs Darlegung inhaltlicher Defizite der Heilpraktikerausbildung generell, z. B. bezüglich fehlender Strategien zum Umgang mit der (schwierigen) Selbstständigkeit unter ungeregelten Marktbedingungen, verbleibt in der anklagenden Kritik. Hier argumentiert er im Modus enttäuschter Erwartung, der sich auch auf seine Reflexion des gesellschaftlichen Transformationsprozesses übertragen lässt. Insgesamt zeigt sich hier jedoch die biographische Entwicklung Karl Mitteldorfs von einem unsicheren Menschen, der sich übermäßig an Autoritäten orientiert und an das System angepasst hat, hin zu einer gestandenen ‚Autorität‘ mit Handlungsautonomie, an der sich nun Patientinnen und Heilpraktikeranwärter orientieren, und der dem System oder der Institutionenlogik kritisch gegenübersteht, ohne sie jedoch aktiv zu verändern. In der Konstruktion der individuellen Erfahrungsaufschichtung Karl Mitteldorfs finden sich verschiedene Hinweise zu seinem Berufsethos, das sich auch im Praxisalltag zeigt. Es ist gekennzeichnet durch Regeln und (hohe) Erwartungen an sich selbst und an die Patienten. Als prioritären Anspruch sieht Karl Mitteldorf, jeden Patienten in seiner Problemlage ernst zu nehmen. Daneben ist für ihn Teil seiner Berufsethik, keine Methoden anzuwenden, die er „nicht mehr richtig beherrscht“, um kein Risiko fahrlässigen beruflichen Handelns einzugehen. Dabei ist ihm bewusst, dass mit jedem Patientenkontakt ein Risiko besteht, etwas Wichtiges zu übersehen. Dem versucht er mit Akribie zu begegnen: So liest er alle Befunde, die der Patient ihm übergibt, auch wenn er bereits über ein langjähriges berufliches Erfahrungswissen verfügt, das ihm eine erste Idee zum Fall gibt. Intuitive Dimensionen langjähriger Beruflichkeit (Kunstfertigkeit) bleiben unbeleuchtet. Wichtige Aspekte seiner akribischen Arbeitsweise sind die genaue Dokumentation des jeweiligen Falles, um im Zweifel nachweisen zu können, dass er fehlerfrei gearbeitet hat. Dies ermöglicht ihm zudem, jede graduelle Verbesserung des gesundheitlichen Zustands der Hilfesuchenden nachzuvollziehen. Er plant mehrere Stunden Zeit
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
ein für die ausführliche Erstanamnese und Repertorisierung und bittet die Patientinnen im Vorfeld, einen vierseitigen Fragebogen auszufüllen. Dieses Vorgehen führt insgesamt dazu, dass sich die Patienten bei ihm gut aufgehoben fühlen. Die Bedeutsamkeit dieses Faktors der Zeit und ausführlichen Anamnese – der intensiven Hinwendung zu seinen Hilfesuchenden – bleibt bei Karl Mitteldorf allerdings unterreflektiert. Vielmehr zieht er aus den strukturellen Problemen der schulmedizinischen Versorgung unhinterfragt Nutzen. Zudem bleibt zu hinterfragen, inwieweit Karl Mitteldorf wirklich an der jeweiligen Individualität der Patientinnen ansetzt und deren alltagsweltliche, soziale Kontexte von Erkrankung und Gesundung berücksichtigt, die z. B. über einen biographischen Zugang eröffnet werden können. Die Tätigkeit als Heilpraktiker erfüllt Karl Mitteldorf und fordert ihn zugleich. In seinem beharrlich entwickelten Expertentum, aufbauend auf der konsequenten Aneignung homöopathischen Sonderwissens (professioneller Wissensvorsprung) gepaart mit dem hohen Anspruch des medizinischen Heilungsparadigmas, stellt die Individualität jedes Falles Anspruch und Ansporn zugleich für ihn da. Besonders die Arbeit mit an Krebs erkrankten Menschen erschöpft Karl Mitteldorf. Er plant schon jetzt seinen beruflichen Ausstieg in fünf Jahren und hat bereits mit seinen bevorzugten Patienten besprochen, dass er sie nach Praxisschließung weiter behandeln wird. Diese Ausführungen verweisen auf zwei wichtige Aspekte seiner heilpraktischen Tätigkeit, die zugleich die Grenzen der beruflichen Ausformung seines biographischen Habitus darstellen: 1) Zunächst könnte Karl Mitteldorf einen Teil seiner selbst übernommenen hohen Verantwortung an die Patientin oder den Patienten zurückgeben, indem er sie über die bloße Mittelverordnung und Befolgung von Regeln, z. B. zur Ernährung bei homöopathischer Behandlung, in den Gesundungsprozess einbezieht. Zum jetzigen Zeitpunkt fehlen ihm Strategien, wie er seine Patienten dazu bringt, sich aktiv und auf Augenhöhe in einen selbstbestimmten Gesundungsprozess zu begeben. Dazu benötigt Karl Mitteldorf theoretische Ideen und Methodenkenntnisse, um an den Biographien der Menschen anzusetzen und sie an unbewältigten sozialen Dimensionen von Erkrankung wie Aspekten ungelebten Lebens (von Weizsäcker) abzuholen und sie in ihren Gesundungsprozessen zu begleiten. Hierzu würde gehören, dass er zunächst offen zuhört anstatt seinen expertisen, standardisierten Fragebogen abzuarbeiten und dem Patienten eine Lösung zu präsentieren. Dies würde neue, aber sicher lohnende Anforderungen für Karl Mitteldorf mit sich bringen, der sich selbst als empathisch einschätzt, auf Basis der eigenen biographischen Erfahrungen. 2) Karl Mitteldorf akzeptiert eine Selektion der Heilpraktikerklientel. Dass er seine „Lieblingspatienten“ nach offiziellem Renteneintritt weiter behandeln möchte, erscheint legitim. Allerdings
5.4 Zusammenfassung
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entfaltet Karl Mitteldorf an einigen Passagen des Interviews distinktive Sichtweisen, die wenig empathisch und zudem aus professioneller Sicht problematisch erscheinen – wenn er z. B. nicht nachvollziehen kann, dass Patientinnen nur an den Samstagen zur Behandlung kommen können, und erwartet, dass sie für eine Konsultation Urlaub nehmen bzw. auch die hohen Behandlungskosten unhinterfragt hinnehmen. Ebenso setzt Karl Mitteldorf einen gewissen Bildungsstand seiner Klientel voraus, damit diese seinen Fragebogen im Vorfeld der Erstkonsultation ausfüllen können. Bei einer Werbeaktion in einer kostenlosen Zeitung hatten sich Patientinnen bei ihm gemeldet, die die Fragen nicht verstanden. Dies ist für Karl Mitteldorf nicht akzeptabel und er zieht nicht in Betracht, auf andere Weise auf Klientel mit niedrigem sozialen Status einzugehen. Karl Mitteldorf reflektiert weder die sozial und gesellschaftlich konstituierte Sonderstellung seines Berufes, insbesondere auch seiner Heilmethode der Klassischen Homöopathie, noch nimmt er biographischen Bezug auf die eigene prekäre Herkunft. Zu weit hat er sich davon entfernt, bzw. es ist ihm klar, dass die Behandlung von Patienten mit niedrigem sozialem Status ihm kein dauerhaftes Einkommen sichern kann. Dies stellt jedoch ökonomische Notwendigkeit für ihn dar. Wie schwierig sich der berufsbiographische Prozess zur erfolgreichen Praxistätigkeit im Vollzeiterwerb gestaltet hat, zeigen insbesondere die Ausführungen zur Ökonomie und Selbstorganisation, die im Folgenden zusammengefasst werden. Die Entscheidung für die Niederlassung in Vollzeit ist mit (ökonomisch bedingten) Vorbehalten verbunden. Es dauert etwa fünf Jahre, in denen Karl Mitteldorf nebenberuflich als Vertreter für eine Partnervermittlung und einen Buchverlag tätig ist. Zudem gründet auf seine Empfehlung hin eine führende deutsche Heilpraktikerschule einen neuen Standort in seinem Wohnort, den Karl Mitteldorf leitet. Diese Tätigkeiten scheitern bzw. er beendet sie aufgrund seiner mangelnden Affinität zum Verkauf. So klärt er die Interessierten einer Heilpraktikerausbildung offen über die ökonomischen Schwierigkeiten einer selbstständigen Tätigkeit in dem Beruf auf, worauf viele von einer Kursteilnahme absehen. Patientinnen behandelt Karl Mitteldorf während dieser Zeit in Hausbesuchen. Er versichert sich auf diese Weise seines therapeutischen Könnens, bevor er sich endgültig zur Praxis im Vollerwerb entschließt. Den beruflichen Erfolg kontrolliert Karl Mitteldorf systematisch anhand der Zahl neu angemeldeter und zufriedener Patientinnen und Patienten. Dabei erstaunt ihn, dass sich immer wieder neue Patienten anmelden, deren aufwendige Erstkonsultationen die Basis für einen kontinuierlichen ökonomischen Praxiserfolg bilden. Seine eigene Leistung an diesem Erfolg hebt er nicht explizit hervor. Bei der Praxisauslastung akzeptiert Karl Mitteldorf Schwankungen sowie die Selektion seiner Klientel, wie bereits dargelegt
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
wurde. Zudem erweitert er seinen beruflichen Handlungsradius durch telefonische Beratungen. Karl Mitteldorfs Motivation für den Heilpraktikerberuf lässt sich folgendermaßen zusammenfassen. Übergeordnet ist die Herstellung berufsbiographischer Kontinuität. Es differenzieren sich aus: 1) die Sicherung der sozialen Position, die mit Anerkennung durch die Patienten „aller Couleur“ einhergeht; 2) die Absicherung einer stabilen Lebenssituation für sich und seine Frau, was sich in einem verlässlichen Vollzeitverdienst widerspiegelt sowie 3) die Erfüllung der Rollenerwartungen als Experte für Klassische Homöopathie, Ernährer, Kümmerer und Vorbild. In Bezug auf seine Ehefrau konstruiert er sich als ein verlässlicher Partner, der konsequent Zeiten für gemeinsame Unternehmungen und die mentale/psychische Unterstützung seiner Frau freihält. Zudem versucht er, seine Frau in Praxistätigkeiten wie die Buchführung einzubinden, als Ausgleich für die verlorengegangene eigene Berufstätigkeit im Zuge der ‚Wende‘. Bestandteil des biographischen Habitus von Karl Mitteldorf ist nur eine teilweise biographische und professionelle Reflexivität: Sie ist gekennzeichnet durch eine kritische Auseinandersetzung als Enttäuschung und Resignation, die fehlende soziale Kontextualisierung der Lebenssituation und Erkrankung seiner Mutter sowie eigener Erkrankungsprozesse. Hinzu kommen Konstruktionen von Bagatellisierung, überraschtem Erstaunen, und intuitivem Verweis, wenn er zur eigenen Biographie im gesellschaftspolitischen und sozialen Bezug sowie auf die gelungene Wahl des jetzigen Berufes, z. B. den „richtigen Riecher“ gehabt zu haben, rekurriert. Einer Zusammenarbeit zwischen Heilpraktikern und (Schul-)Medizinern steht er mehr als offen gegenüber: Sie könnte seine eigene Tätigkeit aufwerten. Zum Wohle des Patienten formuliert er einen Bedarf und bemerkt kritisch enttäuscht, dass sich sowohl die Profession der Medizin als auch die organisierte Heilpraktikerschaft nur unzureichend für eine Zusammenarbeit einsetzten. Gleichwohl fehlen ihm eine konkrete Idee der Weiterentwicklung und, biographisch habitualisiert, auch der Mut, vielleicht alternative soziale Praxen im Kleinen zu erproben, und somit auf die gesellschaftlichen Bedingungen zurückzuwirken. Zur Stärkung seiner Professionalität als Klassischer Homöopath fehlt ihm der (wissenschafts-)theoretische Reflexionsort. Dies kann er auf individueller Ebene nur unzureichend lösen – dies berührt das Problem fehlender institutioneller Ausbildung, die in seinem Fall zwar erfolgt, jedoch eng an die wissenschaftliche und handlungspraktische Logik der Medizin gebunden ist. In der biographischen Gesamtschau lässt sich Karl Mitteldorf als Akteur beschreiben, der erfolgreich seine widrigen Lebensumstände meistert und in eine stabile Lebenssituation überführt, in der er beruflich einen Sinn findet und anerkannt wird, sowohl bei seinen Patientinnen als auch seinen Auszubildenden.
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Anhand seiner subjektiv konstruierten Erfahrungs- und Ereignisaufschichtung lässt sich herausarbeiten, dass Karl Mitteldorf in seinem biographischen Lernprozess einen beachtlichen Zugewinn an Entscheidungs- und Handlungsautonomie sowie Gestaltungsspielraum erlangt. Dabei kommt ihm sein individueller biographischer Lern- und Verarbeitungscode – die Fähigkeit der Biographizität, also Erfahrungen und Ereignisse in der je individuellen Logik zu verarbeiten und zu aktualisieren sowie auf dieser Basis neue Erfahrungen zu machen – zugute. Für Karl Mitteldorf bedeutet dies, die neuen Möglichkeitsräume der Gestaltung seiner sozialen Welt, die sich mit der ‚Wende‘ eröffnen, zu nutzen. Mit der biographisch habitualisierten Strategie der Orientierung an Autoritäten und institutionalisierten Deutungssystemen sowie dem akribischen Umsetzen deren definierter und erprobter Regeln eignet er sich den neuen Beruf erfolgreich an und übt ihn langjährig aus – trotz der ungeregelten Berufsausbildung und ökonomischen Unsicherheit beruflicher Selbstständigkeit in der gesellschaftliche Randstellung. Die Basis bildet seine Disziplin und Konsequenz, mit der er sich Expertenwissen aneignet, um schließlich selbst zum Kreis der Experten zu gehören, auch wenn dieses Expertentum in der ‚Nische‘ des Heilpraktikerberufes verortet ist. Die Prozessstruktur des institutionellen Ablaufmusters (in der Kindheit, Jugend und berufsbiographischen Phase bis zur ‚Wende‘) wechselt mit der biographischen Entscheidung, Heilpraktiker zu werden (kurz nach der ‚Wende‘) zur Prozessstruktur des biographischen Handlungsschemas. Karl Mitteldorf konstruiert durchgängig eine Haltung der Handlungs- und Entscheidungsautonomie, auch in der schwierigen Familienphase seiner Jugend. In dieser nutzt er Strategien wie den Rückzug in die Natur und das Nachdenken über sich, sein Leben und die Welt entlang philosophischer Ideen. Die Unterstützung zweier Lehrer ermöglicht ihm, sein Leben praktisch neu zu ordnen. Die Entscheidung, die Karl Mitteldorf hier handlungsschematisch trifft, ist eine rigorose Ablösung von seiner Familie. Zur Gesamtgestalt der Lebensgeschichte: Es lassen sich zwei Erzähllinien verfolgen. Die erste beschreibt die Erfahrung des gesellschaftlichen Transformationsprozesses, aus deren Enttäuschung heraus sich Karl Mitteldorf handlungsaktiv dem neuen Beruf des Heilpraktikers zuwendet und diesen nun auf der Basis eigener Ressourcen aneignet und mit Sinn füllt. Der Erfolg der neuen Berufstätigkeit ist für ihn Bedingung und erreichtes Ziel. Die zweite Erzähllinie, die er bald nach Beginn der ersten und mit Rückkopplung zur Eingangsfrage der Interviewerin einführt (in Z. 122), beschreibt seine schwierige Kindheit und Jugend, in der er ohne familiäre Unterstützung und Rückbezug ‚leben lernen‘ muss. Hier setzt sich Karl Mitteldorf mit der Alkohol-Erkrankung seiner Mutter sowie eigenen Krankheitsprozessen auseinander. Karl Mitteldorf bleibt zum Zeitpunkt des
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Karl Mitteldorf: Anpassung an Autoritäten und Regeln …
Interviews in der Legitimation des Alkoholismus als Krankheit verhaftet. Der innere Kampf mit den gesellschaftlichen Normen jener Zeit, als Alkoholikerin diesen nicht gerecht zu werden, und die Entlastung durch die Diagnose, von der er im Zuge der Heilpraktikerausbildung erfährt, stehen im Fokus. Es fehlen ihm jedoch Ressourcen, um den Leidensprozess der Mutter in eine soziale Kontextualisierung einzubetten. Dies gestaltet sich für ihn ebenso schwierig, wenn er seine eigenen Erkrankungserfahrungen erinnert und deutet. Genau hier liegt die größte Schwierigkeit, jedoch auch das größte Potenzial in Karl Mitteldorfs Professionalitätsmuster – die Erkrankungen der Patienten in ihrer Sozialität zu verstehen, sie in ihrer kontextgebundenen Subjektivität abzuholen und somit über die Symptomlogik der Klassischen Homöopathie hinaus zu unterstützen sowie eigenverantwortliche Gesundungsprozesse zu ermöglichen. Abbildung 5.1 zeigt den biographischen Habitus von Karl Mitteldorf im Überblick.
Anpassung/Konformismus Biographische Lern- und Verarbeitungsstrategien
Berufliche Handlungspraxis Wissen
• Regeln und gesellschaftliche Normen -> Zugewinn an Handlungsautonomie
Krankheitsverarbeitung
Übernahme eines anerkannten Konzepts Akribische Umsetzung Expertise aus Fachbüchern Einbindung eigenen biographischen Wissens
Biographische Motivation
Orientierung • Autoritäten und institutionalisierte Deutungssysteme
Konzeptualisierung • • • •
• •
Erfüllung des eigenen Anspruchs Ökonomischer Erfolg
• Passive Patientenrolle • Enttäuschte Erwartungen -> Selbstbehandlung und Prävention
(Biographische und professionelle) Reflexivität
Selbstorganisation • • • •
• Keine soziale Kontextualisierung
• Kritische Enttäuschung • Kaum struktureller reflexiver Bezug • Keine soziale Kontextualisierung von Erkrankung und Gesundung • Fehlende (wissenschafts-)theoretische Rückbindung
• (Berufs-)biographische Kontinuität • Sicherung der sozialen Position -> Erfolg
Nebenberufliche Aus- und Weiterbildung Aufgabe des Hauptberufes zur Prüfungsvorbereitung Vergewisserung der Praxisreife Mehrjähriger Nebenerwerb -> Vollerwerb -> Erfolg und Bedingung
Patient*innen-/Klient*innenorientierung • • • • •
Paternalismus Regeln und hohe Erwartungen Selektion Zeit Empathie entlang eigenen biographischen Wissens
Abbildung 5.1 Der biographische Habitus von Karl Mitteldorf
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung – Gesundheit ermöglichen und gestalten
6.1
Die Interviewsituation und Praxis der Heilpraktikerin
Der Kontakt zu Elsa Wessig entstand auf einem Arbeitstreffen von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern. Elsa Wessig fällt durch ihre ‚besondere‘ Art auf; sie ist freundlich, zurückhaltend und etwas distanziert. Sie selbst sagt von sich, dass sie „anders als andere Heilpraktiker“ arbeitet. Das Interesse an ihrer Lebensgeschichte rührte sie sehr. Nachdem sie den genauen Hintergrund des Interviews erfahren hatte, sagte sie zu. Aufgrund einer längeren Erkrankung Elsa Wessigs konnte das Interview erst einige Wochen später stattfinden. Die zwischenzeitlich erworbene Interviewpraxis war hier sehr hilfreich, denn Elsa Wessigs autobiographische Stegreiferzählung war komplex, lebendig und berührend. Somit bildete das Interview eine Steigerung zu den vorher geführten 15 anderen. Elsa Wessig praktiziert abgelegen auf dem Lande, idyllisch inmitten von Feldern und einem Wald. Sie lebt und arbeitet in einem großen, modernisierten Bauernhaus. Auf dem Grundstück befinden sich weitere Häuser, ein größerer Parkplatz sowie ein Hinweisschild auf ein Therapiezentrum. Dieses betreibt Elsa Wessig gemeinsam mit ihrem Sohn und der Schwiegertochter, einer niedergelassenen Landärztin. Alle drei haben einen unterschiedlichen Therapieschwerpunkt, wie auf dem Schild zu lesen ist. Elsa Wessig erzählt ihre Lebensgeschichte bei einer Tasse Tee, in einem gemütlichen Behandlungs- und Gesprächszimmer mit Matte auf dem Boden und kleiner Sitzecke. Es gibt weiterhin ein kleineres Büro, einen ‚formal‘ gestalteten Besprechungsraum mit einem Schreibtisch und in einer zweiten Etage einen großen hellen Raum für Seminare und Yogakurse. Neben Gruppenseminaren und
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2_6
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
Workshops für Kinder und Erwachsene führt Elsa Wessig mehrtägige Einzelbegleitungen durch, bei denen die Klientinnen und Klienten auch bei ihr im Haus wohnen. Das Interview dauerte zwei Stunden und sieben Minuten.
6.2
Biographisches Porträt
Elsa Wessig wird 1941 im Sudetenland geboren. Sie ist zum Interviewzeitpunkt 73 Jahre alt. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem drei Jahre älteren Bruder werden sie nach dem Krieg ausgesiedelt und kommen mit anderen Flüchtenden in einem Güterzug nach Deutschland. Elsa Wessig beschreibt diese Erfahrung als „spannend“ und „angsteinflößend manchmal“, aber sie erlebt Krieg und Nachkriegszeit als „abenteuerlich“, ihre Kindheit als „fantastisch“. Die Eltern bauen auf einem Bauernhof eine Wohnung aus und kämpfen ums Überleben. Über ihre Sorgen sprechen sie nicht mit den Kindern, denen trotz der Entbehrungen auf dem Land viel Freiheit bleibt. Elsa Wessig besucht einige Jahre eine kleine Dorfschule, in der sie sich sehr behütet fühlt. Das „Heimelige“ geht verloren, als sie in eine andere Schule in ein größeres Dorf wechseln muss. Nach der achten Klasse beginnt Elsa Wessig im Zuge einer Kampagne gegen den Lehrermangel in einer Großstadt ein fünfjähriges Studium zur Lehrerin. Fehlende Russischkenntnisse sowie ihre Herkunft aus einem „verträumten“ Dorf führen dazu, dass ihr das Studium „zur Marter“ wird. Sie wird von den Mädchen, mit denen sie im Internat zusammenlebt, „gemobbt“, zieht sich immer mehr zurück und bricht nach zwei Jahren, getragen vom Verständnis ihres Vaters, das Studium ab. Diese zwei Jahre eröffnen ihr trotzdem beruflich später gute Möglichkeiten, da sie als mittlere Reife anerkannt werden. Nun beginnt Elsa Wessig zunächst eine selbst gewählte Ausbildung zur Schaufensterdekorateurin. Die dreijährige Lehre gefällt ihr sehr und Elsa Wessig schließt sie erfolgreich ab. Es gibt für sie allerdings ein anderes, persönliches Problem, als sie in die Pubertät kommt. Sie ist sexuell nicht aufgeklärt und kann zudem mit niemandem über ihre Gefühle des ‚Frau-Werdens‘ sprechen. Vor Männern empfindet sie Angst, bleibt verschlossen und ‚durchleidet‘ diese Entwicklungsphase der Unsicherheit. Nach der Ausbildung beginnt sie verschiedene Tätigkeiten in der Werbung. Sie wird zunächst Plakatmalerin, schreibt freihändig Transparente für eine große 750-Jahr-Feier. Ihre Unsicherheit in Bezug auf Männer bleibt. Sie wohnt bei
6.2 Biographisches Porträt
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einer strengen Wirtin, ohne familiäre Anbindung. Da ihr Bruder in einer anderen Großstadt sehr glücklich ist, bittet sie ihn, trotz eines Zuzugstopps, ihr dort eine Wohnung zu besorgen. Dieses Vorhaben gelingt und Elsa Wessig beginnt eine neue Tätigkeit in der Lebensmittelwerbung. Dort kann sie ihre Kreativität ausleben. Beim Bemalen einer Häuserwand verliebt sie sich in einen jungen Mann. Nach ein paar Jahren wird Elsa Wessig „plötzlich“ schwanger. Ihrer zukünftigen Schwiegermutter missfällt dies, aber Elsa Wessig bekommt kurz danach ihr zweites Kind und ihr späterer Mann wird sich dann „durchgesetzt“ haben und Elsa hochschwanger heiraten. Die Hochzeit ohne Gäste ist für Elsa Wessig sehr traurig und auch ihre Wohnsituation in den nächsten Jahren gestaltet sich als schwierig. So wohnt sie zunächst mit ihrem Kind allein auf einem Dachboden ohne Wasseranschluss. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes zieht sie mit ihren Kindern in eine Wohnung, in der sie sich mit einem alten Ehepaar eine Küche teilt. In dieser Zeit wohnt ihr Mann im Internat. Trotz der kleinen Kinder geht Elsa Wessig durchgängig arbeiten – mit viel Engagement, denn ihre Arbeit ist für sie „Lebenselixier“. Sie möchte sich beruflich weiterentwickeln und beginnt nun als Dekorateurin in einer Buchhandlung. Auch dort arbeitet sie mit großer Begeisterung, organisiert z. B. Lesungen und Wettbewerbe. Nach dem Studienabschluss ihres Ehemannes ziehen sie in die Großstadt, aus der er ursprünglich kommt, da er dort Anspruch auf eine moderne Drei-Zimmer-Neubauwohnung mit Bad hat. Die junge Familie lebt nun im neu errichteten Plattenbaubezirk einer sozialistischen Großstadt. Auch hier erhält Elsa Wessig wieder eine Anstellung als Dekorateurin in einer Buchhandlung. Für eine Lesung eines noch unveröffentlichten Buches entwirft sie selbstständig einen Schutzumschlag in Großformat. Der Autor des Buches wird darauf aufmerksam und setzt die Übernahme ihres Entwurfs beim Buchverlag durch. Dies ermutigt Elsa Wessig, sich zum Fernstudium für Grafik und Buchgestaltung zu bewerben. Sie wird angenommen und absolviert mit Begeisterung ein mehrjähriges Fernstudium. Neben ihrer Vollzeittätigkeit, den zwei Kindern und einer ‚mittelmäßigen‘ Ehe fährt sie regelmäßig mit dem Zug zum Studium. Sie empfindet Ehrfurcht „in diesen heiligen Hallen“ und vor der Chance, „noch mal im Leben so wo schon gelaufen schien, äh noch mal Student zu sein“. Sie erlernt die praktische Bücherherstellung („Kunstwerke“) und genießt die professionelle Arbeit mit fünf Studienkollegen und ihrem Professor. Elsa Wessigs Prüfungsleistungen sind so gut, dass ihr Professor ihr anbietet, auch das Diplom für Grafik zu erwerben, was sie begeistert annimmt. Zu der Zeit kündigt sie auch ihre Anstellung in der Buchhandlung und beginnt, als freiberufliche Künstlerin im Atelier eines Kollegen mitzuarbeiten. Sie lässt sich in dieser Zeit scheiden und wird wenig
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
später die Geliebte ihres Kollegen. Elsa Wessig ist nun in eine Künstlergemeinschaft von „Freidenkern“ eingebunden, die regelmäßig gemeinsam frühstücken. Bei einem dieser Treffen erzählt ein Künstler, dass sein Nachbarhaus auf dem Land verkauft werden soll. Elsa Wessig besichtigt es gemeinsam mit einigen Kollegen und auf Anraten dieser entschließt sie sich, es zu kaufen. Damit sie als alleinerziehende Mutter das Haus finanzieren kann, borgt ihr ihr Geliebter und Geschäftspartner das Geld. Zu der Zeit ist klar, dass sie gesicherte Aufträge haben und sie ihm das Geld leicht zurückzahlen kann. Elsa Wessig denkt heute erstaunt zurück, dass sie in ihrer damaligen Situation durch diesen glücklichen Umstand zu ihrem Haus kam, in dem sie heute noch lebt. Sie verbringt zunächst die jährlichen Sommerferien mit ihren Kindern in dem Haus und es fällt ihr immer schwerer, wieder in die, mehrere Autostunden entfernte Großstadt zurückzukehren. Sie trifft in Absprache mit ihren Söhnen die Entscheidung, endgültig aufs Land zu ziehen. Dazu trennt sie sich beruflich und privat von ihrem Kollegen und beginnt in einem neuen Verband für eine neue Stadt noch einmal von vorn. Ihr engagiertes Arbeiten führt zum Erfolg. Elsa Wessig verdient gut und wird Preisträgerin eines DDRweiten Wettbewerbs, was ihr auch Aufmerksamkeit im kapitalistischen Ausland bringt. Zur ‚Wendezeit‘ heiratet sie einen Maler und erlebt eine kreative und sexuell erfüllende Ehe. Mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess gelangt Elsa Wessig allerdings in eine „Sinnkrise“ und wird sehr krank. Deshalb empfiehlt eine Freundin ihr die Lektüre zweier Bücher mit psychosomatischem Denkund Heilansatz. Elsa Wessig liest eines dieser Bücher während eines Urlaubs und bezeichnet dies als „Initialzündung“. Sie begreift für sich, dass das Leben einen Sinn hat, versteht, dass jeder selbst die Möglichkeit persönlicher Entwicklung hat und „das Ganze kriegte […] eine Fassung“. Am Ende des Urlaubs beschließt sie, die „ganze Kunst“ zu beenden und sich einer neuen Aufgabe zu widmen. Diesen biographischen Schritt schätzt sie aus heutiger Perspektive als richtig ein, da für sie der Wert künstlerischer Arbeit durch die Ökonomisierung nach der ‚Wende‘ gesunken war. Das neue Ziel der Suche nach Selbsterkenntnis und persönlicher Entwicklung verfolgt Elsa Wessig mit Begeisterung. Sie nähert sich verschiedenen Denk- und Heiltraditionen und fährt dazu auch mehrere Male ins Ausland bzw. lernt bei Dozentinnen und Dozenten, die für die Kurse in die BRD kommen. Zunächst bucht Elsa Wessig eine Sitzung bei einem Astrologen und ist so begeistert von den Möglichkeiten der Astrologie, dass sie sogleich eine entsprechende Ausbildung absolviert („die erste nachkünstlerische Ausbildung“). Es folgen eine eigene Psychotherapie am Dethlefsen-Institut und eine Ausbildung zur Reinkarnationstherapeutin. Anschließend besucht sie einen Chakra-Workshop bei einer
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Lehrerin, die aus dem Ausland kommt, und die für den weiteren Verlauf ihres beruflichen Lebens als Mentorin sehr wichtig wird. Elsa Wessig erwartet, beim Workshop „Wissen“ zu erwerben. Was sie jedoch erlangt, ist „Erfahrung“. Der eigene Erfahrungsprozess ist so tiefgreifend für sie, dass sie in den nächsten drei Jahren die Rebirthing-Methode erlernt. Dabei erwirbt sie das Diplom über die abgeschlossene Ausbildung sowie später auch die Erlaubnis, selbst Gruppen auszubilden. Um jedoch eine therapeutische Praxis eröffnen zu können, benötigt sie die amtsärztliche Heilpraktikererlaubnis. Sie besucht einen halbjährigen Intensivkurs zur Vorbereitung auf die amtsärztliche Überprüfung und besteht diese. Für den mündlichen Teil benötigt sie allerdings einen zweiten Versuch, der ihr auf ihre Bitte hin eine Woche nach dem ersten Termin ermöglicht wird. Im Zuge dieses intensiven Lernprozesses der Aneignung eines ihr fremden Gebietes, des medizinischen Wissens, wendet Elsa Wessig ihre künstlerischen Fähigkeiten an. Sie malt z. B. die physiologischen Systeme des Körpers bunt in Großformat auf Papier und verknüpft komplexe Zusammenhänge optisch. Diese biographische Ressource spricht ihren Lerntyp an und unterstützt diese anspruchsvolle Lernphase. Nach bestandener Überprüfung gründet Elsa Wessig ihre eigene Praxis in einer Großstadt und dann auch in ihrem Haus auf dem Land. Sie führt zunächst hauptsächlich die Methode des Rebirthing durch. Hinzu kommen „Fitness für die Seele“-Abende für Frauen, aber auch zehntägige Workshops („große Transformation“). Sie bezeichnet sich als Frau mit einer Art „Sendungsbewusstsein“. Was sie als richtig erkannt hat, möchte sie weitergeben, um andere Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung in schwierigen Phasen ihres Lebens zu unterstützen. Hierzu ist ihr besonders wichtig, dass sie ihre vielen Ausbildungen mit einem Abschluss beendet hat. Da das Rebirthing aufgrund des kraftvollen, intensiven Arbeitens „angstbesetzt“ und wenig populär ist, ist sie gemeinsam mit ihrer damaligen Mentorin auf der Suche nach einer „einfacheren“ und „zielgerichteten“ Methode. Sie lernt die Methode des „whole hearted healing“ – „Heilen mit ganzem Herzen“ – kennen und wird zertifizierte Peak State-Therapeutin in einem international arbeitenden Institut. Diese Methode ermöglicht es, „auf sanfte Art schwere Traumen aufzulösen“. In ihre heilpraktische Arbeit fließen auch Bestandteile aus fernöstlichen Heilsystemen wie dem Ayurveda und der Traditionellen Chinesischen Medizin (Ernährung, Yoga, Qigong) ein. Elsa Wessigs spirituelle Entwicklung führt zu einer zunehmenden Entfremdung von ihrem zweiten Ehemann, der ihre berufliche und persönliche Weiterentwicklung „sehr unterstützt aber nicht getragen“ hat. Nach 18 gemeinsamen Jahren trennen sie sich einvernehmlich. Sie stehen in gutem Kontakt.
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
Etwa drei Jahre vor dem Interview bucht Elsa Wessig einen Kurs zur „sexuellen Befreiung“ und erlebt eine „Entpanzerung“. Seitdem fühlt sie sich „frei von Dingen, die sehr einengend waren“. Ihre sexuelle Begrenzung, die sie ihr Leben lang gespürt hat, betrachtet sie als aufgelöst. Sie denkt mit Bedauern daran, was sie alles „versäumt“ hat und versucht den Grund dafür zu finden, dass sie „so spät erweckt wurde“. Zu ihrer Tätigkeit sagt Elsa Wessig: „[Ich trete] jetzt eher in den Hintergrund, und bin auf eine Weise ausgefüllt und glücklich die ich nicht kannte.“ Sie behandelt in mehrtägigen Einzelintensivsitzungen, in denen die Hilfesuchenden bei ihr wohnen und Elsa Wessig für sie „rund um die Uhr“ zur Verfügung steht. Einmal wöchentlich gibt sie Yoga-Kurse und sie führt Gruppenseminare und einwöchige Kinderferienlager durch. Ihr fortgeschrittenes Alter ermöglicht ihr, unabhängig von finanziellen Notwendigkeiten zu arbeiten und aus ihrem gesamten Erfahrungsschatz zu schöpfen. Bei ihrer Tätigkeit wird sie von ihrem Sohn unterstützt, der darauf achtet, dass sie sich in ihren intensiven Heilsitzungen und Gruppenseminaren nicht überlastet. Zudem arbeitet er als Praxis-Partner in Teilzeit mit und hat mit seiner Frau, einer in einer Landarztpraxis tätigen Hausärztin, vor einigen Jahren das große Haus übernommen und modernisiert. Gemeinsam leben sie auf dem großen Grundstück und haben ein Therapiezentrum aufgebaut, in das jeder eigene Schwerpunkte einbringt. Im Verlaufe ihrer autobiographischen Stegreiferzählung nimmt Elsa Wessig immer wieder Bezug auf ihre vielfältigen beruflichen Abschlüsse, indem sie sie wiederholt aufzählt. Dabei kommen an der entsprechenden Stelle ihrer Erzählung immer ein oder mehrere hinzu. Elsa Wessig unterscheidet dabei nicht zwischen formalen Bildungsabschlüssen wie dem Diplom in Grafik und Buchdruck sowie weiterbildenden Ausbildungen wie der diplomierten Rebirtherin oder der Reinkarnationstherapeutin. Sie setzt die erworbenen Abschlüsse gleich und reiht sie aneinander als Schritte persönlicher und beruflicher Weiterentwicklung. Die damit verbundenen komplexen Wissensbestände kann sie nun im fortgeschrittenen Alter differenziert einsetzen, um ihren Klientinnen und Klienten unterstützend zur Seite zu stehen – sie zu begleiten, wenn sie schwierige biographische Phasen bearbeiten wollen. Beruf und Biographie sind bei Elsa Wessig somit eng und konkret miteinander verzahnt.
6.3 Kernstelleninterpretation
6.3
Kernstelleninterpretation
6.3.1
Eingangspassage
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Geboren im Krieg – Zwischen Angst und Abenteuer, Glück und Sinn E: … ich bin im Krieg geboren, im Weltkrieg, und ähm, bin im Sudetenland zur Welt gekommen, … ((Hintergrundinformation zur Aussiedlung der Sudetendeutschen)) und zwa:r bin ich Einundvierzig geboren und=äh Fünfundvierzig Sechsundvierzig wo der Krieg dann schon (1) äh vorbei war, ähm, sind wir mit einem (1) einem Zug, im Güterzug (2) mit allen Flüchtlingen in äh so in solchen Güterwaggons äh mit viel Gepäck und Zeugs ähm nach Deutschland, transportiert. I: Mhm E: (1) Und ich hab das als Sechsjährige erlebt, und äh das war spannend und ang- angsteinflößend manchmal, und ähm, aber es- ich hab das-ä den Krieg nicht erlebt im Sinne von Bombenanangriffen. //mhm// meine Erlebnisse waren abenteuerlich und nun bin ich vom Haus aus, ein, Widderkind immer noch, und das is so das is der Abenteurer ne? und so seh ich auch meine Kindheit also ich fand sie fantastisch. I: Mhm E: Obwohl das gar nich, kann=m gar nich verstehn nich? ich bin also, im Krieg geboren und dann also es is so, irgendwie hat das Schicksal es mit mir immer (1) äh in letzter Hinsicht ähm, sehr freundlich gemeint. //mhm// auch wenn es manchmal dramatisch, verläuft, so hab ich doch immer n Weg gefunden,
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
wo dann ähm, na wie so n wie so n kleines Glück dabei oder wie so ne kleine Wendung wo das Ganze ähm, seinen Sinn bekam. (25–46)
Elsa Wessig entspannt als Intervieweinstieg einen historischen Rahmen. Ihre Geburt in eine sudetendeutsche Familie hinein bringt die Aussiedlung nach dem Krieg mit sich. Die Familie wird gemeinsam mit anderen „Flüchtlingen“ mit ihren Habseligkeiten und unter beengten und chaotischen Bedingungen („Güterwaggons“; „mit viel Gepäck und Zeugs“) nach Deutschland „transportiert“. Obwohl Elsas Wessig die Fremdbestimmtheit der Aussiedlung unter schwierigen Bedingungen konstruiert, erinnert sie diese Phase erster biographischer Erinnerung als „spannend und ang- angsteinflößend manchmal“. Das „Spannende“ dominiert die „Angst“. Elsa Wessig bringt eine Erlebensqualität im Gegensatz zu einer Erleidensqualität in ihre einführenden Darlegungen. Sie markiert dies, indem sie ihre Kriegserinnerungen von traumatischen Erlebnissen wie Bombenangriffen abgrenzt und sie mit ‚Abenteuern‘ in Verbindung bringt („nicht erlebt im Sinne von Bombenanangriffen. //mhm// meine Erlebnisse waren abenteuerlich“). Dies untermauert sie mit einer ‚Großtheorie‘, einem Bezug zur Astrologie – nämlich als „Widderkind“ geboren zu sein. Neben dem Verweis auf den „Abenteurer“, das Hineinspringende, Mutige, Spontane der Widderstruktur, eröffnet sie, dass die Realität auch immer eine andere Realität sein kann, was einen ersten Hinweis auf ihre Weltsicht und höhersymbolischen Bezüge ihrer Beruflichkeit gibt. Sie evaluiert nicht nur diese Erlebnisse, sondern ihre gesamte Kindheit als „fantastisch“. Diese fast naive Sicht auf die Kriegs- und Nachkriegszeit wird von ihr daraufhin selbst relativiert. Ihre Erklärung verweist auf ihre biographische Gesamtformung, wenn sie gleich anschließend ihr biographisches Grundmotiv markiert. Auch wenn ihr „Schicksal“ nicht einfach ist – hier am historischen Kriegs- und Nachkriegsrahmen eingeführt – wenn es viele dramatische Entwicklungen gibt, am Ende ist es „sehr freundlich“. Dabei bleibt sie in dieser glättenden Konstruktion nicht passiv, sondern macht klar, dass sie in nicht einfachen Umständen Wege findet, woraufhin es Wandlungen gibt und sie letztendlich einen Sinn findet. Zwischen Glück und Sinn ist dabei noch einmal zu unterscheiden. Sinn ist eine tiefere Kategorie als Glück. Während Elsa Wessig mit Glück das Positive im Kleinen betont, beinhaltet Sinn das Übergreifende ihres Lebens – es geht um die Konstruktion einer erfüllten Realität. Dabei muss eine soziale Identität entwickelt werden, um Sinn herzustellen, was im biographischen Prozess der eigenen Erfahrungsaufschichtung, in der je individuellen Verarbeitung, geschieht. Dass Elsa Wessig dies thematisiert, lässt einen vorweggenommenen Bezug auf ihre zukünftige Berufstätigkeit vermuten – die Sinnherstellung als Teil der Identitätsbildung,
6.3 Kernstelleninterpretation
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die im Selbsterfahrungsprozess unterstützt wird. Zusammen mit dem astrologischen Verweis mag dies auf Erfahrungen im esoterischen, spirituellen ‚Milieu‘ hindeuten. Diese Konstruktion weist zudem darauf, dass es Elsa Wessig aus der Jetzt-Perspektive, aus der sie ihre Lebensgeschichte darlegt, gutgeht. Sie kann das Positive, Sinnhafte ihres Lebens betonen.
6.3.2
Sozialisation – Habituserwerb
Kindheit – umsorgt trotz Entbehrungen E: … und ähm, (1) hab ich die Nachkriegszeit erlebt. also mit Hunger, und mit Lebensmittelkarten und all sowas. //mhm// und ähm, aber das war, Sache der Eltern ne? das- sie haben sehr viel ferngehalten von uns, als Kindern also äh- das, war früher nich so dass man das mit Kindern besprach. //mhm// ich kann mich zwar erinnern dass es, dass ne Butterschnitte, äh, das war, mit Butter belegtes Brot, warn wie Kuchen am Sonntag, das gibt’s- gab’s ganz selten und, ich war einmal sehr krank und dann kriegte ich eben ne Butterschnitte und Marmelade drauf, und keiner vom Tisch hat das bekommen bloß weil ich krank war. (58–64)
Auch hier konstruiert Elsa Wessig ihre Kindheit entlang des alltagsweltlichen sozialen Rahmens der Nachkriegszeit. Sie beschreibt eine Zeit der Entbehrungen, in der ihre Eltern versuchen, die Kinder trotz der Not zu behüten und zu umsorgen. Sie versuchen, ihre Kinder wenig von ihren Problemen spüren zu lassen, besprechen kaum ihre Sorgen mit ihnen. Nur zu besonderen Anlässen kann sich die Familie Butter oder andere besondere Lebensmittel leisten. Als Elsa Wessig erkrankt, bekommt sie als einziges Familienmitglied ein Butterbrot mit Marmelade, um gesund zu werden. Sie markiert hier zwei Unterschiede zur heutigen Zeit: zum einen, dass Eltern wenig mit ihren Kindern besprachen, zum anderen die Armut am Beispiel einer Butterschnitte, die damals „wie Kuchen
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
am Sonntag“1 war. Dies verweist darauf, dass sie aus der Gegenwartsperspektive auf die damalige Zeit blickt und die strukturellen und alltagspraktischen Unterschiede wahrnimmt – ein verändertes Eltern-Kind-Verhältnis sowie das heutige Leben in verbesserten materiellen Verhältnissen. Gleichwohl scheint sie mit ihrer Beschreibung nah am Erleben ihrer Kindheit zu sein. Interesse, mehr zu erfahren E: … ich bin in die Dorfschule gegangen … mit sieben Schülern, in einer Dr-Vier, bis Fünfklassenschule. also jede Bankreihe war eine Klasse. (1) also die erste, die zweite Klasse drittund immer wa- gab’s Stillbeschäftigung für die die nicht dran warn. so kriechte man aber immer auch was von den höheren mit je nach:dem wie’s von Interesse war. //mhm// ne schöne süße kleine Dorfschule (66–70)
Elsa Wessig teilt ihre Schulerfahrungen in verschiedene Phasen ein: Hier stellt sie die erste dar, die sie u. a. aufgrund ihrer Überschaubarkeit in ländlicher Idylle als besonders schön erlebt („ne schöne süße kleine Dorfschule“). Sie lernt mit wenigen Kindern verschiedenen Alters in einem Klassenraum. Je nach Klassenstufe werden differenzierte Bildungsinhalte vermittelt. Zwei Dinge sind für den Lernhabituserwerb Elsa Wessigs wichtig. Sie lernt, sich selbst Wissen anzueignen bzw. mit Lernstoff auseinanderzusetzen („Stillbeschäftigung“). Zudem kann sie bei den Älteren mithören und ihren eigenen Lernprozess entlang des dort vermittelten Wissens gestalten, sich sozusagen ‚Wissen holen‘ oder es auch ausblenden. Elsa Wessig ist interessiert an der Aufnahme von Wissen, das für sie noch nicht vorgesehen ist („so kriechte man aber immer auch was von den höheren mit je nach:dem wie’s von Interesse war“). Hier kündigt sich erstmals ihr Bildungsbestreben an, hier noch als kindliche Neugier. Abgebrochenes erstes Studium 1 Die
Konstruktion des „Kuchen am Sonntag“ verweist zudem darauf, dass Elsa Wessig auch heute den Verzehr von Kuchen nicht in die alltägliche Praxis einordnet. Kuchen bleibt etwas Besonderes, was einen Hinweis auf ihre Ernährungs-/Lebensgewohnheiten und vielleicht diesbezügliche Beratung ihrer Klientinnen gibt.
6.3 Kernstelleninterpretation
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E: … und äh, als ich Vierzehn war gab es eine Kampagne … Lehrer aufzustocken weil so viele Junglehrer im Krieg geblieben sind. und, äh da hat man mit’m Institut für Lehrerbildung C-Großstadt, also mit Vierzehnjährigen äh angefangen, äh die auszubilden. und ich war eine von diesen Vierzehn- also mit Vierzehnjährigen, die s- am IfL anfingen zu studieren für fünf Jahre. mein Handicap kein Russisch zu haben gehabt zu haben, und noch dazu von so nem kleinem verträumten Dorf, wamachte mir dieses, ähm, das erste Studium also zur Marter. ich hab also immer Fünfen gehabt in diesem einen Fach und, das hat mir ähm, überhaupt kein Spaß gemacht und (1) ich hab in einem Internat gelebt von, ähm, wo wir mit ähm (2) zwölf Mädchen auf einem Zimmer, //mhm// sechs Doppelstockbetten, und die ham mich gemobbt würde man heute sagen total //mhm// und das is für mich noch ne Marter wenn ich zurückdenk wie (1) ähm, wie wie aufgeschlossen ich eigentlich gekomm und wie ich mich verschlossen hab durch diese, durch diese Zeit in C-Großstadt. nach zwei Jahren hab ich das Handtuch geworfn, und mein Vater hatte ein Einsehen (81–95)
Eine Folge des Krieges war auch ein Fachkräftemangel. So fehlte es an Lehrern, sodass es ein Programm für vierzehnjährige Jugendliche gab, sich in einem fünfjährigen Studium zum Lehrer oder zur Lehrerin ausbilden zu lassen. Diesen Bildungsweg beginnt Elsa Wessig. Die Einführung der „Kampagne“ der Lehrerbildung deutet darauf hin, dass es nicht Elsa Wessigs biographischer Plan war, Lehrerin zu werden, sondern eher eine Reaktion auf die institutionalisierte ‚Werbeaktion‘. Der Wechsel in dieses Studium birgt zwei biographische
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Herausforderungen: Als Schülerin einer kleinen Dorfschule fehlen ihr Russischkenntnisse, die sie für ihr Studium dringend benötigt („mein Handicap kein Russisch zu haben gehabt zu haben“). Zudem bedeutet der Wechsel vom sozialen Rahmen idyllischen Dorflebens („von so nem kleinem verträumten Dorf“) in die Beengtheit von Großstadt und Internat, in dem sie sich ein Zimmer mit zwölf Mädchen teilen muss, eine schwierige Umstellung. Ihre soziale Welt und Habitus scheinen nicht anschlussfähig an die der anderen Mädchen. Sie wird „gemobbt“, auf allen Ebenen („total“). Dies in Verbindung mit der fehlenden Anerkennung ihrer Leistungen in Russisch („ich hab also immer Fünfen gehabt in diesem einen Fach“) führt dazu, dass sie sich zunehmend zurückzieht und nach zwei Jahren erfolgloser Aneignungsversuche schließlich ihr Studium aufgibt. Dabei verweist das wiederholte Wort „Marter“ auf die Dramatik der Situation, die sie noch heute erinnert. Der Gegensatz von „aufgeschlossen“ und „verschlossen“ in ihrer Evaluation („wie aufgeschlossen ich eigentlich gekomm und wie ich mich verschlossen hab“) geben zudem eine Idee zu ihrer Selbstkonstruktion: Zu ihrer Sicht auf die Welt gehört es, aufgeschlossen zu sein, sich ihr zuzuwenden. Dies nicht (mehr) zu können, lässt sie aufgeben („das Handtuch geworfn“). Elsa Wessigs Vater stimmt dem Studienabbruch zu. Dies verweist darauf, dass er es ist, mit dem sie entscheidende Fragen klären muss, und der ihr zugleich Räume freier Entfaltung lässt bzw. neue Möglichkeiten eröffnet. Dies bestätigt die nächste Passage, in der es darum geht, den weiteren beruflichen Bildungsweg zu verhandeln. Handlungsschematische Berufswahl E: Und ähm, dann hat mein Vater gesagt: „Ja was willst du denn dann werden?“ (1) und ich kann nicht wirklich sagen wo ich das hergeholt hab, ich hab gesagt ich möchte Schaufensterdekorateurin werden. die- also so bisschen in die Kunstrichtung hat’s mich da schon gewedelt und ähm (1) ich fand das immer toll die dekorierten die Schaufenster und das war zugehängt, man bereitete etwas vor was dann so, in die Ausstellung kam und, die sahn auch immer so mit bunten k-weißen Kitteln mit bunten Farben hinten drauf auf’m, Dings und das hat mich fasziniert (102–108)
6.3 Kernstelleninterpretation
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Elsa Wessigs Vater sieht an dieser Stelle keine Alternativen, ist aber so offen, auf die Überlegungen seiner Tochter einzugehen („Ja was willst du denn dann werden?“). Diese entscheidet spontan und intuitiv („und ich kann nicht wirklich sagen wo ich das hergeholt hab“), dass sie Schaufensterdekorateurin werden möchte. Diesen kreativen, handwerklichen Beruf setzt Elsa Wessig hier schon in Bezug zu ihrer späteren künstlerischen Tätigkeit („also so bisschen in die Kunstrichtung hat’s mich da schon gewedelt“). Am neuen Beruf reizt sie das Überraschende, Farbige, Kreative. Er erfüllt noch kindliche Bedürfnisse und steht zugleich im krassen Gegensatz zu der hochinstitutionalisierten Form des Lehrerstudiums, in dem es darum geht, Kinder in die neue sozialistische Ideologie einzusozialisieren, was sich nicht zuletzt an der Bedeutung der russischen Sprache zeigt, die Elsa Wessig hervorhebt und deren mangelnde Affinität dazu entscheidend zur Aufgabe des Studiums führten. Der Vater lässt den selbst gewählten Bildungsweg zu und Elsa Wessig absolviert die folgende biographische Phase erfolgreich, wie die nächste Passage zeigt. Dass der Vater sie zunächst an ein institutionalisiertes Studium herangeführt hat, verweist auf (bildungs-)bürgerliche habituelle Grundorientierungen ihrer Herkunftsfamilie, die mit einer Bildungsaspiration einhergehen. Erfolgreicher Abschluss der Ausbildung, die ihr Spaß macht E: … und (1) die drei Jahre Lehre als Schaufensterdekorateurin hab ich, gut abgeschlossen und es hat mir riesigen Spaß gemacht, da ham wir also mit Pinsel schreiben gelernt, ähm Schauf- also Preise Schilder, das kann man sich heute /alles gar nich mehr vorstellen ((lacht)) ähm, und die hatten also kleine Etiketten wo man mit so nem ganz feinen Pinsel denn, Anzug die und die Größe und, den Preis dahinter. und das stellte man denn mit so ner Stecknadel hin ins Schaufenster. und die Anzüge wurden, ausgepolstert, äh mit Seidenpapier dass man sozusagen, dass der wie, wie an:gezogen aussieht und, wie man das alles macht. und wie man den Blickfang, so hieß das damals also das, in die Mitte hing, und dann wurde das eröffnet
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und dann ging der Chef hin und guckte, ob er damit zufrieden is (132–140)
Elsa Wessig betont hier, dass sie die Ausbildung erfolgreich abschließt, und mehr noch, wie viel Spaß sie dabei hat. Dies verdeutlichen ihre Beschreibungen einiger Details der erworbenen Fähigkeiten, die zudem darauf verweisen, dass sie nah am Erlebten ist. Deutlich wird hier, wie sie ihre Freude und Kraft aus dem handwerklichen, akkuraten und kreativen, aber auch aus dem relativ freien Arbeiten schöpft. Erst am Ende eines Arbeitsprozesses wird das Ergebnis begutachtet („und dann ging der Chef hin und guckte, ob er damit zufrieden is“). An diese Ausführungen schließen sich längere Darstellungen ihrer Berufsausübung, aber auch ihrer privaten Herausforderungen als Frau und junge Mutter zweier Kinder an. Elsa Wessig bleibt hauptsächlich im Modus der Beschreibung. Hierbei spannt sie den Bogen eines Lebens als Frau zwischen Beruflichkeit und privater Rollenübernahme. Die Beruflichkeit bzw. Arbeiterlichkeit (Engler) steht vor der privaten Rolle als Frau. Diese Priorisierung verläuft jedoch nicht konfliktfrei.
6.3.3
Berufliche Karriere – Zwischen Bildungsaspiration, Freiheit und doppelter Vergesellschaftung
Arbeit als Lebenselixier E: … und ich hab die ganze Zeit gearbeitet wie es damals so war nach, sechs oder acht Wochen Mutter:schutz, //mhm// und da bin ich immer in die Krippe noch gefahrn und hab mein=mein Kind gestillt, das also das ging einfach weiter … und äh, dann bin ich s- mit dann zwei Kindern wo beide noch nicht richtig laufen konnten, also der eine war im Wagen und den anderen hab ich draufgesetzt so früh um sechs manchmal durch die Stadt gefahrn zum A-Stadtplatz //mhm//, äh und hab mein Kind da abgeliefert und, also es war irgendwie ähm (3) also ich war darüber nicht traurig ich hab äh mein Beruf geliebt und äh ich hätte nie aufhörn könn zu arbeiten es machte mir unheimlich viel Spaß, und ich kann mich erinnern ich hab in=in in der Krippe dann so als Elternbeitrag, äh da war so ne große Mauer die war so weiß gestrichen
6.3 Kernstelleninterpretation
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hab ich das Ganze zum Wandbild gemalt ne, was da so, äh, ähm, für die Kinder so, als Umgebung. (231–241)
Elsa Wessig bekommt kurz nacheinander zwei Kinder. Außer dem gesetzlichen Mutterschutz nimmt sie sich keine berufliche Auszeit nach der Geburt ihrer Kinder, sondern geht durchgängig in Vollzeit arbeiten. Dabei beschreibt sie zuerst, dass sie am Tag zwischen der Arbeitsstelle und der Krippe pendelt, um ihr Kind zu stillen. Zudem ist sie mit beiden Kindern schon sehr früh am Morgen unterwegs, um sie rechtzeitig vor Arbeitsbeginn in die Krippe zu bringen. Um diese anstrengende Zeit zu reflektieren, nimmt sie sich einen kurzen Moment Pause („(3)“). Sie führt das Wort „traurig“ ein, geht jedoch nicht näher darauf ein, was vielleicht traurig gewesen sein könnte. Vielleicht wägt sie gerade die verlorene Familienzeit gegen ihre Arbeitszeit auf. Die Liebe zum Beruf und der Spaß an ihrer Tätigkeit sind Grund dafür, dass Elsa Wessig diese Zeit, in der die Kinder den ganzen Tag in der Kinderbetreuung verbringen, nicht bereut. Diese doppelte Vergesellschaftung der Frau gehörte zudem zum Alltag der Frauen in der ehemaligen DDR. Dass Arbeit und Leben nicht strikt voneinander getrennt sind, und es Möglichkeiten der Vereinbarkeit gab, zeigt neben der Episode um das Stillen auch die um den „Elternbeitrag“. Elsa Wessig gestaltet eine Wand in der Kinderkrippe. Damit verbindet sie eine gesellschaftlich erwartete ehrenamtliche Leistung mit ihren beruflichen Fähigkeiten und verschönert zudem die Umgebung ihrer Kinder. Sie erfüllt Erwartungen, legt diese jedoch so aus, wie es biographisch für sie passt – eine Kompetenz, die Elsa Wessig biographisch habitualisiert, wie weitere Kernstellen belegen. Dass ihr Berufsleben vom Bestreben um Weiterentwicklung und Aufstieg gekennzeichnet ist, und sie zudem ihre Möglichkeiten freier, durchdachter und anspruchsvoller Gestaltung im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten ausschöpft, zeigt die folgende Passage. Sie ist in Elsa Wessigs Stegreiferzählung dort verortet, wo sie mit den Kindern ihren Wohn- und Arbeitsort wechselt, um ihrem Ehemann nach seinem Studienabschluss in seine Heimatstadt zu folgen. Anerkennung und Mut zum Studium E: … und ähm dort hatt ich die Aufgabe auch wieder alle fünf oder sechs Schaufenster zu gestalten, zeitgemäß ja, und themengebunden und manchmal für einen Schriftsteller. und da gab es einen Herrn Leibuteck, …
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
der hat ein Buch geschrieben das=der hieß (Titel), ging um Ost-West Pro:blematik, wir warn ja noch tiefste DDR, und der hatte noch- das Buch war noch nicht verlegt, und da ich immer das=den Schutzumschlag groß gemacht hab, und, zu dieser Lesung hinten hingehängt und da hier nichts kam, da merkst du auch so mein Herangehen, ich mach das dann immer äh tief begründet auch, hab ich den Schriftsteller angerufen und gebeten er möchte mir das Manuskript schicken, weil äh, ich das lesen möchte und dann en Schutzumschlag machen möchte. und äh das hab ich denn auch gemacht, und ähm, er hat des ja nicht gesehen weil er davor saß aber seine Frau saß im Saal und hat immer das Plakat angeguckt und sie hat ihm dann gesagt: „Du das ist doch dein Schutzumschlag, besser kann man’s doch nicht machen.“ //mhm// und dann hat er den auch wirklich genommen und im Verlag auch durchgesetzt, so, das ist die Ge-die Geschichte die wieder die wieder den nächsten Sprung vor:bereitet hat, //mhm// nämlich ich hab mich getraut weil ich ja, ähm wie soll ich sagen kein Direktstudium mehr machen konnte, mich in E-Großstadt an der Hochschule für Grafik und Buchkunst zu bewerben in ein Fernstudium, für Grafik und Buchgestaltung. I: Mhm E: Und wurde angenommen. (261–281)
Elsa Wessig ist nach ihrem Umzug wieder in einer Buchhandlung tätig. Sie gestaltet die Schaufenster nach aktuellen Themen und hat die Möglichkeit, Lesungen zu organisieren und gestalterisch auszustatten. Sie beschreibt eine besondere Situation, in der ein Schriftsteller aus seinem noch unveröffentlichten Buch lesen wird. Sie führt kurz in die soziale Rahmung („tiefste DDR“) und die Thematik des Buches ein („Ost-West Pro:blematik“), ohne diese näher zu beschreiben. Dies verweist darauf, dass Elsa Wessigs Tätigkeit zwar eng mit gesellschaftspolitischen Erwartungen und Themen verbunden ist, diese jedoch für ihre eigentliche Tätigkeit eine nachgeordnete Rolle spielen. Die künstlerische Umsetzung der zu
6.3 Kernstelleninterpretation
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erfüllenden Aufgabe ist ihr wichtiger. Ihr reguläres Vorgehen ist, den vorhandenen Schutzumschlag des jeweiligen Buches in Großformat an die Wand zu bringen, um die Teilnehmenden anschaulich in die Thematik der Lesung einzuführen. Zugleich ermöglicht sie damit die Wiedererkennung des Buches, aus dem gelesen wird. In diesem Fall gibt es jedoch noch keinen Schutzumschlag. Elsa Wessig überlegt sich, wie sie die Lesung am besten rahmen kann. Hierbei verweist sie zudem darauf, dass ein umfassend durchdachtes Vorgehen zu ihrem beruflichen Habitus gehört („da merkst du auch so mein Herangehen, ich mach das dann immer äh tief begründet auch“). Handlungsschematisch nimmt sie Kontakt zum Schriftsteller auf und bittet ihn um sein Manuskript. Nachdem sie es gelesen hat, entwirft sie einen Schutzumschlag, der die Thematik des Buches einfängt, und hängt es in Großformat an die Wand. Der Ehefrau des Schriftstellers, die im Publikum sitzt, gefällt der Entwurf so gut, dass sie diesen ihrem Mann vorschlägt („Du das ist doch dein Schutzumschlag, besser kann man’s doch nicht machen“). Er stimmt zu und verhandelt mit dem Verlag, dass der Schutzumschlag auch so übernommen wird. Dies scheint nicht selbstverständlich zu sein, worauf die Formulierung „im Verlag auch durchgesetzt“ deutet. Dass diese Situation berufsbiographisch bedeutsam ist, darauf verweist neben der inhaltlichen Darlegung der sich anschließenden Bewerbung zum Fernstudium auch die verwendete wörtliche Rede. Die Anerkennung ermutigt Elsa Wessig zu einem nächsten Schritt des Bildungsaufstiegs („Sprung“). Sie bewirbt sich zum Fernstudium. Obwohl Elsa Wessig erst Ende zwanzig2 ist, zeigt sie hier einen Aspekt des gesellschaftlichen Normallebenslaufs jener Zeit auf – es ist nicht vorgesehen, in diesem Alter noch ein Direktstudium zu absolvieren („wie soll ich sagen kein Direktstudium mehr machen konnte“). Die biographische Lenkung zum Direktstudium erfolgte früh und die Zugangsmöglichkeiten waren begrenzt. Elsa Wessigs Bewerbung zum Fernstudium ist jedoch erfolgreich. Den Plan entgegen sozialer Erwartungen verfolgen und sich zwischen Männern behaupten E: … und bin hab dann ein Fernstudium von drei oder vier Jahren gemacht, musst dir vorstellen Volljob, zwei Kinder die Ehe lief, nich s:o gut //mhm// und äh dann noch dieses Fernstudium. I: Mhm E: Und das auch mit so einer Begeisterung und Elan,
2 Kontextwissen
aus der exmanenten Nachfragephase (Z. 1099).
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
ich musste mit dem Zug immer nach E-Großstadt fahrn, und ähm mit sich, wie soll ich sagen, das war so ehrfürchtig in diesen heiligen Hallen und dann noch mal im Leben so wo schon gelaufen schien, äh noch mal Student zu sein und so. nun hatt ich auch das (3) un::gewöhnliche Glück nur mit Männern zusammen zu sein. und die warn, wir warn auch nur wieder fünf, und äh ein Professor (2) und, also ich war da nur mit Männern zusammen die äh, Schriftsetzer waren. die kam aus ner andern Branche die haben, ich weiß nicht sagt dir das was? w-wie man noch mit Blei se-setzt oder so wie Gutenberg das //mhm// erfunden hat? und so hat man dort gearbeitet und das-das haben die alle beherrscht, und das ist ja meistens ein schwarz weiß Geschäft. I: Mhm E: Und ich musste das lernen, also das muss man so n Schiffchen nehmen und dann muss man des=des Setzkasten, dann nimmt man die Buchstaben einzeln und ganz mühsam und=und klopft sie so in dies Schiffchen rein und dann ist eine Zeile fertig, //mhm// und die setzt man dann in den Block und der Block wird gefasst und so, und das ist=wird immer schwarz weiß=schwarz weiß und, außer die Farbe Rot oder da-macht man eine Auszeichnungsfarbe. nun kam ich da:zwischen von der Werbung und war, natürlich en bunter Vogel. und ähm ne leidenschaftliche Frau zwischen den Männern und ich tat denen so gut, das wusst ich aber erst am Ende, weil ich hab, äh Mut zur Farbe da reingebracht ne, //mhm// und äh, das hat der mir am Ende gesagt, dass das so dass das so gewirkt hat ne, und ich hatt=kam mir aber immer minderwertig vor, weil ich war eben kein Schriftsetzer. (281–304)
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Diese Passage zeigt verschiedene biographisch wichtige Dimensionen im Leben Elsa Wessigs. Zunächst bestätigt sie ihre Bildungsaspiration. Trotz der Herausforderung, Familie, Vollzeittätigkeit und Studium, das mit regelmäßigen Anreisen in eine andere Stadt verbunden ist, zu meistern, ist sie „mit so einer Begeisterung und Elan“ bei der Sache. Zudem kündigt sie Eheprobleme an, ohne sie jedoch näher auszuführen. Vorstellbar ist, dass es Aushandlungsprozesse um die Organisation von Reproduktionstätigkeiten gibt. Sie lässt sich jedoch nicht abhalten, ihren biographischen Plan des Bildungsaufstiegs zu vollenden. Ihr ist bewusst, dass sich ihr hier eine besondere biographische Chance und neue soziale Situation eröffnet hat („und ähm mit sich, wie soll ich sagen, das war so ehrfürchtig in diesen heiligen Hallen und dann noch mal im Leben so wo schon gelaufen schien, äh noch mal Student zu sein und so.“). Hinzu kommt, dass sie sich als einzige Frau in einer kleinen Gruppe von Männern behauptet. Die besondere Abgrenzung, „das (3) un::gewöhnliche Glück nur mit Männern zusammen zu sein“, zeigt, dass sie hier als Frau in ein seltenes Arbeitsumfeld kommt. Auf der fachlichen und sozialen Ebene sammelt sie in der kollegialen Zusammenarbeit mit den Männern gute Erfahrungen. Die Männer ihrer Studiengruppe sind, abgesehen vom Professor, durchweg Schriftsetzer, die die ‚Kunst‘3 des Buchdrucks, noch klassisch nach Gutenberg, beherrschen. Diese muss Elsa Wessig erst erlernen. Sie beschreibt detailliert einige Arbeitsschritte des Drucks. An dieser Stelle markiert sie auch den Kontrast zwischen ihnen, der nicht nur im Geschlecht, sondern auch darin besteht, dass die Männer ein „schwarz weiß Geschäft“ ausführen und Elsa Wessig aus der Werbung kommt, die mit Auffallen, Farbenfreude und Kreativität verbunden ist. Zudem charakterisiert sie sich als leidenschaftlich („natürlich en bunter Vogel. und ähm ne leidenschaftliche Frau zwischen den Männern“). All diese Aspekte bringt sie in ihre Arbeit ein und bereichert damit die Gruppe („und ich tat denen so gut“). Von ihrem Wert für die Dynamik und inhaltliche Entwicklung der Gruppe erfährt sie allerdings erst viel später. Zunächst fühlt sie sich nicht ebenbürtig aufgrund ihres fachlichen Lernbedarfs („ich hatt=kam mir aber immer minderwertig vor, weil ich war eben kein Schriftsetzer“). Elsa Wessig emanzipiert sich jedoch auch fachlich und besteht das Studium so gut, dass sie die Chance erhält, auch die Diplomprüfung abzulegen. Diese nimmt sie begeistert an, wie sie emphatisch ausruft: „Ja mach ich=mach ich“ (vgl. nächste Passage).
3 Auch
wenn ihre folgende Beschreibung eher das Handwerkliche betont, evaluiert Elsa Wessig: „wir haben daraus Kunstwerke gemacht.“ (Zn. 312 f.).
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Diplom-Abschluss E: … und ähm die Prüfung hab ich dann bestanden, und sogar s:o gu:t, weil der Professor mir vorgeschlagen hat, ich soll noch äh das Diplom für Grafik dran:hängen, weil das bedeutet ich muss mehrere Plakate machen. die ein Thema haben und das würde dann der Abschluss sein ne, und ähm: „Ja mach ich=mach ich“ ne (313–316)
Ihr Bildungsaufstieg, verbunden mit einem Zuwachs an kulturellem Kapital, eröffnet Elsa Wessig neue berufliche Möglichkeiten, die sie handlungsschematisch umsetzt. Dies zeigt die folgende Passage. Freiberuflichkeit – Leben und Arbeiten in einer Künstlergemeinschaft E: und äh, dann hab ich dort ähm, also dann hab ich- hab ich doch irgendwann, hab ich in A-Buchhandlung gekündigt und hab freiberuflich angefangen, weil man ähm zu DDR-Zeiten im Verband Bildender Künstler sein musste, wenn das genehmigt wurde ne, //mhm// und das war schon passiert, also ich hatte=war schon dann freiberuflich und hatte war bei jemandem mit drin im Atelier, damit ich das nicht alleine alles machen musste und, das war ne Gemeinschaft in D-Großstadt, die sich auch so be:suchte und äh zusammen frühstückte und dann ging jeder wieder in sein Atelier, war=warn tolle Leute die so n bisschen Freidenker und, überhaupt hatten die Künstler zu DDR-Zeiten en bisschen Narrenfreiheit, muss ich mal so sagen. //mhm// es gab immer welche die dann linientreu waren, aber es gab die meisten waren s:o, äh dass man sich mit denen dann nicht so ein:ließ aber auch nicht unbedingt Re:voluzzer war oder dagegen schwamm ne, ich hab also auch für staatliche Stellen gearbeitet, aber immer sozusagen auf dem, (3) ähm auf dem hinteren Weg die Sache beeinflusst dass es nicht ganz so propagandistisch wird sondern dass es dann, ähm also künstlerisch vertretbar ist dass des gute gute Arbeit war die man ablieferte. (313–329)
6.3 Kernstelleninterpretation
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Nach ihrem Diplom-Abschluss kündigt Elsa Wessig ihr Anstellungsverhältnis und wird als freischaffende Künstlerin tätig. Dies ist ein besonderes Arbeitsverhältnis zu DDR-Zeiten, wie sie in einer Hintergrundinformation darlegt. Institutionalisierte Vorgabe ist die Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler, was offensichtlich an eine staatliche Genehmigung gebunden ist. Nachdem Elsa Wessig diese Genehmigung erhält, wird sie Teil einer Ateliergemeinschaft. Dies hat ökonomische und berufspraktische Gründe: Sie kann Kosten sparen und mit anderen gemeinsam Aufträge bearbeiten, was sie hier nur unkonkret ausführt („damit ich das nicht alleine alles machen musste“), an anderen Stellen des Interviews jedoch verdeutlicht4 . Hinzu kommt, dass sie sozial in eine Gemeinschaft von Künstlern eingebunden ist, die über die Arbeit hinaus ihre freie Zeit zusammen verbringen („das war ne Gemeinschaft in D-Großstadt, die sich auch so be:suchte und äh zusammen frühstückte und dann ging jeder wieder in sein Atelier“). Diese Einbindung genießt die Novizin („tolle Leute“). Hier gibt es einen freien Denkraum, in dem über fachliche, aber auch soziale und gesellschaftliche Themen offen nachgedacht und diskutiert wird („Freidenker“). Dabei bewegen sie sich auf einem schmalen Grat des Gegendiskurses zur herrschenden politischen Meinung, ohne in den offenen Protest zu gehen. Dies wird u. a. an der Verwendung des relativierenden „bisschen Narrenfreiheit“ deutlich, aber auch in der direkten Thematisierung – zwischen der Distanz zu den ‚Linientreuen‘, aber auch dem Staat, und der Vermeidung offenen Widerstands („aber auch nicht unbedingt Re:voluzzer war oder dagegen schwamm“). Wie Elsa Wessig auch in der immanenten Nachfragephase noch einmal darlegt, geht es hierbei darum, eine inhaltlich anspruchsvolle künstlerische Arbeit zu leisten, ohne sich politisch/ideologisch vereinnahmen zu lassen. Dies war möglich, weil viele Angehörigen der ‚herrschenden Arbeiterklasse‘ nicht über das gleiche kulturelle Kapital verfügten, also nicht viel von Kunst verstanden, und mit einer entsprechenden Argumentation für eine künstlerisch wertvollere Aussage in den jeweiligen Arbeiten überzeugt werden konnten („ich hab also auch für staatliche Stellen gearbeitet, aber immer sozusagen auf dem, (3) ähm auf dem hinteren Weg die Sache beeinflusst dass es nicht ganz so propagandistisch wird sondern dass es dann, ähm also künstlerisch vertretbar ist dass des gute gute Arbeit war die man ablieferte“). Damit waren die „Narren“, denen „Freiheit“ gewährt wird, nicht die wirklichen „Narren“.
4 Vgl.
z. B. „wir hatten Messeaufträge E-Großstadt Messe“ (Z. 373). Dieser Auftrag zeigt zudem die Bindung ihrer Tätigkeit an staatliche Aufträge und Vorgaben, die Teil des ideologisch reglementierten und zentralistisch organisierten Kunstbetriebs der ehemaligen DDR war (vgl. Schieder 2017: 74). Die Mitgliedschaft im Verband Bildender Künstler ist Basis dieser institutionellen Einbindung.
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
Allerdings reflektiert Elsa Wessig das ambivalente Verhältnis des Künstlerseins in der DDR nicht in kritischer Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen, was auf eine eher angepasste berufliche Tätigkeit hindeutet, und ihre dominierende berufliche Motivation individualistischer Sinnherstellung mittels künstlerischer Ausdrucksformen bekräftigt. Zudem ist es auf diese Weise möglich, auch ins kapitalistische Ausland zu reisen, solange damit die Bearbeitung einer selbst gestellten inhaltlichen Frage verbunden ist, und die Reise den Staat nichts kostete (vgl. Zn. 1031–1066). Elsa Wessig gelingt die Melange zwischen eigenem Anspruch, Sinnhaftigkeit ihrer künstlerischen Arbeit, und der Erfüllung institutionalisierter Vorgaben oder Erwartungen. Dass Elsa Wessig in ihrer Freiberuflichkeit erfolgreich ist, zeigt die nächste Passage, in der sie lebendig erzählt, wie sie leidenschaftlich ein Poster für einen Wettbewerb herstellt und damit einen Preis gewinnt.
6.3.4
Höhepunkt künstlerischer Karriere und ‚Wende‘
„Einsatz auf aller Ebene“ – nationale und internationale Anerkennung E: … und das erzähl ich jetzt auch wieder ein bisschen ausführlich weil es, sehr viel von mir aussagt, ich hab das fast körperlich alles ähm, be:werkstelligt. als Erstes hab ich so eine eine Milchglaskugel die manchmal in Fluren an der Decke hängen, ne kennst du die Kugeln die Kugel mit Milchglas? I: Mhm E: Und da hab ich die Planeten draufgeklebt mit schwarzem Pa- ne die Kontinente mit schwarzem Papier, und hab diese Stange sozusagen nich nach oben sondern hinter eine Wand geführt die mit en schwarzen Vorhang war. //mhm// und an diesen Drah- an diese Stange ein, äh wie sagt man dazu, en Schlauch, bis hinter die Kugel und hab sozusagen die, äh hinter dem Vorhang ne Zigarre geraucht
6.3 Kernstelleninterpretation
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obwohl ich nicht geraucht hab, und hab den durchgeblasen, und es ging auf weil ich wusst ja ein Rauch formt sich, um das drum wo äh wo es draufstößt ne, umkleidet das so ne, und da hab ich dann ne Kamera und hab jemand anders hat paarmal draufgedrückt und das Schönste hab ich ausgesucht. //mhm// und dann hatt ich das aber nur schwarz-weiß und dann musst ich das großziehen, das heißt der ganze Raum musste zur Dunkelkammer werden und hab sozusagen, äh in=in riesigen Schal:en dann entwickelt und fixiert und so, und ähm dann war’s aber noch nicht far:big, und dann wusst ich dass, zum Beispiel Salzsäure ein Foto ein Schwarz-weiß Foto zum blau macht, und da hab ich mir Salzsäure gekauft und hab meine Badewanne angerührt mit Wasser und hab das dann da durchgezogen, und die Wanne hatte natürlich keinen Schmelz mehr danach. also es war nicht mehr glatt, es war stumpf //mhm// und also es /Einsatz auf aller Ebene ((lacht)) und dann hab ich zum Schluss dann noch diese kleinen Sterne draufgemalt und äh hab das dann sozusagen groß, abgeliefert, aufgeklebt und abgeliefert. und das hat ähm beinah den ersten Preis gemacht aber den zweiten. //mhm// und ich hab soalso Ab:rüstung war das Thema ne, //mhm// und äh ich hab verloren gegen jemanden der einen Mann auf=auf einem Planeten steht und der das Gewehr zerbricht und die Argumentation war, dass dies zu intelligent ist und das mit dem gebrochenen Gewehr kann man auch im Busch verstehn. //mhm// und äh so hat man aber sich dann doch, weil sie dann nicht drumherum kamen, hat man doch dann gesagt ähm wir machen zwei erste Preise. so hab ich,
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
und dann ist es a- im Ausscheid war, dass es mit nach Amerika ging und dann war das auch weltmäßig (426–455)
Elsa Wessigs detaillierte Erzählung, die zugleich die Konstruktion einer aufwendigen Inszenierung ihres Künstlerseins belegt, zeigt die Nähe zum Erleben der Situation. Sie arbeitet mit körperlicher Anstrengung, um eine Idee, die sie bereits im Kopf fertig entwickelt hat, gestalterisch umzusetzen. Dabei wird deutlich, wie viele Einzelschritte notwendig sind, um ein komplexes Werk zu erschaffen, zumal zur damaligen Zeit noch nicht so viele technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen und zudem die Mangelwirtschaft der ehemaligen DDR zur Improvisation zwingt. Dies ist aber nicht entscheidend. Entscheidend für Elsa Wessig ist der „Einsatz auf aller Ebene“, der von Erfolg gekrönt ist. Sie gewinnt einen Preis, der ihr fast versagt bleibt. Elsa Wessig bearbeitet das Thema „Abrüstung“ künstlerisch so überzeugend, dass sie zwar zunächst einer plakativen Umsetzung des Themas durch einen Konkurrenten („das mit dem gebrochenen Gewehr kann man auch im Busch verstehn“) unterliegt, sie jedoch trotzdem einen Preis erhalten muss. Zudem wird ihr preisgekröntes Werk nun auch international präsentiert, was eine weitere Steigerung der Anerkennung darstellt. Auf dem Höhepunkt ihrer künstlerischen beruflichen Karriere trifft Elsa Wessig der gesellschaftliche Transformationsprozess. Ihr biographischer Umgang damit zeigt die folgende Passage. Diese folgt in ihrer lebensgeschichtlichen Stegreiferzählung auf die Erzählung zur Gestaltung des preisgekrönten Plakates, nur unterbrochen von einer Passage, in der die Interviewte der Interviewerin einige ihrer erfolgreichen Werke präsentiert. Die „Wende“ – Sinnkrise, Bearbeitung und Entscheidung beruflicher Neuorientierung E: (3) und dann kam die Wende. (3) und ich, wurde sehr krank (1) es war so wie Midlife Crisis (1) … Sinnkrise und so weiter und ich hab ähm in dieser Krankheit, ging’s mir wirklich, also überhaupt nicht gut. und ich hab ne sehr enge Freundin die mir eine Postkarte schrieb oder, auf einer Postkarte mir, zwei Buchtitel, gegeben hat
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und jetzt kommt das wesh-weshalb du, ähm, letztendlich, äh auch das Interview mit mir machst, wie komm ich zur /Naturheilkunde. ((lacht)) (1) und auf diesem auf dieser Karte stand: „Lies doch mal eins dieser beiden Bücher.“ und das war „Schicksal als Chance“? I: Mhm. Von Dahlke? E: Ja, und äh: „Krankheit als Weg“. I: Mhm. E: Nee Dethlefsen. Dahlke ist „Krankheit als Weg“ und „Schicksal als Chance“ is Dethlefsen. Thorwald Dethlefsen, und das war wie eine, Initialzündung. //mhm// ich äh (1) hab da zum ersten Mal, begriffen dass, das Ganze warum wir auf der auf dem Planeten sind, warum wir äh, sozusagen ein Leben führn, ähm einen Sinn bekam. (1) „Aha (1) also wir ham, selbst die Möglichkeit uns zu entwickeln in ein glücklicheres Leben und mit den Dingen, äh uns zu beschäftigen die uns gerade jetzt passieren?“ und das Ganze kriegte, so wie soll ich sagen (2) äh eine Fassung. (2) und ähm, ich bin dann, mit meinem, also mit der Freundin meines jüngsten Sohnes nach A-Insel gefahren, … und dort hab ich das Buch gelesen das hatte ich mir mitgenommen, das is ja nur so n Ding ((Geste für ein dünnes Buch)), und sie sagt also meine Schwiegertochter, Nummer zwei sagte denn auch, immer wieder: „Ich muss da immer noch dran denken wie du mit dem Buch und mit dem Meer gekämpft hast.“ und ich hab mich da denn auch noch in n Kaktusfeld gesetzt und, ich bin immer in diesen schwarz- also diese Wellen, die ham mich dermaßen beschäftigt, und wie sie mir die Füße weggerissen haben und was ich für blaue, Flecken hatte, also ich hab meinen inneren Kampf mit mir /selber und dem Meer, ((lacht)) dann sozusagen dort ausgekämpft. aber das is erst im, im Hinter-her ist das klar geworden. ne?
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
dass das, für mich so eine, ähm, genau der Wendepunkt war. und ich hab mich dort entschlossen, also die ganze Kunst (4) E: Ähm, zu beenden (1) und mich einer neuen Aufgabe zu widmen. (479–515)
Elsa Wessig rahmt den biographischen Übergang der lebensgeschichtlichen Darstellung vor und nach der „Wende“ durch zwei Pausen von je drei Sekunden („(3) und dann kam die Wende. (3)“). Sie konstruiert einen biographischen Zusammenhang zwischen der veränderten gesellschaftlichen Situation und ihrer persönlichen. Elsa Wessig fällt in eine „Sinnkrise“, deren Erleben sie mit einer Erkrankung gleichsetzt, und die sie schwer trifft („ähm in dieser Krankheit, ging’s mir wirklich, also überhaupt nicht gut“). Dabei bleibt sie in ihrer Formulierung der „Sinnkrise“ zur ‚Wende‘ unkonkret, z. B. ob diese ausschließlich ihre Beruflichkeit oder auch ihre private Situation betrifft („Sinnkrise und so weiter“). Sie markiert jedoch, dass sie sich in einem plötzlich und unvorbereitet aufgetretenen biographischen Prozess der Unsicherheit befindet, der sie in ihrer Identität trifft. Sie befindet sich an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sie nicht weitermachen kann wie bisher, wo sich etwas tiefgreifend verändert hat und sie reagieren muss. Zugleich drückt die amorphe Formulierung auch ein Nichtverstehen aus. Eine Freundin empfiehlt Elsa Wessig die Lektüre zweier Bücher, um diese biographische Phase zu bearbeiten. Die Literatur ist in der Psychosomatik verortet. Die Werke der Autoren Dethlefsen (Psychologe) und Dahlke (Mediziner mit psychotherapeutischer und naturheilkundlicher Weiterbildung) (vgl. Dethlefsen/Dahlke 2008) sind durchaus bekannt, wie die Aushandlung zwischen Interviewerin und Interviewter verdeutlicht, die auf die fragende Intonation der Interviewten nach Nennung des ersten Buchtitels folgt. Die Lektüre löst einen tiefgreifenden Erkenntnisprozess aus, von Elsa Wessig als „Initialzündung“ bezeichnet. Sie, deren Habitus sich durch eine Zugewandtheit zur Welt, Spontaneität und die Suche nach ständig neuen Herausforderungen auszeichnet, erkennt plötzlich, dass es eine größere und umfassendere Sicht auf das Leben gibt. Es hat einen Sinn, bestimmte Erfahrungen zu machen und es hängt von den eigenen Impulsen, Entscheidungen und Handlungen ab, Chancen zu erkennen und zu ergreifen, sich zu entwickeln und dem eigenen Leben eine positive Wendung zu geben. Auch individuelle und kollektive Erleidensprozesse wie eine Erkrankung oder der gerade verlaufende Transformationsprozess haben Ursachen und beinhalten Chancen, und es ist wert, sich damit auseinanderzusetzen, um darauf aufbauend neue Entscheidungen zu treffen. Wie ein Rahmen um
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ein Bild, wenn auch ein noch unvollständiger, sieht sie nun größere Zusammenhänge, die ihre Identität berühren, strukturelle Bedingungen und soziale Prozesse mit dem Erfordernis der Bearbeitung. Das Puzzle beginnt, sich zusammenzufügen („und das Ganze kriegte, so wie soll ich sagen (2) äh eine Fassung.“). Elsa Wessig kann an die Erklärungen zum Leben (dem „Schicksal“), zu Erkrankungsund Erleidensprozessen anschließen, die sie in den Büchern findet, insbesondere an die darin enthaltenden Chancen auf Veränderung und Verbesserung. Sie findet einen entscheidenden Anstoß, sich auf die Suche nach sich selbst zu begeben, sich dem Sinn ihres Lebens zu nähern. Die Lektüre und die damit verbundene biographische Arbeit sind anstrengend – so anstrengend, dass es ihrer Familie länger in Erinnerung bleiben wird („also meine Schwiegertochter, Nummer zwei sagte denn auch, immer wieder : „Ich muss da immer noch dran denken wie du mit dem Buch und mit dem Meer gekämpft hast.““). Elsa Wessig beschreibt lebendig, künstlerisch, mit metaphorischem Bezug, wie sie im Urlaub ihren inneren Kampf mit sich selbst kämpft, der sich im Äußeren entlang der Natur entfaltet (dem Meer, den Wellen, die ihr die Füße wegreißen und blaue Flecken hinterlassen, den Kakteen, die sie zerstechen). Am Ende trifft sie eine Entscheidung mit neuer biographischer Perspektive. Der Wegfall des Systems, an dem sie sich reiben konnte, das jedoch auch ihre künstlerische Berufstätigkeit gerahmt hat, verbunden mit neuen Perspektiven auf den Sinn eines Lebens, führt zur Entscheidung, die künstlerische Berufstätigkeit zu beenden und sich einer neuen Aufgabe zu widmen. Dass dieser biographische Zusammenhang – ‚Wende‘, „Sinnkrise“, Lektüre, aufregende und schmerzhafte Erkenntnis – genau hier zu einem biographischen Wandlungsprozess führt, wird ihr erst im Rückblick klar („aber das is erst im, im Hinter-her ist das klar geworden. ne? dass das, für mich so eine, ähm, genau der Wendepunkt war. und ich hab mich dort entschlossen, also die ganze Kunst […] zu beenden (1) und mich einer neuen Aufgabe zu widmen“).
6.3.5
Heilpraktikerin werden und sein
Die Suche, sich selbst in den konkreten biographischen Bezügen besser zu verstehen, setzt einen intensiven und umfassenden Erfahrungsprozess in Gang, wie Elsa Wessig in ihrer autobiographischen Stegreiferzählung ausführlich darlegt. Sie erlernt den astrologischen Ansatz, das Leben zu deuten, und besucht Kurse im Institut der Autoren, deren Bücher sie so intensiv gelesen hat. So macht sie eine Psychotherapie und wird Reinkarnationstherapeutin.
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Wichtiges Kennzeichen dieses Verarbeitungsprozesses ist die Verbindung der intensiven Selbsterfahrung mit der Einmündung in einen institutionalisierten Lernprozess mit therapeutischem Abschluss der jeweilig erfahrenen und für sinnvoll erachteten Methode. Dies zeigt die folgende Evaluation und Eigentheoretisierung ihrer Arbeit als Heilpraktikerin. Erkenntnis, Lernprozess und Weitergabe E: … wo ich, sozusagen immer, ähm, etwas was ich erkannt habe weiterund auch, beherrsche und hab das immer bis zum- fertig also ich musste das immer mit Abschluss /alles haben ((lacht)), und ähm, weitergeben um andern Menschen, zu helfen das is, kann ich nich abstellen das’s einfach n Teil von mir. //mhm// alles was, das geht vielen, der Kollegen so, alles was sie erfahren, wollen sie so bestmöglich, weitergeben, das (2) das sind die Menschen die sozusagen, glaub ich äh, (2) so ne Art Sendungsbewusstsein haben. (629–634)
Dabei durchläuft Elsa Wessig den Aneignungsprozess neuer Konzepte bis hin zu einem ‚legitimierten‘ Abschluss, um erst auf dieser Basis ihr neu erworbenes Wissen und Können an andere Menschen weiterzugeben. Diesen Impuls der Weitergabe schätzt sie als nicht zu unterdrückenden Bestandteil ihres biographischen Habitus ein („das is, kann ich nich abstellen das’s einfach n Teil von mir“). Sie bezeichnet dies auch als „Sendungsbewusstsein“ und stellt sich damit in eine Reihe von Kollegen, die ebenfalls diesem Impuls der bestmöglichen Wissens- und Erfahrungsweitergabe nach eigenem Selbsterfahrungsprozess folgen.5 5 Offen
bleibt hier allerdings, ob andere Kollegen und Kolleginnen genauso intensive Ausbildungsprozesse durchlaufen. Denkbar ist auch, dass sie bereits nach kurzen Workshops eigene Erfahrungen an andere weitergeben oder auch parallel zum eigenen Selbsterfahrungsprozess. Da die eigene Erfahrungsverarbeitung eng an die eigene Biographie gebunden ist, ist es nicht unkompliziert, diese Prozesse und Bezüge auf andere Menschen zu übertragen. Eine professionelle Anleitung dieses Prozesses zu einer therapeutischen (reflexiven) Handlungskompetenz ist unabdingbar. Hinzu kommt die Begleitung bei entsprechenden Wirkungen der Methode. Hier zeigt sich die strukturelle Grenze einer ungeregelten Aus- und Weiterbildung. Die Verquickung von Weiterbildung und Anwendung neuer Wissensbestände wurde auch bei Karl Mitteldorf deutlich, der vor offiziellem
6.3 Kernstelleninterpretation
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Die folgende längere Passage belegt den intensiven eigenen Erfahrungsprozess und dessen Einmündung in die therapeutische Arbeit. Chakra-Workshop und Rebirthing6 E: … und hab also mich für Chakren interessiert. und die Energie und so, und denn hieß es da, Chakra-Workshop. Das wollt ich natürlich, erleben, und äh bin da mit hin, eine Woche. Und ich hab äh, mir was ganz anderes drunter vorgestellt, ich hab gedacht jetzt gibt es Wissen. I: Mhm E: Aber da gab es, Erfahrung. I: Mhm E: /Wir mussten auf die Matte ((lacht)), und atmen. und ähm, die machte Rebirthing mit uns, … das is ne Technik, wo du äh, sehr, wo der Körper, äh befähigt wird sich total, also ähm, durch eine Ringatmung? //mhm// in, steigert und, etwas was raus will, rausbringen muss. //mhm// sehr heftig, sehr intensiv. also du steigst zum Beispiel ein, mit einem Thema? Abschluss der Homöopathieausbildung (Prüfung) Anamnesen durchführt. Karl Mitteldorf ist allerdings nicht so nah am eigenen Erfahrungsprozess, sondern orientiert sich eher an der Symptomlogik der Hilfesuchenden, die er mit in Büchern systematisierten Symptomen abgleicht und darauf die Therapie aufbaut. 6 Rebirthing (Wiedergeburt) basiert auf Elementen des Yoga, der christlichen Religion und der Metaphysik und verfolgt spirituelle Intentionen. Es bearbeitet mittels intensiven Atmens (Hyperventilation) sowie der Bewusstmachung positiver Veränderungen frühkindliche, aber auch natale und pränatale Erlebnisse unter besonderer Berücksichtigung der Elternbindungen. Die Methode kann in kurzen Intensivkursen sowie in längeren Ausbildungsprogrammen erlernt werden. (vgl. Schaeffer 1990: 234)
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also dein Unterbewusstsein wird mit einem Thema, angeleiert? also ich ähm, diese- diese Sache die ich da, immer mache. also zum Beispiel meine Kraft nicht lebe. sondern mich immer verstecke, da steigste ein. und dann fängste einfach an zu atmen und und gibst das Thema ab. und der Atem is so dass du, ((holt tief Luft)) tief einatmest und ausatmest, und dir vorstellst das is n Ring. //mhm// so fließ- einatmest ausatmest. und zwar mit der Nase ein und mit dem Mund aus. ((atmet zweimal tief ein und aus)) und das wird automatisch schneller, und dann entsteht so n Effekt, im heftigsten Fall wie ähm, hyp-hyperventiliern. und dann muss man also ich bin hab das dann auch gelernt und bin auch Rebirth- ähm Rebirtherin oder, Therapeutin, ich benutze das manchmal deswegen liegt auch die Utensilien hier, das muss auf der Matte gemacht werden, //mhm// dass der Körper sozusagen, dieses Thema herausschreit. also du muss- der Therapeut muss denjenigen veranlassen es nicht drin zu behalten sondern, es auszuarbeiten. also du nimmst dann auch, die Atmung wird stimmhaft: /„Chäö::“ ((atmet stimmhaft)) so fängt’s an ja? und immer, immer steigern bis zum Schreien. //mhm// und, äh dann auch noch die Fäuste wenn’s geht, das ist meistens Wut was dann rauskommt oder, unendliche Trauer und das is aber, wenn’s draußen is, is es geboren und nicht mehr drin. //mhm// und das ist der Heileffekt. nach so einer Sitzung, kommt ähm (1) bei Manchen vor dass sie das Licht sehn, dass sie ihre Mutter ganz anders sehen als bis vor-her also, es (1) es (1) dis System heilt sich selber indem dieser Energieausbruch da sein kann. //mhm// und da-mit wurd ich konfrontiert und die äh, und der, Therapeut, der sie ja da war ne? äh, der muss das fördern. (1)
6.3 Kernstelleninterpretation
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also nich beruhigen sondern fördern. und äh, da passierte bei mir Folgendes? (1) ich äh, natürlich so zurückhaltend wie ich war, äh ko-, kam genau an diese Grenze ne? und äh da hat, sie, ich war auch so ne kleine Dame wie, bisschen etepetete ne? und ich lag denn auf ner Matte, da war so ne, die, hundert Jahre in nem Auto gelegen haben muss, das stank nach, Benzin oder so ne, so ne Pferdedecke da, und sie nahm und wusste das was ich jetzt brauche und hielt mir diese Decke den Mund zu also, machte das noch, ne? mitund ich roch das. und denn hab ich sie, denn explodierte ich und ich hab geschrien und ich konnte nicht mehr aufhörn zu schrein. //mhm// ich hab so laut, und geschrien und mit den Fäusten und es kam alles aus mir heraus und ich, hab das erlebt wie heftig (1) und wie erlösend das war. (1) … Ja lange Rede kurzer Sinn, ich bin dann zu jedem Workshop gegangen weil ich gemerkt hab, das bringt mich vorwärts. und, ich hab begriffen, was vorwärts heißt ja? ich hab also, diesen Mut auch besessen. (1) und dann hab ich die Ausbildung gemacht, drei Jahre (1) bei ihr, sie is immer nach Deutschland gekommen und hat solche Blöcke gemacht und, dann bin ich sozusagen, diplomierte, Rebirtherin. (544–597)
Elsa Wessig erwartet vom gebuchten Chakra-Workshop einen Wissenszuwachs. Dass die Erfahrungsebene angesprochen wird, überrascht sie. Eine Woche lang arbeitet sie intensiv auf der Matte an selbst ausgewählten Themen („sehr heftig, sehr intensiv“). Dies beschreibt Elsa Wessig detailliert. Ein Thema, dass sie offensichtlich bearbeitet, ist, nicht in der eigenen Kraft zu sein und diese nach außen auszudrücken („also ich ähm, diese- diese Sache die ich da, immer mache. also zum Beispiel meine Kraft nicht lebe. sondern mich immer verstecke“). Hier wechselt sie in der Beschreibung von der distanzierten Allgemeinaussage zur Ich-Form.
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Mehrmals wechselt sie in ihrer Beschreibung und Erzählung vom eigenen Erfahrungsprozess in den therapeutischen Prozess, sowohl in ihre Rolle als Therapeutin, die den Erfahrungsprozess anderer unterstützen muss, was sie als therapeutische Aufgabe markiert, als auch in die Unterstützung, die sie selbst in ihrem eigenen Erfahrungsprozess von der Dozentin erhalten hat. Letzteres stellt sie dramatisch dar, am Beispiel der „Pferdedecke“, die ihr vor das Gesicht gehalten wird und die eine intensive Abwehr, ein intensives Schreien und Faustschlagen, auslöst. Auch diese Grenzerfahrung erfordert, neben dem Zwang sich zu wehren, ein mutiges Sich-Einlassen, auch die Überwindung normativer und persönlicher Grenzen („ich war auch so ne kleine Dame wie, bisschen etepetete ne“). Am Ende dieser szenischen Darstellung macht Elsa Wessig sehr klar, wie extrem und zugleich entlastend sie die Methode erlebt („ich, hab das erlebt wie heftig (1) und wie erlösend das war.“). Körperliche und biographische Arbeit fallen mit leiblichem Erleben zusammen. Elsa Wessig nimmt für sich das Potenzial persönlicher Weiterentwicklung wahr („weil ich gemerkt hab, das bringt mich vorwärts. und, ich hab begriffen, was vorwärts heißt ja?“). Sie lässt sich für mehrere Jahre auf diesen Erfahrungsprozess ein, in dem sie zugleich die Methode des Rebirthing zur eigenen Weiterentwicklung als auch zur Aneignung eines therapeutischen Instrumentes erschließt. Heilpraktikererlaubnis als formale Legitimation E: … ach so denn, und um dann, ne Praxis zu machen? (2) die hab ich in A-Großstadt gegründet, die Praxis, in den Siebziger Jahren?7 (1) und ähm, musst ich Heilpraktiker werden? (2) das ging nich anders und das geht heute auch nich anders. I: Mhm E: Also die, die staatliche Erlaubnis. geht nicht du kannst dich nicht einfach, Therapeut nennen, du musst also, ähm, erfasst sein und, geprüft werden vom Amtsarzt, dem zuständigen Amtsarzt, was du ähm: wozu du (1) befähigt wirst, etwas zu tun. //mhm// was mit Leuten zusammenhängt ne?
7 Dies
ist ein Versprecher, der in der immanenten Nachfragephase aufgelöst wird. Elsa Wessig hatte kurz vor dem Interview ihr 15-jähriges Bestehen der Eröffnung beider Praxen. Sie ist seit Ende 1999/Anfang 2000 freiberuflich in der Heilkunde tätig (Zn. 839–860).
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I: Mhm (2) E: Und alle sind ((gießt Tee ein)) Heilpraktiker egal auch was sie machen (601–614)
Diese kurze Passage belegt die legitimierende Funktion des Heilpraktikerabschlusses für Elsa Wessigs weitere berufliche Karriere. Er ist formale Bedingung zur Eröffnung einer Praxis, in der sie ihr erworbenes Wissen und Können als Therapeutin anwenden kann. Die Ausführung belegt zudem, dass es unwichtig ist, welche Methoden oder Leistungen angeboten werden sollen. Es gibt keine Differenzierung/Spezifizierung einer Tätigkeit als Nichtärztin unter dem HeilprG – mit der umfassenden Erlaubniserteilung, die Heilkunde als Heilpraktiker auszuüben. Die folgende Passage verweist auf Elsa Wessigs biographische Bearbeitung der gesetzlichen Anforderung, die amtsärztliche Überprüfung zu bestehen. „Crashkurs“ – Entdeckung des Lerntyps E: War kurz en halbes Jahr, dies aber so n Crashkurs ne, und ähm, das Interessante dabei wa:r dass ich meine Lernmethode festgestellt hab. und das hat sich letztendlich /wissenschaftlich bestätigt in den Büchern ((lacht)) die ich gelesen hab aber ich hab’s damals äh so gemacht dass das, so fast en bisschen naiv und zwar, so f-so frem:d gewesen diesen oder für mich auch interessant das Innere des Körpers kennenzulernen wie was funktioniert, und da hab ich hab ja alles Material volles Grafikstudio hier gehabt ne, und hab dann diese zwei mal eins fünfzig großes Papier von der Rolle auf den Boden gelegt, und hab fast so skizzenmäßig angefangen meinetwegen die Verdauung das Verdauungssystem Mund gemalt und mit Schlund und alles dran geschrieben und bunt richtig bunt ausgemalt wie ein Mandala ne, die Leber und die Galle wo die sitzt und ich hab auf dem Boden gesessen und hab des Riesen-
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hab ich heute noch ne dieses Riesenbild gemalt, und alles was ich nicht verstand so hab ich gemalt und heute weiß ich dass das die rechte und die Gehirnhälfte die rechte und die linke, ähm beide was brauchen und damit brauchst du gar nicht viel lernen, dann also wenn das wenn die rechte Gehirnhälfte ein Bild zu dem Wort hat was du links was du auf der logischen Seite, speichern möchtest dann brauchst du nichts mehr tun weil das ist automatisch im=im Langzeitgedächtnis. und ähm, das ging bis hin zur Prüfung so: (981–996)
Den formalen Schritt der Erlaubniserteilung als Heilpraktikerin geht Elsa Wessig pragmatisch an. Sie bucht einen „Chrashkurs“ zur zügigen Erlangung des Grundlagenwissens für die amtsärztliche Überprüfung. Sie führt in ihrer Stegreiferzählung nichts weiter dazu aus. Dies belegt die nachgeordnete Bedeutung des formalen Abschlusses für ihre berufliche Neuorientierung entlang ihres biographischen Habitus. Elsa Wessig erfüllt die institutionellen Vorgaben soweit, wie es zur Umsetzung ihres biographischen Plans vonnöten ist. In den Vordergrund rückt die Beschreibung, wie sie sich auch in diesem intensiven Lernprozess selbst besser kennenlernt („das Interessante dabei wa:r dass ich meine Lernmethode festgestellt hab“). Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers sind ihr fremd. Aber sie ist offen, sich das Wissen anzueignen und greift dazu auf biographische Ressourcen zurück – ihre künstlerischen Fähigkeiten, die Freude am Gestalten, und das ihr zur Verfügung stehende Material („volles Grafikstudio hier gehabt ne“). Sie skizziert, malt in bunten Farben, auch meditativ, und stellt Zusammenhänge in Großformat optisch dar („hab dann diese zwei mal eins fünfzig großes Papier von der Rolle auf den Boden gelegt, und hab fast so skizzenmäßig angefangen meinetwegen die Verdauung das Verdauungssystem Mund gemalt und mit Schlund und alles dran geschrieben und bunt richtig bunt ausgemalt wie ein Mandala ne“). Dabei stellt sie fest, dass ihr diese Verbindung von Bewusstem und Unbewusstem, Kreativem und Analytischem hilft, komplexe Wissensbestände leicht anzueignen, insbesondere um diese überhaupt zu verstehen („und alles was ich nicht verstand so hab ich gemalt“). Dies ist ihre analytische Deutung aus der Gegenwartsperspektive („und heute weiß ich dass das die rechte und die Gehirnhälfte die rechte und die linke, ähm beide was brauchen und damit brauchst du
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gar nicht viel lernen“). Gleichwohl zeigen sich hier typische Dimensionen ihres biographischen Habitus. Ihre Lern- und Verarbeitungsstrategie ist verbunden mit kreativer Erprobung entlang künstlerischer und handwerklicher Ausdrucksformen. Die nächsten Kernstellen belegen typische Berufspraktiken Elsa Wessigs und ihre Weiterentwicklung. Gruppenarbeit E: So und äh, jetzt sind wir wieder bei der äh mit dem Rebirthing, und da hab ich Workshops gegeben, Zehn-Tage-Workshops ja, große Transformationen das waren wunderschöne /Workshops ((lächelnd)) hier auch im Haus schon und, mein Sohn ist Qi Gong Lehrer der hat äh, dann auch Qi Gong gegeben hat auch mitgemacht und hat auch gekocht und ähm, also es war ne schöne Zeit denk ich gern zurück. (688–692)
Zu Beginn ihrer Heilpraktikertätigkeit arbeitet Elsa Wessig hauptsächlich mit der Methode des Rebirthing, die sie intensiv in längeren Gruppen-Workshops durchführt. Dabei zeigt sich, wie sie ihre neue Tätigkeit auch in der konkreten Ausführung an ihre vorherigen berufsbiographischen Wissens- und Erfahrungsbestände, ihre freiberufliche künstlerische Tätigkeit, anlehnt. Arbeiten und Leben sind eng miteinander verbunden. Elsa Wessig lebt und arbeitet in ihrem Haus. Die Kurse führt sie gemeinsam mit ihrem Sohn durch, der ebenfalls therapeutische Techniken in den Gruppenprozess einbringt, und zudem die Gruppe bekocht. An diese Phase erinnert sich Elsa Wessig gern zurück und kündigt damit zugleich an, dass sie ihre beruflichen Handlungspraktiken später verändert. Erweiterung der Therapieverfahren – differenziertes Arbeiten und sich selbst zurücknehmen E: Also du als Klient kannst sa:gen: „Ich hab jetzt Trauer das fühlt sich hier eng an wie ein Stein, und das sitzt hier“, weiß ich das ist im Herzen,
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und du kannst dich hineinpolen und mir die ganze Sache beschildern und das is dann ne Sache der Heilung, also wo wir dann hingehen. und äh es hat einen Ort //mhm// und du merkst den Unterschied zum Rebirthing, dort hat man ein Thema ge:stellt, und es ist irgendetwas hochgekommen, was grad vorne lag, und äh hier kann man wesentlich sa:nfter und zielgerichteter arbeiten. du gehst also an diesem Gegenwartsthema, was du im Körper (1) fühlst, Augen zu zurück, wo war das schon mal. ja, wo zum Beispiel allein gelassen, ne, „Im Kindergarten“ kommt dann meistens, „Mutti weg“ oder so oder, und dann geht’s immer tiefer und manchmal sind die Menschen dann irgendwo wo sie: „Äh ich hab irgendwie das Gefühl, das und das ist um mich drumrum“, und ich hab das ja alles äh auch wieder gelernt, und äh zertifiziert bin ich in C-Land in diesem Institut, und das ist jetzt mein letzter Beruf ich bin Peak-State-Therapeutin, und ähm (1) kann das, kann da begleiten. //mhm// und das ist eine san:fte Art schwere Traumen aufzulösen. //mhm// und nun kann nicht jeder (3) nicht jeder kann (2) die Augen zumachen und seine Innenwelt nach außen bringen, das geht gerade so Männer tun sich sehr schwer damit. //mhm// und dann nehm ich dann nochmal die Matte und dann atmen sie und dann kommt das von alleine, und das ist dann schon ein unheimliches Aha-Erlebnis weil das System sich so selber heilen kann. (2) ja und, das befriedigt mich total,
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während ähm meine künstlerische Suchphase oder, das is wie so eine, mich selber leben und mich selber nach außen bringen, tret ich jetzt eher in den Hintergrund, und bin auf eine Weise ausgefüllt und glücklich die ich nicht kannte. (759–778)
Elsa Wessig differenziert ihre Arbeitsweise weiter aus, indem sie eine sanftere Methode der Traumaauflösung erlernt, die sie zudem therapeutisch besser führen kann („und äh hier kann man wesentlich sa:nfter und zielgerichteter arbeiten“). Sie arbeitet nun mehr mit dem Gefühl, das ihre Klientinnen und Klienten bei der Bearbeitung traumatischer Themen wahrnehmen, sowie mit der Verortung in den entsprechenden Körperregionen („„Ich hab jetzt Trauer das fühlt sich hier eng an wie ein Stein, und das sitzt hier“, weiß ich das ist im Herzen, und du kannst dich hineinpolen und mir die ganze Sache beschildern und das is dann ne Sache der Heilung, also wo wir dann hingehen“). Dabei verbindet sie das Gegenwartsthema mit der Erinnerung an biographische Vorerfahrungen der Hilfesuchenden, wenn sie ihre traumatischen Themen bearbeiten („du gehst also an diesem Gegenwartsthema, was du im Körper (1) fühlst, Augen zu zurück, wo war das schon mal“). Hierbei lässt sie tiefe Prozesse der Verarbeitung zu und arbeitet entlang der individuellen Erfahrungsaufschichtung. Hierbei scheint sie auch auf vergangene Leben, zumindest auf überraschend auftauchende Bilder, abzuheben („und dann geht’s immer tiefer und manchmal sind die Menschen dann irgendwo wo sie: „Äh ich hab irgendwie das Gefühl, das und das ist um mich drumrum““). Auch hier folgt Elsa Wessig ihrem entwicklungsorientierten biographischen Habitus, einhergehend mit intensiven ‚abgeschlossenen‘ Lernprozessen, indem sie die Peak-States-Methode8 umfassend und institutionalisiert erlernt („und ich hab das ja alles äh auch wieder gelernt, und äh zertifiziert bin ich in C-Land in diesem Institut, und das ist jetzt mein letzter Beruf ich bin Peak-State-Therapeutin“). Je nach individuellem Bedarf kombiniert sie die angeeigneten Methoden miteinander, mal arbeitet sie über das Hineinspüren, mal mit der Atmung nach der Methode des Rebirthing („und nun kann nicht jeder (3) nicht jeder kann (2) die 8 Peak
States nimmt Bezug auf Gipfelzustände des Bewusstseins. Um diese zu erreichen und (pränatale) traumatische Erlebnisse zu heilen, wurde die Methode des wholehearted-healing, eine Regressionstherapie, entwickelt. Hierbei wurde zudem erforscht, wie psychische, geistige, (auch schamanische und transpersonale) Erfahrungen biologisch arbeiten. Dies hat zur Herausbildung der subzellulären Psychobiologie geführt. Zudem wurden und werden neue Therapiemethoden von (unheilbaren) psychischen und physischen Erkrankungen entwickelt und in internationalen Forschungs- und Therapeutenteams erprobt (vgl. Institute for the Study of Peak States 2019; McFetridge 2014; McFetridge et al. 2004).
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Augen zumachen und seine Innenwelt nach außen bringen, das geht gerade so Männer tun sich sehr schwer damit. //mhm// und dann nehm ich dann nochmal die Matte und dann atmen sie“). Ihr individuelles Vorgehen, die Selbstheilung zu unterstützen, scheint zu funktionieren, was Elsa Wessig zutiefst erfüllt („und dann kommt das von alleine und das ist dann schon ein unheimliches Aha-Erlebnis weil das System sich so selber heilen kann. (2) ja und, das befriedigt mich total“). Am Ende dieser Passage reflektiert Elsa Wessig ihre berufliche Tätigkeit als Heilpraktikerin und als Künstlerin im Vergleich. Während sie ihre künstlerische Tätigkeit mit einer biographischen Suche nach sich selbst vergleicht, in der sie Emotionen, Gedanken, Verarbeitungsversuche gestalterisch nach außen trägt, kann sie nun aus dem Hintergrund andere unterstützen. Hierin findet sie einen vorher nicht gekannten Sinn und dies macht sie glücklich („während ähm meine künstlerische Suchphase oder, das is wie so eine, mich selber leben und mich selber nach außen bringen, tret ich jetzt eher in den Hintergrund, und bin auf eine Weise ausgefüllt und glücklich die ich nicht kannte“). Die folgende Passage zeigt ausführlich, wie Elsa Wessig zum Interviewzeitpunkt ihre Tätigkeit vorrangig gestaltet. Einzelintensivbegleitungen – „einen Raum schaffen“ E: (1) Ich mach Einzeltherapie die Leute wohnen im Haus kriegen also werden ernährt //mhm// und haben sehr viel Freizeit, nee was heißt Freizeit die haben ähm machen jeden Tag eine Sitzung, und (2) sie sie haben diese drei Ta:ge mit meiner Begleitung sie könn jederzeit, ähm sozusagen mich ansprechen und das Ganze hat einen Leitfaden dass- mit Thema was sie selbst bearbeiten müssen meinetwegen ist der Mann gestorben, … und, es ist ne Einzel:intensivarbeit die äh sozusagen zu zweit geschieht ne, und sie kriegen ne Hausaufgabe das heißt hier oben haben sie dann ihr Zimmerchen, müssen was malen oder müssen sich beschäftigen damit und das geht automatisch ja.
6.3 Kernstelleninterpretation
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sie=ich klinke mich mit all meinen Sensoren in das Leben dieses Menschen ein. //mhm// die müssen Fotos mitbringen, hab ich mir ausgedacht aus der Kindheit und dann erzähln sie von den Großeltern weil wir auch sehr viel mit Generationstraumen arbeiten wo äh, Teile vererbt werden die gar nicht zu dir gehören die sozusagen ne Großmutter schon gemacht hat und das kann man auch heilen, des-das Band einfach zu trennen und, äh s:o scha:ffen wir-schaff ich einen Raum=oder versuch einen Raum zu schaffen, ähm in dem das ganze Leben als Überblick zu sehen ist. und wir räumen auf wo was hingehört und das Wichtigste ist dass du deine Vergangenheit annimmst so wie sie ist und nicht ähm, also auch vergeben kannst auch dir selber oder deiner Mutter vergeben kannst, weil das äh, (3) is is der Schlüssel. (867–884)
Neben der Gruppenarbeit führt Elsa Wessig Einzelintensivbehandlungen über mehrere Tage durch. Die Klientinnen bleiben in der Zeit vor Ort, essen und übernachten auch bei Elsa Wessig im Haus und bearbeiten selbstständig und begleitet durch Elsa Wessig ein Thema, das sie für sich lösen möchten. Dabei geht es z. B. um schwierige biographische Übergänge wie den Tod des Ehepartners. Elsa Wessig geht dabei individuell vor. Sie versucht, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen („sie=ich klinke mich mit all meinen Sensoren in das Leben dieses Menschen ein“), und wählt intuitiv und auf Basis ihrer differenzierten Wissensbestände aus, wie sie während der Behandlung vorgehen könnten. Dabei bezieht sie Elemente biographischer Arbeit ein, wenn sie z. B. Familienfotos mitbringen lässt. Sie verbindet dies mit höhersymbolischen Wissensbeständen aus der Psychotherapie, Religion und Spiritualität, wenn sie z. B. Generationentraumata auflöst und Bänder durchtrennt. Dabei geht sie davon aus, dass sich eine Heilung fast von selbst einstellt und einfach zu erreichen ist („und das kann man auch heilen, des-das Band einfach zu trennen“). Dies erweckt den Anschein einer Vereinfachung komplexer Zusammenhänge. Geht man allerdings davon aus,
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
dass Elsa Wessig Entwicklungsprozessen und biographischen Herausforderungen mit Offenheit begegnet, sie kreativ biographisch bearbeitet und sich kraftvoll für einen positiven Ausgang einsetzt, wird verständlich, dass sie dieses Potenzial auch ihren Klientinnen und Klienten eröffnen möchte. Sie versucht, mit ihnen gemeinsam Entwicklungsprozesse auf Basis der je individuellen biographischen Ressourcen im Gesamtüberblick des Lebens zu ermöglichen („äh s:o scha:ffen wir-schaff ich einen Raum=oder versuch einen Raum zu schaffen, ähm in dem das ganze Leben als Überblick zu sehen ist“). Sie ordnen und versuchen das Vergangene und Zukünftige auf positive Weise in Bezug zu setzen, hier am Beispiel der umfassenden Vergebung als Schlüssel positiver Veränderung dargelegt („und wir räumen auf wo was hingehört und das Wichtigste ist dass du deine Vergangenheit annimmst so wie sie ist und nicht ähm, also auch vergeben kannst auch dir selber oder deiner Mutter vergeben kannst, weil das äh, (3) is is der Schlüssel“). Zusammenfassen lässt sich ihre berufliche Handlungspraxis als Ermöglichen und Gestalten von Gesundheit. Dabei dominiert die individualistische Sicht die Bezugsetzung mit strukturellen Rahmungen. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass es durchaus ein konkretes biographisches Thema gibt, das Elsa Wessig im Lebensablauf dazu führt, sich in eine intensive biographische und psychologische Aufarbeitung zu begeben. Es ist mit der semantischen Wirkung von Gender, und körperlichen, psychischen und sozialen Dimensionen des Frau-Werden und -Seins verbunden.
6.3.6
Sexualität und Gender als biographisches Thema
Pubertät – Ankündigung eines Lebensthemas E: … und dann, hab ich eine Pubertät erlebt, Pubertät war ja nach Vierzehn Fünfzehn Sechzehn erst damals. und ich kann mich einfach nur erinnern dass ich sehr traurig war und Sehnsucht hatte nach was. und ich wusste nich nach was. //mhm// und dass äh also meine Eltern haben nich über mich haben nicht mit mir über diese Dinge gesprochen. und das is äh mir, also, bis (1) eigentlich, bis ich Familienmutter war. also ganz äh also plötzlich ne?
6.3 Kernstelleninterpretation
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hab ich von diesen Dingen was Mann und Frau betrifft überhaupt, null Ahnung gehabt. und ähm, das war einfach nich nich in der Zeit unda ging’s um’s Überleben, und wie so n junges Mädchen da ähm, mit dieser ganzen Dinge die da einem innerlich hochsteigen fertig wird, das war überhaupt nich im Denken drin. //mhm// und meine Eltern warn sehr, sehr keusch und (1) mein äh Vater, hat mich aufgeklärt als ich meine Regel bekam meine Mutter hätte es nie fertiggekriegt, //mhm// und ähm (2) das, also es is schon nen Handicap gewesen, dass ich mit dem andern Geschlecht, so ein ähm, ja fast angstbesetzte (2) ähm es Empfinden hatte. jeder Mann der, so, mich anschaute ja vor dem hatt ich Angst. also das, der will was und äh was er will ist nichts Gutes und, Schluss. also es hat, da keine ähm, kein Ausweg für mich (2) es war kein Ausweg für mich sichtbar. I: Mhm E: Ich hab das erlitten einfach so ne? (114–132)
Diese Passage liegt zwischen den Ausführungen zur selbstständigen Berufswahl und zum erfolgreichen Berufsabschluss Elsa Wessigs als Schaufensterdekorateurin. In diesen konstruiert sie ihre autobiographische Stegreiferzählung aus handlungsschematischer Haltung und positivem offenen Zugehen auf die Welt, zwischen kindlichen Erwartungen und dem Spaß am kreativen Arbeiten. In diese Ausführungen zu ihren positiven biographischen Erfahrungen mischt sich nun eine Erleidensqualität, wie ihre Abschlussevaluation markiert („Ich hab das erlitten einfach so ne?“). Elsa Wessig beschreibt, wie sich ihr Leben verändert, als sie in die Pubertät kommt. Sie bekommt keinen Zugang zu ihren Gefühlen, kann sie nicht deuten und adäquat verarbeiten und hat zudem niemanden, mit dem sie darüber sprechen kann. Ihre Eltern, zu deren Umgang mit den Kindern gehört, Schwierigkeiten von ihnen fernzuhalten, klären Elsa Wessig auch nicht über Themen wie Sexualität auf oder sprechen über den Findungsprozess zwischen dem Mädchen- und FrauSein, über das erste Verliebtsein etc. Aus der Sicht Elsa Wessigs stehen sie einem offenen Umgang mit der Sexualität selbst verschlossen gegenüber, sind vielleicht tief religiös („und meine Eltern warn sehr, sehr keusch“), und es erstaunt, dass es
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
Elsa Wessigs Vater ist, der sie über die Bedeutung der Menstruation aufklärt („und (1) mein äh Vater, hat mich aufgeklärt als ich meine Regel bekam meine Mutter hätte es nie fertiggekriegt“). Dass diese „Aufklärung“ eher pragmatisch abläuft, ist wahrscheinlich, fehlt dem Vater doch die eigene Erfahrungsbasis weiblicher Körperprozesse und Leiberlebens. Elsa Wessigs Deutung ist eine historische: Sie setzt das Verhalten der Eltern in den strukturellen Kontext der Sicherung des Überlebens in der schwierigen Nachkriegszeit als Aussiedlerfamilie („und ähm, das war einfach nich nich in der Zeit un- da ging’s um’s Überleben“). Es wäre hier auch möglich, es in den Kontext der Generation und/oder Religion zu stellen. Nochmals zeigt sich hier jedoch, dass sie zu ihrem Vater ein vertrauensvolles Verhältnis hat und dass er derjenige ist, der sie unterstützt, wenn es notwendig ist. In ihren Ausführungen erhält die Konstruktion des ‚Handicaps‘ mit dem anderen Geschlecht aber noch eine andere Konnotation: ihr Verhältnis zu Männern ist angstbesetzt. Elsa Wessig fühlt diese Angst, sobald ein Mann sie auch nur anschaut, sodass sie sich direkt verschließt („also es is schon nen Handicap gewesen, dass ich mit dem andern Geschlecht, so ein ähm, ja fast angstbesetzte (2) ähm es Empfinden hatte. jeder Mann der, so, mich anschaute ja vor dem hatt ich Angst. also das, der will was und äh was er will ist nichts Gutes und, Schluss.“). Sowohl Angst, unbewusste Ablehnung als auch klare Abwehrreaktion deuten auf ein eigenes traumatisches Ereignis oder auf das Erleben von traumatischen Ereignissen in ihrer Umgebung, direkt oder vielleicht auch aus offenen oder versteckten Erzählungen. Es könnte sich hierbei um die kollektiven Vergewaltigungserfahrungen der Frauen in jener Zeit oder zumindest um die permanente Gefahr, in traumatische Situationen zu geraten, handeln, die Elsa Wessig als Mädchen und junge Frau in irgendeiner Form verinnerlicht hat. Dass sie niemanden hat, mit dem sie sich darüber austauschen kann, erschwert die Situation für sie. Hinzu kommt das Nichtwissen um die körperlichen und psychischen Veränderungen in der Phase der Pubertät. Diese Situation konstruiert sie als ausweglos („also es hat, da keine ähm, kein Ausweg für mich (2) es war kein Ausweg für mich sichtbar.“). Dies bildet einen Gegensatz zur ihren sonstigen Konstruktionen positiven Erlebens und Aneignens ihrer Welt. Die Unwissenheit um die Sexualität hält solange an, bis sie unverhofft schwanger wird, wie Elsa Wessig hier vorwegnimmt („und das is äh mir, also, bis (1) eigentlich, bis ich Familienmutter war. also ganz äh also plötzlich ne? hab ich von diesen Dingen was Mann und Frau betrifft überhaupt, null Ahnung gehabt.“). Auch hierbei bleibt sie in ihren Darlegungen auf das Pragmatische beschränkt – auf die Folgen ungeschützten Geschlechtsverkehrs, die sie als Frau
6.3 Kernstelleninterpretation
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trägt („Familienmutter“). Das leibliche Erleben oder die Gefühlsebene bleiben ausgeblendet. Wie stark die gesellschaftlichen Rollenerwartungen wirksam sind, zeigt sich auch an der folgenden Passage, in der Elsa Wessig beschreibt, wie sie sich verliebt, schwanger wird und wie das junge Paar mit den intergenerationalen Erwartungen umgeht. Sich verlieben und ‚unverhofft‘ Mutter werden; Rollenerwartungen E: … und da war ne Wand und da hatt ich die Aufgabe, … da musst ich die Nanett das war eine Werbefigur von meiner=einer Margarinefirma, die musst ich da groß mit Ölfarbe dranmalen. und da die Leiter da Papier drunter und äh, hatte mir dann auch die Vorlage gemacht und stand da und malte, und dann kam en junger Mann und der frotzelte mit mir rum und der war mir sympathisch, und dann hab ich mich mit dem unterhalten und währenddessen halt ich de so meine=meine Farbe und merke gar nicht /wie mir die ganze Farbe durch die Finger läuft und auf die Erde ((lacht laut)) na ja. da hab ich mich verliebt … und wir haben uns verabredet und, habn dann auch, (2) ‚weiß nicht‘ im zweiten oder dritten Jahr dann, äh plötzlich war ich schwanger und äh (3) als die Schwiegermutter die in Anführungsstrichen war total dagegen, dass irgendwas da Konsequenzen: „Der Junge muss erst fertig sein und so“, äh lange Rede kurzer Sinn
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wir habn=ich hab dann gleich drauf noch en Kind gekriegt //mhm// und da hat sich dann mein, späterer Mann dann durchgesetzt also mein erstes Kind ist unge- (3) ungeheiratet ledig auf die Welt gekommen mit meinem Mädchennamen und, der andere ist dann in der Ehe ‚groß ge-‘ (3) (188–204)
Die junge Elsa Wessig erhält eine Stelle in der Werbung.9 Sie erzählt, dass sie beim Auftrag, eine Wand zu bemalen, einen jungen Mann kennenlernt. Als sie auf einer Leiter steht und malt, spricht dieser sie an. Aus ‚sicherem Abstand‘ kann sie sich darauf einlassen. Diese kurze Begegnung bringt sie durcheinander; sie verliebt sich. Nach ein paar Jahren wird sie schwanger. Dabei besteht das Thema der sexuellen Unwissenheit und Unerfahrenheit nach wie vor. Formal und inhaltlich fällt auf, dass es ihr schwerfällt, auszusprechen, dass Mann und Frau miteinander intim werden („und, habn dann auch, (2)“). Elsa Wessigs plötzliche Schwangerschaft löst familiäre Diskussionen aus. Die zukünftige Schwiegermutter ist keineswegs einverstanden, dass ihr Sohn vor Abschluss des Studiums Vater wird. Die Formulierung: „dass irgendwas da Konsequenzen“ verweist zudem darauf, dass sie es vielleicht als legitim ansieht, dass ihr Sohn eine sexuelle Beziehung eingeht, solange diese folgenlos bleibt. Es scheint so, dass sie generell nicht mit ihrer Schwiegertochter einverstanden ist, wie die Aushandlung um die Heirat andeutet („und da hat sich dann mein, späterer Mann dann durchgesetzt“). Allerdings hat ihr Widerstand keinen Erfolg. Nach der Geburt des ersten Kindes folgt gleich ein zweites und noch vor dessen Geburt heiraten Elsa Wessig und der Vater ihrer Kinder. Dass es in dieser Konstruktion auch um eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen geht, zeigen die weiteren Ausführungen zum Namen der Kinder und zur Rolle von Elsa Wessig. Sie ist zunächst noch ledig, in der Formulierung „ungeheiratet“ schwingt eine defizitäre Sicht und gesellschaftliche Normalitätserwartung mit. Zudem erhält das Kind nicht den Namen seines Vaters. Beim zweiten Kind klären sich die Verhältnisse: hochschwanger und ohne Familie10 heiratet das junge Paar, sodass das zweite Kind in ‚geordnete Verhältnisse‘ hineingeboren wird. Dass Elsa Wessig eher ihre eigenen privaten und Rollenvorstellungen lebt, zeigen auch die folgenden Passagen. Scheidung und Geliebte sein 9 Kontextwissen
aus dem Interview. wir haben dann hoch:schwanger geheiratet, eigentlich ne sehr traurige Hochzeit weil ja keiner da war, weil ‚ich da alleine war‘“ (Zn. 213 f.). 10 „Ja
6.3 Kernstelleninterpretation
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E: … also ich (1) ließ mich dann scheiden, … und äh in dieser Gruppe die wir Künstlergruppe war ein äh ein Kollege ähm der hat mich beschäftigt, in dem Atelier hab ich auch mitgearbeitet und ähm wir haben uns ineinander verliebt //mhm// und warn dann ein Paar, aber ich war die Geliebte er hatte noch ne Ehefrau zu Hause, und die war auch Künstlerin, ganz brisant beide im Verband und äh wir haben uns gesehn von Weitem und so weiter. (351–359)
Auf ihre Veranlassung wird die erste Ehe geschieden und Elsa Wessig wird die Geliebte ihres Künstlerkollegen und Atelierpartners. Dabei nähert sie sich dem Begriff der „Geliebten“ in einer gesonderten Erklärung. Elsa Wessig stellt die gegenseitigen Gefühle des Paares an den Anfang, bevor sie erwähnt, dass der Mann verheiratet ist. Es deutet sich hier eine strikte Trennung an zwischen dem Leben des Mannes in der Atelier- und Künstlergemeinschaft und dem in der Ehe („er hatte noch ne Ehefrau zu Hause“). Die Situation ist heikel, da beide Frauen in gleichen beruflichen Kontexten arbeiten und sich durchaus begegnen. Den direkten Kontakt scheint Elsa Wessig zu vermeiden. Es ist jedoch denkbar, dass sich in dieser beruflichen und privaten Verquickung auch Verwicklungen ergeben und vielleicht weiß die Ehefrau um die Beziehung ihres Mannes („und äh wir haben uns gesehn von Weitem und so weiter“). Trennung und Umzug auf’s Land E: … und da hab ich hab ich Schluss gemacht und hab gesagt: „Ich zieh allein nach A-Bundesland.“ und mit meinen Söhnen hab ich das so gemacht: „Wir sind zu dritt, ich möchte gerne hochziehen wir sind also jetzt Partner gleichberechtigt, wer möchte mit“, und da hat leider mein alte- älterer Sohn verloren, weil er wollte nicht, hier hoch:ziehen
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weil er war Leistungskader Leistungssportkader beim Schwimmen //mhm// und hier gab’s weit und breit keine Schwimmhalle. und heute ist er Hausbesitzer ja heut hat er das Haus und der andere ist, (2) spielt Theater in B-Großstadt. I: Mhm E: So und, ähm dann bin ich hochgezogen und hab hier alleine gestartet. Beruflich, äh hab ich hier dann den Verband gewechselt für C-Stadt, und äh hab mir hier=hab hier also äh gut gearbeitet hab auch gutes Geld verdient, und hab vie:l für Rat des Kreises und so gearbeitet … und hab also, äh ein schönes Atelier gehabt, ne Dunkelkammer wo ich sehr viel experimentiert hab. (394–409)
Nach langjähriger privater und beruflicher Beziehung entschließt sich Elsa Wessig zu einem Neuanfang. Sie trennt sich und zieht in das Haus auf dem Land. Die Entscheidung zum endgültigen Umzug trifft sie gemeinsam mit ihren halbwüchsigen Söhnen. Die Konstruktion der partnerschaftlichen Entscheidungsfreiheit der Söhne scheint allerdings nicht ganz realistisch zu sein. Ein Sohn stellt sich gegen den Umzug, muss jedoch mit der Familie mit und dafür den Leistungssport aufgeben. Elsa Wessig heilt die Situation, indem sie darlegt, dass dieser Sohn heute das gemeinsame Haus besitzt. Auch der andere Sohn hat seinen Platz gefunden. Er hat wie sie eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen. Elsa Wessig gelingt der Neuanfang erfolgreich. Dass der Fokus ihrer lebensgeschichtlichen Konstruktion auf der beruflichen Entwicklung liegt, zeigt sich auch hier. Sie erwähnt dies an verschiedenen anderen Stellen des Interviews. Hier beschreibt sie einige Aspekte ihrer neuen Tätigkeit, zwischen Sinnherstellung („hab hier also äh gut gearbeitet“) und Autonomie („hab auch gutes Geld verdient“). Sie wechselt den Verband und baut sich eine neue Karriere auf. Dabei arbeitet sie auch für staatliche Stellen, zeigt also, dass sie sich auch hier mit dem System, mit gesellschaftlichen Vorgaben und Erwartungen, arrangiert. Zudem kann sie eine finanzielle Sicherheit für sich und ihre Kinder gewährleisten. Auch wenn die ökonomischen Zwänge zu DDR-Zeiten nicht im Vordergrund stehen, ist vorstellbar, dass nicht für jeden freiberuflichen Künstler die finanzielle Situation einfach ist. Elsa Wessig hat zudem zwei Kinder zu versorgen und ein
6.3 Kernstelleninterpretation
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großes Haus mit Grundstück zu finanzieren. Letzteres gibt ihr jedoch gleichzeitig eine große berufliche Freiheit. Sie kann sich in einer idyllischen Umgebung ausleben und künstlerisch, kreativ erproben, wie es ihrem beruflichen Habitus entspricht („und hab also, äh ein schönes Atelier gehabt, ne Dunkelkammer wo ich sehr viel experimentiert hab“). „Sexuelle Befreiung“ mit 70 Jahren E: … ich bin jetzt 73, und ich hab vor kurzem, … auch eine=ein äh, Entpanzerung mitgemacht, … (1) also ne sexuelle Befreiung, ne? //mhm// … ich, ich bin also entpanzert und das, jetzt vertrag ich=jetzt sag ich dir einfach was ganz Intimes, ähm ich muss dagegen ankämpfen dass sich kein Bedauern bei mir breit macht. //mhm// (1) weil ich mich jetzt sexuell so befreit füh:le, dass ich mir vorstellen kann, was ich alles versäumt habe. ((fängt an zu weinen)) … (18) ((trinkt einen Schluck)) E: Ja, so, so ist das. I: Mhm (10) E: Es war ne dolle Erfahrung muss ich wirklich sagen, //mhm// (3) ich fühl mich s:o frei und so (3) ((atmet tief durch)) befreit von Dingen, die äh (2) die ja sehr einengend waren. //mhm// Ich versuche zu finden warum, oder was es Gutes daran hatte dass ich, so spät erweckt wurde. ((lacht)) (1112–1166)
Dass Elsa Wessig auch im hohen Alter ihrem entwicklungsorientierten Habitus folgt und an ihren biographischen Themen arbeitet, dabei mutig Grenzen auslotend und überschreitend, zeigen ihre Ausführungen zur Auflösung ihrer
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
sexuellen Beengtheit, die sie ein Leben lang empfunden hat. Sie beschreibt und erzählt detailliert von ihrem Kurs der „Entpanzerung“. Diese Ausführungen sind gekürzt, da sie sehr intim sind und Elsa Wessig auch selbst sehr berühren. Sie legt hier den Abschluss eines biographischen Entwicklungsprozesses dar, konkret an einem Thema, das sie lösen kann. In der Evaluation zeigt sich, dass sie selbst in der späten Auflösung versucht, das Positive an diesem lange währenden Prozess zu entdecken. Elsa Wessig ist Vorreiterin in einem solchen Bearbeitungsprozess. Viele Frauen ihrer Generation können nicht auf die offene Bearbeitung der Thematik der Sexualität sowie der so freien biographischen Auslegung der Frauenrolle zurückblicken, wie es Elsa Wessig lebt. Die folgenden Passagen zeigen, wie sie ihre berufliche Entwicklung reflektiert und was für sie das Besondere an ihrer Arbeit als Heilpraktikerin ist.
6.3.7
Biographische und professionelle Reflexivität
Das Besondere an der Tätigkeit – sich vollkommen auf die Menschen einlassen E: (2) Ich bin ein ich bin ein Mensch der etwas was äh was äh überholt ist nicht mehr machen kann. //mhm// und=äh, das heißt ich hab eingesehen dass das was Besseres gibt oder was Leichteres gibt. und dadurch hab ich oft äh, hab ich diese vielen Berufe dann auch. (2) und sie sind letzt- auf einmal alle da. ich könnte nahtlos en Schaufenster dekorieren, /nahtlos das machen o- das machen ((lacht)), und ähm das Besondere an dem was ich jetzt mache ist dass, oder was ich auch kann wo ich total sicher bin, ist mit einem Menschen oder mit höchstens, sechs: Pers-Erwachsenen n Workshop machen, weil ich=weil ich die Fähigkeit hab ich entdeckt die Fähigkeit habe mich auf alle Menschen einzulassen, und ihn fast in:filtrieren kann,
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durch diese vielen Herangehensweisen ich hab das Horoskop, ich geh bis in die Kindheit ich äh, wir skizzieren sozusagen sein ganzes Leben hier neu und, äh lösen alles auf. und ich äh, hab die Fähigkeit und bin auch in einem Al:ter, wo ich ähm, nicht mehr ums Überleben im Sinne kämpfen muss, sondern dass ich, mir das leisten kann eine Therapie zu machen von rund um die Uhr. ich bin also die drei oder fünf Tage die jemand hier ist, nur für diesen a- Menschen da. und das ist, das Besondere, und äh (2), ich kann- also ich möchte das fast sagen, ich spür keine Eitelkeit dabei. dass ich das auch gut kann. (1241–1255)
Aus der Jetzt-Perspektive reflektiert sie sich als entwicklungsorientiert. Sobald sich ihre biographischen und beruflichen Themen überholen, sucht sie neue Herausforderungen. Dies belegt sie am Beispiel ihrer beruflichen Umorientierungen. Dabei markiert sie, dass ihre aufgeschichteten beruflichen Wissensbestände für sie noch verfügbar sind („und dadurch hab ich oft äh, hab ich diese vielen Berufe dann auch. (2) und sie sind letzt- auf einmal alle da. ich könnte nahtlos en Schaufenster dekorieren, /nahtlos das machen o- das machen“). Das Besondere an ihrer jetzigen Tätigkeit ist, dass sie sich auf die Personen, die in ihre Therapie oder Kurse kommen, vollkommen einlassen kann („die Fähigkeit hab ich entdeckt die Fähigkeit habe mich auf alle Menschen einzulassen, und ihn fast in:filtrieren kann“). Dabei spielt es für sie keine Rolle, ob sie einzeln oder in kleinen Gruppen interagiert. Der verwendete Begriff des Infiltrierens deutet auf eine große Nähe hin, fast eine Grenzüberschreitung. Elsa Wessig ist sich unsicher, ob sie diesen Begriff verwenden soll, was sich in ihrem Zögern ausdrückt, ihn auszusprechen. An späterer Stelle ringt sie um bessere Begriffe, die ihre Interaktion beschreiben könnten: „ich fühl das so als wenn, ich wie so n Transformator bin. (2) //mhm// (1) oder n Katalysator besser, //mhm// ja n Katalysator.“ (Zn. 1309 f.). Transformator deutet auf eine Umwandlung, Katalysator darauf, dass Prozesse
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
ermöglicht werden, durch ein eigenes Beteiligtsein, ohne selbst verändert zu werden, nachdem der Veränderungsprozess, hier z. B. die Therapie, durchlaufen ist. Es wird deutlich, dass Elsa Wessig sich intensiv in die Behandlungen oder Workshops einbringt, sich in die Klientinnen hineinversetzt und ihr gesammeltes Wissen und Können nutzt, um die Klientinnen in deren Entwicklungsprozessen zu unterstützen. Elsa Wessig geht dabei auf die Biographien der Menschen ein, ohne sich auf ein theoretisch fundiertes (sozialwissenschaftliches) Biographiekonzept zu stützen. Ihre Wissensbestände gründen u. a. in der Psychologie und der Spiritualität, sowie in der eigenen biographischen Erfahrungsaufschichtung, die ihren psychosozialen Erkenntnisprozess einschließt. Elsa Wessig greift intuitiv und kreativ auf diese Wissensbestände zurück und verbindet sie zu einer je individuellen Form der Unterstützung und Begleitung ihrer Klienten. Dabei ist sie sich bewusst, dass dies zu ihren Stärken gehört. Hinzu kommt, dass sie keinen ökonomischen Zwängen unterliegt, sodass sie frei entscheiden kann, sich auch mehrere Tage einer einzelnen Person zu widmen. In der positiven Evaluation ihres Könnens bleibt sie bescheiden („ich spür keine Eitelkeit dabei. dass ich das auch gut kann.“). Psychosoziale Begleitung als Bedingung körperlicher Gesundung E: Ja die Psyche zu repariern. //mhm// also dem Menschen zu helfen in einem Eng:pass, (2) sich wieder zu öffnen und das Leben neu zu sehen. (1) und das ist die Hälfte der Miete um überhaupt körperlich auch gesund zu werden. I: Mhm E: Also ich halte das für einen sehr wichtigen Punkt, (3) in der, ja in-im ganzen sozialen Gefüge. (1282–1288)
Auf die exmanente Nachfrage nach der Rolle ihrer Tätigkeit in der gesundheitlichen Versorgung der Menschen markiert Elsa Wessig die psychosozialen und biographischen Dimensionen als entscheidenden Bestandteil von Gesundheit. Sie sieht sich dort, wo Menschen schwierige Situationen bearbeiten müssen und dies nicht allein schaffen – dort zu unterstützen, sich dem Leben wieder zuzuwenden und neue Perspektiven zu erschließen. Damit leistet Elsa Wessig einen
6.4 Zusammenfassung
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Beitrag, der fernab regulärer schulmedizinischer Versorgung liegt.11 Interessant ist hier auch die übergreifende Konstruktion „im ganzen sozialen Gefüge“. Dies impliziert die Verbindung persönlicher Dimensionen mit den sozialen näheren Kontexten, in denen die Menschen leben, aber auch darüber hinaus gedacht, in weiteren, umfassenderen sozialen Zusammenhängen. Dieses eher implizite Mitdenken der sozialen Dimensionen und Reflektieren aus individualistischer Perspektive bildet eine wichtige Ressource im biographischen Habitus Elsa Wessigs. Sie kann weiterentwickelt werden, indem biographietheoretische Konzepte hinzugefügt werden.
6.4
Zusammenfassung
Dieses Kapitel fasst Dimensionen lebensgeschichtlicher Erfahrungsaufschichtung Elsa Wessigs in ihrer Ereignisverkettung zusammen. Herausgearbeitet wird ihre individuelle „mentale Grammatik“ (Alheit), die sie im biographischen Erfahrungsprozess in Auseinandersetzung mit den alltagsweltlichen, sozialen Bezügen und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausbildet. Berücksichtigt werden ihre im Lebensablauf erworbenen, modifizierten oder erweiterten Handlungsressourcen. Ebenso findet sich hier die vierte kognitive Figur, die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte. Elsa Wessig ratifiziert das Erzählschema und stellt in ihrer autobiographischen Stegreiferzählung eine biographische Kohärenz her von ihrer Beruflichkeit zu DDR-Zeiten bis zu ihrer Tätigkeit nach der ‚Wende‘, die in den HeilpraktikerAbschluss mündet. Biographie und Beruf erscheinen als untrennbare Verbindung. Die Aneignung und Ausübung des Heilpraktikerberufes ist eng und konkret mit ihrer individuellen biographischen Erfahrungsaufschichtung verbunden. Elsa Wessig konstruiert reflektierend eine Lebensgeschichte sich wandelnder und fortschreitender Selbsterkenntnis, Sinnherstellung und damit verbundener Weiterentwicklung, sowie beruflicher Selbstverwirklichung. Der Heilpraktikerabschluss ist auf diesem Lebensweg Instrument formaler Legitimation ihrer neuen beruflichen Tätigkeit, die sich Elsa Wessig nach der ‚Wende‘ auf Basis von Selbsterfahrungsprozessen sukzessive aneignet. Elsa Wessig wird im Krieg als zweites Kind sudetendeutscher Eltern geboren. Die Familie wird nach Kriegsende nach Deutschland zwangsausgesiedelt. 11 Und zugleich die Nähe zur Sozialen Arbeit und Psychotherapie widerspiegelt. Die mangelnde Professionalisierung im Grenzbereich heilpraktischer Tätigkeit führt zu Überschneidungen der Wissensbestände und Handlungspraxen. Dies zeigt zugleich Grenze und Potenzial des Heilpraktikerberufes.
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
Sie kommt in ein kleines Dorf und die Eltern beginnen, sich unter schwierigen materiellen Verhältnissen ein neues Leben aufzubauen. Sie halten ihre täglichen Sorgen von den Kindern fern. Elsa Wessig evaluiert diese Zeit als abenteuerlich. Sie verbindet ihre ersten biographischen Erinnerungen mit dem Ausleben persönlicher Freiheiten auf dem Land. Sie kann träumen und ihrem Bewegungsdrang folgen. Die Schulzeit teilt sie in eine erste Phase des Behütetseins, in der wenige Kinder verschiedener Altersgruppen gemeinsam von einem jungen Lehrer unterrichtet werden, den Elsa Wessig sehr mag. Zudem kann sie immer genau das mithören, das sie interessiert, auch wenn es erst zum Lernstoff der Älteren gehört. Nach der fünften Klasse muss sie in eine andere Schule in ein größeres Dorf wechseln. Dies markiert sie als Ende ihrer Kindheit, da sie mit dem Wechsel das „Heimelige“ verliert. Als 14-jähriges Mädchen verändert sich ihre soziale Welt erneut. Sie kommt an ein Institut für Lehrerbildung in eine Großstadt. Dies ist verbunden mit dem Einordnen in das beengte gemeinschaftliche Leben eines Internatszimmers zusammen mit zwölf anderen Mädchen. Geulen (1998: 77 f.) verweist auf die lebensgeschichtliche Bedeutung der Internatssituation in der späteren Schulzeit zu DDR-Zeiten. Insbesondere die Jugendlichen aus ländlichen Regionen verbrachten ihre späteren Schuljahre in Internaten und fuhren nur an den Wochenenden nach Hause. Geulen bezeichnet dies als „Bestandteil des formellen Bildungssystems“ (Geulen 1998: 77) der DDR mit sozialisatorischer Relevanz. Ziel war die Erleichterung der staatlich gewollten frühen Ablösung von der Familie. Viele Jugendliche zogen diese Zeiten mit den Gleichaltrigen durchaus ihren Familien vor. Dies trifft für Elsa Wessig allerdings nicht zu. Ihr Habitus offenen Zugehens auf die Welt, Ausleben persönlicher Freiheit, Spontaneität und Neugier ist nicht anschlussfähig an die soziale Welt der anderen Mädchen. Sie wird „gemobbt“. Hinzu kommt, dass sie die im Fach Russisch fehlenden Wissensbestände nicht aufholen kann und ihr somit der Unterricht keinen Spaß macht. Nach zwei Jahren bricht sie das Studium ab. Während sie den Weg in das Studium aus einer Haltung des institutionellen Ablaufmusters konstruiert, an dessen Ende ein Aufgeben steht, beschließt sie nun handlungsschematisch, sich zur Schaufensterdekorateurin ausbilden zu lassen. Ihr Vater unterstützt die berufliche Neu-Orientierung, überlässt ihr zudem die Wahl des konkreten Berufes, für den sich Elsa Wessig spontan und intuitiv entscheidet. Der Beruf der Schaufensterdekorateurin wird von ihr in einem klaren Gegensatz zum Studium vorher dargestellt – farbenfroh, überraschend, kreativ, handwerklich. Diese Ausbildung bereitet ihr Freude und sie schließt sie nach drei Jahren erfolgreich ab.
6.4 Zusammenfassung
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Eine weitere biographische Dimension tritt in dieser Zeit hinzu, deren Bearbeitung ein Lebensthema für Elsa Wessig wird: Die Auseinandersetzung mit den physischen und psychischen Veränderungen in der Pubertät sowie der Thematik der Sexualität. Es fehlt Elsa Wessig an Austauschmöglichkeiten mit Freundinnen oder ihren Eltern. Es fehlt auch ein offener Umgang mit der Sexualität in der Familie. Als ihre Menstruation einsetzt, wird sie von ihrem Vater diesbezüglich aufgeklärt, weitere Gespräche, insbesondere mit ihrer Mutter, erfolgen anscheinend nicht. So ist sie mit ihren Gefühlen allein und evaluiert diese biographische Phase als eine erleidende, aus der sie sich nicht befreien kann. Dabei fällt auf, dass ihr Verhältnis zu Männern angstbesetzt ist, und Elsa Wessig sich auf keinerlei soziale Beziehungen zu ihnen einlässt. Der Fokus Elsa Wessigs autobiographischer Stegreiferzählung liegt auf ihrer beruflichen Verwirklichung. An verschiedenen Stellen markiert sie, dass dies auch ihr reales Leben widerspiegelt, in dem die berufliche Verwirklichung vor der privaten Tradierung steht. Dabei konstruiert sie eine berufliche Karriere zwischen Bildungsaspiration, Freiheit in der Berufsausübung und doppelter Vergesellschaftung. Ein Kennzeichen ist die Aufzählung sich mehrender beruflicher Abschlüsse an bilanzierenden Stellen ihrer autobiographischen Stegreiferzählung. Auch das abgebrochene Studium zählt sie als „halber Lehrer“ mit. Die zwei Studienjahre eröffnen ihr als formal anerkannte mittlere Reife später z. B. den Zugang zum Fernstudium. Nach ihrer ersten Berufsausbildung nimmt Elsa Wessig eine Anstellung in der Werbung an. Hier muss sie zunächst in großem Stil Plakate und Transparente erstellen (sie wird „Plakatmalerin“). In ihrer Stegreiferzählung markiert sie diese Phase als ein ‚Dahinleben‘. Zudem wird sie von der Wirtin ihres Zimmers immer etwas restringiert – sie darf z. B. kein warmes Wasser benutzen. Nach einem Umzug in die Nähe ihres Bruders beginnt sie in der Lebensmittelwerbung, wo sie in freier Verantwortung Werbekonzepte für die neu entstandenen Kaufhallen in den Wohngebieten entwickeln und umsetzen kann. Diese Tätigkeit macht ihr Spaß. Bestandteil ihres beruflichen Habitus ist die selbstständige kreative Umsetzung von Ideen unter Einbindung ihrer künstlerischen Wissensbestände und handwerklichen Könnens. So besorgt sie im Stadttheater Requisiten und gestaltet realistische Szenarien zu Festlichkeiten. Bei der Bemalung einer Häuserwand verliebt sie sich in einen jungen Mann. Ihr distanziertes Verhältnis zu Männern besteht bis zu dieser Zeit, aber in dieser konkreten Situation kann sie sich auf ein lockeres Gespräch mit dem sympathischen Mann einlassen, da sie in sicherer Entfernung von ihm auf einer Leiter steht, von der aus sie die Wand bemalt. Elsa Wessig geht nach einiger Zeit mit ihm ein
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intimes Verhältnis ein und wird „plötzlich schwanger“. Der familiäre Aushandlungsprozess mit der zukünftigen Schwiegermutter, die mit der Schwangerschaft vor Beendigung des Studiums ihres Sohnes nicht einverstanden ist, gestaltet sich schwierig. Kurz nach der Geburt des ersten Sohnes wird Elsa Wessig jedoch erneut schwanger und diesmal heiratet das junge Paar noch vor der Entbindung. Elsa Wessig markiert die Rollenerwartungen damit, dass sie sich bei der ersten Entbindung als „ungeheiratet“ bezeichnet; der zweite Sohn wird jedoch in die Ehe, quasi in geordnete Verhältnisse, hineingeboren und erhält auch den Namen des Vaters. Die Lebensverhältnisse der jungen Familie gestalten sich als kompliziert. Es gelingt nicht, eine gemeinsame Wohnung mit eigenem Bad und Küche zu bekommen. So wäscht der junge Vater die Windeln der Söhne im Internat, in der er während des Studiums untergebracht ist. Elsa Wessig wohnt währenddessen in verschiedenen Zimmern zur Miete. Früh am Morgen bringt sie die Kinder in eine Tageseinrichtung, sie unterbricht ihre Vollzeittätigkeit nur während des Mutterschutzes. Dies ist für sie zwar eine anstrengende biographische Phase, ihre Berufstätigkeit würde sie jedoch nicht aufgeben. Die geliebte Arbeit ist für sie „Lebenselixier“. Dabei nutzt Elsa Wessig Möglichkeiten privater und beruflicher Vereinbarkeit, wenn sie z. B. für das Stillen mehrmals täglich zwischen Arbeitsstelle und Kinderkrippe pendelt. Zudem beteiligt sie sich kreativ an der Verschönerung der Umgebung ihrer Kinder, dabei auf ihre erlernten Fertigkeiten zurückgreifend. Um sich beruflich zu entwickeln, wechselt Elsa Wessig handlungsschematisch in eine Buchhandlung, in der sie für die thematisch variierende und (gesellschaftspolitisch) zeitgemäße Ausgestaltung des Ladens sowie die Dekoration der Schaufenster zuständig ist. Hinzu kommt die gestalterische Konzeptualisierung von Buchlesungen. Diese kreative eigenverantwortliche Arbeit macht ihr viel Freude. Nachdem Elsa Wessigs Ehemann sein Studium beendet, zieht die ganze Familie in eine moderne Neubauwohnung mit Bad und Küche in die entfernte Heimatstadt des Ehemannes. Elsa Wessig schließt an ihre berufsbiographischen Wissensbestände an und beginnt wieder eine Stelle in einer Buchhandlung – mit ähnlichem Aufgabenprofil wie vorher. Auch hier kann sie sich wieder kreativ ausleben. Ein Schlüsselerlebnis ebnet Elsa Wessig den Weg zum Bildungsaufstieg. Sie konzipiert und gestaltet einen Schutzumschlag für ein noch nicht publiziertes Buch, aus dem der Autor in ihrer Buchhandlung liest. Der Schutzumschlag findet seine Anerkennung und wird vom Verlag übernommen. Dieses Erlebnis ermutigt Elsa Wessig, sich zu einem Fernstudium für Graphik und Buchgestaltung in einer entfernteren Großstadt zu bewerben. Sie wird
6.4 Zusammenfassung
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angenommen und trotz der Schwierigkeiten der Vereinbarkeit des Studiums mit ihrer Ehe, Familie und Vollzeittätigkeit verfolgt sie ihren biographischen Plan bis zum erfolgreichen Abschluss. Sie erbringt so gute fachliche Leistungen, dass sie nicht nur die Hochschul-Abschlussprüfung besteht, sondern zusätzlich die Möglichkeit der Diplom-Prüfung erhält. Diese nimmt sie begeistert an. Zudem ist dies ein Lebensabschnitt, in dem sie sich fachlich in einer kleinen Gruppe von ausschließlich Männern behauptet und zunehmend emanzipiert. Habitualisierte Orientierungen und Handlungspraktiken wie ihre Leidenschaft, Kreativität und Farbenfreude werden von der Gruppe der Männer geschätzt, was Elsa Wessig allerdings erst im Nachhinein erfährt. Auf einer impliziten Ebene nimmt sie die Wertschätzung und Ausnahmestellung jedoch bereits vorher wahr und bezeichnet es als „ungewöhnliches Glück“, nur mit Männern zusammen zu sein. Trotzdem benötigt es erst des fachlichen Aufschließens, ausgedrückt im Erwerb der Kunstfertigkeit des Buchdrucks, um sich ebenbürtig zu fühlen. Privat lässt sich Elsa Wessig in dieser Phase des Bildungsaufstiegs und beruflicher Neuorientierung von ihrem Ehemann scheiden. Für den beruflichen Weiterentwicklungsprozess beantragt sie die Aufnahme in den Verband Bildender Künstler in der DDR und wird nach Genehmigung freischaffende Künstlerin. Hierzu begibt sie sich in eine Atelier- und Künstlergemeinschaft, in der sie sich unter „Freidenkern“, deren fachlichem, sozialem und gesellschaftlichem Austausch auf dem schmalen Grat zwischen politischer Anpassung, versteckter Kritik und Gegenkultur (vgl. Schieder 2017) wohlfühlt. Privates und berufliches Leben fließen eng ineinander. So wird Elsa Wessig in dieser Zeit auch die Geliebte ihres Atelierpartners, der allerdings verheiratet ist. Ihre Beziehung scheint nicht unproblematisch und kann nur halböffentlich gelebt werden, denn die Ehefrau ist ebenfalls Künstlerin im gleichen Verband. An dieser beruflichen Konstruktion zeigen sich verschiedene Dimensionen künstlerischer Tätigkeit in der ehemaligen DDR, die Elsa Wessig auf ihre individuelle Weise vereinnahmt. Die Aufnahme in den Verband Bildender Künstler sichert ihr eine ökonomische und berufliche Grundlage, da sie damit Teil des institutionalisierten Kunstbetriebs der DDR wird, dessen Zugangsmöglichkeiten (Materialerwerb, Ausstellungsmöglichkeiten etc.) reglementiert waren. Bedingung sind z. B. der Abschluss eines Hochschulstudiums sowie die Vermeidung offener politischer Konfrontation in der künstlerischen Tätigkeit. Künstlerateliers waren Räume, in denen „funktionelle Grenzen zwischen Werkstatt, Wohnung, Ausstellungsraum und Galerie ebenso verschwammen wie [ihr] Status zwischen privat, halböffentlich und öffentlich“ (Schieder 2017: 74). Neben der Funktion eines (nur) teilweise geschützten Raums waren sie zugleich äußere und innere Bühne der kulturpolitischen Repräsentation und unterlagen somit dem System staatlicher
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
Vorgaben, Reglementierung und Sanktionierung. Damit waren sie Ort ästhetischen, aber auch gesellschaftlichen Ausdrucks und Zwangs. Mit zunehmender (politisch gelenkter) ökonomischer und räumlicher Knappheit sowie der Verengung des geistigen Diskurses (vgl. Geulen 1998: 329) entstanden vermehrt Ateliergemeinschaften sowie andere alternative Arbeits-, Austausch- und Ausstellungsmöglichkeiten. Ateliergemeinschaften bildeten zugleich eine je individuelle Ausformung der sozialistischen Idee des Kollektivs, in denen sich eine soziale und künstlerische Praxis außerhalb der offiziellen Kultur und staatlichen Sanktionierung ausdifferenzierte, insbesondere nach Ende der 1960er Jahre. In den 1970er und 1980er Jahren entstanden breitere nonkonforme Strategien der Umsetzung des sozialistischen Künstlerkollektivs, auch wenn einige Ausformungen der spätsozialistischen Gegenkultur epigonal spätmodernen Charakter vermittelten. In den meisten Fällen wurden staatliche Reglementierungen umgangen, ohne dass sie in offenen Forderungen oder Aktionen mündeten. Vielmehr formulierten sich in ihnen alternative kreative Ausdrucksmöglichkeiten, Arbeitsformate und Lebensweisen. (vgl. Schieder 2017) Elsa Wessig meistert für sich diese berufliche Ambivalenz. Sie erfüllt zwar unumgängliche institutionalisierte Vorgaben des Arbeitens entlang einer sozialistischen Weltanschauung ohne politische Vereinnahmung, legt ihren Fokus aber vielmehr auf den sozialen Austausch zum Ausleben eigener Kreativität und der Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit. Zudem lebt sie einen halböffentlichen Gegenentwurf der gesellschaftlich normierten Rolle als Ehefrau und Mutter. Sie kauft sich z. B., alleinerziehend mit zwei Kindern, ein Haus auf dem Land, das sie zunächst als Sommersitz nutzt. Ihren heranwachsenden Söhnen gegenüber versteht sie sich eher als Partnerin, die auf die gleichberechtigte Perspektive aller setzt. Dies konstruiert sie am partizipativen Aushandlungsprozess, den gemeinsamen Wohnsitz dauerhaft von der Großstadt weg zu verlegen. Ein Sohn muss sich dabei der gemeinsam getroffenen Entscheidung unterordnen und die Familie zieht dauerhaft in die ländliche Idylle. Hiermit ist ein umfassender privater und beruflicher Neuanfang verbunden, den Elsa Wessig handlungsschematisch konstruiert. Sie trennt sich von ihrem Geliebten, wechselt die Verbandsmitgliedschaft und baut eine neue Karriere innerhalb staatlicher Regulierung auf. Ihr eigenes Atelier im großen Bauernhaus eröffnet ihr Räume freien kreativen Arbeitens. Auch hier stehen die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit und Vertretbarkeit ihres künstlerischen Anspruchs sowie die experimentelle Erprobung künstlerischer Ausdrucksformen im Vordergrund. Die thematische Umsetzung des politisch konnotierten Themas „Abrüstung“ in Form eines Posters gewinnt einen Preis und bringt ihr auch internationale Beachtung.
6.4 Zusammenfassung
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In diese erfolgreiche Phase freiberuflichen künstlerischen Schaffens zwischen offizieller Systemanpassung und subtiler -abgrenzung fällt der gesellschaftliche Transformationsprozess. Die ökonomische (sichere) Rahmung künstlerischer Tätigkeit entlang ideologischer Vorgaben entfällt, zugleich wird die Möglichkeit freier Entfaltung und persönlicher Weiterentwicklung eröffnet. Elsa Wessig reagiert darauf mit einer ausgeprägten „Sinnkrise“, die sie zwar nicht konkret entfaltet, jedoch mit einer Erkrankung gleichsetzt.12 Zur Bearbeitung setzt sie sich anhand psychosomatischer Literatur mit Sinnfragen des Lebens und der Entstehung von Erkrankungen auseinander. Die Erkenntnis, für den eigenen Entwicklungsprozess verantwortlich zu sein, diesen positiv zu gestalten, in Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen, Erlebnissen und Erfahrungen, wird für sie zum Schlüsselerlebnis und Wendepunkt. Mit ihrem entwicklungsorientierten biographischen Habitus kann sie genau an die Argumentationen der Literatur anschließen bzw. diese für sich, für den eigenen biographischen Lernprozess, fruchtbar machen. Am Ende eines Urlaubs, in dem sie sich auf einen intensiven, überraschenden, aber auch schmerzhaften Erkenntnisprozess in Kontrastierung der Erkenntnisse der Psychosomatik mit ihrem bisherigen Leben einlässt, entscheidet Elsa Wessig, ihre künstlerische Berufstätigkeit zu beenden und sich eine neue berufliche Aufgabe zu erschließen. Um die neuen Impulse persönlicher Entwicklung aufzugreifen, ‚den Weg zu sich selbst zu finden‘, quasi ihre biographische Identität zu erkunden, begibt sich Elsa Wessig in einen intensiven Selbsterfahrungsprozess. Dieser führt sie zu spirituellen, religiösen und psychosomatischen Wissensbeständen und in die Auseinandersetzung mit fernöstlichen Denk- und Heiltraditionen. Elsa Wessig absolviert Kurse bei deutschen und ausländischen Dozentinnen und Dozenten im In- und Ausland, erprobt dabei verschiedene Methoden an sich selbst, in Auslotung und Überschreitung persönlicher Grenzen. Sie erlernt den astrologischen Ansatz, das Leben zu deuten, und besucht Kurse im Institut der Autoren, deren Bücher sie so intensiv gelesen hat. Sie macht eine Psychotherapie und wird Reinkarnationstherapeutin. Danach setzt sie sich mit Chakren auseinander und erlebt bzw. erlernt im Weiteren die Methode des Rebirthing. Da dies eine emotional und körperlich angstbesetzte Methode ist, erschließt sie auch eine sanftere Methode der Traumaauflösung – sie wird Peak-States-Therapeutin. 12 Miehlke (1991: 6) konstatiert: „Hunderttausende Künstler, Wissenschaftler – fast die gesamte Intelligenz – werden entlassen, abgewickelt, evaluiert. Dieses Verhalten wird von ihnen als Demütigung empfunden.“ Dass sich nicht nur Elsa Wessig in einer „Sinnkrise“ befindet, darauf verweist die Zunahme funktionaler und psychosomatischer Krankheitsbilder, der Depressionen sowie des Verbrauchs an Psychopharmaka direkt nach der ‚Wende‘ (vgl. Miehlke 1991: 11).
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
Ihre Offenheit, Unbekanntes kreativ zu erkunden, sowie ihre Spontaneität und der Mut, sich zu erproben, sind biographische Ressourcen in diesem Prozess. Wichtiges Kennzeichen des biographischen und beruflichen Aneignungsprozesses Elsa Wessigs ist die Verbindung der intensiven Selbsterfahrung mit der Einmündung in einen institutionalisierten Lernprozess, an dessen Ende ein formaler therapeutischer Abschluss der jeweilig erfahrenen und für sinnvoll erachteten Methode steht. Eine zentrale Thematik ihres biographischen Lern- und Entwicklungsprozesses sind die angstbesetzte Sexualität und die gelebte Weiblichkeit. Deren erlebte Begrenzungen löst Elsa Wessig erst im hohen Alter von 70 Jahren auf. Zu der Zeit ist sie seit einigen Jahren von ihrem zweiten Ehemann einvernehmlich geschieden. Mit ihm hatte sie zwar eine sexuell erfüllte Ehe geführt, sich jedoch im Zuge ihrer spirituellen Öffnung zunehmend von ihm entfremdet. Nun besucht sie einen Kurs zur „sexuellen Befreiung“, der einen tiefen emotionalen Eindruck bei ihr hinterlässt. Diese späte „Erweckung“ lässt Elsa Wessig im Rückblick Dimensionen ungelebten Lebens wahrnehmen, jedoch versucht sie auch hierin einen positiven Sinn zu entdecken. Die psychosoziale Gesundheit, verbunden mit der Bearbeitung biographischer Krisen und einer persönlichen Weiterentwicklung, stehen im Fokus des eigenen subjektiven Wohlbefindens, aber auch im Fokus ihrer therapeutischen Arbeit. Die amtsärztliche Überprüfung zur Erlaubniserteilung, die Berufsbezeichnung Heilpraktiker zu führen und die Heilkunde umfassend auszuüben, bildet ‚nur‘ die formale Bedingung zur Eröffnung einer Praxis, in der Elsa Wessig ihr erworbenes Wissen und Können als Therapeutin anwenden kann. Der Heilpraktiker ist somit ‚Hilfskonstruktion‘beruflicher Selbstverwirklichung bzw. legitimiert ihre berufsbiographische Entwicklung. Elsa Wessig verbindet, wie auch vorher in ihrer freischaffenden künstlerischen Tätigkeit zu DDR-Zeiten, die institutionellen Anforderungen, um biographischen Sinn und Kontinuität herzustellen und sich beruflich zu verwirklichen. Dabei ist sie nun jedoch unabhängig vom finanziellen Erfolg ihrer Praxis. Die Phase der Prüfungsvorbereitung absolviert Elsa Wessig pragmatisch unter Ausnutzung ihrer berufsbiographischen Ressourcen, um sich unkompliziert das nachgeordnete medizinische Wissen für die Überprüfung anzueignen. Den Sinn dieser Phase reflektiert sie als Entdeckung ihres Lerntyps. Überträgt man den individuellen Selbsterfahrungsprozess, den Elsa Wessig nach der ‚Wende‘ handlungsschematisch durchläuft, auf die gesellschaftliche Ebene, kann man von einem beschleunigten Modernisierungsprozess in Ostdeutschland sprechen, der sich in Westdeutschland im Rahmen der Therapiebewegung bereits ab den 1970er Jahren (vgl. Schaeffer 1990) vollzog.
6.4 Zusammenfassung
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Durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess werden Rahmenbedingungen freigesetzt und Ermöglichungsräume für die Erprobung eröffnet, an die Elsa Wessig biographisch anschließen kann. Als Wandlungsprozess erfahrend, folgt sie ihrem individuellen biographischen Entwicklungsprozess mit hoher Intensität und Geschwindigkeit. Er ist bereits in ihrem biographischen Habitus von Selbstverwirklichung und persönlicher Entwicklung angelegt und findet nun durch den gesellschaftlichen Transformationsprozess eine Entsprechung auf der individuellen Ebene. Zudem bindet sie ihn im Rahmen ihres Praxisalltags an die biographischen Erfahrungen ihrer Klientinnen und Klienten zurück. Hierzu kombiniert Elsa Wessig Einzel- und Gruppensitzungen und lässt sich auf intensive mehrtägige Begleitprozesse mit ihren Klientinnen und Klienten ein. Auch hier verbindet sie Leben und Arbeiten eng miteinander, und setzt damit eine soziale Handlungspraxis aus ihrer Zeit als freischaffende Künstlerin fort. Elsa Wessig verwendet Konzepte der Traumaauflösung, Transformation und persönlichen biographischen Entwicklung, die sie fallbezogen anwendet. Dazu kombiniert sie körperorientierte, spirituelle, kreativ-künstlerische Methoden und bindet auch Elemente der Biographiearbeit ein, ohne sie jedoch biographietheoretisch rückzubinden. Sie lässt sich intensiv auf die Interaktion mit ihren Klientinnen ein, passt deren Behandlungen intuitiv und individuell an, bleibt dabei jedoch selbst im Hintergrund. Elsa Wessig schafft Räume für je individuelle Entwicklungsprozesse. Ihre berufliche Handlungspraxis kann gefasst werden mit Ermöglichen und Gestalten: Sie ermöglicht Prozesse biographischer Entwicklung, Autonomie und Gesundung und gestaltet Gesundheit. Mit dieser beruflichen Handlungspraxis setzt Elsa Wessig ein modernes partizipatives Konzept eines selbstverantworteten Entwicklungsprozesses um, der Gesundungsprozesse bei den Klientinnen und Klienten ermöglichen kann. Dass sie dabei fernab schulmedizinischer Heilungsund Versorgungslogik bleibt, zeigen die von ihr verwendeten Therapiebezeichnungen wie „Fitness für die Seele-Abende für Frauen“, „Transformationen“ und ‚Selbststärkungsworkshops‘ für Kinder. Dass sie vorrangig mit Frauen und Mädchen arbeitet, hängt nicht zuletzt mit ihrem eigenen biographischen Lernund Verarbeitungsprozess zusammen, der die Auseinandersetzung mit physischen und psychischen Veränderungen im Kontext biographischer Übergänge, ihrer angstbesetzten Sexualität sowie der weiblichen Rolle zwischen Tradierung und Modernisierung einschließt. Sie ist damit Vorreiterin von Frauen ihrer Generation. In der Beruflichkeit als Heilpraktikerin führt Elsa Wessig eine erfolgreiche Karriere in neuer Ausdifferenzierung fort, entlang ihres biographischen Habitus. Kennzeichen ihrer biographischen und professionellen Reflexivität ist eine eher individualistische Perspektive auf biographische Prozesse über den gesamten
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Elsa Wessig: Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung …
Lebensablauf hinweg. Soziale Dimensionen denkt sie eher implizit mit. Sie finden häufig Berücksichtigung in Form der Eltern-Kind-Beziehung, die zudem auf pränatale Problematiken ausgedehnt wird. Selten bezieht Elsa Wessig strukturelle oder gesellschaftliche Dimensionen ein. Sie geht intuitiv auf die Biographien der Menschen ein, ohne sich z. B. auf eine sozialwissenschaftliche Biographieorientierung beziehen zu können. Ihre berufliche Handlungspraxis ist an die Intuition gebunden, mit wenig Reflexionsmöglichkeit i. S. eines Rückgriffs auf die Theorie als Ort der Reflexion. Dies ist ihr größtes Potenzial der Weiterentwicklung ihres biographischen Habitus. Ihre höhersymbolischen Wissensbestände gründen u. a. in der Psychologie und der Spiritualität, sowie in der eigenen biographischen Erfahrungsaufschichtung, die ihren psychosozialen Erkenntnisprozess einschließt. Elsa Wessig greift intuitiv und kreativ auf diese Wissensbestände zurück und verbindet sie zu einer je individuellen Form der Unterstützung und Begleitung ihrer Klientinnen. Dabei ist sie sich bewusst, dass dies zu ihren Stärken gehört. In der biographischen Gesamtschau konstruiert Elsa Wessig eine Lebensgeschichte, in der sie sich handlungsschematisch ihre soziale Welt aneignet und mutig ihre biographischen Möglichkeiten ausschreitet sowie sukzessive erweitert. Dabei verwirklicht sie sich selbst. Indem sie biographischen Sinn herstellt, konstruiert sie ihre biographische Identität immer wieder neu und aktualisiert sie, entlang ihrer individuellen selbstreferenziellen Logik und auf Basis impliziter biographischer Wissensbestände, die sie ausdifferenziert. Dabei rangiert die berufliche Modernisierung vor der privaten Tradierung. Elsa Wessig wünscht sich, auch im hohen Alter noch mehr zu arbeiten, da berufliche Handlungspraxis und biographischer Habitus einander entsprechen, woraus sie Kraft und Zufriedenheit schöpft. Sie hat ihren Sinn im Leben gefunden und zudem ihr schwieriges biographisches Thema aufgearbeitet. Dies kann sie aus einer positiven Gesamtsicht evaluieren. Die Haltung des biographischen Handlungsschemas, mit der Elsa Wessig ihre Lebensgeschichte konstruiert, wechselt in der biographischen Phase der ‚Sinnkrise‘ zur ‚Wende‘ in die Prozessstruktur des Wandlungsprozesses. Diese mündet sodann wieder in die Prozessstruktur des biographischen Handlungsschemas und bleibt bis zum Interviewzeitpunkt bestehen. In der autobiographischen Stegreiferzählung Elsa Wessigs lassen sich eine dominante und eine rezessive Erzähllinie herausarbeiten. Die dominante Erzähllinie verläuft entlang der berufsbiographischen Aufschichtung verschiedener Ausund Weiterbildungen, konstruiert als Bildungsaufstieg und Erweiterung beruflicher Handlungsressourcen, die am Ende des Lebens kumuliert (implizit) verfügbar sind und auf die Elsa Wessig intuitiv und kreativ zurückgreift und sie in der
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Handlungspraxis ihrer Heilpraktikertätigkeit zusammenführt – dem Gestalten von Gesundheit. Die rezessive Erzähllinie, deren Beginn Elsa Wessig zwischen die selbstständige Berufswahl und den erfolgreichen Abschluss ihres ersten Berufes fügt (Z. 114), thematisiert das biographische Thema der Frau-Werdung, begrenzten Sexualität und weiblichen Rollen-Definition zwischen Tradierung und Rebellion gegen gesellschaftliche Normen. Elsa Wessig führt dieses Thema zusammen, indem sie am Ende ihrer autobiographischen Stegreiferzählung die ‚befreite Sexualität‘ und Sinnsuche dieser Dimension ungelebten Lebens markiert. Zudem bildet die Begleitung von Frauen entlang ähnlicher biographischer Themen einen beruflichen Hauptfokus. Abbildung 6.1 zeigt den biographischen Habitus von Elsa Wessig im Überblick.
Selbstverwirklichung und persönliche Entwicklung Biographische Lern- und Verarbeitungsstrategien • • • ->
Berufliche Handlungspraxis Ermöglichen und Gestalten
Bildungsaspiration Offenheit und Spontaneität Kreative Erprobung (Berufliche) Modernisierung vor (privater) Tradierung
Orientierung • Künstlerische und handwerkliche Ausdrucksformen • Selbsterfahrung
• •
Krankheitsverarbeitung
Sinngebung Weiterführung einer erfolgreichen Karriere in neuer Ausdifferenzierung
(Biographische und professionelle) Reflexivität Biographische Gesamtschau Individualistische Sicht Kaum Einbindung struktureller Dimensionen Keine theoretische Rückbindung
Biographische Motivation • Selbstverwirklichung • Legitimierung berufsbiographischer Entwicklung
Selbstorganisation • Intensivkurs zur Vorbereitung auf Überprüfung • Selbststudium – Finden des Lerntyps • Unabhängigkeit vom finanziellen Erfolg -> Erlaubnis als ‚Hilfskonstruktion‘ beruflicher Selbstverwirklichung
• Psycho-soziale Gesundheit • Überwindung von Grenzen entlang biographischer Themen -> Persönliche Entwicklung im Fokus
• • • •
Konzeptualisierung • Konzepte der Traumaauflösung, Transformation und persönlichen Entwicklung • Umsetzung mit körperorientierten, spirituellen und künstlerisch-kreativen Ansätzen • Selbsterfahrung als Basis • Mehrtägige Einzelbegleitungen und Gruppenseminare
Patient*innen-/Klient*innenorientierung • • • • •
Ermutigung zur Entwicklung Individuelle Anpassung Agieren aus dem Hintergrund Intuition Modernes Konzept von Partizipation
Abbildung 6.1 Der biographische Habitus von Elsa Wessig
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld – Versorgung zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde
7.1
Die Interviewsituation und Praxis der Heilpraktikerin
Der Kontakt zu Karin Plüschke entstand auf einer regelmäßig stattfindenden Fortbildungsveranstaltung von Heilpraktikerinnen, von der sich Interviewte und Forscherin flüchtig kannten. Karin Plüschke erklärte sich nach kurzem Überlegen bereit, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Das Interview wurde nach ihrer regulären Arbeitszeit als Pflegerin in einer ambulanten Intensivpflege vereinbart und fand im Praxiszimmer statt. Es gehört zu einer Drei-Zimmer-PlattenbauWohnung in einer Kleinstadt, in der Karin Plüschke mit ihrem Mann lebt. Es gibt kein Praxisschild, das auf ihre Heilpraktikertätigkeit hinweist. Karin Plüschke arbeitet in Vollzeit in einer Eins-zu-Eins-Betreuung eines pflegebedürftigen Patienten mit fortgeschrittener neurologischer Erkrankung. Als Heilpraktikerin behandelt sie in der Woche nebenberuflich etwa drei Patienten gebührenpflichtig sowie ihre nahen und entfernteren Familienangehörigen kostenlos. Dabei fährt sie häufig zu Patientinnen nach Hause. Sie wendet verschiedenste, in der Naturheilkunde übliche Verfahren an, wie die Neuraltherapie, Baseninfusionen, das Baunscheidtieren, die Phytotherapie, aber auch alternative Heilmethoden wie die Chirotherapie sowie die Hypnose, die erst kürzlich zu ihrem Repertoire an naturheilkundlichen und alternativen Verfahren hinzugekommen ist. Das Interview dauerte zwei Stunden und 15 Minuten.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2_7
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7.2
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
Biographisches Porträt
Karin Plüschke wird 1958 geboren, sie ist zum Interviewzeitpunkt 57 Jahre alt. Sie wächst mit ihrer fünf Jahre älteren Schwester in einfachen Verhältnissen „sehr behütet“ auf. Dies heißt für sie, dass ihre Mutter bei jeder Art von Erkrankung mit den Töchtern zum Arzt geht. In den 1970er Jahren lernt sie ihren späteren Mann, einen Kfz-Mechaniker, kennen, der mit seinen Eltern und einer Schwester ländlich, sehr abgelegen, wohnt. In seiner Familie ist es üblich, Erkrankungen mit Hausmitteln auszukurieren und es verwundert ihn, dass seine zukünftige Frau, deren Schwester und Mutter ständig krank sind und so viele ärztlich verordnete Medikamente einnehmen. Er und seine Schwester erfreuen sich einer guten Gesundheit, während die Frauen der Familie Plüschke bereits verschiedenste Operationen wie die Blinddarm- und Mandelentfernung hinter sich haben und im Laufe des Lebens wiederholt schwere Krankheiten erleiden werden. Mutter und Schwester sind zum Interviewzeitpunkt bereits verstorben. Diese Beobachtungen stellt Karin Plüschke in den Kontext schulmedizinischer Überbehandlung mit fortschreitender Schwächung der körpereigenen Abwehr. Karin Plüschke absolviert von 1974 bis 1977 eine Ausbildung zur DiplomKrankenschwester. Sie möchte eigentlich Hebamme werden; in jenem Jahr werden diese jedoch nicht direkt ausgebildet, sondern nur in Weiterbildung nach abgeschlossener Berufsausbildung zur Kranken- oder Kinderkrankenschwester. Als sie ihre Ausbildung beendet hat, werden Hebammen direkt ausgebildet und Krankenschwestern haben nun keinen Zugang zur Hebammen-Ausbildung. Während ihrer Ausbildungszeit arbeitet Karin Plüschke schon im Operationssaal (OP), darf als Schülerin verantwortungsvolle Tätigkeiten wie das Instrumentieren einer Galle und das selbstständige Gipsen übernehmen. Die Arbeit macht ihr Spaß, sie entwickelt „Selbstbewusstsein“ und sie hat ihre „Freiheiten“. Sie bleibt nach ihrer Ausbildung im OP des Krankenhauses und absolviert nebenberuflich eine Weiterbildung zur OP-Schwester. Als ein Jahr später die Möglichkeit der Ausbildung zur Hebamme wieder besteht und der Chef der Gynäkologie ihr ein Empfehlungsschreiben anbietet, lehnt sie dies ab. Kurz zuvor hatte sie auch bereits die Ausnahmemöglichkeit verworfen, Medizin zu studieren. Als Jahrgangsbeste der Schwesternausbildung wäre sie zum Medizinstudium delegiert worden. Dies lehnt Karin Plüschke ab, da sie zu jener Zeit schwanger geworden war und zudem die jungen Assistenzärzte nur ein vergleichbares Gehalt bekommen als sie mit ihrer Anstellung einer OP-Schwester. Ihr gefällt ihre Tätigkeit und sie kann sich nicht vorstellen, ihre Arbeit aufzugeben, um ohne eigenen Verdienst ein paar Jahre in Vollzeit zu studieren. Allerdings wird sie an der Abendschule ihr Abitur nachholen, als ihre Tochter klein ist.
7.2 Biographisches Porträt
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Karin Plüschke ist für lange Zeit mit ihrer Tätigkeit im OP zufrieden. Mit der „Wende“ verändern sich jedoch die strukturellen Bedingungen im Gesundheitswesen. Aus Karin Plüschkes Sicht „geht es nur noch um die Abrechnungen“, es werden viele Patienten unnötig operiert und „das Menschliche“ geht verloren. Sie kündigt, zur Überraschung ihres Kollegiums, nach 25 Jahren ihr Arbeitsverhältnis als OP-Schwester im städtischen Krankenhaus. Danach arbeitet sie in verschiedenen Anstellungsverhältnissen in der stationären und ambulanten Pflege oder im OP-Bereich. Karin Plüschke „kämpft“ sich beruflich „durch’t Leben“, kündigt eine Stelle im Universitätsklinikum einer entfernten Großstadt aufgrund der Pendelsituation, wird mehrmals nur befristet eingestellt oder aus Kostengründen entlassen und pflegt nun seit einigen Jahren einen Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) im Rahmen ambulanter Intensivpflege. Sie kritisiert die ökonomischen Zwänge, die sie in verschiedenen Arbeitsverhältnissen erlebt. Diese führten einerseits zu ihrer Entlassung bzw. zum „Personalkarussell“, andererseits zur Vernachlässigung des „Menschlichen“, besonders im Umgang mit Menschen mit Demenz. Neben den ökonomisch bedingten Veränderungen ihrer Arbeit im Gesundheitswesen stößt Karin Plüschke auch auf einer fachlichen Ebene an Grenzen der schulmedizinischen Versorgung. 1980 erkrankt ihre Tochter mit anderthalb Jahren schwer. Sie erbricht ihre Nahrung, hört auf zu essen und verliert schnell an Gewicht. Nur mit Mühe gelingt es, das Kleinkind am Leben zu erhalten. Der verantwortliche Chefarzt ist ratlos, vermutet eine Mageneingangsstenose und schlägt eine Operation vor. Dies überzeugt die junge Mutter und Krankenschwester Karin Plüschke nicht, sie geht davon aus, dass eine Mageneingangsstenose, wenn vorhanden, sich von Geburt an bemerkbar gemacht hätte. Ihr Mann hört vom ‚Besprechen‘ und die jungen Eltern entscheiden unter Tränen, ihr Kind auf eigene Verantwortung aus der Klinik zu entlassen, um einen alternativen Heilungsversuch zu unternehmen. Den damit verbundenen Konflikt mit dem Chefarzt, er unterstellt ihr Verantwortungslosigkeit, empfindet Karin Plüschke als „heftig“, „so als junge Mutter und Frau“. Die alternative Behandlung, kombiniert mit aufbauender Ernährung, verläuft erfolgreich. Was bleibt, ist eine erste Verunsicherung: „Wat erzählt der Eine, denn da? und es geht doch.“ Das Vertrauen in die Schulmedizin wird erneut erschüttert, als die Mutter mehrmals schwer erkrankt. Ihre Symptomatik wird verharmlost – fälschlicherweise, wie ein „kindskopfgroßer“ unentdeckter Ovarialtumor später zeigt – bzw. die behandelnden Ärzte können keine Diagnose stellen, als die Mutter offensichtlich sterbenskrank ist. In so einer Situation kommt Karin Plüschke mit einem bulgarischen Heilpraktiker in Kontakt. Dieser untersucht die Mutter, diagnostiziert eine starke Vergiftung und erstellt einen umfangreichen Behandlungsplan, „wo
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
drei Leute, 24 Stunden mit zu tun hatten, Mutti zu entgiften“. Frau Plüschke bindet die ganze Familie in die Versorgung der Mutter ein und die Mutter gesundet. Dieses Erlebnis beschreibt Karin Plüschke als „Aha-Effekt“ – die Möglichkeit, „dat man […] ohne Diagnose, so einfach so entgiften kann“. Karin Plüschkes Weg in die Heilkunde wird durch eine Heilpraktikerin mit angebahnt, die sie einige Zeit vorher bei einer Weiterbildung zur Pflegedienstleitung kennengelernt hatte. Diese hatte dort in Grundlagen der Naturheilkunde eingeführt und wichtige „Klassiker“ der Naturheilkunde empfohlen. Die Offenheit für einen naturheilkundlichen Weg ist damit auch auf einer berufspraktischen Ebene gebahnt. Karin Plüschke liest die Bücher intensiv und danach erkrankt die Mutter schwer. Aber auch die Schwester wird einige Jahre später, 1998, an einem metastasierenden Mammakarzinom erkranken und eine umfangreiche schulmedizinische Therapie über sich ergehen lassen. Auch Karin Plüschke selbst erkrankt 2002 an der gleichen Diagnose. Sie lässt sich operieren, erhält Chemotherapie und Bestrahlungen, hat aber bei den Nachuntersuchungen immer mehr das Gefühl, „dat man denn da auch bloß da- vorgeladen wird, damit die sehn, in- wie lange man überlebt“ bzw. „für die Abrechnungszwecke“. Karin Plüschke überlebt den Krebs, zur Überraschung des medizinischen Personals, das dieses bei den Nachsorgeuntersuchungen äußert. Dies lässt sie die Sinnhaftigkeit schulmedizinischer Krebstherapie und Nachsorge anzweifeln. Von 2005 bis 2007 absolviert Karin Plüschke ihre Heilpraktikerausbildung an der Volkshochschule in einer entfernteren Stadt. Konkret hatte sie sich zur Heilpraktikerausbildung entschlossen, als ihre damalige Stelle aus ökonomischen Gründen durch die Praxis gekündigt wird. Karin Plüschke fährt einmal in der Woche gemeinsam mit drei anderen Frauen zur Ausbildung – nach ihrer Arbeitszeit, denn Karin Plüschke bleibt, wie nach jedem Ende eines Arbeitsverhältnisses, nicht lange arbeitslos. Die gemeinsamen Fahrten empfindet sie, neben dem Vorteil der Kostenersparnis, als sehr anregend. Sie wird auch später ihre zahlreichen naturheilkundlichen Fortbildungen mit einer anderen Heilpraktikerin gemeinsam besuchen und mit dieser auch alles neu Erlernte in gegenseitiger Behandlung praktisch erproben. Karin Plüschke fühlt sich bei den Heilpraktikern „zu Hause“, allerdings bleibt sie bis heute als Pflegekraft in Vollzeit tätig. Sie leidet unter verschiedenen Spannungen in ihrer täglichen Berufspraxis: unter den offenen Vorbehalten von Patientinnen und Angehörigen, die Naturheilkunde sei „Geldschneiderei“ oder wirkungslos; unter dem „mangelnden Bewusstsein“, für die eigene Heilung Verantwortung zur übernehmen und dies auch, wenn nötig, in
7.2 Biographisches Porträt
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Abgrenzung zur Schulmedizin; unter den begrenzten Möglichkeiten, als Pflegekraft im System der GKV naturheilkundliche Methoden anwenden zu können; unter Konflikten mit ihren Kolleginnen, die die Naturheilkunde ablehnen und aktiv gegen Karin Plüschke aufbegehren, wenn sie z. B. dem gemeinsam betreuten Patienten einen wirksamen Tee verabreicht, woraufhin dieser Stuhlgang bekommt, der zur unpassenden Zeit entsorgt werden muss. Karin Plüschke löst sich bis heute nicht aus diesen Spannungen, sondern wartet darauf, dass sich der Erfolg in Form vieler Heilpraktikerpatientinnen einstellt. Sie ist aktiv in der Sterbebegleitung in einem nahegelegenen Hospiz, spricht in verschiedenen Selbsthilfegruppen über die Naturheilkunde und entwickelt Ideen, wie sie z. B. adipöse Patienten, die ihr zahlreich auf der Straße begegnen, gewinnen kann. Sie kann sich allerdings aus ökonomischen Erwägungen heraus nicht entschließen, eine ‚richtige Praxis‘ zu eröffnen, und sie bewirbt ihre Heilpraktikertätigkeit auch nicht. Sie geht davon aus, dass die Patienten sie nach erfolgreicher Behandlung weiterempfehlen müssten. Hauptmotivation für ihre Heilpraktikerausbildung und ihr Heilpraktikerin-Sein sieht Karin Plüschke darin, selbst gesund zu bleiben. Sie reflektiert, dass sie eine der wenigen Frauen in ihrer Familie ist, die eine so schwere Erkrankung überlebt haben. In der Zwischenzeit war ihre Schwester erneut an einem metastasierenden Karzinom erkrankt und verstorben, und ihre jüngeren Cousinen sind ebenfalls im Terminalstadium erkrankt. Der Leidensweg ihrer Schwester hat Karin Plüschke noch einmal die Konflikte um die Deutungshoheit von heilkundlicher Therapie verdeutlicht: Sie begleitet ihre Schwester hingebungsvoll bis zum Tod und kann mittels Naturheilkunde deren Leben verlängern und ihr Leiden durch die vielen Chemotherapeutika mildern. Allerdings bleibt ihr Schwager in dieser Zeit immer skeptisch („kannst ja nich schlauer sein als wie hier der Doktor“) und dessen Bruder verlangt: „Erst wird gemacht wat der, Doktor sagt, die Schulmedizin, und wenn dasnicht hilft, denn könn wir das machen“. Auch in ihrem Bekanntenkreis beobachtet Karin Plüschke viele schwere Krankheitsfälle und kann nicht verstehen, dass die Betroffenen keine alternativen Heilungswege suchen. Sie bietet Hilfe an, ohne jemanden zu überreden, und zieht sich bei offener Kritik an der Naturheilkunde zurück. An diesem Punkt ihres Lebens steht Karin Plüschke aktuell – zwischen Hilfebereitschaft, Unverständnis und Zurücknahme stagniert sie zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde und kann keine ökonomisch erfolgreiche Praxistätigkeit als Heilpraktikerin etablieren.
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
7.3
Kernstelleninterpretation
7.3.1
Eingangspassage
Der Einstieg – medizinische Überbehandlung E: … /also ((lacht)) bin Jahrgang 58, weiblich, bin verheiratet hab eine Tochter, und bin äh: sag ich mal, in geordneten Verhältnissen aufgewachsen, meine Eltern warn sehr, (1) äh: (3) engagiert, ich bin mit einer Schwester zusammen aufgewachsen, und=äh, ja, so wie wir’s so- meine Eltern warn so Kriegsgeneration, und jetzt bin ich sehr behütet auf-gewachsen das, äh führte denn auch dazu, durch diese ständigen, och, wenn wir irgendwie ne Kleinigkeit hatten oder so wi- sind wir zum Arzt ge-gang. I: Mhm E: Oder is Mutti mit uns zum Arzt gegang ne? … Und dat führte nach meiner Meinung nach dazu, dass meine Schwester und ich, st:ändig an Krankheiten, Krankheiten hatten I: Mhm E: Wir sind sehr viel mit Antibiotika behandelt worden meine Schwester und ich, unser, Blinddarm is raus, Mandeln sind raus-gekomm, (1) so denn äh, Nierensteine hatten wir so, ne? inzwischen is ja meine Schwester schon, verstorben, meine Mutti schon verstorben, wo ich jetz so im Nachhinein schon denke immer so, dass die alle, überbehandelt wurden. (11–20, 28–36)
Karin Plüschke führt sich selbst und in ihre autobiographische Stegreiferzählung im Lebenslaufschema ein. Es fällt auf, dass sie sich selbst explizit als „weiblich“ und „in geordneten Verhältnissen“ verortet – sie erfüllt die gesellschaftliche Normalerwartung der verheirateten Frau und Mutter. Diese „geordneten Verhältnisse“
7.3 Kernstelleninterpretation
343
überträgt sie auch auf ihre Herkunft. Sie wächst bei Mutter und Vater auf, gemeinsam mit einer Schwester. Zu ihren Eltern sagt sie nichts, außer dass sie „sehr, (1) äh: (3) engagiert“ sind.1 Dabei zögert Karin Plüschke und hat Schwierigkeiten, ein passendes Wort zu finden. Das Engagement der Eltern erklärt Karin Plüschke mit einem sozialweltlichen historischen Kontrast. Die Eltern haben als Kriegskinder Entbehrungen erlebt und mussten sich wahrscheinlich in diesem Kontext auch mit Krankheiten und dem Tod auseinandersetzen. Im Kontrast dazu bezeichnet sich Karin Plüschke als „sehr behütet auf-gewachsen“. Die Eltern sorgen aktiv dafür, dass es den Mädchen an nichts mangelt. Vielleicht geht es bei der Wahl des Wortes „engagiert“ auch um die Erfüllung gesellschaftlicher Normen. Als Beispiel führt Karin Plüschke ein, dass sich ihre Mutter mit den Kindern bei kleinsten Beschwerden in ärztliche Behandlung begibt. Die ärztliche Behandlung ist durch die Eltern positiv besetzt, die Möglichkeit schulmedizinischer (kostenloser) Versorgung ist gegeben, gilt als moderne Errungenschaft und wird umfangreich in Anspruch genommen. Dabei scheint es weibliche Sorgeaufgabe zu sein, die Kinder zum Arzt zu bringen, worauf der Nachsatz verweist („Oder is Mutti mit uns zum Arzt gegang ne?“). Unklar ist, ob die Mädchen von Natur aus eine hohe Krankheitsdisposition aufweisen und vielleicht auch an vielen Kinderkrankheiten etc. leiden („durch diese ständigen“), oder ob es ausschließlich Zeichen von Unsicherheit, Systemanpassung und Überfürsorglichkeit der Eltern ist, sie zum Arzt zu bringen. Karin Plüschke konstruiert aus heutiger Sicht jedenfalls ein Zuviel. Am Ende evaluiert sie: „Und dat führte nach meiner Meinung nach dazu, dass meine Schwester und ich, st:ändig an Krankheiten, Krankheiten hatten“. Diese Deutung verweist auf die gesellschaftliche Konstruktion von Krankheit und Gesundheit. Der Arzt stellt eine Diagnose und legt damit fest, ob man gesund oder krank ist; die Patienten begeben sich vertrauensvoll (und passiv) in die Behandlung und folgen der ärztlichen Therapieanweisung. Dahinter steht ein paternalistisches Arzt-Patient-Verhältnis bzw. Versorgungskonzept. Eine zweite Dimension wird aber noch deutlicher in der nun folgenden Ausführung: Karin Plüschke hebt auf die Schwächung durch eine Überbehandlung ab. Es scheint mit reichlich Antibiotika therapiert zu werden und körperabwehrrelevante Organe wie Mandeln und Blinddarm werden entfernt. Karin Plüschke kündigt hier einen kollektiven Erleidensprozess der Frauen der Familie an, die
1 Im
Nachgespräch gibt Karin Plüschke die Berufe der Eltern mit Köchin und Kesselwärter an. Ihrer Herkunft nach kann sie nach Bourdieu den unteren Klassen zugeordnet werden. Die Arbeiterklasse erfährt zwar in der ehemaligen DDR eine Aufwertung. Diese ist jedoch nicht unproblematisch und zudem an die Verfügbarkeit politischen Kapitals gebunden (vgl. Abschn. 3.1.2).
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
im Tod von Mutter und Schwester enden. Die Kausalität medizinischer Überbehandlung mit dem vorzeitigen Tod fällt dabei auf. Sie wird aus heutiger Deutung hergestellt vor dem Hintergrund des Kontrasts schulmedizinischer und naturheilkundlicher Wissensbestände („wo ich jetz so im Nachhinein schon denke immer so“). Mit Kennenlernen der Familie ihres späteren Ehemannes kommt Karin Plüschke in Kontakt zu einem anderen alltagspraktischen Umgang mit Erkrankungen. Eröffnung eines Kontrastes E: … und als ich denn mein Mann kennenlernte in de Siebziger Jahre, da fiel mir denn auf mein Mann kommt vom Dorf (1) ne? wo er ja gar nich od- das möchte dat man sacht er kommt vom Dorf er war nämlich schon noch n Kilometer weg vom Dorf, wirklich als Einsiedler oder so ne? und da: wenn die irgendwat hatten oder so, die hatten irgendwelche Hausmittelchen. (20–24)
Als junge Frau lernt Karin Plüschke ihren Mann kennen und entfaltet zwei Gegensätze. Er kommt vom Dorf bzw. lebt noch einsamer auf dem Land. Die medizinische Versorgung steht also nicht selbstverständlich zur Verfügung. Die Familie geht anders mit Erkrankung und Gesundung um. Sie hilft sich selbst, wendet eigenverantwortlich Hausmittel an („wenn die irgendwat hatten oder so, die hatten irgendwelche Hausmittelchen“). Sie verfügt offenbar über alltagsweltlich tradierte naturheilkundliche Wissensbestände, die sie zugleich auch selbstverständlich anerkennt. Ungleiche gesundheitliche Verfassung und Kritik E: … wenn ich dat so verglichen habe so meine Schwester und ich, und mein Mann und seine Schwester oder so ne? himmelweiter Unterschied. I: Mhm
7.3 Kernstelleninterpretation
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E: Ne? und mein Mann hat immer gesagt: „Eh wat macht ihr denn hier?“ oder so ne? wo wir denn schon immer so ne- äh:: Latte hatten von Tabletten oder Operationen oder so, und er überhaupt nich. ne? einfach, dat spür- meine Schwägerin is zehn Jahre älter als ich, mein Mann is fünf Jahre älter als ich, und überhaupt kein Vergleich mit uns beide. und wir ham immer gekämpft, meine Schwester meine Mutter und wir ham imm:er gekämpft und immer gekämpft, dat führte denn, och dazu, dass äh, wir an Krebs erkrankten (2) und (1) ‚ja‘. (2) so. (50–60)
Karin Plüschke nimmt wahr, dass beide Familien einen deutlich unterschiedlichen Gesundheitszustand aufweisen. Sie vergleicht sich und ihre Schwester mit ihrem Ehemann und deren Schwester und muss feststellen, dass diese, obwohl einige Jahre älter, deutlich gesünder sind. Karin Plüschkes Ehemann reagiert auf die Medizinnähe der Frauen und deren Folgen mit Unverständnis und Kritik („Eh wat macht ihr denn hier?“). Karin Plüschke führt weiter aus, dass die Frauen ihrer Familie nach permanenter Auseinandersetzung mit Erkrankungsund Gesundungsprozessen an Krebs erkranken werden. Die Konstruktion des: „wir ham immer gekämpft, meine Schwester meine Mutter und wir“ verweist auf ein fast symbiotisches Verhältnis der drei Frauen und ihren kollektiven Erleidensprozess, den letztlich nur Karin Plüschke überleben wird. Die Pausen, das leise ‚ja‘ sowie den unausgesprochenen tragischen Ausgang des Kampfes am Ende der Passage zeigen Trauer und Entmächtigungserfahrung bei der Interviewten an. Karin Plüschke bewegt sich biographisch habitualisiert durch ihre Herkunft und den eigenen Beruf der Krankenschwester nah an der Schulmedizin. Ihr Ehemann fügt mit seinem erfahrungsbasierten und tradierten biographischen Wissen eine alternative Dimension hinzu. Dies führt zu einem ersten Autonomisierungsprozess bei Karin Plüschke im Zuge der Erkrankung ihrer kleinen gemeinsamen Tochter, wie die folgende Passage belegt.
7.3.2
Konflikte zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde
Schwere Erkrankung der Tochter – Zweifel, Autonomisierung und erfolgreiche Alternative
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
E: … so richtig dat et sowas andres noch gibt als die Schulmedizin, wurd ich- oder hellhörig wurd ich denn äh (1) 1980, ’79 is unsre Tochter geborn, und nach anderthalb Jah::ren, als Kleinkind hörte sie mit einmal auf zu essen und dat wat sie aß, erbrach sie. (1) das führte denn dazu dass sie denn äh, binnen kurzer Zeit viele äh, Pfund abgenommen hat, ne? und bei so nem anderthalbjährigen Kind is ja nich viel dranne. sie wurde denn stationär aufgenommen, wurde denn auch untersucht, und erst wurde gar nichts gefunden, denn- äh, ja. konnten wir se so mit Infusionen denn eigentlich so immer, peu à peu so am Leben halten in Anführungsstrichen ne, und denn sagte der Chef- der damalige Chefarzt denn zu mir, sie hat ne, äh Mageneingangsstenose. und das müsste operiert werden. sie soll nach A-Stadt. naja und da hab ick denn immer überlegt, anderthalb Jahre ne Mageneingangsstenose, det is doch angeborn entweder gleich oder gar nich. wie kann man mit anderthalb Jahre. also damit konnt ich mich gar nich anfreunden, ne? und denn (1) äh, und ick hab ja selber auch im Krankenhaus gearbeitet. zur damaligen Zeit. ick war OP-Schwester, und=äh, hatte den Abend auch Dienst als mein Mann mich denn anrief und hat gesagt: „Du ick hab wat gehört.“ oder so. ne? „Dat sag ich aber nich am Telefon“
7.3 Kernstelleninterpretation
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und er is denn auch in der Nacht denn auch hochgekomm und wir saßen denn da und, geweint und geweint sowieso ne? und denn äh, hab=ick das erste Mal davon wat gehört hier so vom Besprechen. I: Mhm E: So ne? und denn musst ick ja äh, beim Chefarzt denn unterschreiben und auf eigene, Faust, äh entlassen, dat Kind entlassen ne? wie kann ick denn so, verantwortungslos sein meinte er denn oder so detund da warn schon so diese Konflikte, det fand ich schon äh, heftig für mich damals als junge Mutter und Frau ne? na jedenfalls sind wir denn abends zum Besprechen gegangen, bei ner alten Frau und denn war ick- fand ick det schon erstaunlich was sie alles so wusste ne? und det geht det auch so in- den esoterischen Bereich, na jedenfalls hatte sie denn bei-besprochen, und denn hatten wir (1) ähm, so äh (1) aufbauende Ernährung so gemacht ne? und denn, funktionierte det. (1) und dat war so für mich: „Hm. wat erzählt der Eine, denn da? und es geht doch.“ (61–89)
Die junge Familie erlebt eine biographische Krisensituation, als die kleine Tochter mit anderthalb Jahren schwer erkrankt. Sie wird stationär aufgenommen. Die Ärzte finden trotz vieler Untersuchungen zunächst keine Ursache und halten das Kleinkind mit Infusionen mühsam am Leben. Der Chefarzt stellt dann die Diagnose einer Mageneingangsstenose – aufgrund welcher Befunde und Überlegungen, bleibt offen – und schlägt eine Operation vor. Dazu müsse das Kind in eine andere Stadt verlegt werden. Mit der Diagnose kann sich Karin Plüschke „gar nich anfreunden“. Ihr eigenes medizinisches Wissen („det is doch angeborn“) und ganz praktische Überlegungen („entweder gleich oder gar nich“) lassen sie zweifeln. Ihr Mann setzt handlungsaktiv an seine biographischen Erfahrungen an, hört sich um und erfährt von einer Frau, die ‚bespricht‘. Die Konstruktion, mit der Karin Plüschke dies entfaltet, zeigt, dass sich beide darüber im Klaren sind, wie heikel die Situation und ihr alternativer Plan der Wahl dieser, zumal im nichtöffentlichen Raum stattfindenden Behandlungsmethode, sind. Karin Plüschke selbst
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ist als OP-Schwester im Krankenhaus, in dem auch ihre Tochter versorgt wird, tätig. Während sie gerade Dienst hat, wird sie von ihrem Ehemann angerufen. Er informiert sie abstrakt über die Behandlungsalternative („Du ick hab wat gehört“) und zeigt zugleich an, dass er auf diesem Wege darüber nicht sprechen kann („Dat sag ich aber nich am Telefon“). Er fährt direkt in die Klinik, um die alternative Lösung zu besprechen. Die Eheleute befinden sich in einer kritischen Lage: Sie sind mitgenommen durch den lebensbedrohlichen Zustand der Tochter und müssen zugleich eine Entscheidung treffen („und wir saßen denn da und, geweint und geweint sowieso ne?“). Sie entscheiden sich für die Alternative. Dies ist verbunden mit der selbst verantworteten Entlassung gegen die Meinung des Chefarztes, der zudem weiß, dass Karin Plüschke in der Klinik arbeitet. Er setzt die junge Frau und Mutter unter Druck („wie kann ick denn so, verantwortungslos sein meinte er denn“), was sie als extrem schwierige Situation empfindet („det fand ich schon äh, heftig für mich damals als junge Mutter und Frau ne?“). Der Aushandlungsprozess verläuft nicht vorrangig auf einer professionellen Ebene, sondern auf einer Ebene der Machtdominanz einer männlichen Autorität gegenüber einer jungen Frau und Mutter. Karin Plüschke verweist hier zugleich darauf, dass sich hier ein biographischer Prozess anbahnt, der über die konkrete Situation hinausläuft und konflikthaft bleibt („und da warn schon so diese Konflikte“). Gleichwohl autonomisiert sie sich hier mit Unterstützung ihres Ehemannes. In ihrer autobiographischen Stegreiferzählung zeigt Karin Plüschke erstmals die Prozessstruktur des biographischen Handlungsschemas. Noch am Abend der Entlassung gehen sie zum ‚Besprechen‘. Der Nachsatz der „alten Frau“ verweist nochmals auf die informelle, unprofessionalisierte Therapiesituation. Karin Plüschke ist erstaunt darüber, was die Frau ihr alles erzählt, bleibt jedoch unkonkret und verweist auf „den esoterischen Bereich“. Die Behandlung ihrer Tochter kombiniert sie mit einer aufbauenden Ernährung – hier kann Karin Plüschke an ihrem berufspraktischen Wissen der Krankenschwester ansetzen. Zudem ist sie in ihrer Sorgearbeit als Mutter angesprochen. Das Kind wird gesund. Die Situation kann positiv aufgelöst werden. Was bleibt, sind der Zweifel sowie die Möglichkeit einer erfolgreichen Alternative zur Meinung der schulmedizinischen Autorität („und dat war so für mich: „Hm. wat erzählt der Eine, denn da? und es geht doch.““). Diese Situation markiert Karin Plüschke im Abstract als erste konkrete Erfahrung mit alternativem Behandeln („so richtig dat et so was’ andres noch gibt als die Schulmedizin, wurd ich- oder hellhörig wurd ich“).
7.3 Kernstelleninterpretation
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Karin Plüschke konstruiert in ihrer autobiographischen Stegreiferzählung weitere Konflikte mit der Schulmedizin in verschiedenen Kontexten. Sie erlebt sie als Entmächtigungs-, Entwertungs- und Ohnmachtserfahrungen. Dabei beschreibt Karin Plüschke zunächst den Leidensprozess ihrer Mutter anhand verschiedener Erkrankungen und Situationen bis zu ihrem Tod. Die Mutter wird zunächst nicht ernst genommen. Die Patientin nicht ernstnehmen E: … meine Mutter war äh, ständig krank, und die wurde immer so hingestellt, sag ich mal äh, sie hat sich ja nich krankschreiben lassen sie ging ja arbeiten immer, aber immer leidend. ne? so mit hohem Blutdruck, Gallensteine, und det war so ne kleene Pom-Pummeliche oder so, und, da äh, sachten die Ärzte och denn immer nachher so: „Die soll sich ma nich so ham die soll sich ma nich so ha:ben“ und immer ne? //mhm// und ick hatte immer dat Gefühl als wenn sie den Kopf unterm Arm trägt un=und keiner nimmt sie für voll. (1) I: Mhm E: So und denn äh (1) is se denn mal wirklich mal operiert wordn, Unterleibsgeschichte, bin ickich war war ja im, OP tätig, zum Spätdienst gekomm, denn hatte se auch so kindskopfgroßen, äh, Ovartumor. ne? und war vorher auch nicht erkannt worden. also damit, hat se sich jahrelang rumgeschleppt, wo ick denn auch denke, immer: „Dat geht ja alles gar nich, wat machen die denn immer“ (2) ne? (96–109)
Karin Plüschke führt in die Passage mit der Feststellung ein, dass ihre Mutter „ständig krank“ ist. Dies verweist noch einmal auf die Eingangspassage, in der Karin Plüschke das Behütetsein der Kinder mit der Nähe zur ärztlichen Behandlung belegt. Die Mutter scheint also mit ihrer ‚Krankheitsdisposition‘ ihre eigene
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
Bewältigungsstrategie ärztlicher Besuche auf die Kinder angewandt zu haben. Vom Typus beschreibt Karin Plüschke ihre Mutter als eine Frau, die sich nicht krankschreiben lässt, sondern noch „leidend“ zur Arbeit geht. Das ‚Kranksein‘ mag ihr als habituelle Orientierung und Praxis eingeschrieben sein. Sie erträgt es und trägt es nach außen, ist nicht handelnde Akteurin eines Aufklärungsprozesses um ihr ‚Leiden‘. Damit verharmlost sie es in gewisser Weise selbst. Dies wird belegt am Beispiel unkomplizierter und routinemäßig zu behandelnder Zivilisationskrankheiten – Übergewicht, Gallensteine und Bluthochdruck. Vor dem Hintergrund mag nicht erstaunen, dass der Hausarzt, der die Mutter langjährig kennt, vielleicht auch verschiedene Fachärzte, davon ausgehen, ihr Kranksein sei nichts Ernsthaftes. Karin Plüschke spürt jedoch intuitiv, dass etwas nicht stimmt und klagt an, dass die Mutter nicht ernstgenommen wird („und ick hatte immer dat Gefühl als wenn sie den Kopf unterm Arm trägt un=und keiner nimmt sie für voll“). Sie konstruiert die Mutter als Opfer, wenn sie danach weiter ausführt, dass sich im Nachhinein zeigt, wie stark ihr Leiden gewesen sein muss. Als OPSchwester hat sie unkompliziert Zugang zu den Krankenakten und OP-Berichten und so findet sie schnell heraus, dass ihre Mutter an einem „so kindskopfgroßen“ Ovarialtumor operiert wurde. Seine Größe plausibilisiert den jahrelangen Erleidensprozess der Mutter („also damit, hat se sich jahrelang rumgeschleppt“), auch wenn Karin Plüschke den Befund nicht in eine direkte Kausalität setzt, eher als eine Episode unter vielen („denn äh (1) is se denn mal wirklich mal operiert wordn, Unterleibsgeschichte“). Gleichwohl klagt sie das Medizinsystem, vertreten durch die Diagnostiker, still und moralisch konnotiert, an („wo ick denn auch denke, immer: „Dat geht ja alles gar nich, wat machen die denn immer““). Sie als OP-Schwester ist erst Teil des nachfolgenden Systems, der dann agiert, wenn eine operable Diagnose gefällt wird. Der Krankheitsprozess der Mutter führt dazu, dass sich Karin Plüschke mehr mit alternativen Konzepten von Erkrankung und Gesundung auseinandersetzt, um ihrer Mutter zu helfen. Dies zeigen die folgenden Passagen. Ursachenfindung – zwischen Richtungswechsel und Heilung durch Operation E: … und=äh in dem Zusammenhang, da hat ich mich aber schon so n bisschen, beschäftigt hier och so mit ähm (2) äh:m, na wie soll ick sagen (3) so Schwermetalle, oder Unver- oder äh Nahrungsmittelunverträglichkeiten und solche Sachen ne? //mhm// wo ich denn immer dachte: „Irgendwat hat sie“ immer: „Irgendwat hat sie.“ ne?
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na ja. und da war ja denn der Tumor, det Erste, und denn ham wir denn auch schon mal so äh, bisschen, Richtungswechsel beim Leben denn genommen. ne? und det war denn mit ihrer OP dat war ’92 (1) so denn, war ja alles wieder gut (109–115)
Angetrieben durch das ungeklärte Leiden der Mutter beginnt Karin Plüschke sich mit alternativen Krankheitsursachen und Folgen auseinanderzusetzen, z. B. mit umwelt- oder ernährungsbedingten Erkrankungen. Allerdings ist dieser Prozess noch unkonkret und unvollständig. Er führt zu einem ersten „bisschen, Richtungswechsel beim Leben“. Die Konstruktion verweist dabei auf kleine Veränderungen im Leben der Familie Plüschke, welche, bleiben unausgeführt. Für die Mutter selbst scheint mit der Operation die Heilung abgeschlossen zu sein. Auch Karin Plüschke belässt es erst einmal dabei, was ihre berufliche Identität als OP-Schwester bestätigt. Es muss eine Diagnose gefunden werden, dann gibt es eine Therapieidee und diese ist hier die Operation, die erfolgreich verläuft. Eine Änderung der Lebensweise wird hier noch nicht handlungsleitend. Zwei Jahre später erkrankt die Mutter erneut schwer. Mit hohem Fieber und grippeähnlicher Symptomatik wird sie nach vier Wochen ohne Besserung stationär aufgenommen. Diesmal setzt sich ein umfangreicher medizinischer diagnostischer Prozess in Gang, der jedoch keinen objektiven Befund erbringt. Die Mutter hat bereits ihr Haar und fast 30 Kilogramm Gewicht verloren. Nur die in ein paar Monaten anstehende Konfirmation ihrer Enkelin halten ihren Lebenswillen aufrecht. Trotz einer deutschlandweiten Fall-Korrespondenz können die Mediziner der Universitätsklinik keine Diagnose treffen. Auch hier zeigt sich wieder die zentrale Relevanz der Diagnose für das medizinische System („jedenfalls, war sie ohne Diagnose. ne?“, Zn. 136 f.). Die Ärzte behandeln symptomatisch (Bluttransfusionen) und entlassen die Erkrankte in lebensbedrohlichem Zustand („denn ham sie gesagt: „Na ja, wir könn nichts mehr für sie tun, sie kann nach Hause.““, Zn. 137 f.). Am Tag der Konfirmation, an der die Mutter nur gestützt von Tochter und Schwiegersohn teilnehmen kann, wird in der Kirche ein Heilpraktiker aus Bulgarien auf die Kranke aufmerksam und bietet Hilfe an. Im Hausbesuch diagnostiziert er bei der Mutter eine schwere Vergiftung, diese mit dem Reaktorunfall in Tschernobyl in Verbindung bringend, als er die Pflanzen vor dem Haus der Familie sieht. (Zn. 115–154) Der Heilpraktiker stellt einen umfangreichen Entgiftungs- und Aufbauplan auf, „n richtig Rundum-Plan so wo drei Leute, 24 Stunden mit zu tun hatten,
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Mutti zu entgiften“ (Zn. 155 f.). Die Mutter gesundet. Diese Situation markiert Karin Plüschke als Schlüsselerlebnis: „Und Mutti is wieder geworden. (1) dit war schon det Entscheidene äh äh (1) Erlebnis sag ich mal, dat war der Aha-Effekt“ (Zn. 160 f.). Die konkrete Therapie vermittelt einen Einblick in die Familiendynamik und Handlungspraxis von Karin Plüschke. Die Therapie als konkretes gemeinsames Handeln – Helfen entlang einer Versorgungslogik zwischen Pflege und Naturheilkunde E: … wat wir denn so alles mit Mutti gemacht ham, das ging über Farbtherapie (1) das geht, um Ernährung, äh Lehm, äh Farbtherapie also det ganze Zimmer ham wir grün ausgestaltet. denn ha:m wir det Bett hingestellt hier, Nord-Süd-Achse so, äh- ausgeräumt die Schlafstube, Mutti so hingestellt. denn ham wir Fußreflexzonenmassage gemacht, denn hab ich, ähm: Lehm, mit Lehm-Erde, sie ganz und gar eingepackt, mehrere Male am Tag, mein Schwager hat auf’m Bau gearbeitet, der hat, ((I: lacht)) Wasch-kistenweise, Lehm gebracht, unten aus- aus der Baugrube, immer um- ne? er stand im Keller und hat immer gerührt und wir ham Mutti mit Lehm eingepackt ne? und=äh Vadder denn bloß zu:gearbeitet, mein Schwager zugearbeitet, ich hatte mich krankschreiben lassen, vier Wochen lang ne? und denn ham wir äh, Lehm eingepackt, Lehm trinken musste sie, jeden Tach n Einlauf, Lehmeinlauf hat sie gekricht, also wir ham nur noch Lehm gesehn, die ganze Wohnung war alles- ne? bei dem, war ja auch denn egal,
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denn hatte sie ähm, zwei Mahlzeiten, denn ham wir n Entsafter gekauft, zwei Mahlzeiten, Gemüsesaft, und zwei Mahlzeiten Obstsaft. je 200 Milliliter, nich mehr I: Mhm E: Ne? die ganze Zeit nur, morgens, mittags, 200 Milliliter, Gemüse und denn nachher, 200 Milliliter Obst. denn, äh den Lehm:saft dazu, ‚Lehm getrunken‘, denn hatte sie die Propolistropfen, die gab es damals ja noch gar nich in Deutschland, die ham wir uns denn aus England besorgt, det warn auch so ne mysteriösen Sachen da /alles ((lacht)) dat wir ja an diese Tropfen rankommen so, (2) so. wat ham wir denn noch gemacht, (4) na je::denfalls äh (1) nach vier Wochen wurde det denn wirklich so: dass sie wieder stehen konnte, sieäh äh konnte ja gar nich mehr zur Toilette gehn. sie ging ja aufs Becken, denn ham wir sie denn langsam mobilisiert, denn rausgenommen aus Bett ne? denn äh, sie hatte ja auch dicke Haare, äh die hatte sie ja während der Krankheit verlorn, denn kam der Haarwuchs wieder, wir ham sie praktisch vollkommen entgiftet und sie wurde wieder, top. sie hat ihrn Haushalt gemacht, sie hat ihrn Garten gemacht, det war total schön. (166–192)
Mit einem Maximum an Aufwand wird die Mutter therapiert. Dabei verortet Karin Plüschke die Mutter als Patientin in einer passiven Rolle („wat wir denn so alles mit Mutti gemacht ham“), die die Therapie erträgt bzw. hinnimmt, was mit ihr gemacht wird. Zudem befindet sie sich zu der Zeit in einem Zustand körperlicher Schwäche, der Widerstand oder die Verwirklichung eines eigenen
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Handlungspotenzials kaum ermöglichen würde. Karin Plüschke ist die handlungsmächtige Akteurin, die sich krankschreiben lässt und den notwendig gewordenen umfassenden Therapieprozess anleitet, koordiniert und überwacht. Die männlichen Familienangehörigen, Ehemann und Schwiegersohn der Erkrankten, arbeiten ihr zu. Sie kann sich hier ganz praktisch naturheilkundliche Methoden aneignen und macht gute Erfahrungen damit. Dass es zu Hause wie auf einer Baustelle aussieht und sich alles nur noch um die Behandlung der Mutter dreht („also wir ham nur noch Lehm gesehn“), spielt dabei keine Rolle. Sie ist nahe an ihrer biographischen Habitualisierung – behütet werden, helfen und gemeinsam handeln. Die Logik des Umsorgens und Versorgens, des ‚Schritt für Schritt zurück ins Leben-Verhelfens‘ unter schwierigen Umständen und in aussichtslosen Situationen, entspricht zudem habituell und handlungspraktisch der traditionellen Pflege. Der Paternalismus spiegelt dabei auch ein gängiges Modell der ArztPatient-Interaktion, das Karin Plüschke hier reproduziert – gemäß der Logik einer Operationsschwester, die entlang standardisierter, erprobter Abläufe und Anweisungen der Operateure handelt. Verschiedene Methoden kommen kombiniert zum Einsatz – die Farbheiltherapie; Umstellung des Schlafplatzes; Entgiftung über Lehm in allen ‚Varianten‘ – als Packungen, Einläufe und Trinkkur; Entgiftung und aufbauende Ernährungstherapie über Obst- und Gemüsesäfte sowie Flüssigkeitsbalance. Hinzu kommt das antibiotisch wirkende Naturheilmittel Propolis, das die Familie auf ‚geheimnisvollen‘ Wegen nach Deutschland liefern lässt („so ne mysteriösen Sachen da /alles ((lacht)) dat wir ja an diese Tropfen rankommen so“). Letzteres verweist auf die ersten familiären Erfahrungen mit nicht-konventioneller Versorgung, hier am Beispiel der Lieferung einer Substanz aus dem Ausland und außerhalb des gängigen Apothekensystems. Nach vier Wochen beginnt sich der Zustand der Mutter zu bessern und sie kann langsam mobilisiert werden. Dabei zählt Karin Plüschke auch hier wieder wichtige Aspekte auf, die die Nähe zu ihrer beruflichen Habitualisierung zeigen: Das Wichtigste ist, dass die Patientin wieder selbstständig zur Toilette gehen kann. Schrittweise wird sie herangeführt, über das unterstützte Aufstehen. Dabei wird auch hier die Mutter als Patientin in der passiven Rolle konstruiert, die Pflegenden/Therapierenden in der aktiven, helfenden Rolle („denn rausgenommen aus Bett“). Dahinter liegt wieder das paternalistische Versorgungsverständnis, aber auch ein Hinweis auf den ertragenden, passiven Habitus der Mutter. Sie wird prozediert. Die ganze Hoffnung richtet sich auf den Therapieplan des Heilpraktikers, umgesetzt durch die Tochter. Das Vorhaben ist erfolgreich („wir ham sie praktisch vollkommen entgiftet und sie wurde wieder, top.“). Kennzeichen der Gesundung ist die Alltagspraxis, in die die Mutter zurückkehren kann („sie hat ihrn Haushalt
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gemacht, sie hat ihrn Garten gemacht“). Es gibt keinerlei Hinweise auf ein handlungsleitendes Ergebnis dieser schweren Erkrankung i. S. einer Änderung der Lebensweise, vielleicht sogar eines Wandlungsprozesses. Nach der Erkrankung geht das Leben weiter wie vorher. Auch Karin Plüschke scheint keinerlei Einfluss in eine lebensändernde Richtung der Mutter zu nehmen. Sie erfreut sich einfach am Ergebnis, dass die Mutter wieder Haushalt und Garten besorgen kann („det war total schön“). Gleichwohl verliert die Macht der Diagnose an Kraft im schulmedizinischen Krankheitsverständnis Karin Plüschkes, und sie wird handlungsautonomer: „aber äh (1) für mich war jetz auch so entscheidend dat man so aus, ohne Diagnose, so einfach so entgiften kann, ne?“ (Zn. 238 f.). Karin Plüschke konstruiert noch zwei ähnliche Situationen und tragische Erkrankungsprozesse, jeweils im Abstand von zwei Jahren. Das Medizinsystem, vertreten durch die behandelnden Ärzte, reagiert nicht oder verspätet; die Mutter kann nur durch das aktive Handeln der Familie unter handlungsmächtiger Leitung von Karin Plüschke gerettet werden. Bevor sich beim zweiten Mal die Hilfedynamik entfalten kann, verstirbt die Mutter („und eh wir die, da angefang ham oder so denn (1) war sie in der Nacht eingeschlafen.“, Zn. 233 f.). Letztendlich erlebt Karin Plüschke im Erleidensprozess ihrer Mutter, dass sie zwar helfen kann, dass diese aktive Hilfe umfassend, anstrengend und wiederholt gefragt sowie erfolgreich ist. Sie mündet jedoch nicht in einen aktiven Veränderungsprozess der Mutter, und die Mutter verstirbt vorzeitig. Die Familiendynamik kollektiven Krankheitserleidens setzt sich fort. Hinzu kommt jedoch noch eine andere Dimension notwendiger Aushandlung. „Spagat“ zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde E: (3) ja, aber um nochmal auf meine Schwester zurückzukommen, dat fand ick ja och so interessant, so det war ja so dieser Spagat so Schulmedizin und, äh, Naturheilkunde. dat, ne? warn so meine, ersten Schritte als Heilpraktiker (1) und da ham wir uns ja, Hilfe, ne? äh äh:: geholt, noch in C-Großstadt, bei Frank Seidel. Frank Seidel is von Haus aus Heilpraktiker, hat Medizin studiert, und arbeitet aber als Heilpraktiker. also ohne kassenärztliche Zulassung. als Heilpraktiker, hat Medizin studiert ne?
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
und der hat uns ja sehr geholfen ne? aber denn war immer so mein Schwager wo ick schon erzählt hatte ne?: „Kannst ja nich schlauer sein als wie hier der Doktor“ oder so ne? aber da war det war schon ersichtlich immer dat ihr dat richtig denn gutging immer. ne? von diesen Therapien diese (1) wat wir da alles so angestellt haben und dit (1) na ja ((atmet tief ein)) denn war auch der familiäre Druck denn, von dem Bruder, i-, der hat det denn festgelegt ne? „Erst wird gemacht wat der, Doktor sagt, die Schulmedizin, und wenn dasnicht hilft, denn könn wir das machen was er macht“ und dat is ja dat, det total Verkehrte, ne? aus meiner Sicht. ne? weil dat bring mal jetz n andern, sag ich mal, der überhaupt von Naturheilkunde, keine Ahnung hat, det bring mal so’m Menschen, rüber. (1157–1170)
Eine ähnliche Krankheitsverlaufskurve wie bei der Mutter erlebt Karin Plüschke mit ihrer Schwester, als bei dieser ein metastasierender Darmkrebs diagnostiziert wird. Auch hier begibt Karin Plüschke sich in eine umfassende und kräftezehrende Hilfedynamik („wat wir da alles so angestellt haben“2 ). Die Schwester profitiert von den naturheilkundlichen Behandlungen. Da Karin Plüschke erst am Anfang ihrer Tätigkeit als Heilpraktikerin steht, holt sie einen erfahrenen Heilpraktiker hinzu, der zudem über schulmedizinische Wissensbestände aus einem Medizinstudium verfügt. Trotzdem geht die Spannungslinie quer durch die Familie. Karin Plüschke muss sich mit dem Ehemann und Schwager der Schwester auseinandersetzen, die verlangen, die schulmedizinische Behandlung vor die alternativmedizinische zu stellen („Kannst ja nich schlauer sein als wie hier der Doktor“; „„Erst wird gemacht wat der, Doktor sagt, die Schulmedizin, und wenn dasnicht hilft, denn könn wir das machen was er macht““). Es erstaunt, dass sich die Frauen der „Festlegung“ der Männer unterordnen, insbesondere die erkrankte Schwester, deren Leben konkret bedroht ist. Dies mag bereits durch die Passivität der Mutter und die Medizinnähe der Eltern habitualisiert sein und wird vielleicht durch eine eigene Ehedynamik der Schwester getragen, die offensichtlich nicht auf die Unterstützung ihres Mannes bezüglich alternativer Heilverfahren zählen kann wie Karin Plüschke. Die Deutungshoheit der Medizin und der Druck 2 Plus
Kontextwissen aus dem Interview zu den angewandten Verfahren, Reisen, Klinikaufenthalten und Kosten.
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der Männer dominieren die Hilfeleistung, die Karin Plüschke mobilisiert. Sie selbst gibt der Naturheilkunde eine Vorrangstellung, legt sie jedoch an dieser Stelle nicht differenziert dar. Karin Plüschke führt das Dilemma darauf zurück, dass es ihr nicht gelingt, die Männer als naturheilkundliche Laien vom Potenzial der Naturheilkunde zu überzeugen. Sie gibt sich quasi die ‚Schuld‘ daran. An dieser Stelle zeigt sich deutlich die gesellschaftlich konstituierte und reproduzierte unvereinbar scheinende Spannungslinie zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde, die sich hier entlang der familiären Positionen zwischen den gesunden Männern und den erkrankten Frauen entfaltet. Im Zweifel wird gestorben, als sich in eine Gegenposition zu begeben. Erst wenn schulmedizinisch austherapiert ist, darf etwas anderes erprobt werden, was oft bedeutet, dass wertvolle Zeit verloren ist. Auch die eigenen biographischen Ressourcen einer Krankheitsbearbeitung oder Gesundung werden damit unterdrückt. Die Schwester ordnet sich dem familiären Druck unter und durchleidet mehrere Serien Chemotherapie. Nach der 27. Behandlung setzt sie sich gegen die Männer ihrer Familie durch und beendet die Chemotherapie. Danach werden noch einmal alle Kräfte und auch die verfügbaren finanziellen Mittel für eine umfangreiche naturheilkundliche Therapie mobilisiert. Nach einer Remission über mehrere Monate, in der die Tochter der Erkrankten heiratet, Karin Plüschke und ihre Schwester ihre runden Geburtstage feiern und einen „sehr schönen Sommer“ (Z. 1218) verleben, tritt der Krebs wieder hervor und die Erkrankte verstirbt nach kurzem schweren Leiden. Karin Plüschke weiß um die Spannungslinie sowie gegensätzlichen heilkundlichen Paradigmen. Diese Paradoxien kann sie jedoch nicht auflösen und argumentiert, dass sich an einer Stelle im Erkrankungsprozess zu entscheiden ist: „ick persönlich bin ja immer der Meinung, irgendwo, an irgendeinem Che- äh Punkt muss man sich ja denn ent- (2) entscheiden, entweder, nich bloß Schulmedizin Naturheilkunde, sondern hier, was will ich nu. mein Immunsystem stärken, oder, runterfahrn“ (Zn. 1239–1241). Dabei weiß Karin Plüschke auch, wie schwierig es ist, in der fortgeschrittenen Krebserkrankung als Helfende zu agieren. Sie empfindet den Druck der naturheilkundlichen Gegner als unerträglich und schätzt jede Hilfe als wichtig an im Erleidens- und Bewältigungsprozess einer fortgeschrittenen Krebserkrankung. Hierzu führt sie nicht zuletzt die Aufrechterhaltung der Hoffnung, die Verbesserung des Allgemeinzustandes und die Begleitung bis zum Tod an. Sie selbst wird nach dem Tod der Schwester auch als Hospizbegleiterin ehrenamtlich tätig, nicht zuletzt, um die eigene Trauer zu verarbeiten. Hier konstruiert sie keine Trennung: Die schulmedizinischen und naturheilkundlichen Therapien ergänzen sich, was
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sich nicht zuletzt am Hospizgedanken, den Karin Plüschke lebt, zeigt (Zn. 1213– 1231, 1245–1257). Zudem kann in dieser biographischen Phase die Medizin ihr Paradigma der Heilung aufgeben und gewünschte Alternativen der Patientinnen eher akzeptieren. Gleichwohl zeigt sich immer wieder in der autobiographischen Stegreiferzählung von Karin Plüschke, dass sie dem Druck der naturheilkundlichen Gegner kaum standhalten kann und sich dann zurückzieht. Diese Strategie, die auch eine implizite Kritik an ihrer biographischen Strategie der eigenen Krankheitsverarbeitung und Gesundung abwehrt, geht bis zur Selbstverleugnung. Eine besonders schwierige Dynamik erlebt sie in ihrem Kollegium, in der sie die medizinische Pflege im Rahmen des Therapieplans um Verfahren der Phytotherapie ergänzt, um das Wohlbefinden ihres Patienten zu verbessern, sein Leiden zu erleichtern. Selbstverleugnung E: So denn hab ick Tee gekocht ne? denn regen sich ja die Schwestern dadrüber auf. meine Kollegen oder so, wat der grüne Quatsch soll. denn hab ick gesagt: „Det is mein Tee. nu, bleibt mir mal schön ruhig sitzen“ /oder so ((lacht)) ne? also det is, also dat man so: da, gegen:schießt, is total schwer. I: Mhm E: Ne? und=äh:: sie wissen ja nich dat ick Heilpraktikerin bin (697–704)
Karin Plüschke kocht einen Tee für den Patienten, indem sie ‚echte‘ Kräuter aus seinem Garten aufkocht. Ihre Kolleginnen greifen sie an und führen ihr Vorgehen ins Absurde („wat der grüne Quatsch soll.“). Um der Diskussion aus dem Weg zu gehen, erwidert Karin Plüschke, dass sie den Tee für sich selbst gekocht hat, mit dem Hinweis sich nicht so aufzuregen. Ihre eigene emotionale Beteiligung zeigt sich darin, dass sie laut spricht, in wörtliche Rede übergeht, lacht. Ihre Evaluation zeigt, wie schwer ihr der Umgang mit den Gegnern, zumal aus dem Kollegium fällt. Niemand weiß um ihren Heilpraktikerabschluss. Es scheint keine vertrauensvolle Atmosphäre im Team zu geben. Karin Plüschke schützt sich mit einer Notlüge und dem Verstecken ihres formalen Abschlusses. Gleichzeitig zeigt sich in der Verleugnung ihrer formalen Berufserlaubnis der Heilkundeausübung
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zum einen die Konstruktion der kontroversen Nischenposition des Heilpraktikerberufes, zum anderen, dass die naturheilkundlichen Verfahren eine abzulehnende Ausnahmestellung im Verständnis der Pflege einnehmen und dass die hier tätigen Schwestern nicht über naturheilkundliche professionelle Wissensbestände verfügen. Hier besteht ein Weiterbildungsbedarf, insbesondere weil die Phytotherapie zu einem der am meisten erforschten Zweige komplementärer und alternativer Medizin gehört. Aber es steckt noch mehr dahinter, wie die folgende Passage aus der immanenten Nachfragephase belegt, in der es um die Einstellung zur Naturheilkunde und Karin Plüschkes Umgang mit der Förderung von Veränderungen der Haltung zur eigenen Gesundheit bei ihren Patientinnen geht. Offene Ablehnung im Kollegium; eigene Entmächtigung E: Det is total schwer, ja bei, für mich is et total schwer auch so, ick muss mich auch oft rausziehn so aus bestimmten Diskussionen oder so, weil man auch so angegriffen wird. (3) es- ne? ick hab von meiner einen Kollegin n ganz bösen Brief gekricht (1) I: Mhm E: Ne? weiß ich nich, über WhatsApp ham die andern das auch alle bekommen oder so ne? des ’s schon heftig. (2) I: °Worum ging’s da?° E: Na um=äh: (1) Phytotherapie. bei unserm Patienten. (1) ne? (2) aber gut, äh ick sag mir, det is ihr Problem eigentlich weil sie sich, aus meiner Sicht, weil sie überlastet is oder so ne? //mhm// und wenn er denn sag ick mal Stuhlgang hat, weil äh, ick ihm denn, Walnussblättertee gegeben hab oder so ne? ja, hm, is nun dumm gelaufen, sonst ick nehm es schon immer mit, dat sie gar nich die Abfälle, sieht. sonst kriecht sie in Mülleimer schon hinterher. (1) ne? das is richtig- also aus meiner Sicht is dat schon schlimm. I: Mhm … E: ((trinkt einen Schluck)) Als nur, als nur ein Beispiel ne? und, na man könnte ja auch, mit Salbeitee-
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er kricht ja jeden Tag Kräutertee ne? warum kricht er nur äh sag ick mal äh:: einfachen Kräutertee oder Früchtetee oder denn könnten wir doch Salbeitee nehmen denn, könnte er ja mit‘m Blutzucker runterkommen (1) I: Mhm E: Ne? (2) na ja und denn äh, darf ick mich denn da auch nich so weit rauslehnen, denn denk ich immer: „Oh Gott nich dat noch eener, der Meinung is dat ick noch denk, ALS könnte man denn so heilen.“ oder so. nee ick sag immer: „Wenn die dat nich wolln lass se“ (1) (845–887)
Im Abstract führt sie ein, wie schwer es ihr fällt, sich auf Diskussionen einzulassen und ihre Meinung offen zu vertreten. Sie zeigt an, dass sie auf offenen Widerstand stößt, der über einen sachlichen Meinungsaustausch hinausgeht („weil man auch so angegriffen wird.“). Hierzu führt sie beispielhaft einen „bösen Brief“ von einer Kollegin an, die zudem in den sozialen Medien ihre Meinung an das gesamte Kollegium verbreitet. Die Grenze zum ‚Mobbing‘ ist damit überschritten. Die Diskussion ist am Thema Karin Plüschkes phytotherapeutischen Zugangs zum Patienten entbrannt, der den regulären Pflegealltag stört. Der Patient bekommt täglich Kräutertee in praktischer Beutelform, den Karin Plüschke nun jedoch in Form spezifischer, nach Befundlage zusammengestellter Kräuter verabreicht. Karin Plüschke verbindet hier ihre naturheilkundlichen Wissensbestände mit der pflegerischen Tätigkeit, ohne die ärztliche Verordnung oder die Alltagspraxis der Familie, Kräutertee zu trinken, infrage zu stellen. Sie wendet diese Praxis nun befundorientiert und Phytotherapie-basiert an. Der Patient leidet unter Obstipation, sodass sie einen abführenden Tee verabreicht, der zum Stuhlgang führt. Dies macht auch aus medizinischer und pflegerischer Sicht durchaus Sinn und verweist auf einen handlungskompetenten Umgang mit Befundlage und beruflichen Wissensbeständen. Aus pflegepraktischer Sicht führt dies jedoch zu einem Problem – es fällt mehr Arbeit an, wenn der Patient über das gewöhnliche Maß Stuhlgang bekommt, zumal verursacht durch das Handeln der eigenen (ungeliebten) Kollegin („und wenn er denn sag ick mal Stuhlgang hat, weil äh, ick ihm denn, Walnussblättertee gegeben hab oder so ne?“). Karin Plüschke sieht den eigentlichen Grund für den offenen Widerstand der Kollegin in deren Überlastung. Sie nimmt sie damit in gewisser Weise in Schutz, relativiert die offene Ablehnung ihr gegenüber („aber gut, äh ick sag mir, det is ihr Problem eigentlich weil sie sich, aus meiner Sicht,
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weil sie überlastet is“). Ihre Handlungsstrategie der Erfüllung eigener beruflicher Identifikation zwischen naturheilkundlichen und schulmedizinischen Wissensbeständen, ihrem berufsethischen Anspruch, aber auch der Erfüllung alltäglicher Anforderungen ohne offene Konflikte besteht darin, durch ein Mehr an Aufwand Anwendung (Tee) und Wirkung (Stuhlgang) möglichst in der eigenen Betreuungszeit zu koordinieren und zudem keine ‚Spuren‘ zu hinterlassen („sonst ick nehm es schon immer mit, dat sie gar nich die Abfälle, sieht“). Dass sie unter permanenter Beobachtung der Kollegin steht („sonst kriecht sie in Mülleimer schon hinterher.“) und die körperlichen Reaktionen ihres Patienten nicht immer genau getaktet werden können („ja, hm, is nun dumm gelaufen“), vermittelt den alltäglichen zusätzlichen Druck auf ihre berufliche Praxis als Krankenschwester. Karin Plüschke leidet darunter, und stellt an dieser Stelle auch das Handeln der Kollegin psychisch infrage („das is richtig- also aus meiner Sicht is dat schon schlimm“). Dabei hat Karin Plüschke über die alltägliche Berufspraxis hinaus über ihren Patienten nachgedacht und, naturheilkundlich fundiert, eine Idee, wie sein Leiden durch phytotherapeutische Anwendungen gelindert werden kann. Sie bewegt sich auch hierbei im Dilemma zwischen naturheilkundlichen alternativen und schulmedizinischen Paradigmen, wenn sie einerseits entfaltet, den Blutdruck mit Tee zu senken, andererseits markiert, dass sie nicht in Verruf kommen möchte, nicht über die schulmedizinische Prognose der ALS Bescheid zu wissen. Sie wird sich nicht „so weit rauslehnen“, und zudem niemanden ihre naturheilkundliche Sicht aufzwingen, wie sie am Ende der Passage übergreifend ihre Strategie markiert („nee ick sag immer: „Wenn die dat nich wolln lass se““). Dabei klingt mit, dass sie es aufgegeben hat, um ein (naturheilkundliches) Verständnis oder, darüber hinaus, die Deutungshoheit in ihrer täglichen Berufspraxis zu kämpfen. Karin Plüschkes Selbstverleugnung zwischen Notlüge und Vermeidung der Thematisierung des Berufsabschlusses als Heilpraktikerin erschwert die Situation. Die Dominanz der Schulmedizin über die Naturheilkunde sowie die Deutungshoheit der Medizin über die nicht-ärztliche Heilkunde lassen die tägliche Arbeit für Karin Plüschke zu einer biographischen Gratwanderung werden. Diese Paradoxien und Antinomien ihrer Beruflichkeit kann sie persönlich nicht auflösen. Sie versucht, die Paradigmen strikt zu trennen, kann dies jedoch aus berufsethischen Gründen nicht aufrechterhalten. Sie erträgt unreflektiert das Dilemma, das sich zudem auf Dauer negativ auf ihren eigenen Gesundheitszustand auswirken mag, aus ökonomischen Gründen (wie sich an anderen Stellen des Interviews zeigt) und hat sich im stillen Leiden und Hinnehmen, der Verleugnung und Kompensation durch Mehrarbeit eingerichtet.
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Wir erfahren nichts Genaues über die Hierarchien im Team. Anzunehmen ist, dass sie und die kontroverse Kollegin auf gleicher Ebene stehen. Würde die Kollegin hierarchisch höher stehen, könnte sie z. B. auf Basis einer Dienstanweisung das Handeln von Karin Plüschke unterbinden. Würde Karin Plüschke hierarchisch höher angesiedelt sein, gälte im Gegenzug das Gleiche. Zudem könnte das offene Vertreten der Heilkundeerlaubnis ihr mehr Handlungsautonomie geben. So könnte sie im Team die Wirkungen von Kräutern besprechen, sogar über interne Fortbildungen, und eine pflegepraktische ‚Verordnung‘ über den täglichen Tee zusammenstellen. Zudem könnte sie gegenüber der Ehefrau des Patienten, mit der sie im täglichen Umgang gut auskommt, die jedoch die Naturheilkunde als „Geldschneiderei“ (Z. 662) ansieht, eine größere Beratungskompetenz zeigen, sieht sie doch die benötigten Kräuter im Garten der Familie wachsen (Zn. 681–689). Dies wäre auch förderlich i. S. einer partizipativen Entscheidungsfindung als moderner Form der Therapeut-Patient-Interaktion, insbesondere, weil der Patient selbst nicht mehr sprechen kann (Z. 679). Wie kommt es nun zur Ausbildung dieser zurücknehmenden, erleidenden Haltung – neben der Habitualisierung durch die Mutter? Die folgenden Passagen zeigen berufsbiographische Stationen Karin Plüschkes auf ihrem Weg zur Heilpraktikerin.
7.3.3
Berufsbiographie – Zwischen strukturellen Grenzen die Chancen ausloten und die biographische Identität entwickeln
Auf Umwegen dem biographischen Plan folgen, Hebamme zu werden E: … ick wollt immer als Kind, als Klein- Hebamme werden, und denn war das, bin ich, ’74 aus der: Schule gekommen, 1974, und da ähm, wurden keine Hebammen ausgebildet da ähm:::, hieß es denn man muss denn, Kinderkrankenschwester oder Krankenschwester lernen, und denn inner, Weiterbildung, Hebamme werden. (1) und, mein Vadder kannte den von der Lehrausbildung, sehr gut, und denn sollt ich da, ersten September anfangen, mein Vadder hatte, Lehrvertrag unterschrieben, als Kinderkrankenschwester.
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bietet sich an als Hebamme. Hab ick gesagt: „Na wenn ick mir dat aussuchen kann, denn möcht ick lieber Krankenschwester werden. Da hab ick mehr wat vom Leben“, det is allgemein ne? och Kinder, kleine Kinder pieksen nee. nee, Krankenschwester möcht ick werden. so. denn hab ick drei Jahre, Fachschulausbildung gemacht (1) äh:: damals waren noch, Abschluss als Diplomkrankenschwester, in O-Stadt, Fachschule war da, denn ’77 fertig geworden, und denn hieß et mit einmal: „Hier, Hebamme is jetz Direktausbildung, wir nehm keine Krankenschwestern mehr.“ (1054–1066)
Karin Plüschkes biographischer Plan ist es, Hebamme zu werden. Als sie Anfang der 1970er Jahre aus der Schule kommt, muss sie sich zunächst zur Krankenschwester oder Kinderkrankenschwester ausbilden lassen und kann erst dann in einer Weiterbildung Hebamme werden. Warum sie Hebamme werden möchte, legt sie nicht dar. Ihr Vater kennt den Plan der Tochter, legt ihn als berufliche Nähe zu Kindern aus und organisiert für seine Tochter die Lehre zur Kinderkrankenschwester. Karin Plüschke interveniert und entscheidet sich, zwar auf Basis dieser institutionellen Prozedierung, dennoch handlungsschematisch für den Beruf der Krankenschwester, da dieser für sie umfassender ist („Na wenn ick mir dat aussuchen kann, denn möcht ick lieber Krankenschwester werden. Da hab ick mehr wat vom Leben“). Zudem kann sie sich nicht vorstellen, bei kleinen Kindern invasiv tätig zu werden, ihnen wehzutun („kleine Kinder pieksen nee“). Nachdem sie die dreijährige fachschulische Ausbildung mit dem Diplom erfolgreich abschließt, haben sich die Rahmenbedingungen zur Berufsausbildung geändert. Hebammen werden nun nicht mehr in der Weiterbildung, sondern ausschließlich direkt ausgebildet. Krankenschwestern werden nicht mehr angenommen. Das biographische Handlungsschema wird also durch strukturelle Grenzen gebrochen. Ein Jahr später ergibt sich noch einmal die Chance für Karin Plüschke, Hebamme zu werden. Diesmal lehnt sie handlungsschematisch ab, weil sie mittlerweile die Vorzüge ihrer Tätigkeit im Operationssaal (OP) über die beruflichen Möglichkeiten einer Hebamme stellt. Erfüllte Tätigkeit im Operationssaal – Aufgabe des Plans, Hebamme zu werden E: … im OP, sind denn äh, drei Schwestern mit einmal äh, weggegangen,
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und so, dat ick als Schülerin schon in OP reinkonnte, und da hatt ick unwahrscheinlich Selbstbewusstsein, denn durft ick schon als Schülerin ne Galle instru:mentiern und, und=äh, bin denn mit einmal an alles rangekommen oder so ne? weil ick denn och die Erste von dem Lehrjahr war, nach mir kamen denn noch Zwei noch nach oder so ne? und hab denn nachher schon, große Bereitschaft mitgemacht, war ja, is ja auch ne Hierarchie denn im OP ne? wat man denn alles, machen darf, Traumatologie, hat mir total Spaß, gemacht, hab ick gerne, gemacht, und denn äh: mussten ja denn zum Kaiserschnitt runter, Gyn ham wir ja alles mitgemacht ne? //mhm// und denn hatt ick ja die Entbindungen, dat wat ick ja immer wollte ne? und denn hat mir der Gyn-Chef hat ja denn nachher gesagt, och so bei der Gyn-OP, sagt er: „Mensch“ sagt er: „Karin wolltest du nich, Hebamme werden? jetz bilden sie wieder Krankenschwestern als Hebamme, kannste, wer- äh:: soll ick n Antrag schreiben? ick befürworte dat und denn kannste.“ dat war denn dat Jahr dadrauf ne? nachdem ick ein Jahr schon im OP gearbeitet hab, „Kannst denn Hebamme werden“ ne? ick hab gesagt: „Na wenn ick mir dat überlegen kann, nö denn bleib ick jetz im OP.“ da hat man ja als Schüler sag ick mal gar kein, ähm:: Bewusstsein für wat eigentlich, det bedeutet, OP-Schwester. ne? //mhm// dat hab ick ja erst mitgekricht als ich denn oben dat Jahr tätig war. „Ach“ dachte ich: „Nee, det gefällt mir ja viel schöner, äh, viel besser.“ äh:: im Kreissaal, wenn du, da zu ner Entbindung gekommen bist, denn wurde ja gleich der Doktor geholt ne? und im, OP da hatt ick ja meine Freiheiten. da hat ick ja meine Instrumente, det war, allein gipsen oder so nee, dat war schon schön da I: Mhm
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E: Ne? (1) und da hatte sich dat mit der H- mit der Hebamme hatt- det hatte sich denn erledigt. (1071–1093)
Durch einen Fachkräftemangel im OP werden bereits die Schwesternschülerinnen in die dortige Tätigkeit eingebunden. Dies scheint regulär nicht vorgesehen zu sein und ist zudem mit einer Ausnahmestellung verbunden („und da hatt ick unwahrscheinlich Selbstbewusstsein“). Karin Plüschke darf besondere Tätigkeiten ausführen („denn durft ick schon als Schülerin ne Galle instru:mentiern“). Da sie die Erste ist, die die fehlenden Fachkräfte ersetzt, wird sie umfassend eingebunden („und=äh, bin denn mit einmal an alles rangekommen“). Sie empfindet ihre fortschreitende Erfahrung als Aufstieg in der Hierarchie des Operationssaals („und hab denn nachher schon, große Bereitschaft mitgemacht“). Ihr gefällt die Traumatologie. Zudem kommt sie im Rahmen der Gynäkologie auch zu Kaiserschnitt-Operationen und hat damit Kontakt mit Entbindungen. Hier evaluiert Karin Plüschke, dass sich damit ihre biographische Motivation des Hebammenberufes erfüllt hat („und denn hatt ick ja die Entbindungen, dat wat ick ja immer wollte ne?“). Nach einem Jahr OP-Tätigkeit als Krankenschwester rückt die biographische Perspektive des Hebammenberufs noch einmal konkret in den Fokus. Der Chef der Gynäkologie bietet ihr bei einer Operation aktiv an, sie zur Hebammenausbildung zu delegieren. Er wusste um ihren ursprünglichen Berufswunsch und hatte es im Gedächtnis behalten. Nun gibt es die Zugangsmöglichkeit als Krankenschwester wieder, unter der Bedingung aktiver Befürwortung. Dies verweist auf einen sozialen Austausch über die beruflichen Hierarchien hinweg und eine kollegial unterstützende Atmosphäre im OP-Kollegium. Karin Plüschke lotet die beiden Berufe gegeneinander aus. Sie entscheidet sich handlungsschematisch dafür, im OP zu bleiben („ick hab gesagt: „Na wenn ick mir dat überlegen kann, nö denn bleib ick jetz im OP.““). Karin Plüschke markiert hier auch eine persönliche Entwicklung ihrer Einstellung als Schülerin zu ihrer jetzigen bezüglich des Berufes der OP-Schwester („da hat man ja als Schüler sag ick mal gar kein, ähm:: Bewusstsein für wat eigentlich, det bedeutet, OP-Schwester. […] dat hab ick ja erst mitgekricht als ich denn oben dat Jahr tätig war“). Sie reflektiert aus ihrer damaligen Perspektive eine größere berufliche Freiheit („im, OP da hatt ick ja meine Freiheiten. da hat ick ja meine Instrumente, det war, allein gipsen“) gegenüber einer Hebamme, die nur mit dem Arzt gemeinsam tätig werden kann („im Kreissaal, wenn du, da zu ner Entbindung gekommen bist, denn wurde ja gleich der Doktor geholt ne?“). Hierzu ist anzumerken, dass Karin Plüschke vom eingeschränkten Blick einer OP-Schwester reflektiert, die im Kontext eines Notfalls oder anstehenden Operation hinzugezogen wird, die der Arzt regelhaft leitet. Dass
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die Hebammen in der täglichen Berufspraxis auch eigenständig Entbindungen begleiten, nimmt sie nicht in den Fokus. Ihre berufliche Praxis zu jener Zeit gefällt Karin Plüschke („dat war schon schön da“), sodass sie den biographischen Plan, Hebamme zu werden, endgültig aufgibt („mit der Hebamme hatt- det hatte sich denn erledigt“). Auch eine weitere berufliche Perspektive, die ihr zudem die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs ermöglicht hätte, verfolgt sie nicht. Perspektive des Medizinstudiums – die nebenberufliche Weiterentwicklung priorisieren E: … ne Ausbildung gemacht, äh::: ja als OP-Schwester in A-Stadt, (1) °dat war, 1980, ’81°, war unsere Tochter gerade klein (2) ick hätte ja damals auch zum Medizinstudium gehen können, weil, ohne Abitur, weil äh:, immer die Besten des Jahrgangs die ham denn immer, äh, Zuschlag gekriegt für n Medizinstudium in D-Großstadt. ne? und die nach mir die sind denn auch gegangen, aber da war ick denn nachher mit einmal, schwanger. ((lacht)) denn kam erst die Familiengründung da hinzu und denn ham, und denn, ja, war ick immer so n bisschen ehrgeizig und hab dann Abitur noch gemacht hier, in der Abendschule noch drei Jahre, mit kleinem Kind, da war ick ja noch ganz beflissen, als dat denn fertig war, da hab ick OP-Schwesternschule gemacht (1) und, ja da war ick eigentlich, immer zufrieden. und wir ham ja hier sag ick mal als OP-Schwester genauso viel Geld verdient wie die jungen Ärzte. also finanziell und so, det hat, hat sich gar nich gelohnt. I: Mhm
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E: (2) Hat sich gar nich gelohnt und, ne? und denn müsst ick- hätt ick ja aufhörn müssen zu arbeiten, zum Studium gehn oder so, denn hätt ick ja denn, kein Geld verdient. (1094–1108)
Karin Plüschke bildet sich neben ihrer beruflichen Tätigkeit als Krankenschwester formal zur OP-Schwester weiter. Sie ist mittlerweile Mutter einer kleinen Tochter. Die Familiengründung verhindert in ihrer autobiographischen Konstruktion, dass sie sich für ein Medizinstudium entscheidet. Jener Sonderzugang steht ihr offen aufgrund ihrer Leistung, die Ausbildung als Jahrgangsbeste abgeschlossen zu haben. Absolventinnen nach ihr nehmen diese Option wahr („weil äh:, immer die Besten des Jahrgangs die ham denn immer, äh, Zuschlag gekriegt für n Medizinstudium in D-Großstadt. ne? und die nach mir die sind denn auch gegangen“). Es wird gewissermaßen auch erwartet, diese Möglichkeit zu nutzen, worauf die besondere Betonung des „auch gegangen“ verweist. Karin Plüschke wählt jedoch einen alternativen Weg der beruflichen Entwicklung, nachdem sie unerwartet schwanger geworden ist. Auf die Chance des sozialen Aufstiegs verzichtet sie, zumal das Bildungs- und Aufstiegsbestreben habituell – folgt man Bourdieu – nicht unbedingt angelegt ist. Neben ihrer regulären Arbeitszeit und dem Muttersein holt sie trotzdem zunächst an der Abendschule in drei Jahren das Abitur nach. Die Konstruktion des „immer so n bisschen ehrgeizig“ zeigt ihre biographische Bewegung zwischen Anstrengung und Relativierung. Dass das Abschließen des Abiturs keine leichte Zeit gewesen sein mag, belegt ihre Betonung, dass sie die Abendschule „mit kleinem Kind“ absolviert. Dies geht nicht, ohne „beflissen“ zu sein. Dass sie fleißig ist und erwartete Inhalte erfolgreich aneignet, zeigt bereits ihr Abschluss als Jahrgangsbeste der Schwesternausbildung. Zudem zeigt sich hier, dass Karin Plüschke eine berufliche Weiterentwicklung selbstständig organisieren und über mehrere Jahre handlungsschematisch verfolgen kann, eine Kompetenz, die sie für die spätere Aneignung des Heilpraktikerberufes benötigt. Warum sie gerade das Abitur nachholt, wenn sie gar nicht studieren möchte, bleibt unklar. Vielleicht versucht sie sich den nun verschlossenen Zugang zum Medizinstudium ohne Abitur noch offenzuhalten. Dieser biographische Impuls findet keine Weiterführung, vielleicht zeigt sich hier ein Stück ungelebtes Leben (von Weizsäcker), zumal sie relativierend evaluiert: „und, ja da war ick eigentlich, immer zufrieden“. Letzteres verweist aber vielmehr auch auf ihren Habitus, sich an den Notwendigkeiten zu orientieren. Der Geschmack richtet sich am Möglichen aus, wie Bourdieu für die unteren Klassen definiert hat. Er ist eng mit den wenigen ökonomischen Ressourcen verbunden. Dass ökonomische Gründe dominieren, dass Karin Plüschke die
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Kombination von Arbeit und Weiterentwicklung priorisiert und sich zudem gegen das Medizinstudium (und vielleicht auch jedes andere Studium) entscheidet, zeigt die Konstruktion um die „jungen Ärzte“, die finanziell mit den OP-Schwestern gleich stehen („und wir ham ja hier sag ick mal als OP-Schwester genauso viel Geld verdient wie die jungen Ärzte. also finanziell und so, det hat, hat sich gar nich gelohnt. […] und denn hätt ick ja aufhörn müssen zu arbeiten, zum Studium gehn oder so, denn hätt ick ja denn, kein Geld verdient“). Ökonomische Erwägungen – studienbedingter Einkommensverlust ohne Chance auf zeitnahe finanzielle Besserstellung – verhindern einen biographischen Aufstiegsprozess. Sie ermöglichen jedoch gleichzeitig eine persönliche Entwicklung innerhalb bestehender Strukturen. Die biographische Habitualisierung mütterlicher Sorgeverantwortung (Gender) mag hinzugekommen sein, wird jedoch hier nicht über die Notwendigkeit der Einkommenssicherung und die selbstverständliche Beruflichkeit von Frauen zu DDR-Zeiten gestellt. Dass die Ökonomie immer wieder zentrales biographisches Thema Karin Plüschkes ist, zeigt sich an verschiedenen Stellen der autobiographischen Stegreiferzählung – als Verhinderung persönlicher Entwicklung, Stagnation in ungeliebten beruflichen Zwängen aus Angst, die Heilpraktikertätigkeit in Vollzeit nicht finanzieren zu können, sowie im Unverständnis, dass Patienten aus ökonomischen Gründen sich bei schwersten und aussichtslosen Erkrankungen der Schulmedizin unterordnen, ohne sich alternative Therapien beim Heilpraktiker oder der Heilpraktikerin zu erschließen. Zur Dimension der persönlichen Unterordnung unter ökonomische Zwänge kommt eine gesellschaftliche Dimension hinzu. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens im Zuge des gesellschaftlichen Transformationsprozesse führt dazu, dass Karin Plüschke mit einer schmerzlichen Entwertungserfahrung umgehen muss, die sie in einen erneuten Konflikt um ihre berufliche Identität innerhalb der Schulmedizin bringt. Die Passage dazu schließt daran an, als Karin Plüschke ihre erste eigene praktische Erfahrung mit der alternativen Therapie bei der Mutter konstruiert, die erfolgreich verläuft, ohne an eine schulmedizinische Diagnose gebunden zu sein. Es folgen mehrere dargelegte Situationen von Systemversagen um die fehlende Diagnose herum sowie, darauf aufbauend, eine fehlende schulmedizinische Therapieidee. Nun kommt eine neue Dimension hinzu – die Ökonomie des Gesundheitssystems, die praktisches Berufswissen und biographische Identitäten entwertet. Entwertung biographischer Identität nach der „Wende“
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E: … eigentlich fühl ich mich ja auch so äh: (2) nich gut, äh, behandelt sag ich mal auch in der Schulmedizin. ich selber war 25 Jahre im OP, OP-Schwester, hier im Krankenhaus, möcht ich auch mal dazu sagen, und=äh: ick hab det sehr gerne gemacht, hat mir total viel Spaß gemacht, aber mit der Wende, war dat ja ebend zunehmend auch so, dieser ökonomische Dru- der Zwang oder ne? d=Krankenhaus wird ja nich mehr geleitet vom ärztlichen Direktor, es geht ja nich mehr um Pflege oder Medizin es wird ja- geht ja nur noch um=t Geld. I: Mhm E: Ne? und det hat mich irgendwie so n bisschen aus der Bahn ge:äh:worfen, wo ich immer denke: „Hä? (1) wir ham hier die Orthopädie damals aufgebaut hier mit den ersten, Hüftgelenken, erste Kniegelenke, warn viel zur Weiterbildung und so ne?“ und det äh, also det Technische und die Arbeit selber hat mir Spaß gemacht, aber denn ging dat los. der Doktor muss mindestens 50 Kniee im Jahr operiern ne? sonst raus. so. und wenn ick denn gesehn hab, immer wat die an den Knieen hatten, denn hab ich immer gedacht: „Äh lassen die sich die Kniee operieren oder so? warum denn.“ (241–256)
Karin Plüschke führt in die Passage damit ein, dass sie sich selbst „ja auch so äh: (2) nich gut, äh, behandelt [fühlt] sag ich mal auch in der Schulmedizin.“ Die ‚andere‘ Perspektive der Behandlung, um die es hier gehen soll und um die Karin Plüschke hier ringt, kündigt sich an mit dem „in der Schulmedizin“ (vs. behandelt von der Schulmedizin), aber auch davor mit „eigentlich“ und „auch so“. Wie Karin Plüschke gleich ausführlicher argumentativ darlegt, geht es um biographische Entwertungserfahrungen, die sie auf einer gesamtgesellschaftlichen Systemebene erlebt, und die in dem Zusammenhang durch ökonomische Zwänge in ihrem beruflichen Umfeld manifestiert werden. Sie markiert, dass sie über eine
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
25-jährige Berufserfahrung als OP-Schwester verfügt, zumal im gleichen Krankenhaus. Die Arbeit dort füllt Karin Plüschke aus, wie sie zweimal betont, jedoch mit einem Vergangenheitsbezug, der etwas Neues ankündigt („und=äh: ick hab det sehr gerne gemacht, hat mir total viel Spaß gemacht“). Diese Situation ändert sich mit der „Wende“. Die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die das ostdeutsche Gesundheitssystem abrupt und umfassend überformt, trifft sie persönlich hart. Sie markiert eine Verlaufskurve, wenn sie sagt: „und det hat mich irgendwie so n bisschen aus der Bahn ge:äh:worfen“. Nicht mehr Mediziner haben alleinige Leitungsverantwortung, sondern Manager treten hinzu. Dies entfaltet sie als unvereinbaren Gegensatz von Fachlichkeit – wobei sie hier Pflege und Medizin explizit getrennt aufführt – und Ökonomie („es geht ja nich mehr um Pflege oder Medizin es wird ja- geht ja nur noch um=t Geld.“). Sie verliert das Gefühl für die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit, wie die folgenden Ausführungen bestätigen. Das Team, dem Karin Plüschke angehört und mit dem sie sich identifiziert („wir“), hat von Anfang an die orthopädische Abteilung mitbestimmt, deren Aufbau entlang neuer OP-Methoden vorangetrieben („aufgebaut“) – gemeinsam hat sich das Team die theoretischen Wissensbestände und das praktische Können angeeignet, um z. B. Knie- und Hüftgelenke zu operieren („wir ham hier die Orthopädie damals aufgebaut hier mit den ersten, Hüftgelenken, erste Kniegelenke, warn viel zur Weiterbildung und so ne?“). Auch hier drückt Karin Plüschke noch einmal ihre Identifikation, besonders mit der technischen Umsetzung von Arbeitsaufgaben aus („und det äh, also det Technische und die Arbeit selber hat mir Spaß gemacht“). Was aber nun passiert, ist ihr unbegreiflich („Hä?“). Nicht mehr die langjährige Erfahrung zählt, sondern die Qualität wird anhand vorgegebener Operationszahlen bewertet („der Doktor muss mindestens 50 Kniee im Jahr operiern ne?“). Werden diese nicht erbracht, kann die Operationsmethode nicht mehr durchgeführt werden („sonst raus. so.“). Auf fachlicher Seite führt dies dazu, dass alles versucht wird, die geforderten Operationszahlen zu erreichen, egal ob Diagnose und Zustand der Patienten dies erfordern. Hier erweitert Karin Plüschke ihre Kritik bzw. ihr Unverständnis auf die Patienten als andere Seite des Systems zwischen Leistungserbringern und Leistungsempfängern. Sie kann nicht verstehen, dass diese sich freiwillig einer Operation unterziehen, obwohl es aus ihrer Sicht unnötig wäre („und wenn ick denn gesehn hab, immer wat die an den Knieen hatten, denn hab ich immer gedacht: „Äh lassen die sich die Kniee operieren oder so? warum denn.““). Unverständnis überwiegt die Kritik, wie ihre Frageform sowie die Betonung des „warum“ belegen. Karin Plüschke reflektiert nicht, dass vielleicht andere Dimensionen hinzugekommen sein mögen, die dazu führen, dass Patientinnen sich für die OP entscheiden, z. B. eine entsprechende Kommunikation von
7.3 Kernstelleninterpretation
371
Seiten ärztlichen und anderen medizinischen Personals, die aufgrund des Informationsgefälles wirksam werden kann (überhöhte Darstellung der Symptomatik, Unterbeleuchtung von Risiken, Ausnutzen des Vertrauensvorsprungs etc.). Sie schiebt den Patienten hier ein hohe Verantwortung zu, ohne die vertraute Form einer passiven Patientenrolle mitzudenken, die sie z. B. von ihrer Mutter kennt. Dies verweist insgesamt auf das Fehlen theoretischer professioneller Konzepte um die Arzt-/Therapeut-/Patient-Interaktion sowie darauf, dass ihre berufliche Identifikation eng an das „Technische“ einer OP-Schwester gebunden ist. Die Kommunikation verläuft eher entlang der Fachlichkeit im Rahmen konkreter Operationsprozedere denn entlang der Beratung von Patientinnen und Unterstützung deren Entscheidungsfindung. Karin Plüschke löst diese biographische Krise, deren Erleiden mit der Ausbildung einer starken Migräne einhergeht, damit, dass sie nach 25 Jahren ihre Tätigkeit kündigt, überraschend für ihr Kollegium. Die Migräne ist seitdem verschwunden. (Z. 265, 1303–1312) Handlungsschematisch beginnt sie, eine ambulante OP-Praxis mit „aufzubauen“. Auch hier macht sie ähnliche Entwertungserfahrungen entlang systembedingter struktureller Grenzen. Zunächst werden ambulante Operationen gefördert. Nach Einführung der Praxisgebühr und dem zunehmenden ambulanten Operieren in den Krankenhäusern steigt der ökonomische Druck auf die Arztpraxis und Karin Plüschke wird gekündigt. (Zn. 265–272) Dass sie beruflich nicht handlungsautonom ist bzw. lange bleiben kann, wiederholt sich in verschiedenen Kontexten. Auch wenn sie nie lange arbeitslos ist, Pflegefachpersonen gesucht sind, stößt sie ambulant und stationär immer wieder an strukturelle Grenzen ihrer beruflichen Tätigkeit. So hängt sie in beruflichen Pendelsituationen fest oder es wird durch ein „Personalkarussell“ (Z. 1335) der Aufbau vertrauensvoller Teams und sozialer Bindungen bzw. der Aufbau einer beruflichen Identifikation mit den konkreten Arbeitskontexten verhindert. Auch unter dem zunehmenden Verlust „des Menschlichen“ (Z. 289), den sie gerade im Umgang mit Demenzerkrankten vermisst (Z. 294), leidet sie. Karin Plüschke kann ihre Handlungsautonomie auch nicht steigern, als sie sich zur Pflegedienstleiterin weiterbildet und tätig wird. Nach der Kündigung durch den Chef der ambulanten OP-Praxis beginnt Karin Plüschke, sich parallel zu den wechselnden hauptberuflichen Kontexten zur Heilpraktikerin auszubilden.
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7.3.4
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
Heilpraktikerin werden
Die Aus- und Weiterbildung nebenberuflich organisieren und finanzieren E: Ja denn hab ick 2005 bis 2007 meine Ausbildung als Heilpraktiker an der Volkshochschule in A-Stadt gemacht I: Mhm E: (1) und seitdem auch ganz viele Weiterbildungen (2) in B-Großstadt hatt ick, schon im Vorfeld auch gemacht hier äh: so, autogenes Training, (1) und denn Akupunktur also, bei A-Heilpraktikerschule, da war ick noch gar kein Heilpraktiker, da bin ick denn immer so zu Wochenendkursen so, hingefahren. det hat mir ja auch Spaß gemacht, und Frau Müller, die Chefin da von der, Schule, die hatte mich da auch geworben ne? aber äh: (1) im Vorfeld schon aber dat hätt ick, zeitlich nich hingekricht ne? also ganze Woche arbeiten und denn, hm, so Freitag bis Sonntag denn, die Heilpraktikerschule, denn wieder am Montag arbeiten oder so, hab ick gesagt: „Nee dat schaff ich irgendwie nich.“ ne? und dann fand ich ja total, schön, da äh, war ne kleine Annonce mal im, Anzeigenblatt, dass die das angeboten ham in A-Stadt, von der Volkshochschule, so erstmal so n Informationsgespräch, denn sind wirda war dat an zwei Terminen, erstmal zum Informationsgespräch, denn warn wir da über, 60 Leute? //mhm// und dann hatten sie gesagt na ja 20 nehm sie bloß. ne? und dann ham wir uns da alle beworben, und, ja dann, war ick eine der Glücklichen, die da denn dran teilnehmen konnte ne? sodass das mit, äh, ja. (1) einmal wöchentlich am Donnerstag, von um fünf bis 21 Uhr, fand das denn statt. und, wir warn hier aus B-Stadt zwei, wir ham uns aber denn da erst kennengelernt in A-Stadt
7.3 Kernstelleninterpretation
373
und denn warn, zw- einige aus A-Dorf und eine aus E-Stadt. wir ham uns denn hier vorne auf’m Parkplatz getroffen, und denn sind wir zu viert im Auto, det war sehr schön immer umschichtig denn, gefahrn. det sparte ja denn ne? brauchte man ja bloß äh, jedet vierte Mal denn fahrn. I: Mhm E: Ansonsten hm, ja sind ja die Kosten ja auch nich ohne I: Mhm E: Ne also dat muss man sich ja schon überlegen so einfach aufhörn zu arbeiten und denn, äh:: die Ausbildung zu machen, funktionierte denn finanziell nich. und det andre muss man ja denn zeitlich denn äh (3) so organisieren können. I: Mhm E: Ne? und denn warn wir ja auch viel auch noch sonnabends oder sonntags denn, oder ganzes Wochenende so unterwegs und denn auch so zur, Weiterbildung, äh, ja Kinesiologie, sag ick mal ne? Fußreflexzonenmassage mal n ganzes Wochenende denn, in F-Stadt, damals hier Paul Meier, weiß ich nich ob dir das was sagt, der Heilpraktiker I: Mhm E: Ja? Meier? oder Kristina Schulz oder so und, hier Jochen Welle, die ham ja viel gemacht. A-Heilpraktikerschule war ich denn mit und denn, na ja und denn warn wir mit Silvia denn auch nach äh: C-Großstadt, Zellsymbiose oder, G-Stadt, warn wir auch mal, Basiskurs, nicht zu vergessen, Regenaplexe, Basiskurs in A-Stadt, in C-Großstadt, mit Dr. Paulisch, ham wir besucht, und jetz den Arbeitskreis in A-Stadt (1) ne? und eigentlich det Wichtigste sag ich mal, äh
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
für mich is auch die Heil- äh-praktikerausbildung immer so, für mich und meine Gesundheit. (302–350)
Karin Plüschke geht handlungsschematisch die Aus- und Weiterbildung zur Heilpraktikerin an. In ihrer autobiographischen Stegreiferzählung wird sie hier lebendiger, wenn sie überwiegend beschreibt, wie sie sich den Beruf sukzessive aneignet und ihre Weiterbildungspraxis bis heute aufrechterhält. Die Grundlagen-Ausbildung an der Volkshochschule, die in die amtsärztliche Überprüfung mündet, bleibt eher randständig in ihrer Erzählung. Hier geht es vorrangig darum, sie formal in den alltäglichen Arbeits- und Lebensrhythmus zu integrieren sowie finanziell zu bewältigen. Die Berufstätigkeit während der Ausbildung zu unterbrechen, kommt aus finanziellen Gründen nicht infrage. Nicht nur, dass sie auf ihr Einkommen verzichten muss, auch die private Heilpraktikerausbildung ist teuer („Ansonsten hm, ja sind ja die Kosten ja auch nich ohne“). Dies zieht intensive koordinative Überlegungen nach sich, Vollzeit-Berufstätigkeit im Schicht-System mit der Ausbildung zu kombinieren. Deshalb lehnt Karin Plüschke auch ab, als die Leiterin einer Heilpraktikerschule sie für eine Freitagbis-Sonntag-Ausbildung begeistern möchte. Die Vorstellung, dies über mehrere Jahre durchzustehen, würde Karin Plüschkes Kräfte übersteigen („Nee dat schaff ich irgendwie nich“). Ein glücklicher Umstand kommt ihr zugute. In der Lokalzeitung findet Karin Plüschke eine Annonce, dass an der Volkshochschule ein Kurs angeboten werden soll. Sie fährt zur Informationsveranstaltung und stellt fest, dass es viel mehr Bewerberinnen und Bewerber gibt, als zum Kurs zugelassen werden sollen. Sie bewirbt sich und wird für den Kurs angenommen. Die zeitliche Organisation, einmal in der Woche am Abend nach der Arbeit zur Schule zu fahren, kommt ihr entgegen. Zudem lernt sie während der Ausbildung drei weitere Teilnehmende aus ihrer Umgebung kennen. Sie schließen sich zusammen und fahren gemeinsam und umschichtig zur Ausbildung, sodass alle Kosten sparen können. Karin Plüschke bewegt sich hier pragmatisch zwischen den zeitlichen und ökonomischen Zwängen und schließt an ihre biographische Habitualisierung an. Viel wichtiger als die formale Grundausbildung, die Karin Plüschke zudem im intensiven Selbststudium unter Rückgriff auf ihr medizinisches Vorwissen absolviert (Zn. 1551–1571), ist für sie die Aneignung des naturheilkundlichen Wissens, die sie aus der intrinsischen Motivation, etwas für ihre Gesundheit zu tun, handlungsschematisch vorantreibt.
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Schon im Vorfeld der eigentlichen Ausbildung hat sie intensiv acht „Klassiker“ der Naturheilkunde „durchgearbeitet“, im Zuge ihrer Pflegedienstleiterweiterbildung3 , als eine Heilpraktikerin in die „wichtigen […] Zweige der Naturheilkunde“ eingeführt hatte. Dies liegt zum Zeitpunkt ihrer eigentlichen Ausbildung mehr als zehn Jahre zurück und Karin Plüschke kann im Zuge der Erkrankung ihrer Mutter bereits auf dieses Wissen zurückgreifen. (Zn. 200–205) Wie Karin Plüschke an dieser Stelle darlegt, gehören regelmäßige naturheilkundliche Weiterbildungen bis zum heutigen Tage zu ihrem Verberuflichungsprozess als Heilpraktikerin dazu („und jetz den Arbeitskreis in A-Stadt (1) ne?“). Auch diese organisiert sie um ihre Berufstätigkeit herum, sie nimmt vorrangig an Wochenendkursen teil. Dieser Prozess permanenter Aneignung von theoretischen und praktischen Wissensbeständen verläuft unabhängig und entlang der formalen Heilpraktikerausbildung. Dies zeigt sich auch formal an dieser Interviewpassage, in der Karin Plüschke zwischen ihren verschiedenen Weiterbildungsveranstaltungen und dem Absolvieren des institutionalisierten formalen Heilpraktikerkurses hin und her springt. Der Prozess des Erwerbs und der Aktualisierung fachlichen Könnens ist biographisch anspruchsvoll und entspricht der Logik des medizinischen Versorgungssystems. Die gesundheitsbezogenen Berufsgruppen und Professionen sind permanent aufgefordert, ihre Wissensbestände zu aktualisieren, was vorrangig außerhalb der Arbeitszeiten vonstatten geht. Beim Heilpraktiker kommt hinzu, dass dieser Prozess ungeregelt abläuft und sowohl Kursabsolventen als auch Dozenten ihre Weiterbildungsaktivitäten außerhalb staatlicher Veranstaltungen gestalten müssen. Synergieeffekte können damit kaum genutzt werden. Karin Plüschke spezialisiert sich nicht auf ein zentrales Thema oder ein geschlossenes Heilsystem wie die Traditionelle Chinesische Medizin oder Klassische Homöopathie, sondern eignet sich einen umfangreichen Fundus an naturheilkundlichen und alternativen Verfahren an. An dieser Stelle erwähnt sie das Autogene Training, die Akupunktur, Kinesiologie, Fußreflexzonentherapie, Zellsymbiosetherapie und Komplexhomöopathie („Regenaplexe“). Die Methoden kann sie nach Bedarf kombinieren. Mit ihnen kann sie zudem an ihrem beruflichen Können als Krankenschwester ansetzen (invasive Eingriffe wie Akupunktur und Zellsymbiosetherapie, aber auch diagnostische Blutentnahmen, Baseninfusionen etc.4 ). 3 Hier
zeigt sich eine der wenigen Situationen, in denen die Interviewten sich auf institutionelle Überschneidungen von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern mit Fachkräften staatlich anerkannter Heilberufe beziehen. Karin Plüschke führt dazu allerdings nichts weiter aus. 4 Kontextwissen aus dem Interview.
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
Karin Plüschke schließt die Passage mit ihrer zentralen biographischen Motivation des Heilpraktikerin-Werdens: „und eigentlich det Wichtigste sag ich mal, äh für mich is auch die Heil- äh-praktikerausbildung immer so, für mich und meine Gesundheit“. Mit dem Aneignen der naturheilkundlichen und alternativen Wissensbestände erweitert sie ihr Handlungswissen zur Bewältigung ihrer Erkrankung und der familiären Krankheitsdisposition. Sie wird handlungsautonomer in Abgrenzung zur Schulmedizin, von deren Vertretern sie bereits aufgegeben wurde. Dies zeigen die folgenden Passagen.
7.3.5
Umgang mit der eigenen Erkrankung – der Schulmedizin folgen, abgrenzen und Alternativen finden
Diagnose Mammakarzinom – Enttäuschung und Aufbegehren E: Weil ich selber, hatt ich ja schon anfangs gesagt, auch so, mehrere Erkrankungen durchgemacht habe ne? (2) m:: na ja ganz kritisch wurde denn, das hier 2002 //mhm// n Mammakarzinom, metastasierendes Mammakarzinom, denn äh: in H-Stadt hab ick mich operieren lassen, weil ick ja hier in B-Stadt nich gerade wollte, weil ick ja hier, 25 Jahre tätig war, denn dacht ich: „Oh nee musst du nicht haben“, und, ja und denn die, entsprechenden Nachuntersuchungen, musste man ja denn erst, in, kurzen Abständen, immer halb-jährlich oder, jährlich denn da so hin ne? und denn ham se immer gesagt so nach dem Motto: „Frau Plüschke ‚Sie leben noch‘?“ I: Mhm E: Ne? wo ick denn dachte immer: „Wat meinen die denn“ ne? eh man det denn auch alles so für sich selber so realisiert
7.3 Kernstelleninterpretation
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I: Mhm E: So ne? und ick hab dat ja auch mitgekricht dat ich nach der OP auch, im Koma gelegen hatte und det, hat ja auch n paar Tage gedauert bis ich denn, äh dit erst, geschnallt hatte, und denn hatt ich so n Gespräch mitgekricht als ick denn da gelegen hab, äh: dat sich welche über mich so unterhalten ha:ben, so ne? wo, die dachten nich dat ick dat höre. I: Mhm E: So und dann hab ick ja erstmal so Gänsehaut gekricht ne? /dat weiß mein Mann, bis heute noch nich ((gerührt)) oder so ne? wo ick denn dachte immer: „Eh, dit kannt nich sein“ oder so ne? „denn kann ich mich ja gleich auf n Friedhof hinlegen“, und seitdem hab ick denn auch aktiv denn auch so wirklich, äh:: alles versucht hier, an Informationen zu kriegen (1) äh: wie ich mich entgifte, wie ich auf natürliche Weise mein Leben inne Hand nehme ne? denn hm (1) äh:: zu anfangs war ick ja noch so naiv sag ich mal und hab noch geglaubt hier ne? die Chemotherapie bringt wat. ne? hab ja noch Chemotherapie gemacht, hab ja noch Bestrahlungen gemacht ne? so. und, eh- eh man denn dat mitkricht dat man denn da auch bloß da- vorgeladen wird, damit die sehn, in- wie lange man überlebt, nach der entsprechenden Behandlung, so hatt ick dit Gefühl. (354–385)
Karin Plüschke nimmt in dieser Passage Bezug auf ihren eigenen biographischen Krankheitsverlaufsprozess und ihren Umgang damit sowie auf ihre sich verändernde Haltung im Erkrankungs- und Therapieprozess. Sie beginnt mit der vagen Erwähnung mehrerer durchgemachter Erkrankungen. Nun, „2002“, markiert sie einen dramatischen Wendepunkt („ganz kritisch“). Ein metastasierendes Mammakarzinom wird diagnostiziert und ein umfangreiches schulmedizinisches Therapieprozedere – Operation, Chemotherapie, Bestrahlungen, gefolgt von regelmäßigen Nachuntersuchungen in größer werdenden Abständen – wird notwendig. Karin Plüschke folgt diesem zunächst. Dabei entscheidet sie handlungsschematisch, sich in einem entfernten Krankenhaus operieren zu lassen, nicht in dem,
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
in dem sie jahrelang als OP-Schwester selbst „tätig“ war. Dies mag verwundern, könnte man doch aus vorherigen Erzählungen auf ein soziales Kapital eines vertrauensvollen Teams schließen, das die Erkrankungsverarbeitung unterstützen könnten. Die Einnahme einer geschwächten Position einer Erkrankten, vielleicht mit der Gefahr, sich einem ‚bedauernden‘ Gerede oder Stigmatisierung auszusetzen, lassen Karin Plüschke anders entscheiden. Hinzu kommt die zeitliche Dimension. Auf vergangene soziale Beziehungen kann u. U. nicht mehr rekurriert werden, z. B. aufgrund von Arbeitsmigration und Renteneintritt früherer Kolleginnen und Kollegen. Aber auch im anderen Krankenhaus muss sie entmächtigende Erfahrungen hinnehmen, die für eine Verlaufskurve sprechen. Bei den regelmäßigen Nachsorgeterminen formuliert das Personal unprofessionell und wenig empathisch sein Erstaunen darüber, dass Karin Plüschke noch lebt („Frau Plüschke ‚Sie leben noch‘?“). Sie selbst formuliert einen inneren Zustand verspäteten Verstehens, auch wenn sie aufgrund ihres medizinischen Wissens um die Prognose ihrer Erkrankung gewusst haben muss („wo ick denn dachte immer: „Wat meinen die denn“ ne? eh man det denn auch alles so für sich selber so realisiert“). Bereits vorher zeigt sich die Schwere ihrer Erkrankung, als sie markiert, dass sie nach ihrer Operation im Koma liegt. Auch hierzu braucht sie ein paar Tage, dies zu realisieren. Es bleibt unklar, ob sie nicht informiert wurde darüber oder ob sie es ausgeblendet hat. In ihrer Konstruktion beschreibt Karin Plüschke weiter, dass sie ungewollt ein Gespräch des Personals über ihren Zustand mithört. Hier kann nicht abschließend entschieden werden, ob es während der Zeit des Komas stattfindet oder danach, als Karin Plüschke wieder aufgewacht ist. Dieses Gespräch muss einen aussichtslosen Zustand vermitteln. Karin Plüschke erlebt es mit einer „Gänsehaut“ und kann bis heute nicht mit ihrem Mann darüber sprechen („/dat weiß mein Mann, bis heute noch nich ((gerührt))“), der ihr Vertrauter ist, sie bisher immer aktiv in ihren Gesundungsprozessen unterstützt hat und zudem der Schulmedizin distanziert gegenübersteht. Die sprachlichen und parasprachlichen Markierungen verweisen auf die Verlaufskurve in dieser Situation. Allerdings kann Karin Plüschke sich mit der Aussichtslosigkeit nicht abfinden („wo ick denn dachte immer: „Eh, dit kannt nich sein“ oder so ne? „denn kann ich mich ja gleich auf n Friedhof hinlegen“). Der Option, nun auf den Tod zu warten, stellt sie sich aktiv entgegen. Von nun an versucht sie handlungsmächtig, ihr Leben umfassend zu ändern. Dies berührt Aspekte des Wissenserwerbs über alternative Lebensweisen, die die Entgiftung und Rückkehr zu einer natürlichen Lebensweise in den Fokus rücken
7.3 Kernstelleninterpretation
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(„und seitdem hab ick denn auch aktiv denn auch so wirklich, äh:: alles versucht hier, an Informationen zu kriegen (1) äh: wie ich mich entgifte, wie ich auf natürliche Weise mein Leben inne Hand nehme ne?“). Während des Aneignungsprozesses ihrer Erkrankung löst sich Karin Plüschke mehr und mehr von der Schulmedizin. War sie deren standardisiertem Therapieprozedere zunächst gefolgt, gewinnt sie nun den Eindruck, dass nicht Heilung, sondern nur die Statistik i. S. der Überlebenszeit nach Diagnose zählt. Die anfängliche Hoffnung auf den Erfolg der Chemotherapie und Bestrahlung zerschlägt sich damit. Auch auf die Vermittlung von mentaler und psychischer Unterstützung im Gesundungsprozess durch das Personal kann sie nicht zählen. Sie wird dramatisch in ihrer Biographizität gefordert, mit dieser Situation umzugehen. Die Haltung ändern E: … also wenn ick jetz, tatenlos zu Hause bin, also ick stell mir dat ganz schrecklich vor … mein Karzinom is, Zweitausend-zwei gewesen. (1) und die Wirbelsäule is seitdem nie wieder geröntgt worden, ick weiß nich wat mit den Metastasen is, ob dat noch da is oder nich, ick weiß es nich. I: Mhm E: Also ick sag mal immer: „Nein“ ((lacht)) es macht ja auch keinen Sinn, anders zu denken. I: Mhm E: Es macht einfach keinen Sinn (1253–1262)
Karin Plüschke begibt sich aktiv in einen umfassenden eigenen Prozess der Therapie, Krankheitsverarbeitung und Gesundheitsförderung. Nachdem sie sich von der schulmedizinischen Therapie gelöst hat, wird sie nicht wieder zu einer diagnostischen Folgeuntersuchung gehen, z. B. einer Röntgenuntersuchung ihrer Wirbelsäule, in der ursprünglich Metastasen gefunden worden waren. Ein wichtiger Aspekt ist die Änderung ihrer Einstellung zu ihrer Erkrankung. Karin Plüschke geht davon aus, dass die Erkrankung verschwunden ist. Da die Schulmedizin keine Heilung verspricht, ist es für sie plausibel, sich an die Hoffnung zu halten („es macht ja auch keinen Sinn, anders zu denken“), und, kombiniert mit
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
der eigenen Therapie und Vorsorge, sich selbst auf Heilung ‚zu programmieren‘ („Nein“). Allerdings finden sich auch Unsicherheits- und Distanzmarker in den Ausführungen Karin Plüschkes (Lachen; „die Wirbeläule“ anstelle von „meine“; „ob dat noch da is oder nich“), die auf das vulnerable Austarieren zwischen den schulmedizinischen Grenzen und Negativerfahrungen sowie der eigenen biographischen Bewältigungsstrategie entlang alternativer Wissensbestände verweisen. Dies zeigt gleichzeitig, wie habitualisierte Orientierungen und Praxen miteinander ringen, wenn sie sich nicht bewähren. Durch die Mutter war die Medizinnähe und passive Patientenrolle, das Verlassen auf die ‚sorgende und versorgende‘ Handlungskompetenz der Tochter und ein Weiterleben in alten Bezügen nach der Heilung habitualisiert. Diese Habitualisierung muss aktualisiert werden. Die ‚Programmierung‘ auf Heilung schließt in gewisser Weise daran an um weiterzuleben, als wäre nichts gewesen. Auch die Medizinnähe bleibt in den beruflichen Kontexten Karin Plüschkes erhalten. Was sich ändert, ist die innere Ablösung sowie die Ergänzung des positiven Denkens mit alternativen Behandlungsformen und Möglichkeiten der Prävention. Auch dies lehnt sich allerdings am Referenzrahmen Medizin und, mehr noch, der Versorgungslogik (Therapie und Prävention) an. Die medizinische Referenz wird erweitert um die konkreten Formen von Therapie und Prävention – entlang naturheilkundlicher und alternativmedizinischer Paradigmen, die ihre Umsetzung in spezifischen Behandlungsformen finden. Eine wichtige Dimension biographischer Krankheitsverarbeitung stellt zudem die ökonomische dar, die Karin Plüschke randständig im Kontext der ökonomischen Grenzen ihrer Heilpraktikertätigkeit darlegt.
7.3.6
Ökonomische Ambivalenzen der Heilpraktikertätigkeit
Hohe Behandlungskosten – trotz Interesses lassen Patienten auf sich warten E: … und da komm ick immer wieder auf den Punkt immer so, äh, Naturheilkunde is nich teuer. (1) I: Mhm E: (1) Ne? det is, sicherlich wenn ick n, metastasierendes Karzinom habe, denn kann ick schon mal so 800 bis tausend Euro im Monat ausgebn. dat kann ick schon. I: Mhm E: Ne? aber gut, denn is et mir dat auch wert.
7.3 Kernstelleninterpretation
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aber dat würde schon bei vielen Rheumapatienten sag ich mal so, hundert Euro im Monat mit Regenaplexen, würde man ja gut hinkomm (1) I: Mhm E: (1) Ne? Rheumapatienten oder, Bluthochdruckpatienten oder so also, ne? und ((atmet tief aus)) (1) weiß ich nich und da fehlt irgendwo die=äh, ja die Einsicht, die Notwendigkeit bei den Patienten. (7) E: Da, ganz viele interessieren sich für Naturheilkunde, ich geb auch äh (1) na ick will nich sagen Vorträge aber so ick biete auch, Diskussionsrunden an (1) in Selbsthilfegruppen hab ick jetz scho::n hier, durchgeführt (1) ähm: nach Krebs, bei Osteoporose, Darmkrebs Brustkrebs und so ne? die Leute sind total interessiert und ich kann ganz viele Visitenkarten verteilen, aber letztendlich äh, ja wer kommt det is ebend die Ausnahme. I: Mhm E: (1) ‚Ne? es wird ihm geholfen‘, ick denke mal äh:, die Leute sind auch hier äh, weiß ich nich, ich will nich sagen die gönnen dem andern dat nich aber irgendwie äh, ne? wenn mir geholfen wird denn, sprudel ick doch denn geht’s mir doch gut. I: Mhm E: Ne? und irgendwie kommt det nich. (471–506)
Karin Plüschke entfaltet hier die ambivalente ökonomische Dimension ihrer Tätigkeit als Heilpraktikerin. Sie beginnt mit dem Statement der Verneinung zu hoher Kosten naturheilkundlicher Therapie. Gleich darauf widerspricht sie diesem, wenn sie die Kosten für ein metastasierendes Karzinom mit etwa 800 bis 1000 Euro monatlich beziffert. Diese konkrete Benennung lässt vermuten, dass sie sich auf ihren eigenen Behandlungsprozess bezieht. Aber sie hat auch für andere Patientinnen die Kosten kalkuliert und beziffert sie für chronische Erkrankungen wie Rheuma oder Hypertonie mit etwa 100 Euro im Monat. Dabei gibt sie zunächst erst einmal nur die Kosten der Medikamente an („mit Regenaplexen“), die Kosten für die eigentliche Konsultation oder Behandlung mögen noch hinzukommen. Sie nimmt hier keinen Bezug auf strukturelle Gegebenheiten wie eine schwache sozioökonomische Situation ihrer Patientinnen bzw. zeigt Verständnis dafür, dass sich nicht jeder eine private Therapie leisten könnte. Was für sie zählt, ist die „Einsicht“, das Erkennen der „Notwendigkeit bei den Patienten“. Dass es hier
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
eine Grenze gibt, zeigt sich ihrem Praxisalltag. Obwohl sie in kostenlosen Veranstaltungen über die Möglichkeiten informiert und auf ein großes Interesse trifft, kommen letztendlich nur wenige Interessierte auch zu einer Beratung oder Therapiesitzung. Dabei verweist Karin Plüschke darauf, dass sie durchaus erfolgreich therapiert („es wird ihm geholfen“). Sie geht jedoch davon aus, dass dieser Erfolg nicht weitergetragen wird. Dies begründet sie mit der Mentalität der Menschen vor Ort. An der Ergebnissicherung („und irgendwie kommt det nich“) zeigen sich ein Unverständnis, eine Tendenz des Aufgebens und das Warten auf Besserung. Dies bestätigt sich in mehreren Interviewsegmenten und verweist auf die Prozessstruktur der Verlaufskurve, wenn Karin Plüschke z. B. sagt: „Also und denn, äh, leg ich da jetz auch nich so n großen Wert, drauf, weil sie’s ja eh alles umsonst gemacht haben wolln. (…) Und wenn du dafür Geld nimmst oder so denn bist du noch die Schlechte. (1) ne? und von daher, irgendwo is dat nich ganz schlüssig.“ (532–538). Gleichzeitig nimmt Karin Plüschke Bezug auf eine Ambivalenz, die eine gesellschaftliche Dimension der Heilpraktikertätigkeit aufzeigt. Sie stellt sich gegen eine Kostenerstattung durch die GKV, da sie eine Haltungsänderung bei den Patientinnen erwartet. Sie geht davon aus, das es etwas mit dem Selbstwertgefühl zu tun hat, hohe Behandlungskosten in Kauf zu nehmen: „aber, die andre Seite is auch so, ick bin ja auch froh, dass äh: das nich kassen- ähm (1) von den Kassen finanziert wird, die Naturheilkunde oder so ne? weil: ick der Meinung bin ebend, dat is eben, ne Bewusstseinssache. ich bin es mir wert“ (Zn. 538 ff.). Hiermit reproduziert Karin Plüschke (anders kontextualisiert) die Meinung der Heilpraktikerschaft auf berufspolitischer Ebene, die ihre Berufsfreiheit über eine Einordnung in das System der GKV stellen. Gleichzeitig akzeptiert sie damit unreflektiert eine Patientenselektion und festigt die ökonomischen Grenzen ihrer eigenen Tätigkeit. Ökonomischer Druck, eine Praxis zu finanzieren E: Na ja und was ja auch n Manko äh:: für meine Patienten is immer so, dass ich keine Praxis habe. ne? //mhm// n Praxisraum. ick glaube, n paar Patienten, et, würde sich ja denn äh:: so, entwickeln sag ich mal ne? aber ick weiß nich ob ick damit leben könnte denn so,
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ähm: mit diesem zeitlichen Entwickeln, äh, vom Finanziellen her auch. ne? //mhm// ick muss ja weiter arbeiten gehn. Praxis muss ja, is ja, n wirtschaftlicher Betrieb. muss ja auch unterhalten werden. (968–972)
Karin Plüschke schätzt es als Defizit ein, nicht über eine gesonderte Praxis zu verfügen. Sie glaubt, dass dann mehr Patienten zu ihr kommen würden. Allerdings zeigt sich die eher vorsichtige Zuversicht im Ausdruck „n paar Patienten“. Mit diesen könnte sie weder den eigenen Lebensunterhalt sichern noch die Praxis an sich finanzieren. Die pragmatische Lösung für Karin Plüschke stellt dar, dass sie in einem Raum ihrer Wohnung bzw. im Hausbesuch, quasi ‚im Verborgenen‘, praktiziert. Kein Praxisschild verweist auf ihre Tätigkeit. Perspektivisch fixiert Karin Plüschke auch hiermit die Grenzen ihrer Tätigkeit. Sie wagt keinen Schritt in die Unsicherheit mit der Perspektive eines ökonomischen Erfolgs und einer positiven Wendung ihres beruflichen Dilemmas. Damit scheint noch einmal hervorzutreten, dass die Dimension des Überlebens der schweren Krankheit (und vielleicht noch folgender) über der beruflichen Verwirklichung steht. Verzicht, um zu überleben und Refinanzierung E: … wenn ich nich Heilpraktiker ge- geworden wäre oder so, wär ich ja, ne? davon bin ick fest überzeugt, denn wär ick schon nich mehr. (1) ne? ick hab ja nun meine Schwester, hab ick ja nu schon überlebt mit den gleichen, äh: äh: Krankheiten. Symptomen. (3) °weil ick ebend, ebend alles (1) mache.° I: Mhm E: (1) Ne? und das is ja das was mir keiner, nehmen kann. oder so ne? wo ich immer denke: „Is mir ja och egal ob ick nun, n Eigenheim habe, ick brauch kein Eigenheim, ick brauch och nich, äh:: jedet Jahr groß reisen“ oder so, wir reisen-, ne? wir:: stecken schon sehr sehr viel, äh: Geld und eben, nich nur, in meine Medikamente und meine homöopathischen Sachen oder so, och in die Ausbildung. I: Mhm E: (1) ne? aber det is et mir och wert. (1604–1619)
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
Karin Plüschke ist überzeugt davon, ohne ihre Ausbildung, verbunden mit einer aufwendigen Therapie und Lebensumstellung, nicht mehr am Leben zu sein. Dies ist zentrale Motivation der Aus- und Weiterbildung im Kontext des Heilpraktikerberufes. Dabei nimmt sie nochmals Bezug auf das zwischenzeitliche Versterben ihrer Schwester an der gleichen Diagnose Brustkrebs und weiteren ähnlichen Erkrankungsprozessen. Zugleich verweist Karin Plüschke darauf, dass sie mit ihrem Heilpraktikerin-Sein über eine (alternative) Handlungsermächtigung und -autonomie verfügt („und das is ja das was mir keiner, nehmen kann.“) Um diese aufrechtzuerhalten, verzichtet sie auf ein Eigenheim und jährliche Urlaubsreisen – Kennzeichen einer ökonomischen Differenzierung nach der ‚Wende‘, auf die sie immer wieder angesprochen5 wird. Sie braucht das Geld, um Medikamente und Kurse zu finanzieren. Wie eine Rechtfertigung klingt die Darlegung des Verhältnisses von Aufwand und Nutzen am Ende: „aber det is et mir och wert“. Zudem nutzt sie die Behandlungen ihrer wenigen Patienten zur Refinanzierung: „aber wie gesagt, det is es mir wert. und da brauch ick jetz auch nich so viel Patienten damit ick det Geld reinkriege“ (Zn. 1645 f.). Die hohen Kosten treten in den Hintergrund, wenn Karin Plüschke eine weitere Dimension ihres Heilpraktikerin-Seins entfaltet. Hierbei geht es um die soziale Einbindung und das „Menschliche“, das Karin Plüschke im ökonomischen System der schulmedizinischen Berufstätigkeit verlorengegangen ist.
7.3.7
Sozialer Austausch als Dimension der biographischen Lern- und Verarbeitungsstrategie – Verwirklichung im Heilpraktikerin-Sein
E: … sehr schön find ick jetz so die Zusammenarbeit so mit’m RegenaArbeitskreis6 , mit Silvia sowieso, 5 Kontextwissen
(Zn. 1630 f.). Auch hierin zeigt sich die Dominanz ihres Herkunftsmilieus – der Geschmack orientiert sich am Notwendigen. 6 Die Regena-Therapie ist eine ganzheitliche Behandlungsmethode der biologischen Medizin. Ein aufbauendes System homöopathischer Komplexmittel, die Regenaplexe, ermöglicht eine Therapie je nach individueller Pathogenese. Grundprinzip ist, die durch Verschlackung oder Vergiftung entstandene pathologische Störung des Organismus zurück in eine gesunde Balance zu führen. Dabei wird die Erkrankung als Heilbestreben des Körpers angesehen, das nicht unterdrückt werden darf. Die homöopathischen Komplexmittel setzen an den Prinzipien der Klassischen Homöopathie Hahnemanns an, stellen allerdings Kombinationen verschiedener Einzelsubstanzen dar. (vgl. Regenaplex o. J.)
7.3 Kernstelleninterpretation
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Silvia und ick wir ham mal zusamm gearbeitet, ick weiß nich ob Silvia dir dat gesagt hat,7 in der Arztpraxis, bei, wo ick dir vorhin erzählt hatte ne? ick war mal in ner Arztpraxis, tätig da im, OP, da hatte Silvia grad ihre Ausbildung gemacht als Arzthelferin, da ham wir uns kennengelernt. denn ham wir uns aus den Augen verlorn, und irgendwo: mal sag ick mal, n paar Jahre später, zufällig getroffen und denn ham wir uns erzählt dat wir Heilpraktiker sind. I: Mhm E: Denn lief dat praktisch parallel, sie in C-Großstadt, hat die Ausbildung gemacht, als ick in A-Stadt gemacht hab ne? //mhm// und (2) also det, empfinde ich schon sehr als, befruchtend. (1) I: Mhm E: Ne? so jetz auch mit Karla, Karla kenn ich durch de, Selbsthilfegruppe und, wir sind auch hier äh, im Gartenverein drinne, dass Karla jetz noch zu uns gekomm is, so wir drei denn praktisch ne? I: Mhm E: Karla kam ja jetz letztens mit zum Arbeitskreis Regena I: Mhm E: Wo sie sich vorher auch gesträubt hatte und immer gesagt: „Nein das is doch so teuer, dat kann man, keinem Patienten anbieten die Regenaplexe“ ne? und nu sachte sie: „Na ja, is ja nich bloß die Regena-Therapie, es is ja auch so: sehr viel, äh an Informationen rübergekommen.“ ne? Zum hier benannten Arbeitskreis gehören hauptsächlich Frauen, die Heilpraktikerinnen oder Apothekerinnen sind. Er wird von einer von der Regenaplex GmbH anerkannten Heilpraktikerin, die hier als Sabine anonymisiert ist, geleitet und trifft sich etwa viermal jährlich zu Fallbesprechungen und zum kollegialen Austausch (Kontextwissen). Ein Nebenbefund aus dieser Passage ist der Einblick in die kollektive Berufspraxis, dass die Herstellerfirmen naturheilkundlicher und alternativer Medikamente und Geräte intensiv in die Weiterbildungen der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker eingebunden sind. 7 Auch die Heilpraktikerin Silvia hat ein biographisch-narratives Interview gegeben, das hier jedoch nicht als Kontrastfall dargestellt ist. Es bildet einen Minimalkontrast zum Fall Karin Plüschke.
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erstmal wir im Gespräch, und durch Sabine oder so, also da war sie ja doch, denn sehr, aufgeschlossen gegenüber. und denn sind wir ja äh (1) ich war zuer:st, sag ich mal im Verband drinne, nu hatt ich hier praktisch äh Karla erst, und denn Silvia auch noch dazu, dafür, so äh, gewonnen und nun fahrn wir ja denn auch, gemeinsam, dat wir denn umschichtig fahrn und, könn wir uns auch so, sehr viel erzählen, auch über unsere Patienten (3) und was der eine nich weiß das weiß, weiß denn der Nächste und, na ja Silvia und ich wir, therapien uns denn gegenseitig. I: Mhm E: Ganz viel. (2) ne? (1) (612–647)
Der soziale Austausch ist zentrale Kategorie der Lern- und Verarbeitungsstrategie Karin Plüschkes, zumal in der beruflichen Habitualisierung als Heilpraktikerin. Als relevante andere führt Karin Plüschke neben dem Regena-Arbeitskreis auch die befreundeten Heilpraktikerinnen Silvia und Karla an mehreren Stellen ihrer autobiographischen Stegreiferzählung auf. Alle drei Frauen wohnen nah beieinander. Der Kontakt zu Silvia reicht zurück in Karin Plüschkes Zeit als Schwester in der ambulanten OP-Praxis, nachdem sie im Krankenhaus gekündigt hatte. Dort befindet sich Silvia gerade in ihrer eigenen Ausbildung und es entwickelt sich eine soziale Beziehung, die nach der Entlassung Karin Plüschkes zunächst abbricht. Nach ein paar Jahren treffen sich die Frauen wieder und stellen fest, dass sie unabhängig voneinander Heilpraktikerin geworden sind. Von nun an halten sie den Kontakt und tauschen sich zu Patientinnen, deren Erkrankungen und Therapiemöglichkeiten aus, therapieren sich gegenseitig und erproben neue Methoden und Techniken nach gemeinsam besuchten Weiterbildungen (Zn. 1131–1135). Die gemeinsamen Erfahrungsbestände beziehen sich zudem auf die Ausbildungen als Arzthelferin und Krankenschwester. Später kommt Karla hinzu. Diese kennt Karin Plüschke aus der Selbsthilfegruppe und dem Gartenverein. Beides vermittelt auch einen sozialweltlichen Hintergrund der beiden Frauen. Karin Plüschke ist zur Bewältigung ihrer schweren Erkrankung und Unterstützung anderer in einer Selbsthilfegruppe für Frauen nach Brustkrebs aktiv. Da auch Karla dort ist, kann davon ausgegangen werden, dass sie ebenfalls eine Brustkrebserkrankung durchlebt hat. Hier verfügen
7.4 Zusammenfassung
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beide Frauen über gemeinsame biographische Erfahrungsbestände. Auch der Gartenverein ist Bestandteil ihrer gemeinsamen sozialen Welt. Somit kann bei allen Frauen davon ausgegangen werden, dass es neben dem beruflichen Austausch auch einen sozialen Austausch zu privaten Erfahrungen und Erlebnissen gibt. Hinzu kommt, dass Karin Plüschke selbst im HeilpraktikerVerband aktiv ist und die beiden Frauen für eine Mitgliedschaft gewinnt, sodass eine weitere berufliche und private Austauschmöglichkeit gegeben ist. Diese bringt auch ökonomische Synergieeffekte mit sich, wenn die Frauen gemeinsam zu Veranstaltungen fahren. Neben der eigenen Möglichkeit der Weiterentwicklung („also det, empfinde ich schon sehr als, befruchtend“) zeigt sich an dieser Passage, dass Karin Plüschke es ist, die hier handlungsaktiv die Kontakte hält und befördert. Dies zeigt sich z. B. an der Werbung für den Verband, aber auch daran, wie sie die Überzeugungsarbeit darlegt, die notwendig ist, Karla zur Teilnahme am Regena-Arbeitskreis zu bewegen. Die drei Frauen haben ähnliche Einstellungen zur ökonomischen Dimension ihrer Tätigkeit und so ist Karla zunächst distanziert, die Regenaplexe ihren Patienten zu verordnen. Aber die gemeinsame Fahrt zum Arbeitskreis sowie der Austausch dort haben sie positiv gestimmt („erstmal wir im Gespräch, und durch Sabine oder so, also da war sie ja doch, denn sehr, aufgeschlossen gegenüber“). Karin Plüschke markiert, dass der kollegiale Austausch und die Einbindung zu einem Zugehörigkeitsgefühl führen, das sie in der ökonomischen Orientierung der Schulmedizin sowie ihrer pflegerischen Berufspraxis vermisst. Dies stellt zugleich wichtige Ressource ihrer alternativen beruflichen Verortung dar, wie das Ende einer Interviewpassage zur mangelnden Kollegialität verdeutlicht: „is ebend auch schwierig. (1) so (1) im Berufsleben, so klarzukommen (2) ne? und da, fühl ick mich ja eigentlich, nich eigentlich sondern da fühl ick mich, unter den Heilpraktikern zu Hause. (…) und dat stärkt ja auch unwahrscheinlich ne?“ (Zn. 1125–1131).
7.4
Zusammenfassung
Im Folgenden werden Dimensionen lebensgeschichtlicher Erfahrungsaufschichtung Karin Plüschkes in ihrer Ereignisverkettung zusammengefasst. Es wird ihre individuelle „mentale Grammatik“ (Alheit) aufgezeigt, die sie im biographischen Erfahrungs- und Erleidensprozess in Auseinandersetzung mit ihren alltagsweltlichen, sozialen Bezügen und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
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ausbildet. Berücksichtigt werden ihre im Lebensablauf erworbenen Handlungsressourcen und deren Spannung zu ihrer sozialen Umwelt. Ebenso findet sich hier die vierte kognitive Figur, die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte. Karin Plüschke entfaltet ihre autobiographische Stegreiferzählung der Entwicklung zur Heilpraktikerin entlang einer familiären kollektiven Krankheitserleidensgeschichte sowie ihrer Berufstätigkeit als Krankenschwester im medizinischen Versorgungssystem, in dessen Verlauf sie sich auf verschiedenen Ebenen mit den Grenzen des Diagnose- und Heilungsparadigmas und der ökonomischen Versorgungslogik moderner Medizin und Pflege auseinandersetzen muss. Dies führt zu Ambivalenzen, deren Konflikthaftigkeit sie bis heute nicht auflösen kann, und in deren Strukturen sie verharrt. Die Ausbildung zur Heilpraktikerin ermöglicht ihr zum einen die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Handlungsautonomie zur Selbstbehandlung, eigenen Gesundheitsförderung und Prävention, zum anderen die soziale Einbindung, die sie im ökonomischen System der Medizin und Pflege – ihrer hauptberuflichen Verortung – insbesondere seit der ‚Wende‘ zunehmend vermisst. Karin Plüschke wächst als zweite Tochter mit ihren Eltern „sehr behütet“ auf, was sie eng an die umfangreiche Inanspruchnahme schulmedizinischer Versorgungsleistungen bindet. Bei den kleinsten Anzeichen einer Erkrankung bringt die Mutter die Kinder zum Arzt, der eine Diagnose stellt und eine Behandlung einleitet. Dies führt dazu, dass Karin Plüschke und ihre Schwester bereits in jungen Jahren viele Antibiotika-Therapien erhalten und immunsystemrelevante Organe wie die Mandeln und der Blinddarm entfernt werden. Karin Plüschke deutet dies als medizinische Überbehandlung mit dem Resultat somatischer Schwächung – vor dem Hintergrund ihrer heutigen naturheilkundlichen und alternativmedizinischen Wissensbestände. Auch den vorzeitigen Tod von Mutter und Schwester führt sie in ihrer autobiographischen Konstruktion kausal darauf zurück. Als junge Frau lernt Karin Plüschke ihren heutigen Ehemann kennen, dessen Familie selbstbestimmter, unter Rückgriff auf tradierte naturheilkundliche und alternative Wissensbestände, mit Erkrankungen umgeht. Er und seine Schwester, die zudem einige Jahre älter sind als Karin Plüschke und deren Schwester, sind deutlich gesünder, wie Karin Plüschke feststellen muss. Zudem irritiert ihren Mann der medizinorientierte Umgang mit Erkrankungen sowie der angeschlagene gesundheitliche Zustand der Frauen. Seine Kritik belegt Karin Plüschke an der hohen Zahl verordneter Medikamente und den vielen durchlaufenden Operationen. Hier eröffnet sich ein erster Konflikt um die Deutungshoheit von Krankheit, Heilung und Gesundheit, den die jungen Eheleute konkret und gemeinsam bei einer schweren Erkrankung ihrer kleinen Tochter bearbeiten müssen.
7.4 Zusammenfassung
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Die Tochter erkrankt im Alter von anderthalb Jahren plötzlich schwer und wird stationär aufgenommen. Eine Diagnose kann zunächst nicht gestellt werden. Das Kind wird symptomatisch behandelt und mühsam am Leben erhalten. Die Ambivalenz oder Konkurrenz zwischen alltagsweltlichem und professionellem Wissen entfaltet sich, als der Chefarzt die Diagnose einer Mageneingangsstenose stellt, mit der Therapieempfehlung einer Operation. Diese Diagnose stellt Karin Plüschke unter Rückgriff auf ihr medizinisches Fachwissen und ihre alltagsweltlichen praktischen Wissensbestände infrage. Eine Mageneingangsstenose müsste angeboren sein und sich folglich bereits am Anfang des Lebens zeigen, nicht erst nach einer gewissen Zeit. Ihr Ehemann geht handlungsmächtig mit der Situation um und erhält den Kontakt einer Frau, die ‚bespricht‘. Der Konflikt, den Karin Plüschke nun darlegt, ist der um die selbstverantwortete Entlassung der Tochter gegen die chefärztliche Meinung. Dabei wird er nicht professionell verhandelt, zwischen dem erfahrenen Chefarzt und der jungen Krankenschwester Karin Plüschke, die zudem im gleichen Krankenhaus arbeitet, sondern auf der Ebene der Geschlechterkonstruktion – die männliche Autorität übt Druck auf die junge Mutter bezüglich ihrer „Verantwortungslosigkeit“ aus. Kirsten Sander (2008a: 15 f.) weist nach, dass Geschlechterkonstruktionen gerade dann aktiviert werden, wenn professionelle Rahmen unklar sind bzw. eindeutige Machtdispositionen infrage gestellt werden. Karin Plüschke widersteht dem Druck des Chefarztes mühsam, aber entschlossen und die jungen Eltern erproben die alternative „esoterische“ Behandlungsmethode. Hiermit tritt Karin Plüschke in den Gegensatz zu ihrer primären Bezugsgruppe, dem medizinnahen Elternhaus, und schließt sich der erfahrungsbasierten Position des Ehemannes, zwischen Selbsthilfe und Medizin-Kritik, an. In Verbindung mit einer intensiven Pflege zu Hause, die Karin Plüschke einerseits in ihrer mütterlichen Sorge, aber auch in ihrem beruflichen Wissen und Selbstverständnis als Krankenschwester anspricht, wird das Kind gesund. Diese Dimension ihrer primären Sozialisation, das weibliche sich Kümmern und Behüten, bleibt erhalten. Was mit der erfolgreichen Therapie jedoch ebenfalls bleibt, ist der Zweifel: Die chefärztliche Meinung muss nicht in jedem Falle richtig sein und auch eine alternative Therapie, hier in einer doppelten Dimension alternativ, kann zum Erfolg führen. Karin Plüschke erlebt weitere Erkrankungsprozesse ihrer Mutter. Diese scheint den Habitus einer passiven, immer leidenden Frau und Patientin zu haben. Sie ist ständig unproblematisch in ärztlicher Behandlung, was Karin Plüschke an Zivilisationserkrankungen wie Übergewicht, Gallensteinen und Hypertonie belegt, geht trotz Beschwerden zur Arbeit, lässt sich nicht krankschreiben. Sie wird nun von
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Haus- und Fachärzten nicht ernst genommen, als sie offensichtlich an einer schwereren Erkrankung leidet. Dass es dieses Mal ernster um die Mutter steht, nimmt Karin Plüschke eher intuitiv wahr und findet später eine Bestätigung, als die Mutter mit gynäkologischer Diagnose operiert wird. Karin Plüschke hat als OPSchwester unkompliziert Zugang zu den Krankenakten und Operationsberichten, sodass sie herausfindet, dass es sich hierbei um die Entfernung eines „kindskopfgroßen“ Ovarialtumors handelte. Dies bestätigt ihr das begründete Leiden der Mutter und die unberechtigt verzögerte Therapie von medizinischer Seite. Sie verbleibt in der ungläubigen Kritik um das Versagen der Diagnostiker, die zugleich ihrem eigenen beruflichen Wirkungsbereich als OP-Schwester vorgelagert sind. Im Verlauf dieses Prozesses beginnt Karin Plüschke sich bereits mit alternativen Ursachen von Erkrankungen und deren Folgen auseinanderzusetzen, z. B. mit der Umwelt- und Ernährungsmedizin. Vage markiert sie einen ersten Richtungswechsel im Leben, ohne ihn näher auszuführen. Dieser bleibt zudem auf sie und ihren Ehemann beschränkt, denn mit der erfolgreichen Operation ist zugleich die Heilung der Mutter abgeschlossen. Dies bestätigt Karin Plüschkes berufliche Identität als OP-Schwester. Es muss eine Diagnose gefunden werden, dann gibt es eine Therapieidee und diese ist hier die Operation, die erfolgreich verläuft. Eine Änderung der Lebensweise ist hier nicht notwendig. Sie wird in dieser biographischen Phase auch bei Karin Plüschke noch nicht handlungsleitend. Zwei Jahre später erkrankt die Mutter erneut schwer. Karin Plüschke legt dar, wie diesmal die medizinische Versorgungslogik, zwar verzögert, aber doch entlang ihrer Standards und darüber hinaus, umfassend wirksam wird. Die Mutter wird stationär aufgenommen, erst ins regionale Krankenhaus, dann ins überregionale Universitätsklinikum. Eine deutschlandweite Fallkonferenz soll helfen, eine Diagnose zu finden und eine Therapieoption zu klären. Die Bedeutung der medizinischen Diagnose wird deutlich, wenn Karin Plüschke markiert, dass die Mutter „ohne Diagnose“ bleibt und schwer krank entlassen wird, da von Seiten der Schulmedizin alle Optionen symptomatischer Therapie erschöpft sind. Der Lebenswillen der Mutter wird zu der Zeit nur dadurch aufrechterhalten, dass die Konfirmation der Enkelin ansteht, die die Mutter unbedingt noch erleben möchte. In der Kirche wird ein bulgarischer Heilpraktiker auf die Schwerkranke aufmerksam und bietet Hilfe an. Nachdem er ein paar Tage später die Familie zu Hause aufsucht, diagnostiziert er u. a. eine starke Vergiftung der Mutter und erstellt einen aufwendigen Therapieplan, der die Mutter umfassend entgiften soll. Nun ist Karin Plüschke angesprochen. In der Zwischenzeit hat sie sich in einer Weiterbildung zur Pflegedienstleitung und darüber hinaus bereits mit
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Grundlagen der Naturheilkunde beschäftigt, und als sie mehrere „Klassiker“ dazu durchgearbeitet hat, erkrankt ihre Mutter. Dies konstruiert Karin Plüschke als bemerkenswerten zeitlichen Zusammenhang. Zwischen ihrem professionellen Pflegeverständnis und den neuen Wissensbeständen sowie dem Therapieplan des Heilpraktikers setzt sie handlungsmächtig ein aufwendiges 24-Stunden-Therapieund Pflegekonzept für die Mutter um. Dazu lässt sie sich vier Wochen krankschreiben und bindet zudem die Männer der Familie ein, die den erforderlichen Lehm für die basische Behandlung von der Baustelle nach Hause bringen und im Keller therapiefertig aufbereiten. Die Entgiftung mit Lehm in verschiedenen Darreichungsformen – als Packungen, Einläufe und Trinkkur – wird kombiniert mit weiteren praktischen Behandlungsmethoden: der Farbheiltherapie, Umstellung des Schlafplatzes, Entgiftung und aufbauenden Ernährungstherapie über Obstund Gemüsesäfte sowie Flüssigkeitsbalance. Weiterhin erwähnt Karin Plüschke das antibiotisch wirkende Naturheilmittel Propolis, das die Familie auf ‚geheimnisvollen‘ Wegen nach Deutschland liefern lässt. Letzteres verweist auf die ersten familiären Erfahrungen mit nicht-konventioneller Versorgung i. e. S., hier am Beispiel der Lieferung einer Substanz aus dem Ausland und außerhalb des gängigen Apothekensystems. Auf diese Weise kann sich Karin Plüschke naturheilkundliche Methoden ganz praktisch aneignen und macht gute Erfahrungen damit. Dass es zu Hause wie auf einer Baustelle aussieht und sich alles nur noch um die Behandlung der Mutter dreht, spielt dabei keine Rolle. Sie ist nahe an ihrer biographischen Habitualisierung – behütet werden, helfen und gemeinsam handeln. Die Logik des hingebungsvollen Umsorgens und Versorgens, des ‚Schritt für Schritt zurück ins Leben-Verhelfens‘ unter schwierigen Umständen und in aussichtslosen Situationen, entspricht zudem habituell und handlungspraktisch der traditionellen Pflege. Der Paternalismus, das Verorten der Mutter in der passiven Rolle der Patientin, spiegelt dabei auch ein gängiges Modell der Arzt-Patient-Interaktion wider, das Karin Plüschke hier reproduziert – gemäß der Logik einer Operationsschwester, die entlang standardisierter, erprobter Abläufe im Operationssaal bzw. Anweisungen der Operateure handelt und denen sich die Patientin unterordnen muss bzw. unter Narkose davon nichts mitbekommt. Nach vier Wochen beginnt sich der Zustand der Mutter zu bessern und sie kann langsam mobilisiert werden. Dabei zählt Karin Plüschke auch hier wieder wichtige Aspekte auf, die die Nähe zu ihrer beruflichen Habitualisierung zeigen: den selbstständigen Toilettengang, an den die Mutter, schrittweise mobilisierend, herangeführt wird. Dabei wird auch hier die Mutter als Patientin in der passiven Rolle konstruiert, die Therapierenden in der aktiven, helfenden Rolle. Dahinter liegt wieder das paternalistische Versorgungsverständnis, aber auch ein Hinweis
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auf den ertragenden, passiven Habitus der Mutter. Sie wird prozediert. Die ganze Hoffnung richtet sich auf den Therapieplan des Heilpraktikers, umgesetzt, koordiniert und angepasst durch die Tochter. Das Vorhaben ist erfolgreich. Kennzeichen der Gesundung der Mutter ist die Alltagspraxis von Haushalt und Garten, in die die Mutter zurückkehren kann. Es gibt keinerlei Hinweise auf ein handlungsleitendes Ergebnis dieser schweren Erkrankung i. S. einer Änderung der Lebensweise, vielleicht sogar eines Wandlungsprozesses. Nach der Erkrankung geht das Leben weiter wie zuvor. Auch Karin Plüschke erscheint eine Lebensänderung der Mutter nicht notwendig, zumindest konstruiert sie dies in ihrer autobiographischen Stegreiferzählung nicht. Durch dieses Ereignis verliert jedoch die Macht der Diagnose an Kraft im schulmedizinischen Krankheitsverständnis Karin Plüschkes und sie wird handlungsautonomer, indem sie gelernt hat, dass es möglich ist, ohne Diagnose erfolgreich zu therapieren, hier konkret, zu entgiften. Karin Plüschke konstruiert noch zwei ähnliche Situationen und kritische Erkrankungsprozesse, jeweils im Abstand von zwei Jahren. Das Medizinsystem, vertreten durch die behandelnden Ärzte, reagiert nicht oder verspätet, die Mutter kann nur durch das aktive Handeln der Familie unter handlungsmächtiger Leitung von Karin Plüschke gerettet werden. Bevor sich beim zweiten Mal die Hilfedynamik entfalten kann, verstirbt die Mutter. Letztendlich erlebt Karin Plüschke im Erleidensprozess ihrer Mutter, dass sie zwar helfen kann, dass diese aktive Hilfe umfassend, anstrengend und wiederholt gefragt sowie symptomatisch erfolgreich ist. Sie mündet jedoch nicht in einen aktiven Veränderungsprozess der Mutter. Sie verstirbt trotz der gemeinsamen Anstrengungen der Familie unter Karin Plüschkes Führung vorzeitig. Karin Plüschke selbst erkrankt auch wiederholt. Als besonders kritisch kennzeichnet sie ihre fortgeschrittene Brustkrebserkrankung, bei der auch Metastasen in der Wirbelsäule gefunden werden. Sie begibt sich in die standardisierte schulmedizinische Therapie von Operation, Chemotherapie und Bestrahlung, gefolgt von regelmäßigen Kontrolluntersuchungen. Hierbei muss sie feststellen, dass sie bei den Kontrolluntersuchungen vom medizinischen Personal jedes Mal ungläubig empfangen wird. Niemand rechnet damit, dass Karin Plüschke ihren Krebs immer noch überlebt. Sie kann außer dem ökonomischen Vorteil für die therapierende Schulmedizin keinen Nutzen für sich entdecken und wendet sich zunehmend ab. ‚Geschockt‘ war sie bereits, als sie nach ihrer Brustkrebs-Operation ein Gespräch der Schwestern anhört, die ihrerseits davon ausgehen, Karin Plüschke bekäme nichts mit. Dieses Gespräch mit einer hoffnungslosen Prognose versetzt sie in Angst. Bis heute hat sie darüber nicht mit ihrem Mann gesprochen, obwohl er zu der Zeit die einzige unterstützende relevante andere Person in Karin Plüschkes persönlichem Erkrankungsprozess ist.
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Von da an begibt sich Karin Plüschke in einen intensiven Prozess der alternativen Wissensaneignung und Selbstbehandlung, um zu überleben und weiteren Erkrankungen vorzubeugen. Sie lässt zudem im weiteren Verlauf keine Kontrolluntersuchungen mehr vornehmen, weiß also bis zum Interviewzeitpunkt nicht, ob die Metastasen verschwunden sind. Allerdings geht sie davon aus, dass ihr Krebs ausgeheilt ist. Dies markiert sie an der eigenen Haltung, die sie zu ihrem Krebs („Nein“) eingenommen hat. Eine Unterordnung unter die Negativprognose der Medizin widerstrebt ihr. Die Ausbildung zur Heilpraktikerin verortet Karin Plüschke klar in den Kontext eigener Handlungsermächtigung und -autonomie im Prozess der Erkrankungsverarbeitung, Selbstbehandlung, Gesundung und Prävention. Die Familiendynamik kollektiven familiären Krankheitserleidens setzt sich fort, als bei der Schwester ein metastasierender Darmkrebs diagnostiziert wird, der knapp zehn Jahre nach ihrer überstandenen Brustkrebserkrankung auftritt. Karin Plüschke folgt ihrer habituellen Logik – der Mobilisierung einer umfassenden, kostenintensiven und kräftezehrenden Hilfedynamik, alternativ und ergänzend zur Schulmedizin. Die Schwester profitiert von den naturheilkundlichen Behandlungen. Da Karin Plüschke erst am Anfang ihrer Tätigkeit als Heilpraktikerin steht, holt sie zudem einen erfahrenen Heilpraktiker hinzu. In diesem Prozess kommt eine weitere Dimension notwendiger Aushandlung hinzu. Die Spannungslinie zwischen Schulmedizin und alternativer Heilkunde verläuft quer durch die Familie und entzündet sich konkret an der Therapie der Schwester. Karin Plüschke muss sich mit dem Ehemann und Schwager der Schwester auseinandersetzen, die verlangen, die schulmedizinische Behandlung vor die alternativmedizinische zu stellen. Es erstaunt, dass sich die Frauen der „Festlegung“ der Männer unterordnen, vor allem die erkrankte Schwester, deren Leben konkret bedroht ist, und insbesondere vor dem Hintergrund, dass Karin Plüschke zu jener Zeit ihre eigene Krebserkrankung und -therapie bereits durchlebt hat und auf einen Gesundungsprozess sowie eine biographische Neuauslegung fernab schulmedizinischer Logik verweisen kann. Dies mag durch die Passivität der Mutter und die Medizinnähe der Eltern habitualisiert sein und wird vielleicht durch eine eigene Ehedynamik der Schwester getragen, die offensichtlich nicht auf die Unterstützung ihres Mannes bezüglich alternativer Heilverfahren zählen kann wie Karin Plüschke. Die Deutungshoheit der Medizin und der Druck der Männer dominieren die Hilfeleistung, die Karin Plüschke mobilisiert. Sie selbst gibt der Naturheilkunde eine Vorrangstellung und führt ihren erfolglosen Versuch, der Alternativmedizin eine stärkere Position in der familiären Diskussion zu geben, darauf zurück, dass
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es ihr nicht gelingt, die Männer als naturheilkundlichen Laien vom Potenzial der Naturheilkunde zu überzeugen. Sie gibt sich quasi die ‚Schuld‘ daran. An dieser Stelle zeigt sich die gesellschaftlich konstituierte und reproduzierte unvereinbar scheinende Spannungslinie zwischen legitimierter Schulmedizin und alternativer (nicht-ärztlicher) Heilkunde, die sich hier entlang der familiären Positionen zwischen den gesunden Männern und den erkrankten Frauen entfaltet. Eine Gegenposition darf nicht eingenommen werden, selbst wenn es den Tod bedeuten würde. Erst wenn schulmedizinisch austherapiert ist, darf etwas anderes erprobt werden, was im Falle der Schwester bedeutet, dass wertvolle Zeit verloren ist. Die Schwester ordnet sich dem Druck der Männer unter und durchleidet mehrere Serien Chemotherapie. Nach der 27. Behandlung setzt sie sich gegen die Männer ihrer Familie durch und beendet die Chemotherapie. Danach mobilisieren die Frauen gemeinsam noch einmal alle Kräfte und die verfügbaren finanziellen Mittel für eine umfangreiche naturheilkundliche Therapie. Nach einer Remission über mehrere Monate, in der es der Schwester sehr gut geht, kehrt der Krebs zurück und die Erkrankte verstirbt kurz danach. Den Tod der Schwester zu erleben, ist für Karin Plüschke nicht leicht. Sie erinnert jedoch, wie gut es ihrer Schwester in der kurzen Zeit nach Absetzen der schulmedizinischen Therapie und Begleitung mittels alternativer Verfahren ging. Dies markiert sie an gemeinsam gefeierten Familienfesten im Garten und ihrer Freude am „Aufleben“ ihrer Schwester. Karin Plüschke weiß aber auch, dass eine Therapie bei fortgeschrittenem Karzinom schwierig ist und dass die Paradigmen schulmedizinischer und alternativer Versorgung diametral gegenüberstehen. Diese gesellschaftlich konstituierte Unvereinbarkeit um die Deutungshoheit des Gutes Gesundheit (und Therapie) sowie die Paradoxie heilkundlicher Paradigmen kann sie nicht auflösen und argumentiert, dass sich an einer Stelle im Erkrankungsprozess zu entscheiden ist: „entweder, nich bloß Schulmedizin Naturheilkunde, sondern hier, was will ich nu. mein Immunsystem stärken, oder, runterfahrn.“. Damit überträgt sie das gesellschaftlich ungelöste Phänomen der Heilkunde auf die Mikroebene jedes einzelnen Patienten und jeder einzelnen Patientin. Die schmerzhafte Folge hat sie am Tod ihrer Schwester und den vorangegangenen familiären Konflikten persönlich erlebt. Dabei weiß Karin Plüschke auch um die Belastungen als Helfende, z. B. in der fortgeschrittenen Krebserkrankung. Sie empfindet aus dieser Position den Druck der naturheilkundlichen Gegner als unerträglich und schätzt jede Hilfe als wichtig an im Erleidens- und Bewältigungsprozess einer fortgeschrittenen Krebserkrankung. Hierzu führt sie nicht zuletzt die Aufrechterhaltung der Hoffnung, die Verbesserung des Allgemeinzustandes und die Begleitung bis zum Tod an. Sie
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selbst wird nach dem Tod der Schwester auch als Hospizbegleiterin ehrenamtlich tätig, nicht zuletzt, um die eigene Trauer zu verarbeiten. Hier konstruiert sie keine Trennung: Die schulmedizinischen und naturheilkundlichen Therapien ergänzen sich, was sich nicht zuletzt am Hospizgedanken, den Karin Plüschke lebt, zeigt. Zudem kann in dieser biographischen Phase die Medizin ihr Paradigma der Heilung aufgeben und gewünschte Alternativen der Patientinnen eher akzeptieren. Gleichwohl zeigt sich immer wieder in der autobiographischen Stegreiferzählung von Karin Plüschke, dass sie dem Druck der naturheilkundlichen Gegner kaum standhalten kann und sich dann zurückzieht. Diese Strategie, die auch eine implizite Kritik an der eigenen biographischen Strategie der Krankheitsverarbeitung und Gesundung abwehrt, geht bis zur Selbstverleugnung. Eine besonders schwierige Dynamik erlebt sie in ihrem Kollegium, einem ambulanten Intensivpflegeteam. Karin Plüschke ergänzt die medizinische Pflege ihres einzigen Patienten im Rahmen des Therapieplans um Verfahren der Phytotherapie, um das Wohlbefinden ihres Patienten zu verbessern, sein fortgeschrittenes neurologisches Leiden zu erleichtern. Sie kocht einen speziellen Tee aus Kräutern, um den Stuhlgang bei ihrem Patienten zu fördern. Da dies zu einem Mehraufwand im Rahmen regulärer Pflege führt, geht insbesondere eine Kollegin aktiv gegen Karin Plüschke vor und bezieht über die sozialen Medien das gesamte Team ein. Karin Plüschke versucht, offene Konflikte durch Rückzug, Mehrarbeit – so entsorgt sie den Müll, um zu verhindern, dass die Kollegin die Anwendung des Tees bemerkt – und Verleugnung – niemand weiß um ihre Berufserlaubnis als Heilpraktikerin und Karin Plüschke behauptet, den Tee für sich gekocht zu haben – zu vermeiden. Auch hier zeigt sich der biographische Habitus des Konflikts deutlich. Der eigenen Handlungsermächtigung durch den Beruf der Heilpraktikerin folgt zugleich die Entmächtigung im Kontext ihrer hauptberuflichen Tätigkeit als Krankenschwester. Diese Darlegung führt zur berufsbiographischen Entwicklung Karin Plüschkes, die sie erst in der Nachfragephase des Interviews genauer entfaltet. Sie wird nun zusammenfassend dargestellt, da sich auch entlang dieser die Konflikthaftigkeit des biographischen Habitus von Karin Plüschke zeigt. Der biographische Plan Karin Plüschkes nach Abschluss der zehnten Klasse ist es, Hebamme zu werden. Die strukturellen Rahmenbedingungen führen zu einer Verzögerung dieses Plans, den sie nur über die Weiterbildung nach einem Abschluss als Kranken- oder Kinderkrankenschwester umsetzen kann. Vor die Wahl gestellt, entscheidet sie sich für die Ausbildung zur Krankenschwester, gegen den Plan ihres Vaters, der zwischenzeitlich den Lehrvertrag als Kinderkrankenschwester unterschrieben hatte.
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Während ihrer Ausbildung kommt sie aufgrund eines akuten Fachkräftemangels bereits in den Operationssaal, was sie mit einer Ausnahmestellung markiert. Sie wird umfassend eingebunden und darf als Schülerin schon besondere Aufgaben wie das Instrumentieren einer Galle übernehmen. Karin Plüschke fühlt sich im Operationssaal wohl. Sie hat im Rahmen gynäkologischer Operationen zudem Zugang zu Entbindungen, was sie mit der Erfüllung ihres ursprünglichen Berufswunsches im Verbindung bringt. Diesen kann sie direkt nach der Ausbildung nicht mehr verfolgen, da sich zwischenzeitlich erneut die Rahmenbedingungen geändert haben. Nun werden Hebammen direkt ausgebildet und Krankenschwestern ist der Zugang verwehrt. An dieser Situation wird die Brechung des biographischen Handlungsschemas entlang der Strukturen deutlich. Endgültig verabschiedet Karin Plüschke den ersten Plan zugunsten einer dauerhaften Tätigkeit als OP-Schwester, als nach einem Jahr im OP der Chefarzt der Gynäkologie ihr noch einmal aktiv eine Delegierung anbietet, da Krankenschwestern nun der Zugang wieder ermöglicht worden war. Karin Plüschke lehnt ab, da sie mittlerweile die berufliche Freiheit und die kollegiale Zusammenarbeit schätzen gelernt hat und aus ihrer Perspektive zudem Ersteres über die Möglichkeiten beruflicher Entscheidungsfreiheit einer Hebamme stellt. Gleichwohl verweist ihre schattierende Konstruktion des „sich erledigt Habens“ in der Ergebnissicherung nicht uneingeschränkt auf eine positive Sicht der Aufgabe ihres ursprünglichen Plans. Die aktive Unterstützung, mit der der Chefarzt auf sie zugeht, verweist auf eine Ambivalenz, die Karin Plüschke in Bezug auf Autoritäten bzw. soziale Akteure innerhalb des medizinischen Systems entfaltet und die zugleich von biographischer Relevanz für sie sind. Wenn sie Ärzte in den Kontext von (versagender) Diagnostik und Therapie stellt, sind sie kritisch konnotiert. In ihrem sozialen beruflichen Rahmen des Operationssaals und den kollegialen Dynamiken nehmen die Ärzte eine kollegial-unterstützende, von ihr geschätzte Position ein. Dies wird an mehreren Stellen der autobiographischen Stegreiferzählung deutlich, insbesondere auch, wenn sie sich kritisch zu den ärztlichen Verhaltensweisen unter ökonomischen Zwängen nach der Wende positioniert und die ‚neuen‘ mit den ‚alten‘ Ärzten vergleicht, mit denen sie zusammengearbeitet hat. In der wiederkehrenden Konstruktion brechender biographischer Pläne und Handlungspotenziale kündigt sich eine biographische Verlaufskurve an. Viele Handlungsimpulse sind langfristig nicht tragfähig und scheitern, müssen durch neue ersetzt werden. So lehnt Karin Plüschke eine weitere Ausnahmemöglichkeit sozialen und beruflichen Aufstiegs ab. Sie könnte als jahrgangsbeste Absolventin ihrer Krankenschwesternausbildung zum Medizinstudium gehen. Sie entscheidet sich dagegen – auch hier mit der Konstruktion des „sich erledigt Habens“ – da zu der
7.4 Zusammenfassung
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Zeit die „Familiengründung“ in den Fokus rückt. Karin Plüschke wird schwanger, ihre Habitualisierung mütterlicher Sorge wird biographisch relevant. Zudem treten ökonomische Überlegungen in den Vordergrund, die eine Notwendigkeitsorientierung entlang ihres Herkunftshabitus zeigen. Karin Plüschke müsste für lange Zeit auf ein Einkommen verzichten und der Verdienst als junge Ärztin nach dem Studium entspricht etwa ihrem jetzigen Gehalt einer Operationsschwester. Somit kommt dieser berufliche Weg nicht infrage. Stattdessen qualifiziert sich Karin Plüschke nebenberuflich weiter. Sie absolviert die Weiterbildung zur OP-Schwester und holt als junge Mutter in drei Jahren ihr Abitur an der Abendschule nach. Hierin zeigt sich, dass Karin Plüschke die Vereinbarkeit von Familie, Vollzeit-Beruflichkeit und Bildungsprozess wichtig sind. Der Bildungsprozess wird dabei innerhalb der Möglichkeitsräume um die Vollzeit-Berufstätigkeit und die familiäre Sorge herumgruppiert. Die ökonomische Dimension spielt weiterhin eine zentrale Rolle in ihren biographischen Überlegungen. Dies zeigt sich an verschiedenen Stellen der autobiographischen Stegreiferzählung – nicht nur als Verhinderung sozialen Aufstiegs, auch als Stagnation in ungeliebten beruflichen Zwängen aus Angst, die Heilpraktikertätigkeit in Vollzeit nicht finanzieren zu können und zugleich ihr Einkommen zu verlieren sowie im Unverständnis, dass Patienten aus ökonomischen Gründen sich bei schwersten Erkrankungen mit fraglicher Heilungsaussicht der Schulmedizin unterordnen, ohne sich alternative Therapien bei einem Heilpraktiker oder einer Heilpraktikerin zu erschließen. Ihre Berufstätigkeit im Operationssaal des Krankenhauses füllt Karin Plüschke aus. Hier konstruiert sie eine lange Phase beruflicher Stabilität und Sinnfindung. Diese Situation ändert sich mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess. Karin Plüschke legt ausführlicher argumentativ biographische Entwertungserlebnisse dar. Die zunehmende Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die das ostdeutsche Gesundheitssystem abrupt und umfassend überformt, trifft sie persönlich hart. Sie markiert eine Verlaufskurve, wenn sie sagt: „und det hat mich irgendwie so n bisschen aus der Bahn ge:äh:worfen“.8
8 Zu
Folgen des transformationsbedingten Wandels für das Gesundheitswesen, die Karin Plüschke in ihren berufsbiographischen Suchbewegungen nach der ‚Wende‘ direkt betroffen haben mögen, vgl. Miehlke (1991: 14 f.). Er hebt u. a. hervor: 1) zwangsläufige Mehrfachuntersuchungen, die durch die schließungsbedingte Patientenmigration ohne Mitnahme von Befunden und Patientenakten, aber auch durch die hohe Verschuldung älterer Ärzte, die in die Niederlassung gezwungen wurden, bedingt waren; 2) Mangel an (hochspezialisiertem) Pflegepersonal durch die einkommensbedingte Arbeitsmigration in die westlichen Bundesländer; 3) geplante Reduzierung der stationären Bettenzahl. Als Folgen
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7
Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
Nicht mehr Mediziner haben alleinige Leitungsverantwortung, sondern Manager treten hinzu. Dies entfaltet sie als unvereinbaren Gegensatz von Fachlichkeit und Ökonomie. Sie verliert das Gefühl für die Sinnhaftigkeit ihrer Arbeit. Ihr berufliches Selbstverständnis auf Basis langjähriger Erfahrung wird erschüttert. Das Team, dem sie angehört und mit dem sie sich identifiziert, hat von Anfang an die orthopädische Abteilung mitbestimmt, deren Aufbau entlang neuer OPMethoden vorangetrieben. Gemeinsam haben sie sich in Weiterbildungen die theoretischen Wissensbestände und das praktische Können angeeignet, um z. B. Knie- und Hüftgelenke entlang anerkannter Standards operieren zu können. Nun zählt die langjährige Erfahrung nicht mehr, sondern die Qualität wird anhand vorgegebener Operationszahlen bewertet. Werden diese nicht erbracht, kann die Operationsmethode nicht mehr durchgeführt werden. Auf fachlicher Seite führt dies dazu, dass alles versucht wird, die Zahlen zu erreichen, egal ob Diagnose und Zustand der Patienten dies rechtfertigen. Karin Plüschke markiert hier ein Systemversagen. Sie erweitert ihre Kritik bzw. ihr Unverständnis auf die Patienten als andere Seite des Systems zwischen Leistungserbringern und Leistungsempfängern. Sie kann nicht verstehen, dass diese sich freiwillig einer Operation unterziehen, obwohl es aus ihrer fachlichen Sicht nicht nötig wäre. Ökonomische Paradoxien nimmt sie deutlich wahr, findet jedoch keinen reflektierten Umgang damit. Sie schiebt den Patientinnen hier zudem eine hohe Verantwortung für die eigenen Therapieentscheidungen zu, ohne die vertraute Form einer passiven Patientenrolle mitzudenken, die sie z. B. von ihrer Mutter kennt. Zudem wird deutlich, dass Karin Plüschkes berufliche Identifikation eng an das „Technische“ einer OP-Schwester gebunden ist. Die Kommunikation verläuft eher entlang der Fachlichkeit im Rahmen konkreter Operationsprozedere denn entlang der Beratung von Patientinnen und Unterstützung ihrer Entscheidungsfindung. Karin Plüschke löst diese biographische Krise des Entfremdens von der Tätigkeit, mit der sie sich identifiziert hatte und deren Erleiden mit der Ausbildung einer starken Migräne einhergeht, damit, dass sie nach 25 Jahren ihre Tätigkeit kündigt, überraschend für ihr Kollegium. Die Migräne tritt nicht wieder auf. Gleichwohl beginnt für Karin Plüschke nun eine unsichere und anstrengende Zeit berufsbiographischer Neuverortung. Handlungsschematisch beginnt sie, eine ambulante OP-Praxis eines neu niedergelassenen Chirurgen mit „aufzubauen“. Auch hier macht sie ähnliche Entwertungserfahrungen entlang systembedingter struktureller Grenzen. Zunächst werden ambulante Operationen gefördert. Nach benennt er eine Vergrößerung des Rückstandes im stationären Bereich des ostdeutschen Gesundheitswesens zu jener Zeit.
7.4 Zusammenfassung
399
Einführung der Praxisgebühr und dem zunehmenden ambulanten Operieren in den Krankenhäusern steigt der ökonomische Druck auf die Arztpraxis und Karin Plüschke wird gekündigt. Dass sie beruflich nicht handlungsautonom ist bzw. lange bleiben kann, wiederholt sich in verschiedenen Kontexten. Auch wenn sie nie lange arbeitslos ist, Pflegefachpersonen gesucht sind, stößt sie ambulant und stationär immer wieder an strukturelle Grenzen ihrer beruflichen Tätigkeit. So hängt sie in beruflichen Pendelsituationen fest oder es wird durch ein „Personalkarussell“ der Aufbau vertrauensvoller Teams und sozialer Bindungen bzw. der Aufbau einer beruflichen Identifikation mit den konkreten Arbeitskontexten verhindert. Auch unter dem zunehmenden Verlust „des Menschlichen“ leidet sie. Karin Plüschke kann ihre Handlungsautonomie auch nicht steigern, als sie sich zur Pflegedienstleiterin weiterbildet und tätig wird. Nach und nach gelingt es ihr, ihre Berufstätigkeit ihren privaten Lebensumständen anzupassen, sodass sie seit einigen Jahren in der Intensivpflege eines Patienten in ihrer Heimatstadt tätig ist. Hier verbleibt sie beruflich, steckt jedoch in den bereits erwähnten schwierigen Dynamiken des Pflegeteams fest, deren Spannungen zwischen ihren professionellen Wissensbeständen als Krankenschwester und ihren neu angeeigneten naturheilkundlichen Wissensbeständen als Heilpraktikerin verlaufen. Nach der Entlassung aus der ambulanten OP-Praxis beginnt Karin Plüschke, sich nebenberuflich zur Heilpraktikerin auszubilden. Was biographisch im Rahmen der alternativen Therapien der Mutter und mehr noch, in ihren eigenen Krankheitsverarbeitungs- und Gesundungsprozessen angelegt ist, findet in der beruflichen Unsicherheit Anschluss auf neuer Ebene, indem Karin Plüschke entscheidet, das alternative heilkundliche Wissen auch in einem neuen Beruf zusammenzuführen. Bei der Aneignung des neuen Berufes geht sie handlungsschematisch vor. In ihrer autobiographischen Stegreiferzählung wird sie lebendiger, wenn sie beschreibt und teilweise auch erzählt, wie sie sich den Beruf sukzessive aneignet und ihre Weiterbildungspraxis bis heute aufrechterhält. Die dreijährige Grundlagen-Ausbildung an der Volkshochschule, die in die amtsärztliche Überprüfung mündet, bleibt eher randständig in ihrer Erzählung. Hier geht es vorrangig darum, sie formal in den alltäglichen Arbeits- und Lebensrhythmus zu integrieren sowie finanziell zu bewältigen. Die Berufstätigkeit während der Ausbildung zu unterbrechen, kommt aus finanziellen Gründen nicht infrage. Dies zieht intensive koordinative Überlegungen nach sich, VollzeitBerufstätigkeit im Schichtsystem mit der Ausbildung zu kombinieren. Die zeitliche Organisation des Volkshochschul-Kurses, zu dem Karin Plüschke einmal in
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
der Woche am Abend nach der Arbeit fährt, kommt ihr entgegen. Zudem lernt sie während der Ausbildung drei weitere Teilnehmende aus ihrer Wohnumgebung kennen. Sie schließen sich zusammen und fahren gemeinsam mit dem PKW zur Ausbildung, sodass Kosten gespart werden. Karin Plüschke bewegt sich hier pragmatisch zwischen den zeitlichen und ökonomischen Zwängen und schließt an ihre biographische Habitualisierung an. Viel wichtiger als die formale Grundausbildung, die Karin Plüschke zudem im intensiven Selbststudium unter Rückgriff auf ihr medizinisches Vorwissen erfolgreich bis zur amtsärztlichen Überprüfung absolviert, ist für sie die fortwährende Aneignung des naturheilkundlichen Wissens, die sie aus der intrinsischen Motivation, etwas für ihre Gesundheit zu tun, handlungsschematisch vorantreibt. Wie sie ausführlich darlegt, gehören regelmäßige naturheilkundliche Weiterbildungen bis zum heutigen Tage zu ihrem Verberuflichungsprozess als Heilpraktikerin dazu. Dabei spezialisiert sie sich nicht auf ein zentrales Thema oder ein geschlossenes Heilsystem wie die Traditionelle Chinesische Medizin oder Klassische Homöopathie, sondern eignet sich einen umfangreichen Fundus an naturheilkundlichen und alternativen Verfahren an, die sie nach Bedarf kombinieren kann und die zudem an ihrem beruflichen Können als Krankenschwester ansetzen (invasive Eingriffe wie diagnostische Blutentnahmen, Baseninfusionen etc.). Sie verfügt über einen praktischen Methoden- und Technik-Mix zur Entgiftung, Aktivierung der Selbstheilungskräfte und Beschwerdelinderung, die sie entlang der medizinischen Symptomlogik ihrer Patientinnen anwendet. Karin Plüschke habitualisiert sich beruflich zwischen professionellen schulmedizinischen und alternativen praktischen beruflichen Wissensbeständen sowie ihrer familiären Herkunft umsorgenden Helfens. Dabei verbleibt sie in einer eher paternalistischen Patientenorientierung, die sich in ihrer Kritik und Unverständnis für Patientenorientierungen und subjektive Sinnsetzungen sowie der Tendenz zum überfürsorglichen Helfen, verbunden mit der starken Handlungsorientierung zeigen. Ihr Modus der Berufsausübung kann mit Versorgung, mit der starken Tendenz zur Überversorgung, gefasst werden. Eine wirkliche berufsbiographische Wende kann Karin Plüschke mit dem Erwerb der Heilpraktikererlaubnis und dem Anhäufen des umfangreichen komplementären und alternativen Wissens allerdings bis zum Interviewzeitpunkt nicht vollziehen. Aus ökonomischen Gründen der Einkommenssicherung verbleibt sie in prekären beruflichen Dynamiken, die mit Mobbing-Erfahrungen und der Verleugnung ihres Heilpraktiker-Abschlusses einhergehen. Sie eröffnet keine eigene Praxis, sondern hat ein kleines Zimmer in ihrer Wohnung als Behandlungszimmer eingerichtet bzw. praktiziert im Hausbesuch. Auf Werbung sowie ein Praxisschild verzichtet sie, bleibt quasi ‚im Verborgenen‘. Sie behandelt nur etwa drei
7.4 Zusammenfassung
401
Patientinnen pro Woche, ihre Familienangehörigen therapiert sie darüber hinaus gebührenfrei. Sie weiß, dass sie ihren Patientinnen helfen kann, und trifft auch bei Vorträgen und Diskussionsrunden auf ein reges Interesse an ihrer Tätigkeit. Jedoch bleiben die Patientinnen letztlich aus. Darauf reagiert sie mit Unverständnis. Zum einen würde sie erwarten, dass zufriedene Patientinnen sie weiterempfehlen, zum anderen kann sie nicht verstehen, dass die privaten Kosten, egal welcher Höhe, Patienten abhalten könnten. Aus diesem Dilemma kann sich Karin Plüschke nicht befreien, sie wartet auf den beruflichen Erfolg als Heilpraktikerin, ohne ihre konkrete Situation zu verändern – mit der Chance auf Verbesserung. Damit festigt Karin Plüschke ihre ökonomischen und beruflichen Grenzen. Dies belegt, dass die eigene gesundheitliche Handlungsautonomie, zugespitzt in der Dimension des Überlebens schwerer Erkrankung, über der beruflichen Verwirklichung, die Ausdruck im Praxiserfolg finden könnte, steht. Die wenigen Patienten dienen der Refinanzierung hoher eigener Therapie- und Weiterbildungskosten. Zuletzt wird noch auf die Dimension des sozialen Austausches verwiesen. Sie ist neben der Handlungsorientierung zentrale Kategorie der Lern- und Verarbeitungsstrategie von Karin Plüschkes biographischem Habitus, zumal in der beruflichen Habitualisierung als Heilpraktikerin. Als relevante andere führt Karin Plüschke neben dem Regena-Arbeitskreis auch zwei befreundete Heilpraktikerinnen an mehreren Stellen ihrer autobiographischen Stegreiferzählung auf. Sie sind Akteurinnen sozialer Einbindung und Austauschmöglichkeit im Kontext der sinnhaften Alternative zu einem ökonomischen medizinischen System und heiklen beruflichen Kontexten in der Pflegetätigkeit. Dabei erfolgt der Austausch auf Basis alltagsweltlicher und beruflicher Erfahrungen und Wissensbestände. Im Kontext der Heilpraktikertätigkeit bezieht er sich auf das gemeinsame Besuchen von Weiterbildungen, das Erproben neuer Methoden bzw. gegenseitige Aktualisieren beruflichen theoretischen und praktischen Wissens, das gegenseitige Therapieren sowie auf Fallbesprechungen. In der biographischen Gesamtformung präsentiert sich Karin Plüschke als Frau, die sich konflikthaft und spannungsreich zwischen medizinischen und alternativen Wissensbeständen, Lebens- und Arbeitskontexten bewegt, diesen Zustand jedoch nicht auflöst. Dies entfaltet sie an einer durchgehenden Erzähllinie einer kollektiven familiären Erleidensgeschichte verschiedener Erkrankungen der Frauen ihrer Familie, von denen nur Karin Plüschke überlebt. Viele Handlungsimpulse erweisen sich langfristig als nicht tragfähig und müssen mühsam durch neue ersetzt werden. Die Stabilität der Berufssituation geht mit der ‚Wende‘ verloren und kann zwar formal, aber nicht sozial wiederhergestellt werden. Auch der Heilpraktikerberuf bietet als konkrete ökonomisch gesicherte Berufsoption
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Karin Plüschke: Konflikt und Überleben im Spannungsfeld …
keine biographische Wende. Nur das damit verbundene Wissen und praktische Fertigkeiten sowie die soziale Einbindung stellen positive biographische Möglichkeitsräume zur Verfügung, die Karin Plüschke aktiv aufgreift. Es lässt sich formal und inhaltlich die Prozessstruktur der biographischen Verlaufskurve herausarbeiten. Die Spannung zwischen Handlungspotenzial und -abbruch biographischer Prozesse zeigt sich als relevante Fallstruktur. Abbildung 7.1 zeigt den biographischen Habitus von Karin Plüschke im Überblick.
Konflikt Biographische Lern- und Verarbeitungsstrategien • Gemeinsames Handeln • Sozialer Austausch -> Zugewinn an praktischem Wissen und Handlungsautonomie -> Zurücknahme und Verleugnung in Kontroversen
Berufliche Handlungspraxis (Über-)Versorgung
Konzeptualisierung • Anwendung naturheilkundlichen Wissens auf medizinische Symptomlogik • Praktischer Methoden- und Technik-Mix zur Entgiftung, Aktivierung und Linderung
Biographische Motivation • • • • ->
Orientierung • Alltags- und berufspraktisches Wissen -> Zugewinn an Handlungsautonomie
• •
Verharren im Spannungsfeld Warten auf den beruflichen Erfolg
Überleben schwerer Erkrankung -> Erfolg Bewältigung familiärer Krankheitsdisposition Umgang mit medizinischem „(System-)Versagen“ Erweiterung beruflichen Handlungswissens Ambivalenz
Krankheitsverarbeitung • Deutungshoheit Medizin -> Erweiterung und Überformung – Referenzrahmen praktische Naturheilkunde • Selbstbehandlung als Überlebensstrategie
Selbstorganisation • • • • ->
Nebenberufliche Aus-/Weiterbildung und Tätigkeit Rückgriff auf medizinisches Vorwissen Erhalt der Ursprungsberuflichkeit Kostenlose Versorgung / Refinanzierung Festigung ökonomischer und beruflicher Grenzen
(Biographische und professionelle) Reflexivität • Unbearbeitete Spannungen • Ökonomie • Berufstätigkeit zwischen medizinischem und naturheilkundlichem Paradigma • Medizinische Versorgungslogik • Fehlen theoretischer Idee zu professionellen Paradoxien
Patient*innen-/Klient*innenorientierung • Paternalismus • Helfen und Handeln • Kritik und Unverständnis
Abbildung 7.1 Der biographische Habitus von Karin Plüschke
8
Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Die präsentierten drei Fallanalysen zeigen biographische Habitualisierungsprozesse von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern. Diese wurden entlang der im Theorie-Empirie-Prozess entwickelten folgenden Analysekategorien herausgearbeitet: biographische Lern- und Verarbeitungsstrategien, Orientierung, Krankheitsverarbeitung, (biographische und professionelle) Reflexivität sowie spezifisch für die berufliche Handlungspraxis: die Konzeptualisierung, biographische Motivation (für den Heilpraktikerberuf), die Selbstorganisation und die Patient*innen/Klient*innenorientierung. Die drei Fälle werden nun fallübergreifend kontrastiert (Abschn. 8.1). Dabei wird dem Erkenntnisinteresse dieser Studie gefolgt, die subjektive biographische Aneignungsleistung der handelnden Akteurinnen und Akteure zu betrachten, in Auseinandersetzung mit den sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere vor dem Hintergrund institutionell ungerahmter beruflicher Aneignung und Ausübung. Nicht die institutionell kanonisierte Ausbildung eines professionellen Habitus bestimmt die Professionalität von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, sondern ihre biographischen Habitualisierungen bestimmen die individuelle Verberuflichung. Anschließend wird in Abschnitt 8.2 ein Prozessmodell der individuellen Professionalisierung entlang biographischer Konstruktionen vorgestellt. In Abschnitt 8.3 wird die Studie abschließend methodisch reflektiert und es werden offene Forschungsfragen aufgearbeitet.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2_8
403
404
8.1
8
Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Der biographische Habitus – kontrastiver Vergleich der untersuchten Fälle
Die Analyse der autobiographischen Stegreiferzählungen ergab drei maximale Kontraste biographischer Habitualisierung und seiner beruflichen Ausformung. Herausgearbeitet wurden der biographische Habitus der Anpassung (Karl Mitteldorf), der sich in der beruflichen Handlungspraxis des Wissens ausdrückt, der biographische Habitus der Selbstverwirklichung und persönlichen Entwicklung (Elsa Wessig), der sich in der beruflichen Handlungspraxis von Ermöglichen und Gestalten widerspiegelt, sowie der biographische Habitus des Konflikts (Karin Plüschke), der sich in der Handlungspraxis der (Über-)Versorgung zeigt. An einem Ende des heterogenen Feldes der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker präsentiert sich Karl Mitteldorf mit seiner autobiographischen Selbstdarstellung. Ihn kennzeichnet die Anpassung im Streben nach Anerkennung und Stabilität. Fernab jedes vorberuflichen medizinischen Hintergrunds steht bei ihm die Sicherung seiner beruflichen und sozialen Existenz, die Herstellung (berufs-)biographischer Kontinuität, im Vordergrund. Der gesellschaftliche Transformationsprozess der ehemaligen DDR führt ihn als Parteifunktionär an die Grenzen der eigenen biographischen Identität. Er sieht sich gezwungen, sich beruflich und lebensweltlich ganz neu zu orientieren. Der Heilpraktikerberuf bietet sich ihm als Chance, die er handlungsschematisch ergreift. Karl Mitteldorfs gesamtes autobiographisches Interview dreht sich um den neuen Beruf, den er, ökonomisch begründet, zu einem Erfolg machen möchte und muss – in einer Vollzeiterwerbspraxis als alleiniger Versorger der Familie nach der ‚Wende‘. Dabei präsentiert Karl Mitteldorf einen biographischen Habitus, der unter dem Konformismusprinzip auf der Suche nach Stabilität und Anerkennung vom Ergreifen der Gelegenheiten, die ihm vom System geboten oder von Autoritäten in sein Blickfeld gerückt werden, der Erfüllung von Anforderungen, von Disziplin und Verzicht geprägt ist. Bezüglich der Konzeptualisierung der eigenen Tätigkeit ist es die Übernahme und akribische Umsetzung des machtvollen Heil-Konzepts der Klassischen Homöopathie, das auch bei Medizinerinnen und Medizinern anerkannt ist, von ihnen gelehrt und praktiziert wird. Dessen klare, in Fachbüchern verankerte Regeln ermöglichen Karl Mitteldorf die Übernahme von (Experten-)Wissen als Modus der Berufsausübung. Mit diesem Modus setzt er an vorherig erworbene habituelle Muster an: Seine prekäre Herkunft früher familialer Erschütterung, mangelnder sozialer Bindungen und des fremdbestimmten Aufwachsens im Kinderheim sowie die ideologisch überformte Berufstätigkeit für den Jugendverband der DDR und später die SED bringen die Unterordnung unter Autoritäten, Orientierung an klaren Regeln und deren Umsetzung sowie ein inkorporiertes ‚Wissen‘
8.1 Der biographische Habitus – kontrastiver Vergleich …
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um gesellschaftliche Normen mit sich. Biographisch stößt er immer wieder an Grenzen seiner Moralvorstellungen. Seine Affinität zu philosophischer Literatur ermöglicht ihm die Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens, und nach dem gesellschaftlichen Transformationsprozess, der ihm die Sinnentleerung seiner Beruflichkeit vor der ‚Wende‘ verdeutlicht, begibt er sich planvoll auf den mühevollen Weg der erfolgreichen Gestaltung seiner neuen Beruflichkeit. Damit gewinnt er zugleich an Handlungsautonomie. Elsa Wessig, als hier dargestellter zweiter Fall, präsentiert sich in ihrer Geschichte als freidenkender Mensch auf der voranstrebenden Suche nach sich selbst. Sie präsentiert einen biographischen Habitus von persönlicher Entwicklung und Selbstverwirklichung. Ihre berufliche Karriere als Künstlerin, die ihre sozial erwartbaren Ambitionen weiblicher Rollenvorstellung dominiert, ist geprägt von einem hohen Maß an Bildungs- und Entwicklungsaspiration, der sie mit Spontaneität, Offenheit und Kreativität folgt. Sie erwirbt im Laufe ihres Lebens verschiedene künstlerisch-kreative Berufsabschlüsse. Auch Elsa Wessig gerät mit der ‚Wende‘ in eine „Sinnkrise“, die sie mit der Lektüre psychosomatischer Literatur bearbeitet. Im Zuge dessen trifft sie die Entscheidung, ihr berufliches Betätigungsfeld grundlegend zu verändern. Selbst im konsequenten Bestreben um Weiterentwicklung, der Bearbeitung persönlicher Lebensthemen, dabei auch Grenzen überschreitend, unterstützt sie nun vorrangig Frauen, Perspektiven zu finden an schwierigen Übergängen im Leben. Der Heilpraktikerabschluss stellt für Elsa Wessig dabei ‚nur‘ die gesetzliche Legitimation ihres Handelns dar. Sie übt ihren Beruf als Manifestation ihrer persönlichen Entwicklung sowie neuer Ausdifferenzierung einer erfolgreichen Karriere aus. Finanziell ist sie von seinem Erfolg unabhängig. Mit ihren Klientinnen führt sie aufwendige individuelle Einzelsitzungen oder Gruppenseminare durch, in denen sie sich intuitiv auf die individuellen Gegebenheiten einlässt und sowohl körperorientiert arbeitet als auch gleichberechtigt spirituelle Ansätze einbezieht. Dabei arbeitet sie mit Konzepten der Trauma-Auflösung, Transformation und biographischen Entwicklung. Ihr Modus der Berufsausübung lässt sich mit Gesundheit ermöglichen und gestalten umschreiben. Einen dritten maximalen Kontrast biographischer Habitualisierung und individueller Verberuflichung als Heilpraktikerin bildet die autobiographische Stegreiferzählung von Karin Plüschke. Ihr biographischer Habitus kann mit Konflikt gefasst werden, der sich formal und inhaltlich als relevante Fallstruktur der Spannung von Handlungspotenzial und -abbruch ableiten lässt und sich durch alle thematisierten Lebensbereiche zieht. Karin Plüschke ist als Krankenschwester bereits vor Erwerb der Heilkundeerlaubnis in der Medizin verortet. In ihrem Leben besitzen Erkrankungen einen so dominanten Stellenwert, dass sie ihre
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
biographische Konstruktion zu einer Erörterung von Prozessen des Krankheitserleidens werden lässt. In sukzessive ablaufenden Prozessen der Ablösung, die sie jedoch nie ganz vollzieht, kritisiert sie das schulmedizinische Wissenssystem und seine ökonomisch orientierten Handlungspraxen, erschließt sich Handlungsoptionen und erprobt neue Möglichkeiten, um aus einer sorgenden und versorgenden Logik heraus ihre Mutter, ihre Schwester und sich selbst in Prozessen der Heilung, Krankheitsbewältigung und des eigenen Überlebens zu unterstützen. Dabei folgt Karin Plüschke einer biographischen Lern- und Verarbeitungsstrategie der Handlungs- und Sozialorientierung. Ihr berufliches Handeln ist durch Helfen und Handeln, durch eine maximale Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten, bestimmt. Hierbei folgt sie einer biographisch und beruflich habitualisierten paternalistischen Therapeutin-Patientin-Orientierung. Sie wendet naturheilkundliches Wissen auf die medizinische Symptomlogik an und nutzt einen praktischen Methoden- und Technik-Mix zur Entgiftung, Aktivierung der Selbstheilung und Beschwerde-Linderung. Ihre Ausbildung und langjährige Tätigkeit als Krankenschwester, aber auch die familiären Erfahrungen mit dem ‚Versagen‘ des Medizinsystems lassen sie perspektiverweiternd auf ärztliche Diagnostik, aber auch generell kritisch auf die ökonomischen Entwicklungen im Gesundheitswesen blicken. Dabei bewirkt insbesondere die abrupte Ökonomisierung des Gesundheitswesens der ehemaligen DDR im Zuge der ‚Wende‘ eine tiefe Verunsicherung ihrer beruflichen Identität. Trotz aller Kritik schafft Karin Plüschke es allerdings nicht, sich von der schulmedizinischen Logik sowie auch Tätigkeit zu lösen. Sie bleibt in ihrer hauptberuflichen Tätigkeit als Krankenschwester in der Schulmedizin verortet und steht den alltäglichen Konflikten zwischen den Wissenssystemen und Handlungspraxen gegenüber. Sie kann ihr berufspraktisches Wissen und eine persönliche Handlungsautonomie steigern, nimmt sich jedoch in offenen, kontroversen Aushandlungsprozessen zurück. Karin Plüschke verharrt im Spannungsfeld der Versorgung zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde. Die Angst vor dem finanziellen Misserfolg einer selbstständigen Tätigkeit als Heilpraktikerin ist dabei Hauptmotiv. Die ‚im Verborgenen‘ ausgeübte Tätigkeit als Heilpraktikerin dient der Refinanzierung ihrer eigenen Behandlungen und Fortbildungen. Dies ist ihr durch ihren Willen zu überleben zur existenziellen, zur habituellen Notwendigkeit geworden. Im Folgenden werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und institutionellen Spezifika des Heilpraktikerberufes einbezogen, um die Kontraste zwischen den Fällen herauszuarbeiten – um aufzuzeigen, wie die Akteurinnen und Akteure die Möglichkeiten für sich chancenreich auslegen, die habituellen Grenzen ausschreiten und erweitern, wie sie aber auch den strukturellen Grenzen
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unterliegen. Dies lässt sich insbesondere an den Schlüsselkategorien der Krankheitsverarbeitung, der Patient*innen-/Klient*innenorientierung, der (biographischen und professionellen) Reflexivität sowie der Selbstorganisation zwischen Struktur und Subjektivität herausarbeiten. Die Spezifik des Heilpraktikerberufes ermöglicht, dass der einzelne Mensch in der Berufsaneignung auf seinen biographischen Vorerfahrungen und Wissensbeständen aufbauen kann, die sich einerseits aus beruflichen, andererseits aus privaten Vorerfahrungen und subjektiv erworbenen Sichtweisen, z. B. aus der Bearbeitung von Krankheits- und Gesundungsprozessen, speisen. Ebenso kann die Berufsausübung der eigenen biographisch habitualisierten Logik entsprechend ausgelegt und angepasst, der Beruf je individuell praktiziert werden. Für Karl Mitteldorf ist die Entwicklung von einem passiven Patienten, dessen Erwartungen enttäuscht werden und der dem Leidensprozess der Mutter hilflos und sich zunehmend abgrenzend zusieht, hin zu einem sich selbst behandelnden und gesundheitsbewusst lebenden Akteur biographisch relevant. Diese Entwicklung steht ihm allerdings nicht selbstreflexiv zur Verfügung. Indem er am Alkoholismus der Mutter als medizinisch anerkannter Diagnose festhält, sie in ihrer Verlaufskurve nicht in soziale Kontexte einbindet und die Ablehnung durch die behandelnden Ärzte kritisch enttäuscht akzeptiert, zeigt sich zudem seine Nähe zum Wissens- und Deutungssystem der Profession der Medizin. Karl Mitteldorf konzeptualisiert seine berufliche Handlungspraxis entlang des Expertenwissens. Andreas Hanses (2008) fasst professionelles Wissen als Zusammenwirken von explizitem Professionswissen, implizitem Routinewissen und berufsbiographischen Wissensbeständen, ausgedrückt z. B. in Kompetenzen. Die professionelle Kanonisierung muss Karl Mitteldorf selbst suchen. Er setzt am herrschenden Wissensprofil der Medizin an. Diesen Anspruch nah an der medizinischen Wissensordnung findet er in der Klassischen Homöopathie erfüllt, deren umfangreichen Wissensbeständen, systematisiert und standardisiert in dicken Regelwerken, er sich intensiv und tiefgreifend widmen kann. Hier ist für sein Professionalitätsmuster entscheidend, dass er eine ‚wissenschaftliche‘ Variante, vermittelt durch Mediziner, wählt. Bei der Aneignung kommt ihm seine biographische Habitualisierung zugute, selbstständig und akribisch an einem Thema zu arbeiten, solange er dieses für sinnvoll erachtet. Mit der ihm eigenen Disziplin eignet er sich die neuen Wissensbestände an. Diese bilden die Basis seines beruflichen Handelns. Karl Mitteldorfs berufliches Handeln orientiert sich an der Patientenzufriedenheit und ist zweckorientiert. Es zielt auf die (schnelle) Heilung seiner Patienten. Dafür engagiert er sich mit hohem zeitlichen Aufwand, erwartet jedoch auch das gleiche Engagement von der Gegenseite, nicht zuletzt in deren Unterordnung ihrer
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
jeweils persönlichen alltagspraktischen Belange, aber auch ihrer subjektiven Sinnsetzungen von Erkrankung und Gesundung unter seine therapeutische Logik der Expertise. Hierin zeigt sich ein paternalistisches Verständnis der Beziehung und Interaktion zwischen ihm als Heilpraktiker und seinen Patienten. Die Nähe zur Schulmedizin, in der der Paternalismus nach wie vor gängiges Interaktionsmodell ist, drückt sich hierin aus. Dies ist zugleich eine Gemeinsamkeit zum Fall Karin Plüschke, die ebenfalls einem paternalistischen Modell folgt, es allerdings mehr an die eigene Versorgungslogik bindet, während Karl Mitteldorf eher aus einem distanzierten Expertentum mit hohem moralischen Anspruch heraus agiert. Die eigene biographische Entwicklung Karl Mitteldorfs in Bezug auf den Umgang mit Krankheit und Gesundheit sowie die zunehmende Handlungsautonomisierung und Partizipation finden keine Berücksichtigung oder Übertragung auf die Patienten in seiner beruflichen Handlungspraxis. Hinzu kommt die fehlende (theoretisch fundierte) Idee zur sozialen Kontextualisierung von Erkrankung und vor allem, wie die jeweilige Patientin oder der Patient die eigene Erkrankung (im Zuge biographischer Erfahrungsaufschichtung) selbst kontextualisiert und aktiv bearbeitet, ggf. auch gegen die professionelle Meinung vertritt. Dies wäre notwendige Erweiterung, um professionell einen Gesundungsprozess entsprechend einer je individuellen biographischen Logik zu begleiten. Aktuell setzt Karl Mitteldorf an seiner biographischen Habitualisierung an, wenn er z. B. empathisch auf Patienten zugeht, die mit Alkoholmissbrauch oder -erkrankungen in ihrer Familie zu tun haben. Die Bearbeitung deren Problematik erfolgt dann jedoch wieder im Rahmen der Symptomlogik Klassischer Homöopathie, wie er sie sich angeeignet hat. Damit einhergehend wird eine weitere Grenze seines beruflichen Habitus deutlich – eine Grenze, die sich durchaus auf den Heilpraktikerberuf an sich übertragen lässt – nämlich die, das eigene wissenschaftliche Konzept theoretisch zu reflektieren. Geht man davon aus, dass die Klassische Homöopathie Hahnemanns wissenschaftstheoretisch begründbar ist (vgl. dazu ausführlich Würger 2013), kann dieser Fundus auch entscheidend die praktische Heilpraktikertätigkeit beeinflussen. Zum einen, um sich als gleichberechtigter Heilkundiger in den medizinischen Diskurs einzubringen – über die komplementäre Funktion hinaus, auf die sich Karl Mitteldorf zurückzieht, sie jedoch auch als unzureichende Situation im Kontext des Patientenwohls markiert – zum anderen, um eine diesbezügliche Skepsis von Hilfesuchenden zu entkräften. Die (Aner-)Kenntnis und Reflexion der wissenschaftstheoretischen Fundierung der Klassischen Homöopathie Hahnemanns könnte Karl Mitteldorf eine reflektierte systematische Zusammenführung von körperlichen, geistigen und psychischen Dimensionen ermöglichen und auch
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die Erweiterung um die sozialen Aspekte von Erkrankung und Gesundung erleichtern. Bezüglich der sozialen Lage der „Leute“ bleibt Karl Mitteldorf dahingehend unreflektiert, dass seine Herkunft einer ähnlich prekären Lage entspricht. Er grenzt sich ab – persönlich wie auch als Vertreter des Berufsstandes der Heilpraktiker. Ebenso wenig reflektiert er, dass die Klassische Homöopathie eine Behandlungsform ist, bei der je Behandlung eine höhere Gebühr zu zahlen ist. Mit der Übernahme von strikt standardisiertem Expertentum und Distanz zeigt sich eine Grenze seiner Tätigkeit, die auf (kollektive) Distinktionspraxen von Vertretern des Heilpraktikerberufes bzw. der Klassischen Homöopathie deuten. Karl Mitteldorf ist auf sozial besser gestellte Klientinnen angewiesen und erwartet diese auch. Es fehlt ihm eine Strategie des Zugangs und der Behandlung von Menschen niedrigerer sozialer Lagen oder auch der Behandlung nah am Alltagswissen der Menschen. Die strukturelle Grenze des Berufes, dass er nicht über die GKV Gebühren abrechnen kann, erschwert ihm die Suche nach einer Lösung. Hier zeigen sich Grenzen der biographischen und professionellen Reflexivität Karl Mitteldorfs, die zugleich entlang der strukturellen Grenzen fehlender Institutionalisierung des Lern- und Bildungsprozesses im Heilpraktikerberuf verlaufen. Karl Mitteldorfs Bildungsprozess entlang dem Wissens- und Deutungsprofil der Medizin verweist zugleich auf deren Grenzen institutioneller Selbstreflexivität (vgl. Alheit/Hanses 2004). Die institutionelle Selbstreflexivität gewinnt auch dann an Relevanz, wenn Karl Mitteldorfs Dozententätigkeit in der Weiterbildung von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern in den Blick genommen wird. Zum einen ist die Vermittlung alternativer Konzepte gefragt, die nah an den subjektiven Sinnsetzungen der Menschen ansetzen, wie die Vermittlung biographietheoretischer Konzepte, der rekonstruktiven Fallarbeit und der Partizipation. Zum anderen muss an den biographischen Ressourcen, subjektiven Sinnsetzungen und Orientierungen der Lernenden angesetzt werden, die die Heilpraktikerausbildung auf Basis eigenen Vorwissens und Relevanzen absolvieren und in ihre lebensweltlichen Zusammenhänge einbinden. Dies erfordert eine biographieorientierte pädagogische Praxis. Karl Mitteldorfs konstruierter Erfolg bei den Lernenden speist sich zudem aus dem direkten Austausch mit ihm als einer erfahrenen Person, die authentisch aus der Praxis erzählt – im Gegensatz zu einem Seminar mit einer Top-down-Frontalaufbereitung von Lernstoff. Letzteres ist selbst bevorzugte institutionalisierte Lehr-Lernmethode Karl Mitteldorfs und er reflektiert das Potenzial sozialen Austausches im Bildungsprozess Erwachsener nicht. Hierin zeigt sich ein pädagogisches und didaktisches Entwicklungspotenzial seiner Dozententätigkeit.
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Für Elsa Wessig ist Krankheit im biomedizinischen Sinne kein Thema. Sie arbeitet an ungelösten Themen der einzelnen Klienten und Klientinnen entlang eigener bio-psycho-sozialer und biographischer Relevanzen. Sie nimmt allerdings bei sich selbst sensibel wahr, wie sie körperlich auf soziale Spannungen und drängende biographische Themen reagiert. Elsa Wessig bearbeitet im Verlauf ihrer langen Lebensspanne, in der sie verschiedenartigste biographische Erfahrungen aufschichtet, ein ungelöstes Thema – das ihrer sexuellen Verklemmtheit und der Angst vor Männern – und löst es auf. Dieser Prozess benötigt fast 70 Jahre ihres Lebens. Sie bewältigt ihn erfolgreich, indem sie an ihren biographischen Ressourcen ansetzt – ihrer Offenheit, Neues zu entdecken, diesem Drang spontan zu folgen und im praktischen Vollzug kreativ und mutig zu erfahren. Die Neugier, dabei auch unkonventionelle, unpopuläre Methoden zu erproben, unterstützt diesen Prozess und ermöglicht ihr, eine Bandbreite an Methoden zu erschließen, vollständig anzueignen und auf Basis eigenen Erfahrungswissens und Intuition zu wissen, was bei einem funktionieren kann, beim anderen vielleicht nicht. Elsa Wessig baut zudem auf ihren künstlerisch-kreativen beruflichen Vorerfahrungen auf, um nun an den jeweils individuellen Fall, der sich ihr in den Sitzungen präsentiert, anzuschließen und in einer gleichberechtigten Art und Weise, in der sie selbst in den Hintergrund tritt, an der Lösung des präsentierten Problems zu arbeiten. Dabei steht ihr ein ‚Pool‘ an Techniken und Methoden zur Verfügung: Sie malt, praktiziert Qi Gong und Yoga mit den Klientinnen, arbeitet mit verschiedenen körperorientierten psychotherapeutischen Therapiemethoden oder führt biographische Gespräche. Dabei begibt sie sich in einen mehrtägigen tiefgreifenden Veränderungsprozess mit ihren Klientinnen und unterstützt diesen individuell. In dieser Zeit leben diese in ihrem Haus, was auf einen gewissen Grad an Nähe zu ihren Klientinnen schließen lässt, auch wenn diese ihre Freiräume zur individuellen Biographiearbeit haben. Elsa Wessig ermutigt damit zur Entwicklung, agiert selbst aus dem Hintergrund, was auf ein modernes Konzept von Partizipation verweist. Die Eröffnung neuer Handlungspotenziale bezieht sich z. B. auf das Überwinden von genderbedingten Grenzen. Weiterer Bestandteil Elsa Wessigs Arbeit ist, in Erfahrungscamps mit Kindern aktiv präventiv zu arbeiten. Dieser Teil ihrer Tätigkeit zielt darauf ab, Kinder aus sozial benachteiligten Familien in ihrer Entwicklung zu stärken. Elsa Wessigs (biographische und professionelle) Reflexivität ist eng mit der eigenen und den Biographien ihrer Klientinnen verbunden, die sie im Gesamtablauf des Lebens reflektiert. Sie setzt konsequent an den biographischen Fragestellungen ihrer Klientinnen (und Klienten) an. Sie wendet biographische Zugänge allerdings eher intuitiv an, auf Basis ihrer eigenen Selbsterfahrung. Damit werden durchaus intuitive sowie auch reflexive Komponenten von Professionalität
8.1 Der biographische Habitus – kontrastiver Vergleich …
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sichtbar, die allerdings auf ihre eigene Fähigkeit der Biographizität zurückzuführen sind und ihr individuelles Selbstverständnis in den Mittelpunkt stellen. Eine Erweiterung mag ihr Vorgehen erfahren, wenn sie um biographietheoretische Konzepte wüsste, die neben der Individualität diese konsequent in die Dialektik von Subjektivität und Struktur stellen. Zudem bekäme sie mit dem Wissen um Konzepte von Biographie, Leib und Körper die Möglichkeit, auch ihr eher notgedrungen und nebenbei erworbenes medizinisches, körperbezogenes Wissen in ihre Praxistätigkeit einzubinden. Die interviewten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker handeln auf der Grundlage ihrer biographischen Vorerfahrungen, ihrer eigenen subjektiv verarbeiteten Erfahrungsaufschichtung. Dies führt allerdings, oder vielleicht gerade deshalb, nicht dazu, dass sie von sich aus eine explizit verfügbare besondere biographische und professionelle (Selbst-)Reflexivität entwickelt hätten oder, weitergedacht, dass es ihnen gelingt, professionell reflektierend an die Individualität ihrer Patientinnen anzuschließen. An Karin Plüschke zeigt sich dies, wie schon ausgeführt, darin, dass sie die paternalistische Patient*innen-/Klient*innenorientierung der Schulmedizin sowohl in ihrer pflegerischen Berufstätigkeit als auch im beruflichen Handeln als Heilpraktikerin übernimmt. Sie folgt einer aktiv helfenden und maximal versorgenden Logik, die sich über die Orientierungen ihrer Patienten hinwegsetzt – anstatt sie zu erkunden und systematisch einzubinden. Dass Patienten ausbleiben, kann sie nicht verstehen. Karin Plüschke steht kein theoretischer Bezugsrahmen zur Verfügung, entlang dessen sie die ökonomischen Systemparadoxien, institutionellen Regeln und Ordnungen, ihre Berufstätigkeit zwischen dem schulmedizinischen sowie alternativmedizinischen und naturheilkundlichen Paradigma sowie die subjektiven Sinnsetzungen ihrer Patientinnen reflektieren und einen professionellen Umgang finden könnte, der über die Strategie des Rückzugs und des Wartens auf mehr Patienten hinausgeht. Zudem fehlt ihr ein Verständnis für biographische Dimensionen von Krankheitsverarbeitung, um an diese anzusetzen, aber auch, um zu verstehen, dass biographisch erworbene Orientierungen und Handlungspraktiken alternative Zugänge wie eine Heilpraktikerbehandlung ermöglichen oder behindern können. Auch Karin Plüschkes eigene subjektive Krankheitsverarbeitung verläuft entlang der Deutungshoheit der Medizin. Sie findet zwar eine Erweiterung und Überformung entlang des Referenzrahmens der praktischen Naturheilkunde. Damit erreicht sie eine persönliche Handlungsautonomie, nicht jedoch eine professionelle. In diesem Zusammenhang, der sich in ihrer beruflichen Handlungspraxis zuspitzt, fehlt ihr eine theoretisch fundierte Strategie reflexiven und professionellen Umgangs mit Nähe und Distanz bzw. der Gefahr eigener Selbstaufgabe
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
oder sogar -verleugnung, was langfristig auch negative Auswirkungen auf ihren eigenen Gesundheitszustand haben kann. Hierin zeigt sich nicht zuletzt ihre biographische Habitualisierung, die zwischen den Semantiken ökonomisch bedingter Beruflichkeit und des sozialen Geschlechts handlungsleitend bleibt. Über die primäre Bezugsgruppe (Mutter) wurden die Medizinnähe, passive Patientenrolle sowie das weibliche sich Kümmern und Behüten habitualisiert. Als neuer Bezugspunkt tritt ihr Ehemann hinzu, mit der Rückbindung an seine Herkunft der Medizinkritik und (alternativen) Selbsthilfe. Mit seiner Unterstützung kann sich Karin Plüschke persönlich von der Schulmedizin und den ökonomischen Handlungspraktiken abgrenzen, auch wenn sie sich diesen in ihrem Beruf als Krankenschwester zugleich unterwirft. Zudem kann sie sich an dieser Grenze nicht professionalisieren. Die kontroverse gesellschaftliche Randstellung des Heilpraktikerberufes sowie die fehlende Institutionalisierung stellen eine strukturelle Grenze ihres individuellen Professionalisierungsprozesses dar, die ihr aber reflexiv und professionell reflektierend nicht zur Verfügung steht. In der Zusammenführung der Fälle mit systematischem Bezug auf die Kernkategorie des biographischen Habitus und seine berufliche Ausformung kann als relevante gesellschaftliche Dimension der Transformationsprozess in Ostdeutschland markiert werden. Neben die je individuelle, aber auch kollektive Bewältigung der gesellschaftlichen Transformation, die als größte Verunsicherung der Semantik der Arbeiterlichkeit (Engler 1999) den Verlust der Arbeitsplatzsicherheit mit sich bringt, rückt die individuelle Aneignung und professionelle Ausgestaltung des neuen Berufes des Heilpraktikers oder der Heilpraktikerin, der erstmalig und als weitgehend ungeregelter Beruf in den individuellen Fokus gerät. Mit der Konzentration auf die Analyse der ostdeutschen Interviews und Beleg an den drei gewählten Fällen lässt sich die gesellschaftliche Konstitution biographischer Perspektiven sowie die biographische Aneignungsleistung erlebbar machen. Biographie und Gesellschaft – Subjekt und Struktur – fallen hier unmittelbar zusammen. Die Verbindung von Biographie und Beruf oder Profession ist hier plastisch und in doppelter Hinsicht belegt worden. Es stellt sich die Frage, die zugleich positiv beantwortet werden kann, ob man Heilpraktikerin oder Heilpraktiker wird, weil Wenden da sind – biographische Übergänge und Krisen oder auch professionelle Wendepunkte. Warum kann der Heilpraktikerberuf eine Krisenlösung sein? Wie bereits dargelegt, ist er offener anzueignen, der biographische Anschluss ist möglich. Was die Beruflichkeit oder Professionalität ausmacht, wenn über Krisen der Zugang in einen offen zu gestaltenden Beruf erfolgt, wurde ebenfalls deutlich. Nun werden noch einmal relevante Zusammenhänge, die sich in den drei Fällen ausdrücken, dargelegt. In engem
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Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Kontexten zeigt sich der Heilpraktikerberuf als biographische Chance, auch wenn diese insbesondere im Fall Karin Plüschkes von Ambivalenzen und Konflikt überschattet wird. Bei Karl Mitteldorf fällt mit dem Transformationsprozess das identitätsstiftende System vollständig weg. Die gesellschaftliche Rahmung seiner politisch begründeten und ideologisch überformten Berufstätigkeit fehlt nun, was letztlich seine berufliche Karriere ad absurdum führt und ihn zur Neuorientierung zwingt. Der mühevoll, aber erfolgreich absolvierte Prozess individueller Professionalisierung im neuen Beruf, einhergehend mit einer freien Tätigkeit als Heilpraktiker in Vollzeit seit fast dreißig Jahren ersetzt die verloren gegangenen Dimensionen von Sinnerhalt und Existenzsicherung. Seine biographische Neuorientierung sichert ihm damit die berufsbiographische Kontinuität. Darüber hinaus entwickelt er eine andere biographische Identität. Mit der Berufstätigkeit in einer (staatsnahen) Leitungstätigkeit zur ‚Wende‘ spitzt sich das Dilemma Karl Mitteldorfs auf einer alltags- und berufspraktischen Ebene zu. Diewald und Solga (1996) erklären dies in ihrer Studie zu beruflichen Mobilitäts- und Stabilitätsprozessen kurz nach der ‚Wende‘ damit, dass Leitungspositionen, neben den Un- und Angelernten jene Beschäftigtengruppe sind, die „per Definition nicht verberuflicht“ (Diewald/Solga 1996: 270) ist. Die Stabilität in den Erwerbsverläufen im Zuge des Transformationsprozesses hängt aber entscheidend vom Beruf ab. In Leitungsfunktionen findet ein auffällig hoher Wechsel bzw. das Verlassen des Tätigkeitsfeldes nach der ‚Wende‘ statt. (vgl. Diewald/Solga 1996: 270 ff.) Die Möglichkeit umfangreicher Qualifizierung im eigenen Beruf ergibt sich für Karl Mitteldorf nicht, da er mit seiner Leitungstätigkeit keinen anerkannten Beruf ausübt, der an veränderte Bedingungen angepasst werden kann. Karl Mitteldorf ergreift nun handlungsschematisch die Chance einer „beruflichen Transformation“ (Andretta/Baethge 1996: 712) und repräsentiert damit einen besonderen Personenkreis aktiv Orientierender auf dem Arbeitsmarkt kurz nach der ‚Wende‘. Andretta und Bethge schreiben dazu: „Eine kleine Zahl unter ihnen repräsentiert das, was im besten und relativ seltenen Falle berufliche Transformation auch ist: den radikalen Bruch mit dem Alten als Chance für neue ungewöhnliche Karrieren.“ (Andretta/Baethge 1996: 712) Dabei nimmt Karl Mitteldorf die Unsicherheit einer beruflichen Selbstständigkeit in Kauf und macht sich biographisch erworbene Kompetenzen zunutze, um seinen Plan erfolgreich umzusetzen. Die freie Berufszugangsmöglichkeit und -ausübung im neu gewählten Beruf kommen ihm dabei zugute. Sein individueller Code von Biographizität ermöglicht ihm den Erfolg entlang eigener Bewältigungsstrategien der Risiken der neuen Karriere auf Basis biographisch erworbener Orientierungsmuster. Andretta und Baethge (1996: 720) führen berufliche Aspirations- und Mobilitätsprozesse
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
sowie das Anspruchsverhalten auf eine „Kontinuität mitgebrachter Biographiemuster“ zurück, die sich im (beruflichen) Transformationsprozess in einer oft defensiven Haltung mit begrenzter Aktivität zeigte. Dies hebt die besondere Leistung Karl Mitteldorfs, aber auch die Potenziale des gewählten Berufes des Heilpraktikers hervor. Biographietheoretisch gedacht ist Karl Mitteldorf zwischen den Polen Subjekt und Struktur näher am Pol der Struktur verortet. Er passt sich den Strukturen an, die Möglichkeiten zunehmend für sich nutzend und seine Habitusgrenzen ausschreitend – immer entlang der Struktur, die ihm einen ökonomischen Erfolg und Stabilität entsprechend seinem hohen moralischen Anspruch verspricht. Er verbleibt nach der ‚Wende‘ am Wohnort und nutzt die Rahmenbedingungen freier Berufsaneignung, so wie es ihm seine Hauptberuflichkeit ermöglicht, die er zunächst noch aufrechterhält. In der unvereinbaren Phase von Prüfungsvorbereitung und Hauptberuf wechselt er in die Arbeitslosigkeit und nimmt lange Phasen ökonomischer Einschränkung in Kauf. Er passt sich dabei den Praxiserfordernissen an, vergewissert sich zunächst seiner heilkundlichen ‚Praxisreife‘, arbeitet im Hausbesuch und neben anderen kleinen Verdienstmöglichkeiten. Bis heute ist er in einem pragmatisch eingerichteten Praxisraum tätig, in dem er zudem weitgehend „autark“ auf seine Belange und die seiner Patienten eingehen kann, um konzentriert und diszipliniert sowie flexibel, aber doch strikt geplant zur Verfügung zu stehen. Auch Elsa Wessig gerät mit der ‚Wende‘ in eine biographische „Sinnkrise“. Diese bearbeitet sie mittels psychosomatischer Literatur. Sie gelangt zu einer tiefgreifenden Erkenntnis biographischen Sinns, nach der sie sich entschließt, ihre künstlerische Berufstätigkeit aufzugeben. Diese war zur DDR-Zeit in das System eingebunden, wenngleich sie sich als „Freidenkerin“ sieht, was sie öffentlich künstlerisch nur subtil sowie in der beruflichen Nische des gemeinsamen Künstlerateliers ausleben kann. Nun kann sie aus dieser Nische heraustreten. Die vormalige symbolische Anerkennung durch nationale und internationale Beachtung ihrer Werke scheint allerdings nicht tragfähig genug, um die künstlerische freiberufliche Tätigkeit unter neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fortzuführen. Die Ökonomisierung des Kunstmarktes lässt sie zurückschrecken und erscheint ihr fragwürdig genug, um einen neuen, anderen Weg einzuschlagen. Dabei dient ihr letztendlich der Heilpraktikerberuf (nur) als legitimierendes Vehikel der Erlaubnis beruflicher Sinngebung und berufsbiographischer Entwicklung. Elsa Wessig führt weiterhin eine künstlerisch gerahmte Tätigkeit aus – nun mit dem Ziel der Lebensberatung Hilfesuchender. Dies ist ihr Weg der Sicherung (berufs-)biographischer Kontinuität, getragen von der eigenen persönlichen Weiterentwicklung auf Basis von Selbsterfahrung. Im Zuge ihrer individuellen
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Professionalisierung begibt sie sich in einen intensiven selbstreflexiven Prozess und löst eigene biographische Konflikte auf. Die Öffnung ihres Sinnhorizontes nach der intensiven Lektüre, und die Neuauslegung ihrer Tätigkeit entlang höhersymbolischer Wissensbestände der Spiritualität, Kunst und Ästhetik sowie ganzheitlicher körperorientierter Lehren verdeutlicht die Individualität der Biographizität, die sich in ihrem entwicklungsorientierten Habitus und in der besonderen Form ihrer beruflichen Handlungspraxis widerspiegelt, in der sie immer wieder die eigenen Grenzen, aber auch die ihrer Klientinnen mit ihnen gemeinsam aus- und überschreitet. Elsa Wessigs individueller Professionalisierungsprozess, der sich in einer Vielzahl nebeneinander bestehender, aber auch aufeinander aufbauender beruflicher Abschlüsse ausdrückt, hat zu einem breiten Spektrum künstlerisch-kreativer und handwerklicher Kompetenzen geführt. Er lässt sich nun nur in einer freiberuflichen Tätigkeit – entfernt vormaliger künstlerischer Arbeit – strukturell lösen. Die ökonomische Unsicherheit scheint dabei für sie keine Rolle zu spielen. Vielmehr kann sie die Erfahrung der eigenen biographischen Reife autonom und selbstbestimmt mit anderen Frauen teilen, die in ihre Einzel- oder Gruppenberatungen bzw. Yoga- und Qi Gong-Gruppen kommen. Auch die spezifische Praxissituation im großen, idyllisch verorteten Therapiezentrum inmitten von Wäldern und Feldern verweist dabei auf ihre Individualität. Zwischen den Polen von Struktur und Subjektivität bleibt sie nahe an der Subjektivität, die sich die Strukturen kreativ zunutze macht. So ist Teil ihrer spezifischen Beruflichkeit als Heilpraktikerin, dass sie medizinische körperorientierte Fragestellungen ihrer Klientinnen fast vollständig ausblendet. Diese berufliche Freiheit hat sie zwar, die Nicht-Thematisierung oder Ablehnung im Rahmen ihrer Ausführungen mag aber durchaus auf eine strukturelle Grenze verweisen. Die Heilpraktikererlaubnis stellt für Elsa Wessig eine berufsbiographische Auslegung dar, um formale Rahmenbedingungen einer Berufstätigkeit entlang ihres eigenen biographischen Habitus zu erfüllen. So eignet sie sich (schul-)medizinisches Wissen in Vorbereitung auf die amtsärztliche Überprüfung pragmatisch in einem ‚Crash‘-Kurs mit intensiven Selbstlernphasen an, in denen es für sie biographisch bedeutsamer ist, ihren eigenen Lerntyp zu ergründen. Der Erfolg dieser Phase bemisst sich nur randständig darin, die Überprüfung erfolgreich zu bestehen. Sie kann auch auf keine anderen (vorherig) berufsbiographisch erworbenen medizinischen Wissensbestände zurückgreifen. Auch praktische Wissensbestände alternativer Heilverfahren, wie sie in Weiterbildungen erlernt werden können und häufig an biomedizinischen oder naturwissenschaftlichen Wissensbeständen angelehnt sind, sind für sie uninteressant. Das Medizinische ihrer Tätigkeit bleibt ihr fremd, es ist ‚überflüssige‘ Parallelstruktur. Dies ist biographische Ressource und
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Strategie der Abgrenzung und Auslegung, zugleich auch strukturelle Grenze in Bezug auf zumutbaren Wissenserwerb und -verlust. Gleichwohl ist hier zu betonen, dass dies kein Defizit in der SelbstKonstruktion der Beruflichkeit von Elsa Wessig darstellt. Es verweist allerdings auf Potenziale individueller, aber auch kollektiver Professionalisierung – auf die Dimension der Systematisierung der Wissensbestände und Abgrenzung der Wissensprofile (Alheit). Im Fall Karin Plüschkes stellt sich die biographische Chance zunächst dahingehend dar, dass sie sich mit dem Heilpraktikerberuf ein ‚Instrument‘ erschließt, das ihr subjektiv und ganz konkret das Überleben ihrer lebensbedrohlichen Erkrankung ermöglicht. Dies ist biographisch umso relevanter, da ihre subjektive Erfahrungsaufschichtung eingebettet ist in tödlich endende Krankheitsverläufe ihrer nahen und entfernten weiblichen Verwandtschaft. Zu dieser biographischen Dimension eigener Krankheitsverarbeitung kommt die Überformung des Feldes der Gesundheitsversorgung und -politik nach der ‚Wende‘, von dem sie mit ihrem Beruf der Krankenschwester unmittelbar betroffen ist. Die abrupte und umfassende Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die sich in ökonomisch dominierten medizinischen Handlungspraxen und Versorgungslogiken widerspiegelt, irritiert ihr berufliches Selbstverständnis zutiefst. Sie kündigt nach einer langen Phase beruflicher Stabilität und Zufriedenheit. Es folgen mehrfache Wechsel der Arbeitgeber – aufgrund betrieblicher Umstrukturierungen, aber auch aus eigenen Impulsen heraus. Diese Prozesse gehen auch mit dem Verlust sozialer Beziehungen einher, ohne diese durch neue ersetzen zu können. Fachlich kann sie die im langjährigen individuellen Professionalisierungsprozess erworbene berufliche Routine und Erfahrung als Operations- und Krankenschwester in verschiedenen Settings beruflicher Praxis kontinuierlich erweitern. Aufgrund des Fachkräftemangels muss sie keine langen Zeiten von Arbeitslosigkeit erfahren und befürchten. Mit der nebenberuflichen Aneignung des Heilpraktikerberufes erweitert sie zudem ihr Behandlungsspektrum, das sie unter den gesetzlichen Regelungen des Heilpraktikerrechts autonom ausüben kann. Hierbei bedient sie sich konsequent pflegerischer, alternativmedizinischer und naturheilkundlicher Wissensbestände, die sie im Zuge ihrer individuellen Professionalisierung als Krankenschwester und, mehr noch, als Heilpraktikerin, erwirbt. Eine Kritik an schulmedizinischer Versorgung, aber auch an ökonomischen Versorgungslogiken und der Verantwortungsabgabe der Patienten in ihrem beruflichen und privaten Umfeld ist dieser biographischen Phase immanent.
8.1 Der biographische Habitus – kontrastiver Vergleich …
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Hinzu kommt, dass sie sich im Prozess der Aneignung des Heilpraktikerberufes neue soziale Kontakte aufbauen kann, die sie nutzt, um sich behandeln zu lassen, Fälle zu besprechen und Behandlungstechniken praktisch zu üben. Dies berührt Fragen der Qualitätssicherung eigener Berufsausübung, auch wenn hier zu hinterfragen ist, inwieweit diese ‚Selbstübungen‘ unter professioneller Begleitung stattfinden. Ihr Berufsabschluss als Krankenschwester scheint Karin Plüschke starke Basis von (gegenseitiger) Supervision und Qualitätssicherung zu sein. Eine externe Supervision konstruiert sie über den Austausch in Arbeitskreisen hinaus nicht. Ambivalente Dimensionen ihrer (Berufs-)Biographie und strukturelle Grenzen des Heilpraktikerberufes zeigen sich im Verbleib Karin Plüschkes in beiden Berufen. Die Tätigkeit als Krankenschwester behält Vorrang, auch wenn sie unter den Rahmenbedingungen ihrer Berufstätigkeit, der fehlenden symbolischen Anerkennung durch die ihr anvertrauten Pflegebedürftigen sowie der offenen Kritik an angewandten naturheilkundlichen Verfahren im Rahmen pflegerischer Tätigkeit von Seiten ihres Kollegiums leidet. Es gelingt ihr nicht, ihr Dilemma zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin mittels einer beruflichen Trennung aufzulösen. Dies erscheint ihr jedoch auch nicht erstrebenswert, nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen. Hiermit festigt sie jedoch zugleich ihre ökonomischen und beruflichen Grenzen. Insgesamt zeigt sich bei Karin Plüschke die Dominanz struktureller und sozialer Rahmungen (Erkrankungsprozesse, Arbeiterlichkeit – Arbeitsplatzsicherung, Versorgungslogiken, Geschlecht: mütterliche Sorgearbeit – Versorgungsrolle als Krankenschwester), auf die sie eher versucht zu reagieren, denn in ihnen aktiv zu gestalten. Sie verändert ihren biographischen Habitus kaum. Am Fall Karin Plüschke wird zudem die konfrontative Verwobenheit von Biographie und Institution am deutlichsten. Die biographische Habitualisierung bricht sich an den sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen pflegerischer Berufstätigkeit. Erworbenes neues Wissen und Können kann nur im Verborgenen angewendet werden bzw. ist vor Missgunst von Kolleginnen zu schützen. Hinzu kommt der sensibel zu gestaltende Umgang mit behandelnden Haus- und Fachärzten. Die Patienten profitieren zwar von ihrem Können, jedoch fordern sie sich dieses im pflegerischen Praxisalltag nicht aktiv ein und erst recht würden sie erfolgreich angewandte Methoden nicht in Aushandlungsprozesse partizipativer Arzt-Patient-Interaktion einbeziehen oder bei Ablehnung von Seiten der Schulmedizin gar verteidigen. Diese Paradoxien beruflicher Habitualisierung kann Karin Plüschke individuell nicht lösen. Ihre Strategie ist der Rückzug in die Nebenberuflichkeit als Heilpraktikerin, die sie zumal ‚im Verborgenen‘ ausübt.
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Bei Karin Plüschke zeigt sich damit am stärksten das Defizit des bestehenden Heilpraktikerrechts bezüglich der Möglichkeiten theoretischen Erkenntnisgewinns, praktischen Könnenserwerbs sowie professioneller Wissensordnung. Hinzu kommt das strukturell bedingte Problem fehlender Anerkennung mit der Möglichkeit der autonomen und selbstbewussten Präsentation als Vertreterin des Berufsstandes im Kanon anderer Heilberufe. Eine individuelle Professionalisierung zwischen medizinischen und alternativen Wissensbeständen gestaltet sich schwierig und hängt stark von den eigenen (berufs-)biographischen Handlungspotenzialen und -strategien der Selbstbehauptung ab. Der Erwerb und dauerhafte Erhalt einer Professionalität als Heilpraktikerin ist mit großen Anstrengungen lebenslangen Lernens verbunden, wie alle drei Fälle eindrucksvoll belegen. Dies ist heutigen Berufen und Professionen zwar immanent, zumal im Gesundheitswesen. Es zeigt sich aber deutlich die strukturelle Tragik des gesellschaftlichen Ausschlusses des Heilpraktikerberufes. Besonders Karin Plüschke kann sich im täglichen Praxisalltag nicht selbstbewusst als Vertreterin des Berufsstandes der Heilpraktiker präsentieren und diese Konflikthaftigkeit begrenzt nicht nur die eigene, sondern auch eine professionelle Weiterentwicklung des gesamten Pflegeteams. Karin Plüschke steht in der institutionellen Auseinandersetzung für die vielen Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker, die in ihren ursprünglichen Berufen verbleiben. Das Heilpraktikerrecht der Berufsausübung führt dazu, dass Menschen ihren biographischen privaten und beruflichen Präferenzen folgen (können), dabei jedoch nicht gezwungen sind, bestehende berufliche Tätigkeiten aufzugeben. Sie können sie ergänzen. Dies macht für viele Menschen auch aus ökonomischen Gründen durchaus Sinn, denn eine „Bestallung“, wie es sie für die Medizinerin nach ihrer kassenärztlichen Zulassung gibt, ist für die Heilpraktikerin gesetzlich nicht vorgesehen. Die Chance beruflicher und biographischer Flexibilität liegt nah an der Unsicherheit, eine Niederlassung überhaupt dauerhaft zum Erfolg führen zu können. Die ökonomische Dimension ist nur eine. Weitere konflikthafte Dimensionen zeigt der Fall Karin Plüschke. Fraglich ist aber auch, ob jemand in nebenberuflicher Heilpraktikertätigkeit in diesem Beruf hoch bewertete Professionalitätsmodi, die den theoretischen Wissenserwerb, aber auch die Ausbildung einer reflektierenden Praxis (Donald Schön; Dewe) einschließen, überhaupt ausprägen, aktualisieren und dauerhaft aufrechterhalten kann. Die Ausführungen in dieser Studie belegen, wie heterogen das Feld der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ist. Dargestellt wurden drei Fälle typischer Berufskarrieren von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern. Sie zeigen, welche je individuelle biographische Chance sich mit dem Heilpraktikerberuf bietet,
8.2 Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen
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aber auch, welche Grenzen die strukturellen Ungeregeltheiten der Ausbildung und Berufsausübung sowie die kontroverse Sonderstellung bewirken. Das biographische Kapital, ausgedrückt im biographischen Habitus, der sich mit der je individuellen Fähigkeit der Biographizität ständig aktualisiert und doch in den Grundzügen beharrlichen Bestand zeigt, stellt dabei die Ressource der Erzeugung von (berufs-)biographischer Kontinuität dar. Die zeitliche Dimension ermöglicht den Blick auf die Analyseebene der individuellen Professionalisierung (vgl. Nittel 2002: 280), die im folgenden Kapitel in einem Prozessmodell zusammengeführt wird.
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Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen
Wie in Kapitel 2 dieser Arbeit herausgearbeitet wurde, ist der Heilpraktikerberuf wenig institutionalisiert und professionalisiert. Wie die biographietheoretischen Grundlegungen in Kontrastierung mit dem empirischen Teil gezeigt haben, ist gerade deshalb die Biographiedimension so wichtig. Die eigene je individuelle biographische Grammatik tritt in der individuellen Verberuflichung oder Professionalisierung in ihrer Relevanz hervor. In biographietheoretischer und empirischer Zusammenführung schlägt dieses Kapitel ein Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen vor, das am Heilpraktikerberuf abgeleitet wurde (vgl. Abb. 8.1). Der Prozess individueller Professionalisierung verläuft dabei zirkulär über die Lebensspanne hinweg unter je individuellen komplexen selbstreferenziellen Prozessen des Abgleichens biographischer Erfahrungen, insbesondere auch beruflicher Handlungsanforderungen, mit vorhandenen Wissensbeständen. 1) Im Aufschichten, Ordnen und Reflektieren biographischer Erfahrungen, einschließlich der Einbindung einwirkender Hintergrundstrukturen und -muster, entstehen sukzessive biographische Wissensbestände und Ressourcen, die implizit zur Verfügung stehen. Sie bestimmen das Erleben und die Handlungsorientierungen in veränderten Lebenssituationen und Anforderungen. Auf dieser Basis können biographische Handlungsressourcen nutzbar gemacht werden. Biographische Wissensbestände und Ressourcen kommen zum Tragen im Erwerb beruflichen Wissens und Könnens, das dem Heilpraktikerberuf vorgelagert ist. Im Verlauf berufsbiographischer Prozesse aus vorberuflichen Erfahrungen werden berufliche Handlungsorientierungen, Sinnsetzungen und Deutungsmuster in den biographischen Wissensbestand eingelagert.
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
2) Eine biographisch relevante Herausforderung, Krise, Wende erfordert eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Sinnsetzungen und Orientierungen. Handlungsressourcen und -potenziale, z. B. auch in Bezug auf Dimensionen ungelebten Lebens, werden reflexiv und in unterschiedlichem Ausmaß reflektierend geprüft. Eine Neuorientierung kündigt sich an. Der Heilpraktikerberuf rückt als Perspektive in den Fokus. Seine gesellschaftliche Konstituierung als Ausnahmeperspektive ermöglicht und erfordert eine Aneignung entlang der eigenen biographischen Auslegung. Die Eigenlogik biographischen Lernens der Akteure wird relevant und tritt hervor. 3) Je individuelle Selbsterfahrungsprozesse um die neue Perspektive herum eröffnen neue Sichtweisen. Auf Basis der je einzigartigen individuellen Biographizität werden neue Impulse aufgegriffen, mit dem bestehenden Erfahrungsund Wissensvorrat abgeglichen und aktualisiert. Veränderte und neue Handlungsressourcen können je individuelle biographische Entwicklungsprozesse befördern. 4) In diesem Prozess kann das eigene biographische Wissen in unterschiedlichem Ausmaß expliziert werden – entlang der gewählten thematischen Fokusse des neuen Berufes, in einer konkreten Kontextgebundenheit des Erfahrungmachens. Dies kann entlang eigener psychotherapeutischer Aufarbeitung, spiritueller Workshops, Körperarbeit, der Ergänzung professionalisierter schulmedizinischer um alternative Wissensbestände, sozialen Austausches zu spezifischen Inhalten und ihrem praktischem Erproben etc. erfolgen. In diesen (reflexiven und reflektierenden) Selbsterfahrungsprozessen in neuen Praxiszusammenhängen wird erneut implizites Wissen angelagert, biographische Habitualisierungsprozesse werden unterstützt. Zudem erfolgt die Aneignung neuer, heterogener beruflicher Wissensbestände um den Heilpraktikerberuf, die nichtsystematisiert zur Verfügung stehen und je individuell angeeignet werden. Die Vorbereitung auf die amtsärztliche Überprüfung mit seinen in Leitlinien definierten Rahmenthemen bildet dabei die fachliche Gemeinsamkeit aller zukünftigen Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker. Wie die konkrete Aneignung erfolgt, bleibt der eigenen Entscheidung und praktischen Umsetzung überlassen. Darüber hinaus fehlen weitere Regelungen zur Berufsausübung. Damit bleibt das biographische Lernen Basisstruktur der Bildungsprozesse in der Aneignung des Berufes. 5) Entlang dieses Prozesses biographischen Lernens auf Basis der Biographizität stehen auf einer neuen Ebene neue biographische Wissensbestände implizit und explizit zur Verfügung. Ein Potenzial zur Erweiterung der Habitusgrenzen kann in unterschiedlichem Ausmaß ergriffen und die biographischen Grenzen dementsprechend ausgeschritten werden.
8.2 Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen
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6) Der je individuelle berufliche Habitus zeigt sich als Ausformung des biographischen Habitus. Entlang diesem erfolgt die Konzeptualisierung der eigenen Berufsausübung, die Patient*innen-/Klient*innenorientierung, die Auseinandersetzung mit institutionellen und gesellschaftlichen Anforderungen wie der Umgang mit ökonomischen Zwängen und der Paradoxie schwer vereinbarer Heilungsparadigmen der Schul- und Alternativmedizin. In der konkreten Ausübung des Berufes werden die Wissensbestände und Handlungspraktiken relevant, die je individuell anschlussfähig sind und dementsprechend in der eigenen biographischen Logik permanent aktualisiert werden. Der biographische Habitus zeigte sich in diesem Sample als 1) Anpassung mit der beruflichen Handlungspraxis des (Experten-)Wissens; 2) als Selbstverwirklichung mit der beruflichen Handlungspraxis von Ermöglichen und Gestalten sowie 3) als Konflikt mit der beruflichen Handlungspraxis der (Über-)Versorgung. Im biographischen Habitus drückt sich die je individuelle biographisch wirksame Semantik sozialer Strukturen aus, entlang derer sich die je individuelle Biographie ausformt und entlang weiterer Erfahrungen ausdifferenziert, sowie, in gewissen Grenzen, neu formiert und auf die gesellschaftlichen Strukturen zurückwirkt. Der Prozess biographischer Habitualisierung bleibt dabei unabgeschlossen. Das Modell beinhaltet kontinuierliche Entwicklungsprozesse im Rahmen eigener biographischer Habitualisierung. Dahinter steht der komplizierte, je individuelle Verarbeitungscode biographischer Erfahrungen, die Biographizität, die das Potenzial der Erweiterung der Habitusgrenzen beinhaltet. Abbildung 8.1 zeigt das Professionalisierungsmodell biographischer Konstruktionen in seinen wichtigen Dimensionen. Dabei zeigt sich eindrucksvoll am Heilpraktikerberuf, dass die strukturellen Rahmenbedingungen fehlender Institutionalisierung und Professionalisierung zwar ein hohes Maß an biographischer Freiheit ermöglichen, zugleich aber mit Unsicherheiten verbunden sind, die nicht auf individueller Ebene aufzulösen sind. Dies zeigt sich insbesondere an den ökonomischen Dimensionen der Berufstätigkeit sowie den Folgen der gesellschaftlichen Konstitution nicht-legitimierter Randstellung. Zugleich kann die standespolitisch geführte Diskussion um die fehlende Professionalität von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern im Grunde so nicht geführt werden. Sofern Kategorien der Professionalität überwiegend an Evidenzbasierung gebunden werden – wie es in den naturwissenschaftlich orientierten Disziplinen und eben auch in der Medizin geschieht – bleibt ein Großteil der Dimension einer Professionalität, die sich an Patientinnen oder Klienten ausrichtet, ausgeblendet. Zudem lassen sich die professionstheoretischen
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Biographizität -> Erweiterung von Habitusgrenzen
Individueller beruflicher Habitus als Ausformung des biographischen Habitus
Perspektive Heilpraktikerberuf
Neue berufliche Wissensbestände (heterogen) Biographisches Wissen (implizit)
Biographische Erfahrungsaufschichtung
Biographisches Wissen (implizit und explizit)
Selbsterfahrungsprozesse
Berufsbiographische Wissensbestände
Explikation biographischen Wissens
Abbildung 8.1 Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen
Konzepte von Professionalität kaum übertragen. Dies betrifft insbesondere die fehlende (akademische) Institutionalisierung des Wissenserwerbs sowie begleitete Prozesse der Ausprägung eines reflexiven und reflektierenden beruflichen Könnens. Die Entwicklung der eigenen Professionalität bzw. eines reflektierenden beruflichen Handelns vollzieht sich fernab institutioneller Vorgaben. Sie ist eng an die eigene Biographie gebunden, die einen befördernden oder blockierenden Referenzrahmen für die Professionalitätsentwicklung bilden kann. Wie die Studie eindrucksvoll belegt, ist die Kategorie der Biographie, ausgedrückt im biographischen Habitus, als legitimer Kernbestand professionellen Wissens einer patientenorientierten Professionalität aufzunehmen. Sie ist implizit in der internen Evidenz Professioneller enthalten und formt die berufliche Ausgestaltung der eigenen Profession maßgeblich mit. Das biographische Kapital als Ressource von Professionalität anzuerkennen, ermöglicht einen Rückbezug auf die je individuellen Blickrichtungen: Wer bin ich? Wie arbeite ich? Was sind meine Ressourcen und Kompetenzen und wie kann ich sie nutzbar machen in anspruchsvollen professionellen Kontexten der Aushandlung von Krankheit und Gesundheit und der Begleitung selbstverantworteter Aneignungsprozesse der Patientinnen und Klientinnen. Dies wirft Fragen nach der Weiterentwicklung des Berufes auf. Die Einbindung biographischer Dimensionen in die berufliche Bildung ist, theoretisch und empirisch belegbar, unabdingbar. Dies betrifft nicht nur die Auseinandersetzung mit eigenen biographischen Lern- und Bildungsprozessen der Lernenden, in denen
8.2 Professionalisierungsmodell entlang biographischer Konstruktionen
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es z. B. um die Verschränkung von fachlichen und alltagsweltlichen Wissensbeständen sowie ihre biographische Bedeutung geht. Hierzu benötigen auch die Lehrenden eine Sensibilität für biographische Lernprozesse, um die Lernenden zu unterstützen. Dausien (2008) entwickelte Perspektiven einer biographieorientierten professionellen pädagogischen Praxis, um die Lernenden in ihren lebenslangen, in die lebensweltlichen Zusammenhänge eingebetteten Bildungsprozessen zu unterstützen. Alheit (2019: 169 ff.) schlägt das Konzept der Biographizität als Basis eines systematischen Reflexions- und Begründungsrahmens für eine biographieorientierte Pädagogik vor. Dies ist zugleich eine Chance für den Heilpraktikerberuf. Systematische Theoriebildung ist noch nicht erfolgt. Eine systematische Einbindung gesundheitsbezogener biographietheoretisch fundierter Konzepte, z. B. zur Aufhebung der Trennung von Biographie, Körper und Leib, sowie eines theoretisch fundierten Ansetzens an den subjektiven Sinnsetzungen der Erkrankten und Hilfesuchenden kann eine Professionalisierung entlang und in Abgrenzung zu den anderen Heilberufen befördern. Auch für die Entwicklung der Professionalität (entlang interaktionistischer und ggf. wissenssoziologischer Professionstheorien) ist die Explikation berufsbiographischer Wissensbestände notwendig. Das berufliche Handeln auf Basis der Vorberufe, die zu einem bedeutenden Teil medizinisch und pädagogisch geprägt sind, ist zu analysieren und zu reflektieren. Vorhandene, berufsbiographisch erworbene Handlungskompetenzen sind systematisch einzubeziehen und darauf das berufliche Handeln als Heilpraktikerin oder Heilpraktiker aufzubauen. Wenn dies selbstreflexiv verfügbar und systematisch in die Bildungsprozesse und Professionalitätsentwicklung eingebunden wird, kann eine gesellschaftliche Rückbindung erfolgen, insbesondere wenn Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in ihren Vorberufen weiterarbeiten. Somit können biographische und professionelle Handlungsressourcen zusammengeführt werden. Das Modell individueller Professionalisierung entlang biographischer Konstruktionen bleibt nicht auf den Heilpraktikerberuf begrenzt. Es kann davon ausgegangen werden, dass es relevant wird, wann immer Berufe und Professionen auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse reagieren und sich modernisieren müssen oder wenn neue Berufe und Professionen entstehen, die nicht oder nur unvollständig auf vorgebahnte, professionalisierte Lern- und Handlungspraxen sowie theoretische Konzepte zurückgreifen können. Das Individuum ist besonders dann auf den Rückgriff auf eigene biographische Wissensbestände und Handlungsressourcen angewiesen, um neue berufliche Handlungsanforderungen zu bearbeiten oder Lernfelder zu erschließen. Die berufliche Habitualisierung erfolgt im Rückgriff auf biographische Ressourcen und Wissensbestände. Dies mag insbesondere auf die Entwicklungen der Berufe im Gesundheitswesen entlang des
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der fortschreitenden Professionalisierung zutreffen. Dies verweist zudem auf die Anforderungen fortgeschrittener Moderne bezüglich der eigenen Strukturierung von Lern- und Qualifikationsprozessen und des reflektierten Umgangs mit Unsicherheiten.
8.3
Methodische Reflexion und Forschungsdesiderate
In der vorliegenden Studie wurden anhand autobiographisch-narrativer Interviews subjektive Konstruktionen der interviewten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker zu ihren biographischen Erfahrungsaufschichtungen, insbesondere in Bezug auf ihre individuellen beruflichen Aneignungsprozesse als Heilpraktikerin oder Heilpraktiker, herausgearbeitet. Anzumerken ist, dass das erhobene Interviewmaterial nicht strikt narrativ war. Gründe mögen in der Einschränkung des Erzählimpulses auf die Berufsbiographie, aber auch in der Vorstellung der Interviewerin als Heilpraktikerin mit einem darüber hinausgehenden institutionell/professionell verorteten Erkenntnisinteresse liegen. Dies führte teilweise zu einem eher theoretisch überformten ‚professionellen Erzählen‘ zwischen Expertinnen. Es kann die Herausarbeitung der kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens erschweren und wurde mit dem Analyseprozess nach der Grounded Theory-Methodologie (vgl. hierzu Kap. 4) aufgefangen. In diesem Kontext soll die Studie noch einmal methodisch weitergehend reflektiert werden. Jede Studie ist in ihrer Zeit, in ihren örtlichen, sozialen und gesellschaftlichen Kontexten verortet, abhängig von Interaktionen zwischen ‚Beforschten‘ und Forschenden sowie von der Perspektive, von der aus auf die Daten geblickt wird (vgl. Charmaz 2011, 2011a, 2014). Der Standort der Forscherin bildet den Referenzpunkt für die Entwicklung des Designs und hat Auswirkungen auf die Bildung der theoretischen Codes. Hierzu ist Folgendes anzumerken: Vor dem Hintergrund meiner eigenen berufsbiographischen Erfahrungsaufschichtung zwischen einem medizinischen Heilberuf am Anfang des Professionalisierungsprozesses, den Heilpraktiker als Hilfskonstruktion in Erweiterung beruflicher Kompetenzen nutzend sowie im Weiteren die Potenziale dieses Berufes erkundend, war mir die soziale und berufliche Heterogenität des Feldes der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker bekannt. Hinzu kam das Kontextwissen um die Vorbehalte gegenüber dem Beruf aus medizinischer, juristischer und versorgungsrelevanter Perspektive auf der einen Seite, um den Bedarf aus subjektiver Sicht von Patientinnen und Klientinnen auf der anderen Seite, aber auch um die berufspolitischen Bemühungen zum Erhalt der
8.3 Methodische Reflexion und Forschungsdesiderate
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beruflichen Freiheit. Je mehr ich über Professionen, Professionalisierung, Professionalität lernte und vor dem Hintergrund des Wissens um die prekäre berufliche Situation vieler engagierter Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker, habe ich mehr und mehr darüber nachgedacht, dass es sinnvoll sein könnte, den Beruf in einen Professionalisierungsprozess in den Kanon der anderen Heilberufe einmünden zu lassen, um sein volles Potenzial, das sich in den je individuellen Berufsbiographien widerspiegelt, jedoch durch die Strukturen gleichermaßen begrenzt wird, auszuschöpfen. Dies war eine offene Idee, als ich mir vor Beginn der Studie um Potenziale des Heilpraktikerberufs für die gesundheitliche Versorgung Gedanken machte, insbesondere in strukturschwachen Räumen, die zunehmend mit dem Fachkräftemangel im gesundheitlichen Bereich kämpfen. Hierzu sollte sich zeigen, wie die Prozesse der Berufsaneignung von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern bis jetzt ablaufen, worauf aufgebaut werden könnte und wie sich Ressourcen, aber auch Grenzen vor dem Hintergrund der eigenen biographischen Leistung und fehlenden Institutionalisierung zeigen. Wirklich überrascht hat mich, dass die Mehrheit der Interviewten überhaupt keinen medizinischen Hintergrund hatte. Diejenigen, die bereits in medizinische Kontexte beruflich ‚einsozialisiert‘ waren, mögen es aus Sicht der Wissensaneignung für die Heilpraktikerüberprüfung leichter gehabt haben, sie zeigen allerdings auf verschiedenen Ebenen eine spannungsreiche Auseinandersetzung mit den Strukturen und sozialen Praxen des Medizinsystems bzw. der Deutungshoheit der Medizin, nicht zuletzt, um die gegenseitigen professionellen Erwartungen zu erfüllen. Diese ‚Vorprägung‘ zu aktualisieren, mit einem ‚Gegenwissen‘ in institutionellen und privaten Kontexten umzugehen, stellt eine je individuelle Herausforderung dar, die sich in Ambivalenzen oder Widerständen ausdrückt. Es spricht viel dafür, dass die strukturelle Blockade auf individueller Ebene nicht auflösbar ist und hier Ressourcen verlorengehen. Ein Beispiel bildet der Fall Karin Plüschke, der hier vorgestellt wurde. Zudem wird noch einmal deutlich, dass der Stand, die Akzeptanz und Auslegung medizinischen Wissens im Kontext des neuen Berufes stärker variiert als angenommen. Genau hiermit wäre sich tiefgreifend auseinanderzusetzen, sollte die Thematik der Einbindung in gesundheitsbezogene Versorgungsstrukturen in den Fokus rücken bzw. diese genauer erforscht werden. Dies erfordert die Entwicklung eines anerkannten Berufes (oder mehrerer) mit Definition von Berufsbild, Aufgaben und Kompetenzen, wie es z. B. in der Schweiz in einem mehrjährigen Prozess nach 2009 erfolgte (vgl. Becker/Senn 2013; Itin 2013).
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Die zweite Überraschung der Analyse war für mich, wie spezifisch und ganz konkret der vorberufliche biographische Einfluss in die Ausübung des Heilpraktikerberufes hineinwirkt, auch und insbesondere bei den Interviewten ohne medizinischen Berufsbezug. Dies zeigte sich kontrastierend insbesondere in den Schlüsselkategorien, die sich auf die Beruflichkeit bezogen. Um es verallgemeinert an Beispielen zu belegen: Es fiel auf, dass z. B. Interviewte mit einem eher technisch-rationalen bzw. gerätebasierten Vorberuf (z. B. Ingenieur, Fotografin, Radiotechnikerin) auch zu einer technischen und ‚geräte-affinen‘ Umsetzung des neuen Berufes tendieren. Diejenigen, die eher aus einem ökonomischen berufsbiographischen Hintergrund kommen, heben die wirtschaftlichen Dimensionen der Berufstätigkeit hervor und gehen aus einer rational-ökonomischen Logik an die Berufsausübung, z. B. auch die Patientenorientierung, heran. Praktikerinnen aus künstlerischen, ästhetischen, bildungsbezogenen (freien) Berufen orientieren sich weiterhin an diesen Wissensbeständen, greifen auf verinnerlichtes Können zurück, und setzen den neuen Beruf mit Bezug auf körper- und prozessorientierte Methoden wie Gesprächstherapien, Musik-Therapie oder die Ayurveda-Medizin (Yoga) um. Dies bestätigt die Dominanz der biographischen Logik bei der Aneignung des neuen Berufes und den Bedarf an biographieorientierten Konzepten in der beruflichen Bildung zum Heilpraktiker. Weiterhin verweist es noch einmal auf die Heterogenität der handlungsleitenden Wissensbestände und Orientierungen unter dem Dach des Heilpraktikerberufes, deren Systematisierung im Rahmen beruflicher Modernisierung bzw. kollektiver Professionalisierung aussteht. Auch der ‚Selbstschutz‘ der Interviewpartner und -partnerinnen im westdeutschen Raum verweist auf strukturell bedingte Schwierigkeiten, den Heilpraktikerberuf biographisch vollständig zu vereinnahmen und offen zu repräsentieren. In diesem Zusammenhang ist meine ostdeutsche Herkunft zu reflektieren. Sie mag den Zugang ins Feld der Heilpraktikerinnen mit ‚westdeutsch geprägten‘ alltagsweltlichen Bezügen erschwert und, im Gegenzug, den Zugang zu den Heilpraktikerinnen mit ‚ostdeutscher Sozialisation‘ erleichtert haben. Bei Letzteren kam der gemeinsame biographische Erlebenshintergrund des gesellschaftlichen Transformationsprozesses hinzu, der zudem den Heilpraktikerberuf in der ehemaligen DDR erst ermöglichte. Gemeinsam geteilte Wissensbestände der kollektiven Erfahrung der ‚Wende‘ sowie des Heilpraktikerin-Werdens und -Seins mögen dazu geführt haben, dass Themen unausgeführt geblieben sind, in der Annahme impliziten Verstehens. Dieser gemeinsame biographische Standort mag auch dazu geführt haben, dass mir das Zusammenfallen von gesellschaftlichem Strukturwandel und berufsbiographischer Neuorientierung in den Daten besonders auffiel und den Analysefokus auf die ‚spannenden‘ Konstruktionen gerade dieser Interviews richten ließ.
8.3 Methodische Reflexion und Forschungsdesiderate
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Gleichwohl bleibt damit die analytische Kontrastierung der Verberuflichungsprozesse von Heilpraktikern und Heilpraktikerinnen in West- und Ostdeutschland offen. Das vorhandene Datenmaterial kann jedoch Basis für diesbezügliche Analysen sein. Im theoretischen Sampling wurden auch jene Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker ausgeschlossen, die zwar ihre amtsärztliche Erlaubnis erhalten haben, jedoch nie im Beruf gearbeitet bzw. diesen nach einer gewissen Zeit wieder aufgegeben haben. Um berufliche Habitualisierungsprozesse empirisch herauszuarbeiten, wurde davon ausgegangen, dass es hierfür eine bestimmte Zeit beruflicher Ausübung und Erfahrung benötigt. Allerdings schließt dies eine bedeutende Zahl von (jemals) in der BRD zugelassenen Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern aus (ca. 50 % aller zugelassenen Praxen schließen nach kurzer Zeit wieder), die in anders gelagerten Fragestellungen zu Wort kommen sollten. Um die Prozesse der Verberuflichung und Phänomene der Beruflichkeit der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker weitergehend zu untersuchen, z. B. in Bezug auf ihr konkretes berufliches Handeln, die Ausbildung einer reflektierenden Praxis (vgl. Schön 1983, 1987) bzw. einer Könnerschaft (vgl. Neuweg 2004), die Auseinandersetzung mit ihrer Professionalität, wohin einige Schlüsselkategorien bereits implizit verweisen (z. B. die Patient*innen-/Klient*innenorientierung oder die professionelle Reflexivität), müsste ein über die Erhebung autobiographischnarrativer Interviews hinausgehendes Forschungsdesign umgesetzt werden. Routinen beruflichen Handelns könnten mittels teilnehmender Beobachtung einer oder mehrerer Therapiesitzungen von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern mit ihren Patientinnen oder in Mitschnitten dieser untersucht werden. Dies wurde jedoch in der Planung der Studie verworfen, um diese nicht von vornherein zu gefährden. Ich bin davon ausgegangen, dass die gesellschaftliche Kritik an den Diagnostikund Therapiemethoden der Heilpraktikerinnen bzw. deren negative Evidenzlage dazu geführt hätte, dass sich kaum ein Heilpraktiker oder eine Heilpraktikerin bereit erklärt hätte, sich während einer Behandlungssitzung beobachten zu lassen. Diese methodische Standortbestimmung in Anlehnung an Positionen der konstruktivistischen Grounded Theory berührt theoretische Fragen einer reflexiven Sozialwissenschaft und Soziologie, in Auseinandersetzung mit der (untersuchten) Praxis: Es wurde versucht, die empirischen Daten in engem Bezug zur sozialen Welt der Akteure zu analysieren, zu den damaligen ökonomischen, politischen und sozialen Verhältnissen. Eine reflexive Objektivierung bleibt eingeschränkt. Der eigene Standpunkt aus Forscherinnensicht ermöglicht, zumal im historischen Kontext gesehen, nur die Sicht auf einen bestimmten Ausschnitt der Welt: Diese wird hier mitbedingt durch die eigene berufsbiographische Erfahrung als Heilpraktikerin sowie durch das biographische Erleben des gesellschaftlichen Transformationsprozesses in der ehemaligen DDR.
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Hinzuzufügen ist, dass im Versuch der (wissenschaftlichen) Objektivierung immer die Gefahr liegt, der Praxis die theoretische Wissenschafts-Sicht ‚aufzuzwingen‘ und es dabei an genügender Reflexivität bezüglich der Diskrepanz von Theorie und Praxis mangeln zu lassen. Dies kann sich nicht zuletzt in technischen Details wie den gebildeten Kategorien zeigen (vgl. dazu Bourdieu/Wacquant 2006: 99 ff.). Aufbauend auf dieser Reflexion und der Studie insgesamt können aus bildungswissenschaftlicher, professionssoziologischer und -theoretischer Perspektive weitere Forschungsfragen abgeleitet werden. – Wie kann das lebenslange Lernen, das sich hier am Beispiel der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker eindrucksvoll zeigt, in biographieorientierten (Weiter-)Bildungsangeboten und durch eine biographieorientierte Didaktik unterstützt werden? – Vorausgesetzt, eine inhaltliche und institutionalisierte Weiterentwicklung des Berufes rückt in den Fokus: Wie soll diese aussehen? Um den Beruf systematisch weiterzuentwickeln, wäre eine umfassende Berufsfeldanalyse der erste Schritt: Die berufstätigen Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker müssten umfassend zu Wort kommen, um die (heterogene) Berufspraxis abbilden zu können. Dies kann z. B. in Gruppendiskussionen, aber auch Experteninterviews erfolgen, um sowohl kollektive als auch individuelle Meinungen zu erfassen. Welche Inhalte und Aufgabenbereiche sind relevant, welche Methoden und Techniken werden in welchem Umfang angewendet, was wird bei Patientinnen und Klientinnen nachgefragt, welche Kenntnisse, Fertigkeiten, Haltungen müssten entwickelt werden? Darauf aufbauend kann ein Berufsbild definiert und ein Curriculum entwickelt werden, z. B. in Orientierung an das Vorgehen der Schweiz (vgl. Becker/Senn 2013; Itin 2013), unter Berücksichtigung der Unterschiede beider Gesundheits- und Berufsbildungssysteme, historisch gewachsenen Rahmenbedingungen etc. Zukünftig müsste sich auch die Überprüfungspraxis weg von der Wissensfokussierung hin zum Prüfen von Handlungskompetenz entwickeln, was die Neuregelung und inhaltliche Erarbeitung von Prüfungsinhalten nach sich zöge. – Eine hochschulisch angesiedelte Ausbildung ließe Fragen des eigenen beruflichen Handelns in den Blick rücken, in Auseinandersetzung mit Antinomien und Paradoxien professionellen Handelns; die Klärung und Definition der fachspezifischen Wissensbestände (Disziplinbildung) und Abgrenzung dieser von den Wissensbeständen der anderen Heilberufe. Mit einer hochschulisch angesiedelten Professionalisierung stellten sich auch Fragen der Systematisierung relevanter Forschung bzw. des Aufbaus eigener Forschung. Zudem ließe sich
8.3 Methodische Reflexion und Forschungsdesiderate
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danach fragen, wie die Ausprägung eines professionellen Habitus unterstützt werden kann. – Über die hier angelegte Untersuchung zum biographischen Habitus hinaus können weitere Untersuchungen zu den Dynamiken und Eigenlogiken im sozialen Feld der Ausübenden der Heilkunde, insbesondere zwischen Medizin und Heilpraktikerschaft, aber auch unter Einbezug anderer Heilberufe, folgen: – Wie gestalten sich die Interaktions- und Kommunikationsprozesse zwischen ihnen konkret? – Welche Orientierungen und Handlungspraxen werden relevant, wenn Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker aus medizinischen Vorberufen kommen und in beiden weiterhin tätig sind? Wie gehen sie mit eventuellen Unvereinbarkeiten um? Wie verbinden sie medizinische und alternative Wissensbestände? Wie gestaltet sich die Therapeut-Patient-/Klient-Interaktion, konkret welche Aushandlungsprozesse finden statt, z. B. wenn es um geeignete, gewünschte, abgelehnte, privat zu finanzierende Therapien etc. geht. – Eine hier nicht beantwortete Frage ist auch die Einstellung der Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern zu den vermehrt naturheilkundlich und alternativmedizinisch tätigen Ärztinnen und Ärzten. Im hier vorhandenen Sample verlief die Spannungslinie entlang Schulmedizin und Heilkunde des Heilpraktikers. Die komplementäre naturheilkundliche und alternative Tätigkeit von Ärzten blieb durch die Interviewten ausgeblendet. – Ebenso lässt sich fragen nach gesellschaftlichen ungleichheitsgenerierenden Reproduktionsmechanismen durch die Felder berufliche und akademische Ausbildung, Arbeit im und außerhalb des Systems der GKV mit einerseits differierenden Positionen der beruflichen Akteure, andererseits einem entsprechend eingeschränkten Zugang der Patientinnen zu den Möglichkeiten alternativmedizinischer Behandlungsformen. Welche habituellen Muster führen zum Heilpraktikerbesuch? Würden andere soziale Gruppen zum Heilpraktiker gehen, wenn deren Versorgung aus der Randstellung, aber auch aus dem Exklusivitätsanspruch herauskäme? – Auch bietet die theoretische Auseinandersetzung mit dem Gesundheitsbegriff eine interessante und komplexe Forschungsperspektive. Konzepte wie Biographie und Leib, auf die auch die wissenschaftstheoretischen Fundierungen der Klassischen Homöopathie Bezug nehmen, können Basis sein, um die handlungsorientierte standardisierte Verwendung von Klassifikationsmodellen und dahinterliegenden Konzepten weiterzuentwickeln sowie Wissensbestände zu klären. In der vorliegenden Arbeit hat sich als Herausforderung erwiesen, die ungeordneten (alternativen) Wissensbestände, auf die sich die Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker in ihren Erzählungen beziehen, differenziert zu benennen und einzuordnen.
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Zusammenführung und Schlussbetrachtung
Auch aus der Perspektive des Gesundheitssystems (Versorgungsforschung), von Gesundheitsrecht und -ökonomie gibt es einen umfangreichen Forschungsbedarf, der an das erste Kapitel dieser Arbeit anknüpfen könnte. Er soll hier nicht gesondert aufgeführt werden. Die vorliegende Arbeit hat einen berufssoziologischen und biographietheoretischen Blick auf den Heilpraktikerberuf als Heilberuf mit Potenzial gerichtet. Dabei sind erstmalig die tätigen Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker systematisch selbst zu Wort gekommen. Mittels autobiographisch-narrativer Interviews konnten ihre subjektiven biographischen Erfahrungsaufschichtungen, Deutungen und Orientierungsmuster analysiert sowie Rückschlüsse gezogen werden, wie sie je individuell die strukturellen Gegebenheiten ihres Berufes bearbeiten – Gegebenheiten, die sich einerseits als biographische Chance zeigen, aber auch auf verschiedenen Ebenen Herausforderungen beinhalten, die individuell nicht zu lösen sind. Die Lebensgeschichten der interviewten Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker zeigen eindrucksvoll deren biographische Habitualisierungsprozesse. Die biographische Erfahrungsaufschichtung bildet die Grundlage für ihr berufliches Handeln, einhergehend mit Grenzen und (ungenutzten) Potenzialen. Diese sind nicht zuletzt den minimal geregelten Bedingungen von Berufszugang und -ausübung, der gesellschaftlichen Stellung des Heilpraktikers sowie der mit einer Berufsausübung einhergehenden ökonomischen Unsicherheit geschuldet.
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Transkriptionsnotationen
, (3) . ? nein nein °nein° vieja=ja nei:n (sagte er) () da sagt er: „Komm her“ /das war stark ((lacht)) / //mhm//
A: B: I:/E: …
kurze Pause; kurzes Absetzen längere Pause; Dauer in Sekunden (ab 1 sec) fallende Intonation, Satzende Frageintonation Betonung laut leise Abbruch im Wort schneller Anschluss; Zusammenziehung Dehnung von Lauten; die Häufigkeit der Doppelpunkte entspricht der Länge der Dehnung unsichere Transkription Äußerung ist unverständlich; Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der Äußerung Zitat innerhalb der Rede para- oder nonverbaler Akt; Kommentar der Transkribierenden markiert den Beginn Hörersignale, „mhm“ der Interviewerin, werden ohne Häkchen im Text der/des Interviewten notiert, wenn sie in der laufenden Rede i. S. des aktiven Zuhörens erfolgen Ich will jetzt… Du hast aber… gleichzeitiges Sprechen ab „will“ Interviewerin/Erzähler/Erzählerin Auslassungen im Transkript
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Bernateck, Der biographische Habitus von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31356-2
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Transkriptionsnotationen
(in Anlehnung an Rosenthal (2008: 95) und Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014: 169))