Rechtstheorie [2 ed.] 9783406746154, 9783406684340

Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Rechtswissenschaft und solcher Disziplinen, in denen Recht auf unterschiedl

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Table of contents :
1
I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel
1. Frühe Rechtstheorie
2. Frühe Rechtssoziologie
3. Neuere Entwicklungen
II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung
1. Beobachtung zweiter Ordnung
2. Theorie als Lebensform (Aristoteles)
3. Zur Funktion von Rechtstheorie
III. Abgrenzungen und Überlappungen
1. Zur Rechtsdogmatik
2. Rechtsphilosophie
2
I. Grundlagen
1. Typen und Begriffe
2. Konditionalschema
3. Abstrakt normatives Regelverständnis
II. Allgemeinheit des Gesetzes
1. Kants praktische Philosophie
2. Anwendung des Gesetzes
III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn)
IV. Pragmatisches Regelverständnis
3
I. Einheit und Hierarchie des Rechts
II. Systembegriff
1. In der Naturphilosophie
2. Praktische Philosophie
III. Systembildung im Rechtspositivismus
1. Zur juristischen „Construction“
2. Lückenlosigkeit, Folgerichtigkeit, Positivität des Rechts
3. Zwischenbilanz
4. Auflösungserscheinungen (Kelsen)
IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung
4
I. Unterscheidung von System und Umwelt
II. Operative Geschlossenheit
1. Autopoiesis
2. Zeit
3. Funktionale Spezifikation und binäre Codierung
4. Selbstreferenz und Fremdreferenz (re-entry)
III. Dynamische, rekursive Vernetzung
1. Netzwerk statt Hierarchie
2. Paradoxie des Anfangs
IV. Systemtheorie und Computerkultur
5
I. Staatszentrierung
1. Zur tradierten Rechtsquellenlehre
2. Das Problem der (staatlich sanktionierten) Gewalt
II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie
1. Begriff und historischer Kontext des Naturrechts
2. Gerechtigkeitsphilosophie
3. Moralphilosophie
III. Dynamisierung
1. Positives Recht
2. Normative Geltungsbegründung
3. Geltung als zirkulierendes Symbol
IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts
1. Heterarchie der Rechtsquellen
2. Gesellschaftliche Konventionen und praktisches Wissen
6
I. Auslegung oder Konkretisierung?
1. Der Zugriff der neueren Methodenlehre
2. Zum Methodenkanon
II. Modellbildungen
1. Im Rechtspositivismus
2. Philosophische Hermeneutik
3. Juristische Hermeneutik
III. Paradoxie des Entscheidens
IV. „Postmoderne“ Methodenlehre
1. Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie
2. Rechtsstrukturen und Sachstrukturen
3. Die Bedeutung des gemeinsames Wissens
4. Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen
7
I. Rechtsgeschichte
II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)
III. Evolutionstheorie
1. Evolutionstheorie und Systemtheorie
2. Zur Autonomie des Rechts
IV. Medien als pre-adaptive advances
1. Zur Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie
2. Primäre Oralität und Schriftgebrauch
3. Buchdruck
4. Elektronische Medien und Computer
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Rechtstheorie [2 ed.]
 9783406746154, 9783406684340

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Juristische

Kurz-Lehrbücher Thomas Vesting

Rechtstheorie 2. Auflage

C.H.BECK

https://doi.org/10.17104/9783406746154-I Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Das Lehrbuch richtet sich an Studierende der Rechtswissenschaft und solcher Disziplinen, in denen Recht auf unterschiedliche Weise Thema der jeweiligen Fachkulturen ist, wie zum Beispiel in Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Politik-, Literatur- oder Medienwissenschaft. Es wird ein Überblick über die Themen Rechtsnormen, Rechtssystem, Rechtsgeltung, Rechtsgewalt, Rechtsinterpretation und Rechtsgeschichte geboten. Dabei wird ein kulturwissenschaftlicher und medientheoretischer Ansatz erprobt, wie er sich in unterschiedlichsten Fachrichtungen als neue Möglichkeit des (interdisziplinären) Denkens durchgesetzt hat. Besondere Vorteile: ■ Vermittlung von Grundlagenwissen ■ Einbeziehung aktueller (rechts-)theoretischer Debatten ■ knappe präzise Darstellungen

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Rechtstheorie Ein Studienbuch

von

Dr. Thomas Vesting o. Professor an der Universität Frankfurt am Main

2. Auflage, 2015

C. H. BECK https://doi.org/10.17104/9783406746154-I Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

www.beck.de ISBN Print 978 3 406 68434 0 ISBN E-Book 978 3 406 74615~ ~ 4 © 2019 Verlag C. H. Beck oHG Wilhelmstraße 9, 80801 München Druck und Bindung: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG In den Lissen 12, D-76547 Sinzheim Satz: Jung Crossmedia Publishing GmbH Gewerbestr. 17, 35633 Lahnau Umschlaggestaltung: Martina Busch, Grafikdesign, Homburg Saar Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff )

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Vorwort zur 2. Auflage Die hier in zweiter Auflage erscheinende Rechtstheorie ist als Lehrbuch für Unterrichtszwecke an Universitäten konzipiert. Sie richtet sich an interessierte Studenten der Rechtswissenschaft und solcher Disziplinen, in denen, wie in der Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Politik- oder Literaturwissenschaft, Recht auf unterschiedliche Weise Thema der jeweiligen Fachkulturen ist. Das Buch konzentriert sich darauf, einen Überblick über einige der Themen zu geben, die von der Rechtstheorie des 20. Jahrhunderts immer wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt worden sind: Rechtsnormen, Rechtssystem, Rechtsgeltung, Rechtsgewalt, Rechtsinterpretation und Rechtsgeschichte. Im Unterschied zur analytischen Rechtstheorie geht die vorliegende Rechtstheorie allerdings davon aus, dass man diese Themen nicht losgelöst von ihrem historischen Kontext behandeln kann und dass Kontextualität nicht nur ein „Argument“ ist. Im Gegenteil: Die Geschichte und Evolution des Rechts ist eng mit der Geschichte und Evolution von Formen gemeinsamen Wissens verklammert, eines ständigen Flusses geteilter praktischer Bedeutungszusammenhänge wie etwa Sprache, Sitten, Gebräuchen und Konventionen. Das gilt auch für die Rechtstheorie. Oder, um Hegels allbekannte Formulierung aus der Vorrede zur Philosophie des Rechts von 1821 aufzugreifen: Wie das Individuum ist die Rechtstheorie notwendigerweise ein Kind ihrer Zeit, ihre Textualität ist „ihre Zeit in Gedanken erfaßt“.1 Bei Hegel ist die Annahme der Geschichtlichkeit des Rechts eng mit der Idee eines zu sich selbst findenden Geistes verknüpft, mit einer „Reproduktionslogik des Identischen“,2 der Bewegung eines kollektiven Subjekts, das auf die mögliche Verwirklichung von Vernunft und Freiheit angelegt ist. Bekanntlich war Hegel der Auffassung, dass sich diese Möglichkeit im preußischen Staat von 1820 realisiert hätte.3 In der hier vorliegenden Rechtstheorie geht es freilich weder um eine Neuauflage der Hegelschen Geschichtsphilosophie, um eine dialektische Aufhebung aller Widersprüche und Trennungen, noch um eine Theorie des Rechts, die sich primär über ihre In-Beziehung-Setzung zum Staat oder zur Politik bestimmen würde. Vielmehr wird in der Rechtstheorie ein kulturwissenschaftlicher und medientheoretischer Ansatz erprobt, wie er sich heute in unterschiedlichsten Fachrichtungen als eine neue Möglichkeit des (interdisziplinären) Denkens durchgesetzt hat. Darin ist zugleich eine epistemologische Unterstellung eingeschlossen, die besagt, dass die Theoriebildung ihrer eigenen Geschichtlichkeit und Ereignishaftigkeit nicht entraten kann. Das hat wiederum zur Folge, dass die herkömmliche Erkenntnistheorie einer historischen Epistemologie weicht, die jede Möglichkeit, das Recht „transzendentalen Voraussetzungen oder doch einer apriorischen Norm zu unterwerfen“ verschließt, um es von einem je spezifischen kulturhistorischen Regime her zu fassen.4 Rechtstheorie ist dann nicht länger das Produkt eines einsamen Autorsubjekts, sondern immer schon in die Welt und ihre praktischen Bedeutungszusammenhänge verstrickt. Sie kann nicht allein Produkt von Gedankenarchitekturen sein, erst auf der 1 2 3 4

G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1970, Vorrede, 26. Den Begriff entnehme ich A. Koschorke, Hegel und wir, 2015, 11. Vgl. dazu die klassische Studie von F. Rosenzweig, Hegel und der Staat (1920), 2010, 405, 438. Vgl. H.-J. Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, 2007, 12.

V https://doi.org/10.17104/9783406746154-I Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Vorwort zur 2. Auflage

Grundlage „einer Verkettung von Erschlossenheiten, von Metaphernsystemen, die unsere Welterfahrung ermöglichen und bestimmen,“5 kann Rechtstheorie gedacht und geschrieben werden. Wenn die Rechtstheorie die Notwendigkeit des historischen Einsatzes ihres Denkens in diesem radikalen (hermeneutischen) Sinn anerkennt, dann muss sie den Prozess des Aufstiegs einer globalen Kultur der Netzwerke als das Phänomen akzeptieren, das unsere Erschlossenheiten und Metaphernsysteme ermöglicht und bestimmt – und sich darin, in der Antwort auf diese Botschaft, als legitimes Kind ihrer Zeit erweisen. Noch einmal anders gesagt: Die Rechtstheorie wird heute in ihrer Identität und in ihrem Selbstverständnis durch ein Netzwerk offener technischer Objekte herausgefordert, durch einen weltweiten Verbund aus digitalen Medien, der auf der Universalmaschine des Computers und auf Netzwerken basiert, die spontan und dezentral erzeugt und dabei beständig umgeschrieben werden und alle bisher bekannten Medien – Sprache, Schrift, Druck, Photographie, Radio, Film, Fernsehen etc. – in der Allgegenwart digitaler Kommunikationsströme miteinander konvergieren lassen. Die Allgegenwart der Computernetzwerke und digitalen Kommunikationsströme hat – wie zuvor die Erfindung der Schrift und des Buchdrucks – einen Bruch in der Geschichte der kulturellen Evolution ausgelöst, ja eine umfassende „sinnkulturelle Erschütterung“ eingeleitet.6 Eine neue Epistemologie ist im Begriff zu entstehen, eine neuartige kollektive Wahrnehmung von faktischen wie normativen Bedeutungszusammenhängen, von der aus die Themen der Rechtstheorie neu durchdacht werden müssen. Das ist – sehr allgemein formuliert – der Hintergrund, vor dem die einzelnen Abschnitte der Rechtstheorie komponiert wurden; am deutlichsten wird diese Perspektive vielleicht im letzten Kapitel des Buches entfaltet. Dieses Kapitel enthält den Abriss eines Forschungsprogramms, das ich in einer Reihe von neueren Publikationen, in den Medien des Rechts, ausführlicher darzustellen versucht habe.7 Die neuartige Kultur der Netzwerke, so lautet die methodologische Botschaft dieses Forschungsprogramms, kann nur durch eine Öffnung der Rechtstheorie für Disziplinen wie Kulturtheorie, Medientheorie, Kommunikationstheorie, Anthropologie, Literaturwissenschaft, Film- und Fernsehtheorie, Bildwissenschaft usw. bewältigt werden.8 Es geht also im Kern um eine Perspektivenänderung, mit deren Hilfe die Rechtstheorie besser auf die rechtlichen Herausforderungen des Umbaus der modernen Gesellschaft durch den Aufstieg der neuen Kultur der Netzwerke reagieren kann. Die erste Auflage der Rechtstheorie ist von der JuS zu einem der juristischen Ausbildungsbücher des Jahres 2007 gewählt worden.9 In diesem Jahr sind außerdem eine brasilianische und eine japanische Ausgabe erschienen;10 eine Übersetzung ins Spani5 6 7 8

9

10

G. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 1997, 155. Vgl. E. Hörl, Die technologische Bedingung, 2011, 7ff., 13 (Fn. 20). Vgl. T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. 1–2, 2011; Bd. 3, 2013; Bd. 4, 2015. Näher T. Vesting, Medialität des Rechts, 2012, 149ff. Diese Einsicht gewinnt auch in anderen Disziplinen an Gewicht. So hat etwa jüngst Y. Ezrahi, Imagined Democracies, 2012, 306, eine derartige Umstellung für die politikwissenschaftlichen Analyse der liberalen Demokratie und ihrer „contemporary culture of fast moving images“ eingefordert. Vgl. Tobias Gostomzyk/Georg Neureither/Ali B. Norouzi, Die juristischen Ausbildungsbücher des Jahres 2007 – Eine Leseempfehlung von JuS-Autoren an JuS-Leser, JuS 2007, 1158ff.; vgl. auch die Besprechungen von D. Simon, An der Front, Myops 2010, S. 40ff.; und J. Gerberding, Bucerius Law Journal 2007, 148ff. Teoria do Direito. Uma Introducao, Saraiva, Sao Paulo 2015; Rechtstheorie, Seibundo-Publishing, Tokyo, 2015.

VI https://doi.org/10.17104/9783406746154-I Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Vorwort zur 2. Auflage

sche ist in Arbeit. Nicht zuletzt diese Resonanz hat mich dazu bewogen, eine 2. Auflage in Angriff zu nehmen. Dazu wurde die Rechtstheorie umfassend durchgesehen und dort, wo es mir sinnvoll erschien, auf den neuesten Stand gebracht. Isa Weyhknecht-Diehl hat den gesamten Text in eine perfekte Form gebracht. Cara Röhner und Andreas Engelmann haben Korrektur gelesen und viele gute Ergänzungsund Verbesserungsvorschläge gemacht. Dafür sei allen dreien herzlich gedankt. Frankfurt/München, im Juni 2015

Thomas Vesting

https://doi.org/10.17104/9783406746154-I Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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Inhaltsverzeichnis Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII § 1.

Ort und Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Frühe Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frühe Rechtssoziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Neuere Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung . . . . . . . . . . . . . 1. Beobachtung zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theorie als Lebensform (Aristoteles) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Funktion von Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abgrenzungen und Überlappungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Rechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 1 1 2 4 7 7 9 10 13 13 16

§ 2.

Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Typen und Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konditionalschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Abstrakt normatives Regelverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeinheit des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kants praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendung des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Pragmatisches Regelverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20 20 20 22 24 28 28 32 33 37

§ 3.

System I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einheit und Hierarchie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Systembegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. In der Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Praktische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Systembildung im Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur juristischen „Construction“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Lückenlosigkeit, Folgerichtigkeit, Positivität des Rechts . . . . . . . 3. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Auflösungserscheinungen (Kelsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

41 41 44 44 49 52 52 56 58 59 61

§ 4.

System II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Unterscheidung von System und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Operative Geschlossenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Autopoiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67 67 69 69 72 IX

https://doi.org/10.17104/9783406746154-I Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Inhaltsverzeichnis

3. Funktionale Spezifikation und binäre Codierung . . . . . . . . . . . 4. Selbstreferenz und Fremdreferenz (re-entry) . . . . . . . . . . . . . . . III. Dynamische, rekursive Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Netzwerk statt Hierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Paradoxie des Anfangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Systemtheorie und Computerkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 77 79 79 81 83

§ 5.

Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Staatszentrierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur tradierten Rechtsquellenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Problem der (staatlich sanktionierten) Gewalt . . . . . . . . . . II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . 1. Begriff und historischer Kontext des Naturrechts . . . . . . . . . . . 2. Gerechtigkeitsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Dynamisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Positives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normative Geltungsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Geltung als zirkulierendes Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts . . . . . . . . . . . . 1. Heterarchie der Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gesellschaftliche Konventionen und praktisches Wissen . . . . . .

91 91 91 92 97 97 99 100 103 103 107 109 110 110 113

§ 6.

Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Auslegung oder Konkretisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Zugriff der neueren Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Methodenkanon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Modellbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Im Rechtspositivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Philosophische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Juristische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Paradoxie des Entscheidens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. „Postmoderne“ Methodenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsstrukturen und Sachstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Bedeutung des gemeinsames Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . .

116 116 116 118 121 121 127 132 136 139 139 141 142 147

§ 7.

Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber) . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Evolutionstheorie und Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Autonomie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Medien als pre-adaptive advances . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zur Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie . . . 2. Primäre Oralität und Schriftgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149 149 152 160 160 163 167 167 172

X https://doi.org/10.17104/9783406746154-I Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Inhaltsverzeichnis

3. Buchdruck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 4. Elektronische Medien und Computer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187

https://doi.org/10.17104/9783406746154-I Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:32. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 1. Ort und Funktion I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel 1. Frühe Rechtstheorie

Schon im 19. Jahrhundert sprach man gelegentlich von „Rechtstheorie“.1 Der Name 1 Rechtstheorie wurde von Autoren wie v. Savigny jedoch annähernd synonym mit Rechtswissenschaft gebraucht. Erst im 20. Jahrhundert nimmt der Begriff schärfere Konturen an. Vor allem im Umkreis der Internationalen Zeitschrift für Theorie des Rechts wurde seit Mitte der 1920er Jahre die Pflege einer Rechtstheorie eingefordert, die sich – zwar unabhängig von den Besonderheiten der einzelnen (nationalen) Rechtsordnungen – aber doch auf die gemeinsamen Probleme des „positiven Rechts“ konzentrieren sollte.2 Rechtstheorie war insoweit als Gegenprogramm zur Rechtsphilosophie formuliert, als Alternativentwurf zu Theorien des natürlichen, richtigen oder gerechten Rechts. Bestimmt wurde dieses Programm nicht zuletzt durch Hans Kelsen, dem bedeutendsten Mitherausgeber der Internationalen Zeitschrift. Für Kelsen und seine Reine Rechtslehre (1. Auflage 1934) war Rechtstheorie primär Normentheorie, wobei unter Norm die expliziten ausformulierten geschriebenen oder gedruckten Normen, wie etwa die Gesetze des bürgerlichen Privatrechts oder die Normen einer Staatsverfassung, verstanden wurden. An diesen Typus von Normentheorie knüpft die rechtstheoretische Diskussion noch heute vielfach an.3 Auch die analytische Rechtstheorie des anglo-amerikanischen Rechtskreises ist weitgehend um Rechtsnormen oder -regeln zentriert. Ein prominentes Beispiel dafür ist etwa Harts The Concept of Law (1961) und die dort entwickelte Unterscheidung von „primary“ und „secondary rules“, deren Zusammenspiel nach Hart jedes Rechtssystem charakterisiert.4 Das Sprungbrett für die Rechtstheorie Kelsens war die neukantische Unterscheidung von Sollen und Sein, die hier in eine unüberbrückbare Differenz zwischen Rechtsnormen und außerrechtlicher Wirklichkeit übersetzt wurde. Diese Unterscheidung und Separierung begründete Kelsen mit Hilfe einer eigentümlichen Aussagenlogik, die nach seiner Auffassung im Bewusstsein (aller Menschen) verankert ist.5 Ihr Resultat ist eine Art Zwei-Welten-Lehre: Welt 1 ist die Welt der Rechtsnormen, die Welt des reinen (normativen) Sollens, Welt 2 ist die Welt der Faktizität, der Seinstatsachen und Fälle. In Welt 1 heißt es: Du sollst nicht stehlen (heute § 242 StGB), in Welt 2 wird aber dennoch gestohlen, etwa in Kaufhäusern, Tankstellenshops, bei Flohmärkten etc. Die Wirklichkeit wird als eine norm- und sinnunabhängige Wirklichkeit gedacht, während umgekehrt das wirkliche Geschehen niemals Einfluss auf die Geltung und Verbindlichkeit von Normen hat, die für Kelsen eben in einer anderen Welt, in Welt 1 verankert sind. Aus einem Sein könne niemals ein Sollen folgen, von Fakten könne und dürfe man nicht auf die Gültigkeit von Normen 1

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Vgl. nur F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, XXII; K. Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892, z. B. 480 mit Bezug auf die „historische Rechtstheorie“ von Savigny und Puchta; R. Stammler, Die Lehre von dem richtigen Rechte, 1902, 12ff. („theoretische Rechtslehre“). Vgl. Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 1 (1926/27), Vorwort, 1ff. So z. B. M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 28 („Rechtstheorie ist ... normwissenschaftlich arbeitende Reflexionswissenschaft.“). H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 77ff. H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 5 („Der Unterschied zwischen Sein und Sollen kann nicht näher erklärt werden. Er ist unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben.“); dazu einführend H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 27ff., 33 („Dualismus von Sein und Sollen“).

1 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 1. Ort und Funktion schließen et vice versa. „Niemand kann leugnen, daß die Aussage: etwas ist – das ist die Aussage, mit dem eine Seins-Tatsache beschrieben wird – wesentlich verschieden ist von der Aussage: daß etwas sein soll – das ist die Aussage, mit der eine Norm beschrieben wird; und daß daraus, daß etwas ist, nicht folgen kann, daß etwas sein soll, so wie daraus, daß etwas sein soll, nicht folgen kann, daß etwas ist.“6 Wer dennoch von einem Sein auf ein Sollen schließt, begeht einen „naturalistischen Fehlschlusß“.

2. Frühe Rechtssoziologie

3 Bevor die Rechtstheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf eine unmittelbar an juristischen Bedürfnissen orientierte Normentheorie umschwenkte, war sie Bestandteil eines weiter angelegten Unternehmens, nämlich der sich herausbildenden Soziologie des 19. Jahrhunderts. Rechtstheorie trat also zunächst in Form der (Rechts-)Soziologie in Erscheinung, etwa als Kritik der Abstraktionen des bürgerlichen Rechts in der Deutschen Ideologie (1845/46) von Karl Marx oder in Émile Durkheims Analyse des Zusammenhangs von sozialer Arbeitsteilung und Vertrag in De la division du travail social von 1893.7 Bei Max Weber, einem weiteren Gründungsvater der Soziologie als eigenständiger Fachdisziplin, manifestierte sich das Interesse am Recht in einem vermutlich vor 1914 entstandenen Manuskript, das später von Marianne Weber und Melchior Palyi unter dem Namen Rechtssoziologie als 7. Kapitel in Wirtschaft und Gesellschaft eingefügt wurde – und deshalb heute meist als Webers Rechtssoziologie firmiert.8 Weber nutzte in diesem Manuskript ebenfalls die (neukantische) Unterscheidung von Normen und Fakten, aber für einen – von Kelsen aus gesehen – genau entgegengesetzten Zweck: Webers Rechtssoziologie wollte mit Hilfe der Unterscheidung von Sein und Sollen die größtmögliche Distanz zum rechtswissenschaftlichen Betrieb aufbauen.9 Während die juristische Betrachtungsweise an der logischen Erschließung von Sinnproblemen arbeite, interessiere sich die Rechtssoziologie für Recht als Ausdruck faktischer Bestimmungsgründe menschlichen Handelns. Die Jurisprudenz fragt nach Weber, was als Recht ideell gilt. „Das will sagen: Welche Bedeutung, und dies wiederum heißt: Welcher normative Sinn einem als Rechtsnorm auftretenden sprachlichen Gebilde logisch richtigerweise zukommen sollte“; die Soziologie dagegen frage, was „innerhalb einer Gemeinschaft faktisch um deswillen geschieht, weil die Chance besteht, daß am Gemeinschaftshandeln beteiligte Menschen ... bestimmte Ordnungen als geltend subjektiv ansehen und praktisch behandeln, also ihr eigenes Handeln an ihnen orientieren.“10 4 Aus der strikten Entgegensetzung von juristischem und soziologischem Sinn resultierte in Webers methodologischen Schriften die Annahme einer Differenz von juristischer und soziologischer Betrachtungsweise 6

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Moralphilosophisch gewendet kann man dann formulieren, „that it is impossible to deduce an ethical conclusion from entirely non-ethical premises“. So etwa A. N. Prior, Logic and the Basis of Ethics, 1944, 18, hier zitiert nach Kelsen (Fn. 5), 5. Vgl. W. Gephart, Gesellschaftstheorie und Recht, 1993, 275ff. (Marx), 328f. (Durkheim); zu den „klassischen Ansätzen“ der Rechtssoziologie vgl. auch N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 10ff. (mit der Reihung K. Marx, H. S. Maine, E. Durkheim, M. Weber, T. Parsons). Vgl. den Bericht von W. Gephart, Das Collagenwerk, RG 3 (2003), 111ff., 113, 114 (mit dem Hinweis, dass das überlieferte Manuskript keinen Titel trägt). Vgl. dazu K. Quensel/H. Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode, Rechtstheorie 33 (2002), 91ff., 98, mit der die Sache komplizierenden Bemerkung, dass Weber die soziologische Begriffsbildung geradezu aus dem Geiste der Jurisprudenz konzipierte. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 181; zur Methodologie der Weberschen Rechtssoziologie näher Quensel/Treiber (Fn. 9).

2 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel des Rechts. Wie Kelsen schrieb auch Weber der Methode eine gegenstandskonstituierende Kraft zu, d. h. die Methode erzeugt hier die Wirklichkeit, die sie beschreibt; deshalb leitete auch Weber die Heterogenität juristischer und soziologischer Probleme aus der Unterschiedlichkeit ihrer „Erkenntnisobjekte“ ab. Damit navigierte Weber die Rechtssoziologie zwar nah an das methodologische Fahrwasser des Neukantianismus heran; dennoch darf man seine Position nicht mit dem soziologischen Naturalismus eines Kelsen ineinssetzen. Für die reine Rechtslehre bestand ein unüberbrückbarer methodologischer Gegensatz zwischen juristischer und soziologischer Methode: Rechtssoziologie referierte auf das tatsächlich Gegebene, die Welt des Seins, in der die Dinge in einem naturnotwendigen Kausalzusammenhang miteinander verknüpft waren, während die Rechtswissenschaft als Analytik von Sollensordnungen etwas davon vollständig Getrenntes behandelte.11 Dagegen ging es Weber gerade um die soziologische Analyse der Einheit der Differenz von Normen und Fakten, um die Erkundung der normativen Kraft faktischen Verhaltens und umgekehrt um Einblicke in die Formalisierungs- und Ordnungsleistungen, die das formal-rationale Recht für die moderne (liberale) Gesellschaft erbrachte. Zwischen beiden Ebenen, zwischen ideellem Gelten-Sollen und faktischen Bestimmungsgründen menschlichen Handelns, existierten daher für Weber – wiederum im Gegensatz zu Kelsen – mannigfache Vermittlungen und Überlappungen. Solche Zusammenhänge akzentuierte Weber etwa im Traditionsbegriff. Tradition hieß Orientierung am Gewohnten, an dauernden faktischen Wiederholungen und Übungen, wie sie bis heute den religiösen Ritus auszeichnen, etwa den jüdischen Sabbat, der immer am Freitagabend beginnt und immer bis zum Eintritt der Dunkelheit am darauf folgenden Samstag dauert. Orientierung am Gewohnten hieß bei Weber also nicht einfach mechanische Reaktion und passive Anpassung auf äußere Stimuli, kein „dumpfes Reagieren“, sondern Integration des Handelnden in ein sinnhaftes Geschehen, das auf Selektionen aus anderen Möglichkeiten beruhte und in dem kognitive (und normative) Strukturen laufend an tatsächliche Erfahrungen assimiliert wurden.12

Die Differenz zwischen juristischer und soziologischer Betrachtungsweise des Rechts 5 blieb bei Weber trotz der Anerkennung von Vermittlungen und Überlappungen zwischen „Sein“ und „Sollen“ erhalten. Erst Eugen Ehrlichs Soziologie des Rechts von 1913 ebnete diese Unterscheidung ein, indem sie Rechtswissenschaft als Rechtssoziologie und nur als solche zu begründen versuchte. Ehrlich begnügte sich nicht mit einer soziologischen Aufspaltung des Rechts in seine ideelle Geltung einerseits und seinen Einfluss auf faktisches (empirisches) Handeln andererseits (wie Max Weber). Ehrlich setzte ganz anders an: Das Recht war in seiner Sicht ein Instrument für die faktische Organisation des Verhaltens in gesellschaftlichen Verbänden. Recht entstand in sozialen Zusammenhängen und war davon nicht zu separieren: Es war „lebendes Recht“, tatsächlich geübtes und praktiziertes Recht, und folgte der Entwicklung der gesellschaftlichen Erscheinungen und Einrichtungen.13 Das von Juristen auf Rechtssätze, Rechtsbegriffe und Normensysteme gebrachte Recht, das Recht der Gerichte, das (staatlich oder internationalrechtlich) kodifizierte Recht und das Recht der Rechtswissenschaft waren demgegenüber sekundäre, abgeleitete und stets notwendigerweise lückenhaft verbalisierte Erscheinungen dieses einen umfassenden Rechts. „Der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liegt auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung noch in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst.“14 11

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Vgl. nur H. Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode (1911), 1970, 5, 11 („Während die Kausalwissenschaften oder explikativen Disziplinen Naturgesetze zu gewinnen bestrebt sind, nach denen die Vorgänge des realen Lebens tatsächlich geschehen und ausnahmslos naturnotwendig geschehen müssen, sind Ziel und Gegenstand der normativen Disziplinen, die keineswegs irgendein tatsächliches Geschehen erklären wollen, lediglich Normen, auf Grund deren etwas geschehen soll, aber durchaus nicht geschehen muß, ja vielleicht tatsächlich nicht geschieht.“). Vgl. nur S. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, 1991, 71ff., 75 (mit Rückgriff auf die Entwicklungspsychologie J. Piagets). E. Ehrlich, Die Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), 382f. Ehrlich, ebd., Vorrede; vgl. auch M. Rehbinder, Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 1967.

3 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 1. Ort und Funktion 3. Neuere Entwicklungen

6 Gegenüber diesen frühen rechtssoziologischen und rechtstheoretischen Ansätzen hat die Rechtstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen enormen Entwicklungssprung gemacht. Dieser Entwicklungssprung hängt einerseits mit der Erfindung und Entwicklung der Systemtheorie als soziologischer Rechtstheorie sowie andererseits mit der sich daran teils anschließenden, teils sich von ihr distanzierenden Kultur- und Medientheorie des Rechts zusammen (dazu mehr unten, am Ende des Abschnitts). Die Systemtheorie wurde zunächst von Talcott Parsons als genuin normative Soziologie begründet und in ihren rechtstheoretischen Implikationen vor allem von Niklas Luhmann ausbuchstabiert.15 Methodologisch gesehen macht die Systemtheorie eine grundlegende Umschreibung des rechtstheoretischen Forschungsprogramms erforderlich. Startpunkt aller Operationen ist hier eine Unterscheidung, nicht, wie noch in der frühen Rechtstheorie, „irgendeine vorauszusetzende Einheit, nicht irgendein Prinzip, auch nicht das System als Träger (Subjekt) seiner eigenen Operationen.“16 Das Recht wird in der Systemtheorie genauer als soziales System, als permanent laufendes Kommunikationssystem, gedacht und die Frage nach Grund und Wesen des Rechts durch die Frage nach seiner Grenze ersetzt. Die zentrale Fragestellung lautet dann: Wie sieht die Einheit des Rechts aus, wenn man diese mit systemtheoretisch-soziologischen Mitteln, d. h. als Unterscheidung von System (Recht) und Umwelt (Gesellschaft, d. h. andere soziale Systeme) beschreibt und das Recht als ein sich selbst produzierendes und reproduzierendes Kommunikationssystem?17 7 Der grundlegende Unterschied zur älteren Rechtstheorie und Rechtssoziologie muss darin gesehen werden, dass die Systemtheorie (wie große Teile der Kultur- und Medientheorie des Rechts) auf ein differenztheoretisches Denken in dynamischen Verhältnissen umstellt. Für die Systemtheorie ist das Operieren des Rechtssystems keine „Anwendung“ einer gegebenen Ordnung. Darin reagiert sie auf die heute weithin geteilte Einsicht, derzufolge „Ordnung das Resultat von Praxis ist, nicht ihre Präsupposition.“18 Für die Systemtheorie bedeutet das: Das Recht arbeitet als informationsverarbeitendes Entscheidungssystem, das nicht hierarchisch, sondern heterarchisch, netzwerkartig, nachbarschaftlich und rekursiv prozessiert, d. h. das Operationen auf Resultate von Operationen anwendet und durch hinreichend lange Wiederholung solche Formen herausfiltert, die unter dynamischen Bedingungen stabil sein können. Das System verknüpft Rechtskommunikationen „horizontal“, im Fluss der Zeit, etwa dadurch, dass ein Gericht eine neue Entscheidung argumentativ auf vorangegangene Entscheidungen und die Bindungen stützt, die sich aus der getroffenen Entscheidung für weitere Entscheidungen ergeben. Diese Selbstreferentialität des Systems, seine rekursive Geschlossenheit, versucht die Systemtheorie seit Mitte der 1980er Jahre nicht 15 16

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Vgl. dazu Luhmanns Selbsteinschätzung und frühe Distanzierung von Parsons in ders. (Fn. 7), 20f. N. Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 17 (1986), 171ff., 176; vgl. auch K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 1988, 218ff., 223 (an die Stelle der Einheit tritt das Prozessieren einer Unterscheidung bzw. Differenzierung). N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 20; zur Bedeutung der Grenze für die Systembildung vgl. auch D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 152ff., 156. A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, 302.

4 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Auftritt einer Selbstbeschreibungsformel

zuletzt im Begriff der „Autopoiesis“ (von gr. autos, selbst und gr. poiesis, herstellen, machen) abzubilden (näher Rn. 112ff., 129ff.). Im Zentrum der Systemtheorie steht mithin die laufende Eigenstabilisierung des Rechtssystems durch die zirkuläre Verkettung stets flüchtiger Ereignisse (Rechtsentscheidungen, Operationen), nicht aber etwa ein wissenschaftlich formulierter Anspruch auf normative Selbstabschließung des Rechtssystems durch einen vermeintlich zeitstabilen „Anfang“, wie z. B. den der Grundnorm in Kelsens Reiner Rechtslehre. Der Sinn des rechtstheoretischen Programms der Systemtheorie liegt in der Herstel- 8 lung eines Zusammenhangs von Rechtstheorie und Gesellschaftstheorie. Es geht Luhmann um die Formulierung einer gesellschaftstheoretischen (soziologischen) Reflexion des Rechts.19 Selbstreflexion des Rechtssystems heißt hier genauer: Aufklärung über Recht durch die Systemtheorie als universaler Gesellschaftstheorie. Die soziologische Rechtstheorie fragt nach der Einheit des Rechtssystems, nach dem Sinn des Rechts, nach seiner sozialen Funktion etc.20 Ihre Leitfrage lautet: Warum und wozu braucht die moderne Gesellschaft ein autonomes autopoietisches Rechtssystem? Im Gegensatz zur rechtswissenschaftlichen Rechtstheorie will die Systemtheorie als Rechtssoziologie weder Teil des Rechtssystems sein noch irgendwelche Botschaften unmittelbar an dieses adressieren. Gerade Luhmanns Systemtheorie läuft nicht auf ein rechtswissenschaftliches Forschungsprogramm hinaus. Sie legt – jedenfalls von ihrem Selbstverständnis her – keine unmittelbar praxisrelevanten (normbildenden) Folgerungen nahe. „Im Unterschied zu jurisprudentiellen, rechtsphilosophischen oder sonstigen Rechtstheorien, die auf Gebrauch im Rechtssystem selbst abzielen oder jedenfalls den dort einleuchtenden Sinn aufnehmen und verarbeiten wollen, ist der Adressat der Rechtssoziologie die Wissenschaft selbst und nicht das Rechtssystem.“21 Luhmann grenzt sein Unternehmen einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie des Rechts nach zwei Seiten ab. Zum einen von den klassischen Formen der Rechtsphilosophie, die ihm zu sehr auf das Begründungsproblem des Rechts fixiert sind. Hier wird der Beitrag der Rechtstheorie ausschließlich in der Formulierung einer philosophischen Außenabstützung der Rechtspraxis lokalisiert. Das läuft für Luhmann letztlich auf die Suche nach Letztbegründungen hinaus, nach einer normativen Ersatzlösung für ehemals operationsfähige Großformeln wie „Gerechtigkeit“, „Gott“ oder „Vernunft“. Andererseits will Luhmann über die Beschränkungen einer rein für die Gerichtspraxis oder für Zwecke des praxisbezogenen Rechtsunterrichts betriebenen Rechtsdogmatik oder Methodenlehre hinausgehen. In beiden Disziplinen herrscht nach Luhmann ein Vorrang methodischer vor theoretischen Fragen, da Rechtsdogmatik und Methodenlehre durch die praktische Notwendigkeit determiniert würden, zu tragfähigen und konsistenten (Gerichts-)Entscheidungen zu kommen. Demgegenüber siedelt Luhmann sein Unternehmen einer soziologischen Rechtstheorie auf einer „Metaebene überdogmatischer Begrifflichkeit“ an.22 Aus dieser Theoriearchitektur folgt u. a., dass die für die neukantische und analytische Rechtstheorie (Kelsen, Hart u. a.) grundlegende Unterscheidung von Fakten und Normen in einer soziologischen Perspektive entschärft wird. Für die Systemtheorie ist die Unterscheidung von Normen und Fakten eine rechtssysteminterne Unterscheidung, mit der sich etwa Kelsens Rechtstheorie selbst dem Rechtssystem zuordnen kann. Gerade die Unterscheidung von Sein und Sollen, die Kelsen irrigerweise einer allgemeinen im Subjekt verankerten Aussagenlogik zugeschrieben hatte, kann daher in der soziologischen Rechtstheorie nicht 19 20

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Luhmann (Fn. 17), 24; ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 419ff. Diese Funktion besteht in der Bildung stabiler normativer Mechanismen (Erwartungen) zur Identifizierung und Bewältigung von lokalen Konflikten. Luhmann (Fn. 17), 31; vgl. aber auch die Ausführungen über strukturelle Kopplung von Rechtssoziologie und Rechtswissenschaft, ebd., 543f. Luhmann (Fn. 19), 419.

5 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 1. Ort und Funktion übernommen werden. Die Systemtheorie hat es – als Form der wissenschaftlichen Beobachtung des Rechts – immer mit Tatsachen zu tun. „Es ist nur eine andere Version dieser Grenzziehung gegenüber einer, sagen wir, ‚rechtsfreundlichen‘ Rechtstheorie, wenn wir festhalten, daß die Unterscheidung von Normen und Fakten eine rechtssysteminterne Unterscheidung ist. Schon durch Ausarbeitung dieser Unterscheidung ordnet sich die Rechtstheorie dem Rechtssystem zu – und in es ein. Für die Wissenschaft ist diese Unterscheidung – als Unterscheidung! – ohne Belang.“23

9a Einen Entwicklungssprung gegenüber der frühen Rechtssoziologie und Rechtstheorie haben auch die neueren Kultur- und Medientheorien des Rechts gemacht. Einerseits kommen diese theoretischen Innovationen aus den Kulturwissenschaften und der Medientheorie selbst. Dafür stehen beispielsweise die Arbeiten des Kulturwissenschaftlers und Ägyptologen Jan Assmann. Assmann hat am Beispiel von Analysen der normativen Strukturen der antiken Welt – im Anschluss an Aleida Assmann – den Begriff des „kulturellen Textes“ entwickelt, worunter er nicht nur das aufgeschriebene oder oral praktizierte Recht versteht, sondern auch solche „normativen“ und „formativen Texte“, die Äußerungen gesteigerter Verbindlichkeit verbreiten, wie etwa Weisheitsliteratur, Sprichwörter, Mythen und Ursprungssagen.24 Zur Kultur- und Medientheorie des Rechts kann man ferner solche literaturwissenschaftlichen Unternehmen zählen, die, wie etwa Viktoria Kahns Untersuchungen zur politischen Theologie und zur Legitimität der Neuzeit in The Future of Illusion (2014), die mythopoetische (literarisch-imaginäre) Seite des modernen (Rechts-)Denkens betonen.25 Andererseits hat die Kulturwissenschaft bereits explizit rechtstheoretische Reflexionen hervorgebracht; verwiesen sei hier nur auf Lawrence Rosen Law as Culture (2006) und auf Werner Gepharts Recht als Kultur (2006). Ein stärker medientheoretisches Konzept hat etwa Cornelia Vismann in ihren Arbeiten verfolgt.26 Das sind nur ganz wenige Beispiele für eine in sich heterogene, aber doch recht breite Strömung eines neuartigen – an Kultur, Medien und Sprache interessierten – rechtstheoretischen Denkens.27

9b Ein großer Unterschied zwischen Kultur- und Medientheorie einerseits und der Systemtheorie andererseits kann darin gesehen werden, dass die Kultur- und Medientheorie das explizite geltende Recht und die mit ihm eng verknüpften normativen und formativen Texte – im Sinne von Jan Assmann – Gewohnheiten, Sitten, Konventionen, Ursprungsmythen etc. nicht so stark voneinander separiert, was nicht heißt, dass sie beispielsweise den Unterschied zwischen Recht und Gewohnheit einfach ignorieren würde. Aber sie würde immer die Einheit der Differenz betonen und auch mit Luhmanns Vorstellung einer „Autonomie“ des Rechts eher sparsam umgehen. Das Rechtssystem arbeitet nicht einfach auf der Basis einer Recht/Unrecht-Unterscheidung, die ausschließlich über rechtsinterne (Konditional-)Programme – und nur über solche – prozessiert wird. Ohne reiche kulturelle Vorleistungen kann das Recht keine effektive Handlungskoordination erbringen und somit keine Ordnungsleistung. Das Recht ist also stets auf das „Andere der Kultur“ verwiesen.28 Demgegenüber bleibt die theoretische Aufmerksamkeit in der Systemtheorie ganz auf der Innenseite der Systemgrenze, auf der Seite der „Selbstaufrufung einer Prozedur innerhalb eines Programms“.29 Luhmanns primäres Forschungsinteresse gilt dem „unaufhebbaren Fürsichsein“30 des Rechtsystems, nicht seiner Außenseite und seinen Außenkontakten: Es sind die Systeme selbst bzw. ihre Autopoiesis, die „den Geltungsrand der Bedingungen markieren, unter denen ein System wahrnimmt und operiert“,31 während die Kultur- und Medientheorie demgegenüber gerade die Einbettung des Rechts in einen weiteren kulturellen Rahmen und der sich in ihm abspielenden alltäglichen Erfahrungen akzentuieren würde. 23 24 25

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Luhmann (Fn. 17), 33. Vgl. nur J. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, 2000, 127. Vgl. etwa auch S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004; und die Aufsätze in I. Augsberg/ S.-C. Lenski (Hrsg.), Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts, 2012. Vgl. nur C. Vismann, Akten, 2000; dies., Medien der Rechtsprechung, 2011; dies., Das Recht und seine Mittel, 2012. In diesen Kontext gehören ferner: I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009; F. Steinhauer, Bildregeln, 2009; S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012; K. D. Lerch, Lesarten des Rechts, 2008. Vgl. P. Stoellger, Über die Grenzen der Metaphorologie, 2009, 203ff. N. Bolz, Ratten im Labyrinth, 2012, 46. Luhmann (Fn. 19), 107; Bolz (Fn. 29), 85. A. Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 2012, 385.

6 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung

II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung 1. Beobachtung zweiter Ordnung

Seit einigen Jahrzehnten ist der Name „Rechtstheorie“ auch außerhalb der Kelsen- 10 Schule, der analytischen Rechtstheorie und der Systemtheorie gebräuchlich.32 Allerdings versammeln sich unter dem Titel „Rechtstheorie“ heute ganz unterschiedliche Unternehmen, ein klares Profil ist – ähnlich wie in der zeitgenössischen Rechtssoziologie – kaum erkennbar.33 Will man über diesen Zustand hinauskommen, ist zunächst eine genauere Lokalisierung der Rechtstheorie im Verhältnis zur Rechtspraxis unabdingbar. Auf dieser Grundlage lässt sich insbesondere der Eigenwert der Rechtstheorie im Unterschied zu anderen Typen rechtsbezogener und juristischer Expertise wie etwa anwaltlicher Beratung, Rechtsprechung (durch Gerichte), Rechtsdogmatik (an Universitäten), Rechtsvergleichung oder Rechtsgeschichte spezifizieren.34 Wenn der Begriff „Rechtstheorie“ hier übernommen wird, dann also nicht, um unmittelbar an bereits etablierte Konzepte wie Kelsens Reine Rechtslehre oder an Luhmanns soziologische Systemtheorie anzuknüpfen. Vielmehr geht es darum, einen Ort im Kosmos der Rechtswissenschaft und ihrer Institutionen zu lokalisieren und zu reservieren, an dem sich Rechtsexpertise primär theoretischen Ansprüchen und Absicherungen verpflichtet weiß. Ein solches Programm läuft heute eher auf eine Art Meta-Theorie hinaus, auf eine Theorie der Theorie, vor allem auf rechtstheoretische Kommunikation über rechtswissenschaftliche Kommunikation und die durch sie gefilterte Rechtspraxis. Rechtstheorie ist auf einer sekundären Beobachtungsebene, einer Ebene der Beobach- 11 tung zweiter Ordnung, angesiedelt. Mit der Unterscheidung von Beobachtung erster und zweiter Ordnung knüpfen wir an das Konzept der „Beobachtung der Beobachtung“ an, wie es heute etwa in der Systemtheorie und in Heinz v. Foersters second order cybernetics gebräuchlich ist.35 „Beobachtung zweiter Ordnung“ soll dabei nichts ande32

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Vgl. den Überblick, Eintrag „Rechtstheorie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, 342ff.; B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 2015, 9ff.; S. Buckel/R. Christensen/ A. Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2009. Seit den 70er Jahren gibt es eine Zeitschrift mit dem Namen „Rechtstheorie“. Die dort publizierten Beiträge signalisieren, dass die Zeitschrift das Forum für ein locker geknüpftes Netzwerk verschiedener Themen ist, eine Art Patchwork-Medium. Jedenfalls wird in der „Rechtstheorie“ zu sehr unterschiedlichen Aspekten des Rechtsbetriebs publiziert: Juristische Methodenlehre, Rechtsinformatik und Kommunikationsforschung gehören ebenso zum Publikationsprogramm wie Normen- und Handlungstheorie oder Soziologie und Philosophie des Rechts. Ähnlich verhält es sich mit der zeitgenössischen Rechtssoziologie. In den 70er Jahren hatte die Rechtssoziologie eher die Rolle einer Hilfswissenschaft, sie konzentrierte sich stark auf die Beobachtung empirischer Rechtsetzungs- und Rechtsanwendungsprozesse als Kriminalsoziologie, Richtersoziologie usw. Gegenwärtig hinterlässt die Rechtssoziologie ein völlig unübersichtliches Bild. In der „Zeitschrift für Rechtssoziologie“ werden Themen wie „Visuelle Rechtskommunikation“, „Das Ansehen von Anwälten bei Jurastudenten“ oder „Das Internet, das Völkerrecht und die Internationalisierung des Rechts“ ebenso behandelt wie „Rechtsdogmatik als Gegenstand der Rechtssoziologie“. Die Inhalte und die methodische Art ihrer Behandlung sind nahezu beliebig geworden, ein disziplinärer Kanon ist nicht vorhanden. Zur juristischen Expertise vgl. allg. A. Somek, Die Macht der juristischen Expertise, 2005, 399ff. Luhmann (Fn. 17), 144 („Beobachtung des Beobachtens“); ausführlich zur Beobachtung (erster und zweiter Ordnung) ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, 68ff., 85ff.; H. v. Foerster, Observing Systems, 1981, insb. 258ff.; vgl. auch G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 28ff.; K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 15; allg. auch P. Fuchs, Der Sinn der Beobachtung, 2004, 11ff.; D. Baecker, Kybernetik zweiter Ordnung, 1993,

7 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 1. Ort und Funktion

res heißen, als die reflektierte Handhabung von Unterscheidungen, im Unterschied zur Beobachtung erster Ordnung, die die alltägliche, oft auch unbewusste Handhabung von Unterscheidungen markiert. Im Rechtssystem ist also der professionelle Umgang mit der Recht/Unrecht-Unterscheidung (Beobachtung zweiter Ordnung) von der unreflektierten Rechts- oder Unrechtsbehauptung (Beobachtung erster Ordnung) abzugrenzen. Der Hollywood-Star, der betrunken am Steuer seines Wagen erwischt wird und dies durch antisemitische Äußerungen gegenüber der Polizei quittiert, mag sich im Recht wissen (Beobachtung erster Ordnung), aber Anwälte und Gerichte werden ihn später eines Besseren belehren (Beobachtung zweiter Ordnung). Ein solcher Rechtsfall (Beleidigung eines Amtsträgers) kann freilich auch für andere, fremde Beobachter – wie etwa für Presse und Fernsehen – von Interesse sein. Ein beliebiges Ereignis in der Rechtspraxis kann also auf der Ebene zweiter Ordnung sowohl Gegenstand von rechtstheoretischen oder rechtswissenschaftlichen Beobachtungen als auch Gegenstand von Beschreibungen ganz anderer Kommunikationszusammenhänge werden. Das Beispiel zeigt aber bereits, dass sich der Schwerpunkt aller Rechtsoperationen heute – nicht zuletzt in Form anwaltlicher Expertise – auf die sekundäre Beobachtungsebene verlagert hat.36 12 Das Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung ist unauflöslich mit neueren Differenztheorien verbunden, mit denen so unterschiedliche Autoren wie Niklas Luhmann, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Julia Kristeva, Jean-François Lyotard oder George Spencer Brown arbeiten. Ein benachbartes Konzept ist der „Chiasmus“ der (französischen) Phänomenologie, in der sich Eigenes und Fremdes, Recht und Umwelt überkreuzen, dieses Sichtreffen aber nur eine „Deckung in Differenz“, eine „partielle Koinzidenz“ erlaubt, die sich nicht in eine Einheit überführen lässt.37 Differenz fungiert in dieser Diskussion als eine Art „Letztoder Leitbegriff“ mit weitreichenden erkenntnistheoretischen Konsequenzen.38 Alle Typen rechtsbezogener Expertise setzen danach die Markierung einer Differenz voraus, d. h. Beschreibungen des Rechts sind nicht einfach Repräsentationen von in der Welt vorhandenen Einteilungen des Seins (Ontologie), sondern beruhen auf Unterscheidungen, etwa der Unterscheidung von Recht und Unrecht, die in einem dafür geeigneten Kommunikationsmedium – z. B. dem weißen Blatt Papier, auf das man schreibt, oder der Benutzeroberfläche des Notebooks, mit dem man arbeitet – getroffen werden muss. Diese Art von Unterscheidung entzieht sich notwendigerweise der Selbstbeobachtung desjenigen, der solche Unterscheidungen benutzt und aller anderen Beschreibungen, es sei denn, die Beobachtung wird an den Einsatz einer anderen Unterscheidung gebunden, „für die dann dasselbe gilt“.39 Alles Recht und alles rechtstheoretische Denken operiert auf der Grundlage eines „blinden Flecks“, einer „Paradoxie“, die die Beobachtung und Beschreibung des Rechts überhaupt erst ermöglicht; etwas Ähnliches hat Derrida im Begriff der différance vor Augen, der Vorstellung einer Dauertransformation und Daueraufschiebung eines jeden (zeichenhaften) Sinns.40 Recht kann es nur im Unterschied zu Unrecht geben, aber die Frage der Richtigkeit, Begründetheit oder Gerechtigkeit der Unterscheidung von Recht und Unrecht bleibt auch auf der Ebene einer

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17ff. Zur historischen Genese dieses Beobachtungstypus vgl. Y. Elkana, Die Entstehung des Denkens zweiter Ordnung im antiken Griechenland, 1987, 52ff. Luhmann (Fn. 17), 403f.; Teubner (Fn. 35), 28, definiert Selbstbeobachtung gar als Fähigkeit eines Systems, „die Verknüpfung seiner Elemente nicht nur faktisch zu vollziehen, sondern die eigenen Operationen mit Hilfe der eigenen Operationen nachzuvollziehen“. Vgl. dazu B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung, 2002, 176ff. Fuchs (Fn. 35), 11; zur Umstellung auf differenztheoretisches Denken allg. auch J. Clam, Was heißt, sich an Differenz statt an Identität zu orientieren?, 2002; zum Hintergrund vgl. auch V. Descombes, Das Selbe und das Andere, 1981, 161ff. Vgl. auch Luhmann (Fn. 17), 215 (der den Begriff des Beobachters, desjenigen, der die Unterscheidung trifft, sehr formal anlegt, wenn er darauf hinweist, dass der Beobachter kein Subjekt oder Mensch sei, sondern eine „Systemstelle“. Luhmann, ebd., 176; zu Derrida vgl. nur G. Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, 25ff., 37ff.; vgl. auch Ladeur (Fn. 35), 15f. Mit dem Begriff der „Paradoxie“ (A weil nicht-A) sollen hier Wi-

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II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung Beobachtung zweiter Ordnung unentscheidbar: Der Hollywood-Star weiß sich im Recht, das Gericht weiß ihn im Unrecht. Ein Gutachter erklärt das Gerichtsurteil für verfassungswidrig, das Verfassungsgericht hält es für angemessen. So gesehen setzt sich die Recht/Unrecht-Unterscheidung selbst voraus und ist den Beobachtern der Rechtspraxis stets als Paradox gegeben, als etwas, das im Rechtsalltag dennoch stets zum positiven Wert, zum Recht hin, entfaltet werden muss, weil es anders gar keine geordnete Rechtspraxis geben könnte (vgl. näher Rn. 132ff.).

Auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung sind verschiedene Typen der rechts- 13 bezogenen Expertise auseinanderzuhalten.41 Zur sekundären Beobachtungsebene gehören einerseits solche Texte, die selbst Effekte auf der operativen Ebene der Rechtspraxis erzeugen oder erzeugen können (z. B. Gerichtsurteile, praktisches Wissen über die sichere Honorarabrechnung, juristische Gutachten) und andererseits solche, die eher an der Peripherie des Rechtsgeschehens angesiedelt sind (z. B. rechtstheoretische Überlegungen über den Zerfall der Einheit des Textes). Das ist zugleich der Hintergrund und der rationale Kern der heute fest etablierten Unterscheidung von Rechtsdogmatik und Rechtstheorie: In der Rechtsdogmatik werden Schrifttexte mit dem Anspruch der direkten Einflussnahme auf den Entscheidungsbetrieb etwa der Gerichte oder der politischen Gesetzgebung publiziert; das Recht wird Techniken der Beobachtung und Deutung unterworfen, in der es zu einer Art Kommentierung und Kanonisierung, einer Sinnpflege des Rechts, kommt. Dazu stehen eine Mehrzahl von Medien (Schrift, Buchdruck, Computer), literarischen Gattungen und Institutionen zur Verfügung, wie z. B. der anwaltliche Schriftsatz, das Gutachten, die (wissenschaftliche) Urteilsanmerkung, die rechtspolitische Empfehlung, der Juristentag oder – mit fließendem Übergang zur Theorie – der Aufsatz in einer juristischen Zeitschrift. Von diesen unmittelbar praxisorientierten Typen der Rechtsexpertise sind die verschiedenen Formen der theoretischen Behandlung des Rechts, etwa die schulförmig aufbereitete Darstellung des Schuldrechts oder die lehrbuchartige Einführung in die Rechtstheorie, zu unterscheiden. 2. Theorie als Lebensform (Aristoteles)

Rechtstheorie ist eine eigenständige Form von Rechtsexpertise, die sich primär theo- 14 retischen Ansprüchen verpflichtet weiß. Das Substantiv Theorie (gr. theória) leitet sich vom griechischen Verb theórein ab. Wörtlich meint theória die Betrachtung/Anschauung bzw. das Resultat derselben, das Wissen, das aus dem genauen Schauen kommt. Als Label für wissenschaftliches Denken ist Theorie eine Schöpfung des griechischen Philosophen Aristoteles. Dabei hatte Aristoteles nicht einfach die Tätigkeit des unbedachten Schauens im Visier, als theória bezeichnete er vielmehr eine Lebensweise oder Lebensform, die sich dem genauen Schauen oder Sehen verpflichtet fühlte und die bei genauerer Analyse etwas mit Lesen und Schreiben zu tun hatte, einem anspruchsvollen Umgang mit den Möglichkeiten der von den Griechen zwar nicht erfundenen, aber doch von ihnen perfektionierten Alphabetschrift.42 In der Nikomachischen Ethik grenzte Aristoteles die theoretische Lebensweise (bios theóretikos) von der politischen Lebensweise (bios politikos) und dem reinen Genussleben ab (bios apolaus-

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dersprüche (auch Ambivalenzen) im weiten rhetorischen Sinn bezeichnet werden; vgl. dazu G. Teubner, Netzwerk als Vertragsverbund, 2004, 80 (Fn. 47). Vgl. M. Schulte, Begriff und Funktion des Rechts der Gesellschaft, 2003, 769. E. A. Havelock, The Muse Learns to Write, 1986, 111; vgl. auch W. J. Ong, Orality and Literacy (1982), 2002, 27ff.

9 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 1. Ort und Funktion

tikos) und nannte diejenige Lebensform „theoretisch“, die sich ganz und gar der Betrachtung der Dinge verschrieb.43 Darin unterschied sich das theoretische Leben sowohl vom politisch-praktischen Leben (bios politikos), dessen Zweck darin bestand, nach öffentlicher Anerkennung, Ehre oder Aufmerksamkeit zu streben, als auch vom bios apolaustikos, bei dem der reine Genuss – Essen, Trinken, Sexualität usw. – im Zentrum stand. 15 Wenn Aristoteles Theorie und Praxis unterscheidet, heißt das also nicht, dass Theorie für ihn etwas Unpraktisches oder gar Weltfremdes gewesen wäre und mit der sozialen Realität nichts zu tun gehabt hätte. Im Gegenteil, für Aristoteles war das theoretische Leben so aktiv oder passiv, so weltzugewandt wie jede andere Lebensweise auch. Der bios theóretikos unterschied sich von den anderen Lebenspraxen aber durch eine höherwertige Zielsetzung, nämlich dadurch, dass sich das Leben hier der – an anderen Orten der Gesellschaft (polis) nicht so ohne weiteres gegebenen – Möglichkeit der Erzeugung gesicherter Erkenntnisse verschreiben und darin seine Vollendung und sein Glück finden konnte.44 Die verschiedenen Zielsetzungen der drei von Aristoteles genannten Lebensformen waren für ihn also nicht gleichwertig. Das theoretische Leben war gegenüber den Zielen anderer Lebensformen jedoch höher einzustufen, sowohl gegenüber dem reinen Genussleben als auch gegenüber der politischen Praxis. Allein im Theoretisieren erreichte der Mensch die höchste Stufe des Lebens, die Stufe der Vernunft (logos). Damit artikulierte Aristoteles nur eine zu seiner Zeit zumindest unter Philosophen allgemein verbreitete Ansicht. Schon bei Platon stand die Suche nach sicherem Wissen (epistéme) – im Gegensatz zu bloßem Meinungswissen (dóxa) – im Zentrum allen Denkens und Schreibens.45 Auch für Platon stellte das theoretische Leben nicht nur die vornehmste aller Lebensformen dar, sondern auch die Einzige, die zum guten Leben führte; die Bedeutung des Strebens nach Weisheit nahm das Wort Philosophie erst bei Platon an.46 3. Zur Funktion von Rechtstheorie

16 An der platonisch-aristotelischen Rangfolge der Lebensformen und insbesondere an der Vorstellung der theória/philosophia als der vollkommensten aller Lebensweisen soll hier keineswegs festgehalten werden. Rechtstheorie ist nicht vornehmer als Baurecht. Sie ist auch keine „Grundlagendisziplin“ der Rechtswissenschaft, jedenfalls hat sie keine prinzipielle Orientierungs- oder Kontrollfunktion für alle anderen juristischen Fachdisziplinen. Ihre Besonderheit kann nicht im Hierarchieschema, sondern nur funktional beschrieben werden. Die Rechtstheorie konkurriert mit anderen rechtswissenschaftlichen Disziplinen um adäquate Beschreibungen und Lösungen von Problemen, die letztlich durch die „Existenz“ einer „Rechtswirklichkeit“ aufgeworfen werden. Der Sinn dieses intradisziplinären Wettbewerbs kann darin gesehen werden, eingefahrene Kommunikationsroutinen etwa der Rechtsdogmatik aufzubrechen, sie 43 44

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Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1095b 17, 1177a 12ff. Vgl. nur Aristoteles, ebd., 1094b 19. Das setzt selbstverständlich Muße und damit Entlastung von den Mühen täglicher Arbeit voraus, ist also ein aristokratisches Konzept. Platon, Politeia 476 a–480a; ders., Theaitetos 187b. Vgl. nur J. Brunschwig/G. R. Lloyd (Hrsg.), Das Wissen der Griechen, 2000, 39. Platons und Aristoteles’ Konzeption unterschieden sich allenfalls darin, dass Theorie und Praxis bei Platon enger als bei Aristoteles miteinander verknüpft waren: Platon ging es eher um die Einheit der Unterscheidung von Theorie und Praxis, Aristoteles um den Unterschied der Unterscheidung.

10 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Zwischen Theorieinteresse und Praxisorientierung

durch Rechtstheorie zu irritieren und die Aporien bestimmter Kommunikationsroutinen aufzuzeigen.47 Dabei verfügt die Rechtstheorie über einen hohen Freiheitsgrad. So sind etwa „praktische Zwänge“ für die Rechtstheorie kein Grund, überkommene Prämissen nicht zu hinterfragen, wobei sich die Rechtstheorie bei dieser Arbeit nicht nur in der Rechtsordnung etablierter Argumente bedient, sondern auch Erkenntnisse anderer Disziplinen aufgreift und einbezieht, etwa solche der Sprachphilosophie, Linguistik, Kulturtheorie, Medientheorie, Literaturtheorie, Kybernetik, Evolutionstheorie, Soziologie, Psychologie oder Neurophysiologie. Über eine Art „Schnittstellenmanagement“, als „Grenzgänger“, hält die Rechtstheorie Kontakt zu allgemeinen Entwicklungen im Wissenschaftsbetrieb, reflektiert und prüft dessen Innovationen auf Übertragbarkeit und bietet die dabei gewonnenen Ergebnisse Rechtsdogmatik, Methodenlehre, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie, Rechtsvergleichung und damit letztlich auch der Rechtspraxis zur Weiterverarbeitung an.48 Damit bleibt die Rechtstheorie – wenn auch vielleicht nicht so unmittelbar und direkt wie Rechtsdogmatik oder Methodenlehre – an der Reflexion der Rechtspraxis beteiligt. Damit widersetzen wir uns insbesondere dem Versuch, die theoretischen Komponen- 17 ten der Rechtswissenschaft außerhalb ihrer selbst zu lokalisieren. Im 19. Jahrhundert hatte etwa Hegel in Auseinandersetzung mit Hugo (und Savigny) die wahre und echte Rechtswissenschaft in der Philosophie ausfindig gemacht.49 Auch Luhmanns schematische Differenzierung zwischen Rechtssoziologie, die für das Wissenschaftssystem geschrieben wird, und juristischer Dogmatik, die an die Entscheidungspraxis der Gerichte und einen eher stupiden Ausbildungsbetrieb adressiert ist, läuft letztlich darauf hinaus, Rechtstheorie ausschließlich der Philosophie oder Soziologie vorzubehalten.50 47

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Ähnliche Bestimmungen etwa bei C. Vismann, Verfassung nach dem Computer, 2006/2007, 111 (mit der zutreffenden Bemerkung, dass die Funktion der Rechtstheorie darin liege, sich an die Dogmatik zu adressieren, Aporien aufzuzeigen, im Sinn der Systemtheorie Irritationen der Auslegungsroutinen zu erzeugen); Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Fn. 32), Einleitung, IX („Theorie im Recht thront nicht über der Rechtspraxis, sondern steckt mitten drin. Sie liefert nicht Versatzstücke für Sonntagsreden bei Gerichtsjubiläen, sondern ist auf Praxis ausgerichtet. Wenn Theorie es ernst meint, beleuchtet sie die blinden Flecke der Dogmatik und verweist auf konzeptionelle Kontingenzen.“). Zum Begriff der „Kommunikationsroutine“ M. Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007. Näher T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. I, 2011, 38ff.; ähnlich I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, 296ff. (dort für das Verhältnis von Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft); ähnlich die Konzeption von R. Dreier, vgl. nur J. Sieckmann, Begriff und Gegenstand der Rechtsphilosophie bei Ralf Dreier, 2005, 3ff., 5ff. („Grenzpostendisziplin“). Ein anderes Konzept bei Jestaedt (Fn. 3), 69ff., von dem ich den Begriff des „Schnittstellenmanagements“ übernehme. Jestaedt spricht – ähnlich wie hier – von Rechtstheorie als „Meta-Disziplin“. Er will die Rechtstheorie aber vornehmlich negativ als „firewall“ oder „Virenschutz“ gegen eine „unkontrollierte interdisziplinäre Überwältigung der Rechtswissenschaft“ einsetzen, um Rechtstheorie und Rechtsdogmatik auf dem Stand Hans Kelsens (1881–1973) einzufrieren. Vgl. nur G. W. F. Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Wissenschaften (1802/03), 1970, 510; ders., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (1817), 1971, 173. Nach Luhmanns Schematisierung – vgl. insbesondere ders. (Fn. 17), 499 – werden die „großen Sinnfragen“ des Rechts, Themen wie Einheit, Funktion und Autonomie des Rechtssystems, ausschließlich in den Reflexionstheorien behandelt. Das sichert ihnen den Status der „Sonderaufgabe“ der Selbstbeschreibung des Rechtssystems. Entscheidungs- oder anwendungsbezogene Theorien, wie etwa Theorien über die Irrelevanz von Motivirrtum beim Vertragsschluss, werden dagegen als „normale juristische Theorien“ bezeichnet. Beide Ebenen seien weitgehend voneinander isoliert, Übergänge nur an relativ wenigen Punkten zu beobachten, etwa im Fall des Konnexes von Freiheit/subjektivem Recht/Klagebefugnis.

11 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 1. Ort und Funktion

Eine solche Position ist aber letztlich nicht haltbar, zumindest nicht für die kontinentaleuropäische Rechtstradition.51 Schon das römische Zivilrecht nutzte allgemeine wissenschaftliche Entwicklungen. Dasselbe gilt für die humanistische Jurisprudenz im Übergang zur Neuzeit, und auch die im 17. und 18. Jahrhundert aufkommende Idee eines systematischen Rechts, wie sie sich in Deutschland im rechtswissenschaftlichen Positivismus und im BGB manifestierte (und heute noch immer nachwirkt), wäre ohne Anleihen beim naturphilosophischen Systemdenken nicht möglich gewesen. An dieser laufenden Kontaktsuche zu Theorieentwicklungen außerhalb der Rechtswissenschaft im engeren Sinn wird hier festgehalten. Damit entzieht sich die Rechtstheorie einer abschließenden disziplinären Festlegung und Zuordnung, sie bleibt ein „Grenzgänger“, aber ein solcher, der sein „Publikum“ nicht nur in fachübergreifenden theoretischen Auseinandersetzungen und Diskussionen, sondern auch in der Rechtspraxis sucht.52 18 Rechtstheorie ist freilich nicht unmittelbar auf die Sichtung, Ordnung und Bearbeitung des gegebenen

Rechtsstoffs bezogen.53 Wer dieses Buch gelesen hat, wird hoffentlich mehr über Recht wissen als vorher und Studienanfänger werden hoffentlich eine genauere Vorstellung davon haben, worauf sie sich einlassen, wenn sie Jura studieren. Die Rechtstheorie transportiert für den Ausbildungsbetrieb durchaus einen Wert, den keine andere rechtswissenschaftliche Disziplin ersetzen kann: die Erfahrung theoretischer Reflexion, man könnte auch sagen, die „Erschließung eines Ganzen in der Gedankenarchitektur, deren Weite und Subtilität“54 für Studienanfänger nicht nur eine Bereicherung, sondern auch ein Vorteil sein kann, weil diese Weite und Subtilität dazu beitragen können, einen Überblick über einzelne Fallkonstellationen hinweg zu entwickeln, der schließlich auch bei der Lösung von Rechtsfällen helfen kann. Ein solches Projekt mag heute eher Außenseiterstatus haben und an der Universität auf ein für Theorie im Allgemeinen und Rechtstheorie im Besonderen wenig aufgeschlossenes „Lernmilieu“ treffen. Aber es gab schon immer und gibt noch immer die andere Seite der Suchenden und Reflektieren-Wollenden, der Wißbegierigen und Bücher-Lesenden, die Welt des jungen Jurastudenten und späteren Archäologen Ludwig Curtius etwa, der 1894, beim Anblick der Eingangshalle der Münchner Universität, eine Art „glücklichen Rausch“ empfand oder – aktueller – die Welt der Charlotte Simmons, deren Selbstbehauptung gegen die ernüchternden Erfahrungen in einer US-amerikanischen Elite-Universität Thomas Wolfe in seinem Roman Charlotte Sim51

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Auch für Luhmann (ebd.), 61, 80, setzt die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssystems voraus, dass es kontinuierlich (nicht nur gelegentlich) auf der Ebene zweiter Ordnung operieren kann. Nur hier gewinne es „adäquate Komplexität“. Wenn aber das System erst durch eine sekundäre Beobachtungsweise geschlossen wird, kann es sich – auch operativ – nicht vollständig von wissenschaftlichen Beobachtungen in der Weise abkoppeln, wie Luhmann Theorie und Praxis trennt. Andernfalls hätte sich das westliche („okzidentale“) Recht niemals als autonome Ordnung ausdifferenzieren können. Das zeigt auch die Problematik von Luhmanns funktionaler Differenzierungstheorie. Es ist doch sehr fraglich, ob das Rechtssystem ohne Internalisierung des Wissenschaftscodes (wahr/falsch) ausschließlich auf der Grundlage der Differenz Recht/Unrecht erfolgreich in der Realität operieren kann (vgl. auch § 4 III). Vgl. auch G. Teubner, Coincidentia oppositorum, 2004, 18, der Rechtstheorie als Reflexion der Rechtspraxis von Rechtssoziologie als wissenschaftlicher Beobachtung des Rechts unterscheidet, aber zugleich für „strukturelle Kopplung“ von Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, für „soziologische Jurisprudenz“, plädiert. Das kommt dem hier verfolgten Anliegen nahe, nur halte ich daran fest, dass Rechtstheorie nicht auf die Recht/Unrecht-Unterscheidung – mit Notwendigkeit zur Rechts- und nicht zur Unrechtstheorie – verpflichtet werden kann. Das ist nur als Rechtsdogmatik möglich. Deshalb ist mit dem Gebrauch des Wortes „Theorie“ der Horizont der binären Codierung des Rechtssystems immer schon überschritten und die Rechtstheorie notwendigerweise genauso Teil des Wissenschaftsdiskurses wie die Rechtssoziologie. Unter dem Strich bleibt immer ein „notwendiges Ding der Unmöglichkeit“. So die Definition von Rechtsdogmatik bei H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 661. So eine auf die Philosophie gemünzte Formulierung von D. Henrich, Die Philosophie im Prozeß der Kultur, 2006, 14.

12 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Abgrenzungen und Überlappungen mons mit kaum zu überbietender Plastizität beschrieben hat: als Differenz zwischen Wissbegier auf der einen und Dauerkonsum auf der anderen Seite, als Versuch, dem bios theoretikos auch heute einen Platz zu lassen, im Unterschied zum Leben eines Frat-Boys wie Hoyt Thorpe, dessen Interesse an Universität und Wissenschaft sich in Trinkgelagen und „Frischfleisch“ erschöpft.

III. Abgrenzungen und Überlappungen 1. Zur Rechtsdogmatik

„Rechtsdogmatik“ in einem sich von Rechtswissenschaft und Rechtstheorie abgren- 19 zenden Sinn ist eine relativ junge Erscheinung. Rechtsdogmatik ist wie Rechtstheorie ein Effekt des Auseinanderziehens von Beobachterperspektiven, Resultat der Ausdifferenzierung rechtsbezogener Expertisen auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung. Während sich mit der Rechtstheorie seit den 1920er Jahren das Bedürfnis nach einer Reflexion des Rechts unabhängig von der Lösung konkreter Fälle und Rechtsprobleme (in den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen) zu artikulieren begann, ist in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts im Gegenzug das Bedürfnis nach einer disziplinären Selbstvergewisserung von Aussagen über praktiziertes Recht entstanden. Die Karriere von Rechtsdogmatik ist nicht zuletzt durch die Bedürfnisse eines an der Gerichtspraxis orientierten Universitätsunterrichts ausgelöst worden,55 vor allem im Privatrecht, wohingegen das öffentliche Recht bis heute stärker interdisziplinär orientiert ist. Jedenfalls hat das öffentliche Recht auf Grund seiner anhaltenden staatswissenschaftlichen Orientierung, seiner Nähe auch zum politischen Betrieb und zur öffentlichen Verwaltung, nie einen ähnlich einheitlich dogmatischen Kanon entwickelt wie das Privatrecht. Während lange Zeit die Meinung vorherrschte, dass Juristen das Konzept einer Dogmatik – vermittelt über Christian Wolff – von den Theologen übernommen hätten, wird seit einer Arbeit von Herberger die Nähe der juristischen Dogmatik zur „medizinischen Wissenschaftstheorie“ und den darin angelegten reflexiven Aspekten herausgestellt.56 Dieser Streit mag in einer Einführung zur Rechtstheorie auf sich beruhen. Festzuhalten aber bleibt: Selbst wenn sich das griechisch-lateinische Wort dogma (Glaubens- oder Lehrsatz) oder sein Plural dogmata in der einen oder anderen Quelle der römisch-rechtlichen Jurisprudenz nachweisen ließe, so werden Bezeichnungen wie „Rechtsdogmatik“ oder „juristische Dogmatik“ dort doch nirgends in einer von Jurisprudenz unterschiedenen Bedeutung gebraucht. Das römische Juristenrecht nannte sich selbst iuris prudentia, Cicero spricht manchmal von praeceptae (Regeln, Voeschriften). Das römische Recht des Mittelalters kennt ebenfalls keine gepflegte dogmatische Semantik, kein ausdrücklich unter dem Namen „Rechtsdogmatik“ gesammeltes und als bewahrenswert angesehenes Wissen.57 Auch das 19. Jahrhundert machte keinen nennenswerten Unterschied im Gebrauch solcher Formeln wie Rechtswissenschaft (im Sinne praktischer Jurisprudenz) und Rechtsdogmatik. In einem solchen eher weiten und unspezifischen Sinn verwendet beispielsweise Rudolf v. Jhering den Begriff Dogmatik in dem von ihm 1857 gegründeten Unternehmen der Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts. Und wenn etwa Carl-Friedrich v. Gerber in der Vorrede zu seinen Grundzügen eines Systems des deutschen Staatsrechts von 1865 das „Bedürfniss einer schärferen und correcteren Präcisirung der dogmati55

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Wichtige Beiträge dazu sind u. a. F. Wieacker, Zur praktischen Leistung der Rechtsdogmatik, 1970, 311ff.; W. Brohm, Die Dogmatik des Verwaltungsrechts vor den Gegenwartsaufgaben der Verwaltung, VVDStRL 30 (1972), 245ff.; N. Luhmann, Rechtssystem und Rechtsdogmatik, 1974. Vgl. dazu den Eintrag „Rechtsdogmatik“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992. Deshalb spricht beispielsweise F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1996, 49, von einem Geist der Dogmatik, der in einer „Verknüpfung von Autoritätsglauben und intellektuellem Formalismus“ (54), in einem „Erkenntnisverfahren, dessen Bedingungen und Fundamentalsätze durch eine Autorität vorwegbestimmt sind“, fundiert gewesen sein soll.

13 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 1. Ort und Funktion schen Grundbegriffe“ einforderte,58 hätte er auch von rechtswissenschaftlichen oder juristischen Grundbegriffen sprechen können, ohne dass dies an der Sache irgendetwas geändert hätte. Auch für Paul Laband war Rechtsdogmatik ein Synonym für (positivistische) Rechtswissenschaft.59 Noch 1932 ordnete Gustav Radbruch die Rechtsdogmatik in eine übergreifende „Logik der Rechtswissenschaft“ ein.60

21 Es lassen sich grob zwei Bedeutungsschichten von Rechtsdogmatik unterscheiden, auch wenn das Selbstbild der Rechtsdogmatik gegenwärtig alles andere als klar ist.61 Rechtsdogmatik kann einerseits an der Lösung von Fallproblemen orientiert sein und von hier ausgehend an der schriftlichen Formulierung, Präzisierung und Verfeinerung von Rechtsregeln und Rechtsbegriffen arbeiten, wie etwa an der gegenseitigen Abgrenzung und Bestimmung von Begriffen wie Eigentum und Besitz, Vertrag und unerlaubte Handlung, Verwaltungsakt und Realakt, Ermessen und Beurteilungsspielraum; dabei kommt der Rechtsdogmatik nicht zuletzt die in der römisch-rechtlichen Tradition ausgebildete Fähigkeit eines unterscheidungsgeleiteten (diairetischen) Denkens zu Hilfe. Ziel der Dogmatik ist es dann, die Bedeutung von an Fällen gewonnenen Regeln und Begriffen sprachlich so zu fixieren, dass sie bei ihrer Wiederverwendung in anderen Fällen (und Kontexten) so wenig wie möglich problematisiert werden müssen. Erweist sich die Bewertung der Prüfungsleistung der Kandidatin Stegner im juristischen Staatsexamen am 13. Oktober 2015 als gerichtlich nur beschränkt überprüfbar, gilt dies auch für die Leistungen aller anderen Kandidaten in diesem Termin und die am nächsten Tag folgende juristische Staatsprüfung. Rechtsdogmatik erzeugt aus als richtig erkannten Problemlösungen wiederholt handhabbare Begriffe und Regeln und sichert diese über möglichst stabile Auslegungsroutinen gegen grenzenloses Hinterfragen ab. Sie verkürzt wie eine mathematische Funktion oder ein mathematisches Integral Erfahrungen, „so daß sie nicht immer neu durchgerechnet werden müssen“.62 Mit Josef Esser könnte man auch formulieren, dass die Rechtsdogmatik Stoppregeln für Begründungen suchendes Räsonieren aufbaut.63 Geht man von diesem Typus aus, kann man Rechtsdogmatik als Gesamtausdruck für die Notwendigkeit eines entscheidungsgeleiteten begrifflichen Argumentierens im Recht bezeichnen, und genau so wird Dogmatik heute auch meistens verstanden. 22 Ursprünglich war der Begriff der Rechtsdogmatik allerdings weitaus anspruchsvoller konfiguriert. Rechtsdogmatik erstreckte sich nicht nur auf fallorientiertes Lernen und auf einen Beitrag zur praktischen Bewältigung von Fallproblemen durch Gerichte, wie es auch im antiken römischen Recht der Fall war und bis heute im Common law im Vordergrund steht. Rechtsdogmatik ist seit der historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts unauflöslich mit dem Systembegriff des neuzeitlichen Weltbildes verknüpft, d. h. der Vorstellung, dass sich der gesamte Rechtsstoff hierarchisch abschichten, nach logischen Gesichtspunkten systematisieren und auf einen Anfangsgrund, ein Prinzip, zurückführen lässt. Bezugspunkt ist hier eine „rationalistische Sinnreferenz“,64 die 58 59

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C. F. v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, VII. P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 1 (1911), 1964, Vorwort, IX; ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178. G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 106. Vgl. aber die neueren Bestandsaufnahmen bei C. Bumke, Rechtsdogmatik, 2014, 641ff. (m.w.N.); M. Jestaedt, Wissenschaft im Recht, 2014, 1ff.; Pöcker (Fn. 47), 153ff.; Schulte (Fn. 41), 767ff., 770f. F. Wieacker, Diskussionsbeitrag, 1989, 83, 84; an anderer Stelle spricht Wieacker auch von einer „Kunstlehre juristischer Problemlösungen“. J. Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, 1979, 20ff. Pöcker (Fn. 47), 51ff. („rationalistische Regel-Anwendungs-Vorstellung des Rechts“).

14 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Abgrenzungen und Überlappungen

Vorstellung der Erzeugung rechtlicher Verbindlichkeit durch Rechtsanwendung und Subsumtion innerhalb einer geschlossenen Ordnung von Rechtsätzen. Dazu wird zunächst ein (lückenloser) Ordnungszusammenhang für das Auslegen einzelner Rechtssätze „construiert“, um sodann Falllösungen über bestimmte Auslegungsmethoden (Verfahren) wie z. B. den Analogieschluss aus dem System deduzieren zu können. Hier geht es eher um die Notwendigkeit systematischen Argumentierens im Recht. Beide Aspekte der Rechtsdogmatik, sowohl begriffliches als auch systematisches Argumentieren, machen den Kern der westlichen (europäischen) Rechtskultur aus; deren Speicherkapazitäten müssen im Alltagsbetrieb etwa der staatlichen Gerichte vorausgesetzt werden, nicht aber könnte der Informationsreichtum der Rechtsdogmatik durch die viel abstrakter ansetzende Rechtstheorie ersetzt werden. Auch diese Überlegung zeigt noch einmal, warum Rechtstheorie nicht über der Rechtsdogmatik thront, sondern mit ihr auf einer horizontalen Ebene kommuniziert und konkurriert. Die Regelbildung entlang der Fluktuanz der Fälle und der durch sie gespeisten Erfahrungen ist der eigentliche Kern der Rechtsdogmatik. Darin unterscheidet sich Rechtsdogmatik auch von juristischer Methodenlehre, in der es um die Suche nach abstrakten und allgemeinen Verfahren, um den richtigen Weg (gr. hodos) zum geltenden Recht – wiederum mit einer Konzentration auf die gerichtliche Fallpraxis – geht. Die Rechtsdogmatik betont den lokalen Charakter juridischer Rationalität, das Lernen von Fall zu Fall und agiert im Hinblick auf abstrakte Regelbildungen, z. B. im Sinn allgemeiner Verfahren der Auslegung von Texten, eher zurückhaltend. Non ex regula ius sumatur, sed ex iure, quod est, regula fiat. Nicht aus einer Regel heraus soll das Recht genommen werden, sondern aus dem Recht, wie es ist, soll die Regel gemacht werden – so lautet eine markante Spruchformel des römischen Rechts.65 Erst die historische Rechtsschule transformierte das römische Fallrechtsdenken in ein allgemeines, systematisches Verfahren zur Interpretation von Rechtstexten, wie sie Savigny unter anderem im Rahmen der Rechtsquellenlehre als „Elemente der Auslegung“ vorgestellt hat.66 Eine allgemeine Absicherung der (authentischen) Interpretation von Rechtstexten verfolgt noch die Hermeneutik, zwar nicht mehr im Sinne eines auf Einheit und Widerspruchsfreiheit angelegten Verstehens eines zuvor logisch konstruierten Systems, aber doch durch Bezugnahme eines jeden Interpretationsaktes auf ein „gemeinsames Vorverständnis“, das wie das System des Rechtspositivismus als selbsttragend vorausgesetzt wird. Der kontinentaleuropäische Typus systematisierender Rechtsdogmatik funktioniert problemlos, so lange die Dogmatik sich ihrer eigenen rechtsschöpferischen Kraft bewusst ist. Das war bis in das späte 19. Jahrhundert sicherlich der Fall. Da die Veränderungen im und außerhalb des Rechtssystems, etwa die im Verhältnis zum 19. Jahrhundert enorm gewachsene Gerichts- und Gesetzgebungstätigkeit, in der heutigen Rechtsdogmatik aber nicht immer hinreichend reflektiert werden, läuft diese Gefahr, die Rechtswissenschaft auf ein totes Gleis umzuleiten. Zumindest mehren sich in jüngerer Zeit die Zeichen, dass es der tradierten Rechtsdogmatik schwerfällt, die gewachsene Außensteuerung des Rechts durch die staatliche Gerichtsbarkeit und das politische System hinreichend zu reflektieren; bisweilen vermittelt die Dogmatik sogar den Eindruck, als wolle sie die Eigenleistungen begrifflichen und systematischen Argumentierens einfach an die Rechtsprechung oder den Gesetzgeber zurückspielen. Die Unzulänglichkeiten der aus einer solchen Haltung resultierenden Expertise werden heute beispielsweise im öffentlichen Recht im Umgang mit der kasuistischen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs sichtbar. Der Grundrechtsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die die Grundrechte zu sehr aus einer vermeintlich liberalen, aber in Wirklichkeit staatszentrierten Perspektive beobachtet, an deren Ende eine häufig unstrukturierte Abwägung steht, begegnet die Grundrechtsdogmatik häufig mit scharfer Kritik, aber selten mit eigenen methodologischen Überlegungen.67 Und im Europarecht lässt sich ein „EuGH-Glossatorentum“ beobachten,68 dessen Eigenständigkeit sich darin erschöpft, Urteile des Europäischen Gerichtshofs wiederzugeben und abzuwarten, ob anstehende Probleme in der nächsten Entschei65 66 67

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Digesten 50. 17. 1 (Übersetzung von S. Lepsius); dazu P. Stein, Regulae iuris, 1966. Savigny (Fn. 1), 213. Vgl. dazu die Beiträge in T. Vesting/S. Korioth/I. Augsberg (Hrsg.), Grundrechte als Phänomene kollektiver Ordnung, 2014; K.-H. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, 80f. R. Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, JZ 19 (2005), 916, 917.

15 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 1. Ort und Funktion dung gelöst werden. Auch in solchen Zusammenhängen kann die Rechtstheorie keineswegs alle Probleme lösen. Sie kann aber helfen, die Dogmatik auf Distanz zu bringen und die grundlegenden Verschiebungen in der Architektonik des Rechtssystems deutlich zu machen, d. h. die Rechtsdogmatik an die stillschweigenden Prämissen ihrer Kommunikationsroutinen, an die sozialen und historischen Bedingtheiten ihrer Begriffe und Vorstellungen, zu erinnern.

2. Rechtsphilosophie

24 Rechtsphilosophie etablierte sich in Deutschland als Fachdisziplin aus einer Konkurrenz mit der ungefähr gleichzeitig entstehenden Rechtswissenschaft. Während der Gebrauch des Wortes „Rechtswissenschaft“ bereits im späten 18. Jahrhundert in Mode kam, wurde das Wort „Rechtsphilosophie“ erst um die Jahrhundertwende, ja eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verwendet.69 Kant sprach um 1800 noch von „Rechtslehre“, Hegel etwa 20 Jahre später von der „Philosophie des Rechts“ bzw. – gegen Hugo (und Savigny) gerichtet – von „philosophischer Rechtswissenschaft“.70 Kantische Rechtslehre und hegelsche Rechtsphilosophie waren ihrerseits Teil der aus dem neuzeitlichen (formalen) Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts hervorgegangenen Diskursformation, die mit der Theorie des Gesellschaftsvertrages und Namen wie Hobbes, Locke, Smith, Rousseau u. a. verbunden ist. Rechtsphilosophie kann daher nicht von der aus dem Naturrecht übernommenen Frage nach der richtigen Staats- oder Gesellschaftsordnung getrennt werden. Auch die deutsche idealistische Rechtsphilosophie von Kant bis Hegel ist ein intellektuelles Unternehmen im Prozess der Durchsetzung liberaler Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz etc., die gegen die traditionale (altständische) Adelsgesellschaft mit ihren Privilegien und Ausnahmen gerichtet werden. Das unterscheidet die Rechtsphilosophie von der Rechtstheorie, die erst in den 1920er Jahren, nach einer ersten Konsolidierung der modernen (liberalen) Gesellschaft als „Massengesellschaft“ entstanden ist und die ihren Gegenstand, das Recht, von Anfang an als liberales System mit Eigentums- und Vertragsfreiheit, Grundrechten, Gesetzesvorbehalt, Verfassung etc. voraussetzen konnte. 25 Aufgrund ihrer historischen Entstehungsbedingungen ist die Rechtsphilosophie bis heute stark an der umfassenden Verwirklichung einer gerechten Gesellschaft orientiert, zu der das Recht beitragen soll. Das unterscheidet sie etwa von den auf weniger Emphase angelegten Formen, wie sie in Anwaltspraxen, Gerichten, Rechtsabteilungen von Unternehmen, in der öffentlichen Verwaltung und in Gesetzgebungsorganen gepflegt werden. Zwar war die Rechtsphilosophie in ihrer Gründungsphase durchaus auch am kodifizierten Recht oder einzelnen Rechtsinstituten wie Eigentum, Vertrag, Eherecht, Rechtspflege etc. interessiert. Autoren wie Kant und Hegel entwickelten ihre Rechtsphilosophien aber nicht aus in der Erfahrung vorkommenden Fällen, sondern abstrakt aus allgemeinen Prinzipien, aus „metaphysischen Anfangsgründen“ (Kant) bzw. aus einer sich über die Stufen des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit realisierenden „Idee“ (Hegel). Recht und Moral waren hier keineswegs immer klar voneinander getrennt, und noch heute geht es der Rechtsphilosophie sehr oft um eine staatsphilosophische bzw. moralphilosophische Fundierung des geltenden expliziten Rechts, um dieses dann seinerseits – mit Hilfe der Rechtsphilosophie – auf 69 70

Vgl. Eintrag „Rechtsphilosophie“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werkausgabe Bd. 7, 1970, § 1; zum Verhältnis Hegel/Hugo vgl. die Bemerkungen von J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, 262 Fn. 6.

16 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Abgrenzungen und Überlappungen

eine Stufe substantieller Rationalität heben zu können. Der Fluchtpunkt der Rechtsphilosophie ist letztlich eine Gerechtigkeit realisierende Gesellschaft. Dieser Fluchtpunkt mag auch für eine Rechtstheorie, wie sie hier gepflegt wird, nicht hintergehbar sein. Im Unterschied zu einer Rechtsphilosophie, die ihr Wissen ausschließlich aus Gedankenarchitekturen gewinnt, käme es aber darauf an, den Ort, den Kontext und den Sprecher dieser „kommenden“ Gerechtigkeit genauer zu adressieren und darüber hinaus die epistemologischen wie medialen Möglichkeiten und Beschränkungen genauer zu analysieren, die den Anruf eines anderen Rechts, einer anderen Gerechtigkeit oder eines anderen Systems der Rechte rahmen. Der ständig wiederholte Rekurs der Rechtsphilosophie auf Kant, Hegel, Radbruch 26 und all die anderen 5-Sterne-Helden der eigenen Fachtradition hat nicht zuletzt Auswirkungen auf das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur Rechtswissenschaft. Die Rechtsphilosophie sieht sich selbst als Teil der Philosophie. Noch Radbruch, der die letzte klassische Rechtsphilosophie vorgelegt hat, geht ganz selbstverständlich davon aus, dass „Rechtsphilosophie ein Teil der Philosophie ist“.71 Das ist auch nur folgerichtig, denn gerade in der deutschen idealistischen Philosophie war die Philosophie für die Formulierung der Einheit und Absolutheit des Wissens und der sie tragenden Prinzipien verantwortlich. Darin liegt insofern ein wichtiger Unterschied zur Rechtstheorie, als diese zur Selbstbeschreibung (nicht aber: Fremdbeschreibung) des Rechtssystems beitragen will und daher – institutionell gesehen – auch an die juristischen und nicht an die philosophischen Fakultäten gehört. Jedenfalls würden wir die Rechtstheorie institutionell der Rechtswissenschaft zuordnen. Der Bezugspunkt der Rechtstheorie ist das praktizierte Recht und seine kulturellen Verweisungszusammenhänge, auch wenn die Rechtstheorie als wissenschaftlich hoch angereicherte Form rechtsbezogener Expertise enger mit geistes- und naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen kommuniziert als etwa die Rechtsdogmatik; als Metatheorie agiert die Rechtstheorie immer in einem „polykontexturalen“ Milieu, zwischen Rechts- und Nachbarwissenschaften. Rechtsphilosophie wird heute primär in zwei Varianten praktiziert. Zum einen ver- 27 steht sich Rechtsphilosophie als „Rechts- und Staatsphilosophie“. Hinter diesem Selbstverständnis steht letztlich die aus dem 19. Jahrhundert stammende Vorstellung des „Rechts-Staats“, demzufolge Recht und Nationalstaat eng in einem politisch-rechtlichen System gekoppelt sind, das im Konstitutionalismus des modernen Staates, im Verfassungsstaat, seine Einheit findet. Während die Einheit und Bindungsfähigkeit des Rechts für die Rechtstheorie die Leistung der Rechtspraxis ist, der ständigen Anwendung und Wiederanwendung des expliziten positiven Rechts und der dieses stützenden gesellschaftlichen Konventionsbildung (vgl. Rn. 182ff.), basiert das Recht der Rechts- und Staatsphilosophie auf einer primär politischen Abstützung. Diese Abstützung liegt in der Form der Gewalt, gedacht als politische Macht oder legitimes staatliches Zwangsmittel, also beispielsweise in der Existenz eines staatlichen Vollstreckungsapparats, der die Durchsetzung eines streitigen Zahlungsanspruchs zwischen zwei Privatparteien garantiert. Diese Verknüpfung von Gewalt und Recht ist durch den Einfluss von Thomas Hobbes und John Austin auch in der anglo-amerikanischen Rechtstheorie bekannt,72 aber nur in der deutschen Tradition ist daraus – unter dem Einfluss der hegelschen Vergöttlichung des preußischen Staates (Staat als „Wirklich71 72

Radbruch (Fn. 60), 8. Vgl. nur Hart (Fn. 4), 20ff. (Law as coercive orders).

17 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 1. Ort und Funktion

keit der sittlichen Idee“73) – eine eigene Rechts- und Staatsphilosophie geworden. Heute wird die Rechts- und Staatsphilosophie prominent etwa von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Hasso Hofmann und Horst Dreier vertreten.74 Die Reflexion des Rechts steht hier im Kontext der politischen Ideengeschichte und die interdisziplinären Kontakte der Rechtsphilosophie werden im Wesentlichen auf solche mit der politischen Philosophie beschränkt,75 während kulturwissenschaftliche, medientheoretische oder literaturwissenschaftliche Anleihen nur selten gemacht werden. 28 In der zweiten Variante von Rechtsphilosophie, der Diskurstheorie des Rechts, steht die Abhängigkeit des Rechts von deliberativen (von lat. deliberatio, Beratschlagung, Überlegung) Verfahren im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Hier wird die Rechtsphilosophie tendenziell in eine Rechtsbegründungswissenschaft verwandelt, die die bereits in Max Webers Herrschaftssoziologie aufgeworfene Frage nach der „Legitimität“ des „gesatzten Rechts“ zu einem verständigungsorientierten Dauerdiskurs zuspitzt. Recht wird hier nahezu auf Legitimation bzw. auf die demokratischen Verfahren seiner Erzeugung reduziert, aus Recht und Gesetz wird Gesetzgebung, und darin bleibt die Diskurstheorie des Rechts, obwohl sie sich selbst als eine eher institutionenkritische Theorie sieht, antithetisch auf Staat und Politik fixiert. Anstatt jede an einer letzten substantiellen Einheit orientierte Begründung des Rechts abzuschneiden, geht die Diskurstheorie des Rechts davon aus, dass das verständigungsorientierte Sprachhandeln eine empirische Grundlage hergibt, um abschließende wissenschaftliche Aussagen über die Gültigkeit oder Legitimität von Prozeduren der Erzeugung von Recht treffen und diese als Praxis empfehlen zu können. Das läuft letztlich auf ein Lob der „Zivilgesellschaft“ hinaus, womit nicht so sehr die Institutionen der repräsentativen Demokratie gemeint sind, der Parteien- und Verbändestaat, sondern eher soziale Bewegungen aller Art (Anti-Atom-Bewegung, Frauenbewegung, Globalisierungsgegner etc.), die als notwendiges Korrektiv zu den herkömmlichen repräsentativen Institutionen angesehen werden. 29 Der intellektuelle Ziehvater der Diskurstheorie des Rechts ist Jürgen Habermas. Habermas hat vor dem Hintergrund der von ihm in den 1980er Jahren ausgearbeiteten Theorie des kommunikativen (verständigungsorientierten) Handelns eine Rechtsphilosophie entworfen, die in Faktizität und Geltung (1992) ihre vielleicht bündigste Formulierung gefunden hat. Habermas geht es um nicht weniger als einen umfassenden Ansatz sowohl zur Grundlegung des Eigensinns des modernen Rechts als auch des demokratischen Verfassungsstaates in einem prozeduralen Gerechtigkeitskonzept bzw. im öffentlichen Diskurs. Auch bei Habermas wird eine enge Verknüpfung von Recht und Politik vorausgesetzt, der Unterschied zur Staats- und Rechtsphilosophie besteht lediglich darin, dass der Einheitsanspruch nicht mehr direkt an den Staat adressiert wird, sondern über die Idee einer Sprachgemeinschaft, die sich als „freiwillige Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen“ verstehen kann,76 umgelenkt wird: Das Begründungsparadox des modernen Rechts landet letztlich zur Daueraufbereitung in der „demokratischen Öffentlichkeit“, während beispielsweise die Wirtschaft und die spontanen Handlungsmuster der „Privatrechtsgesellschaft“ (Böhm) auch und gerade in ihren globalen Erscheinungsformen (Großkonzerne, internationale Finanzindustrie, Medienkonglomerate etc.) eher als Bedrohungsszenario für die demo73

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Hegel (Fn. 70), § 257, Staat = „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“, die „substantielle Einheit“ (§ 260), in der das Recht seine höchste Stufe erreicht und – subjektive und objektive Momente des modernen Rechts ineinander aufhebend – sich als Ausdruck konkreter Vernunftsbestimmtheit, als „das an und für sich Vernünftige“ (§ 258), manifestiert. E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002; H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2011; H. Dreier, Hans Kelsen (1881–1973), 2015, 219ff. Vgl. Wahl (Fn. 68), 916, 917 (in einer Würdigung des Werks von H. Hofmann). J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 143.

18 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Abgrenzungen und Überlappungen kratische Legitimität empfunden werden.77 In der philosophischen Rechtsphilosophie knüpfen heute vor allem Axel Honneth und Rainer Forst an Habermas an. Honneth versucht, die Diskurstheorie des Rechts stärker mit hegelianischen Gedanken im Sinne einer sozialen Freiheit und den mit ihr verknüpften kollektiven Praktiken, den bereits im Alltag herrschenden Gebräuchen, Gewohnheiten und eingegangenen Handlungsverpflichtungen, zu verknüpfen.78 Bei Forst geht es primär um ein auf das freie Individuum zugeschnittenes „Recht auf Rechtfertigung“ als Zentrum einer konstruktivistischen Gerechtigkeitstheorie.79 An die rechtsphilosophischen Vorarbeiten von Habermas knüpfen in der stärker juristisch ausgeprägten Rechtsphilosophie etwa die Arbeiten von Robert Alexy an. Alexy schreibt das rechtsphilosophische Erbe einer substantiellen Richtigkeitsgewähr des Rechts in einem metaphysischen Anfangsgrund mit Hilfe einer Theorie des rationalen (praktischen) Diskurses fort und münzt diese in eine Theorie der juristischen Begründung um. Über die – u. a. an Ronald Dworkin anknüpfende – Unterscheidung von Prinzipien („principles“) und Regeln („rules“) hinaus hat Alexy die Vorstellung von Rechtsprinzipien als wechselseitig abwägungsfähigen Optimierungsgeboten entwickelt und die Theorie des rationalen (praktischen) Diskurses auf die Abwägungsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts angewandt.80 Andere Autoren, wie z. B. Klaus Günther, nutzen die Diskurstheorie des Rechts für eine Re-Modellierung kollidierender Normen im Moment der richterlichen Rechtsfindung (Sinn für Angemessenheit).81 Einen sich davon abhebenden und beispielsweise auch die politische Philosophie Claude Leforts einbeziehenden Ansatz hat Günter Frankenberg entwickelt. Hier werden einzelne Theoreme der Diskurstheorie mit der französischen politischen Philosophie kombiniert und auf Probleme des Verfassungsstaates, wie etwa der Rekonstruktion seiner SelbstSetzung durch eine verfassungsgebende Gewalt oder der Selbstdarstellung seiner Einheit, angewandt.82

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Zur Kritik vgl. nur Ladeur (Fn. 35), 137ff.; ders., Discursive Ethics as Constitutional Theory, Ratio Juris 13 (2000), 95ff. A. Honneth, Das Recht der Freiheit, 2011, 221ff.; kritisch dazu etwa R. Pippin, Hegel’s Practical Philosophy, New York 2008, 257. R. Forst, Das Recht auf Rechtfertigung, 2010. R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, 75ff., 498ff.; kritisch dazu M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, 206ff. K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 1988, insb. 335ff. Etwa G. Frankenberg, Autorität und Integration, 2003; ders., Staatstechnik, 2010.

19 https://doi.org/10.17104/9783406746154-1 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:58:15. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 2. Normen I. Grundlagen 1. Typen und Begriffe

30 Rechtsnormen setzen, soweit wir darunter explizite Normen verstehen, das Medium der Schrift und dessen Formbildungen, insbesondere den (geschriebenen) Satz voraus. Deshalb spricht man statt von „Rechtsnormen“ oder „Rechtsregeln“ auch von „Rechtssätzen“;1 im 19. Jahrhundert war dieser Begriffsgebrauch (Rechtssätze) sogar dominierend. Alle drei Begriffe werden hier synonym gebraucht, und man kann vielleicht (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) vier wichtige Typen von Rechtssätzen unterscheiden: Vertragsklauseln, juristische Regeln, richterliche Entscheidungsnormen und Gesetze. Als „Vertragsklauseln“ werden rechtsgeschäftliche Normen, wie etwa über den Zahlungsmodus in einem Mietvertrag, bezeichnet. „Juristische Regeln“ (regulae iuris) nennen wir solche Rechtsnormen, deren Entstehung sich unmittelbar auf rechtswissenschaftliche Expertise zurückführen lässt, wie z. B. die Konstruktion des formlosen Vertrags auf das römische Juristenrecht.2 „Richterliche Entscheidungsnormen“ (case law) sind die durch eine ständige Rechtsprechung getragenen Rechtssätze, wie z. B. das durch den Bundesgerichtshof entwickelte Haftungsinstitut des enteignungsgleichen Eingriffs.3 Gesetze (statutory bzw. regulatory law) heißen solche Rechtsnormen, die auf Handlungen politischer Gesetzgebung zurückzuführen sind oder deren Geltung auf Gesetzgebungstätigkeiten beruht, wie z. B. die Kodifikation des strafrechtlichen Verbots des Diebstahls in § 242 Abs. 1 StGB. 31 Rechtssätze lassen sich nur im Grenzfall dem einen oder anderen Typus zuordnen. Im rechtlichen Alltagsbetrieb gehen vertragsgestaltende, rechtsprechende, gesetzgeberische und rechtswissenschaftliche Normproduktion fließend ineinander über. So kommt es nicht selten vor, dass der politische Gesetzgeber richterliche Entscheidungsnormen, die ihrerseits auf Vorentwicklungen in der rechtswissenschaftlichen Dogmatik aufbauen, adaptiert oder Normen direkt aus dem Juristenrecht übernimmt. Aus einer Kombination von Rechtsdogmatik und Richterrecht sind z. B. die erst in jüngerer Zeit in das BGB aufgenommenen Vorschriften zur positiven Vertragsverletzung hervorgegangen (§§ 280ff. BGB). Für die Regeln des Kaufvertragsrechts (§§ 433ff. BGB) bildet der ursprünglich im römischen Juristenrecht entwickelte formlose Vertrag eine wichtige Vorentwicklung. Es sind weitere Kombinationen denkbar, doch ist allen Typen von expliziten Rechtsnormen gemein, dass sie stets durch die Eigenarten der juristischen Schriftsprache angereichert oder bestimmt sind. Es geht also nicht um praktisches Rechtswissen, wie es auch im Alltag (oft unbewusst) vorhanden ist, sondern um Normen, wie sie auf der Ebene einer die eigene Wahrnehmung reflektierenden Beobachtung, einer Beobachtung zweiter Ordnung, in Erscheinung treten. Diese ist heute ihrerseits auf unterschiedliche Träger – auf Anwaltspraxen, Rechtsabteilungen in Unternehmen, Gerichte, Gesetzgebungsorgane, Verwaltungsbehörden, regulatory agencies und Rechtswissenschaft – zerstreut. 1 2 3

Vgl. nur K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 250ff. (Lehre vom Rechtssatz). Digesten 2. 14. 7; 50. 16. 19; dazu M. Th. Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, RG 6 (2005), 84ff. BGHZ 136, 182, 186.

20 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Grundlagen

In ihrer sprachlichen Form als explizite (schriftliche) Sätze unterscheiden sich Rechts- 32 normen normalerweise von anderen gesellschaftlichen Regelbeständen wie etwa von religiösen oder moralischen Geboten, von Konventionen, Sitten, Brauch, Takt, Mode etc., die oft ungeschrieben und unartikuliert sind.4 Soziologisch und kulturtheoretisch gesehen geht es bei Normen und Regeln immer um Ordnungsmuster, um Regelmäßigkeiten und Gepflogenheiten innerhalb sozialer (Verkehrs-)Beziehungen; das gilt sowohl für juristische Regeln über die Abgabe von Willenserklärungen als auch für einfache Benimmregeln am Esstisch. Die Ordnung ist also keineswegs mit der Rechtsordnung identisch. Jedoch müssen gewisse Regelbestände, auf denen Rechtsnormen gleichsam aufruhen können, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit stets vorausgesetzt werden; ansonsten müsste zu viel Unbestimmtheit, Unstrukturiertheit und Chaos bewältigt werden, die jedes Recht überfordern würden. Diese gesellschaftlichen Regelbestände, Gepflogenheiten und Konventionen sind an implizites (praktisches) Wissen gebunden, das häufig unbewusst „mitläuft“, nicht eigens reflektiert wird und deshalb auch als Wissen von Beobachtungen erster Ordnung qualifiziert werden kann (vgl. Rn. 186ff.). Das bevorzugte Kommunikationsmedium dieser Normbestände ist eher die mündliche Rede und weniger die Schrift, wenngleich etwa religiöse Normen in den großen Buchreligionen wie dem Christentum durchaus in Schriftform vorkommen. Jedenfalls aber sind gesellschaftliche Regeln und Normen oft vorreflexiv als eingefleischte Handlungsweisen in der Umgangssprache und den vielen lebensweltlichen „communities of practice“5 verankert. Was Höflichkeit und Takt in einer Ehe verlangen, weiß jeder Ehepartner intuitiv. Dafür bedarf es keines expliziten Regelwerks, und wenn doch, dann ist es meistens schon zu spät. Dagegen hat der historisch schon früh zu beobachtende Schriftgebrauch im Recht die semantische Dichte des Normenmaterials potenziert; jeder Versuch der scharfen Begrenzung eines Begriffs setzt eine sich im Schreiben vollziehende Reflexion voraus, etwa in Form der Transformation von alltagssprachlichen Formeln wie „gehört mir“ oder „ist meins“ zu einem juristischen Begriff des Eigentums und seinen dogmatischen Daumenregeln.6 Ist ein solcher Klassifikationsbetrieb einmal angelaufen, sind definierte Begriffe und Regeln ihrerseits einer laufenden Konfrontation zustimmender oder dissentierender Meinungen ausgesetzt. Man kann deshalb den Grund für die hohe Reflexivität und Spezifizität rechtlicher Normen gerade in dieser Dynamik einer Beobachtung zweiter Ordnung sehen.7 Während Rechtsnormen meist genaue und recht konkrete Kriterien anzugeben suchen, um eine Handlung als rechtswidrig qualifizieren zu können (Diebstahl wird beispielsweise auf die Wegnahme fremder beweglicher Sachen beschränkt) oder wenigstens intendieren, begrifflich (und damit eindeutig) zu sein, 4

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Ein einführender Überblick über außerrechtliche Normen findet sich bei B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 97ff. Dieser Begriff geht (wohl) zurück auf E. Wenger, Communities of Practice, 2005. Vgl. dazu in einem allgemeineren (linguistischen) Zusammenhang Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 28; vgl. auch L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 71. Vgl. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 211 („Es gibt keine andere Normordnung, die eine solche, über Verfahren laufende Reflexivität entwickelt hat. Man findet sie nur im Recht und nicht zum Beispiel in der Moral ... Nur das Recht ... kann sich rechtmäßig selbst bezweifeln, nur das Recht verfügt in seinen Verfahren über Formen, die es ermöglichen, jemandem rechtmäßig sein Unrecht zu bescheinigen, und nur das Recht kennt jenen weder eingeschlossenen noch ausgeschlossenen Grenzwert der temporären Unentschiedenheit einer Rechtsfrage.“) und 118ff., 212 (zur Spezifikation des Rechts durch Schrift).

21 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 2. Normen bleiben gesellschaftliche Regeln demgegenüber oft durchgängig kontextabhängig und erscheinen dadurch unbestimmter und vager. Moralnormen, die auf die Unterscheidung von gut und schlecht bzw. gut und böse ausgerichtet sind, lassen sich oft nur schwer aus ihren kulturellen Zusammenhängen lösen oder sind eng an bestimmte lokale Berufs- und Alltagsethiken gebunden. Moralnormen überlappen sich daher häufig mit anderen sozialen Normen und Konventionen, etwa mit religiösen Geboten, man denke nur „Liebe Deinen Nächsten“. Im Unterschied zum Recht fehlt es bei moralischen und religiösen Normen außerdem nicht selten an Reflexionen darüber, was aus einem Gebot wie „Liebe Deinen Nächsten“ konkret in einem Konfliktfall folgt, wenn etwa Nachbar A die Frau des Nachbarn B verführt und bei seinen nächtlichen Besuchen wiederholt über das frisch angepflanzte Rosenbeet des B läuft. Hat B hier irgendwelche Ansprüche gegen A? Auf Wiedergutmachung oder Schadensersatz? Die praktische Handhabung von Moralnormen bleibt also unsicher. Zwar verfügt die Moral in der Ethik über eine Reflexionstheorie, wie etwa über Kants kategorischen Imperativ, mit dessen Hilfe die Allgemeingültigkeit von moralischen Normen begründet werden soll.8 Aber gerade Kants kategorischer Imperativ ist ein Beispiel für die Spezialisierung der Ethik auf normative Begründungs- und nicht auf praktische Anwendungsfragen.

2. Konditionalschema

34 Schriftlich verfasste Rechtsnormen folgen häufig einem konditionalen Schema und werden deshalb von der Normentheorie auch als „Bestimmungssätze“ bezeichnet.9 In einem auf Niklas Luhmann zurückgehenden Sprachgebrauch werden solche Sätze auch – mit einem aus der Computerkultur entlehnten Begriff – als „Konditionalprogramme“ bezeichnet.10 Von Bestimmungssätzen oder Konditionalprogrammen wird in der Literatur dann gesprochen, wenn Rechtsnormen eine tatsächliche Bedingung A konditional mit einer rechtlichen Wirkung B verknüpfen, während Zweckprogramme das Handeln oder Verhalten von Rechtssubjekten an einem Zweck, wie etwa der „wirksamen Umweltvorsorge“ in § 1 UVP-Gesetz, orientieren. Die tatsächliche Bedingung eines solchen Rechtssatzes wird in der Normentheorie normalerweise „Tatbestand“, die rechtliche Wirkung „Rechtsfolge“ genannt. So legt § 823 Abs. 1 BGB als Tatbestand das Verbot der vorsätzlichen oder fahrlässigen widerrechtlichen Verletzung subjektiver Rechtsgüter wie Leben, Eigentum oder Gesundheit fest. Wird dieses Verbot missachtet, spricht § 823 Abs. 1 BGB als Rechtsfolge die Verpflichtung zum Schadensersatz aus. Nicht anders ist es im öffentlichen Recht, z. B. im Medienrecht: Nach § 20a Rundfunkstaatsvertrag darf eine rundfunkrechtliche Zulassung nicht an juristische Personen des öffentlichen Rechts erteilt werden, es sei denn, es handelt sich um eine Kirche oder Hochschule, weil diese nach dem Grundsatz der Staatsferne mit einer besonderen Autonomie versehen sind. Das konditionale Schema besagt also, dass immer dann, wenn ein gleicher Sachverhalt einen Tatbestand verwirklicht, die gleiche Rechtsfolge ausgelöst wird.11 35 Die Theorie des Konditionalprogramms konkurriert mit der so genannten „Imperativentheorie“.12 In der Imperativentheorie wird die in einem Rechtssatz entweder aus8

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I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werkausgabe Bd. 7, 1974, A 54 („Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“). Vgl. Larenz (Fn. 1), 253ff.; vgl. auch Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 4), Rn. 148b. Luhmann (Fn. 7), 195. Larenz (Fn. 1), 256 („Immer dann, wenn ein konkreter Sachverhalt S den Tatbestand T verwirklicht, gilt für diesen Sachverhalt die Rechtsfolge R.“). Programmtisch etwa bei Larenz, ebd., 253ff. Als Kronzeuge dieser Auffassung wird im deutschen Sprachraum oft Th. Hobbes herangezogen, in der englischsprachigen Literatur gilt J. Austin als ihr Begründer.

22 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Grundlagen

drücklich oder implizit ausgesprochene Rechtsfolge als „Imperativ“ (lat. befehlend, bindend, zwingend) gedeutet.13 Die Imperativentheorie knüpft an Verbote des Typs „Du sollst nicht töten“ bzw. an Gebote des Typs § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG („Der Betriebsrat ist vor jeder Kündigung zu hören“) an. Der Imperativentheorie wird jedoch zu Recht entgegengehalten, dass die heute üblichen Rechtsnormen keine konkreten Befehle artikulierten, sondern abstrakte, über den jeweiligen Einzelfall hinausgehende Festlegungen seien, deren Stabilität als normative „Geltungsanordnungen“ (Larenz) unabhängig von ihrer tatsächlichen Wirksamkeit existiere. Auch wenn im Fall der Entlassung des Kollegen Vettel der Betriebsrat nicht gehört wurde, ist dem Betriebsrat doch grundsätzlich rechtliches Gehör zu gewähren; – und auch wenn jemand wegen Überschuldung seine Miete nicht mehr bezahlen kann, bleibt er doch generell zur Entrichtung des Mietzinses verpflichtet (§ 535 BGB). Andere bestreiten ganz generell die Sinnhaftigkeit einer Theorie, die die Anerkennung von Gesetzen ausschließlich in den militärischen Kategorien von Befehl und Gehorsam verhandeln will,14 zumal mit einer solchen Engführung selbst die Wirklichkeit von autokratischen Rechtsordnungen (Monarchie, Diktatur, Militärdiktatur etc.) kaum zu erfassen sein dürfte. Die Imperativentheorie ist eng mit dem Aufstieg des europäisch-monarchischen Staates seit dem 16. und 17. Jahrhundert verbunden. Schon Hobbes hatte im Leviathan von 1651, im Abschnitt über die bürgerlichen Gesetze (Of Civil Lawes), das Gesetz als Befehl (Command) und nicht als Rat (Counsell) definiert und den Gesetzesbefehl mit einer unbedingten Gehorsamspflicht gegenüber nur einer Macht, dem souveränen und im Monarchen repräsentierten Staat (Commonwealth), verbunden.15 Zwar erschöpft sich die hobbessche Vertragskonstruktion keineswegs in der Konzeption des Gesetzesbefehls. Dennoch gewann die Vorstellung des Gesetzesbefehls – vermittelt über Kants praktische Philosophie – im positivistischen deutschen Staatsrecht des 19. Jahrhunderts in dem Maße an Boden, in dem der Staat zum ersten Normenproduzenten, zum Gesetzgebungsstaat, aufstieg. In der Rechtssoziologie Max Webers wurde aus dem Gesetzesbefehl dann eine generelle Gehorsamserzwingungschance.16 Als Ausdruck von Zwangsmitteln oder Erzwingungschancen ist die Imperativentheorie noch heute stark präsent, nicht nur im Strafrecht, sondern auch im öffentlichen Recht, etwa in der Formulierung der „spezifisch staatlichen Mittel von Befehl und Zwang“.17 In der jüngeren verwaltungsrechtlichen Literatur wird in diesem Sinne auch von „staatlich-imperative(r) Regulierung“ als einem Grundtyp von Regulierung gesprochen.18

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Die Normentheorie weist Konditionalprogrammen häufig eine Exklusivstellung zu. 37 Das konditionale Schema wird dann als die einzig praktikable Formbildung im Rechtssystem qualifiziert. Auch nicht explizit als Konditionalprogramm formulierte Rechtssätze müssten insbesondere im Kontext gerichtlicher Urteilsfindung in eine praktikable Wenn/Dann-Form übersetzt werden.19 Diese Reduktion der Vielfalt 13

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Zur Darstellung vgl. nur H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 18ff., 20ff. („coercive orders“); Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 4), Rn. 148ff.; Röhl/Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 230ff.; R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2002, 32ff. (mit weiteren Beispielen). Etwa Hart (Fn. 13), 77ff. T. Hobbes, Leviathan (1651), 1997, Ch. 26, 183 („Law in general, is not Counsell, but Command; nor a Command of any man to any man; but only of him, whose Command is addressed to one formerly obliged to obey him.“). M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 17 („Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance [des] (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen.“). D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, 65. M. Eifert, Regulierungsstrategien, 2012, Rn. 14. Vgl. nur Larenz (Fn. 1), 256 (jeder Rechtssatz enthält eine „Geltungsanordnung“); Rüthers/Fischer/Birk (Fn. 4), 148ff.; ähnlich Luhmann (Fn. 7), 195, 200ff.

23 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 2. Normen

rechtlicher Artikulationsmöglichkeiten auf eine einzige Satzform, einen einzigen Satztypus, ist aber alles andere als unproblematisch und daher mit großer Vorsicht zu behandeln. Schon das römische Recht unterschied gebietende, verbietende, erlaubende oder bestrafende Rechtsregeln,20 und zumindest auf einer phänomenologischen Ebene müsste man heute mit Hart eher von einer „variety of laws“ sprechen.21 So lockert etwa das Verwaltungsrecht die Konditionalstruktur durch Ermessen und unbestimmte Rechtsbegriffe auf,22 das Verfassungsrecht verfügt über eine Fülle von Ermächtigungsund Kompetenznormen,23 wie z. B. Art. 65 Satz 1 GG („Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik“) oder Bestimmungen, deren Rechtsfolgen alles andere als normativ bestimmt sind, wie z. B. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG („Die Würde des Menschen ist unantastbar.“). Solche Vorschriften koppeln nicht eine bestimmte und stets gleichbleibende Rechtsfolge an einen stabilen Tatbestand, sondern eröffnen auf Tatbestandsund/oder Rechtsfolgenseite einen Rahmen, dessen Bestimmung der Interpretation und Konkretisierung bedarf. Mit der Engführung des Rechts auf einen einzigen Satztypus läuft die Normentheorie darüber hinaus Gefahr, jene Rechtsformen zu vernachlässigen, die sich dem konditionalen Schema entziehen, wie etwa der Begriff der Institution (als Komplex verknüpfter Regeln) oder die für das moderne (liberale) Recht so bedeutende Rechtsfigur des subjektiven Rechts (Freiheit und Eigentum). Schließlich versperrt ein solcher Reduktionismus auch den Blick auf neuere prozedurale Rechtsentwicklungen etwa im Verwaltungsrecht (vgl. Rn. 60ff.). 3. Abstrakt normatives Regelverständnis

38 Mit dem Begriff der Rechtsnorm ist in der Normentheorie traditionellerweise ein abstrakt normatives Regelverständnis verbunden. Die Normentheorie spricht nicht nur von Normen oder Regeln des Privatrechts, des öffentlichen Rechts oder des Strafrechts, vielmehr wird der Raum rechtlicher Normativität auf explizite Normenbestände begrenzt und die Gesamtheit der expliziten Rechtssätze in einer von allen nicht explizit konstituierten Regelmäßigkeiten und Gepflogenheiten getrennten Welt angesiedelt. Eine solche Trennung wird etwa in der Methodenlehre von Larenz vorausgesetzt, wenn dort Begriffe wie Norm, Regel oder Rechtssatz als doppeldeutig qualifiziert werden: Norm und Regel verweisen hier auf eine „Regel des Verhaltens“, und damit könne– so Larenz – einerseits ein regelmäßiges Verhalten gemeint sein, eine immer wieder gezeigte gleichförmige faktische Verhaltensweise, andererseits auch „eine Norm im Sinne eines verbindlichen Richtmaßes, einer Verhaltensanforderung“. Im ersten Fall würden wir Normen und Regeln eine gewisse tatsächliche Effizienz, im zweiten Fall den Anspruch auf normative Maßgeblichkeit oder Verbindlichkeit zuschreiben. In dieser letzten Perspektive, der „Blickrichtung des normativen Sinnes“, zeige sich die Regel der Rechtswissenschaft. Diese befasse sich mit dem Recht „vornehmlich als einem Phänomen, das der normativen Sphäre angehört“.24 39 Diese Opposition von tatsächlichem Verhalten und normativem Sinn wird in der reinen Rechtslehre von Kelsen weiter zugespitzt. Kelsen konstruiert über die Unterschei20 21 22 23 24

Digesten 1. 3. 7; dazu M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971, 211. Hart (Fn. 13), 26ff., 237 (mit Hinweis auf D. Daubes „Forms of Roman Legislation“). Vgl. dazu nur H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 141ff. Rules conferring powers im Sinne von Hart (Fn. 13), 35f. Larenz (Fn. 1), 190.

24 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Grundlagen

dung von Sein und Sollen eine unüberwindbare Sperre zwischen der Welt der Fakten, wozu auch das tatsächliche (menschliche) Verhalten gezählt wird, und der Normativität oder Geltung von Rechtsnormen. Demnach ist es Aufgabe der Rechtswissenschaft, Verhaltensereignisse in der Wirklichkeit unter eine Rechtsnorm zu fassen, um dem tatsächlichen Verhalten dadurch einen spezifisch positiv-rechtlichen und nicht etwa moralischen, ökonomischen oder ästhetischen Sinn zu verleihen: Wird eine Autotür von einem jugendlichen Rowdy eingetreten, liegen eine Sachbeschädigung (§ 303 Abs. 1 StGB) und zugleich eine unerlaubte Handlung (§ 823 BGB) vor, aber – aus der Sicht des Rechts – kein ökonomischer Wertverlust und kein Kunstwerk. Dieser Deutungsund Zuschreibungsakt setzt jeweils einen entsprechenden Willensakt voraus, der sich in einschlägigen Rechtssätzen artikuliert, die allerdings nicht mit der Rechtsnorm selbst verwechselt werden dürfen.25 Damit wird zwar die Notwendigkeit der juristischen Deutung eines tatsächlichen Geschehensablaufs als grundsätzlich konstitutiv für die Konstruktion von Rechtsnormen qualifiziert,26 d. h. die Abhängigkeit aller juristischen Regelbildung von einer reflektierenden Wahrnehmung oder Beobachtung zweiter Ordnung. Aber letztlich ist Kelsens strikter Normativismus nicht viel überzeugender als die Larenz’sche Blickrichtung eines normativen Sinns. Beide Auffassungen sind insofern problematisch, als sie die Normativität von Rechts- 40 normen im Unterschied zu tatsächlichem Verhalten bestimmen, nicht aber – wie es richtig wäre – über die Unterscheidung von (rekursiver) Rechtspraxis und der ihr korrespondierenden vorrechtlichen Infrastruktur aus gesellschaftlichen Regelbeständen und praktisch erprobten Konventionen. Das Recht operiert nicht einfach auf der Grundlage sinnhaft zu deutender Willensakte, die unvermittelt – „gleichsam von außen her“27 – durch die hypothetischen (schriftlichen) Urteile bzw. die Rechtssätze der Rechtswissenschaft erkannt werden. Rechtsnormen können nicht auf sinnhaft zu deutende Willensakte zurückgeführt werden, weil Willensakte stets ein abgeleitetes Phänomen sind und ihrerseits etwa entsprechende umgangssprachliche Gepflogenheiten und ein daran gebundenes praktisches Wissen voraussetzen. Mit dem französischen Philosophen Cornelius Castoriadis kann man an dieser Stelle auch von einer institutionsgebenden Macht sprechen, die jeder rechtskonstituierenden (gesetzgebenden oder verfassungsgebenden) Macht vorausgeht und sich ihr entzieht, wie beispielsweise die Sprache, die Familie, die Sitten und Gebräuche, vom Stillen der Säuglinge bis zu den gemeinsamen Trachten und Festen, die jede Kultur immer schon kennt.28 „Die Gesetzgebung kann die Sprache nicht schaffen, in der sie abgefasst sein wird, so wenig sie die Sitten schaffen kann, dank deren sie kein toter Buchstabe bleiben wird.“29 Diese kulturellen Voraussetzungen des Wissens werden manchmal auch als „soziale Epistemologie“ bezeichnet.30 Die implizite 25

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H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 5 („‚Norm‘ ist der Sinn eines Aktes, mit dem ein Verhalten geboten oder erlaubt, insbesondere ermächtigt wird. Dabei ist zu beachten, daß die Norm als der spezifische Sinn eines intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Aktes etwas anderes ist als der Willensakt, dessen Sinn sie ist. Denn die Norm ist ein Sollen, der Willensakt, dessen Sinn sie ist, ein Sein.“). Klar und deutlich W. Kersting, Politik und Recht, 2000, 288, 384 (Rechtsnormen sind für Kelsen „Interpretationsprodukte, Deutungskonstrukte“). Kelsen (Fn. 25), 74. V. Descombes, Die Rätsel der Identität, 2013, 226ff., mit Hinweis auf C. Castoriadis, Le monde morcelé, 1990, 134. Descombes, ebd., 2013, 231. K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 72ff., 110ff.; ders., Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung – insbesondere am

25 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 2. Normen

institutionsgebende Macht oder soziale Epistemologie ist für das Recht jedenfalls von allergrößter Bedeutung: Wo das kaufmännische Bestätigungsschreiben nicht als Handelsbrauch bekannt ist, kann es keine Rechtsregel werden und damit auch niemals rechtliche Bindungswirkung (oder Geltung) entfalten. Was Kelsen als Willensakte und Deutungsschemata formalisiert, setzt in Wahrheit eine lebendige „Infrastruktur aus selbstorganisierten Konventionen, Erfahrungen und Handlungsmustern“ voraus (vgl. Rn. 182ff.).31 41 Die Isolierung explizit-rechtlicher Normativität im hier als abstrakt normativ bezeichneten Regelverständnis hängt eng mit dessen Sinnpurismus, in dem der Sinn zur zentralen Kategorie der Normentheorie aufsteigt, zusammen. Die reine Rechtslehre basiert nicht zufällig auf der strengen Unterscheidung von Rechtssatz und Rechtsnorm. Sie stellt dementsprechend ganz auf die semantische Dimension der Rechtsnorm ab, auf die „eigentümliche rechtliche Bedeutung“, die den faktischen Ereignissen durch die „Norm als Deutungsschema“ verliehen wird.32 Damit wird die normative Deutung als Kategorie der Beschreibung (oder Erkenntnis) der Rechtsnorm dem Rechtssatz in seiner sprachlichen (medialen) Verfasstheit geradezu entgegengesetzt.33 Nicht auf die sprachliche und mediale Existenz von Rechtsnormen in Worten und Sätzen kommt es dann an (und damit letztlich auf den Gebrauch der Rechtssprache), sondern allein auf den Sinn des normsetzenden Aktes! Ähnlich argumentiert noch heute Robert Alexy. Alexy vertritt – im Anschluss an normentheoretische Arbeiten von v. Wright – einen „semantischen Normbegriff“, der in der Sache wiederum den Sinn von Normen privilegiert.34 Es muss dann beispielsweise zwischen der Grundrechtsnorm des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und der als Textkörper vorliegenden Grundrechtsbestimmung unterschieden werden. Das hat u. a. zur Konsequenz, dass derselbe normative Aussagegehalt durch unterschiedliche schriftliche Formulierungen zum Ausdruck gebracht werden kann. Umgekehrt wird Rechtsnormen hier – wie bei Kelsen – eine von Sprache, Schrift und Buchdruck unabhängige, rein sinnhafte Existenz zugesprochen, „Sprache als bloß ‚äußere‘ Bezeichnung ‚derselben‘ Gedanken verstanden“.35 42 Im Unterschied zur Normentheorie Kelsens geht es der soziologischen Systemtheorie Luhmanns gerade darum, die wechselseitige Entfremdung von normativen und soziologischen Wissenschaften abzubauen. Rechtsnormen werden bei Luhmann ausdrücklich auf Sinn- bzw. Erwartungsstrukturen der sozialen Realität und damit auf faktisches Erleben und Kommunizieren in kulturellen Zusammenhängen bezogen.36 In der Vorstellung eines normativen Erwartungsstils, der nur Wissen, nicht aber andere Normen in sich aufnehmen kann, verbleibt der systemtheoretische Normbegriff aber dennoch in einem mit Kelsens reiner Rechtslehre vergleichbaren neukantischen Fahr-

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Beispiel von Bildung und Sozialarbeit, 2014, 103ff.; vgl. auch I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb. 80ff. K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 27f.; vgl. auch T. Vesting, Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015 (i. E.) m.w.N. Kelsen (Fn. 25), 5. Kelsen, ebd., 73ff., 83f. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 43, 54. J. Simon, Philosophie des Zeichens, 1989, 105. Vgl. dazu Luhmann (Fn. 7), 133 Fn. 18 („als Soziologe wird man nicht auf die Meinung verzichten wollen, daß Normen als Sinnstrukturen der sozialen Realität faktisch vorkommen. Die Alternative wäre zu sagen: Es gibt gar keine Normen, es handelt sich um einen Irrtum. So weit werden weder Soziologen noch Juristen gehen wollen.“).

26 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Grundlagen

wasser. Luhmann definiert den Begriff der Rechtsnorm funktional als „kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartung“, die bestimmt sei durch die Entschlossenheit, aus Enttäuschungen nicht zu lernen.37 Rechtsnormen sind danach „enttäuschungsfeste“, „bockige“ Erwartungen, die – gegebenenfalls mit Hilfe sanktionierter (politischer) Gewalt – die normative Geschlossenheit des Rechtssystems gewährleisten, im Unterschied zu kognitiven Erwartungen, die Lernen und Offenheit für faktische Umweltveränderungen ermöglichen.38 Die Erwartung, in einem Speiselokal als Bedienung nicht verprügelt zu werden, wird auch im Enttäuschungsfall stabil gehalten (normative Erwartung), während sich die (männliche) Kundschaft normalerweise darauf einstellt, dass die neue Bedienung nicht blond, sondern brünett ist (kognitive Erwartung). Der Begriff der normativen Erwartung, die enttäuschungsfeste, „bockige“ Erwartung, 43 ist eng mit Luhmanns These verknüpft, dass das Recht ausschließlich durch Konditionalprogramme Normativität generieren und damit letztlich auch nur durch Konditionalprogramme seine soziale Funktion der Erwartungssicherung realisieren kann. Ausschlaggebend für das Konditionalprogramm ist, dass es Bedingungen statuiert, die sich auf „vergangene, gegenwärtig feststellbare Tatsachen“ beziehen.39 Ob der Kaufmann A morgen wieder ein Angebot schriftlich bestätigen wird oder ob es ein anderer Kaufmann B tun wird, ist ungewiss. Aber wenn ein solches Bestätigungsschreiben von irgendeinem Kaufmann verfasst würde, hätte ein solches Schreiben die gleiche Bindungswirkung wie jedes andere auch. Und diese Wirkung, Erzeugung einer Bindung zwischen Kaufleuten, wird durch eine im Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung feststellbare Tatsache ausgelöst, dem Zugang des Bestätigungsschreibens beim Empfänger, so ungefähr fasst Luhmann, etwas verkürzt, sein Argument. In dieser Art Vergangenheitsorientierung unterscheidet sich das Konditionalprogramm von seinem Gegenmodell, dem „Zweckprogramm“.40 Das Zweckprogramm berücksichtigt auch künftige, im Zeitpunkt der Rechtsentscheidung noch nicht feststehende Tatsachen. Das atomrechtliche Genehmigungsverfahren macht die Sicherheit der Atomanlage, d. h. ihre Genehmigungsfähigkeit, davon abhängig, dass die nach dem Stand von Wissenschaft und Technik erforderliche Vorsorge gegen Schäden getroffen ist (§ 7 Abs. 2 Nr. 3 AtomG). Hier wird mit dem Verweis auf den „Stand von Wissenschaft und Technik“ eine zeitbezogene Offenheit in die Rechtsnorm eingebaut, die nach Luhmann Sinn und Funktion des Rechts sprengt. Das technische Sicherheitsrecht betreibt im Atomrecht eine zweckorientierte Zukunftsvorsorge, die auf ständiges Lernen angelegt ist. Die Norm ist nicht nur kognitiv offen; kognitive und normative Offenheit gehen vielmehr ineinander über und heben die Unterscheidung von normativem und kognitivem Erwartungsstil letztlich auf. Luhmann bezweifelt natürlich nicht, dass solche Rechtsnormen dem Recht von der Politik als Sinnangebote zur Verfügung gestellt werden, aber er ist der Auffassung, dass sie nicht in eine justiziable Form gebracht werden können bzw. dass solche Normangebote die Gerichte zu einer Form des technical engineering zwingt, für das sie nicht gerüstet sind.

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Luhmann, ebd., 134, 80 („Normen gegenüber Enttäuschungen stabil gehalten werden müssen“); vgl. auch 61 („Intention des obstinaten, kontrafaktischen Festhaltens von Erwartungen“); ähnlich ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 17, 115, 210ff., 212 (Norm befindet sich auf der Ebene des „Erwartens von Erwartungen“). Zur „strukturellen Kopplung“ von Recht und Politik vgl. nur Luhmann (Fn. 7), 150 („Das Recht ist zu seiner Durchsetzung auf Politik angewiesen, und ohne Aussicht auf Durchsetzung gibt es keine allseits überzeugende (unterstellbare) Normstabilität.“); zu der an J. Galtung anschließenden Unterscheidung von normativen und kognitiven Erwartungen vgl. Luhmann, ebd., 77ff., 84f. Luhmann, ebd., 197. Luhmann, ebd., 195f.

27 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 2. Normen

II. Allgemeinheit des Gesetzes 1. Kants praktische Philosophie

45 Mit dem Siegeszug der neuzeitlichen Naturphilosophie seit dem 17. Jahrhundert setzte sich allmählich die Vorstellung einer die Welt der natürlichen Erscheinungen durchwaltenden kausalen Gesetzmäßigkeit durch, die auch als deterministisches Weltbild bezeichnet wird: Autoren wie Galilei, Gassendi, Descartes, Hobbes, Spinoza und Newton favorisierten den Gedanken einer regelhaften und systematischen Ordnung der Natur der Dinge, einer Neuordnung mit dem Zentrum einer universalen Gesetzmäßigkeit. Von diesen Autoren war es nicht zuletzt Thomas Hobbes, der die Axiome des neuen naturwissenschaftlichen Denkens erstmalig auf das Feld des praktischen Wissens, auf Politik, Staat und Recht, übertrug.41 Hobbes fundierte die Staats- und Rechtsordnung in einem Vertrag, dessen Zweck die Errichtung einer umfassenden monarchischen Souveränität und Subjektivität war. Damit konstruierte Hobbes aber kein Einfallstor für eine absolute Herrscherwillkür, sondern machte den Monarchen und seine Willensäußerungen von einem neuen artifiziellen (Sprach-)System abhängig, das auf der Vorstellung eines von allen Herrschaftsunterworfenen zu schließenden Vertrages beruhte: Die künstlich durch Vertrag gestiftete Souveränität des Monarchen unterbrach die Kontinuität der Tradition und ermöglichte Freiheit unter der Bedingung des Mangels an gemeinsamen Zwecken.42 In Kants praktischer Philosophie ist es das allgemeine Gesetz, das die Einbindung in eine den empirischen Einzelwillen übersteigende Regelmäßigkeit, in die Idee einer Ordnung nach universalen Regeln und Normen, leistet. Das allgemeine Gesetz, die Gesetzmäßigkeit der Gesetze, avancierte bei Kant gewissermaßen zum transzendentalen Feld, „innerhalb dessen sich der Wille selbst konstituiert“,43 innerhalb dessen Einzelgesetze überhaupt gemacht werden konnten. Der freie Wille existierte bei Kant anders gesagt von vornherein als an das Medium der Allgemeinheit gebundener Wille, eben als Gesetz. Das kantische allgemeine Gesetz ist daher am besten als Ergebnis einer Selbst-Gabe („l’auto-donation“) zu charakterisieren bzw. als Ausdruck einer „Selbstgesetzlichkeit, als ein Gesetz, das sich als Gesetz selbst gibt.44 Das kantische allgemeine Gesetz tritt als Geschenk vor das moderne Subjekt – und lässt ihm, einmal aus der Tradition entlassen, keine andere Wahl, als die Gabe des Gesetzes anzunehmen.45 41

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Dazu ausführlich Q. Skinner, Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, 1996, 294ff., 334 (für den Leviathan). Vgl. Ladeur (Fn. 31), 10 (mit Hinweis auf M. Oakeshott). R. Esposito, Communitas, 2004, 100. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, 2006, 25; vgl. auch ebd. 11 (Kants Versuch einer Grundlegung der Moral läuft zwangsläufig auf eine Selbstbegründung des praktischen Gesetzes hinaus); J. Rogozinski, Le don de la Loi, 1999, 91 („Si l’autonomie se définit comme le pouvoir de se donner la Loi, il faut alors admettre que l’autonomie originaire n’est pas celle de la volonté se soumettant librement à la Loi, mais l’autonomie du Nomos lui-même, l’auto-donation de la Loi.“); Esposito (Fn. 43), 101; vgl. auch Ladeur (Fn. 31), 9 („Die – von der Tradition entbundenen – freien Subjekte haben keine andere Wahl als die Unterwerfung unter ein Gesetz so zu akzeptieren, als ob es ihnen von einem anderen gegeben worden wäre ... Deshalb ist es auch eher das Gesetz, das sich selbst gibt.“). Ausführlicher T. Vesting, Die innere Seite des Gesetzes, 2009; vgl. auch B. Waldenfels, Sozialität und Alterität, 2015, 194, 195 (der das Gesetz als Antwort auf einen fremden Anspruch verhandelt); ähnlich

28 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Allgemeinheit des Gesetzes

Was damit gemeint ist, wird sofort verständlich, wenn man sich die Grundzüge der 46 kantischen praktischen Philosophie klar macht. Im Mittelpunkt von Kants praktischer Philosophie oder Ethik stand die Konstruktion allgemeiner moralischer Gesetze. Der kategorische Imperativ, das Zentrum der kantischen praktischen Philosophie, gebietet Ego so zu handeln, dass die Maxime seines Willens „jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“.46 „Maximen“ waren für Kant subjektiv gültige Regeln oder Grundsätze, die ihre situative Berechtigung haben mochten, dem Charakter des moralischen Gesetzes als objektiv und allgemeingültig aber oft entgegengesetzt waren. Jemand, der es sich beispielsweise zur Maxime gemacht hatte, sein Vermögen mit allen Erfolg versprechenden Mitteln zu mehren, eignete sich das Depositum eines verstorbenen Eigentümers an, über das es keine schriftliche Niederlegungsurkunde gab. Damit handelte er zwar der eigenen Maxime entsprechend, als allgemeines Gesetz taugte diese Maxime aber keineswegs. Würde man die Maxime zum allgemeinen Gesetz erheben – mehre Dein Vermögen mit allen Erfolg versprechenden Mitteln und behalte das verwahrte Gut, das Dir jemand anvertraut hat, immer dann, wenn niemand beweisen kann, dass es nicht Dir gehört –, würde die Maxime gerade das negieren, was vorausgesetzt bleiben muss, nämlich die Existenz und Integrität der Institution des Depositums.47 Während die aristotelisch-mittelalterliche (Schul-)Ethik noch gemeinsame Zwecke 47 aus natürlichen Gegebenheiten wie etwa dem Stand oder dem Geschlecht abgeleitet hatte, machte der kategorische Imperativ keine inhaltlichen (materialen) Vorgaben über Gut und Böse mehr. Damit reagierte Kants praktische Philosophie ersichtlich auf die Erfahrung des Zerfalls der traditionalen (Adels-)Gesellschaft und ihrer objektiv fundierten moralischen Gewissheiten, dem Schwinden einer „Gesamtordnung“ und dem Rückzug der praktischen Philosophie auf die Begründung einer „Grundordnung“.48 Dieser Unterschied zwischen Kant und der traditionellen (Schul-)Ethik wurde insbesondere in Hegels Kant-Kritik deutlich, denn Hegel wies zu Recht darauf hin, dass kein Widerspruch in der Ansicht liege, dass es kein Depositum gäbe.49 Damit traf Hegel zwar insofern einen wunden Punkt der kantischen Ethik, als diese auf einem unbestimmten Willensbegriff aufbaute, der sich seiner Abhängigkeit von vorfindlichen gesellschaftlichen Regelbeständen und praktisch erprobten Konventionen nicht immer bewusst war: Kant musste mit anderen Worten von vorfindlichen sozialen Institutionen ausgehen, die Vertrauen zwischen den Subjekten schaffen, er musste die praktische Existenz unstreitiger Regeln – Sitten, Konventionen und Gewohnheiten voraussetzen, d. h. eine Form vorreflexiver Regelbindung, die das Subjekt verinnerlicht, bevor es sich an abstrakten Regeln orientiert. Auch Kants Argument einer

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H. Lindahl, Fault Lines of Globalization, 2013, 222ff., 249 (auf der Ebene des kollektiven Handelns und seiner notwenigen Selbstbeschränkungen – „self-restraint“). Kant (Fn. 8), A 54; zum Verhältnis der späteren Formulierung des kategorischen Imperativs in der Kritik der praktischen Vernunft zu seinen früheren „Verdeutlichungen“ in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, BA 52ff. und die dort behandelten Beispiele (Selbstmord, Selbstliebe, Genussleben, Hilfsbereitschaft) vgl. nur J. Simon, Kant, 2003, 185ff. Kant (Fn. 8), A 50 („Ich werde sofort gewahr, daß ein solches Prinzip, als Gesetz, sich selbst vernichten würde, weil es machen würde, daß es gar kein Depositum gäbe.“). Vgl. dazu Waldenfels (Fn. 44), 15ff.; Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 13ff., 42f. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), Werkausgabe Bd. 3, 1986, 322 („Nicht darum also, weil ich etwas sich nicht widersprechend finde, ist es Recht; sondern weil es das Rechte ist, ist es Recht.“).

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§ 2. Normen

Undenkbarkeit des Despositums ergab sich allein daraus, dass es das Depositum als Institution schon lange Zeit gab und ein daran gebundenes Vertrauen der Subjekte in diese Institution.50 Gleichwohl kann man sich dem Urteil von Josef Simon anschließen, dass Hegels Einwand die kantische Intention eher verdeutlicht, „als dass er ihr widerspricht“.51 Kant versuchte gerade, die Ethik universalistisch, über ein rein formales Prinzip, einen Verallgemeinerungsschluss, auf die neuen Gegebenheiten einer (moralischen) Grundordnung nach dem Zusammenbruch einer übergreifenden (sittlichen) Gesamtordnung einzustellen. Er formulierte den obersten Imperativ der Ethik als Gesetz und deduzierte Letzteres aus reinen Vernunftprinzipien bzw. aus dem seinerseits für Kant bedingungslosen Faktum der Vernunft. 48 Kants Konstruktion des kategorischen Imperativs als Ausdruck einer abstrakten und reinen Vernunft hatte sein Vorbild in der neuzeitlichen, modernen Naturwissenschaft, wie sie vielleicht bei Newton ihren ersten Höhepunkt erreichte. Diesem Vorbild folgte Kant nicht nur in der Kritik der reinen Vernunft, sondern auch in seiner praktischen Philosophie. War jene um die Vorstellung einer objektiven Gesetzmäßigkeit der Elemente der Natur, d. h. durchgehender notwendiger Ursache-Wirkungszusammenhänge zentriert, ging es der praktischen Philosophie um die Sicherstellung allgemeiner moralischer Verbindlichkeit. Und so wie das klassische Gesetz der newtonschen Mechanik, das Inertialgesetz der Bewegung, nicht aus der Erfahrung stammte, sondern ihr gerade zuwiderlief und dennoch als universell-gültiges Gesetz nachgewiesen werden konnte, fundierte Kant die Allgemeinheit des moralischen Gesetzes in reiner praktischer Vernunft.52 Diese wurzelte in der (transzendentalen) Idee der Freiheit, die als Eigenschaft des Willens vorausgesetzt werden musste, „wenn Pflicht nicht überall ein leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll“.53 Die praktische Vernunft konnte damit nicht länger unabhängig vom Akt des Erkennens (oder Beobachtens) gedacht werden und auch nicht unabhängig von der „tätigen Auswahl gesetzestauglicher Maximen“.54 Darin brachte Kants praktische Vernunft das neuzeitliche Subjekt zur Geltung. Kants Subjekt, der Träger seines Systems, blieb allerdings in jedem Erkenntnisakt, in jeder Situation, in der Maximen von Handlungen zu allgemeinen Gesetzen generalisiert wurden, mit sich selbst identisch. Kant fundierte das allgemeine praktische Gesetz mit anderen Worten konstruktiv im Denken und Handeln eines mit allgemeinen Normen arbeitenden Subjekts, in einer „Einheit der Synthesis“,55 die auf die gleiche Weise die Einheit des moralischen Kosmos garantierte wie Newtons Bewegungsgesetz die der natürlichen Ordnung der Dinge.

49 Die kantische Rechtslehre ergänzte den kategorischen Imperativ der praktischen Philosophie um das Rechtsgesetz. Das Rechtsgesetz war ebenfalls durch das formale Prinzip der Allgemeinheit bestimmt, und nicht etwa Produkt einer bloß statistischen, aus praktischen Erfahrungen abgeleiteten Regelmäßigkeit. „Eine bloß empirische Rechtslehre ist (wie der hölzerne Kopf in Phädrus’ Fabel) ein Kopf, der schön sein mag, nur schade! daß er kein Gehirn hat.“56 Praktische Philosophie und Rechtslehre hatten bei Kant allerdings verschiedene Anwendungsfelder, auch wenn die Differenz zwischen Moral und Recht nicht immer durchsichtig und in der Kant-Interpretation dementsprechend umstritten ist.57 Das allgemeine Gesetz der Rechtslehre legte die Kompati50 51 52

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Vgl. Waldenfels (Fn. 44), 59 Fn. 22; Ladeur (Fn. 31), 12 Fn. 37, 95 Fn. 644. Simon (Fn. 46), 167. H. Krämer, Integrative Ethik, 1992, 95, unterscheidet Kants universale Regelmäßigkeit strikt nomologischer, deterministischer Art von einer generell-typologischen, stochastisch-probalistischen Regelmäßigkeit statistischer Geltung, wie sie die ältere Strebens- und Klugheitsethik bis hin zu Vico etwa in Konzepten der phronesis und prudentia gekannt habe. Simon (Fn. 46), 165f. Simon, ebd., 165. Simon (Fn. 35), 281; Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 43. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. 8, 1977, AB 31, 32. Die Unterschiede betonend Simon (Fn. 46), 171, 176 Fn. 28, 194ff., 380ff.; eher den Zusammenhang von praktischer Philosophie und Rechtslehre betonend z. B. R. Dreier, Recht-Moral-Ideologie, 1981,

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II. Allgemeinheit des Gesetzes

bilität verschiedener Handlungsarten apodiktisch mit Hilfe „äußeren“ Zwanges fest, während das moralische Gesetz der Ethik an den „innerlichen“ Imperativ des eigenen („deines“) Willens appellierte.58 Damit verschärfte Kant die sich schon bei Hobbes und Christian Thomasius anbahnende Differenzierung von Recht und Moral nach dem Kriterium unterschiedlich ausgeformter Aussichten auf Normdurchsetzung. Einerseits koppelte er den Imperativ der Rechtsnorm an die „äußere“, staatlich sanktionierte Gewalt.59 Andererseits konnten verbindliche „innerliche“ moralische Regeln für Kant nur über Verallgemeinerungsfähigkeit erreicht werden, und diese abstrakte Regelhaftigkeit galt für Kant – zumindest indirekt – auch als Maßstab für das auf die Bindung des „äußeren“ Verhaltens zielende Recht. Kants Verknüpfung von Gesetz und Zwangsgewalt ist nicht nur im Hinblick auf die darin zum Ausdruck kommende Staatsfixierung problematisch, sondern auch mit Kants eigenem Freiheitsbegriff nur schwer vereinbar. Der Widerspruch wurde bei Kant allerdings dadurch entschärft, dass ein „allgemeines Gesetz der Freiheit“ zumindest als Voraussetzung und Richtschnur aller Rechtsgesetze auch für die Rechtslehre als „Inbegriff der Bedingungen“ erhalten blieb, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen ... vereinigt werden kann“.60 Der kantische Freiheitsbegriff machte sich mit anderen Worten über das allgemeine Gesetz, d. h. über die Form des Gesetzes geltend, an die auch der Souverän, das hieß zu Kants Zeiten: der König, gebunden war. Das machte nicht zuletzt den Charakter des Gesetzes als „Gabe“ aus, der sich das Subjekt auch als souveränes nicht entziehen konnte.

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Hegel kritisierte in der Rechtsphilosophie von 1821 erneut den bloß formalen Charakter dieser kantischen Konstruktion. Aber damit wollte Hegel nicht hinter das (Vernunft-)Prinzip der Allgemeinheit zurückgehen, zumal etwas als Allgemeinheit zu setzen, für Hegel mit dem Begriff des Denkens deckungsgleich war.61 Eher sollte die formale Allgemeinheit des kantischen Gesetzes mit den konkreten Formen und Strukturen des „sittlichen Lebens“ vermittelt werden.62 Bei Hegel mutierte das allgemeine Gesetz deshalb zu einem objektiven Geist der „bestimmten Allgemeinheit“, der sein (paradoxes) Ziel in „konkreter Freiheit“ hatte, einem sittlichen Leben unter Einschluss „der vollen Freiheit der Besonderheit und dem Wohlergehen der Individuen“.63 Diese „wahrhafte Bestimmtheit“ der Gesetzesform, die das Abstrakte und Leere des kantischen Gesetzes hinter sich lassen wollte, musste nach Hegel in einem systematischen (nationalen) Gesetzbuch zum Ausdruck gebracht werden, das sich damit zugleich von bloßen Rechtssammlungen abheben sollte, insbesondere von der „ungeheure(n) Verwirrung“ des Common law und der bloßen „Sammlung von Dezisionen“ im römischen Corpus iuris.64 Hegel war also Anhänger einer umfassenden systematischen Kodifikation mit einer Verfassung als höchstem Punkt der Rechtsordnung, wie es die Amerikaner und Franzosen in ihren jeweiligen Revolutionen bereits im späten 18. Jahrhundert vorgemacht hatten, wie sie aber in Deutschland noch lange umstritten blieb.

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286ff.; W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1996, 183ff.; I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, 271ff. Vgl. Simon (Fn. 46), 380. Darin manifestierte sich schon bei Kant eine – später etwa auch bei H. Kelsen sichtbar werdende – Staatsfixierung der Rechtslehre. Vgl. nur Kelsen (Fn. 25), 31ff., 34 (Das Recht: Eine Zwangsordnung), 60ff., 64 (Moral als positive Ordnung ohne Zwangscharakter). Kant (Fn. 56), A 33. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), Werkausgabe Bd. 7, 1970, §§ 13, 21. Dazu einflussreich J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, insb. 281ff. Hegel (Fn. 61), § 260 Zusatz. Hegel, ebd., § 211.

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§ 2. Normen 2. Anwendung des Gesetzes

51 Für die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts kam der Allgemeinheit des Gesetzes eine Bedeutung zu, die derjenigen in der praktischen Philosophie und Rechtslehre Kants durchaus vergleichbar war. Auch wenn Autoren wie Savigny, Puchta, Gerber, Windscheid und Laband Recht und Moral scharf voneinander trennten, so stimmten sie mit der praktischen Philosophie Kants doch darin überein, dass das moderne Recht eine die individuelle Willkür übersteigende Form der Regelhaftigkeit zum Ausdruck bringen musste, eine Bestimmtheit und Abstraktheit, die es der Rechtsnorm ermöglichte, sich in eine zu ihrem laufenden praktischen Gebrauch unterscheidbare Position zu bringen. Das ging weit über die spätere rechtstechnische Unterscheidung von allgemeinem Gesetz vs. Einzelfallanordnung (Maßnahmegesetz) hinaus (vgl. Rn. 149ff.). Nur mit Hilfe der Idee einer zeitunabhängigen Allgemeinheit des Gesetzes konnte der Gebrauch des Gesetzes von der Existenz des Gesetzes unterschieden werden, nur dann war Rechtspflege, in Hegels Worten, „Anwendung auf das Besondere“ bzw. „Anwendbarkeit auf den einzelnen Fall“.65 Erst die Allgemeinheit des Gesetzes sicherte die Überordnung des Gesetzes über den Fall, und der staatsrechtliche Positivismus sprach deshalb später zu Recht von der „Subsumtion eines gegebenen Tatbestandes unter das geltende Recht“.66 Anwendung und Subsumtion veränderten nicht den Informationsgehalt des allgemeinen Gesetzes, so wenig wie das Experiment in der Mechanik das allgemeine Gesetz beeinflussen oder gar verändern konnte. Im Gegenteil: Die zeitabstrakte Allgemeinheit des Rechtsgesetzes war der Garant dafür, dass eine einzige Rechtswahrheit in jedem neuen Fall erneut zur Geltung gebracht werden konnte. 52 Die Annahme, dass sich Rechtsnormen, sofern sie nur allgemein genug formuliert sind, gegenüber den Fällen ihres Gebrauchs mehr oder weniger vollständig isolieren lassen, bestimmte die Rechtstheorie bis in die jüngste Zeit. Noch Kelsen zog eine ausdrückliche Parallele zwischen dem Verhältnis von naturwissenschaftlichem Gesetz und konkretem Experiment auf der einen Seite und der Beziehung von allgemeinem Rechtsgesetz und Einzelfall auf der anderen Seite und übersetzte diese Unterscheidung in die Unterscheidung von „generellen“ und „individuellen Rechtsnormen“.67 Individuelle Normen gingen nach Kelsen aus Rechtsgeschäften, administrativen Anordnungen oder richterlichen Einzelfallentscheidungen hervor. Sie waren am unteren Ende eines als hierarchisch zu denkenden Systemzusammenhangs, dem von Kelsen später so genannten „Stufenbau der Rechtsordnung“,68 angeordnet. Zwar kommunizierten die verschiedenen Normstufen innerhalb des nach Kelsen dynamisch zu denkenden Rechtserzeugungsprozesses miteinander. Trotz der Zurückweisung aller allzu simplen Modelle logischer Deduktion69 rührte Kelsen aber ebensowenig an der Vorstellung einer Steuerung der rangniederen durch die ranghöhere Ebene wie an dem Gedanken 65

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Hegel, ebd., § 214. Die gleiche Logik der Rechtsanwendung hatte vor Hegel bereits Kant (Fn. 56, A 166), zum Ausdruck gebracht, wenn er im Staatsrecht die Gewaltenteilung mit den drei Sätzen in einem „praktischen Vernunftschluß“ verglich: Danach enthielt das Gesetz einen Obersatz, nach dessen Willen die Verwaltung subsumierend im Modus des Untersatzes verfuhr, während die rechtsprechende Gewalt den „Schlußsatz“ artikulierte. P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178. Vgl. nur Kelsen (Fn. 25), 85, vgl. auch 20, 121 u. ö. in jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen. Kelsen, ebd., 228ff. Kelsen, ebd., 346ff., 350f.

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III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn)

eines logisch-genealogischen Vorrangs der generellen gegenüber der individuellen Norm. Die generelle Rechtsnorm definierte zwar nicht vollständig, aber doch rahmenförmig den Prozess der Erzeugung individueller Normen. Auch bei Kelsen sicherte letztlich die generelle Rechtsnorm die zeitstabile Einheit des Systems, so wie die Allgemeinheit des moralischen Gesetzes und seine Verankerung in einer Einheit der Synthesis die Einheit der praktischen Philosophie Kants gewährleistet hatte. Soweit die juristische Methodenlehre noch heute dem Anwendungs- und Subsumtions- 53 modell folgt (vgl. Rn. 194), teilt sie ebenfalls die Vorstellung, dass der generelle Rechtssatz unabhängig von seinem je konkreten Gebrauch bestimmt werden kann. Die Methodenlehre hat zwar schon immer anerkannt, dass jeder Fall anders ist, aber diese Andersheit wird hier eher wie eine kaum erkennbare, kaum sichtbare Mikrovariation einer an sich stabilen Regel gedacht. Regel und Regelgebrauch sind jedenfalls auf zwei strikt voneinander zu trennenden Ebenen angesiedelt. Damit verbindet sich in der juristischen Methodenlehre vielfach die Vorstellung, dass Sachverhalte dem allgemeinen Gesetz lediglich untergeordnet werden, wobei diese Operation wie der Programmablauf eines Automaten kontextunabhängig in der immer gleichen Weise vollzogen werden kann. Hat jemand die teure Haut Couture des vor ihm sitzenden Models mit Johannisbeersaft bespritzt, ist er zum Schadensersatz verpflichtet (§ 823 Abs. 1 BGB). Das Gleiche gilt, wenn jemand einen Ferrari 250 GT Berlinetta mit seinem Honda Civic beschädigt. Diese logische Konsequenz der Subsumtion als Verfahren der Normerzeugung, die maschinenmäßige Anwendung allgemeiner Regeln auf den einzelnen Fall, wird etwa auch bei Karl Larenz akzentuiert. Larenz spricht von einem „Schema der Gesetzesanwendung“, einem logischen Gerüst, in dem sich die Rechtsfolge aus einem „Syllogismus“ ergebe, der sich aus den Komponenten von Obersatz (Rechtsnorm), Untersatz (Sachverhalt/Fall) und Schlussfolgerung zusammensetze.70 Es gibt dann grundsätzlich nur eine richtige Lösung, nur eine, wenn oft auch nur schwer zu ermittelnde Rechtswahrheit.71 III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn) Die Vorstellung, dass Rechtsnormen einem Kosmos zeitentrückter Allgemeinheit an- 54 gehören und deshalb unabhängig von der Praxis ihres Gebrauchs und der sich daraus ergebenden Anwendungsgeschichte gedacht werden könnten, wird im 20. Jahrhundert durch Erkenntnisse der Sprachphilosophie und Linguistik herausgefordert. Das Sprachdenken des 20. Jahrhunderts, und insbesondere die pragmatische Wende des linguistic turn, lösen die konstitutiven Leistungen des neuzeitlichen Subjekts, wie es bei Hobbes als Souverän oder bei Kant als Vernunftgesetz gedacht wurde, ab und setzen an dessen Stelle die welterschließende Funktion der Sprache.72 Das Sprachdenken übernimmt jetzt eine Art „Letztbegründungsfunktion“, es mutiert zu einer neuen Form von „prima philosophia“ (erster Philosophie), etwa in Wittgensteins Begriff des 70 71

72

Larenz (Fn. 1), 271ff.; vgl. auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 125, 126. Formulierung in Anlehnung an J. Esser, Juristisches Argumentieren im Wandel des Rechtsfindungskonzepts unseres Jahrhunderts, 1979, 7. Vgl. dazu allg. R. Rorty, Der Spiegel der Natur, 1981, 152f. Fn. 4, 288ff. mit der Bemerkung, dass gerade für das kantische Projekt einer Transzendentalphilosophie der Unterschied „mentaler Vorstellungen“ und „sprachlicher Darstellungen“ relativ unwichtig gewesen sei. Zu Kants Vernachlässigung der Sprachbezogenheit allen Denkens vgl. auch Simon (Fn. 46), 559.

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§ 2. Normen

„Sprachspiels“ oder in Gadamers Hermeneutik der Sprache als dialogischem Prozess.73 Diese Sprachfundierung, die außerordentliche Rolle, die die Sprache für das Denken spielt, kennzeichnet auch Habermas’ kommunikative Vernunft, Luhmanns Systemtheorie, Derridas Schriftkritik oder die verschiedenen Varianten der amerikanischen und europäischen Medientheorie (Ong, Havelock, Kittler, Goodman, Krämer, Stetter etc.), die die Einsichten des neueren Sprachdenkens um eine genauere Analyse der medialen Verfasstheit des Sprachgebrauchs zu ergänzen versuchen. 55 Die Sprachwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts startete zunächst auf der Grundlage einer Zwei-Welten-Lehre, die in mancher Hinsicht durchaus noch Ähnlichkeiten mit der Architektur der praktischen Philosophie Kants aufwies. Vor allem die Linguistik Ferdinand de Saussures unterschied strikt zwischen Sprache (langue) und Sprechen (parole). Saussure löste die Sprache außerdem von ihren natürlichen Bedingungen wie Laut, Stimme oder Handschrift und erklärte sie als reines Zeichensystem zum eigentlichen Gebiet der linguistischen Analyse.74 Dadurch konnte die langue – wie Kants Allgemeinheit des Gesetzes – als Form gedacht und im Unterschied zur parole, der je konkreten Rede, in einer Sphäre zeitstabiler Idealität angesiedelt werden. Schon bei Saussure wurde das Sprachsystem aber nicht mehr in einem letzten Prinzip verankert, sondern in einer Differenz, der radikalen Arbitrarität des Zeichens.75 Hatte die aristotelisch-platonische Tradition den Halt der Sprache immer in der natürlichen Ordnung der Dinge gesucht, in einer Ordnung, die das Zeichen dem Gedanken des Seins untergeordnet hatte,76 ersetzt Saussure die alte verba/res-Unterscheidung, die Vorstellung von Sprache als Repräsentation der Dinge, durch eine rein sprachinterne Unterscheidung, in der das sprachliche Zeichen (signe linguistique) als Einheit einer rein zeicheninternen Unterscheidung fungiert, der Unterscheidung von Bezeichnendem (signifiant) und Bezeichnetem (signifié). Bezeichnungen, Namen, sind das, was sie bedeuten, nicht von Natur aus, sondern auf Grund willkürlicher (arbiträrer) Festsetzungen. Sprache ist kein Abbild der Realität, sie repräsentiert nicht die Wirklichkeit als solche, sondern ist selbst eine eigenständige „differentielle Ordnung des Symbolischen“.77 56 Die Einsicht in die Eigenständigkeit der Sprache wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgeschrieben, aber zugleich wird Saussures hierarchische Abschichtung von langue und parole aufgegeben. Linguistik und Sprachphilosophie rücken umso mehr vom hierarchischen Modell der saussureschen Linguistik ab, je mehr die Bedeutung der Handlungsdimension der Sprache erschlossen wird. Die Zwei-Welten-Lehre Saussures verschiebt sich zugunsten einer performativen und pragmatischen Ausrichtung des Sprachdenkens, von der schon die Sprachlehre Wilhelm v. Humboldts getragen war. Die Theorie der Sprache wird durch eine Theorie des Sprechaktes bzw. der Kommunikation ergänzt und ersetzt. In diesem Übergang zu pragmatischen, 73

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Wittgenstein (Fn. 6), 7 („Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das ‚Sprachspiel‘ nennen.“). Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 119; S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 2001, 20 (mit dem Saussure-Zitat: „Die Sprache bildet ein System von Zeichen.“). Vgl. dazu Stetter (Fn. 74), 145ff. (mit dem Saussure-Zitat: „Le signe linguistique est arbitraire.“). Simon (Fn. 35), 9; vgl. auch die abweichende Interpretation von Aristoteles, Peri hermeneias, 16a, bei Stetter (Fn. 74), 300ff. Ausdruck bei K.-H. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1992, 30. Symbolisch hier verstanden als Zeichen, Bedeutung, Sinn, nicht im Sinne des traditionellen, religiös-sakralen Sprachgebrauchs, in dem das Symbol mit dem Symbolisierten identisch ist, wie z. B. im Fall von Jesus Christus/Gott.

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III. Neuere Sprachphilosophie (linguistic turn)

performativen und kommunikationstheoretischen Sprachkonzepten wird der Akzent von der Beschreibung der Sprache als einem von seinem Gebrauch unabhängigen Zeichen- und Regelsystem auf die Beschreibung der Möglichkeit der Wiederholung und des Stabilhaltens von grammatischen und syntaktischen Regeln in der historischen Sprachpraxis verrückt. Damit entfällt sowohl die Annahme einer ontologischen oder erkenntnistheoretisch begründeten Verschiedenheit von Sprache als Zeichen- und Regelsystem einerseits und Sprechen als Regelanwendung andererseits als auch die Annahme eines logisch-genealogischen Vorrangs der langue gegenüber der parole, zuerst bei Wittgenstein, später bei Austin, Derrida, Davidson und Luhmann, um nur einige Autoren zu nennen.78 An die Stelle des reinen Sprachsystems tritt jetzt die Vorstellung der Einbettung der Sprache und ihrer Regelhaftigkeiten in die laufende Wiederholung und Selbsterneuerung von Regeln durch die Sprachpraxis bzw. durch das, was Humboldt die „verbundene Rede“ genannt hat.79 Dieser Eintritt der Sprache in die Irreversibilität der Zeit eröffnet dem Sprachdenken 57 des 20. Jahrhunderts einen schärferen Blick auf das Phänomen sprachlicher Formen und Regeln. Das lässt sich besonders gut an Wittgensteins Phänomenologie des Regelbegriffs belegen, die als solche eng mit dem so genannten Privatsprachenargument verbunden ist.80 Die Phänomenologie des Regelbegriffs folgt in ihrem Ansatz dem traditionellen Verständnis dessen, was eine Regel oder Norm auch für Juristen ausmacht. Eine Regel setzt ihre mehrfache Anwendung voraus, denn es „kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein.“81 Das einzige Mal wäre gerade der Fall, das Ereignis, die zeitpunktbezogene Operation, also genau das Gegenteil dessen, was man eine Regel nennt. Wittgensteins Regelbegriff ist darüber hinaus auch insofern recht konventionell angelegt, als er den Gebrauch einer Regel im Sinne eines „Folgens“ interpretiert und das Der-Regel-Folgen insbesondere mit der Befolgung eines „Befehls“ gleichsetzt. „Einer Regel folgen, das ist analog dem: einen Befehl befolgen.“82 Ähnlich wie Hobbes, der Rechtsgesetze als Command definiert hatte, und nicht anders als Kant, für den das moralische Gesetz ebenfalls in Form eines Imperativs gebaut war, erschließt sich das Phänomen der Regel auch für Wittgenstein über die Satzform des Befehls bzw. dem Befolgen einer Regel. Dies hängt bei Wittgenstein aber nicht mit einer Fixierung auf den Staat zusammen, sondern mit einer vorreflexiven Sprachauffassung.83 Diese verankert die Sprache in quasi-habituellen Praktiken, im „Benehmen“, in eingeübten und eingeschliffenen Handlungsweisen, nicht aber in der Reflexion oder Intention, im Denken oder Willen. „So denken wir. So handeln wir. So reden wir.“84 Dieses „So“ bringt Wittgensteins Bestreben, die Sprache und ihr Regelsystem als das Hinzunehmende und Gegebene der jeweiligen Sprachpraxis oder „Lebensform“ hervortreten zu lassen, vielleicht am besten zum Ausdruck.85 78

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Vgl. den Überblick bei Krämer (Fn. 74), 96, 109ff.; M. Sandbothe, Pragmatische Medienphilosophie, 2001, 63ff. Stetter (Fn. 74), 417ff. Wittgenstein (Fn. 6), §§ 197ff.; dazu Stetter (Fn. 74), 571ff.; ders. (Fn. 6), 172ff.; siehe auch Krämer (Fn. 74), 109ff. Wittgenstein (Fn. 6), § 201. Wittgenstein, ebd., § 206. Krämer (Fn. 74), 133, spricht von einem „naturalistischen Kulturalismus“, vgl. auch 119f. Wittgenstein, Zettel, § 309, hier zitiert nach Krämer (Fn. 74), 134. In teilweise wörtlicher Anlehnung an Krämer, ebd.; zu diesem Komplex auch instruktiv B. van Roermund, Legal Thought and Philosophy, 2013, 241ff.

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§ 2. Normen

58 Wittgenstein ergänzt diese beiden eher konventionellen Ausgangsannahmen um zwei weitere Beobachtungen, die alles andere als konventionell sind. Einmal zeigt Wittgenstein, dass jede sprachliche Regel unhintergehbar praxisgebunden ist. Denn einer Regel zu folgen erschöpft sich gerade nicht in einem „Deuten“ der Regel, also etwa in der passenden Interpretation des Wortes „Sache“ in § 242 StGB, wenn der Täter nicht Brötchen, sondern Erdgas entwendet hat. Eine Norm zu deuten, heißt für Wittgenstein, „daß wir in einem Gedankengang Deutung hinter Deutung setzen“, d. h. „einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen“,86 uns also auf den Modus einer unabschließbar selbstreferentiellen Handlungsweise des Deutens einlassen. Der-Regel-Folgen ist aber nicht einfach Ersetzung einer Regelbeschreibung durch eine andere Regelbeschreibung, sondern gerade ein anderer Typus von Handlung als Beschreibung, eine andere Auffassung von Regel, „die nicht eine Deutung ist“.87 Diese andere Auffassung nennt Wittgenstein „Handeln nach der Regel“, die sich „in dem äußert, was wir ‚der Regel folgen‘, und was wir ‚ihr entgegenhandeln‘ nennen.“88 Darum ist Der-Regel-Folgen für Wittgenstein eine „Praxis“.89 Es ist also kein transzendentallogisches oder sonstiges Subjekt, das die Einheit eines Zeichen- und Regelsystem tragen und gewährleisten könnte, sondern nur die Praxis selbst, die praktische Wiederholung von Regeln, durch die eine Übereinstimmung in der Anwendung von Fall zu Fall, also ein Gleichklang im Gebrauch von Regeln erzielt werden kann. Regelmäßigkeit ist das Produkt von Praxis, nicht aber umgekehrt ist Praxis ein Derivat von Regeln.90 59 Der Begriff der „Praxis“ leitet zu der anderen Beobachtung über, die Wittgenstein in seiner Phänomenologie des Regelbegriffs macht. Die Praxis der Regelbefolgung kann nur als soziale Praxis begriffen werden. Nur eine Kommunikationsgemeinschaft, die den Gebrauch einer Sprache pflegt, nur eine öffentliche Sprache, kann überhaupt eine Gleichheit des Regelgebrauchs (und der Bedeutungen der Worte und Namen) hervorbringen. Das Der-Regel-Folgen kann zwar mit der Wirkungsweise bzw. dem Programm einer Maschine verglichen werden, doch ist die sprachliche Regel gerade kein Programm, das „abgearbeitet“ oder „durchlaufen“ werden könnte. Die Zeichen der Sprache, denen wir folgen, sind auch für Wittgenstein arbiträre Zeichen, die in Worten und Sätzen organisiert werden. Dass man den grammatikalischen Regeln der Sprache folgt, ist – entgegen einer durch Noam Chomsky populär gewordenen Ansicht, der so genannten Universalgrammatik – nicht Teil angeborenen Verhaltens, sondern in Lernprozessen, durch „Abrichtung“ in einer Gemeinschaft erworbenes Können. Daher nennt Wittgenstein es eine „Gepflogenheit“,91 wenn man der Regel folgt, und bringt Gepflogenheiten in einen engen Zusammenhang mit Gebräuchen und Institutionen. Die Verknüpfung von Regelgebrauch und gesellschaftlichen Konventionen wird dann im Privatsprachenargument weiter vertieft: Der-Regel-Folgen 86 87 88 89

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Wittgenstein (Fn. 6), § 201. Wittgenstein, ebd. Wittgenstein, ebd. Wittgenstein, ebd., § 202; vgl. dazu auch H. Kerger, Zum Verhältnis von Norm und Regel bei Nietzsche, Wittgenstein und Ihering, 2003, 189ff., 205, 209f. Vgl. auch K.-H. Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung in kognitivistischer Perspektive, ARSP 77 (1991), 176ff., 188f. („Wittgenstein betont eher die Notwendigkeit, den Gebrauch zu beobachten, gerade weil die ‚Sprachspiele‘ unendliche, zeitabhängig sich konkretisierende und ändernde Möglichkeiten präsentieren, die sich der sicheren Beherrschung entziehen.“). Wittgenstein (Fn. 6), § 199.

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IV. Pragmatisches Regelverständnis

kann nicht auf subjektiver (privater) Ebene entschieden werden. Denn es ist möglich und kommt häufig vor, dass jemand in seinem Handeln gegen Gepflogenheiten verstößt und zugleich doch subjektiv der Meinung ist, sich regelkonform verhalten zu haben. Der-Regel-Folgen setzt eine gesellschaftliche Praxis voraus, die entsprechende Vorbereitungen für die private Aneignung von Regeln bereitstellt. Man kann nicht nur als Einzelner „privatim“ einer Regel folgen, „weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen.“92 IV. Pragmatisches Regelverständnis Akzeptiert man die Einsichten des neueren Sprachdenkens und insbesondere die prag- 60 matische Wende des linguistic turn, muss die Rechtstheorie ihre Festlegung auf ein normatives Regelverständnis überdenken, d. h. die Festlegung auf ein Regelverständnis, in dem dem Sinn einer Regel unabhängig von ihrem praktischen Gebrauch und den sie ermöglichenden Medien Normativität und Bindunskraft zugeschrieben wird. Nicht nur als Alltagsnormen, auch als explizite Rechtssätze sind Regeln Teil einer Sprachpraxis. Die normative Qualität von expliziten Rechtsnormen ist heute nicht zuletzt in den Praxisformen juristischer Expertisen und ihren kognitiven und medialen Infrastrukturen verankert (der wissenschaftlichen Publikation, dem Schriftsatz vor Gericht, den Gutachten usw.), und als explizite Rechtssätze weisen Rechtsnormen schon auf Grund ihrer Sprachlichkeit keine andere Substanz und Qualität als andere explizite Regeln auf.93 Dass Rechtsnormen, wie es bei Kelsen heißt, objektiven und nicht nur subjektiven Sinn zur Geltung bringen und dass alle „Rechtserkenntnis“ schon eine „rechtliche Selbstdeutung des Materials“ vorfindet,94 ist völlig zutreffend. Die rechtliche Selbstdeutung des Materials ist jedoch stets das Ergebnis operativen Sprach- und Mediengebrauchs, empirisch zu beobachtender Kommunikation, nicht aber ist die Normativität von Rechtsnormen in einer „unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben (en)“ Unterscheidung von Sein und Sollen verankert.95 Normen sind emergente Phänomene, ihre Explikation und Verfeinerung durch Juristenrecht ist nur auf der Grundlage ihrer (vorreflexiven) Verankerung in der Umgangssprache und ihren communities of practice möglich. Es wäre also zu erwägen, den juristischen Normbegriff aus der Tradition des abstrakt 61 normativen Regelverständnisses herauszulösen und in einem post-normativen, „praxeologische(n) Regelverständnis“ neu zu verankern.96 Das abstrakt normative Regelverständnis ist zu sehr auf statische Vorstellungen von Regelmäßigkeit fixiert, wie sie in der alteuropäischen Tradition von norma, regula und kanon bis heute tradiert werden und in der Vergangenheit etwa die deterministische Art der universalen Gesetzmäßigkeit der praktischen Philosophie Kants und ihrer neukantischen Nachfolger bestimmt hat. Diese Tradition legt es nahe, Recht auf Normen im Sinne vor-schreibender, zeitstabiler, den Anspruch auf „Maßgeblichkeit“ im Sinne eines Richtmaßes 92 93

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Wittgenstein, ebd., § 202, vgl. auch § 258; zu beiden Paragraphen Stetter (Fn. 6), 174f. Luhmann (Fn. 7), 49 („Eine Beschreibung des Rechtssystems kann deshalb nicht davon ausgehen, daß Normen ... von anderer Substanz und Qualität sind als Kommunikationen.“). Kelsen (Fn. 25), 3. Kelsen, ebd., 5 Fn. 1 [Hervorhebung von mir, T. V.]. Begriff bei Krämer (Fn. 74), 130.

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§ 2. Normen

in sich tragender Formen zu reduzieren.97 Dominant bleibt hier die auch von Kant so geschätzte gerade/krumm-Metaphorik, Worte wie „Maßstab“, „Richtlinie“ und „Richtschnur“, der Rekurs auf Instrumente der Baukunst, von dem das griechische Wort kanon und sein semitisches Lehnwort qaneh letztlich abgeleitet sind; bezeichnete das Wort qanu doch bereits in der babylonisch/assyrischen Sprache eine Rohrart (arundo donax), die zur Herstellung gerader Stangen und Stäbe geeignet war.98 Rechtsnormen bilden sich in der modernen (liberalen) Gesellschaft, die auf dauernden Wandel angelegt ist, aber erst im Vollzug eines „Sprachspiels“, also erst durch eine erfolgreiche Rechtspraxis, „in der Handlungen und Urteile erprobt und in ihrem Zusammenhang beobachtet werden“.99 62 Regel und Regelgebrauch fallen auch in einem praxeologischen oder pragmatischen Regelverständnis nicht zusammen. Sie sind jedoch netzwerkartig miteinander verknüpft und werden durch ihre vorherige und spätere Praxis getragen. Sie bilden zwei Seiten einer Form, in der die Rechtsnorm sowohl Produkt wie Voraussetzung ihres Gebrauchs ist. Kybernetisch formuliert: Der Normgebrauch, das Benutzen und Zitieren einer Norm, generiert eine Rückkopplungsschleife, die eine Pfadabhängigkeit zur Folge hat (herrschende Meinung), bis zu dem Punkt, an dem die herrschende Meinung neue Anschlussmöglichkeiten eröffnet und damit Variationen vom bisherigen Ordnungsmuster möglich werden. Regeln ändern sich im Vollzug ihrer Praxis laufend selbst, ohne einfach Unordnung zu erzeugen. Damit wird vor allem der Primat der Rechtsnorm gegenüber ihrem Gebrauch aufgegeben, die Vorstellung voneinander zu trennender Stufen oder Ebenen des Rechts, in der die Anwendung und Interpretation von Rechtsnormen stets nachrangige oder mit innerer Notwendigkeit folgende syllogistische Schlusshandlungen sind (vgl. Rn. 194). 63 Halt könnte das pragmatische Regelverständnis u. a. am Auftreten neuer Formen der Prozeduralisierung und rekursiven Vernetzung des Rechts finden. Die Probleme, auf die beispielsweise die neuen Schichten des Verwaltungsrechts reagieren, sind in hohem Maße Probleme des Umgangs mit Phänomenen der Ungewissheit.100 Diese Probleme versucht das Verwaltungsrecht aber nicht durch eine an zeitstabilen Maßstäben orientierte Gesetzgebung zu bewältigen, sondern gerade durch Flexibilisierung solcher Maßstäbe. Gemeint sind vor allem neue experimentelle Formen eines Lernprozesse arrangierenden Rechts, Formen der laufenden kybernetischen „Nachsteuerung“, rückkoppelnde Verfahren der Lektüre der Praxistauglichkeit von Recht, wie man sie etwa im Technikrecht oder in der Risikoregulierung findet. Dazu treten horizontale Organisations- und Verfahrensarrangements, in denen Prozesse wechselseitiger Fremd- und Selbstbeobachtung institutionalisiert werden, wie z. B. im Fall der Preisregulierung in der Telekommunikation (§§ 10ff. TKG – europäischer Regulierungsverbund). Dieser Entwicklungssprung führt gerade im Bereich der politischen Gesetzgebung weg „von juristischer Deduktion anhand relativ statischer Normprogramme hin zu einem Ge97

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So z. B. Larenz (Fn. 1), 190 („Maßstab“); ähnlich G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 45 („... Rechtsnormen in ihrer Urgestalt die Natur von Maßstäben haben, an denen das Zusammenleben der Einzelnen gemessen wird“). J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, 107; zur Begriffgeschichte von kanon, regula, norma vgl. auch H. Oppel, KANWN, Philologus 4 (1937). Ladeur (Fn. 31), 2. Vgl. etwa W. Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, 2012, Rn. 113; und die Beiträge in I. Augsberg (Hrsg.), Ungewißheit als Chance, 2009.

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IV. Pragmatisches Regelverständnis

setzestyp, der auf die Verarbeitung von Ungewissheit angelegt ist und Selbstbeobachtung und -evaluation eines offenen Normprogramms institutionalisiert. Die ursprüngliche, auf Gewissheit im Entscheidungszeitpunkt angelegte Gesetzeskonzeption, entwickelt sich zunehmend zur flexiblen rechtlichen Plattform.“101 Anstatt die Produktivität der Rechtstheorie durch einen Sollens-Normativismus zu 64 blockieren, der sich stets nur historisch, bei Kant oder Kelsen, zu vergewissern weiß, muss sich die Rechtstheorie darauf einstellen, dass das moderne Recht nur in eingeschränktem Umfang mit Befehlen und Konditionalprogrammen operiert. Eine ausschließliche Verknüpfung von Rechtsnorm, Rechtsbefehl und Konditionalschema hat es vermutlich nie gegeben, jedenfalls ist sie längst zugunsten flexiblerer Formen der Gesetzgebung und Regulierung relativiert worden, in denen nicht mehr Befehl und Zwang, sondern andere Ressourcen der „Verhaltensregulierung“ in den Vordergrund gerückt sind. Hier kann man auch an die neuere – im Staats- und Verwaltungsrecht geführte – steuerungstheoretische Diskussion anschließen. Diese bleibt zwar einer allzu engen Steuerungsperspektive verhaftet, die sich bis heute nur punktuell von der tradierten Vorstellung der Gesetzesanwendung gelöst hat,102 sie hat aber gezeigt, dass neben die vertrauten Formen des verwaltungsförmigen Gesetzesvollzugs beispielsweise Verfahren regulierter Selbstregulierung getreten sind, „‚indirekte‘ Steuerungsformen, wie etwa das Setzen ökonomischer Anreize oder die Beeinflussung von Handlungskontexten durch Rahmenvorgaben und Spielregeln“.103 Um diese Veränderungen angemessen verarbeiten zu können, ist es nicht zuletzt notwendig, die Gerichtszentrierung der Normentheorie zu relativieren, d. h. ihre ausschließliche Ausrichtung auf das Tätigkeitsfeld der Richterin oder des Richters. Diese Entwicklung legt es darüber hinaus nahe, nach Möglichkeiten einer stärkeren 65 Verknüpfung des Regelbegriffs mit „kognitiven Mechanismen der Wissenserzeugung“ zu suchen.104 Es wäre also zu erwägen, Rechtsnormen als einen Handlungstypus regelhafter Informationsverarbeitung unter Ungewissheitsbedingungen zu konzipieren. Im Begriff der Rechtsnorm wird Regelmäßigkeit (Redundanz) zunächst in Form eines hierarchisch abgeschichteten Wissens verankert, mit der Möglichkeit des wiederholten Abrufens/Anwendens einmal gespeicherter Informationen (Regelanwendungsmodell). Dagegen treten heute zunehmend konnexionistische Muster der Wissenserzeugung an die Stelle des alten Regelanwendungsmodells. Was auch im neuen kybernetischen Rückkopplungsmodell bleibt, ist die „Notwendigkeit der Bindung von Ungewissheit jenseits der Möglichkeit der Reproduktion einer Tradition“.105 Die Normentheorie muss aber in Zukunft auch darauf reagieren, dass diese Bindung nicht über zeitstabile Maßstäbe erreicht werden kann und das Normative der Rechtsnorm möglicherweise schon immer ein Effekt praktischen (impliziten) Wissens war, auch wenn erst die 101

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K.-H. Ladeur/T. Gostomzyk, Der Gesetzesvorbehalt im Gewährleistungsstaat, Die Verwaltung 36 (2003), 141ff., 166. Vgl. dazu etwa C. Franzius, Funktionen des Verwaltungsrechts im Steuerungsparadigma der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 39 (2006), 335ff., 343 („Jedoch sollten Setzung und Anwendung von Recht nicht im Sinne strikter Funktionsdifferenz verstanden werden.“). W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. 1, 2012, Vorwort zur ersten Auflage, IX; vgl. auch A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, 2012, § 1 Rn. 10ff. („Krise“ des Ordnungsrechts). Ladeur (Fn. 30 – Negative Freiheitsrechte), 12, vgl. auch 56ff. Ladeur (Fn. 31), Vorwort.

39 https://doi.org/10.17104/9783406746154-20 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 2. Normen

neuen Formen der Prozeduralisierung und „Recht-Fertigung“ (Wiethölter) des Rechts, die dynamische und nachbarschaftliche (rekursive) Vernetzung des Rechtssystems, diese kognitive Komponente in ihrer ganzen Bedeutung sichtbar gemacht haben. 66 Um auf die Herausforderungen der jüngeren Rechtsentwicklung (im Verwaltungsrecht, im Staatsrecht, im Europarecht, in Teilen des Zivilrechts etc.) adäquat reagieren zu können, wird es nicht genügen, auf einen funktionalen Normbegriff im Stil der Systemtheorie umzustellen. Luhmanns Unterscheidung von normativen und kognitiven Erwartungen kann man zwar insofern akzeptieren, als der Begriff der Rechtsnorm nicht über immanente Normqualitäten bestimmt werden kann, etwa über einen allgemeinen Wertbezug des Rechts zur Rechtsidee bzw. Gerechtigkeit, wie in der Rechtsphilosophie von Radbruch.106 Das Problem des funktionalen Normbegriffs der Systemtheorie bleibt aber sein Status als Gegenbegriff zur lernbereiten Kognition. Die Unterstellung, dass Recht nur und ausschließlich im Medium der „kontrafaktischen Enttäuschungsfestigkeit“ Ordnung erzeugen kann, ist wenig plausibel, wie schon der von Luhmann verwendete Begriff der „Erwartung“ selbst zeigt. Im Begriff der Erwartung schwingt eine Unbestimmbarkeit mit, die die Verknüpfung der Begriffe „Norm“ und „Erwartung“ zu „normativer Erwartung“ nicht als wirklich gelungene Formelbildung erscheinen lässt. Erwartungen, auch Erwartungen normativer Art, hat man letztlich gegenüber nahezu allem und jedem: dem Leben, der Qualität des Espresso, den man im Gilli (in Florenz) bestellt, der Formensprache eines Aston Martin, der neuen CD von Pat Metheny, den schulischen Leistungen der eigenen Kinder usw. Warum soll demgegenüber nur das Recht durch „kontrafaktische Enttäuschungsfestigkeit“ charakterisiert sein?

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Radbruch (Fn. 97), 34.

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§ 3. System I I. Einheit und Hierarchie des Rechts Rechtssystem nennt man im 19. Jahrhundert und teilweise noch heute eine nach Prinzi- 67 pien geordnete Ganzheit des Rechts, die zu „innere[r] Einheit“ gefügte, aus Rechtsnormen und Institutionen bestehenden Rechtsordnung.1 „Innere Einheit“meint dabei eine ganz spezifische Anordnung des Rechtsstoffes, nämlich die Relationierung aller Rechtsnormen und Institutionen nach höheren und niederen Rängen, mit einem höchsten Rang als Abschluss oder Spitze. Dieses hierarchische Modell hat sich gegenwärtig im Begriff der „Normenpyramide“ durchgesetzt; manchmal wird – in Anknüpfung an Kelsen – auch von „Stufen“ oder von einem „Stufenbau der Rechtsordnung“ gesprochen.2 Danach steht z. B. in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland „die Verfassung an der Spitze, ihr folgen das Gesetz, die Rechtsverordnung und die Satzung“.3 Dieses Schema ist als operative Prämisse auch in der Rechtspraxis präsent.4 Vor allem die Gerichte arbeiten bei ihren Entscheidungen mit einer hierarchischen Abschichtung von Rechtsnormen (Normenhierarchie) auch wenn das Hierarchieschema inzwischen an Leistungsgrenzen zu stoßen scheint, wie beispielsweise das nicht abschließend geklärte Verhältnis der Grundrechte des Grundgesetzes zu den Grundfreiheiten der Europäischen Union bzw. zu den Menschenrechten der EMRK zeigt.5 Woher kommt der Gedanke, dass das Recht ein nach Rängen oder Stufen geordnetes 68 Ganzes sei, ein hierarchisch gegliedertes „inneres“ System? Das juristische Systemdenken lässt sich am besten über den Kodifikationsgedanken bzw. das Kodifikationsrecht des 19. Jahrhunderts erschließen. Das Kodifikationsrecht des 19. Jahrhunderts strebte – vor dem Hintergrund der sich auf dem europäischen Kontinent bildenden Nationalstaaten – eine umfassende Neuordnung des „gesamten Rechts“ an. Dieser Prozess hatte in den modernen Verfassungsurkunden im Amerika und Frankreich des späten 18. Jahrhunderts einen ersten Vorläufer und realisierte sich erstmals in den großen Gesetzbüchern in der Folge der französischen Revolution von 1789,6 im Code civil (1804), Code de commerce (1806), Code de procédure civile (1807) und Code pénal (1810). Nach Ansicht Max Webers brachte Kontinentaleuropa damit ein drittes großes Weltrecht hervor, das Recht der „rationalen Gesetzgebung“.7 Vom Common law, 1

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Vgl. nur F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 433ff. (Dort heißt es mit Bezug auf die Pandektenwissenschaft: „Eine gegebene Rechtsordnung ist stets ein geschlossenes System von Institutionen und Rechtssätzen.“); für die heutige Sichtweise C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1969), 1983, 11ff., 13ff. („innere Einheit der Rechtsordnung als Grundlage des juristischen Systems“). H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 228ff. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 70f.; vgl. auch H. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, 2ff., 141ff. Vgl. G. Teubner, Des Königs viele Leiber, Soziale Systeme 2 (1996), 229ff., 234 Fn. 4. Vgl. dazu nur W. Hoffmann-Riem, Kohärenz der Anwendung europäischer und nationaler Grundrechte, EuGRZ 2002, 473ff. Zum Systemanspruch des modernen Verfassungsrechts vgl. nur D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, 31ff., 34f., 60 (Verfassungen erheben im Unterschied zu älteren vertraglichen Bindungen den Anspruch, „die Herrschaftsausübung umfassend zu normieren“). M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 496 (Im Code civil und den anderen Kodifikationen realisierte sich die Tatkraft einer „spezifischen Art von Rationalismus: des souveränen Bewußtseins“,

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§ 3. System I

das inkrementell aus der juristischen Praxis hervorgegangen war, und vom römischen Juristenrecht unterschied sich das Kodifikationsrecht nach Weber durch die in ihm zur Vollstufe gesteigerten „formalen Qualitäten“.8 Darunter verstand Weber eine systematische Bearbeitung des Rechtsstoffes: die Relationierung aller Rechtsbegriffe und Rechtsnormen derart, „daß sie untereinander ein logisch klares, in sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden“.9 69 Der Anspruch auf Widerspruchsfreiheit und Lückenlosigkeit, der den französischen Code civil seit dem frühen 19. Jahrhundert für ganz Europa zum Vorbild gemacht hatte,10 bestimmte auch die gesamtdeutsche Gesetzgebung seit der Reichsgründung von 1871, vor allem das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900 (BGB).11 Ja, noch deutlicher und reiner als der Code civil ist das BGB von der Idee einer abschließenden und erschöpfenden Aufzeichnung aller privatrechtlichen Normen und Institutionen geprägt. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass das BGB gemeinsame begriffliche Merkmale der Rechtsverhältnisse konsequent vor die Klammer zieht (so vor allem im 1. und 2. Buch) und diese gemeinsamen Merkmale der Rechtsverhältnisse als allgemeinen Teil den besonderen Regeln des Privatrechts vorordnet. Diese hierarchische Abschichtung von Allgemeinem und Besonderem wird im BGB zwar mit dem Nachteil erkauft, dass die Kohärenz der verschiedenen Bücher untereinander nicht immer klar ist; man denke nur an den Ausschluss der Irrtumsanfechtung nach § 119 Abs. 2 BGB durch die lex specialis des Kaufmängelrechts der §§ 434ff. BGB. Sehr viel konsequenter als andere Kodifikationen erreicht das BGB dadurch aber eine hohe begriffliche Disziplin und systematische Durchbildung des gesamten (privatrechtlichen) Rechtsstoffs. 70 Die begriffliche Disziplinierung und systematische Durchbildung des Rechtsstoffs entsprach dem Anspruch des Kodifikationsrechts, Gesetzgebung aus einem Guss zu sein, eben Gesetzbuch und nicht Loseblattsammlung oder Onlinepublikation mit laufenden updates. Das BGB stellt vielleicht keine abschließende Antwort auf alle juristischen Fragen in Aussicht, aber die Form des systematischen Gesetzbuches ermöglichte der Rechtspraxis davon auszugehen, dass eine solche Antwort prinzipiell im Gesetzbuch gefunden werden konnte; noch heute schlagen deshalb Examenskandidaten nach der Frage des Prüfers in der Regel als erstes das Gesetzbuch auf. Webers Charakterisierung des juristischen Systems als widerspruchsfrei und prinzipiell lückenlos fängt daher eine der wesentlichen Intentionen der Kodifikationsidee des 19. Jahrhunderts ein, auch wenn die „innere Einheit“ des Privatrechts bei genauerer historischer Betrachtung weder in Frankreich noch in Deutschland jemals tatsächlich realisiert wurde. In Deutschland waren wesentliche Teile des Privatrechts wie etwa das Handels-

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ein „rein rational ... von allen historischen ‚Vorurteilen‘ freies Gesetz, Benthams Ideal entsprechend“); vgl. auch Wieacker (Fn. 1), 339ff., der den Code civil allerdings zu unspezifisch unter die „Naturgesetzbücher“ subsumiert; anders z. B. K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, 84ff., die die Unterschiede zwischen Code civil und preußischem Allgemeinem Landrecht stärker betonen. Weber (Fn. 7), 496; vgl. auch 503ff. Weber, ebd., 396. Weber sprach – in Übereinstimmung mit dem juristischen Sprachgebrauch seiner Zeit – auch von einer spezifisch systematischen Aufgabe des Rechtsdenkens. Dazu Zweigert/Kötz (Fn. 7), 97ff. Vgl. nur Weber (Fn. 7), 494f. (dort wird das BGB allerdings nur indirekt angesprochen); Wieacker (Fn. 1), 468ff.

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I. Einheit und Hierarchie des Rechts

recht und der gewerbliche Rechtsschutz von vornherein in besondere Gesetze ausgegliedert; und gerade die inhaltlich strittigen Materien, die aus dem Aufstieg der industriellen Massengesellschaft mit ihrer Spaltung in Arbeit und Kapital herrührten, Sozialrecht und Arbeitsrecht, wurden, wenn überhaupt, erst sehr viel später kodifiziert. Die kodifikationsrechtliche Idee einer rationalen Systematik des „gesamten Rechts“ 71 diente zugleich der Begründung der Autonomie des bürgerlichen Rechts. Nur wenn man Prinzipien, Grundsätze oder sogar eine einzige, die Einheit des Systems tragende Rechtsidee von rangniedrigeren einfachen Rechtssätzen unterscheiden kann, ist eine Rang-, Ebenen- oder Stufenordnung innerhalb eines Systems mit einer Spitze oder Abschlussformel möglich. Der Begriff des Systems wiederum ist nicht ohne die Unterscheidung von innen (System) und außen (Umwelt) zu haben, folglich setzt jede Vorstellung eines autonomen Rechtssystems, einer „inneren Einheit“ des Rechts, Unabhängigkeit gegenüber allen rechtsfremden Normen voraus, insbesondere Autonomie gegenüber historisch gewachsenen gesellschaftlichen Regelbeständen und praktisch erprobten Konventionen. Was das heißt, lässt sich gut an einem bekannten Rechtsfall der preußischen Geschichte verdeutlichen: Dem Müller Arnold, dessen in Erbpacht betriebene Mühle ohne Rechtsgrund zwangsversteigert worden war, wurde der Anspruch auf Schadensersatz verweigert, weil die Zwangsversteigerung auf Betreiben des Grafen Gottfried Heinrich Leopold von Schmettau erfolgte, in dessen Eigentum die Mühle stand. Eine Gleichbehandlung von Müller und Graf hätte u. a. eine von ständischen Interessen und Einflussmöglichkeiten unabhängige Justiz anstelle der in Preußen um 1780 noch üblichen Patrimonialgerichtsbarkeit erforderlich gemacht. Das systematische Kodifikationsrecht musste sich von diesen (und anderen) vorgegebenen Traditionen der Adelsgesellschaft befreien, wenn es sich als autonom, als selbst gesetzgebend beschreiben wollte. Nur dann war eine Gleichbehandlung von Graf und Müller, von Personen ganz unterschiedlichen Standes, in prozessualer wie materiell-rechtlicher Hinsicht überhaupt denkbar. Die Sicherung der Autonomie des Systems erfolgte in der Rechtswissenschaft des 72 19. Jahrhunderts maßgeblich durch den Freiheitsbegriff bzw. den Begriff des freien Willens. Als Gründungsfigur hatte der Freiheitsbegriff vor allem die Aufgabe, das System von der Kontinuität der Tradition abzulösen. Aber sobald ein System auf der obersten Stufe Freiheit, Unabhängigkeit von der Tradition und ihren Autoritäten, zulässt, kommt ein „Punkt höchster Unsicherheit und letzter Unentscheidbarkeit“ zum Vorschein:12 die hierarchische Systemarchitektur korreliert mit Kontingenz an ihrer Spitze. Dieses Problem tauchte im Systemdenken und im Kodifikationsrecht des 19. Jahrhunderts allein deshalb nicht auf, weil der freie Wille stets als vernunftgeleiteter Wille vorausgesetzt wurde. Schon seit der frühen Neuzeit war der Wille, den man zunächst Gott zugeschrieben hatte, auf den Fürsten umgeleitet worden, später – im Zuge der Bildung von größeren Flächenstaaten wie etwa Frankreich – auf den König; der König war aber per se gerecht, ansonsten galt er als Tyrann, gegen den Widerstand rechtmäßig war. An diese Rationalitätsunterstellung knüpfte noch das moderne Naturrecht an. Rousseau etwa versuchte die Willkür an der Spitze des Systems durch die (ambivalente) Überordnung der volonté générale über die volonté de tous zu binden, durch einen auf das Volk als Totalität projizierten Gemeinwillen, der auf Grund der ihm immanenten Allgemeinheit nicht irren und sich selbst kein Unrecht zufügen 12

N. Luhmann, Die Rückgabe des 12. Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), 3ff., 60.

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§ 3. System I

konnte. Eine andere Lösung favorisierte Kant. Kant lenkte die mögliche Willkür an der Spitze des Systems auf ein „transzendentales Feld ..., innerhalb dessen sich der Wille selbst konstituiert“,13 als allgemeingültiges Gesetz aus Grundsätzen a priori, die ihrerseits aus dem Faktum der Vernunft folgten. Infolgedessen blieben Freiheit und Autonomie im juristischen Systemdenken des 19. Jahrhunderts immer an eine „fremde“ Vernunft gebunden, die hier – wie bei Kant – durch das System als Subjekt der Vernunft bzw. Träger allgemeiner Gesetze repräsentiert wurde. Das zeigt sich z. B. in der engen Verschränkung von subjektivem und objektivem Recht bei Friedrich Carl v. Savigny. Das Recht einer Person wird bei Savigny als die ihr zustehende Macht in einem Gebiet, „worin ihr Wille herrscht“, definiert, aber diese Befugnis zur Herrschaft des Willens ist keine beliebige, sondern wiederum von einer allgemeinen Regel, vom „Recht schlechthin“, abhängig.14 II. Systembegriff 1. In der Naturphilosophie

73 Mit dem Aufkommen der Naturphilosophie (philosophia naturalis) im 17. Jahrhundert gingen wissenschaftliches Denken und Erfahrung eine neue Beziehung ein, mit der sich Charakter und Stellenwert von Wissenschaft und damit auch der Charakter wissenschaftlicher Methoden grundlegend in Richtung einer systematischen Beweisführung veränderten. Nachdem sich erste Ansätze zu einer stärker systematischen Ordnung des wissenschaftlich relevanten Materials schon im Humanismus angekündigt hatten, insbesondere in der logisch-dialektischen Methode von Petrus Ramus (1515–1572), stieg das wissenschaftliche Verfahren in der Naturphilosophie – etwa bei Autoren wie Galilei, Gassendi, Descartes, Hobbes und Spinoza – in den Rang einer (unhintergehbaren) Voraussetzung für die Erkenntnis der Wahrheit der Dinge auf. So heißt es etwa in einer 1701, nach dem Tode Descartes’ erschienenen Frühschrift: Necessaria est methodus ad rerum veritatem investigandam. Notwendig ist das Verfahren, um der Wahrheit der Dinge auf die Spur zu kommen.15 Das wissenschaftliche Vorgehen oder Verfahren, die certitudo modi procedendi, bestimmte von nun an, wie die Natur der Dinge zu sehen war, nicht mehr die certitudo obiecti, die nur in bestimmten, unveränderlichen (meist metaphysischen) Gegenstandsbereichen eine Repräsentation des Seins im Denken und damit sicheres („apodiktisches“) Wissen zugelassen hatte. Wegen der damit einhergehenden Ausdehnung mathematischer (konstruktiver) Erkenntnisverfahren auf das Studium der Naturphänomene ist die philosophia naturalis später auch als „exakte Wissenschaft“ oder „mathematische Naturwissenschaft“ bezeichnet worden.16 13

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R. Esposito, Communitas, 2004, 100. Die neuere politische Philosophie – wie J. Rogozinski, Le don de la Loi, 1999, 91 – sieht daher das kantische Gesetz am Ursprung der Gemeinschaft, als Urform, Urgabe (archidonazione) oder als Selbst-Gebung des Gesetzes (l’auto-donation de la Loi). Das ist auch die Auffassung der Phänomenologie in Bernhard Waldenfels‘ Schattenrisse der Moral (2006). F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, 7, 9; in der Pandektenvorlesung von 1824/25, 1993, 15, heißt es ähnlich: „Recht im subjectiven Sinne ist das was durch allg: Regel als dem Willen des einzelnen unterworfen, anerkannt und geschützt wird.“ Hier zitiert nach M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding (1935/36), 1987, 79. Zu Ramus’ dialektischer Methode vgl. W. J. Ong, Ramus, 1958, 171ff., 225ff. Etwa bei P. Kondylis, Die neuzeitliche Metaphysikkritik, 1990, 149 („mathematische Naturwissenschaft“); E. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit

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II. Systembegriff

Zirkulär mit der neuen Methode verknüpft war in der frühneuzeitlichen Naturphilo- 74 sophie die Auffassung, dass die Welt in ihrer Gesamtheit sie determinierender universaler Gesetzmäßigkeiten unterworfen sei. Dazu wurde der Gesetzesbegriff erstmals mit Kriterien wie Unveränderlichkeit und Notwendigkeit angereichert und auf das Studium der Bewegung materieller Körper im Raum angewandt; und damit wurde die Bewegung zum Studienobjekt von Veränderung (gr. metabolé) überhaupt. Das geschah zunächst im Bereich der Bewegung von Himmelskörpern, später wurde der Gesetzesbegriff auf alle Körperbewegungen im Raum ausgedehnt. Schon Kepler hatte Himmel und Erde ein „System“ gleicher Bewegungsgesetze genannt, und Galilei verteidigte die von ihm durchgeführte Vereinheitlichung aller Arten von Körperbewegungen zu einer einzigen kinematischen Theorie mit dem Argument, dass das Buch der Natur überall in der gleichen mathematischen Sprache, den Buchstaben der Kreise, Dreiecke und anderer geometrischer Figuren geschrieben sei.17 Newtons Philosophia naturalis principia mathematica von 1687 bildet dann den vorläufigen Abschluss des neuen, um die Bewegung von Körpern zentrierten Denkens. Newton definiert zunächst physikalische Grundbegriffe wie Materie (quantitas materiae), Bewegung (motus) und Kraft (vis), dann Grundsätze oder Gesetze von Bewegungen (axiomata sive leges motus). Daraus leitet er Lehrsätze über verschiedene Bewegungsarten (de motu corporum) ab, die in drei Bewegungsgesetzen verdichtet werden, zu denen u. a. das Trägheitsprinzip gehört, demzufolge ein Körper in einem Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung verharrt, solange keine äußere Kraft auf ihn einwirkt. Dies alles wird im dritten und letzten Buch der Principia, im „Newtonschen System“ des Universums, zusammengeführt; das Universum wird jetzt als Ganzes von der Gravitation durchherrscht, einer universalen Gesetzmäßigkeit, die ebenso für den fallenden Apfel an einem beliebigen Ort in England wie für die Bahnen der Gestirne noch in der letzten Galaxie gilt.18 Die Naturphilosophie führte mit anderen Worten zu einem System mit Absolutheitsanspruch, zu einem System, das in seinem Medium, dem gedruckten Buch, eine universelle Gültigkeit der von ihr entdeckten Gesetzmäßigkeiten (Bewegungsgesetze) einforderte. Der Name „System“ stammt aus dem Altgriechischen (tò systema) und bedeutete dort wörtlich der Zusammenstand, das Zusammengestellte, auch das Zusammengesetzte.19 Mit dem zugrundeliegenden Verb bezeichnete man Tätigkeiten wie aufstellen, hinstellen oder etwas errichten. Verb wie Substantiv verwiesen anfänglich auf elementare Praktiken der Baukunst, wie etwa der Anordnung von Säulen in einem Tempel. Später bezog sich der Systembegriff hauptsächlich auf Beziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Teilen und wurde dementsprechend auf zusammengesetzte Gebilde aller Art angewandt, nicht nur auf Tempel, die aus Säulen bestanden, sondern auch auf Menschen, Tiere, Pflanzen, Wasser, aber auch auf die Stadt

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(1922), 1991, 314ff. („exakte Wissenschaft“). Zur Entstehung der Naturphilosophie aus wissenschaftshistorischer Sicht P. Rossi, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, 1997, insb. 94ff.; I. B. Cohen, Revolution in der Naturwissenschaft, 1994, 167ff. Im Saggiatore von 1637 heißt es: „Die Philosophie ist in jenem großen Buch geschrieben, das ständig offen vor unseren Augen liegt (ich meine das Universum); dieses Buch kann man aber nur verstehen, wenn man vorher die Sprache und die Buchstaben gelernt hat, in denen es geschrieben ist. Es ist in mathematischer Sprache geschrieben, und die Buchstaben sind Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren, und ohne diese Hilfsmittel ist es Menschen unmöglich, auch nur ein Wort davon zu begreifen.“ Hier zitiert nach Cohen (Fn. 16), 214. Dazu instruktiv H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 1981, 71ff. M. Riedel, System, Struktur, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 2004, 285ff., 295; vgl. auch Cohen (Fn. 16), 242ff., 245f.; Rossi (Fn. 16), 309ff. Dazu und zum Folgenden ausführlich Riedel (Fn. 18), 285ff.

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§ 3. System I (polis), den Zusammenschluss mehrerer Städte, eine Herde von Tieren, ein Heer von Soldaten oder Priesterkollegien. Als Indikator eines Unterschieds, eines Mehr des Ganzen gegenüber seinen Teilen, war der Systembegriff in der griechischen Philosophie aber nicht oder allenfalls schwach ausgebildet. Der Systembegriff verwies vorwiegend auf Ganzheiten bzw. Gesamtheiten, die sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in ihren Teilen als natürlich gegeben galten. So war beispielsweise das Leben in der Stadt eine Einrichtung der Natur; aber auch die Rangunterschiede zwischen Bürgern und Sklaven, Männern und Frauen, Vätern und Kindern, wurden als von der Natur gegeben angesehen. Das System war kein Begriff, der etwa die polis als abstrakte, von ihren Einwohnern abgelöste Einheit bezeichnet hätte, wie heute der Begriff der juristischen Person eine künstliche oder fiktive Einheit oder Zuschreibungsadresse denominiert. Die Beschreibung von Objekten wurde durch den Systembegriff lediglich in das Ganze und seine Teile verdoppelt, während die Frage, wie denn ein Ganzes seine Einheit herstellt und reproduziert, durch die Unterstellung natürlicher („ontologischer“) Hierarchien beantwortet wurde. Aristoteles beispielsweise verglich die Stadt mit dem Menschen und argumentierte, dass nicht nur der menschliche Körper von seinem beherrschenden Teil bestimmt werde, sondern auch die polis selbst.20 Mit der Unterstellung natürlicher Hierarchien korrespondierte in der griechischen Philosophie eine Vorrangstellung der Metaphysik gegenüber allen anderen Arten von Wissenschaft. Namentlich für Aristoteles war Metaphysik, nicht aber etwa Physik und Mathematik, erste Philosophie (gr. ton metà tà physicá, lat. prima philosophia).21 Diese Rangordnung gründete in der Überzeugung, dass es jenseits der veränderlichen empirischen Natur, der natürlich bestehenden Dinge, eine unveränderliche, nicht-empirische Substanz gab, eine Sphäre der Transzendenz, des Metaphysischen. So musste z. B. die Bewegung eine stabile unveränderliche Anfangsursache haben, und dies hatte sie nach Aristoteles in der Existenz eines ewigen, unbeweglichen Bewegers. Erst hier, in der Erkundung der ersten unveränderlichen bzw. notwendigen und gleich bleibenden Prinzipien, erreichte die Philosophie – als Metaphysik – ihre höchste und würdigste Form. Das Transzendente war einer streng demonstrativen Erfassung durch Theorie besonders zugänglich, während die Welt der empirischen Erscheinungen, etwa das Leben in der Stadt, als veränderlich und flüchtig galten und sich daher nicht in gleichem Maße in der Form sicheren („apodiktischen“) Wissens erfassen ließen. Mit zunehmendem Einfluss des Christentums wurde die aristotelische Metaphysik in Richtung einer Allmacht der Seele Gottes umgebaut. Das führte zu der für das christliche Mittelalter zentralen Vorstellung, dass die Welt wie eine Pyramide über unterschiedliche Seinsebenen hierarchisch gegliedert sei, über eine stationäre Verteilung von Positionen verfüge und in der Autorität Gottes ihr Zentrum und ihren Stifter habe.22 Diese Weltbeschreibung bestimmte auch das mittelalterliche Naturrecht, dessen Grundlage eine von der Natur gestiftete Gerechtigkeit war. Die Natur teilte die Aufgaben und die Plätze in der Gesellschaft selbst zu, und die Gerechtigkeit bzw. das Recht waren daran zu messen, dass sie diese natürliche Ordnung beachteten (iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi).23 Damit erstreckte sich die Natur als Ordnung gleichsam in das gesellschaftliche Leben hinein. Eine besondere Rolle des Systembegriffs zur Beschreibung von Gesellschaft und Recht war auch im frühen und hohen Mittelalter nirgends in Sicht. Der christliche Glaube, im Alten und Neuen Testament aufgeschrieben, kannte kein System. Er ließ lediglich die Darstellungsform der „Summa“, des „Corpus“, des „Compendium“ oder der „Synopsis“ zu. Auch beim Corpus iuris civilis handelte es sich um einen „Corpus“ von Rechtsregeln und nicht um ein 20

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Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1168b 31–33. Das Argument taucht später bei Thomas von Aquin wieder auf; vgl. auch den Kommentar von O. v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3 (1873), 1954, 555 („... gelangt so zu dem Satze, daß jeder gesellschaftliche Körper eines herrschenden Theiles (pars principans) bedarf ...“). Aristoteles, Metaphysik, 1026a. Vgl. nur E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen Bd. 1 (1912), 1994, 320 („Und so erhebt sich über dem Ganzen mit dem religiösen Zentralzweck die religiöse Autorität als die eigentliche Seele der ganzen menschlichen Gesellschaft in all ihren Stufen und Gruppen, die ... das Ganze selber in seinen Grundverhältnissen leitet und bedingt, um jeden auf seine Weise und an seinem Ort an dem ewigen Zwecke seinen entsprechenden Anteil finden zu lassen.“); ähnlich v. Gierke (Fn. 20), 555. So wird der Satz aus den Digesten 1.1.10. jedenfalls im Mittelalter interpretiert. Vgl. G. Post, Studies in Medieval Legal Thought, 1964, 494ff., 540; vgl. auch N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 518.

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II. Systembegriff System im neuzeitlich-modernen Sinn.24 Allerdings dürfte der Monotheismus des Christentums – über die Bibel als kanonisches Buch – durchaus zum Aufstieg von Einheitsvorstellungen in den verschiedensten Sinnfeldern der europäischen Gemeinschaft und damit auch im Recht beigetragen haben. Dem griechischen Denken war neben dem Systembegriff auch der Begriff des Gesetzes als nomos vertraut. In der Bedeutung von oraler Tradition, Gewohnheit, Sitte, Brauch lässt sich das Wort nomos bereits in archaischer Zeit – bei Hesiod – nachweisen;25 die Sophisten, z. B. Antiphon, setzten nomos dann stärker in Differenz zu physis (Natur, von Natur aus).26 Alle Menschen greifen mit den Händen (physis). Benutzt aber jemand seine Hände, um ein Schaf zu stehlen, widerspricht das zwar nicht der Natur, verletzt aber möglicherweise ein schriftlich erlassenes Gesetz (nomos). Die Bedeutung von nomos als schriftlich erlassener und verbindlicher Norm stabilisiert sich vermutlich um 500 (im Umfeld der Kleisthenischen Reformen), auch im klassischen Athen wurde nomos im Sinn von Schriftgesetz gebraucht.27 Für Aristoteles waren nomoi jene Regeln oder Gesetze einer Stadt, die entweder auf bloßer Anordnung beruhten, nur für einzelne Fälle getroffen wurden oder das Resultat örtlicher Beschlussfassung (Plebiszite) waren.28 Die nomoi ergänzten das tradierte Naturrecht, ja sie standen in einem Gegensatz zur Natur und zur natürlichen Perfektion.29 Der Gesetzesbegriff war damit aber von vornherein in einem Bereich angesiedelt, in dem auf Grund der Unvorhersehbarkeit der Ereignisse kein wirklich sicheres Wissen möglich war. Der Zugang zu allgemeingültiger Gesetzmäßigkeit war im Bereich des politisch-praktischen Lebens gerade dadurch versperrt, dass hier – im Unterschied zur Natur – immer auch alles anders sein konnte.30 Der römische Gesetzesbegriff hatte wie der griechische nichts mit der modernen Vorstellung eines allgemeinen Gesetzes zu tun. Das römische Gesetz (lex) der frühen Zeit war situatives Recht, im Unterschied zum alten, seit unvordenklichen Zeiten geübten Stadtrecht (ius civile).31 Auch die Gesetze der Republik waren in hohem Maße Maßnahmegesetze oder leges ad personam, politische Ad-hoc-Entscheidungen wie etwa Kriegserklärungen, Friedensschlüsse, Koloniegründungen, Weihungen eines Tempels, Exilierungen bzw. Rückrufe aus dem Exil, Ernennungen außerordentlicher Beamter etc.; es herrschte eine „enge Verflechtung von Gesetzgebung und Tagespolitik“, das „Volksgesetz war Tagesaktion, nicht nachhaltige Regelung auf lange Sicht“.32 Wie groß die Differenz zwischen dem modernen und dem römischen Gesetzesbegriff ist, erkennt man auch daran, dass das römische Recht keinerlei Schwierigkeiten hatte, im Fall von Vertragsklauseln von lex contractus zu sprechen.33 In beiden Fällen, sowohl im antiken griechischen wie im antiken römischen Recht, werden Rechtsregeln und Gesetze eher lokal und situationsabhängig gedacht, nicht aber, wie in den Rechtssystemen des 19. Jahrhunderts, als allgemeine Normenbestände, die in die Zukunft wirken und eine unbestimmte Zahl künftiger Anwendungen vorwegnehmen.

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Vgl. Riedel (Fn. 18), 290 u. a. mit Hinweis auf Th. v. Aquin, Summa Theologica; anders für das Corpus iuris aber H. J. Berman, Recht und Revolution, 1991, 199. Hesiod, Werke und Tage, 275–280; zur Bandbreite der frühen Verwendungen von nomos vgl. M. Ostwald, Nomos and the Beginnings of the Athenian Democracy, 1969, 21 („order of living, way of life“); E. A. Havelock, Preface to Plato, 1963, 62f. („custom-laws“, „usage“, „custom“). M. Gagarin, Antiphon the Athenian, 2002, 65ff., 68f., 184; Ostwald (Fn. 25), 37. K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 125ff., 147f.; Ostwald (Fn. 25), 36f. (nomos = „statutory enactment“ bei Aristophanes), 137ff. (zum Übergang von thesmos zu nomos im Zuge der Kleisthenischen Reformen). Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b, 18–24; vgl. dazu auch den Kommentar zu dieser Stelle in N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 120 Fn. 16. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1134b, 18–1135a 5. Aristoteles, ebd., 1140a 35. F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, 1988, 277ff., 278 („Im Begriff der Lex ist somit das Element einer allgemeinen, auf eine unbestimmte Zahl künftiger Anwendungen zielende Regelung und vollends das einer allgemeinen Normierung rechtlichen Sollens von Haus aus nicht enthalten“); ähnlich M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971, 30f. Wieacker (Fn. 31), 411ff., 414, 421; vgl. auch J. Bleicken, Die Verfassung der Römischen Republik, 1995, 127ff. D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1998, 237 („Verba contractus sunt lex contractus. Die Worte eines Vertrags sind das Gesetz des Vertrags.“).

47 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 3. System I

77 Stellt man die Leistungen der neuzeitlichen Naturphilosophie in einen historisch weiter ausgreifenden Kontext von Ideengeschichte oder „Ideenevolution“,34 transformierte die neue Naturphilsosophie den alten theologischen Gedanken von einem einzigen Stifter und Gesetzgeber der Natur in ein einheitliches Bewegungsgesetz, das seinerseits die Form eines „ersten“ Satzes in einem auf Absolutheit programmierten System annahm. Aus der antiken und christlichen Semantik übernahm die Naturphilosophie den Gedanken einer durch Rangverschiedenheit gekennzeichneten Ordnung und machte sie zum Bestandteil des Systems. Auch die Einverleibung des Hierarchieschemas in das System verweist auf eine theologisch schon aufbereitete Erschlossenheit – und weniger auf einen voraussetzungslosen Entwurf, einen Inbegriff des Denkens, aus dem das System hervorgeht. Aber wie immer man die Beziehung zwischen der Naturphilosophie und der theologischen Tradition des Alten Europa genauer bestimmt: Die Erzeugung wissenschaftlicher Sätze und Erkenntnisse konnte damit jedenfalls auf eine vermeintlich selbsttragende, von Metaphysik und Gott unabhängige Basis gestellt werden. Schon bei Hobbes gründete die Bewegung in sich selbst und bedurfte – im Unterschied zur aristotelischen Philosophie – keines unbeweglichen Bewegers mehr.35 78 Mit Hilfe dieser Konstruktionstechnik konnte sich das System der Naturphilosophie zu der Form entfalten, in der allein gesichertes Wissen (Gewissheit) produziert werden konnte. Das System erzeugte selbst einen Vorrang gegenüber allen empirischen Erscheinungen, ohne diese einfach zu negieren. Wissen konnte jetzt nicht mehr ohne Sinnesdaten aus reiner Kontemplation gewonnen werden, sondern musste sich immer wieder in der Realität bewähren. Insofern verfuhr die Naturphilosophie – im Unterschied zur aristotelischen-christlichen (Schul-)Metaphysik – induktiv. Allerdings nahm die erfahrungsgestützte Induktion jetzt einen konstruktivistischen Zug an. Sicheres Wissen setzte stets eine Abstraktion, die alles Sinnliche auf Distanz brachte, voraus. Anders formuliert: Die Bedingungen der empirischen Beobachtung wurden in der Naturphilosophie erstmalig von den Bedingungen des Systems her definiert, der sinnliche Beweis in einem erweiterten und veränderten Verständnis von Empirie, auf der Basis artifizieller Beobachtungsweisen mit Hilfe von Instrumenten erbracht, z. B. mittels Fernrohr oder mit Hilfe des künstlichen Fallexperiments. Das System stellt ex ante einen gesetzmäßigen notwendigen Zusammenhang her, eine systematische Einheit, die anschließend – ex post – durch Experimente bewiesen wird. Die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Natur wurden also weder empirisch vorgefunden noch auf analytische Aussagen reduziert. Die universalen Gesetzmäßigkeiten wurden im Systementwurf nach dem Selbstverständnis der Naturphilosophie selbst erzeugt und zu „ersten“ Sätzen, Axiomen oder Prinzipien kondensiert, um von diesem höchsten Punkt aus alle anderen wahren Sätze mit innerer Notwendigkeit und Konsequenz ableiten zu können.

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Zu diesem Begriff N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 536ff.; vgl. auch J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1996, 99, 259ff. „Ideenevolution“ wird erst auf der Grundlage von (Alphabet-)Schrift möglich. Sie setzt höherstufig generalisierten Sinn, „preserved communication“ (Havelock) bzw. „gepflegte Semantik“ (Luhmann) voraus; preserved communication bzw. gepflegte Semantik im Gegensatz zur Alltagskommunikation, in der bekanntlich jeder Fluch der Ruderer in den Galeeren zählt. Kondylis (Fn. 16), 190 (Ursache der Bewegung ist nicht mehr der ewige unbewegliche Beweger, sondern die ewige universale Bewegung).

48 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Systembegriff 2. Praktische Philosophie

Eine Loslösung von der aristotelischen Metaphysik und ihre Ersetzung durch die neue 79 naturphilosophische Methode lässt sich seit dem 17. Jahrhundert auch in der praktischen Philosophie nachweisen, klar und deutlich etwa in De Cive (1642) und im Leviathan (1651) von Thomas Hobbes. Hobbes war der erste Theoretiker von Rang, der die von Galilei, Descartes u. a. begründete Naturphilosophie um das Projekt einer praktischen Philosophie oder, wie Hobbes sie nannte, Sozialphilosophie (philosophia civilis), ergänzte.36 Die geometrische Methode wurde damit wohl zum ersten Mal konsequent auf das Studium künstlicher Körper angewandt.37 Zwar steht der Systembegriff selbst bei Hobbes nicht im Zentrum der praktischen Philosophie wie später bei Kant oder Hegel. Hobbes gebraucht „System“ eher als Synonym für Körperschaft. Im Leviathan wird der Begriff primär auf die untergeordneten Körperschaften des Gemeinwesens (Commonwealth) bezogen, z. B. auf die sich in Abhängigkeit von der englischen Krone befindlichen Provinzen, während das Commonwealth eher beiläufig ein „reguläres“, d. h. absolutes und unabhängiges System genannt wird.38 Hinter der hobbesschen Konstruktion des Gemeinwesens als artifiziellem Körper lässt sich jedoch unschwer eine auf den Monarchen als großen Menschen zulaufende hierarchische Systematisierung von Politik und Recht im Zuge der Auflösung der traditionellen Adelsgesellschaft (societas civilis) erkennen, die eng mit einer System- und Einheitsvorstellung verwandt ist. Hobbes’ genuiner Beitrag für die Geschichte der praktischen Philosophie oder Sozial- 80 philosophie besteht darin, die natürliche Legitimation der traditionalen (Rechts-)Ordnung endgültig zerschnitten und auf ein davon unabhängiges Subjekt, den souveränen Monarchen als neuem Zentrum der Rechtsordnung, umgelenkt zu haben. Denn anders als etwa später Rousseau lässt Hobbes aus dem Gesellschaftsvertrag „kein corpus myticum des sozialen Ganzen hervorgehen, und anders als in den organologischen Gesellschaftsmodellen ist für ihn der Staat keine unvordenkliche soziale Substanz, sondern erklärtermaßen Effekt symbolischer (juridischer, mathematischer) Operationen.“39 Für Hobbes ist das Gemeinwesen, das er Leviathan nennt, also ein durch und durch künstliches, von Menschen gemachtes Konstrukt, dessen Existenzweise auf einer Ebene der Artifizialität, des Mythos und der Poesie angesiedelt, dadurch aber nicht weniger wirklich als die aristotelische Polis ist. Dabei kappte Hobbes auch die traditionelle Anbindung der politischen an die gött- 80 a liche Macht. Der göttlich-weltliche Systemverbund, das divine right der Könige, 36

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Das Begriffspaar philosophia naturalis/philosophia civilis benutzte Hobbes allerdings noch nicht im Leviathan, sondern erst ein paar Jahre später in De Corpore I, 9 (1655). Philosophia civilis wird in den deutschen Hobbes-Ausgaben meistens mit „Staatsphilosophie“ übersetzt! Auch Q. Skinner, Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, 1996, 334, der die rhetorischen Anteile im Leviathan im Unterschied zu De Cive akzentuiert, lässt keinen Zweifel daran, dass der Leviathan ein Werk der neuzeitlichen exakten Wissenschaft (civil science) ist. Zur Gründungsfunktion der Naturphilosophie als neuer prima philosophia bei Hobbes vgl. auch Y. Ch. Zarka, Philosophie et politique à l’âge classique, 1998, 7ff. (der die Inkonsistenzen und theologischen Reste im Hobbesschen Werk akzentuiert und von einer „fondation aporétique“ spricht); zur Methode bei Hobbes vgl. auch J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2012, 171f. Hobbes, Leviathan, Ch. 22, 155; vgl. auch Riedel (Fn. 18), 299. A. Koschorke, Der fiktive Staat, 2007, 112. Die Künstlichkeit der Hobbesschen Staats- und Personenkonstruktion betont auch V. A. Kahn, The Future of Illusion, 2014, 35ff.

49 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3. System I

wurde durch eine rein gesellschaftsimmanente Konstruktion abgelöst. Hobbes’ Commonwealth entspringt nicht mehr dem Sinn der Natur bzw. der natürlichen Geselligkeit des Menschen, wie die politisch-sozialen Gebilde von Aristoteles bis Pufendorf. Im Gegenteil: Für Hobbes herrscht im Naturzustand ein potentieller Krieg aller gegen alle. Dies wird u. a. mit dem Argument begründet, dass die Fähigkeit zu töten zwischen den Menschen gleich verteilt sei; noch der Schwächste könne den Stärksten heimtückisch ermorden. Daher ist der Naturzustand für Hobbes ein Zustand wechselseitiger Furcht und Angst, in dem kein zivilisiertes Leben möglich ist.40 Erst durch eine vertragliche Übereinkunft, erst durch einen formlosen Gesellschaftsvertrag (covenant) eines jeden mit jedem, kann ein Frieden stiftendes Gemeinwesen, eine politischrechtliche Einheit, eine Staatspersönlichkeit, konstituiert werden.41 Dazu aber bedarf es einer Autorisierung des Souveräns durch den Willen der sich ihm Unterwerfenden. Und exakt diese Autorisierung transformiert das Gemeinwesen zu einer künstlichen Ordnung, zu einem artifiziellen Körper bzw. zu einer Staatsperson, deren Eigenschaften vollständig von der Kontinuität der Tradition gelöst sind.42 81 Indem Hobbes die am Studium der Bewegung von natürlichen Körpern entwickelte Methode der Naturphilosophie auf Politik und Recht übertrug, konnte der Leviathan die vereinzelt Einzelnen ebenso einem einzigen Körper einverleiben, wie zuvor Galilei die Mannigfaltigkeit gegebener Körper im Raum unter nur ein Bewegungsgesetz subsumiert hatte. Und so wie das Bewegungsgesetz bei Galilei nur eines einzigen Anstoßes bedurfte, um sich in ewige Bewegung zu versetzen,43 bedurfte auch der hobbessche Leviathan nur eines einmaligen (hypothetischen) Anfangsaktes, des Gesellschaftsvertrages, um sich zu gründen und verewigen zu können. Einmal errichtet, ruhte der artifiziell (durch Vertrag errichtete) politische Körper in sich selbst. Der politische Körper fungierte jetzt als Einheits- und Ordnungsgarant der Gesellschaft, mit dem Monarchen als Zentrum und Platzhalter, der die Souveränität der künstlichen Staatspersönlichkeit eher präsentiert als repräsentiert; wird der politische Körper, der Staatskörper, den es zu repräsentieren gilt, doch erst durch einen Gründungsakt, die Autorisierung des Souveräns, einer Herrscherpersönlichkeit, geschaffen. Diese Konstruktion war so kühn und so abstrakt, dass Hobbes sich sogar veranlasst sah, sie in einem Titelblatt piktural zu veranschaulichen. Dafür wählte Hobbes nicht zufällig ein Frontispiz, das auf die gleiche Weise der Geometrisierung der Welt verpflichtet war wie die geschriebene Konstruktion selbst,44 freilich mit einem großen Menschen (makros anthropos, homo magnus) als (Re-)Präsentanten des durch und durch artifiziellen (und im Prinzip undarstellbaren) Systems. Diese bildliche Personifikation der Souveränität deutet zugleich darauf hin, dass Staatsperson und Herrscherpersönlichkeit bei Hobbes, anders 40 41 42

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Hobbes, Leviathan, Ch. 13, 89 („And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short.“). Hobbes, ebd., Ch. 17, 120. Hobbes, ebd., Ch. 16, 111f.; dazu Zarka (Fn. 37), 128f.; L. Jaume, Hobbes et l’Etat représentatif moderne, 1986, 95 („Chez Hobbes, la personne a un statut de désignation nominaliste et non de propriété ontologique.“). Mit einem artifiziellen, abstrakten Personenbegriff wurde schon im kanonischen Körperschaftsrecht experimentiert (persona ficta), erst Hobbes sprach jedoch explizit von einem Commonwealth als einer Person. Das ist im Einzelnen strittig. Viele Rechtshistoriker glauben, dass bereits die katholische Kirche als abstrakte Person gedacht wurde. In der Sache gab es sicher Vorläufer, dazu dürfte auch das englische Gemeinderecht des späten Mittelalters zählen. Kondylis (Fn. 16), 189. Vgl. dazu H. Bredekamp, Thomas Hobbes, 2003, 41; vgl. auch R. Brandt, Philosophie in Bildern, 2001, 312ff.; L. Marin, Das Portrait des Königs, 2005.

50 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Systembegriff

als später bei Kant und im staatsrechtlichen Positivismus, noch nicht vollständig voneinander geschieden sind.45 Insgesamt weist die hobbessche Konstruktion eine Reihe von Ambivalenzen auf, die ihre Zuordnung in die Kategorien der politischen Ideengeschichte, insbesondere ihre Zuordnung als liberale oder absolutisch-autoritäre Theorie schwierig macht. Einerseits handelte der Monarch als weltlicher Souverän, als derjenige, der als beherrschender Teil weiterhin das Leben des Gesamtkörpers bestimmte. Der Monarch konnte die ihm sich unterwerfenden Personen kraft seiner Souveränität an eine gemeinsame öffentliche Sprache und ein darin eingelassenes Wissen binden, ein Wissen, das die Untertanen verinnerlichen mussten, schon weil sie dem Monarchen und seinen Befehlen uneingeschränkten Gehorsam schuldeten. Da die hierarchische Position des Monarchen aber eine Position innerhalb eines politischen Körpers war, erzeugte das System einen Rückkopplungseffekt, der die Absolutheitsstellung des Souveräns relativierte: Der Souverän war das Produkt einer künstlichen (nominalistischen) Sprache, eines öffentlichen Sprechens, das mit der natürlichen Repräsentation der Dinge gebrochen hatte und die Souveränität von einem performativen Akt der Namensgebung, einer Autorisierung, abhängig machte.46 Damit war politisches Handeln auch ohne die Voraussetzung tradierter gemeinsamer Zwecke möglich, und darin, in dieser Mobilisierung und Freisetzung des politischen Körpers aus der Enge und den Zwängen der herkömmlichen Feudalordnung, kann man den eigentlichen politischen Sinn der hobbesschen Konstruktion sehen.47 Im Bereich des Rechts zeigen sich ähnliche Ambivalenzen wie im Feld der Politik und des Staates. Lange bevor das Common law im 19. Jahrhundert, im Übergang vom traditionellen precedent zur modernen Doktrin von stare decisis, eine tiefe Transformation auf der methodischen Grundlage der Naturphilosophie erlebte,48 versuchte Hobbes dem Common law seine Eigenständigkeit zu nehmen und es in ein einheitliches, „rationales“, durch den Monarchen bestimmtes System zu integrieren. Auf der einen Seite konnte das Recht dadurch von der Tradition gelöst und vom Monarchen für unterschiedlichste (in der Zukunft liegende) Zwecke mobilisiert werden. Auf der anderen Seite war die Artikulation des monarchischen Willens aber jetzt den Formen einer gemeinsamen Rechtssprache unterworfen, in dem Sender (König) und Empfänger (Untertanen) die gleiche Sprache sprachen. Auch deshalb ist die hobbessche Rechtstheorie als Imperativentheorie, als Theorie, die das Recht auf die Anwendung von Befehlsgewalt und Sanktionsmacht zurückführt, höchst unzureichend charakterisiert.49 Das Rechtsgesetz bleibt bei Hobbes in eine öffentliche Sprache eingebunden und zudem eng mit der naturphilosophischen Rationalität des allgemeinen (Bewegungs-)Gesetzes verknüpft. Rechtsgesetze sind nicht einfach situative Befehle, sondern durch Befehl in allgemein verständlicher (Schrift-)Sprache in Kraft gesetzte Regeln (rules), anhand derer jeder Untertan zwischen Recht und Unrecht unterscheiden (lernen) kann.50

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Koschorke (Fn. 39), 112. Die viel diskutierte Frage, warum Hobbes sein Gemeinwesen „Leviathan“ genannt habe, ist falsch gestellt: Dass er ihm einen Namen gegeben hat, ist der Punkt, auf den es ankommt. Vgl. nur K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 10 (mit Hinweis auf M. Oakeshott). Vgl. nur H. J. Berman, Law and Revolution II, 2003, 275. So z. B. W. Kersting, Politik und Recht, 2000, 295 (mit der Bemerkung, Hobbes habe natürlich eine Imperativentheorie des Rechts vertreten). Hobbes, Leviathan, Ch. 26, 183 („Civil Law, Is to every Subject, those Rules, which the Commonwealth hath Commanded him, by Word, Writing, or other sufficient Sign of The Will, to make use of, for the Distinction of Right, and Wrong; that is to say, of what is contrary, and what is not contrary to the Rule.“). Hobbes geht es um die Konstruktion eines Rechtsverhältnisses zwischen Monarch und Untertan (Bürger/Staat-Verhältnis), dessen Inhalt zwar vom Monarchen bestimmt wird, aber die Form/ Gestalt der Bestimmung des Befehls ist die universale Regel, das allgemeingültige Gesetz, nicht die konkrete Maßnahme. Darin liegt die proto-rechtsstaatliche Pointe der hobbesschen Konstruktion, die in Deutschland noch immer durch Carl Schmitts Hobbes-Buch von 1938 zugeschüttet ist.

51 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 3. System I

III. Systembildung im Rechtspositivismus 1. Zur juristischen „Construction“

83 Die Naturphilosophie hatte das System seit dem 17. Jahrhundert zu einem neuen Mittel der Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht. Während in England schon Hobbes das Common law auf naturphilosophischer Grundlage herausgefordert hatte, erreichte das Systemdenken im deutschen Sprachraum erst um 1800 – vermittelt insbesondere durch Kant und Hegel – die sich neu formierende Rechtswissenschaft. Für Kant waren Philosophie und Systembildung deckungsgleich, Wahrheit und Vernunft nur noch in der Form eines systematischen Entwurfs denkbar. Zwar kam auch der kantische Entwurf nicht ohne Erfahrungswissen aus, von der empirischen Erfahrungswissenschaft und ihrer Einheitsform, dem bloßen „Aggregat“,51 war das kantische System aber gerade durch die rationale Verknüpfungsform der Kategorien unterschieden, einer reinen Verstandeseinheit, die allem Empirischen a priori vorherging. „Unter System“, lautete eine dafür knappe Formulierung Kants, „verstehe ich die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“.52 Noch Hegels eher organisches Systemdenken akzeptierte diese Gleichsetzung von Erkenntnis und wissenschaftlicher Systembildung und folgte Kants architektonischem Systemgedanken darin, „daß das Wissen nur als Wissenschaft oder als System ... dargestellt werden kann“.53 84 Die Übertragung des naturphilosophischen Systemdenkens auf die Arbeitsformen der Jurisprudenz begann in der historischen Rechtsschule, bei Autoren wie Friedrich Carl Savigny und Georg Friedrich Puchta – und wurde im rechtswissenschaftlichen Positivismus vollendet.54 Die Rechtsgeschichte unterscheidet historische Rechtsschule, rechtswissenschaftlichen Positivismus und Gesetzespositivismus und bezeichnet als „rechtswissenschaftlichen Positivismus“ jene tonangebende Bewegung einer konstruktiv-systematischen Rechtswissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, die mit Namen wie Rudolf v. Jhering, Bernhard Windscheid, Carl Friedrich v. Gerber und Paul Laband verbunden ist. Die juristische Systembildung stand im 19. Jahrhundert von Anfang an in engem Kontakt zu der politischen Forderung nach einem einheitlichen nationalen Recht.55 Im Unterschied zum nachrevolutionären Frankreich herrschte jedoch in der deutschen Rechtswissenschaft lange Zeit großes Misstrauen gegen die politische Gesetzgebung der landesfürstlichen und königlichen Regierungen. Auch auf Grund des fehlenden einheitlichen Nationalstaats (die Revolution von 1848 schei51 52

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I. Kant, Kritik der reinen Vernunft Bd. 2 (1787), Werkausgabe Bd. 4, 1974, B 859, 860. Kant, ebd., B 861. Zu den kommunikativen Voraussetzungen der Idee eines Systems der Erkenntnisse J. Simon, Kant, 2003, 20ff. Zum Systembegriff bei Kant vgl. auch Riedel (Fn. 18), 307ff. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), 1970, 27. Bei Hegel wurde das System allerdings zu einer „Figur der Zeit“ (Riedel), zu einer sich selbst gleich bleibenden Idee, die erst in einem Entwicklungsgang, erst innerhalb einer als Einheit zu verstehenden geschichtlichen Zeit, zur vollen („absoluten“) Entfaltung und Bestimmung ihrer selbst kam. Zum Wechsel vom architektonischen zum organischen Systemgedanken vgl. Ch. Strub, Gebäude, organisch, verkettet, 2009, 108ff. Wieacker (Fn. 1), 430, spricht von einer Übertragung der „System- und Begriffsbildung des jüngeren Vernunftrechts auf den gemeinrechtlichen Stoff“. Vgl. auch Schröder (Fn. 37), 186f., 247ff.; ders., Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, 1979, 115ff.; J. Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, 1984, insb. 303ff. (zu Savignys objektiv-idealistischem Denken). Zu diesem Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung und seiner „Verspätung“ gegenüber dem Common law und dem französischen Kodifikationsrecht vgl. Zweigert/Kötz (Fn. 7), 180f.

52 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Systembildung im Rechtspositivismus

terte) wurde der Auftrag zur Realisierung des neuen systematischen Rechtsdenkens deshalb bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein nicht als Forderung nach einer einheitlichen Kodifikation an die Politik adressiert, sondern als Auftrag zur Konstruktion von Systementwürfen an die Rechtswissenschaft selbst.56 Der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts teilte die Ausgangsannahme der Natur- 85 philosophie, dass wissenschaftliche Erkenntnis nur in der Form der Systembildung zu erreichen war. Schon Savigny hatte in seiner Kollegschrift von 1802/03 gefordert, dass die „Gesetzgebungswissenschaft“ – und damit meinte Savigny die gesamte Rechtswissenschaft – „eine historische Wissenschaft“ und „auch eine philosophische“ zu sein hätte.57 Philosophisch hieß bei Savigny – nicht anders als bei Kant oder Hegel – systematisch,58 und diesen Weg setzte Savigny dann 1840 im System des heutigen Römischen Rechts um, einem Werk, das den Systembegriff bereits im Titel trug. Damit forcierte Savigny zugleich eine für die deutsche Rechtswissenschaft bis in das 20. Jahrhundert hinein einflussreiche Tradition: Die Systembildung wurde primär am römischen Recht entwickelt, das jetzt in ein systematisches Recht umgewandelt wurde, was es in seiner antiken und mittelalterlichen Erscheinungsform nicht war.59 Sein Material entnahm der Rechtspositivismus dem Corpus iuris civilis, vor allem den Digesten (von lat. digesta, Geordnetes), die seit der unter Justinian verfassten Constitutio Dedoken von 533 auch Pandekten genannt wurden (von gr. pandaectae, allumfassend, das Ganze zu Einem versammelnd). Noch Windscheid publizierte sein Hauptwerk – seit 1862 – unter dem Titel Pandektenrecht. Darunter verstand Windscheid – in der Sache nicht anders als Savigny – „das gemeine deutsche Recht römischen Ursprungs“.60 Deshalb ist es auch üblich geworden, von „Pandektenwissenschaft“ statt von rechtswissenschaftlichem Positivismus zu sprechen. Systembildung heißt in der Pandektenwissenschaft und bereits in der historischen 86 Rechtsschule: Konstruktion einer „inneren Einheit“ des „gesamten Rechts“. So wie bei Kant das System die „vollständige Einheit der Verstandeserkenntnis“ war, „nicht bloß ein zufälliges Aggregat, sondern ein nach notwendigen Gesetzen zusammenhängendes“ Ganzes,61 unterschied Savigny 1802/03 ebenfalls in einer architektonischen Systemsprache und Metaphorik „eine Einheit“ des Rechts aus „innerem Zusammen56

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Das ist der Hintergrund für den „Kodifikationsstreit“ zwischen Savigny und Thibaut. Darstellungen dazu finden sich z. B. bei Wieacker (Fn. 1), 390ff.; H. Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 2001, 142ff. F. C. v. Savigny, Juristische Methodenlehre (1802/03), 1951, 14. Savigny betonte sogar die Einheit des Unterschieds von historischer und philosophischer Wissenschaft, wenn er verlangte, dass die Rechtswissenschaft „historisch und philosophisch“ zugleich sein müsse; der „vollständige Charakter der Jurisprudenz“, so Savigny, beruhe auf dieser Verbindung. Vgl. dazu die Darstellungen bei Wieacker (Fn. 1), 370f., 386; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 11ff.; Schröder (Fn. 54), 121ff. Vgl. nur Savigny (Fn. 57), 15f., 48. Man kann auch mit Wieacker (Fn. 1), 367, formulieren, dass die historische Schule eher eine systematische Schule war, in der es um die Neubegründung einer methodenbewussten systematischen Rechtswissenschaft ging. „Ihr Kern ist vielmehr ein innerer Wandlungsprozeß der Rechtswissenschaft selbst, die um 1800 das neue Ideal einer zugleich positiven, d. h. autonomen, und philosophischen, d. h. systematisch-methodischen Rechtswissenschaft ins Auge faßt.“, D. Wielsch, Freiheit und Funktion, 2001, 114. Vgl. dazu nur den Hinweis bei Weber (Fn. 7), 492f., und Zweigert/Kötz (Fn. 7), 183f., die zu Recht darauf aufmerksam machen, dass das antike römische Recht eher dem Common law als dem Pandektenrecht ähnelte. B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1862, 1. Kant (Fn. 51), A 646.

53 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3. System I

hang“ auf der einen Seite vom „bequemen Aggregat der Materien“, dem „bloßen Fachwerk“, auf der anderen Seite.62 Im System des heutigen römischen Rechts von 1840 wurde daraus die methodische Forderung nach einer Erkenntnis und Darstellung des „inneren Zusammenhangs“ des Rechtsstoffs, „wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe und Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden“.63 Auch bei Puchta war es die „systematische Erkenntniß“, die Erkenntnis des „inneren Zusammenhangs“, welche „die Theile des Rechts“ verband.64 Eine systematische Anordnung des Stoffes im Sinne einer „großen Einheit“ verfolgte auch Gerber. Gerber, der die juristische Konstruktionstechnik und Systembildung in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf das deutsche Privatrecht und später auch auf das Staatsrecht übertrug, forderte ebenfalls die „Aufstellung“ eines wissenschaftlichen Systems, „in welchem sich die einzelnen Gestaltungen als die Entwicklungen eines einheitlichen Grundgedanken darstellen“.65 Gerbers staatsrechtlicher Konstruktivismus wurde nach der Reichsgründung von 1871 von Laband aufgegriffen und weiterentwickelt. Bei Otto Mayer fand die rechtswissenschaftliche Systembildung dann ihre überzeugendste Realisierung auf dem Feld des Verwaltungsrechts.66 87 Die Systeme der historischen Rechtsschule und der Pandektenwissenschaft verfügten wie die Systeme der Naturphilosophie über eine hierarchische Abschichtung von Allgemeinem und Besonderem. Puchtas Lehrbuch für Institutionen von 1829 trennte beispielsweise einen „Allgemeinen Theil“ von einem „Besonderen Theil“, wobei ersterer später – im ersten Band des Cursus der Institutionen von 1841/42 – mit dem Titel „Enzyklopädie“ überschrieben wurde.67 Im allgemeinen Teil des Institutionenlehrbuchs behandelte Puchta Themen wie „Das Recht“, „Das Subject des rechtlichen Willens“, „Die Rechte“, „Der Proceß“ usw., bevor im besonderen Teil Sachenrecht, Eigentum, Besitz, Rechte an Handlungen und Rechte an Personen erörtert wurden.68 Im System des Deutschen Privatrechts von Gerber (erste Auflage 1848/9) stößt man auf eine vergleichbare Theorietechnik: In einem „Ersten Theil“ werden die allgemeinen Grundlagen des Privatrechts dargestellt wie u. a. die Entstehung des Rechts, Anwendungsgebiete, Rechtsverhältnisse, Rechtsgegenstände; in einem „Zweiten Theil“ die einzelnen Privatrechte wie Eigentum, Rechte an fremden Sachen (Lehnrecht), Rechte an Handlungen (Forderungen, Verträge), Personenrechte (Ehe, Erziehung) und Erbrecht. Auch Windscheid beschrieb in seinem Lehrbuch des Pandektenrechts von 1862 zunächst allgemeine Grundlagen des Rechts wie Rechtsquellen, Auslegung und wissenschaftliche Behandlung des Rechts, Gegensätze im Recht, Begriff des Rechts, Rechtssubjektivität, juristische Person usw., bevor in weiteren „Büchern“ die einzelnen besonderen Privatrechte wie Sachenrecht, Besitz, Eigentum, Dienstbarkeiten, Pfandrecht usw. thematisiert wurden. Mayer schaltete dem besonderen Teil seines Verwal62 63 64

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Savigny (Fn. 57), 15f.; Wielsch (Fn. 58), 114, zu Kant. Savigny (Fn. 14), XXXVI (Vorrede); vgl. auch Schröder (Fn. 54), 121. G. F. Puchta, Cursus der Institutionen I, 1853, 100. Auch Puchta grenzte dabei das System vom „bloße(n) Aggregat von Rechtssätzen“ ab. C. F. v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, S. VIII; weitere Hinweise und Analysen bei C. Kremer, Die Willensmacht des Staates, 2008. Dazu näher M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, 1992, 331ff., 341ff. (Laband), 403ff. (O. Mayer). Zur Bedeutung der Enzyklopädie für die Systematisierung des Rechts R. M. Kiesow, Das Alphabet des Rechts, 2004, 76ff. Dazu näher H.-P. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004, 267ff.

54 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Systembildung im Rechtspositivismus

tungsrechts ebenfalls einen allgemeinen Teil vor. Dieser behandelte die Geschichte des Verwaltungsrechts, die Grundzüge der Verwaltungsrechtsordnung und den Rechtschutz in Verwaltungssachen. Wie die Naturphilosophie des 17. Jahrhunderts operierte auch der Rechtspositivis- 88 mus des 19. Jahrhunderts mit „ersten“ Sätzen, Axiomen oder „Principien“ an der Spitze seiner Systementwürfe. Diesen Platz nahm hier – wie wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels bereits gesehen haben – der Begriff der Freiheit ein, durch den der Rechtsbegriff letztlich auf willensgesteuerte Selektionsmöglichkeiten eines Rechtssubjekts zurückgeführt wurde. Puchta definierte Freiheit als „Möglichkeit einer Wahl, oder eines Willens“.69 Jedes Recht war die Beziehung des freien Willens eines Subjekts auf einen „Gegenstand“, wobei die Beziehung zwischen Wille und Gegenstand wiederum hierarchisch gefasst wurde, als „Herrschaft“ oder Macht“, die „der Person über einen Gegenstand gegeben ist“.70 Das deckte sich weitgehend mit Savignys Vorstellung von Willensherrschaft. Darin zeigt sich noch einmal die ebenfalls bereits angesprochene paradoxe Be-Gründung des rechtspositivistischen Systems: Die unbedingte Freiheit des subjektiven Willens war in eine durch das System selbst getragene Regelhaftigkeit eingebunden und im Grenzfall mit dieser identisch; nach einer zutreffenden Beobachtung Labands war die Objektivität des Rechts im rechtspositivistischen System vom subjektiven Willen des einzelnen Rechtsanwenders vollkommen unabhängig, sofern der einzelne Rechtsanwender sich der Selbstverpflichtung bewusst wurde, das objektive Recht „als von einer über ihm stehenden Macht gegeben“ hinzunehmen.71 Der freie Wille gründete in einem Allgemeinen, in einem Anderen der Vernunft, für dessen fremde Ansprüche sich das Individuum und sein Wille öffnen mussten; keineswegs aber ging es im Rechtspositivismus um inhaltsleere subjektive Willkür, um beliebige Freiheit, wie später etwa in Carl Schmitts verfassungsgebender Gewalt, dem pouvoir constituant.72 Historisch gesehen akzentuierten historische Rechtsschule und rechtswissenschaftlicher Positivismus vor allem die Ordnungsleistung dezentraler subjektiver Entscheidungsrechte, insbesondere in Form der Eigentums- und Vertragsfreiheit. Aber auch der Staat war hier als juristische Persönlichkeit in die Form einer allgemeinen, aus einer „Willensmacht“ hervorgehenden Gesetzmäßigkeit eingebunden.73 Mit Hilfe eines in subjektiver Willensfreiheit gründenden Systems lösten historische 89 Rechtsschule und rechtswissenschaftlicher Positivismus den gesamten Rechtsstoff von seinen lokalen Traditionen, um ihn allein durch begrifflich-logisches Denken von oben nach unten nach Maßgabe niederer und höherer Wertigkeit neu abzuschichten. Bei Puchta hieß die Methode der hierarchischen Ordnungsbildung „Genealogie“. Deren Aufgabe sah Puchta darin, die positiven Rechtssätze „in ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und voneinander abstammende, zu erkennen, um die Genealogie der Einzelnen bis zu ihrem Princip hinauf verfolgen, und ebenso von ihren Principien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können“.74 Die 69 70 71 72 73

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Puchta (Fn. 64), 7, vgl. auch 9 („Vermöge der Freiheit ist der Mensch Subject des Rechts.“). Puchta, ebd., 12; Haferkamp (Fn. 68), 266. P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178. C. Schmitt, Die Diktatur (1928), 1978, 142. Vgl. nur v. Gerber (Fn. 65), 3; näher dazu Kremer (Fn. 65); W. Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, 1993, 140ff.; vgl. auch Koschorke (Fn. 39), 319ff. Puchta (Fn. 64), 37.

55 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3. System I

Ehe, so erläuterte Puchta dieses Verfahren beispielhaft,75 gehöre in die Lehre vom Eigentum, von den Servituten, vom Pfandrecht, von den Obligationen, von der Verwandtschaft, von der väterlichen Gewalt, vom Erbrecht usw. In all diesen Rechtsverhältnissen spiele die Ehe in der Praxis eine Rolle und müsse daher in der Darstellung dieser Rechtsverhältnisse vorkommen. Die Aufgabe der Systembildung bestand für Puchta aber gerade darin, alle (Privat-)Rechte durchgehend zu klassifizieren, also auch die Ehe selbst zum Gegenstand eines eigenen, selbstständigen Rechtsverhältnisses zu machen, eine Aufgabe, die Puchta dadurch löste, dass er die Trichotomie von Rechten an Sachen, Handlungen und Personen neu arrangierte und das Eherecht den subjektiven Rechten „an Personen außer uns“ zuordnete.76 90 Synonym mit Systembildung wurde im Rechtspositivismus auch der Begriff der „juristischen Construc-

tion“ benutzt.77 Der Begriff der juristischen „Construction“ bezog sich unmittelbar auf das System als Gesamtentwurf, auf die Konstruktion aller Elemente und Strukturen des Systems. Bei Savigny und Puchta umfasste das etwa die Konstruktion eines inneren Zusammenhangs von Person, Freiheit, Wille, Rechtsregeln, Rechtsinstituten und Rechtsverhältnissen, im Staatsrecht bei Gerber etwa die Konstruktion eines inneren staatsrechtlichen Systems, seiner Begriffe, Verbindungen, Prinzipien, Rechtsinstitute und Rechte. „Construction“ machte die Rechtswissenschaft mit anderen Worten zu einer „producierenden Wissenschaft“, die – im Unterschied etwa zur aristotelischen Moralphilosophie – ausschließlich nach selbstgesetzten Regeln operierte, die sich als berufen ansah, „allgemeine ... Principien in voller Freiheit nach ihren Gesichtspunkten und den Regeln ihrer Kunst zu entwickeln“.78 In diesem Anspruch, alle Bestimmungen aus sich selbst zu schöpfen, partizipierte die Rechtswissenschaft an einem konstruktivistischen Systemdenken, das im Deutschland des 19. Jahrhunderts auch andere gesellschaftliche und kulturelle Felder – wie etwa die Malerei Caspar David Friedrichs – beherrschte. Damit sollte die Tradition der Theologie, die den höchsten Willen in einem Anderen, nämlich in Gott, verankert hatte, überwunden werden.

2. Lückenlosigkeit, Folgerichtigkeit, Positivität des Rechts

91 Schon Christian Wolff war in der Mitte des 18. Jahrhunderts – im Kontext der Moralphilosophie – die durchgängige Verknüpfung aller im System enthaltenen wahren Aussagen aufgefallen.79 Eine solche Lückenlosigkeit versuchte der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts durch eine vollständige logische „Herrschaft“ über den Stoff zu erreichen. Ein System, hieß es dazu bei Gerber, sei stets bemüht, „die Gegenstände seines Gebiets der Fügung seiner logischen Gewalt zu beugen.“80 Alle vorgefundenen Rechtssätze und Institutionen sollten so angeordnet werden, dass sie untereinander ein logisch klares und in sich logisch widerspruchsloses System von Regeln und Institutionen bildeten. Dabei wurde nicht der Stoff als lückenlos vorausgesetzt, sondern 75

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Vgl. dazu H.-P. Haferkamp, Recht als System bei Georg Friedrich Puchta, forum historiae iuris 2003, Rn. 10ff. m.w.N. Nachweise bei Haferkamp (Fn. 68), 267. Vgl. nur K. Quensel/H. Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode, Rechtstheorie 33 (2002), 91ff., 101, 116ff., die u. a. auf Jhering und dessen „Theorie der juristischen Technik“ mit ihren drei „Fundamentaloperationen“ („juristische Analyse“, „logische Construction“, „juristische Construction“) hinweisen. Gerber (Fn. 65), 231f. (mit Bezug auf das Staatsrecht). Gerber beanspruchte hier also eine Freiheit für die Rechtswissenschaft, die man noch im 18. Jahrhundert ausschließlich dem König zugestanden hatte. Ch. Wolff, Philosophia moralis sive ethica (1750), 1, 3 § 285 (in systema vero veritates omnes, quae in eodem continentur, inter se connectuntur: im System werden alle wahren Sätze, die in ihm enthalten sind, miteinander verknüpft), hier zitiert nach Riedel (Fn. 19), 296. C. F. v. Gerber, Ueber den Begriff der Autonomie (1854), 1878, 45; hier zitiert nach Kremer (Fn. 65), 200.

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III. Systembildung im Rechtspositivismus

das System als lückenlos gedacht. Entsprechend ergänzte sich das System bei Savigny oder Puchta im Moment seines Gebrauchs selbst, etwa durch Analogiebildung.81 Auch Labands Bemerkungen über die logische Behandlungsart des Staatsrechts, die Konstruktion der Rechtsinstitute durch „Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeinere Begriffe“ einerseits und die „Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen“ andererseits,82 sind nur vor dem Hintergrund des konstruktiven Systembegriffs verständlich. Das juristische System konnte so wenig Leerstellen haben wie die Natur von allgemeingültigen Naturgesetzen abweichen konnte. War der Stoff einmal in einen lückenlosen Zusammenhang gebracht, konnten mit in- 92 nerer Folgerichtigkeit „Consequenzen“ aus dem System deduziert werden. Die Rechtswissenschaft konnte jetzt von organischer auf logische Orientierung im Sinne einer Umstellung von evolutionärem Zufall oder historischem Gewachsensein auf strikte Grund- und Folgehierarchien umstellen, auf ein konsequentes Denken von „ersten“ Sätzen aus; so wie es Hobbes bereits im 17. Jahrhundert für die praktische Philosophie gefordert hatte.83 War der Rechtsbegriff einmal im Personenwillen, im Subjekt, verankert, war es beispielsweise leicht zu erklären, dass auch das Wegerecht eine partielle Willensmacht über einen fremden Gegenstand enthielt und daher vom Nutzenden und nicht einfach vom fremden Eigentum her zu konstruieren war: Auch das Nutzungsrecht enthielt ein subjektives Moment und war so an den obersten Grundsatz des Rechtssystems, die Willensherrschaft, angebunden. Eine Prüfung der rechtlichen Natur der einzelnen Institute und ihres Zusammenhangs „mit den stufenweise bis zum letzten Sammelpunkte aufsteigenden Gesammtideen“ forderte ganz ähnlich Gerber.84 Im Staatsrecht konnte Gerber dann etwa aus der staatsrechtlichen Natur des Monarchenrechts folgern, dass der Thronfolger zur Übernahme des Monarchenberufs befähigt sein musste.85 Der Begriff des „positiven Rechts“, der dem Rechtspositivismus seinen Namen gege- 93 ben hat, bedeutete hier: Orientierung an selbst gesetzten Regeln, Autonomie der Rechtsordnung gegenüber anderen Normordnungen, nicht einfach Rechtsetzung durch ein wie auch immer legitimiertes Subjekt. Die Positivität des Rechts ruhte im Rechtspositivismus in einer „Zucht des Auffassens“ (Hegel), die an eine allgemeine Rationalität gebunden war und insbesondere für das einzelne Individuum nicht zur Disposition stand. Deshalb wird der Begriff des positiven Rechts verfehlt, wenn man ihn – wie es seit Weber, Schmitt und Kelsen weithin üblich geworden ist – als beliebiges Recht kraft Satzung oder Entscheidung definiert.86 Im Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts ging es nicht um die politische Setzung von Recht je nach situativen Erfordernissen. Vielmehr stand der Gedanke im Mittelpunkt, Recht als autonomes 81

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Savigny (Fn. 14), 290f.; G. F. Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 9. Aufl., 1863, § 16, 29 („diese Lücken zeigt zugleich das System auf und füllt sie aus“); vgl. auch Schröder (Fn. 37), 249f. P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 1 (1911), 1964, S. IX (Vorwort). Vgl. nur Hobbes, Leviathan, Ch. 5, 33 („The Use and End of Reason, is not the finding of the summe, and truth of one, or a few consequences, remote from the first definitions, and settled significations of names; but to begin at these; and proceed from one consequence to another.“). C. F. Gerber, System des Deutschen Privatrechts, 5. Aufl., 1855, VI (Vorrede). Kremer (Fn. 65), 200. Vgl. nur Weber (Fn. 7), 124f. (beliebiges Recht durch gesatzte Ordnung); C. Schmitt, Politische Theologie (1922), 1985, 16 (Rechtsordnung beruht auf Entscheidung, nicht auf einer Norm); Kelsen (Fn. 2), 201 (positive Normen = gesetzte Normen); ähnlich, in frühen Arbeiten, Luhmann (Fn. 28), 122, 124 (positives Recht = gesetztes Recht, Geltung kraft Entscheidung).

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§ 3. System I

System zu begründen; wissenschaftlich zu demonstrieren, dass das positive Recht als (lückenloser) hierarchischer Zusammenhang von Rechtssätzen dargestellt und einmal dargestellt künftig auch praktisch realisiert werden konnte (vgl. Rn. 168ff.). Dabei wurden Rechtssätze und Rechtserkenntnisse nicht strikt voneinander geschieden und das System in seiner Produktivität selbst zur Quelle positiven Rechts. 3. Zwischenbilanz

94 Die Rechtswissenschaft nach 1800 nutzte das naturphilosophische System, um sich zu einer „autonomen Wissenschaft des positiven Rechts“, „zu einer erkenntnistheoretisch fundierten, die Totalität des positiven Rechtsstoffs zum inneren System organisierenden Wissenschaft“ umzuwandeln.87 Autoren wie Savigny, Puchta, Gerber, Jhering, Windscheid, Laband u. a. hinterfragten die Mannigfaltigkeit und Zufälligkeit organisch gewachsener Institutionen und versuchten diese in einem homogenen Raum universaler (und zeitlich reversibler) Gesetzmäßigkeiten zum Verschwinden zu bringen; damit waren sie Teil einer Bewegung zur Abstraktion, zur Objektivierung des Rechts jenseits persönlicher „subjektiver“ Urteile, wie sie für die (bildungs-)bürgerliche Kultur und ihre literarischen Manifestationen insgesamt typisch war.88 Daran kann und muss man heute vieles kritisieren, aber dieser Leistung des Rechtspositivismus wird man nicht gerecht, wenn man z. B. Puchtas Methode der Genealogie, die Rückführung aller Rechtssätze in ein Prinzip, in pejorativem Tonfall als „Begriffsjurisprudenz“ abtut89 oder dem Rechtspositivismus insgesamt „leeren Formalismus“ bescheinigt.90 Der rechtswissenschaftliche Positivismus hatte nichts mit „Blindheit“ gegenüber „dem Leben“ zu tun. Niemand im 19. Jahrhundert war so naiv, das Recht in seiner operativen Wirklichkeit mit seiner Darstellung in einem rechtswissenschaftlichen Lehrbuch zu verwechseln. Es ging darum, das vorgefundene gemeine Recht wissenschaftlich-systematisch zu ordnen und diesen Ordnungsanspruch an die (künftige) Realität zu adressieren, um so „die Enge der Verknüpfung zwischen Recht und lokalen Gewohnheiten“ aufzubrechen.91 Wenn ein Bürger in München wohnte und im Hamburger Hafen brasilianische Fichte kaufte, sollten in Hamburg eben dieselben Rechtsregeln gelten wie in München. Keineswegs aber wurde bestritten, dass explizite Rechtssätze eine lebendige protorechtliche Praxis aus Erfahrungen, praktischem Wissen und gesellschaftlichen Konventionen voraussetzen. 95 Schon beim jungen Savigny stand das Aufzeigen der inneren Vernünftigkeit des positiven Rechts durch eine systematisch verfahrende Rechtswissenschaft im Vordergrund, 87

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Wieacker (Fn. 1), 352f., 368 (Zitat); zur Autonomie der Rechtswissenschaft vgl. auch J. Rückert, Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, 1988, insb. 56ff. Vgl. F. Moretti, The Bourgeois, 2013, 89, 90 (es geht um „objective impersonality ...: the more perfect, the more ... dehumanized“). Wie es seit dem späten Jhering bzw. den frühen 1920er Jahren üblich geworden ist. Manchmal wird die Begriffsjurisprudenz auch als „blutleer“ bezeichnet, was immer das im Hinblick auf Texte heißen soll. Dazu und zur Geschichte dieser pejorativen Begriffe kritisch Haferkamp (Fn. 68), 94ff. (Begriffspyramide), 26ff. (Begriffsjurisprudenz). Der Formalismusvorwurf findet sich stellenweise auch bei Wieacker (Fn. 1), z. B. 401f.; nietzeanisch in diese Richtung argumentiert bisweilen Kiesow (Fn. 67), z. B. 19, 157ff.; kritisch zum Formalismusvorwurf etwa J. Rückert, Das BGB und seine Prinzipien, 2003, 34ff., 100. So K.-H. Ladeur, Der „Eigenwert“ des Rechts, 1999, 31ff., 42f. (mit Blick auf die Funktion des französischen Code civil).

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III. Systembildung im Rechtspositivismus

deren Vorgegebenheiten Savigny durch einen Rekurs auf den „Volksgeist“, also durch eine vom Körper des Herrschers gelöste, rein „geistige“ Figur, zu fassen suchte.92 Puchta entfernte sich nicht von diesem Standpunkt, wenn er beispielsweise im Cursus der Institutionen von 1841/42 darauf hinwies, dass die Systembildung „Rechtssätze zum Bewußtsein“ bringe, die „weder in der unmittelbaren Überzeugung der Volksglieder und ihren Handlungen noch in den Aussprüchen des Gesetzgebers zur Erscheinung gekommen sind“, die aber im „Geist des nationalen Rechts verborgen“ seien und „erst als Produkt einer wissenschaftlichen Deduktion sichtbar entstehen“.93 Wenn es später bei Windscheid hieß, dass ethische, politische oder volkswirtschaftliche Erwägungen „nicht Sache des Juristen als solchen“ seien,94 dann stand auch hier die Intention der wissenschaftlichen Systembildung im Vordergrund. Die Autonomie des Rechtssystems konnte ja nicht einfach ethisch, politisch oder volkswirtschaftlich begründet werden, sondern eben nur durch eine eigenständige rechtswissenschaftliche Expertise, die man als „logisch“ oder „juristisch“ bezeichnete. In der Konstruktion einer „inneren Einheit“ des Rechts fand das juristische System des 96 19. Jahrhunderts seine Vollendung – und zugleich seine Grenze. Vor allem die hierarchieförmige Rückkopplung aller Rechtssätze und Institutionen an eine „Gesamtidee“ blieb einer Semantik verpflichtet, die die Mannigfaltigkeit des Gegebenen auf eine Einheit zurückführte und darin an ältere (theologische) Traditionen anknüpfte. Das juristische System des 19. Jahrhunderts wurde durch ein beherrschendes Allgemeines bestimmt, durch die subjektive Willensmacht; diese wurzelte ihrerseits in einem Unbedingten, der Freiheit oder Vernunft, so wie das antike oder mittelalterliche System durch einen beherrschenden Teil bestimmt wurde, der aller Notwendigkeiten enthoben war, wie der Adel, die Philosophen oder Gott. Zwar wurde das Moment der Beherrschung im Systembegriff des 19. Jahrhunderts von Natur auf Kunst, auf artifizielle Personen und konstruierte Zusammenhänge und von Partikularität auf Allgemeinheit, auf Freiheit und Gleichheit verschoben. Die Plausibilität der hierarchischen Systemarchitektur wurde aber nirgends hinterfragt. Am höchsten Punkt, an der Spitze des Systems, fielen Eins und Alles zusammen, von dort aus ließen sich alle Ereignisse im System überblicken, ordnen und kontrollieren. So wie man früher Gott Allmacht und Allwissenheit zugeschrieben hatte, kannte auch das positivistische System keine blinden Flecken, jedenfalls keine, die es nicht selbst hätte sichtbar machen können. 4. Auflösungserscheinungen (Kelsen)

Der rechtspositivistische Systementwurf geriet spätestens um 1900, mit dem Aufstieg 97 der industriellen Massengesellschaft, in die Krise. Der späte Jhering, der jetzt den Zweck im Recht entdeckte, die Interessenjurisprudenz und Freirechtsschule, sie alle suchten unter dem Eindruck großer gesellschaftlicher und kultureller Umwälzungen nach Alternativen zum Systemdenken (vgl. Rn. 207). Anzeichen einer Krise des 92

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Dazu etwa Wieacker (Fn. 1), 385 (Volksgeist zielt auf „kulturelle Tradition“, nicht auf einen biologischen Befund oder eine soziale Realität); vgl. auch E.-W. Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1991, 9ff., 15ff. Puchta (Fn. 64), 36 (Hervorhebung von mir). B. Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, 1904, hier zitiert nach Wieacker (Fn. 1), 431 Fn. 3a. Zur Kritik am begriffsjuristischen Windscheid-Bild vgl. allg. U. Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, 1989.

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§ 3. System I

Rechtspositivismus lassen sich auch an Kelsens reiner Rechtslehre von 1934 studieren. Es war zwar keineswegs irreführend, wenn Kelsen die Reine Rechtslehre als „Fortentwicklung von Ansätzen“ der „positivistischen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts“ etikettierte.95 Um das rechtspositivistische Systemdenken auf veränderte gesellschaftliche, kulturelle und politische Verhältnisse einzustellen, wurde Kelsen jedoch zu erheblichen Modifikationen gezwungen, und der größte Unterschied zum rechtspositivistischen System des 19. Jahrhunderts lag sicher darin, dass das Rechtssystem jetzt nicht mehr in der Freiheit eines Personenwillens – als Ausdruck eines mit dem Selbstbild der liberalen Gesellschaft vermittelten Anfangs – gründete, sondern aus einer abstrakt-wissenschaftlichen „Grundnorm“ als „Ein-Setzung des Grundtatbestandes der Rechtserzeugung“ hervorging.96 Damit schnitt Kelsen die Rechtstheorie zugleich auf eine Normen- und Geltungstheorie zu, nicht ohne weiterhin selbst mit einer Einheitsvorstellung zu operieren, nämlich mit der Möglichkeit, eine Vielheit von Normen über „eine einzige Norm“ auf einen „letzten Grund“ ihrer Geltung zurückzuführen.97 98 Mit der Grundnorm verfügte das Normensystem der reinen Rechtslehre wie alle Systeme in der Tradition der Naturphilosophie über einen „ersten“ Satz. Diese Rückführung erfolgte hier ebenfalls in einem hierarchisch angelegten Normenerzeugungszusammenhang, dem „Stufenbau“ der Rechtsordnung.98 Im Vergleich zum klassischen Rechtspositivismus rückte das Rechtssystem bei Kelsen aber viel näher an das politische System heran. Das System arbeitete jetzt als dynamischer Normenerzeugungszusammenhang, der auch an seiner Spitze offen für jeden beliebigen Inhalt war:99 Wurde eine monarchische durch eine republikanische Regierung ersetzt und verhielten sich die Menschen im Großen und Ganzen nach den Regeln der neuen republikanischen Ordnung, bedeutete dies die „Ein-Setzung“ eines neuen Grundtatbestandes der Rechtserzeugung.100 Diese Offenheit setzte freilich eine Kontingenz am wichtigsten Punkt des Systems frei, die die Reine Rechtslehre für jede Art von Politik öffnete und das Recht als instituierte Ordnung völlig aus dem Auge verlor.101 Kelsen versuchte zwar später – in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre von 1960 – den Haltepunkt des Systems durch Rekurs auf die (neukantische) Tranzendentallogik zu externalisieren.102 Damit verstärkte sie aber nur das von Anfang an in der Grundnorm angelegte Moment, die Einheit des Rechtssystems nur noch von außen, wissenschaftlich, als notwendigerweise anzunehmende Bedingung der Möglichkeit von Rechtsgeltung, fundieren zu können. Der im Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts stets vorausge95 96 97 98

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H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 1994, X (Vorwort). Kelsen, ebd., 64. Kelsen, ebd., 62. Kelsen, ebd., 73ff.; dazu erläuternd O. Lepsius, Hans Kelsen und die Pfadabhängigkeit in der deutschen Staatsrechtslehre, 2013, 241ff., 257ff. Kelsen (Fn. 95), 63. Kelsen, ebd., 67f. Noch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erbrachten K. Gödel und A. Turing den Beweis der prinzipiellen Unvollständigkeit axiomatischer (mathematischer) Systeme. Dadurch wurden Entwürfe unmöglich, die, wie derjenige Kelsens, in einem System widerspruchsfrei eine Regel zu begründen versuchten, die die Geltung und Anwendbarkeit aller anderen Regeln regelte. Vgl. dazu K. Mainzer, Computerphilosophie zur Einführung, 2003, 44ff. Vgl. Kelsen (Fn. 2), 205 (Die Grundnorm wurde hier zu einem für jeden Inhalt offenen, rein formalen, lediglich den infiniten Regress vermeidenden „Geltungsgrund“ des Rechts); vgl. zur Grundnorm H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 42ff., 83ff., 88 (Grundnorm = „Platzhalter der Idee der Normativität“).

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IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung

setzte Anspruch auf praxisrelevante Aussagen über die Einheit des Rechts in einer liberalen Gesellschaft geriet dabei weitgehend aus dem Blickfeld. Widersprüche und Unbestimmtheiten zeigten sich auch im inneren Aufbau der reinen 99 Rechtslehre. Kelsen relativierte vor allem die Striktheit der Grund- und Folgehierarchien. An die Stelle des zwingenden Schlusses vom Allgemeinen auf das Besondere, an die Stelle von „Consequenz“ und logischer Folgerichtigkeit, traten Unbestimmtheitsstellen etwa im Verhältnis von höherer und niederer Rechtsstufe. Rechtssicherheit galt nunmehr als „Illusion“,103 Lückenlosigkeit des Systems als „Schein“ und „Fiktion“.104 Auch am Ende des Stufenbaus herrschte Ungewissheit. Kelsen wagte zwar einen Schritt in die richtige Richtung, wenn er die im Rechtspositivismus vorausgesetzte Hierarchie von Rechtsnorm und Anwendung durch ein Modell ersetzte, in der Rechtsanwendung nicht mehr prinzipiell von „Rechtserzeugung“ unterschieden war. Das Recht bildete sich jetzt stärker fallabhängig als individuelle Norm im Rahmen mehrerer, durch eine generelle Norm vorgegebener Möglichkeiten fort. Aber auch an dieser Stelle ließ die Reine Rechtslehre den Leser auf halber Strecke zurück. Kelsen fielen für die von ihm selbst aufgedeckten Unbestimmtheitsstellen nur kompetenzielle und/ oder rechtspolitische Lösungen ein. So erklärte er etwa die Rechtsinterpretation zur „Willensfunktion“, zu einem Vorgang von rechtspolitischem Charakter,105 der sich nicht ausschließlich am positiven Recht, sondern darüber hinaus auch je nach Situation an sozialen Zielen wie Volkswohl, Staatsinteresse, Fortschritt usw. orientiere.106 Im Großen und Ganzen steigerte die Reine Rechtslehre also eher den Grad an Unbestimmtheiten und Paradoxien innerhalb des Systemdenkens, ohne dafür plausible Lösungen anbieten zu können. IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung Die juristische Systembildung des frühen 19. Jahrhunderts setzt das gedruckte Buch 100 als Medium voraus. Das Buch mit seinem durchgängig formatierten Raum, mit Zeile, Absatz und Seite, mit Titelblatt, Überschriften, Inhaltsverzeichnis, Seitenzahlen und Register, das Buch mit seinen starren Buchstabenfiguren, seiner strikten orthographischen Regelmäßigkeit, mit seiner Fähigkeit schließlich, der Summe der gesammelten Informationen durch zwei Buchdeckel den Charakter eines abgeschlossenen Ganzen, einer „natürliche(n) Totalität“,107 zu verleihen: All diese medialen Eigenschaften des Buchs verändern die kognitiven Verhältnisse – die soziale Epistemologie108 – grundlegend und eröffnen ganz neuartige Chancen zu einer systematisch angelegten Anordnung und Durchbildung des Rechtsstoffes, die vorher, auf der Grundlage von Einzel103

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Kelsen (Fn. 95), 101 („Es ist die Illusion der Rechtssicherheit, die die traditionelle Rechtstheorie – bewußt oder unbewußt – aufrechtzuerhalten strebt.“); kritisch dazu M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 48 Fn. 137. Kelsen (Fn. 95), ebd., 102. Kelsen, ebd., 98. Kelsen, ebd., 99. J. Derrida, Grammatologie, 1974, 35; zum technologischen Hintergrund des Buchdrucks M. Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, 1998, 63ff. Vgl. nur K.-H. Ladeur, Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung, 2014, 103ff.; und I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb. 80ff.; vgl. auch T. Vesting, Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.

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§ 3. System I

blatt, Papyrusrolle oder Pergamentkodex, so nicht gegeben waren. Hans Blumenberg hat das Buch in Die Lesbarkeit der Welt (1981) deshalb zu Recht als das Medium bestimmt, das die Herstellung von Totalität leiste, das die Kraft habe, „Disparate, weit Auseinanderliegendes, Widerstrebendes, Fremdes und Vertrautes am Ende als Einheit zu begreifen oder zumindest als einheitlich begriffen vorzugeben“.109 Es spricht infolgedessen auch viel für die These Niklas Luhmanns, dass die Darstellung der Einheit und Autonomie des Rechtssystems vom Buchdruck abhängig ist.110 Aber worin genau besteht dieser Zusammenhang? Und wie ließe er sich erklären? 101 Die Beziehung zwischen Buchdruck und rechtspositivistischer Systembildung lässt sich vielleicht erhellen, wenn man ihr in einer linguistischen, schrift- und medienästhetischen Perspektive auf den Grund geht, wie sie etwa Christian Stetter entwickelt hat. Danach liegt die herausragende Bedeutung des Buchdrucks als Medium darin, die „Digitalisierung der geschriebenen Information“ definitiv ermöglicht zu haben, die Kodierung von Information derart, „daß diese vollständig, ohne Verlust also an Information, wieder dekodiert werden kann“.111 Damit wird zugleich eine unhintergehbare Relationalität des Medienbegriffs sichtbar: Einerseits bilden alle neuen Medien ihre eigene Medialität zunächst in den kognitiven und epistemologischen Verhältnissen aus, die vom älteren Medium bestimmt sind, so wie beispielsweise das Radio zunächst als gelesene Zeitung verstanden wurde. Andererseits wirft das neue Medium mit zunehmender Verselbständigung von seinem Vorgängermedium ein neues Licht auf dieses. Die Besonderheit des Buchdrucks zeigt sich dann im Medium des Computers als „Anfang“ einer neuen Schrift, der digitalen Codeschrift. „Mit der am Alphabet hängenden syntaktischen Diskretheit unserer schriftlichen Texte, die sich im Zuge der Evolution der Orthographie herausgebildet hat – welche ja nichts ist als die Kehrseite der Evolution der Alphabetschrift –, wurde der Grund für die Digitalisierung jeder Art verbaler Information gelegt. Das hat das Buch als Medium ebenso ermöglicht wie das Programm, das als Medium elektronisch kodierter Information genutzt wird und nun auch die Digitalisierung pikturaler Information möglich macht.“112 102 Diese Erklärung würde also davon ausgehen, dass erst beim Schreiben und Lesen von Büchern die Druckschrift als „dingliches Substrat“ zur Verfügung steht.113 Sie würde weiter unterstellen, dass genau in diesem Operieren mit der Druckschrift die „mediale Spur“114 der Kulturtechnik des Buchdrucks, die „Materialität“ des Mediums Buch, in die Botschaft selbst hineingetragen wird. Aber was genau ist mit „Digitalisierung“ im oben wiedergegebenen Zitat von Christian Stetter gemeint? Ein Ausgangspunkt für Stetters Überlegungen ist Nelson Goodmans Unterscheidung von „analogen“ und „di109 110 111 112 113

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Blumenberg (Fn. 17), 17, 18; vgl. auch F.-J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, 2014, 124. Luhmann (Fn. 23), 500. Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 67 Fn. 36. Stetter, ebd., 11f. Diesen Begriff benutzt Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 11. Luhmann (Fn. 34), 195, verwendet dagegen einen medienneutralen Medienbegriff, in dem Medium als „Differenz von medialem Substrat und Form“ definiert wird. Die Materialität des Mediums wird damit zu einer für das System letztlich indifferenten Masse verdünnt. Dann hilft nur noch „strukturelle Kopplung“! Es fragt sich also, ob der Medienbegriff durch Differenz oder durch eine Differenz in sich selbst bestimmt werden muss. Den Begriff der „medialen Spur“ übernehme ich von S. Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, 1998, 73ff. Dazu weitere Überlegungen bei Stetter (Fn. 111), 10f., 79ff., 91ff.

62 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung

gitalen Symbolsystemen“.115 Goodmans Symboltheorie ist um die These zentriert, dass „Symbole“ – eine Geste, ein Bild, eine Partitur, ein sprachlicher Ausdruck – keine an sich gegebenen Zeichen oder Repräsentationen sind, dass vielmehr die Bedeutung eines Symbols, der Status einer Repräsentation, abhängig ist von einem „Symbolsystem“.116 Unter „Symbolsystem“ versteht Goodman ein „Symbolschema“, das mit einem „Bezugnahmegebiet korreliert wird“.117 Das Symbol ist damit unauflöslich auf die raumzeitliche Erfüllung bestimmter Eigenschaften seines Bezugnahmegebiets angewiesen; das Symbol kann sich immer nur performativ, durch reinen Gebrauch, und damit medial, etwa als gesprochenes Wort, gemaltes Bild, gespielte Partitur oder geschriebene Schrift, als Symbolschema, realisieren. Goodman unternimmt hier letztlich den Versuch, den Symbolbegriff an seinen praktischen Gebrauch zu koppeln, ohne andererseits den systemischen Charakter des Alphabets als Symbolsystem leugnen zu müssen. Damit ließe sich u. a. Luhmanns nicht unproblematische These relativieren, dass die Sprache kein System sei, eine These, die eben wohl nur für die gesprochene Lautsprache, die Rede, nicht aber für die auf dem Alphabet aufbauende Druckschrift richtig sein dürfte. Innerhalb der Bandbreite möglicher Realisationen von Symbolsystemen unterscheidet 103 Goodman zwei Grenzfälle. Ein Symbolsystem ist analog, wenn es syntaktisch und semantisch dicht oder in extremer Weise undifferenziert ist, wie z. B. ein Bild; es ist digital, wenn es durchgängig differenziert und eindeutig ist, wie z. B. die Alphabetschrift.118 Den letzten Fall bezeichnet Goodman als „Notationssystem“, das im Unterschied zu analogen Symbolsystemen durch Eindeutigkeit charakterisiert ist, das den Vorzug der Bestimmtheit und Wiederholbarkeit des Ablesens hat.119 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen kann Stetter zeigen, dass erst der Buchdruck die Alphabetschrift in ein Notationssystem im Sinne Goodmans transformiert hat. Der Buchdruck kondensiert die lokal und situativ divergenten Traditionen des Schreibens, die höchst unterschiedlichen Kodierungssysteme der spätmittelalterlichen Handschriften mit ihren je eigenen Abkürzungen und Ligaturen,120 zu einem „in höchstem Maß standardisierten Kodierungsrepertoire“.121 Die je nach Scriptorium variierenden Handschriften weichen jetzt Buchstabenfiguren des Setzkastens mit genau fixierter Gestalt, wie etwa der über Jahrhunderte kaum veränderten Gestalt der lateinischen Antiqua Schrifttypen.122 Damit es zu der für wiederholtes Lesen notwendigen Eindeutigkeit schriftlicher Texte 104 kommt, bedarf es schließlich der Orthographie. Die heute selbstverständliche Normierung der Druckschrift, die Unterscheidung von richtigem und falschem Buchstabengebrauch, von grammatisch korrekten und falschen Sätzen usw., setzt nicht nur die technische Reproduzierbarkeit genau fixierter Zeichengestalten voraus, sondern auch 115 116 117 118

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N. Goodman, Sprachen der Kunst (1976), 1995, 154ff. Goodman, ebd., 210. Goodman, ebd., 139. Das ist eine nur grobe Wiedergabe der Definitionen. Vgl. genauer Goodman, ebd., 154f.; Stetter (Fn. 111), 117ff. (mit Bezug auf den digitalen Charakter der Alphabetschrift). Goodman (Fn. 115), 155. Dazu näher Giesecke (Fn. 107), 489ff. Stetter (Fn. 113), 66. Stetter, ebd., 66; vgl. auch ders. (Fn. 111), 58ff., 60 (zur Starrheit des dinglichen Substrats der Druckschrift); Giesecke (Fn. 107), 90ff. (zum Setzen).

63 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3. System I

eine an diese Errungenschaft anschließende Orthographie. Erst über umfangreiche Wortlisten, wie sie z. B. dann der Duden formuliert, gelingt die heute übliche durchgehende Normierung der Schreibung von Wörtern und Sätzen. Diese Normierung erfordert ihrerseits mehrbändige Buchausgaben, die auf das Buch als Medium der Textherstellung zurückwirken und eine rekursive Struktur in Gang setzen, in der sich schließlich die Form des Schreibens von Büchern an bereits geschriebenen Büchern orientiert. „Der Begriff der Orthographie ist verfehlt, faßt man sie lediglich als ‚graphische‘, konventionelle Gestaltung des signifiant auf. Sie ist nicht weniger, freilich auch nicht mehr als die Normierung der Worte und Satzformen einer Literatursprache, und als solche nicht erdacht oder kodifiziert von Grammatikern wie Schottel, Adelung oder Duden, sondern ‚ausgeschwitzt‘ von der Gemeinschaft der Schreibenden beim Schreiben und, im Fall des Deutschen und vergleichbarer europäischer Sprachen, kodifiziert im Wechselprozeß mit diesen von den Druckern des 16. bis 18. Jahrhunderts.“123 105 Das standardisierte Kodierungsrepertoire der Druckschrift und die umfassende orthographische Regelbindung des Schreibens bewirken eine digitale Aufbereitung der Sprache, die durchgehende diskrete Formatierung des Schriftraums. Die Schreibvarianten und Dialekte verschiedenster (lokaler oder regionaler) Sprachgemeinschaften werden ausgemerzt und durch eine gemeinsame (nationale) Schriftsprache abgelöst, die das Sprachsystem „a priori als über die Schrift individualisiertes Allgemeines zurichtet“.124 Gerade weil die letzten handwerklichen Elemente der Figuren- und Bildhaftigkeit der Schrift mit dem Buchdruck ebenso getilgt werden wie die lokalen Eigenheiten und Abweichungen in der Wort- und Satzbildung, d. h. alle materiellen Voraussetzungen von Inskriptionen, auch die materielle Zeichenhaftigkeit der Druckschrift selbst, zum Verschwinden gebracht ist, kann die Druckschrift die Ökonomie einer standardisierten und regulierten Schrift „mit der Anästhesie des Denkens als seiner eigenen Übersehbarkeit“ verknüpfen.125 Übrig bleibt ein „espace blanc“, ein reines Medium möglicher Markierungen für unendliche Wort- und Satzbildungen in einem formatierten Raum, die zunächst leeren und dann bedruckten Buchseiten. Das ist die mediale und epistemologische Voraussetzung für das, was Wittgenstein eine übersichtliche Darstellung genannt hat: „Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘.“126 106 Damit lässt sich erklären, warum die Möglichkeit, ein Rechtssystem zu entwerfen, das von einem „enzyklopädischen“ Einheitswillen getragen wird, solange unrealisiert bleiben musste, wie es keinen Buchdruck gab. Erst als juristische Monographien in größerer Auflage als Lesestoff zirkulieren und in der Produktion immer neuer Bücher vorausgesetzt werden konnten, konnte aus dem bloßen „Aggregat“ unendlicher Rechtsnormen und Gesetze eine Einheit des Rechts aus „innerem Zusammenhang“ werden,127 eine „systematische Erkenntniß“, welche „die Theile des Rechts“ verbin123 124

125 126

127

Stetter (Fn. 113), 67. Ebd. Stetter kann im Übrigen auch plausibel machen, dass der Buchdruck nicht zufällig auf der Grundlage der Alphabetschrift entstanden ist. Die Alphabetschrift ist der evolutionär einmalige Fall einer Schrift, in der die „Digitalisierung bereits im Grundprinzip dieses Graphismus angelegt“ ist. Vgl. Stetter (Fn. 111), 100, 140 (Zitat). F. Steinhauer, Bildregeln, 2009. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 122; dazu S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 2001, 9, 113, 121 (Denkweisen sind für Wittgenstein Sehweisen). Savigny (Fn. 57), 15f.

64 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Buchdruck als mediale Voraussetzung

det.128 Die „innere Einheit“ des Rechts wird eben erst jetzt, unter Buchdruckbedingungen, darstellbar. Erst wenn der hierarchische Aufbau des Systems durch innere Gliederung immer wieder anschaulich gemacht werden kann, gewinnt auch die Rede von der Vollständigkeit und Lückenlosigkeit des Rechts ihre Evidenz. Erst dann kann das Recht sein, was es werden soll: ein System. Auch das systematische Kodifikationsrecht des 19. Jahrhunderts ist daher intrinsisch mit dem Buchdruck verknüpft. Es setzt die digitale Aufbereitung der Sprache im Buchdruck voraus, die Transformation der vielen lokalen juristischen Sprachgemeinschaften zu einer nationalen Gemeinschaft schreibender und druckender Juristen. Demgegenüber muss man kein Prophet sein, um zu sehen, dass das Zeitalter des Buchdrucks und mit ihm das Zeitalter der systematischen Kodifikationen heute hinter uns liegen. Wenn auch noch immer juristische Bücher gedruckt und Gesetze gemacht werden, werden beide Formen doch heute durch das Medium des Computers und seine heterarchischen, konnexionistischen und netzwerkartigen Informationsstrukturen bestimmt, nicht aber länger durch die hierarchische Architektur des Buchwissens der „Gutenberg-Galaxis“. Mit den hier angestellten (recht knappen) Überlegungen zum Buchdruck als medialer 107 Voraussetzung der rechtswissenschaftlichen Systembildung öffnet sich zugleich ein Forschungshorizont, in dem die rechtstheoretischen Überlegungen bei Hobbes, Kant, Hegel und im staatsrechtlichen Positivismus stärker in ihrer metaphorisch konstruktiven (oder imaginären) Bedeutung wahrgenommen werden könnten, ähnlich wie schon Hans Blumenberg Kants Staatsbegriff, der den monarchischen Staat ganz vom beseelten Körper des Monarchen abzieht, als absolute Metapher interpretiert hat.129 Das würde bedeuten, den Sinn des Buchdrucks und der in ihm entfalteten Begrifflichkeiten, Metaphern und Systemvorstellungen in einem „Aufschließen von Totalhorizonten“ zu sehen.130 Insbesondere absolute Metaphern wie Geschichte, Leben, Mensch, Sein, Freiheit, Gott oder System geben, wie Hans Blumenberg immer wieder zu Recht betont hat, „einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität“.131 Sie liefern oder erzeugen anschauliche Bilder für Phänomene, die sich strenggenommen nicht abbilden lassen, um so das „als Gegenständlichkeit unerreichbare Ganze ‚vertretend‘ vorstellig“ zu machen.132 Die moderne Rechtslehre, auch der rechtswissenschaftliche Positivismus, würden sich dann immer schon in einem Feld mythopoetischer Bedeutungsproduktion bewegen, all diese Unternehmen wären immer schon an der Erzeugung „fiktiver“ Totalhorizonte – der Leviathan, die Verfassung, das Rechtssystem, das Gesetzbuch etc. – durch gedruckte Bücher beteiligt. Ob man an dieser Stelle mit der amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Viktoria Kahn von einer rein säkularen Konzeption von poiesis sprechen kann, derzufolge Menschen nur das wissen können, was sie selbst gemacht haben, das Historische, das Soziale und das Säkulare,133 wäre im Hinblick auf die Kategorie der Säkularisierung sicher zu diskutieren. Aber in dieser Perspektive kann die moderne Rechtstheorie seit Hobbes zweifellos als ein begriffliche Wissenschaft und unbegriffli128 129 130

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Puchta (Fn. 64), 100. Vgl. H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, 2010, 58. Wetz (Fn. 109), 20; D. Mende, Vorwort: Begriffsgeschichte, Metaphorologie, Unbegrifflichkeit, 2009, 9. H. Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), 2013, 29; Wetz (Fn. 109), 20. Blumenberg (Fn. 131), 29; S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004, 11, 25. Kahn (Fn. 39), 7 („purely secular conception of poieses“).

65 https://doi.org/10.17104/9783406746154-41 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:29. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 3. System I

che Imagination zusammenführendes artifizielles Unternehmen begriffen werden, das wie viele andere literarische Verfahren auch an der Füllung der Leerstellen gearbeitet hat (und immer noch arbeitet), die das Brüchigwerden der metaphysischen und religiösen Gewissheiten der jüdisch-christlichen Tradition seit der frühen Neuzeit hinterlassen hat. Auch der Aufstieg der Naturphilosophie wäre entgegen ihrem eigenen Selbstverständnis in diesem mythopoetischen Feld angesiedelt.

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§ 4. System II I. Unterscheidung von System und Umwelt Die Systemtheorie Niklas Luhmanns und die verschiedenen Interpretationen, die sie 108 in der Rechtstheorie erfahren hat,1 können als Versuche interpretiert werden, auf die Krise des Rechtspositivismus zu reagieren, ohne den Begriff des Rechtssystems zur Bezeichnung der Einheit der Rechtsordnung aufzugeben. In der Systemtheorie bekommt der Begriff des Systems allerdings einen völlig anderen Gehalt. Im Unterschied zum Rechtspositivismus wird das System der Systemtheorie nicht mehr über eine „innere Einheit“ aufeinander abgestimmter Rechtsnormen und Institutionen konstituiert. Auch die Annahme der reinen Rechtslehre Hans Kelsens, dass das Rechtssystem eine „Grundnorm“ voraussetzen muss, um erfolgreich operieren zu können, wird aufgegeben. An die Stelle einer wissenschaftlich vorauszusetzenden Grundnorm tritt die laufende Grenzziehung des Rechtssystems selbst, seine unablässige Abgrenzung gegenüber allem, was nicht Recht ist. Statt an Einheit orientiert sich die Systemtheorie deshalb an Differenz,2 an einem Denken, dass das Rechtssystem von einer System/ Umwelt-Unterscheidung her konzipiert. „Unter ‚System‘ verstehen wir ... einen Zusammenhang von faktisch vollzogenen Operationen, die als soziale Operationen Kommunikationen sein müssen, was immer sie dann noch zusätzlich als Rechtskommunikationen auszeichnet. Das aber heißt: die Ausgangsunterscheidung [der Rechtstheorie, T. V.] nicht in einer Normen- oder Wertetypologie zu suchen, sondern in der Unterscheidung von System und Umwelt.“3 Die Definition des Rechtssystems als Unterscheidung von System (alles, was Recht ist) 109 und Umwelt (alles andere) will der erkenntnistheoretischen Einsicht Rechnung tragen, dass jede Beobachtung (oder Beschreibung) mit einer Unterscheidung oder Differenz beginnen muss.4 Luhmann knüpft hier zunächst an die platonische Tradition der begriffsbezogenen Unterscheidungskunst an, derzufolge jeder zu bezeichnende Gegenstand nur in Differenz zu einem anderen Gegenstand bezeichnet werden kann; insbesondere das in den platonischen Spätdialogen entwickelte Verfahren der diairesis (von gr. hairéo, greifen, fassen) diente dem begrifflichen Unterscheiden, der Einteilung von Gattungen (gr. géne).5 Heute ist das differenztheoretische Denken in verschiedenen akademischen Disziplinen verbreitet, prominent etwa in der Philosophie von Jacques Derrida und seinem Kunstbegriff der „différance“ oder in der Soziologie von Pierre Bourdieu und den von ihm analysierten „Distinktionspraktiken“. Erinnert sei an dieser 1

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Einen Überblick geben u. a. G.-P. Callies, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, 2009, 53ff.; T. Vesting/ I. Augsberg, Das Recht der Netzwerkgesellschaft, 2013, 1ff.; vgl. allg. auch A. Korschorke/C. Vismann, Widerstände der Systemtheorie, 1999. Zum Differenzbegriff vgl. J. Clam, Was heißt, sich an Differenz statt an Identität zu orientieren?, 2002, 15ff.; vgl. auch V. Descombes, Das Selbe und das Andere, 1981, 161ff. Dies hat zur Folge, dass „Grenze“ – wie D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 156 – bemerkt, der möglicherweise wichtigste Begriff zur Beschreibung der Merkmale eines Systems ist. N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 40f. Luhmann, ebd., 26. Vgl. Platon, Sophistes, 253d. Die Diairetik zielte nicht zuletzt auf die Vermeidung von Paradoxien; vor allem sollte vermieden werden, „daß man nicht ein und denselben Begriff für einen anderen hält und den, der ein anderer ist, für denselben“.

67 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 4. System II

Stelle außerdem noch einmal an die grundlegende, mit dem Namen Ferdinand de Saussure verbundene Erkenntnis von der Willkür der Zeichenfestlegung (l’arbitraire du signe) in den natürlichen Sprachen. Nach Saussure bestimmt sich der Wert eines sprachlichen Zeichens nur in Differenz zu einem anderen Zeichen, nicht aber aus der Einheit des Zeichenwerts mit einem durch das Zeichen repräsentierten Sein. Die Bezeichnung Apfel funktioniert in der Alltagskommunikation, weil „Apfel“ leicht von „Birne“ unterschieden werden kann, nicht aber, weil das Wort Apfel eine ontologisch stabile Beziehung zu dem von ihm bezeichneten Obststück unterhielte (vgl. Rn. 54ff.). 110 Im zweiten Schritt wird das Unterscheidungsdenken in der Systemtheorie allerdings radikalisiert. Während sich die platonische Unterscheidung von Begriff und Gegenbegriff immer innerhalb einer vorausgesetzten Einheit bewegte, in der letztlich alle Differenzen im Sein des Seienden aufgehoben wurden, transformiert die Systemtheorie das Unterscheidungsdenken in eine – aus traditionell philosophischer Sicht – „postontologische“ Theorie.6 Für Luhmann ist der Systembegriff ein Anwendungsfall des Formbegriffs des englischen Mathematikers George Spencer Brown. Dessen Werk Laws of Form (1969) entwirft eine präidentitäre (Ur-)Logik oder Protologik, „welche die Differenz und die Paradoxie als die Anfangsvollzüge alles Denkens ansetzt.“7 Formen sind für Spencer Brown nicht das, was eine Gestalt ausmacht, so wie etwa die Formensprache des französischen Bildhauer Auguste Rodins (1840–1917) die Gestalt seiner Skulpturen, sondern – entgegen dem normalen und philosophischen Sprachgebrauch – sind Formen für Spencer Brown Grenzlinien, Markierungen einer Differenz, die zwei Seiten trennen.8 Der Vollzug der Trennung, die Markierung, basiert wiederum auf einer Anweisung, nämlich auf der Anweisung, eine Unterscheidung zu treffen („Draw a distinction!“). Damit soll u. a. zum Ausdruck gebracht werden, dass allen „ersten“ Sätzen, Axiomen oder Prinzipien, wie sie für das naturphilosophische und rechtspositivistische System konstitutiv waren (vgl. Rn. 73ff., 83ff.), eine Differenzsetzung vorausgeht; dass nur dann, wenn – an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit – eine Unterscheidung getroffen und etwas als etwas bezeichnet wird, überhaupt eine beobachtbare Operation anlaufen und eine Theorie einen Anfang des Denkens setzen kann. 111 In diesem Sinne fungiert der Formbegriff Spencer Browns als Startpunkt der Systemtheorie. Der „erste“ Satz, der Anfang oder Grund des Systems schrumpft von theoretisch anspruchvollen Konzepten wie der Konstitution eines Souveräns durch einen (hypothetischen) Gesellschaftsvertrag (Hobbes), einem transzendentalen Subjekt (Kant), einem sich in der Geschichte realisierenden Geist (Hegel) oder einem freien Willen (Rechtspositivismus) auf den Vollzug einer Markierung/Unterscheidung zusammen: Der Anfang des Systems der Systemtheorie besteht in der Transformation einer Hintergrundsunbestimmtheit in die Bestimmtheit zweier Seiten, von der jede Seite der Form die andere Seite der anderen Seite ist.9 Zeichnet man z. B. einen Kreis 6 7

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Vgl. Clam (Fn. 2), 28ff., 48ff. Clam, ebd., 19, 27 („eine Art nicht-philosophischer Apriorik“) und 107 („Urlogik der Beobachtung und ihrer Reflexivität“); vgl. auch N. Luhmann, Die Paradoxie der Form, 1993, 197ff. Vgl. G. Spencer Brown, Laws of Form, 1977 („We take as given the idea of distinction and the idea of indication, and that we cannot make an indication without drawing a distinction. We take, therefore, the form of distinction for the form.“); vgl. auch Clam (Fn. 2), 32 (der auf die Selbstgenügsamkeit/ Selbstenthaltsamkeit der Formen Spencer Browns hinweist). Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 60; eine gute Einführung in die Problematik findet sich bei N. Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, 2006, 70ff.

68 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Operative Geschlossenheit

auf ein weißes Blatt Papier, erzeugt man zugleich eine Differenz („distinction“) und eine Markierung („indication“), nämlich die Innenseite und die Außenseite des Kreises, die sich jeweils über die andere Seite bestimmt. Das System der Systemtheorie versteht sich als Anwendungsfall einer solchen Zwei-Seiten-Form im Sinne Spencer Browns. Es basiert auf einer Form, die das System von seiner Umwelt unterscheidet und bezeichnet. Dabei wird die Einheit des Systems sozusagen zwischen die Unterscheidung von System und Umwelt geschoben, also auf jede ontologische Einheitslösung verzichtet. Einheit, auch die dialektische Identität von Differenz und Identität, wird durch Differenz ersetzt bzw. durch die „Differenz von Identität und Differenz“.10 II. Operative Geschlossenheit 1. Autopoiesis

Soweit sich die Rechtstheorie als Normentheorie versteht, interessiert sie sich primär, 112 wenn nicht ausschließlich, für vermeintlich stabile Strukturen, für Rechtstexte wie Gesetzbücher oder einzelne Rechtsnormen wie z. B. § 823 BGB, nicht aber für deren jeweilige Anwendung. Die Systemtheorie denkt in gewisser Weise umgekehrt: Für sie steht der Akt rechtsrelevanten Sprachhandelns, die Rechtskommunikation, im Vordergrund. Sie beobachtet nicht die (geschriebene) Norm des § 823 BGB als solche oder als Bestandteil eines umfangreicheren (gedruckten) Gesetzestextes, sondern ihren jeweiligen Gebrauch in einer kommunikativen Episode, im Alltagsgeschehen und im Rechtsbetrieb. Das rechtsrelevante Handeln kann unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen, eine kommunikative Episode kann auch das sein, was man juristisch einen Fall nennt: Nach Abschluss der Verhandlung billigt das Zivilgericht dem Kläger mit Urteil vom 7.12.2014 Schadensersatz für seinen 6 Monate zuvor widerrechtlich – von einem Porsche 911 Turbo – angefahrenen Zuchtbullen zu. Schon Kelsen hatte diese dynamische Seite des Rechts von aller „Rechtsstatik“ abgesondert,11 die Dynamik der laufenden Rechtserzeugung von Fall zu Fall aber letztlich doch wieder an eine zeitstabile Idealität, an eine den Stufenbau der Rechtsordnung abschließende Grundnorm rückgebunden. Luhmann kappt noch diesen Anker und folgt den pragmatischen Strömungen der (Sprach-)Philosophie seit Wittgenstein (vgl. Rn. 54ff., 60ff.). Damit verliert die Rechtsnorm ihren Status als ontologisches Objekt. Die Rechtstheorie beobachtet nicht vermeintlich stabile Normen, sondern flüchtige Rechtsereignisse – Schadensfälle,Vertragsschlüsse, Gerichtsurteile, Verwaltungsakte, Gesetzgebungsprozesse usw. –, kommunikative Episoden, in denen Normen als Anknüpfungspunkte für rechtsrelevantes Handeln und damit als Strukturen für Wiederholungen, für Wiederverwendungen in jeweils anderen Situationen fungieren. Verknüpft man die Vorstellung eines sich aus einzelnen rechtsrelevanten Handlungen 113 und Kommunikationen zusammensetzenden Rechtsgeschehens mit der Differenztheorie, dann lautet die Ausgangsfrage: Wie kann das Rechtssystem seine Grenzziehung laufend operativ wiederholen und sich im Laufe der Zeit so stabilisieren, dass es 10

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N. Luhmann, Soziale Systeme, 1984, 26. Vgl. dazu auch den treffenden Kommentar von Clam (Fn. 2), 26 („Die differentialistische Systemtheorie ... kennt keine in sich zentrierte Identität, sondern nur ein Ineinander von Identität und Differenz, daß an sich nichts ist, sondern nur im operativen Vollzug der Grenzziehung und Unterscheidung etwas wird.“). H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 114ff., 196ff.

69 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 4. System II

sich selbst von anderen Systemen in seiner Umwelt unterscheiden kann? Die Antwort der Systemtheorie auf diese Frage lautet: durch operative autopoietische Geschlossenheit. Als operativ geschlossene Systeme bezeichnet die Systemtheorie solche Systeme, „die zur Herstellung eigener Operationen auf das Netzwerk eigener Operationen angewiesen sind und in diesem Sinn sich selber reproduzieren“.12 Das System der Systhemtheorie setzt sich also selbst voraus und betreibt mit weiteren Operationen seine eigene Reproduktion. Im Unterschied zu älteren Theorien der Selbstorganisation bezieht sich die fortwährende Reproduktion des Systems aber nicht nur auf die systemeigenen Strukturen, sondern auch auf die elementaren, für das System selbst nicht weiter auflösbaren Operationen, die rechtsrelevanten Ereignisse und Handlungen, „und damit auf alles, was im System für das System als Einheit fungiert“.13 Die laufende Herstellung der Strukturen und Elemente des Systems im Netzwerk des Systems, wird – im Anschluss an den chilenischen Biologen Humberto Maturana – als „Autopoiesis“ bezeichnet und von Luhmann als „Invariante“ in die Rechtstheorie eingeführt.14 114 Autopoiesis des Systems meint Selbst-Herstellung (von gr. autos, selbst und gr. poiesis, herstellen, machen) der systemeigenen Strukturen und Elemente durch das System, nicht vollständige ursächliche Produktion oder Kreation des Systems durch das System. Der Prozess der netzwerkartigen Selbstproduktion schließt niemals die Kontrolle über sämtliche Ursachen ein, die die Systembildung ermöglichen. Hier geht es der Systemtheorie wie der Fotographie. Die Fotographie bildet normalerweise Dinge, körperliche Gegenstände, ab, aber diese sind kein Bestandteil der Fotographie selbst. Auch ein Modefoto von Cara Delevingne schließt nicht ihren Körper ein, und dies obwohl der Körper von Cara Delevingne zweifellos die wichtigste Ursache für das Schießen von Modefotos mit ihr als Model sein dürfte.

115 Mit der Konzeption eines autopoietischen Systems richtet die Systemtheorie das Augenmerk ganz auf die interne Konditionierung der Systemelemente und -strukturen. Das System praktiziert eine selektive Verknüpfung, eine systeminterne Auswahl von Informationen, und nur wenn das der Fall ist, ist es sinnvoll, „von systemeigenen Elementen, von Systemgrenzen oder von Ausdifferenzierung zu sprechen“.15 Die Autonomie des Systems im Sinne der traditionellen Fassung des Begriffs – Selbstgesetzgebung, Selbstlimitierung (gr. autonomia)16 – erscheint dann als Konsequenz der operativen Geschlossenheit des autopoietischen Systems.17 Das System selektiert und verknüpft sinnhafte kommunikative Ereignisse, die sich dem Rechtssystem zuordnen und seine Strukturen benutzen, nicht aber gehört z. B. die Körperlichkeit des Handschlags, mit dem zwei Parteien einen Vertrag abschließen, zum System. Damit wird nicht bestritten, dass ein Vertrag durch Handschlag und wechselseitigen Körperkontakt „besiegelt“ werden kann; es wird lediglich unterstellt, dass der Handschlag für das 12 13

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Luhmann (Fn. 3), 44. Luhmann, ebd. 45. Vgl. auch Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 65 („Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen.“). Luhmann (Fn. 3), 45 („Sie ist bei allen Arten von Leben, bei allen Arten von Kommunikation stets dieselbe.“). Vgl. H. Maturana/F. J. Varela, Autopoiesis and Cognition, 1980, insb. 77ff., vgl. auch XVII (Introduction). Luhmann (Fn. 3), 43. Zur Genese von autonomia im antiken Griechenland vgl. M. Ostwald, Autonomia: Its Genesis and Early History, 1982 (mit der These, „that autonomia came into being as part of an attempt to find sanctions against the arbitrary use of force by a major state against minor states moving in its orbit“). Luhmann (Fn. 3), 63.

70 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Operative Geschlossenheit

Rechtssystem erst relevant wird, wenn er zum Gegenstand rechtlicher Kommunikation geworden ist, wenn z. B. ein Zeuge vor Gericht über den Handschlag berichtet. Alles andere ist Umwelt des Rechtssystems. Die operative autopoietische Geschlossenheit des Rechtssystems basiert also auf informationeller (semantischer, sinnförmiger) Geschlossenheit, nicht auf kausaler Abgeschlossenheit (Autarkie). Operative Geschlossenheit bezeichnet das Stabilhalten einer Bedeutungsgrenze, die Verknüpfung von Recht mit Recht auf der Innenseite des Systems, während alle anderen Kommunikationen und alle anderen Ereignisse unbeachtlich bleiben. Rechtskommunikation gibt es nur im Rechtssystem – und nirgends sonst. Das nicht weiter auflösbare Element, das alle sozialen Systeme – auch das Rechtssystem – aus seiner natürlichen Umwelt ausgrenzt, ist Sprache oder besser Sprachgebrauch bzw. „Kommunikation“. Sprachgebrauch oder Kommunikation werden in der Systemtheorie aber nicht nach dem Sender/Empfänger-Modell als Übertragung von Nachrichten vom Sender zum Empfänger konzipiert, sondern bestehen aus drei Selektionen, aus Information, Mitteilung und Verstehen, wobei das Verstehen für die Einheit oder den Abschluss einer kommunikativen Episode entscheidend ist.18 An das Verstehen werden allerdings keine hohen Anforderungen gestellt. Es geht nicht um verständigungsorientiertes Handeln, um „Idealisierungen“, die mit „dem Medium der Sprache“ verknüpft sind, wie in der Diskurs- und Rechtstheorie von Jürgen Habermas,19 sondern – ganz schlicht – um die Erreichbarkeit der Kommunikation für weitere Kommunikation. Soweit Rechtskommunikation auf Rechtskommunikation reagiert, und sei es ablehnend, wird das endlos geflochtene Band rechtlich relevanter Sprachereignisse, das Sprachgeschehen des Rechtssystems, weitergeknüpft. Auch an dieser Stelle orientiert sich Luhmann an Spencer Brown. Das System der Systemtheorie besteht aus nur einem Typus von Elementen, aus Kommunikationen, so wie der operative Kalkül von Spencer Brown nur einen Operator hat. Das Rechtssystem vernetzt ausschließlich sprachliche Aussagen (wenn sie erfolgreich sind, also verstanden werden), nicht aber ist es als „Und-System“ konzipiert wie z. B. der Staat bei Georg Jellinek, demzufolge drei Elemente – Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt – den Staat als Begriff konstituieren.20 Während alle rechtsrelevanten Handlungen und Sprachäußerungen zum Rechtssystem gehören, gehören alle nicht kommunikativen Ereignisse zur Umwelt des Rechtssystems. Damit sind nicht nur Gebäude wie Anwaltskanzleien, Gerichte und Verwaltungsbehörden aus dem Rechtssystem ausgeschlossen, sondern auch Menschen als körperliche Wesen, selbst wenn sie wie z. B. Anwälte, Richter oder Hochschullehrer einen Beruf ausüben, der unmittelbar rechtsrelevant ist. Der Mensch ist aber über sein Bewusstsein – die Systemtheorie spricht in diesem Zusammenhang zumeist von „psychischen Systemen“ oder „Bewusstseinssystemen“ – über den Sinn, der in Rechtskommunikationen und Rechtstexten, wie etwa Schriftsätzen vor Gericht mitgeteilt wird, über die Bedeutung von rechtsrelevanten Redewendungen, am Rechtssystem beteiligt. Der Anwalt, Richter oder Hochschullehrer als Körper, als ganzer Mensch, ist aber nie Bestandteil des Systems.21 Ja, selbst die Stimme bleibt nach systemtheoretischer Vorstellung im Rechtssystem ungehört, sie bildet nur ein dingliches Substrat für die Informationen, die im sprachlichen Sinn, in der Bedeutung einer Kommunikation als Rechtskommunikation mitgeteilt werden.22 Mit dieser theoretischen Ausgangsdisposition werden kommunikative Systeme und menschliche Umwelt keineswegs als voneinander unabhängig begriffen. Kommunikation ist – in der Sprache von Spencer Brown – die Innenseite der Form, die immer eine Außenseite hat. Wie die Gesellschaft setzt auch das Rechtssystem dauerhaft psychische Systeme, menschliches Bewusstsein, in seiner Umwelt voraus und ist insofern strukturell-dauerhaft (nicht nur augenblicklich-operativ) über Sprache an Bewusstseinssysteme gekoppelt;23 in gesellschaftstheoretischen Zusammenhängen spricht Luhmann auch von „Interpenetra18

19 20 21 22

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Vgl. Luhmann (Fn. 10), 193ff.; zum Versuch, Kommunikation zugleich abhängig und unabhängig von Psyche und Bewusstsein zu denken, vgl. D. Baecker, Kommunikation, 2005, 17ff. Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 33. G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre (1913), 1976, 394ff., 406ff., 427ff. Zum Verhältnis System/Mensch vgl. G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 59f. Zur Kritik und zu den Inkonsistenzen dieser Auffassung vgl. T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. 1: Sprache, 2011, 47ff., 67ff. Luhmann (Fn. 3), 441; zur „strukturellen Kopplung“ vgl. auch Calliess (Fn. 1), 65.

71 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 4. System II tion“ als dauerhafter Verknüpfung von Bewusstsein und Gesellschaft.24 Aber auch strukturelle Kopplung und Interpenetration ändern nichts an der systemtheoretischen Vorstellung einer Autopoiesis aller sozialen Systeme; kein Gedanke, so die ganz grundlegende Annahme, kann unmittelbar aus dem Rechtssystem in das Bewusstsein des Einzelmenschen eindringen (sofern er als „Gedanke“ ernst genommen wird), und umgekehrt kann das einzelne Bewusstsein nie direkt in die Autopoiesis des Rechtssystems intervenieren. Das Bewusstsein kann im Rechtssystem lediglich Irritationen, Überraschungen oder Störungen auslösen, wohingegen Gehirn, Blutkreislauf, Muskulatur und andere körperliche Elemente ohnehin nicht Gegenstand der Rechtskommunikation als sinnhafter Kommunikation werden können. Es ist die Einheit einer Unterscheidung, die an die Stelle der (unmittelbaren) Identität von Mensch und Recht oder Mensch und Gesellschaft tritt. Rechtspolitisch gesehen liegt darin eine Fortsetzung der liberalen Tradition des Gesellschaftsvertrages (Hobbes, Locke, Schottische Aufklärung etc.).25 Auch in der Systemtheorie bleibt eine Spannung zwischen Individuum und sozialem System erhalten, eine Fremdheit der anderen Seite, ein Anderes der Kultur (wie man vielleicht auch sagen könnte), ein Bruch, der eine „Aufhebung“ dieser Spannung in einer den Menschen ganz und gar einschließenden Rechtsidee oder Rechtsgemeinschaft nicht zulässt.

2. Zeit

117 Das System der Systemtheorie ist ein dynamisches System. Es besteht nicht aus festen Partikeln, sondern aus Sprechakten oder Kommunikationen. Von „Element“ kann mit Bezug auf autopoietische Systeme daher nur im Sinne von temporalisierten Elementen, von zeitpunktgebundenen Ereignissen oder Operationen, die Rede sein; Operation ist dementsprechend als „Reproduktion der ereignishaften Elemente“ eines Systems definiert.26 Auch für das Rechtssystem ist Zeit nur ereignishaft, als Zeitpunkt, gegeben, als Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher der Zeit. Der Zeitpunkt markiert aber nicht so sehr eine bestimmte Stelle in der gleichmäßig dahin fließenden chronometrischen Zeit, der Zeit der Minuten, Stunden, Tage und Wochen etc., obwohl auch diese – z. B. bei Verjährungsfristen – eine wichtige Rolle im Recht spielt. Zeit ist für das System der Systemtheorie zuallererst eine Dimension der Bestimmung von Sinn; sie besteht aus „Aktualisierungen sinnhafter Möglichkeiten, die im Augenblick ihrer Realisation schon wieder verschwinden“.27 Der Richter verkündet den Beweisbeschluss, und schon im nächsten Augenblick kann daran nur noch – mit Hilfe des Protokolls – erinnert werden. Setzt man so an, operiert das Recht stets in einer punktualisierten Gegenwart: Alles, was geschieht, geschieht gleichzeitig, d. h. jetzt, in diesem Augenblick – oder im nächsten. „Auch Vergangenheit und Zukunft sind stets, und nur, gleichzeitig relevant, sind Zeithorizonte jeweils gegenwärtiger Operationen und können als solche nur in der Gegenwart unterschieden werden. Ihre rekursive Verknüpfung wird in jeweils aktuellen Operationen hergestellt.“28 118 Für autopoietische Systeme ist diese zeitpunktgebundene Zeit, die Zeit des Augenblicks, konstitutiv. Autopoietische Systeme existieren nur im Moment ihres Vollzugs, im Moment der Operation, nicht aber zeitüberdauernd über ein Ereignis hinaus. 24 25 26

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Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 108; ders. (Fn. 10), 286ff. K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 21ff. Luhmann (Fn. 10), 79; ders., Temporalisierung von Komplexität, 1980, 241 („Temporalisierte Systeme können also nur als temporalisierte Elemente, das heißt aus Ereignissen bestehen.“). Luhmann (Fn. 3), 50; in ders., Die Politik der Gesellschaft, 2000, 150 verschärft Luhmann diesen Gedanken dahingehend, dass im Moment der Operation des (politischen) Systems, der Entscheidung, sich dieses selbst mit Hilfe der Zeit erzeugt, indem das System die Zeit noch einmal – in Form des reentry – in der Zeit thematisiert. Ähnlich Clam (Fn. 2), 59ff. Luhmann (Fn. 3), 45.

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II. Operative Geschlossenheit

Identitäten (Elemente) sind nicht der Zeit vorgegeben, vielmehr steht das System mitten in der Zeit und konstruiert und reproduziert je gegenwärtig für eine gewisse Zeit Formbildungen, die Zeitbindungen erzeugen.29 Auch das Rechtssystem produziert und reproduziert ein ständiges Kommen und Gehen, die Elemente, die rechtsrelevanten Handlungen, verschwinden, weil sie sich in der Zeit nicht halten können und laufend erneuert werden müssen. „Normativität“ ist daher für das Rechtssystem der Systemtheorie nicht als zeitstabile Normativität oder gar als „ewiges Naturrecht“ gegeben.30 Das Rechtssystem ist zwar wie alle sozialen Systeme auf Selbstproduktion und damit wie ein Computer auf dynamische Stabilität angelegt, aber die punktualisierte Zeit der Systemtheorie ist wie die Zeit der modernen Physik irreversibel, so dass ein Sich-Selbst-Gleichbleiben der Systemstrukturen, der binären Recht/Unrecht-Codierung und der darauf bezogenen Normen (Programme), nur durch einen beständigen Austausch der Elemente, durch einen unaufhörlichen Betrieb, erzeugt werden kann. Das Rechtssystem vollzieht die Reproduktion normativen Sinns auf der Grundlage stets aktueller und kontextabhängiger Verwendung von Rechtsnormen. Damit wird die Möglichkeit der Wiederverwendung derselben Regeln in anderen Situationen nicht ausgeschlossen. Aber die Wiederverwendung wird nicht mehr – wie nach antiker oder noch mittelalterlicher Auffassung – als Synonym für eine Gegenwart und Zukunft beherrschende Vergangenheit oder Tradition gefasst. Und Wiederverwendung meint auch nicht mehr: Anwendung eines zeitstabilen allgemeinen Gesetzes, das sich – wie in Kants praktischer Philosophie und im Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts – in eine homogene Zukunft hinein erstreckt, die aus der Wiederholung ein- und derselben Gegenwart hervorgeht. Vor allem in dieser Hinsicht – in Bezug auf die Punktualisierung der Zeit – ist die Sys- 119 temtheorie eine strikt postontologische Theorie. Für Luhmann gibt es nicht dinghafte Identität der Elemente einerseits und Zeitlichkeit der Operationen andererseits. Die Vorstellung ist vielmehr, dass es Identität, seien es Objekte (Dinge) oder Subjekte (Menschen), nur in der Zeit gibt. Die Sprache ist vielleicht das Paradigma für eine solche Art von (Objekt-)Identität, wie sie sich die Systemtheorie vorstellt: für nicht seiende, sondern werdende und insofern sich kontinuierlich verändernde Substanz. Diese Eigenschaft der Sprache, ihre ständige Fluktuanz, hat Ferdinand de Saussure in ein unvergessliches Bild gekleidet: Boguslawski – Bewohner einer russischen Kleinstadt – lässt zweimal im Monat eine Portraitaufnahme von sich anfertigen. Als man diese Fotos nach zwanzig Jahren in der chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung nebeneinander legt, zeigen die jeweiligen benachbarten Portraits stets den gleichen Boguslawski, das erste und das letzte Bild jedoch zwei ganz verschiedene Männer.31 In ähnlicher Weise kann man sagen, dass das Deutsch Immanuel Kants ein anderes ist als dasjenige Luhmanns, aber es ist kaum möglich, einen Punkt in der Geschichte der deutschen Sprachen zu bestimmen, an dem das Deutsch Kants aufhört und das Deutsch Luhmanns beginnt. Zeit ist für die Systemtheorie mit anderen Worten ein der Kommunikation immanen- 119 a tes Ereignis, das auch nicht durch die Fiktion einer der Zeit vorgegebenen „logischen“ 29 30

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Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 998, 1015. Luhmann (Fn. 3), 211f. („Codes und Programme (Normen) findet man daher nicht vor als Sachverhalte eigener Qualität, als ob sie wie Ideen oberhalb der Kommunikation eine eigene Existenz führten.“). Vgl. auch ders. (Fn. 9 – Gesellschaft), 45 (hier im Zusammenhang mit dem Sinnbegriff ). Vgl. dazu Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 129.

73 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 4. System II

Sphäre, auf der die berühmte juristische Sekunde beruht, übersprungen werden kann. Die Vorstellung einer punktualisierten Zeit bricht – wie auch andere Denkfiguren der Systemtheorie – mehr oder weniger vollständig mit dem Alltagsbewusstsein und der philosophischen Tradition und gehört damit zu den großen Zumutungen, die von der Systemtheorie für das (traditionelle) Denken und die Rechtstheorie ausgehen. Denn die klassische Philosophie von Aristoteles bis Hegel ist immer – wie der „gesunde Menschenverstand“ – von einer ontologischen Einbettung der Zeit ausgegangen: Während Zeit hier also wie ein Seinsfaktum, wie eine Bewegung im Raum, behandelt wurde,32 sprengt Luhmanns Zeitauffassung die herkömmliche Unterscheidung von Statik und Dynamik, Ruhe und Bewegung, Festem und Fließendem. Während das Feste in der Tradition immer als die obere Seite galt, wird bei Luhmann alles Feste auf das Fließende gegründet bzw. Ruhe und Bewegung, Statik und Dynamik in einen zirkulären Zusammenhang gebracht. Daraus geht die Vorstellung dynamischer Systemstabilität hervor, einer – in den Worten Gunther Teubners – „dynamischen Ordnung der Dauerveränderung“.33 3. Funktionale Spezifikation und binäre Codierung

120 Autopoietische Systeme operieren immer als und in einem Netzwerk von Kommunikationen. Kommunikationen greifen auf frühere Kommunikationen zurück, um darauf – in der Zukunft – weitere Kommunikationen anzuschließen. Auch Rechtskommunikationen sind immer Verknüpfungen (links) in einem Netzwerk von Rechtskommunikationen, die sich auf frühere Rechtskommunikationen beziehen und weitere Rechtskommunikationen auslösen.34 Diese dynamische, nachbarschaftliche Vernetzung des Systems wird in Anlehnung an einen Sprachgebrauch in der Mathematik auch als „Rekursion“ oder „rekursive Vernetzung“ bezeichnet.35 Hinsichtlich der Art der verwendeten Elemente unterscheidet sich das Rechtssystem dabei nicht von anderen sozialen Systemen: Immer ist es die rekursive Vernetzung zeitpunktabhängiger Kommunikationen, die die Autopoiesis des Systems betreibt. Will man das Rechtssystem gleichwohl als ein in der Gesellschaft ausdifferenziertes (autonomes) System beschreiben, muss man zeigen können, was Rechtskommunikation gegenüber sonstiger Kommunikation auszeichnet und etwa von Wirtschaftskommunikation unterscheidet. Den Nachweis der Autonomie der Rechtskommunikation versucht Luhmann insbesondere unter den Stichworten „funktionale Spezifikation des Rechts“ und „binäre Codierung“ zu führen. „Nur beide Errungenschaften, Funktion und Code zusammengenommen, bewirken, daß die rechtsspezifischen Operationen sich deutlich 32

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G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse II (1830), 1986, § 258; Aristoteles, Buch der Physik IV, 10, 217b. Die These behauptet nur eine Übereinstimmung im Hinblick auf die ontologische Einbettung der Zeit, d. h. der Wahrnehmung der Zeit durch das Schema Sein/Nicht-Sein, nicht etwa eine Identität der Zeitvorstellungen bei Aristoteles und Hegel. G. Teubner, Der Wahnsinn der Rechtsenzyklopädien, ARSP 91 (2005), 587ff., 592; Clam (Fn. 2), 60 (spricht von einer „Nur-Vollzug-Struktur“). G. Teubner/D. Schiff/R. Nobles, The Autonomy of Law, 2003, Ch. 19 („A legal communication is a link in a system of communications. It refers back to earlier legal communications, and it can in turn trigger further legal communications.“). Für das Rechtssystem vgl. nur Luhmann (Fn. 3), 80. Der mathematische Begriff der rekursiven Funktionen liegt der modernen Mathematik des Unerwartbaren und der Kompensation von Unausrechenbarkeit durch systemische Produktion von Eigenwerten zugrunde.

74 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Operative Geschlossenheit

von anderen Kommunikationen unterscheiden lassen und dadurch, mit nur marginalen Randunschärfen, sich aus sich selbst heraus reproduzieren können.“36 Die frühe Rechtssoziologie Luhmanns (1. Aufl. 1972) entwickelt den Begriff der Rechts- 121 autonomie im Kontext einer gesellschaftstheoretischen Funktionsanalyse.37 Daran hält Luhmann auch später fest, insofern er noch im Recht der Gesellschaft unter „funktionaler Spezifikation“ die Ausrichtung des Rechtssystems auf ein spezifisch gesellschaftliches Problem versteht, dessen erfolgreiche Lösung durch kein anderes soziales Funktionssystem ersetzt werden kann und deshalb in die Gesamtgesellschaft hinein verallgemeinert werden muss. Diese spezifisch soziale Funktion des Rechtssystems besteht in der Sicherung normativer Erwartungen, die für den Fall, dass sie nicht erfüllt werden, kontrafaktisch – gegebenenfalls mit Hilfe sanktionierter (politischer) Gewalt – gegen Enttäuschungen abgesichert sind (vgl. Rn. 42ff.). Der Zeitaspekt, die Erwartungssicherheit, bezieht sich dabei immer auf die Rechtsnorm als der besonderen Kommunikationsform des Rechts, nicht auf die individuelle Erwartung einzelner Personen;38 das Prozessieren normativer Erwartungen wird dementsprechend als Versuch der modernen Gesellschaft gewertet, „sich wenigstens auf der Ebene der Erwartungen auf eine noch unbekannte, genuin unsichere Zukunft einzustellen“.39 Damit wird erneut die dynamische Stabilität autopoietischer Systeme betont. Das Rechtssystem hat unter der Bedingung eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels und einer prinzipiellen Zukunftsungewissheit die Aufgabe, ein Netzwerk von stabilen Zeitbindungen aufzubauen und zu erhalten, normative Erwartungen stets mit normativen Erwartungen zu verknüpfen, und die Gesellschaft damit insgesamt dynamisch zu stabilisieren. Im Recht der Gesellschaft wird allerdings deutlicher als noch in der frühen Rechtssoziolo- 122 gie herausgestellt, dass das Rechtssystem zu seiner autopoietischen Schließung eine eigene Codierung benötigt.40 Der Begriff der „Codierung“ steht für eine nicht weiter auflösbare Unterscheidung, die wiederum nur in einem (und in keinem anderen) System der Gesellschaft benutzt wird. „Codierung“ ist für strikt binäre Strukturen im kybernetischen Sinn reserviert,41 d. h. für einen zweiwertigen Schematismus, der nur einen positiven (Recht) und einen negativen Wert (Unrecht) kennt und andere „dritte“ Werte ausschließt. Immer wenn Rechtsbehauptungen aufgestellt werden, seien es explizite oder implizite Rechtsbehauptungen, immer wenn erkennbar Rechtsgeltung in Anspruch genommen wird, ordnet sich die Kommunikation dem Rechtssystem zu.42 Das 36 37

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Luhmann, ebd., 60f., vgl. auch 71f., 163f. Vgl. vor allem N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, insb. 217ff.; vgl. auch N. Luhmann, Kontingenz im Recht, 2013, 11, 218 (dort mit Bezug auf das Kontingenzproblem). Luhmann (Fn. 3), 125. Dann ginge es um einen individualistischen oder utilitaristischen Begriff von „Erwartungssicherheit“, wie man ihn etwa bei Jeremy Bentham findet. Luhmann, ebd., 130; ähnlich K.-H. Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung in kognitivistischer Perspektive, ARSP 77 (1991), 176 („Die Funktion des Rechts besteht mit anderen Worten in der Ermöglichung der Bildung von Erwartungen in einer sich mehr und mehr selbst zum Problem werdenden Gesellschaft.“). Zur Zeitbindung als Funktion des Rechts vgl. auch K. Günther, Vom Zeitkern des Rechts, RJ 14 (1995), 13ff. Vgl. Luhmann (Fn. 3), 60f., siehe auch 71f., 163f., 165ff. Kybernetisch im Gegensatz etwa zum linguistischen Begriff des Codes, der „Code“ synonym mit Zeichen oder Symbol gebraucht. Dazu näher Luhmann, ebd., 176f. Vgl. z. B. Luhmann, ebd., 67 („Ins Rechtssystem selbst gehört nur ... eine Kommunikation, die eine Zuordnung der Werte ‚Recht‘ und ‚Unrecht‘ behauptet; denn nur eine solche Kommunikation sucht und behauptet eine rekurrente Vernetzung im Rechtssystem ...“).

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§ 4. System II

ist nicht nur vor Gericht z. B. bei einem Antrag auf Klageabweisung der Fall, sondern kann auch außerhalb von Rechtsorganisationen, wie Gerichten, Verwaltungen oder Parlamenten, geschehen. Am häufigsten dürften Rechtsbehauptungen im Kontext von Verträgen auftreten. Aber auch andere Fälle sind denkbar. Wenn beispielsweise in Paris Studierende demonstrieren, um ihre Ablehnung gegenüber einer mit parlamentarischer Mehrheit zustande gekommenen Arbeitsgesetzgebung zum Ausdruck zu bringen und den status quo ante einfordern, fordern sie – gegen einen parlamentarischen Mehrheitsbeschluss und damit zu Unrecht – die Wiederherstellung alten Rechts. Auch die Erwiderung des Premierministers, an der Flexibilisierung des Kündigungsschutzes für Berufsanfänger festhalten zu wollen, ist eine Rechtskommunikation: Das neue Kündigungsrecht wird – zu Recht – als das neue, jetzt geltende Recht qualifiziert. 123 Der binäre Code des Rechtssystems ist demnach nichts anderes als die Struktur eines Zuordnungsverfahrens, die das Oszillieren zwischen Recht als positivem Wert und Unrecht als negativem Wert reguliert.43 Das Beispiel der demonstrierenden französischen Studierenden macht allerdings deutlich, dass die Codierung des Rechtssystems auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Es wäre ja durchaus denkbar, vielleicht sogar naheliegend, dass die Studierenden in ihrem eigenen Selbstverständnis politisch agieren wollten und auch Dritte, z. B. der Auslandskorrespondent der FAZ, den Protest der Studierenden als Reaktion auf eine verfehlte Bildungspolitik und nicht als Rechtsargument verstanden hat, zumal wenn an der formalen Korrektheit des Zustandekommens des Gesetzes im parlamentarischen Verfahren keine Zweifel aufkommen konnten. Eine stabile Handhabung des Codes Recht/Unrecht kann daher wohl erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung eingerichtet werden, auf der Ebene professioneller Expertise, auf der etwa Anwälte, Gerichte oder Hochschullehrer den Protest der Studierenden dem Rechtssystem zuordnen (oder nicht zuordnen). 124 Die formale Definition von Beobachtung zweiter Ordnung heißt, wie wir weiter oben schon gesehen haben: Beobachtung von Beobachtern (vgl. Rn. 11ff.). Inhaltlich gesehen ist Beobachtung zweiter Ordnung mit einem reflexiven Umgang von Unterscheidungen verbunden, im Rechtssystem damit, die Recht/Unrecht-Unterscheidung professionell-juristisch zu handhaben, nicht aber religiös, ethisch oder politisch. Erst wenn Rechtsnormen an bereits vorliegende Rechtsnormen anschließen und der binäre Schematismus von Recht/Unrecht auf der Ebene zweiter Ordnung kontinuierlich gehandhabt wird, wird das Rechtssystem nach Luhmann operativ geschlossen.44 Die französischen Studierenden appellieren an die „Gerechtigkeit“, aber der Premierminister weist auf die Einhaltung aller Rechtsvorschriften im Gesetzgebungsverfahren hin. Für den reflektierenden Beobachter ist der Fall damit klar: Soweit es sich bei dem Protest der Studierenden um Rechtskommunikation handelt, nimmt sie zu Unrecht für sich in Anspruch, Recht zu haben.

125 Zur Ausdifferenzierung des Rechtssystems tragen über den binären Code hinaus besondere Programme, d. h. in unserer Terminologie Rechtsnormen oder Rechtsregeln bei. Erst die Programme, erst Rechtsnormen, steuern die Zuordnung zur einen oder 43

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Luhmann, ebd., 70 („Das Recht der Gesellschaft realisiert sich über die Codereferenz – und nicht über eine (wie immer hypothetische oder kategorische, vernünftige oder faktische) Erzeugungsregel.“), vgl. auch 178 („Dank des binären Codes gibt es einen positiven Wert, wir nennen ihn Recht, und einen negativen Wert, wir nennen ihn Unrecht.“). Luhmann, ebd., 70 (für den Code), vgl. auch 61 („Die Ausdifferenzierung eines operativ geschlossenen Rechtssystems setzt voraus, daß das System auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung operieren kann, und zwar nicht nur gelegentlich, sondern kontinuierlich.“).

76 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Operative Geschlossenheit

anderen Seite des Codes. Diese Zuordnung erfolgt im Rechtssystem ausschließlich durch die Wenn/Dann-Form des Konditionalprogramms, nicht durch Zweckprogramme oder neuartige Formen der Prozeduralisierung des Rechts (vgl. Rn. 34ff.). Indem das Rechtssystem Konditionalprogramme für eigene Zwecke spezifiziert (etwa in Form von Schadensersatzansprüchen bei unerlaubten Handlungen), treibt es zugleich die operative Schließung des Rechtssystems durch die Disziplinierung und Verfeinerung der rechtsinternen Argumentation voran. Mit Hilfe der Schrift bildet das Recht außerdem ein vom individuellen Bewusstsein unabhängiges Systemgedächtnis einschließlich eines Kanons juristischer Argumente aus. Das System kann nun stets auf die Resultate der eigenen Operationen und auf Konsequenzen solcher Operationen für künftige Operationen Bezug nehmen, sich also beständig mit Hilfe von Texten erinnern und das wieder und wieder angeeignete Wissen immer wieder an neue Situationen anpassen. Die Rezeption der Vergangenheit, der stets gegenwärtige Rückgriff auf eigene Archive, gedruckte Gerichtsentscheidungen, Statute, Gesetze, Verträge oder wissenschaftliche Publikationen, wird so für das Rechtssystem zur Stütze, um vor dem Horizont einer genuin ungewissen Zukunft Orientierung zu finden. 4. Selbstreferenz und Fremdreferenz (re-entry)

Im Unterschied zur älteren Theorie umweltoffener Systeme ist das System der System- 126 theorie ein operativ geschlossenes System, in dem Offenheit „nur auf Grund von Geschlossenheit möglich“ ist.45 Die Umwelt kann in autopoietischen Systemen nur auf Grund von Eigenleistungen des Systems, d. h. ausschließlich nach Maßgabe der eigenen systeminternen Informationsmöglichkeiten für beachtlich gehalten werden. Um derartige Prozesse theoriekonsistent erfassen zu können, benutzt Luhmann erneut eine von Spencer Brown entwickelte Denkfigur: das re-entry. Danach verfügt das autopoietische System über die Möglichkeit, die Umwelt nach Maßgabe seiner eigenen Kommunikationsmöglichkeiten in sich hineinspiegeln oder hineinkopieren zu können, die Fähigkeit, die Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene wieder eintreten zu lassen.46 Das Recht unterscheidet sich von technischen Normen, aber es kann technische Normen zum Inhalt des Rechts machen und damit die Unterscheidung von technischen Normen und Recht wieder in sich hineintreten lassen, weil es sich zuvor von technischen Normen unterschieden hat. Diese systeminterne Fähigkeit zum re-entry wird auch durch das Begriffspaar von Selbstreferenz und Fremdreferenz bezeichnet. Damit ist die Eignung des Systems gemeint, die Differenz von System (Selbstreferenz) und Umwelt (Fremdreferenz) in sich selbst aufzunehmen und sich mit Hilfe dieser Unterscheidung auf der Ebene zweiter Ordnung beobachten zu können.47 Im Rechtssystem wird diese Unterscheidung in doppelter Weise wirksam. Einmal, in- 127 dem die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz mit Bezug auf den normativen Erwartungsstil durch die weitere Unterscheidung von normativer Geschlossenheit und kognitiver Offenheit auseinander gezogen wird.48 Das meint hauptsächlich, dass das Rechtssystem wie kein anderes System lernt, Normen (Selbstrefe45 46

47 48

Luhmann, ebd., 76. Bei Edgar Morin lautet die Formel: „L’ouvert s’appuye sur le fermé.“ Luhmann (Fn. 3), 76; Spencer Brown (Fn. 8), 56f., 69ff.; G. Teubner, Coincidentia oppositorum, 2004, 187; kritisch Clam (Fn. 2), 107. Vgl. nur Luhmann (Fn. 3), 52f. Luhmann, ebd., 77.

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§ 4. System II

renz) und Fakten (Fremdreferenz) auseinander zu halten und dabei jeden Ansatz zur Verwischung dieser Unterscheidung zu vermeiden sucht, einschließlich aller Versuche, von Fakten auf Normen zu schließen.49 Mit Bezug auf die binäre Codierung folgt aus der Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz außerdem, dass der Verweis auf externes Wissen nur über die Ebene der Programmierung des Codes, nur über Gesetze, Rechtsnormen oder Präjudizien, wirken kann.50 Nur weil im Zivilrecht ausdrücklich nach der Verletzung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gefragt wird (z. B. § 276 BGB), kann das Haftungsrecht sich wandelnde gesellschaftliche Konventionen rezipieren. Nur weil das öffentliche Recht vielfach Generalklauseln in seine Normstrukturen integriert, kann etwa das Polizeirecht auf gesellschaftliche Konventionen zurückgreifen, um in der Gefahrenabwehr an Wahrscheinlichkeiten und Erfahrungen des täglichen Lebens anzuknüpfen. Ähnlich ist es im Technikrecht: Weil die aus technischer Expertise hervorgehenden Grenzwerte zu einer rechtlich relevanten Information erklärt werden, kann das Immissionsschutzrecht die Beeinträchtigung der Lebensqualität durch Lärmeinwirkungen im Inneren eines Wohnraums anhand der Richtlinie 2058 des Vereins Deutscher Ingenieure über die Beurteilung von Arbeitslärm in der Nachbarschaft regulieren. Gerade in solchen Fällen verfügen Normen über eine sehr weitreichende Aufgeschlossenheit gegenüber vorweg nicht festlegbaren Umweltbedingungen. Damit wird die normative (operative) Geschlossenheit des Rechtssystems nach Luhmanns Ansicht aber so lange nicht tangiert, wie sich ausschließlich das Recht am Schematismus von Recht oder Unrecht orientiert.51 128 Ladeur hat die Operationsweise operativ geschlossener (autopoietischer) Systeme mit der Situation eines

Blinden verglichen.52 Der Blinde benutzt einen Stock, um die Stabilität der ihn umgebenden Umwelt daraufhin zu überprüfen, ob sie hinreichende Festigkeit für die eigene Fortbewegung bietet. Mit Hilfe der binären Codierung stabil/instabil konstruiert der Blinde ein operativ geschlossenes Orientierungssystem, indem er einzelne Wahrnehmungen, die er über das Abtasten seiner Umwelt macht, miteinander verkettet. Dies erlaubt ihm – bei entsprechender Übung – sich relativ sicher fortzubewegen, obwohl ihm der Stock keineswegs eine auch nur annähernd vollständige Umweltbeschreibung liefert. Der Blinde kann sich nur Vorstellungen über das machen, was der von ihm benutzte stabil/instabil-Code an Informationen liefert. Gerade deshalb hat der differenztheoretische Ausgangspunkt der Systemtheorie weitreichende erkenntnistheoretische Implikationen: Das, was das System als Realität beobachtet, ist nicht die Realität als solche, sondern immer nur das, was sich nach Maßgabe der systemeigenen Codierung als Realität darstellt. Damit ist vor allem die Vorstellung unvereinbar, dass ein soziales System die „gesamte“ Wirklichkeit erkennen könnte. Alles, was etwa das Rechtssystem über seine Umwelt lernt, ist kein Einblick in die Fülle des Seins, 49 50 51

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Luhmann, ebd., 86f. Luhmann, ebd., 93. Luhmanns Argumentation in diesem Zusammenhang ist nicht immer unproblematisch. Sie tendiert dazu, die komplexen Voraussetzungen des impliziten (praktischen) Wissens gegenüber der expliziten (öffentlichen) Regelbildung zu vernachlässigen und die demokratische und verfassungsrechtlich gehegte politische Regelbildung – zumindest gelegentlich – zum „vorherrschenden Variationsanlaß“ (ebd., 278f.) der Rechtsevolution zu stilisieren. An diesem Punkt wäre mit K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 86, darauf hinzuweisen, „dass das Recht nicht ohne einen Bestand an in der Gesellschaft selbsterzeugtem Wissen operieren könnte, der nicht durch die öffentliche Vernunft der Regeln gefiltert werden kann. Es gibt keine Rechtsregel ohne gesellschaftliche Konventionen!“. Vgl. dazu auch T. Vesting, Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.; zur Problematik der rigiden Grenzziehung in Luhmanns Systemtheorie vgl. auch A. Koschorke, Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie, 1999, 49ff.; und U. Stäheli, Sinnzusammenbrüche, 2000. K.-H. Ladeur, The Theory of Autopoiesis as an Approach to a Better Understanding of Postmodern Law, 1999 12; vgl. auch Baecker (Fn. 2), 154ff., der das Beispiel von Touristen wählt, die sich in einer fremden Umgebung anhand von Merkmalen wie schlechten Betten, ungenießbarem Essen, verschmutzten Stränden, schlechtem Personal usw. orientieren.

78 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Dynamische, rekursive Vernetzung sondern eben in seine Umwelt. Anders gesagt: Der „Blick auf das Ganze“ wird durch einen höchst selektiven und von vornherein beschränkten Blick auf die Welt ersetzt. Die beschränkte Sicht auf die Welt hat freilich erhebliche Vorteile. Der Blinde realisiert, dass der Stock bei geschickter Handhabung eine gute Orientierung ermöglicht, also hohe Umweltsensibilität garantiert. Der Blinde kann gerade auf Grund der Geschlossenheit des Systems und der Benutzung nur einer Differenz (stabil/instabil) wiederkehrende Muster schnell erkennen und dadurch eine relativ komplexe „Landkarte“ seiner Umgebung entwerfen. Darin liegt der Vorteil des binären Codes: Nur weil soziale Systeme irgendwann in ihrer Geschichte beginnen, die eigenen Operationen zu spezifizieren und nur noch nach Maßgabe des eigenen binären Codes (und der dazu gehörigen Programme) zu prozessieren, finden sie einen eigenen Zugang zur Umwelt, eine eigene Form der Verarbeitung unstrukturierter Komplexität. Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass autopoietische Systeme nur im Plural existieren können. Das Rechtssystem grenzt sich nicht nur von seiner natürlichen, sondern auch von seiner sozialen Umwelt ab, heute insbesondere von anderen Funktionssystemen. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Massenmedien arbeiten ebenfalls nach eigenen Codierungen (und Funktionen), aber die Vielzahl autonomer (Funktions-) Systeme erlaubt dem Rechtssystem, die durch andere Systeme strukturierte Komplexität für sich als Umwelt zu benutzen. So ist es gerade für das Rechtssystem unerlässlich, dass andere Funktionssysteme wie etwa das Wirtschaftssystem eine eigene Autonomie entwickeln und entsprechend strukturierte Komplexität bereitstellen. Es ist z. B. nicht vorstellbar, dass ein autonomes Rechtssystem ohne professionelle Juristen existieren könnte. Rechtsprofessionalismus setzt jedoch spezialisierte Organisationen wie z. B. Anwaltskanzleien, Gerichte, Unternehmen, staatliche Verwaltung, Hochschulen oder Kirchenämter voraus. Anwälte, Richter und Justitiare müssen wiederum Geld verdienen (können). Das geht freilich nur in einer geldbasierten Wirtschaft, die global konkurrenzfähig ist, usw. Ladeurs Beispiel des blinden Mannes ist auch im Hinblick auf die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft lehrreich. Auch der blinde Mann muss unterstellen, dass es eine vorstrukturierte Ordnung in seiner Umwelt gibt. Er muss etwa davon ausgehen können, dass Gehwege und Straßen nicht dasselbe sind, dass Leute freundlich zu anderen Menschen sind (und nicht rüpelhaft) und dass die Wege, die er beschreitet, ihn an Orte bringen, an denen er die Bedürfnisse des täglichen Lebens, wie etwa die Beschaffung von Nahrungsmitteln, befriedigen kann. Wäre all das nicht gegeben, wäre die binäre Codierung weitgehend nutzlos. Der Blindenstock funktioniert also nur und nur so lange, wie die Umwelt eine für seinen Code zugängliche Komplexität bereitstellt.

III. Dynamische, rekursive Vernetzung 1. Netzwerk statt Hierarchie

Das autopoietische Rechtssystem ist nicht pyramiden- oder stufenförmig aufgebaut, es 129 wird nicht hierarchisch von oben nach unten determiniert, „sondern jeweils heterarchisch, also kollateral, also in nachbarschaftlichen Vernetzungen“.53 Es schwingt sich von Ereignis zu Ereignis und wird ausschließlich durch seine eigene rekursive Operationsweise gehalten. Es wendet Operationen auf Resultate von Operationen an und filtert durch hinreichend lange Wiederholung solche Formen heraus, die unter dynamischen Bedingungen stabil sein können, z. B. durch wiederholten Rückgriff auf bereits bewährte Vertragsformulare, um damit auch bislang unbekannte Fallkonstellationen bewältigen zu können. Damit vollzieht die Systemtheorie den Übergang „von einem hierarchisch-deduktiven Problemhorizont zu einem heterarchischen Prozeß (‚von Fall zu Fall‘) der Rechtsbildung“.54 An die Stelle der vertikalen Induktions- und 53 54

Luhmann (Fn. 3), 144 (hier in Zusammenhang mit der Funktion des Rechts). K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74 (1988), 218ff., 222.

79 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 4. System II

Deduktionsschritte des rechtspositivistischen Systems, in dem Entscheidungen aus dem System deduziert werden, tritt eine dynamische, rekursive, horizontale Vernetzung von Operationen, eine laufende „Recht-Fertigung“ des Rechts.55 130 Die dynamische Vernetzung des autopoietischen Systems verändert vor allem die Beziehung von System und Operation, Regel und Entscheidung, Rechtsnorm und Urteilsfindung. Rechtsgebrauch ist für die Systemtheorie keine logisch mehr oder weniger zwingende „Anwendung“ eines lückenlos vorauszusetzenden Regelbestands, der durch die Einheit des Rechtssystems vorab gewährleistet wird; Rechtsnormen sind nicht länger auf einer kategorial anderen, ihrem Gebrauch gegenüber höheren Ebene angesiedelt wie noch im Rechtspositivismus und seinen Systemen. Vielmehr benutzen Rechtskommunikationen Systemstrukturen und transformieren dabei ihren Sinn, um bei der nächsten Operation die zuvor transformierte Struktur erneut zu benutzen und erneut zu transformieren. Das System ist ständig in Bewegung, und wenn es arbeitet, dann immer auf der Grundlage einer Doppelbewegung: Es blendet nicht wiederholbare Momente vergangener Situationen aus („condensation“) und behält Strukturen (Codes, Programme, Rechtsnormen) soweit bei, wie sie im Augenblick der Operation bewahrenswert erscheinen („confirmation“).56 Die Aufmerksamkeit der Theorie der Autopoiesis liegt deshalb ganz auf der Frage, wie im laufenden Betrieb des Rechtssystems erkennbare Wiederholung eingerichtet werden kann.57 131 Das netzwerkförmige Rechtssystem Luhmanns wird hier so ausführlich vorgestellt, weil es uns dazu dienen soll, den hierarchisch angelegten Systemkonstruktivismus des 19. Jahrhunderts abzulösen und zu ersetzen. Dieser Schritt liegt aus mindestens zwei Gründen nahe: Zum einen kann der Rechtspositivismus nicht einfach durch methodische Beliebigkeit ersetzt werden, von der etwa das heute weit verbreitete „Abwägungsdenken“ beherrscht wird;58 und zum anderen hat nicht nur die Systemtheorie einen Wechsel zu heterarchischen Ordnungsmodellen vollzogen. Auch andere avancierte Theorien, etwa Eric A. Havelocks Untersuchungen zur Genese der griechischen (Schrift-)Kultur, die Phänomenologie von Bernhard Waldenfels oder Jacques Derridas postmoderne Philosophie (der Schrift), laufen auf eine mit der Systemtheorie vergleichbare dynamische und horizontale Reformulierung von Ordnungsbildung hinaus;59 bei Derrida vor allem unter den Stichworten „différance“ und „itérabilité“.60 So wie das System der Systemtheorie eine beständige Doppelbewegung von Kondensierung und Konfirmierung vollzieht, verbindet auch Derridas 55 56

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So die Formel von R. Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschaftsrechts, 2003, 13ff. Zu der von G. Spencer Brown übernommenen Doppelbegrifflichkeit von „condensation“ und „confirmation“ vgl. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 75. Wichtig ist festzuhalten, dass es sich trotz Sinnverschiebung um Wiederholung handelt. Nur wenn Sinn hinreichend generalisiert ist, können in neuen Situationen Verwendungserfahrungen greifen und die Wiederholung als Wiederholung erkannt und beobachtet werden. Luhmann (Fn. 3), 268 (spricht im Hinblick auf die Interessenabwägung von dem trojanischen Pferd jeder juristischen Dogmatik); kritisch zur (Werte-)Abwägung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts J. Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normstrenge und Abwägung im Funktionswandel, 2011, 913ff.; K.-H. Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004; M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, insb. 42ff. Vgl. nur E. A. Havelock, Preface to Plato, 1963, insb. 215ff., 224 (dort wird insbesondere die Veränderung der Wissensformen durch Schriftgebrauch analysiert); ders., The Muse Learns to Write, 1984, 55, bestimmt die Grundfunktion der Schrift – im Rückblick – als „accumulation of information and its storage for re-use in human language“; und B. Waldenfels, Sozialität und Alterität, 2015. J. Derrida, Grammatologie, 1974, 113f.; vgl. auch ders., Randgänge der Philosophie, 1988, 333. („Diese Iterierbarkeit – iter, ‚von neuem‘, kommt von itara, anders im Sanskrit, und alles folgende kann hier als die Ausbeutung jener Logik gelesen werden, welche die Wiederholung mit der Andersheit verbindet, strukturiert das Zeichen der Schrift selbst, welcher Typ von Schrift es im übrigen auch immer sein mag ...“).

80 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Dynamische, rekursive Vernetzung Schrift jede Wiederholung mit Andersheit (Iterabilität, Iterierbarkeit), mit einer dauernden Sinnverschiebung und Sinnaufschiebung, den jeder Akt der Wiederaneignung eines Textes unweigerlich produziert. Diese Vorstellung dynamischer, rekursiver Systembildung wäre in einer rechtswissenschaftlichen Rechtstheorie zu adaptieren und – anknüpfend etwa an die (hier vielfach zitierten) Arbeiten von Gunther Teubner und Karl-Heinz Ladeur – in ihren Konsequenzen weiter auszuarbeiten.

2. Paradoxie des Anfangs

Mit dem Verzicht auf das Hierarchieprinzip wird in der Systemtheorie auch die im 132 Rechtspositivismus noch übliche Vorstellung einer das System tragenden Spitze aufgegeben. Das Rechtssystem ist bei Luhmann nicht länger „durch eine referenzfähige oberste Norm (Grundnorm), ein oberstes Gesetz (Verfassung) oder eine oberste Instanz“ garantiert.61 Das dynamische, sich rekursiv vernetzende Rechtssystem gründet vielmehr in einer Paradoxie, nämlich in der Unmöglichkeit der Anwendung des Rechtscodes auf sich selbst. Die Frage, ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht zu Recht oder zu Unrecht als letzte, nicht weiter auflösbare Unterscheidung im Rechtssystem benutzt wird, ist eine im Rechtssystem unentscheidbare Frage, ganz unabhängig davon, über welche Rechtsnormen der binäre Code seinerseits reguliert wird: Erst die Unterscheidung von Recht und Unrecht – der „blinde Fleck“, der unsichtbar bleiben muss – ermöglicht überhaupt rechtsspezifische Beobachtungen.62 Hier treffen wir erneut auf das im Kontext von Kelsens reiner Rechtslehre bereits angesprochene Problem, dass sich autonome Systeme offensichtlich nicht selbst (widerspruchsfrei) begründen können, eine Einsicht, die im 20. Jahrhundert insbesondere mit den Namen Kurt Gödel und Alan Turing verbunden worden ist. Luhmann transformiert das aus sich selbst heraus einsichtige und sichere Wissen der 133 Naturphilosophie, den „ersten“ Satz, in die Form der Paradoxie, die als einzige noch mögliche Form unbedingten Wissens übrig bleibt.63 Damit wird die Frage nach dem Anfang des Systems, auch die Frage nach der „Gewalt der ersten Unterscheidung von Recht und Unrecht“,64 mehr oder weniger abgeschnitten und in das Postulat einer „Pflege der Rechtsparadoxie“ umgeleitet.65 Die Systemtheorie sieht nur solche Kommunikation als zum Rechtssystem zugehörig an, die jeweils eine Zuordnung zu den Werten „Recht“ und „Unrecht“ behaupten und verstrickt sich nicht weiter in die Frage, ob es gerecht ist, wenn das Recht nach dem Recht/Unrecht-Code prozessiert. 61 62

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Luhmann (Fn. 3), 73. Luhmann, ebd., 176 („Die Paradoxie des Systems ist ... der blinde Fleck des Systems, der die Operation des Beobachtens überhaupt erst ermöglicht ... Sie ist der Grund, der invisibilisiert bleiben muß mit der Folge, daß alles Begründen dogmatischen Charakter hat – einschließlich der These, daß die Unterscheidung von Recht und Unrecht selbstverständlich zu Recht eingeführt wird, weil es anders gar keine geordnete Rechtspflege geben könnte.“). So etwa im Kontext von Religion N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2000, 132 („Paradoxien sind ... die einzige Form, in der Wissen unbedingt gegeben ist. Sie treten an die Stelle des transzendentalen Subjekts, dem Kant und seine Nachfolger einen Direktzugang zu unkonditioniertem, a priori gültigem, aus sich selbst heraus einsichtigem Wissen zugemutet hatten.“); vgl. auch N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, 174 (wo betont wird, dass es darauf ankomme, „die Invisibilisierung der Paradoxie so durchsichtig wie möglich zu vollziehen und wenigstens deutlich zu machen, welchen blinden Fleck man benutzt“). G. Teubner, Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit, 1999, 199ff., 201. Das volle Zitat von Wiethölter (Fn. 55), 13ff., 19, lautet: „‚Rechtspflege‘ als Pflege der Rechtsparadoxie selbst, ihrer Erhaltung und Behandlung zugleich“.

81 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 4. System II

Vielmehr dreht Luhmann den Spieß um: Rechtsbildung ist gerade deshalb erforderlich, weil es bei der Paradoxie nicht bleiben kann. Recht und eine geordnete Rechtspflege kann es nur dann geben, wenn das Rechtssystem Mechanismen der laufenden Entparadoxierung oder „Entfaltung“ der Gründungsparadoxie institutionalisiert. Dazu wird die Gründungsparadoxie des Systems im laufenden Betrieb in eine Entscheidungsparadoxie transformiert,66 derzufolge Rechtsfragen gerade deshalb entschieden werden müssen, weil sie unentscheidbar sind.67 Die laufende Entfaltung der Entscheidungsparadoxie wird wiederum durch die Institution des Entscheidungszwangs innerhalb der staatlichen Gerichtsbarkeit gesichert, dem Rechtsverweigerungsverbot (vgl. z. B. § 300 ZPO), das seinerseits durch eine Form der juristischen Interpretation (Argumentation) abgestützt wird, die ganz auf die Belange der gerichtlichen Entscheidung zugeschnitten ist.68 134 In diesem Kontext erweist sich die Theorie der Autopoiesis als Angebot, sich erst gar nicht in (Be-)Gründungsfragen zu verstricken. Da autopoietische Systeme die Strukturen und Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen, läuft die Paradoxieentfaltung des autopoietischen Systems bereits in dem Moment an, in dem das System – mit der „ersten“ Kommunikation – in den „Fluss der Zeit“ eintritt und all seine „Unschuld“ für immer verliert. In dem Augenblick, in dem die zeitpunktbezogenen Operationen des Systems beobachtet werden können, hat das System schon angefangen zu prozessieren; und nur unter dieser Voraussetzung kann die Frage nach dem Anfang des Systems gestellt und die Entdeckung gemacht werden, dass der Anfang stets ein im System gefertigter Mythos ist.69 Auch das Rechtssystem hat immer schon angefangen zu prozessieren, denn nur wenn es praktisch arbeitet, kann es sinnvoll zum Gegenstand systembezogener Reflexion werden. „Die Rechtspraxis operiert stets in einer Situation mit historisch gegebenem Recht, denn anders könnte sie gar nicht auf die Idee kommen, sich selbst als Rechtspraxis zu unterscheiden. Entsprechend gibt es, historisch gesehen, keinen Anfang des Rechts, sondern nur Situationen, in denen es hinreichend plausibel war, davon auszugehen, daß auch schon früher nach Rechtsnormen verfahren worden ist.“70

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Vgl. G. Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, 33 („Nach Luhmann kommt das Recht dadurch überhaupt erst zur autopoietischen Systembildung, dass es das Paradox in eine Differenz verwandelt, indem es das unendliche Oszillieren zwischen Recht und Unrecht als einen konditionierbaren Widerspruch missversteht, ja in einen programmierbaren binären Code technisiert.“); vgl. auch R. Christensen/A. Fischer-Lescano, Das Ganze des Rechts, 2007, 224ff. Im Anschluss an H. v. Foerster, Ethics and Second-Order Cybernetics, 1992, 1ff., 6 („Only those questions that are in principle undecidable, we can decide.“). Vgl. Luhmann (Fn. 3), 307ff.; ders., Die Paradoxie des Entscheidens, Verwaltungsarchiv 84 (1993), 287ff. Dazu näher Rn. 224ff. Vgl. nur Luhmann (Fn. 3), 297ff., 338ff., vgl. auch 520f. (für den Fall des Common law), und 527 (für den Fall des kontinentaleuropäischen Rechtspositivismus); zum Rechtsverweigerungsverbot M. T. Fögen, Rechtsverweigerungsverbot, 2006, 37ff.; und kritisch K.-H. Ladeur, Das subjektive Recht als Medium der Selbsttransformation der Gesellschaft und Gerechtigkeit als deren Parasit, ZfR 29 (2008), 109ff., 111ff. (spricht vom Mythos des „Justizverweigerungsverbots“). Dazu allg. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 441 („Nur wenn das System operiert und wenn es hinreichende Komplexität aufgebaut hat, um sich selbst in der Zeitdimension beschreiben zu können, kann es einen Anfang ‚postizipieren‘. Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ‚Quelle‘ und eines (oder keines) ‚Davor‘ ist ein im System selbst gefertigter Mythos – oder die Erzählung eines anderen Beobachters.“). Luhmann (Fn. 3), 57.

82 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Systemtheorie und Computerkultur In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Suche nach Letztbegründungen im frühen 20. Jahrhundert auch die Geisteswissenschaften (und nicht nur die mathematische Grundlagenforschung) erfasste. Sie stand hier allerdings vielfach unter dem zweifelhaften Vorzeichen einer geradezu fieberhaften Suche nach Bruchstellen und Rissen in den Institutionen der liberalen Gesellschaft; Apokalypse, Menschheitsdämmerung oder Untergang des Abendlands lauten die hierfür einschlägigen Stichworte.71 Im Kontext einer philosophischen Kritik der Gewalt sprach etwa Walter Benjamin schon 1921 von der „entmutigende(n) Erfahrung der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme“.72 Benjamin entwickelte daraus eine scharfe Kritik am angeblich gewaltfundierten und gewaltförmigen modernen Recht – und legte die Sorge um Recht und Gerechtigkeit ganz in die Hand eines kommenden Gottes.73 Andere, wie etwa Carl Schmitt, interessierten sich weniger für Geschichtsphilosophie und Theologie als für die konkreten politischen Kräfte, die in einer von anonymen Instanzen beherrschten Welt noch in der Lage waren, den Direktkontakt mit einer echten Form „seinsmäßiger Ursprünglichkeit“ qua Dezision herzustellen.74 Noch Derridas frühe Arbeiten weisen Berührungspunkte mit dieser Tradition des Ursprungsdenkens auf. Insbesondere die Grammatologie setzt die différance gerade auf jenen elementaren Vorgang an, „mit dem die erste Spur gesetzt wird, auf dem jedes Unterscheiden und Identifizieren aufruht“,75 um dieses Unterscheiden und Identifizieren dann seinerseits „dekonstruieren“ zu können. In späteren Publikationen, insbesondere nach der Paul-de-Man-Affäre von 1987, tritt Derridas Interesse an der Dekonstruktion von Letztbegründungen jedoch gegenüber dem Anliegen zurück, eine eo ipso vorhandene Verknüpfung des Rechts mit einer „kommenden“ Gerechtigkeit („justice à venir“) nachzuweisen. Diese „Wende zur praktischen Philosophie“ mündet schließlich in einer Konzeption der Gerechtigkeit als Erfahrung des Unmöglichen im Recht bzw. als Möglichkeit der Dekonstruktion des Rechts.76

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IV. Systemtheorie und Computerkultur Karl-Heinz Ladeur hat bereits 1988 in einem Beitrag zur Methodendiskussion in der 136 Rechtswissenschaft die Frage aufgeworfen, ob der sich in nahezu alle Lebensbereiche ausdehnende Einsatz des Computers dem herkömmlichen (rechtspositivistischen) System nicht die Grundlagen entzogen hat und deshalb die Suche nach einer begrifflich angemessenen Alternative zu dieser „Rahmenerzählung“ (méta récit) der Moderne und des modernen Rechts nahelegt.77 Diese Frage ist – mit Ladeur – unbedingt zu bejahen. Die Einheitsform des systematischen Buchwissens, auf der sowohl die normative „Rahmenerzählung“ der Moderne, die Natur- und Sozialphilosophie, als auch das rechtspositivistische System beruhten, wird in einer vom Computer dominierten Kultur – insbesondere durch die neuartige Hypertextstruktur des Internets78 – zuneh71

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Zum Kontext und zum Hintergrund vgl. nur H. Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, 1994; K. Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, 1988; N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, 1991; S. Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus, 1995. W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), 1965, 54. Benjamin, ebd., vgl. auch 63f.; T. Hitz, Jacques Derridas praktische Philosophie, 2005, 71 (mit der treffenden Bemerkung, Benjamin verlege die Gerechtigkeit in die Fernflucht der Göttlichkeit); dazu Ch. Menke, Recht und Gewalt, 2011, insb. 49ff., 59ff. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen (1932), 1963, 33; vgl. dazu Hitz (Fn. 73), 63; zur Beziehung Schmitt/Benjamin vgl. nur Menke (Fn. 73), 59ff.; Hitz (Fn. 73), 63ff.; Bolz (Fn. 71), 85ff. Die Formulierung stammt von Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 91, vgl. auch 98f. (mit Bezug auf Derrida (Fn. 60), 113f.), beides in einem medientheoretischen Zusammenhang. J. Derrida, Gesetzeskraft, 1991, 30, 45f.; vgl. auch Teubner (Fn. 66), 25ff., 37ff., der die theologischen Bezüge akzentuiert, und – aus philosophischer Sicht – Hitz (Fn. 73), 73ff. Ladeur (Fn. 54), 218ff. Vgl. dazu nur I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, 131ff.; R. Christensen/K. D. Lerch, Performanz, 2005, 55ff.; und die Analyse der Rechtsprechung des EuGH bei F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik Bd. 2, 2012, 235ff., 245ff.

83 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 4. System II

mend anachronistisch. Die Rechtstheorie muss daher auf die sich etablierende Computerkultur reagieren und, soweit sie am System als „Ordnungsidee“ festhalten will,79 ihre Modellbildung den neuen kognitiven Verhältnissen, d. h. der Computerkultur und ihrer Epistemologie anpassen. Diese Kultur und Epistemologie dürften vor allem dadurch bestimmt sein, dass das Internet – das mit Hilfe eigener plattformunabhängiger Sprachen selbst wie ein „gigantischer Computer“ operiert – ein „komplexes sich selbst organisierendes Informationssystem“ ist, in dem „keine zentrale Leistungsvermittlung“ mehr stattfindet.80 136a Die neue Computerkultur leitet den Übergang in eine neuartige postontologische, post-metaphysische und postmoderne epistemologische Situation ein, „in der man sich die Wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen Fundament verankerte Struktur denken kann“.81 In der Computerkultur tritt eine „Konnektivität von Wissensfragmenten“ an die Stelle der alten, mit der Buchdruckkultur zusammenhängenden Vorstellung der Einheit des Wissens. Damit zerfällt auch die Illusion eines unmittelbaren Zugriffs „auf die eine Realität aus einer Zentralperspektive“.82 Auch unter den neuen epistemologischen Bedingungen zerfällt das Wissen über die Welt nicht einfach in Stücke, die völlig unabhängig voneinander existieren und keinerlei Berührungspunkte untereinander aufweisen würden. Die alte Einheit des Wissens ist aber insofern verloren gegangen, als das Wissen heute flüssiger und polykontexturaler geworden ist und nur noch in Form vorübergehender Verknüpfungen von Wissenssegmenten zu Geweben, Geflechten und ähnlichen Konfigurationen als „Einheit“ in Erscheinung tritt. Etwas anders formuliert: An die Stelle einer relativ zeitstabilen vertikalen (baumförmigen) Organisation des Wissens mit Vollständigkeitsanspruch und Abschlussformel ist eine Dynamik der netzwerkartigen Wissensgenerierung getreten, eine fließende Kombinatorik der Erzeugung von Wissen aus schon vorhandenem Wissen. Der „stabile Datenspeicher“ aus gedruckten Büchern und Bibliotheken wird durch eine „Schrift elektronischer Impulse“ abgelöst, „einem flüssigen System der Selbstorganisation von Daten“.83 137 Zweifellos antwortet Luhmanns autopoietisches System durchaus auf die Emergenz der Computerkultur und die mit ihr einhergehenden neuen epistemologischen Bedingungen.84 Luhmann entwirft ein Rechtssystem, das wie der Computer mit Differenzen und einem binären Code operiert, statt mit irgendeiner vorauszusetzenden Einheit.85 Es arbeitet zudem ohne zentrale Leistungsvermittlung oder „Gesamtidee“ (Gerber). Es ist netzwerkartig angelegt (wie das Internet), statt hierarchisch und pyramidenförmig. Es reflektiert Phänomene wie Unbeobachtbarkeit („blinde Flecken“) und weist dem Nicht-Wissen eine konstitutive Funktion zu, statt das Operieren des 79 80 81

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E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee und System, 1982, 7. K. Mainzer, Computerphilosophie zur Einführung, 2003, 161. G. Vattimo, Jenseits des Christentums, 2004, 11; ders., Weltverstehen – Weltverändern, 2001, 50ff., 60 („die Welt tatsächlich und immer umfassender in ein Spiel von Interpretationen auflöst“). K.-H. Ladeur, Soziale Epistemologie der Demokratie, 2009, 143. A. Assmann, Erinnerungsräume, 1999, 358; Ladeur (Fn. 82), 135ff., 149 („Logik des Flusses“); Augsberg (Fn. 78), 132f. Dazu auch D. Baecker, Wozu Soziologie?, 2004, 125ff. N. Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, Rechtstheorie 17 (1986), 171ff., 176; vgl. auch Ladeur (Fn. 54), 218ff., 223 (an die Stelle der Einheit tritt das Prozessieren einer Unterscheidung bzw. Differenzierung).

84 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Systemtheorie und Computerkultur

Systems wie der Rechtspositivismus als erkenntnisförmige Anwendung einer durchgängig transparenten und lückenlosen Ordnung zu konstruieren. Das alles sichert Luhmanns Systementwurf bis heute eine wichtige Position auf dem Theoriemarkt. Und dennoch ist fraglich, ob Luhmanns autopoietisches System hinreichend auf jenen medialen Hintergrund abgestimmt ist, der die epistemologischen Voraussetzungen für die Möglichkeit der Formulierung einer Theorie dynamisch und rekursiv arbeitender Systeme bildet, nämlich die neue Computerkultur. Das erscheint durchaus zweifelhaft, und damit läuft die Systemtheorie Gefahr, den historischen „Einsatz“ des eigenen Denkens zu vernachlässigen.86 Dass das System der Systemtheorie zu wenig auf die Funktionslogik von Medien und 138 vor allem zu wenig auf das Medium des Computers und seine epistemologischen Konsequenzen zurückbezogen wird, lässt sich etwa am Paradoxiebegriff demonstrieren. Luhmann schwankt hier zwischen einem historischen Einsatz des Begriffs und „eine (r) Art nicht-philosophische(r) Apriorik“,87 insofern nicht wirklich klar wird, ob die Paradoxie in der Systemtheorie als Orthodoxie „unserer Zeit“88 fungiert oder ob der Paradoxiebegriff im Sinne einer zeitlosen Urlogik der Beobachtung benutzt wird, „welche die Differenz und die Paradoxie als die Anfangsvollzüge alles Denkens ansetzt“.89 Richtigerweise kann sich das Operieren mit einer Gründungsparadoxie nur auf die heute nicht zu leugnende Notwendigkeit beziehen, in der Rechtstheorie zwangsweise mit Unterscheidungen operieren zu müssen, denen selbst keine Identität, kein fester Boden, keine „Welt des Geistes“ im Sinne Hegels mehr vorausliegt.90 Aber das macht die Paradoxie zu einer Orthodoxie unserer Zeit. Das Auftreten von Differenz und Paradoxie in der Rechtstheorie wäre also – wie hier – historisch in der Bewegung der Selbstbeschreibung des Rechtssystems seit den frühen Tagen des Rechtspositivismus, seit Savigny, Puchta, Gerber u. a., zu verorten, nicht aber als Ersatz für die alte Erklärung des Rechtssystems aus einem Prinzip heranzuziehen.91 Dieser Schluss erscheint umso zwingender, als sich zeigen lässt, dass die Karriere der 139 Paradoxie innerhalb des Systemdenkens eng mit dem Aufkommen der Computerkultur verbunden ist. Kelsens reine Rechtslehre, in der jeder beliebige Inhalt positives Recht werden konnte, sofern er nur mit der Grundnorm vermittelt war, hatte noch in der an Leibniz anknüpfenden Tradition der mathesis universalis ihre Entsprechung. 86

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Vgl. dazu die (noch immer) lesenswerte Stelle bei M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922), 1985, 214 („Aber irgendwann wechselt die Farbe: die Bedeutung der unreflektiert verwerteten Gesichtspunkte wird unsicher, der Weg verliert sich in der Dämmerung. Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken. Sie zieht jenen Gestirnen nach, welche allein ihrer Arbeit Sinn und Richtung zu weisen vermögen.“). Clam (Fn. 2), 27, vgl. auch 107. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 1144, Fn. 429, mit Hinweis auf „The Education of Henry Adams“ (1907), 423f. („but paradox had become the only orthodoxy in politics as in science“). Im Übrigen, wohl nicht nur zufällig, eine Aussage im Kapitel über Selbstbeschreibungen des Systems. Clam (Fn. 2), 19, 107. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 4 („der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als seine zweite Natur, ist“). Ähnlich Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 63, in einem gesellschaftstheoretischen Zusammenhang mit Blick auf den Formenkalkül von Spencer Brown.

85 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 4. System II

Die Reine Rechtslehre war, wie Klaus Mainzer bemerkt hat, in manchem der Mathematik von David Hilbert ähnlich, derzufolge man sich „unter formalen Axiomen und Gesetzen der Mathematik Beliebiges“ vorstellen konnte, „sofern sie logisch konsistent“ waren; wobei Hilbert – wie Leibniz – keine Zweifel hatte, dass „mathematisches Denken mit endlichen (finiten) Mitteln widerspruchsfrei formalisierbar“ sei.92 Seit den logischen und informationstheoretischen Forschungen der 1930er Jahre – seit Gödels beiden Unvollständigkeitssätzen und Turings Nachweis der Nicht-Entscheidbarkeit des Stopp-Problems von Computern – ist jedoch geklärt, „dass die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems nicht mit den finiten Mitteln bewiesen werden kann, die in diesem System selbst verwendet werden.“93 Was das für die Rechtstheorie bedeutet, lässt sich leicht zeigen: Wenn alles Recht positives Recht ist, ist nicht-positives Recht kein Recht. Dann aber kann die Anweisung oder Regel, die das positive Recht erkennbar macht, nicht eine dem positiven Recht selbst angehörige Regel sein. Das ist der Hintergrund, der schon Kelsen zur Quasi-Externalisierung der Grundnorm durch ihre Einbettung in einen transzendental-logischen Kontext zwang. Dieser logische und informationstheoretische Kontext aus der Anfangsphase der Computerkultur ist es aber auch, der Luhmann dazu veranlasst hat, die (Be-)Gründung des rechtspositivistischen Systems durch einen „ersten Satz“ in eine Gründungs- und Entscheidungsparadoxie autopoietischer Systeme umzuformulieren, nicht aber ein allgemeiner (kontextfreier) Fortschritt logischer Denkmöglichkeiten. 140 Ein vergleichbares Schwanken zwischen gegenwartsbezogenem Denken und Apriorik lässt sich auch in Luhmanns Theorie der Autopoiesis nachweisen. Einerseits dient der Begriff der Autopoiesis dazu, eine neuartige dynamische Selbststabilisierung von Systemen auf den Begriff zu bringen. Vor dem Hintergrund eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels, bei dem „Ordnung das Resultat von Praxis ist, nicht ihre Präsupposition,“94 wird der autopoietische Systembegriff von Vorläuferkonzepten abgegrenzt, wie etwa von dem der „Selbstorganisation“, bei dem die systemeigene Ordnungsbildung auf Strukturaufbau begrenzt wurde (Selbstregulation).95 Zugleich wird Autopoiesis als „Invariante“ eingeführt, die „bei allen Arten von Kommunikationen stets dieselbe“ sein soll.96 Beide Thesen sind nur schwer miteinander zu vereinbaren. Letztere ist darüber hinaus für das Rechtssystem auch nur schwer zu akzeptieren. Recht wird ja nicht seit jeher dynamisch, rekursiv und heterarchisch determiniert. „Normenpyramide“ und „Stufenbau“ der Rechtsordnung sind keine lediglich modellhaften Selbstbeschreibungen einer schon immer anderen Geschichte des Rechts, vielmehr gehört die Hierarchie des Rechts noch heute zur Rechtspraxis (vgl. Rn. 67). Erst in jüngerer Zeit hat das Rechtssystem begonnen, seine hierarchischen Strukturen abzubauen, und das hängt mit einem historischen Wandel der medialen und epistemologischen Bedingungen der Gesellschaft zusammen, der – allgemein – beschrieben werden kann als „eine Umstellung der Gesellschaft von der Orientierung an der Erfahrung und relativ stabilen Gesetzmäßigkeiten in Natur und Gesellschaft auf prospektive Mo92 93

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Mainzer (Fn. 80), 179, 53; vgl. auch S. Krämer, Symbolische Maschinen, 1989, 138ff., 145. Mainzer (Fn. 80), 53; Krämer (Fn. 92), 146; vgl. auch Luhmann (Fn. 3), 102 („Überhaupt kann es im System keine Regel geben, die die Anwendbarkeit/Nichtanwendbarkeit aller Regeln regelt.“) Zu Turings Papiermaschinen vgl. B. Heintz, Die Herrschaft der Regel, 1993, 63ff. A. Nassehi, Der soziologische Diskurs der Moderne, 2006, 302. Luhmann (Fn. 3), 45; vgl. auch ders. (Fn. 9 – Gesellschaft), 64f. Luhmann (Fn. 3) („Autopoiesis wird mithin als ‚Invariante‘ eingeführt. Sie ist bei allen Arten von Leben, bei allen Arten von Kommunikation stets dieselbe.“).

86 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Systemtheorie und Computerkultur

delle eines Wissens, das nicht mehr durch stabile hierarchische Trennungen von Allgemeinem und Besonderem, sondern von heterarchischen hybriden Verschleifungen und Relationierungen von Suchprozessen in Netzwerken bestimmt wird“.97 Das gilt sowohl für den innerstaatlichen als auch für den außerstaatlichen Kontext. So wird das staatszentrierte Völkerrecht herkömmlicher Prägung seit einiger Zeit durch ein funktional ausgerichtetes, „fragmentiertes Weltrecht“ unterlaufen,98 das die Hierarchie des Völkerrechts dekomponiert und durch neue netzwerkartige, heterarchische Ordnungsmuster ablöst.99 Die Schwierigkeiten, die sich Luhmann einhandelt, zeigen sich schließlich auch in der 141 Zeitdimension. Die historische Invarianz des autopoietischen Systems hängt ja vor allem mit seiner zeitpunktabhängigen Arbeitsweise zusammen. Solange es Autopoiesis und damit Elemente und Strukturen des Rechtssystems gibt – so muss man Luhmann wohl verstehen – weist jede gelungene Fortsetzung des Systems dieselbe zeitpunktbezogene Gegenwärtigkeit auf. Es ist jedoch evident, dass die Vorstellung einer „zeitpunktabhängigen Gegenwärtigkeit“ eine Zeitstruktur voraussetzt, die frühestens die moderne Gesellschaft ausgebildet hat, nämlich die Abkoppelung einer operativen oder linearen Zeit von jedweden anthropomorphen oder kosmomorphen periodischen Vorgängen („zyklische Zeit“).100 So sieht es im Übrigen auch Luhmann selbst, zumindest soweit es um die Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft in der Zeitdimension geht.101 Für Luhmann hat im Übergang zur Neuzeit eine Verschiebung in der Zeitsemantik stattgefunden, in der Zeit (tempus) nicht mehr in der zeitlosen Zeit, der Ewigkeit (aeternitas), zustande kommt; vielmehr diene der Zeitpunkt gerade der Verzeitlichung der Gegenwart, die dadurch zum historisch einmaligen Ereignis und als solches zum einzig Unvergänglichen werde. Die Akzentuierung des Ereignisses, des Augenblicks, der nicht mehr durch die Vergangenheit determiniert sei, erfahre schon im späten 17. Jahrhundert – schon vor der deutschen Romantik – bei Autoren wie Alain-René Le Sage und Luc de Clapier Marquis de Vauvenargues erste Formulierungen.102 Diese Umstellung der Zeitsemantik interpretiert Luhmann dahingehend, dass sich die 142 autopoietischen Systeme der modernen Gesellschaft – entgegen der räumlichen Metaphorik der Zeit – nicht in Richtung auf andere, schon bekannte Stellen im Raum bewegen, sondern in Richtung auf einen Weltzustand, „den es noch gar nicht gibt. Man bewegt sich ins Bodenlose“.103 Das Alte wird nicht im Neuen bewahrt und aufgeho97 98 99

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Ladeur (Fn. 51), 296. A. Fischer-Lescano/G. Teubner, Regimekollisionen, 2006, 57. Aus der Fülle der neueren Literatur vgl. nur G. Teubner, Verfassungsfragmente, 2012; M. Amstutz, Zwischenwelten, 2003, 213ff.; Ch. Joerges, Freier Handel mit riskanten Produkten?, 2006, 151ff. (beide aus privatrechtlicher Sicht); A. Peters, Privatisierung, Globalisierung und die Resistenz des Verfassungsstaates, ARSP Beiheft 105 (2006), 100ff. (aus völkerrechtlicher Sicht); E. Schmidt-Aßmann, Aufgaben und Perspektiven verwaltungsrechtlicher Forschung, 2006, 466ff. (aus verwaltungsrechtlicher Sicht); T. Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, VVDStRL 63 (2004), 41ff., 47ff., 64f. (aus staatsrechtlicher Sicht); S. Leibfried/M. Zürn, Von der nationalen zur post-nationalen Konstellation, 2006, 19ff. (aus politikwissenschaftlicher Sicht). Instruktiv dazu aus soziologischer Perspektive S. Breuer, Die Gesellschaft des Verschwindens, 1992, 131ff.; vgl. auch H. Rosa, Beschleunigung, 2005, insb. 161ff. U. a. Luhmann (Fn. 26), 235ff.; ders. (Fn. 9 – Gesellschaft), 997ff. Luhmann (Fn. 26), 271ff., 275 (le Sage), 278 (de Vauvenargues). Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 998. Die Schwierigkeit der angemessenen Abbildung der operativen Zeit und die Notwendigkeit ihrer räumlichen Metaphorisierung ist schon Kant in der Kritik der reinen

87 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 4. System II

ben, das System kombiniert nicht Kontinuität und Wandel, sondern arbeitet – im Grenzfall – mit reiner Diskontinuität. Das Operieren unter Ungewissheitsbedingungen, unter der Bedingung auch, dass die Geschichte selbst keine Kontinuität mehr sichert, weil die fortlaufende Punktualisierung der Gegenwart die Kontinuität mit der Vergangenheit unwiderruflich entwertet hat, setzt aber wiederum den Primat der Zukunft, eine Wertschätzung des Neuen, voraus; und auch das sind nach Luhmann genuin moderne Errungenschaften. Sie werden seit dem 17. Jahrhundert in positiv besetzten Begriffen wie Genie, Kreativität, Innovation, Erfinden usw. vorbereitet und schließlich auf ein „progressistisches“ Selbstverständnis der Gesellschaft übertragen, die sich etwa in der Geschichtsschreibung in einer „neuen Zeit“ lokalisiert und sich als „modern“ interpretiert.104 143 Gerade wenn man der Zeittheorie der Systemtheorie ihren „Realismus“ nicht absprechen will, stellt sich die Frage, ob diese darin nicht auf eine Erfahrung rekurriert, die erst im 20. Jahrhundert auftreten konnte. Immerhin kombiniert die Philosophische Semantik den modernen Zeitbegriff noch lange mit der Vorstellung einer sich zur Vollendung hin bewegenden Geschichte, man denke nur an Hegel und seine Vorstellung eines zu sich selbst – in seiner Absolutheit – kommenden Geistes. Noch mehr als ein Jahrhundert später liegen in der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers alle Akzente auf der historisch gestifteten Kontinuität, die das Vorverständnis einer jeden Epoche ausmachen, gegen den Ästhetizismus und das ästhetische Bewusstsein, als dessen Hauptzug Gadamer die reine Diskontinuität, die Punktualisierung der Zeit, ansieht.105 Ja noch in der kritischen Theorie Theodor W. Adornos produziert die abstrakte Zeit eine Ahistorizität des Bewusstseins, das Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung.106 Für Adorno ist die Realisation dieser abstrakten punktuellen Zeitlichkeit insbesondere in den nachklassischen Formen der Musik, im Jazz und den frühen Formen der Popmusik (Schlager) verankert, auch im Film, also allgemein in dem, was in der Dialektik der Aufklärung von 1944 als „Kulturindustrie“ und „Massenbetrug“ bezeichnet wird.107 Natürlich teilt Luhmann diese kulturkritische Geste Adornos nicht, aber auch Luhmann hat gerade in seinen späten Veröffentlichungen wiederholt betont, dass die operative Zeit außer in der Wirtschaft vor allem in den Massenmedien präsent sei.108 Die elektronischen Medien bilden also ganz offensichtlich einen impliziten Hintergrund, vor dem die Beobachtung einer diskontinuierlichen Zeit des sich laufend wiederholenden Augenblicks überhaupt erst möglich geworden ist.

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Vernunft aufgefallen. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, 356, hat dazu treffend bemerkt, dass sich die Zeit bekanntlich sowieso nur in spatialen Metaphern ausdrücken lasse. Vgl. Luhmann (Fn. 9 – Gesellschaft), 1000f. Diese Wertschätzung des Neuen erfasst selbst das noch heute gern als „konservativ“ beschriebene Rechtssystem. Das Recht wird nicht mehr durch Traditionsbindungen (und Erfahrung) gehalten, sondern durch Verfassungsgesetze, die ihre eigene Selbständerung regeln bis hin zur Paradoxie der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, einer Vorschrift, die ein absolutes Änderungsverbot in einem historischen, d. h. vergänglichen Dokument verankert. G. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 1997, 62 (weitere Nachweise oben Rn. 210ff.). Th. W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 8, 1980, 217ff., 230. Für Adorno verweist die abstrakte Zeit auf die mathematisch naturwissenschaftliche Rationalität und d. h. auf die Durchsetzung des Tauschprinzips. Dazu ausführlich S. Breuer, Aspekte totaler Vergesellschaftung, 1985, 34ff., 46ff. N. Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 1996, 44 („Hinter den viel diskutierten Eigenarten moderner Zeitstrukturen wie Dominanz des Vergangenheit/Zukunft-Schemas, Uniformisierung der Weltzeit, Beschleunigung, Ausdehnung der Gleichzeitigkeit auf Ungleichzeitiges stecken also vermutlich neben der Geldwirtschaft die Massenmedien.“).

88 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Systemtheorie und Computerkultur

Deshalb wäre – gegen Luhmann – darauf zu insistieren, dass alle Kategorien der 144 Rechtstheorie, auch die des autopoietischen Systems, ihre volle Gültigkeit nur in einer bestimmten historischen Epoche und nur in einem bestimmten medialen environment entfalten. Luhmanns Konzeption eines stets augenblicklich operierenden Rechtssystems wäre also historisch genauer zu situieren und als Reaktion auf eine neuartige, „postmoderne“ Konstellation zu begreifen, in die der gesellschaftliche Wandel sichtbar erst im späten 20. Jahrhundert geführt hat. Dieser Wandel ist eng mit dem Aufkommen der elektronischen Medien und dem Computer verknüpft, enger jedenfalls als es die Theorie des autopoietischen Systems expliziert, vielleicht auch explizieren kann. Denn anders als im Fall lebender Zellen ist die an Sprache und Medien gebundene Beschreibung des Rechts als Einheit und System zugleich eine Intervention in das Recht als instituierte Ordnung. Dagegen überzieht Luhmann vermutlich die Möglichkeiten der Systemtheorie, wenn er die dynamische und rekursive Vernetzung des Rechtssystems mit einem Import aus der Kognitionsbiologie von Humberto Maturana – als „Autopoiesis“ – auf der operativen Ebene als Invariante zu fassen sucht. Einmal davon abgesehen, dass die Kognitionsbiologie Maturanas selbst ein Produkt der Computerkultur ist,109 ist die ausschlaggebende Neuerung der autopoietischen Systembildung gegenüber dem rechtspositivistischen System die netzwerkförmige, zeitpunktgebundene Operationsweise. Diese ist aber keine historisch invariante Operationsweise, sondern auf die neuen medialen und epistemologischen Verhältnisse der Computerkultur zurückzuführen, insbesondere auf den Aufstieg einer Welt, in der sich die „letzten Orientierungspunkte der Gewißheit“ aufgelöst haben und eine neue „Empfänglichkeit für das Unbekannte der Geschichte“ entsteht.110 Diese Vor-Bedingung wird auch sprachlich in dem dem Altgriechischen entlehnten Begriff „Autopoiesis“ kaum abgebildet. Die hier angesprochenen Probleme hängen neben einem vielleicht nicht so glücklichen Begriffsimport vor allem mit Luhmanns Neigung zusammen, Selbstbeschreibung und Operation des autopoietischen Systems voneinander zu isolieren. Luhmann reißt vor allem im Fall des Rechtssystems zwischen der laufenden Selbstherstellung der operativen Einheit des Systems und den Formen seiner theoretischen Expertise einen Graben auf, der kaum überbrückbar erscheint; zumindest wird der Übergang zwischen theoretischer und praxisorientierter Expertise an nur relativ wenigen Schnittstellen für möglich gehalten, etwa im Zusammenhang von Freiheit, subjektivem Recht und Klagebefugnis.111 Eine Trennung zwischen theoretischer Expertise, die sich der „Sonderaufgabe“ der „Darstellung von Einheit, Funktion, Autonomie und auch Indifferenz des Rechtssystems“ widmet, und „normalen juristischen Theorien“,112 die primär an den Entscheidungsbetrieb der Gerichte adressiert sind, ist heute sicherlich weit verbreitet und eine der Ursachen für die Anpassungsprobleme des Rechtssystems an den beschleunigten gesellschaftlichen Wandel. Aber in der von Luhmann vorausgesetzten Art ist die wechselseitige Abschottung etwa von Rechtsdogmatik und Rechtstheorie erst ein Resultat des Auseinanderziehens von Beobachterperspektiven, in denen über Recht nachgedacht wird. Dieses Auseinanderziehen von Beobachterperspektiven ist aber wiederum ein Produkt der aktuellen medialen Reproduktionsbedingungen rechtswissenschaftlicher Kommunikation und kann beispielsweise nicht auf die Situation des 19. Jahrhunderts zurückprojiziert werden. Bei Savigny etwa findet man keine Trennung von Rechtstheorie und Rechtsdogmatik, zumal dort schon das Wort „Rechtsdogmatik“ keine tragende Rolle spielt, sofern es überhaupt vorkommt.

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Vgl. dazu allg. L. E. Kay, Das Buch des Lebens, 2005. C. Lefort, Fortdauer des Theologisch-Politischen, 1999, 54; vgl. auch C. Pornschlegel, Nach dem Poststrukturalismus, 2014, 139. Luhmann (Fn. 3), 499. Luhmann, ebd.

89 https://doi.org/10.17104/9783406746154-67 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:57:14. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 4. System II Darüber hinaus gerät die Trennung von operativer und reflexiver Systemebene mit Luhmanns eigenen Prämissen in Konflikt. Nach Luhmann wird das Rechtssystem als autopoietisches System erst auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung geschlossen.113 Dann kann aber auch die operative Systemzeit keine von der Zeitsemantik unabhängige Form sein. Sicher kann man nicht zweimal über denselben Fluss gehen (Heraklit), das mag invariant sein, aber es gibt doch keine zeitüberdauernde Notwendigkeit zeitlicher Sequenzierung von Rechtsoperationen einerseits und eine davon strikt zu trennende, historisch variierende Beschreibung der vom System benutzten Systemzeit (Zeitsemantik) andererseits. Wenn Luhmann wiederholt betont, dass die Umstellung auf ein Primat der Zeitdimension nicht nur thematisch, sondern viel tiefer greifend auch operativ in die Selbstbeschreibung der Gesellschaft und ihrer Welt eingebaut sei, dann kommt es eben gerade auf die Medien an, die operativ Zeitbindungen erzeugen. Dafür aber ist in Luhmanns Systemtheorie wenig Platz, vor allem weil der Begriff des Mediums als lose Kopplung von Elementen definiert und damit die spezifische Medialität des Mediums, der Schrift, des Buchdrucks, des Computers etc., kaum Rechnung getragen wird (vgl. Rn. 100ff.).

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Luhmann, ebd., 18, 61, 80 (jeweils zur Funktion der Beobachtung zweiter Ordnung als Voraussetzung operativer Schließung).

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§ 5. Geltung I. Staatszentrierung 1. Zur tradierten Rechtsquellenlehre

Als „Rechtsquellen“ bezeichnet Friedrich-Carl Savigny die „Entstehungsgründe“ des 146 geltenden Rechts.1 An dieser Vorstellung hat sich bis heute insofern wenig geändert, als Rechtsnormen – im Unterschied zu sonstigen gesellschaftlichen Regelbeständen und Konventionen – nach herkömmlicher Auffassung nicht schon dann „gelten“, wenn sie praktisch so und nicht anders gehandhabt werden, sondern erst dann als „geltend“ qualifiziert werden, wenn sie auf juristisch anerkannte Entstehungsgründe zurückzuführen sind. Danach beruht beispielsweise die Geltung des § 17 BImSchG auf einem Akt der parlamentarischen Gesetzgebung und damit auf einer allgemein anerkannten Rechtsquelle. Die „innere Einheit“ der Rechtsquellen liegt in ihrer Hierarchie, die die verschiedenen Normtypen – Verfassungsgesetze, Parlamentsgesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen – nach höheren und niederen Rängen abschichtet und mit starren Vor- und Nachrangregeln versieht, wie etwa der Regel, dass die höhere Norm untergeordneten Normen vorgeht.2 Die Hierarchisierung der Rechtsquellen hat einerseits die Funktion, Kollisionen zwischen den verschiedenen Rangebenen zu lösen und andererseits die Frage abzuschneiden, was sich „vor“ der höchsten Quelle befindet. In eigentümlichem Kontrast zu dieser ersten Bestandsaufnahme steht die heute – in 147 der Rechtstheorie und auch in der rechtsdogmatischen Literatur – kaum noch bestrittene Tatsache, dass die Rechtsquellenlehre unter Druck geraten ist.3 Dies wird in der Regel darauf zurückgeführt, dass die herkömmliche Rechtsquellenhierarchie im „offenen Staat“ sowohl um neue außerstaatliche als auch innerstaatliche Regelbestände erweitert worden sei,4 deren Einpassung in das bisherige System Schwierigkeiten bereite. Im außerstaatlichen Feld wird etwa auf die transnationale (technische) Standardsetzung und hier z. B. die Selbstverwaltung der Namen und Adressen des Internets durch die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN) hingewiesen,5 auf das wachsende internationale Vertragsrecht (z. B. der Welthandelsorganisation WTO), die neuartigen Völkergewohnheitsrechte (z. B. Folterverbot), die Standards internationaler Gremien (z. B. Luftverkehrssicherheit, Codex-Alimentarius) oder die aus dem Ausschusswesen der Europäischen Union hervorgehenden Regelwerke (Ko1

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Vgl. nur F. C. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, 1840, 11 („Wir nennen Rechtsquellen die Entstehungsgründe des ... Rechts“); vgl. dazu A. Ross, Theorie der Rechtsquellen, 1929, 133ff. (an Puchta anknüpfend). Vgl. etwa H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 2011, 70f.; B. Rüthers/Ch. Fischer/A. Birk, Rechtstheorie, 2015, Rn. 223ff.; zum Parlamentsgesetz als Mittelpunkt der Rechtsquellenlehre vgl. K. F. Röhl/ H. Ch. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2008, 519ff.; vgl. auch die umfangreiche Bestandsaufnahme, ebd., 522ff., 532ff. Vgl. nur M. Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, 2012, § 17 Rn. 8ff. (spricht von einer Notwendigkeit der Neukonzeption der Rechtsquellenlehre). Zum Konzept des „offenen Staates“ vgl. allg. U. di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998. Zur transnationalen Standardsetzung T. Vesting, The Autonomy of Law and the Formation of Network Standards, 5 German Law Journal No. 6, 2004; zur ICANN J. v. Bernstorff, „Internet ‚Law‘: Legitimacy and Legal Structures of ICANN“, 2004, 257ff.

91 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Geltung

mitologie).6 Im innerstaatlichen Bereich wird etwa diskutiert, ob und inwieweit privates Vertragsrecht, kollektiv-rechtliche Normabsprachen (z. B. Tarifverträge), verbandliche Standardsetzung (z. B. DIN-Normen), Verwaltungsvorschriften oder Satzungen autonomer Körperschaften – z. B. Satzungen im Sozialrecht oder Werberichtlinien von Landesmedienanstalten – als eigenständige Rechtsquellen anzuerkennen seien.7 148 Ein noch größeres Problem für die Überzeugungskraft der traditionellen Rechtsquellenlehre sind aber vielleicht ihre inzwischen vielfach herausgearbeiteten Paradoxien. Schon Alf Ross hat die Rechtsquelle nur noch als „Erkenntnisgrund“ und nicht mehr als Entstehungsgrund „für etwas als Recht“ behandelt.8 Hans Kelsen hat in der Reinen Rechtslehre dann die Frage nach dem Grund der Geltung der ranghöchsten Rechtsquelle selbst gestellt und sie durch die Konstruktion einer Grundnorm zu lösen versucht (vgl. Rn. 176ff.). Eine vergleichbare Lösung repräsentiert Herbert L. Harts „secondary rule of recognition“, die im Unterschied zu den „primary rules“ allein auf das Geltungsproblem angesetzt ist.9 Auch in diesem Fall soll der ansonsten logisch infinite (unendliche) Regress der Geltungsbegründung, die Frage nach dem „letzten Grund“ der Rechtsordnung, durch das Einziehen einer Meta-Ebene (secondary rule) vermieden werden (vgl. auch Rn. 98). Heute sind auch diese Lösungen problematisch geworden. Jacques Derrida hat in seinen Randgängen der Philosophie – in einem Essay über Paul Valéry (Qual Quelle) – dargelegt, wie jeder Gebrauch der Quellenmetapher unweigerlich in die Paradoxie führt, die Differenz von Ursprung und Wirkung der Quelle ununterscheidbar zu machen;10 die Quellenmetapher, so hat Luhmann diesen Gedanken artikuliert, erzeuge selbst die Differenz zwischen Vor-der-Quelle und Nach-derQuelle.11 Damit dürfte die normative Schließung der Rechtsordnung über die rechtsordnungsinterne Konstruktion von „letzten Normen“ (Grundnorm, secondary rule usw.) eher auf einer fiktional-metaphorischen Ebene zu lokalisieren sein. Dennoch wird die Neukonzeption der Geltungstheorie und die Überprüfung ihres Verhältnisses zur Rechtsquellenlehre erst allmählich in Angriff genommen. Worin liegt der Grund für diese scheinbare Alternativlosigkeit der tradierten Rechtsquellenlehre? 2. Das Problem der (staatlich sanktionierten) Gewalt

149 Der Grund für die anscheinende Alternativlosigkeit der tradierten Rechtsquellenlehre liegt in der Staatszentrierung der herkömmlichen Rechtsgeltungstheorie. Durch diese Staatszentrierung wird die Geltung des Rechts, die spezifische Normativität von Normen, als primär von staatlich sanktionierter Gewalt abhängig qualifiziert. Mit der Konsolidierung von Nationalstaat und Industriegesellschaft im letzten Drittel des 6

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Zur Internationalisierung des Verwaltungsrechts vgl. etwa E. Schmidt-Aßmann, Aufgaben und Perspektiven des Verwaltungsrechts, 2006, 486ff.; zur Komitologie vgl. nur Ch. Joerges, Comitology and the European model?, 2003, 501ff.; dazu auch G. Teubner, Verfassungsfragmente, 2012, 237ff. Zur Satzung als „Rechtsquelle“ vgl. nur T. Vesting, Satzungsbefugnis von Landesmedienanstalten und die Umstellung der verwaltungsrechtlichen Systembildung auf ein „Informationsverwaltungsrecht“, Die Verwaltung 35 (2002), 433ff. Ross (Fn. 1), 291f. H. L. A. Hart, The Concept of Law, 1961, 92f., 97ff. J. Derrida, Randgänge der Philosophie, 1988, 297 („Die Quelle selbst ist die Wirkung von dem, (als) dessen Ursprung (man) sie angibt.“). Vgl. – Derrida kommentierend – N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 524, vgl. auch ebd., 546.

92 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Staatszentrierung

19. Jahrhunderts ging in vielen kontinentaleuropäischen Ländern eine umfangreiche Verrechtlichung und Kodifikation des bürgerlichen Rechts nach französischem Vorbild einher (vgl. Rn. 68). Auch in Deutschland kam es zum Erlass einer Reihe von – teilweise noch heute geltenden – Gesetzbüchern: Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch (1861), Reichsstrafgesetzbuch (1871), Gerichtsverfassungsgesetz (1879), Reichs-Concursordnung (1879), Handelsgesetzbuch (1897) und das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch (1900) sind nur einige Beispiele. Obwohl diese Gesetzbücher ihrem Inhalt nach das Produkt des rechtswissenschaftlichen Positivismus waren, festigten sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Eindruck, dass sich die Rechtsbildung in eine Domäne des Staates und seiner Machtposition sowie des von ihm für diese Zwecke bevorzugten Mediums, der Willensäußerung im Gesetzbuch, verwandelt hatte. Jedenfalls gewann vor diesem Hintergrund die Vorstellung an Relevanz, dass die staatliche Gesetzgebung die dem „Range“ nach „erste“ Rechtsquelle war, nicht aber, wie etwa noch Windscheid im Pandektenrechtslehrbuch von 1862 angenommen hatte, das Gewohnheitsrecht und die damit eng verbundene gesellschaftliche Konventionsbildung.12 In das Umfeld des Gewohnheitsrechts gehört im Übrigen auch die Entstehung der Rechtsquellenlehre selbst: Gerade weil große Teile des Rechtskorpus lange ungeschrieben waren, wie etwa noch im mittelalterlichen Recht, stellte sich die Frage, nach welchen Kriterien lokale Rechte in politisch größere Territorien integriert werden konnten und damit, wie über die Geltung von lokalen Rechtsgewohnheiten zu entscheiden war. Aufgrund seiner Staatszentrierung bezeichnet man die Spätphase des Rechtspositivis- 150 mus auch treffend als „Gesetzespositivismus“ bzw. „staatsrechtlichen Positivismus“.13 Der Gesetzespositivismus adaptierte die in Deutschland insbesondere durch Kant geprägte Vorstellung der Allgemeinheit des Gesetzes (vgl. oben Rn. 45ff.) und verwandelte diese Gesetzesvorstellung samt der in ihr inkorporierten absoluten Befehlsmacht noch im (späten) 19. Jahrhundert in einen eher formal-technischen Gesetzesbegriff, der dem gerichts- oder verwaltungsförmigen Einzelakt entgegengesetzt wurde. Im Staatsrecht lässt sich die Formalisierung des Gesetzesbegriffs, der Übergang vom rechtswissenschaftlichen zum staatsrechtlichen Positivismus, etwa in der Bewegung von Carl-Friedrich Gerber zu Paul Laband belegen.14 Auch das Verwaltungsrecht wurde spätestens mit Otto Mayers Verwaltungsrecht (erste Auflage 1895) um das allgemeine Gesetz als die „oberste Art“ des „Staatswillens“ zentriert,15 das dann zugleich in einen hierarchischen Gegensatz zum Verwaltungsakt gebracht wurde. Sogar die Verfassung, ursprünglich eine Herrschaftsvereinbarung bzw. ein Staatsvertrag,16 galt im 12

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B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts Bd. 1, 1862, 38. Für Windscheid war die „Rechtsvernunft“ die höchste Quelle allen Rechts, die sich zunächst im Gewohnheitsrecht artikulierte. Anders sah es Windscheid allerdings in späteren Auflagen, in denen er einen allgemeinen Bedeutungsverlust des Gewohnheitsrechts im Verhältnis zur Gesetzgebung konstatierte. Zum „Gesetzespositivismus“ vgl. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1996, 458ff.; M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, 330f., zum „staatsrechtlichen Positivismus“ vgl. 276ff.; W. Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, 1993, 92ff. Vgl. einerseits C. F. v. Gerber, Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865, 137ff. („Als Gesetzgeber offenbart der Staat seinen Willen in der Form abstracter Normen.“); und – bereits weitaus technischer – andererseits P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches (1911), 1964, Bd. 2, 4ff., 62. O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht (1924), 1969, 64 („Herrschaft des Gesetzes“). Vgl. Eintrag Verfassung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 2001.

93 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Geltung

staatsrechtlichen Positivismus als eine „Art“ des Gesetzes.17 Der bürgerliche Rechtsstaat, wie ihn schon Kant gefordert hatte, mutierte zum Gesetzgebungsstaat.18 151 Damit wurden der Staat und seine überlegene Befehlsgewalt zugleich zum obersten Garanten des von ihm – in Gesetzesform – geschaffenen Rechts. Der gesamte Rechtsbildungsprozess wurde jetzt auf den Staat als Souverän zugeschnitten, der als ein von allen anderen Rechtsquellen zu unterscheidendes abstraktes Subjekt galt, als die artifizielle Person (jenseits der natürlichen Personen und ihrer Beziehungen zueinander), die überhaupt erst über Autorität und Geltung des Rechts entschied. Dieser Entwicklung hatte bereits Kants Metaphysik der Sitten von 1791 Tür und Tor geöffnet: Das allgemeine Gesetz der Freiheit blieb hier zwar als Voraussetzung und Richtschnur aller Rechtsgesetze erhalten (vgl. Rn. 50), gleichwohl koppelte schon Kant den Begriff des Rechts – im Unterschied zur „innerlich“ verpflichtenden Moral – an die Verknüpfung von allgemeiner Freiheit und „äußerlich“ wirkendem Zwang.19 Die Geltung des Rechts war damit von politisch sanktionierter Gewalt abhängig, und diese Vorstellung gewann im späten 19. Jahrhundert einen immer größeren Stellenwert. Für Laband beispielsweise manifestierte sich das spezifische Wirken der Staatsgewalt in der Versorgung des Gesetzes mit „verbindlicher Kraft“ und „äußerer Autorität“.20 Auch wenn Laband dabei noch deutlich zwischen der Herstellung der Rechtsinhalte und der Geltungsebene trennte, blickte doch bereits in seinem formellen Gesetzesbegriff ein Konzept durch,21 dass das autonome, sich selbst begründende Recht des rechtswissenschaftlichen Positivismus in Richtung auf ein für äußere (politische) Einflüsse offenes Staatsrecht zu transformieren begann. Führte Savigny Rechtsgeltung auf einen „Volksgeist“ zurück, also auf eine rein abstrakte – nicht-körperliche, nicht-personale – Souveränität, und war noch bei Windscheid die „Rechtsvernunft der Völker“ die letzte Quelle allen Rechts,22 wurde jetzt der über Polizei und Militär verfügende Nationalstaat und sein „beliebiger Wille“ zur höchsten Quelle aller Rechtsgeltung/Gesetzgebung. 152 In voller Konsequenz wurde diese Vorstellung einer unauflöslichen Verknüpfung von Rechtsgeltung und sanktionierter Staatsgewalt wohl erstmals in der Herrschaftssoziologie Max Webers entfaltet. Weber verknüpfte das Recht insbesondere im Idealtypus der „legalen Herrschaft“ unauflöslich mit dem modernen Anstaltsstaat als der für Weber typisch zeitgenössischen Form der legitimen Herrschaft.23 Legitime Herrschaft be17

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Der Ausdruck „Art des Gesetzes“ stammt von Bernatzik. Im 20. Jahrhundert ist diese Ansicht vor allem von E. Forsthoff, Rechtsstaat im Wandel, 1976, 130, popularisiert worden. Zur Genese des Rechtsstaats bei Kant vgl. I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, 70ff. (der Monarch ist als Regent „an die Gesetze gebunden, die er als rechtlich ungebundener Souverän gibt“); zur Entwicklung vgl. nur E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, 143ff. I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797/98), Werkausgabe Bd. 8, 1977, A 36. Dass Kant damit die Bindung des Rechts an eine „oberste Gewalt“ meint, wird insbesondere im Kantischen Strafrecht, B 225ff., deutlich. Zum Rechtszwang bei Kant J. Simon, Kant, 2003, 387, 399. Laband (Fn. 14), 4 („das spezifische Wirken der Staatsgewalt, das Herrschen, kommt nicht in der Herstellung des Gesetzesinhalts, sondern nur in der Sanktion des Gesetzes zur Geltung, in der Ausstattung eines Rechtssatzes mit verbindlicher Kraft, mit äußerer Autorität“). Laband, ebd., 62 („Form, in welcher der staatliche Wille erklärt wird, gleichviel, was der Inhalt des Willens ist“); E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1981, 226ff., 230. Zur heutigen Heterogenität der Gesetzestypen vgl. F. Reimer, Das Parlamentsgesetz als Steuerungsmittel und Kontrollmaßstab 2012, § 9 Rn. 15. Windscheid (Fn. 12), 37. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 124ff.; dazu S. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, 1991, 191ff.; ders., Max Webers tragische Soziologie, 2006, 63ff.

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I. Staatszentrierung

ruhte jetzt nicht mehr, wie noch die traditionale Herrschaft, auf dem „Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltenden Traditionen“,24 sondern war das Resultat absichtsvoller Entscheidungen, dem Durchbrechen einer vorgegebenen Ordnung durch einen Akt der Ordnungsstiftung. Ja, Recht galt in Webers Typus der legalen Herrschaft ausschließlich kraft Selektion, womit zugleich die jederzeitige Änderbarkeit des (momentan) geltenden Rechts impliziert war; legale Herrschaft hieß Setzung „beliebigen“ Rechts.25 Die damit unterstellte Kontingenz jeder Ordnungsstiftung durch Gesetzgebung rief umso mehr die Notwendigkeit der Absicherung des jeweils geltenden Rechts auf den Plan. Legale Herrschaft galt Weber daher als von „gewaltsamem Rechtszwang“ abhängig, der wiederum ein „Monopol der Staatsanstalt“ war.26 (Dahinter steht möglicherweise der Einfluss Jherings, der bereits den Ursprung der römischen Rechtsordnung in der Speerspitze lokalisiert hatte.27) Der Staat und sein Gewaltmonopol bildeten jedenfalls für Weber die zentrale Voraussetzung dafür, dass das Recht nicht nur auf bedrucktem Papier in Gesetzbüchern geschrieben stand, sondern im Konfliktfall auch wirksam, und das hieß gegebenenfalls durch den Einsatz legitimer staatlicher Gewaltmittel, durchgesetzt werden konnte. Legale Herrschaft bedeutete Herrschaft einer unpersönlichen Ordnung, hieß Herrschaft nicht von Menschen und Personen, sondern Herrschaft der Bürokratie, Herrschaft abstrakter Rechtsregeln, an die die Regierenden und Vorgesetzten ebenso gebunden waren wie die Regierten und Anordnungsempfänger,28 im Gegensatz etwa zum patrimonialen Herrscher, der unmittelbare (nicht regelgebundene) Macht von Menschen über Menschen ausübte, im Unterschied auch zur charismatischen Herrschaft, die sich ohne jede Vermittlung durch Regeln aus der irrationalen Verehrung von Helden speiste, dem spontanen „Anhimmeln“ von „Politstars“ Ausschlaggebend für Webers Typus der legalen Herrschaft war ihr „rationaler Charakter“, der „Glaube an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“.29 Der Glaube an die legale Herrschaft bedeutete Orientierung an durchschnittlich rationalen Zwecken und Werten und setzte einen Kosmos „gesatzter Ordnungen“, also abstrakte Rechtsregeln sowie ein Rechtssystem im Sinne des rechtwissenschaftlichen Positivismus noch voraus. Aber weil es sich auch nur noch um einen Glauben an die Legalität handelte, und nicht mehr, wie etwa noch bei Kant, um die Selbstvergewisserung der moralischen Überlegenheit einer allgemeinen Gesetzgebung, führte schon Webers Herrschaftssoziologie zu dem eher paradoxen Konzept einer an faktischen Durchschnittsgegebenheiten orientierten Rechtsgeltung.

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Waren es im staatsrechtlichen Positivismus und bei Weber noch der Staat und sein Ge- 154 waltmonopol, die für die Geltung des Rechts sorgten, radikalisierte nicht zuletzt Carl Schmitt in der Weimarer Republik den Gedanken einer Gewaltfundierung des Rechts. Schmitt erklärte das Recht zum Erzeugnis letzter, ihrerseits nicht weiter ableitbarer Entscheidungen: Die Rechtsordnung beruhe nicht auf Normen, sondern, wie jede Ordnung, auf einer Entscheidung (Dezision).30 Das bezog sich vor allem auf die Verfassung und die sie gebende Gewalt, die verfassungsgebende Gewalt (pouvoir constituant). Für Schmitt war die verfassungsgebende Gewalt nicht etwa der höchste Entstehungsgrund der Rechtsordnung, sondern Ausdrucksform einer „Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit“,31 einer Souveränität, die zugleich 24 25 26 27 28 29 30 31

Weber (Fn. 23) 124. Weber, ebd., 125. Weber, ebd., 185. Vgl. R. Esposito, Immunitas, 2004, 41, 43. Weber (Fn. 23), 125. Weber (Fn. 23), 124 (Hervorhebung von mir). Vgl. nur C. Schmitt, Politische Theologie (1922), 1985, 16. C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), 2003, 20.

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§ 5. Geltung

innerhalb und außerhalb des Rechts stand32 und die bei Schmitt letztlich auf eine personale (körperliche) Form von Souveränität hinauslief, auf die Herrschaft von Menschen und Personen. Wie Schmitt bereits in der Diktaturschrift von 1921 ausgeführt hatte, war die die Verfassung tragende „Gesamt-Entscheidung“ Manifestation einer prinzipiell unbegrenzten, schlechthin alles vermögenden „Urkraft“, eines Willens, der beliebig wollen konnte und immer denselben rechtlichen Wert hatte; die verfassungsgebende Gewalt war verfassungsbegründende, konstituierende Gewalt, die jenseits aller rechtlichen Selbstbindungen und Formen überhaupt erst die extralegalen Bedingungen aller Legalität schuf.33 Mit dieser Diagnose stand Schmitt um 1920 keineswegs allein. Auch ein politisch ganz anders zu verortender Denker wie Walter Benjamin äußerte im Rahmen einer Kritik des Rechts die Ansicht, dass Recht letztlich durch eine juristisch nicht ableitbare Gewalt garantiert werde, „Rechtsetzung ... Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation von Gewalt“ sei.34 Weil, so Benjamins Argument, etwa im Fall polizeilichen Handelns laufend Rechtsentscheidungen getroffen werden, die ihrerseits nicht vollständig durch das Recht determiniert sind,35 sabotiert jede Rechtsentscheidung das, was vorausgesetzt werden muss: die Differenz von Rechtserhaltung und Rechtsentscheidung als Bedingung von Rechtsgeltung.36 155 Je mehr die Geltung des Rechts an Gewalt gebunden wurde, desto deutlicher stellte sich im Gegenzug die Frage, was denn Recht von bloßer Macht (und Souveränität) unterschied. Wenn das Recht nichts weiter als das Produkt eines prinzipiell unbegrenzten, schlechthin alles vermögenden Willens war, der beliebig wollen konnte und immer denselben rechtlichen Wert hatte (um noch einmal Schmitt zu paraphrasieren), dann fielen Recht und Gewalt am höchsten Punkt der Rechtsquellenhierarchie offensichtlich zusammen, dann war Rechtsgeltung nichts anderes als Ausdruck politischer Entscheidungsmacht. Aber wenn Recht nur Faktum politischer Macht und (staatlich sanktionierter) Gewalt war, wie konnte dann überhaupt noch in gehaltvoller Weise von Recht (und von Rechtstheorie) gesprochen werden? War Rechtsgeltung dann nicht in Wahrheit ein unmöglicher Begriff, eine contradictio in adjecto? Es ist exakt dieser Hintergrund, vor dem einerseits Kelsen den Normbegriff als Absprungbasis für eine normativistische Lösung des Geltungsproblems benutzte (dazu oben Rn. 176ff.). Andererseits ist dieser Hintergrund auch für die noch heute verbreitete Doktrin verantwortlich, derzufolge das geltende Recht ausschließlich in den der Verfassung gemäßen demokratischen Verfahren und Bestimmungen erzeugt werde. Ausgetauscht wird lediglich das Subjekt der Gewalt als letztem Grund aller Rechtsgeltung. An die Stelle des Staates und seiner „vor-rechtlichen“, „souveränen“ Gewalt tritt die demokratisch legitimierte „Gewalt“ des Volkes. Für diese demokratietheoretische Geltungstheorie des Rechts hat Ernst-Wolfgang Böckenförde unter Rückgriff auf das alte – insbesondere in monotheistischen Religionen verbreitete – Bild der Kette 32

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Daran knüpft heute G. Agamben an. Vgl. nur ders., Ausnahmezustand, 2004, 45 („Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustands, und insofern der Souverän ... in seinem Sein über diese Struktur logisch bestimmt ist, kann er auch durch das Oxymoron einer Ekstase-Zugehörigkeit charakterisiert werden.“). Vgl. zu Agamben, E. Geulen, Giorgio Agamben zur Einführung, 2009, 56ff. C. Schmitt, Die Diktatur (1928), 1978, 140, 142; ders. (Fn. 31); zu den Differenzen zwischen Schmitt und Sieyès S. Breuer, Aspekte totaler Vergesellschaftung, 1985, 176ff., 191f. W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze (1921), 1965, 57. Benjamin, ebd., 43 („Diese [die Polizei, T. V.] ist zwar eine Gewalt zu Rechtszwecken (mit Verfügungsrecht), aber mit der gleichzeitigen Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu setzen (mit Verordnungsrecht).“). Vgl. N. Luhmann, Die Rückgabe des 12. Kamels, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), 3ff., 16. Für eine genauere Analyse der Beziehung Schmitt/Benjamin vgl. nur Ch. Menke, Recht und Gewalt, 2011, 59ff.; Agamben (Fn. 32), 64ff.; T. Hitz, Jacques Derridas praktische Philosophie, 2005, 63ff.; N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, 1991, 85ff.; vgl. auch Esposito (Fn. 27), 45f.

96 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie (aurea catena)37 die Bezeichnung „Legitimationskette“ gefunden.38 Aber die auf das Volk zurückführende Legitimationskette ist offenkundig ein ebenso politisches Rechtsgeltungskonzept wie dasjenige Schmitts, das insofern nicht akzeptabel ist, als die Vielfalt der Umwelten der Rechtsordnung, die die Geltung und Bindungskraft von Rechtsnormen beeinflussen und absichern, nicht auf Akte politischer Gesetzgebung reduziert werden kann.

II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie 1. Begriff und historischer Kontext des Naturrechts

Als „Naturrecht“ wird in rechtstheoretischen Zusammenhängen herkömmlicherweise 156 eine Art „höheres“ Recht bezeichnet, das das geltende Recht an bestimmte inhaltliche Prinzipien bindet, vor allem an Gerechtigkeit und Gleichheit. Naturrechtstheorien ziehen eine zweite Ebene in das Rechtssystem ein. Sie kreieren ein paradoxes MetaRecht, ein „Recht des Rechts“, das kraft seiner überlegenen immanenten Qualitäten überhaupt erst über die Gültigkeit des (geltenden) Rechts befindet. So ist das Naturrecht insbesondere im Zuge seiner Wiederentdeckung nach den Verbrechen des Dritten Reiches gesehen worden. Wird das Eigentum von Juden durch gesetzliche Anordnung als an den Staat verfallend deklariert, so mag das – während der NS-Zeit – geltendes Recht gewesen sein; ein solches Gesetz und seine praktische Umsetzung können aber niemals im Einklang mit der Gerechtigkeit und/oder dem Naturrecht stehen. Insbesondere Gustav Radbruch hat 1945 in Abkehr von seinem ursprünglich staatszentrierten Rechtsverständnis in einem knappen, einflussreichen Text – Fünf Minuten Rechtsphilosophie – die These entwickelt, dass es Gesetze mit einem solchen Maße von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben könne, „dass ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß“.39 Eine naturrechtliche Geltungsbegründung des Rechts steht heute – wie schon 1945 – vor 157 der Schwierigkeit, auf eine „Natur“ referieren zu müssen, deren Entstehungskontext und Horizont im Übergang zur modernen (liberalen) Gesellschaft untergegangen ist. Nur im Kontext der stationären Adelsgesellschaft des Alten Europa war es möglich und konsistent, die Grundlagen der Rechtsgeltung in der Natur zu lokalisieren: Naturrecht setzt die Vorstellung der Natur als sinnvolles, verpflichtendes und als solches für die Gesellschaft nicht verfügbares Ordnungsgefüge voraus. Davon unterscheidet sich die moderne Naturauffassung grundlegend. Theoretisch wird die Natur schon in der Naturphilosophie zum Produkt eines theoretischen Entwurfs (vgl. Rn. 73ff.), und praktisch wird die Natur seit dem take-off der Industrialisierung in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur „Umwelt“, in die Wissenschaft und Technik seitdem immer tiefer intervenieren, man denke nur an Gentechnologie, Stammzellenforschung oder Schönheitschirurgie. Niemand käme heute mehr auf die Idee, bei Natur an Perfektion zu denken, an einen Naturbegriff, in der der Stoff (gr. hyle) – wie bei Aristoteles – in einer teleologischen Bewegung nach seinem Zielbild (gr. eidos) strebt, um seinen vorgegebenen Zweck zu erfüllen.40 37 38 39

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Vgl. nur M. Idel, Ascensions on High in Jewish Mysticism: Pillars, Lines, Ladders, 2005, 188. E.-W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 1991, 289ff., 302. Vgl. nur G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 210. Zum Geltungsbegriff 78ff., 167 („Der Befehlston des Rechtes kennt keine Gnade.“); dazu etwa R. Dreier, Recht, Moral, Ideologie, 1981, 180ff., 186ff.; A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, 1997, 41ff. Vgl. J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, 106ff., 133ff.

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§ 5. Geltung

158 Schon auf Grund der Vielzahl an Autoren und Bewegungen – Sophisten, Stoiker, Cicero, Thomas v. Aquin usw. – ist es nur schwer möglich, über die Geschichte des europäischen Naturrechts seit der Antike verallgemeinerbare Aussagen zu machen.41 Man kann aber sicherlich die These wagen, dass die Vorstellung eines Naturrechts erst entstehen kann, wenn ein von der Perfektion der Natur abweichendes, artifizielles, „positives“ Recht an Kontur gewinnt und die Normativität des Rechts von einer performativen Schriftlichkeit abhängig wird, die das Recht in präskriptiver, verbindlicher Weise publiziert. Das ist – im Kontext einer Theologisierung des Rechts – wohl erstmals in Alt-Israel und – in einem stärker politischen Kontext – im antiken Griechenland der Fall.42 In den griechischen Stadtstaaten kommt es um 600 v. Chr. zu einer starken Verschriftlichung des Rechts, zu Gesetzesinschriften unterschiedlichster Art, und zu einem vergleichenden Rechtsdenken, das die Dinge, die von Natur sind, von denen zu unterscheiden lernt, die auf (künstlicher) Vereinbarung oder (bloßer) Gewohnheit beruhen. Dabei wird das Naturrecht (gr. physei dikaion) teilweise kritisch gegen das (demokratische) Stadtrecht in Anschlag gebracht. Das ändert aber nichts an der Vorstellung einer hierarchischen Abschichtung von physis und nomos, derzufolge Abweichungen von der Tradition nur im Rahmen einer insgesamt als unverfügbar und invariant geltenden Natur vorstellbar sind. Die Natur wächst hier gewissermaßen als ewig geltendes Recht in das von Menschen gemachte Recht hinein. Nur das römische Zivilrecht bildet davon in gewisser Weise eine Ausnahme, als es in (spät-)republikanischer Zeit ein besonderes Recht hervorbringt, das früh Gegenstand eines juristischen Expertenwissens wird und bis in das 19. Jahrhundert hinein Gegenstand von Rezeptionen ist, an denen sich das europäische Juristenrecht immer wieder schult (dazu unten Rn. 261ff., 288ff.). 159 Das frühe griechische Recht der entstehenden Stadtstaaten war ein im Sinne der neueren pragmatischen Sprachphilosophie (vgl. Rn. 54ff.) handlungsbezogenes, performatives Recht. Es bildete seit früher Zeit ein relativ striktes Verfahrensrecht aus,43 artikulierte sich im rechten Spruch weiser Männer (oder eines Richterkönigs – basileus) und war von dem Grundgedanken getragen, dass es seit alters her galt und daher auch in Zukunft weiter gelten würde.44 Recht nahm um 700 v. Chr. bei Homer die Form von epischen Exempeln an, die in Heldengeschichten verwoben wurden; noch bei Hesiod hat das Recht den Charakter eines impliziten – von Musen eingehauchten – Wissens um das Rechte (und Gute), nicht aber einen explizit regelhaften Charakter. Erst bei den Vorsokratikern kam es z. B. im homo-mensura-Satz (der Mensch ist das Maß aller Dinge) zu einer Explikation von Rechtsvorstellungen, aber auch nach der Ausbildung der Unterscheidung von physis und nomos bei den Sophisten, etwa bei Antiphon,45 in der das Naturrecht kritisch gegen das positive Recht als Recht des Stärkeren gewendet wurde, blieb die Geltung der Gesetze (nomoi) von einer einheitlichen Vergangenheit und Überlieferung abhängig. Auch das römische Zivilrecht sattelte auf tradierte (ewig gültige) Konventionen des Adels auf; als fides bildeten sie im spätrepublikanischen Recht den Kontext, in dem sich das auf die „guten Sitten“ (bona fides) gegründete Zivilrecht aus der Ursuppe von moralischen, religiösen und rechtlichen Normen herauslöste, ohne den Bezug zu diesen Kontexten jedoch je zu verlieren.46 Noch im Mit41

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Bei Luther heißt es dazu: De iure naturae multa fabulamur. Für einen Überblick vgl. etwa E.W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2002; vgl. auch – in sozialhistorischer Absicht – S. Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts, 1983. Vgl. dazu J. Assmann, Exodus, 2015, 249ff.; ders., Herrschaft und Heil, 2002, 178ff.; zur Performanz des Rechts vgl. auch allg. S. Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012. M. Gagarin, Writing Greek Law, 2008, 13ff., 39ff. E. A. Havelock, Preface to Plato, 1963, 105 („speaking the things that are and those to be and those that were before“); K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 74ff. M. Gagarin, Antiphon the Athenian, 2002, 62ff., 64, 184. Vgl. M.-Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, 167ff., 199ff.; A. Schiavone, The Invention of Law in the West, 2012; skeptischer im Hinblick auf die Autonomie des römischen Rechts T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. 2: Schrift, 2011, 137ff., 158ff.

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II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie telalter stand das positive Recht (lex positiva) im Schatten der Legeshierarchie, die das Naturrecht und das göttliche Recht (lex naturalis, lex divina) oberhalb des praktizierten Rechts ansiedelte.47 Die Natur blieb auch hier den Prinzipien der Invarianz und Unverfügbarkeit verpflichtet, bei Thomas v. Aquin etwa repräsentiert durch die Anbindung des Rechtsbegriffs an einen wesenhaft gerechten Gott.

2. Gerechtigkeitsphilosophie

Gerechtigkeit wird in den Digesten als der unwandelbare und dauerhafte Wille defi- 160 niert, jedem sein Recht zu gewähren.48 Diese Definition hat eindeutig griechische Wurzeln und entspricht etwa der stoischen – Chrysipp zugeschriebenen – Vorstellung, jedem das zu geben, was ihm gebührt. Gerechtigkeit meint proportionale Gleichheit, eine harmonische Verbindung der Teile, im Unterschied zur arithmetischen (abstrakten) Gleichheit. Sie ist ganz auf die gerechte Verteilung der Dinge zugeschnitten, auf die gebührende „Verteilung“ oder „Austeilung“ von (ehrenvollen) Ämtern, Geld oder anderen Gütern unter der Führungsschicht (Adeligen) eines Stadtstaates (polis). Sie setzt voraus, dass die Dinge ihrem Wesen nach verschieden sind und es natürliche Differenzen gibt, wie z. B. die Differenz zwischen Bürger und Sklaven, Griechen und Barbaren oder Männern und Frauen. Für Aristoteles ist die verteilende Gerechtigkeit (gr. to dianemetikon dikaion, lat. iustitia distributiva) daher ganz selbstverständlich der Tauschgerechtigkeit (gr. to en tois synallagmasi dikaion, lat. iustitia commutativa) vorgeordnet.49 Noch Irnerius, der Begründer der Glossatorenschule im Bologna des 12. Jahrhunderts, interpretierte die in römischen Rechtstexten, in den Digesten, tradierte Definition der (verteilenden) Gerechtigkeit auf exakt diese Voraussetzungen hin: Die Natur teile die Aufgaben und die Plätze in der Gesellschaft zu, und Gerechtigkeit sei daran zu messen, dass sie dies beachte.50 Meistens wird im Anschluss an den mittelalterlichen Begriff der iustitia distributiva von „austeilender Gerechtigkeit“ gesprochen. Diese Übersetzung ist freilich ungenau, zumal Aristoteles in der entscheidenden Passage der Nikomachischen Ethik nicht das von Platon in die Philosophie eingeführte Substantiv Gerechtigkeit (gr. dikaiosyne) benutzt, sondern in Form des versubstantivierten Adjektivs to dikaion vom „Rechten“ spricht.51 Das ist möglicherweise ein weiterer Hinweis darauf, dass sich – im Unterschied zu der eingangs zitierten Definition aus den Digesten – Recht nicht auf das Substantiv Gerechtigkeit zurückführen lässt, vielmehr die Entwicklung historisch und systematisch genau umgekehrt verlief. Der substantivische Gebrauch von Recht als das Gerechte und dessen Überführung in das Kunstwort Gerechtigkeit (dikaiosyne) ist das Resultat einer evolutionären (historischen) Unwahrscheinlichkeit, die eng mit der Ingebrauchnahme der Alphabetschrift in Athen zusammenhängt,52 während Recht in oralen Kulturen – und in Griechenland noch zu Zeiten Homers – ausschließlich an Performanzen geknüpft ist. In der ethnologischen 47 48 49

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Th. v. Aquin, Summa Theologiae, II, I qu. 91ff.; vgl. Bockenförde (Fn. 38), 225ff. Digesten 1. 1. 10. (Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens). Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b, 30ff. Dabei knüpft Aristoteles möglicherweise direkt an Vorstellungen Platons an. Jedenfalls grenzt Platon die Gerechtigkeit in Nomoi, 757, als wahrhafte Gleichheit, deren nähere Struktur nur die Götter kennen, ausdrücklich von einer bloß (arithmetischen) Gleichheit nach Maß, Gewicht und Zahl ab. Vgl. G. Post, Studies in Medieval Legal Thought, 1964, 494ff., 540; vgl. auch Luhmann (Fn. 11), 518; zum mittelalterlichen Recht vgl. auch G. Dilcher, Normen zwischen Oralität und Schriftlichkeit, 2008, insb. 123ff. Das altgriechische Wort dianemetikon, das Aristoteles zur Kennzeichnung dieser Art von „Gerechtigkeit“ benutzt, ist von dianemein abgeleitet, was sich wohl am besten mit „verteilen“ übersetzen lässt. Dianemetikos meint also verteilungsbezogen. Die „austeilende Gerechtigkeit“ wäre deshalb vielleicht angemessener als „das Rechte verteilend“ zu übersetzen. E. A. Havelock, The Greek Concept of Justice, 1978, insb. 308ff.

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§ 5. Geltung Forschung ist verschiedentlich gezeigt worden, dass Vorstellungen von Recht oft mit dem Finden des geraden oder richtigen Wegs durch den dichten Wald verknüpft sind. Ähnlich existiert auch im frühen griechischen Recht zunächst nur die adjektivische Verwendung von Recht als rechtens, gerade, richtig, fair usw.

162 Mit ihrer Bezugnahme auf eine von Natur vorgegebene Ordnung von Differenzen steht die verteilende Gerechtigkeit im Gegensatz zur Tauschgerechtigkeit, die bei Aristoteles – wie schon bei Platon – eine arithmetische Gleichheit nach Maß, Gewicht und Zahl meint.53 Für Aristoteles beherrscht die Tauschgerechtigkeit einerseits vertragliche („freiwillige“) Beziehungen wie Kauf, Darlehen, Bürgschaft, Nießbrauch, Hinterlegung oder Miete, andererseits benutzt Aristoteles diesen Begriff auch für straf- und schuldrechtliche („unfreiwillige“) Beziehungen wie Diebstahl, Ehebruch, Giftmischerei, Kuppelei etc. Als arithmetische Gerechtigkeit, als Gleichheit, ist die Tauschgerechtigkeit beispielsweise durch Geld vermittelbar, so wie schon bei Homer – im berühmten Schild des Achilles – der Totschlag durch Geldzahlung gesühnt werden konnte.54 Erst allmählich wird die aristotelische Hierarchie dann umgestülpt. Vermittelt über Stoizismus, Christentum, Protestantismus und Aufklärung kommt es im westlichen Kulturkreis allmählich – und nur hier – zu einer Umkehrung der Gewichtung und schließlich zu einem Vorrang der arithmetischen Gleichheit, der Tauschgerechtigkeit vor der verteilenden Gerechtigkeit.55 Aus dem (aristotelischen) Grundsatz, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, wird zunächst – etwa bei Kant – eine universale formale Gleichheit und schließlich wird daraus – im 19. und 20. Jahrhundert, im Zuge des Aufstiegs der industriellen Massengesellschaft – die Forderung nach einer materialen Gleichheit zwischen den Menschen, die gerechte Verteilung der Güter und des materiellen Reichtums in einer Gesellschaft. 3. Moralphilosophie

163 Obwohl die moderne (liberale) Gesellschaft der Tradition des alteuropäischen Naturrechts und der mit ihr korrespondierenden Gerechtigkeitsphilosophie sämtliche gesellschaftsstrukturellen Grundlagen entzogen hat, übt die Unterscheidung von Naturrecht und positivem Recht noch immer eine große Anziehungskraft insbesondere auf die Rechtsphilosophie aus. Noch immer wirkt sie dort als Auslöser, Rechtsgeltung in der Ethik bzw. in einem moralphilosophischen Gerechtigkeitsdiskurs zu suchen und zu fragen, ob das geltende Recht einer normativen Begründung bedarf bzw. ob Gerechtigkeit (im Sinne von arithmetischer Gleichheit) eine unabdingbare Komponente positiver Rechtsgeltung sei. John Rawls hat dafür einen Gültigkeits- oder Legitimitätstest entworfen, den „Schleier des Nichtwissens“ (veil of ignorance),56 der das Treffen von grundlegenden Gerechtigkeitsentscheidungen auf einen hypothetischen Urzustand der Gleichheit rückbezieht und Gerechtigkeit als Verfahrensgerechtigkeit ausgestaltet. Ronald Dworkin konstruiert die Bindung des Geltungsbegriffs an substantielle (Gerechtigkeits-)Vorgaben über eine zielorientierte Theorie der individuellen Freiheitsrechte, in der diese als (konkrete) politische Ziele behandelt werden.57 Die wohl 53 54

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Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130b, 30ff. Vgl. dazu E. Cantarella, Dispute settlement in Homer once again on the shield of Achilles, 2002, 147ff.; Gagarin (Fn. 43), 13ff. H. Krämer, Integrative Ethik, 1992, 60, 63. J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, 159ff.; vgl. dazu einführend R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft, 1991, 8ff., 29. R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1984, 93.

100 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Naturrecht, Gerechtigkeits- und Moralphilosophie

prominenteste Theorie, die am Erfordernis einer egalitären (Be-)Gründung des Rechts festhält, ist aber wohl die Diskurstheorie des Rechts, wie sie von Jürgen Habermas entwickelt worden ist und von anderen, wie Klaus Günther und Rainer Forst als Theorie der Angemessenheit oder als Theorie der Rechtfertigung im Sinne einer Mobilisierung von Rechtsgründen weitergeführt wird (vgl. Rn. 28ff.). Den Ausgangspunkt der Diskurstheorie des Rechts bildet die schon von Max Weber 164 aufgeworfene Frage nach der Legitimität „legaler Herrschaft“. Diese wird bei Habermas zur Frage nach den (stillschweigenden) Voraussetzungen, „von denen die Mitglieder einer modernen Rechtsgemeinschaft ausgehen müssen, wenn sie ihre Rechtsordnung, ohne sich dabei auf Gründe religiöser oder metaphysischer Art stützen zu dürfen, sollen für legitim halten können“.58 Rechtsordnung und politische Ordnung sind in der Diskurstheorie des Rechts eng miteinander verknüpft. Die nach Habermas u. a. unausweichliche Frage nach der Legitimität des Rechts wird entschieden in Richtung einer „normative(n) Begründung der rechtsförmigen Ausübung politischer Herrschaft“ ausformuliert.59 Die gesamte Theorieanlage bleibt daher – wenn auch spiegelverkehrt – auf die oben beschriebene staatszentrierte Tradition der Rechtsquellenhierarchie fixiert: Das Zentrum der Diskurstheorie des Rechts ist das politische Projekt einer „Zivilgesellschaft“, die je nach Abstraktionsebene entweder auf eine „Republik von Weltbürgern“ oder auf das „politische Gemeinwesen“ projiziert wird.60 Es geht in der Diskurstheorie also streng genommen nicht um eine Analyse der möglicherweise ganz unterschiedlichen Entstehungsgründe von Rechtsgeltung, der Analyse der Diskurse und Dinge, die zum absolut bindenden Charakter von Recht beitragen, sondern um eine Generalisierung der politischen Gesetzgebung zur universalen Rechtsquelle, die auf eine Theorie der Rechts- und Staatserzeugung durch die „Selbstgesetzgebung von Bürgern“,61 auf Rechtskreation durch öffentliche Deliberation hinausläuft. Peter Niesen und Oliver Eberl bringen diese Intention in einem neueren Artikel zum „demokratischen Positivismus“ auf die Formel einer „demokratischen Programmierung staatlicher Instanzen“.62 Um eine demokratische Programmierung des Rechts staatlicher Instanzen leisten zu 165 können, weist Habermas den unmittelbaren Rückgriff auf das Naturrecht und ältere (mittelalterliche) Vorstellungen der Legeshierarchie zurück. Dem positiven Recht bleibt zwar über die Legitimitätskomponente der Rechtsgeltung ein Bezug zur Moral eingeschrieben,63 damit soll die Unterscheidung von Recht und Moral aber nicht einfach aufgehoben werden. Im Unterschied zu Autoren wie Ralf Dreier und Robert Alexy, denen zufolge das Grundgesetz die Hauptformeln des Vernunftrechts u. a. in Art. 1 bis 20 GG inkorporiert hat,64 geht Habermas davon aus, dass sich unter modernen Bedingungen rechtliche und moralische Regeln gleichzeitig ausdifferenzieren und 58

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J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1996, 166; vgl. auch M. Neves, Zwischen Themis und Leviathan, 2000, 88ff. Habermas (Fn. 58), 12. Habermas, ebd., 139; dazu kritisch K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 59f., 125f. u. ö. Habermas (Fn. 58), 153. P. Niesen/O. Eberl, Demokratischer Positivismus: Habermas und Maus, 2009, 3ff., 4 (diese Idee dürfte ihrerseits stark von Ingeborg Maus beeinflusst sein). Habermas (Fn. 58), 137. Dreier (Fn. 39), 124; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, 16, 405.

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§ 5. Geltung

als unterschiedliche Arten von Handlungsnormen nebeneinander treten – eine Relation von positivem Recht und autonomer Vernunftmoral, die Habermas auch als „Ergänzungsverhältnis“ bezeichnet.65 Die genauere Natur dieses Ergänzungsverhältnisses bleibt aber eher unbestimmt. Habermas tendiert jedenfalls dazu, die „postkonventionellen“ Anforderungen der Vernunftmoral über das Recht zu stellen und das Feld der Rechtsgeltung damit zugunsten der Geltung universaler moralischer Normen eingrenzen bzw. Rechtstheorie auf eine bestimmte Form universaler Moralphilosophie festlegen zu wollen. Das ist jenseits der Frage nach der inneren Bewegkraft der Rechtsverbindlichkeit auch insofern eine nicht unproblematische Lösung der Rechtsgeltungsthematik als – von Kant aus gesehen – der Vernunftwille hier die Gestalt eines „Verständigungswillens“ annimmt; eines Verständigungswillens, der sich als „Geltungsanspruch“ solange in das „faktische Kommunikationsgeschehen“ einfügt, solange das Diskursverfahren „nicht abgebrochen“ wird und solange „keine Kommunikationsverweigerer“ auftreten.66 166 Den Hintergrund für die Vorstellung von notwendigen Bedingungen einer moralgesteuerten Verständigung über Rechtsgeltung bildet eine Diskursethik, die zunächst auf der Ebene von Handlungsnormen (Verhaltenserwartungen) als Verfahrensregel formuliert wird. Danach ist eben auch die Geltung von Rechtsnormen von einem Konsens aller Vernünftigen bzw. aller Diskursteilnehmer abhängig. Es sind nur solche Handlungsnormen gültig, „denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen können“.67 Daran schließt Habermas weitere Konkretisierungsstufen für das Rechtssystem und insbesondere für die Grundrechte an, die im Ergebnis Rechtsgeltung – wie schon bei Rawls und Dworkin – an das größtmögliche Maß gleicher subjektiver Handlungsfreiheiten binden.68 Im Prinzip reaktualisiert Habermas damit den alten römisch-rechtlichen Grundsatz, dass das, was alle angeht, von allen gebilligt werden muss (quod omnis tangit, omnibus tractari et approbari debet).69 Habermas liest dies offensichtlich als Hinweis auf die Möglichkeit einer „demokratischen Behandlung“ sämtlicher praktischer Fragen und leitet daraus ab, dass das Demokratieprinzip nicht nur ein Verfahren legitimer Rechtsetzung (unter anderen) festlege, sondern die Erzeugung des Rechts in seiner Gesamtheit selbst steuern müsse. „Deshalb muß mit dem System der Rechte zugleich die Sprache geschaffen werden, in der sich eine Gemeinschaft als eine freiwillige Assoziation freier und gleicher Rechtsgenossen verstehen kann.“70 167 Die Diskursethik baut ihrerseits auf eine universalpragmatische Kommunikationstheorie auf. In deren Zentrum stehen die Ideen einer „idealen Sprechsituation“ und einer „idealen Kommunikationsgemeinschaft“. Im Unterschied etwa zum naturalistischen Sprachkonzept Wittgensteins geht Habermas davon 65 66 67 68 69

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Habermas (Fn. 58), 5, 137. Zu dieser Kritik vgl. B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, 2006, 152, 153. Habermas (Fn. 58), 138. Habermas, ebd., 155ff. Diese Regel findet sich u. a. im Liber Sextus von Papst Gregor IX. Sie bezog sich anfänglich auf den Fall, dass eine Mehrheit von Vormündern (tutores), die eine gemeinschaftliche Vormundschaft (tutela) innehatten, nicht ohne Zustimmung aller aufgehoben werden konnte. Aber schon im 12. und 13. Jahrhundert wurde dieser Grundsatz als Argument für das Repräsentationsprinzip in Körperschaften verwendet und zur Begründung einer juristischen Theorie der Begrenzungen der Befugnisse der Bischöfe und Fürsten im Verhältnis zu Mitgliedern ihrer Körperschaften, insbesondere zur Beschränkung ihrer Handlungsvollmacht bei Geschäften oder Rechtsstreitigkeiten, herangezogen. Habermas (Fn. 58), 142f.

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III. Dynamisierung aus, dass Sprache ein immanentes Rationalitätspotential innewohnt, ja dass der Sprachgebrauch Rationalität und Vernunft selbst hervorbringt. In das Sprechen-Können ist ein universelles Können, eine „Gattungskompetenz“, eingelassen, von der man zu Recht bemerkt hat, dass sie eine latent juridische Struktur insofern aufweise, als Sprechen-Können bei Habermas eng mit der Möglichkeit des Recht-Haben-Könnens verknüpft sei.71

III. Dynamisierung 1. Positives Recht

Das, was die Rechtstheorie heute unter dem Stichwort der Rechtsgeltung behandelt, 168 wird seit dem 19. Jahrhundert und teilweise noch heute als „positives“ Recht bezeichnet. Dieser Sprachgebrauch wird in Deutschland mit den rechtspositivistischen Systementwürfen üblich (vgl. Rn. 93),72 und der Begriff positives Recht hatte hier vor allem die – eng mit der Rechtsquellenlehre verknüpfte – Funktion, das geltende (positive) Recht von dem abzugrenzen, was nicht Recht ist, das geltende (positive) Recht also insbesondere aus seinen Verknüpfungen mit sittlichen, religiösen oder sonstigen verbindlichen Normen und Handlungsmustern herauszulösen.73 Das „positiv“ im Begriff des positiven Rechts geht etymologisch auf das mittelalterlich-lateinische positivus, positum und ponere (ponere, setzen, stellen, legen) zurück, das wiederum – jedenfalls in der rechtshistorischen Literatur – von gr. legei dikaion abgeleitet wird.74 Während die griechische Wurzel zweifelhaft sein dürfte (der Sinn von positivus dürfte eher im Umfeld der physis/nomos-Unterscheidung zu finden sein), ist die Bedeutung von positivus als gesetzt, erlassen, erfunden im Spätmittelalter (um 1200) auch in Verbindung mit Recht (ius) und Gesetz (lex) nachweisbar.75 Jus positum lässt sich daher – mit dem Rechtshistoriker Franz Wieacker – als „gesetztes Recht“, ius positivum als „die auf ‚Setzung‘ beruhende Rechtsordnung“ übersetzen.76 „Setzung“ meint im Zusammenhang mit dem Begriff des positiven Rechts die Vorstel- 169 lung, dass man Recht machen, d. h. künstlich entweder durch längere und allgemeine Übung (consuetudo) herstellen oder durch ein zur Rechtsetzung befugtes Organ innerhalb einer Gemeinschaft, eines Gemeinwesens, absichtsvoll schaffen kann. Vor allem die letzte Möglichkeit, die Vorstellung der absichtsvollen Rechtsetzung innerhalb einer Gemeinschaft (eines Dorfes, Marktfleckens, Stadtstaats, Fürstentums, Königreichs etc.) verweist zwar unmittelbar auf das Feld der Politik und des Staates, aber – und das wird häufig übersehen – dieser Verweis muss im Kontext und Horizont der Adelsgesellschaft des Alten Europa gelesen werden: Der Setzungsbegriff ist genetisch an die naturrechtliche Rechtsauffassung der alten Zivilgesellschaft (societas civilis) gekoppelt, 71 72

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S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 2001, 91. Der Begriff selbst wird allerdings schon bei G. Hugo, Lehrbuch des Naturrechts als einer Philosophie des positiven Rechts, 1798, verwendet. In England beschreibt sich das geltende Recht seit Jeremy Bentham (1748–1832) als positiv. Vgl. nur G. F. Puchta, Lehrbuch der Pandekten, 1863, 33 („Die rechtliche Beurtheilung der Verhältnisse ist selbstständig gegenüber den sittlichen und religiösen.“); vgl. dazu H.-P. Haferkamp, Methode und Rechtslehre bei Georg Friedrich Puchta, 2012, Rn. 213ff., 256; D. Wielsch, Freiheit und Funktion, 2001, 114ff. Wieacker (Fn. 13), 1996, 431 Fn. 5 m.w.N. Eintrag Positiv, Positivität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, 1110. Wieacker (Fn. 13), 431 Fn. 5.

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§ 5. Geltung

die die „Natur“ stets als das Nicht-Gesetzte, Nicht-Änderbare und Nicht-Kontingente vorausgesetzt hatte. Positives Recht bestimmt sich also zunächst allein durch den Gegensatz von „Recht“ und „Natur“ in dem Sinn, dass das positive Recht dem entgegengesetzt ist, was von Natur aus besteht, was die Natur gemacht hat, was überall gleich ist und was der Mensch nicht verändern kann, wie etwa die schon von Aristoteles beobachtete Tatsache oder Erfahrung, dass Feuer in Persien genauso brennt wie in Athen. Und erneut ist die Unterscheidung als Hierarchie gebaut: Die Natur als das Unveränderliche und Vorbildhafte ist die limitierende Voraussetzung, von der alle Rechtsgeltung, alle „Positivität“ des Rechts, zehrt. 170 Der frühen griechischen „Gesetzgebung“ während der archaischen Zeit kann man nicht den Charakter

einer Kodifikation positiven Rechts unterlegen. „Gesetzgebung“ war hier zunächst Aufzeichnung, Einkerbung oder Einschreibung oral tradierter Formeln und Sprüche in Stein.77 Erst mit dem Aufflackern des Experiments der Demokratie kommt ein Moment der Setzung in die Festigkeit und Unveränderlichkeit der oralen Rechtstradition hinein; und erst die Sophisten bringen die klare Differenz von gesetztem Recht/Gesetz (nomos) und Natur (physis) als zweier entgegengesetzter Weisen von Regelhaftigkeit hervor. Auch die sophistische physis/nomos-Unterscheidung lässt sich aber nicht als Ausdifferenzierung einer eigenständigen Sphäre der Rechtsgeltung interpretieren. So wird die Unterscheidung von physis und nomos in einem Antiphon-Fragment beispielsweise dahingehend benutzt, die Anforderungen der Gesetze (nomoi) als ergänzend, die Anforderungen der Natur (physis) als notwendig zu beschreiben. Dominant bleibt also der Bezug auf die Natur: Die Regeln der Natur werden mit Wahrheit (gr. alétheia, Unverborgenheit, Nicht-Verdeckt-Sein) assoziiert, während die Gesetze der Stadtstaaten auf die Mehrheit der Meinungen (doxa) bezogen sind, gegen die man jederzeit verstoßen kann, solange man nicht entdeckt wird.78

Rechtsgeltung blieb in Griechenland über seine Frühzeit hinaus eng mit den Normbeständen anderer sozialer Handlungskontexte (Riten, Sitten, Brauch, Konventionen) verknüpft. Noch im Athen der klassischen Zeit existierte kein einheitlicher (objektiver) Rechtsbegriff wie das römische ius, und noch hier sprach die griechische Rechtskultur dem althergebrachten ungeschriebenen Recht (agraphoi nomoi) eine höhere Geltungskraft zu als dem geschriebenen („positiven“) Stadtrecht (gegrammenoi nomoi).79 Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die griechische Philosophie, obwohl Erfinder des „Denkens zweiter Ordnung“,80 nie eine eigenständige Reflexionspraxis des Rechts, nie eine eigenständige Form der juristischen Expertise, wie später die Römer, ausgebildet hat. Auch Platon entwarf keine Theorie „positiver“ Rechtsgeltung, sondern eine allgemeine Theorie der Gerechtigkeit (dikaiosyne), die nicht auf einen bestimmten Handlungsbereich beschränkt war, sondern eine – von verschiedenen – Tugenden in der polis beschrieb und daher unauflöslich mit der Vorstellung einer gerechten politischen Seinsordnung verknüpft war. Bei Aristoteles war das Rechte (gr. tò dikaion, von dikaion, gerecht, rechtens) Teil der Ethik und diese Ausdruck einer allgemeinen Theorie menschlichen Handelns, die die Natur als sinnvoll geordnetes und verpflichtendes Ordnungsgefüge voraussetzte, aber keine Geltungstheorie des „positiven Rechts“.

171 Das Mittelalter verwendete positivus ebenfalls im Unterschied zu natürlich. Das Spätlateinische (2.–6. Jahrhundert n. Chr.) kannte das Wort u. a. als dasjenige, was nicht von Natur aus besteht, sondern durch Setzung oder Kunst erzeugt wird (non natura, sed positione, arte constitutum). In rechtlichen Zusammenhängen wurden im 12. Jahrhundert positive und natürliche Gerechtigkeit – iustitia positivus und iustitia naturalis – 77

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Die Griechen benannten die Gesetze oft nach dem Medium, in dem sie realisiert wurden, z. B. to graphos (das Geschriebene) oder einfach grammata (die Buchstaben). Vgl. zu dieser Entwicklung Robb (Fn. 44), 85ff., 99ff., 103; K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland, 1999, 60ff., 262ff.; vgl. auch R. Thomas, Writing, Law, and Written Law, 2005, 41ff., 48. Zu dem Fragment vgl. Gagarin (Fn. 45), 184. Im Historischen Wörterbuch der Philosophie wird daraus, dass „die Gebote der Gesetze willkürlich, die der Natur dagegen notwendig sind“. Vgl. dazu Robb (Fn. 44), 147f. Y. Elkana, Die Entstehung des Denkens zweiter Ordnung im antiken Griechenland, 1987, 52ff.

104 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Dynamisierung

unterschieden; Elternliebe galt als natürliche, das Hängen von Räubern als erfundene (positive) Gerechtigkeit.81 Erneut scheint hier der Begriff der Natur als etwas Festes, Unwandelbares und Vorbildhaftes durch: Die Geltung des Rechts ist weiterhin in einer nicht-empirischen Seinsordnung verankert, deren Gesetze das menschliche Handeln nur verfehlen, gegen die es aber nicht dauerhaft verstoßen kann. Das Recht ruht noch im Mittelalter auf einer festen ontologischen Verankerung; der Naturbegriff wird jetzt allenfalls stärker als in der Antike mit der Existenz eines wesenhaft gerechten Gottes verbunden, so dass göttliches und natürliches Recht weitgehend zusammenfallen. Diese Prädominanz des Naturbegriffs war auch im 16. Jahrhundert noch präsent. In der frühen Neuzeit wurde die autoritative Verkündung des Rechts (ius) als Gesetz (lex) zwar zum Merkmal des geltenden Rechts, aber die Geltungsgrundlage und Grenze des Gesetzes blieb auch hier das Naturrecht im Sinne der Auffassung der societas civilis des Alten Europas.82 Die Verknüpfung von Gesetzesbegriff und Voluntarismus stand vor allem bei Jean Bodin in engem Zusammenhang mit der Herausbildung des neuzeitlichen Souveränitätsbegriffs und des modernen Territorialstaates. Darauf reagierte Bodin in seinen Sechs Büchern über den Staat (ab 1576) mit der Unterscheidung von Recht (ius) und Gesetz (lex) und der Bindung des Gesetzesbegriffs an einen „commandement du souverain“, der wiederum auf eine „pure e franche volonté“ zurückgeführt wurde,83 eine Umpolung der Rechtsgeltung von Natur auf Willen (absichtsvolle Setzung), die an den theologischen Voluntarismus des Spätmittelalters (Wilhelm v. Ockham) anknüpfte.84 Bodin ging es darum, den Gesetzesbegriff aus dem Kontext eines als unveränderlich geltenden Naturrechts zu lösen, das Gesetz für den Fürsten fungibel zu machen und es dadurch insgesamt zu dynamisieren; deshalb wurden die Gesetze jetzt über das Gewohnheitsrecht (coutume) gestellt. Damit sollte das Gesetz im Willen des Königs, aber nicht jenseits des Willens Gottes, der Natur und der Konventionen der Adelsgesellschaft fundiert werden; es sollte im fürstlichen Gesetzesrecht also keinesfalls beliebig oder gar willkürlich zugehen. „Somit erstreckt sich also die absolute Gewalt der Fürsten und souveränen Herrschaften in keiner Weise auf die Gesetze Gottes und der Natur und der beste Kenner der absoluten Gewalt [Papst Innozenz IV, T. V.]... hat gesagt, sie erlaube nur, vom gewöhnlichen Recht, nicht aber von den Gesetzen Gottes und dem Naturrecht abzuweichen.“85 In Bodins Neuformulierung des Konzepts der Souveränität stand mit anderen Worten die Kopplung des Gesetzes an die Funktionsbedingungen der königlichen Monarchie im Vordergrund, die Bewahrung von Rechtssicherheit und die Sicherung von Vertrauen (fiance) in die gleichbleibende Gültigkeit der bestehenden Gesetze, und nicht so sehr die Möglichkeit der Schaffung neuer Regeln durch die Gesetzgebung.86

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Dieser historische Kontext darf nicht ausgeblendet werden, wenn man den Begriff des 173 positiven Rechts richtig verstehen will. Gerade weil der Begriff des positiven Rechts seine Bestimmung und Bestimmtheit im Spiegel des Naturrechts erfährt, also auf einen Bruch mit der traditionellen (ontologischen) Geltungsbegründung des Rechts verweist, geht es hier nicht um eine Umpolung der Rechtsgeltung auf Willkür oder Beliebigkeit. Die Vorstellung, dass alles geltende Recht positives Recht ist, ist ein Erbe der neuzeitlichen praktischen Philosophie, der philosophia socialis, und diese ist durch das Systemdenken eines rationalen Subjekts bestimmt, wie es die Naturphilosophie hervorgebracht hat (vgl. Rn. 73ff., 83ff.). Schon in der frühliberalen Tradition ist 81 82

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Eintrag Positiv, Positivität (Fn. 75), 1110. Luhmann (Fn. 11), 511f. m.w.N.; vgl. dazu aber auch P. Kondylis, Konservatismus, 1986, 72f., der den Bruch stärker betont. J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1583), 1981, F 133 – hier zitiert nach Kondylis (Fn. 82), 73. Vgl. dazu Luhmann (Fn. 11), 519 m.w.N. Bodin (Fn. 83), 1981, F 133. Vgl. nur E. Hinrichs, Ancien Régime und Revolution, 1986, 9ff., 19; und T. Vesting, Die Medien des Rechts, Bd. 3: Buchdruck, 2013, 81ff. m.w.N.

105 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Geltung

Rechtsgeltung zwar mit Künstlichkeit und Kontingenz verknüpft, d. h. die Autorität und Geltung des Rechts wird von einem (stillschweigenden) Gesellschaftsvertrag oder allgemeiner: von den Konventionen einer modernen Lebenswelt abhängig, die ihrerseits nicht weiter begründet werden können. Rechtsgeltung bleibt aber auch und gerade als Gesetzgebung – sowohl in England als auch auf dem Kontinent – zunächst mit der naturphilosophisch (geometrisch-mathematisch) entwickelten Rationalität des allgemeinen (Bewegungs-)Gesetzes verknüpft; schon Descartes vergleicht die Gesetzgebung durch den König mit der Konstitution der mathematischen Wahrheit durch Gott. Darin ist zwar der Gedanke angelegt, dass so wie Gott eine andere Mathematik auch ein anderes Recht hätte schaffen können.87 Das neuzeitliche Gesetz verkörpert aber dennoch eine universale Regelhaftigkeit der Dinge, die auf das Allgemeine als das Andere des Subjekts verweist, das dieses Subjekt zu einem Teil seiner selbst machen muss. Damit kommt mehr Artifizialität und Dynamik in das Recht als es in den naturrechtlichen Systemen möglich war, aber keineswegs mehr Willkür. „Though the rules of justice be artificial, they are not arbitrary.“88 174 In der rechtshistorischen Literatur hat sich für die Umstellung der naturrechtlichen Geltungsbegründung auf positives Recht auch der Begriff des „Vernunftrechts“ eingebürgert.89 Damit wird – bei aller Problematik des Vernunftbegriffs – doch richtig zum Ausdruck gebracht, dass Rechtsgeltung in der modernen (liberalen) Gesellschaft nicht mehr durch den Rekurs auf eine prinzipiell fremde und unverfügbare Natur erfolgt, sondern nur noch in gesellschaftlichen Konventionen (Hume) oder – idealistisch – im allgemeinen Gesetz (Kant) bzw. im Geist (Hegel) verankert werden kann. „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als seine zweite Natur ist.“90 Aber noch diese Gleichsetzung von „Geistigem“ und „zweiter Natur“ in Hegels Rechtsphilosophie von 1821 zeigt, wie sehr die Idee des positiven Rechts antithetisch auf die Natur und das Naturrecht fixiert bleibt. Das positive Recht wendet sich – nicht nur auf dem Kontinent, sondern auch im Common law – gegen die fiktiven Grundlagen der Rechtsgeltung kraft Herkommens. Es setzt der Annahme eines unvordenklichen Ursprungs des alten guten Rechts einen rationalen Anfang entgegen, eine Rückführung aller Rechtsgeltung auf einen vernünftigen (allgemeinen) Willen. Man könnte auch formulieren, dass der Annahme eines unvordenklichen Ursprungs im antiken Recht im modernen Recht ein anderer und jetzt literarischer Mythos entgegengesetzt wird, der etwa bei Thomas Hobbes die sprachliche Form der Vertragsmetapher annimmt, eines Als-ob, einer Fiktion, die aber gleichwohl weitreichende praktische Wirkungen zeitigt.91 Das gilt noch für den rechtswissenschaftlichen Positivismus. Erst im Zuge der Konsolidierung des (deutschen) Nationalstaats, erst im Gesetzespositivismus des späten 19. Jahrhunderts, tritt dieser Zusammenhang, dieser Rekurs auf einen neuen Rechtsgründungsmythos, so sehr in den Hintergrund, dass er schließlich ganz vergessen wird. 87 88 89 90 91

Waldenfels (Fn. 66), 125. D. Hume, A Treatise of Human Nature (1739), Book III, Part II, Sec. I, 428. Vgl. nur Wieacker (Fn. 13), 249ff; vgl. auch Weber (Fn. 23), 496 („formal-rational“). G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1970, § 4. Vgl. nur V. A. Kahn, The Future of Illusion, 2014; S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004, 153ff.; A. Koschorke, Der fiktive Staat, 2007, 108ff.

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III. Dynamisierung

An diesen Diskussionsstand des späten 19. Jahrhunderts knüpft dann die bis heute 175 verbreitete Vorstellung an, Rechtsgeltung auf einen willensförmigen Setzungsakt zu reduzieren bzw. auf das von den zuständigen Organen in vorgesehener Weise gesetzte Recht.92 Noch die frühen rechtssoziologischen Arbeiten von Niklas Luhmann stehen in dieser Linie: Positives Recht wird mit Gesetztheit, Entscheidungsabhängigkeit und Änderbarkeit assoziiert, mit der Notwendigkeit einer Selektionsleistung aus einem Überschuss von Möglichkeiten.93 Wäre diese Annahme richtig, wäre Recht in der modernen (liberalen) Gesellschaft eine beliebige „Steuerungsmasse“ der zu seiner Setzung ermächtigten politischen Institutionen im Rahmen der verfassungsrechtlichen „Verhältnismäßigkeit“. Dann wäre Rechtsgeltung im besten Fall deckungsgleich mit der sich in Reaktion auf den beschleunigenden gesellschaftlichen Wandel seit dem Ersten Weltkrieg herausbildenden Gesetzgebungstätigkeit des Wohlfahrtsstaates. Im schlimmsten Fall wäre alles Recht jedoch Produkt der unbegrenzten Willkür politischer Diktatoren (Stalin, Hitler, Mussolini etc.). Darin zeigt sich aber schon das ganze Problem der staatszentrierten Umpolung der rechtspositivistischen Rechtsquellenlehre. Kann man Rechtsgeltung tatsächlich zum ausschließlichen Produkt politischer Gesetzgebung erklären und alle anderen sozialen Zusammenhänge, in denen sich Prozesse rechtlicher Normbildung vollziehen, einfach übergehen? 2. Normative Geltungsbegründung

Einen äußerst zwiespältigen Versuch, den Geltungsbegriff von allen machtpolitischen 176 Implikationen abzulösen, ihn aber gleichzeitig für einen Bedeutungszuwachs der politischen Rechtsetzung und Gesetzgebung zu öffnen, unternimmt Kelsen mit einer rein „normativen Geltungsbegründung“ des Rechts.94 Ausgangspunkt dieses Unternehmens ist eine – an den Neukantianismus angelehnte – Fundierung der Rechtstheorie als Erkenntnistheorie. Danach konstituiert erst die rechtswissenschaftliche Beobachtung das Recht als System.95 Das mag als Prämisse noch akzeptabel sein, aber Kelsen verknüpft diese Erkenntnistheorie mit einer Zwei-Welten-Lehre, der zufolge das Rechtssystem als einheitlicher Sinnzusammenhang einem anderen Objektbereich angehört als natürliche, in Raum und Zeit sinnlich wahrnehmbare Ereignisse wie z. B. Kommunikationen bzw. Sprechakte oder andere soziale Handlungen. Im Unterschied zum System der Natur, dessen Ereignishaftigkeit vollständig durch Kausalität determiniert ist, ist das Rechtssystem durch die einer (Sprach-)Handlung attribuierte rechtliche Bedeutung bestimmt, die eine spezifisch juristische Zurechnung zur Geltung bringt: Erst Rechtsnormen als Deutungsschemata verleihen dem tatsächlichen Geschehen/Verhalten einen spezifisch rechtlichen Sinn. Neben die kausal-gesetzlich determi92

93

94 95

Vgl. nur H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), 1983, 9, 201; R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 2002, 143 (so zum „juristischen“ Geltungsbegriff ). N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 210 („Wir können diesen Begriff der Positivität demnach auf die Formel bringen, daß das Recht nicht nur durch Entscheidung gesetzt (das heißt ausgewählt) wird, sondern auch kraft Entscheidung (also kontingent und änderbar) gilt.“); ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 124 („als Auswahl aus anderen Möglichkeiten und damit als jederzeit änderbar erlebt wird“); vgl. dazu Neves (Fn. 58), 69ff. Kelsen (Fn. 92), 364. Kelsen, ebd., 74; daran anknüpfend etwa M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 28 Fn. 83; Alexy (Fn. 92); vgl. auch O. Lepsius, Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, 63ff.

107 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Geltung

nierte Ordnung der Natur tritt damit eine normative Welt der wissenschaftlichen Erzeugung und Ordnung allen Rechts zu einem stufenförmigen System. 177 Der rechtliche, in Deutungsschemata gespeicherte Sinn des positiven Rechts wird genauer als mentales, dem Bewusstsein unmittelbar gegebenes „Sollen“ im Unterschied zum „Sein“ bestimmt.96 Darauf sattelt der Geltungsbegriff auf: Geltung bezeichnet die spezifische Existenzweise einer Rechtsnorm, die Bedeutung eines normsetzenden Aktes, mit dem irgendein menschliches Verhalten befohlen, angeordnet, vorgeschrieben oder erlaubt wird.97 Der Bedeutungsbegriff selbst bildet hier das Verknüpfungsglied, um den Geltungsbegriff von allem empirischen Sprach- und Mediengebrauch abzulösen und auf eine rein ideelle – mit Husserl könnte man sagen: noumenale – Ebene abschieben zu können: Die Geltung der Soll-Norm ist weder mit dem Willensakt der Autorität zu verwechseln, die die Norm in Geltung gesetzt hat, noch mit ihrer tatsächlichen Wirksamkeit (Befolgung). Geltung im Sinne objektiver Soll-Geltung ist vielmehr ein intrinsischer Wert des unserem Bewusstsein gegebenen Sollens und damit des Rechtssystems, der an der Spitze des Systems durch die Grundnorm gesetzt wird und von dort aus, bei jeder Operation, auf alle Stufen des Systems durchgereicht werden kann. Die Grundnorm ist wiederum kein sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand der Rechtsordnung, sondern muss wie eine Art Stoppregel vorausgesetzt werden, sonst ist der unendliche Regress der Ableitung der Rechtsgeltung unvermeidlich und die Frage, warum geltendes Recht überhaupt befolgt werden soll, unentscheidbar. Befehle der Vater dem Kind, zur Schule zu gehen, so erläutert Kelsen, müsse ab einem bestimmten Punkt der Ableitung eine normsetzende Autorität vorausgesetzt werden, „die in letzter Linie diese Weise der Normsetzung statuiert“.98 178 Dieses Stufenmodell ist mit dem schwerwiegenden Nachteil verbunden, Rechtsgeltung nur noch wissenschaftlich oder erkenntnistheoretisch begründen zu können. Damit werden die epistemologischen und medialen Grundlagen von Rechtsgeltung mehr oder weniger ausgeblendet. Kelsen bestreitet zwar nicht, dass ein „Minimum an sogenannter Wirksamkeit“ eine Bedingung von Normgeltung sei,99 zumal eine Rechtsordnung per definitionem eine „Zwangsordnung“ ist, die im Gegensatz zur Moral an „normwidersprechendes Verhalten“ einen „gesellschaftlich organisierten Zwangsakt“ knüpft.100 Aber auch eine im Großen und Ganzen effektive Rechtsordnung, eine durch staatliche Zwangsakte gesicherte Rechtswirksamkeit, ist „nicht die Geltung selbst“.101 Rechtsgeltung ist eben das Ganz-Andere, das – ähnlich wie Walter Benjamins Sprache102 – den Kontrapunkt zur staatlichen Gewalt bildet und dieser vollständig unzugänglich sein soll. Aber die Antwort auf die Frage, warum das so ist, versperrt sich Kelsen durch einen Sinnpurismus, für den Recht die Bewegung mentaler Deutungsschemata ist. Sinn verweist jedoch unweigerlich auf Sprache und Kommunikation, auf Verstehen und damit auf gemeinschaftliche „vorreflexive“ Praktiken im Sinne Wittgensteins und kann daher nicht in einem „reinen Sollen“ lokalisiert werden. 96 97 98

99 100 101 102

Kelsen (Fn. 92), 4ff.; vgl. auch O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, 325. Kelsen (Fn. 92), 15f., 33f., 43, 248 (positive und negative Regelung). Kelsen, ebd., 199, vgl. auch 204ff. (die Grundnorm als transzendental-logische Voraussetzung); vgl. dazu H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986, 42ff., 83ff., 88. Kelsen (Fn. 92), 10, 215 u. ö. Kelsen, ebd., 34ff., 64, 65. Kelsen, ebd., 220; Dreier (Fn. 98), 122. Benjamin (Fn. 34), 48.

108 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Dynamisierung 3. Geltung als zirkulierendes Symbol

Das System der Systemtheorie konstituiert sich über eine rekursive Vernetzung von 179 Operationen, die im Fall des Rechtssystems Rechtskommunikationen im oben beschriebenen weiten Sinne sind. Das Rechtssystem erzeugt eine dynamische Stabilität, die sich in laufenden zeitpunktbezogenen Rückgriffen und Vorgriffen auf vergangene und künftige Entscheidungen manifestiert. Im Unterschied zur traditionellen Auffassung ist Zeit für die Systemtheorie nicht länger ontologisch eingebettet, sie ist keine Bewegung im Raum, sondern genau umgekehrt ist alles Sein, alle Kommunikation, eine Folge der Zeit bzw. genauer: Folge einer gleichzeitigen Zeit, die die Welt als Kette von auf die Gegenwart bezogenen Momentaufnahmen zusammenhält. Autopoietische Systeme sind daher stets historische Systeme, die alles, was sie tun, zum ersten und zum letzten Mal tun.103 Im Anschluss an eine von Heinz v. Foerster entwickelte Terminologie vergleicht Luhmann das System der Systemtheorie auch mit einer nichttrivialen (historischen) Maschine, die im Unterschied zu einer trivialen Maschine (oder einem Automaten), nicht auf immer gleiche und wiederholbare Weise Inputs in Outputs transformiert, sondern seinen eigenen Zustand bei jeder Operation erneut ins Spiel bringt und deshalb durch jede Operation eine neue Maschine entstehen lässt. „Das Recht ist eine historische Maschine, die sich mit jeder Operation in eine andere Maschine verwandelt.“104 Die Geltungstheorie der Systemtheorie stellt vor diesem Hintergrund in einem sehr 180 grundsätzlichen Sinn von „Hierarchie auf Zeit“ um.105 Das hat zur Folge, dass alle zeitstabilen Lösungsmodelle implodieren. Rechtsgeltung heißt für Luhmann weder Normgeltung noch Geltung einer vorauszusetzenden Metanorm am Ende einer Hierarchie (Kelsens Grundnorm; Harts rule of recognition), sondern meint eine rein immanente, rein zirkulär, im nachbarschaftlich operierenden System selbst erzeugte Geltungskraft. Der Begriff der Rechtsgeltung wird nicht auf einen Bestand bezogen, an dem das faktische Rechtsgeschehen entlangfließt, sondern in den kommunikativen Vollzug der Verknüpfung von Rechtsoperationen hineingelegt: Rechtsgeltung ist Voraussetzung für das Finden von Anschlussoperationen. Rechtgeltung ist nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein in allen Rechtskommunikationen mitfungierender, partizipierender Sinngehalt, der sich rekursiv selbst validiert, indem bei einer Rechtsoperation auf bereits geltendes Recht zurückgegriffen wird. Wenn ein Gericht entscheidet, dann immer durch Rekurs auf geltendes Recht. Wenn der Gesetzgeber ein neues Gesetz verabschiedet, dann immer im Rahmen der Verfassung. Die Gegenprobe lässt sich auf der anderen Seite der Geltung, auf der Seite der Nicht-Geltung machen: Niemand würde sich auf ein Urteil berufen, das ungültig ist, niemand auf ein Gesetz, das nicht in Kraft getreten ist.106 103

104

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Luhmann (Fn. 11), 49; ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 116f., mit der hegelianischen Formulierung, dass das autopoietische System nichts anderes ist oder hat als die Geschichte seiner eigenen Bewegung. Luhmann (Fn. 11), 107, 58; H. v. Foerster, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, 1993, 233ff., 245ff. Luhmann (Fn. 11), 110. Nicht-Geltung ist deshalb für Luhmann kein Bestandteil des Rechtssystems, sie spielt nur insofern eine Rolle, als das System den Geltungsbegriff durch negative Abgrenzung (Nichtgeltung) reflektieren und konturieren kann.

109 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Geltung

181 Weil Rechtsgeltung mit jeder Verwendung einer Rechtsoperation weitergereicht bzw. im System von Moment zu Moment neu erarbeitet werden muss, bezeichnet Luhmann Rechtsgeltung auch als „Verknüpfungssymbol“ bzw. – im Anschluss an eine Terminologie von Talcott Parsons – als „zirkulierendes Symbol“.107 Symbol meint hier nicht einfach „Zeichen“ im Sinne der (sausurreschen) Differenz von Bezeichnendem (signifiant) und Bezeichnetem (signifié). Luhmann will mit dem Symbolbegriff vielmehr zum Ausdruck bringen, „daß das Getrennte zusammengehört, so daß man das Bezeichnende als stellvertretend für das Bezeichnete (und nicht nur: als Hinweis auf das Bezeichnete) benutzen kann“.108 Christus ist – jedenfalls nach verbreiteter Ansicht – nicht nur Symbol/Repräsentant Gottes auf Erden, er ist der „in geschichtlicher Wirklichkeit Mensch gewordene“ Gott.109 Ein 100-Euroschein symbolisiert nicht nur den Wert von 100 Euro, er ist ein 100 Euroschein und verkörpert damit genau diesen Wert. Und so wie das Geld, das nach Ansicht der Systemtheorie ein symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium darstellt, die Wahrscheinlichkeit steigert, zeitliche Differenzen zu überbrücken und Kommunikation mit Annahmechancen auszustatten (der Händler gibt das Auto gerne heraus, nachdem bezahlt worden ist), so ist Rechtsgeltung ein Symbol, das in der Verschiedenheit seiner Operationen die Einheit des Rechtssystems wahrt und reproduziert.110 Geltung ist eine semantische Errungenschaft der Eigendynamik eines autopoietischen Rechtssystems, das den normativen Erwartungen des Systems attachiert wird.111 Unter dem Strich wird hier also wie bei Kelsen eine enge Verknüpfung zwischen Rechtsgeltung und dem staatlichen Gesetzgebungs- und Justizapparat unterstellt. Diese enge Verknüpfung ermöglicht dem Rechtssystem auch in der Systemtheorie letztlich, im laufenden Rechtsbetrieb bindende Entscheidungen – geltendes Recht – zu erzeugen. IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts 1. Heterarchie der Rechtsquellen

182 Der Rechtspositivismus sicherte die Geltung des Rechts durch den Rekurs auf Entstehungsgründe, die als „Quellen“ in der „großen Einheit“ des Rechts verankert waren und somit allein durch das Rechtssystem bestimmt wurden. Das hatte im 19. Jahrhundert den Zweck und das Verdienst, die Selbstbegründung des Rechts insbesondere gegenüber lokalen Traditionen, Sitte und Brauchtum zu festigen: Während das Naturrecht mit dem Untergang der Adelsgesellschaft des alten Europas seine sozialen Haftungspunkte verlor, löste sich das positive Recht aus dem Kontext einer als unveränderlich und ewig gedachten Natur, um sich schließlich – auch im Common law – als selbstbezüglich verfahrendes, ja sich selbst setzendes (positives) Recht zu stabilisieren. Auch wenn der Kontakt zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Rechtsbildung dabei im Rechtspositivismus zunächst erhalten blieb, man denke nur an Savignys „Volksgeist“ als letzter Rechtsquelle, führte dieses Unternehmen schon im Gesetzes107 108 109

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Luhmann (Fn. 11), 106, 107. Vgl. Luhmann (Fn. 103), 319. C. Schmitt, Römischer Katholizismus (1925), 1984, 32. Schmitts Aussage im Text ist etwas komplexer gebaut und bezieht sich auf die katholische Kirche, die Christus persönlich repräsentiere. Luhmann (Fn. 11), 98. Luhmann, ebd., 105.

110 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts

positivismus dazu, das Geltungsproblem auf politische Bezüge zu reduzieren. Heute ist die Rechtsquellenlehre ganz auf die politische Gesetzgebung und die sie kontrollierende Verfassungsgerichtsbarkeit zentriert, mit dem Ergebnis, dass Rechtsgeltung vielfach auf den Output legislativer policy-Strategien, einschließlich ihrer verfassungsrechtlichen „Verhältnismäßigkeitsprüfung“, verengt wird. Die gleiche, wenn auch antithetische, Fixierung auf den Staat kennzeichnet die Moral- 183 philosophie, soweit sie sich als Diskurstheorie des Rechts versteht. Hier wird Recht Prozessen öffentlicher Deliberation anheimgestellt. Der Unterschied zur herrschenden dogmatischen Literatur besteht allein darin, dass die Leistungsfähigkeit der repräsentativen Instanzen (Parlament, Parteien, Verbände etc.) bei der Normproduktion eher als beschränkt und daher als durch „zivilgesellschaftliches Engagement“ ergänzungsbedürftig angesehen wird. Aber auch dadurch wird die Rechtstheorie auf ein falsches Gleis gesetzt: Es wird auf der Grundlage von ausschließlich theoretischem Wissen,112 der Diskurstheorie des Rechts unterstellt, dass ein verfahrensgerecht (deliberativ-diskursiv) hergestelltes Recht, aufgrund der ihm zugeschriebenen Qualitäten gerechtigkeitsnäher als das geltende (praktizierte) Recht operieren könnte. Dabei wird aber u. a. übersehen, dass Gerechtigkeit in der modernen (liberalen) Gesellschaft so gegenwärtig wie flüchtig ist: Die irreversible Trennung der Individuen von der Gemeinschaft und ihre unwiederbringliche Trennung voneinander kann nicht im Vorgriff auf eine faktische Gleichheit aufgehoben werden, gerade weil Einheit und Allgemeinheit in der Gegenwart nur noch formal, als universelle Form, denkbar ist, d. h. Gerechtigkeit ist unter modernen (liberalen) gesellschaftlichen Bedingungen eine bloße Idee der Vernunft, „d. h. ein reines unerreichbares Ziel“.113 Was vielleicht erreicht werden kann, ist eine Verständigung darüber, was unter der Bedingung von Differenz und kultureller Vielfalt universale Normen und Werte sein könnten. Zu den Anwärtern solcher universeller Normen könnte man etwa das Folterverbot zählen oder das Verbot der Beschneidung von jungen (afrikanischen) Mädchen aus religiös-rituellen Gründen. Gegen die staatsfixierte Verengung des Geltungsproblems ist daher die These in An- 184 schlag zu bringen, dass Rechtsgeltung nur in der Praxis einer Vielfalt operierender Rechtsordnungen selbst erzeugt werden kann. Rechtsgeltung ist weder von einer diskursiv einzulösenden Verfahrensgerechtigkeit abhängig noch durchstaatlich sanktionierte Gewalt herstellbar, wie noch heute vielfach unterstellt wird. Damit sollen die Bedeutung der staatlichen Gesetzgebung und die Rolle des Staates für die Evolution und Geschichte des modernen (westlichen) Rechts weder unterschätzt noch geschmälert werden. Es kommt aber für die Zukunft darauf an, die Rechtsquellenlehre auf die neuartige Operationsweise eines dynamisch und nachbarschaftlich operierenden Rechtssystems einzustellen. Dabei darf das Geltungsproblem auf der einen Seite nicht von vornherein mit moralischen, religiösen, ökonomischen, politischen oder massenmedialen Komponenten vermischt werden, d. h. Rechtsgeltung wäre – in der Tradition des Rechtspositivismus – weiterhin als etwas im Rechtssystem Herzustellendes zu konzipieren. Auf der anderen Seite darf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Rechtsproduktion und der Verankerung der Bindungskraft des Rechts in der Innenwelt der Individuen aber nicht einfach wie im Rechtspositivismus abgeschnitten 112 113

Und zwar auf einem Wissen „strikt nomologischer“ Art im Sinne von H. Krämer (Fn. 55), 95. Die kantischen Formulierungen sind angelehnt an R. Esposito, Communitas, 2004, 110.

111 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 5. Geltung

oder auf eine Grundnorm, eine „rule of recognition“ oder ein Geltungssymbol reduziert werden. Diese Überlegung muss auchfür die tradierte Rechtsquellenhierarchie Konsequenzen haben, die künftig in ein heterarchisches, auf Gleichordnung der verschiedenen Rechtsquellen angelegtes Modell umzuschreiben wäre. 185 Das Recht der Computerkultur durchbricht das Konzept einer Normenhierarchie, die eine klare Trennung

und Abstufung der Rechtsquellen nach ihrem jeweiligen Ursprung vorausgesetzt hatte.114 Deshalb wäre die staatszentrierte Rechtsquellenhierarchie aufzugeben, zumindest aber doch erheblich zu modifizieren. Fasst man Geltung – wie Luhmann – als Verknüpfungssymbol, das von Moment zu Moment im Rechtssystem immer wieder neu erarbeitet wird, wird Rechtsgeltung immer dann weitergereicht, wenn eine Kommunikation rechtserheblich ist, d. h. Rechtsfolgen und nicht lediglich faktische Ereignisse zu beobachten sind, die solche Folgen nach sich ziehen können. Das wäre immer dann der Fall, wenn eine Rechtshandlung rekursiv auf geltendes Recht Bezug nimmt, etwa ein Gerichtsurteil verkündet, ein Verwaltungsakt erlassen oder ein Gesetz verabschiedet wird, nicht aber schon dann, wenn z. B. ein Richter beleidigt, der Polizeiwagen beschmiert oder ein verheirateter Parlamentsabgeordneter mit intimen Fotografien seiner Freundin von einem Paparazzo unter Druck gesetzt würde. Eine Verschiebung des Geltungssymbols durch rechtsfolgenrelevante Kommunikationen ist prinzipiell auch bei privatrechtlichem und nicht nur bei staatlichen Rechtshandlungen möglich. Daher sind vor allem der Vertrag und die private Norm- und Standardsetzung als eigene Rechtsquellen anzuerkennen. Das eröffnet nicht nur im innerstaatlichen Bereich einen neuen Blick auf die private Norm- und Standardsetzung, z. B. im technischen Sicherheitsrecht oder im Vertragsrecht.115 Auch in transnationalen Zusammenhängen wäre die dezentrale, autonome Produktion von Konventionen, Regeln und Standards, etwa die arbeitsrechtliche Bindung an interne codes of conduct eines transnational operierenden Unternehmens,116 grundsätzlich zu akzeptieren. Das staatliche Gesetzgebungsmonopol würde dann einem Gesetzgebungswettbewerb ausgesetzt, für den die Idee eines flexiblen Netzwerks von Rechtsquellen an die Stelle starrer Vor- und Nachrangrelationen treten könnte. Die (staatszentrierte) Rechtsquellenhierarchie könnte dann zugunsten der Vorstellung einer Heterarchie von Rechtsquellen aufgegeben werden.

Erst unter dieser Voraussetzung kann dann die immer wichtiger werdende Frage gestellt werden, nach welchen secondary rules insbesondere die private Regelproduktion zu akzeptieren ist und wie private Rechtsregeln auf existierende (öffentliche) Regelbestände, etwa die Grundrechte des nationalen Rechts, abgestimmt werden können. Es geht dann um die Abstimmung zwischen privater und öffentlicher Regelsetzung, die vermutlich auch neue Formen der Selbstkontrolle der Rechtsproduktion notwendig machen wird. Nach Gunther Teubner stellt sich hier sogar die Verfassungsfrage: die Frage nach „konstitutionellen Sekundärnormen“, die „das Geltungsparadox“ eines selbst gemachten Rechts „zu überwinden vermögen und über die Rechtsnormqualität von sozialen Normen selektiv entscheiden“.117 Ob der Rekurs auf den Verfassungsbegriff hier wirklich in jeder Hinsicht hilfreich ist, erscheint diskussionsbedürftig,118 richtig ist es aber jedenfalls, derartige Abstimmungsprobleme – mit Teubner, Rudolf Wiethölter, Karl-Heinz Ladeur u. a. – kollisionstheoretisch zu lösen. Denn das produktive Potential des kollisionsrechtlichen Denkens liegt gerade jenseits der Hierarchie.119 Das spräche zugleich dafür, die Tradition des Verfassungsrechts nicht 114

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Vgl. dazu H. Hill/M. Martini, Normsetzung und andere Formen exekutivischer Selbstprogrammierung, 2012, § 34 Rn. 90 (für den Fall des Verwaltungsrechts); Ch. Tietje, Recht ohne Rechtsquellen?, ZfR 24 (2003), 27ff. (für das Völkerrecht); vgl. allg. auch W. Hoffmann-Riem, Gesetz und Gesetzesvorbehalt im Umbruch, AöR 130 (2005), 5, 57ff. Vgl. dazu nur Ruffert (Fn. 3), Rn. 19f. („Der Rechtsquellenlehre ist daher die Integration privater Rechtsetzungsakte aufgegeben“); vgl. dazu P. Zumbansen, Ordnungsmuster im modernen Wohlfahrtsstaat, 2000, insb. 241ff. Vgl. dazu etwa L. C. Backer, Economic Globalization and the Rise of Efficient Systems of Global Private Lawmaking: Wal-Mart as Global Legislator, University of Connecticut Law Review 39/4 (2007), 1739ff. G. Teubner, Globale Zivilverfassungen, ZaöRV 63 (2003), 21; vgl. auch ders. (Fn. 6). Vgl. K.-H. Ladeur, Die Evolution des Rechts und die Möglichkeit eines „globalen Rechts“ jenseits des Staates, 2012, 220ff.; Th. Vesting, Constitutionalism or Legal Theory, 2004, 29ff. Zum kollisionsrechtlichen Denken vgl. allg. Teubner (Fn. 6), 225ff.; ders., Recht als autopoietisches System, 1989, 123ff.; siehe auch R. Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, 2003,

112 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts als Entfaltung von Ebenen fortzuschreiben. Aus medientheoretischer Sicht legt dies auch der Übergang vom Buch als Träger der deduktiven Hierarchien des rechtspositivistischen Systems zum Internet als Träger dezentraler und konnexionistischer Formen des Rechts nahe (vgl. auch Rn. 237ff.).

2. Gesellschaftliche Konventionen und praktisches Wissen

Mit dem Verblassen der Distinktionskraft der herkömmlichen Geltungstheorien stellt 186 sich die Frage, welche Folgebegrifflichkeit die bisherige Leitunterscheidung der Geltungstheorie – positives Recht vs. Naturrecht – ersetzen könnte. Das könnte, wie der Text schon mehrfach angedeutet hat, die Unterscheidung von (teils impliziten) gesellschaftlichen Konventionen und expliziter Rechtspraxis leisten. Rechtsbildung in Form von expliziten Regeln und Entscheidungen bleibt auch und gerade in der modernen (liberalen) Gesellschaft von gesellschaftlichen Konventionen und einer daran gebundenen „sozialen Epistemologie“ abhängig.120 Als „Konventionen“ (von lat. conventio, Übereinkunft, Abkommen, Vertrag) sollen dabei Normen und Erwartungen im weitesten Sinne bezeichnet werden. Entscheidend für den Begriff der Konvention ist, das er nicht einfach auf Traditionen oder Tugenden im herkömmlichen Sinn verweist, sondern auf Übereinkünfte zwischen an sich getrennten Individuen, auf artifizielle, auch für Neues offene Beziehungsmuster,121 deren Auftritt und Reproduktion stets an eine – sozial mehr oder weniger weit reichende – community of practice gebunden ist.122 Konventionen sind stets gesellschaftliche Konventionen, Sozialität ist ihnen inhärent, nicht bloße Zutat eines an sich ungesellschaftlichen „menschlichen“ Verhaltens, das erst nachträglich, durch explizite (staatliche) Rechtsregeln sozialisiert würde. Man könnte auch etwas allgemeiner sagen: Der Mensch ist ein von Natur aus künstliches Wesen und zum menschlichen Zusammenleben gehören immer schon kulturell verankerte Verkehrsregeln, kunstvolle äußere Umgangsformen, Riten, Diplomatie, Takt, Geschick usw. Es geht im Begriff der gesellschaftlichen Konventionen also keineswegs um Fakten, son- 187 dern um mit Recht vergleichbare Normen, um einen Fall von Normativität. Konventionen umfassen etwa solche Regeln und Erwartungen, die Teubner „gesellschaftliche Reflexionspraktiken“ bzw. „normativ aufgeladene(n) ‚Dogmatiken‘ des sozialen Handelns“ nennt.123 Damit ist gemeint, dass verschiedenste soziale Praktiken ihr eigenes Selbstverständnis reflektieren und dadurch selbst praktisches Wissen im Sinne von normativen Orientierungen und Maßstäben erzeugen. An solche Reflexionspraktiken muss das Recht kooperativ anknüpfen, wenn es seinerseits eine eigenständige Normativität entwickeln will. So muss sich beispielsweise eine zivilrechtliche Dogmatik neuarti-

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13ff., 18 („Kollisionsregeln“ als „Verklammerungen (alias Vernetzungen, Vermittlungen, ‚Aufhebungen‘ usw.) von abhängigen Unabhängigkeiten“). Zu dieser Begrifflichkeit näher K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 110ff., 153. Näheres dazu – mit Betonung der (inner-)gesellschaftlichen Koordinations- und Kooperationsleistungen von Konventionen – Ladeur (Fn. 60), 56 („Die Fähigkeit zur spontanen, nicht an tradierte Formen gebundenen Kooperation und zur Übernahme des Neuen muss durch soziale Konventionen und Ordnungsmuster erhalten werden.“); ders. (Fn. 120), 37, 88ff.; ders., Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995, 27ff. Vgl. dazu allg. E. Wenger, Communities of Practice, 2005. G. Teubner, Coincidentia oppositorum, 2004, 18; vgl. auch K.-H. Ladeur, Methodische Überlegungen zur gesetzlichen „Ausgestaltung“ der Koalitionsfreiheit, AöR 131 (2006), 643, 646.

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§ 5. Geltung

ger Netzwerke in der Wirtschaft (virtuelle Unternehmen, Franchising, Just-in-Time, patent pools etc.) mit den in den Reflexionspraktiken solcher Netzwerke generierten effizienzorientierten Überlegungen auseinandersetzen. Eine verfassungsrechtliche Analyse von Kunst im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG ist auf Konventionen des Kunstbetriebs angewiesen: Die Ausstellung einer Badewanne kann verfassungsrechtlich von der Kunstfreiheit geschützt sein, weil und sofern der Kunstbetrieb Alltagsgegenstände ausstellt, die die „Grenzenlosigkeit“ der Kunst in ihren Archiven und Ausstellungsräumen demonstrieren. Diese Abhängigkeit des Rechts von Prozessen gesellschaftlicher Konventionsbildung gilt selbst für das Feld der Verfassungsgebung: Der Dritte Stand knüpfte beispielsweise an Konventionen der Adelsgesellschaft und die sie bestimmende „institutionsgebende Macht“ an, als er sich im Sommer 1789 im Ballhaus zur Nationalversammlung erklärte, nicht aber konstituierte sich mit ihm eine „Urkraft“, eine „verfassungsgebende Macht“ ohne jede Vergangenheit und normative Selbstbindungen.124 188 Darüber hinaus sind Konventionen jedoch wissensabhängig, und dieses praktische Wissen kann seinerseits nicht wiederum (vollständig) aus explizten Normen abgeleitet werden. Das hängt damit zusammen, dass Konventionen mit je spezifischen kognitiven und medialen Infrastrukturen verknüpft sind, in denen „implizites Wissen“ eine tragende Rolle spielt.125 Deshalb haben Konventionen einen stets praktischen Charakter, ihre Kenntnis gehört zum Bereich „eines ursprünglichen knowing how, nicht eines knowing that“.126 Dieses ursprüngliche knowing how wird über eine zwischen den Individuen und den Dingen sich von Fall zu Fall erneuernde „Urteilskraft“ produziert und reproduziert, es ist situatives und lokales Wissen, „partisan“, nicht „generic knowledge“.127 Als die ersten Siedler nach Neuengland kamen, lernten sie von den amerikanischen Ureinwohnern, dass man Mais dann pflanzen muss, wenn Eichenblätter die Größe der Ohren eines Eichhörnchens haben. Trotz ihres folkloristischen Tons, verbirgt sich hinter dieser Daumenregel ein genaues Wissen über die klimabedingte Funktionsweise lokaler Ökosysteme im Frühjahr in Neuengland, das nur sehr beschränkt verallgemeinerbar ist und auch nicht als abstrakte Regel gefasst werden kann, wie z. B. in der Regel: „Der Samen soll nach dem 5. Mai gesät werden“. Das implizite Wissen hat aber gegenüber einer derartig abstrakten Regel den unschlagbaren Vorteil, dass es ein Wissen ist, das sich den örtlichen und regionalen Verschiedenheiten anpasst, dass es in Massachusetts und Vermont funktioniert, in Süd-, Ost- und Westlagen und auch dann, wenn das Frühjahr einmal außerordentlich spät kommt.128 189 Mit anderen Worten: Implizites Wissen ist an praktische Erfahrungen, Kenntnisse und Fertigkeiten aller Art gebunden, die nur durch praktisches Handeln, nicht aber durch theoretische Anleitungen, durch Buchwissen, erlernt werden können. Und: Praktisches Wissen kann erst in Regeln übersetzt werden, wenn genügend Erfahrun124 125

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Dazu näher V. Descombes, Die Rätsel der Identität, 2013, 226ff., 230, 231. Zum Begriff des „impliziten Wissens“ vgl. M. Polanyi, Personal Knowledge (1958), 1974; vgl. dazu aus neuerer Zeit T. Vesting, Das moderne Recht und die Krise des gemeinsamen Wissens, 2015i. E.; K.-H. Ladeur, Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung, 2014, 103ff.; I. Augsberg, Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb. 80ff. B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, 1985, 85 (in der Terminologie von G. Ryle). J. C. Scott, Seeing like a State, 1998, 318 („partisan knowledge“ ist dadurch charakterisiert, dass „the holder of such knowledge typically has a passionate interest in a particular outcome“); vgl. auch Ladeur (Fn. 60), 45, 197. Dieses Beispiel verwendet Scott (Fn. 127), 311f.

114 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Soziale Epistemologie und Normativität des Rechts

gen gesammelt sind.129 Daraus resultiert gerade in der modernen (liberalen) Gesellschaft ein Vorrang des praktischen gegenüber dem theoretischen Wissen, d. h. die erfolgreiche (orale) Praxis geht ihrer (schriftlichen) Explikation voraus.130 Diese Asymmetrie ist auch für das Rechtssystem konstitutiv: Das Recht muss sich zu den Wissensinfrastrukturen der Gesellschaft produktiv verhalten und sie so weit wie möglich in seine eigenen Normstrukturen übernehmen. Das zivilrechtliche Haftungsrecht kann den Begriff der Fahrlässigkeit nur dadurch bestimmen, dass es an die im Verkehr erforderliche Sorgfalt anknüpft, d. h. an einen Maßstab, den nur der (Wirtschafts-) Verkehr selbst festlegen kann.131 Das Polizeirecht kann eine Gefahr nur dadurch fixieren, indem es in der polizeilichen Generalklausel auf implizite gesellschaftliche Wissensbestände verweist.132 Das Medienrecht kann nur dann etwas über „Fairness“, „Sorgfalt“ oder die Trennung von „Nachricht und Kommentar“ in den Medien wissen, wenn es die entsprechenden journalistischen Konventionen kennt.133 Ohne Rückgriffe auf derartige Kenntnisse gibt es keine Rechtsgeltung. Die Geltung von Rechtsnormen ist also nicht – wie Kelsen meinte – von einem „Minimum“ an „Wirksamkeit“ abhängig.134 Im Gegenteil: Zur Rechtsbildung ist stets ein Maximum an praktisch erfolgreicher Konventionsbildung notwendig! Wenn man von hier aus den Bogen noch einmal zu unserem Ausgangspunkt zurück- 190 schlägt, dann zeigt sich, dass Rechtsgeltung ein höchst voraussetzungsvoller Begriff ist. Die spezifische Geltung des Rechts kann heute nur noch in Differenz zu sonstigen gesellschaftlichen Regelbeständen und praktisch erprobten Konventionen bestimmt werden, was auch heißt, dass die Eigenständigkeit rechtlicher Bindungsfähigkeit von dieser anderen Seite nicht getrennt werden kann. Das meint etwas anderes als Luhmanns kognitive Offenheit bei normativer Geschlossenheit des Rechtssystems (vgl. Rn. 126ff.). Die hier ins Auge gefasste Konzeption geht – ähnlich wie die jüngeren Arbeiten von Ladeur (vgl. auch Rn. 240ff.) – insofern über die systemtheoretische Differenz von kognitiven und normativen Erwartungen hinaus, als ein produktives Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Konventionen einerseits und ihrer Explikation als sozialer Reflexionspraktiken und sodann als expliziter Rechtsregeln andererseits unterstellt wird; letztere müssen zwar im Rechtssystem selektiert und verfeinert werden, sie entfalten dort aber keine grundsätzlich andere „Geltung“ oder „Normativität“ als außerhalb des (staatlichen) Rechts. Die Frage zu beantworten, ob und wenn ja, auf welche Weise es heute überhaupt noch Sinn macht und gegebenenfalls Sinn machen könnte, von einer spezifischen „Geltung“ oder „Normativität“ des Rechts zu sprechen, ist sicherlich eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen Rechtstheorie. Auch in diesem Zusammenhang deutet aber alles darauf hin, dass das normativistische durch ein pragmatisches Regelverständnis ersetzt werden muss (vgl. Rn. 60ff.). 129

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Polanyi (Fn. 125), 54 („To become an expert wine-taster, to acquire a knowledge of innumerable different blends of tea or to be trained as a medical diagnostician, you must go through a long course of experience under the guidance of a master.“). Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 176 (in einem linguistischen Zusammenhang); zu den vormodernen Arten praktischen Wissens (metis, phronesis etc.) vgl. M. Detienne/J.-P. Vernant, Cunning Intelligence in Greek Culture and Society, 1978. Vgl. nur K. Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. 1, 1987, 282ff. K.-H. Ladeur, Privatisierung öffentlicher Aufgaben und die Notwendigkeit der Entwicklung eines neuen Informationsverwaltungsrechts, 2000, 225ff. Näher T. Vesting, Programmaufsicht im Fernsehen, 2002, 181ff. Kelsen (Fn. 92), 10, 219.

115 https://doi.org/10.17104/9783406746154-91 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:45. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation I. Auslegung oder Konkretisierung? 1. Der Zugriff der neueren Methodenlehre

191 Die Kunst der Interpretation des Rechts, insbesondere die der Auslegung von geschriebenen Gesetzen und Gesetzestexten, steht heute im Zentrum der Methodenlehre, die sich als eigenständiger Typus juristischer Expertise in unmittelbarer Nähe zur Rechtsdogmatik etabliert hat (vgl. dazu näher Rn. 19ff.). Rechtsnormen können die Vielfalt ihrer Gebrauchs- und Anwendungsmöglichkeiten nicht umfassend antizipieren, sie bleiben unvollständig und interpretationsbedürftig. Die Methodenlehre beobachtet daher, wie Rechtsnormen und Gesetzestexte immer wieder auf neue Fälle und Lebenssachverhalte abgestimmt werden, um diesen Vorgang ihrerseits nach verallgemeinerungsfähigen Mustern abzutasten oder Inkonsistenzen bei der Rechts- und Gesetzesinterpretation aufzudecken. Dabei rücken in der herkömmlichen Methodenlehre in erster Linie die Gerichte in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit Auslegungsfragen sind im Rechtssystem zwar nicht nur die Gerichte befasst, sondern u. a. auch Anwältinnen (z. B. bei der Vertragsgestaltung), Verwaltungsangestellte (z. B. bei der Bearbeitung von Bauanträgen), Professoren (z. B. bei der dogmatischen Vor- und Nachstrukturierung von Gerichtsentscheidungen) oder Studierende (z. B. bei der Lösung von Fällen). Stellt man jedoch primär auf den staatlich organisierten Entscheidungsbetrieb ab, darauf, dass Rechtsnormen immer lokal und situativ zur Geltung gebracht werden, rückt unweigerlich die gerichtliche Interpretationspraxis in den Fokus der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Es sind ja vor allem Gerichte, die öffentlich zugängliches Fallmaterial – Gerichtsentscheidungen – produzieren. 192 Statt von „Methodenlehre“ wird auch von „hermeneutischer Wissenschaft“ und seit dem 19. Jahrhundert

von „juristischer Hermeneutik“ gesprochen. Als „Hermeneutik“ (von gr. hermeneuein) bezeichnete man ursprünglich die traditionelle rhetorische Kunstlehre des Verkündens, Erklärens und Auslegens von Botschaften. Hermeneia meint wörtlich die „Aussage von Gedanken“, und „Aussage“ kann hier neben Äußerung auch den Sinn von Erklärung, Auslegung und Übersetzung haben.1 Seit der wissenschaftlichen Revolution der Neuzeit und der Reformation entwickelte sich die Hermeneutik zunächst in theologischen Kontexten, prominent etwa bei dem protestantischen Theologen und Philologen Friedrich Schleiermacher (1786–1834), dessen Hermeneutik auf einer Reflexion des Vorgangs des Verstehens von Sprache und Texten beruhte. Sie war (und ist) hier Kunst der authentischen Interpretation einer nicht so ohne weiteres gesicherten Textgrundlage, der Bibel, insbesondere Interpretation des höchst problematisch und in mehreren Sprachen überlieferten Neuen Testaments.2 An die kritische und grammatikalische Methode der Schleiermach’schen Hermeneutik knüpfte die Interpretationslehre Savignys an. Im 20. Jahrhundert ist es vor allem die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, der es im Vorgang der Interpretation um die Freilegung eines Wissens geht, das anweist und Anerkennung verlangt; insbesondere die Kunst und das Kunstwerk fordern für Gadamer eo ipso Anerkennung und damit Geltung ein.3 Die neuere juristische Hermeneutik (Karl Larenz, Josef Esser u. a.) steht teilweise in der Tradition Gadamers, teilweise grenzt sie sich, wie etwa die juristische Methodik von Friedrich Müller und Ralf Christensen, als institutionelle „Rechtsarbeit“ bewusst vom geisteswissenschaftlichen „Verstehen“ ab (dazu unten Rn. 217ff.).

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Zur Begriffsgeschichte vgl. den Eintrag „Hermeneutik“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974. Dazu näher D. Weidner, Deutung und Undeutbarkeit, 2015i. E. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode (1960), 1990, 87ff., 90.

116 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Auslegung oder Konkretisierung?

Für die laufende Anpassung der geltenden Rechtsnormen an immer neue Fälle hatte 193 Friedrich Carl v. Savigny ein „regelmäßiges Verfahren“ gefordert und die Reflexionen darüber als Teil seines – die Methodenlehre selbst übergreifenden – „Systems des heutigen römischen Rechts“ – im Abschnitt über die Rechtsquellen – behandelt.4 Seit dem 19. Jahrhundert hat sich die Methodenlehre von anderen rechtswissenschaftlichen Fragestellungen weitgehend abgelöst. Heute läuft Methodenlehre praktisch darauf hinaus, Fragen der Rechtsinterpretation eng mit Fragen des Dirigierens von Gerichtsentscheidungen zu verknüpfen und im Grenzfall Rechtstheorie auf Methodenlehre zu reduzieren. Karl Larenz versteht unter Methodenlehre eine Reflexion der „Arten des Vorgehens“ der Rechtswissenschaft, die ihrerseits auf die Bearbeitung des positiven (geltenden) Rechts durch die Gerichte bezogen ist.5 Hans-Martin Pawlowski assoziiert mit juristischer Methode zuallererst „sichere Regeln für die juristische Arbeit“; auch bei ihm hat die juristische Arbeit vor allem die methodische Verarbeitung gerichtlicher Entscheidungen im Blick.6 Friedrich Müller versteht unter Methodik die „Analyse der Struktur rechtlicher Normativität und der grundsätzlichen Bedingungen juristischer Konkretisierung“,7 wobei juristische Konkretisierung auch hier Konkretisierung des Rechts durch die staatlichen Gerichte meint. Die Methodenlehre ist freilich keine homogene wissenschaftliche Bewegung, sondern 194 in unterschiedliche Lager und Schulen gespalten. Für einen ersten Zugriff können dabei das herkömmlicherweise dem rechtswissenschaftlichen Positivismus zugeschriebene „Anwendungs- und Subsumtionsmodell“ auf der einen Seite und das im Anschluss an die juristische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts formulierte „Konkretisierungsmodell“ auf der anderen Seite unterschieden werden. Im Anwendungs- und Subsumtionsmodell heißt Interpretation des Rechts: Anwendung des Gesetzes auf einen gegebenen Fall. Oder umgekehrt: Subsumtion des Tatsachenmaterials eines Rechtsfalls unter das Gesetz. Die Anwendung von Rechtsnormen und Gesetzestexten erfolgt hier im Wege eines logisch zwingenden Verfahrens, welches nach dem Muster des deduktiven Syllogismus (von gr. syllogizesthai, zusammenrechnen) als Schluss von einem weiteren auf einen engeren Begriff angelegt ist. Auch in diesem Kontext kommt die hierarchische Architektur des Weltbildes des Alten Europas zur Geltung: Der logische Schluss wird als Schluss von „oben“ nach „unten“ bzw. als Korrelation von „Obersatz“ und „Untersatz“ gefasst. Das berühmteste Beispiel für dieses Schlussverfahren lautet: „Alle Menschen sind sterblich“ (Obersatz), „Sokrates ist ein Mensch“ (Untersatz), „Sokrates ist sterblich“ (Schlussfolgerung). Das Anwendungs- und Subsumtionsmodell geht also davon aus, dass die Interpretation einer Rechtsnorm ein Wissen zum Vorschein bringt, das vorher schon in ihr enthalten ist, bzw. als Wille des Gesetzes zumindest unterschwellig im Gesetzestext artikuliert ist, nicht aber wird das Recht im Interpretationsakt durch neues, nicht schon im Gesetzestext vorhandenes Wissen angereichert. Die Entscheidung des Richters ist Erkenntnis, Nachvollzug, Rekonstruktion einer Weisung, quasi automatische Anwendung des Rechts oder des geschriebenen Gesetzes und daher vom Willen oder von der Willkür des Interpreten unabhängig. Paul Laband hat diese Bindung des Interpreten an das Gesetz um 1900 so beschrieben: „Die 4 5 6

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F. C. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts Bd. 1, 1840, 206ff., 207. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1991, 5, 195. H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 1999, Rn. 2, 8, 9 (mit der Feststellung, es gehe in der Methodenlehre um „wiederholbare Erkenntnisse“ für verschiedene Rechtsgebiete). Vgl. nur F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 1994, 241, vgl. auch 13 Fn. 2.

117 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

rechtliche Entscheidung besteht in der Subsumtion eines gegebenen Tatbestandes unter das geltende Recht, sie ist wie jeder logische Schluss vom Willlen unabhängig; es besteht keine Freiheit der Entscheidung, ob die Folgerung eintreten soll oder nicht; sie ergibt sich – wie man sagt – von selbst, mit innerer Notwendigkeit.“8 195 Dagegen besteht bei den Anhängern des Konkretisierungsmodells Einigkeit darüber, dass eine jenseits rein logischer Schlussverfahren angesiedelte juristische Argumentation vor allem auf Grund der Unbestimmtheit der Rechtsnormen unumgänglich ist. Texte sind immer inhomogen und auch Gesetzestexte können sich nie vollständig explizieren. Diese Annahme erscheint insofern zwingend zu sein, als es tatsächlich keiner den Auslegungsvorgang reflektierenden Methodenlehre bedürfte, wenn die Rechtsinterpretation vollständig deduktiv operieren könnte, wenn sie nichts weiter als logisch zwingende Subsumtion wäre. Jedenfalls geht die Methodenlehre heute mehrheitlich davon aus, dass die Rechtsinterpretation selbst produktiv ist, dass diese sozusagen ihre eigene Rechtsschöpfung ist; nur vereinzelt wird heute noch an einer strikt deduktiven Vorstellung von Rechtsanwendung festgehalten.9 Um diesen Unterschied zum rechtspositivistischen Anwendungs- und Subsumtionsmodell auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen, ist seit den 1960er Jahren statt von „Auslegung“ oder „Interpretation“ von „Rechtsgewinnung“, „Rechtsarbeit“, „juristischer Argumentation“ oder eben von „Rechtskonkretisierung“ die Rede.10 Teilweise werden „Auslegung“ und „Rechtskonkretisierung“ sogar als Antipoden gesetzt. Diese Entgegensetzung hat auch institutionelle Konsequenzen: Die nachpositivistische Methodenlehre räumt besonders der Rechtsfortbildung durch den Richter einen erheblich höheren Stellenwert ein und akzeptiert – zumindest in Maßen – ein eigenständiges, Präjudizien einschließendes Richterrecht als eigenständige Rechtsquelle.11 Zu den Anhängern des Richterrechts zählt auch das Bundesverfassungsgericht, das in einer älteren Entscheidung ausdrücklich von einer Befugnis des Richters „zu ‚schöpferischer Rechtsfindung‘“ gesprochen hat und diese Rechtsschöpfung bis heute selbst praktiziert, man denke nur an die „Erfindung“ von Grundrechten wie beispielsweise des „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“.12 2. Zum Methodenkanon

196 In der methodentheoretischen Literatur werden üblicherweise vier „Elemente“ oder „canones“ unterschieden: Grammatische, systematische, historische und teleologische Interpretation. Unter „grammatischer Interpretation“ – heute oft ungenau als am 8 9

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P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 2 (1911), 1964, 178. Etwa bei H.-J. Koch/H. Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, 14ff., in Form von „Kettendeduktionen“ und „Subsumtionsschritten“. Vgl. neben den Arbeiten der juristischen Hermeneutik (K. Larenz, C.-W. Canaris, R. Alexy, J. Esser, F. Müller u. a.) M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1976; A. Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, 1999; vgl. auch den Überblick bei U. Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland seit 1945, 1994, 145ff., 158ff. Vgl. nur W. Hassemer, Rechtssystem und Kodifikation: Die Bindung des Richters an das Gesetz, 2011, 251ff., 252f.; Kriele (Fn. 10), 243ff.; ambivalent J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972, 187ff., der einer der Promotoren der „judicial legislation“ im deutschen Sprachraum ist, Präjudizien aber als „vorgedachte Wertungsrelationen“ ansieht und ihnen offensichtlich den Verbindlichkeitsgehalt einer Rechtsquelle abspricht; bisweilen ablehnend Larenz (Fn. 5), 430 m.w.N. in Fn. 150. BVerfGE 34, 269, 286; weitere Nachweise zur Rechtsprechung des BVerfG bei F. Müller/ R. Christensen, Juristische Methodik Bd. 1, 2013, Rn. 23ff.

118 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

I. Auslegung oder Konkretisierung?

Wortlaut orientierte Interpretation bezeichnet – ist die buchstäbliche Bedeutung eines geschriebenen Wortes oder Rechtsatzes zu verstehen, der Wortsinn, der sich aus dem allgemeinen Sprachgebrauch ergibt. Die systematische Auslegung meint die Erschließung des Bedeutungszusammenhangs, das textuelle Umfeld, in dem eine einzelne Rechtsnorm steht. Die historische Interpretation fragt nach der Regelungsabsicht des historischen Gesetzgebers (Gesetzesmaterialien, Protokolle etc.), die teleologische Interpretation zielt auf die Ermittlung des (objektiven) Zwecks eines Gesetzes.13 Es ist allerdings nicht bei den vier Elementen geblieben, vielmehr ist es inzwischen zu einer weit darüber hinausgehenden Ansammlung unterschiedlicher neuer canones gekommen. Im Zivilrecht hat etwa die verfassungskonforme oder rechtsvergleichende Auslegung an Bedeutung gewonnen, im öffentlichen Recht sind beispielsweise die Abwägung (praktische Konkordanz) oder die europarechtskonforme Auslegung zum üblichen Methodenkanon hinzugetreten.14 Diese Entwicklung ist zunächst einmal zu akzeptieren. „Unter Bedingungen höherer Komplexität der Rechtskonflikte“, heißt es dazu bei Karl-Heinz Ladeur und Ino Augsberg zu Recht, „können die Canones der traditionellen Auslegungslehre ... allein nicht mehr als überzeugend angesehen werden.“15 Die einzelnen Interpretationsverfahren sollen nach allgemeiner Ansicht nicht isoliert 197 voneinander angewandt werden, sondern sich gegenseitig stützen und ergänzen. Allerdings wird der grammatischen Auslegung insofern eine Sonderstellung eingeräumt, als die am Wortsinn orientierte Interpretation des geschriebenen Gesetzes von vielen als äußerste Grenze möglicher Auslegungsvarianten angesehen wird. Der Wortsinn ist dabei sowohl „Ausgangspunkt“ für die richterliche Sinnermittlung als auch „Grenze“ seiner Auslegungstätigkeit.16 Aber was heißen hier „Ausgangspunkt“ und „Grenze“? Wenn ein Gesetz sagt, dass öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel spätestens 48 Stunden vor ihrer Bekanntgabe bei der zuständigen Behörde anzumelden sind (§ 14 Abs. 1 VersG), ist dann eine Anmeldefrist von 48 Stunden gemeint oder meint das Gesetz nur die faktische Möglichkeit, sich 48 Stunden vorher anmelden zu können? Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Zusammenhang mit der Problematik von Spontan- und Eilversammlungen mehrfach für die zweite Variante entschieden und sich dabei auf das Verfahren der verfassungskonformen Auslegung gestützt.17 Wie dieser Fall zeigt, kann mit dem Zusatzargument der verfassungskonformen Auslegung selbst der Sinn einer semantisch klar bestimmten Zahlengrenze (48 Stunden) gesprengt werden. Manche neuere Interpretationstheorie, wie etwa der neopragmatische Ansatz von Stanley Fish, lehnt die Vorstellung einer verständlichen, vom Akt der Interpretation unabhängigen buchstäblichen Bedeutung (literal meaning) sogar grundsätz13

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Zu den Details vgl. die ausführliche Behandlung bei Larenz (Fn. 5), 320ff.; F. Bydlinski, Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 2005, 11ff.; Koch/Rüßmann (Fn. 9), 166ff. Zur rechtsvergleichenden Auslegung vgl. nur Bydlinski (Fn. 13), 42ff.; zur allg. Entwicklung vgl. nur Esser (Fn. 11), 125ff. („Methodenpluralismus“ – mit Beispielen aus der Rechtsprechung des BGH); Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 31ff. und die dortige Analyse der Erweiterung des Methodenarsenals in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Einheit der Verfassung, verfassungskonforme Gesetzesauslegung, funktionell-rechtliche Richtigkeit, sachbestimmte Konkretisierungsaspekte z. B. bei Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG etc.); K. Larenz/C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, 163 (mit der Bemerkung, dass die heutigen Auslegungskriterien weit über Savigny hinausgingen). K.-H. Ladeur/I. Augsberg, Auslegungsparadoxien, Rechtstheorie 36 (2005), 143ff., 176. Vgl. nur Larenz (Fn. 5), 322; Müller (Fn. 7), 155 (Unersetzlichkeit der klärenden und stabilisierenden Funktion des Normwortlauts); ders./Christensen (Fn. 12), Rn. 308ff. BVerfGE 85, 69, 74f.; 69, 315, 350f.

119 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

lich ab. Wenn es bei Randy Newman heißt: „Short people got no reason to live“, könne man dies einerseits als Angriff auf kleine Leute verstehen, andererseits aber auch als selbstironische Beschwerde über die Unzulänglichkeiten des Lebens eines nach eigener Einschätzung zu klein geratenen Popsängers. Jedenfalls sei es der Akt der Interpretation selbst (und ihr Kontext), der den „Wortlaut“ herstelle, nicht aber sei dieser stabil im Textkörper vorgegeben.18 Ähnliche Überlegungen findet man bei Ino Augsberg. In einer texttheoretischen Perspektive wird hier die „Unlesbarkeit“ der Gesetze mit dem Imperativ ihres „Lesens“ verknüpft. Damit soll eine produktive Dynamik der gleichzeitigen Unlesbarkeit/Lesbarkeit der Rechtstexte freigestzt werden und so „die Möglichkeit zur Varianz und damit zur Fortentwicklung des Systems“.19 198 Auch wenn sich in Gerichtspraxis und methodentheoretischer Literatur kein abschließender Konsens über den Umgang mit dem Wortlautargument feststellen lässt, ist es in kulturwissenschaftlicher und medientheoretischer Perspektive nicht verwunderlich, dass der grammatischen Auslegung (von gr. gramma, Buchstabe) unter den Auslegungskriterien noch heute eine Sonderstellung eingeräumt wird. Das Haften am Buchstaben, der Versuch, den Text buchstäblich zu sichern, ist eine sehr alte Vorstellung, die eng mit der Erfindung der Buchstabenschrift und ihrer Ingebrauchnahme für dokumentarische Zwecke zusammenhängt. In Mesopotamien, wo die phonetische Schrift vermutlich ab dem späten 2. Jahrtausend v. Chr. verwendet wurde, wird diese Vorstellung wohl zuerst in der sogenannten Wortlautformel, „nichts wegnehmen, nichts hinzufügen“, konserviert; schon im 13. Jahrhundert v. Chr. heißt es in einem hethitischen Text, den Pestgebeten von Mursilis, mit Bezug auf einen auf Ton geschriebenen Vertrag: „Dieser Tafel aber fügte ich kein Wort hinzu, noch nahm ich irgendeines weg.“20 Auch die altisraelische Kultur pflegte die Bindung an den Wortlaut insbesondere der mosaischen Gesetze. „Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davontun, auf dass ihr bewahrt die Gebote des Herrn, eures Gottes, die ich euch gebiete.“21 Ferner kannte die Gesetzgebung der griechischen Stadtstaaten (poleis) seit frühester Zeit, etwa im Gortyn-Code, die strenge Verpflichtung des Magistraten auf das buchstäblich Geschriebene.22 Auch das römische Recht ist zunächst vermutlich an buchstabengenauer Auslegung orientiert.23 In einer dem römischen Juristen Marcellus (2. Jahrhundert n. Chr.) zugeschriebenen Digestenstelle heißt es, dass vom Wortlaut des Gesetzes nicht abgewichen werden dürfe.24 Außerdem sind weitere römische Rechtsregeln bzw. Rechtssprichwörter dieser Art überliefert, wie etwa der Satz, dass derjenige, der von einer Silbe abgehe, vom ganzen Text abgehe.25 Allerdings kannte das (spätere) römische Recht auch eine Reihe von Regeln, die das Gegenteil besagen, wie z. B. die Formel, dass die dem Wortlaut widersprechende Auslegung kein Unrecht schafft.26

199 Uneinig ist man sich in der Methodenlehre bis heute nicht nur über den (korrekten) Umgang mit dem Wortlautargument, sondern auch darüber, in welcher Reihenfolge und Kombination die Elemente der Auslegung zur Interpretation des Rechts herange18 19 20 21

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Vgl. nur S. Fish, Doing What Comes Naturally, 1989, 184f. I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009, 189. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, 236, 104 Fn. 23. Deuteronomium 4.2., vgl. auch 12. 32; dazu Assmann (Fn. 20), 221, der von einer Kanonisierung des Vertragstextes (Tora) als Grundlage „buchstäblicher“ Einhaltung spricht. K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 103 („being bound strictly by the wording of the law“); R. Thomas, Writing, Law, and Written Law, 2005, 41, 48. M. Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, 98, 138; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, 1988, 330 (formalistisches Haften am Wortlaut); M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971, 213 („die interpretatio geht zu Anfang von dem Wortsinn aus, den der allgemeine Sprachgebrauch ergibt“). Digesten 32.69 (A verbis legis non est recedendum). D. Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 1998, 187 (qui cadit a syllaba, cadit a toto), vgl. auch 129 (maledicta expositio, quae corrumpit textum: verwünschte Auslegung, die den Text verdreht), 238 (verbis legis tenaciter inhaerendum: an den Worten der Gesetze muss man hartnäckig haften). Liebs, ebd., 120 (legis constructio non facit injuriam); vgl. auch Digesten 44.7.38 (Non figura litterarum sed oratione quam exprimunt litterae obligamur). Nach Kaser (Fn. 23), 213, setzt sich die klassische Zeit offen über den Gesetzeswortlaut hinweg.

120 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Modellbildungen

zogen werden sollen.27 Konstatieren lässt sich insoweit allenfalls ein Minimalkonsens: So geht die ganz überwiegende Meinung davon aus, dass die Interpretation des Rechts und der Gesetzestexte den objektiv gültigen Sinn eines Rechtssatzes oder Gesetzes ermitteln soll, nicht den subjektiven Standpunkt des Gesetzgebers.28 Dadurch wird die Unbestimmtheit der Auslegung freilich noch weiter gesteigert. Die Erschließung des objektiv gültigen Sinns eines Gesetzes ist gegenwärtig vor allem an die teleologische Auslegung gekoppelt; das teleologische Verfahren ermöglicht es jedoch, dem Gesetz rechtspolitische, ökonomische oder sonstige Zwecke argumentativ zu unterlegen, die nicht in der Rechtsordnung selbst, sondern in den Strukturen des jeweiligen Praxisfelds oder Sachbereichs liegen.29 Damit eröffnen Objektivismus und Teleologie Möglichkeiten und Spielräume für einen nahezu ungefilterten Wirklichkeitszugriff. In welchem Umfang kann und darf die Interpretation auf Strukturen des Sachbereichs, etwa den etablierten Praktiken des Versandhandels, zurückgreifen? Darf der Zivilrichter heute beispielsweise danach fragen, welche ökonomischen Folgen es für die Prozessparteien und die Allgemeinheit haben kann, dass eine Produkthaftungspflicht des Automobilherstellers in dem Fall bejaht würde, in dem jemand von seinem eigenen Auto überfahren worden ist, weil sich die Automatik bei geöffneter Motorhaube und laufendem Motor selbst von der neutral-position in die drive-position geschaltet hat? Oder gilt hier: „Gerechtigkeit gibt’s im Jenseits, hier auf Erden gibt’s das Recht“ (William Gaddis). Die theoretische Erklärung und Einordnung derartiger Fragen und Unbestimmtheiten ist bis heute strittig. Das betrifft bereits die Frage, inwiefern die teleologische Methode Folgenberücksichtigung überhaupt zulässt,30 insbesondere wenn es um die Berücksichtigung ökonomischer Folgen geht.31 II. Modellbildungen 1. Im Rechtspositivismus

Der Rechtspositivismus teilte mit der neuzeitlichen Naturphilosophie die Annahme 200 der Produktivität einer deduktiven Systembildung, einer hierarchischen Abschichtung von Allgemeinem und Besonderem (vgl. Rn. 73ff., 83ff.). Der rechtswissenschaftliche Positivismus wollte die Gesamtheit des gegebenen Rechtsstoffs, der zerstreuten lokalen Rechte, des römischen Gelehrtenrechts, des Fürstenrechts usw., durch „Construction“ 27 28

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Esser (Fn. 11), 124; Larenz (Fn. 5), 322; ähnlich bereits Savigny (Fn. 4), 215. In der Rechtsphilosophie schon früh G. Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, 106ff.; Larenz (Fn. 5), 318 (allerdings eher unklar mit Einschluss des Willens des Gesetzgebers); anders etwa M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, 328ff. Larenz/Canaris (Fn. 14), 154 (Teleologie ist bezogen auf „Strukturen des geregelten Sachbereichs“, „Sachgemäßheit“ etc.); deutlicher noch Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 67e („Normbereichsanalyse“); W. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 11ff., 36ff. Zur Folgenorientierung vgl. etwa D. Grimm, Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, 1995, 139ff.; G. Hermes, Folgenberücksichtigung in der Verwaltungspraxis und in einer wirkungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, 359ff. Zur ökonomischen Folgenorientierung der ökonomischen Analyse des Rechts vgl. den Überblick bei F. Müller, Ökonomische Theorie des Rechts, 2009, 359ff., 351ff.; zur neueren Diskussion vgl. auch Ch. Kirchner, Methodiken für die judikative Rechtsfortbildung im Zivilrecht, 2012, Rn. 1252ff.; K.-H. Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels, RabelsZ 64 (2000), 60ff. m.w.N.

121 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

zu einer inneren „pyramidenförmigen“ Einheit „positiver“ Rechtssätze, einem homogenen System, umbilden und dabei insbesondere die unmittelbare Geltung von Moral und Politik im Recht ausschließen. Deshalb ließen Autoren wie Savigny, Puchta, Gerber, Windscheid oder Laband keinen Zweifel daran, dass die rechtswissenschaftliche Arbeit primär Konstruktion des Rechts im Sinne der hierarchischen Systematisierung des gegebenen Rechtsstoffes war – und erst im zweiten Schritt Interpretation, Anwendung des positiven Rechts auf den Fall.32 Erst die Schaffung eines dichten Zusammenhangs spezifisch juristischer Regeln und Begriffe, erst die deduktive Systembildung unter einer Idee oder einem obersten Grundsatz, d. h. die systematische Darstellung des Rechts durch strenge bewusste Gedankenverbindung, die Puchta mit der bewussten Arbeit eines Künstlers verglich,33 ermöglichte die Unterstellung, dass sich in jedem einzelnen Rechtsinstitut, etwa im Eigentum, ein freier (voraussetzungsloser) Wille artikuliere; und erst die Konstruktion des Rechtssystems, dass eine „Gabe“ als von einem „Dritten“ kommend konstruiert wurde, machte es möglich, den Interpreten auf Informationen festzulegen, die dieser lediglich aus dem System herauszulesen hatte. Etwas anders formuliert: Nur weil der Rechtspositivismus das Rechtssystem als Subjekt eines in sich vernünftigen und logisch (gedanklich) geschlossenen Kosmos von Rechtsnormen mit objektivem Geltungsanspruch konzipiert hatte (und damit später auch in der Praxis erfolgreich war), konnte er auch einen Interpreten konzipieren, der den wahren Sinn eines Gesetzes im Interpretationsakt erkennen und, wenn notwendig, den ganzen Inhalt seines Reichtums zu enthüllen vermochte.34 201 Man muss deshalb Konstruktion und Interpretation des Rechts deutlich voneinander trennen. Die weit verbreitete Ansicht, dass der rechtswissenschaftliche Positivismus eine von allen nichtjuristischen Elementen befreite „blinde“ Dogmatik gepflegt oder allgemeiner die soziale und historische Dimension aus seinen „logischen“ und „begriffsjuristischen“ Konstruktionen ausgeschlossen habe,35 ist ein Mythos der Nachkriegszeit. Eine derartig verkürzte und verfälschende Sicht auf den Rechtspositivismus kann nur dann entstehen, wenn manche Selbstkommentierungen des Rechtspositivismus, wie etwa Labands Vorwort zum deutschen Reichsstaatsrecht,36 eins zu eins für bare Münze, die konstruktiven Leistungen desselben Autors dagegen überhaupt nicht zur Kenntnis genommen werden. Eine Rekonstruktion des rechtswissenschaftlichen Positivismus ohne Berücksichtigung dessen, was er getan hat, nämlich im Medium des Buchdrucks juristische Systeme zu entwerfen, ist heute jedenfalls völlig unzureichend. Die Konstruktion des positiven Rechts als autonomes, in sich geschlossenes, deduktives System war gerade die Antwort, die der Rechtspositivismus auf die soziale Situation seiner Zeit formulierte. Das war klar auf den entstehenden Nationalstaat bezogen, dem der Rechtspositivismus ein einheitliches, an der Praxis orientiertes Recht geben wollte, in dem die Rechtswissenschaft und der wissenschaftlich arbeitende 32

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Für R. v. Jhering etwa war die Interpretation der Gesetze noch 1857 die „absolut niedrigste Stufe“ aller wissenschaftlichen Tätigkeit. Ähnlich hat es auch C. F. v. Gerber gesehen. Hier zitiert nach H.-P. Haferkamp, Methode und Rechtslehre bei Georg Friedrich Puchta, 2012, Rn. 234. Formulierung in Anlehnung an Savigny (Fn. 4), 319, 207 (Erkenntnis der Wahrheit); vgl. dazu auch K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74 (1988), 218ff., 220, der von einer Entsprechung des erlebenden und des reflektierenden Subjekts spricht. So z. B. Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 77ff. P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches Bd. 1 (1911), 1964, IX f.

122 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Modellbildungen

Richter selbst als Rechtsquelle angesehen wurden (und weniger der politische Gesetzgeber). Das mag man heute, in einem demokratischen Verfassungsstaat, kritisieren wollen, aber darin dachte der Rechtspositivismus durchaus politisch, nur eben innerhalb einer eigenen juristischen Form. Ebenso verfehlt wie der pauschale Vorwurf der „Realitätsblindheit“ ist die Ansicht, 202 dass der Rechtspositivismus die Interpretationslehre durchgängig nach dem Vorbild des Anwendungs- und Subsumtionsmodells, gewissermaßen als „Subsumtionsautomaten“ entworfen habe.37 Versteht man unter Subsumtionsautomat eine triviale Maschine, die Inputs (Gesetze) auf immer gleiche und wiederholbare Weise in Outputs (Urteile) transformiert,38 wäre die rechtspositivistische Methodenlehre auf das Schlussschema des deduktiven Syllogismus festgelegt gewesen. In der Mitte des 18. Jahrhunderts, so die Legende, habe schon Montesquieu das Verhältnis von legislativer und richterlicher Gewalt im 11. Buch von „De l’esprit des lois“ (1748) in einer derartigen Weise bestimmt: Von den drei Gewalten habe Montesquieu die richterliche Gewalt (puissance de juger) als in gewisser Weise gar nicht vorhanden erklärt (en quelque façon nulle); der Richter sei nur der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spreche (la bouche qui prononce les paroles de la loi), ein willenloses Wesen, das weder die Schärfe noch die Strenge des Gesetzes zu mildern vermöge.39 Solche Gedanken waren im frühen 19. Jahrhundert sicherlich auch in Deutschland präsent (Feuerbach, Schoemann, Grolmann u. a.), und zweifellos kannte auch der Rechtspositivismus einige dieser mechanistischen Ideen. Dazu gehörten etwa die Vorstellung von der Rechtsanwendung als einem dem naturwissenschaftlichen Denken vergleichbaren „Erkenntnisakt“ oder der ebenfalls weit verbreitete Gedanke vom „logischen Schließen“ als Ausdruck einer Bindung der juristischen Interpretation an allgemeine, zwingende Denkgesetze (vgl. dazu nur die oben zitierten Äußerungen Labands, Rn. 194). Dennoch lässt sich die Interpretationstheorie des rechtswissenschaftlichen Positivismus keineswegs auf das Anwendungs- und Subsumtionsmodell und seine logisch-erkenntnisförmigen Beweisführungsschemata reduzieren.40 Seit Savigny konstruierte der Rechtspositivismus immerhin umfangreiche Auslegungs- 203 regeln als Teil der eigenen Systementwürfe. Der Methodenkanon fungierte hier als Summe der Anweisungs- und Abstimmungsregeln, nach denen die Bedingungen der Empfänglichkeit des Rechtssystems für seine Umweltgegebenheiten im System selbst festgelegt wurden. Die Auslegung wurde also – ähnlich wie die Rechtsquelle – als Komponente eines Handlungssystems verstanden, als Komponente einer etablierten Rechtspraxis, nicht aber bildete der Methodenkanon einen quasi ontologischen Status 37

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Das unterstellt z. B. M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein ..., 2006, 20f.; zum Begriff des „Subsumtionsautomaten“ vgl. R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, 212 („mechanische Rechtsanwendungsvorstellung“) und allg. 292ff. Zum Maschinenbegriff und zur Unterscheidung von trivialer/nicht-trivialer Maschine vgl. H. v. Foerster, Prinzipien der Selbstorganisation im sozialen und betriebswirtschaftlichen Bereich, 1993, 233ff., 244ff. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze 1 (1748), 1992, 220, 225; vgl. dazu R. Ogorek, Die erstaunliche Karriere des ‚Subsumtionsmodells‘ oder wozu braucht der Jurist Geschichte?, 2002, und dies., De l’Esprit des légendes, 1983, 277ff. Auch der Rückgriff auf C. Beccaria, der im 4. Kap. seines Buches über Verbrechen und Strafen die Interpretation gleichsam wegdefiniert haben soll (der Richter, so diese Legende, habe bei jedem Urteil einen „vollkommenen Syllogismus“ zu vollziehen), ist nach Ogorek (Fn. 37), 40f., problematisch. Vgl. dazu nur Ogorek, ebd., 151ff.; J. Schröder, Recht als Wissenschaft, 2012, 211ff.

123 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

ab. Der Methodenkanon sorgte für die laufende Abstimmung und Mikrovariation des geltenden positiven Rechts auf und durch neue Sachverhalte und Fälle. Auch verknüpfte der Rechtspositivismus das positive Recht durchaus mit anderen gesellschaftlichen Regelbeständen und Konventionen einer arbeitsteiligen Kultur: Die grammatische Auslegung war ja gerade an die Darlegung der auch vom Gesetzgeber lediglich „angewendeten Sprachgesetze“ gebunden!41 Das Rechtssystem kannte also durchaus Möglichkeiten für apokryphes (verborgenes) Lernen, vorausgesetzt, dass sich die Gesellschaft und ihre detailreichen Praxisfelder nicht zu schnell und abrupt änderten. Um denselben Gedanken leicht zu variieren: „Man darf die logische ‚Subsumtion‘ nicht einfach beim Wort nehmen, sondern muss diese Konstruktion als operative Regel innerhalb des Rechtssystems konstruieren, die der Strukturierung der kognitiven Offenheit des normativen Systems und seiner Selektivität für Umweltkontakte dient.“42 204 Wie wenig sich die Interpretationstheorie des Rechtspositivismus auf das Anwendungs- und Subsumtionsmodell reduzieren lässt, zeigt auch das Feld der Gesetzesinterpretation. Die Gesetzesinterpretation hatte für den Rechtspositivismus bis in das späte 19. Jahrhundert hinein eher Ausnahmecharakter. Savigny sprach in diesem Zusammenhang von „legaler Interpretation“, im Unterschied zu der – für ihn im Zentrum stehenden – „doktrinellen“ oder „wissenschaftlichen Auslegung“, die sich auf das gemeine Recht, d. h. das ohnehin konstruktiv-wissenschaftlich bearbeitete römische Recht bezog.43 Aber selbst die Bindung des Interpreten an das Gesetz wurde keineswegs im Sinne der Bindung an einen politischen Befehl verstanden. Im Zentrum dieses Abschnitts stand vielmehr die „Reconstruktion des dem Gesetze innewohnenden Gedankens“; und diese rekonstruktive Arbeit war für Savigny „freie Geistesthätigkeit“,44 den Gedanken des Gesetzes im Denken von neuem Entstehenlassen. In dieser freien Geistestätigkeit war für den Rechtspositivismus durchaus – nicht anders als bei Schleiermacher – die Möglichkeit angelegt, einen Text besser zu verstehen, als sein Autor ihn selbst verstanden hatte.45 Mit der Anweisung, den Gedanken des Gesetzes im Anwendungsakt neu entstehen zu lassen, war das positive Recht also keineswegs auf einem einmal erreichten status quo eingefroren, sondern offen für eine in die Zukunft gerichtete Anwendungsgeschichte, die sogar den echten Lückenfall, den Auftritt eines neuen, bisher unbekannten Rechtsverhältnisses einschloss. Das „Verstehen“ des Gesetzes hatte seine Schranke allenfalls in dem nicht angemessenen Selbstbild als rekonstruktiver Vollzug einer Produktion zu gelten. 205 Dass der rechtspositivistische Subsumtionsautomat, das „Rechnen mit Begriffen“, ein nachträglich geschaffener Mythos der Methodenlehre des 20. Jahrhunderts ist, lässt sich auch am Beispiel des Lehrbuchs zum Pandektenrecht von Bernhard Windscheid (1817–1892) verdeutlichen. Windscheid unterschied grammatische, logische, objektive und Lücken bzw. Widersprüche aufhebende Interpretation. Auslegung sei Darlegung des mehr oder minder gegebenen Inhalts des Rechts und sowohl für das Gesetzes- als auch

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Savigny (Fn. 4), 214. Vgl. K.-H. Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht“ und Konventionsbildung in kognitivistischer Perspektive, ARSP 77 (1991), 176ff., 177. Savigny (Fn. 4), 206ff. Savigny, ebd., 213, 207; dieser Gedanke wurde später u. a. von Thibaut aufgegriffen; Ogorek (Fn. 37), 143f.; dazu auch J. Rückert, Methode und Zivilrecht beim Klassiker Savigny (1779–1861), 2012, Rn. 148ff. Zu Schleiermacher und der Geschichte dieses berühmten Satzes vgl. Gadamer (Fn. 3), 195; S. Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004, 106ff., sowie 17ff. zur Hermeneutik Savignys.

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II. Modellbildungen für das Gewohnheitsrecht notwendig.46 Die Gesetzesauslegung konnte grammatisch oder logisch erfolgen. Die grammatische Auslegung zielte primär auf die Feststellung des Sinns, welchen der Gesetzgeber mit den von ihm gebrauchten Worten verbunden hatte. Die Interpretation hatte sich hier, nicht anders als bei Savigny, unter Zuhilfenahme der Sprachgesetze möglichst vollständig in die „Seele des Gesetzgebers“ hineinzudenken; dabei, so Windscheid, sei sowohl der Zweck des Gesetzes als auch der Wert des Resultats zu berücksichtigen (hier hatte bereits der späte Jhering seine Spuren hinterlassen).47 Ging die Auslegung über die Anwendung der Sprachgesetze im Wege der „berichtigenden Auslegung“ hinaus, sprach Windscheid von logischer Auslegung.48 Darüber hinaus sah es Windscheid noch in der letzten Auflage des Pandektenrechts als „edelste und höchste Aufgabe“ der Auslegung an, den „eigentlichen Gedanken“, den der Gesetzgeber hatte ausdrücken wollen, hervorzuziehen.49 Das galt sowohl für das Gewohnheitsrecht als auch für das Gesetzesrecht. Erneut spielte ein rechtspositivistischer Autor damit ganz offensichtlich auf die Möglichkeit an, dass der Interpret einen Text besser verstehen konnte, als sein Urheber ihn selbst verstanden hatte. Es kann also keine Rede vom Interpreten als Subsumtionsautomaten sein. Windscheid führte vielmehr ein hohes Maß an Flexibilität in die Interpretation ein, ohne das eigentliche Ziel der Interpretation, eine gleichbleibende Rechtssicherheit, aus dem Auge zu verlieren. Larenz hat in diesem Zusammenhang bemerkt,50 dass Windscheids Interpretationstheorie nicht ohne Anleihen bei der objektiven Theorie ausgekommen sei. Das ist völlig richtig, aber weitaus weniger überraschend als Larenz selbst anzunehmen scheint: Entscheidend war für Windscheid nicht der Gehorsam gegenüber dem Gesetz, sondern der Gehorsam des Interpreten gegenüber seiner eigenen (juristisch geschulten) inneren Stimme. Auch für Windscheid war das positive Recht zweifellos fähig, im Kontakt mit der Praxis eine eigene Anwendungsgeschichte zu erzeugen. Diese Flixibilität der Rechtsinterpretation im Konkreten wurde gerade durch die im rechtspositivistischen System verankerte Interpretationstheorie möglich. Die subjektive Auslegungslehre, die der Rechtspositivismus angeblich gepflegt habe, ist dagegen Teil der Mythologie des nachpositivistischen „Wertedenkens“ des 20. Jahrhunderts, zu deren Verbreitung nicht zuletzt Larenz selbst beigetragen hat.

Das entscheidende Problem, dass die Interpretationslehre des rechtswissenschaftlichen 206 Positivismus aufwirft, liegt nicht in einer vordergründigen Abschließung der Rechtsinterpretation gegenüber der sozialen und politischen Realität, schon gar nicht in einer Abschließung gegenüber der Rechtspraxis. Keine Interpretationstheorie kann auf die Unterscheidung von rechtlich relevanten und rechtlich nicht relevanten Informationen verzichten; und dass es neben dem Recht noch andere Realitäten gibt, hat kein Rechtspositivist je bestritten. Das entscheidende Problem der rechtspositivistischen Interpretationslehre liegt auf der Zeitachse des Systementwurfs. Der rechtswissenschaftliche Positivismus operierte mit der (schon zu seiner Zeit eher unplausiblen) Annahme, dass die sich verändernden Kontexte der Interpretation durch ein der Temporalität enthobenes, wahre Erkenntnisse verbürgendes Interpretationsverfahren diszipliniert werden könnten. Der sich im Akt der Interpretation, im „fresh judgment“,51 zwangsläufig geltend machende Fluss der Dinge, der sich von Fall zu Fall verändernde Sachbereich, wurde als durch stabile Systemregeln selektierbar und damit als vollständig im positivistischen System kontrollierbar dargestellt: Entweder ist die quaestio juris eines Lebenssachverhalts bereits vom Juristenrecht bzw. von der politischen Gesetzgebung vorweggenommen, oder, wenn das nicht der Fall ist, kann zumindest der rechtskundige Anwender das Problem durch grammatische, logische, Lücken 46

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B. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts Bd. 1, 1906, 97ff.; zur Gesetzesauslegung bei Windscheid vgl. J. Rückert, Methode und Zivilrecht bei Bernhard Windscheid, 2012, Rn. 323ff.; ausführlich U. Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, 1989, 137ff. Windscheid (Fn. 46), 99, 100. Windscheid, ebd., 101, 102. Windscheid, ebd., 102. Larenz (Fn. 5), 317. Fish (Fn. 18), 505.

125 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

füllende oder gegebenenfalls analoge Auslegung im Sinne des deduktiven Systems bewältigen. Das System hat die Antwort – jedenfalls idealiter – immer schon parat. 207 Auf das Problem einer sich rascher wandelnden Gesellschaft reagierte bereits die teleologische Methode,

prominent von Rudolf v. Jhering als „Zweck im Recht“ thematisiert. Die teleologische Methode gewann erst im späten 19. Jahrhundert an Bedeutung. Bei den Begründern des Rechtspositivismus, wie etwa bei Savigny, kam die teleologische Interpretation noch nicht vor, zumindest bekommt sie einen eher beiläufigen Platz zugewiesen.52 In teilweiser Übereinstimmung mit Jherings Terminologie rückte das teleologische Denken vor allem in der Interessenjurisprudenz des späten Kaiserreichs (Philipp Heck, Max Rümelin u. a.) ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dem Gesetz wurde jetzt eine unmittelbar materiale, an sozialen Zwecken orientierte – heute würde man vielleicht sagen: steuerungstheoretische – Vorstellung unterlegt, die „Interessenkonflikte“ und ihre Bewertung in die Mitte der so bezeichneten „Rechtsfindungsmethode“ rückte. Das ging schließlich in der Freirechtsschule (Erich Fuchs, Eugen Ehrlich, Hermann Kantorowicz) mit einer Lockerung oder Auflösung der Gesetzesbindung zugunsten eines social engineering-Ansatzes einher.53 Die Krise der rechtspositivistischen Methodenlehre wurde nicht zuletzt in der staatsrechtlichen Diskussion der Weimarer Republik folgenreich. Insbesondere Carl Schmitt richtete alle Aufmerksamkeit auf die Unbestimmtheitsstellen des Rechtssystems, diagnostizierte eine zwischen dem Gesetz und seiner Anwendung liegende „auctoritatis interpositio“ und schlussfolgerte daraus, dass es für die „Wirklichkeit des Rechtslebens“ darauf ankomme, „wer entscheidet“.54

208 Das große Vertrauen in die durch die eigenen Auslegungsmethoden versprochene Sicherheit und Gewissheit der Interpretationsergebnisse konnte der Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts nur entwickeln, weil er dem Phänomen der Irreversibilität der Zeit, der Frage nach der Möglichkeit der Wiederholung desselben Sinns in einer anderen Situation, wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Jede Rechtsinterpretation muss auf Informationen zurückgreifen, die nicht in Rechtstexten gespeichert sind, sofern man den Textbegriff hier eng als expliziten Text, etwa als schriftliches Gesetz, versteht. Die Rechtsinterpretation muss diese Texte aber stets aufs Neue in einer anderen praktischen Situation, einem anderen Fall, zur Geltung bringen. Interpretation ist also stets rekursive Wiederverwendung schriftförmiger Information. Aber diese Wiederverwendung ist – entgegen dem ersten Anschein – nicht abschließend im Rechtstext zu finden, sondern notwendigerweise auf kontextabhängige Verwendungserfahrungen und praktisches Wissen angewiesen, das unterschwellig mitläuft und nicht vollständig expliziert werden kann. Die Kontexte werden also niemals eins zu eins wiederholt. Immer werden einzelne nicht wiederholbare Momente weggelassen, wird bewährter Sinn von einem Fall zum nächsten verschoben und damit verändert. Die Interpretation gehorcht mit den Worten Derridas, einer Logik der Iterabilität, „welche die Wiederholung mit der Andersheit verbindet.“55 Sie vollzieht stets – in Luhmanns Diktion – eine Doppelbewegung: Interpretation ist „Kondensierung“ von Sinn, d. h. Weglassen von nicht-wiederholbaren Momenten anderer Situationen, und zugleich dessen „Konfirmierung“, d. h. Generalisierung bewährten Sinns, ohne dass dieser Vorgang auf einen seiner beiden Aspekte reduziert werden 52

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Savigny (Fn. 4), 212ff., 228 (wo der „Grund“ des Gesetzes als Auslegungstopos in einer eher diffusen Weise herangezogen wird); vgl. dazu insgesamt Rückert (Fn. 44), Rn. 135ff. Vgl. dazu F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 451f. ( Jhering), 574ff. (Interessenjurisprudenz), 579ff. (Freirechtsschule); vgl. auch J. Rückert, Die Schlachtrufe im Methodenkampf – ein historischer Überblick, 2012, Rn. 1402ff. C. Schmitt, Politische Theologie (1922), 1985, 42, 46; zu diesem Motiv, das die Stimme gegenüber der Schrift des Gesetzes privilegiert, vgl. die glänzende Interpretation von H. Lethen, Verhaltslehren der Kälte, 222ff. J. Derrida, Randgänge der Philosophie, 1988, 333.

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II. Modellbildungen

könnte.56 Dagegen setzte der rechtswissenschaftliche Positivismus auf eine Sprachauffassung, in der die Sprache „nur Zeichen für den Gedanken“ war.57 Die Rechtstexte und ihre Körper waren im Selbstverständnis des Rechtspositivismus nicht Komponenten von Handlungen, von Mediengebrauch in mit Informationen gefüllten praktischen Situationen, sondern am Ende Oberfläche eines reinen (zeitenthobenen) Sinns. Und weil die Abhängigkeit des Sinns der schriftlichen Rechtsnormen von ihrem Gebrauch unreflektiert blieb, konnte sich die Interpretation – wie Kants transzendentales Bewusstsein – über ihre Kontextabhängigkeit, über die „Notwendigkeit zeitlicher Sequenzierung“,58 hinwegsetzen. Auch Kelsens dynamisches Modell eines stufenförmigen Rechtserzeugungszusammenhangs springt nicht über diese Hürde. Kelsen unterscheidet zwischen „generellen“ und „individuellen Rechtsnormen“.59 Individuelle Normen werden innerhalb eines als hierarchisch gedachten Rechtserzeugungszusammenhangs, dem „Stufenbau der Rechtsordnung“,60 aus generellen Normen gewonnen, so dass die strikte Entgegensetzung von Rechtsetzung und Rechtsanwendung relativiert wird: Rechtsgeschäfte, administrative oder richterliche Einzelfallentscheidungen werden als individuelle Normen bildlich am unteren Ende des Systembaus von „niederen“ und „höheren“ Stufen, diesseits von Verordnung, Gesetzgebung/Gewohnheit, Verfassung und Grundnorm angesiedelt. Trotz Kelsens Zurückweisung aller allzu simplen Modelle logischer „Deduktion“, seiner Kritik der „Fiktion“ einer einzig richtigen Auslegung,61 bleibt sowohl die Vorstellung einer „Steuerung“ der rangniederen durch die ranghöhere Ebene als auch der logische und genealogische Vorrang der generellen gegenüber der individuellen Entscheidungsnorm dominant. Die generelle Rechtsnorm bestimmt zwar nicht vollständig, aber doch rahmenförmig den Prozess der Generierung individueller Normen in einer unbestimmten Zahl von Fällen. Aber die Frage, wie diese Zukunftsbindung möglich ist, wie die Regel von Fall zu Fall mit sich selbst identisch bleiben kann, wird von Kelsen nicht gestellt, geschweige denn beantwortet. Dieses Absehen von der Regelpraxis aber ist ein Absehen von der prinzipiellen Irreversibilität der Zeit. Das teilt die generelle Norm Kelsens mit Kants Allgemeinheit des Gesetzes.

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2. Philosophische Hermeneutik

Gegen die rechtspositivistische Interpretationstheorie, gegen die Vorstellung einer 210 Richtigkeitskontrolle der Rechtsanwendung durch einen systemintern konstruierten Methodenkanon, setzt die hermeneutische Philosophie Hans-Georg Gadamers (1900–2002) die Einsicht, dass Interpretation stets ein „Dolmetschen“ ist, die Übersetzung eines Zeichens von einem Kontext in einen anderen. Interpretation ist zirkulär angelegt, jedes Verstehen, jeder Interpretationsakt, setzt notwendigerweise einen bereits erschlossenen „Sinn des Ganzen“ voraus.62 Wer verstehen will, was die Verfassung des Grundgesetzes heute meint, wenn sie Eigentum gewährleistet (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG), muss schon wissen, was Eigentum ist oder zumindest eine Idee davon haben, wie es zu dem geworden sein könnte, was es dann zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt ist. Aus diesem hermeneutischen Zirkel gibt es kein Entrinnen, auch nicht durch Kommentierungen von Gesetzestexten, denn diese müssen ihrerseits interpretiert und verstanden werden: Jede Interpretation verweist auf einen Verständ56 57 58 59

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N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 75. Windscheid (Fn. 46), 101. N. Luhmann (Fn. 56), 66, 75. Vgl. nur H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), 1994, 85, vgl. auch 20, 121 u. ö. in jeweils unterschiedlichen Zusammenhängen. Kelsen, ebd., 228ff. Kelsen, ebd., 346ff., 353; dagegen kritisch Jestaedt (Fn. 28), 49 Fn. 137. Gadamer (Fn. 3), 271; dazu J. Grondin, Einführung zu Gadamer, 2000, 125ff.

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§ 6. Interpretation

nishorizont jenseits der Rechtstexte und geschriebenen Gesetze, auf die Kontinuität einer „Geschichtlichkeit des Verstehens“,63 das akkumulierte Wissen einer historisch gewachsenen Kultur. Interpretation ist immer schon historisch, sozial und sachlich situiert, und über diese konkrete Zeit-, Gesellschafts- und Sachabhängigkeit gewinnt das hermeneutische Unternehmen Boden unter den Füßen. „Die hermeneutische Aufgabe geht von selbst in eine sachliche Fragestellung über und ist von dieser immer schon mitbestimmt.“64 211 Der hermeneutische Zirkel hat seinen Grund in der Natur der Sprache, die für die philosophische Hermeneutik das primäre Medium der Kommunikation, des Gesprächs, und aller Erfahrung ist. Während der Rechtspositivismus sprachphilosophisch gesehen in den Prämissen der Bewusstseinsphilosophie stecken bleibt, schafft die Hermeneutik den Sprung auf die Ebene des Mediengebrauchs: Sprache und Schrift sind die Mittel der hermeneutischen Erfahrung.65 Und so wie Sprechen für die pragmatische Sprachphilosophie seit Wittgenstein Handeln ist, ist auch die verstehende Auslegung für die Hermeneutik ein Tun, eine „Vollzugsform“.66 Diese Vollzugsform operiert nicht einfach rezeptiv, sondern produktiv. „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen.“67 Interpretation erschöpft sich nicht in der Rekonstruktion eines im Rechtstext zum Ausdruck kommenden Gedankens, sondern bedeutet – notwendigerweise – Vorentwurf, sachbestimmte, erwartungsgeleitete Sinnanreicherung. Erst im Vollzug dieses ständigen Neu-Entwerfens erfährt der Text seine eindeutige Bestimmung und Bestimmtheit. Ob die Tötung des Liebhabers der Schwester durch die von den Brüdern geplante Verabreichung von Gift (während eines gemeinsamen Mittagessens) die Merkmale der Mordqualifikation von § 211 StGB erfüllt, zeigt sich erst mit Blick auf den ganzen Fall: der Deutung des Geschehenen, nicht aber ist dessen juristische Einordnung als Mord oder Totschlag (§ 212 StGB) bereits abschließend durch das Gesetz beantwortet, wie etwa Cesare Beccaria im 18. Jahrhundert meinte, als er das strafrechtliche Urteil (zumindest rechtspolitisch) auf einen „vollkommenen Syllogismus“ reduzierte. 212 Während der Rechtspositivismus auf einen stabilen Methodenkanon setzt, um die auch von ihm nicht prinzipiell geleugnete Mehrdeutigkeit der (juristischen) Sprache zu bewältigen, kommt es in der Hermeneutik zu der Vorstellung einer situativen und sachbestimmten Anreicherung und ständigen Transformation des Sinngehalts von Rechtsnormen. Auslegung heißt „Konkretisierung des Gesetzes“ im Kontext eines jeweiligen Falles,68 Sinnproduktion im Akt der „Applikation“,69 Anwendung des zu ver63

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Gadamer (Fn. 3), 270; dazu G. Vattimo, Jenseits der Interpretation, 1997, 62 (mit der Bemerkung, dass der Akzent bei Gadamer gerade auf der Kontinuität liege, d. h. in der Unterstellung eines geschichtlich gewachsenen einheitlichen Sinnzusammenhangs). Gadamer (Fn. 3), 273. Gadamer, ebd., 383ff., 454, 478 („Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“); dazu Vattimo (Fn. 63), 16 („Bei Heidegger wird die Interpretation trotz allen Nachdrucks, den er, besonders in der Spätphase seines Denkens, auf die Sprache legt, vor allem unter dem Gesichtspunkt des Sinns von Sein betrachtet; bei Gadamer wird die Interpretation trotz aller Betonung der Ontologie vom Gesichtspunkt der Sprache aus gedacht.“). J. Habermas hat in diesem Zusammenhang treffend von einer „Urbanisierung der Heideggerschen Provinz“ gesprochen. Gadamer (Fn. 3), 271. Gadamer, ebd. Das heißt: Es gibt keine Fakten, es gibt nur Interpretationen. Gadamer, ebd., 335. Gadamer, ebd., 346 („Applikation ist nicht die nachträgliche Anwendung von etwas gegebenem Allgemeinen, das zunächst in sich verstanden würde, auf einen konkreten Fall, sondern ist das wirkliche Ver-

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II. Modellbildungen

stehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten. Da jeder neue Fall eine neue Applikation verlangt, verschiebt die Interpretation fortlaufend den Sinn von Regeln und damit auch von Rechtsnormen. „Das Allgemeine, unter das man ein Besonderes subsumiert, bestimmt sich eben dadurch selber fort.“70 Damit wird die im Rechtspositivismus unterstellte Möglichkeit einer strikten Trennung von Gesetz und Gesetzesanwendung, von Rechtsetzung und Rechtsauslegung, durch eine „tangled hierarchy“ (Douglas Hofstadter) ersetzt, und die Unterscheidung von Regel und Regelanwendung wird insofern relativiert bzw. aufgegeben, als die Unvermeidbarkeit und Notwendigkeit „produktiver Rechtsergänzung“ im Akt der Interpretation anerkannt wird.71 Wenn aber die Methode die Sicherheit und Gewissheit der richtigen Interpretation nicht gewährleisten kann, bleibt dann nur noch die jeweilige Ansicht des Rechtsinterpreten, z. B. die Ansicht des einen konkreten Fall entscheidenden Richters? Ist die Hermeneutik eine Theorie, die an die Stelle der objektiven Rechtserkenntnis subjektive Meinungen oder gar beliebige Wertungen einzelner zur Entscheidung befugter Personen setzt, insbesondere die Vorstellung der produktiven Rolle der Rechtsanwendung? Kann man wirklich sagen, dass der „Schein der Objektivität der Gesetzesauslegung ... von der philosophischen Hermeneutik endgültig und unwiderruflich zerstört“ wird?72 Vor einer derartigen Darstellung der Hermeneutik ist dringend zu warnen. Der Her- 213 meneutik geht es keineswegs um die Selbstreflexion des Interpreten bei der Auslegung von Rechtstexten oder um die Ersetzung von Erkenntnis durch Meinung. Die Hermeneutik will nicht das subjektive Meinungswissen des Interpreten hinterfragen, sie ist keine Richtersoziologie, sondern unterstellt sehr viel radikaler und grundsätzlicher die Erschütterung der stabilen Wahrheitsvorstellungen, von denen noch der Rechtspositivismus ausgegangen war. Weil Wahrheit, Erschlossenheit von Sein, in der Hermeneutik von der Sprache und damit vor allem von Schrifttexten abhängig wird, existiert die Erfahrung von Wahrheit überhaupt nur im Medium von Sprache und Schrift,73 als sich in der Welt, in Gesprächen und Texten (und nicht nur im Bewusstsein oder im Geist) artikulierendes Wissen. Die Hermeneutik hat daher weitreichende erkenntnistheoretische Konsequenzen. Sie ist kritisch gegen die abstrakten Vernunftskonstruktionen der Aufklärung gerichtet, auf denen letztlich auch das rechtspositivistische Systemdenken beruht, die Vorstellung einer Einheit der Vernunft, des Gesetzes und der Rechtsordnung. Gadamer misstraut der (cartesianischen und idealistischen) Philosophie des (transzendentalen) Subjekts, er misstraut vor allem der Unterstellung der Möglichkeit einer Voraussetzungslosigkeit des Denkeinsatzes; er teilt, anders herum gesagt, mit Hegel und Heidegger die Kritik am kantischen Subjektbegriff und die Skepsis im Hinblick auf die Möglichkeit der Letztbegründung sicheren Wissens im Selbstbewusstsein. „Das Subjekt ist nicht Träger des Kantischen Apriori, sondern Erbe einer geschichtlich-endlichen Sprache, die seinen Zugang zu sich selbst und zur

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ständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist.“), vgl. auch 312; siehe auch Jestaedt (Fn. 28), 143. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode Bd. 2, 1993, 455; ders. (Fn. 3), 314 („Ein Gesetz will nicht historisch verstanden werden, sondern soll sich in seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkretisieren ... Das schließt ... ein, dass der Text ... wenn er angemessen verstanden werden soll ... neu und anders verstanden werden muss.“). Gadamer, ebd., 335. So U. Neumann, Rechtsanwendung, Methodik und Rechtstheorie, 2009, 87ff. Vattimo (Fn. 63), 18 („Erfahrung von Wahrheit gibt es überhaupt nur als interpretativen Akt.“).

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§ 6. Interpretation

Welt erst ermöglicht und bedingt.“74 Die Hermeneutik insistiert also gerade auf dem Ereignischarakter einer jeden Wahrheitserfahrung, auf der Abhängigkeit der Interpretation von einer historisch unabschließbaren Zirkelbewegung des Verstehens. Die Hermeneutik beginnt nach der „endlos langen Schwächung des Seins“,75 sie ist ein Produkt postontologischen Denkens, und dadurch erfahren nicht nur der sachliche Kontext des konkreten Einzelfalls, sondern auch und vor allem die Zeitgebundenheit jeder Rechtsinterpretation eine weit über das rechtspositivistische Selbstverständnis hinausgehende Bedeutung. 214 Folgt man diesen Ausgangsannahmen der hermeneutischen Philosophie ist jeder Rekurs auf ein Regelsystem mit stabilen Selbstanwendungsregeln jenseits eines sich in der Geschichte laufend verschiebenden Sinnhorizonts versperrt. Einfacher gesagt: Rechtsinterpretation als solche, als zeitenthobenes Faktum, gibt es für die Hermeneutik nicht. Dennoch wird der Objektivitätsanspruch der rechtspositivistischen Interpretationslehre in der Hermeneutik nicht einfach durch Meinungswissen oder Geschmacksurteile ersetzt.76 An die Stelle systemintern konzipierter Auslegungsregeln tritt in der Hermeneutik die Vorstellung der Kontinuität eines kulturellen Überlieferungszusammenhangs, eines kontinuierlichen Traditionsstroms objektiv gewordener, tatsächlich gesprochener oder geschriebener Worte und Sätze. Über seine Verstricktheit in das Gewebe der Sprache und der mit ihr gekoppelten Medien ist der Interpret immer schon Teil dieser historisch gewachsenen Sprachgemeinschaft, partizipiert das Verstehen von Anbeginn an in einer in der Sprache lebenden Tradition und Kultur. Zu dieser Gemeinschaft und Tradition gehören nicht zuletzt legitime Vorurteile, d. h. anerkennungswürdige Autorität. Autorität ist keine Sache von Gesetzesbefehl und Gehorsam, sondern in Praktiken, in Überlieferungen, im Herkommen, in Sitten und Gewohnheiten verankert, und die Kontinuität dieses historisch gewachsenen Überlieferungszusammenhangs, diese „namenlos gewordene Autorität“77, übersteigt schon immer einzelne subjektive Erfahrungen. 215 Von hier aus bestimmt sich die Bedeutung des für die Hermeneutik zentralen Begriffs des „Vorverständnisses“.78 Gadamers Begriff des Vorverständnisses, der an Martin Heideggers Vorstellung von „Geworfenheit“ anknüpft, ist ein an Geschichtlichkeit gebundenes, stets sozial situiertes und der Geschichte ausgeliefertes Vorverständnis. Das Vorwissen, die Vorentschiedenheit, ohne die keine Interpretation auskommt, ist in einer historischen Sinnerwartung bzw. einem Vorurteil zu suchen, die den gemeinsam geteilten Sinn aller Gesprächsteilnehmer und Leser voraussetzt und sichert: „das wirkliche Verständnis des Allgemeinen selbst, das der gegebene Text für uns ist“.79 Auch in der Hermeneutik bleibt die Interpretation also an objektive Wissensbestände, an be74

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Vattimo, ebd., 24; Ladeur, (Fn. 34), 63; M. Hofer, Die „Abdämpfung der Subjektivität“, Zeitschrift für philosophische Forschung 54 (2000), 593ff. Vattimo (Fn. 63), 30. Im Gegenteil: Dem Ästhetizismus und dem ästhetischen Bewusstsein – dessen Subjektivismus und dessen diskontinuierlichen und a-historischen Zügen – gilt Gadamers Kritik. Gadamer (Fn. 3), 285. („... daß durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte hat eine namenlos gewordene Autorität und unser geschichtliches endliches Sein ist dadurch bestimmt, daß stets auch Autorität des Überkommenen und nicht nur das aus Gründen einsichtige über unser Handeln und Verhalten Gewalt hat ... Die Wirklichkeit der Sitten zum Beispiel ist und bleibt in weitem Umfang eine Geltung aus Herkommen und Überlieferung.“). Gadamer, ebd., 273ff. Gadamer, ebd., 346.

130 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Modellbildungen

währten Sinn, an Selbstverständlichkeiten, an eine gemeinsame Kultur gebunden.80 Rechtskonkretisierung ist auch für die Hermeneutik – bei aller Anerkennung ihrer Produktivität – an einen Rechtstext (im weiten Sinne) gekoppelte Auslegung, nicht Erfindung eines ganz anderen Textes, Freilegung eines hinter dem Text verborgenen Sinns. Wenn Gadamer von einer „gerechten Erwägung des Ganzen“ spricht, zu der jeder Richter oder Anwalt imstande sei, der sich in die „volle Konkretion der Sachlage“ vertieft habe,81 dann ist die Richtigkeit der verstehenden Auslegung gerade dadurch gesichert, dass das Vorverständnis des Interpreten als interface zwischen dem interpretierenden Subjekt und der Einheit und Kontinuität des kulturellen Überlieferungszusammenhangs fungiert. „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Focus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des Einzelnen weit mehr als seine Urteile, die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins.“82 Dass die Interpretation in einem gemeinsamen Vorverständnis verankert ist, heißt für 216 die Hermeneutik mit anderen Worten, dass die Kunst der Auslegung von Texten an gemeinsame Wissensbestände gebunden ist, wie sie sich nach Gadamer z. B. in Begriffen wie Bildung, sensus communis, Urteilskraft und Geschmack manifestieren, sofern diese Begriffe richtig verstanden, d. h. nicht aufklärerisch intellektualisiert werden.83 Das sollte man nicht einfach als „Konservatismus“ interpretieren. Die Bindung der Interpretation an ein Vorverständnis führt nicht zu einer leichtgläubigen Verteidigung des Herkömmlichen, sondern – mit Hegel – zur Aufgabe einer bewussten (freien) Fortgestaltung der Überlieferungszusammenhänge. Das Subjekt agiert im Schatten eines „kulturellen Erbes“: Die eigenen Erfahrungen sind von vornherein in ein dichtes Netz von Traditionen verwoben, der einzelne Interpret immer schon Teil der hier geltenden Autoritäten: Diese Kontinuität gilt es in der Vollzugsform der Interpretation fortzuführen, nicht aber geht es der Hermeneutik um die endgültige und unwiderrufliche Zerstörung des Scheins der Objektivität der Gesetzesauslegung. Mit all diesen Überlegungen reagiert die Hermeneutik sehr viel konsequenter als der 216 a Rechtspositivismus auf das Phänomen der Irreversibilität der Zeit und eine sich rasch verändernde Gesellschaft. Aber ihr Problem bleibt ein doppeltes: Zum einen konfrontiert die Hermeneutik die notwendige Selektivität der Rechtsinterpretation, die Unterscheidung von rechtlich relevanten und rechtlich nicht relevanten Tatsachen, mit einer unspezifischen Öffnung für den „Sinn des Ganzen“ im Interpretationsakt. Zum anderen zwingt diese unspezifische Öffnung die Hermeneutik dazu, den sozialen Wandel 80

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Wie sehr es Gadamer um eine objektive Fundierung der Hermeneutik in einem als historisch begriffenen Vorverständnis geht, zeigt etwa auch seine Kritik an Schleiermachers „ästhetischer Metaphysik der Individualität“. Bei Schleiermacher wird die Geschichte zum Schauspiel freier Schöpfung, göttlicher (genialischer) Produktivität, und gerade dies ist mit einer vollen Entfaltung einer geschichtlichen Geisteswissenschaft, als die sich Gadamers Hermeneutik versteht, unvereinbar: Schleiermacher ordnet das Allgemeine historischer Zusammenhänge einer bestimmten Auffassung von Texten, deren (heilige) Autorität feststeht, unter. Vgl. Gadamer, ebd., 188ff. Gadamer, ebd., 335. Gadamer, ebd., 281. Vgl. Gadamer, ebd., 15ff.; vgl. auch Grondin (Fn. 62), 152ff.

131 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

im Rahmen einer Homogenitätserwartung zu verarbeiten, die mit der modernen (liberalen) Gesellschaft, die ganz unterschiedlichen Funktionslogiken, Praxiszusammenhängen, technischen Dispositionen und Rationalitäten folgt, nicht so ohne weiteres vereinbar sein dürfte. 3. Juristische Hermeneutik

217 Obwohl Karl Larenz (1903–1993) das Verstehen sprachlicher Äußerungen ausdrücklich in den Mittelpunkt seiner Methodenlehre rückt und sich dabei wiederholt auf Gadamer beruft,84 unterläuft er doch das durch die Hermeneutik explizierte Problemniveau: Der hermeneutische Zirkel und die darin angelegte Notwendigkeit der Reflexion des Vorverständnisses, des „kulturellen Erbes“, wird auf den gemeinsamen Sozialisationsprozess von Juristen projiziert.85 Zugleich wird die Ordnungsleistung des Gesetzes als eine unabhängig von der Gesetzesanwendung existierende Repräsentation eines stabilen normativen Willens insgesamt nicht in Frage gestellt.86 Letzteres hängt wohl auch damit zusammen, dass Larenz den hermeneutischen Zirkel auf die Relation von (einzelnem) Wort und (gesamtem) Sinnzusammenhang eines Textes einengt,87 nicht aber, wie es konsequent und im Sinne der Hermeneutik einzig richtig wäre, auf die Differenz von schriftbasiertem Textkörper und Interpretation. Ähnlich unbefriedigend ist die Auflösung des hermeneutischen Zirkels in der Diskurstheorie von Robert Alexy. Die Erschütterung eines festen Beobachterstandpunkts durch den hermeneutischen Zirkel wird zwar akzeptiert,88 die dadurch auftretende Leerstelle aber sogleich durch die Begründungsprozedur des juristischen Diskurses gefüllt. Danach lässt sich der mit der Interpretation des Rechts grundsätzlich verbundene Anspruch auf Richtigkeit durch „die intersubjektiv zugängliche und deshalb objektiv überprüfbare argumentative Prozedur“ einlösen.89 An die Stelle des „positiv-rechtlichen Gesetzbuches“ tritt hier lediglich „das ideale Gesetzbuch der praktischen Vernunft.“90 Der Objektivitätsanspruch des rechtspositivistischen Systems lässt sich aber nicht durch die Annahme von anthropologisch tief sitzenden Regeln, durch die Vorstellung einer zwischen den Subjekten angesiedelten Universalpragmatik wiederherstellen. Oder allgemeiner: Der Systembegriff kann schwerlich durch einen Relationsbegriff (Intersubjektivität) ersetzt werden.91 218 Dagegen schneidet Josef Esser die Probleme der Rechtsinterpretation sehr viel schärfer auf das von der Hermeneutik in den Mittelpunkt gestellte Problem der Zeitlichkeit allen Verstehens zu: Die Informationen, die der Interpret zur Lösung eines Falles benö84 85

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Vgl. nur Larenz (Fn. 5), 206ff.; vgl. auch Larenz/Canaris (Fn. 14), 63, 298. Vgl. insbesondere Larenz (Fn. 5), 185 („Sein ‚Vorverständnis‘ ist das Ergebnis eines langwierigen Lernprozesses, in den sowohl die während seiner Ausbildung oder später erworbenen Kenntnisse, die mannigfache berufliche und außerberufliche Erfahrung, vor allem solche über soziale Tatsachen und Zusammenhänge, eingegangen sind.“). Kritisch auch Ladeur (Fn. 31), 69; M. Pöcker, Stasis und Wandel der Rechtsdogmatik, 2007. Larenz (Fn. 5), 206. Vgl. R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 1995, 75ff. Alexy, ebd., 79 (Hervorhebung von mir, T. V.). R. Christensen/K. D. Lerch, Performanz, 2005, 55ff., 61, vgl. auch 62 („Die Idee eines der Rechtserkenntnis vorgegebenen idealen Gesetzbuches wird damit nicht aufgegeben, sondern nur in die sprachliche Begründungsdynamik zurückgenommen.“). Für eine ausführlichere Auseinandersetzung vgl. Ladeur (Fn. 31), 73ff.; Christensen/Lerch (Fn. 90), 61f.

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II. Modellbildungen

tigt, können weder abschließend dem verschrifteten Gesetz noch einem mehr oder weniger abstrakten Kanon von Auslegungsregeln entnommen werden. Die Entscheidungsfindung ist immer von ihrem zeitlichen und sachlichen Kontext abhängig, vom „Durchgriff auf die so genannte Sachlogik, die Natur der Sache und die unleugbaren Lösungsbedingungen der jeweiligen Ordnungsaufgabe in ihrem Zusammenhang“.92 Rechtsinterpretation orientiert sich am Ergebnis, an der Lebensnähe und Konsensfähigkeit einer Lösung. Sie ist nicht Produkt der subsumierenden Rechtserkenntnis, sondern einer fallgesteuerten Rechtsüberzeugung, des Durchgriffs auf „evidente“ Vernünftigkeit; die subsumierende Rechtserkenntnis, die Logik der deduktiven Schlussmöglichkeiten, dient also eher der Darstellung denn der Herstellung von Rechtsentscheidungen. „Die Praxis ... geht nicht von doktrinären ‚Methoden‘ der Rechtsfindung aus, sondern benutzt sie nur, um die nach ihrem Rechts- und Sachverständnis angemessene Entscheidung lege artis zu begründen.“93 Der Rechtstext interessiert den Interpreten nicht als abstraktes Meinungszeugnis, „sondern als ein für die Entscheidung sinnvolles Weisungsmuster“.94 Rechtsinterpretation kommt daher nicht ohne die Einhaltung vernünftiger und sachlich einsichtiger Maßstäbe gerechter Ordnung aus. Sie operiert mit ihrerseits nicht im Recht verankerten Infrastrukturen, die als zeit- und gesellschaftsabhängiger Erwartungs- und Verständnishorizont, als stets selektives Vorverständnis, vorausgesetzt werden müssen. „Die Interpretation, die schon in der Würdigung der Fakten selektiv vorgeht, arbeitet mit einem selektiven Vorverständnis auch bei Befragen des Vorrats an Regelungsmustern und Normen. Die Grundsätze, mit denen die Jurisprudenz eben diese selektive Arbeit leistet, sind Gerechtigkeits- und Arbeitsprinzipien, die nicht ihrerseits wieder aus dem positiven Recht entnommen werden können.“95 Etwas allgemeiner formuliert wird die Vollzugsform der Interpretation bei Esser an 219 den Vorgriff auf eine erst herzustellende und jeweils historisch situierte gemeinsame Vorstellung von Gesellschaft und Gerechtigkeit gebunden.96 Damit wird das Problem des hermeneutischen Zirkels sehr viel genauer als etwa bei Larenz reflektiert: Es sind nicht die gemeinsamen professionellen Erfahrungen der Juristen und schon gar nicht das Rechtsdenken einzelner Richter, auf die Essers Begriff des Vorverständnisses zielt. Das Vorverständnis, das Grundlegende und Wegweisende, entnimmt Esser vielmehr der Wirklichkeit selbst – und d. h. genauer: dem Gebrauch der Sprache und der damit verknüpften praktischen Wissensbestände.97 Esser akzentuiert vor allem die Gebundenheit der Interpretation an praktische Erfahrungen und einen sich daraus speisenden Erwartungshorizont, aus dem der Rechtsanwender nicht heraustreten kann. Dies gilt sowohl für seine Verständnis- als auch für seine Urteilsmöglichkeit. Rechtsinterpretation ist nur denkbar als „Abtasten und Vorwegnehmen möglicher Auslegungen nach Gesichtspunkten der Überzeugungskraft“, als Suche nach einem immer erst herzustellenden Rechtsverständnis, das sich aus der Berücksichtigung der Werte und Ein92

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Esser (Fn. 11), 26f.; zum Werk und zur Methodologie Josef Essers vgl. auch allg. J. Köndgen, Josef Esser – Grenzgänger zwischen Dogmatik und Methodologie, 2007, 103ff., 110ff. Esser (Fn. 11), 80, 7 (Zitat); vgl. auch Hoffmann-Riem (Fn. 29), 23f. Esser (Fn. 11), 139. Dann muss dies auch theoretisch genauer als durch den Rekurs auf die dem Richter eigene „Wertungsperspektive“, seine „provisorische(n) Vorbewertungen oder Vorurteile“, abgebildet werden. Esser, ebd., 134, vgl. auch 17 und 141. Esser, ebd., 23. Esser, ebd., 21; zur Bedeutung der Sprache bei Esser vgl. nur ebd., 134, 137.

133 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

stellungen der an der Rechtsfindung beteiligten „gesellschaftlichen Gruppen“ ableitet98 – und nicht aus dem allgemeinen Gesetz. 220 Das Vorverständnis ist also in einer öffentlichen Einrichtung, der Sprache und ihrer kulturellen Verweisungszusammenhänge, fundiert und an einem überindividuellen Ordnungszweck, dem vorweg konzipierten Auslegungsziel des Gerechten und Vernünftigen, orientiert. Interpretation, Vorverständnis und Entscheidung sind – wie bei Gadamer – unauflöslich miteinander verknüpft. Es werden bestimmte Ordnungsfragen an Rechtssätze und Rechtstexte herangetragen und die mögliche Weisungsbedeutung des befragten Textes herauspräpariert, ohne die sich der Regelungssinn eines Ausdrucks der Rechtssprache überhaupt nicht erschließen lässt; die Norm an und für sich – außerhalb konkreter Verwendungskontexte – besagt alles und nichts, wie sich an beliebigen Beispielen, etwa am Begriff der „Würde des Menschen“ in Art. 1 Abs. 1 GG demonstrieren lässt: Manche Gerichte sehen die Würde des Menschen schon durch Peep-Shows verletzt, andere erst in Guantanamo-Bay. Für die Rechtsinterpretation ist also nicht die systeminterne Verankerung und Pflege von Auslegungsregeln ausschlaggebend (wie im Rechtspositivismus), sondern die konkrete Sinnerwartung, mit der die Interpretation jeweils an zu interpretierende Fälle und Texte herantritt. Es geht bei Esser also letztlich um die Akzentuierung des Einflusses finaler Entscheidungsvorstellungen im Prozess der Rechtsfindung. „Es werden mögliche Ergebnisse vorweg ins Auge gefaßt, und an ihnen wird die Verstehbarkeit des Textes ausgemacht.“99 221 Esser hat seine Überlegungen zur Rechtsfindung vor allem an Beispielen aus dem Zivilrecht, der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und durch rechtsvergleichende Studien u. a. aus dem Rechtskreis des Common law belegt.100 Eine damit vergleichbare, an der Problematik des hermeneutischen Zirkels geschulte Hinwendung zu einer praxisorientierten Interpretationstheorie, die sich aber am öffentlichen Recht und hier insbesondere an der Methodik und Praxis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientiert, findet sich in der von Friedrich Müller entworfenen strukturierenden Rechtslehre. Die methodologischen Grundeinstellungen sind hier ähnlich wie bei Esser. Unter Rekurs auf Gadamer, Wittgenstein und Derrida wird einerseits die Vorstellung der lex ante casum angegriffen, die Unterstellung, dass die Norm schon vor der Konfrontation mit dem Fall gegeben sei.101 Zum anderen wird dem Rechtspositivismus vorgeworfen, sich zu wenig auf Sachstrukturen einzulassen und die „sachhaltigen Implikationen der Rechtsnormen und ihrer Regelungsbereiche selbst“ aus dem Interpretationsvorgang auszuschließen.102 Beides ist für die strukturierende Rechtslehre inakzeptabel. Der Grund der rechtlichen Bedeutungen liege im praktischen Regelgebrauch, nicht in einer von der Wirklichkeit (Sein) abgelösten Regel (Sollen). Die praktische Arbeit der Juristen – gemeint ist hier primär die Arbeit der Gerichte – sei „auf eine in Regeldetermination nicht auflösbare Weise schöpferisch“.103 Dieses Moment 98 99 100

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Esser, ebd., 140. Esser, ebd., 139. Vgl. dazu insbesondere J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts (1956), 1990, 141ff., 327ff. Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 471; dazu auch F. Laudenklos, ‚Juristische Methodik‘ bei Friedrich Müller, 2012, Rn. 1081ff., 1091ff. Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 79. Müller/Christensen, ebd., Rn. 214. Es wird also auch bei Müller/Christensen – ähnlich wie bei Larenz – auf die Entscheiderebene abgestellt; vgl. nur ebd., Rn. 276.

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II. Modellbildungen

der Eigendetermination der Rechtsinterpretation will die strukturierende Rechtslehre durch ein Modell „sachbestimmter Normativität“ erhellen, in der die Norm als „sachbestimmtes Ordnungsmodell“ entworfen wird.104 Für Müllers nachpositivistische Rechtsnormtheorie ist zunächst wesentlich, dass sie 222 das Ordnungsmodell des allgemeinen Gesetzes nicht einfach zugunsten einer einzelfallorientierten Rechtsnormkonkretisierung ersetzen will. So wie Essers Vorverständnis und Methodenwahl nicht um freie Rechtsschöpfung im Sinne einer kasuistischen Billigkeitswillkür kreist, sondern um die Sicherung der Regelhaftigkeit und Wiederholbarkeit von Rechtsentscheidungen durch ihre Orientierung an einem praktischen Ordnungsinteresse, an Sachgerechtigkeit und Konsensfähigkeit,105 sucht auch Müller u. a. nach stabilen Verfahren der Rechtsinterpretation. In der strukturierenden Rechtslehre soll diese Stabilität eine „Rechtserzeugungsreflexion“ im Sinne einer „Analyse der Struktur rechtlicher Normativität“ leisten.106 Träger dieser Rechtserzeugungsreflexion ist ein nicht gerade übersichtliches Modell von Konkretisierungselementen, durch das Normtext und Sache (Wirklichkeit) aufeinander bezogen werden: Der Rechtsinterpret ist zu Beginn mit einer sprachlichen Aussage oder Zeichenkette konfrontiert, mit „Textformularen“, die der Ausfüllung bedürfen.107 Daraus wird unter Beibehaltung des bewährten Methodenkanons, wie z. B. der grammatischen Auslegung, ein „Normprogramm“ erstellt. Aber erst im nächsten und entscheidenden Schritt, in dem der Normtext auf die betreffende Realität des Falles bezogen wird (Sachbereich bzw. Fallbereich), wird der Normbereich erzeugt. (Dazu bedarf es spezifischer Normbereichsanalysen, z. B. im Rundfunkrecht, Wissenschaftsrecht, kollektiven Arbeitsrecht etc.) Mit „Normbereich“ ist dabei nicht einfach eine von der Normativität abgehobene „Rechtsvoraussetzung“ gemeint, sondern ein Strukturbestandteil der Rechtsvorschrift selbst, die Menge der die Entscheidungsnorm mittragenden Tatsachen. Es geht bei Müller u. a. also gerade nicht um das „Hin- und Herwandern des Blicks“ zwischen Norm und Sachverhalt; die Rechtsnorm/Entscheidungsnorm wird überhaupt erst durch die Integration von Ausschnitten sozialer Wirklichkeit in den Interpretationsprozess konstituiert!108 Dieses Modell der Normbereichsanalyse hat sich etwa in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Rundfunkrecht durchgesetzt: Danach kann und muss sich das Verständnis des Rundfunkbegriffs im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verändern, wenn die Umwelt des Begriffs einem raschen technologischen Wandel unterworfen ist.109 Das letzte Beispiel macht sogleich die institutionelle Komponente der „Konkretisie- 223 rung“ bzw. der „Rechtsfindung“ in der strukturierenden Rechtslehre deutlich: Die Vorstellung einer hierarchischen Überordnung des Gesetzgebers über den Richter wird aufgegeben und die Verantwortung der Gerichte akzentuiert. Die entscheidungs104 105 106 107 108

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Müller (Fn. 7), 169, 168. Esser (Fn. 11), 144 Fn. 5. Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 471; Müller (Fn. 7), 241. Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 210. Müller/Christensen, ebd., Rn. 482 Fn. 8, vgl. auch Rn. 226 („‚Normativität‘ bezeichnet die dynamische Eigenschaft einer Norm, also eines sachgeprägten und strukturierten rechtlichen Ordnungsmodells, sowohl die diesem zugrunde liegende Wirklichkeit zu ordnen als auch selbst durch diese Wirklichkeit bedingt zu werden.“); Hoffmann-Riem (Fn. 29), 36ff., 53f. BVerfGE 74, 297, 350; 83, 238, 302; ausführlicher T. Vesting, Prozedurales Rundfunkrecht, 1997, 238ff.; Hoffmann-Riem (Fn. 29), 57.

135 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

relevante Sinngebung erfolgt nicht schon im Gesetzestext als Teil eines deduktiven, auf Vollständigkeit aller möglichen Aussagen angelegten Systems, sondern wird erst durch die rechtsschöpferische Arbeit der Gerichte hergestellt oder zumindest abgeschlossen: Hat man die Illusion der Selbstentfaltung des Geistes im Recht einmal aufgegeben, zeigt sich die Rolle der Rechtsprechung als Initiator von Systemverbesserungen und Motor laufender Rechtsaktualisierung.110 So besteht ein gemeinsames Hauptanliegen der juristischen Hermeneutik darin, die Autonomie des Richters gegenüber dem Gesetz zu akzentuieren und – ähnlich wie es bereits Kelsen gefordert hatte (Rn. 99) – die politische Aufgabe und Verantwortung des Richters für das Recht und einer darauf eingestellten Methodenlehre hervorzuheben.111 Es geht also nicht zuletzt darum, eine kritische Methode zu entwickeln, welche das Bewusstsein für die Eigenleistung der rechtsprechenden Gewalt schärft. In diesem Punkt hat sich die juristische Hermeneutik auch in der Rechtstheorie weitgehend durchgesetzt. Das zeigen sowohl Systemtheorie wie Diskurstheorie: Beide schreiben der Gerichtsentscheidung eine „Zentralstellung“ im Rechtssystem zu bzw. sehen in den Gerichten den „Fluchtpunkt für die Analyse des Rechtssystems“.112 III. Paradoxie des Entscheidens 224 Die Methodendiskussion der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Auf der einen Seite wird die Ordnungskraft des Gesetzes und der Rechtsordnung zugunsten der Annahme einer produktiven Rechtsergänzung durch die staatlichen Gerichte relativiert (judicial legislation), auf der anderen Seite bleibt die hierarchische Konstruktion eines die Rechtsinterpretation dirigierenden theoretischen Wissens intakt. Die juristische Hermeneutik hält an der Vorstellung eines (objektiv) verbindlichen Vorverständnisses fest, wenn sie die rechtsfortbildende Konkretisierungsleistung im Moment der Gesetzesanwendung betont: Juristischer Professionalismus (Larenz), finale Ordnungs- und Entscheidungsvorstellungen (Esser), sachbestimmte Normativität (Müller/Christensen) und argumentative Rationalität (Alexy) sind nur verschiedene Varianten der Wiederkehr einer stabilen vertikalen Autorität. Im Ergebnis wird in der juristischen Hermeneutik also lediglich die Unterstellung des Rechtspositivismus, dass im deduktiven System mit Hilfe eines Kanons universaler Interpretationsregeln ein unbedingt gegebenes Wissen gespeichert und im Anwendungsakt „erkannt“ werden könnte, durch die Annahme ersetzt, dass der Rechtsinterpret ein solch unkonditioniertes, aus sich selbst heraus gültiges Wissen in den Regel- und Wissensbeständen des (rechts-)kulturellen Überlieferungszusammenhangs vorfindet, zumindest aber – bei richtiger „Textarbeit“ – durch entsprechende „Normbereichsanalysen“ herstellen kann. 225 Die juristische Hermeneutik versucht mit anderen Worten, die rechtspositivistische Unterstellung der Korrespondenz von (objektiver) Rechtsnorm und (subjektiver) 110 111 112

Esser (Fn. 11), 177. Esser, ebd., 193; Müller/Christensen (Fn. 12), Rn. 496–98. Luhmann (Fn. 56), 307, vgl. auch 323; J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 241. Um Missverständnissen vorzubeugen: „Zentrum“ heißt für Luhmann nicht Umkehrung des hierarchischen Strukturmusters, sondern zeitgleiche Ermöglichung von Entgegengesetztem, nämlich von Entscheidungszwang (Gerichte) und kein Entscheidungszwang (Gesetzgebung).

136 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Paradoxie des Entscheidens

Rechtserkenntnis durch den Rekurs auf ein gemeinsames historisches Vorverständnis zu restabilisieren. Damit kann die Identität der Wiederverwendung derselben Zeichen in einer anderen Situation, die zeitbedingte Offenheit des Rechts für unkontrollierte und unkontrollierbare Einflüsse von außen, aber nicht gesichert werden. Entgegen Gadamers Beschwörung eines einheitlichen kulturellen Überlieferungszusammenhangs ist Rechtsinterpretation heute nicht mehr als an „vertikale Autorität“ gebunden vorstellbar.113 Die juristische Hermeneutik rückt zwar zu Recht das Moment der Applikation des (Gesetzes-)Textes in den Vordergrund, den Augenblick, in dem die Regelhaftigkeit des Rechts – um mit Savigny zu sprechen – in das Leben übergeht.114 Die Konsequenzen dieser engen Verknüpfung von Interpretation und Entscheidungsproduktion sind aber erst in jüngster Zeit deutlich geworden: Mit dem insbesondere auf den Gerichten lastenden Zwang, unter Zeitdruck entscheiden zu müssen,115 wird ein selbstständig determinierendes Moment, die Notwendigkeit der Entscheidung,116 in das Verfahren der Rechtsinterpretation hineingetragen, die weder durch die Selbstprogrammierung der Anwendungsregeln des Rechtssystems in Form einer Methodenlehre noch durch ein geschichtlich gewachsenes Vorverständnis diszipliniert werden kann. Die Methodenlehre muss deshalb, statt nach hermeneutischen Ersatzlösungen für das positivistische System zu suchen, die Leerstelle akzeptieren, die der Zusammenbruch des Rechtspositivismus hinterlassen hat: den dunklen Augenblick der Entscheidung, den Moment der Unentscheidbarkeit. Das aber bedeutet: Die juristische Methodenlehre muss mehr noch als die juristische 226 Hermeneutik mit der Paradoxie des Entscheidens umzugehen lernen. Die normative Unbestimmtheit, mit der jede Rechtsinterpretation konfrontiert ist, lässt sich nicht als Wahl zwischen mehreren vorgegebenen „vertretbaren Lösungen“ beschreiben,117 vielmehr wäre zu akzeptieren, dass prinzipiell nur solche Fragen entschieden werden können, die unentscheidbar sind. „Only those questions that are in principle undecidable, we can decide.“118 Rechtsinterpretation operiert daher immer unter „Ungewissheitsbedingungen“.119 Der Gebrauch einer Rechtsnorm oder eines Gesetzestextes in einer bestimmten Situation, einem Fall, ist nicht nur etwas anderes als die Erkenntnis der richtigen Anwendung eines vorab eingegebenen Programms; wäre das der Fall, 113

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Ladeur (Fn. 34), 60ff. mit Bezug auf J. Grondin; A. Fischer-Lescano/R. Christensen, Auctoritatis Interpositio, Der Staat 2 (2005), 213ff.; vgl. allg. auch G. Teubner, Des Königs viele Leiber, Soziale Systeme 2 (1996), 229ff. Savigny (Fn. 4), 206. In den Worten Derridas: die Gerechtigkeit stets aufschieben zu müssen. Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft, 1991, 53ff., 56 („Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen.“). Insoweit zutreffend Schmitt (Fn. 54), 41. Dieses selbstständige Moment der Rechtsentscheidung hat N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, 310ff., 338, von anderen (kommunikationstheoretischen) Voraussetzungen ausgehend als „Verbot der Justizverweigerung“ ausformuliert und dann auf die strukturelle, durch Texte bedingte Kopplung Geltungsbewegung/juristische Argumentation bezogen. So etwa Kelsen (Fn. 59), 1. Aufl. 1934, 98f., und 2. Aufl. 1960, 348 („das anzuwendende Recht ein Rahmen, innerhalb dessen mehrere Möglichkeiten der Anwendung“); ähnlich C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung (1931), 1969, 46. Vgl. H. v. Foerster, Ethics and Second-Order Cybernetics, Cybernetics & Human Knowing 1/1 (1992), 1ff., 6 (web edition); für das Rechtssystem – mit Bezug auf den gerichtlichen Entscheidungszwang – Luhmann (Fn. 56), 307ff.; ders., Die Paradoxie des Entscheidens, Verwaltungsarchiv 84 (1993), 287ff.; vgl. auch die Beiträge in C. Vismann/T. Weitin, Urteilen, Entscheiden, 2006. Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 147, mit Verweis auf J.-L. Nancy („L’ordre du jugement se compose du multiple, de l’incertain.“).

137 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

wäre der Richter tatsächlich ein Subsumtionsautomat. Die Entscheidung ist auch niemals vollständig durch Interpretation begründbar. Wäre das der Fall, brauchte ebenfalls nicht mehr entschieden zu werden. Normen und Gesetzestexte machen es zwar möglich, eine (vorübergehend) verbindliche Lesart eines Textes zu fixieren und damit aus einer unentscheidbaren Frage eine entscheidbare zu machen. Dennoch bleibt in jeder Rechtsinterpretation das mysteriöse, rätselhafte Moment der Entscheidung inkorporiert, „ein unformulierbares (soll man sagen: göttliches) Element“.120 Das erklärt auch, warum das Rechtsgefühl, das geschulte Judiz, bis heute als „unentbehrlicher Kompass“ für den guten Juristen angesehen wird.121 227 Mit dem Rekurs auf Momente wie „Unentscheidbarkeit“ und „Ungewissheit“ soll hier keinem Dezisionismus das Wort geredet werden. Es wird hier also nicht unterstellt, dass die Entscheidung, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren sein könnte, wie Carl Schmitt in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts immer wieder propagiert hat.122 So sind etwa Gerichtsentscheidungen durch Texte und Kontexte (und nicht, wie Schmitt meinte, durch Subjekte) konstituiert, d. h. in die richterliche Entscheidung ist der Zwang zur schriftlichen Begründung der (mündlich verkündeten) Entscheidung eingebaut. Man kann diesen Zusammenhang auch mit Niklas Luhmann als eine durch Texte bedingte strukturelle Kopplung von Geltungsbewegung und juristischer Argumentation konzipieren oder mit Gunther Teubner von einer engen Verknüpfung von Entscheidungsnetzen und Argumentationsnetzen sprechen.123 Das selbstständige Moment der Entscheidung hat also nichts mit einer creatio ex nihilo zu tun, denn die einzelne Entscheidung ist immer durch die Anschlusszwänge innerhalb eines Netzwerks von Entscheidungssequenzen gebunden; das Mysterium der Entscheidung liegt allein darin, dass der Augenblick der Entscheidung selbst dunkel, uneinholbar, abwesend bleibt. Die Funktion der Interpretation ist daher nur paradox zu fassen: Sie dient der provisorischen Bindung von Ungewissheit, d. h. dem Schutz in das Vertrauen der Stabilität der rechtlichen Normen- und Interpretationsbestände (Erwartungssicherheit), aber zugleich, ja in einer dynamischen Gesellschaft vielleicht sogar primär, der Ermöglichung des Neuen (Variation). Diese Überlegungen haben also nichts mit Schmitts Option für eine begründungslose, „autoritäre Beseitigung des Zweifels“ zu tun.124 Neben den Arbeiten von Heinz v. Foerster und Niklas Luhmann ist die Einsicht in die Paradoxie des Entscheidens in neuerer Zeit vor allem in der Philosophie Jacques Derridas betont worden. Derrida hat die Aporie der Unentscheidbarkeit auch selbst an der richterlichen Entscheidung exemplifiziert.125 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist das Argument, dass für eine richtige (oder gerechte) richterliche Entscheidung der freie Wille des Richters vorausgesetzt werden muss.126 Dieser notwendige Zusammenhang von Freiheit und Entscheidung erscheint einleuchtend, zumal die richterliche Unabhängigkeit im modernen Verfassungsstaat positiv-rechtlich garantiert ist (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG). Die Zuschreibung einer Entscheidung als richtig, gerecht oder angemessen setzt ein Moment der Freiheit (oder Unbestimmbarkeit) voraus, sonst würde der Richter lediglich wie eine Trivialmaschine ein vorgegebenes Programm (oder einen Algorithmus) abarbeiten. Andererseits untersteht der Richter der Regel oder Rechtsnorm, er ist an das Gesetz gebunden, ja ihm unterworfen; und nur unter dieser Voraussetzung kann die Entscheidung dem Recht und nicht nur dem Richter als Person zugerechnet werden. Trotzdem muss der Richter im Moment der Entscheidung – der Applikation im Sinne Gadamers – ohne Regel auskommen, sonst könnte er gar keine 120 121 122

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Luhmann (Fn. 118), 287ff., 288. Aus jüngerer Zeit vgl. nur U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, 150. Schmitt (Fn. 54), 42; zu Schmitts dezisionistischer und letztlich personalistischer, subjektivistischer Lesart der Paradoxie der Interpretation Fischer-Lescano/Christensen (Fn. 113), 224ff.; vgl. auch Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 176. Luhmann (Fn. 56), 338; G. Teubner, Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit, 1999, 199ff., 210. Schmitt (Fn. 117), 46. Derrida (Fn. 115), 46ff.; vgl. dazu näher Th.-M. Seibert, Dekonstruktion der Gerechtigkeit: Nietzsche und Derrida, 2009, 27ff., 40ff. Zum Zusammenhang von Freiheit und Entscheidung (in einem geschichtsphilosophischen Kontext) vgl. auch Gadamer (Fn. 3), 208.

138 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. „Postmoderne“ Methodenlehre Entscheidung treffen; er muss zumindest seine Unterworfenheit unter das Gesetz im konkreten Fall, seinen „denkenden Gehorsam“, reflektieren. Die richterliche Entscheidung untersteht also einer Regel – und doch nicht. Sie ist „gebundene Entscheidung“ und verlangt doch stets aufs Neue ein fresh judgement, eine freie Entscheidung. Daher ist jede Recht-Sprechung an ein der Entscheidung immanentes Moment der Unentscheidbarkeit gekoppelt; die richterliche Entscheidung ist, wie Derrida sagt, mit der „Heimsuchung durch das Unentscheidbare“ kontaminiert.127 „Jeder Entscheidung, jeder sich ereignenden Entscheidung, jedem Entscheidungs-Ereignis wohnt das Unentscheidbare wie ein Gespenst inne, wie ein wesentliches Gespenst.“128 Allerdings kommt es darauf an, dieses Moment der Unentscheidbarkeit, der Offenheit für das Neue, im Moment der Entscheidung nicht zu verabsolutieren: Keine Entscheidung ereignet sich in einem Raum völliger Indeterminiertheit, vielmehr verweist diese immer schon auf ein kulturelles Erbe, das sie nicht vollends abstreifen kann, etwa der Sprache und der Regeln, in der und in denen sie sich artikuliert.

IV. „Postmoderne“ Methodenlehre 1. Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie

Die Rechtsinterpretation heißt nicht rationale Entscheidung im Sinne vollständiger 228 (bewusster) Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit des Ergebnisses. Die Vorstellung des Rechtspositivismus, dass Interpretation einem logischen Schlussverfahren gleicht oder jedenfalls über den richtigen Einsatz von Interpretationsregeln (canones) zu stets objektiv vorhersagbaren Ergebnissen führt, zu einer der naturwissenschaftlichen Wahrheit analogen „Rechtserkenntnis“, ist sicher schon lange unhaltbar geworden. Rechtsinterpretation wird aber auch nicht durch einen (rechts-)kulturellen Überlieferungszusammenhang gesteuert, durch ein geschichtlich konditioniertes Vorverständnis, das in die Sachstrukturen des jeweiligen Falles verankert wäre und eo ipso Maßstäbe konkreter Gerechtigkeit frei gibt. Die neuere Methodendiskussion zeigt etwas ganz anderes: Am „Anfang“ stehen nicht Vernunft, Rationalität und Gerechtigkeit, die vorausgesetzt oder gefunden werden können, sondern das Mysterium der Entscheidung, die – um es mit W. Benjamin zu formulieren – „entmutigende Erfahrung von der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme“.129 Diese von Walter Benjamin formulierte Erfahrung ist für die Methodenlehre allerdings 229 keine Katastrophe. Sie sollte auch kein Anlass zur Entmutigung sein. „Paradoxien sind keine logischen Fehler, die man ausmerzen muss, wenn man weiterkommen will.“130 Sofern der Umgang mit Paradoxien nicht mit einem neuen, a-historischen Ursprungsdenken verbunden wird (dazu näher Rn. 134), kann die Paradoxie des Entscheidens durchaus als Ausgangspunkt für die weitere methodentheoretische Diskussion fungieren. Es würde dann beispielsweise nicht darum gehen, die Abgründe und Unwägbarkeiten der Erfahrung von der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme auszuloten, um etwa Richtern in einem Entlarvungsgestus die Unbegründbarkeit ihres Tuns vorzuhalten oder um Jurastudenten zu erschrecken. Im Gegenteil: Die Entscheidungsparadoxie wäre ein aussichtsreicher Kandidat für die Leerstelle, die der Zusammenbruch des rechtspositivistischen Systems und die Erschütterung der Objektivitätsunterstellungen der juristischen Hermeneutik hinterlassen haben. Methodenlehre wäre dann 127 128 129 130

Derrida (Fn. 115), 49. Derrida, ebd., 50f. W. Benjamin, Zur Kritik der Gewalt (1921), 1965, 54. G. Teubner, Der Umgang mit Rechtsparadoxien, 2003, 25ff., 30.

139 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

auch der Versuch, die Entscheidungsparadoxie zu entparadoxieren.131 Das „eigentliche Faszinosum [der Paradoxien, T. V.] liegt in den produktiven Möglichkeiten des Umgangs mit ihnen“,132 und die entscheidende Frage lautete dann, wie Theorie und Praxis künftig produktiv mit dem Mysterium der Entscheidung umgehen könnten. 230 Dafür hätte sich die Methodenlehre in einem ersten Schritt für die neuere rechtstheoretische Diskussion zu öffnen. Sie müsste sich auf die hier – im Anschluss an Niklas Luhmann, Gunther Teubner, Karl-Heinz Ladeur u. a. – entwickelte Perspektive einer horizontalen Verknüpfung von Rechtsakten zu einem rekursiv und nachbarschaftlich operierenden System einlassen (Rn. 129ff.). Charakter und Funktion der Rechtsinterpretation wären also im Rahmen der Vorstellung einer netzwerkartigen Ordnungsbildung neu zu fassen. Unter dieser Prämisse wird auch einsichtig, warum zwischen Regel und Regelgebrauch, zwischen Norm und Normanwendung, keine linear-kausale, sondern nur eine zirkuläre (kreis-kausale) Beziehung bestehen kann: Innerhalb eines konnexionistischen Musters von rekursiven Anschlussmöglichkeiten erzeugt die Vollzugsform der Interpretation eine historische Praxis provisorischer Sinnfixierungen, eine laufende Wiederholung/Verschiebung des Sinns, eine Dauertransformation und Daueraufschiebung des Rechts und seiner Texte. Erst das durch die Entscheidungsbegründung gewonnene Ergebnis plausibilisiert die eigenen Voraussetzungen und wirkt sowohl stabilisierend wie verändernd auf die Rechtsnorm und den schriftlichen Gesetzestext zurück. Recht und Gesetz werden durch Interpretation laufend re-aktualisiert, aber gerade wegen ihrer Zeitabhängigkeit bleibt die Interpretation stets offen für unberechenbare Einflüsse von außen und d. h. auch: stets offen für Variationen der bisherigen Rechtsprechungspraxis staatlicher Gerichte. 231 Die damit angesprochene Notwendigkeit einer Verknüpfung von Methodenlehre und Rechtstheorie zeigt, dass nicht alle Fragen des Umgangs mit Rechtstexten in der Methodenlehre geklärt werden können. Es wäre völlig illusionär, die Orientierungsprobleme, mit denen die Rechtswissenschaft als Teil einer sich rasant wandelnden Gesellschaft konfrontiert ist, in einer gerichtszentrierten Methodenperspektive bewältigen zu wollen.133 Die nur geringe Verbreitung der Einsichten der juristischen Hermeneutik im praktischen Rechts- und Ausbildungsbetrieb hängt sicher auch damit zusammen, dass sie die Methodenlehre mit Fragen überlastet hat, die dort nicht hingehören. So verlangt beispielsweise die Reflexion des Verhältnisses von einfachem Recht und Verfassungsrecht weit mehr als eine Einordnung der Zulässigkeit der „verfassungskonformen Auslegung“ in den bisherigen Methodenkanon, nämlich Überlegungen über die Beziehung zwischen subjektiven Entscheidungsrechten (z. B. Eigentum und Vertrag) und dem politischen Bestandteil der modernen Verfassung; und eine solche Analyse dürfte kaum ohne ein Hinterfragen der tradierten Vorstellung der Normenhierarchie bzw. des Stufenbaus der Rechtsordnung möglich sein. Dieser Rückbezug methodologischer auf inhaltliche Fragen wird umso wichtiger, wenn Kollisionen zwischen „Rechtsebenen“ nicht länger eine pyramidiale Struktur voraussetzen können, etwa dort, wo Gerichte (und Verwaltung) mit einem polyzentrischen System ohne eindeutige Entscheidungshierarchien, wie etwa im „Dreieck“ von Verfassungsrecht, Europarecht und Völkerrecht, konfrontiert werden. Es ist also mit den Systementwürfen des 19. Jahrhunderts daran festzuhalten, dass die Methodenlehre – die Entwicklung eines Verfahrens der Auslegung der Gesetze (und anderer Rechtsquellen) – ein Aspekt von Rechtswissenschaft ist, Rechtswissenschaft aber nicht umgekehrt durch eine gerichtszentrierte Methodenlehre ersetzt werden kann. 131

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Zustimmend: Fischer-Lescano/Christensen (Fn. 113), 213ff., 220ff.; Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 151 („Juristische Methodenlehre und Dogmatik müssen ... als Versuche der Entparadoxierung verstanden werden.“). Teubner (Fn. 130), 29. Skepsis über die Leistungsfähigkeit der Methodenlehre auch bei U. Neumann, Juristische Methodenlehre und Theorie der juristischen Argumentation, Rechtstheorie 32 (2001), 239ff., 242ff. (mit der Analyse, dass die Methodenlehre an ihren Idealisierungen gestorben sei; dem will Neumann eine Theorie der „Regelbegründung“ bzw. „juristischen Argumentation“ entgegensetzen).

140 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. „Postmoderne“ Methodenlehre 2. Rechtsstrukturen und Sachstrukturen

Die Rechtsinterpretation muss heute nach zwei Seiten hin spezifiziert werden. Einer- 232 seits muss an die Notwendigkeit der Kontinuitätsstiftung durch laufende Rechtsfindung, die Notwendigkeit der Sicherung der Regelhaftigkeit und Wiederholbarkeit von Entscheidungen, angeknüpft werden, an das Gebot der Rechtssicherheit. Die Interpretation hätte also weiterhin die Anschlussfähigkeit von Regel- und Gesetzesanwendungen zu gewährleisten, d. h. die Entscheidung und ihre Begründung müssen in Abstimmung mit bereits erfolgten Entscheidungen und zugleich als Aussicht auf künftige Entscheidungen hin angelegt werden. Hier geht es um die Kohärenz der Auslegungen untereinander, um die Gleichbehandlung gleicher Fälle, die immanenten (selbstreferentiellen) Konsistenzbedürfnisse der Rechtsordnung. Auf der anderen Seite kann die Interpretation den jeweiligen Fallkontext und dessen oft sehr detailreiche Sachstrukturen nicht aus ihrem Verfahren ausschließen. Die Sachstrukturen der verschiedenen sozialen Praxisfelder (Wirtschaft, Politik, Medien usw.) müssen vom Recht berücksichtigt werden, ohne das Postulat der Selbstregulierung der Abhängigkeiten und Unabhängigkeiten der Rechtsordnung aufzugeben: Interne und externe Informationen wären in ein „überlappendes Netzwerk“ von Rechtsargumenten zu übersetzen.134 Die Auslegung hätte weiterhin von spezifischen Eigenleistungen der Rechtsordnung auszugehen und die Differenz von rechtlicher und nicht-rechtlicher Wirklichkeit in der Vollzugsform der Interpretation zu akzeptieren. Systemtheoretisch formuliert würde die Differenz von System und Umwelt als paradoxe Unabhängigkeitsabhängigkeit im System in einer produktiven Spannung gehalten werden. Diese differenztheoretische Lösung hat gegenüber manchen Varianten der juristischen Hermeneutik zumindest den Vorteil, die Beziehungen zwischen Recht und Rechtsinterpretation weiterhin als selektiven Informationsaustausch von Recht und sozialer Umwelt zu arrangieren und damit zentrale Einsichten des Rechtspositivismus fortschreiben zu können. Auch der Rechtspositivismus hatte beispielsweise in der grammatischen Auslegung, im Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch, eine Stelle für die selektive Rückbindung der Rechtssprache an allgemeine Regeln des sozialen Handelns – die Emanationen und Manifestationen des „Volksgeistes“ – in seinen Rechtssystemen vorgesehen. Die juristische Hermeneutik fordert durchaus zu Recht eine stärkere Berücksichtigung der Sachkontexte im Interpretationsvorgang. Essers Verweis auf die „Maßstäbe einer vorpositiven Gerechtigkeits- und Vernunftstruktur des Rechts“135 als Auslegungsziel sowie die Vermittlung von rechtlichem Regelbestand und sachbestimmter Ordnung in der Methodik von Müller/Christensen thematisieren das Problem der Grenze des Rechts im Moment der (gerichtlichen) Entscheidung. Aber sowohl Essers finale Entscheidungsvorstellungen als auch Müllers sachbestimmte Normativität heben die Unterscheidung von rechtlicher und nicht-rechtlicher Wirklichkeit in hegelianisch-dialektischen Figuren wie „Mit-Bestimmung“, „Vermitt134

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Vgl. dazu die Überlegungen bei G. Teubner/P. Zumbansen, Rechtsentfremdungen, Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), 189ff., 192f.; T. Vesting, Gegenstandsadäquate Rechtsgewinnungstheorie – eine Alternative zum Abwägungspragmatismus des bundesdeutschen Verfassungsrechts?, Der Staat 41 (2002), 73ff., 82f.; Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 173; vgl. auch Luhmann (Fn. 56), 52f., 76ff. Die Unterscheidung Selbstreferenz/Fremdreferenz, mit der Luhmann operiert, ist unauflöslich mit der Differenz von normativen und kognitiven Dimensionen des Rechts verknüpft sowie der Reduktion von Offenheit des Rechtssystems auf kognitive Offenheit. Das erscheint als zu eng, da die Interpretation auch normativ „gesellschaftsadäquat“ auf Umweltanforderungen reagieren muss. G. Teubner, Dreiers Luhmann, 2005, 199ff., 201f., sieht hier eine Einbruchstelle für eine das „Recht transzendierende Gerechtigkeit“. Esser (Fn. 11), 23.

141 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 6. Interpretation lung“ oder „Hineinnahme von sachlichen Elementen in das Recht“ auf. An die Stelle eines in der Rechtsinterpretation selbst verankerten Objektivitätsanspruchs tritt eine – wie schon bei Kelsen – Aufwertung des Richterrechts bzw. eine rechtspolitische Reflexion des produktiven Charakters der „Rechtsfindung“ bzw. der „Rechtsarbeit“ oder sogar eine Politisierung der Rechtsentscheidung.136 Das erscheint als Lösung wenig befriedigend.

3. Die Bedeutung des gemeinsames Wissens

234 Vor diesem Hintergrund lautet die entscheidende Frage für die Methodenlehre: Wo lassen sich Haltepunkte finden, aus denen sich relativ stabile, historisch sich bewährende Formen gewinnen lassen? Wo trifft die Rechtsordnung auf Strukturen, die Walter Benjamins Erfahrung der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechtsprobleme Vorentschiedenheiten entgegensetzt, an die die Rechtsinterpretation andocken könnte? Wo finden sich Bestimmtheiten, die eine völlige Unbestimmtheit als nicht orientierungsrelevante Ausnahme erscheinen lassen? Wie wir bereits gesehen haben, kann die moderne Gesellschaft keineswegs als dichotomisch in ein System von staatlich gesicherten Rechtsnormen (Sollen) einerseits und eine unstrukturierte Masse chaosförmiger Ereignishaftigkeit (Sein) andererseits gespalten angesehen werden, wovon z. B. die Reine Rechtslehre Hans Kelsens ausgeht. Die verschiedenen sozialen Praxisfelder produzierten immer schon eigene Ordnungen, Regel- und Konventionsbestände. Zu diesen zählen nicht nur die Ordnungsmuster der großen Funktionssysteme der modernen Gesellschaft wie z. B. Politik, Wirtschaft, Massenmedien und Wissenschaft, sondern auch Institutionen wie die Sprache, Familie, Sitten, Konventionen und andere übergreifende Gemeinsamkeiten, ein dynamischer Pool unterstellbarer gemeinsamer Wissensbestände (common knowledge). Das zeigt insbesondere die Sprache. Ohne ein von einer Sprachgemeinschaft geteiltes grammatikalisches Wissen kann keine sprachliche Kommunikation gelingen. Mit Niklas Luhmann ließe sich daher auch formulieren, dass gemeinsames „Wissen“ zu den konstitutiven Merkmalen der Gesellschaft gehört. „Sprachliche Kommunikation setzt gemeinsames Wissen immer schon voraus und käme mit ihrer Autopoiesis zum Stillstand, würde diese Voraussetzung scheitern. Ohne unterstellbares Wissen keine Kommunikation.“137 235 Erneut liefert die wissenschaftliche Reflexion über Sprache und Sprachkompetenz wichtige Hinweise darauf, wie das Verhältnis von Rechtsordnung und gemeinsamem Wissen zu rekonstruieren wäre. Die neuere sprachphilosophische und linguistische Forschung zeigt allerdings auch, dass sich die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation keinem vorgeordneten Meta-Wissen verdankt, keiner langue hinter der parole (Saussure), keiner Universalgrammatik (Chomsky) oder Universalpragmatik (Habermas), die den empirischen Sprechakten vorausginge. Sprechen-Können und Schreiben-Können sind rein performative Kompetenzen. Das gemeinsame Wissen, das jeder Sprach- und Mediengebrauch voraussetzt – die „Gepflogenheiten“ im Sinne Wittgensteins – werden in der Kommunikation, im Sprach- und Mediengebrauch, durch dauernde Übung produziert und reproduziert; sie sind ein Moment der sich laufend verändernden Netzwerke der Kommunikation. Das gemeinsame Wissen ist also gerade nicht in einer der Entscheidung vorgeordneten historischen Kontinuität veran136

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So der Akzent etwa bei Fischer-Lescano/Christensen (Fn. 113), 213ff., 232ff. („Die Entscheidung als politische Dimension im Recht“). N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, 122.

142 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. „Postmoderne“ Methodenlehre

kert. Es handelt sich nicht wirklich um ein „Vor-Verständnis“, wie Gadamer und mit ihm die juristische Hermeneutik glauben,138 sondern um ein in der Kommunikation mitlaufendes, mittransportiertes und immer nur aktuell abrufbares Wissen. Auf ein derartig dynamisches, sich laufend selbst veränderndes gemeinsames Wissen nimmt auch das Recht vielfach Bezug. Das zeigt sich in besonderer Klarheit in gesetzlichen Generalklauseln wie „gute Sitten“, „Treu und Glauben“ und „Handelsbrauch“, in Rechtsbegriffen wie „Fahrlässigkeit“, „Fehler“, „Gefahr“, „Geeignetheit“. Oder das Recht zapft wie im Fall der technischen Standards (DIN-Normen, Grenzwerte etc.) das kognitive Potential an, das in derartigen Regeln eingelassen ist, etwa um Schadensgrenzen (Luftreinhaltung, Strahlungsbelastung etc.) zu ermitteln. Wäre mit einem derartigen Konzept von gemeinsamem Wissen ein aussichtsreicher 236 Kandidat für die Entparadoxierung der Entscheidungsparadoxie in Sicht, für Strukturen, die sich historisch vorübergehend bewähren könnten? Könnte insbesondere die Abhängigkeit der Interpretation von den Sachstrukturen durch den Rekurs auf derartige Formen gemeinsamen Wissens dirigiert werden? Diese Fragen sind insofern nicht leicht zu beantworten, als ihre Bedeutung in auffälligem Gegensatz zur Häufigkeit ihrer Behandlung in der Literatur steht. Soweit ersichtlich hat – neben frühen Ansätzen bei Eugen Ehrlich – besonders Josef Esser die Funktion gemeinsamen Wissens für die Rechtsinterpretation thematisiert. Aber wie wir bereits gezeigt haben, bleibt der Interpretationsakt in Essers Vorverständnis und Methodenwahl auf eine vorgängige historische Kontinuität bezogen: Das gemeinsame Wissen wird einem schicksalhaften Zirkel zugeschrieben, der dem Recht stabile geschichtliche und gesellschaftliche Prinzipien vorordnet und vorgibt. Die vorpositive Gerechtigkeits- und Vernunftstruktur legt fest, was in der Interpretation genutzt werden kann und unvermeidlicherweise in die Rechtsentscheidung einfließt.139 Damit hält auch Esser die juristische Hermeneutik letztlich an einem hierarchischen Modell, an der Vorordnung einer vertikalen Autorität vor aller Interpretation, fest. Eine Relationierung von Rechtsinterpretation und gemeinsamem Wissen, die jedwede 237 vertikale Autorität vermeidet, findet sich erst in jüngerer Zeit, prominent etwa in den Arbeiten von Gunther Teubner. Teubners Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass sich der Schwerpunkt der Prozesse der Rechtsbildung von ihren bisherigen nationalstaatlichen Zentren, ihren Institutionen und Quellen (Parlamenten, Gerichten, völkerrechtlichen Verträgen), auf eine davon unabhängige transnationale Peripherie verlagert hat. In dieser Peripherie wird in unterschiedlichen Gesellschaftssektoren eine paradoxe Selbstproduktion von Regeln und Rechtsnormen betrieben, an der global players wie multinationale Unternehmen und internationale Organisationen beteiligt sind (lex mercatoria, lex sportiva, lex electronica etc.).140 In einer jüngeren Arbeit über globale Zivilverfassungen wird die These einer weltweiten Verrechtlichung von Gesellschaftssektoren mit dem Gedanken verbunden, dass diese neuen Formen der Selbstbegründung des Rechts notwendigerweise immer auch Normen von konstitutioneller 138

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Hier zeigt sich die ganze Problematik des hermeneutischen Begriffs des Vor-Verständnisses: Das „Vor-“ ist der ontologische Rest der Hermeneutik. Vgl. nur Esser (Fn. 11), 23; deutlich auch ders. (Fn. 100), 182. G. Teubner, Globale Bukowina, Rechtshistorisches Journal 15 (1996), 255ff.; dazu näher G.-P. Calliess, Systemtheorie: Luhmann/Teubner, 2009, 71ff.; zum „globalen Recht“ und zur Theorie Teubners weiterführend H. Lindahl, Fault Lines of Globalization, 2013, 44ff.; und L. Viellechner, Transnationalisierung des Rechts, 2013.

143 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

Qualität erzeugen, „Eigenverfassungen der Zivilsektoren“,141 die jeder Rechtsbildungsprozess voraussetze und zugleich in seinem Vollzug konstituiere. Im Bereich des Internets zeige sich dies vor allem in dem bislang ungelösten Problem eines ungefilterten Einflusses privater Akteure auf die autonome Regelbildung, in der Frage nach dem Verhältnis einer inkrementell wachsenden lex electronica und einer notwendig werdenden „Digitalverfassung“. Diese wird von Teubner als Selbstkontrolle des Rechts in Anschlag gebracht, als reflexive zweite Schicht von „konstitutionellen Sekundärnormen“, die „das Geltungsparadox eines selbst gemachten Digitalrechts zu überwinden vermögen und über die Rechtsnormqualität von sozialen Normen selektiv entscheiden“.142 238 Den Maßstab für die konstitutionelle Selbstkontrolle des autonomen Digitalrechts sollen die Menschenrechte bilden. Teubner hatte schon in älteren Publikationen den Widerstreit systemspezifischer Funktionslogiken und Rationalitäten zum Thema gemacht und daraus die Vorstellung eines kollisionstheoretischen Verständnisses des Rechts entwickelt, das an wichtige Arbeiten von Rudolf Wiethölter anschließt.143 Grund- und Menschenrechte werden als institutionelle Autonomiegarantien interpretiert, als „Kollisionsnormen“ für die Abstimmung unverträglicher Handlungslogiken.144 Auf den Bereich der digitalen Kommunikation übertragen heißt das, dass die Abstimmung zwischen der Selbsterzeugung technischer Standards und den daraus resultierenden Gefährdungen für andere Gesellschaftssektoren „nicht an der politischen Verfassung, sondern an ihrer Eigenverfassung gemessen werden“ muss.145 Die Rechtsnormqualität technischer Standards kann anerkannt werden, wenn deren Produktion zugleich an einen regimespezifischen Menschenrechtsstandard gekoppelt wird, der adäquat auf die Risiken der digitalen Kommunikation reagiert. Die „Digitalverfassung“ dient dann primär als Maßstab zur Stabilisierung der institutionellen Differenz und jeweiligen Eigenlogik von spontaner, allgemein zugänglicher Internetkommunikation einerseits und ihren hochorganisierten Spezialbereichen (Intranets) andererseits. 239 Teubner richtet den Fokus seiner Forschungen zwar primär auf transnationale Norm- und Rechtsbildungsprozesse, seine Überlegungen lassen sich aber durchaus auch problemlos ins innerstaatliche Recht übertragen. Auch hier lässt sich ein enges Zusammenspiel von gemeinsamem Wissen, der daran geknüpften Regel- und Konventionsbestände und der Interpretation des positiven Rechts beobachten. Ein negatives Beispiel dafür ist die Familienbürgschaft: Die Übernahme einer Bürgschaft für den Kredit des Vaters, den die Tochter nie zurückzahlen kann, ist keine Störung der Vertragsparität zwischen der faktisch überlegenen Bank und dem faktisch unterlegenen Familienbürgen.146 Vielmehr handelt es sich um einen Fall „struktureller Korruption“: Die Integrität der grundrechtlich geschützten Autonomie innerfamiliärer Kommunikation (Art. 6 GG) wird durch das Eindringen wirtschaftlicher Rationalität verletzt. Weil aber jede Intimbeziehung ihre eigene Opfergrenze findet, verbietet es sich, „Normen der Familienmoral empirisch zu ermitteln und diese zu einem Rechtsstandard der Opfergrenze zu generalisieren“.147 Die Autonomie der 141

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G. Teubner, Globale Zivilverfassungen, ZaöRV 63 (2003), 1ff., 16; ausführlich ders., Verfassungsfragmente, 2012. Teubner, ebd., 21. G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 123ff.; vgl. nur R. Wiethölter, Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts, 2003. G. Teubner, Die anonyme Matrix, Der Staat 45 (2006), 161ff., 180; ders., Ein Fall von struktureller Korruption?, KritV 83 (2000), 388ff., 399; vgl. auch ders. (Fn. 141 – Verfassungsfragmente), insb. 225ff. Teubner (Fn. 141 – Zivilverfassungen), 22. BVerfGE 89, 214ff.; ähnlich BVerfGE 81, 242ff. (Handelsvertreter). Teuber (Fn. 144– strukturelle Korruption), 394, 396f.

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IV. „Postmoderne“ Methodenlehre Familie muss als Limitierung in den wirtschaftsrechtlichen Kontext eingeführt werden. Weil es aber keinen verallgemeinerungsfähigen Maßstab der Opfergrenze, kein gemeinsam geteiltes Wissen über den Einzelfall hinaus gibt, muss die Verfassungsinterpretation hier eine stabile Grenze, einen Standard, vorgeben und ruinöse Familienbürgschaften per se verbieten.148

Akzentuiert Teubner eher die Autonomie der Rechtsinterpretation gegenüber den Ge- 240 fährdungen des Rechts durch autonome außerrechtliche Standardbildung, geht es Karl-Heinz Ladeur und Ino Augsberg in einer jüngeren Publikation darum, „Auslegung als ‚Management‘ der Kohärenz rechtlicher und außerrechtlicher Regelhaftigkeit“ einzurichten.149 Das Recht ist in eine komplexe Infrastruktur von gesellschaftlichen Regeln und praktisch erprobten Konventionen eingebettet, und diese Verhaltensmuster erzeugen eine Art „soziale Epistemologie“,150 eine in den „kognitiven Komponenten des liberalen Rechts ... angelegte Lernfähigkeit“.151 Stärker jedenfalls als Teubner betont Ladeur den „Eigenwert“ des gemeinsamen Wissens, das als Selektionskriterium für sachbezogenes Interpretieren genutzt werden soll. „Interpretation setzt Unentscheidbarkeit voraus – und braucht doch Vorentschiedenes.“152 Vor allem die in der „Privatrechtsgesellschaft“ zerstreuten praktischen Wissens- und Regelbestände erzeugen jedenfalls dann eine Selbstbindung der Rechtsinterpretation, wenn diese Selbstbindung Fortentwicklungen zulässt.153 Das führt zur Vermutung und Anerkennung eines grundsätzlichen Eigenwerts gesellschaftlicher Selbstorganisation. Die heterarchische „relationale Rationalität der distribuierten Ordnungsbildung“ legt insbesondere der politischen Gesetzgebung, „der deliberativen Rationalität der hierarchischen Normgebung“,154 eine Beweislast zur besseren Lösung der Probleme auf. Als Beispiel nennen Ladeur/Augsberg die Rechtschreibreform: Wenn der Staat durch die Einführung neuer orthographischer Regeln in ein funktionierendes Sprachspiel eingreift, muss erwogen werden, ob eine solche Initiative nicht schon an der Natur des Gegenstands scheitert. Das erscheine jedenfalls dann plausibel, wenn prognostizierbar sei, dass die selbsterzeugte Komplexität der deutschen Schriftsprache nicht auf wenige einfache Regeln reduziert werden könne, ohne erhebliche Verluste an sprachlichem Differenzierungsvermögen in Kauf nehmen zu müssen. Auch die (im Demokratieprinzip verankerte) Prärogative des Gesetzgebers sei dann kein Gegenargument: „Caesar non supra grammaticos.“155 Im Unterschied zur juristischen Hermeneutik wird die Interpretation bei Teubner und 241 Ladeur nicht mehr an der Kontinuität eines historischen Vorverständnisses gemessen, sondern auf die dynamische Stabilität der gemeinsamen Wissensbestände der modernen bzw. postmodernen Gesellschaft eingestellt. Das gemeinsame Wissen wird nicht länger einem schicksalhaften Zirkel zugeschrieben, der dem positiven Recht stabile ge148 149

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Teubner, ebd., 396f. Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 164ff.; Ladeur (Fn. 31), 78ff. (Verknüpfung des Rechts mit dem praktischen gesellschaftlichen Wissen); vgl. auch I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009 (wo dieses Kohärenzmanagement in einem weiten Begriff der Textualität des Rechts abgebildet wird). Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 165; vgl. auch I. Augsberg, Strategien des Nichtwissens im Bereich staatlicher Aufgabenwahrnehmung, 2014, 103ff.; vgl. auch ders., Informationsverwaltungsrecht, 2014, insb. 80ff. K.-H. Ladeur, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation, 2000, 12. Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 164. Ladeur/Augsberg, ebd., 170. Ladeur/Augsberg, ebd., 168. Ladeur/Augsberg, ebd., 169.

145 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

schichtliche und gesellschaftliche Prinzipien vorordnet und vorgibt, sondern als ein dynamisches Wissen, das im gesellschaftlichen Wandel laufend neu erzeugt werden muss – und zu dessen Produzenten (und nicht nur Konsumenten) gehört die Rechtsordnung selbst. Teubner hebt etwa die gestiegene Bedeutung der laufenden Produktion privater Regelbildung in Form Allgemeiner Geschäftsbedingungen, Standardisierungen und ähnlicher Normierungen z. B. in Wirtschaftsunternehmen, privaten Verbänden, Krankenhäusern, Schulen oder Universitäten für das Recht und den interpretativen Umgang mit ihm hervor. Und Ladeur/Augsberg betonen ausdrücklich die Legitimität experimenteller Interpretationen in Fällen, in denen keine etablierten Handlungsmuster existieren, auf die etwa Gerichte zurückgreifen können, so dass diese selbst durch Interpretation einen Beitrag zur sozialen Regel- und Konventionsbildung leisten müssen. Als gelungene Beispiele für eine derartige Mobilisierung des gemeinsamen Wissens durch experimentelle Rechtsprechung werden etwa Entscheidungen des BGH zur Produkthaftung, des BVerfG zum Rundfunkrecht, die neuere Entwicklung im Recht des Persönlichkeitsschutzes und im Technikrecht genannt.156 242 Die Konsequenzen dieser Vorschläge sind weitreichend. Insbesondere bei Ladeur/ Augsberg wird die Wissensproduktion selbst zu einem Aspekt der Rechtsbildung und Rechtsinterpretation. Damit wird die etwa in der Systemtheorie noch vorausgesetzte normative Geschlossenheit des Rechtssystems zumindest partiell gelockert. Ladeur/ Augsberg weisen zwar wiederholt darauf hin, dass die Berücksichtung des gemeinsamen Wissens nicht zu einer Einebnung der Unterscheidung von Rechtsinterpretation und sozialer Konventionsbildung führen dürfe. Der Sache nach wird in der Rückverweisung des Rechts an die Standard- und Regelbildung der jeweils betroffenen Sachbereiche jedoch eine Ambivalenz sichtbar, die darauf hinweist, dass Recht und Rechtsinterpretation eng mit einem gemeinsamen Wissen verkoppelt sind, das die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Rechtsstrukturen und Sachstrukturen laufend destabilisiert. Die Entscheidung über die Verwendung des Wissens wird in der juristischen Interpretation gefällt, aber entgegen einer vordergründigen Beschwörung der Einheit und Autonomie der Rechtsordnung, wird die Ausschließlichkeit und Eigenständigkeit normorientierter Entscheidungen damit relativiert. 242 a Das ließe sich in medientheoretischer Perspektive als Reaktion auf die gestiegene Bedeutung technischer Medien deuten, die das alte normative Regelmodell, das sich immer an vorgegebenen Maßstäben orientiert hat, abschwächt. An die Stelle einer stabilen „vertikalen Autorität“, die es ermöglichte, das Einzelne unter ein Allgemeines zu subsumieren (und damit in eine schon vorhandene normative Wirklichkeit einzurücken), tritt eine fluide namenlose Autorität von zerstreuten horizontalen Bewegungen. An die Stelle einer Normhierarchie mit einem „letzten Grund“ tritt ein „finding as founding“ (Stanley Cavell), ein auf Offenheit angelegter Prozess des Suchens und Findens von Mustern, Normen und Gründen „zu einem Netz von Möglichkeiten, die in einer experimentellen Form auf ihre Haltbarkeit als anschlussfähiges Muster für weitere Möglichkeiten getestet, durchgespielt werden, ohne dass wieder die Herausbildung einer verallgemeinerungsfähigen Regel, einer dauerhaften Form erwartet werden könnte.“157 Für eine solche Lesart spräche besonders die neuartige Rolle des Codes in der digitalen Kommunikation und das damit verbundene Übergreifen der Computer156 157

Ladeur/Augsberg, ebd., 175ff. K.-H. Ladeur, Die Textualität des Rechts, 2015i. E.

146 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. „Postmoderne“ Methodenlehre

technologie in die alte Welt des bewusstseinsförmig gedachten Sollens. Normativität wird hier durch sich selbst exekutierende technische Standards ersetzt, die zumindest partiell die Rolle des Rechts einnehmen und die binäre Logik der Computertechnologie auf diese Strukturenausdehnen. „Das schließt, soweit der Internet-Code reicht, jegliche Interpretationsspielräume in den Programmen aus.“158 4. Abdämpfung von Rationalitätsansprüchen

Die vorstehenden Überlegungen wollen zeigen, dass die mit der Rechtsinterpretation 243 verbundenen Rationalitätsansprüche abgedämpft werden müssen. Es geht bei der Rechtsinterpretation, insbesondere bei Gerichtsentscheidungen, um die Plausibilität von Begründungen, um bounded rationality im Sinne von Herbert A. Simon, nicht aber um „Erkenntnis“ des richtigen (gerechten) Rechts. Darin unterscheidet sich der hier eingeschlagene Weg nicht nur vom Vernunftideal des Rechtspositivismus, sondern auch von der juristischen Hermeneutik, die mit dem Übergang zur Konkretisierung noch die Aussicht auf eine Erhöhung von Rationalitätsansprüchen verbunden hatte.159 Entscheidungsgründe können im Recht nicht freischwebend entwickelt werden. Rechtsinterpretation ist eo ipso mit den Verwendungskontexten der auszulegenden Regeln verwoben, den praktischen Erfahrungen und Zwängen, dem Einfluss der im Sachbereich agierenden Rechtssubjekte und ihren Handlungsstrategien. Diese muss die Rechtsinterpretation thematisieren. Ob sie damit nur Wissen, nur Kognition, benutzt, und ansonsten den Geltungszirkel, die Selbstreferenz des Rechtssystems, unberührt lässt, wie noch die Systemtheorie unterstellt hat, ist fraglich geworden. Aber selbst wenn man im Hinblick auf die Möglichkeit einer autonomen Rechtsinterpretation skeptisch ist, bleibt die Entscheidung über die Art und Weise der Nutzung des gemeinsamen Wissens, weiterhin eine Sache der juristischen Interpretation und ihrer Reflexionsformen. Darüber hinaus sollte hier plausibel gemacht werden, dass Interpretationsfragen kei- 244 neswegs nur – oder gar primär – auf die Lösung lokaler Rechtskonflikte, den individuellen Interessenausgleich im Einzelfall, zugeschnitten werden dürfen. Je weniger das Recht als halbwegs konsistentes System von Rechtsnormen vorausgesetzt werden kann und je deutlicher wird, dass Rechtsentscheidungen außerrechtliche Regel- und Wissensbestände irritieren oder stellenweise sogar experimentell solche Standards (mit-)erzeugen müssen, leistet die Interpretation einen Beitrag zur Erhaltung gemeinsamer Wissensbestände. Die Rechtsinterpretation erzeugt einen weit über den Einzelfall und die Selbstbindung des Rechts hinausweisenden Effekt: Sie ermöglicht oder erleichtert die praktische Koordination von gesellschaftlichen Handlungsvollzügen. Das wäre erneut ein Argument für die oben bereits geäußerte Vermutung, dass sich die Funktion der Interpretation keineswegs in der normativen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen erschöpft, sondern darüber hinaus zur Bildung neuer Wissens- und 158 159

Teubner (Fn. 141 – Zivilverfassungen), 24. Die Vorstellung einer beschränkten Rationalität des juristischen Entscheidens ist außerdem gegen die Intellektualisierung der Interpretation gerichtet, wie sie neben der Theorie der juristischen Argumentation von Robert Alexy vor allem die Diskurstheorie von Jürgen Habermas kennzeichnet, auf die hier nicht näher eingegangen werden konnte: Bei Habermas (Fn. 112), 598, wird die Anwendung von Rechtsnormen mit dem Postulat einer angemessenen und vollständigen Erfassung aller relevanten Kontexte verbunden. Damit wird jedoch die notwendige Umweltselektivität der Rechtsinterpretation durch ein Argumentationsverfahren ersetzt, das keine Grenzen kennt.

147 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 6. Interpretation

Regelbestände beitragen muss – „weil durch Präzendenzfälle Vertrauen geschaffen wird“.160 Auch darum ist die Gerichtszentrierung der traditionellen Methodenlehre zu eng geworden. In einem kooperativen Netzwerk von Rechtskommunikationen, in einer „heterarchische(n) relationale(n) Verknüpfungsordnung zwischen Situationen“,161 kann nicht länger der staatliche Richter oder das politisch erzeugte Recht ins Zentrum des Methodenproblems gestellt werden. Vielmehr kommt es darauf an, das gemeinsame Wissen – die „Eigenverfassungen der Zivilsektoren“162 – in den Mittelpunkt zu rücken und zu testen, ob und wo man hier auf Strukturen trifft, die sich historisch vorübergehend bewähren und an die die juristische Interpretation anknüpfen kann.

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Ladeur/Augsberg (Fn. 15), 166. Ladeur (Fn. 31), 65, 90. Teubner (Fn. 141 – Zivilverfassungen), 16.

148 https://doi.org/10.17104/9783406746154-116 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:56:25. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Evolution I. Rechtsgeschichte Unter Rechtsgeschichte versteht man die Beschreibung der Veränderung oder Ent- 245 wicklung des Rechts im Medium der historischen Zeit, den „Weg des Rechts“ von den „Anfängen bis in die Gegenwart“.1 Zwar präsentiert die rechtshistorische Literatur diesen Weg heute nicht mehr durchgängig als lineare und kontinuierliche Höherentwicklung, als Weg einer in Westeuropa zu sich selbst kommenden (Rechts-)Vernunft, wie es für die Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend selbstverständlich war. Geblieben ist aber die chronologische Ordnung des historischen Materials nach den großen Epochen der europäischen Geschichte, Antike, Mittelalter, Neuzeit/ Moderne, bisweilen ergänzt um Frühgeschichte und Zeitgeschichte. Das Schlüsselthema bleibt die Modifikation des Rechts in einem als „Weg“ – manchmal auch als „Strom“ oder „Fluss“ – gedachten Erfahrungsraum der Geschichte. Das ist aber wohl nur eine Verlegenheitsformel für die unhintergehbare Paradoxie der historischen Zeit, der Identität von Kontinuität (Identität) und Entwicklung (Differenz).2 Diese Paradoxie versucht die Rechtsgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert in einem Konzept zu entfalten, das die Geschichte des Rechts in Europa ins Zentrum der Forschung stellt, während eine über Europa hinausgreifende globalhistorische Perspektive erst allmählich an Relevanz gewinnt.3 Der neuzeitliche, moderne Geschichtsbegriff konnte erst entstehen, seitdem die Welt 246 nicht mehr in einer unverfügbaren (metaphysisch-religiösen) Transzendenz wurzelt, sondern zum Gegenstand ihrer eigenen Entwicklung geworden ist. Das setzte die Auflösung des stationären Weltbildes des Alten Europa und damit vor allem einen Umbau der ontologischen Zeitsemantik voraus. Erst seitdem die flüchtige Zeit der Gegenwart (tempus) nicht mehr auf eine ewig andauernde Vergangenheit (aeternitas) referiert, erst seitdem die Zeit als Zeitpunkt eine radikale Verzeitlichung der Gegenwart eingeleitet hat, wird eine abstrakte Vorstellung von geschichtlicher Zeit als Abfolge von Ereignissen zwischen Vergangenheit und (unbekannter) Zukunft möglich. Folgt man dem Historiker Reinhard Koselleck, setzt sich ein derartiges Geschichtsbild nicht vor dem 18. Jahrhundert durch, dem Zeitalter, in dem auch der Kollektivsingular „Geschichte“ erfunden wird.4 Erst Autoren wie Giambattista Vico oder Johann Gottfried Herder entwickeln im 17. und 18. Jahrhundert die Idee einer säkularen Kulturtheorie und damit verknüpft die Idee eines spezifisch historischen (nicht theologischen) Sinns.5 Man wird den Auftritt eines intellektuellen Interesses an der Geschichte als 1 2

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So die knappe Formel bei U. Wesel, Geschichte des Rechts, 2014, 605. In Anlehnung an M. Th. Fögen, Rechtsgeschichte, RG 1 (2002), 14ff., die von dem in der Geschichtsforschung vorherrschenden Erklärungsmuster für Veränderungen als „Paradoxie der Identität bei gleichzeitiger Veränderung“ spricht. Vgl. dazu den umfassenden Literaturbericht von T. Duve, Von der Europäischen Rechtsgeschichte zu einer Rechtsgeschichte Europas in globalhistorischer Perspektive, 2012, 18ff. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1979, 300ff., 321ff. (zur „Verzeitlichung“ der Zeit), 12, 130ff. (zum Geschichtsbegriff ); ders., Geschichte, 2004, 647ff. F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, 44, 355f.; H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 1990, 200, 207, weist darauf hin, dass sich etwa bei Schleiermacher der historische Sinn noch über die Geschichte erhebt, im Gegensatz etwa zu Ranke, bei dem es – im Anschluss an Hegel – zu einer

149 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Evolution

Geschichte daher kaum in die antiken Hochkulturen zurückverlegen können. Sicher war Geschichte als „Erinnerungskultur“, als Kunde oder Erzählung (von gr. historia, Erkundung), eine frühe Erscheinung, wie etwa die Bauwerke Altägyptens belegen, die Theologie des frühen Judentums, die Adelsgenealogien des klassischen Athen, die antike Geschichtsschreibung in Athen und Rom (z. B. Herodot, Thukydides, Livius etc.) oder – außerhalb Europas – die Entstehung einer kritischen Annalistik (Sima Qian) im 2. Jahrhundert v. Chr. in China.6 Aber dass „es in der Geschichte um die ‚Geschichte selber‘ geht und nicht um eine Geschichte von etwas, ist eine moderne, eine neuzeitliche Formulierung“.7 247 Erst nachdem die Idee eines spezifisch historischen Sinns ausgebildet war, konnte sich Rechtsgeschichte als wissenschaftliche Fachdisziplin im (späten) 19. Jahrhundert etablieren. Zwar hatte schon die historische Rechtsschule das Geschichtliche zum tragenden Bestandteil des Rechts gemacht. Bei Gustav Hugo, Friedrich Carl v. Savigny oder Georg Friedrich Puchta blieb das historisch-genetische Interesse am römischen Recht aber immer konstruktiv-systematischen Interessen untergeordnet; das historische Verstehen diente dem Programm einer geschichtlichen Rechtsdogmatik, d. h. der Abstützung des Geltungsanspruchs der eigenen rechtspositivistischen Systementwürfe.8 Sieht man von den – in vielerlei Hinsicht Sonderstatus genießenden – (rechts-)geschichtlichen Arbeiten Theodor Mommsens (1817–1903) einmal ab, wird ein von Systemund Geltungsfragen abgelöstes historisches Interesse am römischen Recht erst in Arbeiten wie Otto Lenels Edictum perpetuum (1884) sichtbar. Das dürfte nicht zuletzt politisch-historische Gründe gehabt haben. Erst die großen Reichskodifikationen am Ende des 19. Jahrhunderts (HGB, BGB etc.) führten zu einem Bedeutungsverlust der römischen Rechtsquellen und der daran gebundenen Rechtswissenschaft und ermöglichten damit ein rein historisches Interesse am römischen Recht.9 248 Die Entstehung der Rechtsgeschichte aus der historischen Rechtsschule hat in Deutschland eine enge Verknüpfung von Rechtsgeschichte und römischem Zivilrecht zur Folge gehabt. Diese ist in den deutschen Universitäten bis heute in Form einer relativ starken Stellung der romanistischen Rechtsgeschichte und einer anhaltenden Zuordnung der Rechtsgeschichte zu den zivilrechtlichen Fachbereichen präsent. Dagegen spielte die sich Mitte des 19. Jahrhunderts als Gegenbewegung herausbildende „Germanistik“ – zuerst in der Konzeption eines (positiven) gemeinen deutschen Privatrechts von Carl Friedrich von Gerber realisiert (1846) – bis heute nur eine Nebenrolle. Die Dominanz der romanistischen Rechtsgeschichte war auch inhaltlich folgenreich:

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Kombination von „wahrhaft geschichtlichen Augenblicken“ und der „Freiheit des historischen Zusammenhangs“ kommt. Zu Herder vgl. auch Koselleck (Fn. 4 – Geschichte), 653. Zur „Erinnerungskultur“ der Ägypter und zu den Anfängen der Geschichtsschreibung im frühen Judentum, dem „deuteronomistischen Geschichtswerk“, vgl. nur J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, 185, 216, 229; für die Adelsgenealogien in Athen vgl. R. Thomas, Oral Tradition and Written Record in Classical Athens, 1989, 95ff.; für die antike Geschichtsschreibung die Hinweise bei Koselleck (Fn. 4 – Vergangene Zukunft), 135 (die Griechen haben den „Ereignissen innewohnende Ablaufzeiten“ herauspräpariert, ohne einen Begriff für Geschichte zu kennen). Koselleck (Fn. 4 – Geschichte), 594. Wieacker (Fn. 5), 419, („Geschichtswissenschaft konnte sie aber nicht werden, solange das römische Recht im Dienst der Dogmatik des geltenden Rechts stand.“), 423 („Programm einer geschichtlichen Rechtsdogmatik als positive Rechtswissenschaft“). So die Einschätzung bei Wieacker, ebd., 420; und R. Ogorek, Rechtsgeschichte in der Bundesrepublik, 1994, 12ff., 17f.

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I. Rechtsgeschichte

Sie führte schon im 19. Jahrhundert zu einer am Begriff der Nation bzw. am „Volksgeist“ orientierten Verengung der rechtshistorischen Forschung auf das römische Recht.10 Andere antike Rechtskulturen spielten so gut wie überhaupt keine Rolle. Eine das antike griechische Recht erforschende Gräzistik hat sich im deutschsprachigen Raum erst nach dem Zweiten Weltkrieg etablieren können (Otto Pringsheim, Hans-Julius Wolff, Erik Wolf ), während die Gräzistik heute schwerpunktmäßig – von wenigen Ausnahmen abgesehen (Gerhard Thür) – in den classical departments der US-Universitäten (Michael Gagarin, David Cohen, Kevin Robb u. a.) angesiedelt ist. Auch das Recht der vorderasiatischen Hochkulturen ist bis heute selten Gegenstand rechtshistorischer Forschung,11 sondern wird eher in der Ägyptologie ( Jan Assmann), Assyriologie, altorientalischen Philologie (Hans Neumann) oder Theologie gepflegt.12 Nur langsam scheinen andere Strömungen, wie etwa die Arbeiten von André Magdelain und Yan Thomas oder das bislang wenig beachtete Werk David Daubes, Wirkungen zu entfalten. Bei Daube ist die Geschichte des römischen Rechts von Anfang an in einen interkulturellen Vergleich eingebettet.13 Verfügte die romanistische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts über ein relativ ein- 249 heitliches Forschungsprofil, hat sich die Disziplin im 20. Jahrhundert in divergierende Strömungen aufgelöst. Einerseits werden bis heute Bemühungen um eine am geltenden Privatrecht orientierte Kanonisierung des römischen Rechts fortgesetzt (z. B. Max Kaser/Rolf Knütel),14 andererseits entsteht schon im frühen 20. Jahrhundert eine sich von allen dogmatischen Ansprüchen lossagende, ausschließlich am historischen Sinn und an der historischen Wahrheit orientierte Rechtsgeschichte. Vor allem Franz Wieacker hat die Rechtsgeschichte in diese Richtung gelenkt. Das mit seinem Namen verbundene Programm einer rein historischen Auslegung der Quellen hat sich zunächst als Ideengeschichte in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1953/1967) und später, mit eher sozialhistorischer Ausrichtung, in der Römische(n) Rechtsgeschichte (1988/ 2006) niedergeschlagen.15 Darüber hinaus begann sich schon in Weimar ein Interesse an der Semantik von Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zur modernen Politik zu artikulieren. Anknüpfend an Historiker wie Otto Hintze, Otto Brunner und Fritz Hartung firmiert diese Forschungsrichtung heute unter der Bezeichnung „Verfassungsgeschichte der Neuzeit“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Dieter Grimm, Dietmar Willoweit u. a.). Auch Michael Stolleis’ wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Staats- und Verwaltungsrechtslehre bewegt sich stark in diesem Kontext.16 Diese grobe Skizze ließe sich leicht um weitere Hinweise erweitern, etwa auf die juris- 250 tische Zeitgeschichte ( Joachim Rückert, Diethelm Klippel), die neuere Methodenge10 11

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Vgl. Ogorek (Fn. 9), 47 (mit Hinweis auf P. Koschaker, Europa und das römische Recht). Siehe aber z. B. G. Pfeifer, Vom Wissen und Schaffen des Rechts im Alten Orient, Rechtsgeschichte 19 (2011), 263ff.; und ders., Juristische Domäne oder Hilfswissenschaft?, 2014, 409ff. Vgl. dazu den Sammelband von U. Manthe (Hrsg.), Die Rechtskulturen der Antike, 2003. Ausnahme: P. Koschaker, der um 1900 als Altorientalist angefangen hat. Vgl. dazu den Nachruf auf Daube von M. Th. Fögen, David Daube, RJ 18 (1999), 195ff. Auf der Grundlage von M. Kaser, Das Römische Privatrecht, 1971. Vgl. die Selbsteinschätzung zur Funktion der Rechtsgeschichte bei Wieacker (Fn. 5), 428f. Zu Stolleis’ Projekt einer „Wissenschaftsgeschichte“ des öffentlichen Rechts vgl. nur M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Bd. 1, 1988, 43ff.; und ders., Öffentliches Recht in Deutschland, 2014.

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§ 7. Evolution

schichte ( Jan Schröder) oder auf die jüngere Forschung zur Entstehung des Völkerrechts aus dem Geist des Positivismus (Martti Koskenniemi). Wir verfolgen hier aber nicht die Absicht einer repräsentativen oder gar umfassenden Darstellung der Entwicklung der Rechtsgeschichte als akademischer Fachdisziplin. Die bisherigen Überlegungen dienen lediglich der Abstützung der Feststellung, dass sich die Rechtsgeschichte heute in unterschiedliche Forschungsrichtungen pluralisiert und sich von der Vorstellung einer einheitlichen Fragestellung und Methode verabschiedet hat. Die Rechtsgeschichte oszilliert heute zwischen einer eher selbstgenügsamen Dogmengeschichte des römischen Zivilrechts (Typ: Kaser) und einer sozialhistorisch ausgerichteten Rechtsgeschichte (Typ: Wieacker); in jüngerer Zeit hat die Rechtsgeschichte außerdem ihre eigene fachliche Zuordnung zur Rechtswissenschaft zugunsten einer kulturhistorischen Öffnung gelockert.17 Damit hat sich die Rechtsgeschichte aber wohl nur auf ein „Aussitzungskonzept“ geeinigt,18 das sicher nicht die letzte Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Fachs und seiner Einheit sein kann. Ein Ausweg aus dieser Lage könnte darin liegen, die Rechtsgeschichte stärker für theoretisch abgesicherte Fragestellungen zu öffnen, wie sie die Entwicklungsgeschichte des Rechts (Max Weber) und die neuere Evolutionstheorie (Niklas Luhmann) schon seit längerem anbieten. So wie Rechtstheorie – entgegen Kelsen, Hart, Alexy u. a. – nicht sinnvoll ohne Reflexion der historischen Genese ihrer Kategorien betrieben werden kann, also nur in Verbindung mit Rechtsgeschichte, könnte umgekehrt die Rechtsgeschichte von einer Öffnung in Richtung Rechtstheorie profitieren,19 insbesondere wenn diese selbst stärker kultur- und medienhistorisch ausgerichtet wird. II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber) 251 Bereits im 19. Jahrhundert finden sich Versuche, Rechtsgeschichte stärker mit theoretisch abgesicherten Fragestellungen zu verknüpfen. Schon in der schottischen Aufklärung, in der historischen Rechtsschule und im Rechtspositivismus kann man Ansätze zu einer Entwicklungsgeschichte bzw. Evolutionstheorie des Rechts erkennen.20 Prominenz hat dieser Forschungstypus aber erst im 20. Jahrhundert und hier hauptsächlich durch Max Webers „Entwicklungsgeschichte“ des Rechts erlangt.21 Webers Entwicklungsgeschichte fragt nach der Verkettung derjenigen inner- und außerjuristischen Umstände, die zur Herausbildung des modernen Rechts geführt haben. Ihr genaues Thema ist der „spezifisch geartete ‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“,22 die Entfaltung der „inneren Eigengesetzlichkeiten“ unterschiedlichster Ord17

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Dazu Duve (Fn. 3); vgl. auch ders., Rechtsgeschichte – Traditionen und Perspektiven, KritV 97 (2014), 96ff., 112ff. Ogorek (Fn. 9), 99, 29. Dafür plädieren z. B. D. Wyduckel, Schnittstellen von Rechtstheorie und Rechtsgeschichte, 2003, 109ff.; und Ogorek (Fn. 9), 31. Vgl. nur P. Stein, Legal Evolution, 1980, 23ff. (Schottische Aufklärung); M. Amstutz, Evolutorisches Wirtschaftsrecht, 2001, 141ff. Den Begriff „Entwicklungsgeschichte“ übernimmt Weber offensichtlich von H. Rickert. Vgl. dazu W. Schluchter, Religion und Lebensführung, 1988, Bd. 2, 269 Fn. 16; ders., Individualismus, Verantwortungsethik und Vielfalt, 2000, 169f. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 1986, 11. Zu dieser Ausgangsperspektive des Weberschen Gesamtwerks vgl. nur Schluchter (Fn. 21 – Individualismus), 153ff.; S. Breuer, Max Webers tragische Soziologie, 2006, 288f.

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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)

nungen,23 die nur der Okzident, der Westen hervorgebracht hat, wie etwa rationale Herrschaft, kapitalistische Wirtschaft, autonome (Natur-)Wissenschaft und eben, so Weber, modernes rationales Recht. Bei Webers Rechtsentwicklungsgeschichte handelt es sich also weniger um Rechtssoziologie, wie die nachträglich angelegte Überschrift von Marianne Weber und M. Palyi suggeriert, sondern eher um eine „historisch-vergleichende Kultursoziologie des Rechts in universalhistorischer Perspektive“.24 Die universalhistorische Fragestellung führte in Webers Kultursoziologie des Rechts 252 zum Entwurf einer nicht ganz einfachen Typologie.25 Darin geht es im Kern um die Evolution von Formalismus im Recht. Modernes (liberales) Recht nennt Weber „rationales Recht“ und definiert genauer: ein durch seinen „formalen Charakter“ bestimmtes Recht. Der erste Abschnitt der so genannten Rechtssoziologie – Die Differenzierung der sachlichen Rechtsgebiete – bezeichnet Recht dann als formal (und rational), wenn bei seinen Operationen „ausschließlich eindeutige generelle Tatbestandsmerkmale materiell-rechtlich und prozessual beachtet werden“.26 Der Gegenbegriff dazu ist materiale Rationalität. Materiale Rationalität dirigiert ein Recht dann, wenn konkrete Wertungen des Einzelfalls, „ethische Imperative oder utilitarische oder andere Zweckmäßigkeitsregeln oder politische Maximen“ Rechtsschöpfungs- und Rechtsfindungsprobleme bestimmen.27 Webers Rechtsformalismus kennt wiederum zwei Entwicklungsstufen. In Stufe 1 besitzen die rechtlich relevanten Merkmale sinnlich anschaulichen Charakter (im Folgenden: empirischer Formalismus). In Stufe 2 wird das Recht rein rational, denkend, durch „logische Sinndeutung“ erschlossen (im Folgenden: logischer Formalismus).28 Der empirische Formalismus setzt bereits eine analytische „Zersetzung der plastischen Tatbestandskomplexe des Alltagslebens in lauter juristisch eindeutig qualifizierte Elementarakte“,29 d. h. zumindest Ansätze einer begrifflichen Analyse durch gedankliche Abstraktion (vom Gegebenen) voraus. Das konstruktive, synthetische Moment ist im empirischen Formalismus aber nur schwach oder gar nicht ausgebildet. Der empirische Formalismus haftet an äußerlichen Merkmalen, er arbeitet mit bestimmten Spruchformeln und Ritualen und basiert beispielsweise darauf, „daß ein bestimmtes Wort gesprochen, eine Unterschrift gegeben, eine bestimmte, ein für alle Mal in ihrer Bedeutung feststehende symbolische Handlung“ vollzogen wird.30 Entwicklungsgeschichtlich gesehen war mit dem empirischen Formalismus zwar bereits ein relativ hoher Grad von Rationalität erreicht, aber wo dieser Typus bestimmend blieb, blieb die Rechtsentwicklung in Kasuistik und Präjudizien23

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Weber (Fn. 22), 541; S. Breuer, Bürokratie und Charisma, 1994, 40 (mit der Bemerkung, dass „Rationalisierung“ bei Weber als Ausdifferenzierung der inneren Eigengesetzlichkeiten von Ordnungen verstanden werden müsse, also als Ausdifferenzierung autonomer Sinnsysteme). W. Gephart, Das Collagenwerk, RG 3 (2003), 111, 127; vgl. auch B. K. Quensel, Logik und Methode in der „Rechtssoziologie“ Max Webers, Zeitschrift für Rechtssoziologie 18/2 (1997), 133, 134. Für einen Überblick über die Gesamttypologie vgl. die schematischen Darstellungen bei Quensel (Fn. 24), 133ff. 144ff., 148; ders./H. Treiber, Das „Ideal“ konstruktiver Jurisprudenz als Methode, Rechtstheorie 33 (2002), 91ff., 112f.; W. Gephardt, Gesellschaftstheorie und Recht, 1993, 497ff., 520ff. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 1980, 397. Weber, ebd., vgl. auch 396. Weber, ebd., 396. Weber spricht auch von „logischer Rationalität“ (396), „rein logische(r) juristische(r) Konstruktion“ (493) oder „abstrakter Rechtslogik“ (495). Weber, ebd., 464. Weber, ebd., 396.

153 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Evolution

rechtsprechung stecken. Erst der logische Rechtsformalismus führte zur Entwicklung des typisch modernen, nach Weber formal-rationalen Rechts. 253 Der empirische Formalismus bildete nach Weber die „strengste Art des Rechtsformalismus“.31 Elemente des empirischen Formalismus kannten bereits die frühesten religiösen Rechte in Form eines magisch bedingten Formalismus;32 eine „welthistorische“ Bedeutung erreichte der empirische Formalismus aber erst im antiken römischen Recht.33 Weber nennt als Beispiel mehrfach das altrömische (zweiteilige) Legisaktionenverfahren und die ihm immanente Eigentümlichkeit des strengen Wortformalismus. Das Legisaktionenverfahren basierte auf der Verwendung standardisierter Spruchformeln (sog. legis actio von lat. lege agere, mit Spruchformeln klagen). Schon die geringste Abweichung von einer Spruchformel, der kleinste Sprechfehler, konnte hier zum Verlust des Rechtsmittels führen, „im Gegensatz zu unserem Prinzip der ‚Klagesubstantiierung‘, bei welcher der Vortrag von Tatsachen zur Begründung der Klage genügt, falls sie unter irgendeinem, einerlei welchem, rechtlichen Gesichtspunkt den erhobenen Anspruch rechtfertigen“.34 Als empirisch formalistisch im Sinne Webers können ferner die altrömischen Rechtsgeschäfte, wie etwa die mancipatio, qualifiziert werden. Bei der mancipatio (von lat. manus, Hand und capere, ergreifen) war die Begründung einer neuen eigentumsähnlichen Gewalt z. B. über einen Sklaven von einem feierlichen Ritual zwischen einem auctor (von augere, vermehren, verstärken) und einem Erwerber abhängig. Zu diesem Ritual gehörte u. a., dass der Erwerber den Sklaven fasst und eine standardisierte Spruchformel (meum esse aio) vor mindestens fünf römischen Bürgern sprach.35 Was Weber unter empirischem Rechtsformalismus verstanden wissen wollte, lässt sich aber auch am geltenden Recht, z. B. an den Vorschriften der §§ 1310ff. BGB, demonstrieren. Diese machen die Gültigkeit der Eheschließung von der persönlichen Erklärung der gleichzeitig anwesenden Eheschließenden vor dem Standesbeamten mit fakultativer Hinzuziehung von Zeugen abhängig (zu den jeweiligen Spruchformeln vgl. insbesondere § 1312 BGB). In all diesen Fällen – legis actio, mancipatio und Eheschließung – handelt es sich um „Rechtsgeschäfte“, die auf performativen Sprechakten (im Sinne John Austins) beruhen,36 d. h. der Geltungstransfer des Rechts, die Gültigkeit der Rechtshandlung, wird durch den Sprechakt, die synästhetische, sicht- und hörbare Form der Aussprache, also durch die Kommunikation und die dazugehörigen Handlungen selbst bewirkt.

254 Der Rechtsformalismus gilt bei Weber als entwickelt, wenn „die einzelnen anerkanntermaßen geltenden Rechtsregeln durch die Mittel der Logik zu einem in sich widerspruchslosen Zusammenhang von abstrakten Rechtssätzen“ zusammengefügt und „rationalisiert“ sind.37 Weber orientierte sich bei der begrifflichen Bestimmung dieser Entwicklungsstufe ganz an der Rechtswissenschaft seiner Zeit, der „gemeinrechtlichen Jurisprudenz“ des Rechtspositivismus, dessen Entwürfe für ihn – paradigmatisch im Pandektenlehrbuch von Bernhard Windscheid – den „Höchstgrad methodisch-logischer Rationalität“ erreicht hatten.38 Es geht dabei um Systemrationalität, und Systemrationalität bedeutete nicht einfach „Zweckrationalität“ im Sinne der soziologi31 32 33 34

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Weber, ebd. Weber, ebd., 504. Weber, ebd., 463; M. Weber, Wirtschaftsgeschichte (1923), 1991, 290ff. Weber (Fn. 26), 463, ähnlich 446; ders. (Fn. 33), 290f. („streng formales Verfahren“). Zum Legisaktionenverfahren vgl. nur M. Kaser/R. Knütel, Römisches Privatrecht, 2014, 428ff., und das berühmte Beispiel von Gaius, Institutionen, 4 (Verwechselung der Worte Bäume (arbores) und Weinstöcke (vites)) z. B. bei M. Th. Fögen, Römische Rechtsgeschichten, 2002, 139. Gaius, Institutionen, 1, 119; dazu etwa Kaser/Knütel (Fn. 34), 51f.; Wesel (Fn. 1), 186f. In der romanistischen Forschung wird hier im Anschluss an die wegweisenden Untersuchungen von R. v. Jhering (Geist des römischen Rechts), auf dem auch Webers Begriff des anschaulichen Formalismus beruht, von „Spruchformen“, „Realformen“ oder „Wirkformen“ und neuerdings auch von „Performanz“ gesprochen. Vgl. nur Kaser/Knütel (Fn. 34), 49f.; F. Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, 1988, 320; vgl. auch A. Magdelain, De la Royauté et du droit de Romulus à Sabinus, 1995, 17ff. (la parole active). Weber (Fn. 26), 397. Weber, ebd., 397, 495 (zu Windscheid). Der Vater des logischen Geschlossenheitsideals war für Weber freilich Jeremy Bentham.

154 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)

schen Grundbegriffe, also (interessenbedingte) Abwägung von Mittel und Zweck im Hinblick auf Erwartungen anderer.39 Systemrationalität im Sinne Webers verknüpfte vielmehr zwei Komponenten: Sie basierte zum einen auf juristisch konstruktiver Arbeit, der Synthese von Rechtsnormen zu Rechtsinstituten und andererseits auf der „logischen Neusystematisierung“ solcher Normen und Institute.40 Logische Rationalität heißt mit anderen Worten, abstrakte Regeln und Institute zu konstruieren und diese über Rangverhältnisse (Hierarchien) auf letzte und allgemeinste Prinzipien zu reduzieren, um das Recht von diesem höchsten Punkt aus zu einem in sich widerspruchsfreien „lückenlosen“ System zu formen. Wie für Rousseau, Kant, Savigny, Puchta oder Windscheid bildet auch für Weber der freie (allgemeine) Wille bzw. das „souveräne Bewusstsein“ die Primärform oder Spitze dieses Systems;41 mit Franco Moretti könnte man auch sagen, dass der Bürger (oder genauer: der Bildungsbürger) und seine Integrationsleistungen das empirische Substrat, der Träger, dieses Weber’schen souveränen Bewusstseins sind.42 Zugleich betont Weber die mechanistische Komponente des rechtspositivistischen Systems, seine von persönlichen (klientelistischen) Beziehungen unabhängige (dehumanisierte) Funktionsweise. Weber rekonstruierte das Rechtssystem mit anderen Worten „in enger Anlehnung an das Vorbild der Mechanik als ein durchgängig determiniertes rationales System“,43 als eine Einheit, von der aus sich jede Rechtsentscheidung als kalkulierbare „Anwendung“ eines abstrakten Rechtssatzes auf einen konkreten Tatbestand – jenseits des spontanen Charakters des täglichen Lebens – begreifen lässt.44 Webers Begriff der Entwicklungsgeschichte lässt sich jetzt genauer bestimmen. Im 255 Vordergrund steht die Rekonstruktion der inner- und außerjuristischen Bedingungen der Geschichte und Evolution eines systemisch rationalisierten Rechts, eines Rechts, das sich wie eine triviale Maschine kalkulierbar und vorhersehbar programmieren lässt. Weber entwirft eine Typologie der „formal-rationalen Rechtsentfaltung“,45 die sich im welthistorischen Maßstab gesehen nur in Kontinentaleuropa, nur im Westen, nur im rechtspositivistischen Systembegriff zu ihrer Vollstufe entwickelt hatte. Aber welche innerjuristischen Bedingungen sind dafür verantwortlich? Diese Frage beantwortet die Unterscheidung von Rechtspraxis und Rechtspflege, wo- 256 bei sich Weber vor allem für die Trägerschichten der Rechtspflege, die „Rechtshonora39

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Die genaue Definition lautet: „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt: also jedenfalls weder affektuell (und insbesondere nicht emotional), noch traditional handelt.“, Weber (Fn. 26), 13. Weber, ebd., 396, vgl. z. B. auch 506 („die rein fachjuristische Logik, die juristische ‚Konstruktion‘ der Tatbestände des Lebens an der Hand abstrakter ‚Rechtssätze‘...“) und 495. Weber, ebd., 496. Vgl. F. Moretti, The Bourgeois, 2013; vgl. auch K.-H. Ladeur, Die Textualität des Rechts, 2015i. E., Teil 4. S. Breuer, Max Webers Herrschaftssoziologie, 1991, 207. Vgl. auch Weber (Fn. 33), 293 (mit der Bemerkung, dass der Kapitalismus ein Recht brauche, „das sich ähnlich berechnen läßt wie eine Maschine“). Weber (Fn. 26), 397, vgl. auch 493; Quensel/Treiber (Fn. 25), 101, 116ff., die u. a. auf Jhering und dessen „Theorie der juristischen Technik“ mit ihren drei „Fundamentaloperationen“ („juristische Analyse“, „logische Construction“, „juristische Construction“) hinweisen. Quensel/Treiber (Fn. 25), 91.

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§ 7. Evolution

tioren“, interessiert.46 Erst die Einrichtung einer kontinuierlichen Rechtspflege ließ überhaupt eine spezifisch juristische Expertise, „Rechtsdenken“, entstehen, die ihrerseits die mit der Rechtspraxis befasste Honoratiorenschicht beeinflusste. Dabei unterscheidet Weber drei Entwicklungspfade: Das Rechtsdenken entsteht (1) entweder aus „handwerklicher“ Erfahrung, als „empirische Lehre des Rechts durch Praktiker“; oder es geht (2) aus theoretischer Lehre in besonderen Rechtsschulen, „in Gestalt rational systematischer Bearbeitung“ hervor;47 oder (3) die Rechtslehre erfolgt an Priesterschulen. Diese letzte Möglichkeit gilt als „eigentümliche Sonderform“ mit Drift zur materialen Rationalisierung und ist Weber zufolge etwa für die hinduistische, islamische und jüdische Rechtskultur bestimmend. Idealtypisch für das empirische Rechtsdenken ist die englische zunftmäßige Rechtslehre durch Anwälte. Den reinsten Typus des theoretisch-wissenschaftlichen Rechtsdenkens stellt dagegen die „moderne rationale juristische Universitätsschulung“ dar,48 wie sie sich in Kontinentaleuropa zuerst an der juristischen Fakultät von Bologna etabliert hat. Die Schulung der Rechtspraktiker erfolgte in diesem Fall an relativ unabhängigen Einrichtungen, in Universitäten freier Städte. Damit gewinnt das Universitätsrecht im Vergleich insbesondere zum englischen Anwaltsrecht eine viel größere Distanz zu den Alltagsbedürfnissen der Rechtsinteressenten und den (ökonomischen) Eigeninteressen der Rechtspraktiker. Es kann sich daher auch stärker entlang der rechtsinternen Denkbedürfnisse, der Eigengesetzlichkeiten der Juristenlogik, entfalten.49 257 Mit Hilfe dieser Unterscheidungen ist ein entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhang hergestellt, durch den die Evolution der innerjuristischen Voraussetzungen des rationalen Rechts erklärt werden kann. Der logische Formalismus ist das Werk theoretisch und historisch gebildeter Juristen, das Werk von Professorenbeamten wie Windscheid, Goldschmidt oder Jhering und beruht auf der gedanklich systematischen Neubearbeitung des Iustinianischen Rechts und insbesondere der Digesten. Das setzt wiederum die Tradierung dieses Rechts seit dem späten 11. Jahrhundert voraus, also jenem Zeitpunkt, zu dem das in einem alten Manuskript aufgezeichnete römische Recht in einer italienischen Bibliothek „wiederentdeckt“ worden war. Für dessen Rezeption bilden die italienischen Notare, die Universitäten und die Kanonistik, d. h. die Rechtslehre der römisch-katholischen Kirche, die zentralen Verbindungsglieder.50 Im Zentrum der Weberschen Entwicklungsgeschichte steht also letztlich das römische Zivilrecht, und zwar nicht so sehr seinem Inhalt nach, sondern vor allem im Hinblick auf seine „streng juristischen Schemata und Denkformen“.51 Weber weist wiederholt darauf hin, dass sämtliche charakteristischen Institute des modernen (kapitalistischen) Wirtschaftsrechts wie etwa Privateigentum, Rentenbrief, Schuldverschreibung, Aktie, Wechsel, Handelsgesellschaft oder Hypothek mit Grundbuchsicherung nicht römischen Ursprungs sind.52 Das moderne Privatrecht, Strafrecht und öffentliche Recht lässt sich also nur nach der formalen Seite, nur im Hinblick auf die streng formale 46

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Weber (Fn. 26), 456, vgl. auch ebd., 171 (mit dem Hinweis, dass Honoratioren in ihrer primären Bedeutung solche Personen sind, die von ihrer Tätigkeit leben können, ohne von ihr leben zu müssen). Weber, ebd., 456. Zu Webers Analyse des englischen Rechts vgl. auch K. Zweigert/H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, 190f. Weber (Fn. 26), 458. Weber, ebd., 493. Weber, ebd., 480 (zum kanonischen Recht), 491 (zur Rezeption des römischen Rechts). Weber (Fn. 22), 2. Weber (Fn. 33), 292; zum Eigentum vgl. etwa Weber (Fn. 26), 467.

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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber)

Rechtsexpertise, auf das römische Zivilrecht zurückführen. Nur insoweit bildet das römische Zivilrecht den Gegenstand, an dem sich das europäische Rechtsdenken geschult und an dem sich das formal-rationale Recht entwickelt hat. Diese Zentralstellung des römischen Zivilrechts führt Weber in einem weiteren Argu- 258 mentationsschritt zu der Frage, wodurch dessen Sonderstellung im Vergleich zu anderen antiken Rechten bedingt ist. Das erklärt die webersche Entwicklungsgeschichte – wie die romanistische Rechtsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – rein endogen: Sie attestiert dem römischen Recht einen bereits in seiner Frühphase in Erscheinung getretenen eminent analytischen Charakter, der zusammen mit den Eigentümlichkeiten des römischen Prozessrechts den besonderen Formalismus des römischen Rechts bewirkt habe. Hinter dieser These steht wiederum eine Argumentationskette, die vom Recht zur Religion als dem vermeintlichen „Anfang“ des Rechts führt: Der Formalismus des römischen Zivilrechts ist letztlich auf die Eigenheiten der „national-römischen Religion“ und der sakralen Rechtsfindung der römischen Priesterjuristen (pontifices) zurückzuführen.53 Für Weber besteht die ausschlaggebende Eigentümlichkeit der „national-römischen Religion“ in der begrifflichen und abstrakten (analytischen) Scheidung der Kompetenzen der vielen Gottheiten (numina) und einer darauf bezogenen „unausgesetzte(n) Pflege einer praktisch rationalen sakralrechtlichen Kasuistik, eine Art von sakraler Kautelarjurisprudenz und die Behandlung dieser Dinge gewissermaßen als Advokatenprobleme“.54 Die römische Religionslehre kreist für Weber daher schon früh um die Pflege juristischer Korrektheit und um Etikettenfragen, statt um Sünde, Buße oder Rettung.55 „Das Sakralrecht“, verkündet Weber in der Religionssoziologie, „wurde so zur Mutter rationalen juristischen Denkens.“56 Während die Beschreibung des Bedingungszusammenhangs im Bereich der innerjuris- 259 tischen Faktoren relativ leicht fällt, ist die Rekonstruktion der außerjuristischen Einflüsse, die die Durchsetzung des rationalen Formalrechts bewirkt haben sollen, weitaus schwieriger. Weber verweist hier auf unterschiedliche Faktoren wie etwa auf das Verhältnis von theokratischer und profaner Gewalt, auf ökonomische Bedingungen wie z. B. Abhängigkeit der Vertragsfreiheit bzw. subjektiver Rechte von ökonomischen Prozessen (Markterweiterung), aber auch auf politische Machtverhältnisse. Die Evolution des Formalrechts ist also durch eine Mehrzahl außerjuristischer Faktoren bedingt gewesen. Von ihnen allen räumt Weber dem politischen Faktor jedoch eine Sonderstellung ein. Das schlägt sich rechtssoziologisch hauptsächlich in einem ausgeprägten Voluntarismus nieder, d. h. in der Annahme einer auf den freien Willen rückführbaren Be-Gründung des Rechts durch „Satzung“. Das Satzungsprinzip, die Setzung bzw. Positivierung des Rechts, spielt in Webers Entwicklungsgeschichte eine außerordentliche Rolle. Für neue Rechtsnormen und überhaupt für Variation im Sinne eines Abrückens von der Stabilität der Tradition ist das Satzungsprinzip schon auf der ersten Stufe der Rechtsentwicklung, auf der Stufe der charismatischen Rechtsoffenbarung, ausschlaggebend – und schon hier ist Satzung auf das Engste mit dem Prinzip der „Oktroyierung“ verknüpft.57 Webers 53 54 55 56 57

Weber, ebd., 464, 251. Weber, ebd., 251. Weber, ebd., 464, vgl. auch 251. Weber, ebd., 250f. Weber, ebd., 441, 446. („Die Rechtsoffenbarung in diesen Formen [durch oktroyierte neue Regeln, T. V.] ist das urwüchsige revolutionierende Element gegenüber der Stabilität der Tradition und die Mutter aller ‚Satzung‘ von Recht.“). Ist die Oktroyierung demokratisch organisiert, wie im Athen des

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Entwicklungsgeschichte des Rechts kann insofern nicht von seiner Herrschafts- bzw. Staatssoziologie getrennt werden, ja mehr noch, die vergleichende Kultursoziologie des Rechts steht über weite Strecken in einer eher dienenden Rolle zu Webers Theorie des (rationalen) Staates.58 Denn erst der Staat sorgt über Satzung und Kodifikation für die Realisation des formal-rationalen Juristenrechts. Das geschieht ansatzweise schon in den antiken Stadtstaaten Athen und Rom, sodann im kanonischen Recht, in den naturrechtlichen Kodifikationen des 18. Jahrhunderts und ausgeprägter schließlich in der französischen Revolutionsverfassung, dem Code Civil und dem BGB. 260 Wie stark Weber seine rechtstheoretischen Forschungsinteressen denen der Herrschaftssoziologie unterordnet, zeigt sich vielleicht noch deutlicher auf logisch-begrifflicher Ebene. Recht wird hier – im Unterschied etwa zu Konvention und Sitte – durch das Moment des Rechtszwangs bestimmt.59 Das gilt auch und gerade im Hinblick auf seine empirische Geltung (Wirksamkeit).60 Weber lehnt es zwar ab, für die Organisation und Ausübung von gewaltsamem Rechtszwang ein staatliches Monopol als unerlässlich anzusehen; es genügt ihm eine Lage, „wo die Anwendung irgendwelcher, physischer oder psychischer, Zwangsmittel in Aussicht steht, die von einem Zwangsapparat, d. h. von einer oder mehreren Personen ausgeübt wird, welche sich zu diesem Behuf für den Fall des Eintritts des betreffenden Tatbestandes bereithalten, wo also eine spezifische Art der Vergesellschaftung zum Zweck des ‚Rechtszwanges‘ existiert“.61 Hier wird eine unauflösliche Beziehung zwischen Recht und Gewalt unterstellt, und darin ist Weber ganz ein Sohn seiner Zeit: ein deutscher Herrschaftstheoretiker des Rechts, der den politischen und staatlichen Anteil an der Rechtsbildung überschätzt. Diese verfehlte Staatsfixierung zeigt sich auch in Webers Einschätzung des englischen Common law. Die These von der minderen Rationalität des Common law, nach Weber Resultat seiner engen Verbindung mit ökonomischen Interessen,62 ist schon theoretisch fragwürdig, geht es im Recht doch auch um dessen Responsivität für gesellschaftliche Konventions- und Regelbildung. Webers These dürfte aber auch historisch an den Realitäten vorbeigehen,63 jedenfalls mutet sie aus heutiger Sicht eher anachronistisch an: Während in Deutschland und Kontinentaleuropa die Fixierung der Juristen auf den Staat diese auf einen Entwicklungspfad festgelegt hat, innerhalb dessen die Lösung der Probleme eines beschleunigten gesell-

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5. und 4. Jahrhunderts v. Chr., entwickelt sich aus der Satzung durch charismatische Rechtsoffenbarung die „Auffassung des Rechts als einer rationalen Schöpfung“, ebd., 783; ähnlich Breuer (Fn. 22), 192f. (das demokratische Gesetz als die Geburtsstunde der polis). Besonders deutlich: Weber (Fn. 26), 482ff., und ders. (Fn. 33), z. B. 290 („Das rationale Recht des modernen okzidentalen Staates, nach welchem das fachmännisch gebildete Beamtentum entscheidet, stammt nach der formalen Seite, nicht nach dem Inhalt, aus dem römischen Recht.“); dazu Breuer (Fn. 23), 5ff., 12ff.; ders. (Fn. 43), insb. 191ff.; W. Schluchter, Die Entstehung des modernen Rationalismus, 1998, 181ff. Weber (Fn. 26), 182 („ ‚Recht‘ ist für uns eine ‚Ordnung‘ mit gewissen spezifischen Garantien für die Chance ihrer empirischen Geltung.“); dazu Quensel (Fn. 24), 140f. Weber (Fn. 26), 183 („... daß durchschnittlich eine Chance: die geltende Norm werde infolge jenes Rechtszwanges Nachachtung finden, in praktisch relevantem Maße besteht“). Weber, ebd., 185. Vgl. nur Weber, ebd., 445 (Common law und laufende Abgleichung ökonomischer Interessen), 467 (römische Rechtslogik vs. Deliktsbegriff des trespass), 510f. (mindere Rationalität des Common law, weil es bis Austin keine Jurisprudenz gab, weil es an umfassender Kodifikation mangelte und kein rationales Anwendungsparadigma herrschte), 564 (fehlender Rechtsschutz der ökonomisch Schwachen). Zum Common law bei Weber vgl. nur Quensel (Fn. 24), 150; Breuer (Fn. 43), 204ff. Die Entgegensetzung von kontinentaler Jurisprudenz und Common law ist im Übrigen nicht ganz unproblematisch. Weber weist selbst darauf hin (z. B. 151, 493), dass auch das Common law durch römische Denkformen rationalisiert wurde. Vgl. dazu nur J. Mokyr, The Institutional Origins of the Industrial Revolution, 2008, 64ff. (Mokyr betont – im Kontrast zu Webers Sichtweise – die „informale“ Normativität (private-order contractenforcement institutions), die kulturelle Infrastruktur formaler Institutionen; eine Infrastruktur, die den gentleman und damit Vertrauen zwischen Fremden – Marktbeziehungen, Entwicklung neuer Technologien durch Partnerschaften, Unternehmen etc. – möglich werden ließ); vgl. auch die Hinweise bei Ladeur (Fn. 42).

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II. Entwicklungsgeschichte des Rechts (Weber) schaftlichen Wandels auf eine politische Option, nämlich Gesetzgebung, beschränkt ist, eröffnen das Common law und die an ihm geschulte Rechtstheorie einen sehr viel breiteren Optionenraum, innerhalb dessen das Recht auf die gesteigerte Eigendynamik der modernen Gesellschaft und ihrer vielen unterschiedlichen Praxisfelder reagieren kann (z. B. in Form einer ökonomischen Analyse des Rechts). Auch auf methodologischer Ebene ist Webers Entwicklungsgeschichte nicht frei von Aporien. Die ganze Problematik seines epigenetischen Erklärungsmodells,64 bei dem einzelne „Entwicklungsstufen“ oder „Rationalitätsstufen“ von der historischen Realität abgezogen, generalisiert und dann mit historischem Material angereichert werden, ist bereits im Syntagma „Entwicklung-Geschichte“ angelegt. Auf der einen Seite kann sich die Theorie nicht in „Geschichte“ erschöpfen, in der Aufzählung bloß individueller Ereignisse, Dekalog, Solon, Zwölf-Tafel-Gesetz, Justinian, französische Revolutionsverfassung, Code civil, BGB etc. Weber, der Bewunderer „großer Politik“, neigt zwar dazu, historische Veränderungen auf Machtkämpfe, d. h. soziologisch: Selektionen auf Kontingenz zurückzuführen. Dazu passen eine Reihe von Äußerungen des Methodologen Weber, in denen die operative Wirklichkeit der Geschichte zu einem (sinnlosen) unendlichen Strom „unermesslichen Geschehens“, der sich der Ewigkeit entgegenwälzt, verdünnt wird.65 Andererseits geht es Weber aber gerade um die Prozesse der formalen Rationalisierung des Rechts, und darin ist die Theorie auf die Beobachtung von Steigerungsverhältnissen und historischen Tendenzen festgelegt. Der darauf bezogene Entwicklungsbegriff ist zu Webers Zeiten jedoch mit allerlei Arten von Fortschrittskonzepten belastet, z. B. in Form aufeinander folgender Gesellschaftsformationen (Marx), Stadien (Comte) oder Stufen (Bücher), die Weber allesamt zutiefst verdächtig sind.66 Auf exakt diese Ausgangslage antwortet Webers Begriff der Entwicklungsgeschichte. Weber meint, sich der Opposition Sinnlosigkeit der Geschichte vs. Entwicklung = Forschritt durch eine idealtypische Entwicklungskonstruktion entziehen zu können. Diese idealtypische Konstruktion reduziert Geschichte auf ein bloßes Modell, auf ein rein theoretisches Konstrukt zur Beschreibung der (in ihrer operativen Realität unbeschreibbaren) historischen Realität. Diese idealtypische Modellbildung hat zwar den schwerlich zu leugnenden Vorteil, die im 19. Jahrhundert übliche Fortschrittsmetaphysik hinter sich lassen zu können, da weder eine sachliche Kongruenz von Theorie und historischer Realität noch eine lineare Abfolge der verschiedenen Rationalitätsgrade im Verlauf der historischen Entwicklung unterstellt werden muss.67 Das allerdings konfrontiert Weber mit dem Problem des Übergangs von einer idealtypischen Entwicklungs- oder Rationalitätsstufe zur anderen, ein Problem, das innerhalb der Theoriearchitektur des „Idealtypus“ unlösbar ist.68 Stefan Breuer hat deshalb – im Kontext der Herrschaftssoziologie – angeregt, Webers materiale Untersuchungen gewissermaßen gegen den neukantischen Methodologen Weber zu wenden und an der Entwicklungsgeschichte das zu akzentuieren, was sie mit neueren Evolutionstheorien, mit Theorien dynamischer (vorübergehender) Stabilität, „mit der Annahme von Zyklen, Katastrophen und Sprüngen“ in der Geschichte, kompatibel macht.69 Dieser Gedanke scheint auch im Kontext von Webers komparativer Kulturgeschichte des Rechts produktiv zu sein, zumal Webers Entwicklungsgeschichte des Rechts solche Vorstellungen keineswegs fremd sind. 64

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Zum epigenetischen Erklärungstypus vgl. Webers eigene Reflexion in M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie III (1920), 1988, 2f.; weitere Hinweise bei Breuer (Fn. 22), 185; ders. (Fn. 43), 28ff. (dort zum Begriff der „Entwicklungsgeschichte“ in einem herrschaftssoziologischen Kontext); Quensel/Treiber (Fn. 25), 106ff. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (1922), 1985, 184 („Immer neu und anders gefärbt bilden sich die Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen, flüssig bleibt, damit der Umkreis dessen, was aus jenem stets gleich unendlichen Strome des Individuellen Sinn und Bedeutung für uns erhält, ‚historisches Individuum‘ wird.“); vgl. auch Breuer (Fn. 43), 27. Vgl. nur Schluchter (Fn. 21 – Religion, Bd. 1), 93ff. (für das Verhältnis Weber/Marx). Weber (Fn. 26), 505 („Daß die hier theoretisch konstruierten Rationalitätsstufen in der historischen Realität weder überall gerade in der Reihenfolge des Rationalitätsgrades aufeinander gefolgt, noch auch nur überall, selbst im Okzident, alle vorhanden gewesen sind oder auch nur heute sind ... dies alles soll hier ad hoc ignoriert werden, wo es nur auf die Feststellung der allgemeinsten Entwicklungszüge ankommen kann.“). Breuer (Fn. 43), 28f. (mit Hinweis auf Adorno). Breuer, ebd., 30, vgl. auch 100; ders. (Fn. 22); anders sieht das z. B. Schluchter (Fn. 21 – Individualismus), 165f., der Webers Entwicklungsgeschichte als „evolutionstheoretisches Minimalprogramm“ charakterisiert und meint, dass Evolutionstheorien unabdingbar an eine Vorstellung von „Fortschritt“ gekoppelt sein müssten.

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III. Evolutionstheorie 1. Evolutionstheorie und Systemtheorie

261 Max Weber sieht die Entwicklung und die Evolution des modernen Rechts letztlich durch die Brille seiner Herrschaftssoziologie. Damit bewegt sich seine Kultursoziologie des Rechts doch sehr im Schatten einer politischen Rechtskonzeption. Diese konzentriert sich ausschließlich auf das formalisierte positive Recht, während die informelle Konventions- und Institutionenbildung, das private ordering, demgegenüber stark vernachlässigt wird, ähnlich wie heute noch in der Verfassungsgeschichte der Neuzeit oder etwa in Michael Stolleis’ Wissenschaftsgeschichte des öffentlichen Rechts. Webers kulturvergleichende Rechtsentwicklungsgeschichte ist jedoch insofern für die neuere Evolutionstheorie anschlussfähig, als sie jede Form von Fortschrittsmetaphysik aufgibt und den Geschichtsbegriff – zumindest in den materialen Untersuchungen – für Vorstellungen von Nicht-Linearität, Diskontinuität und plötzliche Einschnitte öffnet. Darin trifft sie sich mit der neueren Evolutionstheorie, die entwicklungslogische Annahmen von Änderungsprozessen in eine bestimmte Richtung ebenfalls zu vermeiden sucht. Evolution heißt hier Ermöglichung höherer Komplexität, nicht aber Fortschritt in Richtung Perfektion. Es mangelt der Evolutionstheorie allerdings oft an Klarheit im Hinblick auf den Evolutionsbegriff und an der Eindeutigkeit des Gegenstands, auf den die Evolution bezogen sein soll. 262 Derartige begriffliche und konzeptionelle Unklarheiten wollen Niklas Luhmann, Gunther Teubner, Marc Amstutz u. a. durch eine Kombination von Evolutionstheorie und Systemtheorie vermeiden.70 Auch bei diesen Autoren geht es wie bei Weber um eine Alternative zu linearen Fortschrittserzählungen, aber anders als Weber benutzen Luhmann, Teubner und Amstutz den Evolutionsbegriff in enger Anlehnung an Charles Darwin. „Evolution“ wird hier durch ein Dreierschema bestimmt: durch den konditional verknüpften Zusammenhang von Variation, Selektion und Restabilisierung.71 „Variation“ bezieht sich auf die Reproduktionsmuster der systemeigenen Elemente oder Operationen, also auf mögliche Veränderungen der bis zu einem bestimmten Zeitpunkt im Rechtssystem praktizierten Gewohnheiten. „Selektion“ referiert auf die damit einhergehende Änderung von Strukturen als Bedingung weiterer Reproduktion, also auf veränderte (rekursive) Ausgangsbedingungen. „Restabilisierung“ markiert die Weiterführung der gewählten Struktur, das Stabilhalten des Systems im Sinne dynamischer Stabilität (rekursive Vernetzung). Der Versammlungsbegriff wurde von der Rechtsprechung in der Vergangenheit stets weit ausgelegt. Unter dem Druck der Zunahme eines neuen Typus von Unterhaltungsdemonstrationen („Love-Parade“) sieht sich das Bundesverfassungsgericht jedoch mit einer veränderten Sachlage konfrontiert und sucht nach neuen Möglichkeiten, mit dem abweichenden Demonstrationstypus umzugehen (Variation). In einem neuen Fall wird die Unterhaltungsdemonstration dann erstmals explizit aus dem Versammlungsbegriff ausgeschlossen 70

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Vgl. nur N. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, 11ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1993, 239ff.; G. Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989, 61ff.; Amstutz (Fn. 20), 108ff. („Retention“). Vgl. nur Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 242; Teubner (Fn. 70), 74ff.; vgl. allg. auch D. Baecker, Form und Formen der Kommunikation, 2005, 237ff., der wie Amstutz von „Retention“ (statt von Restabilisierung) spricht.

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III. Evolutionstheorie

(Selektion), in weiteren Entscheidungen verfestigt sich die neue Rechtsprechung (Restabilisierung).72 Die Verwendung von Begriffen Darwins in der Rechtstheorie sollte nicht als unmittelbare „Anwendung“ biologischer Erkenntnisse oder „Metaphern“ interpretiert werden. Darwins Begriff der natural selection wird nicht einfach auf die Rechtsentwicklung übertragen; der Systemtheorie geht es um interne Selektion und um die vorübergehende Eigen-Stabilisierung dynamischer (Sinn-)Systeme, nicht aber um externe Selektion und ausschließlich phylogenetische Gesetzmäßigkeiten wie Darwin. Mit der Evolutionstheorie soll vielmehr eine der bedeutendsten Errungenschaften des modernen Denkens zur Erklärung rechtsstruktureller Veränderungen genutzt werden.73 Diese Chance sollte auch deshalb nicht vertan werden, weil die Evolutionstheorie wie keine andere allgemeine Theorie geeignet sein dürfte, neue Kommunikationsmöglichkeiten zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu eröffnen, auch deshalb, weil die moderne Biologie bereits ihrerseits stark durch Kybernetik, Informationstheorie und Computerdenken beeinflusst ist.74 Wie produktiv evolutionstheoretisches Denken in dieser Hinsicht sein kann, belegt etwa die jüngere Diskussion über die Verschränkung von biologischer Evolution und Kultur: Zwischen der biologischen Ausstattung des menschlichen Gehirns auf der einen und den dadurch hervorgebrachten kulturellen Erfindungen auf der anderen Seite gibt es offensichtlich einen durch (Kommunikations-)Medien vermittelten Zusammenhang. Wie neuere psychologische und anthropologische Publikationen zeigen, lässt sich etwa ein co-evolutives Verhältnis von Sprache einerseits und Morphologie der Sprech- und Hörfähigkeit des Menschen andererseits nachweisen.75 Die Erfindung und Ingebrauchnahme der Schrift scheint ebenfalls enorme Auswirkungen auf die funktionale Organisation des menschlichen Gehirns gehabt zu haben.76

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Der Akzent des dreigliedrigen Evolutionsbegriffs liegt auf der Unterscheidung von Va- 264 riation und Selektion, auf der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit plötzlicher Ordnungseinbrüche. Das alte teleologische Entwicklungsmodell wird hier durch ein zirkuläres Modell abgelöst, das davon ausgeht, dass sich Ordnungen nur über eine geraume Zeit stabilisieren können und Phasen der Stabilität durch Phasen der Instabilität abgelöst werden. Gegenüber der herkömmlichen Vorstellung von Geschichte im Sinne allmählicher Veränderung folgt aus dieser Begriffsanlage zunächst einmal, Rechtsgeschichte nicht als Einheit, sondern als Differenz zu konstruieren. Die Evolutionstheorie geht nicht von der Einheit und Kontinuität eines geschichtlichen Überlieferungszusammenhangs aus, sondern von der Pluralität und Diskontinuität historischer Überlieferungszusammenhänge. Entscheidend ist dann nicht mehr die Frage nach dem inneren Zusammenhang etwa des römischen Zivilrechts vom Zwölf-TafelGesetz über die römische Spätzeit bis in die jüngste Vergangenheit, sondern die Analyse der „Bedingungen der Möglichkeit unplanmäßiger Strukturänderungen“.77 Diversifikation und Komplexitätssteigerung sind als Effekt „zirkulär produzierte(r) Verstärkung einer Abweichung vom vorherigen Zustand“ zu begreifen („deviation amplification“).78 Strukturänderung, Abweichung vom vorherigen Zustand, kann durchaus das Produkt sprunghafter Umbrüche sein, Resultat von Katastrophen (von 72

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77 78

Vgl. W. Hoffmann-Riem, Neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit, NVwZ 2002, 257ff. Noch emphatischer E. Mayr, Das ist Evolution, 2003, 26 („der größte geistige Umbruch in der Menschheitsgeschichte“) bezogen auf das Erscheinen von Darwins „On the Origin of Species“ im Jahr 1859. Dazu allg. L. E. Kay, Das Buch des Lebens, 2005 (insbesondere zum genetischen Code). Vgl. nur P. J. Richerson/R. Boyd, Not by Genes Alone, 2005, 193. Vgl. nur M. Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, 2002, 114ff.; sehr früh schon findet man Vermutungen in diese Richtung bei dem Paläontologen A. Leroi-Gourhan (La geste et la parole); vgl. auch die Bemerkungen bei H. Nowotny, Unersättliche Neugier, 2005, 41f. Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 240. Luhmann, ebd., 121 Fn. 157. Der Begriff „deviation amplification“ stammt von M. Maruyama.

161 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Evolution

gr. katastrophé, Wendung, Wendepunkt, plötzliche Umkehr). Solche Katastrophen können sich – aus der Sicht des Rechts – als reiner Zufall darstellen. Jedenfalls ist Rechtsevolution keine zielgerichtete, allmähliche, kontinuierliche und bruchlose Steigerung von Komplexität und auch keine prozessartige, phasenhafte Entwicklung von niederen zu höheren (perfekten) Rechtsformen. Evolution ist unprognostizierbar und führt nie zu perfekten Zuständen, „denn Perfektion würde die Bedeutung von Geschichte auslöschen und weitere Evolution ausschließen“.79 265 Mit der Verknüpfung von Evolutionstheorie und Systemtheorie wird das rechtshistorische Forschungsinteresse – wie schon in Webers Entwicklungsgeschichte – an Fragen der Gegenwart ausgerichtet und die Frage nach dem Anfang des Rechts relativiert bzw. verabschiedet. Evolution kann nur die Strukturen bereits bestehender Systeme ändern, das autopoietische System aber kann schon begrifflich nicht durch einen „initial kick“ verursacht sein. Es ist zirkulär konstituiert und setzt voraus, was es produziert. Damit soll die Willkür des Anfangs eines jeden rekursiven Kommunikationsnetzwerks reflektiert und jede Suche nach einem „Anfang der Anfänge“ (v. Foerster) als unproduktive Fragestellung abgeschnitten werden. Die Gründung des Rechts wird – wie schon die Lehre vom Naturzustand bei Hobbes80 – als ein im Rechtsdiskurs gefertigter Ursprungsmythos, als eine gemeinsame Fiktion, behandelt,81 während sich der Schwerpunkt der evolutionstheoretischen Analyse auf die Suche nach Anhaltspunkten verlagert, die erkennen lassen, an welchem Punkt rekursive Netzwerke beginnen, ihre eigene Existenz – in der Form der Beobachtung zweiter Ordnung – zu reflektieren. Die Erklärung evolutionärer Prozesse und Errungenschaften verschiebt sich damit von einer am Kausalitätsbegriff orientierten Suche nach einer Verkettung von Ursachen auf die Beobachtung struktureller Systeminnovationen. Damit erhalten einerseits Merkmale wie Planlosigkeit, Zufallsanstöße, nachträgliches Erkennen von Errungenschaften, Ungewissheit usw. einen Platz in der (evolutionstheoretischen) Rechtstheorie, andererseits wird aber keineswegs alles dem Zufall überlassen. Die neuere Evolutionstheorie konzentriert sich insbesondere auf die Rekonstruktion von allgemeinen Entwicklungsbedingungen, die für Systemevolution günstig sind. Diese Möglichkeitsbedingungen werden von Luhmann – im Anschluss an einen Sprachgebrauch von Talcott Parsons – als „preadaptive advances“ bezeichnet (dazu unten Rn. 274ff.). 266 Diese begrifflichen Ausgangsentscheidungen machen eine eigenständige Evolution des Rechtssystems denkbar, ohne die Abhängigkeit des Rechtssystems von gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen relativieren oder gar ignorieren zu müssen. Im Unterschied zur traditionellen Rechtsgeschichte, die oft auf unklaren theoretischen Prämissen aufbaut, zwingt die Kombination von Evolutionstheorie und Systemtheorie sogar dazu, das Verhältnis von Rechts- und Gesellschaftsentwicklung mit besonderer Genauigkeit und Schärfe zu formulieren. Wenn man davon ausgeht, dass sich das 79

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N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, 407 (im Zusammenhang mit der Evolution des politischen Systems). Vgl. etwa S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, 2004, 166; vgl. auch allg. V. Kahn, The Future of Illusion, 2014. Für den Fall Rom siehe Fögen (Fn. 34), 61ff., 78 („Anders als in Form der Erzählung kann der big bang des Rechts gar nicht dargestellt werden. Und eben dafür, für den Urknall des Rechts, dienten den Römern die Zwölf Tafeln.“). Für Griechenland K. Robb, Literacy and Paideia in Ancient Greece, 1994, 125ff. (drakonische und solonische Gesetzgebung als Mythos althergebrachter Regeln); dazu allg. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, 441.

162 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

III. Evolutionstheorie

Rechtssystem seit dem 19. Jahrhundert als autonomes („eigengesetzliches“) System ausdifferenziert hat bzw. mit Luhmann schon immer als autopoietisches System vorausgesetzt werden muss, dann kann Rechtsevolution nicht lediglich als Variable der Evolution von Nicht-Recht behandelt werden, etwa als „Reflex“ gesellschaftlicher, kultureller oder politischer Evolution. Es geht in der Evolution immer um Differenz und Anpassung im Verhältnis von System und Umwelt.82 Damit werden vor allem die Anforderungen an die begriffliche Genauigkeit der Erklärung gesteigert, wie es trotz der Autonomie des Rechtssystems zu plötzlichen Strukturänderungen im System kommen kann. Wo und an welchen Stellen reagiert das Rechtssystem auf die Co-Evolution anderer Systeme und wo und an welchen Stellen ist es für allgemeine (nicht-systemspezifische) evolutionäre Entwicklungen z. B. der Kultur, der Sprache, der Medien, des gemeinsamen Wissens etc. durchlässig? Evolutionstheoretische Modelle werden inzwischen auch in der Rechtsgeschichte selbst diskutiert. Schon Franz Wieacker hatte in der 2. Auflage seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit angeregt, die Vorstellung der Kontinuität der Geschichte nach dem Vererbungsmodell der modernen Biologie, nämlich wie die Reproduktion genetischer Informationen zu fassen.83 In jüngerer Zeit hat namentlich Marie Theres Fögen vorgeschlagen, die Rechtsgeschichte als Geschichte der Evolution des Rechtssystems neu zu schreiben und dabei vor allem das (darwinsche) Muster von Variation, Selektion und Restabilisierung zu nutzen.84 Diese Überlegungen erscheinen auch deshalb vielversprechend, weil die Verbindung von Evolutionstheorie und Systemtheorie helfen kann, das in Turbulenzen geratene Unternehmen Rechtsgeschichte zu restrukturieren, zumal der Relevanzverlust historischer Einsichten für die an tagesaktuellen Fragen orientierte Rechtsdogmatik irreversibel sein dürfte; auf dieser Ebene ist eine Wiederverknüpfung von juristischen und historischen Erkenntnisinteressen kaum vorstellbar. Evolutionstheorie kann und soll natürlich nicht die quellenorientierte Arbeit der Historiker ersetzen. Es geht allein darum, Rechtsgeschichte für theoretisch abgesicherte Forschungsinteressen des eigenen Fachs anschlussfähig zu halten, sie also nicht ausschließlich den Historikern zu überlassen.85

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2. Zur Autonomie des Rechts

Die jüngere evolutionstheoretische Diskussion wirft eine alte Frage in einem veränder- 268 ten begrifflichen Kontext neu auf: die Frage nach dem Verhältnis von begrifflich-konstruktiven und historisch-genetischen Komponenten der Rechtstheorie. Es erscheint zwar für die Rechtstheorie einerseits unumgänglich zu sein, auch für solche Kulturen den Rechtsbegriff zu benutzen, die – wie etwa die antike griechische Rechtskultur – eine von anderen Normen scharf abgegrenzte Rechtssphäre noch gar nicht kannten. Andererseits kann die Frage, zu welchen Zeitpunkten und an welchen Orten der Entstehungsprozess einer spezifisch juristischen Semantik einsetzte und diese sich auch institutionell in einer Loslösung des Rechts von anderen gesellschaftlichen Regelbeständen und Konventionen niederzuschlagen begann, von der Evolutionstheorie nicht ausgespart werden. Auch wenn man die Frage nach dem Anfang abschneidet und den Mythos einer ersten Differenz, einer ersten Spur, zu vermeiden sucht, stellt sich zumindest im „universalhistorischen“ Kulturvergleich die Frage, wieso es nur auf einem bestimmten Pfad der Rechtsentwicklung – und offensichtlich unter starkem Einfluss des 82 83 84 85

Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 240. Wieacker (Fn. 5), 43f. Fögen (Fn. 2), 14ff.; dies. (Fn. 34), 15ff. Zu dieser Alternative kritisch etwa S. Lepsius, „Rechtsgeschichte und allgemeine Geschichtswissenschaft“, ZNR 27 (2005), 304ff.; vgl. auch Ogorek (Fn. 9), 31; und Wyduckel (Fn. 19), 109ff.

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§ 7. Evolution

römischen Zivilrechts – zur Ausdifferenzierung eines hochformalisierten positiven (geschriebenen) Rechts gekommen ist, während alle anderen Kulturen nicht über divinatorische, religiöse oder rhetorische Rechtsstrukturen hinausgekommen sind. Man denke nur an die islamische Rechtskultur, die, obwohl sie seit alters eine hochentwickelte Rechtsgelehrsamkeit kennt (fiqh), das Recht bis heute nicht von der Religion hat lösen können.86 269 Auf die Frage, wann und wo der Prozess der Ausdifferenzierung des positiven Rechts historisch eingesetzt hat, findet man in der Systemtheorie sehr unterschiedliche Antworten. Es gibt Äußerungen, die nahe legen, dass bereits einige Stadtkulturen des antiken Mittelmeerraums über ein autonomes (autopoietisches) Recht verfügten.87 Damit meint Luhmann in erster Linie das römische Zivilrecht, während das Athenische Stadtrecht oder das Recht der vorderasiatischen Hochkulturen (Mesopotamien) als eng mit nicht-juristischen Diskursen verwoben qualifiziert werden. Auch für Marie-Theres Fögen verkörpert schon das römische Zivilrecht den Fall eines ausdifferenzierten verselbstständigten Systems, „das seine eigene Sprache begründete, pflegte und ausbaute, bis sie nur noch für ihre Schöpfer verständlich war“.88 Daneben findet man bei Luhmann jedoch zugleich Aussagen, die sich in Richtung der These Harold Bermans deuten lassen, derzufolge erst die „Wiederentdeckung“ der Digesten und das daran anknüpfende kanonische Recht des Mittelalters die Autopoiesis des europäischen Rechts möglich gemacht haben.89 Anderen Äußerungen Luhmanns zufolge soll der eigentliche take-off des Rechtssystems gar erst um 1800 stattgefunden haben und in einem engen Zusammenhang mit der Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems stehen.90 Auch im Kontext des Gewaltproblems betont Luhmann diese funktionalen Interdependenzen: Ohne die Monopolisierung von Gewalt im neuzeitlichen Staat sei ein autonomes Rechtssystem nicht vorstellbar.91 Ähnlich argumentieren auch die am (modernen) Wirtschaftsrecht orientierten Arbeiten von Gunther Teubner und Marc Amstutz: Der Begriff des autonomen Rechtssystems setzt bei beiden Autoren funktionale Gesellschaftsdifferenzierung voraus.92 270 Auch wenn man davon ausgeht, dass sich Rechtsevolution wiederholen kann, die Emergenz des autonomen (autopoietischen) Rechts also nicht auf einen einzigen initial kick zurückgeführt werden muss, herrscht an dieser Stelle doch große Unsicherheit. Diese Unklarheiten hängen ersichtlich mit der in der Systemtheorie nur unzureichend durchgearbeiteten Abstimmung der älteren Theorie funktionaler Differenzierung und den neueren Überlegungen zur Autopoiesis und Evolution von Kommunikationssystemen zusammen. Luhmanns Systemtheorie ist zunächst auf der 86

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Vgl. nur A. P. Dáhlen, Islamic Law, Epistemology and Modernity, 2003, 39ff., 46 („law always is connected to commandment and embodies the will of God“), und die weitgehend noch immer gültigen Bemerkungen bei Weber (Fn. 26), 474f. Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 71. Fögen (Fn. 34), 209, vgl. auch 196, 212; ähnlich sieht es A. Schiavone, The Invention of Law in the West, 2012. H. J. Berman, Recht und Revolution (1983), 1991, 81, 808; Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 62; vgl. auch ders. (Fn. 79), 388 Fn. 346. Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 446ff. Luhmann, ebd., 122, 281f. Teubner (Fn. 70), 73, 78ff.; Amstutz (Fn. 20), 73ff.; ders., Rechtsgeschichte als Evolutionstheorie, RG 1 (2002), 26ff., 27 (mit der zutreffenden Bemerkung, dass Recht als ausdifferenziertes Funktionssystem der Gesellschaft eine entsprechende Gesellschaftsformation, d. h. soziale Differenzierung, voraussetze, die in antiken und vormodernen Kulturen nicht vorhanden war).

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III. Evolutionstheorie

von Parsons übernommenen Folie einer Theorie funktionaler Differenzierung entstanden, die ihrerseits auf der Soziologie der sozialen Differenzierung der Jahrhundertwende aufruht (Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber etc.). In diesem Kontext war sie von vornherein auf die moderne Gesellschaft zugeschnitten. Dies zeigt etwa die relativ früh publizierte Rechtssoziologie (1. Aufl. 1972): Die Entwicklung des Rechtssystems folgt der Entwicklung des Gesellschaftssystems, und dieses wird in seiner Komplexität vor allem durch segmentäre, ständische oder funktionale Differenzierungsstrukturen bestimmt.93 Mit der autopoietischen Wende und der stärkeren Konzentration der Systemtheorie auf den Kommunikationsbegriff – zum ersten Mal ausführlich in Soziale Systeme (1984) präsentiert – ist ein zweiter Theoriestrang entstanden, der sich mit der funktionalen Differenzierungstheorie nicht so ohne weiteres in Einklang bringen lässt. Das zeigt gerade die Evolution des Rechts. Wenn man primär auf kommunikative Autopoiesis, binäre Codierung und Beobachtung zweiter Ordnung abstellt, kann man das römische Zivilrecht durchaus als autonomes Recht qualifizieren. Gleichwohl wird man von einer Ausdifferenzierung des römischen Rechts im Sinne einer universal zuständigen Funktionsspezifikation nicht ausgehen können. Dagegen spricht schon, dass der gesamte öffentliche Raum in Rom nicht durch (Zivil-)Recht, sondern durch Tradition und mos maiorum, durch Respekt vor den althergebrachten Konventionen des Adels, den Sitten der Vorväter, bestimmt wurde. Eine strikte Trennung von Recht und gesellschaftlichen Konventionen war auf dieser Grundlage unmöglich.94 Es stellt sich daher die Frage, ob die Systemreferenz der Rechtsevolution, das Rechtssys- 271 tem, als invariante Struktur begrifflich vorgegeben werden muss oder ob der Systembegriff selbst zu historisieren wäre. Luhmanns Lösungsvorschlag für dieses intrikate Problem läuft darauf hinaus, den Systembegriff im Begriff der Autopoiesis mit einer zeitpunktbezogenen Zeit, mit punktualisierter Gegenwärtigkeit, zu verknüpfen und diese Zeitstruktur als historische „Invariante“ zu setzen.95 Obwohl diese Zeitvorstellung, die punktualisierte Gegenwärtigkeit, die abstrakte und homogene Zeit der Moderne voraussetzt (wenn nicht sogar eine typisch postmoderne Vorstellung), siedelt Luhmann historische Veränderungen des Systems allein auf der Ebene seiner Selbstbeschreibung an: Ob das Rechtssystem fallorientiert wie in Rom auf der Grundlage schriftlicher responsa arbeitet oder sich – wie im späten 19. Jahrhundert – an systematischen Gesetzbüchern mit Selbstverpflichtung zur „Anwendung“ orientiert, immer prozessiert das Rechtssystem in der operativen Wirklichkeit autopoietisch von Fall zu Fall. Etwas anders formuliert: Ist die Autopoiesis des Systems einmal in Gang gekommen, arbeitet das Rechtssystem im Rahmen einer als irreversibel gedachten Weltzeit notwendigerweise zeitpunktabhängig und sequentiell, d. h. ohne die Stütze verwandlungsfreier Dauer oder Ewigkeit. Fögen hat den Gedanken eines historisch invarianten Systembegriffs dahingehend zugespitzt, dass die Evolutionstheorie eine Einheit „Recht“ voraussetzen müsse, die nicht von „historisch höchst wechselhaften und kontingenten Begleiterscheinungen abhängt“.96 93

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Vgl. N. Luhmann, Rechtssoziologie, 1983, 132ff., und die Diskussion bei Teubner (Fn. 70), 70 („Das Recht wird an verschiedene Entwicklungsstadien gesellschaftlicher Differenzierung angepasst.“). Zur Dominanz des mos maiorum vgl. nur K.-J. Hölkeskamp, Rekonstruktion einer Republik, 2004, 24f., 33f.; Wieacker (Fn. 36), 353; vgl. auch J. Kirov, Die soziale Logik des Rechts, 2005, insb. 59ff. Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 45 („Autopoiesis wird mithin als ‚Invariante‘ eingeführt. Sie ist bei allen Arten von Leben, bei allen Arten von Kommunikationen stets dieselbe.“). Fögen (Fn. 2), 14ff., 15.

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§ 7. Evolution

272 Der Vorschlag eines historisch invarianten Systembegriffs hat zwar den Vorteil, die Referenz der Evolution, die beschrieben werden soll, exakt angeben zu können. Der Vorschlag bezahlt dafür jedoch den hohen Preis, am Ende nicht mehr zwischen sozialem System und Funktionssystem unterscheiden zu können. Die Ausdifferenzierung einer spezifisch juristischen Expertise aus dem Universum gesamtgesellschaftlicher Kommunikation ermöglicht es sicherlich, im Fall des römischen Zivilrechts von einem autonomen System zu sprechen, das auch institutionelle Konsequenzen wie Bedingungen hatte. In diesem Sinn könnte man das römische Zivilrecht als erstes autonomes Rechtssystem bezeichnen. Damit wird aus dem römischen Zivilrecht aber noch kein gesellschaftlich ausdifferenziertes Funktionssystem. Dazu fehlte in Rom eben die dafür notwendige funktional differenzierte Umwelt.97 Es müsste also in Zukunft zumindest deutlich zwischen der Autonomie von Funktionssystemen und der Autonomie sozialer Systeme unterschieden werden. Außerdem müsste geklärt und entschieden werden, ob von Autopoiesis bei jedem operativ geschlossenen Kommunikationszusammenhang oder erst im Fall eines autonomen (modernen) Funktionssystems die Rede sein soll. Entscheidet man sich für die zuletzt genannte Alternative, könnten in der römischen Rechtskultur allenfalls Anlagen von Rechtsautonomie gesehen werden, nicht aber schon autopoietische Autonomie selbst. Diese Vorstellung ist freilich mit Luhmanns Autopoiesis-Konzept unvereinbar. Evolution setzt Autopoiesis voraus, kann aber nicht selbst Gegenstand von Evolution sein. Evolution ist immer Evolution autopoietischer Systeme. So gesehen ist Autopoiesis der transzendentale Rest der Systemtheorie. 273 Das Problem des Verhältnisses von begrifflich-konstruktiven und historisch genetischen Komponenten der Rechtstheorie kann hier nicht abschließend behandelt werden. Es soll aber erneut dafür plädiert werden, den Systembegriff nicht wie eine universalhistorische oder transzendentale Form zu handhaben. Ein solcher Ansatz würde letztlich die Geschichtlichkeit des neueren systemtheoretischen Denkens selbst verleugnen. Geschichte wäre dann nichts weiter als das Medium der Entfaltung einer theoretisch gewonnenen Form. Dagegen wäre eine Position in Anschlag zu bringen, die den Einsatz ihres Denkens und die Evolution von Formen selbst reflektiert: Das dynamisch und rekursiv operierende System ist nur innerhalb bestimmter historischer Gegebenheiten denkbar und kann nur hier seine volle Gültigkeit entfalten. Recht tritt nicht sofort in Form eines autopoietischen Systems in Erscheinung; zumindest ist die funktionale Autonomie des Rechtssystems ein relativ spätes Produkt der Rechtsevolution, das unauflöslich mit der Evolution der modernen (liberalen) – in Luhmanns Begrifflichkeit: funktional differenzierten – Gesellschaft verknüpft ist. Und weil funktionale Differenzierung selbst eine Erscheinungsform von Gesellschaftlichkeit in der Geschichte ist, kann ihre Kontinuität für die Zukunft keineswegs als gesichert unterstellt werden. Es sind durchaus neue Formen gesellschaftlicher Interdependenzen denkbar, auch neuartige Mechanismen der Überlappung zwischen Systemen, eine Logik der Vernetzung und daraus hervorgehende Hybridbildungen und „Zwischenwelten“ in einer neuartigen Computerkultur, die sich möglicherweise im differenztheoretischen Strang der Luhmannschen Systemtheorie nicht adäquat abbilden lassen. Überhaupt bezieht sich die gesamte Anlage der systemtheoretischen Evolutionstheorie möglicherweise zu sehr auf die Evolution des expliziten Rechts, während die Evolution 97

Das sieht Fögen (Fn. 34), 212 („Das römische Recht ... war selbst als System eine einsame, hochgezüchtete Pflanze inmitten einer systemisch schwach kultivierten Umwelt.“) nicht anders.

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IV. Medien als pre-adaptive advances

der instituierten Praktiken, der sozialen Konventionen, der Bräuche, Sitten und Gewohnheiten, das private ordering, vernachlässigt werden. IV. Medien als pre-adaptive advances 1. Zur Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie

Die neuere evolutionstheoretische Forschung interessiert sich für die Eigendynamik 274 rechtsinterner Strukturänderungen und fragt, wie mit Hilfe des Dreierschemas von Variation, Selektion und Restabilisierung Evolution im Recht realisiert wird. Darin trifft sie sich mit Webers Entwicklungsgeschichte, soweit diese den innerjuristischen Bedingungen der europäischen Rechtsentwicklung nachgegangen war. Ähnlich wie bei Weber geht es allerdings auch in der neueren evolutionstheoretischen Forschung nicht darum, das Interesse an der Eigendynamik der Rechtsentwicklung zu verabsolutieren, sondern um die Klärung der Frage, auf welche Weise Rechtsevolution von gesamtgesellschaftlicher Evolution abhängig ist bzw. wie Rechtsentwicklung und außerjuristische Faktoren ineinandergreifen. Zwei Begriffe haben in diesem Kontext Karriere gemacht. Soweit es um die wechselseitige evolutionäre Abhängigkeit autopoietischer Systeme geht, etwa von Wirtschaftssystem und Rechtssystem, spricht man von „Co-Evolution“.98 Soweit es um gesamtgesellschaftliche Möglichkeitsbedingungen für unplanmäßige Strukturänderungen im Recht geht, hat sich der Begriff der pre-adaptive advances (Vorentwicklungen) durchgesetzt.99 Pre-adaptive advances stehen in der neueren Evolutionstheorie für Möglichkeitsbedin- 275 gungen oder günstige Umstände im Hinblick auf Variationen und Strukturänderungen von sozialen Strukturen oder autonomen Systemen. Als besonders günstig für Evolution können sich nachträglich verschiedenste Erfindungen oder Katastrophen erweisen, beispielsweise die Erfindung der Stadt oder des Geldes für das Aufkommen der Demokratie. Haben sich solche Erfindungen als Problemlöser konsolidiert, spricht man – wiederum im Anschluss an Luhmann – von „evolutionären Errungenschaften“.100 Das theoretische Konzept der pre-adaptive advances dient vor allem dazu, den evolutionären Umbau von sozialen Strukturen oder autonomen Systemen mit allgemein gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen in Verbindung bringen zu können, deren Bedeutung erst ex post, mit erheblicher Zeitverzögerung, erkennbar wird. Damit kann die Theorie dem Zufall einen Platz in der Evolution einräumen, d. h. gegen die Vorstellungen teleologischer oder kausaler Geschichtskonstruktionen opponieren,101 ohne auf die Markierung von Possibilitäten verzichten zu müssen. Leidenschaftliche (auf Sexualität basierende) Liebe wurde über Jahrhunderte in außerehelichen Beziehungen gepflegt, aber erst mit der Freigabe der Partnerwahl stieg sie zum tragenden Bestandteil der bürgerlichen Ehe auf. Auch wenn es gänzlich unwahrscheinlich ist, 98

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Teubner (Fn. 70), 68, 78ff. („Ko-Evolution“); Luhmann (Fn. 79), 562 („Co-evolution“); Fögen (Fn. 2), 18 („Co-evolution“). Fögen, ebd., 18f.; Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 243; vgl. allg. auch ders. (Fn. 79), 512f. Vgl. allg. Luhmann (Fn. 79), 505ff., 506 (evolutionäre Errungenschaften = konsolidierte Gewinne, die besser als andere mit komplexen Verhältnissen kompatibel sind); Fögen (Fn. 2), 18. Luhmann (Fn. 79), 509 (mit der Bemerkung, dass es zielorientiertes Suchen nach Problemlösungen gibt, dass aber gerade weitreichende evolutionäre Errungenschaften zumeist nicht auf diese Weise zustande kommen).

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§ 7. Evolution

dass auf Sexualität basierende Liebe erfunden wurde, um die bürgerliche Ehe hervorzubringen, kann die Evolutionstheorie doch argumentieren, dass erst die bürgerliche Ehe die evolutionäre Bedeutung leidenschaftlicher Liebe augenfällig gemacht hat.102 276 Der Ausdruck „pre-adaptive advances“ geht unmittelbar auf den amerikanischen Soziologen Talcott Parsons zurück. Ein vergleichbares Konzept von Entwicklungsbedingungen lässt sich allerdings schon in Webers komparativer Kulturgeschichte des Rechts nachweisen. So sieht Weber beispielsweise in der dialektischen Methode der platonischen Philosophie eine Entwicklungsvoraussetzung dafür, dass sich die eigentümliche Sonderform der Rechtslehre der Priesterschulen einer rational systematischen Jurisprudenz annähern, aber letztlich nicht zu einer solchen fortbilden kann: der Fall etwa des jüdischen heiligen Rechts, der rabbinischen Kommentarliteratur zur Tora (den fünf Büchern Moses), wie sie zunächst in der Mischna und später in der Gemara kompiliert worden waren.103 Auch die Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts kannten pre-adaptive advances. Vor allem Hegel interessierte sich für time lags in der Weltgeschichte, in der Rechtsphilosophie von 1821 etwa im Kontext der Beziehung von Freiheit und Eigentum. Die Freiheit des Menschen war für Hegel eine Errungenschaft des Christentums, aber erst in der (abstrakten) Freiheit des bürgerlichen Eigentums kam diese Errungenschaft zu ihrem Dasein. „Es ist wohl an die anderthalbtausend Jahre, dass die Freiheit der Person durch das Christentum zu erblühen angefangen hat [...] Die Freiheit des Eigentums aber ist seit gestern, kann man sagen, hier und da als Prinzip anerkannt worden. – Ein Beispiel aus der Weltgeschichte über die Länge der Zeit, die der Geist braucht, in seinem Selbstbewußtsein fortzuschreiten ...“.104

277 All diese Konzepte – Co-Evolution, pre-adaptive advances und evolutionäre Errungenschaften – sind für eine Verknüpfung von Evolutionstheorie und Medientheorie von großer Bedeutung. Sie ermöglichen, der Bedeutung der Kultur und der Medien für die Rechtsevolution eine genauere begriffliche Fassung zu geben. Das gilt insbesondere für das Konzept der pre-adaptive advances. Dieses Konzept lässt sich gleichermaßen produktiv für moderne und vormoderne Bedingungen nutzen, im Unterschied zum Konzept der Co-Evolution, das mir stärker auf die gesellschaftlichen Bedingungen der funktionalen Differenzierung zugeschnitten zu sein scheint,105 dessen Übertragung auf prämoderne Bedingungen jedenfalls eine Reihe begrifflicher Unklarheiten aufwirft, die mit dem Problem der autopoietischen Autonomie zusammenhängen (vgl. oben Rn. 268ff.). Die Ausgangsannahme eines solchen Forschungsansatzes hieße dann: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Emergenz von (Verbreitungs-)Medien wie Lautsprache, Schrift, Buchdruck und elektronischen Medien einerseits und der Geschichte und Evolution des Rechts andererseits.106 Auch im Verhältnis von Medienevolution und Rechtsevolution ginge es um den Nachweis eines Bedingungszusammenhangs im Sinne von Möglichkeiten oder Possibilitäten, nicht aber um die Unterstellung eines notwendigen oder gar hinreichenden Bedingungszusammenhangs, um Medien als „letzte Ursache“ der Rechtsgeschichte. Aber warum sollte die Evolution des Rechts von einem Medium wie Schrift – in dem hier explizierten Sinn – „abhängig“ sein? 102 103

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Zu dieser Entwicklung näher N. Luhmann, Liebe als Passion, 1982, 139ff. Weber (Fn. 26), 459, 478f. Beide Kompilationen, zwischen 200 und 600 n. Chr. entstanden, bilden die Grundlage für den Talmud, der bis heute zentralen Schrift des Judentums. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 1970, § 62; J. Ritter, Metaphysik und Politik, 1969, 266 Fn. 9, 267. So zumindest explizit bei Teubner (Fn. 70), 68 („Ko-Evolution“ wird dort als „Herausbildung autonomer Evolutionsmechanismen in geschlossenen Systemen und deren wechselseitige strukturelle Kopplung“ definiert). Verbreitungsmedien im Unterschied zu Erfolgsmedien wie Macht, Geld, Wahrheit etc. Zu dieser Unterscheidung Luhmann (Fn. 79), 202ff.; vgl. auch Baecker (Fn. 71), 175ff.

168 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Medien als pre-adaptive advances

Bezieht man die Frage zunächst auf Formen des expliziten positiven Rechts, kann man 278 plausibel behaupten, dass rechtliches Wissen, juristische Expertise, nur mit Hilfe von Medien ausdifferenziert werden kann. Nur durch Schrift, Buchdruck oder andere Medien kann spezialisiertes Rechtswissen, wie etwa zivilrechtliches, mit Referenz auf Recht erarbeitet, erinnert und mitgeteilt werden. Medien haben deshalb für die Rechtsordnung eine Doppelfunktion: Sie fungieren gleichzeitig als Mittel und Speicher von Rechtskommunikation.107 Ein Medium wie Schrift kann zur Rechtskommunikation eingesetzt werden, man denke nur an gesetzliche Schriftformerfordernisse wie etwa beim öffentlich-rechtlichen Vertrag (§ 57 VwVfG). Schrift kann aber auch, etwa in Kommentaren, zur Archivierung juristischer Wissensbestände genutzt werden.108 Dies legt die Vermutung nahe, dass Medien das Gedächtnis des Rechts strukturieren und damit sowohl die Bedingungen der wiederholten Verwendbarkeit rechtlichen Wissens konditionieren als auch den Grad der Neigung, von Traditionen und Gepflogenheiten abzuweichen und damit Innovation zu ermöglichen.109 Das gilt insbesondere auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, und zwar sowohl für die Rechtspraxis als auch für die Rechtstheorie. Für die Rechtspraxis sei hier nur auf die Entwicklung des gerichtlichen Urteils in Europa seit dem 18. und 19. Jahrhundert hingewiesen: Die schriftliche Urteilsbegründung führte zu einer Verfeinerung der juristischen Argumentation, die ihrerseits – jedenfalls bis vor kurzem – von der Möglichkeit des Abspeicherns entscheidungsrelevanter Gedankengänge in Druckstücken (Entscheidungssammlungen) abhängig war. Eine enge Verbindung von Rechtsevolution und Medienevolution lässt sich auch für die meisten Typen juristischer Expertise nachweisen. Anspruchsvolle Selbstbeschreibungen der Rechtspraxis, Unternehmen wie Rechtsdogmatik und Rechtstheorie können – wie das Wort Selbstbeschreibung ja bereits sagt – sich nur auf der Grundlage von Schriftgebrauch und Buchdruck entwickeln; denn was nicht gedruckt werden kann, hatte jedenfalls vor der Erfindung und Ingebrauchnahme von Computern und Computernetzwerken keine Chance, „auf die Selbstbeschreibung des Systems einzuwirken“.110 Rechtswissenschaft und Rechtstheorie basieren auf geschriebenen Texten, auf der Absonderung einer Schriftsprache über Recht; und ohne die Anlage eines reichen schriftbasierten Vorrats an Wissen und Themen wäre das europäische Recht niemals in der Lage gewesen, seine interne Komplexität so außerordentlich zu steigern, wie es dies seit dem 16. Jahrhundert (Humanismus) getan hat. Die europäische Rechtswissenschaft hätte sich ohne Buchdruck und Bibliotheken vielleicht gar nicht, jedenfalls aber anders entwickelt.

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Mit A. Hahn, Ist Kultur ein Medium?, 2004, 49, muss man die Reihenfolge möglicherweise sogar umdrehen und gegen den (leicht a-historischen) Begriff des „Kommunikationsmediums“ darauf hinweisen, dass Schrift zunächst als Speichermedium genutzt wurde, bevor sie zum Medium der kommunikativen Wiederverwendung aufstieg. Vgl. auch Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 247 („Lange bevor Schrift zur Kommunikation benutzt wird, dient sie zur Aufzeichnung von erinnerungswerten Informationen ...“); vgl. auch J. Kersten, Digitale Rechtsdogmatik, 2015, 481ff. Medien können natürlich auch zu beidem gleichzeitig gebraucht werden, zur Kommunikation und zur Wissensspeicherung, wie etwa das eigenhändig geschriebene und unterschriebene Testament zeigt (§ 2247 BGB). Fögen (Fn. 2), 18 („Der Radius möglicher Selektionen ist vermutlich durch das ‚Gedächtnis‘ des Systems gesteckt, welches ständig zwischen Vergessen und Erinnern unterscheidet und damit mögliche Anschlüsse limitiert.“). Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 500f.

169 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Evolution

279 Mit „Gedächtnis“ ist hier nicht die Gedächtniskunst (gr. mnemosyne, lat. ars memoriae) bestimmter Personen oder Autoren gemeint. Der hier benutzte Gedächtnisbegriff bezieht sich auf Informationen und Wissen, das sich in kommunikativen Beziehungsnetzwerken ablagert und vom Gedächtnis der Individuen deutlich unterschieden werden muss. Darin schließen wir an Konzepte wie Erinnerungskultur bzw. an den Begriff des kommunikativen bzw. sozialen Gedächtnisses an, wie sie die neuere Forschung entwickelt hat. Unter „Erinnerungskultur“ versteht Jan Assmann das Wissen, das eine Gesellschaft nicht vergessen darf, ohne ihre Identität zu verlieren.111 „Kulturelles Gedächtnis“ ist nach Assmann die institutionalisierte, kommemorierte Erinnerung an symbolische Figuren des Anfangs einer Gemeinschaft, im Unterschied zur gelebten, kommunizierten Erinnerung etwa an Eltern und Großeltern; letztere nennt Jan Assmann „kommunikatives Gedächtnis“.112 Im Unterschied zu Jan und Aleida Assmann, die sich als Kulturwissenschaftler in erster Linie für die unbewohnten Archivbestände, die Bereiche des Abgelegenen, Ausgelagerten und Vergessenen, für die „Gräber des Sinns“ interessieren,113 betont Niklas Luhmann möglicherweise stärker die Jetztzeitlichkeit aller sozialen Gedächtnisoperationen, d. h. die Konstruktion der Vergangenheit auf dem Boden der jeweiligen Gegenwart.114 Damit wird die für die moderne Gesellschaft wichtige Funktion des Neuen (neue Ideen, neue Technologien, neue Werke in Kunst, Film und Musik etc.), also die Organisation des Vergessens, in der Systemtheorie vielleicht stärker als in der Kulturtheorie von Jan und Aleida Assmann akzentuiert; das „soziale Gedächtnis“ Luhmanns wird jedenfalls über die Doppelfunktion von Erinnern und Vergessen bestimmt.115 Trotz dieser Unterschiede sind sich Systemtheorie und Kulturtheorie aber darin einig, dass der Gedächtnisbegriff die kommunikativen Eigenleistungen von sozialen Beziehungs- und Kommunikationsnetzwerken einfangen soll; und diese Form darf weder individualpsychologisch auf Erinnerungskunst noch auf gleiche Bewusstseinszustände von Individuen („kollektives Gedächtnis“) reduziert werden.116 In diesem Sinn besitzt auch das Rechtssystem ein Gedächtnis, die Fähigkeit, durch Schrift, Buchdruck oder Computertechnologie spezifisch juristische Wissensbestände erinnern und vergessen zu können.

280 Durch die Verknüpfung von Evolutionstheorie, Kulturtheorie und Medientheorie lässt sich der Zusammenhang von Rechts- und Gesellschaftsevolution besser erklären. Über Kultur und Medien sind Rechtsevolution und Gesellschaftsevolution unauflöslich miteinander verbunden, schon weil die Gesellschaft immer dieselben Medien und die mit ihnen verbundenen Wissensformen benutzt wie das Rechtssystem. Eine solche evolutionäre Interdependenz, eine „Co-Evolution“, lässt sich gerade für das westliche Recht, für Webers Formalrecht, nachweisen: Errungenschaften wie philosophisches (epistemisches) Wissen haben im römischen Zivilrecht eine erste große Abweichungsverstärkung ermöglicht, an die die mittelalterliche und neuzeitliche Rechtswissenschaft anknüpfen konnte – um unter dem Eindruck von Naturphilosophie und Rationalismus eine neue Abweichungsverstärkung zu produzieren. Beide Sprünge der Ideenevolution, platonische Dialektik wie Naturphilosophie, hängen ihrerseits eng mit bestimmten medienevolutionären Einschnitten zusammen, eben mit der Erfindung der Alphabetschrift und des Buchdrucks, die jeweils auch für die Rechtsentwicklung folgenreich waren. Abstrakter gefasst: Die Erfindung und Ingebrauchnahme solcher Medien wie Schrift und Buchdruck stellen den Zusammenhang zwischen sozialer Evolution, kultureller Evolution und Rechtsevolution her. Rechtsevolution ist gerade über Sprache und Medien mit gesellschaft111 112

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J. Assmann (Fn. 6), 30 (oder positiv: das „Gedächtnis, das eine Gemeinschaft“ stiftet). Assmann, ebd., 46, 52 (kulturelles Gedächtnis), 50 (kommunikatives Gedächtnis) und 56 (Skalenmodell). Für das von A. Assmann so genannte „Speichergedächtnis“ vgl. nur A. Assmann, Erinnerungsräume, 1999, 96 (Speichergedächtnis = „Grab des Sinns“). In Anlehnung an A. Assmann (Fn. 113), 17; vgl. dazu nur Luhmann (Fn. 79), 578f. Luhmann, ebd., 579; vgl. auch E. Esposito, Soziales Vergessen, 2002, 24ff., 27f. Vgl. nur Luhmann (Fn. 79), 583 („Das soziale Gedächtnis ist keineswegs das, was Kommunikationen als Spuren in individuellen Bewußtseinssystemen hinterlassen.“).

170 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Medien als pre-adaptive advances

licher Evolution verknüpft.117 Damit gewinnt der Medienbegriff einen Bedeutungszuwachs für die Rechtstheorie, der in der bisherigen Forschung nicht wirklich ausgeschöpft worden ist. Die Frage nach der entwicklungsgeschichtlichen und evolutionären Bedeutung der Medien ist bislang eher selten und wenn, dann meistens außerhalb der Rechtswissenschaft oder Rechtstheorie gestellt worden. Die Fragestellung selbst kann auf Autoren wie Marshall McLuhan, Harold Innis, Jack Goody, Ian Watt, Walter J. Ong und Eric A. Havelock zurückgeführt werden. Havelock hat in seinem Preface to Plato (1963) die Evolution des griechischen Denkens von Homer bis Platon vor dem Hintergrund des Auftretens der Alphabetschrift analysiert und dabei u. a. die Substantivierung von Verben und Adjektiven als Konsequenz des Übergangs zur Schriftkultur interpretiert. The Greek Concept of Justice (1978) dehnt diesen Forschungsansatz auf den Bereich von Politik und Recht aus und rekonstruiert den Auftritt des Substantivs „Gerechtigkeit“ (dikaiosyne) in der platonischen Philosophie. Diese bislang wenig beachtete Entdeckung Havelocks ist von umso größerer Tragweite, als David Daube in seinem Roman Law (1969) für den Fall des römischen Rechts eine ähnliche Tendenz der Bildung von Substantiven aus Verben nachgewiesen hat.118 An die Forschungen von Havelock und Ong knüpfen außerdem viele Bemerkungen Luhmanns im Recht der Gesellschaft an, ein Buch, das besonders die evolutionäre Bedeutung der Schrift für das Recht hervorhebt. Weitere medientheoretische Untersuchungen sind im Kontext der Schrifttheorie Derridas entstanden, etwa die Arbeiten von Peter Goodrich. Andere, wie die Arbeiten von Cornelia Vismann, sind stark von der literaturwissenschaftlichen Medientheorie Friedrich Kittlers beeinflusst worden.119 Evolutionstheoretische Fragestellungen, insbesondere im Hinblick auf die Auswirkungen von Bildmedien und Hypertext für die zukünftige Rechtsentwicklung, finden sich schließlich in Arbeiten von Ino Augsberg, Richard Sherwin, Klaus Röhl, Ralf Christensen, Kent Lerch, M. Ethan Katsh, Volker Boehme-Neßler, Ronald Collins, David Skover und Fabian Steinhauer,120 um nur einige Autoren und Namen zu nennen. In der älteren rechtswissenschaftlichen und rechtshistorischen Forschung wird die evolutionäre Bedeutung der Medien dagegen eher stiefmütterlich behandelt. Bei den Rechtshistorikern steht bis weit in das 20. Jahrhundert hinein das Sinnverstehen im Vordergrund. Wie weiland schon bei Kant basiert Sinnverstehen auf der Mitteilung von Gedanken, deren Artikulationsformen als unabhängig von den sie bestimmenden Medien gedacht werden; die Frage nach der medialen Verfasstheit des Sprachsinns, das Problem der medialen Spur, wird ausgeblendet.121 Es gibt allerdings auch Ausnahmen. So finden sich etwa in Max Webers komparativer Kulturgeschichte des Rechts einige durchaus bemerkenswerte Beobachtungen zum Verhältnis von Oralität und Literalität, etwa im Umfeld religiöser Rechte. Die Tradition, schreibt Weber beispielsweise mit Bezug auf das hinduistische und islamische Recht, muss hier „unmittelbar von Mund zu Mund durch verlässliche heilige Männer gegangen sein; ein Vertrauen auf schriftliche Aufzeichnungen würde bedeuten, dass man Pergament und Tinte glaubt statt den charismatisch qualifizierten Menschen, den Propheten und Lehrern“.122 Ein ähnliches Interesse an Schrift und Sprache hatte zuvor Rudolf v. Jhering bekundet. In seinem Geist des römischen Rechts liest man nicht nur Erstaunliches über den analytischen Charakter des Alphabets,123 sondern auch über die Bedeutung der Lautsprache für die altrömischen 117

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Mit Hahn (Fn. 107), 51, ließe sich auch formulieren: „Medien sind das Material, aus dem sich Interpenetrationen formen.“ Eine ähnliche Umakzentuierung findet sich auch bei K.-H. Ladeur, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74 (1988), 230f. (mit der Bemerkung, dass die Grenze zwischen innen und außen, Selbst und Anderem, nicht so strikt gezogen werden könne, weil die Sprache das Medium der intersystemaren ‚strukturellen‘ Kopplungen sei). Vgl. nur Fögen (Fn. 34), 196ff., 198. C. Vismann, Akten, 2000; vgl. auch R. M. Kiesow, Das Alphabet des Rechts, 2004. I. Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009; R. K. Sherwin, When Law Goes Pop, 2000; K. F. Röhl, Das Recht nach der visuellen Zeitenwende, JZ 58 (2003), 339ff.; R. Christensen/K. D. Lerch, Performanz – Die Kunst, Recht geschehen zu lassen, 2005, 55ff.; M. E. Katsh, Law in a Digital World, 1995; V. Boehme-Neßler, Hypertext und Recht, ZfR 26 (2005), 161ff.; R. Collins/D. Skover, Paratexts, Stanford Law Review 44 (1992), 509ff.; F. Steinhauer, Bildregeln, 2009. Zum Begriff der „medialen Spur“ S. Krämer, Das Medium als Spur und als Apparat, 1998, 73ff. Weber (Fn. 26), 459f. R. v. Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. II/2, 1875, 334ff.

171 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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§ 7. Evolution Rechtsgeschäfte. Diese Reflexionen Jherings lesen sich heute wie eine Vorwegnahme auf die auf Performanz abstellenden Sprechakttheorien.124

2. Primäre Oralität und Schriftgebrauch

282 Walter J. Ong bezeichnet solche Kulturen als primär oral, die noch nie mit phonetischer Schrift oder Buchdruck in Berührung gekommen sind; primäre Oralität im Unterschied zum Analphabetismus in literalen Kulturen, den Ong einer „sekundären Oralität“ zuschreibt.125 Unter Bedingungen primärer Oralität können gesellschaftliche Regelbestände, Tradition, Sitte, Brauchtum, Konventionen etc., nur „durch eine lange Kette miteinander verflochtener Unterhaltungen“ bewahrt werden,126 durch ständige Rück-Vergewisserung des gemeinsamen Wissens im Medium der flüchtigen Lautsprache. Das hat zur Folge, dass Sprache und Wissen einen stark formularischen Charakter annehmen, der auf der laufenden Wiederholung immergleicher Wortformulare basiert,127 auf „ritengestützter Repetition“ im Sinne von Jan Assmann.128 Ob es unter solchen Bedingungen schon in primitiven Gesellschaften „Recht“ gegeben hat oder ob sämtliche Konventionen und Regeln hier nur ein Aspekt jener faits sociaux totaux waren, wie sie Marcel Mauss in seinen Essays über Die Gabe beschrieben hat – immanenter Bestandteil einer reziproken Organisation von Sozialität –, wird in der einschlägigen Literatur kontrovers diskutiert.129 Allem Anschein nach kannten aber schon einfache Jäger- und Sammlergesellschaften rechtliche Regelbestände sowie (implizite) Streitschlichtungsmechanismen, etwa im Fall eines Verstoßes gegen Inzestregeln.130 Allerdings ist die Emergenz rechtsspezifischer Kommunikation unter Bedingungen primärer Oralität nur schwer vorstellbar. Das zeigt aber umgekehrt, dass das Recht seine eigenen Grenzen notwendigerweise durchlässig halten muss, dass es als instituierte Praxis auch in oralen Kulturen existiert und dass es diese kulturelle Infrastruktur auch heute nicht einfach abstreifen kann. 283 Schon primär orale Kulturen kennen gemeinsame Rechtsnormbestände, auch wenn es in ihnen keine evolutionären Anreize gibt, spezifisch juristische Wissensbestände über 124

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Jhering, ebd., 420ff. (zum oralen Formalismus des altrömischen Rechts), vgl. auch 562 („Der Stoff, aus dem das ältere Recht die formellen Geschäfte gebildet hat, sind Handlungen, Zeichen und Worte. Unter ihnen nehmen letztere die erste Stelle ein.“). W. J. Ong, Orality and Literacy (1982), 2002, 11. J. Goody/I. Watt, Konsequenzen der Literalität, 1981, 45ff., 47. Diese, laufende Wiederholung einschließende, Verbindung nennt J. Assmann (Fn. 6, 16f.) die „konnektive Struktur“ des gemeinsamen Wissens. Vgl. dazu M. Parry, The Making of Homeric Verse, 1987, 266ff., 325ff.; Ong (Fn. 125), 20ff. J. Assmann (Fn. 6), 87ff., 97ff. Vgl. den Überblick zur Frühgeschichte des Rechts bei Wesel (Fn. 1), 15, 19ff.; weitere Nachweise zum Forschungsstand bei Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 259 Fn. 49. Die ethnologische und anthropologische Forschung wirft u. a. methodologische Probleme auf: Da es nur wenige archäologische Daten über primitive Gesellschaften gibt, ist die Forschung hier letztlich auf ethnologisches Material angewiesen und damit auf die Unwägbarkeiten einer unterstellten Vergleichbarkeit von Feldforschungen in Gesellschaften, die sich auf kolonialisierten Territorien befanden oder auf andere Weise durch Hochkulturen beeinflusst worden waren, und Gesellschaften der Frühgeschichte. Segmentäre, auf Verwandtschaftsgruppen aufbauende Gesellschaften institutionalisierten Streitschlichtung etwa im Fall von Brautpreisschulden; teilweise lassen sich in archaischen Gesellschaften (Protostaaten) sogar öffentliche Todes- und Verstümmelungsstrafen nachweisen, siehe Wesel (Fn. 1), 26f. (Der Inzest des Kelemoke), 40f. (Der Streit um die Brautpreisschulden der Roikine).

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IV. Medien als pre-adaptive advances

solche Normbestände aufzubauen. Rechtsevolution als Evolution eines expliziten positiven Rechts wird in oralen Kulturen dadurch blockiert, dass Sprache und Sprachgebrauch, langue und parole, Wortlaut und Sinn immer zusammenfallen. Sprachhandeln ist und kann nicht von den Regeln der Sprache getrennt werden. Es gilt, um mit Goody und Watt zu sprechen, das Prinzip der direkten „semantischen Ratifizierung“, der Konfliktlösung ad hoc.131 Das gilt auch im Bereich des materiellen Rechts: Orales Recht wiederholt sich selbst oder produziert eine Variation, die als solche nicht erkennbar ist – oder die Regel wird einfach vergessen, wenn sie angesichts geänderter Umstände keine Verwendung mehr findet.132 Für Belege dieser Thesen lässt sich auf die umfangreiche Diskussion über das frühe antike griechische Recht (prédroit) verweisen. Deren wichtigste Quellen sind die Epen Homers und Hesiods, insbesondere die Gerichtsszene in der Ilias von Homer (Schild des Achilles).133 Diese Diskussion hat gezeigt, dass es in Griechenland schon in archaischer Zeit (um 700 v. Chr.) öffentliche Streitbeilegungsverfahren und allgemein anerkannte Rechtsnormen gab. Aber in den Epen Homers lassen sich keine expliziten Rechtsnormen nachweisen, kein materielles Recht im heute üblichen Sinn, sondern lediglich implizites Erfahrungswissen, das in Form von Klugheits- und Verhaltensregeln (metis) in die homerischen Heldengeschichten und Erzählungen über die heroische Vergangenheit verwoben ist, Recht also in anderen Formen als heute existierte.134 Erst die Erfindung und Ingebrauchnahme der phonetischen Buchstabenschrift ermög- 284 licht es, den gemeinsamen Regelbestand zeitbeständig zu fixieren und zu explizieren. Das ist die ausschlaggebende Vorentwicklung, die evolutionäre Errungenschaft, die ungefähr seit dem 2. Jahrtausend v. Chr. die beeindruckende Komplexitätssteigerung des Rechts in den vorderasiatischen Hochkulturen, im antiken Griechenland und in Rom möglich gemacht hat.135 Zum einen gestattete es die Buchstabenschrift, explizite Geund Verbote in Form apodiktischer Sätze aufzustellen, wie z. B. im Fall des Dekalogs, der Zehn Gebote des altjüdischen Rechts.136 Außerdem wurde durch die Buchstabenschrift eine komplexere Explikation gesellschaftlicher Konventionen möglich, die Wenn/Dann-Form, in der ein auf einen Fall bezogener Vordersatz (Protasis) mit einem Nachsatz oder einer Folge (Apodosis) verbunden wird (Konditionalprogramm). Folgt man Jean Bottéro lassen sich erste Anläufe zu konditionaler Formbildung im alten Me131

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Goody/Watt (Fn. 126), 48 (beide Autoren sprechen auch von einem „homöostatischen Charakter“ oraler Kultur); vgl. auch Ong (Fn. 125), 46f.; aus linguistischer Sicht mit vergleichbaren Ergebnissen Ch. Stetter, Schrift und Sprache, 1997, 29 („Orale Kommunikation ist konstitutiv daran gebunden, dass Sprecher und Hörer sich in ihr zugleich mit dem Gesagten über die Geltungsbedingungen dieses Handelns verständigen.“). Fögen (Fn. 34), 84; ähnlich J. Goody, Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, 1990, 229 („Dieser Prozess [der der Regeländerung, T. V.] ist unmerklich, weil Normen nur in mündlicher Form existieren, so daß Regeln, die nicht mehr anwendbar sind, häufig dem Gedächtnis entgleiten.“). Vgl. M. Gagarin, Writing Greek Law, 2008, 13ff.; Robb (Fn. 81), 74ff.; dazu bereits Weber (Fn. 26), 452, 767. Vgl. Robb (Fn. 81), 78ff. („The Exemplum of Epic“); ähnlich R. Thomas, Writing, Law, and Written Law, 2005, 41ff., 57; anders Gagarin (Fn. 133), 36 („Thus, before writing we can speak of oral law – viz.judicial procedure without writing – but not oral laws.“). Dazu vorzüglich J. Assmann, Herrschaft und Heil, 2002, 178ff.; zur Evolution der Alphabetschrift in den vorderasiatischen Hochkulturen vgl. nur H. Haarmann, Universalgeschichte der Schrift, 1990, 267ff. Vgl. dazu nur E. Otto, Recht im antiken Israel, 2003, 151, 160f.

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§ 7. Evolution

sopotamien noch vor dem Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. im Zusammenhang mit divinatorischen Praktiken nachweisen.137 Auf diese, von einer Schreiberzunft getragene Technik sattelte womöglich ein umfangreiches Verkehrsrecht auf, das unterschiedlichste Schriftverträge wie Darlehen, Kauf, Pacht, Miete etc. kannte.138 In den griechischen Städten (poleis) wurde die Buchstabenschrift schließlich in engem Zusammenhang mit dem Experiment der Demokratie folgenreich.139 Städte wie Dreros und Gortyn nutzten seit 650 v. Chr. die Schriftkunst, um gemeinsame Konventions- und Regelbestände in Mauern zu ritzen und den für Streitschlichtungen zuständigen Magistraten an eine für alle erkennbare gleiche Handlungsgrundlage zu binden.140 285 Auch wenn gesellschaftliche Regelbestände und Konventionen historisch gesehen zunächst nur dann verschriftlicht wurden, wenn diese innerhalb der oralen Kultur unklar oder strittig waren, die Verschriftlichung also Klarheit über den geltenden Regelbestand schaffen sollte,141 kommt es evolutionstheoretisch gesehen doch darauf an, die eigentümliche Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen in den Blick zu nehmen: Resultat der Nutzung der Buchstabenschrift für rechtliche Zwecke ist gerade nicht die Eliminierung jeden Streits um Worte, sondern eine neue Differenz, nämlich die Differenz zwischen dem geschriebenen Wort und seiner (authentischen) Interpretation, die später – unter christlich-paulinischem Einfluss – so genannte Unterscheidung zwischen dem „buchstäblichen Sinn“ und dem „Geist des Gesetzes“.142 Während mündliche Kommunikation auf dem Gesetz der direkten semantischen Ratifizierung basiert, darauf, dass sich Sprecher und Hörer gleichzeitig über das Gesagte und die Geltungsbedingungen dieses Handelns verständigen, macht Schrift Abweichungen von der Tradition erkennbar – und damit denkbar.143 Die Transformation der flüchtigen Lautsprache in das (vermeintlich) stabile Medium der Alphabetschrift mündet daher keineswegs in eine Welt eindeutiger Worte und trennscharfer Zeichen, wie sie etwa die formalen Sprachen der Mathematik und Geometrie ausbilden. Schriftförmige Satz- und Textbildung steigern vielmehr die semantische Dichte der Rechtssprache und potenzieren damit ihre Unbestimmtheit. Erst durch die Einführung der Schrift entstehen „Zweifelsfälle und unentschiedene Fälle der Frage ..., ob ein X zu Recht als Y zu kategorisieren ist“.144 137

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J. Bottéro, Mesopotamia, 1992, 125ff („deductive divination“), 127f. (zur Bildung von Wenn/DannFormen), vgl. auch 136 („divination became thus an a-priori knowledge ... That knowledge was deductive, systematic, capable of foreseeing, and had a necessary, universal and, in its own way, abstract object, and even its own ‚manual‘.“). Vgl. dazu nur den Überblick bei H. Neumann, Recht im antiken Mesopotamien, 2003, 55f., 121f.; vgl. aber auch Bottéro (Fn. 137), 181 („Mesopotamian law was essentially an unwritten law.“). Robb (Fn. 81), 85ff., 99ff., 103; K.-J. Hölkeskamp, Schiedsrichter, Gesetzgeber und Gesetzgebung im archaischen Griechenland, 1999, 60ff., 262ff.; Thomas (Fn. 134), 41ff., 48. Die Griechen nannten diese Regeln oft nach dem Medium, in dem sie realisiert wurden, z. B. to graphos (das Geschriebene) oder einfach grammata (die Buchstaben). Dagegen handelt es sich beim Codex Hammurabi (um 1750 v. Chr.) nicht um einen „Codex“, sondern um eine Kommemorativ-Inschrift, um ein Dokument der Selbstpreisung des Königs und seiner „Gerechtigkeit“. Vgl. dazu Bottéro (Fn. 137), 156ff.; J. Renger, Noch einmal: Was war der ‚Kodex‘ Hammurabi – ein erlassenes Gesetz oder ein Rechtsbuch?, 1994, 27ff., 51. So für den Fall Griechenland vielfach bezeugt. Vgl. nur Thomas (Fn. 134), 41ff., 42 (Euripides), 43, 46 (Solon), 52. Vgl. dazu Goody (Fn. 132), 268ff. Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 249, vgl. auch 340f. So, in einem allgemeineren Zusammenhang, Ch. Stetter, System und Performanz, 2005, 28. Wie Stetter anmerkt, fordert Frege für die (formale) Logik die scharfe Begrenztheit des Begriffs, aber er fordert

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IV. Medien als pre-adaptive advances

Vor diesem Hintergrund ermöglicht die Buchstabenschrift zwei verschiedene Ent- 286 wicklungspfade. Der erste Entwicklungspfad ermöglicht den Übergang von „ritueller zu textueller Kohärenz“.145 Solange die Schrift nur supplementären Charakter hat, bleiben die Abweichungsmöglichkeiten von der oral gesicherten Tradition gering. Der Status der Schrift bleibt prekär, sie dient vor allem zur Kanonisierung des Wissens, dessen Anwendung wiederum auf Interaktionskontexte angewiesen bleibt. Im Bereich der Rechtspraxis zeigt sich das u. a. darin, dass das geschriebene Recht von der wörtlichen Auslegung beherrscht wird, d. h. Innovationen auf der Grundlage von Texten als undenkbar angesehen werden. Das ist etwa im griechischen Stadtrecht und im frühen römischen (Sakral-)Recht der Fall. Der Gortyn-Code kannte eine strikte Bindung des Magistraten an den Wortlaut, und auch im Athen des 5. Jahrhunderts v. Chr. ist eine Formel nachweisbar, wonach der Magistrat kein ungeschriebenes Recht anwenden darf. Wie das altjüdische Recht (Deut. 5.1), ist auch das frühe römische Recht an buchstabengenauer Auslegung orientiert.146 Erst in späteren, schon unter dem Einfluss griechischen dialektischen Denkens stehenden Traditionen des Judentums kommt es zu der Erkenntnis, dass die (schriftlichen) Gesetze immer der ergänzenden mündlichen Interpretation bedürfen, kommt es zu einer produktiven Auslegungstechnik, die wiederum Ähnlichkeiten mit der Interpretationslehre der römischen Jurisprudenz seit der (späten) Republik aufweist.147 Die andere evolutionäre Möglichkeit, die die Buchstabenschrift eröffnet, kann man 287 mit Luhmann als Ermöglichung von „Ideenevolution“ bezeichnen.148 Die Buchstabenschrift stand den vorderasiatischen (nordsemitischen) Hochkulturen vermutlich seit dem späten 2. Jahrtausend v. Ch. zur Verfügung, aber erst Platon benutzte sie zur Produktion eines neuartigen Wissens, zur Herstellung von „Philosophie“. Aufgrund dieser Ungleichzeitigkeit wird in der Literatur viel darüber diskutiert, ob und inwieweit die Emergenz der platonischen Dialektik (epistéme dialektiké) in Athen intrinsisch mit den Besonderheiten der griechischen Alphabetschrift (im Unterschied zur phönizischen Buchstabenschrift) verbunden ist oder durch diese sogar begünstigt wurde; die schrifttheoretische Grundlage für diese Diskussion bildet Ignaz Gelbs A Study of Writing.149 Folgt man in dieser sehr kontrovers und auf Grund ihrer politischen Implikationen teilweise mit sehr viel Leidenschaft behandelten Frage Autoren wie Eric A. Havelock, Kevin Robb, Elena Esposito, Christian Stetter u. a., gibt es gute Argumente für die These, dass die Evolution philosophischen Wissens, Platons epistéme

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sie eben deshalb, weil er weiß, dass es in der natürlichen Sprache anders ist. Vgl. dazu auch den Kommentar von L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (1945), 2003, § 71. J. Assmann (Fn. 6), 87ff. Vgl. nur Fögen (Fn. 34), 98; Wieacker (Fn. 36), 330 (formalistisches Haften am Wortlaut); Kaser (Fn. 14), 213 („die interpretatio geht zu Anfang von dem Wortsinn aus, den der allgemeine Sprachgebrauch ergibt“). Fögen (Fn. 34), 138 Fn. 46, mit Hinweis auf D. Daube, Rabbinic Methods, 1949. Luhmann (Fn. 70 – Die Gesellschaft der Gesellschaft), 536ff.; vgl. auch J. Assmann (Fn. 6), 96, 99, 259ff. Gelbs Studie trug noch in der ersten überarbeiteten Auflage (Chicago 1963) den Untertitel „The Foundations of Grammatology“. Der Begriff „Grammatologie“, der heute gemeinhin J. Derrida zugeschrieben wird, stammt also tatsächlich von I. Gelb. An Gelb schließen etwa an: E. A. Havelock, The Muse Learns to Write, 1986, 59ff.; Robb (Fn. 81); J. Assmann (Fn. 6), 259f.; Esposito (Fn. 115), 101ff.; aus linguistischer Perspektive Stetter (Fn. 131), 273ff.; kritisch etwa H. Haarmann, Writing technology and the abstract mind, Semiotica 122 (1998), 69ff., 86ff.; mit guten Argumenten gegen die teleologischen Züge in Gelbs Evolutionstheorie F. Coulmas, Writing Systems, 2003, 197ff.

175 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Evolution

dialektiké, eng mit der Evolution der Grammatik, der techné grammatiké, verwoben ist. Grammatik im Sinne einer theoretischen Reflexion von Sprachformen aber gab es nur in Griechenland; und nur das griechische Denken hat der Wahrheitsform des geschriebenen Satzes eine so große Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht nur zufällig und beiläufig nennt Platon den Satz im Kratylos etwas Großes, Schönes und Ganzes.150 288 Die Konsequenzen dieses Entwicklungssprungs realisieren sich zum ersten Mal im antiken römischen Zivilrecht. Während das theoretische Denken in Griechenland keinen Eingang in die Rechtspraxis fand und noch das athenische Gerichtsverfahren klassischer Zeit durch Rhetorik, d. h. – in Webers Worten – durch „Pathos, Tränen und Beschimpfungen des Gegners“, bestimmt wurde,151 nutzten die römischen Juristen der (spät-)-republikanischen Zeit eben jene platonische Philosophie und Dialektik zur begrifflichen (von anschaulichen Tatbeständen unabhängigen) Erfassung des rechtlichen Regel- und Entscheidungsmaterials;152 sie praktizierten Jurisprudenz vor allem als Scheidekunst.153 Juristen wie Quintus Mucius Scaevola gebrauchten ferner den Kernbestand der platonischen Dialektik, das diairetische Erkenntnisverfahren, jenes tò katà géne diareísthai,154 das eine Einteilung des Seienden nach Gattungen und Arten, nach genera und species, möglich macht. Mit Hilfe dieser Methode wurde in Rom zum ersten Mal eine sekundäre Beobachtungsebene, die der iuris prudentia, in das Rechtssystem eingezogen, die in Form von Gutachten (responsa) und Lehrbuchliteratur – vermittelt über den römischen Prätor155 – auf die Evolution des Rechts zurückzuwirken begann. 289 Daraus resultierte eine zirkuläre Verstärkung von prätorischer Amtsfunktion und juristischer Expertise, die zu einer bis dahin gänzlich ungekannten Verfeinerung gesellschaftlicher Regelbestände und Konventionen im Medium einer zunehmend abstrakten juristischen Satz- und Begriffsbildung (definitiones, regulae iuris) mündete. Mit der Satz- und Begriffsbildung gingen erste Systematisierungen des zivilrechtlichen Fallmaterials einher, Unterscheidungen wie Obligation und Strafe, Besitz und Eigentum. Dieses Differenzierungsgeschehen machte nicht zuletzt den Konsensualvertrag möglich, einen evolutionären Sprung ohnegleichen, den weder das griechische Recht noch andere antike Rechte kannten.156 Seinen Abschluss erfuhr das dialektische Ordnungsdenken im Institutionenlehrbuch von Gaius (2. Jahrhundert n. Chr.), in dem der Rechtsstoff wohl zum ersten Mal nach dem Schema der Trichotomie sortiert wurde, der Unterteilung nach Personen (lat. personae), Sachen (lat. res) und Klagen (lat. actiones), ein Schema, das selbst im BGB noch Spuren hinterlassen hat. Die Erarbeitung und Verwendung dichotomischer und trichotomischer Strukturen im antiken römischen Recht bedeutete eine juristische Ordnungsleistung, an die die Justinianische Gesetzgebung und die mittelalterliche Jurisprudenz anschließen konnten. 150 151

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Platon, Kratylos, 224b f.; dazu Stetter (Fn. 131), 299ff. Weber (Fn. 26), 816. Zur Bedeutung der Rhetoren/Oratoren im athenischen Prozess, die in der jüngeren Literatur zu einem „rhetorical turn in scholarship on Athenian law“ stilisiert wird, vgl. nur S. C. Todd, Law and Oratory at Athens, 2005, 97ff. Vgl. dazu ausführlich Schiavone (Fn. 88), 185ff. Vgl. F. Steinhauer, Vom Scheiden, 2015, insb. 68ff.; Schiavone (Fn. 88), 198ff. (Abstraktion als das beherrschende Prinzip der römischen Ziviljurisprudenz). Platon, Sophistes, 253d; dazu aus jüngerer Zeit Stetter (Fn. 131), 325. Vgl. dazu Fögen (Fn. 34), 190ff.; zur aristokratischen Bestimmtheit des römischen Rechts Kirov (Fn. 94), 59ff. Vgl. dazu M. Th. Fögen, Zufälle, Fälle und Formeln, RG 6 (2005), 84ff., 88.

176 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Medien als pre-adaptive advances 3. Buchdruck

Der nächste Bruch in der Geschichte und Evolution des westlichen Rechts, der 290 Sprung zum Rechtssystem, setzte den Buchdruck als pre-adaptive advance voraus. Solange Papyrus- und Pergamenthandschriften dominierten und Bücher nicht ohne weiteres zugänglich waren, blieben die Möglichkeiten einer systematischen Anordnung des Rechtsstoffes begrenzt. Auch die Justinianische Gesetzessammlung des spätrömischen Reichs, das Corpus iuris civilis, das bereits auf dem Pergamentkodex basierte, entsprach mehr einer vergangenheitsorientierten Sammlung von Rechtstexten als einem zukunftsorientierten Systementwurf im Sinne der neuzeitlichen Naturphilosophie.157 Das ist auch weniger überraschend als viele Juristen glauben, zumal die Karriere des Systembegriffs nicht vor 1600 begann, nach Luhmann zunächst als Buchtitel und zur Ankündigung der Absicht, „ein Buch mit einer ordentliche(n) Stoffgliederung zu verfassen.“158 Wie wir weiter oben bereits gesehen haben, bewirken das hoch standardisierte Kodierungsrepertoire der Druckschrift, die durchgehende diskrete Formatierung des bedruckten Raums und die umfassende orthographische Regelbindung eine digitale Aufbereitung des Sprachsystems, die wiederum erst die übersichtliche Darstellung im Sinne Wittgensteins, den von einem „enzyklopädischen“ Einheitswillen getragenen Systementwurf, ermöglicht hat (Rn. 100ff.).159 Ansätze zu einer systematischen Darstellung lassen sich schon im italienischen Huma- 291 nismus nachweisen. Einen Bruch mit der rhetorischen Tradition in Richtung Einheit, Konsistenz und Harmonie vollzog bereits die logisch-dialektische Methode von Petrus Ramus (1515–1572), dessen Methodenideal der klaren und übersichtlichen topischen Ordnung wiederum in enger Beziehung zu den neuen Möglichkeiten des Buchdrucks (und umgekehrt) stand. „Clarity and logic of organization, the disposition of matter on the printed page became ... a preoccupation of editors, almost an end in itself. It is a phenomenon familiar to a student of encyclopaedic books in the late sixteenth century, relating to the increased fascination with the technical possibilities of typesetting and the great influence exerted by the methodology of Peter Ramus ... The Ramist doctrine that every subject could be treated topically, that the best kind of exposition was that which proceeded by analysis was enthusiastically adopted by publishers and editors.“160 Erneuerung des vorgefundenen Stoffes, Systematisierung und Vereinfachung des Wissens, das Sehen des Zusammenhangs, wurde schließlich auch zum Programm der neuzeitlichen Naturphilosophie. Von „ersten“ Sätzen ausgehend, entfaltete die Naturphilosophie ihre Themen vollständig deduktiv, d. h. alle Sätze innerhalb des Systems wurden über Grund/Folge-Relationen miteinander verknüpft, und auch dies geschah nicht zufällig im Medium des gedruckten Buchs. Schon für Galilei und Descartes nahmen Universum und Welt selbst die Gestalt eines „großen Buches“ an.161 157

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E. L. Eisenstein, The Printing Revolution in Early Modern Europe, 1993, 71 („The medieval teacher of the Corpus Iuris was ‚not concerned to show how each component was related to the logic of the whole‘, partly because very few teachers on law faculties had a chance to see the Corpus Iuris as a whole.“). Luhmann (Fn. 81), 543. Wittgenstein (Fn. 144), § 122 („Die übersichtliche Darstellung vermittelt das Verständnis, welches eben darin besteht, daß wir die ‚Zusammenhänge sehen‘.“). Eisenstein (Fn. 157), 70f. (Zitat von N. Gilbert); zum Zusammenhang von Methode/Systemdenken und Buchdruck bei Ramus vgl. W. J. Ong, Ramus, 1958, 304, 315. Zur Abhängigkeit der modernen Naturwissenschaft vom Buchdruck vgl. nur P. Rossi, Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa, 1997, 72ff.; Eisenstein (Fn. 157), 187ff.

177 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Evolution

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass Hans Blumenberg das Buch, und insbesondere das Buch in der Tradition des Judentums und des Christentums, zu Recht als das Medium bestimmt, im dem das Disparate und weit Auseinanderliegende, Widerstrebendes, Fremdes und Vertrautes am Ende als Einheit begriffen oder zumindest als einheitlich begriffen vorgegeben werden könne.162 292 Erneut ist es eine zirkuläre Verstärkung von Medien- und Ideenevolution, die einen Sprung in der Rechtsevolution ermöglicht: Im 19. Jahrhundert wurde das mit dem Buchdruck verbundene Methodenideal der „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee,“163 das System, auf dem europäischen Kontinent von der historischen Rechtsschule adaptiert; wohingegen die kontinentalen Systembildungen im englischen Common law fortan als benchmark fungierten, um die Abweichung von diesem Methodenideal immer wieder positiv wie negativ zu kommentieren.164 Die tragenden Elemente des rechtspositivistischen Rechtssystems waren: Abkehr von allem philosophischen und politischen Räsonnement, rein juristische „Construction“, Beherrschung des Rechtsstoffs von einem Punkt aus, innere Kohärenz und „Consequenz“ des gesamten Rechtsstoff unter einer ihn durchherrschenden „Gesamtidee“. Ihren Höhepunkt erreichte diese Semantik der „inneren Einheit“ der Rechtsordnung vielleicht im Pandektenlehrbuch Bernhard Windscheids (seit 1862), dessen außerordentliche Wirkung – nach einer treffenden Beobachtung Wieackers – auf eine einmalige mediale Alleinstellung zurückzuführen war; auf „eine Autorität, die heute auf verschiedene Institutionen und Organisationen verteilt ist: das Gesetz, die höchstrichterliche Entscheidung, der große Kommentar und das Lehrbuch“.165 Vermittelt über das systematische Gesetzbuch oder die auf Vollständigkeit und Abgeschlossenheit angelegte Rechtsakte wanderte das rechtspositivistische Systemdenken auch in die Rechtspraxis ein. 4. Elektronische Medien und Computer

293 Fiel die Sattelzeit der Verwissenschaftlichung der Rechtsexpertise in Deutschland in eine Phase, in der Pandektenlehrbücher und vergleichbare Unternehmen im Bereich des Öffentlichen Rechts eine mehr oder weniger exklusive Stellung innehatten, sah sich der Rechtsbetrieb bald mit der Konkurrenz neuer (elektronischer) Medien konfrontiert. Die Vorstellung, dass die juristische Expertise wesentlich über Lehrbücher synthetisiert würde, ist zwar bis weit in das 20. Jahrhundert hinein präsent. Mit dem 162

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H. Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, 1981, 17, 18; F. J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, 2014, 124. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1787), 1974, B 861. Zu den kommunikativen Voraussetzungen der Idee eines Systems der Erkenntnisse J. Simon, Kant, 2003, 20ff. Zum Systembegriff bei Kant vgl. auch M. Riedel, System, Struktur, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 2004, 307ff. Vgl. dazu nur Luhmann (Fn. 70 – Recht der Gesellschaft), 273f. Die von Kontinentaleuropa abweichende Entwicklung des englischen (und skandinavischen) Rechts dürfte nicht zuletzt mit der Dominanz lokaler mündlicher Rechtstraditionen zusammenhängen, die eine Einflussnahme der gelehrten Buchkultur erschwerte, während das in Deutschland, Frankreich und Italien einflussreiche Römische Recht des Mittelalters ein Recht der (klerikalen) Schriftkultur war und blieb und daher von Anfang an stärker für Buchwissen durchlässig gewesen sein mag. Wieacker (Fn. 5), 446; vgl. auch die entsprechenden Reflexionen Forsthoffs über die Bedeutung der „monographischen Einzelarbeit“ für die Evolution der verwaltungsrechtlichen Systembildung: E. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1966, z. B. 42, 48.

178 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Medien als pre-adaptive advances

Bedeutungszuwachs von Gesetzbüchern, höchstrichterlichen Entscheidungssammlungen und juristischen Fachzeitschriften (um nur einige Beispiele zu nennen), büßte das systematische Lehrbuch jedoch am Ende des 19. Jahrhunderts seine mediale Vorrangstellung ein. Spätestens in der Weimarer Republik konsolidierte sich eine pluralistische Vielfalt unterschiedlichster juristischer Publikationsmedien; neben Lehrbüchern werden Handbücher, (Praktiker-)Kommentare, juristische Monats- und Wochenzeitschriften usw. zu immer beliebteren Publikationsorganen. Und mit der Vielfalt der Publikationsmedien beginnen auch die rechtswissenschaftlichen communities of practice und Teilöffentlichkeiten zu wachsen. Die Einheit der Rechtswissenschaft zerbricht in die großen Teilgebiete Privatrecht und Öffentliches Recht, und quer zu den Gebietsdifferenzen entstehen darüber hinaus ganz neue Teildisziplinen der Rechtswissenschaft, wie etwa juristische Rechtsphilosophie (Karl Bergbohm, Gustav Radbruch), Verfassungslehre (Carl Schmitt, Rudolf Smend) oder Rechtstheorie (Hans Kelsen). Welche Konsequenzen werden die Erfindung des Computers und der Aufstieg des In- 294 ternets für die weitere Rechtsentwicklung haben? Um diese Frage produktiv beantworten zu können, ist hier vorgeschlagen worden, die Möglichkeiten von Begriffen und Vorstellungen der Computerkultur zu testen (vgl. Rn. 136ff.).166 Ist einmal erkannt, dass das Internet nichts anderes als „ein gigantischer Computer“ ist, „ein komplexes sich selbst organisierendes Informationssystem, in dem keine zentrale Leistungsvermittlung stattfindet“,167 muss auch die Rechtstheorie die netzwerkförmige, nicht-hierarchische, dynamische Reproduktion von Systemen in den Vordergrund rücken. Die Rechtsordnung befindet sich offensichtlich seit einiger Zeit in einem umfassenden Prozess des Wandels zu einer neuartigen Operationsweise dynamischer Stabilität, auf die Sprachphilosophie und Dekonstruktivismus mit Begriffen wie „Sprachspiel“, „Performanz“ oder „différance“ reagiert haben und auf die Luhmann den Begriff der „Autopoiesis“ angesetzt hat. Diese Vorstellung dynamischer Ordnungsbildung muss insbesondere mit der Einsicht verknüpft werden, dass die Computerkultur die Grenzen der Rechtsordnung selbst in Richtung Dynamisierung und Fluktuanz verändert und die Grenze von einer Trennlinie in eine Kontaktzone verwandelt. Die Leistungen des Rechts sind heute in einem nie gekannten Maße von Überlappungen, Hybridbildungen und „strukturellen Kopplungen“ mit anderen sozialen Systemen abhängig, die mit einer traditionell systemtheoretischen (auf den Sinnbegriff aufbauenden) System/ Umwelt-Differenz kaum mehr zu erfassen sein dürften. Das ist auch der tiefere Grund dafür, dass das Recht der Gesellschaft heute weitaus mehr als Erwartungssicherheit zur Verfügung stellen muss. Der durch den Computer ausgelöste Einschnitt in der Rechtsevolution wäre in einer „Logik der intra- und interorganisationalen Netzwerke“ zu rekonstruieren, also mit einem Wissen in Zusammenhang zu bringen, das „von heterarchischen hybriden Verschleifungen und Relationierungen von Suchprozessen in Netzwerken bestimmt wird“.168

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Dazu – programmatisch – schon früh Ladeur (Fn. 117), 218ff. (mit der These des Verlustes der Einheit des Rechtssystems); vgl. auch Christensen/Lerch (Fn. 120), 55ff.; Augsberg (Fn. 120), 133ff.; zum Hypertext und seinen Konsequenzen für das Recht vgl. auch F. Müller/R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 2, 2012, 235ff., 245ff. K. Mainzer, Computerphilosophie zur Einführung, 2003, 161. K.-H. Ladeur, Der Staat gegen die Gesellschaft, 2006, 296.

179 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

§ 7. Evolution

295 Dagegen scheint die Diagnose von der „visuellen Zeitenwende“ zu kurz zu greifen. Sicherlich kann man leicht eine Reihe von Phänomenen aufzeigen, die in die Richtung eines iconic turn weisen. Richard Sherwin hat das Eindringen der visuellen Populärkultur in das US-amerikanische Recht etwa am Beispiel der Übernahme filmischer Realitätskonstruktionen im Geschworenenprozess dargestellt, Cornelia Vismann beobachtet in den Medien der Rechtsprechung eine neue Offenheit von (internationalen) Gerichten für audiovisuelle digitale Technologien, die sie als Durchlässigkeit für justizfremde Anforderungen und Einflüsse interpretiert.169 Es ist außerdem absehbar, dass der Computer die Operationsweise von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung auf unterschiedlichste Weise erfassen und verändern wird, eine Entwicklung, die sich auf der Ebene der Verwaltung etwa in den neueren Entwicklungen des electronic government und des „Informationsverwaltungsrechts“ erkennen lässt.170 Aber soweit mit dem Aufstieg von Bildmedien und Computer schematische Szenarien vom Verfall begrifflicher Rechtskultur verbunden werden, Diagnosen einer Visualisierung des juristischen Denkens, einer „Bilderflut“, in der die „Schriftkultur“ des Rechts zu ertrinken droht,171 ist die These von der visuellen Zeitenwende nicht überzeugend. Recht hat schon immer über die Verknüpfung verschiedener Medien operiert, verwiesen sei hier noch einmal auf die förmlichen Rechtsgeschäfte des altrömischen Rechts wie mancipatio oder stipulatio, die Weber als Vorbild für seinen Typus des empirischen Formalismus dienten. Und gerade der Buchdruck hat – wie man von Wittgenstein lernen kann – eben auch eine Sehweise auf die Welt ermöglicht, die darin besteht, „dass wir die ‚Zusammenhänge sehen‘“.172

296 Eine neuartige Logik der Vernetzung bestimmt heute nicht zuletzt die unterschiedlichen Formen juristischer Expertise. Dadurch gerät auch die Rechtstheorie in eine paradoxe Situation. Sie bleibt einerseits auf die Wahrheitsform des Buches angewiesen,173 dessen Leistungen auch in Zukunft nicht durch den Zeitschriftenaufsatz, den Beitrag in einem Sammelband, eine webpage oder einen Hollywood-Film ersetzt werden können. Auf der anderen Seite ist die Rechtstheorie heute nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit in einer bürgerlichen Kultur des Buches beheimatet wie dies die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts möglicherweise war. Als Buchwissen konkurriert die Rechtstheorie heute viel stärker mit anderen Medien, vor allem mit audiovisuellen Massenmedien und zunehmend auch mit Computer und Internet. Dieser evolutionären Dynamik kann sich die Rechtstheorie nicht in einem „Kampf auf verlorenem Posten“ entgegenstellen. Die Möglichkeit der linearen Form, die Exposition rechtstheoretischen Wissens in einem von einer „Gesamtidee“ (Gerber) getragenen Systementwurf, die Formung eines geschlossenen und einheitlichen Ganzen aus einer zusammenhängenden Reihe rechtlicher Stoffe, liegt hinter uns. Dagegen wäre die Buchform heute an die Computerkultur anzupassen. Die Rechtstheorie hätte sich einer offenen, konnexionistischen Architektur anzuverwandeln und als „horizontaler Hypertext“ von Themen und Unterscheidungen zu präsentieren, in dem das Testen der Kombination von verschiedenen Differenzen die Fundierung aller Aussagen des Systems in einer einzigen Anfangsoperation, dem Prinzip, ersetzt. Ob die Rechtstheorie diese konnexionistische Architektur dann ausschließlich durch Druckschrift und Texte (wie in diesem Buch) oder auch in Bildern darstellt, ist eine zweitrangige Frage.

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Sherwin (Fn. 120), 24f., 41ff.; C. Vismann, Medien der Rechtsprechung, 2011, ins. 333ff., 341. Vgl. M. Eifert, Electronic Government, 2006; zum Informationsverwaltungsrecht E. Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1982, 278ff.; Ladeur (Fn. 168), 331ff. Röhl (Fn. 120), 339; ähnlich auch H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverwaltungsgericht als Impulsgeber für die Fachliteratur, 2003, 1061ff. Wittgenstein (Fn. 144), § 122. Für die Philosophie vgl. J. Simon, Philosophie des Zeichens, 1989, 253 („Wir haben in der Wissenschaft keine Alternative zum Schema des Buches.“) Diese These bedarf angesichts gegenläufiger Entwicklungen in den Naturwissenschaften allerdings einer genaueren Spezifizierung.

180 https://doi.org/10.17104/9783406746154-149 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:55:40. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

IV. Medien als pre-adaptive advances

Die Logik der Vernetzung verändert schließlich auch die Kommunikationsbedingun- 297 gen im Rechtssystem selbst. Die im Lehrbuch des 19. Jahrhunderts noch zentral (re-) präsentierte Rechtswissenschaft sieht sich heute mit einer Vielzahl von juristischen (Teil-)Öffentlichkeiten konfrontiert. Garantierten das Pandektenlehrbuch oder vergleichbare Lehrbücher des Öffentlichen Rechts (Paul Laband, Otto Mayer), dass Innovationen nicht auf kleine Gemeinschaften von Rechtswissenschaftlern beschränkt blieben (und auch die Gerichtspraxis im Durchschnitt erreicht werden konnte), kann auch in dieser Hinsicht nicht mehr auf Kontinuität vertraut werden. In einem Netzwerk überlappender Nachbarschaften dominieren zwangsläufig Prozesse der Selbstabschließung, während „Kommunikation“ im alten tradierten Sinn, d. h. im Sinn der Herstellung von Gemeinschaft, nicht mehr als selbstverständlich unterstellt werden darf. Neuerungen in der Rechtstheorie werden heute von der Rechtsdogmatik eher gar nicht zur Kenntnis genommen oder sickern nur sehr langsam durch. Das gilt in noch höherem Maße für die Rechtspraxis, etwa für Gerichte, die heute weitgehend selbstreferentiell operieren. Auf diese schwierige Situation darf die Rechtstheorie allerdings nicht ihrerseits mit Selbstreferenz antworten. So unverzichtbar die Beobachtung von Rechtstheorie durch Rechtstheorie im Einzelfall auch sein mag, die weitere Rechtsevolution dürfte kaum durch Kommunikationen des Typs „Baiers Unterscheidung zwischen Regeln für Gründe und Regeln, die Rangordnungen zwischen solchen Regeln festlegen, ist eine wichtige Ergänzung der Toulminschen Analyse des moralischen Argumentierens“ gesichert sein.174 Gerade unter den Bedingungen eines beschleunigten gesellschaftlichen Wandels muss die Rechtstheorie der Rechtspraxis einen Varietätspool an Ideen zur Verfügung stellen, alternative Entwicklungspfade, die in der Theorie bereits soweit heruntergebrochen sind, dass sie praktisch und dogmatisch anschlussfähig erscheinen. Ob die Botschaften der Rechtstheorie dann eine bessere Chance haben, gehört zu werden, wird die weitere Evolution zeigen.

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R. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 1983, 131.

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Personenregister Die Zahlen verweisen auf die Randnummern dieses Buches. Adelung, Johann Christoph: 104 Adorno, Theodor W.: 143 Alexy, Robert: 29, 41, 165, 217, 224, 250 Amstutz, Marc: 262, 269 Antiphon: 76, 159, 170 Aquin, Thomas von: 158 f Aristoteles: 14, 15, 75f., 119, 157, 160ff., 169, 170 Assmann, Aleida: 9a, 279 Assmann, Jan: 9a, 9b, 248, 279, 282 Augsberg, Ino: 196f., 240ff., 281 Austin, John: 27, 56, 253 Beccaria, Cesare: 211 Benjamin, Walter: 135, 154, 178, 228f., 234 Bergbohm, Karl: 293 Berman, Harold: 269 Blumenberg, Hans: 100, 107, 291 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: 27, 155, 249 Bodin, Jean: 172 Böhm, Franz: 29 Boehme-Neßler, Volker: 281 Bottéro, Jean: 284 Bourdieu, Pierre: 109 Breuer, Stefan: 260 Brunner, Otto: 249 Bücher, Karl: 260 Cavell, Stanley: 242 a Chomsky, Noam: 59, 235 Christensen, Ralph: 192, 224, 233, 281 Chrysipp: 160 Cicero, Marcus Tullius: 20, 158 Cohen, David: 248 Collins, Ronald K. L.: 281 Comte, Auguste: 260 Darwin, Charles: 262f., 267 Daube, David: 248, 281 Davidson, Donald: 56 De Clapier, Luc Marquis de Vauvenargues: 141 Deleuze, Gilles: 12 Delevingne, Cara: 114 Derrida, Jacques: 12, 54, 56, 109, 131, 135, 148, 208, 221, 227, 281 Descartes, René: 45, 54, 73, 79, 173, 291 Dreier, Horst: 27 Dreier, Ralf: 165 Duden, Konrad: 104 Durkheim, Émile: 3, 270 Dworkin, Ronald: 29, 163, 166

Eberl, Oliver: 164 Ehrlich, Eugen: 5, 207, 236 Esposito, Elena: 287 Esser, Josef: 21, 192, 218–222, 224, 233, 236 Feuerbach, P. J. Anselm: 202 Fish, Stanley: 197 Foerster, Heinz v.: 11, 179, 227, 265 Fögen, Marie Theres.: 267, 269, 271 Forst, Rainer: 29, 163 Frankenberg, Günter: 29 Friedrich, Caspar David: 90 Fuchs, Erich: 207 Gadamer, Hans-Georg: 54, 143, 192,, 210, 213, 215ff., 220f., 225, 227, 235 Gaddis, William: 199 Gagarin, Michael: 248 Gaius: 289 Galilei, Galileo: 45, 73f., 79, 81, 291 Gassendi, Pierre: 45, 73 Gelb, Ignaz: 287 Gepharts, Werner: 9 a Gerber, Carl Friedrich v.: 20, 51, 84, 86f., 87, 90ff., 94, 138, 150, 200, 248 Gödel, Kurt: 132, 139 Goldschmidt, Levin: 257 Goodman, Nelson: 54, 102f. Goodrich, Peter: 281 Goody, Jack: 281, 283 Grimm, Dieter: 249 Grolman, Karl Ludwig v.: 202 Günther, Klaus: 29, 163 Habermas, Jürgen 29, 54, 116, 163–167, 235 Hart, Herbert L. A.: 1, 9, 37, 148, 180, 250 Hartung, Fritz: 249 Havelock, Eric A.: 131, 281, 287 Heck, Philipp: 207 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 17, 24–26, 47, 50a, 51, 79, 83, 85, 93, 107, 111, 119, 138, 143, 174, 213, 216, 276 Heidegger, Martin: 213, 215 Herberger, M.: 20 Herder, Johann Gottfried v.: 246 Herodot: 246 Hesiod: 76, 159, 283 Hilbert, David: 139 Hintze, Otto: 249 Hobbes, Thomas: 24, 27, 36, 45, 49, 54, 57, 73, 77, 79–83, 92, 107, 111, 116

183 https://doi.org/10.17104/9783406746154-183 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:35. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Personenregister Hofmann, Hasso: 27 Hofstadter, Douglas R.: 212 Homer: 159, 161f., 281, 283 Honneth, Axel: 29 Hugo, Gustav: 17, 24, 247 Humboldt, Wilhelm v.: 56 Husserl, Edmund: 177 Innis, Harold: 281 Irnerius: 160 Jellinek, Georg: 116 Jhering, Rudolf v.: 20, 84, 94, 97, 152, 205, 207, 257, 281 Justinian: 85, 260, 289f. Kahn, Victoria: 9a, 107 Kant, Immanuel: 24ff., 33, 36, 45–52, 54f., 57, 61, 64, 72, 79, 81, 83, 85f., 107, 111, 118, 150f., 153, 162, 165, 174, 208f., 254, 281 Kantorowicz, Hermann: 207 Kaser, Max: 249f. Katsh, M. Etan: 281 Kelsen, Hans: 1–4, 7, 9f., 39–42, 52, 60, 64, 67, 93, 97ff., 108, 112, 132, 139, 148, 155, 176ff., 180f., 189, 209, 223, 233f., 250, 293 Kepler, Johannes.: 74 Kittler, Friedrich: 54, 281 Klippel, Diethelm: 250 Knütel, Rolf: 249 Koselleck, Reinhart: 246 Koskenniemi, Martti: 250 Krämer, Sybille: 54 Kristeva, Julia: 12 Laband, Paul: 20, 51, 84, 86, 88, 91, 94, 150f., 194, 200ff., 297 Ladeur, Karl-Heinz: 128, 131, 136, 185, 190, 196, 230, 240 ff Larenz, Karl: 35, 38f., 53, 192f., 205, 217, 219, 224 Lefort, Claude: 29 Leibniz, Georg Wilhelm: 139 Lenel, Otto: 247 Lerch, Kent: 281 Le Sage, Alain-René: 141 Livius: 246 Locke, John: 24, 116 Luhmann, Niklas: 6, 8f., 9b, 10, 12, 17, 34, 42ff., 54, 56, 66, 100, 102, 108ff., 112f., 116, 119–121, 124, 126f., 131ff., 137–145, 148, 175, 179ff., 185, 190, 208, 227, 230, 234, 250, 262, 265f., 269–273, 275, 279, 281, 287, 290, 294 Lyotard, Jean-François: 12

Magdelain, André: 248 Mainzer, Klaus: 139 Marcellus: 198 Marx, Karl: 3, 260 Maturana, Humberto: 113, 144 Mauss, Marcel: 282 Mayer, Otto: 86f., 150, 297 McLuhan, Marshall.: 281 Mommsen, Theodor: 247 Montesquieu, Charles: 202 Moretti, Franco: 254 Müller, Friedrich: 192f., 221f., 224, 233 Neumann, Hans: 248 Newman, Randy: 197 Newton, Isaac: 45, 48, 74 Niesen, Peter: 164 Ockham, Wilhelm v.: 172 Ong, Walter J.: 54, 281f. Palyi, Melchior: 3, 251 Parsons, Talcott: 6, 181, 265, 270, 276 Pawlowski, Hans-Martin: 193 Platon: 15f., 55, 109, 160f., 170, 276, 280f., 287f. Pringsheim, Otto: 248 Puchta, Georg Friedrich: 51, 84, 86–91, 94f., 138, 200, 247, 254 Pufendorf, Samuel v.: 80 a Radbruch, Gustav: 20, 26, 66, 156, 293 Ramus, Petrus: 73, 291 Rawls, John: 163, 166 Robb, Kevin: 248, 287 Rodin, Auguste: 110 Röhl, Klaus-F.: 281 Rosen, Lawrence: 9 a Ross, Alf: 148 Rousseau, Jean Jacques: 24, 72, 80, 254 Rückert, Joachim: 250 Rümelin, Max: 207 Saussure, Ferdinand de: 55f., 109, 119, 235 v. Savigny, Friedrich Carl v.: 1, 17, 23f., 51, 72, 84ff., 88, 90f., 94f., 138, 145f., 182, 192f., 200, 203ff., 207, 225, 247, 254 Scaevola, Quintus M.: 288 Schleiermacher, Friedrich: 192, 204 Schmitt, Carl: 88, 93, 135, 154f., 207, 227, 293 Schoeman, Georg Friedrich: 202 Schottel, Justus Georg: 104 Schröder, Jan: 250 Sherwin, Richard K.: 281, 295 Sima Qian: 246 Simmel, Georg: 270 Simon, Herbert Alexander: 243 Simon, Josef: 47

184 https://doi.org/10.17104/9783406746154-183 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:35. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Personenregister Skover, David M.: 281 Smend, Rudolf: 293 Smith, Adam: 24 Spencer Brown, George: 12, 110f., 116, 126 Spinoza, Benedictus: 45, 73 Steinhauer, Fabian: 281 Stetter, Christian: 54, 101ff., 287 Stolleis, Michael: 249, 261 Teubner, Gunther: 119a, 131, 185, 187, 227, 230, 237–241, 262, 269 Thomas, Yan: 248 Thomasius, Christian: 49 Thür: 248 Thukydides: 246 Toulmin, Stephen: 297 Turing, Alan: 132, 139

Waldenfels, Bernhard: 131 Watt, Ian: 281, 283 Weber, Marianne: 3, 251 Weber, Max: 3ff., 28, 36, 68, 70, 93, 152ff., 164, 250–262, 265, 270, 274, 276, 280f., 288, 295 Wieacker, Franz: 168, 249f. 267, 292 Wiethölter, Rudolf: 65, 185, 238 Willoweit, Dieter: 249 Windscheid, Bernhard: 51, 84f., 87, 94f., 149, 151, 200, 205, 254, 257, 292 Wittgenstein, Ludwig von: 54, 56–59, 105, 112, 167, 178, 211, 221, 235, 290, 295 Wolf, Erik: 248 Wolfe, Thomas: 18 Wolff, Christian: 20, 91 Wolff, Hans Julius: 248 Wright, George Henrik v.: 41

Valéry, Paul: 148 Vico, Gian Battista.: 246 Vismann, Cornelia: 9a, 281, 295

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Sachregister Die Zahlen verweisen auf die Randnummern dieses Buches. Auslegung (s. Interpretation) 23, 191f., 195–199, 203–209, 211–216, 218–220, 222, 231ff., 240, 249, 286 Adelsgesellschaft (societas civilis) 24, 71, 79, 157, 169, 172, 182, 187 Aggregat 83, 86, 106 Anfang (s. Axiom, erste Sätze, Prinzip) 7, 22, 25, 29, 75, 81, 97f., 101, 110f., 132ff., 138, 174, 228, 258, 265, 268, 279, 296 Applikation 212, 225, 227 Autonomie – des Rechtssystems 9b, 71f., 93, 95, 100f., 115, 120f., 128, 145, 223, 238, 240, 242, 266, 268, 272, 273 – der Familie 239 – autopoietische 277 – traditionelle Fassung 115 Autopoiesis, autopoietisch 7f., 9, 112–118, 120ff., 126, 128–130, 134, 137, 139–142, 144f., 179, 181, 234, 265f., 269–274, 277, 294 Axiom, axiomatisch (s. Anfang, erste Sätze, Prinzip) 74, 78, 88, 110, 139 Beobachtung – erster Ordnung 11, 32, 123 – zweiter Ordnung 10–13, 19, 31f., 39, 123f., 145, 265, 270, 278, 288 – Fremd/Selbstbeobachtung 12, 63 Bestimmungssätze 34 Bewegungsgesetz 48, 74f., 77, 81 BGB 17, 31, 69f., 247, 259f., 289 Buchdruck 13, 41, 100–102, 104, 106f., 136a, 145, 201, 277–280, 282, 290–292, 295 Buchstabe (gramma) 40, 74, 100, 104, 198, 284–287 Case law 30 Code – binärer 12, 120, 123, 125, 127f., 132f., 137, 242 – civil 68f., 259f. – Gortyn- 198, 286 – schrift, digitale 101 Codierung, Kodierung 102, 104, 106, 118, 120, 122f., 127f., 270, 290 Co-Evolution 266, 274, 277, 280 Common law 22, 50, 68, 82f., 174, 182, 221, 260, 292 communities of practice 32, 60, 293

Computer 13, 101, 106, 118, 136, 137–139, 144f., 263, 278f., 293–296 – kultur 34, 136ff., 139, 144, 185, 273, 294, 296 Corpus iuris civilis 50a, 75, 85, 290 Dezision, Dezisionismus 50, 135, 154, 227 Dialektik, dialektisch 73, 111, 143, 233, 276, 280, 286–289, 291 Diairesis, diairetisch 21, 109, 288 Differenz (s. Unterscheidung) 7, 9b, 12, 108–111, 116f., 128, 137f., 148, 162, 183, 190, 238, 245, 264, 266, 268–270, 272f., 277f., 285, 289, 294, 296 Differenztheorie, differenztheoretisch 7, 12, 109, 113, 128, 232, 270, 273 différance 12, 109, 131, 135, 294 Digesten 85, 160f., 198, 257, 269 Digitalisierung 101f. Diskurs, Diskurstheorie 24, 28f., 163–167, 183, 217, 223, 265, 269 Dogmatik (s. Rechtsdogmatik) 17, 20f., 23, 31, 201 Einheit des Rechts/Rechtssystems (s. Hierarchie) 6, 8, 98, 106, 130, 181. Eigenverfassung 237f., 244 Entscheidung – Begründung der 230, 243 – Einzelfall- 52, 209 – Entscheidungsmacht 155 – Entscheidungsnorm 30f., 209, 222 – Entscheidungssystem/-betrieb 7, 13, 145, 191 – Entscheidungsrechte, subjektive 88, 231 – Entscheidungszwang 133 – Gerechtigkeitsentscheidung 163 – Gerichtsentscheidung 9, 43, 125, 191, 193, 223, 243 – Mysterium der 227–229 – Paradoxie und Aporie der 133, 139, 227–229, 236 – Rechtsentscheidung 154, 194, 218, 222, 233, 236, 244, 254 – Zeitpunkt der 43f., 63 Epistemologie, – soziale, gesellschaftliche 40, 100, 136, 182, 186, 240 „erste“ Sätze (s. Anfang, Axiom, Prinzip) 78, 88, 92, 110, 291 erste Philosophie (prima philosophia) 75 Erwartung – normative 42–44, 66, 121, 127, 181, 190 – kognitive 42, 44, 66, 190

187 https://doi.org/10.17104/9783406746154-187 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:55. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sachregister – Sinnerwartung (Gadamer) 211, 215f., 220 – Erwartungsstrukturen 42 – Erwartungssicherheit 43, 121, 227, 294 – Verhaltenserwartung 42, 166, 244 Ethik 33, 46f., 49, 163, 170 – Diskursethik 166f. – kantische 46f., 49 – Nikomachische 14, 161 Evolution 101, 161, 184, 245, 251f., 255, 257, 259–267, 270–275, 277f., 280f., 283, 287f., 290, 292, 294, 297 – evolutionärer Zufall 92 – Ideenevolution 77, 280, 287, 292 evolutionäre Errungenschaften 277 Evolutionstheorie 16, 250, 261–268, 271, 274f., 277, 280f., 285 Expertise – juristische 10, 12–14, 19, 26, 30, 60, 95, 170, 191, 256f., 272, 278, 289, 293, 296 – technische 127 – theoretische 145 Folgerichtigkeit 91f., 99 Formalismus (im Recht) 94, 252–254, 257f. – empirischer 252f., 295 – logischer 252, 257 – Wort- 253 Freiheit, freier Wille 24, 29, 38, 45, 48, 50, 72, 88ff., 96f., 107, 111, 145, 151, 174, 227, 276 Freirechtsschule 97, 207 Fremdreferenz – vs. Selbstreferenz 126f. Funktion (des Rechts) 8, 43f., 120f., 128, 145, 238, 254, 273 Gedächtnis 278f. Gegenwart 117f., 141f., 179, 183, 246, 265, 279 Gemeinwesen (commonwealth) 79f., 80a, 164, 169 Genealogie 89, 94 Gerechtigkeit 9, 12, 25, 29, 66, 75, 156, 160 (Digesten), 161–163, 170f., 183, 199, 218f., 228, 233, 236, 281 – kommende 135 – Tausch- 160, 162 – verteilende (austeilende) 160ff. Geschlossenheit 7, 126, 128 – operative 112f., 115, 127 – normative 42, 127, 190, 242 Gesellschaftsvertrag 24, 80, 80a, 81, 111, 116, 173 Gesetz (s. lex, nomos, Regeln) 1, 28, 30, 36, 45, 47ff., 52, 57, 72, 74, 76, 82, 125, 127, 132, 150f., 155, 159, 168, 170–173, 180, 191, 194, 197, 200, 202, 204f., 207ff., 227, 230, 284f., 292 – allgemeines 45f., 48–53, 72, 76, 118, 150f., 174, 219, 222ff.

– Allgemeinheit des Gesetzes 45, 51, 55, 150 – vs. Gesetzesanwendung 51, 53, 64, 207, 212, 224 Gesetzespositivismus 84, 150, 174, 182 Gesetzgebung 46, 63, 68–70, 85, 146, 151–153, 170, 172f., 175f., 180, 184, 198, 209, 260, 289, 292, 295 – politische 84, 155, 164, 175, 182, 206, 240 Gewalt 27, 29, 50, 82, 88f., 91, 121, 133, 135, 151, 154f., 172, 178, 202, 223, 259f., 269 – sanktionierte (s. Zwang, Rechtszwang, Imperativ) 42, 49f., 121, 149, 151f., 155, 184 Grammatik 59, 192, 234f., 287 griechischer Stadtstaat (polis, poleis) 15, 75, 80, 158ff., 169f., 198, 259, 284 Grundnorm (s. secondary rule) 7, 97f., 108, 112, 132, 139, 148, 177, 180, 184, 209 Hermeneutik – juristische 23, 192, 194, 210–218, 223–226, 229, 231–233, 235f., 241, 243 – philosophische 54, 143, 192, 210–216a hermeneutischer Zirkel 210f., 217, 219, 221 Herrschaft 72, 88, 91f., 154, 164, 251 – legale 152f., 164 – traditionale 152, 249 Heterarchie, heterarchisch 7, 106, 129, 131, 140, 182–185, 240, 244, 294 Hierarchie 67, 75, 92, 99, 129, 132, 140, 146f., 155, 162, 169, 180, 185, 254 – schema 16, 67, 77 – Leges- 159, 165 historische Rechtsschule 22f., 84, 86–89, 247f., 251, 292 Humanismus 73, 278, 291 iconic turn 295 Idee 25, 27, 83 – Ideengeschichte 27, 77, 82, 249 – Gesamtidee 92, 96, 137, 292, 296 – Ideenevolution 77, 280, 287, 292 Imperativ (s. Zwang, Rechtszwang, Gewalt) 35f., 57 (Wittgenstein), 82 (Hobbes), 197, 252 – kategorischer Imperativ 33, 46–49 Imperativentheorie 35f., 82 Interessenjurisprudenz 97, 207 Interpretation (s. Auslegung) – canones der 196, 228 – Elemente der 23, 196, 199 – grammatische 196, 203, 205 – historische 196, 201, 230, 235f. – legale (s. Gesetzesinterpretation) 204 – objektive vs. subjektive 60, 205, 212, 215, 225 – systematische 23, 68, 105, 196 – teleologische 196, 198f., 207 – Vollzugsform der 211, 216, 219, 230, 232 Iterierbarkeit, itérabilité, Iterabilität 131, 208

188 https://doi.org/10.17104/9783406746154-187 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:55. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sachregister Juristenrecht 31, 60, 158, 206, 259 – römisches 20, 30f., 68 Kodifikationsrecht 68, 70ff., 106 knowing how vs. knowing that 188 Kommunikation 10, 56, 59, 115f., 119a, 120, 122, 133f., 145, 178f., 181, 185, 211, 234f., 238f., 242, 253, 272, 282, 285, 297 Konstruktion 39, 46, 80a, 81, 84, 86, 90, 96, 148, 200f., 203, 260 – vs. Interpretation 200f., 210, 213, 224 Konvention, Konventionen 9b, 27, 32f., 40, 47, 59, 71, 94, 127, 145, 149, 159, 170, 172ff., 185–190, 203, 234, 239–242, 260f., 268, 270, 273, 282, 284f., 289 Kondensierung (condensation) 131, 208 Konditionalprogramm 34f., 37, 43f., 64, 125,, 284 – vs. Zweckprogramm 44 Konfirmierung (confirmation) 130f., 208 langue vs. parole 55f., 235, 283 legis actio 253 Letztbegründung 9, 54, 135, 213 lex (s. Gesetz) 69, 76, 159, 168, 171f., 221, 237 Lückenlosigkeit 69, 91, 99, 106 mancipatio 253, 295 Medium, Medien 9a, 13, 30, 60, 66, 74, 100– 102, 104f., 116, 138, 143ff., 149, 181, 189, 201, 211–214, 232, 242a, 245, 265ff., 266, 273, 277f., 280ff., 285, 289, 291, 293–295f. – Materialität des/der 102 mediale Spur 102 Maschine (trivial/nicht-trivial) 59, 179, 202, 227, 255 Metaphysik 75, 77–79, 151, 260 Modell – Konkretisierungs- 194 – Anwendungs- und Subsumtions- 53, 65, 194f., 202, 204 mos maiorum 270 Naturrecht 24, 72, 75f., 118, 156–159, 163, 165, 169, 171–174, 182, 186, 259 Naturphilosophie (philosophia naturalis) 45, 73f., 77–79, 81–83, 85, 87f., 98, 107, 133, 157f., 173, 200, 280, 290f. Naturzustand 80, 265 nomos, nomoi (s. Gesetz, lex, Regeln) – vs. physis 76, 158f., 168, 170 Normativität 38–41, 43, 60, 118, 149, 158, 182, 187, 190, 193, 221f., 224, 233, 242 a – sachbestimmte 224, 233 Normbereich 222, 224 Norm, Normen (s. Regel, Gesetz, lex, nomos) 1–4, 9, 30–33, 38f., 42, 44f., 52, 57f., 60–62, 66,

69, 71, 76, 97ff., 108, 112, 118, 125–127, 132, 146–149, 154, 159, 165, 168, 177f., 180, 183, 185–188, 209, 218, 220ff., 226, 230, 235, 237, 239, 242a, 254 Normentheorie 1, 3, 34, 37f., 41, 64f., 112 Normenpyramide (s. Rechtsordnung, Stufenbau der) 67, 140 Notationssystem 103 Operation 6f., 53, 57, 80, 108, 110, 113, 117ff., 120, 125, 128ff., 134, 144f., 177, 179ff., 252, 262, 294 Oralität, oral 9a, 170, 281f., 286f. – primäre 282 Orthographie 101, 104 Pandekten 85 – Pandektenrecht 85, 205 – Pandektenwissenschaft (s. Rechtspositivismus, rechtswissenschaftlicher Positivismus) 85–87, 149, 254, 292f., 297 Paradoxie, paradox 12, 50a, 99, 110, 132ff., 138f., 148, 153, 156, 185, 229, 232, 237, 285, 296 – des Entscheidens 133, 139, 224, 226–229 – der historischen Zeit 245 – Entfaltung der 133f. – Entparadoxierung der 133, 228f., 236 – Gründungs- 88, 133, 138f. Performanz, performativ (s. Sprache, Gebrauch der) 56, 82, 102, 158f., 161, 235, 253, 281, 294 Philosophie – Begriff der 15, 75 – praktische (philosophia civilis) 36, 45–49, 51, 55, 61, 79f., 92, 118, 135, 173 precedent 82 Positivismus – rechtswissenschaftlicher (s. Rechtspositivismus) 17, 51, 81, 84f., 88f., 94, 107, 149–151, 153f., 174, 194, 200–202, 206, 208 Prinzip (Principien) 6, 22, 24ff., 29, 46f., 49, 50a, 55, 67, 71, 75, 78, 90, 94, 110, 138, 156, 159, 236, 241, 253f., 259, 276, 283, 296 Rationalität 23, 25, 72, 82, 93, 167, 173, 216, 224, 228, 238f., 240, 243, 252, 254, 260 – formale vs. materiale 252, 256, 260 Recht – jüdisches, altjüdisches, altisraelisches 158, 198, 256, 276, 284, 286 – göttliches 159, 171 – griechisches 76, 158f., 160f., 170, 198, 248, 268, 283, 286, 289 – natürliches (s. Naturrecht) 24, 72, 75, 118, 156ff., 159, 163, 165, 171–174, 182, 186 – positives, Positivität des 91, 93, 139, 168f., 173f., 186

189 https://doi.org/10.17104/9783406746154-187 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:55. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sachregister – rationales 4, 252 – römisches 17, 20–22, 30f., 37, 50, 68, 76, 85, 152, 158f., 160, 166, 170, 193, 198, 200, 204, 247–250, 253, 257f., 264, 268–270, 272, 280f., 286, 288ff., 295 – und Moral 25, 33, 49, 51, 151, 165, 178, 200 Rechtsbegriff 5, 21, 37, 68, 86, 88, 92, 159, 170, 235, 268 Rechtsdogmatik 9f., 13, 16, 19–23, 26, 31, 145, 191, 247, 267, 278, 297 Rechtsfortbildung 195 Rechtsfolgen 37, 185 Rechtsgeltung 2 (Kelsen), 5 (Ehrlich), 9b, 30, 35, 39 (Kelsen), 40, 97f. (Kelsen), 122, 146, 148 (Hart), 149, 151 (Kant/Savigny), 152 (Weber), 153, 154 (Schmitt), 155, 157, 159, 163 (Rawls), 164ff. (Habermas), 165 (Dreier/ Alexy), 168–175, 176f. (Kelsen), 178, 179– 182 (Luhmann), 184f., 189f., 200 (Rechtspositivismus) Rechtsgeschichte 84, 245, 247–251, 258, 264, 266f., 277 – romanistische 248f., 258 – germanistische 248 Rechtslehre 24 u. 49ff. (Kant), 50a (Hegel), 221ff. (F. Müller), 256f., 276 – reine (Kelsen) 1, 4, 7, 10, 39–42, 97ff., 108, 132, 139, 148, 234 Rechtsnormen 1f., 30–36, 39–42, 44, 52, 54, 60ff., 65, 67f., 66, 112, 118, 124f., 127, 130, 132, 134, 146, 155, 166, 176, 189, 191, 193ff., 200, 208f., 212, 221, 234, 237, 244, 254, 259, 283 – individuelle vs. generelle 52, 99, 209 Rechtsordnung 1, 16, 19, 32, 35, 45, 49, 52, 67, 80, 93, 98, 108, 112, 140, 148, 152, 154f., 164, 168, 177f., 184, 198, 209, 213, 224, 231f., 234f., 241f., 278, 292, 294 Rechtsparadoxie – Pflege der 133 Rechtsphilosophie 1, 9, 24–29, 50a (Hegel), 56, 163, 174 u. 276 (Hegel), 293 Rechtspositivismus 23, 83, 85f., 88, 90f., 93f., 97ff., 108, 111, 118, 130ff., 137f., 150, 182, 184, 200ff., 205, 207f., 211ff., 216a, 220f., 224f., 228, 232, 243, 251, 254 rechtswissenschaftlicher Positivismus 17, 84, 88f., 149, 151, 174, 194, 201f., 206 Rechtssatz 34f., 38, 41, 53, 199, 254 Rechtsetzung 93, 154, 166, 169, 176, 209, 212 Rechtssoziologie 8, 10, 16f., 36, 121, 251f., 270 – frühe 3–5, 7, 9a, 122, 251 Rechtsquelle 146–149, 151, 155, 164, 182, 184f., 193, 195, 201, 203, 231, 247 Rechtsquellenlehre 23, 146–149, 168, 175, 182, 184 Rechts- und Staatsphilosophie 27

re-entry 126 Regel, Regeln (s. Normen, Gesetz, lex, nomos) 20f., 23, 33, 37–47, 49, 53, 56–68, 71f., 76, 82, 91, 93, 118, 130, 125, 139, 146f., 153, 165, 172, 185–189, 203, 209, 212, 217, 221, 227, 230, 232, 234f, 237, 240ff., 242a, 243, 254, 282f., 297 – bestände 32, 40, 47, 130, 146f., 185, 190, 203, 224, 227, 233, 239f., 244, 268, 282–285, 289 – haftigkeit 49, 51, 56, 88, 170, 173, 222, 224, 232, 240 – juristische 30, 32, 39, 200 – mäßigkeit 32, 38, 45, 49, 58, 61, 65, 100 Regelverständnis – normatives 38–41, 60f., 190 – praktisches (praxeologisches) 60–63, 190 Rekursion 120 – rekursive Verknüpfung/Vernetzung 63, 65, 117, 120, 129, 144, 179, 230, 262, 265 Richterrecht 31, 195, 233 Sachbereich 199, 206, 222, 242, 243 Schrift 13, 30, 32, 41, 82, 101f., 105, 125, 131, 145, 198, 211, 213, 263, 277f., 280ff., 285f. – Buchstaben- 198, 284–287 – Alphabet- 14, 101, 103, 161, 280f., 285, 287 – Druck- 102, 104f., 290, 296 Sein vs. Sollen 2f., 5, 9, 39, 60, 177, 221, 234 Selbstbeschreibung 1, 11f., 19f., 26, 75, 138, 140f., 144f., 193, 271, 278 – vs. Fremdbeschreibung 26 Selbstreferenz 126f., 243, 297 – vs. Fremdreferenz 126f. Semantik (s. Wissen, bewahrenswertes) 20, 77, 96, 143, 249, 268, 292 – der Zeit 141f., 145, 246 Souveränität 45 u. 81f. (Hobbes), 151 (Savigny), 154f. (v. a. C. Schmitt), 172 (Bodin) Sprache 40f., 54–57, 59f., 61, 74, 82, 102, 105f., 109, 116, 119, 136, 144, 166f., 178, 192, 208, 211–214, 219f., 227, 234f., 263, 266, 269, 280–283, 285 – Gebrauch der, Sprachgebrauch 59, 116, 167, 192, 196, 219, 232, 235, 283 Sprachphilosophie 16, 54, 56, 159, 211, 235, 294 Sprachspiel 54, 61, 240, 294 Sprechakt 56, 117, 176, 235, 253, 281 Stabilität 35, 128, 222, 227, 259, 264 – dynamische 118, 121, 179, 241, 260, 262, 294 stare decisis 82 Strukturänderungen 264, 266, 274f. – unplanmäßige 264 strukturelle Kopplung 116, 145, 227, 294 Stufenbau – der Rechtsordnung (s. Normenpyramide) 52, 67, 98f., 112, 140, 209, 231 Subsumtion 22, 51, 53, 194f., 202–204

190 https://doi.org/10.17104/9783406746154-187 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:55. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

Sachregister Subsumtionsautomat 202, 205, 226 – rechtspositivistischer 205 Syllogismus 53, 211 – deduktiver 194, 202 Symbol 55, 102, 181, 184f. Symbolsysteme 102f. System – begriff 22, 75f., 79, 85, 91, 96, 110, 140, 217, 271ff., 290 – begriff, rechtspositivistischer 85, 88–91, 96, 200f., 217, 254f., 292 – bildung 83, 86, 90, 95, 100f., 107, 114, 131, 144, 200, 292 – denken 17, 68, 72, 83f., 90, 97, 99, 139, 173, 213, 292 – theorie 6–11, 42, 54, 66, 108–119, 126, 128– 133, 137f., 143ff., 179ff., 223, 242f., 261–273, 279 – rationalität vs. Zweckrationalität 254 – rekursives (s. dynamisches, nachbarschaftliches) 7, 65, 120, 129, 131f., 137, 144, 179, 230, 262, 273 – dynamisches 7, 65, 98, 117, 119ff., 129–132, 137, 140, 144, 179, 184, 262f., 273, 294 – nachbarschaftliches 7, 65, 120, 129, 180, 184, 230 – polyzentrisches 231 Theorie (theória) 14, 16 – Meta- 10, 26 – vs. Praxis 15ff., 27, 58f., 229 Überlieferungszusammenhang 214f., 224f., 228, 264 Unentscheidbarkeit 72, 135, 225, 227ff., 234, 240 Ungewissheit 63, 65, 99, 121, 142, 226f., 265 Universalpragmatik 217, 235 Unterscheidung (s. Differenz) – Recht/Unrecht 9b, 11f., 118, 123f., 133 – Selbstreferenz/Fremdreferenz 126f. – System/Umwelt 6, 12, 71, 108–111, 113, 126, 128, 203, 232, 266, 294 Verfassungsrecht 37, 185, 231

Vernunft 9, 15, 47f., 50a, 54, 72, 83, 88, 96, 151, 165, 167, 183, 213, 217, 228, 233, 236, 243, 245 – recht 165, 174 Verstehen 23, 116, 178, 192, 204, 210, 213f., 217f., 247, 281 – Geschichtlichkeit des Verstehens 210, 247 Volksgeist 95, 151, 182, 232, 248 Voluntarismus 172, 259 volonté genérale vs. volonté de tous 72 Vorverständnis 23, 143, 215–220, 222, 224f., 228, 236, 241 Widerspruchsfreiheit 23, 69, 139 Wiederholung 4, 7, 56, 58, 112, 118, 129–131, 208, 230, 282 – erkennbare 130 Willensfreiheit 89 Wissen – bewahrenswertes (s. Semantik) 20 – sicheres (Gewissheit) 15, 63, 73, 76, 78, 107, 208, 212133, 224 – implizites 186, 188f. – praktisches (s. gemeinsames, communities of practice) 13, 40, 186f., 189, 208 – gemeinsames (s. praktisches) 216, 234–237, 240–244, 266, 282 Zeichen, Zeichenfestlegung 55f., 58f., 102, 104f., 109, 181, 210, 222, 225, 285 – Willkür der 209 Zeit – zyklische 141 – lineare 141 – Irreversibilität der 57, 208f., 216 a Zeitpunkt 57, 117–120, 134, 141, 143f., 179, 210, 246, 262, 268, 271 Zeitstabilität, zeitstabil 7, 51f., 55, 61, 63, 65, 112, 118, 121, 136a, 180, 210, 284 Zivilrecht 66, 127, 187, 189, 196, 221, 289 – römisches 17, 158f., 248, 250, 253, 257f., 264, 268ff., 272, 280, 288 Zwang, Rechtszwang (s. Gewalt, staatlich sanktionierte) 27, 36, 49f., 64, 151f., 178, 260

191 https://doi.org/10.17104/9783406746154-187 Generiert durch Istanbul Medipol University Libraries, am 12.01.2021, 03:59:55. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.

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