Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz - Selbstorganisation - Prozeduralisierung [2 ed.] 9783428485369, 9783428085361


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German Pages 240 Year 1995

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Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz - Selbstorganisation - Prozeduralisierung [2 ed.]
 9783428485369, 9783428085361

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KARL-HEINZ LADEUR Postmoderne Rechtstheorie

Schriften zur Rechtstheorie Heft 149

Postmoderne Rechtstheorie Selbstreferenz — Selbstorganisation — Prozeduralisierung

Von

Karl-Heinz Ladeur

Zweite, mit einem Nachwort versehene Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ladeur, Karl-Heinz: Postmoderne Rechtstheorie : Selbstreferenz Selbstorganisation - Prozeduralisierung / von Karl-Heinz Ladeur. - 2., mit einem Nachw. versehene Aufl. - Berlin Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 149) ISBN 3-428-08536-1 NE: GT

1. Auflage 1992

Alle Rechte vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08536-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Inhaltsverzeichnis Erster Teil Vom Subjekt der Vernunftordnung zur Intersubjektivität der kommunikativen Vernunft? I. Dezentrierung der Ordnungsbildung und neue Selbstbeschreibung des Rechtssystems II. Subjekt und Synthesis bei Kant

9 15

1. Das Subjekt als Resultat eines „Differenzierungsgeschehens' 4

15

2. Das Subjekt und das Andere

19

III. Neuzeitliche Verfassungstheorie und der Status des Subjekts

23

1. Subjekt und Artifizialisierung der gesellschaftlichen Ordnung insbesondere bei Hobbes

23

2. Subjekt und Kollektivordnung: Rousseau und die Folgen

25

3. Subjekt — Volk — symbolische Ordnung

29

IV. Die Dezentrierung des Subjekts in der Pluralität der Sprachspiele

33

1. Subjekt und Aneignung der Regeln

33

2. Subjekt, Sprache und Zeithorizont

35

3. Das Subjekt und das Spiel der Kontingenzen

39

4. Von der Vernunftordnung zur Pluralität der Sprachspiele

41

5. Zur Pluralisierung der „Binnenstruktur" des Subjekts

45

V. Zur verfassungstheoretischen Relevanz der Theorie der intersubjektiven kommunikativen Rationalität

51

1. Intersubjektivität und die kollektiven Grenzen der Kommunikation

51

2. „Volkssouveränität als Verfahren"

55

3. Normativität der Diskursethik und institutionelle Unterbestimmtheit ....

61

4. Insbesondere: Verfassungstheoretische Implikationen der Auflösung der kollektiven symbolischen Ordnung in der „Assoziation" der Individuen

65

5. Handeln unter Ungewißheitsbedingungen und moralische Selbstaufklärung der Bürger

69

6. Die Subjekte und der „Wille zur symbolischen Einheit"

71

7. Die Ablösung der regelorientierten Moral durch das moralische Argumentieren

73

8. Zur politischen Verortung der diskursethischen Konstitution von Politik und Verfassung

77

Inhaltsverzeichnis

6

Zweiter Teil Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz und Selbstbeschreibung der Gesellschaft I. Beobachtung und Selbstbeobachtung

80

1. Subjekt und Pluralisierung der Sprachspiele

80

2. Vom Subjekt zur kollektiven Intelligenz

85

3. Lernen durch Vervielfältigung der Beobachtungsstandpunkte

90

4. Selbstbeobachtung und Artifizialisierung der Welt

99

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme 1. Zur Selbstproduktion von Systemen nach Luhmann

107 107

2. Zur Konstruktion des Autopoiesis-Konzepts in der Biologie

114

3. In welcher Sprache beschreiben Systeme Systeme?

123

4. Zum Verhältnis von Selbstreferenz der Operation und Selbstorganisation des Systems 5. Zum wissenschaftstheoretischen Status der Systemtheorie als Theorie des Systems im System

137 141

6. Zum Verhältnis von Subjekt und System

143

7. Die Logik der Systeme als Substitut der Vernunftordnung?

150

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System? 1. Selbstreferenz von „Element zu Element"?

155 155

2. Selbstbeschreibung des Rechtssystems und die Konstruktion nicht-linearer Ungleichgewichtsmodelle 167 Dritter Teil Das Paradigma der Selbstorganisation und die Evolution der Grundrechtstheorie — Zur Funktion der Grundrechte unter Bedingungen gesteigerter Komplexität I. Grundrechtsfunktionen jenseits der Eingriffsabwehr 1. Institutionelle Komponenten (insbesondere) der Kommunikationsrechte ...

176 176

2. Gruppenrechte, Schutzpflichten, Verrechtlichung des „besonderen Gewaltverhältnisses", Drittwirkung im Privatrecht 181 3. Die Unternehmensverfassung zwischen individueller Freiheit und Organisationsautonomie

186

II. Die Grundrechte im Übergang zur Informations- und Wissensgesellschaft

191

1. Die juristische Person und die Grundrechtsbetätigung im Unternehmen ....

191

2. Individuum und Organisation im Prozeß der gesellschaftlichen Wissensproduktion

193

3. Markt und Eigentum

197

Inhaltsverzeichnis

ΠΙ. Grundrechte und Selbstreferenz 1. Markt, Organisation und prozedurale Rationalität

200 200

2. Funktion der Grundrechte: Gewährleistung von Flexibilität und Selbstmodifikationsfähigkeit des gesellschaftlichen Wissens 205 3. Die Bedeutung der Grundrechte in einem nicht-linearen Ungleichgewichtsmodell der Gesellschaft

207

Literaturverzeichnis

214

Nachwort zur 2. Auflage

231

Erster Teil

Vom Subjekt der Vernunftordnung zur Intersubjektivität der kommunikativen Vernunft? I. Dezentrierung der Ordnungsbildung und neue Selbstbeschreibung des Rechtssystems Das Verfassungsdenken der Bundesrepublik wurde und wird von einem Pragmatismus beherrscht, der in der jüngsten Zeit vor allem aus zwei Richtungen, der Habermasschen Theorie der kommunikativen Vernunft und der Systemtheorie herausgefordert wird. Anlaß zu einer theoretischen Reflexion und Rekonstruktion der Verfassungspraxis bieten neue Regelungsprobleme, die vor allem das prekäre Verhältnis von Autonomie und Heteronomie in einer komplexen Gesellschaft sichtbar machen. Mehr und mehr treten Organisationen als Zurechnungseinheiten auf und provozieren die Frage nach der rechtlichen Bedeutung der Mediatisierung des Verhältnisses von Individuum und Staat. Ist die Organisation selbst ein „Instrument" der dahinterstehenden Individuen 1 oder wird sie gar selbst zum quasi-staatlichen öffentlichen Akteur, gegen den Grundrechtsschutz zu gewähren ist? Damit korrespondiert die Frage nach den sozialen Rechten des Individuums gegenüber dem Staat, der dadurch vom Adressaten formaler Abwehrrechte, mit denen bestehende Handlungsmöglichkeiten verteidigt werden, zum Protagonisten der „realen" Freiheit wird, die neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen soll 2 . Eine ähnliche Frage hat sich im Zusammenhang mit der Entwicklung von Schutzpflichten des Staates gegenüber den von genehmigungsbedürftigen Anlagen ausgehenden Gefahren (für Dritte) gestellt. Eine solche Schließung der zweiseitigen öffentlich-rechtlichen Beziehung des Staates zum Betreiber und der ebenfalls zweiseitigen privaten Beziehung zwischen Betreiber und Nachbar zu einem Dreiecksverhältnis durch die Begründung eines Schutzpflichtverhältnisses zwischen Nachbarn und Staat wirft neue Abstimmungsprobleme zwischen abwehr- und 1

Vgl. nur Κ. H. Ladeur, Zu einer Grundrechtstheorie der Selbstorganisation des Unternehmens, in: Auf einem dritten Weg, FS Ridder, hg. v. Faber / E. Stein, Neuwied / Darmstadt 1989, S. 179 ff.; G. Teubner, Unternehmenskorporatismus, KritV 1987, S. 61 ff. 2 Vgl. dazu nur P. Badura, Das Prinzip der sozialen Grundrechte und seine Verwirklichung im Recht der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat 1975, S. 17 ff.; E. W. Bökkenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgefüge, in: Soziale Grundrechte, hg. v. ders./J. Jekewitz/Th. Ramm, Heidelberg 1981, S. 7 ff.

10

1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

leistungsrechtlichen Grundrechtselementen auf 3 . Auch die Stellung des Gesetzgebers als Adressat von subjektiv- oder objektivrechtlichen Verpflichtungen wird damit klärungsbedürftig. Die Frage nach der Handlungspflicht des Gesetzgebers ist vom Problem der sich in der Zeit verändernden Informationsgrundlagen des Entscheidens nicht zu trennen; daraus ergeben sich neue prozessuale Anforderungen an die Gesetzgebung4, insbesondere im Hinblick auf die Notwendigkeit und Grenzen experimenteller Gesetzgebung, die Nachbesserungspflicht bei Gesetzgebung unter Ungewißheitsbedingungen etc. Die Erweiterung der Staatsaufgaben und die Bedeutung der dem Staat zur Verfügung stehenden Handlungsressourcen zwingen wiederum zu Überlegungen über die Ausdehnung des Gesetzesvorbehalts über den Bereich traditioneller Eingriffsregelungen hinaus auf Konstellationen, in denen die faktischen Ausübungsbedingungen von Freiheit durch das staatliche Handeln „berührt" werden. Das gilt etwa im Schulrecht, wenn neue Schulfächer eingeführt werden sollen. Daß diese Frage zum Rechtsproblem werden konnte, hängt wiederum damit zusammen, daß die traditionell in dem „besonderen Gewaltverhältnis" Schule vermittelten Voraussetzungen für die Autonomie der Grundrechtssubjekte (im allgemeinen Gewalt- / Rechtsverhältnis) Gegenstand politischer Kontroverse und deshalb regelungsbedürftig geworden sind. Um das Problem der rechtlichen Schaffung von Voraussetzungen und Bedingungen der Grundrechtsausübung geht es auch bei der Ergänzung der materiellen Grundrechte um Organisationsund Verfahrenselemente, über die vor allem die Generierung von Wissen als Voraussetzung für die Beteiligung an komplexen staatlichen Abwägungsentscheidungen oder die Produktion von Meinungen, Information und Kunst durch öffentlich-rechtliche Organisation selbst ermöglicht werden soll (Rundfunk, Hochschule etc.). Schließlich stellen neue komplexe, schwer abschätzbare Umweltprobleme, deren Bewältigung rechtlich schwer strukturierbar ist, auch die traditionelle Unterscheidung von Öffentlichem und Privatem in Frage. Diese Unterscheidung begründet nicht nur eine Kompetenzverteilung, sondern konstituiert ein Entsprechungsverhältnis von Staat und Gesellschaft, Staatssubjekt und Rechtssubjekt, das eine wichtige kognitive, Problembeschreibung und Handlungsorientierung ermöglichende Funktion hat. Wie voraussetzungsvoll diese Unterscheidung war, wird paradoxerweise erst sichtbar, wenn die Voraussetzungen in Frage gestellt werden und insbesondere das Rechtssystem in zunehmendem Maße seine eigenen Operationsbedingungen selbst referentiell thematisieren muß. Vor allem die zen3 E. Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1633 ff.; vgl. auch R. Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Der Staat 1990, S. 48 ff.; R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 ff.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, Heidelberg 1987. 4 Vgl. M. Kloepfer, Was kann die Gesetzgebung vom Planungs- und Verwaltungsrecht lernen?, ZG 1988, S. 289 ff.; H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, Berlin 1988, S. 24,391,496,507; vgl. zur experimentellen Gesetzgebung H. D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, Berlin 1989.

I. Dezentrierung der Ordnungsbildung

11

traie Rolle des Rechtssubjekts wird durch komplexe Prozesse der Selbstmodifikation der Gesellschaft, die die Abgrenzung von Autonomie und Heteronomie erschweren, unterlaufen. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, anhand zweier prominenter Theoriemodelle die Notwendigkeit und Möglichkeit eines Rearrangements der auf der Trennung von Rechtssubjekt und dem Staat als Vertreter der „Allgemeinheit" basierenden Konstruktion des Rechtssystems zu testen. Es fragt sich, ob gerade angesichts neuer Spannungen und divergierender Entwicklungsmöglichkeiten des Verfassungssystems die Beschreibung nicht auf eine andere bzw. neu spezifizierte Selbstbeschreibung angewiesen ist. In den hier nur kurz skizzierten widersprüchlichen Tendenzen deutet sich die Notwendigkeit an, über punktuelle „Abwägungen" hinaus nach Begrifflichkeiten zu suchen, die für die größere Dynamik der Selbständerung der Gesellschaft besser sensibilisiert sind. In den beiden hier diskutierten konkurrierenden Theoriemodellen steht der Abschied vom Subjekt als Ausgangspunkt nicht in Frage. Und beide Theoriemodelle streben eine Art von „Prozeduralisierung" an, in der einen Variante unter der Form einer plural konstituierten Intersubjektivität, die die Allgemeinheit des Zusammenhangs einer „zivilen Gesellschaft" bei der Entscheidungsfindung auf Dauer reflexiv mitthematisieren soll. Demgegenüber zielt die andere, die systemtheoretische Option, auf eine Verbesserung der Selbstbeschreibung des Rechts durch seine Konstruktion als autonomes System, das seine Operationsweise an einer eigenen Leitdifferenz orientiert und sich vom Subjekt als Ursprung einer vernünftigen (Rechts-)Ordnung — und sei es auch in der Form einer prozeduralen Rationalität der Verständigung — gänzlich ablöst. Beide Optionen versuchen auf die Schwierigkeiten des spätliberalen Verfassungsdenkens zu reagieren, das sich jedenfalls nicht mehr problemlos auf einen einheitsbildenden Gründungsakt beziehen kann, der längst eine Vielheit von ausdifferenzierten Handlungsfeldern und Sprachspielen mit Regeln hervorgebracht hat, die sich im Prozeß ihrer „Anwendung" selbst verändern 5 und damit die zentrale Perspektive des seine Handlungen reflektierenden Subjekts verstellen. Darin ist eine Paradoxie angelegt, die die Frage provozieren muß, ob die Autonomieeinbuße des Subjekts nicht auch seine Fähigkeit zur Selbstaufklärung über diesen Verlust affiziert und deshalb nicht von der „Erkenntnistheorie" des Subjekts übergegangen werden muß zur Theorie der (Selbst-)Beobachtung von Systemen. Auch die Verfassungstheorie sieht sich mit Selbstreferentialität konfrontiert: Sie kann den Prozeß der Selbstmodifikation der liberalen Verfassung durch ihre Anwendung nicht beobachten, ohne auch ihre eigenen Beobachtungen mit der 5 Vgl. D. Busse, Zum Regelcharakter von Normtextbedeutungen und Rechtsnormen, RECHTSTHEORIE 1988, S. 305 ff.; R. C. Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft?, in: Die Leistungsfähigkeit des Rechts, Hg. R. Meilinghoff / H. H. Trute, Heidelberg 1988, S. 95 ff.; ders., Was heißt Gesetzesbindung, Berlin 1988; Κ. H. Ladeur, Gesetzesinterpretation, „Richterrecht" und Konventionsbildung in kognitivistischer Perspektive, ARSP 1991, S. 176 ff.

12

1. Teil: Vom Subjekt der Veunftordnung

bangen Frage zu beobachten, wie und von wo aus denn Verfassungstheorie in einer sich de-zentrierenden, ihr Gleichgewicht und damit ihre Regeln (ohne neue Meta-Regel) verändernden Gesellschaft möglich ist. Wenn schon die Gründung der Gesellschaft in einer Verfassung nicht von Dauer ist, kann dann der Prozeß der Selbstmodifikation nicht selbst auf Dauer gestellt werden? 6 Statt einer stabilen Normenhierarchie, deren Zusammenhang durch die unterstellte Möglichkeit der Ableitung des Besonderen oder mindestens der Begrenzung seiner Schwankungsbreite durch eine höchste Normenebene gestiftet wird, wäre Verfassung dann als ein sich im intersubjektiven Diskurs vollziehender und erneuernder Lernprozeß zu verstehen7. Damit sind weitere Anschlußfragen aufgeworfen, die alle auf das Problem der Selbstreferenz zurückverweisen. Kann man, nachdem die Konzeption eines Subjekts, das seine Einheit in seinem Selbstbewußtsein findet, problematisch geworden ist, Einheitserwartungen an einen intersubjektiven (Lern-)Prozeß, also einen zwischen gleichen Subjekten sich vollziehenden sprachlichen Diskurs richten? Wenn das „ich denke" des Subjekts der Verflechtung in konkrete Geschichte(n)8 vorgängig ist, setzt die Selbstaufklärung im und durch den Kommunikationsprozeß, der doch als gleich zu unterstellenden Subjekte die Möglichkeit des Einrückens in eine auf Transparenz angelegte Sprachlichkeit, den idealen Diskurs, voraus 9. Die dem klassischen Subjekt, das sein Selbstbewußtsein aus seinem Ich bezieht, nicht mehr zugetraute Fähigkeit zur Selbstaufklärung und Autonomie gegenüber den Verstrickungen in die Besonderungen der realen Welt hat einen „linguistic turn" herbeigeführt, der eine der Sprache immanente Rationalität in Anschlag bringt. Der als potentiell unendlich gedachte Prozeß der Verständigung „anfangs(!) realer Individuen" soll durch Befolgung bestimmter Argumentationsregeln die Hervorbringung des „vollkommenen Diskurses", jedenfalls als Näherungswert, ermöglichen 10. Die Diskurstheorie setzt sich damit ab von der Hermeneutik, die in die Sprache historisch variable Horizonte eingeschrieben sieht, die sprachliche Verständigung auf bestimmte traditionelle Muster beschränken und dadurch erst ermöglichen, indem sie die metaphysische Suche nach dem Sinn auf die Frage nach der Akzeptierbarkeit von Sinnkonventionen reduziert 11. Die 6 Vgl. U. Rödel/G. Frankenberg / H. Dubiel, Die demokratische Frage, Frankfurt 1989; U. K. Preuß, Revolution, Fortschritt und Verfassung. Zu einem neuen Verfassungsverständnis, Berlin 1990. ι R. Alexy, Probleme der Diskurstheorie, ZPhilFo 1989, S. 81 ff.; vgl. auch ders., Juristische Begründung, System und Kohärenz, in: Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, FS Wieacker, hg. v. O. Behrends/M. Dießelhorst / R. Dreier, Göttingen 1990, S. 95 ff.; K. Eder, Prozedurales Recht und Prozeduralisierung des Rechts, in: D. Grimm (Hg.), Wachsende Staatsaufgaben — sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, BadenBaden 1990, S. 155 ff., 164 ff.; Preuß, (Fn. 6), S. 87; Rödel u. a., (Fn. 6), S. 27. s K. Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie, München 1990, S. 14. 9 Alexy, (Fn. 7), S. 85; J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt 1981. 10 Alexy, (Fn. 7).

I. Dezentrierung der Ordnungsbildung

13

Hermeneutik reagiert damit auf die „Verweltlichung" der Sprache als Werk und Ereignis 12 und situiert sie in einem ontologischen Verweisungszusammenhang, der eine Trennung von Subjekt und Objekt und damit Selbstaufklärung nicht zuläßt, sondern auf das Einrücken des Subjekts in ein durch die Tradition gestiftetes „Vorverständnis" angelegt ist 13 . Das hermeneutische Sprachverstehen ist auf die Übereinstimmung im emphatischen Sinn eines „guten Willens" 1 4 zur Annahme und Vervollkommnung eines fremden Entwurfs angelegt. Es betreibt die Fortsetzung des Werkes als Verweltlichung der Sprache im Ereignis und überführt seinerseits die Einheit des Selbstbewußtseins in den Prozeß der Einheitsbildung durch sprachliche Vermittlung. Gerade deshalb hat es auch in der Rechtstheorie eine große Bedeutung gehabt; die Orientierung an einer Tradition hat aber der dadurch ermöglichten Prozeduralisierung des Sinns dufch Konsensbildung zugleich Schranken gesetzt15. An die Stelle des Rückgriffs auf die Tradition setzt die Diskurstheorie den Vorgriff auf den idealen herrschaftsfreien Diskurs und schreibt damit der Sprache als Prozeß ein durch die Diskursregeln gewährleistetes formales Rationalitätspotential zu 1 6 , das dem Subjekt und seinem Denken nicht mehr abgewonnen werden kann. Damit wird der Sprache ein Potential der Einheitsstiftung abverlangt, deren formal-prozeduraler Charakter insofern aber noch an die Kantsche Subjektivität erinnert, als die Intersubjektivität des Diskurses letztlich auf die sprachliche Kompetenz der Subjekte vertraut 17 , ohne daß der Status des Subjekts in der Intersubjektivität der Kommunikation genauer reflektiert würde. Der „linguistic n R. Barthes, Critique et vérité, Paris 1986, S. 61; R. Rochlitz, Les avatars de l'herméneutique, Critique 1989, S. 839 ff.; H. G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl., Tübingen 1965, S. 263 ff. ι 2 P. Ricoeur, Du texte à Taction. Essais d'herméneutique II, Paris 1986, S. 102. ι 3 Gadamer, (Fn. 11), S. 252 ff.; ders., Vom Zirkel des Verstehens, in: Kleine Schriften IV, Tübingen 1977, S. 54 ff.; ders., Text und Interpretation in: Ph. Forget (Hg.) Text und Interpretation, München 1984, S. 24 ff.; Zur rechtlichen Rezeption J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, Frankfurt 1972. 14 Gadamer, (Fn. 13), Text . . . S. 38; vgl. auch Ph. Forget, Leitfäden einer unwahrscheinlichen Debatte, in: ders. (Hg.), (Fn. 13), S. 7, 11; zur Kritik J. Derrida, Guter Wille zur Macht I und II, in: Ph. Forget (Hg.) (Fn. 13), S. 56 ff. und dazu wiederum H. G. Gadamer, Und dennoch: Macht des guten Willens, in: Ph. Forget (Hg.), (Fn. 13), S. 59 ff. 15 Vgl. K. H. Ladeur, Vom Sinnganzen zum Konsens, in: D. Deiseroth u. a. (Hg.), Ordnungsmacht? Zum Verhältnis von Legalität, Konsens und Herrschaft, Frankfurt 1980, S. 112 ff. 16 Vgl. J. Habermas, Zum Begriff des kommunikativen Handelns, in: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1984, S. 499, 544; K. O. Apel, Der transzendental-hermeneutische Begriff der Sprache, in: Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt 1973, S. 348; vgl. krit. dazu A. Wellmer, Ethik und Dialog, Frankfurt 1986, S. 170 f.; P. Koslowski, Die Prüfungen der Neuzeit. Über Postmodernität, Wien 1989, S. 47. 17 H. Ebeling, Das Subjekt im Dasein, in: K. Cramer u. a. (Hg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt 1987, S. 76ff., 84.

14

1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

turn" scheint seinerseits zu einer Öffnung der Konstitution des Subjekts auf den Gebrauch der Sprache zu führen 18 und gibt das Subjekt als epistemischen „festen Punkt" aus. Doch produziert er damit zugleich die Paradoxie des Lernens 19 : Wenn man das Verfahren des Lernens ganz verstehen müßte, wäre Lernen unmöglich. Wie aber ist Lernen dann möglich? Tatsächlich indiziert das Lernen einen kollektiven emergenten Prozeß zwischen den Individuen, der auf intersubjektive Kommunikation nicht zurückzuführen ist. Dies wird an dem Auftreten der offenbar nicht hintergehbaren Selbstreferenz der Kommunikation deutlich. In die thematische Kommunikation geht mit der Reflexion auf die Diskursanforderungen und die darin enthaltene Unterstellung der Reziprozität zugleich die Reflexion von Egos Verhalten zu Alter Ego ein und damit wiederum Überlegungen zu dessen reziprokem Verhältnis zu Ego, was wiederum in Egos Verhältnis zu Alter Ego eingeht . . . usw 20 . Daraus ergibt sich u. a. das Problem der Einigung der interagierenden Subjekte über die Darstellung ihrer wechselseitigen Beziehung 21 . Wenn die Darstellung der Selbstdarstellung des anderen in unsere eigene Selbstdarstellung eingehen (muß), entsteht eine Unentscheidbarkeit auf der intersubjektiven Ebene, die eine Lösung nur auf einer anderen, eben der auf das Verhältnis der Subjekte nicht reduzierbaren kollektiven Ebene finden kann 22 . Dies ist eine Folgeerscheinung der „Auflösung des Bewußtseinssubjekts in der Intersubjektivität des Sprachsubjekts". Damit wird zwar ein bei Kant und Fichte bestehender Mangel einer zureichenden Fundierung des Universalismus der von allen Subjekten geteilten Vernunft durch das Postulat einer „sprachlich sedimentierten Subjektivität" ausgeräumt 23. Aber zugleich wird damit der Sprache eine Vermittlungsleistung abverlangt 24, die von der Intersubjektivität des Sprechens der einzelnen Individuen nicht erbracht werden kann. Bei Kant hatte die Ästhetik die die Vernunft abstützende Rolle der Beschwörung einer ursprünglichen „Gebung", eines „sensus communis" 25 , einer Übereinstimmung, die in der wechselseitigen Erregung der Einbildungskraft und Urteilskraft die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft mit ihren Regeln empfinden ließ und darin die Universalität des Verstandes als das „Vermögen der Regeln" mit der „ursprünglichen Synthesis is Vgl. Zur wittgensteinschen Tradition Busse, (Fn. 5); G. P. Baker / P. M. S. Hacker, Language Sense, and Nonsense. A Critical Investigation into Modern Theories of Language, Oxford 1984; dies., Scepticism, Rules and Language, Oxford 1984. 19 P. Livet, Conventions et limitations de la communication, in: Hermès. Cognition — Communication — Politique 1 (1988), S. 121, 124. 20 Livet, (Fn. 19), S. 142; ders., L'analyse des règles et ses enjeux philosophiques, Cahiers du CREA 11 (1988), S. 53 ff., 65. 21 M. Wetzel, Diskurse als Wege zur Dialektik, ZPhilFo 1989, S. 213 ff., 238. 22 Livet, (Fn. 19), S. 142. 23 Ebeling, (Fn. 17), S. 84. 24 Ebeling, (Fn. 17), S. 83. 25 H. Parret, Au-delà de la rhétorique du juridique: justifier par l'étique, légitimer par l'esthétique, in: Droit et Société 8 (1988), S. 73,79; J. F. Lyotard, Sensus communis, in: Le Cahier du Collège International de Philosophie Nr. 3 (1987), S. 86.

II. Subjekt und Synthesis bei Kant

15

der Einbildungskraft" verknüpfte 26 . Diese „Instanzen der Vermittlung . . . , die ihrerseits auch schon das Allgemeine repräsentieren" 27, hat die Hermeneutik in der Interpretation der in Fortführung von sprachlichen Daseinsentwürfen konstituierten gemeinsamen Aufgabe der „Existenzsubjekte" gesucht. Aber diese Stelle bleibt in der Diskurstheorie leer. Die kollektive Ebene, das Politische, das Allgemeine, scheint geradezu an das Auftreten von Grenzen der intersubjektiven Verständigung gebunden zu sein, Grenzen, die nicht durch das Ausräumen asymmetrischer Ausgangslagen aufzuheben sind. Das Modell des freien intersubjektiven Diskurses nimmt für die rationale Argumentation einen Sinn in Anspruch, der sich aus dem Vorgriff auf die Kommunikationsgemeinschaft ableitet 28 . Es leugnet damit die Unaufhebbarkeit der Differenz, des Anderen, als der Kehrseite und Voraussetzung der Identität des Subjekts 29 . Bevor auf die sich aus dieser Konzeption für die Verfassungstheorie ergebenden Konsequenzen näher eingegangen wird, soll in einem Zwischenschritt den paradoxen Bedingungen der Konstitution der Subjektivität in der Differenz genauer nachgegangen werden. Es wird sich zeigen, daß eine Wiederanknüpfung an die Differenz, die der Einheit des Subjekts und der Differenz des ihm gegenübertretenden Objekts zugrunde liegt, die Voraussetzung für eine konsequente Überwindung der Subjektphilosophie auch in der Rechtstheorie ist und zur Neubegründung einer nicht-subjekt-zentrierten Rechts- und Verfassungstheorie beitragen kann, die sich dann allerdings als Teil einer Theorie (selbst-)beobachtender Systeme begreifen muß.

II. Subjekt und Synthesis bei Kant 1. Das Subjekt als Resultat eines „Differenzierungsgeschehens

"

Die „Begründung einer formalen Verfassung der Erkenntnis als solche aus Selbstbewußtsein"30 und die Konstitution des Verstandes als „Vermögen der Regeln" 31 verweist bei Kant auf eine ursprüngliche Einheit der Synthesis im Subjekt 32 . Gerade in einer rechts- und verfassungstheoretischen Rezeption darf die formale Struktur der Subjektivität nicht naturalistisch verfehlt werden. Die 26 Wetzel, (Fn. 21), S. 232. 27 Ebeling, (Fn. 17), S. 84. 28 Parret, (Fn. 25), S. 77. 29 Vgl. dazu auch E. Lévinas, Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 1987. 30 Vgl. D. Henrich, Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789), in: Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung, FS Habermas, Frankfurt 1989, S. 105 ff. 31 Wetzel, (Fn. 21), S. 232. 32 R. Wiehl, Die Komplementarität von Selbstsein und Bewußtsein, in: K. Cramer u. a. (Hg.), (Fn. 17), S. 44.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

Endlichkeit der Vernunft, die nicht mehr in einer transsubjektiv vorgegebenen Ordnung eines fremden Willens begründet ist, verlangt nach einem Anfang in einer „Dramatik der Erkenntnis als System reiner Verknüpfungen" 33 . Die Synthesis, das Vermögen, die Mannigfaltigkeit der Relationen in einer Erkenntnis des „bleibenden Ich" zusammenzufassen 34, ist die eigentliche Leistung des Subjekts, die nicht auf eine der Person zugeschriebene Eigenschaft reduzierbar ist: Das vernünftige Denken und Handeln ist keine Hervorbringung der realen Individuen, die in die Weltverhältnisse integriert sind, sondern eine ideale Setzung des autonomen Subjekts35. Das durch diese Setzung konstituierte Allgemeine tritt nach dem Bruch mit dem durch die Religion gestifteten einheitlichen Weltbild an die Stelle der objektiven Wesenheiten36 und wendet sich gegen den Fluß der Erscheinungen. Das moderne Subjekt ist eine fiktive Einheit insofern, als es der „Dritte" ist, dessen Stelle ich wie jeder andere einnehmen könnte 37 . Das deduktive Wissen wird abgelöst von der Aktivität der vereinheitlichenden Verknüpfung von Relationen 38 und eines „Selbstverhältnisses" 39. Damit zeigt sich, daß das Subjekt in einer Differenz konstituiert ist 4 0 . Die gesetzte Einheit des Selbstbewußtseins des Ich mit der Allgemeinheit der Vernunft 41 vermeidet die bloße Unmittelbarkeit des Welterlebens des Individuums 42 . Das Differenzverhältnis, in das das erkennende Subjekt zu seiner Welt als Objekt tritt, schlägt in der Selbstreferenz des „Ich" auf das Subjekt zurück: Das Subjekt wird zum Produkt eines „Differenzierungsgeschehens", einer „beständigen Bewegung der Entzweiung" 43 . Die Zurück33 N. Bolz, Lebenslauf des Subjekts in aufsteigender Linie, in: G. Raulet / M. Frank / W. v. Rijn (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt 1988, S. 165 ff., 167. 34 Vgl. Bolz, (Fn. 33); P. Kitscher, Kant's Real Self, in: A. W. Wood (Hg.), Self and Nature in Kant's Philosophy, Ithaca / London 1984, S. 113 ff., 114. 35 V. Descombes, A propos de la „Critique du sujet" et de la critique de cette critique, in: Cahiers Confrontation 20 (1989), S. 115, 127. 36 G. Deleuze, Un concept philosophique, in: Cahiers Confrontation 20 (1989), S. 89 ff., 89; J. Hörisch, Das doppelte Subjekt, Konkursbuch 15 (1985), S. 43 ff. 37 V. Descombes, The Fabric of Subjectivity, in: H. J. Silverman/D. Ihde (Hg.), Humanities and Deconstruction, Albany, 1985, S. 5 ff., 65. 38 Henrich, (Fn. 30), S. 137. 39 K. Konhardt, Die Einheit der Vernunft. Zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft in der Philosophie Immanuel Kants, Königstein 1979, S. 157; Th. Riedel, Subjekt und Individuum, Darmstadt 1989, S. 2 f. 40 R. Konersmann, Spiegel und Bild. Zur Metaphysik neuzeitlicher Aufklärung, Würzburg 1988, S. 16; Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 12; vgl. auch Ch. Taylor, Sources of the Self. The Making of Modern Identity, Cambridge / Mass. 1989, dessen Kritik der Subjektphilosophie einschließlich ihrer intersubjektivitätstheoretischen Fortsetzung in einer neoaristotelischen Perspektive die Nichthintergehbarkeit eines dem Subjekt anderen geltend macht, dabei aber ähnlich wie A. Maclntyre, Whose Justice, which Rationality?, Notre Dame 1988, eine neue Metaphysik der Tugend postuliert. 41 J. F. Lyotard, Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989, S. 70. 42 E. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt 1990, S. 45; D. Sturma, Kant über Selbstbewußtsein, Hildesheim 1985, S. 101; M. Fischer, Differente Wissensfelder — einheitlicher Vernunftraum, München 1985, S. 72.

II. Subjekt und Synthesis bei Kant

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wendung des Subjekts auf sich selbst ist eine Folge des die Trennung von Subjekt (als Einheit) und Objekt (Differenz) übergreifenden Zerfalls einer transsubjektiven Einheit der Welt. Die Selbstzuwendung tritt erst mit der Diskrepanz von Bewußtheit und Wirklichkeit auf 44 . Die Differenz, das Nicht-Identische, ist von vornherein in das Subjekt der Reflexionsphilosophie eingeschrieben. Die Unterbrechung des Immanenzverhältnisses, das die Seele mit einem extramundanen, Natur und Gesellschaft übergreifenden substanzhaften, der Veränderung nicht unterliegenden Willen verbunden hatte, läßt ein Selbstbewußtsein als identitäres „punktuelles Evidenzerlebnis" nicht zu 45 . Selbstbewußtsein hat vielmehr bei Kant den Charakter einer „prozessualen Selbstreferenz". Das (transzendentale) Subjekt ist der Anfang der Synthesis und zugleich die Bewegung der Relationierung des Mannigfaltigen in der Synthesis als „einer Erkenntnis" 46 . Das Einheit stiftende Subjekt ist selbst das Produkt der beschleunigten Veränderung und Vervielfältigung der aus der Immanenz der Selbsterhaltung einer vorgängigen Ordnung heraustretenden „Daten" und Handlungen, die auch nicht mehr auf eine hierarchisch gestufte, Ableitung ermöglichende Einheit des Wissens zu beziehen sind. Das Subjekt eröffnet damit Spielräume des Möglichen und enthält zugleich als dynamisches aktives Relationierungszentrum dessen Verfassung 47 . Das dynamische Moment der Subjektivität zeigt sich daran, daß sie sich immer auf anderes beziehen muß, um einen Zustand der Heterogenität in einen höheren Zustand zu überführen, in dem die Erkenntnis der Einheit der Objekte sich mit der Selbstgewißheit des Subjekts verbindet 48 . Die Möglichkeit dieses Selbstbewußtsein des Subjekts setzt zugleich die potentielle Einheit des einzelnen Selbst mit der transzendentalen Subjektivität der universellen Vernunft 49 als der Fähigkeit zum selbstkritischen Urteil voraus 50. Das Selbst ist darum zunächst ein „grundloses Vermögen des Setzens"51, das auf das Objekt wie auf das andere der Subjektivität eines Alter Ego verweist, deren Stelle jeder einnehmen können muß und die sich deshalb von der konkreten Individualität unterscheidet. Für das konkrete Individuum hat das Subjekt aber eine neue Universalisierungsfunktion: das als (gleichbleibende) Substanz abwesende, nur noch in einer sprachlich verallgemeinerten Setzung zu stiftende Allgemeine gleicht den Rückzug der Seele (als Anteil an einem göttlichen Wesen) durch den Anteil des einzelnen « R. Riha, Das Reale der Kant'schen Aufklärung, in: Wo es war 1987, H. 3/4, S. 166 ff., 168. 44 H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt 1974, S. 159; Konersmann, (Fn. 25), S. 16. « Sturma, (Fn. 45), S. 101. ^ Kitscher, (Fn. 34), S. 114; Riedel, (Fn. 39), S. 3. 4 ? Henrich, (Fn. 30), S. 127 ff., 143. 4 » Kitscher, (Fn. 34), S. 115. 49 Wiehl, (Fn. 32), S. 61. so Wetzel, (Fn. 21), S. 232. 5i Fischer, (Fn. 42), S. 72. 2 Ladeur

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

(als eines sprechenden Individuums) an einer sprachlich systematisierten Vernunft aus 52 . Sowohl in bezug auf das Alter Ego, des nicht konkreten Anderen, sondern der von jedem einzunehmenden universellen Stelle des Anderen der Vernunft, wie auch in bezug auf die Andersheit des Objekts im Verhältnis zum Subjekt zeigt sich der Mensch in einer nicht aufhebbaren, sondern nur in der Erhebung von Geltungsansprüchen haltbaren „Abhängigkeit vom Gegebenen, von ihm selbst weder Entworfenen noch Geschaffenen" 53. Wenn man die Konstitution des Subjekts als der universellen Selbstreferenz, der ursprünglichen Setzung (Synthesis), im Bruch mit der traditionellen Metaphysik 54 der Fremdreferenz auf den extra-mundanen Willen theoriegeschichtlich situiert 55 , wird der Versuch problematisch, die Selbstaufklärung des Subjekts durch die Selbstreflexion auf den intersubjektiven Diskurs der Sprechergemeinschaft zu überbieten. Die Subjektstruktur erscheint als das Produkt des Zerfalls der einen, in sich ruhenden Substanz des Gleichgewichts der selbstpräsenten Ordnung. Ihre Fähigkeit zur (Be-)Gründung, die die Fragmente der Besonderungen in einer „Grammatik der Erkenntnis" und des Handelns „als System reiner Verknüpfungen" zusammenhält 5 6 und in einem Selbstverhältnis von Subjekt und universaler Setzung einen provisorischen Halt finden läßt, verweist auf eine historisch entstandene Zwangslage. Auf dem Hintergrund der Entstehung des Subjekts aus einem „Differenzierungsgeschehen" 57 wird ersichtlich, daß eine Rekonstruktion und Fortsetzung der Leistung des Subjekts als Bezugszentrum der Erkenntnis und des Handelns die Konstitution der Identität des Subjekts in der Differenz zum nicht-hintergehbaren Ausgangspunkt machen muß. Gerade in einer auf Praxis angelegten Rechtsund Verfassungstheorie liegen sonst naturalistische Fehlschlüsse über das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie des Subjekts nahe. Subjektivität ist ein Konzept, das von vornherein als Selbstreferentialität bestimmt ist, die nach dem Zerfall der auf eine fremde Substanz verweisenden Wesensbestimmungen der Ordnung des Denkens und des Handelns auf eine zunehmende Artifizialisierung des Verhältnisses der Gesellschaft zu sich selbst und damit eine gesteigerte Selbstmodifikationsfähigkeit verweist. Zugleich tritt damit aber zwangsläufig, gerade weil die Artifizialisierung, die zunehmende Konfrontation mit selbstgeschaffenen Problemen, keine Lösung durch Ableitung aus einem fremden Willen zuläßt, das irreduzible Andere als die Voraussetzung der eigenen Setzung als 52 Deleuze, (Fn. 36), S. 39. 53 Konhardt, (Fn. 39), S. 44. 54 A. Dal Lago, La pensée comme oscillation, Critique 1985, S. 82 ff. 55 R. Schürmann, Legislation — Transgression: Strategies and Counter-Strategies in the Transcendental Legitimation of Norms, in: Man and World 1984, S. 361, 364. 56 Bolz, (Fn. 33), S. 167. 57 Waldenfels, (Fn. 42), S. 9.

II. Subjekt und Synthesis bei Kant

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von einer Voraussetzung abhängig zutage, weil nur der extramundane fremde (göttliche) Wille voraussetzungslos sein kann. 2. Das Subjekt und das Andere Das Subjekt kann kein Anfang sein, es ist gerade die Folge des Zerbrechens des Anfangs der Welt in fremdem Willen, demgegenüber der „eigene" Wille des Subjekts ein unmöglicher Versuch der Wiederherstellung 58 einer Einheit bedeutet, deren Verlust seine Konstitutionsbedingung ist. Die über das Subjekt vermittelte Trennung der Setzung von Regeln und ihrer Anwendung in einzelnen Fällen 59 stößt deshalb immer wieder auf die „rätselhafte Gegebenheit eines unmöglichen Punktes des unmittelbaren Zusammenfallens beider Ordnungen", des Universellen und des Besonderen 60. Dies wird bei Kant selbst in der ,,,Vorgängigkeit' der Gebung" des Anderen 61 für das erkennende und handelnde Subjekt-Ich deutlich: Die Subsumption und Unterordnung des in Raum und Zeit Besonderen unter das Allgemeine der Menschenvernunft impliziert die Möglichkeit des Ich als einer „letzten Größe", die „nicht nur jegliche Verschiedenheit verbinden, sondern diese auch in ihrem Spiegel reflektieren" 62 und bewußt machen kann. Diese Fähigkeit des Ich, den Übergang vom Gegebenen zum Begriff, von der Natur zur Freiheit zu vollziehen, behält „unerwartete Züge von einer Unmittelbarkeit" bei, die „ursprünglicher ist als die gesellschaftliche und sogar sprachliche Tätigkeit" 6 3 . Mit Lyotard ist hier die Stelle der Ästhetik zu beschreiben als die Bestimmung der „Empfänglichkeit für die Gebung des Anderen nach räumlichen und zeitlichen Formen", d. h. als „Einbildungskraft"; sie begründet vor der Sprachlichkeit des Allgemeinen eine „passive Synthesis . . . , die das Gegebene für seine Aufnahme durch den Verstand" vorstrukturiert 64. Diese ästhetische nicht-sprachliche Anschauung wird aber im Subjekt durch die „Einstimmung" der verschiedenen Vermögen des Subjekts, des Verstandes und der Einbildungskraft, auf den Abstützungs- und Verweisungszusammenhang durch ein „wenigstens potentiell wohlgeordnetes System" festgelegt 65, der das Subjekt als identitären Ausgangsund Zurechnungspunkt 66 nicht in Frage stellt und die Differenz, den Zwiespalt, in ein Selbstverhältnis des Subjekts zu überführen sucht 67 . 58 A. Badiou, Théorie du sujet, Paris 1982, S. 275. 59 Wetzel, (Fn. 21), S. 230. 60 Riha, (Fn. 43), S. 172; R. Wiehl, La rationalité du singulier, Critique 1988, S. 531, 547. 61 J. F. Lyotard, Grundlagenkrise, Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), S. 1 ff.; 12. 62 Lyotard, (Fn. 41), S. 70. 63 Lyotard, (Fn. 61), S. 12, 14. 64 Lyotard, (Fn. 61), S. 29. 65 R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1989, S. 66. 66 Badiou, (Fn. 58), S. 295. 67 Riha, (Fn. 43), S. 172. 2*

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

Letztlich ist es also die nicht-sprachliche Einbildungskraft, die ein Allgemeines am Besonderen empfinden läßt, das sich aber der begrifflichen Universalisierung entzieht. Der die Einbildungskraft bestimmende „sensus communis" 68 beruht auf einer vorgängigen Übereinstimmung, die aber wiederum kein Anteil an einem gemeinsamen substanzhaften, unveränderlichen Wesen ist, sondern der Mit-teilung, der ästhetischen Kommunikation bedarf, die das Mit-Empfinden der anderen erregen kann und insofern die in der Gleichheit der Subjekte fundierte Vernunft vorstrukturiert. Der bloß singuläre Ausdruck, der keinen mit-teilbaren, wenn auch nicht notwendig sprachlich vermittelbaren Ausdruck findet, bleibt kontingent, bedeutungslos. Ästhetische Einstimmung stützt damit die Erkenntnis der Regeln des Wissens und des Handelns69. Daß das Subjekt „in keiner objektiven Bestimmung aufgeht, sondern selbst Subjekt der Bestimmung bleibt", hängt mit seiner Leistung als Operator der Synthesis zusammen. Aber sie kann keine neue Substanz stiften, sondern Einheit nur durch die Verknüpfung des Mannigfaltigen im Denken erhalten 70. Die Einbildungskraft bringt die Unmöglichkeit des Zusammenfallens von empirischer Verschiedenheit der Phänomene und universeller Setzung der Vernunft in einem individuellen Vermögen zum Ausdruck, das „hypothetisch eine Beziehung zwischen Zeichen und Sachen" stiftet. Diese Beziehung kann im Selbstbewußtsein nur vollzogen werden, wenn das „Ich" selbst zum „Zeichen ,ich'" wird 7 1 . Das Subjekt wird gerade dadurch, daß es sich selbst als „ich" bezeichnet, zum Operator einer Verkennung. Es wird als Prozeß in Bewegung versetzt, „als ob" alles Sprechen und Handeln im „homogenen Kontinuum einer allgemeinen Regel" füreinander kommunizierbar wäre 72 . Es ist gerade die Differenz von empirischem Individuum und Subjekt als zeitloser Einheit des Selbstbewußtseins im Denken, die die Idee einer Konjunktion aller empirischen Individuen durch dasselbe Denken begründet: „Es ist der Gedanke der prinzipiellen Übersetzbarkeit vom Denken eines empirischen Subjekts in das Denken eines anderen empirischen Subjekts", die Vermittlung, die durch die „Sprache als »äußere4 Bezeichnung desselben Gedankens" ermöglicht wird 7 3 . Gerade die sprachliche Vermittlung der Vernunft 74 , die prinzipiell die Vernunft eines jeden anderen ist, bleibt bei Kant noch unterbestimmt. Das unmögliche Zusammenfallen des Singulären und des Allgemeinen, des endlichen Subjekts mit der unendlichen Vernunft der „zeitlosen Einheit des Denkens" 75 bleibt bei 68 Lyotard, (Fn. 25), S. 86. 69 R. Clausjürgen, Sprachspiele und Urteilskraft. J. F. Lyotards Diskurs zur narrativen Pragmatik, PhilJb 1988, S. 107, 118. 70 J. Simon, Philosophie des Zeichens, Berlin /New York 1989, S. 278, 281. 71 Simon, (Fn. 70), S. 196 f. 72 W. Hamacher, Das Versprechen der Auslegung, in: Spiegel und Gleichnis, FS Taubes, hg. v. N. Bolz/W. Hübener, Würzburg 1983, S. 252 ff., 255. 73 Simon, (Fn. 70), S. 105. 74 Ebeling, (Fn. 17) S. 83. 75 Simon, (Fn. 70), S. 66.

II. Subjekt und Synthesis bei Kant

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Kant letztlich an eine ästhetisch fundierte vorgängige Übereinstimmung verwiesen 76 . In rechts- und verfassungstheoretischer Perspektive ist die Spaltung von empirischem und universellem Subjekt und die Übersetzbarkeit des Sprechens aller empirischen Subjekte in die prinzipiell gleiche Sprache der Vernunft von besonderem Interesse, denn die Rechtssubjektivität ist dieser Grundstruktur nachgebildet: Sie läßt sich genauer fassen als eine vom empirischen Subjekt zu trennende Stelle, die jeder einnehmen kann und auf die bestimmte, ihrerseits in einem universellen Code formulierte Rechtshandlungen zugerechnet werden. Aber abgelöst von diesem Vollzug und dieser Zurechnung ist es nichts 77 . Die Bestimmung des Verhältnisses von empirischem Subjekt und (Rechts-)Subjekt ist für die Philosophie wie für die Rechtstheorie eine gleichermaßen wichtige Aufgabe, denn naturalistische Fehlschlüsse, die etwa die formale Rechtssubjektivität von vornherein als entfremdete Maske durchstoßen und die volle Subjektivität / Individualität wieder herstellen wollen, setzen sich dem Risiko aus, das Differenzierungsgeschehen zu verfehlen, in dem mit der Entstehung der Einheit des Subjekts und der Differenz des Objekts erst die Notwendigkeit einer Überbrückung geschaffen wird. Die Einheit des Subjekts als Ausgangspunkt hat ihre Stellung innerhalb eines theoretischen Verweisungszusammenhangs und kann deshalb aus diesem Zusammenhang nicht herausgelöst werden. Gerade für eine rechtstheoretische Herangehensweise empfiehlt es sich, auf der Trennung von empirischem Subjekt (Individuum), (Rechts-)Subjekt als Zurechnungseinheit 78 innerhalb des Rechtssystems und dem Subjekt als Zentrum einer universellen Ordnung der (Rechts-)Vernunft als Folie der Selbstbeschreibung des Rechtssystems zu bestehen. Eine Verfassungsrechtstheorie, die dem Subjekt die Stiftung einer „Einheit der Synthesis" in der einen oder anderen Form abverlangen wollte und dafür auch die Institutionalisierungsbedingungen benennen müßte, dürfte sich ihrer Begründungslast nicht mit dem Rekurs auf das Evidenzerlebnis der Individualität und die Notwendigkeit der Zurechnung von Handlungen auf Subjekte oder empirischen Schwächen der nach verselbständigten Systemimperativen fungierenden Institutionen entziehen. Der Aufbau einer Verfassungstheorie auf dem Subjekt, und sei es auch in der Variante einer sprachlich-diskursiv vermittelten Intersubjektivität, ist etwas anderes als der unleugbar notwendige Rekurs auf die Zurechnung von Handlungen. Die Begründung auch einer intersubjektiven kommunikativen Rationalität muß sich genauer auf die Konstitutionsbedingungen der Subjektivität und ihrer Verallgemeinerungsfunktion beziehen. (Darauf ist weiter unten näher einzugehen). Hier ist als Resümee dieser kurzen Rekonstruktion der Subjektivität in der Kantschen Philosophie die Vorgängigkeit der Differenz festzuhalten, die die 76 Ebeling, (Fn. 70), S. 83. 77 Simon, (Fn. 70), S. 281. 78 Descombes, (Fn. 35), S. 129.

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1. Teil: Vom Subjekt der Veunftordnung

Identität des Subjekts und seiner Differenz zum Objekt übergreift, damit die Unmöglichkeit eines Anfangs angesichts einer nicht-hintergehenden Andersheit signalisiert und eine damit geschaffene Paradoxie durch frühe selbstreferentielle Bewegung innerhalb des Verweisungszirkels von Subjekt, Objekt und Vernunftordnung haltbar macht. Das moderne Konzept des Subjekts basiert gerade darauf, daß die mit sich selbst identische Herrschaft des fremden Willens überführt wird in ein Autonomieverhältnis, das zwischen den Menschen besteht79. Der Einschnitt zwischen der ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit unterworfenen Gesellschaft und dem ihr Anderen verweist auf die Möglichkeit der kollektiven Wieder-Aneignung der Identität. Aber dies kann keine problemlose volle Übereinstimmung mit sich selbst sein: die „Zwischenlage" der Autonomie, die nur durch ein Verweisungsverhältnis zwischen der Gleichheit der empirischen Subjekte und der Einheit des Subjekts der Vernunft bestimmt ist, verlangt eine Verinnerlichung dieses Einschnitts durch die empirischen Subjekte selbst. Damit wird die Souveränität des Willens zurückbezogen auf die Ermöglichung der Übereinstimmung der Handelnden, und nicht ihre Unterwerfung. Autonomie ist damit etwas anderes als Selbstherrschaft™. Die Differenz, die sich auch an der Trennung der einzelnen Subjekte gegeneinander als Folge der Autonomie der Gesellschaft gegenüber dem fremden Willen niederschlägt, bedarf einer Verknüpfung mit einer Stelle, auf die alle empirischen Subjekte sich gleichermaßen beziehen können und die durch die Möglichkeit der Verknüpfung die universelle Vernunft als eine Bewegung der Selbstreferenz institutionalisiert. Dieses Andere der Institutionalisierung, der Bewegung der Selbstreferenz als einer kollektiven emergenten Ordnung schlägt als Gebot zur Verinnerlichung dieses in der Selbstreferenz fortbestehenden fremden Anderen auf die empirischen Subjekte zurück. Diese kollektive Ebene bleibt damit paradoxerweise trotz ihrer Selbstreferenz von der Konstitution durch ein extra-mundanes fremdes Anderes abhängig. Die Bewegung der Selbstreferenz wird vor der tautologischen Leere dadurch bewahrt, daß sie das Besondere jeweils fremdreferentiell benutzt und benutzen muß, um den Zirkel der Selbstreferenz zu unterbrechen und zugleich durch immer neue Verknüpfungen fortzusetzen. Für eine Theorie des Subjekts in rechts- und verfassungstheoretischer Absicht kommt es vor allem darauf an, die Auflösbarkeit dieses zirkulär-rekursiven Verweisungszusammenhangs durch bloße Vereinbarung der empirischen Subjekte in Frage zu stellen.

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9 M. Gauchet, Le désenchantement du monde, Paris 1985, S. 290; J. P. Dupuy, L'autonomie du social, Ms. 1986, S. 3 f. so Dupuy, (Fn. 79), S. 4, 6.

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III. Neuzeitliche Verfassungstheorie und der Status des Subjekts

I I I . Neuzeitliche Verfassungstheorie und der Status des Subjekts 7. Subjekt und Artifizialisierung der gesellschaftlichen insbesondere bei Hobbes

Ordnung

Gerade in einer rechts- und verfassungstheoretischen Perspektive, die an einer Neubestimmung des Verhältnises von Individuum / Subjekt und gesellschaftlichen Institutionen orientiert ist, muß beachtet werden, daß das Subjekt als , A n fang", als Zentrum der Verknüpfung des Mannigfaltigen, einen Einschnitt in eine Ordnung vollzieht, die mehr Möglichkeiten zulassen muß, als ein mit sich selbst identisch bleibender, der Welt immanenter „fremder", substanzhafter Ordnungswille zusammenhalten kann. Das Subjekt bleibt insofern eine Paradoxie, als es selbst die Unmöglichkeit eines von Zeit und Welt nicht affizierten Anfangs ausdrückt. Der eigene autonome Ordnungswille ist in einem „Vermögen der Regeln" und einem davon getrennten Vermögen konstituiert, den Regeln des Verstandes zu folgen, ihnen gemäß „etwas zu verzeichnen", einzelne Fälle der Mannigfaltigkeit durch „Subsumption unter die Regeln des Verstandes" zu erkennen 81 . Diese Subsumption, die Verknüpfung, ist etwas, was sich nicht von selbst versteht, sondern des Vollzuges durch die theoretische Absicht eines Selbstbewußtseins bedarf. Dem entspricht auch das Handeln als Mittel zur Verwirklichung eines Geltungsanspruchs, der zunächst erhoben und dann eingelöst werden muß. Diese Paradoxie ist haltbar dadurch, daß der Anspruch sich einer Sprache bedient, in der das Zeichen „ich" als Interprétant, als „Zeichen, das andere Zeichen zu einem neuen Zeichen verbindet" 82 enthalten ist und den reinen Willen ermöglicht, der von sich selbst fordert, Subjekt zu sein 83 . Die Setzungsfunktion der Sprache, ihre relative Unabhängigkeit vom Fluß des Besonderen der Erfahrung, trägt auch die Setzung des „ich" als Selbstbewußtsein und eröffnet zugleich die Artifizialisierung der Welt durch die sprachliche Vermittlung, das Operieren mit Konstruktionen im Modus des Möglichen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß dieser bei Kant noch unterbestimmt bleibende Zusammenhang zwischen Subjekt und Sprache in der nach-idealistischen Philosophie mehr und mehr zur Infragestellung des logozentrischen Subjekts als der „zeitlosen Instanz" führt 84 , von der aus wieder und wieder der Vollzug „desselben Denkens" des Subjekts der universellen Ordnung möglich ist 85 . Für eine verfassungs- und rechtstheoretische Auseinandersetzung mit der Subjektphilosophie und ihrer Fortsetzung durch die Theorie der intersubjektiven Kommunikation ist die Beobachtung und begriffliche Fassung der Differenz von ausschlaggebender Bedeutung, die das klassische Subjekt sich in der Subsumption der Differenz des Objekts als einer Vorstellung unter si Wetzel, (Fn. 21), S. 232. 82 Simon, (Fn. 70), S. 279. 83 Hamacher, (Fn. 72), S. 254. 84 Simon, (Fn. 70), S. 107. 85 Simon, (Fn. 70), S. 105.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

die Identität des Denkens im Selbstbewußtsein anverwandeln wollte. Dabei erweist sich die Sprache als das Medium, das durch die Bewegung differentieller Sinnfelder konstituiert ist und dadurch die Möglichkeit der Einheit des Subjekts unterläuft. Der skizzierte Zusammenhang von Subjekt und Sprache läßt sich in politischrechtlicher Perspektive auch in der neuzeitlichen politischen Verfassungstheorie beobachten. Dort wird die in der Subjektphilosophie theoretisch noch wenig fundierte Stellung der Sprache für die Rationalität in einer praktischen Form expliziert. Die Sprache begründet etwa bei Hobbes die Konstitution eines öffentlichen Raumes, in dem sich die Vermittlung der empirischen Subjekte zur Einheit eines politischen Körpers vollziehen soll. So wird die Befreiung des Menschen aus kontingenten traditionellen Bindungen an die Zuschreibung einer künstlichen Persönlichkeit durch den Monarchen als Repräsentanten der allgemeinen Persönlichkeit geknüpft 86 . Dementsprechend werden die Sachen durch „Namen" ersetzt, die dadurch gleichfalls aus ihren bloß natürlichen Kausalitätsverhältnissen befreit und zu Objekten des Willens der ihrerseits künstlichen Person erhoben werden 87 . Erst dadurch wird auch der Gesellschaftsvertrag möglich, dessen Grundlage, das Versprechen der Bürger, eine Vertrauenswürdigkeit und Verläßlichkeit unterstellt, die nicht Gegenstand des Vertrages selbst sein kann, sondern in einer vorauszusetzenden Garantie der Verfügbarkeit einer „künstlichen" Welt von Personen und Sachen fundiert ist, einer Welt, die eben nicht schon durch den fremden Willen geordnet ist. Dies ist eine der Formen des Immanentwerdens des ordnenden Willens, der innerweltlichen Neugründung der Gesellschaft. Die künstliche Sprache der Konstitution einer expliziten Einheit ist vor allem erst der Schrift geschuldet, die das göttliche Wort, die göttliche Stimme 88 , in einem Zeichensystem veräußerlicht. Mit dem Fortschreiten des Immanentwerdens und der Selbstverfügung über den eigenen Willen zeichnet sich in der politischen Theorie wie in der Philosophie die Möglichkeit ab, eine Spaltung von apriorisch, nach dem Urbild einer höchsten göttlichen Vernunft gestifteter systematischer Einheit 89 und ihres sprachlich formulierten Ausdrucks zu denken. Bei Hobbes ist der Verweisungszusammenhang von Individuum, und kohärenter sprachlich formulierter Gesetzesordnung durch die Einheit des Persönlichkeit 86 F. Tinland, Droit naturel, loi civile et souveraineté à l'époque classique, Paris 1988, S. 129; vgl. auch J. F. Spitz, Le Contrat Social, in: Droits 12 (1990), S. 24 ff.; vgl. umgekehrt zur Entpersönlichung des Menschen durch den Stalinismus die Eloge in einem Gedicht J. R. Bechers (in: Gesammelte Werde, Bd. 8, S. 385): „ . . . Schon nicht mehr / eines Menschen / Namen — Namen von Millionen / Namen eines ganzen Landes / Namen einer Zeit / so auch dieser: STALIN"; vgl. dazu auch K. Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, S. 380. 87 Th. Hobbes, Leviathan, 1. und 2. Teil, Stuttgart 1974, S. 193 f. β8 H. J. Silverman, The Limits of Logocentrism (on the Way to Grammatology), in: Man and World 1984, S. 347 ff.

89 Konhardt, (Fn. 39), S. 157.

. Neuzeitliche Verfassungstheorie und der Status des Subjekts

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verleihenden und damit auch (Selbst-) Vertrauen schaffenden Monarchen gestiftet. Er gewährleistet die Möglichkeit zuverlässiger Beziehungen zwischen Menschen, indem er sie aus ihren traditionalen Bindungen herauslöst und diese durch abstrakte Persönlichkeit substituiert und indem er auf der anderen Seite die Sachen durch die Belegung mit Namen ermöglicht, die die Verläßlichkeit der Referenz im Angesicht der Kontingenz der Sprachgebräuche garantiert. Die Paradoxie dieser Konstruktion ist ein politischer Reflex der oben behaupteten Unmöglichkeit der Auflösung einer kollektiven Ordnung in einer Vereinbarung zwischen Subjekten, die sich durch Vereinbarung zugleich auch selbst konstituieren müßten. Das Ende des monarchischen Souveräns, der die Notwendigkeit der Konstitution der Subjektivität selbst als großes Subjekt verkörpert, nimmt auch den intersubjektiven Beziehungen ihr Bezugssystem, das nicht selbst Gegenstand der Kommunikation sein kann, sondern vorausgesetzt werden muß: Mit der Vielheit der intersubjektiven Einflüsse wird zwar das Bewußtsein erweitert, aber es wird immer weniger deutlich, welches eigentlich die autonomen und welches die heteronomen Anteile eines Selbst sind 90 . Die anderen und ihre Urteile begründen die Selbstwahrnehmung der Individuen in der öffentlichen Meinung 91 . Das nicht mehr an den Souverän gebundene Öffentliche erscheint potentiell als ein Forum, auf dem die Autonomie der empirischen Subjekte eher diffus und ungewiß wird: Sie müssen sich der Wertschätzung der anderen zu vergewissern suchen92, da das Öffentliche nicht mehr an die Repräsentation durch den Souverän gebunden ist. 2. Subjekt und Kollektivordnung:

Rousseau und die Folgen

Primärer Träger der Entwicklung einer vom Monarchen abgelösten nichtinstitutionalisierten Öffentlichkeit wird die Literatur, die wechselseitige Übereinstimmung durch das Gefallen an sprachlichen Werken zu erreichen sucht. L. Trilling hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Unsicherheit des Verhältnisses von Autonomie und Heteronomie des Subjekts in der Öffentlichkeit auf die durch die städtische Kultur gesteigerte Intensität der im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehenden Ein-flüsse zurückzuführen ist 93 . Sie führt zu einer widersprüchlichen Steigerung der Selbstwahrnehmung und dadurch zugleich zu einem Verlust an Selbst-gewißheit in der Bindung an das Urteil der anderen. Aber eine natürliche Sprache, die ihre Form als Schrift auf den Anfang in einer inneren heiligen Stimme zurückführen kann, wird korrumpiert und entfremdet, wenn sie an das Urteil und die Vorstellung (Repräsentation) 94 der vielen anderen 90 L. Trilling, Sincerity and Authenticity, Cambridge / Mass. 1972, S. 62. 91 G. Vattimo, Etica dell' interpretazione, Turin 1985, S. 83. 92 Trilling, (Fn. 90), S. 60. 93 Trilling, (Fn. 90), S. 60. 94 Trilling, (Fn. 88), S. 348.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

gebunden wird. Darin ist auch bei Rousseau die Ablehnung der repräsentativen Institutionen begründet. Die Schrift / Sprache, die die Einheit des Gesetzes ermöglicht, ist selbst in einer Ordnung begründet, die das fertige Buch der Natur durch ein Zeichensystem ersetzt. Dieses Zeichensystem soll die sprachliche Verknüpfung zwischen den Individuen ermöglichen, während die Seele in dem einen göttlichen Buch der Natur ihren Anteil an einer zeitlosen Substanz suchte. Aber der Anteil der Individuen an der Gesellschaft ist kein möglicher Gegenstand der Darstellung / Repräsentation, da eine solche stets die Darstellung einer anderen Person wäre, die die Möglichkeit der eigenen Teilnahme des Individuums an der Gesellschaft verstellen würde. Die dem Gesetz angemessene Form der Öffentlichkeit ist deshalb eine solche, in der die Individuen sich selbst in ihrer Autonomie und dadurch in ihrer Beziehung zu anderen als anwesend empfinden 95. Dies schlägt sich etwa in der bekannten revolutionären Wertschätzung der Feste und Zirkel mit theatralischem Charakter nieder 96 , die den Unterschied zwischen Dargestelltem und Darstellung, zwischen Darsteller und Betrachter aufheben oder verwischen. Deshalb kann auch bei Rousseau die volonté générale nicht auf die öffentliche Meinung zurückgeführt werden. Die Individuen beziehen sich auf sie als eine symbolische Ordnung 97 und begründen darin ihre eigene Autonomie als Subjekte aber sie hat keinen Grund. Auch wird die Subjektform als ein Operator der Selbstreferenz, der Inklusion der empirischen Individuen 98 in eine allgemeine vorausgesetzte Subjektform erkennbar. Angesichts der Entstehung der klassischen Subjektivität aus einem „Differenzierungsgeschehen", ihrer Funktion, mehr Möglichkeiten durch Verortung einer abstrakteren Form der Synthesis im Selbstbewußtsein zuzulassen, ist es nicht ohne Reiz — mit L. Trilling — auf die Bindung der zeitgenössischen französischen Literatur an eine manierierte zersplitterte Kultur der kleinen Salons und der in ihnen gepflegten Anpassung an schnell wechselnde Moden aufmerksam zu machen. Diese Salon-Kultur, mit ihren unberechenbaren Ein- und Ausschließungen waren mit dem Postulat der für alle gleichen unvermittelten Selbstwahrnehmung und -empfindung von Autonomien in einem öffentlichen Raum nicht vereinbar 99. Zugleich signalisiert aber das prekäre Verhältnis des empirischen Subjekts zur symbolischen Ordnung die Möglichkeit des Auseinanderfallens der wahren subjektiven Autonomie und einer durch Vermittlung korrumpierten Verfallsform. Der Vergleich der Hobbesschen Kontruktion des gesellschaftsvertraglich konstituierten Verweisungszusammenhangs von Individuum und Ordnung mit Rous95 Trilling, (Fn. 90), S. 65.

96 H. Arendt, Über die Revolution, München 1963. 97 V. Descombes, L'équivoque du symbolique, Modem Language Notes 1979, S. 655, 672. 98 Clausjürgen, (Fn. 69), S. 112. 99 Trilling, (Fn. 90), S. 69.

III. Neuzeitliche Verfassungstheorie und der Status des Subjekts

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seaus Modell legitimiert eine politische und theoretische Parallele zur Konstruktion des philosophischen Subjekts innerhalb des durch ein „Differenzierungsgeschehen" Immanentwerdens der Vernunftordnung: Hobbes kann bei der Begründung der gesellschaftsvertraglich gestifteten Einheit der Kollektivperson und der Individuen an die Theorie der zwei Körper des Königs anknüpfen 10 °, die Einheit des sichtbaren Körpers und der unsichtbaren virtuellen unabhängigen Einheit des Königtums, deren Träger der jeweilige Monarch ist 1 0 1 . Das Immanentwerden einer selbstbewußten und selbstgestifteten, mehr Möglichkeiten Raum gebenden Ordnung kann daran anschließen, daß der Monarch nicht mehr nur Repräsentant des fremden göttlichen Willens, sondern aufgrund der Theorie des Gesellschaftsvertrages das Andere repräsentiert, das die Individuen an der virtuellen Einheit des Monarchen, sozusagen durch Erweiterung der Repräsentation teilnehmen läßt. Der Monarch ist nicht mehr nur Repräsentant der Kontinuität zwischen den verstorbenen und künftigen Königen, sondern er ist Repräsentant der Einheit der auf Beziehungen zwischen Subjekten gegründeten Nation. Rousseaus Vertragskonzeption zielt auf die Konstitution der Einheit eines politischen Körpers, des Volkes, das zwar von Individuen hervorgebracht wird, ohne aber als eine Quasi-Person ein Produkt des Willens der konkreten Personen sein zu können. Auch hier ist es zur Vermeidung naturalistischer Fehlschlüsse erforderlich, die theoretischen Konstruktionsbedingungen der Theorie des Kollektivsubjekts innerhalb eines prozeßhaften Differenzierungsgeschehens zu lokalisieren, statt Rousseau die Idee des Volkes als einer „naturhaften Macht" zu unterstellen 102. Es erscheint fruchtbarer—mit M. Gauchet—Rousseaus Volksbegriff auf die vorfindliche theoretische Konstruktion des absoluten Monarchen zu beziehen 103 : Dann stellt sich die eigenartige Konstitution einer kollektiven Einheit als Person durch den bloßen Willen, sich als Bürger, nicht als besondere Individuen zusammenzuschließen, als eine Anleihe an das absolutistische Denken dar. Die sich selbst beherrschende Gesellschaft wird in einer Form konzipiert, die einer anderen politischen und historischen Epoche angehört. Das begriffliche und theoretische Arsenal der Monarchie, die auf der Identität der zwei Körper des Königs, des realen und des virtuellen, beruhte, hat die Figur eines kollektiven Souveräns, der alle Körper zu einer virtuellen Kollektivperson zusammenfaßt, denkbar gemacht. Die theoretische Perspektive ist auch hier nicht an einer Frage nach dem Realitätsgehalt der Konstruktion des Volkes als einer einheitlichen 100 Ε. H. Kantorowicz, The King's Two Bodies, Princeton 1957. ιοί M. Gauchet, La révolution des droits de l'homme, Paris 1989, S. 24 f; die Transformation des Monarchen zur »juristischen Person" kann anknüpfen an die Verselbständigung der Kirche als juristische Institution gegenüber einer Leiblichkeit Christi, die nicht von weltlicher Dauer sein konnte. Deshalb ließ sich auch das moderne westliche Recht an das kanonische Recht anschließen; vgl. dazu die große Arbeit von H. J. Berman, Recht und Revolution, Frankfurt 1991 ; vgl. auch B. Tierney, Church Law and Constitutional Thought in Law Middle Ages, London 1979. 102 Preuß, (Fn. 6), S. 28 f. 103 Gauchet, (Fn. 101), S. 30 ff.; vgl. auch Spitz, (Fn. 86)

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1. Teil: Vom Subjekt der Vemunftordnung

Kollektivperson orientiert, sondern zielt auf die Lokalisierung der Konstruktion innerhalb einer Bewegung der Substitution eines fremden Willens durch die Autonomie eines verinnerlichten eigenen Willens. Es ist nicht der reale Wille der verschiedenen empirischen Subjekte, sondern die Wiederaneignung der vom monarchischen Subjekt besetzten Stelle, die auch erst die empirischen Subjekte zu Rechtssubjekten gemacht hat. Die Konstitution der Individuen als Bürger fällt nun — bei Rousseau — mit der Selbstkonstitution des Volkes als Kollektivperson zusammen. Die Konstruktion dieser Kollektivperson durch den Gesellschaftsvertrag wird also in der hier vorgeschlagenen Sichtweise nicht als Ausgangspunkt, als den sie sich selbst sieht, akzeptiert, sondern die so begründete Identität wird zurückbezogen auf eine vorgängige Differenz, den Zerfall der Einheit der Monarchie. Die Subjektivität der Bürger wie die der Kollektivperson werden zu Operatoren einer Aufhebung der Besonderheiten, die aber im Individuum — ähnlich wie in der philosophischen Konstruktion des Subjekts bei Kant in der Einbildungskraft — eine Empfindung für die Zugehörigkeit zur Kollektivperson schon voraussetzen müssen. Aber die Einheit der Kollektivperson „Volk" überbietet nur die in der absoluten Monarchie erreichte Artifizialisierung durch gesteigerte Selbstreferenz: Von der Kodierung des Körpers des Monarchen als „juristische Person" zur körperlosen Einheit der im (Versprechen selbst begründeten Souveränität eines sich selbst wollenden Willens zum Gesetz. Die Widersprüchlichkeit der Rousseauschen Vertragskonzeption und die daraus resultierenden Schwierigkeiten bei der Entwicklung der Verfassung von 1789 104 sind einmal auf diese ideologischen Probleme des Übergangs zurückzuführen, zum anderen aber darin begründet, daß die Verschiedenheiten der Statusverhältnisse, des Gewichts der Traditionen und Gewohnheiten — anders als in den USA, wo der Volksbegriff wegen der größeren sozialen und bürgerlichen Homogenität viel pragmatischer angelegt werden konnte — nur durch eine abstrakte Konstitution der Kollektivperson „Volk" überwindbar zu sein schienen, weil sonst der Zerfall jeder Einheit drohte. Die Konstitution der Kollektivperson ist das Produkt der Selbstsetzung der Individuen als Subjekte, die sich der Form der absoluten Monarchie bedienen, um die Besonderheiten aufzuheben. Die Synthesis stellt sich als eine Leistung des Subjekts dar, die die Aufhebung der die absolute Monarchie sprengenden Besonderheiten in den von dieser selbst gelieferten Formen vollzog und damit zu einem widersprüchlichen Unternehmen machte. Der revolutionäre Gestus der Neugründung erscheint auch hier in einem anderen Licht, wenn man sich nicht auf seine Selbstinterpretation einläßt, sondern ihn in das oben skizzierte transsubjektive Differenzierungsgeschehen einordnet.

104 Gauchet, (Fn. 101), S. 209 ff.

III. Neuzeitliche Verfassungstheorie und der Status des Subjekts

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3. Subjekt — Volk — symbolische Ordnung Das Volk ist bei Rousseau kein naturhafter Körper, es wird nicht durch ein Austauschverhältnis zwischen den Individuen hervorgebracht. Es ist vielmehr Träger einer symbolischen Ordnung, die die Möglichkeit der Verknüpfung der Individuen zu einer Gemeinschaft vor aller sprachlichen Kommunikation in die Individuen selbst einschreibt. Es evoziert eine unsagbare Einheit, die im Sagbaren nur per analogiam ausgedrückt werden kann 105 . Diese unmögliche Einheit, die eben ihrerseits ein Produkt des Differenzierungsgeschehens ist und die uns schon bei der Darstellung der Subjektphilosophie begegnet ist, schlägt sich auch in der Selbstreferentialität des Gesellschaftsvertrages nieder: Der Gesellschaftsvertrag ist ein Anfang und er produziert zugleich ein Zeichensystem, in dem die Subjekte des Vertrages konstituiert werden. Die Naturmetapher hat in Rousseaus Theorie nur die Funktion, den Bruch mit dem historischen Besonderen, das die traditionelle Form gesprengt hat, in einem neuen nicht-historischen Allgemeinen, das aber auch nicht mehr der fremde Wille Gottes sein kann, zu fundieren. Dieses neue Allgemeine ist die reine Aktivität der Verbindung der Subjekte 106 , die eine Einstimmung immer schon voraussetzt und die in der politischen Theorie mit der Figur des absoluten Monarchen vorgedacht war; es ist eine artifizielle Verbindung durch Sprache und nicht durch Tradition. Es ist wichtig festzuhalten, daß diese Aktivität einer Verbindung der Subjekte nicht — wie bei Rousseau und in der Verfassungsdiskussion der französischen Revolution deutlich wird — an reale Individuen oder Gruppen von Individuen gebunden ist 1 0 7 , es ist das Produkt eines abstrakten Willens, der von sich selbst fordert, Subjekt zu sein 108 . Und es ist weiter wichtig, die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu bestimmen: Wenn die symbolische Ordnung von den empirischen Subjekten unabhängig ist, so kann die Suche nach einer neuen Legitimation der politischen Ordnung auch nicht bei den empirischen Subjekten anfangen. Diese Überlegung ergibt sich aus dem Ausgangspunkt dieser Untersuchung, daß die Entstehung der Subjektivität in einem transsubjektiven Differenzierungsprozeß zu verorten ist, daß jede Form der Identitätsbeziehung der Gesellschaft auf das Problem zurückverweist, daß die Gesellschaft für sich selbst geworden ist und das keine Identität zuläßt, die nicht die Spuren der Differenz an sich trüge. Dies wird vor allem daran deutlich, daß die Wiederaneignung der Ordnung des Denkens und des Handelns einer Explikation bedarf, die das Subjekt aktiv als eigene vollzieht und an der es nicht nur einen implizit bleibenden Anteil — wie die Seele am göttlichen Geist — hat. Der gleiche Anteil der Subjekte an dem selben Denken und an der politischen Ordnung ist nur durch die Vermittlung los ι06 107 los

Descombes, (Fn. 87), S. 656; Gauchet, (Fn. 79), S. 290. N. Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt, München 1989, S. 168. Descombes, (Fn. 35), S. 128. Hamacher, (Fn. 72), S. 254.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

einer symbolischen Ordnung möglich, die nicht nur die Beziehung der Sachen ermöglicht 109 , sondern auch die besonderen Individuen zu symbolischen Wesen macht. Sie sprechen eine Sprache, in die sie selbst durch einen Operator der Inklusion, das „ich" als Zeichen, eingeschrieben sind. Damit ist eine Selbstreferentialität als Produkt des Zerfalls der transsubjektiven Ordnung begründet, die die Identität der Subjekte an die différentielle Ordnung des Symbolischen zurückverweist. Dieses Verhältnis kann mit einer Theorie der Selbstreferenz, die das rekursive Operieren des Ich in der sich selbst konstituierenden artifiziellen Sprachwelt nicht zu verdrängen sucht 110 , genauer konstruiert werden (vgl. dazu unten). Zu vermeiden ist aber der Rekurs auf ein seinerseits nicht reflektiertes Sprachverständnis, wonach das Sprechen bei (gutem) „Willen zur symbolischen Einheit" ein Versprechen der „Selbstbindung und Selbstverpflichtung aller Bürger zur Schaffung eines öffentlichen Raumes" ermöglicht 111 . Damit wird zwar die Pluralität der empirischen Subjekte anerkannt, aber zugleich die Möglichkeit einer Selbsttransparenz der Sprache unterstellt, die die transzendentale Subjektivität der allgemeinen Menschenvernunft nicht mehr gewährleisten kann. Deshalb erscheint es problematisch, den Fehler Rousseaus darin zu sehen, daß er die Dynamik der Hervorbringung eines allgemeinen Willens nicht beschrieben habe. Es ist gerade ein charakteristisches Merkmal der klassischen Theorien des Subjekts, daß sie den selbstreferentiellen Charakter einer Konzeption, in der das Selbst der Selbstbestimmung sich selbst zum Problem wird, nicht entfaltet, sondern auf eine allgemeine Vernunftordnung bezieht. Eine Kritik, die die Ausarbeitung einer „kognitiven Methode" zur Transformation des „rohen" in den „geläuterten" Willen reklamiert 112 , verfehlt die Paradoxie der Subjektivierung des „allgemeinen Willens" und seines Entsprechungsverhältnisses zum individuellen Willen. In der Forderung der Annäherung der empirischen Willensbeziehungen an den allgemeinen Willen wird dieser selbst zu einem empirischen Produkt. Damit wird aber dem sprachlich-kommunikativen Verfahren der Transformation der empirischen Willensverhältnisse eine transzendental-pragmatische Leistung abverlangt, die den Verweisungszusammenhang von Subjekt und Vernunft prozeduralisiert und auf die intersubjektive Kommunikation überträgt. Damit wird zugleich „ein Moment Faktizität in Vernunft selbst hineingetragen", 113 ohne daß die Ambivalenz eines Geltungsanspruchs der praktischen Vernunft gegenüber einem naturhaft existierenden und zugleich freien Menschen aufgelöst würde. κ» Descombes, (Fn. 97), S. 656. no H. Maturana/F. J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern u. a. 1987, S. 227 f., 258 f.; D. Carrier, Derrida as a Philosopher, in: Metaphilosophy 1985, S. 221 ff., 223; L. Dobuzinskis, The Self-Organizing Polity, Boulder/Col., 1987, S. 53. m Rödel u. a., (Fn. 6), S. 73, 46. 112 C. Offe/U. K. Preuß, Democratic Institutions and Moral Resources, Zentrum für Sozialpolitik, Bremen, AP 5/90, S. 12. us J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, 5. Aufl., Frankfurt 1979, S. 235 ff.

III. Neuzeitliche Verfassungstheorie und der Status des Subjekts

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Es wird sich noch zeigen, daß in der Vorstellung eines Kontinuums des „öffentlichen Raumes", durch einen in einem Versprechen empirischer Subjekte konstituierten „symbolischen Willen" die traditionelle Subjektphilosophie in veränderter Form weiterwirkt. Dabei werden ihre theoretischen Schwächen durch begrifflich unklar bleibende empirische Erwartungen kompensiert. Diese Verschiebung der Identitätserwartungen in die Sprache als Medium der Selbstbestimmung des Subjekts läuft darauf hinaus, das System der Einheit der Synthesis zu einer Kette von individuellen Versprechungen auseinanderzuziehen, ohne daß das Problem der Differenz von kollektiver Symbolordnung und individuellem Handeln gelöst wäre. Daß der Mensch in der klassischen Subjektphilosophie in der Theorie des Gesellschaftsvertrages bei Rousseau und Hobbes ein Naturwesen ist, das in Abhängigkeit von der Gebung, dazu nicht im selbst Geschaffenen oder Begründeten steht 114 und zugleich den An-spruch der nicht aus seinen Existenzbedingungen selbst-verständlichen Vernunft hört, ermöglicht erst die Verknüpfungen des Besonderen im Allgemeinen. Vernunft wird dadurch aber kein Näherungswert, das vernünftige Subjekt kein vom empirischen Subjekt entworfenes und anzustrebendes Telos. Eine solche Intention müßte immer nur die naturhaften Zwecke, und damit das, was schon da ist, realisieren 115. Vernunft zielt aber nicht auf das, was schon existiert, sondern auf eine Ordnung der Zwecke und des Denkens durch die Verbindung aller Erkenntnisse 116 und allen Handelns zur möglichen Einheit eines Systems, das sein soll. Und dieses Sein-Sollen ist kein Noch-Nicht-Sein, sondern ein Anderes, das auf die die Einheit von Subjekt und Objekt im Denken übergreifende Differenz verweist, die diese Spaltung erst ermöglicht hat. Die „Stimme der Vernunft" ist der Anruf des Anderen Heiligen, das das Ursprungswort spricht, das selbst nicht vorgestellt werden kann. Dieser Spalt zwischen empirischem und universellem Subjekt findet sich auch in Rousseaus Gesellschaftsvertragskonzeption 117. Deren Problematik wird aber verfehlt, wenn man den zerstreuten empirischen Subjekten eine Einheitsbildung durch ein Verfahren der Reziprozität und der Aufhebung von Asymmetrien zwischen besonderen Ausgangssituationen abverlangt, ohne die hinterrücks in der Sprache wieder auftretende Problematik des Subjekts als Träger der symbolischen Ordnung zu thematisieren. Dieses ist besonders bei verfassungstheoretischen Anleihen an Habermas' Diskurstheorie zu beobachten. Aber auch bei Habermas selbst — und darauf ist noch zurückzukommen — stellt sich das Problem der Verschiebung einer vom Subjekt und seinem Selbstbewußtsein im Denken nicht mehr zu tragenden Universalisierung an die Sprache als Instanz Π4 Konhardt, (Fn. 39), S. 44. Π5 Konhardt, (Fn. 39), S. 172. ne I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Werke in 12 Bänden, III, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt 1968, S. 134. in Silverman, (Fn. 88), S. 348.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

der Vermittlung, die aber auch schon das Allgemeine in sich tragen muß, da das je einzelne Subjekt auch durch intersubjektive Kommunikation vieler nicht selbst die kommunikative Vernunft generieren kann. Letztlich erscheint hinter allen Versuchen, die in der Subjektphilosophie aufscheinende Differenz von empirischem und universellem Subjekt, von Subjekt und Objekt, in einer übergreifenden Identität aufzuheben, die Utopie einer sich selbst transparenten Gesamtheit aller empirischen Subjekte als Kollektivperson 118 . Diese Utopie schlägt sich in Habermas' Kommunikationstheorie in der Spaltung der universellen Vernunft nieder, und zwar in ein mit sich selbst identisches Einverstandensein der Subjekte mit und in ihrer Lebenswelt 119 einerseits und andererseits eine darin angelegte Struktur der Verweisung auf einen in komplexen Situationen einzulösenden Anspruch der Verständigung durch Selbstexplikation von Geltungsansprüchen der beteiligten Subjekte 120 . Die Unklarheit des Lebensweltkonzepts und des ihr zugeschriebenen Rationalitätspotentials reproduziert sich in dem daran anschließenden Konzept der intersubjektiven Verständigung, deren Möglichkeit durch das Lebensweltkonzept und die darin fundierte Übereinstimmung immer schon vorausgesetzt ist. Dieses Lebensweltkonzept wird zur Abstützung des Diskurses als einer Meta-Institution herangezogen 121, die allen nicht-lebensweltlichen Sprachspielen eine ihre systemisch orientierte Effektivität übergreifende Legitimation im Diskurs abfordert. Das lebensweltliche Einverständnis wird durch den sprachlich gestifteten Konsens nachgebildet. Aber wie soll ein lebensweltlich integriertes Subjekt, das sich gegen ein „Dissensrisiko" 122 durch Einverständnis mit der Tradition, dem Gegebenen, absichern soll, außerhalb eines solchen Kon-Textes angesichts zerstreuter Sprachspiele und fragmentierter Subjektposition Einheit durch ein diskursives Verfahren als „Meta-Institution" wiedergewinnen 123? Das Bestehen auf der Vorgängigkeit der Differenz vor dem Vollzug von Identifikation und Objektivation im Selbstbewußtsein des Ich 1 2 4 eröffnet eine auch für die Rechts- und Verfassungstheorie fruchtbare Perspektive auf die Eigenständigkeit einer symbolischen Ordnung, die zur Geltung bringt, was kein Individuum (ver-)sprechen oder zur Darstellung bringen kann, aber was doch jeder voraussetzen muß, eine nicht-hintergehbare, auf individuelle Akte nicht π» P. Ricoeur, Approches de la personne, Esprit 1990, H. 3/4, S. 115 ff., 122 f. 119 Habermas, Bd. 1 (Fn. 9), S. 107. 120 U. Matthiesen, Das Dickicht der Lebenswelt und die Theorie des kommunikativen Handelns, 2. Aufl., München 1985, S. 95. 121 J. Bouveresse, Herméneutique et linguistique, in: H. Parret/ders. (Hg.) Meaning and Understanding, Berlin/New York 1981, S. 112 ff., S. 138 f. 122 Habermas, Bd. 1 (Fn. 9), S. 107. 123 G. Vattimo, L'ermeneutica e il modello della comunità, in: U. Curi (Hg.), La comunicazione umana, Mailand 1985, S. 177 ff., 188; Κ. Ρ. Geimann, Habermas' early Life-world Appropriation: A Critical Account, in: Man and World 1990, S. 63 ff. 124 Riedel, (Fn. 39), S. 92.

IV. Die Dezentrierung des Subjekts

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zurückführbare kollektive Ordnung 125 . Vor der symbolisch vermittelten Übereinstimmung, Regelformulierung, Konventions- und Kompromißbildung bringt das Symbolische die Vergesellschaftung eines unmöglichen Wunsches zum Ausdruck 126 : Die Einschreibung eines zeitlichen, endlichen (tödlichen) Lebens in eine unaufhebbar fremde Ordnung, die eine dauerhafte Übereinstimmung abweist. Ein Denken von der Differenz her würde das Verhältnis von Individuum und symbolischer Ordnung von vornherein als ein Nicht-Verhältnis des Ungleichgewichts begreifen, in dem das Ich ein Operator der Selbstreferenz ist, der zwischen dem Darstellbaren und dem Nicht-Darstellbaren, der Geschlossenheit der Ordnung der Verknüpfungen und der Öffnung auf die Bewegung des Besonderen nicht vermittelt, sondern an sich selbst die Spuren der nie zur Ruhe kommenden Veränderung trägt 127 . Die Nicht-Identität dringt in die (Subjekt-) Verfassung der Rationalität selbst ein 1 2 8 und macht das Ich des Selbstbewußtseins zu einer zerstreuten prekären Einheit aus heterogenen Setzungen129, in die sich die in eine Pluralität von Sprachspielen zersprungene Sprache einschreibt. Das Ich ist dabei nicht mehr als ein „Spiel der Gründe zu- und gegeneinander", nicht aber der Ort der Verknüpfungen, die den Objekten von einem sie übergreifenden Subjekt der Vernunft aufgeprägt werden. Die Kantsche Philosophie bringt in der Subjektzentrierung, im Selbstbewußtsein der Verknüpfungen im Denken des Ich, eine Spaltung von Besonderem und Allgemeinem zum Ausdruck, deren Paradoxie in der damit freigesetzten Bewegung der Zeit liegt, die die Einheit von Sprache, Vernunft und Subjekt als Verfassung eines vorher gewußten und selbstbewußten Zentrums der Beurteilung 1 3 0 untergräbt. IV. Die Dezentrierung des Subjekts in der Pluralität der Sprachspiele 1. Subjekt und Aneignung der Regeln Die Trennung von Subjekt und Objekt, die oben in einem vorgängigen „Differenzierungsgeschehen" 131 lokalisiert worden ist, läßt sich in dieser theoretischen Perspektive als eine „historisch bedingte Selbstkonzeption"132 (re-)konstruieren, 125 p. Livet, Anthropologie et symbolique, Critique 1990, S. 411 ff. 126 V. Descombes, (Fn. 95), S. 657, 672. 127 Vgl. auch Matthiesen, (Fn. 120), S. 129. 128 K. Meyer-Drawe, Zähmung eines wilden Denkens?, in: A. Métraux / Β. Waldenfels (Hg.), Leibhaftige Vernunft, München 1986, S. 158 ff., 271. 129 Silverman, (Fn. 88), S. 358. ι 3 0 Vgl. auch R. Rorty, Heidegger wider die Pragmatisten, Neue Hefte für Philosophie 23 (1984), S. 1 ff., 11. 131 Waldenfels, (Fn. 42), S. 9. 132 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 89. 3 Ladeur

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

die einen Einschnitt in die transsubjektive Immanenz der Gesellschaftsstiftung durch den göttlichen Willen vollzog. Sie hatte der innergesellschaftlichen Bewegung des nicht mehr in einem substanzhaften Allgemeinen aufgehobenen Besonderen durch Höherlegung des Abstraktionsgrades einen größeren, nur in abstrakten Kategorien durch Verknüpfung im Denken eröffneten und begrenzten Spielraum gegeben. Aber die Veränderung der neuen, auf ein System von Verknüpfungen beschränkten Formalregeln in der Zeit war nicht zugelassen. Die nachklassische subjektkritische Philosophie bezweifelt vor allem die Tragfähigkeit einer auf diese Verknüpfung des Besonderen zu einem im Subjekt zentrierten System festgelegten Vernunft. Die Kontinuität dieses Systems der Synthesis gerät durch die Steigerung der Vielfalt der einmal aus der vorgängigen substanzhaften theoretischen Ordnung freigesetzten Besonderheiten unter Druck. Das durch die Subsumption unter das Subjekt der Vernunft stillgelegte Nicht-Identische (Differenz) dringt von der Seite des Subjekts wie auch von der der Regel geleiteten Vernunft in den homogenen Raum der Autonomie der selbstkritischen Beurteilung vor. Die,»Kompetenz-Kompetenz des Regel befolgenden Subjekts" 133 wird in Frage gestellt: Angesichts des Flusses der Veränderungen in der Zeit werden Subjekt und Vernunft selbst als Funktion innerhalb der „Reproduktion eines sich selbst erhaltenden, gegen Bewußtsein aber gleichgültigen Prozesses" 134 begriffen und damit dezentriert. Diese Bewegung wird in der neueren Philosophie als „Selbstentzug des Ich" bezeichnet135. Durch Verzeitlichung entsteht eine zunehmende Fragmentierung der Rationalität, die auch das Subjekt nur noch als „Syndrom heterogener Funktionen" 136 erscheinen läßt und die Subsumption des Denkens und Handelns unter ein von der Anwendung selbst nicht affiziertes System in Frage stellt. Das dem Subjekt zugeschriebene grundlose Vermögen der Setzung wird überführt in eine Heterogenität der Setzungen in einer „irreduziblen Pluralität von Feldern" 137 , die sich durch die Ausbildung von lateralen (nicht-hierarchischen im System zu konstruierenden und zu erhaltenden) Beziehungen zwischen den Dingen und Handlungen von der zeitlosen Vernunft der Logik der Verknüpfung unterscheidet. Das Subjekt hatte sowohl in der philosophischen Begriffsbildung Kants als auch in Rousseaus Vertragskonzeption noch eine nicht vom Konflikt der Interpretationen affizierten und insofern noch dem traditionellen religiösen bzw. absolutistischen Verständnis entliehene Identität. Diese war in der politischen Variante so konzipiert, daß das Identitätsbewußtsein der Kollektivperson, eines nach Art der bildlichen Darstellung des Hobbesschen Leviathan aus einer

»33 Wetzel, (Fn. 21), S. 232. !34 D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt 1976, S. 97 ff., 116. 135 Waidenfels, (Fn. 42), S. 67. 136 Waidenfels, (Fn. 42), S. 73. 137 Fischer, (Fn. 42), S. 75, 72.

IV. Die Dezentrierung des Subjekts

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Vielzahl von Personen zusammengesetzten Übersubjekts, als der Reflexion der die Einheit tragenden Personen vorgängig erschien 138 . Das Subjekt hatte den Mangel eines dauerhaften Grundes, des ihm Anderen der religiösen Ordnung, in einer ihm vorgegebenen, von ihm aber niemals anzueignenden und aufzuklärenden symbolischen Ordnung inkorporieren müssen139. Die Vernachlässigung des produktiven Charakters der Sprache zugunsten ihrer referentiellen Funktion, die Verknüpfungen in einem Zentrum zusammenzuhalten, war eine Folge der selbstreferentiellen Funktionsweise einer symbolischen Ordnung, innerhalb deren die Leitidee, daß es eine die Besonderheiten in einer universellen zusammenfassenden Gesamtordnung geben müsse, einen sich selbst erfüllenden Charakter annehmen konnte. Die abstrakte Normativität der erkennenden und handelnden Vernunft konnte eine Kasuistik des Besonderen durch allgemeine Regeln ordnen. Das Subjekt fungierte als fester Referenzpunkt, von dem aus Aussagen und Handlungen durch Verknüpfung und durch Regeln der Verknüpfung zu machen waren 14 °. So wie der selbstreferentielle Zirkel der Universalität und der Subjektivität die Eigenständigkeit der Sprache in der Transparenz des Selbstbewußtseins zum Verschwinden bringen konnte, so tauchte sie zwangsläufig wieder auf, als die Zahl und Art der Besonderheiten der Sprachspiele sich vervielfältigten. Die Subjektphilosophie wird nicht durch die besseren Argumente, die bessere Erkenntnis, sondern durch die Zeit und die dadurch veränderte Stellung des Subjekts innerhalb des übergreifenden, transsubjektiven „Differenzierungsgeschehens" widerlegt. Dadurch wird nicht nur die Einheit des Subjekts und die Konsistenz der Universalität der Vernunft in Frage gestellt, sondern es wird auch die produktive Funktion der Sprache als Medium der Selbstveränderung dieses transsubjektiven, das Subjekt dezentrierenden Prozesses sichtbar. Die Sprache als Institution 141 , die dem einzelnen Sprechakt stets vorgängig ist, tritt in Erscheinung. Sie kann nicht mehr instrumenteil verstanden werden und als solche unsichtbar, ohne eigenes Gewicht bleiben. Sie kann nicht mehr festgelegt sein auf die Garantie des richtigen Ausdrucks einer im transzendentalen Subjekt gegründeten Einheit der Verknüpfungen des Besonderen, da dieses seine eigenen situativen, in heterogenen Sprachspielen artikulierten Anschlußzwänge schafft. 2. Subjekt, Sprache und Zeithorizont Die Vervielfältigung der Möglichkeiten bringt die Zeitlichkeit in der Sprache und im Sprechen zur Geltung. Die Sprache ist nicht mehr dem Code der Vernunft nachgebildet; ihre Grammatik und ihr Regelcharakter lassen sich nicht ohne weiteres aufeinander abbilden. Die Regeln, denen die Menschen im Denken und 138 139 140 141 3*

V. Descombes, Philosophie par gros temps, Paris 1989, S. 154. Hörisch, (Fn. 36), S. 50. Rorty, (Fn. 130), S. 23. Ricoeur, (Fn. 118),

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Handeln folgen, sind augenscheinlich weder Ausdruck einer Natur der Dinge noch in ein System der Verknüpfungen zu bringen 142 . Wenn aber die Sprache selbst weder eine natürliche Grammatik des Denkens enthält noch insgesamt einer bewußten Vereinbarung zwischen den Individuen unterliegen kann (eine solche müßte sich ihrerseits schon der Sprache bedienen), tritt der Ereignischarakter der einzelnen Diskurse und Sprachspiele ihrerseits — und nicht nur der Besonderheiten, auf die die Sprache referiert — zutage. Diese tragen mehr und mehr ihre eigenen Normen in sich, die nicht aus einer vorgegebenen universellen Sprache abzuleiten sind 143 . Damit wird aber auch das Zentrum der Subjektphilosophie, eben das Subjekt selbst, situativ, zeitabhängig und plural: Die Sprache macht sich nicht mehr nur als vom Subjekt anzueignender Bestand von universellen Regeln, sondern auch von historischen Aussagen und Diskursen geltend, die eigene „Genres" entwickeln und nicht mehr ohne weiteres miteinander kompatibel sind 144 . Die Sprache verweigert sich der Synthesis. Damit wird die Unmöglichkeit einer Meta-Institution deutlich. Die Bewegung der Dezentrierung, die von der Pluralisierung des Besonderen ausgeht145, erfaßt das Subjekt und die Regeln der Vernunft und macht auch die Materialität der Sprache als Medium einer variablen Selbstreferenz auf eine paradoxe Weise sichtbar, indem sie zugleich das Subjekt als Zentrum der Referenz des Besonderen auf das Allgemeine als eine „historisch bedingte Selbstkonzeption, eine Errungenschaft" innerhalb des transsubjektiven Differenzierungsgeschehens erscheinen lassen. Die „Souveränität des Subjekts des Wissens" hatte sich in dem Zweifel an der eigenen Ordnung der Dingwelt gegründet 146 und hatte gerade durch den Anspruch auf die Konstitution einer zeitlosen Gedankenwelt der Verknüpfungen im und durch das Subjekt paradoxerweise zugleich dessen Öffnung für die Vielfalt der Objekte abgestützt. Das Subjekt setzt selbst eine Bewegung in Gang, in der es von der Differenz, die es auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt festlegen sollte, wieder eingeholt wird und das „ich denke" der Zusammenfassung formaler Verknüpfungen sich als eingeschrieben in die Verflechtung der kollektiven und individuellen Geschichtein) erweist 147 . Die unter das Subjekt subsumierte Differenz tritt nunmehr um so stärker als transsubjektive Pluralität der Möglichkeiten zutage: Der zeitlose Vernunftcode der Verknüpfungen wandelt sich zur heterogenen Sprachwelt 148 , in der das Subjekt seinen Charakter als zeitloses Zentrum, das selbst vom Fluß der Erscheinungen nicht berührt wird, verliert und in die Bewegung der Zeit •42 Descombes, (Fn. 138), S. 165. 143 B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt 1987, S. 78; Bouveresse, (Fn. 121), S. 139. 144 Vgl. allgemein J. F. Lyotard, Le différend, Paris 1983; dazu W. Welsch, Vielheit oder Einheit? Zum gegenwärtigen philosophischen Spektrum der Diskussion um die „Postmoderne4', PhilJb 1987, S. 111 ff. 145 Bouveresse, (Fn. 121), S. 139. 146 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 89. 147 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 14. 148 Ricoeur, (Fn. 12), S. 103.

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einbezogen wird. Die Bezeichnung des Besonderen bleibt nicht flüchtiges Ereignis gegenüber der Dauer des Verknüpfungssystems, sie eröffnet eigene nichtdeduktive Verknüpfungsmöglichkeiten und schlägt zugleich auf die Stabilität eines Sprachsystems zurück, das von der Sprache als Ereignis 149 , von der Verbindung mit Situationen (statt deren Aufhebung in einem universalen System der Verknüpfungen) unterlaufen wird. Dieser Verweisungszusammenhang von Zeichen zu Zeichen im selben System wird an die Effektivität des historischen Gebrauchs in Sprachspielen zurückgebunden. Das Sprechen impliziert das Einrücken in einen vorgängigen institutionalisierten Sprachverwendungszusammenhang, der Sprechen erst möglich macht. Das vorgängige Andere der Gebung tritt als Differenzierungsgeschehen hervor, während das Andere des Subjekts in der klassischen Subjektphilosophie, die Einbildungskraft, stets auf die Wiedergabe der homogenen Einheit eines „sensus communis", auf eine Gemeinschaft der Übereinstimmung festgelegt war. Die Einbildungskraft, die Ästhetik, wird von der Last der Erkenntnis befreit 150 . Die Synthesis selbst vervielfältigt sich auf eine paradoxe Weise in multiple Sprachspiele, die im Subjekt kein Zentrum mehr finden. Dies macht sich insbesondere in der Verselbständigung der Kunst geltend: Das Schöne ist nicht mehr als Ganzes im sensus communis des Subjekts der ästhetischen Ideen schon enthalten, das Zentrum löst sich auf und wird von der Vielzahl der Künstlerindividuen und ihrer je eigenen individuellen Anschauung („Genie") und damit dem Gefühl für die Vielfalt der Darstellungsformen abgelöst. Das Eigene des Subjekts der Kunst wird die Kreativität, die Produktion von neuem Sinn, von Sprachspielen und -formen, die nicht mehr in einer gegebenen Sprachform enthalten sind und auch nicht auf eine Übereinstimmung des Subjekts mit sich selbst, in seinem Denken und seinem Empfinden, zurückführbar sind 151 . Die in der klassischen Ästhetik unterstellte Übereinstimmung, die immer noch die Züge einer Unmittelbarkeit der Subjektivität beibehält und gerade darin die Bindung an das vorgängige Differenzierungsgeschehen der Auseinandersetzung des fremden göttlichen Willens ahnen läßt, ist auch in einer politischen Form bei Rousseau in den Nachwirkungen der Darstellungformen der absoluten Monarchie innerhalb der Demokratietheorie diagnostiziert worden. Sie waren der Ausgangspunkt, der die Zusammenfügung der „Vermögen" des Subjekts ihrerseits als Grundlage der Synthesis als Leistung des Subjekts ermöglichte 152 . Ohne diesen Rest an Unmittelbarkeit gerät das Selbstbewußtsein in die Gefahr zu einem illusionären Produkt der Aneignung dessen zu werden, was uns die anderen als Selbstbild eingeben. Dies ist — wie gezeigt — auch das Problem von Rousseaus „volonté générale", die nicht aus der „volonté de tous" hervorgehen kann, sondern etwas anderes, die 149 Ricoeur, (Fn. 148), S. 104. 150 Lyotard, (Fn.41), S. 71. 151 R. Rorty, Non-Reductive physicalism, in: K. Cramer u. a. (Hg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt 1987, S. 278 ff., 287, 294. 152 Lyotard, (Fn. 61), S. 10.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

vorgängige Übereinstimmung, zum Ausdruck bringt. In der politischen Rhetorik spielt gerade in der Theorie des Gesellschaftsvertrages der Rekurs auf den guten Willen eine der ästhetischen Gebung in der Kantschen Philosophie vergleichbare Rolle. Dieses Moment der Unmittelbarkeit spielt in der Interpretation der Kunst als derjenigen Institution, die das Ganze einer wiederzugewinnenden Einstimmung aufbewahrt und die Möglichkeit ihrer Wiederherstellung in der Zukunft enthält, eine wichtige Rolle. Darin ist zugleich die problematische Rolle einer politischen Ästhetik angelegt, die aus der Formbarkeit des von ganzheitlichen Darstellungsansprüchen entlasteten Materials der Kunst den im Vorgriff der Avantgarde eingeforderten Anspruch auf die Formbarkeit der Welt ableitet. Umgekehrt stellt sich die den Charakter als Code, als Instrument der Vernunft einbüßenden Sprache immer mehr als eine Institution dar, die „Gesagtes" akkumuliert 153 , das sich auf die Welt bezieht und selbst zum Ereignis wird, das mit der gegenüber der Wirklichkeit des Besonderen autonomen Grammatik der Verknüpfungen nicht zusammenzubringen ist 1 5 4 . Mit Rorty kann man das neue philosophische und sprachwissenschaftliche Denken über die Sprache daran festmachen, daß es — anders als die traditionelle Subjektphilosophie — das Sprechen und Denken als eine „Entbergung des Seins" betrachtet 155. Das Sein ist nicht an die Vorstellung gebunden, sondern an ein Können, an eine poietische Funktion, die nicht in einer vorgängigen Setzung der Sprache als einer autonomen Ordnung aufgeht. Dieses Sprachverständnis läßt ein Selbstverhältnis nur auf der Grundlage einer nicht-hintergehbaren Differenz zu , 5 6 . Die Möglichkeit des Sein-könnens in der Sprache 157 schließt jeden höheren Standpunkt aus, von dem aus die Regeln des Erkennens und Handelns ableitbar wären oder im Vorgriff auf eine Änderung dieser Regeln einen festen Halt finden könnten. Auf die Nachzeichnung der verschiedenen philosophischen und sprachwissenschaftlichen Theorien über die Sprache kann hier verzichtet werden. Für eine rechts- und verfassungstheoretische Rezeption einer nicht-subjektphilosophischen Reflexion des Sprachdenkens ist vor allem eine Konzeption wesentlich, die die Situativität des Sprechens betont und damit die Möglichkeit der nicht-hierarchischen Vernetzung von sprachlichen Handlungsfeldern denken läßt, deren wiederkehrende Strukturen das Individuum und das Besondere „genauso übergreifen wie Regeln" 158 . Dies ist um so wichtiger, als der Zerfall des Verweisungszusammenhangs von fremder Gebung, Vernunft 153 Vgl. auch B. Groys, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur der Sowjetunion, München 1988, S. 7, 26. 154 Ricoeur, (Fn. 148), S. 104. 155 Vgl. die Interpretation von Heideggers „Vom Wesen der Wahrheit" (in: Wegmarken, Frankfurt 1967, S. 73 ff.) bei Rorty, (Fn. 130), S. 11: Der Prozeß der „Schöpfung neuer Seinsmöglichkeiten" entwirft selbst „neue Kriterien" des sprachlichen Urteils. 156 J. Derrida, „II faut bien manger" ou le calcul du sujet, Gespräch mit J. L. Nancy, in: Cahiers Confrontation 20 (1989), S. 91 ff., 95. 157 Rorty, (Fn. 130), S. 11. 158 Waldenfels, (Fn. 143), S. 104.

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und Subjekt, wenn er nicht konsequent auf das Subjekt zurückbezogen wird, zum Leerlaufen der Selbstreferenz insofern führt, als das Subjekt den Zerfall der universellen Vernunftordnung als Steigerung der Omnipotenz erlebt, einer illusionären Macht, die nunmehr die umfassende, von der Vorgabe der Universalität der Form und der Abhängigkeit von der Differenz befreite Selbstgesetzgebung ermöglichen könnte. 3. Das Subjekt und das Spiel der Kontingenzen Die das Selbstverhältnis des Subjekts und die darin zentrierten Verknüpfungsmöglichkeiten tragende Setzungsfunktion einer von der Wirklichkeit getrennten und getrennt bleibenden universellen sprachlichen Vernunft transformiert sich in eine „laterale Allgemeinheit" 159 dadurch, „daß Anknüpfungen sich vervielfältigen, verzweigen, verflechten". Handlungsfelder bilden sich aus, die nicht eine Summe des Besonderen unter einer allgemeinen Regel bilden und die nicht nach einem „vorher gewußten Kriterium" 1 6 0 beurteilt werden können, sondern die pluralen Beobachtungsmöglichkeiten und Normen mitproduzieren. In der philosophisch-juristischen Hermeneutik wird der Werkcharakter der Sprache allzusehr auf die Notwendigkeit der Vollendung und Fortsetzung eines Traditionszusammenhangs festgelegt 161. Wenn die historisch begrenzte Möglichkeit eines menschlichen Selbstverständnisses an den An- und Verwendungszusammenhang von Sprache gebunden ist, wird das Sprechen in vorstrukturierten Text- und Handlungsfeldern auf eine Art Verifikation der „guten Absicht" der Textweitergabe an ein Auditorium reduziert 162 . Damit wird die vorgängige Übereinstimmung in eine Vermittlungsleistung zwischen Vergangenheit und Gegenwart transformiert. Dieser Versuch, die Kontinuität der Sprache im Wandel des Sprechens zu erhalten, spekuliert auf eine ihrerseits problematisch gewordene Einheit der Geschichte oder einzelner Praxisfelder (insbesondere der juristischen „Anwendungs"-Lehre) 1 6 3 , die aber ebenfalls ihre Plausibilität angesichts einer Pluralität von Textund Handlungsfeldern mit einer unübersehbaren „Dynamik von Attraktionen und Repulsionen" 164 , in denen multiple Beobachterpositionen generiert werden, eingebüßt hat. Die stabile, um das Verhältnis von Subjekt, Objekt und Vernunft zentrierte Synthesis der Verknüpfungen transformiert sich in ein Konfliktverhältnis multipler Ordnungen, deren Binnenrationalitäten nicht mehr auf das Subjekt als Zentrum verweisen, sondern anonyme Relationen koordinieren. Die dem Besonderen vorgängige hierarchisch gestufte, im Subjekt des Denkens selbstbewußt werdende vernünftige Ordnung wird abgelöst von einer variablen Ord159 Waidenfels, (Fn. 143), S. 39. ι « Rorty, (Fn. 130), S. 13; vgl. auch Waidenfels, (Fn. 143), S. 78. 161 P. Ricoeur, Logica ermeneutica, aut aut 217/218 (1987), S. 64 ff. 162 Ricoeur, (Fn. 161), S. 73. 163 Busse, (Fn. 5); Christensen, (Fn. 5). 164 p. Ricoeur, Die lebendige Metapher, München 1986, S. 287.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

nung zwischen dem Besonderen, deren Rationalität sich genau an der Erfahrung bemißt, in der sie sich enthüllt" 165 . Das Ganze der Sprache zerfällt in Teilordnungen, die die kritische Reflexion in einem Selbstverhältnis des Subjekts nicht mehr zulassen, aber auch nicht mit einer für sich blind gewordenen Objektivität der Welt zusammenfallen. Hier deutet sich die Möglichkeit einer „lateralen oder horizontalen Allgemeinheit" an 1 6 6 , die ebenso wie die universelle Vernunft der klassischen Philosophie auf Verknüpfungen zwischen den Dingen basiert, aber deren Vernetzung als variabel und zeitabhängig konstituiert. Die,»Erkenntnis" dieser variablen Ordnung erfolgt nicht mehr in der Zentralperspektive des Subjekts, sondern sie erfolgt von Beobachterstellen, von denen aus innerhalb einer Vielfalt von Ordnungsmöglichkeiten neue Modelle (re-)rekonstruiert und in Operationen prozessiert werden. Beobachten wird zum Operieren mit Unterscheidungen, die die Kriterien, nach denen passende und nicht-passende Versionen beurteilt werden, mitproduzieren und damit von vornherein auf „Widerstreit" angelegt sind. Ordnung wird selektiv, da der Verweisungszusammenhang zwischen Subjekt und universeller Vernunft zerbrochen ist. Die übergreifende Ordnung, innerhalb deren „jede neuauftauchende Sprache" 167 in einer um das Subjekt zentrierten Meta-Sprache ihrerseits beurteilt und praktiziert werden konnte, zerfällt. Vernunft vermag allenfalls im Versuch der wechselseitigen Kompatibilisierung situativer und spezialisierter Anschlußperspektiven und Interferenzen einzelner Sprachspiele einen aufklärerischen Effekt der Distanzierung von der durch den Gebrauch geschaffenen Effektivität der Zusammenhänge zu erzeugen 168. Rationalität ist damit nicht mehr als die für alles und alle gleiche Vernunft von den Kontingenzen des Wechsels der Besonderheiten getrennt. Rationalität wird selbst variable Ordnung von Kontingenzen. Auf dem Gedanken der Unmöglichkeit einer Meta-Institution beruht auch die Sprachtheorie des späten Wittgenstein 169 : Sprache und Sprachgebrauch sind nicht voneinander zu trennen und d. h., daß auch die Regel selbst notwendig plural wird. Regel und Anwendung sind nicht mehr unabhängig vom Puls der Zeit, beide sind durch die „Lebensformen", die die Möglichkeit der Kombination und Rekombination von Spielzügen bestimmen, miteinander verbunden 170. Darauf soll hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Festzuhalten ist aber, daß die Bindung der Regel an einen Gebrauch nicht gleichbedeutend sein muß mit der 165 A. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Vorwort, Berlin 1966; vgl. auch Waldenfels, (Fn. 143), S. 149. 166 Waldenfels, (Fn. 143), S. 209. 167 Rorty, (Fn. 130), S. 11. 168 M. Seel, Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt 1985, S. 12. 169 Bouveresse, (Fn. 121), S. 139. 170 H. Staten, Wittgenstein and Derrida, Lincoln / London 1986, S. 14, 59.

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bloßen Orientierung am Spiel der Kontingenzen, sondern ihrerseits eine Bewegung der Dekonstruktion ermöglicht, die die Kontingenzen gegeneinander variiert und neue Möglichkeiten eröffnet 171 und alte Gebräuche destabilisiert. Der Prozeß der Dezentrierung der Sprache und die damit einhergehende Destabilisierung des Subjekts generiert eine Fülle von Beobachterstellen und gibt eine Vielzahl von miteinander konkurrierenden, einander verstärkenden oder blockierenden Perspektiven frei. Die Bedeutung einer Regel ist nicht mehr im Bewußtsein eines Subjekts verankert, sondern im Sprachspiel, das seinerseits als Spiel von Differenzen nicht die Funktion der Einheitsbildung übernehmen kann, die dem Bewußtsein des einen Sinnzusammenhang organisierenden Subjekts abgesprochen wird 1 7 2 . Das Sprachspiel generiert ein je hinfälliges nicht-subjektives Vorverständnis, das jeder Stellungnahme vorausgeht 173. Anders als bei Gadamer angenommen, setzt nicht der Autor eines privilegierten Textes (etc.) die Bezugsgröße für das Einrükken in einen Gebrauchszusammenhang. Die Unterstellung eines notwendig implizit bleibenden Anfangs durch das Anknüpfen an einen Gebrauch macht erst die Möglichkeit der Unterscheidung passender und nicht-passender „Spielzüge" in einem Sprachspiel möglich, schließt aber die kritische Überbietung der Praxis nur insofern aus, als es keine sprachspielunabhängige, sondern nur eine selbst vom Spiel der Kontingenzen bestimmte Möglichkeit ihrer Reflexion gibt — insbesondere aufgrund der Überlappung von Sprachspielen oder Differenzen innerhalb eines durch seinen Gebrauch organisierten Sprachspiels. Durch den Gebrauch selbst entsteht ein Widerstreit unterschiedlicher Kriterien des Passens und der Richtigkeit 174 . 4. Von der Vernunftordnung

zur Plur alitât der Sprachspiele

Die Konstitution der Sprache durch den Gebrauch in Sprachspielen hängt zusammen mit der Bewegung der Implikation des Bewußtseins als vorgegebenes Zentrum von Verknüpfungsmöglichkeiten in den Prozeß der „Herstellung, Beurteilung und Revision bestimmter materieller Bilder und Bedeutungen" 175 , der sich von der „Vorstellung" der Subjektphilosophie dadurch unterscheidet, daß er nicht auf eine Aktivität des Bewußtseins reduzierbar ist und die Kriterien der Beurteilung von dem „aktiven Prozeß des Zusammenpassens" von Kontingenzen in einem Kontext miterzeugt werden 176 . Dies hat Derrida in einem anderen

171 Staten, (Fn. 170), S. 101. 172 M. Kurthen, Indeterminiertheit, Iterabilität und Intentionalität, Zeitschrift f. allg. Wissenschaftstheorie 1989, S. 54 ff., 84. 173 Bouveresse, (Fn. 121), S. 138. 174 N. Goodman/C. Z. Elgin, Revisionen. Philosophie und andere Künste, Frankfurt 1989, S. 41. 175 Goodman/Elgin, (Fn. 174), S. 123, 205. 176 N. Goodman, Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt 1987, S. 57 f.; ders., Weisen der Welterzeugung, Frankfurt 1986, S. 125.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

theoretischen Zusammenhang ähnlich zugespitzt in der Charakterisierung des „Spiels" als eines Feldes, in den die „Iterabilität" einer Regel nicht auf ihre Wiederholbarkeit reduziert werden kann, sondern im Vollzug einer Veränderung durch die Besonderheit der Ereignisse unterworfen ist 1 7 7 ; deshalb müssen Regel und Ereignis in eins gedacht werden. Dadurch entsteht eine Paradoxie der Unentscheidbarkeit, die zum Experimentieren zwingt, das aber nicht mit der Entscheidbarkeit zu verwechseln ist, da die Verknüpfung von Worten, Begriffen und Sachen nicht durch einen Meta-Kontext festgelegt wird, sondern ein Spiel von Differenzen eröffnet 178 , in dem auch das Besondere nicht für sich selbst präsent und ohne Verknüpfung keinen Sinn generieren kann. Derrida bringt den Begriff der „Spur" („trace") in Anschlag, um ein provisorisches Zusammentreffen von Anwesenheit / Abwesenheit zu kennzeichnen, das „Erkenntnis" an das Prozessieren eines Sprachspiels gebunden bleibt 179 . Hier zeigt sich zugleich die fundamentale Bedeutung der Zeit für ein Sprachverständnis, das nicht mehr durch ein instrumentelles Verhältnis an die Selbsttransparenz der Vernunft gebunden ist: Das Differenzierungsgeschehen des „KonkretUniversellen" der „Spur" des Diskurses, der nicht in der Vernunft gründet, sondern ein in der Zeit wirkliches Feld der wechselseitigen Verknüpfungen eröffnet 180 , ist bestimmt vom „dramatischen" Charakter der Sprache. Die „Spur" ist — anders als das traditionelle „Zeichen" — nicht einfach eine (Repräsentation (Vorstellung) eines schon interpretierten Wissens. Eine innerweltliche Fortsetzung der klassischen Bewußtseinsphilosophie sucht demgegenüber einen neuen Ausgangspunkt nicht mehr in einer universellen, im Subjekt zentrierten Vernunft, sondern einer „mentalen Grammatik", ein in ein Lexikon eingeschriebenes Bewußtsein 181 . Aber die Bedeutungsfestlegung und ihre Verknüpfungsmöglichkeiten sind nicht positiv und außerhalb der sie in multiplen Netzwerken prozessierenden Operationen zu bestimmen. Ein Symbolsystem ist auf Differenzen aufgebaut, die im Gebrauch Verkettungen von Kombinationsmöglichkeiten und damit erst die Regeln erzeugen, die der Sprache vorher unbekannt sind. Jedes Sprechen über etwas muß an ein Netzwerk von Bedeutungen erzeugenden Beziehungen zwischen Sprache und Welt anschließen182. Eine Allgemeinheit innerhalb eines dezentrierten Systems von Bedeutungen, die auf Verweisungen zwischen Differenzen beruhen, bildet keinen „Stufenplan" mehr, >77 j. Derrida, Afterword: Toward an Ethics of Discussion, in: Limited Inc., Evanston / 111. 1988, S. 116, 119. 178 Derrida, (Fn. 177), S. 151. 179 Vgl. dazu J. W. Murphy, Une rhétorique qui déconstruit le sens commun: J. Derrida, Diogène 128 (1984), S. 125 ff., 135 f. 180 Murphy, (Fn. 179), S. 134, 138. lei Goodman/Elgin, (Fn. 174), S. 139. 182 Lyotard, (Fn. 41), S. 23; M. Kusch, Husserl and Heidegger on Meaning, Synthese 1988, S. 99 ff., 99, Β. Waldenfels, Das Zerspringen des Seins, in: Métraux / ders. (Hg.), (Fn. 128), S. 144 ff., 145.

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sondern eine „Textur" 1 8 3 . D. Fauconnier hat diese Einschreibung der Sprache in vorfindliche Konfigurationen als Ordnung von „espaces mentales" bezeichnet184, die innerhalb der Sprache Anschlußmöglichkeiten eröffnen und beschränken. Mit Wittgenstein ist zu bestreiten, daß die Menschen die Sprache insgesamt durch Betätigung des freien Willens und ihrer Vernunft so erzeugen können, wie sie innerhalb eines Sprachspiels oder im Durchgriff durch die Grenzen zweier oder mehrerer Sprachspiele neue Möglichkeiten erzeugen können 185 . Die Auflösung des Verweisungszusammenhangs von Subjekt, Objekt und Vernunft hinterläßt Spuren an allen seinen Bestandteilen. Die Besonderung der Dinge, die sich dem organisierenden Zugriff der universellen Rationalität entzieht, bindet das Denken und das Sprechen strategisch an différentielle Sinnfelder und hat damit erst die „Materialität" der Sprache gegenüber dem dem Selbstbewußtsein des Subjekts verordneten Denkens als Produkt eines Zerfallsprozesses zutage treten lassen. Aber damit hat es — wie schon oben angedeutet — zugleich die Entstehung der einzelnen Denkformen an Sprachspiele gebunden, die einer „topischen Strategie" 186 im Konflikt von Identität und Differenz unterliegen, aber keine einheitliche „Meisterstrategie" und d. h. auch kein homogenes stabiles Subjekt zulassen, das die „Kompetenz-Kompetenz" 187 innerhalb der Sprachspiele hätte. Die Infragestellung der Autonomie der Regeln gegenüber dem Gebrauch erschüttert zugleich auch die Autonomie des Subjekts als ihres Trägers. Damit ist die Notwendigkeit eines mundanen Bezugspunktes für die Normen nicht geleugnet 1 8 8 . Aber die Sprachspiele, deren Regeln vom Subjekt nicht beherrscht werden, konstituieren auch das Subjekt selbst (oder besser) die Subjekte, in dem sie sie in die Pluralität von Kontexten von (mit anderen) geteilten Situationen 189 , und nicht mehr in die universelle Vernunftordnung einschreiben. Wie schon oben am Beispiel der Ästhetik angedeutet, vollzieht sich in der Philosophie des 19. Jahrhunderts schon eine Abwendung vom Subjekt als Zentrum des Denkens in seinem Selbstbewußtsein und eine Hinwendung zu den konkreten besonderen Individuen. Dieser Entwicklung zur Pluralisierung der Subjektivität entspricht auf der Objektseite die Pluralisierung der Besonderungen, die nicht mehr in einem übergreifenden allgemeinen System der Verknüpfungen aufzuheben sind 190 . Aber erst die Rückwendung der Philosophie auf die Sprache hat ein Denken des Subjekts selbst als eine Funktion in der Sprache und ihrer

183 B. Waldenfels, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt 1985, S. 48. 184 G. Fauconnier, Mental Spaces, Cambridge / Mass. 1985, S. 1 ff. 168. iss Descombes, (Fn. 138), S. 164. 186 Schürmann, (Fn. 55), S. 362. is? Wetzel, (Fn. 21), S. 232. 188 Descombes, (Fn. 138), S. 89, 165. 189 Ch. Guignon, Philosophy after Wittgenstein and Heidegger, Philosophy and Phenomenological Research 1990, S. 649 ff. 6, 650. 190 Riedel, (Fn. 39), S. 123 f., 139.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

Funktionsweise ermöglicht 191 . Gerade in einer rechts- und verfassungstheoretisch intendierten Rezeption und Kritik der Subjektphilosophie ist es wichtig, die Bestimmung der Rolle des Subjekts als „Stelle" innerhalb eines Verweisungszusammenhangs nicht naturalistisch als inhumane Verleugnung der Rolle des Individuums mißzuverstehen. Die über die Eigenständigkeit der Sprache in der Zeit vermittelte Fragmentierung der universellen Vernunft in der Pluralität der Sprachspiele, die ihre eigenen Richtigkeitskriterien erzeugen, schlägt sich notwendigerweise auch im Subjekt als dem Zentrum der Vernunft in einem Selbstverhältnis nieder. Das „autoregulative Transformationsgeschehen" 192 innerhalb von und zwischen Sprachspielen, die die Grenze zwischen Regel und Anwendung verwischen, muß auch die Setzungsfunktion des Subjekts untergraben. Eine Sprache, die ihre Zeitlichkeit und d. h. Endlichkeit in der heterarchischen „Textur" der Verknüpfung von Möglichkeiten erfährt, vereitelt systematisch das Zusammenlaufen der Verknüpfungen in einem der Veränderung enthobenen Subjekt als Zentrum synthetischer Einheit. Die beweglichen, in die Sprachspiele eingeschriebenen Beobachterstellen schließen jede von einer vorgängigen Meta-Institution abgesicherte Präferenz auf eine unabhängig existierende Objektivität aus. Wie die Sprache so ist auch das Subjekt oder das, was von ihm übrig bleibt, nie bereits konstituiert, sondern an den Prozeß seiner eigenen Konstitution gebunden 1 9 3 . Das Subjekt stellt sich selbst als ein Effekt der Sprache dar 194 ; die Vielstimmigkeit der Sprachspiele schlägt sich in der Heterogenität seiner Funktionen nieder 195 . Das Subjekt wird damit zugleich zum pluralen Ort der Inszenierung des Entscheidens unter Bedingungen der Unentscheidbarkeit 196. Die Verknüpfung von Spielzügen in einem Sprachspiel kann nicht die Vielfalt der Möglichkeiten in der Referenz des Besonderen auf ein zeitloses System der universellen Vernunft aufheben. Die Stabilität einer Präsenz und eines Selbstverhältnisses ist dem Subjekt daher versagt. Ein Selbstverhältnis ist nur als différentielles, als Verhältnis zu sich als einem anderen möglich. Das Subjekt kann nicht mehr die Stelle des Ausgangspunktes besetzen, es ist der Platz der endlichen Erfahrung der unaufhebbaren Nicht-Identität mit sich selbst, an dem die Bewegung des Differenzierungsgeschehens als „Spiel der Gründe zu- und gegeneinander" inszeniert wird 1 9 7 . Das Selbstverhältnis des Subjekts wird damit zu einem „Netzwerk von Kontingenzen" 198 , das jeden Rekurs auf eine ursprüngliche Über191 Derrida, (Fn. 156), S. 92; Carrier, (Fn. 110). 192 Meyer-Drawe, (Fn. 128), S. 271. 193 W. Hamacher, Unlesbarkeit. Einführung zu P. De Man, Allegorien des Lesens, Frankfurt 1988, S. 7, 21. w Derrida, (Fn. 156), S. 92; Carrier, (Fn. 110), S. 223. 195 A. Cutrofello, Derrida's Deconstruction of the Ideal of Legitimation, Man and World 1990, S. 157 ff., 158. 196 Carrier, (Fn. 110), S. 223. 197 Vgl. auch Waldenfels, (Fn. 42), S. 67; Fischer, (Fn. 42), S. 72. 198 Rorty, (Fn. 65), S. 66.

IV. Die Dezentrierung des Subjekts

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einstimmung ausschließt und sich der Selbstkontrolle entzieht 199 . Das Subjekt wird zum differentiellen Kräfteverhältnis, das aus einer „komplexen Genealogie von Interpratationsprozessen" 200 entsteht und sich mit ihr verändert. Damit verliert es jedenfalls seine Stellung als einheitsstiftendes Zentrum der Synthesis und macht zugleich die nicht-hintergehbare Andersheit der Subjekte zu- und füreinander zum Problem: Die klassische Subjektivität ist eine Stelle, an der sich „dasselbe Denken" für alle gleichermaßen vollzieht und die deshalb von jedem eingenommen werden kann, der als Individuum Träger der allgemein menschlichen Vernunft ist. Die konstitutive Nicht-Identität des Subjekts läßt auch das Verhältnis zum anderen problematisch werden. Die Trennung vom anderen (Subjekt) ist keine in der Vernunft „desselben Denkens" aufzuhebende Asymmetrie: Die Struktur „Subjekt-Subjekt" bleibt in der klassischen Subjektphilosophie — wie in der modernen Konzeption der Intersubjektivität (dazu später) — "trotz ihres pluralen Charakters, weitgehend in einen monadologischen Gesichtskreis eingeengt" als „Kohärenz des Subjekts mit der eigenen Rationalität, auch wenn sich diese Kohärenz in einem bestimmten Verhältnis mit den anderen konkretisiert" 201 . Die Pluralisierung der universellen Vernunft in das Konfliktverhältnis von „Binnenrationalitäten" 202 der Sprachspiele und ihr Niederschlag am Subjekt als Ort eines „Differenzierungsgeschehens" hat auch die Reflexität des Prozesses der Überführung der Immanenz des „fremden Willens" in einem Selbstverhältnis des „eigenen Willens" des Subjekts weiterbetrieben und die Frage nach der „Binnenrationalität" des Subjekts provoziert, da mit dem Zerfall „desselben Denkens" der Vernunft auch die Heterogenität des dezentrierten Subjekts zum Problem geworden ist. 5. Zur Pluralisierung

der „Binnenstruktur " des Subjekts

Vor allem die Psychoanalyse hat einen Beitrag zur Dezentrierung des „Binnenraums" des Subjekts zu einer Topologie heterogener Funktionen geleistet. Für eine philosophische Rezeption ist vor allem die Einschreibung eines labilen Verhältnisses von Tod und Leben in die menschliche Existenz und die Konstitution des „Ich als eines anderen" von besonderem Interesse. Die Psychoanalyse ist ein Produkt des Zerfalls jenes zentralen „Selbst der Vernunft" 203 , dessen Anspruch sie zugleich in einer ironisch gespaltenen Form der nicht-hintergehba199 Vattimo, (Fn. 91), S. 83. zoo G. Abel, Interpretations-Welten, Phil Jb 1989, S. 1 ff., 16. 201 M. M. Olivetti, Philosophische Fragen an das Werk von Emmanuel Lévinas, in: H. H. Henrix (Hg.), Verantwortung für den Anderen und die Frage nach Gott, Aachen 1984, S. 42 ff., 56 f.; Die ethische Problematik des Nicht-Verhältnisses zum Anderen, sein „mehr als meine Idee von ihm" steht im Zentrum der Philosophie von È. Lévinas (vgl. etwa Totalität und Unendlichkeit, Freiburg / München 1987, S. 63). 202 Welsch, (Fn. 144), S. 140. 203 Rorty, (Fn. 65), S. 49, 68.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

ren Gleichzeitigkeit von Bindung und Distanz aufnimmt 204 : Sie hat den Blick auf die Hinfälligkeit des Subjekts als eines dezentrierten Konfliktverhältnisses geöffnet und damit einen distanzierenden „kühlen Blick" auf die Kontingenz der Geltungsansprüche des Subjekts ermöglicht, aber dennoch zugleich die Notwendigkeit einer kulturellen Bindung an und durch variable Sprachspiele mit ihren eigenen, vom Selbst nur gelegentlich durch „neue Beschreibungen" zu beeinflussenden Binnenrationalitäten akzentuiert 205. Gerade in einem Rechts- und verfassungstheoretischen Versuch der Rezeption des Beitrags der Psychoanalyse zur Philosophie des Subjekts ist deren Insistieren auf der „Unmöglichkeit des Mit-sich-selbst-identisch-seins" von besonderem Interesse 206. Die Annahme der Einschreibung des Subjekts in eine topologische Ordnung, seine vorgängige Konstitution durch Unterscheidungen, die die imaginäre Einheit unterbrechen und durch Ausschließungen erst einen Raum des Begehrens des anderen eröffnen, ist für eine Theorie der Institution, die mit dem Zerfall der universellen Vernunft zu tun hat, von großer Fruchtbarkeit. Das „gespaltene Subjekt", dessen Konstitution in der symbolischen Ordnung nur ein „Anders-als-sein" zuläßt 207 , ist ein Bezugspunkt für die Einschätzung und Erklärung von Theorien, die den Zerfall der Einheit der (symbolischen) universellen Vernunft und dem Besonderen in einer „wirklichen" Einheit aufzuheben beanspruchen: „ Das Reale wird dabei mit dem Symbolischen identisch gesetzt" 208 . Paradoxerweise ist gerade der Gedanke, daß das Gesetz aufgrund eines kritischen Urteils des Individuums als Subjekt geändert werden könnte oder sollte, gleichzeitig mit dem Zerfall der universellen Vernunft entstanden209. Dies hängt paradoxerweise auch damit zusammen, daß die Gesellschaft mehr und mehr einen artifiziellen Charakter annimmt und ihre Entwicklung sich als Prozeß der Selbstmodifikation darstellt 210 , der selbstgenerierten kollektiven Gesetzmäßigkeiten unterliegt. In der Objektwelt treten dem Subjekt immer mehr selbsterzeugte Konstrukte entgegen, die in die Genealogie der in die Sprachspiele zerstreuten Formen des fragmentierten Subjekts verwickelt sind, die Trennung von Subjekt und Objekt unterlaufen und die Bewegung des transsubjektiven Differenzierungsgeschehens fortführen. Denn das Denken bleibt davon nicht unberührt, es wird „eingebunden über das Was des Gedachten in eine dichte Erfahrungswelt voller heteronomer Bestimmungen" 211 . Dies gilt um so mehr für die Entwicklung zur Informationsge204 Trilling, (Fn. 90), S. 151; S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: S. Freud, Studienausgabe, 3. Aufl., Frankfurt 1979, S. 192 ff. 205 Rorty, (Fn. 65), S. 155. 206 Th. Lipowatz, Die Verleugnung des Politischen. Die Ethik des Symbolischen bei Lacan, Weinheim / Berlin 1986, S. 18. 207 Lipowatz, (Fn. 206), S. 116, 132, 45. 208 Lipowatz, (Fn. 206), S. 13. 209 Trilling, (Fn. 90), S. 47. 210 A. Touraine, From Exchange to Communication: The Birth of Programmed Society, in: Sh. Aida (Hg.), The Humane Use of Human Ideas, Oxford 1983, S. 115 ff.

IV. Die Dezentrierung des Subjekts

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sellschaft, die sich weitgehend über Informationen und weniger über materielle Ressourcen reproduziert 212 . Deren Konnektivität löst endgültig alle Illusionen der Möglichkeit einer einheitlichen Subjektform ab, von der aus jeder „dasselbe Denken" der Vernunft vollziehen könnte, und läßt an seine Stelle die Bildung von variablen Beobachtungspunkten innerhalb multipler sich aggregierender und wiederauflösender Handlungsfelder treten 213 . Das Einrücken des Individuums oder der Intersubjektivität der Verständigung in die freigewordene Stelle des Subjekts und das darauf aufbauende illusionäre Projekt der Verwirklichung einer mit sich selbst identischen Gesellschaft muß auf das transsubjektive „Differenzierungsgeschehen" zurückbezogen werden und setzt sich dann dem Verdacht aus, daß es hier um die Kompensation einer narzißtischen Kränkung durch imaginäre Aufhebung der Abhängigkeit von einer nicht-identitären vorgängigen symbolischen Ordnung geht, die auf die Negation der Spaltung des Subjekts hinausläuft 214 . Der Versuch der Aufhebung der Spaltung des Subjekts und der sich ihm nach dem Zerbrechen des Verweisungszusammenhangs mit der Vernunft entfremdenden Objektivität der Gesellschaft ist deshalb problematisch, weil diese Spaltung das Subjekt selbst konstituiert und der Wille zur Aneignung des Heteronomen auf die Illusion einer möglichen Identität des Subjekts zurückgeht 215 . Hier läßt sich wiederum ein Bogen schlagen zum Verhältnis des Besonderen zum System der Verknüpfungen in der universellen Vernunft des klassischen Subjekts: Daraus, daß dieses aus einem hierarchischen Über-Unterordnungsverhältnis überführt worden ist in den Prozeß der Vervielfältigung von Sprachspielen, ergibt sich nicht, daß die Trennung von symbolischen Differenzen, Sprachspielen und dezentrierter zerstreuter Subjektivität nunmehr insgesamt aufgehoben werden könnte. Die „neuzeitliche Subjektivität" hat auf eine nicht hintergehbare Weise ihre Gewißheit eingebüßt, sie ist gezeichnet von der „Unbestimmtheit" der Unruhe im Rahmen eines offenen Horizonts, der durch Formationen des Ich strukturiert wird", die auf keinen „stabilen Kern" mehr zu beziehen sind 216 . Die Vielzahl und Vielfalt der Sprachspiele hat sich der einen universellen Vernunft entzogen und ihre auf Kontingenzen beruhenden Binnenrationalitäten lassen sich nicht mehr auf eine grundlegende Form zurückführen. Wenn man dies akzeptiert, muß man auch die Heterogenität der unterschiedlichen Funktionen der über unterschiedliche Sprachspiele zerstreuten Subjektivität in Anschlag bringen. Der Rekurs auf die Identität der vielen Individuen als Substitute des homoge211 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 64. 212 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 16; Vattimo, (Fn. 91), S. 94. 213 Meyer-Drawe, (Fn. 91), S. 18; Vattimo, (Fn. 91), S. 108. 214 Ch. Lasch, The Minimal Seif, New York/London 1984, S. 258; ähnlich in einer anderen Terminologie auch schon G. Simmel, Philosophische Kultur, 2. Aufl., Berlin 1986. 215 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 134. 216 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 151.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

nen Subjekts ist gerade wegen seines an das Bedürfnis nach Übereinstimmung mit sich selbst anknüpfenden „realistischen" Ansatzes alles andere als problemlos 2 1 7 . Die Kompetenz des Subjekts zur Setzung von Regeln verliert angesichts ihrer Verwobenheit mit dem Regelgebrauch ihren Sinn, und die Entstehung und Abstimmung von Erwartungen in Sprachspielen kann nicht Gegenstand einer vorgängigen Regelkenntnis sein 218 . Subjektivität kann aber nicht unabhängig von ihrer „Binnenstruktur" bestimmt werden. Das Subjekt der Erkenntnis wird abgelöst von Operationen des Beobachtens innerhalb von differentiellen, über eine Kombinatorik von Informationen zerstreuten Wissensfeldern. Das Selbst des Denkens, das mit jeder Vorstellung zwangsläufig verbunden ist, hat sowenig ein Zentrum wie das Gehirn 219 . Mit Rorty könnte man formulieren, daß dieses Selbst aus einem Netzwerk von Erwartungen und Wünschen besteht, und diese nicht nur hat. Es ist ein Bündel von Anschlußmöglichkeiten, die sich aus früheren Zügen in Sprachspielen sedimentiert haben, aber nicht synthetisiert werden. Gerade die an der Fähigkeit der Individuen zur Verarbeitung von Handlungswissen und zur Bildung eines Gedächtnisses orientierten Untersuchungen menschlicher Rationalität zeigen denn auch einen charakteristischen und notwendigen Mangel an Integration des Verhaltens, der die Koexistenz von rationalen Segmenten des kognitiven Systems mit irrationalen zuläßt. Bis zu einem gewissen Grade scheint die charakteristische Mischung von logisch-deduktivem Denken und Suchstrategien nur durch Lockerung der Konsistenzanforderung möglich zu sein 220 . Nur durch eine gewisse Kompartementalisierung des Verhaltens, also einer gewissen Abschottung verschiedener Erwartungen gegeneinander, scheint eine pragmatische Gedächtnisbildung überhaupt möglich zu sein: Wenn alle Assoziationsmöglichkeiten, die mit einer Vorstellung zu verknüpfen sind, gleich wahrscheinlich benötigt und dementsprechend gespeichert würden, wäre eine Spezialisierung des Lernens so gut wie unmöglich. Extreme dafür sind etwa die autoritäre Persönlichkeit, für die alles Wissen strikt in bestimmten Assoziationsbahnen für voneinander getrennte Sprachspiele gespeichert ist, und auf der anderen Seite die Paradoxie des negativen Moralisten, für den nur das reine Verbrechen die Verstrickung in die Unmenschlichkeit verhindern kann („der Kampf auf verlorenem Posten" 221 — ein linkes wie rechtes Motiv), da jede Beteiligung an 217 Die Kompetenz eines einzelnen oder einheitlichen Subjekts der Setzung oder Befolgung von Regeln verliert angesichts dieser Verwobenheit mit dem Gebrauch in multiplen Sprachspielen ihren Sinn; vgl. auch Wetzel, (Fn. 21), S. 232, der von der „Kompetenz-Kompetenz" des Regel befolgenden Subjekts bei Kant (in Gestalt der Fähigkeit zur selbstkritischen Beurteilung) und dem „Konsens-Konsens" der Regel befolgenden Akteure bei Wittgenstein spricht. 218 Lyotard, (Fn. 41), S. 22. 219 Rorty, (Fn. 65), S. 292. 220 Ch. Cherniak, Minimal Rationality, Cambridge / Mass. 1986, S. 67. 221 Vgl. allgemein zum Motiv der Katastrophe in der deutschen Kultur K. Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988.

IV. Die Dezentrierung des Subjekts

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ausdifferenzierten Sprachspielen mit dem Schweigen zum Unrecht einhergeht. Die Akteure akzeptieren Regeln und Regelkomplexe aufgrund der dadurch zugelassenen Referenzen auf andere Möglichkeiten; das Spiel fängt nie von vorn an, seine Regeln werden nicht vereinbart. In der Perspektive einer zwangsläufig „minimalen Rationalität" sind metatheoretische Konsistenzforderungen eher zu lockern, weil die verallgemeinerte Suche nach Sicherheit und Verläßlichkeit auf die Selbstblockierung von Handlungsmöglichkeiten hinausliefe 222 . Gerade dadurch werden Probleme nicht verdrängt, sondern für Kompromißbildungen im Umgang mit der so akzeptierten Ungewißheit offengelegt. Daraus lassen sich institutionelle Sicherheitsvorkehrungen begründen, die die Durchlässigkeit unterschiedlicher Sprachspiele füreinander erhalten. Solche skeptischen Ansätze der „minimalen Rationalität", die der Idealisierung der den Akteuren möglichen öffentlichen Vernunft entgegentreten, können andererseits der Diskussion um die Funktion der Meinungsfreiheit neue Argumente zuführen, auch wenn sie zugleich allzu hochgesteckten Erwartungen an die Vernunft eines öffentlich räsonierenden Publikums den Einwand entgegenhält, daß die von bestimmten Verwendungszusammenhängen getrennte explizite Kritik notwendig bestimmte in den Netzwerken institutionalisierter Sprachspiele implizierter Wissensbestände verfehlen muß. Das getrennte kritische Reflexionswissen ist deshalb ein anderes, aber nicht das sich gegenüber der in bestimmten Sprachspielen implizierten „kompartementalisierten" Erfahrung als das bessere ausweisende Wissen. Rationalität ist vor allem lokal, sie ist stark in der „Nachbarschaft" erprobter Wahrscheinlichkeitsannahmen, aber schwach wo mehrere Werte, Glaubensvorstellungen, unterschiedliche Kontexte oder Sprachspiele unter Ungewißheitsbedingungen aufeinander bezogen werden müssen. Erst recht erscheint es unmöglich, ganze Komplexe von Werten und Glaubensvorstellungen von Individuen, Gruppen oder Gesellschaften auf ihre Konsistenz zu prüfen 223 . Gerade unter dem Gesichtspunkt der kognitiven Beschränkung der Rationalität menschlichen Handelns, das nicht mehr auf universelle Gesetze und Verknüpfungsregeln zurückgreifen kann, legt sich ein Verzicht auf metatheoretische Konsistenzforderungen als eines Residuums der universellen Vernunft „des selben Denkens" nahe. Auch hier zeigt sich, daß die relative Autonomie gesetzter Regeln nicht die Autonomie des Subjekts als einer Art Gesetzgeber tragen kann 224 . Der Pluralisierung und Heterogenität der Sprachspiele korrespondiert die Unmöglichkeit der Verfügung über die situativen besonderen Spielzüge durch die Intention des als einheitlich gedachten sprechenden Subjekts 225 . Das klassische Subjekt der Verknüpfungen muß seinerseits als eingeschrieben in das Spiel der Differenzen gedacht werden, es wird seinerseits dekonstruiert im Prozeß der anonymen 222 223 224 225

Cherniak, (Fn. 220), S. 90. Cherniak, (Fn. 220), S. 90. Descombes, (Fn. 138), S. 165. Kurthen, (Fn. 172), S. 54, 67, 71.

4 Ladeur

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

Verknüpfungen, die nicht mehr in einem „ich denke" zusammengeführt werden. Damit wird natürlich das Identitätserlebnis der empirischen Individuen und seine Bedeutung nicht geleugnet, im Gegenteil, entscheidend für eine in rechts- und verfassungstheoretischer Absicht zu entwickelnde Konzeption einer „lateralen Vernunft" ist gerade das Insistieren auf der Vielfalt der in den Netzwerken der Sprachspiele entstehenden Individualitäten, die sich weder als einzelne noch als Gesamtheit durch Setzung eines idealen autonomen Bezugspunkts oder durch ein Verfahren des Argumentierens vom Stoff der Geschichte(n), den Spuren der Institutionen, den Anschlußzwängen des Schon-Gesagten, den Inkonsistenzen der Binnenrationalitäten befreien können 226 . Das Kantsche autonome Subjekt basiert hier ebenso wie das Subjekt des Gesellschaftsvertrages bei Rousseau auf Anleihen an eine extra-mundane Identität, des Heiligen 227 . Aber diese Identität kann nicht von einem seiner Transzendenz gänzlich entkleideten Subjekt (oder der Kommunikationsgemeinschaft der Subjekte) durch die reale Aufhebung der Pluralität der Sprachspiele oder ihre Ablösung durch eine vernünftige Vereinbarung zwischen den Subjekten in eine intramundane verwandelt werden. Die Zulassung einer Vielfalt von Diskursen und Dissensen allein kann noch nicht als Anerkennung der unaufhebbaren NichtIdentität des Kollektiven gelten: Solange das autonome Subjekt oder die intersubjektive Kommunikation als Zentrum der Vermittlung von Pluralität erhalten bleibt, ist damit deren Auflösung durch Explikation im und,»Legitimation" durch den Meta-Diskurs intendiert 228 , der zu einer Aufhebung der Grenzen zwischen den Sprachspielen führen muß. Das über ein Gewebe von Anschlußmöglichkeiten und -zwängen innerhalb und zwischen Sprachspielen verstreute Wissen ist einem autonom gesetzten Subjekt oder der prozedural argumentierenden Subjektivität insgesamt nicht mehr zugänglich, weil es gar keine zentrale Stelle mehr zuläßt, von der aus es verfügbar wäre 229 . Und in der Verfassungstheorie läßt sich auch zeigen, daß eine alles der expliziten Verfügung unterwerfende Demokratie, die sich keine Grenzen setzte, und zwar nicht nur gegenüber den Individuen, sondern gegenüber unterschiedlichen, nach verschiedenen Regeln funktionierenden Teilsystemen und ihren ausdifferenzierten, ihre eigenen Richtigkeitskriterien prozessierenden Sprachspielen, zwangsläufig totalitär wäre 230 . Es wird sich zeigen, daß eine auf Differenz (und nicht Identität) basierende Rechts- und Verfassungstheorie auch die internen Umwelten der einzelnen Teilsysteme und die der beobachtenden Subjekte als heterogen und nicht integrierbar begreifen muß.

226 Descombes, (Fn. 35), S. 127, 129. 227 Descombes, (Fn. 97), S. 672. 228 Cutrofello, (Fn. 195). 229 Vgl. auch P. Livet, Les exigences de la communication, Critique 1986, S. 962 ff. 230 Descombes, (Fn. 138), S. 161.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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V. Zur verfassungstheoretischen Relevanz der Theorie der intersubjektiven kommunikativen Rationalität 1. Intersubjektivität

und die kollektiven

Grenzen der Kommunikation

In der intersubjektiven kommunikativen Vernunft und den daran anschließenden rechts- und verfassungstheoretischen Konzeptionen, vor allem in diesen 231 , zeigt sich, daß unter der Form eines auf der reziproken Anerkennung und intersubjektiven Verständigung basierenden Verfahrens im Vorgriff auf ein homogenes „Universum einer gemeinsamen Lebensform" 232 das Projekt einer Auflösung der Eigenständigkeit des Kollektiven in einer Vereinbarung der Individuen unternommen wird. Sie versucht den Zerfall der Einheit von Subjekt und Vernunft, der Synthesis des Besonderen im Allgemeinen als einer Leistung des Subjekts, durch eine Meta-Theorie des Lernens zu überbieten. Das „Paradigma der Erkenntnis von Gegenständen" wird danach durch das Paradigma der „Verständigung zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten abgelöst". Das Problem der „objektivierenden Einstellung" 233 der klassischen Subjektphilosophie und der mit ihr verbundenen universalistischen Vernunftkonzeption kann aber nicht dadurch gelöst werden, daß nunmehr das Verhältnis des erkennenden Subjekts zu sich selbst und zur Wirklichkeit in eine Verdoppelung des Selbst transformiert wird. Das Subjekt verhält sich nicht mehr als Selbstbewußtsein zur Welt, sondern die Subjekte verständigen sich in „performativer Einstellung von Interaktionsteilnehmern, die ihre Handlungspläne koordinieren, . . . über etwas in der Welt". Da aber Alter nichts anderes ist als Ego, ist zunächst nicht recht erkennbar, wie ein Verhältnis zu „etwas" überhaupt ohne die Unterstellung eines Ausgangspunktes thematisiert werden kann. Diesen Platz nimmt auf eine wenig geklärte Weise die „Lebenswelt" ein, die „Kontext" und „Ressourcen" für die Verständigungsprozesse liefert 234 . „Die Lebenswelt bildet einen Horizont und bietet zugleich einen Vorrat an kulturellen Selbstverständlichkeiten, denen die Kommunikationsteilnehmer bei ihren Interpretationsanstrengungen konsentierte Deutungsmuster entnehmen". Die Interaktionsteilnehmer erscheinen selbst als „Produkte" (H. i. O.) der Überlieferungen, in denen sie stehen, der solidarischen Gruppen, denen sie angehören, und der Sozialisationsprozesse, in denen sie heranwachsen". Das Moment der Vernunft hat sich übertragen auf den Prozeß der Umwandlung des impliziten „lebensweltlichen Hintergrundwissens" in die „Anerkennung" von expliziten Geltungsansprüchen 235. Den Verdacht der Wiedereinführung einer 231 Rödel u. a., (Fn. 6); Preuß, (Fn. 6); vgl. auch K. Günther, Der Sinn für Angemessenheit, Frankfurt 1989. 232 j. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, S. 377. 233 Habermas, (Fn. 232), S. 345 f. 234 Habermas, (Fn. 233), S. 348; vgl. Zum Konzept der Lebenswelt Matthiesen, (Fn. 120); Geimann, (Fn. 123), S. 63, 72. 235 Habermas, (Fn. 232), S. 349, 375. 4*

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

idealisierten Vernunft weist Habermas mit dem Hinweis darauf zurück, daß Vernunft von vornherein eine sprachliche sei, die „von Haus aus in Zusammenhängen kommunikativen Handelns wie in Strukturen der Lebenswelt" inkarniert sei. Denn mit dem „Eintritt in eine Argumentation" ist das „Gegenüber von Proponenten und Opponenten" verbunden. In dieser Konstellation können „die Teilnehmer nicht umhin, wechselseitig die hinreichende Erfüllung von Bedingungen einer idealen Sprechsituation zu unterstellen", auch wenn faktisch nur „verunreinigtes" Reden möglich ist. Den Anschluß an die klassische Subjektphilosophie stellt Habermas selbst explizit her, indem er in den Ressourcen der Lebenswelt ein Äquivalent für das sieht, „was die Subjektphilosophie als Leistungen der Synthesis dem Bewußtsein überhaupt zugeschrieben hat": „Insoweit treten an die Stelle der Einheitsstiftungen transzendentaler Bewußtseinskontrolle Lebensformen" (H. i. O.) 2 3 6 . Das äußerst vage bleibende Lebensweltkonzept erweist sich letztlich als eine Vor-Struktur, die diesen Status von der eigentlichen Struktur der idealen Kommunikationsgemeinschaft erhält. Durch sprachliche Vermittlung läßt sich das VorVerstandene, der „Naturwuchs", über die Testverfahren der kommunikativen Rationalität in eine explizite Verständigung überführen. Allerdings wird gerade durch die Annahme der „Hintergründigkeit einer vorkritischen Lebens weit" 2 3 7 ein Schatten auch auf die Zuverlässigkeit der situationsübergreifenden Kriterien einer Prüfung der ΒindungsWirkung von Geltungsansprüchen geworfen. Wenn die intersubjektive Verständigung aber nur an einen Gebrauch gebunden bleibt, der nicht gleichzeitig thematisiert werden kann 238 , „dann ist es ganz ausgeschlossen, daß eine . . . Diskurstheorie oder Kommunikationsgemeinschaftstheorie gleichsam sich selbst einholen kann". Es zeigt sich, daß die Auflösung der Setzungsfunktion des identitären Subjekts, das die Einheit der universellen Vernunft als „dasselbe Denken" im bleibenden Ich ermöglicht, und ihre Substitution durch ein intersubjektives Verfahren dazu führen muß, daß die genetische und die kritische Perspektive miteinander verbunden werden. Ein ähnliches Problem läßt sich darin beobachten, daß die Andersheit des Alter Ego, die für die Philosophie, (des-)selben Subjekts, dessen Stelle jeder einnehmen kann, kein Problem war, nun zur Aporie der Notwendigkeit der Übereinstimmung der Subjekte in der Darstellung ihrer wechselseitigen Beziehung führt 239 . Kein Ego kann entscheiden, ob die Intention der Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit von Alter erfüllt werden. Dies ist eine konstitutive Grenze, deren Problematik nicht durch die Vorgabe eines Näherungswertes, der anzustreben, aber nicht zu erreichen ist 2 4 0 , überwunden werden kann. 236 Habermas, (Fn. 232), S. 374, 376, 379. 237 Matthiesen, (Fn. 120), S. 95. 238 Wetzel, (Fn. 21), S. 237. 239 Wetzel, (Fn. 21), S. 238. 240 p. Livet, Conventions et limitations de la communication, in: Hermès. Cognition — Communication — Politique 1 (1988), S. 121 ff., 134.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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Hinter dieser Vorgabe der Notwendigkeit der Annäherung an ein nicht zu erreichendes Ideal verbirgt sich ein grundlegendes Problem, nämlich die Negation einer eigenständigen kollektiven Ebene der Regelbildung und Regelanwendung 241 , deren Bindung mit den nicht-hintergehbaren Grenzen der intersubjektiven Kommunikation zusammenhängt. So läuft ζ. B. der Verzicht auf die Erhebung universalisierbarer Geltungsansprüche nicht von vornherein auf einen relativistischen Zirkel hinaus, da man jedenfalls den Verzicht als universalisierbar behaupten müsse. Dieser Verzicht führt nur zur Unentscheidbarkeit 242, wenn man für einen Diskurs zwar Geltung beansprucht, aber zugleich die wechselseitige Beurteilung begrenzt 243 . Eine solche „partikularistische Urteilssuspension" kann sich auf „einzelne Überzeugungen im Horizont anderer als gemeinsam unterstellter beziehen", ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten. Letztlich behauptet sie damit nur die Notwendigkeit des Rekurses auf eine „situative Erfahrung" 244 , die einer prinzipiellen Universalisierung Grenzen setze. Diese Grenzen der Kommunikation, die nicht auf bloße „Verunreinigungen" durch „Meßungenauigkeiten" des Verfahrens der kommunikativen Rationalität zurückzuführen sind, treten allenthalben auf. Auch bei der Prüfung der Wahrhaftigkeit des Diskurses ist für uns selbst nicht durchschaubar, ob und wieweit wir dabei von unserer Reaktion auf einen entsprechenden Zweifel, den wir anderen unterstellen, unabhängig sind 245 . Diese Unentscheidbarkeiten führen zu Paradoxien, die nur durch die Einführung einer kollektiven Ebene, wenn auch nicht aufgelöst, so doch operationalisierbar und damit „aushaltbar" werden: Die Institutionen begrenzen die Blockaden, die durch den unausweichlichen infiniten Regreß auf den Meta-Diskurs über Unentscheidbarkeit entsteht. Die Funktion der Geschlossenheit des Rechtssystems besteht insbesondere darin, seine eigenen Voraussetzungen (Meta-Ebene) als demselben Objektniveau der Entscheidung zugehörig zu behandeln und damit Unentscheidbarkeit entscheidbar zu machen: Damit wird nicht nur ein reduzierter „Näherungswert" der Verständigung angestrebt, sondern hier tritt ein emergenter kollektiver Effekt in Erscheinung, der dazu führt, daß unsere „spiegelhaften" und damit vom infiniten Regreß bedrohten Individualkommunikationen in eine Darstellungsform transponiert werden, die wir zugleich in unsere Kommunikation übernehmen und auf die wir unsere Erwartungen einstellen können und müssen. Das Recht fungiert als das symbolische Dritte, das nicht selbst Gegenstand einer 241 P. Livet, Essai d'une typologie des règles et des normes, Ms. 1989, S. 4; vgl. auch ders., L'analyse des règles et ses enjeux philosophiques, Cahiers du CREA 11 (1988), S. 53 ff. 242 Ch. Menke-Eggers, Relativismus und Partikularisierung. Zu einigen Überlegungen bei R. Rorty, PhilR 1989, S. 25 ff., 30; Livet, (Fn. 240), S. 132 243 Menke-Eggers, (Fn. 242), S. 30. 244 Die situativ „angemessene" Spezifizierung des Rechts bei K. Günther, (Fn. 231), bleibt noch sehr stark an den Setzungscharakter des Rechts gebunden. 245 Livet, (Fn. 240), S. 133; ders., (Fn. 229).

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

(Meta-)Übereinkunft zwischen den Individuen sein kann; es ist ein emergenter kollektiver Effekt, der weder Produkt des Willens der Beteiligten ist, noch aber von ihrem Willen ganz unabhängig ist. Hier begegnet uns wieder das Paradigma des „Gesellschaftsvertrages", der vor seinem Gegenstand den Vertragspartner als seinen Urheber zu konstituieren hatte und deshalb auf die Natur als MetaEbene der Konstitution zurückgriff, das Problem aber damit nur verschob 246 . Das Symbolische ist weder das Ursprüngliche, noch ist es aus den Beziehungen der Individuen bloß abgeleitet, es ist vielmehr ein emergenter Systemeffekt 247, der autonom ist, ohne etwas anderes als ein überschießender Effekt der Verschleifung individueller Aktion und Reaktion zu sein. Die verschiedenen Unentscheidbarkeiten der einander blockierenden Kommunikationen und Ansprüche werden an eine Geschichte von Entscheidungen verwiesen, die Anschlußmöglichkeiten für die Auflösung von Blockaden eröffnen, aber nicht etwa im nachhinein eine Bereitstellung oder einen Beweis nach den Kriterien der kommunikativen Rationalität zulassen, weil die Entscheidung selbst in die Erwartungen übernommen werden muß und diese damit verändert. Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, Wahrheit werden teils neu kodiert und durch das „Dritte" der Rechtsordnung und der Rechtsentscheidung definiert oder sie werden abgelöst durch eigenständige Kriterien, die den infiniten Regreß der Erwartungen, der Erwartungen des Erwartens etc. beenden. Die Bindung an gesetzte Normen und Entscheidungen leitet sich gerade aus ihrem kollektiv-institutionalisierten Charakter ab, der auf duale Beziehungen zwischen Interaktionspartnem nicht reduzierbar ist. Die Institution des „Dritten" erschöpft sich nicht in der pragmatischen Vermittlung bei Verständigungsproblemen, sie erzeugt eine Bindung, deren Ermöglichung über die duale Relation zweier Subjekte auf grundsätzliche Schwierigkeiten stößt, da in das Entscheiden unter Unentscheidbarkeitsbedingungen immer die Interpretation eines kollektiven, die Intentionen der Beteiligten überschießenden Effekts eingeht. Die Regel, die symbolische Ordnung stellt etwas dar, was die einzelnen im Angesicht von Unentscheidbarkeit durch Einhalten von Verfahrensregeln nicht zum Ausdruck bringen können. Der Dritte kann entscheiden gerade, weil er nicht alle Elemente des Kommunikationsproblems zwischen Alter und Ego kennt und kennen muß, indem er den Streit nach kollektiv-institutionalisierten Normen entscheidet, die auf der Grundlage der kognitiven Grenze der Kommunikation eine eigenständige Ebene bilden 248 .

246 Vgl. L. Althusser, Montesquieu. La politique et l'histoire, 4. Aufl., Paris 1974. 247 J. p. Dupuy, La pensée systémique, Mag. litt. 218 (1985), S. 28 ff., 31. 248 Livet, (Fn. 242), L'Analyse..., S. 65; vgl. auch R. Boyer / A. Orléan, Les transformations des conventions salariales entre théorie et histoire, Rev. Econ. 1991, S. 233 ff.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

2. „ Volkssouveränität

als Verfahren

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"

In Habermas* neuen Äußerungen zur politischen Seite der Diskursethik, insbesondere zum Verständnis von „Volkssouveränität als Verfahren" 249 , zeigt sich, daß die Intersubjektivität der politischen Kommunikation nicht einfach auf die Ablösung der Subjekte durch Prozeduralisierung hinausläuft. „Die Idee der Volkssouveränität wird . . . entsubstantialisiert", aber dadurch verliert sie auch jede Kontur. Der klassischen Vorstellung der Volkssouveränität lag trotz Rousseaus Annahme, daß die „volonté de tous" nicht notwendig mit der „volonté générale" identisch sein müsse, die Vorstellung zugrunde, daß sie sich im Parlament, in Volksabstimmungen oder (in der amerikanischen gesellschaftsbestimmten Lesart) auch in den gesellschaftlichen Gruppen, jedenfalls in einer Versammlung von Personen aktualisieren müsse. Ihre prozedurale Komponente hatte immer auch die Funktion, eine Entscheidung zwischen Mehrheit und Minderheit zu ermöglichen und damit die Differenz von Meinung und Entscheidung zu institutionalisieren. Demgegenüber ist die von Habermas postulierte „zerstreute Souveränität" nicht an die (zählbaren) Stimmen „assoziierter Mitglieder" gebunden, sie hat sich zu „subjektlosen Kommunikationsformen" transzendiert, „die den Fluß der diskursiven Meinungs- und Willensbildung so regulieren, daß ihre falliblen Ergebnisse die Vermutung praktischer Vernunft für sich haben". Sie kann zwar an der Materialisierung „in den Beschlüssen der demokratisch verfaßten Institutionen der Meinungs- und Willensbildung" nicht vorbeigehen, „weil die Verantwortung für Beschlüsse eine klare institutionelle Zurechnung verlangt", aber sie, die „kommunikativ verflüssigte Souveränität", „bewirtschaftet den Pool von Gründen, mit denen die administrative Macht zwar instrumenteil umgehen kann, ohne sie aber, rechtlich verfaßt wie sie ist, ignorieren zu dürfen" 250 . Die intersubjektive Diskursethik soll darauf hinauslaufen, daß die „moralische Substanz der Selbstgesetzgebung, die bei Rousseau kompakt zu einem einzigen Akt zusammengezogen war, über viele Stufen des prozeduralisierten Meinungsund Willensbildungsprozesses auseinandergezogen werden und nur noch in kleiner Münze erhoben werden" kann. Das bedeutet, daß in dem Akt der Gründung des Ganzen der Gesellschaft im kleinen, in einem (Ver-)Sprechen, beim Wort nimmt und in einem Prozeß des Begründens überführen will. Die politischen Lesarten der kommunikativen Rationalität legen die Entwicklung der Verfassungen seit der Französischen Revolution auf ein sehr vereinfachtes teleologisches Modell einer „die Theorie bloß verwirklichenden Praxis" fest, die die „fortschreitende Institutionalisierung von Verfahren vernünftiger kollektiver Willensbildung" als „eine sublime Art von Produktionsvorgang" begriffen habe. Im Hinblick auf die bürgerlich-liberale Tradition ist dies eine kaum akzeptable Vereinfachung; ihr Verfassungsverständnis basiert eher auf einem an allgemeinen 249 j. Habermas, Volkssouveränität als Verfahren, Merkur 484 (1989), S. 465 ff. 250 Habermas, (Fn. 249), S. 474 f.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

Handlungsregeln orientierten linearen Gleichgewichtsmodell, das nicht auf den staatlich-kollektiven Vollzug von Zwecken („Produktion") reduzierbar ist. In Habermas' Zuspitzung liegt eine entscheidende Akzentverlagerung, mit der dann auch die Prozeduralisierung als davon abzusetzende Alternative auf eine kommunikativ-rationale Lesart festgelegt wird. Es ist zwar richtig, daß auch die Verfassung „ihr Statisches" verloren hat und „ihre Interpretationen . . . im Ruß" sind 251 . Aber dies hat damit zu tun, daß die gesellschaftliche Rationalität in zunehmendem Maße von situativ-lateralen S inn Verweisungen zwischen gesellschaftlichen Relationen und Relationsnetzwerken geprägt wird und nicht von allgemeinen Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Daraus entsteht das Problem der heterogenen Generierung von Ordnung aus Unordnung, eine Entwicklung, die — wie gezeigt — Subjekt wie Objekt der Selbstbestimmung dezentriert. Diese Veränderung, auf die unten noch einzugehen sein wird, fordert sicher auch Überlegungen zur Entwicklung einer prozeduralen selbstreferentiellen Rationalität. Aber es ist nicht sinnvoll, als „einzigen Inhalt des Projekts", zu dem der demokratische Rechtsstaat nach Habermas geworden ist, „die schrittweise verbesserte Institutionalisierung von Verfahren vernünftiger kollektiver Willensbildung" zu fordern, „welche die konkreten Ziele der Beteiligten nicht präjudizieren können". Damit wird die Abhängigkeit der Gründung der Gesellschaft von einem transsubjektiven Differenzierungsgeschehen und die Unvermeidbarkeit der Erzeugung nicht-intendierter emergenter Effekte im Prozeß ihrer Selbstmodifikation ignoriert. Aber wie sollen sich „autonome Öffentlichkeiten . . . um freie Assoziationen" in einer Gesellschaft bilden können, deren traditionelle Wahrscheinlichkeitsannahmen und Konsense aufgelöst sind? Hinter dem Verfahrensgedanken verbirgt sich letztlich nur ein unzulänglicher Münchhausen'scher Griff nach dem eigenen Zopf, der aber nur von einer Meta-Ebene aus gelingen kann. Wenn der Vorrat an gemeinsamen Zielen erschöpft ist, soll ein Verfahren der vernünftigen Kommunikation für Erneuerung sorgen. Aber nicht einmal über die Vernunft dieses vernünftigen Verfahrens ist Konsens zu erzielen, deshalb dürften sich auch die einzelnen Diskurse über Ziele in einer Dauerschleife mit dem Meta-Diskurs über das Verfahren selbst verknoten. Wenn Habermas fordert, „mit jedem zentralen Beitrag" müsse „der öffentliche Diskurs zugleich den Sinn einer unverzerrten politischen Öffentlichkeit überhaupt und das Ziel demokratischer Willensbildung selbst präsent halten", so läuft dies auf eine problematische Überforderung der „Selbstbezüglichkeit" politischer Öffentlichkeit hinaus, die letztlich der institutionellen Unterbestimmtheit seiner Konzeption geschuldet ist. Gerade die institutionelle Differenzierung von Meinungs- und Entscheidungsbildungsprozessen öffnet sich für wirklich oder nur scheinbar „unvernünftige" Meinungen, da nicht jedem „zentralen Beitrag" ein überschießender Stabilisierungseffekt für die öffentliche Meinung abverlangt werden muß.

2

Habermas, (Fn. 249), S. 4 7 .

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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Der Zustand, der zur Notwendigkeit einer gesteigerten Selbstbeobachtungsund Selbstbeschreibungsfähigkeit der Gesellschaft geführt hat, ist ein historisches evolutionäres Ergebnis, das nicht — mit Habermas — dahin interpretiert werden kann, daß wir nun „der intersubjektiven Konstituierung der Freiheit gewahr werden". Im Gegenteil, wir sehen uns als Experimentatoren in und mit anonymen Relationen, deren „laterale" Vernunft in den differentiellen Sinnverweisungen zwischen Anschlußzwängen und -möglichkeiten besteht, die uns aber auch nicht durch Verfahren der rationalen Argumentation insgesamt zugänglich sind, weil die Heterogenität der Sprachspiele durch Prozeduralisierungen nicht überwunden werden kann. Habermas' „kulturalistisches Verständnis von Verfassungsdynamik" suggeriert nicht, wie er tentativ und selbst-prüfend erwägt, die Verlagerung der „Souveränität des Volkes in die kulturelle Dynamik meinungsbildender Avantgarden". Keineswegs! Sie signalisiert eher den Rückzug der Intellektuellen aus der theoretischen Analyse und Beschreibung von Verfassung und Politik in die leere Selbstreferenz des moralischen Protests. Die Inanspruchnahme einer „Belagerungsfunktion" (!) zugunsten einer „breiten und aktiven, zugleich zerstreuenden Partizipation" 252 (H. i. O.) auf dem Hintergrund einer „auf ganzer Breite intellektuell gewordenen politischen Kultur" (H. i. O.) ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Formulierung einer Theorie der Institutionen oder gar einer Theorie des Systems im System — Belagerer wissen nicht, was sich in der belagerten Festung abspielt — und indiziert zugleich hintergründig eine für die intellektuelle Linke in der Bundesrepublik charakteristische Hoffnung, daß der mit dem vernünftigen Diskurs verbundene zeitliche Aufschub von Entscheidungen schon einen Gewinn bedeutet. Wenn der Fortschritt im wörtlichen Sinne zur Bedrohung geworden ist, kann das Diskutieren als Nicht-Fortschritt schon als ein Vorzug erscheinen. Überdies — und hier realisiert sich eine von Habermas bloß theoretisch erörterte Gefahr — hat natürlich die Verflüchtigung der Volkssouveränität in den „subjektlosen Kommunikationsformen" den Vorteil, daß die prozedural generierte praktische Vernunft sich über Mehrheiten weitaus weniger Gedanken machen muß: Wer schlecht argumentiert, kann Anspruch auf Nacherziehung, nicht aber auf Beteiligung an der Volkssouveränität erheben. Hier deutet sich die auch in der jüngsten politischen Geschichte der Bundesrepublik zu beobachtende Gefahr an, daß das für die Demokratie unbestreitbar essentielle Moment der Deliberation durch eine auf die Prüfung der Qualität der Argumente und nicht das Generieren von Alternativen festgelegte Prozeduralisierung in eine neue Substantialisierung umschlägt, die die lockere Kopplung verschiedener Elemente des demokratischen Prozesses, Freiheit der Wissenschaft, der Kunst, der politischen Meinung, Rechte der Mehrheit, Schutz von Minderheiten etc. durch die Überschätzung der Möglichkeiten diskursiver Rationalität überspielt. Die hier kritisierte Variante der prozeduralen Vernunft verkennt, daß das Ende der linearen Gleichgewichtsmodelle auch das Ende der Verläßlichkeit von Erfah252 Habermas, (Fn. 249), S. 474, 476 f.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

rungen und des Nachdenkens über sie bedeutet. Wissen wird selbst erst zum Gegenstand eines experimentellen generativen Verfahrens der Modellbildung, des Mitlaufenlassens von Reserveoperationen. Lernen ist dann nicht als Perfektibilität der Individuen durch kulturelle Bildung konzipierbar, sondern nur als selbstreferentielles projektives paradoxes Denken mit dem ungewissen Künftigen, dem Erwarten des Unerwartbaren durch das Bereithalten und Erzeugen von mehr Möglichkeiten. Die aufgrund des beschleunigten Wandels gesteigerte Ungewißheit der Zukunft hat auch die Möglichkeit der „Bewirtschaftung" eines „Pools von Gründen" durch „autonome Öffentlichkeit" in Frage gestellt, da auch eine „auf ganzer Breite intellektuell gewordene Kultur" keine bessere Kenntnis der im Modus der Möglichkeit konstruierten Zukunft verspricht. Die Entwertung des gegenwärtigen Wissens 253 kann nur durch die Entwicklung von Konzeptionen verarbeitet werden, die das Generieren unseres Wissens durch das Entscheiden unter Ungewißheitsbedingungen in Rechnung stellen. Solche Entscheidungen operieren produktiv mit den und innerhalb von Verzweigungen der Möglichkeiten in Netzwerken, die sie selbst in Gang setzen und beobachten. Das bedeutet: Der zunehmend artifizielle Charakter einer von Selbständerung bestimmten Gesellschaft — der nicht zu dem Irrtum der Planbarkeit oder argumentativen Aufklärung der Vernunft verleiten darf — kann nur durch ein différentielles, Möglichkeiten ausschließendes und neu eröffnendes Modellieren des Denkens im Horizont von Entscheidungen erfaßt werden 254 . Daß dabei auch das Abwägen von „Gründen" eine wichtige Rolle spielt, ist selbstverständlich, aber sie bleiben gebunden an erprobte Sprachspiele einerseits und experimentelle Szenarien andererseits. Und eine kommunikative Öffentlichkeit kann nur über die Kompatibilisierung heterogener Sprachspiele institutionalisiert werden. Es ist grundsätzlich zu bestreiten, daß „freie Assoziationen" — was immer das sein mag — die „Knotenpunkte eines aus einer Verflechtung autonomer Öffentlichkeiten entstehenden Kommunikationsnetzwerkes" bilden könnten, die darauf „spezialisiert" sind, „Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu entdecken, Beiträge zu möglichen Problemlösungen beizusteuern, Werte zu interpretieren, gute Gründe zu produzieren, andere zu entwerten." Die Kritik setzt bei dem Anspruch auf „Spezialisierung" ein, dessen Kehrseite der Verdacht der Vernunftlosigkeit einer systemisch-relationalen, mit Unterscheidungen operierenden, an ausdifferenzierten Eigenwerten orientierten Logik der Selbstreferenz ist. Dem entspricht die Metapher der Belagerung", die mit der geballten Ladung vernünftiger „Gründe" Mauern der unvernünftigen Harthörigkeit zu durchbrechen hofft. Der „selbstbezügliche" Charakter des öffentlichen Diskurses, der mit seinem Gegenstand „zugleich den Sinn einer unverzerrten politischen Öffentlichkeit überhaupt" in Anschlag bringt 255 , postuliert gegenüber systemischen, institutiona253 M. Masuch, Steering Societies?, Kybernetes 1984, S. 133 ff., 137. 254 Ν. Luhmann, „Risiko auf alle Fälle", FAZ vom 2.1.1991, S. N3; vgl. auch M. Serres, Le parasite, Paris 1980, S. 258, 265. 255 Habermas, (Fn. 249), S. 474.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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lisierten Formen des Entscheidens das Monopol auf die Erzeugung der „Themen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz". Warum sollten gerade „freie Assoziationen", deren Mitglieder jedenfalls als solche, wenn nicht gar insgesamt, von professionalisierten Entscheidungspraktiken (außerhalb vielleicht der verselbständigten Lehre über solche) freigestellt sind, gerade zur „Erzeugung und Verteilung praktischer Überzeugungen" (H. v. mir — K. H. L.) besonders prädestiniert sein? Warum soll nicht umgekehrt das Operieren mit und in den Binnenrationalitäten die besseren Gründe, die praktischeren Überzeugungen etc. erzeugen können? „Fallible Ergebnisse" werden dort in weit höherer Zahl produziert, während das Meinen der „freien Assoziationen" sich unangenehmen Festlegungen im Angesicht von Zielkonflikten entziehen oder sich mit der normativen „Bewirtschaftung" von Zumutbarkeiten und Zuteilungen helfen kann. „Freie Assoziationen" assoziieren frei über das, was sein soll. Die Binnenstruktur der politisch-rechtlichen Institutionen, der gesellschaftlichen Systeme und ihrer Operationsweisen bleibt auf eine charakteristische Weise unterbestimmt: Denn „kommunikativ verflüssigte Souveränität" muß zwar in den „Beschlüssen demokratisch verfaßter Institutionen der Meinungs- und Willensbildung Gestalt annehmen", aber deren Gegenständlichkeit und die Anschlußzwänge und -möglichkeiten, die den Horizont des Entscheiders bestimmen und selbstreferentiell verändern, scheinen bar jeder „gesamtgesellschaftlichen Relevanz" zu sein. Die Bedeutung des Beschlusses, der Entscheidung, erschöpft sich offenbar darin, „Verantwortung", d. h. „eine klare institutionelle Zurechnung" zu ermöglichen — gegenüber dem Protest, der „im Modus der Belagerung" neue „Imperative einzubringen" sucht. Dies ist auch notwendig, denn für die zwar „im Rahmen der Gesetze" operierende Verwaltung, gelten dennoch eigene Kriterien der Rationalität, die nicht die der „praktischen Vernunft der Normanwendung" sondern die Kriterien der „Wirksamkeit der Implementation eines gegebenen Programms" sind 256 . Die vielfach in der Tat unumgänglichen situativen Abwägungen, Kompatibilisierungen heterogener Werte, Interessen und Erwartungen werden — gerade weil sie aus normativen Programmen nicht ableitbar sind — zum Gegenstand bloß „nachgeschobener Rationalisierungen". Als „normative Gründe" können danach nur solche akzeptiert werden, die die „gesetzten Normen rechtfertigen" 257 (H. v. mir — K. H. L.), diskursiv rechtfertigen, muß man wohl hinzufügen. Hier zeigt sich deutlich die Reduktion von Politik und Recht auf Probleme der Geltung von expliziten Regeln, die der Praxis des Handelns vorgeordnet sind. Situative Ansprüche, die sich aus der Verkettung vielfältiger heterogener Möglichkeiten ergeben und sich in der Alternative von normloser Wirksamkeit und vorgängiger normativer Rechtfertigung nicht auflösen lassen 258 , finden in diesem Modell keinen Platz. 256 Habermas, (Fn. 249), S. 475, 472. 257 Habermas, (Fn. 249), S. 473. 258 Waldenfels, (Fn. 143), S. 78.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

Die Theorie der intersubjektiven kommunikativen Vernunft knüpft insofern an die Theorie des Subjekts an, als sie die Fähigkeit zur Synthesis auf das Verfahren überträgt. „Die kommunikativ erzeugte legitime Macht" der öffentlichen Diskurse soll deshalb den „Pool von Gründen, aus denen die administrativen Entscheidungen rationalisiert werden müssen, in eigene Regie" nehmen 259 . Daß ein solches zwar nicht deduktives, aber doch auf der vorgängigen Disposition über „gute Gründe" basierendes Modell seine Grundlage selbst verloren haben könnte und der Übergang vom einheitlichen, in Regeln aktualisierbaren Willen des Volkes auf ein bewegliches Verfahren der Be- und Entwertung von Gründen unterkomplex sein könnte, wird nicht ernsthaft als Möglichkeit in Betracht gezogen: Wie aber soll eine Ordnung, die sich den allgemeinen Regeln des Rechts weitgehend entzogen und das kollektive einheitliche Subjekt aufgelöst hat, durch die intersubjektive „freie Assoziation" ohne einen Bestand von allgemeinen Regeln, nur ausgestattet durch ein selbstreferentielles Verfahren der Prüfung von „guten Gründen" abgelöst werden können? Habermas verkennt die konstitutive Bedeutung der Einheitlichkeit der im allgemeinen Gesetz, im Gesellschaftsvertrag, im Begriff der Volkssouveränität vorausgesetzten gesellschaftlichen Ordnung für das Rechts- und Verfassungsdenken der „Gesellschaft der Individuen". Das damit assoziierte Gleichgewichtsmodell reduziert er auf eine Teleologie des Fortschrittsdenkens, das sein Ziel verloren hat und das jetzt durch ein Verfahren der permanenten Prüfung „guter Gründe" für gute Ziele ersetzt werden muß. Aber Habermas bricht nicht mit der Teleologie, sondern versucht sie durch einen selbstreferentiellen Vorgriff auf eine meta-theoretische Ebene zu überbieten. Doch das Problem besteht nicht im Zerfall des Zieles — ob die bürgerliche Verfassung je in diesem Sinne teleologisch war, ist schon äußerst zweifelhaft, soll aber hier offenbleiben —, sondern im Zerfall der Einheit und Selbststabilisierungsfähigkeit der Ordnung. Wie aber normative „gute Gründe" finden, wenn — außerhalb einer diffus bleibenden ,,Lebenswelt" — überall ökonomische oder sonst instrumenteile und strategische Rationalitäten herrschen und die „freien Assoziationen", in denen eine „zerstreute Souveränität" flottiert, sich nur negativ dadurch auszeichnet, daß sie nicht in die Zwänge der instrumenteilen Rationalität eingebunden sind? Welches ist der „Ort, an den sich die Erwartung einer souveränen Selbstorganisation der Gesellschaft zurückgezogen hat"? 260 Sehr viel mehr, als daß er „schwer greifbar" ist, erfährt man dazu nicht. Die „Entsubstantialisierung" der Idee der Volkssouveränität nimmt die Folgen des Zerfalls ihrer Substanz, der Autonomie eines Allgemeininteresses, das von der die Autonomie der Individuen stiftenden Privatheit nicht zu trennen war, letztlich nicht ernst, wenn dieses Allgemeine in „freien Assoziationen", in „subjektlosen Kommunikationsformen" wiedergewonnen werden soll. Warum sollte die klassisch-liberale Erwartung der Selbstorganisation des Kontinuums einer über private und öffentliche Interessen integrierten 259 Habermas, (Fn. 249), S. 473. 260 Habermas, (Fn. 249), S. 474.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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Gesellschaft sich „zurückziehen" können in „subjektlose Kommunikationsformen", die ihre Stütze nur wiederum in ,,Gesinnungen(!) einer an politische Freiheit gewöhnten Bevölkerung" (H. i. O.) und schließlich in einer nationalisierten Lebenswelt" finden kann? Daß Verfassung letztlich in Verfassungsgewohnheiten ihre Verankerung finden muß, daß sie immer etwas voraussetzen muß, was sie nicht selbst garantieren kann, ist ein unbestreitbar richtiger Gedanke, der aber nicht die theoretischen Schwächen der politischen Lesart der Theorie kommunikativer Rationalität lösen kann. Denn bei Habermas ist diese Gewohnheit offenbar nichts anderes als die Selbstreferenz der Gewöhnung an die Entsubstantialisierung; die unter veränderten Bedingungen unterstellte Möglichkeit der Verknüpfung von „staatsbürgerlicher Moral und Eigeninteresse" erschöpft sich darin, daß die „moralische Substanz der Selbstgesetzgebung" der klassischen Demokratietheorie durch Verfahren auseinandergezogen und „nur noch in kleiner Münze erhoben" werden kann. Dies läuft letztlich auf eine Auflösung der Selbständigkeit einer emergenten, von den Individuen nicht unabhängigen, aber für sie doch nicht verfügbaren kollektiven Ebene in ein mobiles Netz von Betroffenheiten hinaus, über das in wechselnden Konjunkturen einer nicht-institutionalisierbaren Gesinnungsethik die Befriedigung unstillbarer Ansprüche auf „gute Gründe" bewirtschaftet wird. Diese können sich ihre Berechtigung paradoxerweise gerade dadurch selbst bestätigen, daß sie, obwohl sie doch ihre Fallibilität einräumen, nicht erprobt werden, während in der belagerten Festung einfach weitergemacht wird. 3. Normativität

der Diskursehtik

und institutionelle

Unterbestimmtheit

Die in der verfassungstheoretischen Lesart der Diskursethik enthaltenen autoritären Metaphern desavouieren den Vorbehalt der Fallibilität, der nur der Exkulpation für den Fall dient, daß die „Vermutung praktischer Vernunft", die für die Ergebnisse des subjektlosen Kommunikationsverfahrens auch ohne explizite Erprobung allzu eindeutig widerlegt wird. Sie signalisieren auch eine unterentwikkelte Fähigkeit zur selbstkritischen Reflexion darauf, wie es denn mit der Praxis der prozeduralen Vernunft und ihrer „Imperative" bestellt ist. Die Sprache ist verräterisch: Unter „Belagerern", die Passierscheine für „gute Gründe" ausstellen, darf man, auch wenn sie noch so sehr jede „Eroberungsabsicht" leugnen 261 , nicht allzuviel Bereitschaft voraussetzen, ζ. B. eine Geschichte der eigenen „guten Gründe" zu schreiben. Die Paradoxie, daß man auch mit „guten Gründen" in eine Katastrophe geraten kann und daß die Wirksamkeit „schlechter Gründe" sich durchaus als die bessere Alternative herausstellen kann, erschließt sich nur dann, wenn man die Möglichkeit der Entstehung nicht-intendierter Effekte innerhalb einer, dem Austausch zwischen den Individuen übergreifenden kollektiven Ordnung in Rechnung stellt. 2

Habermas, (Fn. 249), S. 4 7 .

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

Letztlich initiiert die prozedurale Konzeption intersubjektiver kommunikativer Rationalität den Rückzug des Allgemeinen der Vernunft aus der Selbstorganisation und Selbstdefinition der Gesellschaft insgesamt in eine von den Zwängen der praktischen Selbstreproduktion abgelöste Sphäre auf den reinen Selbstbezug zurückentwickelten Öffentlichkeit der Intellektuellen, die sich außerhalb der aus Institutionen und Teilsystemen bestehenden Festung der Gesellschaft ortlos etabliert hat. Dagegen ist solange nichts einzuwenden, wie man diese Unbestimmtheit des eigenen Beobachterstandpunkts als Chance sieht, mit eigenen Unterscheidungen anderes und anders zu sehen als die Entscheider innerhalb der Systeme und Institutionen. Aber anders ist nicht besser; die Entlastung von Zwängen verstellt auch den Zugang zu dem gerade in den Netzwerken der Anschlußzwänge und -möglichkeiten verstreuten Wissen, das sich nicht in „guten Gründen" explizieren läßt, und erschwert das Verstehen. Man ist immer zu nah oder fern, aber nie an der richtigen Stelle. Gerade deshalb benötigt eine Gesellschaft die Vielfalt von Beobachtungen und Beobachtern. Und deshalb ist auch die Trennung von systemaren und institutionalisierten Rationalitäten von einer qualitativ höherrangigen kommunikativen Öffentlichkeit, als dem „Ort, an den sich die Erwartung einer souveränen Selbstorganisation der Gesellschaft zurückgezogen hat" 2 6 2 , nicht akzeptabel. Die Öffentlichkeit ist ein anderer Ort, an dem die fragmentierten Binnenrationalitäten der Teilsysteme und Institutionen durchlässig gehalten werden für Innovationen, Werte etc., aber sie ist keine privilegierte Position, die einer Perspektive einen höheren Anspruch auf die „Vermutung praktischer Vernunft" ermöglichen könnte. Auch der erklärte Verzicht auf die „Eroberungsabsicht" (H. v. mir — K. H. L.) in einer politischen Theorie ist nicht ausreichend zur Entkräftung des Verdachts, daß hier ein Herrschaftsanspruch erhoben wird, der um so problematischer ist, als er sich selbst seine Vernunft attestiert. Das Insistieren auf dem normativen Charakter der Theorie allein führt hier nicht weiter. Seitdem wir wissen, daß man auch gigantische Staatsapparate zur Abschaffung des Staates aufbauen kann, wenn man die Bedingungen und Folgen der Institutionalisierung politischer Macht nur fremd beobachtet und Selbstbeobachtung nicht institutionalisiert wird, muß sich jede unterbestimmt bleibende Institutionalisierung politischer Vernunft mit der Frage nach den Voraussetzungen und Bedingungen der eigenen Praxis auseinandersetzen. Gerade die politisch gewendete Theorie der kommunikativen Rationalität und die darauf aufbauenden Konzeptionen sind Beispiele für den Kategorienfehler der meisten kritischen Theorien: Sie vergleichen die — nicht zu leugnende — schlechte Praxis der anderen Modelle mit einer guten (Meta-) Theorie, der sie wegen ihres normativen Charakters ihrerseits keine schlechte (hier: prozedurale) Praxis zugerechnet wissen wollen. Eine politische Theorie, die sich philosophischer Argumente bedient, nimmt hier einen Kredit in Anspruch, den nur philosophische Theorien im engeren Sinne reklamieren können. 262 Habermas, (Fn. 249), S. 474.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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Natürlich kann kein Argument gegen eine philosophische Theorie daraus abgeleitet werden, daß sie „falsch" angewendet oder politisch mißbraucht werden kann, aber eine politische Philosophie kann sich der Frage nach den Bedingungen ihrer Institutionalisierung oder der Notwendigkeit der Selbstbeobachtung ihrer eigenen Praxis nicht entziehen. Gerade eine Theorie der kommunikativen Vernunft, die die Selbstaufklärung der Bürger neuerdings zur Grundlage einer „zivilen Gesellschaft" macht, muß sich darauf befragen lassen, ob nicht die propagierte Verfassung der Gesellschaft, statt der traditionellen „liberalen Staatsverfassung" nur eine Chiffre für eine sich durch Verwischung der Begriffe dem Blick entziehende Ausdehnung des Staates ist. Die Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft droht hinter der normativ vorgegebenen Aufgabe der Beseitigung gesellschaftlicher Differenzverhältnisse, die die Identität der Gesellschaft mit sich selbst verhindern, völlig zu verschwinden. Diese im Zusammenhang mit der Diskussion über den Verfassungsentwurf des „Runden Tisches" der ehemaligen DDR entstandenen Tendenz zu einer „Vergesellschaftung", die ihr Verhältnis zum Sozialismus im Ungefähren läßt, füllt schon teilweise die institutionelle Leerstelle aus, die der „ohne Eroberungsabsicht" herbeizuführende permanente Belagerungszustand schaffen muß. Genau diese Trennung von Belagerten und Belagerung macht offenbar den „normativen" Charakter der Theorie aus. Doch eine Belagerung „ohne Eroberungsabsicht" ist nur dann glaubwürdig, wenn man sich mit den Belagerten arrangieren will. Dazu wäre aber ein institutionelles Kooperationsmodell erforderlich, zu dem jeder Ansatz fehlt. Die problematischen Metaphern signalisieren eher die Unbekümmertheit desjenigen, der glaubt, sich in einer Meta-Position „au-dessus de la mêlée" zu befinden, von der aus die multiplen Spiele der Differenzen auf die eine Differenz von innen und außen reduziert werden. Auch die „Belagerung" ist eine Form der Herrschaft, auch wenn sie Macht nicht formell übernehmen will, jedenfalls indiziert sie, daß sie auf die Kraft des rationalen Arguments allein nicht vertrauen will, sondern ihn durch Mobilisierung von Massen Nachdruck verleihen will. Die in der Unklarheit des Konzepts der „zivilen Gesellschaft" enthaltene Gefahr liegt darin, daß die Intention der Aufhebung aller oder der zentralen Diffenzierungen der Gesellschaft in soziale Teilsysteme sich als Aufhebung der staatlichen und ökonomischen Macht in einer Art „Selbstbestimmung" von Bürgerkomitees ausgibt. Daß all dies von den Autoren nicht beabsichtigt wird, ist solange gleichgültig, wie diese Tendenzen bei den Adressaten solcher Theorien vorhanden sind und in ihrer Praxis zu beobachten oder zu erwarten sind und dies nicht als Problem selbstreflexiv wahrgenommen wird. Dies ist um so wichtiger, als nicht nur der katastrophal gescheiterte, sich mit seiner Idee identisch setzende „reale Sozialismus", sondern die Realität fast aller gesellschaftskritischer Bewegungen zu der Befürchtung Anlaß gibt, daß Ansprüche auf Aufhebung von Herrschaft auf neue Herrschaftsformen zielen, die sich durch die antithetische Fixierung

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

auf die bekämpfte Herrschaftsordnung dem Blick zu entziehen suchen. Der Versuch der Herstellung der Identität der Gesellschaft mit sich selbst, und dies gilt auch für prozedurale Formen der Selbstaufklärung „freier Assoziationen", schließt auf eine charakteristische Weise die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung aus, die durch das unendliche Operieren mit Differenzen in heterogenen Handlungsfeldern mit konkurrierenden und einander zu konfrontierenden Rationalitäten erst ermöglicht wird. Dies gilt auch und gerade für die nach der theoretischen und praktischen Implosion des Marxismus (und seiner materialistischen Gesetzeshypothesen) verbreiteten Kümmerformen gesellschaftskritischer Konzeptionen, die mit moralischen Dichotomisierungen von Gut und Böse operieren und alle Probleme „normativ" damit überspielen, daß alle ja nur so gut zu sein brauchten wie die Protagonisten des Guten. Wer den sozialen Bewegungen die Entdeckung der Ökologie, der Geschlechterproblematik, der „Dritten Welt" u. ä. Themen — durchaus nicht ohne Grund — zugute hält 2 6 3 , sollte aber dabei nicht vergessen, daß die „aufgeklärten Bürger" kaum diskutable Ansätze zur Entwicklung von moralischen Bewertungen übergreifenden Organisations- und Entscheidungsmodelle entwickelt haben. Die Ambivalenz der von der regelhaften universellen Vernunftordnung entkleideten, stets auf der Grenze zur Stilisierung bloßer Selbstbetroffenheit operierender Selbstaufklärung gerät so gar nicht in den Blick. Da waren die Klassiker der ästhetischen Bildung des Subjekts noch ehrlicher und produktiver: „Das Mitleid mit dem Helden ist die Kehrseite der Furcht für uns selbst" 264 . Die „gegenwärtige Furcht für uns selbst" benötigt keinen Werther, um „Trost aus seinem Leiden" (Goethe) 265 zu schöpfen, sie spiegelt ihren Selbstbezug im echten Leiden anderer. Damit soll keinem Zynismus das Wort geredet werden, aber die Ambivalenz des Guten, auf der die Linke, die ihre Psychoanalyse gelernt hat, gegenüber der Identifikation mit den „großen Gefühlen" (Nation, Staat etc.) insistiert hat, sollte in den eigenen Reihen nicht verdrängt werden. Gerade weil das Selbst der Selbstaufklärung durch Kontingenzen gespalten ist, kommt es darauf an, von ihm nicht allzuviel zu erwarten und stattdessen nach Institutionalisierungen zu suchen, die den zirkulären Selbstbezug unterbrechen, der sich an der Leerstelle verhakt, die der Zerfall der universellen Vernunft hinterlassen hat. Nur durch kollektive symbolische Repräsentanzen, die nicht ihrerseits auf eine Vereinbarung aufgeklärter Bürger reduzierbar sind, sondern einen paradoxen Eigenwert in Anschlag bringen, ist die Koordination von Handlungen und die Emergenz eines Orientierung ermöglichenden „gemeinsamen Wissens" möglich. Die Nachahmung, das Anknüpfen an Anschlußzwänge und -möglichkeiten ist gerade in Situationen des Handelns unter Ungewißheitsbedin263 Offe /Preuß, (Fn. 112). 264 H. Grimminger, Die Ordnung, das Chaos und die Kunst, Frankfurt 1986, S. 182. 265 j. w . Goethe, Werke IV (Inselausgabe), Frankfurt 1966, Vorspruch zu „Die Leiden des jungen Werther", S. 7.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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gungen bei gleichzeitiger hoher Interdependenz der Handlungen der Akteure höchst rational 266 . Dabei kann man falsch liegen, aber mit einer Konzeption, die auf dem Abschluß von Vereinbarungen über unstrukturiertes Lernen zielen, liegt man mit Sicherheit falsch, wenn man dabei an die kollektiven Grenzen der intersubjektiven Kommunikation stößt, die ein „gemeinsames Wissen" voraussetzen muß, das nicht ihrer meta-theoretischen Disposition unterliegt. Es ist kein Zufall, daß der Marxismus in der Bundesrepublik und in anderen westlichen Ländern gerade von einer höchst unklar bleibenden Konzeption der „zivilen Gesellschaft" der Bürgerbewegungen und Bürgerverständigungen abgelöst wird. Der Anspruch der Besetzung einer identitätsstiftenden Meta-Ebene, von der aus die Aufhebung aller Klassengegensätze und der Nicht-Identität schlechthin gesucht wurde, wird eingetauscht gegen den Mythos des permanenten Belagerungszustandes, der permanenten Gründung, der dem Bedürfnis nach Identität der sich von den Zwängen der Systemdifferenzen befreienden „aufgeklärten Bürger" nunmehr eine eher melancholische Form gibt. Die Aufklärung insistiert darauf, daß die Stelle, die vorher von einer übersteigerten Fülle der Macht des Guten besetzt erschien, nunmehr gänzlich leerzubleiben habe. Die positive Utopie schlägt um in eine negative, die Trauer über den Verlust der Identät wird selbst zum Identitätserlebnis, da die durch Selbstaufklärung erreichte Befreiung von den Systemzwängen („Widerstand") Katharsisfunktion übernimmt, die das Subjekt in der Schwebe hält. 4. Insbesondere: Verfassungstheoretische Implikationen der Auflösung der kollektiven symbolischen Ordnung in der „Assoziation" der Individuen In den verfassungstheoretischen Lesarten der Diskursethik treten die Grenzen der kommunikativen Rationalität, der Mangel einer Theorie der rechtlichen und politischen Institutionen für das Entscheiden unter Bedingungen der Unentscheidbarkeit noch deutlicher zu tage 267 . So halten Rödel / Frankenberg / Dubiel die „Konstitution der Republik, genauer: der durch republikanische Verfassungsgebung symbolisierten Selbstbindung und Selbstverpflichtung aller Bürger zur Schaffung eines öffentlichen Raumes einer Meinungs- und Willensbildung gegenüber der demokratischen Selbstgesetzgebung für vorgängig". Die „Position der Macht" bleibe „symbolisch leer". Wie diese „Leerstelle" jeweils ausgefüllt werde, sei „öffentliche Angelegenheit..., über die das ,real existierende Volk' immer wieder aufs Neue debattieren und entscheiden muß". In der „civil society" beruhe die Macht auf dem „wechselseitigen Versprechen, für eine politische Verfassung einzutreten, in der sich der Wille zur symbolischen Einheit bei Wahrung der 266 A. Orléan, Mimetic Contagion and Speculative Bubbles, Theory and Decision 27 (1989), S. 63 ff., 75, 90; Boyer/ders., (Fn. 248). 267 Rödel u. a., (Fn. 6), S. 27. 5 Ladeur

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Pluralität äußert". Bei Preuß wird dies in bezug auf den Verfassungsentwurf des „Runden Tisches" der ehemaligen DDR dahin zugespitzt, daß die „Vorstellung einer Einheit des Volkes" aufgegeben worden sei. Die Verfassung soll damit zu „einer Art Selbstbindung von Gesellschaften" werden, „durch die sie ihr Rationalitätspotential im Umgang mit sich selbst, insbesondere mit ihren selbstdestruktiven Möglichkeiten, vermehren" 268 . Das Konzept versteht sich als „moralisch reflexiver Konstitutionalismus" 269 . Insbesondere angesichts zunehmender „epistemischer Ungewißheit" der gesellschaftlichen Selbstentwicklung lege sich eine argumentative prozedurale Rationalität nahe, die auf moralische Beurteilung zielt. Nach diesem „reflexiven Verständnis" soll die Macht „der Gesellschaft den Raum und die Institutionen schaffen und erhalten, mittels derer sie ihre moralischen und intellektuellen Ressourcen entwickeln und dazu gebrauchen kann, Erfahrungen mit sich selbst zu »erzwingen4 " (H. i. O. — K. H. L.). Die Verfassung soll damit die Idee des Fortschritts zu ihren „pathetischen Ursprüngen zurückführen: zur Idee der »Verbesserung der Menschheit4, d. h. zur Stützung ihrer moralischen Kompetenz zur Selbstregierung". Insbesondere soll ein neues Verfassungsmodell eine „Verfassung des Wissens" begründen, in der stets auch die Bedingungen von Risiken in experimenteller Gesetzgebung mitreflektiert werden. Die Grundlage einer solchen Verfassung könne in einer „conjuratio" der Bürger, nicht einer konstitutiven Eigenart des Volkes gesucht werden 270 . Bei Rödel u. a. wird dieser Gesichtspunkt dahin zugespitzt, daß die Einheit der Gesellschaft nur als „symbolische Einheit von Mannigfaltigkeit, Differenzierungen und Konflikten" denkbar sei. Allein das „selbstorganisierte Assoziationswesen" vermöge „dauerhaft Ansätze zu einer handlungsfähigen, sich selbst regierenden Gesellschaft zu entwickeln". Die stets vorläufig bleibende politische Ordnung müsse soziale und politische Minderheiten in den Stand setzen, Protest zu organisieren 271. So richtig und wichtig die vor allem bei Preuß formulierten Hinweise auf die neuen Probleme einer auf dem Prozessieren von Informationen basierenden experimentellen Gesellschaft sind, so problematisch sind die daraus gezogenen Konsequenzen, vor allem der emphatische Rekurs auf die Gründung der Gesellschaft in den Individuen und ihrem wechselseitigen Versprechen zur „Schaffung eines öffentlichen Raumes der Meinungs- und Willensbildung", der „gegenüber die demokratische Selbstgesetzgebung vorgängig" sei 272 . Dies geht weit über die allgemein anerkannte Selbstverständlichkeit hinaus, daß Demokratie als Prozeß zu verstehen und an die öffentliche Meinungs- und Willensbildung zurückgebunden werden muß. Der entscheidende Unterschied zu dieser traditionellen demo268 Rödel u. a., (Fn. 6), S. 43, 73, 77. 269 Preuß, (Fn. 6), S. 78. 270 Preuß, (Fn. 6), S. 82, 87, 88. 271 Rödel, u. a., (Fn. 6), S. 120, 126, 188. 272 Rödel u. a., (Fn. 6), S. 27, 43.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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kratie-theoretischen Konzeption besteht darin, daß die spezifisch kollektive Ebene der Gesellschaft und des Staates aufgelöst wird in einer Vielfalt von intersubjektiven Beziehungen, die zwischen den stets Herr ihrer vorläufigen Bindungen bleibenden Subjekten vereinbart werden. Dieses Netzwerk, dessen Knoten die Subjekte bleiben, gibt eine „Leerstelle" der Macht frei. Letztlich erschöpft sich der Wille zur symbolischen Einheit in dem Willen zur Erhaltung einer gegenstandslosen Pluralität, der gegenüber sich jede Entscheidung, die nicht den Anforderungen der prozeduralisierten moralischen Begründung entspricht, als Bedrohung der Verfassungsgrundlage darstellt. Darin findet auch das stark akzentuierte Recht auf zivilen Ungehorsam letztlich seine Begründung. Die Bedeutung des Mitlaufenlassens von unterlegenen Positionen in einer Demokratie und ihrer Institutionalisierung durch verschiedene Rechtsformen wie des Rundfunks, der Presse, der Wissenschaft, der Kultur, der Gewissensfreiheit etc. ist unbestreitbar, aber andererseits ist es kaum überzeugend, Entscheidungen des politischen Systems als Eingriff in die Pluralität der idealtypisch permanent im „öffentlichen Raum" versammelten Pluralität der Meinungen und Optionen zu betrachten. Daraufläuft aber eine solche Konzeption zwangsläufig hinaus, die die verschiedenen Institutionen der Meinungs- und Willensbildung (von der individuellen Meinungsäußerung über den „institutionalisierten" Prozeß der öffentlichen Meinung bis hin zur staatlichen Entscheidungsbildung) auflöst in eine permanente Debatte, deren Teilnehmer keine dauerhaften Bindungen eingehen und keinen systemaren Anschlußzwängen unterliegen, da diese ja die Selbstreflexion blokkieren könnten. Es fragt sich angesichts dieses Konzepts, ob es mit der die Öffentlichkeit der Individuen konstituierenden Vereinbarung über den „Willen zur symbolischen Einheit" überhaupt vereinbar ist, daß ein Bürger sich für die Fortsetzung der Debatte nicht interessiert und sich ganz auf die Zwänge einzelner Teilsysteme einläßt: Ist der workaholic ein Verfassungsfeind? Ist die Ausdifferenzierung von Teilsystemen überhaupt vereinbarungskonform? G. Frankenberg schwebt denn auch offenbar ein „selbstorganisiertes Assoziationswesen" als Gegenstand der „Gesellschaftsvereinbarung" vor 2 7 3 . Nur dort ist offenbar eine dem Subjekt zugängliche Einheit von Handeln und Erlebnis — nicht mehr der Erkenntnis wie in der klassischen Subjektphilosophie! — möglich, das Voraussetzung einer „handlungsfähigen, sich selbst regierenden Gesellschaft" ist. Dubiel hat an anderer Stelle die „systematische Verschränkung von Politik und Technik" als Folge der „dritten industriellen Revolution" behauptet und daraus die Notwendigkeit abgeleitet, die Technik als ein „kollektives Problem demokratischer Entscheidung" zu reklamieren 274 . Hier — wie auch bei Preuß und Habermas — wird die Tendenz deutlich, ein der früheren liberalen Verfas273 Rödel u. a., (Fn. 6) S. 126. 274 Vgl. auch H. Dubiel, Die demokratische Frage, Blätter für deutsche und internationale Politik 1990, S. 409 ff.; ders., Politik und Technik, sozial wissenschaftliche Informationen 75 (1986), S. 5 ff., 10. 5*

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

sungskonzeption (zu Unrecht) unterstelltes Modell des Fortschritts durch Produktion mit einem ebenso eindeutigen Gegenmodell zu konfrontieren, das in der Produktion primär destruktive Momente sieht. An den Grenzen des Fortschritts muß die Gesellschaft sich danach sozusagen neu versammeln und sich durch antithetische Fixierung auf den „Fortschritt" in der Be- und Verharrung konstituieren, also geradezu im wörtlichen Sinne „stehen bleiben". Die Übersteigerung eines diffus bleibenden „Willens zur symbolischen Einheit", der die Eigenständigkeit der institutionellen Ordnung auflöst, greift im Rekurs auf die öffentliche Debatte als Medium der Vergesellschaftung letztlich auf die Möglichkeit einer Überführung der Identität des Subjekts in die Vereinbarung der Pluralität der Subjekte zurück. Sie stellt die Universalität „desselben Denkens", das die Besonderungen in der systematischen Verknüpfung aufhebt, auf die „Verständigung im Selben" um 2 7 5 . Aber die Verständigung verdoppelt das Subjekt nur im Alter Ego: Bei Kant war das Subjekt Einheit nur als Einheit der Synthesis, „abgelöst von dem sich gerade jetzt vollziehenden Vollzug ,ist' es nicht nicht". Die kommunikative Rationalität stellt den „Prozeß herrschaftsfreier Zustimmung oder Ablehnung selbst . . . unter Zustimmungszwang" 276 und tendiert dazu, Erfahrung der Andersheit anderer Subjekte 277 und ihren unaufhebbaren Anspruch als bloßes Mißverständnis, als Folge asymmetrischer Kommunikationssituationen zu deklarieren. Die neuerdings verstärkt geltend gemachte Pluralität der Subjekte 278 reduziert sich letztlich auf den Anspruch, nicht durch Institutionen gebunden zu sein und jedes Entscheiden durch ein gebieterisches „wir wollen diskutieren" blockieren zu können. Das Subjekt bleibt damit eine bewegliche Figur, die je nach Bedarf Entscheidungsrechte der Mehrheit oder Vetorechte der Minderheit in Anspruch nehmen kann. Die Vagheit der Abgrenzung von nicht-institutionalisierter Debatte und institutioneller Entscheidung ist daher nicht zufällig in einer Konzeption, die nicht von einem evolutionär gegebenen Zustand gesellschaftlicher Komplexität ausgeht, sondern darin allenfalls eine faktische Vor-Struktur sieht, die sich einer ungeordneten Menge von Individuen auferlegt, und der gegenüber diese eine normative Ordnung erst durch Vereinbarung konstituiern 279 müssen. Diesem Zwang zur expliziten Ordnungsbildung durch reine Willensanstrengung können sich die Individuen nicht entziehen. Die Möglichkeit einer impliziten „lateralen" Rationalität, einer über „situative oder kontextuelle Ansprüche . . . , die sich der Dichotomie anspruchsfreier Tatsachen und kontrafaktischer Ansprüche" entziehen, wird damit letztlich negiert. Dieses Modell der „Gesellschaftsvereinbarung" erscheint als konstituiert in einem Ver275 Simon, (Fn. 70), S. 281, 295. 276 Hörisch, (Fn. 36), S. 43, 46. 277 Simon, (Fn. 70), S. 295. 278 j. Habermas, Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen, Merkur 467 (1988), S. 1 ff. vgl. auch J. Grondin, Habermas und das Problem der Individualität, PhilR 1989, S. 187 ff., 188. 279 Descombes, (Fn. 138), S. 163; ders., (Fn. 35), S. 129; Waldenfels, (Fn. 143), S. 37.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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fahren mit „symmetrisch vertauschbaren Rollen" 280 , in dem die Subjekte nur als Subjekte sprachlicher Verständigung anerkannt werden. Es versucht, die Paradoxic der Selbstreferenz der Gesellschaft im (Ver-)Sprechen der Subjekte durch „Verwirklichung", die logische Sekunde der (Selbst-)Gründung durch Verzeitlichung zu transformieren. Eine mit nicht-intendierten kollektiven emergenten Effekten rechnende situative Rationalität ist damit nicht vereinbar. 5. Handeln unter Ungewißheitsbedingungen Selbstaufklärung der Bürger

und moralische

Preuß' Konzeption erscheint insofern differenzierter, als er sich an dem in der Tat wichtigen neuen Problem der Thematisierung der Grenzen der Kontrollierbarkeit des Selbstmodifikationsprozesses der Gesellschaft orientiert 281 . Die darauf zielende Problemlösung bleibt jedoch unterbestimmt, insbesondere mangelt es hier an institutioneller Komplexität. Warum ausgerechnet der erweiterte Zeithorizont gesellschaftlichen Entscheidens, ihre aufgrund vielfältiger Vernetzungs-, Verknüpfungs- und Rückkopplungseffekte gesteigerte Ungewißheit 282 und Komplexität primär durch eine Steigerung der Lernfähigkeit der Individuen beantwortet werden soll 2 8 3 , ist nicht recht einsehbar. Die Alternative, Lernfähigkeit in Institutionen zu ermöglichen, bleibt von vornherein außer Betracht. Noch weniger plausibel ist die in ihren Konsequenzen höchst unklar bleibende Unterstellung, die Autoren des Verfassungsentwurfs des „Runden Tisches" der ehemaligen DDR hätten dieser Konzeption entsprechend eine „conjuratio" intendiert, die auf die Steigerung der moralischen Kompetenz, letztlich die »Verbesserung der Menschheit' ziele und nicht in der Konstitution der Einheit eines Volkes zum Verschwinden gebracht werden dürfe 284 . An anderer Stelle wird Preuß deutlicher, wenn er darauf verweist, daß die repräsentative Ordnung sich gegenüber den neuen Problemen der Komplexität letztlich als viel unsensibler erwiesen habe als die nicht-institutionalisierten Bewegungen von Bürgern. Dies ist sicher mindestens teilweise richtig, aber auch wenn ein Re-Arrangement des Verhältnisses zwischen nicht-institutionalisierter Öffentlichkeit und einzelnen Entscheidungsöffentlichkeiten durchaus diskutabel erscheint, so bestätigt sich gerade an dem Verlauf der öffentlichen Meinungsbildung über die exemplarisch genannten „neuen Themen" die Notwendigkeit, die öffentliche Deliberation in unterschiedlichen Stufen der Institutionalisierung zu aggregieren. Daß nicht-institutionelle 280 Grimminger, (Fn. 264), S. 28. 281 Preuß, (Fn. 6), S. 77. 282 E. Morin, Sur la définition de la complexité, in: Université des Nations Unies (Hg.), Science et pratique de la complexité, Paris 1986, S. 79 ff., 84. 283 Offe /Preuß, (Fn. 112), S. 29 f.; A. Pizzomo, Some other Kind of Otherness. A Critique of „Rational Choice" Theories in: A. Foxley / M. S. McPhersan / G. O'Donnell (Hg.), Revolution, Democracy and the Art of Trespassing. Essays in Honor of A. O. Hirschman, Notre Dame 1986, S. 355 ff. 284 Preuß, (Fn. 6), S. 83.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

Bewegungen insgesamt einer höheren Rationalität fähig sind, läßt sich kaum behaupten, zumal gerade ihre Wissensverarbeitungs- und Entscheidungsfähigkeit eher zweifelhaft ist. Dies gilt um so mehr, wenn man an die Möglichkeit und Notwendigkeit zur Internalisierung von Umweltproblemen durch das Wirtschaftssystem denkt. Daß die Alternativbewegung ζ. B. irgendein ernstzunehmendes Wirtschaftsmodell entwickelt hätte, ist nicht erkennbar. Auch das von Preuß angeführte Beispiel der öffentlichen Vernunft der nicht-institutionalisierten Friedensbewegung ist eher problematisch. Die ζ. B. von französischen Intellektuellen erhobenen Vorwürfe, die deutsche Friedensbewegung habe undemokratische menschenrechtswidrige Strukturen und militaristische Tendenzen in den osteuropäischen Ländern verharmlost, ist durch die spätere Entwicklung eher bestätigt worden. Die Kriegsgefahr in Europa ist — einstweilen — dadurch vermindert worden, daß sich in den mittel- und osteuropäischen Ländern demokratische Öffentlichkeiten konstituiert haben; gerade dazu hat die Friedensbewegung so gut wie nichts beigetragen. In den neuen sozialen Bewegungen ist neben vielen anregenden produktiven Momenten auch viel Irrationalität, Sektierertum, blinde Militanz bis hin zur Gewaltbereitschaft zutage getreten, so daß eine stärkere Verlagerung von Deliberationen oder gar Entscheidungen in nicht-institutionelle Formen der Willensbildung kaum als eine generell akzeptable Strategie erscheint. Jedenfalls ist eine solche Strategie nur zur Abstützung und Steigerung der Reflexionsfähigkeit der Institutionen für das Entscheiden unter Ungewißheitsbedingungen sinnvoll. Dazu trägt aber eine Wiederbelebung des höchst unklar bleibenden Konzepts der „Partizipationsdemokratie" wenig bei 2 8 5 , zumal die Rationalität der (Mit-) Entscheidung durch „Betroffene" keineswegs höher sein muß; überdies ist das Problem der Abgrenzung der Betroffenheiten kaum lösbar. Das Setzen auf moralisch bewußte Bürger angesichts von Funktionsproblemen der liberalen Demokratie erscheint ohne eine kritische Reflexion über Reformen mit dem Ziel einer Verbesserung der Lernfähigkeit von Institutionen wenig überzeugend, zumal notwendige Kehrseite von Lernfähigkeit auch das NichtLernen ist, das Erfahrungen bündelt und Gedächtnisbildung ermöglicht. Insgesamt zeigt sich, daß auch im Preußschen Verfassungsmodell die institutionelle Komponente unterentwickelt bleibt und die Möglichkeiten einer Selbstaufklärung und Lernfähigkeit der Bürgeröffentlichkeit überschätzt werden. Dies hängt — wie oben gezeigt — mit einer grundsätzlichen theoretischen Vorentscheidung zusammen, daß die Gesellschaft aus Individuen besteht und die Institutionen letztlich als den Individuen entfremdete, von der öffentlichen Vernunft der Bürger abgekoppelte Handlungskomplexe begriffen werden 286 . Auch in dieser politischen Lesart der Theorie intersubjektiver kommunikativer Vernunft wird die nicht-hintergehbare Grenze der dualen, nicht über die Institutionen vermittelten 285 Offe /Preuß, (Fn. 112), S. 29. 286 Offe /Preuß, (Fn. 112), S. 27, 24.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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Kommunikation verkannt, die die Entstehung einer kollektiven Ebene als eines emergenten systemischen Effekts erforderlich macht, der weder im expliziten individuellen Entscheidungen noch in der Verselbständigung einer davon getrennten anderen kollektiven Vernunft aufzulösen ist. Das „Zwischen" der kollektiven Ebene macht kommunikative Rationalität zum erheblichen Teil erst möglich. Das Problem besteht in der Rekonstruktion dieser eigenständigen Funktion und ihrer Abstimmung auf die Rationalität individuellen Handelns. Das Zerbrechen des Verweisungszusammenhangs von Subjekt, Objekt und allgemeiner Vernunft kann nicht durch die Beschwörung der Notwendigkeit eines gegenstandslosen Lernens des Lernens kompensiert werden.

6. Die Subjekte und der „Wille zur symbolischen Einheit" Der bei Rödel u. a. pointierte „Wille zur symbolischen Einheit bei Wahrung der Pluralität" 287 läßt die Reflexion auf das Spannungsverhältnis vermissen, das das „Selbst" in der christlich-jüdischen Tradition stets bestimmt hat 288 . Die Verschiebung des Akzents von einer kollektiven, die dualen Relationen übergreifenden Ebene der Vernunft — wie sie in der Kantschen Subjektphilosophie und der klassischen frühbürgerlichen Theorie vorausgesetzt war — zum „wechselseitigen Versprechen" läßt nicht nur die Möglichkeitsbedingungen einer Vernunftordnung sondern auch die „Binnenstruktur" des Subjekts dieses Versprechens im Dunkeln. Das Dilemma, das den Status des Subjekts bei Kant und in einer politischen Variante bei Rousseau durch die Abhängigkeit von einer selbst nicht erklärbaren Ebene des Allgemeinen der Vernunft oder des Willens gebracht worden ist, wird hier nicht gelöst, sondern durch bloße Negation der Andersheit des einen Pols dieses Verhältnisses verschleiert: Das Spannungsverhältnis von empirischem und allgemeinem Subjekt wird in ein Verhältnis zwischen empirischen Subjekten überführt, das auf eine ideale Sprechsituation „vollendeter Symmetrie und Transparenz" verweist 289 und damit paradoxerweise »jeglichem Bedeutungsprozeß ein Ende" setzt, weil er eben dieses Spannungsverhältnis voraussetzt. Hier scheint ein Moment auf, daß auch die Philosophie der Weimarer Zeit maßgeblich bestimmt hat, die Betrachtung des „Marginalisierten" als das ,Asyl des Wesentlichen". Das „von Grund auf Neue", das sich in der Selbsterneuerung der prozeduralen Vernunft zeigt, erhält jene Leere, die spiegelbildlich der „Entschiedenheit" aus „existentieller Unbestimmtheit" entspricht 290 . Die zerfallende Einheit von Vernunft und Erfahrung wird durch die Hypostasierung einer unstrukturierten, nicht-institutionalisierten Lernfähigkeit der Bürger überboten. Gerade der Verzicht auf die Macht und die Freihaltung der Leerstelle, die die Macht 287 Rödel u. a., (Fn. 6), S. 73. 288 Lasch, (Fn. 214), S. 258; L. Trilling, The Last Decade, New York 1976, S. 175. 289 Olivetti, (Fn. 201), S. 59. 290 Bolz, (Fn. 106), S. 105, 154, 49.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

einzunehmen beansprucht, soll offenbar eine Rationalität der permanenten Debatte begründen. Die Annahme der Möglichkeit einer Konstitution von Vernunft durch das „Versprechen zur symbolischen Einheit" unterstellt die Gründung des Symbolischen durch eine „Vereinbarung" 291 , eine kaum weniger aporetische Vorstellung als sie der existentiellen „Entschiedenheit" zugrunde liegt. Damit wird das Symbolische letztlich geleugnet, weil es mit dem Realen identisch gesetzt wird 2 9 2 . Der argumentative Diskurs bleibt immer an die nicht-hintergehbare Paradoxie gebunden, die darin besteht, daß er an transsubjektive historische Sprachspiele und Lebensformen anknüpfen muß, die nicht ihrerseits wieder — wie im Habermasschen Lebenswelt-Konzept — bloße Vor-Struktur einer intersubjektiven idealen Kommunikationsgemeinschaft sein können. Wenn die transzendentale Fundierung der grundlegenden Urteilsformen der im Subjekt zentrierten Vernunft von den anonymen Relationen zwischen den Besonderheiten untergraben worden ist, wie soll dann Vernunft durch „Innewerden kraft Reflexion" 293 möglich sein? Wird hier nicht doch auf ein bloßes Evidenzerlebnis der Subjekte rekurriert, daß sich in den institutionalisierten Entscheidungsverfahren nicht einstellen kann? Das Lernen von anderen ist nur möglich, wenn der andere schon vorher im Subjekt einen Spalt, eine Differenz eingeschrieben hat, sonst ist nur Erinnerung möglich 294 . Diese Differenz besteht in der Kluft zwischen dem durch Sozialisationsprozesse und vom Subjekt intemalisierten „virtuellen anderen" und dem Ich, dessen Reflexion den internen oder realen Dialog erst ermöglicht 295 . Diese Reflexion enthält zwangsläufig ein paradoxes kollektives Moment insofern, als sie eine stets ungewiß bleibende Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft der anderen inszeniert, die sich ihrer selbst nur als Prozeß der Reflexion des Problems, das sie für sich selbst ist, vergewissern kann. Das bedeutet aber nicht, daß alles in der Schwebe bleiben könnte. Die Grenzen der individuellen Kommunikation sind auch in der Binnenstruktur des Subjekts schon durch die Einschreibung des virtuellen anderen angelegt, der keine symmetrische Verdoppelung von Ego ist, und wird durch die Verweisung der Selbstreflexion auf die Kriterien der Zugehörigkeit zu einer ihrerseits mit sich selbst nicht identischen kollektiven Ordnung in Bewegung gehalten 296 . Eine Stabilisierung dieses potentiell unendlichen zirkelhaften Regresses ist nur möglich, wenn man nicht nur die Nicht-Hintergehbarkeit der Pluralität von Optionen innerhalb der kollektiven Ordnung akzeptiert, sondern zugleich deren 291 Descombes, (Fn. 92); ders., (Fn. 138), S. 162. 292 Lipowatz, (Fn. 206), S. 13. 293 Grondin, (Fn. 278), S. 194. 294 Livet (Fn. 240), S. 124. 295 St. Braten, Dialogic Mind: The Infant and the Adult in Protoconversation, in: M. E. Cavallo (Hg.), Nature, Cognition and System, I, Dordrecht u. a. 1988, S. 187. 296 Livet, (Fn. 241), S. 46, 52.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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heterogene Verfassung hinnimmt. Das bedeutet, daß die Grenzen der individuellen Kommunikation nicht als bloße Asymmetrien im Verhältnis der Individuen zueinander durch die Beachtung einer Verfahrensrationalität der intersubjektiven Kommunikation aufgehoben werden können 297 . Der systemare emergente Effekt des Kollektiven als eines Eigenwertes der Konventionen, des unterstellten „gemeinsamen Wissen", der das Unentscheidbare entscheidbar macht, schlägt wiederum auf das Subjekt zurück. Das Kollektive bleibt gebunden an eine über Differenzen prozessierte Unbestimmtheit, den Wechsel von Stabilisierung und Destabilisierung von Sprachspielen, in denen aufgrund der zunehmenden Artifizialisierung der Gesellschaft Autonomie und Heteronomie ineinander übergehen 298 . Durch die damit einhergehende Virtualisierung des Bewußtseins entsteht eine neue Form der Selbstreferenz, die das Subjekt dezentriert. Das Bewußtsein wird selbst zum „Modell von Modellen" 299 , das kein die Referenz auf die Welt hierarchisierendes Zentrum bilden kann, weil die Welt selbst durch sprachliche Modellbildung und das Prozessieren von Symbolen artifiziell wird. Diese Bewegung wird mit der „Intellektualisierung" der Produktion durch neue Technologien und Medien weitergetrieben, deren Entwicklung die Dynamisierung des Kollektiven beschleunigt300. 7. Die Ablösung der regelorientierten Moral durch das moralische Argumentieren Die Moralisierung von Politik und Recht durch die intersubjektive kommunikative Rationalität ist gerade darauf zurückzuführen, daß die Moral keine Anschlußzwänge durch das Ins-Werk-setzen von Entscheidungen schafft, sondern immer wieder von vorn anfängt und auf das Verständnis von Gut und Böse der „ganzen Person" rekurriert 301 . Da es aber nicht um die Orientierung des eigenen Lebens nach einer traditionellen Regel orientierten Individualmoral, sondern um die Moralisierung der ganzen Gesellschaft geht, wird die Intersubjektivität zum Medium der Verflüssigung der Grenzen zwischen den Subjekten 302 . Während das klassische Subjekt sich das Allgemeine der Vernunft als ein System der Verknüpfungen von Erkenntnissen und Handlungen durch Bildung anverwandeln mußte, ist die Diskursethik — jedenfalls in der politisch reduzierten Lesart — das Medium der unmittelbaren Verknüpfung, in dem sich das Subjekt durch das selbstgeschaffene und im Verfahren ausgetauschte Argument verflüssigt. Eine Moral, die weder in formalen Regeln noch in der Identität eines diese verinnerli297 Descombes, (Fn. 138), S. 162. 298 I. Hassan, The Postmodem Tum, o. O. 1987, S. 71. 299 Ch. L. Scudder, The Mind: An Evolving System of Models, in: Fields within Fields 14 (1975), S. 49 ff., 52. 300 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 16. 301 M. Polanyi, Personal Knowledge, 10. Aufl., Chicago 1986, S. 215. 302 Vgl. auch Trilling, (Fn. 288), S. 175; Simon, (Fn. 70), S. 295.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

chenden Subjekts einen festen Ausgangspunkt mehr finden kann, setzt sich der Gefahr aus, daß nicht-situative, nicht-strategische moralische Urteilen zu entgrenzen und es in der Prozeduralisierung der Illusion einer autonomen Setzung des Ausgangspunktes auszuliefern. Die regelorientierte Individualmoral hatte zu den bekannten situativen Aporien geführt: Darf man den Verfolger eines Unschuldigen über dessen Aufenthaltsort belügen? Sie hat diese Aporien durch Ausdifferenzierung anderer Regelsysteme, insbesondere des Rechtssystems, begrenzt, nicht aber aufgelöst. Die Moral hat dadurch ihren Eigenwert, die Gewährleistung der von der Situation aber auch vom Verhalten anderer Individuen unabhängige Einhaltung allgemeiner Regeln, spezifizieren können. Einen solchen Eigenwert büßt aber eine Moral ein, die sich nicht mehr an Regeln orientieren kann, sondern Gut und Böse durch das Argumentieren der sich im Verfahren ihrerseits in der Intersubjektivität der Kommunikation entgrenzenden Subjekte setzen zu können meint und sich der Gefahr der leeren Selbstreferenz aussetzt. Sie bleibt außerhalb der Institutionen, in denen über die Verwirklichung von Optionen, das Entscheiden von Unentscheidbarkeit Anschlußmöglichkeiten und -zwänge geschaffen und damit zugleich Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Aber sie kann diese „AußenseitenStellung des moralischen Subjekts nicht mehr durch den Bezug auf die Allgemeinheit der Regeln befestigen und kann dies nur durch Prozeduralisierung eines spiegelhaften Selbstbezugs des Subjekts auf andere Subjekte in eine leere Selbstbewegung versetzen. Dieser Ausschluß von der Vernunftordnung verstärkt eine Neigung zur Verkennung der Spaltung des Subjekts, das dann seinen unaufhebbaren Mangel auf die Außenwelt projiziert und sich in einen „unabschließbaren Kampf um die Einverleibung des Heterogenen" einläßt 303 , durch den das Subjekt glaubt seine Identität bilden zu können, die ihm aufgrund der differentiellen symbolischen Ordnung versagt bleiben muß. Der Rekurs auf das Verfahren der Infragestellung von Entscheidungen durch das Insistieren auf die permanente Erneuerung des „Gründungsaktes", der im öffentlichen Raum durch Prozeduralisierung in der Schwebe gehalten wird, läßt den Gegenstand des Diskurses und den Charakter der in Anspruch genommenen Vernunft im Ungefähren verschwimmen 304 . Die Absetzung vom Gegenstand des Entscheidens und der Institutionalisierung von Entscheidungsketten sowie von dem in eine „dichte Erfahrungswelt voller heteronomer Bestimmungen" 305 implizierten „Gesprochenen" 306 durch den Gestus der Herausforderung im öffentlichen Argumentieren darf den Blick auf die Probleme der Konstitution des Subjekts und seiner Infrastruktur nicht verstellen 307 . Die Aufhebung der Regelorientierung des Subjekts kann durch 303 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 134. 304 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 51. 305 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 64. 306 Ricoeur, (Fn. 118). 307 K. Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität, München 1984, S. 216 f., 221 f.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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Prozeduralisierung intersubjektiver Kommunikation nicht kompensiert werden, da die Selbstdisposition des Subjekts dadurch nicht größer, sondern kleiner wird: Die Fragmentierung der Welt schlägt sich — wie schon oben gezeigt — in der Binnenstruktur des Subjekts selbst nieder, die von ihrerseits differentiellen heterogenen „Formationen des Ich" dezentriert wird 3 0 8 . Das auch in der Prozeduralisierung spiegelhaft bleibende Verhältnis von Ego zu Alter bleibt hinter der produktiven Differenz zurück, die das Selbst der moralischen Person von dem der empirischen trennte 309 . Nur ein auf Dauer gestellter „Widerstreit" heterogener Sprachspiele kann die Nachfolge dieses Spannungsverhältnisses zwischen Allgemeinem und Besonderem antreten, nicht aber die formale Rationalität des Argumentationsverfahrens. Das Allgemeine der Menschenvernunft kann nicht in eine explizite Übereinkunft über Kriterien und ihre situative Spezifizierung überführt werden. A m Beispiel der Wissenschaft, ein Bereich in dem Versuche zu methodisch begründeten Generalisierungen eine längere Tradition haben, zeigt, daß „Konsense" auf wechselseitigem Vertrauen innerhalb von überlappenden Denktraditionen beruhen, deren Träger jeweils nur noch einen Teil verstehen 310 , und ohne daß diese Teile noch über zentral verfügbare Richtigkeitsstandards integriert werden könnten. Der a-zentrische Gesamtprozeß der Wissenschaft wird eher durch lockere Verknüpfung von differentiellen anonymen Sinnfeldern selbst reguliert, und dies ist die Grundlage des „Konsenses", keine „Vereinbarung". In Preuß' Lesart einer politisch gewendeten kommunikativen Vernunft werden zwar die kognitiven Probleme des Handelns unter Ungewißheitsbedingungen — anders als bei Rödel u. a. 3 1 1 — akzentuiert, aber dieser Ansatz wird sogleich mit dem Postulat der moralischen Reflexivität des Verfassungsrechts verbunden und seiner Eigenständigkeit beraubt. Eine Moralisierung des Verfassungsrechts müßte sehr schnell an eine Grenze der Konsensfähigkeit und Institutionalisierbarkeit von Werten stoßen. Gerade die Moralisierung komplexer Entscheidungsprobleme ist insofern besonders fragwürdig, als — wie gezeigt — die traditionelle Individualmoral auf Handlungsnormen aufbaute, deren Geltung für das Individuum, und zwar unabhängig von der Einhaltung durch andere postuliert wurde. Komplexere Entscheidungsprobleme, die mit Vernetzungs- oder Kumulationseffekten „kleiner" Handlungsbeiträge zu tun haben, laden aber geradezu ein, die ohnehin artifiziell werdende Welt von einem moralischen Standpunkt aus neu zu ordnen und Folgenverantwortung unter dem Postulat willkürlich zu verteilen und reale Handlungszwänge und -möglichkeiten „normativ" zu vernachlässigen. Dies kann noch gesteigert werden zu der voluntaristischen Annahme von „Hauptverantwortlichkeit", die zur moralischen Entlastung nach Art eines,»kategorischen Konditio308 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 151. 309 Hamacher, (Fn. 72), S. 256. 310 Polanyi, (Fn. 301), S. 215. 311 Preuß, (Fn. 6), S. 78.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

nals" führen. Wenn erst einmal die anderen so gut wären wie ich, . . . ! Gerade in einer stark mit selbstgeschaffener Komplexität konfrontierten Gesellschaft sind solche willkürlichen Pflichtenhierarchien, die aus der normativen Autonomie des Sollens eine Selbstermächtigung zur Neuordnung von Verantwortung ableitet, sehr verbreitet. Dies gilt um so mehr, wenn die Erziehungs- und Bildungssysteme sich gegenüber den anderen Teilsystemen zwangsläufig stark verselbständigen und die Notwendigkeit der Vermittlung komplexer Wissens- und Wertbestände an die nachwachsende Generation zu einer institutionalisierten Selbstreflexion führt, die sich schließlich in dem Anspruch zur Verbesserung der ganzen Gesellschaft überbietet. Nicht zuletzt darin ist das Phänomen begründet, daß die im Bildungssystem Tätigen sich eine besondere politische und moralische Urteilskraft zuschreiben. Von einer Moralisierung politischer Positionen ist gerade angesichts komplexer Entscheidungssituationen nichts zu erwarten, da sich — losgelöst von einer vorfindlichen „Einheit von betrachtendem und handelndem Standpunkt" 312 — in einer städtisch-industriellen Gesellschaft, in der autonome (Selbst-) und heteronome (Fremd-) Zwecksetzungen unentwirrbar vermischt sind, Geltungsansprüche der „ganzen Person" 313 eher als Schuldvorwürfe an „die Gesellschaft" denn als Forderungen an das eigene Ich präsentieren. In einer komplexen Gesellschaft ohne hierarchisch gestufte Regelsysteme und eine in einem einheitlichen Subjekt zusammenlaufende Zentralperspektive der (Selbst-)Beobachtung ist die Aufrechterhaltung des Anspruchs der „ganzen Person", eben diese Stelle einzunehmen, wenn auch „intersubjektiv" geteilt, nicht durchzuhalten 314. Der spiegelhafte Selbstbezug droht sogar, in der Schrumpfvariante der „Betroffenheit", einer gegenstandslosen Stimmung, zu verkümmern. Die Problematik einer beweglichen, von Regeln unabhängigen prozeduralisierten moralischen Besetzung von Themen besteht darin, daß die klassische Einheit von „betrachtendem und handelndem Standpunkt" an eine Zukunft verwiesen wird, deren Offenheit normativ überhöht wird und dem moralischen Handeln im Vorgriff auf die Wiederherstellung der Einheit des Standpunkts einen fiktiven Charakter verleiht. Die Normativität der Moral verwandelt sich unter der Hand in die Selbstermächtigung zur Vernachlässigung von Folgewirkungen durch normative Verantwortungszuschreibung. Auch dies ist eine Folge der relativen Autonomie der Sprache gerade in einem sich weitgehend über Informationen reproduzierenden Gesellschaftssystem, mit dem zugleich die Tendenz zur Überschätzung der Möglichkeit einhergeht, in sprachlich expliziten Übereinkünften Zugriff auf eine doch informationell konstituierte „Wirklichkeit" zu erlangen 315 . 312 R. Spaemann, in: N. Luhmann, Paradigm lost: Über ethische Reflexion der Moral, Frankfurt 1990, S. 55. 313 Luhmann, (Fn. 312), S. 18. 314 Vgl. Hassan, (Fn. 298), S. 67 f., 71. 315 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 16; Vattimo, (Fn. 91), S. 93.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

8. Zur politischen Verortung der diskursethischen von Politik und Verfassung

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Konstitution

Die Ablösung des moralischen Handelns von einem System und einer von jedem einzunehmenden Stelle, eben dem Subjekt der Synthesis, überträgt die darin gründenden Konsistenzforderung auf die Selbstreflexion des Subjekts, das aber in der selektiv und spiegelhaft konstituierten intersubjektiven Kommunikation mit dem anderen Subjekt nur einen Schein von Universalität wiederfinden kann 316 . Die Konzeption der moralischen Selbstaufklärung des Verfassungsrechts vernachlässigt die erst mit der zunehmenden Artifizialisierung der Welt in einer selbstgeschaffenen Komplexität einhergehenden neuen Bedingungen der Entrealisierung moralischen Handelns 317 . Moralisches Denken und Handeln in komplexen Handlungsfeldern legt die Freiheit stets auf die gute Seite fest 318 und kann sich gerade in verzweigten Handlungsnetzwerken von Verantwortung entlasten: Die schlechten Folgewirkungen moralisch gutem Handelns verlangen eben mehr moralisches Handeln — anderer, während das moralische Subjekt des Kantschen kategorischen Imperativs eben durch die Allgemeinheit der Regel, aber auch durch die kollektiv, insbesondere durch das Recht gesetzten Grenzen der Moral, entlastet war 3 1 9 . Auch daraus ergibt sich, daß ein intern von den Grenzen der Regelhaftigkeit freigesetztes moralisches Urteilen auch extern kaum die ausdifferenzierten Systemrationalitäten plausibel in Frage stellen oder reflektieren kann. Der Anspruch der moralischen Integration kann nicht den Blick auf den leeren Zirkel der Selbstreferenz verstellen, den das Schwinden der universellen moralischen Vernunft hinterlassen hat. Das System „derselben Vernunft", die in einem bleibenden Ich, dem Adressaten des kategorischen Imperativs, ihr Zentrum hatte, ist nun einmal zerfallen. Habermas weist zwar immer wieder darauf hin, daß die normativen Anforderungen der kommunikativen Verfahrensrationalität „nur formal charakterisierbar und nicht antizipierbar" seien. Aber auch wenn die kontrafaktische Unterstellung nicht als normatives Gebot der faktischen Herstellung eines Zustands der Herrschaftsfreiheit mißverstanden werden darf, so ist doch zu konstatieren, daß er an der „Vision eines idealen Schlußpunktes" festhält 320 , in dem die verfassungstheoretischen Varianten der Diskursethik eine metatheoretische Vergewisserung der Möglichkeit einer quasi-kontraktuellen permanenten Neugründung der Ge316 Vgl. L. Dumont, Are Cultures Living Beings?, MAN 21 (1986), S. 587 ff. 317 Trilling, (Fn. 90), S. 26. 318 Luhmann, (Fn. 312), S. 46. 319 Luhmann, (Fn. 312), S. 34, 25. 320 So V. Steenblock, Zur Wiederkehr des Historismus in der Gegenwartsphilosophie, ZPhilFo 1991, S. 209 ff., 214, unter Hinweis auf J. Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt 1983, S. 11 f., 19 ff.; ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, S. 241 f.: Der Prozeß der Artifizialisierung der Gesellschaft ist nicht gleichbedeutend mit der Möglichkeit ihrer permanenten Neugründung.

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1. Teil: Vom Subjekt der Vernunftordnung

sellschaft in einer Verfassung der Bürger finden. Die diskursethisch radikalisierte Auflösung des kollektiven Moments des Politischen in der Verfahrensrationalität läßt sich aber als eine spezifisch deutsche Version des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft lesen, die antithetisch auf das autoritäre Staatsmodell fixiert und von dessen Darstellungsbedingungen abhängig bleibt: Das individuelle Gewissen als Fluchtpunkt der Konstitution der Gesellschaft ist nur die Kehrseite der übersteigerten Souveränität des Staates. In einem Zwischenschritt läßt sich festhalten, daß der Rekurs auf die intersubjektive kommunikative Rationalität den Spalt, den das transsubjektive Differenzierungsgeschehen im Subjekt hinterlassen hat, nicht durch sprachliche Verständigung überbrücken kann. Die „Verzerrung" der Kommunikation ist dadurch zur nichtüberschreitbaren Grenze der Verständigung geworden, daß die Subjektivität selbst von differentiellen Sinnfeldern durchzogen wird. Das Subjekt ist immer dadurch konstituiert, daß ein qualitativ Anderes, eine kollektive symbolische Ordnung, sich in die immaginäre Einheit des Ich einschreibt und zwar über historisch variable „Formationen eines Ich" 3 2 1 , die auf eine paradoxe Weise auch das nicht-identische Moment der Selbstveränderung einführen. Erst das Spannungsverhältnis innerhalb der kollektiven Repräsentanzen ermöglicht und begrenzt eine Selbstbeobachtung durch Reflexion des Ich und damit die Intersubjektivität. Die Überführung der klassischen universellen Vernunft in eine „transkulturelle, formale Rationalität" 322 , die sich das Subjekt durch zunehmende Versprachlichung seines Weltverhältnisses in einer,»kumulativen Lerngeschichte" aneignet, basiert auf einer Unterstellung, die die Spaltung der Intersubjektivität letztlich im Vorgriff auf eine selbsttransparente ideale Kommunikationsgemeinschaft aufhebt. Vor allem die politische und verfassungstheoretische Lesart der kommunikativen Rationalität und der darauf aufbauenden Hoffnung auf eine moralische Reflexivität des Verfassungsrechts sind durchaus sensibilisiert für die Dezentrierung des klassischen Subjekts und der daran anschließenden regelhaften Vernunftordnung, aber ihr Prozeduralisierungskonzept greift zu kurz, weil die Folgen der Fragmentierung des Verweisungszusammenhangs, der den Status des klassischen Subjekts konstituiert hatte, nicht bis zu Ende gedacht werden. Die „Andersheit" des Subjekts der universellen Vernunft gegenüber dem empirischen Subjekt wird auf eine zwischen den empirischen Subjekten bestehende und durch eine formale Rationalität der Selbstaufklärung aufzuhebende Asymmetrie reduziert. In der politischen und verfassungstheoretischen Lesart läuft die Konzeption darauf hinaus, die Dezentrierung des Subjekts der universellen Vernunft auf eine Dichotomisierung der tendenziell vernunftlos werdenden Institutionen einerseits und die durch Vereinbarung zwischen den von Systemzwängen befreiten Individuen

321 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 151. 322 Meyer-Drawe, (Fn. 128), S. 266.

V. Zur Theorie der kommunikativen Rationalität

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gestiftete prozedurale Vernunft andererseits festzulegen. Angesichts der Heterogenität der gesellschaftlichen Werte und der grundlegenden Bedeutung der Fragmentierung des Subjekts kann die Konstruktion einer prozeduralen Rationalität nicht gelingen, die sich nicht auf die spezifischen institutionellen Bedingungen der „Eigenwerte" des Kollektiven einläßt und sie stattdessen mehr oder weniger weitgehend auflöst in intersubjektiven Vereinbarungen, deren prozedurale Rationalität sich darin erschöpft, den Institutionen von außen eine leere Bewegung des Protests entgegenzuhalten. Eine neue prozeduralisierte Version der Universalität der Vernunft kann nicht durch die Kommunikation zwischen Subjekten begründet werden, da auch die Freiheit von Systemzwängen sich als Effekt einer kollektiven Ordnung erweist. Im folgenden soll in rechts- und verfassungstheoretischer Perspektive ein philosophisches Konzept von postmoderner Rationalität und ein der „Zerstreutheit" von Diskursen entsprechender Begriff eines von anonymen Relationen bestimmten Subjekts skizziert werden.

Zweiter

Teil

Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz und Selbstbeschreibung der Gesellschaft I. Beobachtung und Selbstbeobachtung 1. Subjekt und Pluralisierung

der Sprachspiele

Der entscheidende Einschnitt des postmodernen Denkens, der für eine Theorie des Rechts fruchtbar gemacht werden kann, besteht in der Auflösung einer einheitlichen „Realität" als einer Objektivität, die sich der Vernunft des Subjekts über die sprachliche Referenz erschlossen hat 323 . Die Sprengkraft des Heterogenen ist oben in verschiedenen Richtungen, im Hinblick auf die Universalität der Vernunft, die Einheit des Subjekts, die Transparenz der Sprache und den Status des Objekts diagnostiziert worden. Die Einheit der Sprache war — so Lyotard — durch die großen „Meta-Diskurse", der Emanzipation, der Teleologie, der Hermeneutik des Sinns und damit durch ein instrumentelles Verhältnis zur Selbstaufklärung des Subjekts bestimmt 324 . An ihre Stelle ist eine Vielzahl heterogener Sprachspiele getreten 325 , die nicht ohne weiteres füreinander durchlässig sind, erst recht nicht auf eine einheitliche „große Erzählung" zurückgeführt werden können 326 . Der einheitliche Horizont löst sich in eine Vielzahl unterschiedlicher Sprachspiele auf, die nicht eine Realität erschließen, sondern mehr und mehr eine Pluralität von Möglichkeiten konstituieren, in denen das Bewußtsein seinen eigenen Konstruktionen begegnet und damit auf eine paradoxe Weise Teil dessen wird, was es zu verstehen sucht 327 . Das Bewußtsein projiziert sich durch Symbole auf die Außenwelt und findet sich dort selbst wieder. (Dadurch wird auch das Verhältnis zur Natur verändert, die ihr punktuelles Austauschverhältnis mit der Gesellschaft transzendiert und in die Geschichte der Gesellschaft selbst eintritt) 328 .

323 Lyotard, (Fn. 144), S. 42. 324 w . Welsch, Postmoderne oder Postmetaphysik. Eine Konfrontation von Lyotard und Heidegger, Phil.Jb 92 (1985), S. 116 ff. 325 Baker/Hacker (Fn. 18); L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 1971. 326 Vgl. dazu J. F. Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979. 327 Hassan, (Fn. 298), S. 71. 328 M. Serres, Le contrat naturel, Paris 1990, S. 18.

I. Beobachtung und Selbstbeobachtung

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Das klassische Subjekt ist — wie gezeigt — mit der Annahme eines einheitlichen Systems der Verknüpfungen von Erkennen und Handeln in einem Zentrum verbunden, während die heterogenen Sprachspiele, die es jetzt durchziehen, sich über anonyme Relationen und das Prozessieren ihrer Verkettungsregeln ohne Zentrum selbst organisieren 329. Es existiert nunmehr eine Vielfalt unterschiedlicher überlappender Diskurswelten, die aufgrund ihrer Anschlußzwänge und -möglichkeiten den Charakter von transsubjektiven selbstgenerierten Prozessen annehmen. D. h. provisorische hinfällige Einheit entsteht stets nur im Gebrauch von Möglichkeiten, die stabilen Konsens nicht zulassen, sondern nur neue Instabilitäten erzeugen 330. Die unbestimmten Möglichkeiten der (Selbst-)Veränderung einschließlich der des Subjekts sind in Netzwerken von Gebrauchsregeln und Verkettungsmöglichkeiten, die im und für den Gebrauch strategisch eingesetzt, aber nicht in einer „Meisterstrategie" aktiviert werden 331 . Das Subjekt nimmt darin selbst einen multiplen Charakter an. Die auftretenden Dissonanzen und Konflikte sind nicht Hindernisse auf dem Weg zum Konsens, sondern nichthintergehbare Bewegungsformen einer über Differenzen erzeugten Ordnung. Die einzelnen Züge innerhalb eines Sprachspiels und an den Übergängen zwischen mehreren wenden keine vorgegebene Regel an, sondern erzeugen ihre eigene Realität, die neue Züge ermöglicht, blockiert, in Konflikt bringt, also mit dem Erfolg auch seine „Bestreitung" produziert und damit das Spiel in der Schwebe hält 3 3 2 , weil es mit stets mehrdeutig bleibenden Unterscheidungen operiert. Einheit muß in solchen Sprachspielen nicht mehr hierarchisch, sondern „transversal" gedacht werden. Die „Argumentation" oder ein Verfahren der intersubjektiven Kommunikation kann eine solche Stabilisierung nicht gewährleisten, wo Dissense entstehen, stattdessen kann aber eine „transversale Vernunft" sich zu einem „Vermögen der Übergänge" 333 ausbilden, das im „Durchgriff 4 durch die Binnenrationalitäten eine unabgeschlossene Konfrontation von Dissensen prozessiert und damit das Ausspielen und -probieren von Möglichkeiten, ihre Revision aufgrund neuen Wissens und die provisorische Institutionalisierung von Anschlußzwängen organisiert. Die entscheidende Annahme, die einer solchen „transversalen" Rationalität zugrunde liegt, ist der Verlust einer vom zentralen Standpunkt des vernünftigen Erkennens und Handelns des Subjekts zugänglichen Rationalität, die in einem System von Verknüpfungen im Selbstbewußtsein rekonstruiert wird. Das postmoderne Subjekt ist je schon in eine Pluralität von Sprachspielen ohne Anfang, 329 Lyotard, (Fn. 144), S. 188. 330 Welsch, (Fn. 324), S. 118. 331 Schürmann, (Fn. 55), S. 372. 332 Lyotard, (Fn. 144), S. 194 f.; ders., Das Grabmal des Intellektuellen, Graz/ Wien 1985, S. 68 ff.; W. Welsch, Nach welcher Moderne?, in: P. Koslowski/R. Spaemann, Moderne oder Postmoderne, Weinheim 1986, S. 238 ff., 253; vgl. auch ders., Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 233. 333 Welsch, (Fn. 332), Nach welcher Moderne . . . , S. 253; ders., (Fn. 324), S. 139. 6 Ladeur

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

aber mit bestimmten Verkettungsregeln und Anschlußmöglichkeiten eingeschrieben, die Erwartungen generieren, welche an keine objektive Realität anknüpfen können, sondern sich auf die Eigenwerte des Sprachspiels und der darüber selbsterzeugten Richtigkeitsstandards beziehen und damit experimentell operieren müssen. Ein Subjekt kann in diesem Kontext der multiplen Sprachspiele und ihrer Übergänge nur eine selbstmultiple provisorische Einheit von Differenzen sein, über die sich Verknüpfungen vollziehen, ohne dort zu einem System zusammengefügt zu werden. Das Subjekt bleibt dann eher ein „Überschuß an Unsagbarem", der Spalt, der verhindert, daß die Sprachspiele als geschlossene Systeme ohne Unterbrechung fungieren 334 . Und in einem Rechtssystem mag das Rechtssubjekt durchaus Träger von Rechten und Pflichten sein, aber es bleibt gebunden an die über das Rechtssystem prozessierte horizontale situative Verkettung von Erwartungen. Das klassische Subjekt war an eine Universalität im Wandel erhaltene Einheit gebunden, in dem aber das Spannungsverhältnis zum Besonderen nicht aufgehoben werden sollte. Aber die „irreduzible Pluralität der Felder, in denen das Ich lebt und in denen jedes seinen Grund hat, der aber in einem letzten Grund nicht abzusichern ist" 3 3 5 , kann — wie gezeigt — auch nicht durch Verfahren im Vorgriff auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft vereinheitlicht werden. Den Zugang zu einem postmodernen Verständnis des Subjekts gewinnt man, wenn man die Vorfindlichkeit der Universalität der Vernunft in der klassischen Subjektphilosophie aufnimmt und sie auf den Fortgang des transsubjektiven Differenzierungsgeschehens bezieht, in dem die Spaltung der Gesellschaft von dem ihr Anderen, dem „fremden" göttlichen Wesen, von ihr selbst internalisiert worden ist 3 3 6 . Die Souveränität des Staates drückt nunmehr die Selbstaneignung der Gesellschaft aus und setzt dabei zwangsläufig die Spannung von Eigenem und Fremdem fort, da die Kommunikation zwischen Individuen an Grenzen stößt und diese Grenzen sich wiederum im Wege der Verinnerlichung des Staates in das Individuum selbst einschreiben. Erst das Fortschreiten der Differenzierung, die sich über die Pluralisierung der Sprachspiele auch in der Auflösung der Einheit des Staates niederschlagen, zeichnet sich die Möglichkeit ab, das nichthintergehbare Spannungsverhältnis zwischen Universellem und Besonderem auf eine neue Darstellungsform zu bringen, nämlich eine Form, die die nicht-lineare, ungleichgewichtige, zeitabhängige Entwicklung von Ordnung und Chaos in sich aufnimmt. Eine solche Beschreibung des Selbstverhältnisses der Gesellschaft kann nicht beim empirischen Individuum ansetzen, das sich mit anderen in einem 334 Waidenfels, (Fn. 42), S. 78,90; Deleuze, (Fn. 36), S. 90; Dal Lago, (Fn. 54), S. 82, 85. 335 Fischer, (Fn. 42), S. 72; M. Hunyadi, Ethik und die Theorie des Subjekts, PhilJb 1989, S. 149. 336 Gauchet, (Fn. 79), S. 290; ders., De l'avènement de l'individu à la découverte de la société, Annales 1979, S. 451 ff.; J. P. Dupuy, L'autonomie du social, Ms. 1986; vgl. auch ders., L'autonomie et la complexité du social, UNU (Hg.), (Fn. 282), S. 293 ff.

I. Beobachtung und Selbstbeobachtung

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Verfahren der rationalen Argumentation verständigt, sondern muß einen emergenten Systemeffekt annehmen, der zwischen den Individuen entsteht und doch etwas anderes, eine kollektive Ebene generiert 337 . Damit wird an das Weiterlaufen des Differenzierungsgeschehens angeknüpft und die Transzendenz der Universalität der Vernunft in die Immanenz der Gesellschaft überführt, die aus einer fremden exogenen Ordnung eine selbstgenerierte endogene autonome Ordnung macht. Damit wird die Transzendenz in eine Paradoxie überführt: die Gesellschaft bleibt dem Menschen fremd, obwohl sie sie doch erzeugen. Durch die Stabilisierung der Kommunikation zwischen den Individuen in dauerhaften Beziehungsnetzwerken entsteht etwas anderes, eben die kollektive Ebene, auf deren „Eigenverhalten" sich die Individuen beziehen. Auch der Staat kann so als emergenter kollektiver Effekt betrachtet werden, durch den die gesellschaftlichen Beziehungsnetzwerke projektiv eine Distanz zu sich selbst erzeugen und sie als Einheit repräsentieren, auf die sie sich in ihren Operationen beziehen können 338 . Diese Möglichkeit besteht deshalb, weil — und darin wird an das traditionelle Verhältnis von Universalität und Subjekt angeknüpft — eine Kommunikation zwischen Individuen durch die Unterstellung einer Ordnung ermöglicht wird, die zugleich durch die Kommunikation generiert wird 3 3 9 , ohne aber der be wußten Disposition der Individuen zu unterliegen. Das Universelle der Ordnung löst sich nicht auf in einem Chaos 340 , das durch Verabredung zwischen Individuen zu gestalten wäre, aber es ist auch nicht vom Besonderen unabhängig, um ihm aus dieser Stellung seinen vernünftigen Sinn geben zu können. Die Wechselbeziehung von Subjekt und kollektiver Ordnung kann nur noch in selbstreferentiellen Formen hergestellt werden. Die Einführung einer nichtlinearen Zeitvorstellung, die Zeit weder als Wiederholung desgleichen noch als lineare Entwicklung denkt, ermöglicht die Annahme eines sich selbst „schreibenden" Programms, das die Lektüre seiner eigenen Ergebnisse aufnimmt 341 , weil es eine Pluralität von Möglichkeiten erhält, die sich durch das Prozessieren in variablen Umständen realisieren und Anschlußmöglichkeiten verketten. Dies ist die Grundlage der Annahme einer zirkulären Kausalität 342 . Ordnung wird strategisch 343 , sie konstruiert sich im Prozeß des Handelns nach Art einer Autokatalyse, 337 Dupuy, (Fn. 336), S. 24, 26. 338 Dupuy, (Fn. 247), S. 29, 30. 339 j. p. Dupuy, De l'économie considérie comme théorie de la foule, Stanford French Rev. 7 (1983), S. 245 ff., 262. 340 κ . Pomian, L'Ordre du temps, Paris 1984, S. 9. 341 Pomian, (Fn. 340) S. 352. 342 Dupuy, (Fn. 339), S. 263; ders., On the Supposed Closure of Normative Systems, in: G. Teubner (Hg.), Autopoietic Law. A new Approach to Law and Society, Berlin New York 1988, S. 51 ff. 343 E. Morin, La Méthode 3: La connaissance de la connaissance, Paris 1986, S. 61; H. Dachler, Some Explanatory Boundaries of Organismic Analogies for the Understanding of Social Systems, in: H. Ulrich / G. J. Probst (Hg.), Self-Organization and Management of Social Systems, Berlin u. a. 1984, S. 132 ff., 137. 6*

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

in der sich eine Struktur selbsterzeugt, d. h. in einem paradoxen Entwurf erzeugt das Ergebnis des Prozesses in „Echtzeit" seinen eigenen Verlauf 344 . Darin deutet sich die Möglichkeit an, mit dem Zerfall der um das Subjekt zentrierten Ordnung, insbesondere die Auflösung des Verhältnisses zwischen der Allgemeinheit der Vernunft und der darüber gestifteten Synthesis des Besonderen in einem neuen Modell einer auf Selbständerung in der Zeit angelegten Ordnung zu rekonstruieren. Konsequenterweise muß das Subjekt dann als ein emergenter Effekt eines komplexen Selbstorganisationsprozesses gedacht werden 345 , es wird eine seinerseits variable Stelle, von der aus es sich selbst programmiert. Das Selbst des Subjekts ist nur als das différentielle Produkt zyklisch sich verknüpfender Veränderungen denkbar 346 . Die Individuen bewegen sich bei ihrer Kommunikation in einem variablen Netz von überindividuellen Anschlußmöglichkeiten und -zwängen, innerhalb deren sich kontinuierlich Rekursivität, d. h. eine nicht von vorgegebenen Regeln abhängige Regelmäßigkeit generiert, die die sprachliche Selbstbeschreibung mit dem Weltverhältnis, das sie ermöglicht, stets mitkonstruiert und dadurch Reflexivität erzeugt 347 . Das ehemals stabile Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem wird überführt in ein heterarchisches, auf Veränderungen angelegtes Mischungsverhältnis aus Ordnung und Unordnung, da das Subjekt selbst Operator und Produkt einer gegen das Besondere nicht mehr abgedichteten symbolischen Ordnung ist: Das Subjekt bringt durch Sprache eine Welt hervor, deren Bestandteil die Sprache (und damit das Selbst) ist. Die Blockierung dieser Paradoxie der Selbstreferenz wird dadurch verhindert, daß „passende" Kommunikationen sich rekursiv zu Netzwerken schließen und die Vielfalt des Möglichen durch Bildung von sozialen Systemen mit eigenen reflexiven Richtigkeitsstandards stabilisieren und umgekehrt das Selbst seine sprachliche operative Kohärenz durch Abstimmung seines rekursiven Eigenverhaltens mit den Bedingungen der Erhaltung der verselbständigten Systeme erhält 348 . Voraussetzung für eine solche Betrachtungsweise ist, daß man das, was die sprachlich bestimmte Kultur im weiteren Sinne ausmacht, nicht dem Individuum zurechnet, sondern als autonomes sich selbsterhaltendes System (oder eine Mehrheit solcher Systeme) betrachtet. Diese befremdliche Vorstellung führt — wie noch zu zeigen sein wird — keineswegs zu einer Entwertung des Individuums, 344 j. de Rosnay, Réseaux à structure variable, Cahiers Science, Technologie, Société 9/10 (1986), S. 139 ff., 149. 345 Morin, (Fn. 343), S. 43. 346 Ε. v. Glasersfeld, Cybernetics, Experience, and the Concept of Self, in: M. N. Ozer (Hg.), A Cybernetic Approach to the Assessment of Children, Boulder/Col. C. 1979, S. 108 ff. 347 Maturana/Varela, (Fn. 110), S. 228 f. 348 j. Markowitz, „Seele" in der Defensive. Anmerkungen zum Problem der Partizipation, in: KulturRevolution Nr. 19 (1988), S. 38 ff.; K. Krippendorff, On Constructing People in Social Inquiry, Ms. 1986, S. 9.

I. Beobachtung und Selbstbeobachtung

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ganz im Gegenteil wird sich zeigen, daß die Herrschaft der Systeme weitaus weniger rigide ist als die auf dem klassischen Subjekt aufbauende Vernunftordnung. Aber diese Konzeption zeichnet sich dadurch aus, daß sie ihrerseits versucht, an die durch den Zerfall des Verweisungszusammenhangs von Subjekt und Vernunft entstandenen Bedingungen anzuknüpfen. Statt nach einer neuen Einheit zu suchen, versucht sie die Selbständerung des Verhältnisses von Ordnung und Unordnung auf Möglichkeiten zur Selbststabilisierung abzutasten, die sich in einem nicht-linearen Ungleichgewichtsmodell beschreiben lassen. Die Konzeption der Kultur als eines Komplexes von Sprachspielen, die ihre Einheit weder in einem Subjekt noch im Prozeß der intersubjektiven Kommunikation haben (oder gar von ihm kontrolliert werden) sollte gerade vor dem Hintergrund der Darstellung des klassischen Subjekts in einem Modell universeller Menschenvernunft weniger als Zumutung erscheinen, da das Subjekt des zentralen Standpunkts des Urteilens und Handelns innerhalb eines Systems ohnehin mit der Einheit des Erlebens des Individuums nie identisch war. Die Trennung von Subjekt und Objekt in der klassischen Subjektphilosophie hatte immer auf die cartesianische „denkende Substanz" verwiesen, die dem Chaos des Besonderen ihre Ordnung aufprägt 349 ; davon ist auch die intersubjektive Verständigung im Verfahren der Argumentation noch ein Abglanz, wenn sie die Substanz oder die Regelhaftigkeit der Vernunft im Argumentieren prozeduralisiert und die Trennung des Subjekts vom Besonderen in der Trennung der kommunikativen Rationalität vom Besonderen der Systemzwänge fortsetzt. Die Vernunfterwartung wird dann an die Verständigung innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft gerichtet, die sich außerhalb gegen instrumentelle und strategische Rationalitäten des Besonderen konstituiert. Diese Variante der modernen Philosophie und ihre rechts- und verfassungstheoretischen Lesarten gehen, wie oben gezeigt, nicht von einer vorfindlichen Vernunftordnung aus, sondern von einem Chaos, demgegenüber die Individuen sich über eine zu schaffende explizite Ordnung einigen müssen, damit vernünftiges Handeln in der Welt möglich wird 3 5 0 . 2. Vom Subjekt zur kollektiven

Intelligenz

Kommunikatives Handeln muß nicht im Subjekt / Individuum verankert werden, wenn man von einem Grundtopos, einer Philosophie der Gesetzgebung oder des Vertrages Abschied nimmt. Wenn man mit dem Denken von zeitabhängigen Prozessen 351 ernst macht und Veränderung nicht nur als Bewegung von Objekten in einem abgegrenzten Raum, einer vorgegebenen Realität, oder auf einer linearen 349 R. Fischer, Pourquoi les idées ne sont pas dans le cerveau, Diogène Nr. 151, S. 3, 28. 350 Descombes (Fn. 136), S. 162. 351 G. Balandier, Le lien social en question, Cahiers Internationaux de sociologie 1989, S. 5 ff., 12.

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2 Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

Trajektorie konzipiert und dabei doch die Einheit eines Subjekts oder die potentielle intersubjektive Einheit einer Kommunikationsgemeinschaft unterstellt, sondern sie als Transformation von differentiellen Beziehungsnetzwerken begreift, die trotz der diskontinuierlichen Übergänge zwischen unterschiedlichen Zuständen Selbststabilisierung ermöglicht 352 , dann ist das Denken eines Ordnung, Chaos, Individuum und Gesellschaft übergreifenden generativen Zusammenhangs nicht so ungewöhnlich 353 . Interessanterweise treffen die veränderten Selbstbeschreibungen des Subjekts sich mit der veränderten Wahrnehmung der Natur: auf der einen Seite tritt die Natur (Stichwort: Umweltprobleme) in die Geschichte der Gesellschaft ein, auf der anderen Seite tritt uns die Geschichte (in) der Natur entgegen: die Materie verhält sich offenbar nur in Gleichgewichtsnähe „repetitiv". Weit vom Gleichgewicht entfernt treten „dissipative Strukturen" in komplexeren Selbstorganisationsprozessen auf, die durch Irreversibilität und strukturelle Inhomogenität gekennzeichnet sind 354 : An „Bifurkationspunkten" ist die Entwicklungsrichtung, die ein System durch „besondere" Fluktuationen erhält nicht berechenbar. Die Komplexität solcher Situationen ist nicht auf einen quantitativen Mangel an Informationen zurückzuführen, sondern für einen neuen Phänomenbereich konstitutiv. Nur im Zustand des Gleichgewichts ist die Gesamtheit des Systems sichtbar 355 . Dieses von den Naturwissenschaften entwickelte Modell läßt sich zurückbeziehen auf die Konzeption des Subjekts in der klassischen idealistischen Philosophie und in der subjektzentrierten Verfassungstheorie: Man könnte formulieren, daß der Verweisungszusammenhang zwischen Subjekt und regelhafter Vernunft auf der Verkennung der Bewegung des transsubjektiven „Differenzierungsgeschehens" basiert, dessen Bewegung in der Aneignung des fremden göttlichen Willens durch das autonome Subjekt stillgelegt und verkannt wird. Auf der anderen Seite läßt sich, auch wenn man das Denken nicht neurologisch in Gehirnfunktionen auflösen kann, doch auch das Phänomen des Auftretens von Ordnung aus Unordnung in den Gehirnfunktionen selbst wiederfinden. Auch das Gehirn ist offenbar dezentriert und seine Funktionen werden über das Parallelprozessieren einer Fülle von Neuronen ohne Zentrum selbst organisiert 356 . In diesem Modell der Selbstbeschreibung der Gehirntätigkeit findet sich ebenfalls ein charakteristisches Zusammenspiel von anatomisch vorgeordneter Konnektivität und funktionaler Dissemination wieder, eine Interferenz von rigiden und plastischen, 352 G. F. Lanzara, Il problema della generatività dei sistemi sociali complessi, in: A. Ardigò/G. Mazzoli (Hg.), Intelligenza Artificiale, Mailand 1986, S. 175 ff., 200. w G. Balandier, Le désordre, Paris 1988, S. 81. 354 ι. Prigogine/I. Stengers, Dialog mit der Natur, München / Zürich 1981, S. 27. 355 I. Prigogine, The Philosophy of Instability, Futures 1989, S. 396 ff. 356 Vgl. j. L. McClelland / D. E. Rumelhart / G. E. Hinton, The Appeal of Parallel Distributed Processing, in: D.E. Rumelhart/J. L. McClelland and PDP-Res. Group, Parallel Distributed Processing. Explorations in the Microstructure of Cognition, 2. Aufl., Cambridge 1986, S. 3 ff.

I. Beobachtung und Selbstbeobachtung

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Informationen prozessierenden Systemen bilden 357 . Damit ist „Geist" keineswegs auf ein biologisches Phänomen reduziert, sondern ein Ansatz zur Herstellung einer elementaren Korrespondenz zwischen Modellen der (Selbst-)Beschreibung von Natur und Gesellschaft ermöglicht 358 , wie sie auch im Verhältnis zwischen klassischer Subjektphilosophie und der an der Suche nach allgemeinen, systematisierbaren Gesetzmäßigkeiten der Natur zugrundelag. Vor allem angesichts der Entwicklung zu einer sich über Informationen reproduzierenden Gesellschaft ist es naheliegend, das emergente Moment des Kollektiven, daß weder eine selbständige Größe ist, noch in der Interaktion der Individuen aufgeht, und daß einer im Prozeß seiner „Anwendung" sich ändernden Selbstbeschreibung bedarf, als / wie ein plurales fragmentiertes Netzwerk der „Ideenpopulation" zu sehen 359 , die über die Individuen prozessiert wird, aber nicht auf das individuelle Bewußtsein reduzierbar ist 3 6 0 . Kommunikationssysteme haben einen Eigenwert, eine „outreaching identity" 361 , über den nur vage integrierte Beziehungen zwischen Individuen erhalten werden. Diese produzieren sich über spezifisch kollektive emergente „stochastische" Effekte, die im Austausch der Kommunikationsbeiträge nicht aufgehen. Dabei entsteht eine„nicht-lokale" kollektive Intelligenz 362 , mit und in der die Individuen operieren. So läßt sich auch eine Vorstellung davon gewinnen, daß und warum das , »Programm" dieser kollektiven Intelligenz nicht in vollem Umfang explizierbar ist, sondern mindestens partiell als Virtualität der Verknüpfungsmöglichkeiten innerhalb eines Beziehungsnetzwerkes mit prozessiert wird. Jede explizite Kommunikation aktiviert zugleich eine Fülle von zunächst latent bleibenden virtuellen Anschlußmöglichkeiten, die in den Beziehungen aggregiert sind. So erklärt sich auch, daß und warum im Denken „der" Gesellschaft Veränderungen vielfach diskontinuierlich auftreten: Auch in den kulturellen Selbstbeschreibungsprozessen ordnen sich solche Verknüpfungsmöglichkeiten über „Attraktoren" und Repulsionen, die zur Selbstverstärkung bestimmter Sinnfelder und -Verkettungen führen. Pointiert könnte man deshalb mit R. Fischer sagen: „Der Geist ist nicht im Gehirn" 363 , eine Vorstellung, die gerade durch den a-zentrischen Charakter des Gehirns selbst ermöglicht wird. So läßt sich auch gesellschaftliches Lernen erklären: Das „Programm" der kollektiven Intelligenz ist über ein verzweigtes Netzwerk lokaler Interaktionen verstreut, das sehr unterschiedliche, nicht berechenbare Assoziationen zuläßt, die nicht von 357

J. L. Hadley, The Representational System: A Bridging Concept for Psychoanalysis and Neurophysiology, Int. Rev. of Psa. 1983, S. 13 ff. 55« Lanzara, (Fn. 352), S. 200. 3 59 V. Csanyi / G. Kampis, Modeling Society: Dynamic Replicative Systems, Cybernetics and Systems 1987, S. 233 ff., 239. 3 60 Fischer, (Fn. 349), S. 21. 361 Ch. S. Peirce, Writings of Ch. S. Peirce, 2, Bloomington 1984, S. 241; Fischer, (Fn. 349), S. 24. 3 62 Fischer, (Fn. 349), S. 28. 3 3 * Fischer, (Fn. 349), S. 26.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

Individuen vorgedacht worden sein müssen. So lassen sich auch Phasen der Gesellschaft mit höherer oder niedrigerer Intelligenz bestimmen als solche, die produktive, sich selbst verstärkende Assoziationen ermöglichen und solche, in denen Prozesse sich wechselseitig blockieren. Produktive Intelligenz ist durch ein ausgewogenes Verhältnis von inhibitorischen, ordnungsbildenden und chaotischen/entstrukturierenden Relationierungen bestimmt, während Blockierungsprozesse charakterisiert sind durch zu starke rigide Kopplung (Ideologien) oder durch chaotisches Fluktuieren von zu vielen Möglichkeiten, die keine Selbststabilisierung von Sinnfeldern ermöglichen, weil „passende Anschlußmöglichkeiten" fehlen. Zugespitzt könnte man formulieren, daß die im Selbstbewußtsein des Subjekts explizierbare regelhafte Vernunft oder ihre intersubjektiv prozeduralisierte Variante von einer Pluralität virtuell kreativer Operatoren der Selbstbeobachtung eines „stochastischen Chaos" abgelöst wird 3 6 4 , das nach variablen Ordnungsmöglichkeiten abgesucht wird, und zwar in einem Prozeß, der insgesamt der Evolution unterliegt. Evolution ist dabei nicht zu verstehen als ein zielorientierter Selektionsprozeß, der günstige „Eigenschaften" eines Systems verstärkt und ungünstige unterdrückt. Evolution in einem komplexen Sinne ist eher ein Suchmechanismus für Bedingungen der Erhaltung von Variabilität unter Ungewißheit: Evolution erzeugt sozusagen ständig „Lärm", den sie selbst auf passende Signale abhört und dabei zugleich wiederum den Lärm erzeugt, der sie weitertreibt. Ein komplexes „Ziel" zweiter Ordnung könnte eher darin gesehen werden, nicht die bekannten Möglichkeiten auf den eingefahrenen Trajektorien maximal auszuschöpfen, sondern Flexibilität und Diversität für Wandel und damit für unterschiedliche Möglichkeiten zu erhalten. Für eine gesellschaftsbezogene Lesart würde dies bedeuten, daß die Erhaltung von Ungleichgewicht und Wandlungsfähigkeit einen höheren Wert hat als Gleichgewicht und Ordnung 365 . Das bedeutet weiter, daß Gesellschaften einen internen Mechanismus der Ausschöpfung und Entdeckung neuer Möglichkeiten benötigen, der auf der Zufuhr von chaotischem Verhalten basiert 366 . Kreativität besteht darin, Wandel zu ermöglichen, dessen „Nutzen" und „Passen" nicht von vornherein absehbar ist. Dies mag als „Verschwendung" erscheinen, ermöglicht aber gerade die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, die für das Operieren unter Ungewißheitsbedingungen benötigt wird. Allerdings muß man auch den Wert einer gewissen Stabilität gegenüber dem Neuen betonen, eben weil das „Passen" dieses Neuen selbst ungewiß ist. Darin liegt der Grund dafür, daß das Wissenschaftssystem und die Kunst, aber auch die öffentliche Meinung, von politischen und ökonomischen Entscheidungssystemen institutionell getrennt sind und Neues dort ermöglicht wird, wo es von

364 Fischer, (Fn. 349), S. 27. 365 p. M. Allen, Dynamic Models of Evolving Systems, in: System Dynamics Rev. 1988, S. 109 ff., 128 f. 366 Allen, (Fn. 365), S. 129.

I. Beobachtung und Selbstbeobachtung

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Anwendungsfolgen zunächst entlastet wird und nach dem Passieren des Filters der eigenen Bewertungskriterien nach Übersetzungsmechanismen gesucht werden muß, die die Übernahme in andere Systeme ermöglicht. Eine zu hohe Bereitschaft zum Experimentieren vor allem zur Kumulation von Experimenten kann die Gedächtnisbildung durch Organisation unmöglich machen. (Ein Beispiel dafür sind viele „linke" Bewegungen, die so viel (und so viel auf einmal) ändern wollen, daß die Bewegung selbstdestruktiv auf die eigene Organisation zurückschlägt). Auf der anderen Seite zeigt sich, daß in gesellschafts- und rechtstheoretischer Perspektive die Beseitigung „überflüssiger" Elemente eines Systems letztlich seine Anpassungsfähigkeit insgesamt in Frage stellen kann. Die Intelligenz einer Gesellschaft besteht daher eher in der Erhaltung einer Vielfalt von Möglichkeiten und der Freiheit zu experimentieren (dies gilt ebenso für das Verhältnis gesellschaftlicher Systeme zur Natur) das davon bestimmt sein muß, nichts vordergründig „Überflüssiges" zu beseitigen. Das Verhältnis von Ordnung und Chaos in gesellschaftlichen Systemen sollte vom beständigen Suchen nach Möglichkeiten jenseits des verfügbaren Wissens bestimmt sein 367 , das über das Netzwerk und die Verkettungen von Anschlußzwängen und -möglichkeiten verstreut ist. Dieser Mechanismus muß in einer gesellschaftlichen kognitivistischen Perspektive aufgenommen und dadurch institutionalisiert werden, daß alternative Perspektiven, das Mitlaufenlassen von unterlegenen Vorschlägen, die Nachbesserung aufgrund neuer Informationen, zeitabhängige, auf Revision angelegte Entscheidungsverfahren etc. garantiert werden. Auf diese Weise läßt sich ein „Dialog" zwischen der etablierten Selbstbeschreibung eines Systems und den Fluktuationen und Störungen ermöglichen, die dadurch strategisch ausgeschlossen werden. Die „Cartesianer", die an der Erhaltung und Ausdifferenzierung von Routinen orientiert sind, bilden sozusagen das Rückgrat der Gesellschaft, während die „Stochasten" das Lernen ermöglichen 368 . Innerhalb sozialer Systeme sind diese Konflikte zu kompatibilisieren, da eine Gesellschaft viel mehr Heterogenität ermöglichen kann und muß, als mit der „Identität" eines Individuums vereinbar ist 3 6 9 . Gerade innerhalb eines von Unbestimmtheit und Ungewißheit bestimmten Kontext, in dem es darauf ankommt, Kreativität durch Vielfalt zu erhalten, wird auch dem Individuum ein neuer Status zugewiesen: Es führt den Systemen immer wieder einen „Überschuß an Unsagbarem" zu 3 7 0 , der das Einrasten der Systeme in einem stabilen Durchschnittsverhalten verhindert. Andererseits wird dem Indi-

367 p. M. Allen, Why the Future is not what it was, Futures 1990, S. 555 ff., 567. 368 p. M. Allen / J. M. MacGlade, Modelling Complex Human Systems: A Fisheries Example, Eur. J. of Op. Res. 1987, S. 147 ff., 167. 369 Allen/MacGlade, (Fn. 368), S. 165. 370 Waldenfels, (Fn. 42), S. 79.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

viduum eine Verantwortung abverlangt, wenn es seine Selbstbeschreibungen mit den Zumutungen der Systeme abstimmen und ihre Eigenständigkeit akzeptieren muß. Dies gilt um so mehr, als die Kommunikationsnetzwerke auch die Grenzen des Wissens bestimmen, das die Individuen überschreiten 371. Denn die Beobachtung ist keine Abbildung, sondern eine Art Dialog. Information ist Funktion eines Beziehungsnetzwerks, nicht eine Beziehung zwischen Subjekt und Objekt 3 7 2 . Innerhalb der in einzelne Sprachspiele ausdifferenzierten Teilsysteme übernehmen Organisationen die Rolle der Ausbildung von spezialisierten Gedächtnissen, die bestimmte Informationen zirkulär-rekursiv in besonderen geschlossenen Netzwerken prozessieren, von denen auch die kreative Kommunikation als zunächst „sinnlose" Äußerung ausgehen muß. In natürlichen wie gesellschaftlichen Systemen gibt es keine dauerhaft bestimmten Ziele, und Sinn muß nach selbsterzeugten Kriterien definiert werden. Die Garantie der Vielfalt von Überschreitungsmöglichkeiten ist eine Antwort auf die Ungewißheit. Es läßt sich schon jetzt feststellen, daß die Akzentverlagerung vom selbstbewußten Subjekt zum autonomen System weder das Individuum zur quantité négligeable macht noch das System an einem blind seine Funktion reproduzierenden Zirkel bindet, der vom Individuum Unterwerfung verlangt. Die Verselbständigung des „Denkens der Gesellschaft" gegenüber dem Subjekt ist die Konsequenz einer Dezentrierung im Angesicht von Ungewißheit und Unbestimmtheit der Evolution, nicht aber Folge eines neuen objektiven Gesetzes, das vom Subjekt Exekution verlangt. Die „Ideenpopulation" der Gesellschaft bleibt selbst pluralgespalten, und die kollektive Ebene der Selbstmodellierung bleibt durchzogen vom Spiel der Zerstreuung des Sinns. 3. Lernen durch Vervielfältigung

der Beobachtungsstandpunkte

Der Wechsel von einer subjektzentrierten zu einer systemisch-kollektiven Perspektive 373 öffnet auch den Zugang zum Status des Beobachters, der für die Theorie der Selbstreferenz und Selbstorganisation von großer Bedeutung ist. Vor allem die Fragmentierungsprozesse, die die Universalität der Vernunft und die Einheit des Subjekts auflösen, haben — wie gezeigt — die Eigenständigkeit der Sprache und ihren Ereignischarakter akzentuiert und damit die Transparenz des Objekts für das Subjekt ausgeschlossen. Damit ist das Verhältnis zum Subjekt, dem anderen und den anderen nicht mehr von Einheit geprägt, sondern von Differenz. Ergänzend zu den früheren Ausführungen mag hier ein Hinweis auf eine nicht-europäische Kultur zeigen, wie voraussetzungsvoll der klassische Sub371 K. Krippendorff, An Epistemological Foundation for Communication, J. of Comm. 1984, S. 21 ff., 27, 32. 372 Κ. Krippendorff, Information, Information Society and some Marxian Propositions, in: Informatologia Yugoslavica 17 (1985), S. 7 ff., 9, 24. 373 τ . Winograd/F. Flores, Understanding Computers and Cognition, Norwood/ Ν. Y. 1986, S. 78.

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jektbegriff ist. Paradoxerweise scheint gerade die Schrift 374 , nicht die Sprache als solche, die selbstreflexive Vorstellung eines Subjekts, das sein Denken als eigenes vollzieht, ermöglicht zu haben. So schließt etwa eine Südsee-Kultur wie die Samoas375 die Unterscheidung zwischen einer gegebenen Aussage, Erzählung etc. und ihrer Bedeutung aus. Sinn bleibt kontextabhängig und ist deshalb kein internes mentales Ereignis. Erst die Schrift macht diese begriffliche Unterscheidung zwischen einem Text, einer Absicht und seinem Sinn möglich. So hat gerade die Schrift den Status des Subjekts insofern erst konstituiert, als sie die Vorstellung der Autonomie des Sinns gegenüber der referentiellen Funktion auf eine komplexe Situation hervorgebracht hat. Wenn andererseits aber Subjekt und Objekt durch die Sprache erst konstituiert werden, muß die kollektive Perspektive auch einer westlichen Kultur auf einer höheren Ebene wieder eingeführt werden, nachdem eine um das Subjekt zentrierte Einheitsvorstellung zerfallen ist. Erkenntnis bleibt nicht nur instrumenteil an Sprache gebunden, sondern der konstitutive Charakter der Sprache für das Subjekt führt in einer epistemologischen, am Status des Beobachters orientierten Konzeption zu der Annahme, daß das Subjekt den Inhalt der Sprache selbst modelliert 376 , ausgehend von Unterscheidungen auf einem dunkel bleibenden Hintergrund 377 . Das Subjekt nimmt — sich selbst voraussetzend — keine passive Abbildung der Realität im sprachlichen Spiegel vor, sondern es operiert in und mit seiner Umwelt, indem es sie auf ihre Resonanzfähigkeit „abtastet". Dabei benutzt es historische relationale Anschlußmöglichkeiten aufgrund von systemisch „beurteilten" Möglichkeiten, deren Regelmäßigkeit zur Ausbildung von „Konversations"-Mustern führen 378 . Das Subjekt sieht nicht mehr die „Wirklichkeit" eines Objekts, sondern konstruiert aktiv in und mit den sprachlichen Möglichkeiten. Die Sprache „ist" sowohl auf der Objekt- als auch auf der Subjektseite, sie ermöglicht beide und ist zugleich ihrerseits ein selbstorganisierendes System, das mehrere Ebenen zusammenschließt 379 : Sie ist das Medium des Differenzierungsgeschehens, das den Zerfall der ursprünglichen Identität des „fremden" Willens mit seinem Objekt, der Welt, eingeleitet hat. Die Rekursivität des Subjekts, das weder selbst über ein eigenes Programm der Vernunft verfügt, noch ein fremdes vollzieht, sondern durch seine Operationen in der Sprache zugleich sich selbst beobachtet und modelliert 380 ,

374 Vgl. j. Derrida, Grammatologie, Frankfurt 1974. 375 D. R. Olson, Mind and Media: The Epistemic Function of Literacy, J. of Comm. 1988, S. 27 ff. 376 Winograd/Flores, (Fn. 373), S. 78. 377 G. Spencer Brown, Laws of Form, London 1969. 378 G. Pask, Conversation Theory, Amsterdam 1976; Winograd / Flores, (Fn. 373), S. 157, 176; F. J. Varela, Connaître. Les sciences cognitives. Tendances et Perspectives, Paris 1989, S. 75; M. Hutter, Die Produktion von Recht. Eine selbstreferentielle Theorie der Wirtschaft, Tübingen 1989, S. 81. 379 H. Atlan, Le problème corps-esprit comme cas particulier d'organisation en niveaux: Rôle du langage, in: Psychologie médicale 1984, S. 1053 ff., 1057.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

führt zu einem „Selbstentzug des Ich" 3 8 1 . Damit wird es schließlich nur noch als Beobachter denkbar, der mit der Bewegung der von ihm prozessierten Unterscheidungen identisch wird 3 8 2 . Dies läßt sich jedoch zurückbeziehen auf die grundlegende Konzeption eines transsubjektiven Differenzierungsgeschehens, dessen Produkt (und zugleich Medium) das Subjekt ist: Die in einem festen Willen bekundete Wirklichkeit der Welt wird abgelöst von einer Welt der Möglichkeiten, deren Relationierungen auf einer Dynamik der selbsterzeugten artifiziellen Transformationen basiert. Das „Programm dieser Dynamik" besitzt die Eigenschaft, aufgrund seiner eigenen Lektüre seine Regeln zu verändern 383. Die Dynamik erzeugt bestimmte Selbststabilisierungen durch Vernetzung, die die spontane Selbstmodifikationsfähigkeit begrenzen, ohne aber — aufgrund der Dauervariationen innerhalb des Netzwerkes, über deren Relationen sozusagen die Intelligenz zerstreut ist — den Fortgang der Bewegung zu begrenzen 384. Die Fortsetzung des transsubjektiven Differenzierungsgeschehens verlangt den Übergang zu einer Logik des Lernens: Das bedeutet, daß die Definition der Ziele Bestandteil der Funktionsweise einer Subjekt, Objekt, Vernunft und Sprache integrierenden systemischen Logik wird, die deshalb auch Selbstbeobachtungen benötigt 385 . Das System generiert ständig neue Möglichkeiten aufgrund der nichtkontrollierbaren Komplexität der Relationen innerhalb eines Netzwerks, die auf neue Stabilisierungsmöglichkeiten hin (selbst-)beobachtet werden müssen386. Das spezifisch konstruktive Moment der Theorie der Beobachtung387 besteht darin, daß sie das Generieren und Prozessieren von Regelmäßigkeit und damit von Orientierungswissen nicht in der Verknüpfung des einheitlichen Subjekts (des Subjekts „desselben Denkens", des „bleibenden Ich") und einem Objekt sucht, sondern in der „Passung" (viability) von Operationen an und in zeitabhängige Netzwerke von Handlungen, handlungsorientierenden „Konversationen" 388 . 380 Maturana / Varela, (Fn. 110), S. 228; A. Lacroix, De la cybernetique comme logique du fonctionnement de Γ auto-organisation, Actes du 9e Congrès de cybernetique, Namur 1980, S. 39 ff., 40. 3 «i Waldenfels, (Fn. 42), S. 67. 382 Fischer, (Fn. 349), S. 21; Spencer Brown, (Fn. 377), S. 76. 383 J. P. Dupuy / P. Dumouchel, L'auto-organisation: Du social au vivant et du vivant au social, Cahiers Science, Technologie, Société 5 (1984), S. 45 ff.; H. Atlan, L'émergence du nouveau et du sens, in: J. P. Dupuy/P. Dumouchel (Hg.), L'auto-organisation. De la physique au politique, Paris 1983, S. 115 ff. 3 84 H. Atlan, La vérité toute nue, Le genre human 1983, S. 263 ff. 3 85 385 H. Atlan, Functional Self-Organization and Creation of Meaning, in: Cognitiva'85 Forum, S. 117 ff.; vgl. auch ders., L'intuition du complexe el ses théorisations, in: F. Fogelman Soulié (Hg.), Les théories de la complexité — Autour de l'oeuvre d'Henri Atlan. Colloque de Cerisy, Paris 1991, S. 9 ff., 28 f. 3 86 H. Atlan, Information Theory and Self-Organization, in: Can. Bull, of Fisheries and Aquatic Sciences 1985, S. 187 ff., 194. 387 H. Atlan, Disorder, Complexity and Meaning, in: P. Livingston (Hg.), Disorder and Order, Saratoga 1984, S. 199 ff.; de Rosnay, (Fn. 344), S. 152. 388 Winograd/Flores, (Fn. 373), S. 64.

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Das beobachtende Subjekt steht dem Objekt nicht gegenüber, es nimmt innerhalb eines Netzwerks aufgrund von Störungen, die in der Umwelt entstehen, neue Unterscheidungen vor und generiert sich damit in einer rekursiven Weise selbst 389 . Die Existenz eines Netzwerks von Verknüpfungen erzeugt einen Beobachter, Beobachtetes und Beobachtung als Prozeß umfassende Welt aus der Fülle unbestimmter Möglichkeiten. Daraus ergibt sich, daß der Beobachter, der aufgrund der emergenten Eigenschaften eines komplexen Systems neue Möglichkeiten entwirft 390 , kein einheitliches Subjekt sein kann. Varela hat das die Pluralität von Subjekten, Objekten und ihrer Verknüpfungen umfassende System mit einer „Cocktail Party" verglichen 391 , um den Mangel eines einheitlichen Zentrums der Sinnbildung zu kennzeichnen, der nur eine heterogene horizontale Verknüpfung zwischen Zeichen und ihren vergangenen Verwendungen erlaubt. Die Logik der Selbstreferenz nimmt eine auch philosophisch thematisierte Grundlosigkeit unserer Erfahrung auf, die Unmöglichkeit eines Anfangs und damit auch eines Zentrums, von dem aus der Anfang beobachtet und fortgesetzt werden könnte. Sie akzeptiert eine Situation, in der „niemand für sich in Anspruch nehmen kann, die Dinge in einem umfassenden Sinne besser zu verstehen als andere" 392 . In diesem Feld, das ständigen Metamorphosen unterworfen ist, bilden sich zugleich „Landschaften", die durch die Unterscheidung zwischen Innenund Außen variable Grenzen im Fluß der Möglichkeiten bilden und darüber „Eigenverhalten" durch Selbstreferenz bestätigen und stabilisieren 393. Ein solches Netzwerk hat weder Anfang noch zeitunabhängige Dauer, es läßt die Entstehung von Sinn nur durch Verknüpfung, durch Relationierung von Elementen zu und impliziert damit von vornherein die Möglichkeit unterschiedlicher Netzwerkbildungen durch unterschiedliche Beobachter, so daß wiederum Abstimmungen zweiter Ordnung über die Beobachtung — und nicht nur über die Relationierung von Elementen — erforderlich werden können 394 . Das Subjekt und seine Welten entstehen durch zeitgleiche „Ko-Konstruktion" in wechselseitiger Spezifizierung; sie sind „ko-emergent" 395 und ein solches Verhältnis läßt keinen stabilen internen oder externen Beobachterstandpunkt zu. Das Verhältnis von subjektivem Sinn und objektiver Welt ist nicht an externe Standards der universellen Vernunft gebunden, sondern es ist bestimmt von einem dynamischen Wechselspiel zwischen Aufbau einer Struktur, dem Fluß der Störungen in der Umwelt und den 389 H. Maturana, What is it to see?, Arch. Biol. Med. Exp. 1983, S. 255 ff., 258. 390 F. J. Varela, Connaître. Les sciences cognitives, Paris 1989, S. 106, 112. 391 Varela, (Fn. 390), S. 75. 392 F. J. Varela, Der kreative Zirkel. Skizzen zur Naturgeschichte der Rückbezüglichkeit, in: P. Watzlawick (Hg.), Wie wirklich ist die Wirklichkeit?, München / Zürich 1983, S. 294 ff., 308. 393 F. J. Varela, Two Principles for Self-organization, in: Ulrich / Probst (Hg.), (Fn. 343), S. 27 ff., 27. 394 F. J. Varela, Not one, not two, Co-Ev. Q., Herbst 1976, S. 62 ff. 395 F. J. Varela, Complessità del cervello e autonomia del vivente, in: G. Bocchi / M. Ceruti (Hg.), La sfida della complessità, Mailand 1985, S. 141 ff., 156.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

Interaktionen zwischen System und Umwelt 3 9 6 . Das dabei entstehende Verhältnis zwischen Innen und Außen bezeichnet Varela als „natürliche" bzw. „kulturelle Drift", die von einer Geschichte des Experimentierens mit Strukturbildung bestimmt werde, einem beständigen a-zentrischen Wechselspiel „of what constrains and what constructs" 397 . Subjekt, Objekt, Vernunft und Sprache sind in einer rekursiven Beziehung der Selbstorganisation zusammengeschlossen, die Sinn erzeugt. Sinn wird nicht durch die Verknüpfung des Besonderen mit „demselben" Denken des Subjekts gewonnen, er erzeugt sich als Effekt der Komplexität der Verweisungen und Verweisungsüberschüsse selbst 398 . Die Rekursivität der Beobachtung wird durch die paradoxe Struktur der Sprache erzeugt, die die Beobachtung des Realen zugleich ermöglicht und dabei doch selbst an die Praxis der vergangenen Verwendungen von Zeichen und die zwischen den Zeichen und ihren Verwendungen entstehenden Selbstorganisationseffekte gebunden bleibt 399 . Die Selbstmodifikation des Systems entsteht dadurch, daß die nicht-hintergehbaren kollektiven emergenten Effekte über individuelles oder organisiertes Handeln prozessiert werden, ohne aber als solche zentral verfügbar zu sein 400 . Durch Beobachtung wird eine einzelne Operation mit einem mehr oder weniger globalen kollektiven Effekt in der Vergangenheit verknüpft und ein künftiger Effekt modelliert, der aber daraus nicht ableitbar ist, sondern mit einer Unbestimmtheit behaftet ist, die mit der Komplexität der Wechsel- und Rückverweisungen und den Störungen der Umwelt zusammenhängt401. Selbstorganisationseffekte treten gerade durch die Verschleifung unterschiedlicher Ebenen auf: Die kollektive Ebene der Sinnbildung ist auf die Ebene der individuellen Beziehungen nicht reduzierbar und dennoch von ihr abhängig, und diese Abhängigkeit wird prozessiert durch die paradoxe Rekursivität der Eigenschaften der Sprache, die das Netzwerk der Unterscheidungen organisiert, durch das sie selbst als emergenter Effekt generiert wird. Die Selbstorganisation, die Subjekt, Objekt, Sinn und Sprache verschleift (re-)konstruiert sich über die notwendige Interaktion zwischen verschiedenen Integrationsebenen, die zugleich unterschiedliche Beobachtungsebenen sind: Was ein Beobachter als unstrukturierten „Lärm" wahrnimmt, enthält potentiell zugleich möglicherweise die Bedingungen der Emergenz neuer Eigenschaften, die dem Beobachter innerhalb des Systems unbekannt sind. Die Dynamik der Selbstmodifikation der Gesellschaft läßt keinen einheitlichen Beobachterstandpunkt mehr zu (dies wird weiter unten insbesondere unter dem Aspekt der Ausdifferenzierung einzelner Sprachspiele in gesellschaftlichen Teilsystemen weiterverfolgt). 396 F. J. Varela, Living Ways of Sense-Making, in: Livingston (Hg.), (Fn. 387), S. 208 ff., 219. 397 F. J. Varela, Das Gehen ist der Weg, in: R. Kakuska (Hg.), Andere Wirklichkeiten, München 1986, S. 155 ff., 163. 398 H. Atlan, Complessità, disordine e auto-creazione del significato, in: Bocchi/ Ceruti (Hg.), (Fn. 395), S. 158 ff., 167. 399 H. Atlan, A tort et à raison, Paris 1986, S. 49, 67. 400 Atlan, (Fn. 399), S. 67. 401 Atlan, (Fn. 399), S. 50, 63 f.

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Das Beobachtersubjekt ist nicht als Zentrum der Verknüpfungen zu sehen, das das Besondere im „selben Denken" vereinheitlicht, sondern es ist eine Art Katalysator, der seine Auslöserfunktion innerhalb eines vorhandenen Netzwerkes von Transformationsmöglichkeiten erfüllt, ohne deren Ursache oder Grundlage zu sein. Dieser Zusammenhang kann mit M. Eigen 402 als Hyperzyklus bezeichnet werden: Das emergente Ergebnis organisiert autokatalytisch einen Prozeß, der durch seine eigene „statistische" Struktur nicht vollständig vorgegeben ist und auch in einer höheren Ebene nicht enthalten ist. Es handelt sich um eine Art generatives Programm, das seine Lektüre (das Besondere) für sein Weiterschreiben benötigt und dabei zum Teil seine eigenen Regeln verändert 403. (Hier drängen sich wiederum Parallelen zu einer dekonstruktivistischen Literaturtheorie, etwa der H. Blooms, auf, wonach Literatur im Dialog von Lesen und Schreiben, also nicht durch Schöpfung, sondern durch Um-Schreiben der Lektüre entsteht.404) Die Regeln der Veränderung der Regeln sind ein paradoxer Bestandteil des Programms selbst. Sie sind der begrenzten Disposition nur deshalb zugänglich, weil sie der Dauervariation („Lärm") innerhalb des Gesamtsystems aufgrund des Austausche mit der Umwelt geschuldet sind, die das System zwar nicht „informieren" (im Gegenteil!), aber ständig Kontingenzen erzeugen, die die stabile Abschichtung von Meta-Ebene (Regel) und Objekt-Ebene (Anwendung) ausschließen. Genau dadurch entsteht die Mischung aus Ordnung und Chaos, die die Evolution eines Systems ermöglicht. In der Habermasschen Lesart der kommunikativen Rationalität erscheint das Verfahren des intersubjektiven Austausche von Argumenten nach Regeln letztlich verankert in einem normativen Modell, nach dem die unvollständige autonome Vorstellung von Ego durch die Alter zugestandene Autonomie ergänzt wird. Autonomie wird damit normativ als gemeinsames Projekt von allen mehr oder weniger verinnerlicht; damit wird der kollektive Charakter des Verhältnisses eines zwischen den Individuen zerstreuten OrientierungsWissens 405 und damit der unaufhebbaren Gleichzeitigkeit der Trennung und der Einheit von Individuellem und Kollektivem verfehlt. Die Vielfalt der Beobachterstandpunkte, und damit kollektives Lernen wird gerade dadurch ermöglicht, daß das transsubjektive Differenzierungsgeschehen sich sowohl im Subjekt als auch in „seiner" Welt vollzieht: Die Gespaltenheit des Subjekts zwingt dazu, den paradoxen Zustand der Gleichzeitigkeit der Trennung und der Vereinigung mit dem Nicht-Selbst auszuhalten und damit zu operieren und ein produktives Spannungsverhältnis 402 Vgl. M. Eigen / R. Winkler, Das Spiel, 5. Aufl., München / Zürich 1983; de Rosnay, (Fn. 344), S. 132, 141. 403 Dupuy/Dumouchel, (Fn. 383), S. 45, 48. 404 Vgl. auch zu einer dekonstruktivistischen Literaturtheorie H. Bloom, Kabbala, Poesie und Kritik, Basel / Frankfurt 1988, der die aktuellen „Bedeutungsereignisse" als „agonales" Produkt des Verhältnisses von Mit- und Gegeneinander stehenden Zeichen und ihrer vorgängigen Verwendungsweisen betrachtet; vgl. dazu Ch. Menke, Wachsende Bedeutung, Merkur 502 (1991), S. 50 ff. 405 Atlan, (Fn. 401), S. 252.

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zwischen der Unbestimmtheit der Möglichkeiten und dem Wechsel der Ordnungsperspektiven in Bewegung zu halten 406 . Einheit kann nur ein provisorisches Moment der Stabilisierung innerhalb einer Bewegung der Differenzen sein. Der im Subjekt durch den Sozialisationsprozeß und insbesondere durch die Sprache, die symbolische Ordnung, eingeschriebene „virtuelle Andere" 407 ist nicht als einheitliches normatives Projekt, sondern als Begründung eines nicht-identitären Weltverhältnisses zu begreifen. Das Subjekt ist selbst nur als eine variable relationale Einheit, die aus einander wechselseitig oder zyklisch balancierenden und stabilisierenden Veränderungspotentialen besteht, während auch die Objekte ihrerseits aus und durch Erfahrung aktiv „abstrahiert" werden 408 . Das Subjekt wird im Prozeß der Selbstkonstruktion (re-)generiert, der eine Beschreibung zugrunde liegt, die paradoxerweise nicht im vorhinein gegeben werden kann 409 , weil sie im Prozeß definiert wird. Die Informationen, die das Subjekt dazu hervorbringt, sind über Netzwerke sowohl außerhalb wie innerhalb seiner selbst zerstreut 410. Der Übergang von dem aus Subjekt, Objekt und Vernunft bestehenden Verweisungszusammenhangs zur Dynamik „beobachtender Systeme" 411 ist darin begründet, daß der eigenständige Charakter der Sprache, in der das Objekt konstruiert wird, zum Vorschein tritt: soziale und biologische Systeme benötigen zu ihrer Reproduktion eine Beschreibung, die sich dadurch auszeichnet, daß sie nicht das System abbildet, sondern grundsätzlich unvollständig bleibt. Die einzelnen Komponenten und ihre Vernetzungsregeln erzeugen einen Überschuß an funktionaler Information, die durch das a-zentrische Prozessieren als Beschreibung (ζ. B. auch genetische „Information") hervorgebracht, aber nicht aus ihnen abgeleitet werden kann. Die lockere Kopplung innerhalb von relationalen Netzwerken erhält eine Redundanz, die es dem System ermöglicht, seine selbsterzeugte Information zu „lesen", indem es aus dem Überschuß an unstrukturiertem, durch Komplexität erzeugtem „Lärm" neue Ordnungsmöglichkeiten gewinnt. Diese fundamentale Unbestimmtheit, die ständig einen Überschuß an Möglichkeiten erzeugt, macht auch Lernen erst möglich. Mit einem Modell der Selbsttransparenz oder der wechselseitigen Selbstaufklärung wäre Lernen allenfalls in einem normativen Modell der Wissensübernahme durch „unvollständige" Individuen vorstellbar 412 . 406 Atlan, (Fn. 401), S. 264; Braten, (Fn. 295). 407 Der Zugang zum Symbolischen wird den Individuen durch die Eltern vermittelt, die zugleich den „virtuellen Anderen" repräsentieren; vgl. Braten, (Fn. 295), über den ein intermediärer Raum eröffnet wird, in dem sich ein sich selbst modifizierendes Weltverhältnis herstellt. 408 v. Glasersfeld, (Fn. 346), S. 83, 108. 409 G. Kampis / V. Csanyi, Replication in Abstract and Natural Systems, BioSystems 1987, S. 143 ff., 147; dies., Autogenesis: The Evolution of Replicative Systems, J. of Theor. Biol. 114 (1985), S. 303 ff., 315. 410 Csanyi/Kampis, (Fn. 409), S. 312; dies., (Fn. 359). 411 Vgl. Η. v. Foerster, Sicht und Einsicht, Braunschweig / Wiesbaden 1985; Csanyi / Kampis, (Fn. 409), S. 307. 412 Dobuzinskis, (Fn. 110), S. 60, 96.

I. Beobachtung und Selbstbeobachtung

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Für soziale Systeme wird Selbstbeobachtung und Beobachtung von Komplexität zu einem Problem, weil die Gesellschaft nicht mehr über ein stabiles Gleichgewichtsmodell verfügt, in dem das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, Ganzem und Teil in hierarchisch geordneten Funktionen abbildbar wäre 413 . Systeme mit großer selbsterzeugter Komplexität, die sich in der Zeit diskontinuierlich selbst verändern und dabei nicht nur ihre Möglichkeiten erweitern, sondern auch ihre Möglichkeitsräume verändern, in denen die Wirklichkeiten generiert werden, sind nicht mehr zentral zu integrieren. Ihre Regeln unterliegen selbst einem Veränderungsprozeß, den sie nicht über eine Meta-Regel steuern können. Die Antwort darauf ist die Erhaltung der Vielfalt als Grundlage der Ermöglichung und Generierung von Ordnung aus Komplexität, die Nutzung der Generalisierungsfähigkeit des menschlichen Bewußtseins für die permanente Zufuhr von neuen Informationen und ihr Abtasten auf die Möglichkeit der Generierung von Elementen neuer Ordnung. Ein Subjekt, Objekt, Sprache und Vernunft übergreifendes a-zentrisches System, dem aufgrund seiner (Re)Generationsfähigkeit selbst Autonomie zugeschrieben werden muß, verfügt über keinen stabilen Operator für die Erhaltung von Orientierungswissen 414. Das Wissen ist nicht mehr auf „dasselbe Denken" zurückzuführen, sondern bildet (und blockiert sich) vielmehr in spontanen gesellschaftlichen Ordnungsprozessen, deren Bildung immer nur über die Individuen erfolgt, die aber nicht von ihnen beherrscht werden. Das klassische Subjekt hat diese Erhaltung der Einheit des gesellschaftlichen Wissens im Selbstbewußtsein der menschlichen Vernunft dem „bleibenden Ich" zugeschrieben. Daran orientieren sich auch verschiedene spätere philosophische und gesellschaftstheoretische Modellierungen der „Kultur" als ein quasi-transzendentales Subjekt oder einer formalen Rationalität als jenseits des empirischen Subjekts zu verordnendem Fixpunkt für das Erkennen und Bewerten der Möglichkeiten einer Ordnungsbildung aus dem Chaos der „besonderen" Möglichkeiten. In der einen oder anderen Weise basieren diese Modellierungen auf der Annahme exogener Fixpunkte, die Anleihen bei der Selbstidentität des Fremden, die Gesellschaft ordnenden göttlichen Willens machen müssen, wenngleich sie alle von der Einsicht getragen sind, daß man keinen Teil der Gesellschaftsordnung beschreiben oder gar in ihr handeln kann, wenn man nicht ein „Ganzes" voraussetzt, das selbst nicht vollständig konstruiert, sondern nur hingenommen werden kann 415 . Neue Vergesellschaftungsformen haben aber die Bildung von variablen relationalen Netzwerken zwischen Individuen und innerhalb sowie zwischen Organisationen mehr und mehr an die Stelle älterer, auf der Annahme stabiler Ruhepunkte basierender Gleichgewichtsmodelle gesetzt416. Die eine reale Welt 413 Allen, (Fn. 367), S. 557. 414 Dupuy, (Fn. 336), L'autonomie du social, S. 24, 28; vgl. auch ders., (Fn. 336). 415 F. A. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, 2. Aufl., Landsberg 1986, S. 27 ff.; Dupuy, (Fn. 336), L'autonomie du social, S. 24; vgl. auch Balandier, (Fn. 353), S. 215. 7 Ladeur

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zerfällt mehr und mehr in eine Pluralität von Weltsichten und Möglichkeitsräumen 4 1 7 , eine Bewegung, die auch die stabilen Grenzen der Innenwelt des erkennenden und handelnden Subjekts untergräbt. Wissen erscheint nicht mehr als stabil und objektbezogen, das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt als Referenz des einen auf das andere wird durch den konstruktiven Charakter des Wissens in Frage gestellt. Dies hängt, wie oben gezeigt, vor allem mit der Zunahme der Immanenz der Gesellschaft und ihrer Autonomie (Eigenfunktionen) zusammen. Die Gesellschaft erscheint in der Theorie komplexer Systeme immer stärker als ein Produkt ihrer eigenen Selbstmodifikation und damit einer Artifizialisierung, die Ordnung als provisorisches Produkt aus Komplexität betrachtet. Das Subjekt erscheint als eine Funktion der Selbstbeobachtung des Systems, während das Objekt dasselbe System in seiner Stellung als Beobachtungsgegenstand darstellt 418 . Die notwendige Entparadoxierung dieses Verhältnisses kann nicht durch die Unterstellung der Invarianz „desselben Denkens" (im Beobachtersystem) noch ontologisch in der Unterstellung der Invarianz des beobachtenden Systems gesucht werden. Die Beobachtung erst ermöglichende Stabilität ist — mit Vidali — in der Erhaltung der Rekursivität dieses Verhältnisses selbst zu lokalisieren 419 . D. h. das Verhältnis bedarf zur Vermeidung des infiniten Regresses einer Stoppregel, die aber nur pragmatisch über die Geschichte der einzelnen Sprachspiele, sozialen Systeme und Kommunikationen auf stets provisorisch bleibende Weise gefunden werden kann. Die Komplexität der Gesellschaft steigert die Notwendigkeit zur Vervielfältigung der (Selbst-)Beobachtung und zugleich muß diese Bewegung einrasten in „Eigenverhalten" einzelner Beziehungsnetzwerke, das eine Koordination von Beobachtung und damit die Bildung von Erwartungen als Grundlage neuer Beobachtung schafft. Die Vervielfältigung der Beobachterfunktionen innerhalb des Prozesses der Selbstorganisation einzelner differentieller Handlungsfelder korrespondiert mit der Notwendigkeit einer größeren Durchlässigkeit der Systeme für die Veränderung der „eigenen" Orientierung: Die gesteigerte Selbstmodifikationsfahigkeit der Gesellschaft und ihre Artifizialisierung auch eine größere Flexibilität und Beweglichkeit der „Eigenfunktion" der Subjekte, die für die Vervielfältigung der (Selbst-)Beobachtung der Systeme benutzt wird. Die Flexibilität der Subjekte ist zugleich die Lösung des Problems der Orientierung unter Bedingungen von Ungewißheit, sie eröffnet keine Möglichkeit zur einvernehmlichen Verständigung, sondern sie ermöglicht und verlangt die variable Abstimmung mit einer kollektiven Ebene, die weder in bestimmten Institutionen dauerhaft stabilisiert noch andererseits in intersubjektiven Prozessen zwischen den Individuen aufgelöst oder kontrolliert werden kann. Die Stabilisierung der diskontinuierlichen Selbstbeobachtung erfolgt nicht über subjektinterne 416 Balandier, (Fn. 353), S. 182. 417 R. De Mey, The Cognitive Paradigm, Dordrecht u. a. 1982, S. 256 f. 418 p. Vidali, La ragione osservativa, in: G. Barbieri / ders. (Hg.), La ragione possibile, Mailand 1989, S. 88 ff. 419 Vidali, (Fn. 418), S. 105.

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Mechanismen, sondern über einen Prozeß der Übernahme und Verstärkung von Erwartungen anderer, die als Attraktoren für Nachahmungs- und Anschlußzwänge fungieren 420 und eine Selbststabilisierung als Eigenfunktionen in Kommunikationsnetzwerken herbeiführen. Diese Funktionsweise der kollektiven Meta-Ebene zeigt zugleich, daß und warum die individuellen Variationen weiterlaufen und ggf. wieder einen neuen Bifurkationspunkt generieren, an dem eine neue Stabilisierung erreicht wird, die nicht prognostizierbar ist. Diese Eigenfunktionen kann man auch als „common knowledge" bezeichnen421, ein als emergenter Effekt und nicht durch Austausch zwischen Individuen entstehendes gemeinsames Wissen, dessen Voraus-Setzung eine Kette von Anschlußzwängen und -möglichkeiten generiert. Darin sind zugleich Grenzen der gezielten intersubjektiven und kollektiv-institutionellen Selbstmodifikation angelegt. Wie oben gezeigt, entspricht die lockere Kopplung der Innenwelt des Subjekts (seine Kompartementalisierung) und seine reduzierte innere Konsistenz dieser Funktion der variablen Aggregation von Erwartungen auf differentiellen Handlungsfeldern. Der Zusammenhang zwischen gesteigerter Selbstbeobachtungsfähigkeit und der — mangels dauerhaft stabilisierter Ordnung — notwendigen Vervielfältigung der Beobachterpositionen im System erschließt sich gerade in einer Perspektive, die nicht das Subjekt und auch nicht ein verselbständigtes System, sondern ein übergreifendes „transsubjektives Differenzierungsgeschehen" als Bezugsrahmen wählt. Die vom Subjekt durch Lockerung der Abhängigkeit von einer fremden Ordnung erzeugte Autonomie öffnet keineswegs einen Zugang zur Selbsttransparenz, sondern steht zwischen dem Dilemma verschiedener Varianten einer narzißtischen Selbstreferenz als Selbstbespiegelung (die sich auf Omnipotenzphantasien fixiert) und der Selbstaufgabe durch die Hypostasierung der Systemlogik einer kollektiven Ebene (die aber von der der Individuen nicht unabhängig sein kann). 4. Selbstbeobachtung und Artifizialisierung

der Welt

Die neuere epistemologische Theorie der Beobachtung zieht die Konsequenz aus der Hinfälligkeit des Subjekts, das nicht mehr Ausgangspunkt „desselben Denkens" sein kann, sondern Produkt eines Spiels wird, das es nicht selbst beherrscht 422. Die multiple Subjektivität ist nur eine verschiebbare Stelle in einem Spiel von Differenzen, innerhalb deren Erkenntnis und Handeln nicht mehr nach Gesetzmäßigkeiten beurteilt werden, sondern strategische rekursive Spielzüge «ο a. Orléan, Contagion mimétique et anticipations rationelles, Cahiers Science, Technologie, Société 9/10 (1986), S. 257 ff. 421 D. Κ. Lewis, Convention. A Philosophical Study, Cambridge / Mass. 1969, S. 53; Boyer/Orléan, (Fn. 248). 422 Vattimo, (Fn. 91), S. 82. *

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entwerfen, die experimentelle Selbstbeobachtung an Stelle von Selbstbewußtsein verlangen. Die zeitgleiche Entstehung der Theorie der Beobachtung mit der Ausbreitung von Informationstechnologien und der damit verbundenen Intensivierung kommunikativer Vernetzung ist nicht zufällig: Diese und die damit verbundene Umstellung der Gesellschaft auf die Reproduktion über Information machen die Vorstellung eines einheitlichen Subjekts der Verknüpfung der Möglichkeiten in einem Zentrum undenkbar. Wissen wird auch angesichts der Ungewißheit der Zukunft immer schneller produziert und zugleich entwertet 423 . Dies ist kein Problem einzelner Entscheidungen unter Ungewißheitsbedingungen, es ist die nicht-hintergehbare Bedingung der Reproduktion insgesamt geworden, die deshalb zu einer Pluralität „beobachtender Systeme" mit unterschiedlichen Rationalitäten werden muß. In einer a-zentrischen Gesellschaft wird die Funktion eines Systems zum Produkt der Interaktionen innerhalb und zwischen Teilsystemen und ihren Sprachspielen, die permanent Dauervariationen erzeugen und verarbeiten müssen, um so Ordnung aus Komplexität zu gewinnen. Der artifizielle, selbstmodellierende Charakter der Gesellschaft, die über multiple Selbstbeobachtungsstellen Entscheidungen unter Ungewißheitsbedingungen generiert und jeweils alternative Selbstbeobachtungspotentiale mitlaufen lassen muß, hat die Subjektivität fragmentiert und variiert und sie über eine Fülle von Operationen mit Unterscheidungen zerstreut. Die Vielfalt der Beobachterstellen ist Teil einer evolutionären Strategie der Selbstorganisation der Gesellschaft geworden, die keine vorfindlichen „Eigenschaften" optimiert, sondern die Vielfalt ihrer Möglichkeiten durch Konstruktion erhalten und regenerieren muß, um Flexibilität für die Erwartung des Unerwarteten zu gewinnen 424 . Subjektivität ist so nicht mehr der Ort, an dem das Verstehen anfängt, sondern wo es endet 425 . Die Einführung der Zeit in das Subjekt, Objekt und Sprache umfassende Netzwerk erzeugt eine Ungewißheit im System 426 , die die vollständige Beobachtung und die Stabilität sowie die Einheit des Beobachterstandpunkts ausschließt. Sie macht Beobachtung zur pluralen Funktion innerhalb eines Systems, das sich ständig aus Unbestimmtheit erzeugt und die Pluralisierung der Subjektivität / der Selbstbeobachtung zur Erzeugung von Ordnung aus Komplexität nutzen muß 427 . Der Status der Beobachtung ist verbunden mit einer konstruktivistischen Perspektive, in der das Subjekt keinen Zugang zu einer einheitlichen Objektwelt finden kann, sondern die Subjekte mit Vorstellungen operieren, von 423 Masuch, (Fn. 253), S. 137. 424 E. Morin, Le vie della complessità, in: Bocchi / Ceruti (Hg.), (Fn. 398), S. 49 ff., 58. 425 Ricoeur, (Fn. 148), S. 249. 426 H. Atlan, Temps biologique et auto-organisation, in: Temps de la vie et temps vécu, Paris 1982, S. 25 ff., 30. 427 Vgl. auch H. Atlan, Création de signification dans des réseaux d'automates, Cahiers Science, Technologie, Société 9 / 1 0 (1986), S. 65 ff., 78.

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denen ihre eigenen Beobachtungsmöglichkeiten hervorgebracht werden. Die Subjekte experimentieren innerhalb eines Netzwerks von Beziehungen, die eine stabile Objekt-Welt nicht hervorbringen können. Beobachtung ist immer plural und ermöglicht nicht die Abbildung von Wirklichkeit, sondern das Einpassen von experimentellen Handlungen in eine mögliche Welt, die durch das projektive Operieren mit Unterscheidungen erst generiert wird 4 2 8 . Genau darin, in diesem artifiziellen Charakter haben Vorstellungen von einer Veränderung der Gesellschaft ihren Anknüpfungspunkt, aber zugleich setzen sie ein sehr traditionelles Bild von einer einheitlichen Gesellschaft voraus, die letztlich vom Staat her, genauer: einem expliziten Ordnungswillen her, gedacht wird. Mit Touraine wäre zu überlegen, ob man die Idee einer Gesellschaft nicht überhaupt aufgeben sollte 429 . Denn auch diejenigen, die das Denken in sozialen Systemen ablehnen, operieren nicht weniger mit und innerhalb einer pluralen Welt der Möglichkeiten. Sie brauchten „die Gesellschaft" als Projektionsschirm für ihren von den verzweigten Netzwerken rekursiver Operationen abgelösten Entwurf einer Welt, die auf kein System der Vernunft mehr zurückgeführt werden kann, sondern statt dessen die unmittelbare Realisation eines Wunsches sein soll. Daß die Annahme eines stabilen selbsterzeugten Ich eine historisch höchst voraussetzungsvolle Konstruktion ist und ihr Pendant gerade in der Begrenzung des Subjekts durch ein stabiles System universeller Gesetze findet, wird dabei vergessen. Die einheitsstiftende Wirkung der Vernunft kann auch durch einen diffusen lebensweltlich fundamentierten, durch eine argumentative prozedurale Rationalität vermittelten Vorgriff auf eine ideale Kommunikationsgemeinschaft nicht kompensiert werden. Die klassische Subjektphilosophie hatte das Spannungsverhältnis zwischen empirischem und transzendentalem Subjekt stets vorausgesetzt, während die kommunikative Rationalität die Abhängigkeit des Diskurses von der Fragmentierung der multiplen Rationalitäten jedenfalls annäherungsweise befreien w i l l 4 3 0 . Daß die Subjekte mehr Möglichkeiten beobachten und beobachten müssen, steigert aber nicht die Möglichkeit zur Bildung von intersubjektiven Konsensen, sondern ist selbst dem „transsubjektiven Differenzierungsgeschehen" geschuldet, das die kollektive Ebene einerseits von fremdem Ordnungswillen ablöst und von den Interaktionen der Individuen abhängig macht, aber sie andererseits als emergentes Phänomen darin nicht aufgehen läßt. Die die Beobachtung konstituierende Notwendigkeit des Lernens ist nicht auf die Bildung empirischer Subjekte nach dem Modell der universellen Vernunft zu reduzieren, es basiert auf der in der Variabilität von Systemen eingebundenen Möglichkeit der Ordnung aus Komplexität 431 , die über ein Netzwerk von Relationen erhalten werden muß. Die 428 Vidali, (Fn. 418), S. 102. 429 A. Touraine, Les deux faces de l'identité, Quaderni di sociologia 1979, S. 407 ff., 410. 430 Vgl. auch Seel, (Fn. 168), S. 329.

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Möglichkeiten der Ordnungsbildung sind weder in vorfindlichen normativen Modellen noch im Vorgriff der prozeduralen Rationalität zu finden. Struktur und Funktion selbstorganisierender Netzwerke und das darüber generierte Verhalten können nicht aufeinander reduziert werden, weil sie immer mehr Möglichkeiten erzeugen. Die Kontingenzerfahrung hat das Lernen evolutionär ermöglicht, nicht aber kann das Lernen umgekehrt Kontingenz durch „Selbstbegründung" aufheben. Die — die Setzung der Gesellschaft durch den fremden Willen ablösende — „Selbstbegründung" hat die Idealität der Vernunft in einer neuen Epoche des „transsubjektiven Differenzierungsgeschehens" endgültig in der Sprach- und Schriftpr&xis aufgehen lassen. Innerhalb der sprachlichen Darstellungsbedingungen, die „unsere Erfahrungsreihen und unsere Erfahrungssysteme aneinandergekettet und miteinander verwoben" haben, wird Ordnung nur heterarchisch über die Variabilität von „Sinnverweisungen" generiert 432 . Die Destabilisierung dieser Verkettungen und die Brüche sprachlicher Konventionen, die sich dem durch „common knowledge" ermöglichten wechselperspektivischen Aufbau von Erwartungen entziehen, erfolgen ihrerseits keineswegs durch den Rekurs auf Geltungsansprüche, die sich auf höherrangige Regeln beziehen ließen. Sie bleiben an die Materialität der Sprache gebunden und haben als „Parasiten" an der konventionalisierten Sprache teil, deren Negation sie sind 433 . Die Freiheit der Wissenschaft und der Kunst ζ. B. beruhen auf der Lockerung der Bindung an sprachliche Konventionen und die Möglichkeit zur Ausdifferenzierung eigener Unterscheidungen, aber damit ist zugleich die Fragmentierung der Vernunft in die Ausdifferenzierung der Sprachspiele eingeschrieben und der Zugang zu einer homogenen Ordnung der Erkenntnis versperrt. Gerade daraus, daß dieser Konflikt unpersönlich ist und nur als Auseinander-Setzung („Widerstreit") in Bewegung gehalten werden kann, ergeben sich für die Gesellschaft ständig Herausforderungen durch ästhetische, ideologische, politische etc. Diskurse, die die Virtualität der Möglichkeitsräume durch normative Modelle zu überbieten suchen und die Artifizialisierung der Welt als Formbarkeit von Material mißverstehen 434. Zumal im Angesicht der Tradition der klassischen Subjektphilosophie ist es offenbar schwer begreiflich, daß das Problem, das eine Gesellschaft für sich selbst ist, obwohl es immer auf eine „Selbstbegründung" verwiesen ist, doch keine Lösung hat und daß gesteigerte und vervielfältigte Möglichkeiten der Selbstbeobachtung doch nur mit Unterscheidungen auf dem Hintergrund anderer Unterscheidungen und Operationen mit solchen Unterscheidungen basieren. Des431 A. Bourguignon, Fondements neurobiologiques pour une théorie de la psychopathologie, in: Psychiatrie de l'enfant 24 (1981), 445 ff. 432 D. Waidenfels, Das Zerspringen des Seins, in: Métraux / ders. (Hg.), (Fn. 128), S. 144 ff. 145. 433 A. Rochlitz, Sens et fonction de la raison esthétique, Critique 1990, S. 937 ff., 943. 434 Vgl. dazu Groys, (Fn. 153), zur politisch-ästhetischen Bestimmung der Kunst der Avantgarde.

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halb stößt die Beobachtung von Beobachtung immer nur auf Richtigkeitsstandards, die selbst Produkte differentieller Prozesse und Relationierungen von Möglichkeiten sind. Deren Modellierung bedarf in einer „sich selbst begründenden" Welt einer eigenständigen relationalen Logik der (Selbst-)Beobachtung, die an Fertigkeiten im Operieren mit Ungewißheit, im experimentellen Einpassen in Kontexte anknüpfen muß 4 3 5 , wenn sie nicht ins Halluzinieren von Wunschvorstellungen abgleiten will. Daß (Selbst-)Beobachtung immer nur im Plural auftritt, heißt nicht, daß es eine gemeinsame Konstruktion der Wirklichkeit geben könnte. Eine a-zentrisch gewordene Gesellschaft kann nur über distribuierte, plurale Beobachtungen mit ihren Möglichkeiten experimentieren, die sie auf die Stabilisierbarkeit von Relationierungen und Mustern testen kann, die kollektiv prozessiert werden, aber nicht kollektiv-instrumentell verfügbar sind. Die Rolle des Staates kann in diesem Kontext in der Ermöglichung einer Konfrontation und Aggregation verschiedener Varianten der Stabilisierung von kollektiv generierten Effekten durch Explikation in der Beschreibung von Beschreibungen gesehen werden, in denen die Gesellschaft sich mit sich selbst als Problem auseinander-setzt. Auch die Funktion des Staates besteht danach in erster Linie in der Ermöglichung von Selbstbeobachtung436, die an andere Beobachtungen anknüpft, aber dadurch die kollektive Ebene nicht von der Vielfalt des Differenzierungsgeschehens unabhängig machen und als Einheit konstituieren kann. Diese differentiellen Selbstbeobachtungen werden selbst wieder in experimentelle Operationen „übersetzt" und erzeugen oder stabilisieren dadurch ein Feld von Verknüpfungs- und Verkettungserfahrungen, die wiederum Anschlußmöglichkeiten eröffnen. Durch das praktische Prozessieren von Modellen, durch die paradoxe rekursive Verschleifung von einander kommentierenden heterogenen (Selbst-)Beobachtungen wird eine stets hinfällig bleibende Stabilität generiert 437 . Demokratie besteht gerade darin, sozialen Konflikten und sozialen Bewegungen immer wieder institutionelle Beschreibungen zu geben und sie dadurch bearbeitbar zu machen 438 . Dies bedeutet eine Übersetzung in eine andere Sprache; dazu gibt es keine Alternative, wenn man nicht verselbständigte situative Formen der unmittelbaren Selbstdarstellung als solche Alternative ansieht. Viele sog. autonome politische Aktionen haben ihren Sinn ausschließlich in der Steigerung des unmittelbaren Erlebens von Omnipotenz durch die Medien, ohne Anschlußfähigkeit für andere Verknüpfungen zu ermöglichen. In einer Theorie der Beobachtung ist die Erhaltung und Erzeugung von Vielfalt der Selbst- und Fremdbeobachtung und ihrer Steigerung als Beobachtung von Beobachtung etc. Teil einer evolutionären Strategie 439 , die die Nicht-Hintergeh435 Goodman/Elgin, (Fn. 174), S. 28. 436 Dobuzinskis, (Fn. 110), S. 177. 437 v. Glasersfeld, (Fn. 346), S. 108. 438 A. Touraine, Le retour de facteur, Paris 1984, S. 323. 439 Allen, (Fn. 367), S. 563.

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barkeit der „Selbstbegründung44 der Gesellschaft angesichts der Grundlosigkeit eines transsubjektiven „Differenzierungsgeschehens 44 akzeptiert und für das Operieren unter Ungewißheitsbedingungen die Suche nach Relationierungsmöglichkeiten und -mustern innerhalb der selbstorganisierenden Netzwerke von Anschlußzwängen betreibt. Die Konstruktion und Modellierung von Ordnung unter Ungewißheitsbedingungen von variablen Beobachtungsstandpunkten aus hat den stabilen Verweisungszusammenhang zwischen Subjekt, Objekt und Vernunft abgelöst, aber dieser Übergang setzt nicht die Fähigkeit zum Vorgriff auf die Meta-Ebene frei, von der aus eine Gesellschaft vor der Bindung an eine Universalität begründet werden könnte. Wissen wird zur Eigenschaft von Mustern, Relationen, Strukturen, nicht von Objekten und ist deshalb auch nicht einem einheitlichen Subjekt oder einer prozedural konstituierten Intersubjektivität zugänglich 440 . Das Wissen ist nicht mehr zwischen Objekt und Subjekt hierarchisch abgeschichtet als Subsumtionsverhältnis von Besonderem und Allgemeinem; es ist lateral zerstreut und nur über eine Pluralität von variablen Beobachterstandpunkten in strategischen, von Verwendungsweisen abhängigen Operationen verfügbar. Beobachtung und Beschreibung des durch Interaktionen aggregierten und immer wieder neu zu relationierenden zerstreuten Wissens kann nur in multipler a-zentrischer Form ermöglicht werden. Statt nach objektiver Gültigkeit von Aussagen und Ansprüchen sucht eine „Kybernetik zweiter Ordnung 44441 nach Möglichkeiten der Institutionalisierung und Erhaltung von Konnektivität der Beobachtungen im System und der Beobachtung des Systems, statt nach objektiver Wahrnehmung 442. Durch das Operieren mit Anschlußzwängen und -möglichkeiten, die sich aus der Geschichte bisheriger, in den Netzwerken von Relationen abgelagerten Operationen ergeben haben, soll die rekursive (Selbst-)Konstruktion neuer Möglichkeiten fortgesetzt und auf andere abgestimmt werden 443 . Beobachtung ist keine Kopie eines Objekts, sondern eine rekursive Konstruktion, ein dialogisches Prozessieren mit operativen Unterscheidungen, begleitet von der Beobachtung unbeabsichtigter Rückwirkungen, in einer proaktiven Suche nach neuen Verknüpfungsmöglichkeiten und damit der Stabilisierung neuer „Eigenwerte 44. Gerade wegen der Zerstreuung von Wissen über ein Netzwerk von Anschlußzwängen ist die (Selbst-)Beobachtung ein kreativer Vorgang innerhalb eines artifiziellen Feldes von Differenzen; sie ist plural und selbstreferentiell, da sie den Beobachter mitumfaßt. Ihre Zirkularität kann sie nur durch entparadoxierende Unterbrechungen, provisorische Anschlüsse an eine „Geschichte44 der Vernetzung und Verzweigung von Selektionen haltbar, 440 Krippendorff, (Fn. 372), S. 7 ff. 441 Krippendorff, (Fn. 372), S. 34. 442 Vgl. zur Theorie des Beobachters N. Luhmann, Sthenographie, in: V. Redder (Hg.), Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien, München 1990, S. 119 ff. 443 Krippendorff, (Fn. 371), S. 21 ff.

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und damit operationalisierbar machen. Der Beobachter-„Standpunkt" wird selbst variabel und austauschbar mit dem Standpunkt des Beobachteten. Die Besonderheit des selbstreferentiellen Verhältnisses von Beobachter und Beobachtung / Beschreibung im Verhältnis zur klassischen Subjekt-Objekt-Referenz besteht darin, daß der Beobachter mit der Beschreibung arbeitet und daß er zugleich von ihr bearbeitet worden ist und bearbeitet werden wird 4 4 4 . Er nimmt nicht externe Eigenschaften eines Objekts „wahr", sondern operiert mit einer Beschreibung / Interpretation in einem Kontext und den davon bestimmten Möglichkeiten der Anknüpfung und produziert dadurch neue, unbekannte, aber nicht beliebige Möglichkeiten 445 . Es geht nicht mehr um das Verhältnis zwischen Objekt und einem Subjekt der universellen Vernunft als Quelle einer Synthesis, sondern den Prozeß der Ausarbeitung und Definition der Beobachtung446. Dieser Prozeß faßt die Beobachtung und den Beobachter zusammen und wird damit zur Selbstbeobachtung; sie verflüssigt nicht nur die Beobachtung, sondern versetzt auch die referentiellen Funktionen der Sprache (Referentialität des Subjekts, vermittelt über die das Objekt indizierenden Zeichen) in Bewegung und macht sie zu einem Medium der (Selbst-)Konstruktion des Beobachters und der Beobachtung. Die neue symbolische Unterscheidung / Entscheidung operiert mit einer Beschreibung und probiert durch ihre Interpretation / Anwendung zugleich zwangsläufig Neues aus. Die endlos leere Zirkularität wird nur durch die Setzung von Entscheidungszwängen verhindert, die daran erinnern, daß die Auflösung hierarchischer universeller Gesetzmäßigkeiten zwar mehr Möglichkeiten eröffnet, aber eben nur zum flexiblen Operieren mit Kontingenzen, nicht zum „Vorgriff* auf Utopien ermächtigt. Die Vervielfältigung von Kontingenzen kann, wie gezeigt, nur durch deren Einbau in die Ordnungsmodelle verarbeitet werden. Die Gefahr des Einrastens von Sinnverkettungen muß nicht nur durch die Erhaltung einer Pluralität von Beobachtern erhalten bleiben, sondern die Gesellschaft muß sich aufgrund eines „Verbrauchs" von Diversität 447 in Gestalt von Organisationsbildung, Großtechnologien etc. immer wieder neue Vielfalt durch „Chaos" zuführen, um das über das Netzwerk von Möglichkeiten distribuierte Wissen zu nutzen. Anderenfalls besteht bei Informationsmaximierung in einzelnen Relationsketten die Gefahr, daß die Erprobung von Innovationen jenseits des verfügbaren Wissens blockiert wird. Man kann sich angesichts des nicht-linearen Ungleichgewichts der Gesellschaft nicht darauf verlassen, daß eine entdeckte Entwicklungstrajektorie sich auf Dauer als optimal erweist. Über verschiedene Mechanismen muß sozusagen der Lärm der Möglichkeiten 448 , der durch Evolution erzeugt wird, mindestens 444 Lacroix, (Fn. 380), S. 39 f. 445 A. G. Gargani, Il passaggio dalla verità al senso della verità, in: G. Barbieri / P. Vidali (Hg.) Metamorfosi. Dalla verità al senso della verità, Rom/Bari 1986, S. 13 ff. 446 Morin, (Fn. 343), S. 106; Gargani, (Fn. 445), S. 14. 447 M . Forsé, L'ordre improbable, Diss. Paris V, 1987, S. 160; Balandier, (Fn. 353).

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

teilweise künstlich erhalten werden, da andererseits bestimmte Spezialisierungen, vor allem durch Organisation, Lernen in einer Hinsicht nur auf Kosten des NichtLernens in anderer Hinsicht ermöglichen. Der Übergang zu einem nicht-linearen Ungleichgewichtsmodell schließt, wie gezeigt, die einheitliche Beobachterperspektive aus: Nur die Erhaltung einer Pluralität und Diversität der Beobachterstandpunkte, die Austauschbarkeit mit den Standpunkten der Beobachteten und die rekursive selbstreferentielle Verschleifung beider kann einem System die „Unruhe" erhalten, die es braucht, um Ungleichgewichtssysteme unter Bedingungen der Ungewißheit vor dem Einrasten in sich selbst verstärkende Blockierungen zu bewahren. Gerade der sprachliche oder psychologische Realismus der Ich-Vorstellung scheint die Überlegung schwer erträglich zu machen, daß das Subjekt in der „dritten Person" eine ereignishafte Beobachtung in einem Netzwerk von Anschlußmöglichkeiten von einer dadurch zugewiesenen, wenn auch variablen Stelle aus „vollziehen" soll und nicht im Austausch zwischen erster und zweiter Person (Ich / Du) 4 4 9 . Aber die erste und die zweite Person (die sich zur ersten symmetrisch verhält 450 ) bleiben ihrerseits Leerstellen; ihre Autonomie kann nur durch Entgegenständlichung in der Form der Rationalität des argumentativen Verfahrens behauptet werden 451 . Die hier vertretene Position läuft nicht darauf hinaus, das Individuum zu vernachlässigen, im Gegenteil, sie wehrt sich dagegen, mit dem Rekurs auf das Individuum die Vorstellung einer idealen „Kommunikationsgemeinschaft" aller Individuen zu verbinden und damit die Möglichkeiten einer imaginären Homogenität und Kohärenz der Lebensverhältnisse zu unterstellen und letztlich die in der Pluralität und Heterogenität der Möglichkeitsräume enthaltenen Potentiale einer diskontinuierlichen Ordnung aus Komplexität zu verspielen. Umgekehrt läuft das Modell der hier vertretenen „relationalen" Rationalität keineswegs auf die unkritische Übersteigerung der sich in Beziehungsnetzwerken und Sprachspielen bestätigenden und rekursiv verstärkenden „Eigenwerte" hinaus. Die Logik der Systeme kann im Angesicht von Selbstorganisationsprozessen, die sich nicht auf ein lineares Gleichgewichtsmodell zurückführen lassen, nicht als kontinuierlich und harmonisch sich selbst verstärkend konstruiert werden. Gerade über die Pluralität und Variabilität der Beobachtungsstellen erhalten die Systeme potentiell einen Alternativenreichtum, der innerhalb der Möglichkeitsfel-

448 Allen, (Fn. 365), S. 128; insofern greifen Theorien zu kurz, die das zweite Gesetz der Thermodynamik in einer sozialwissenschaftlichen Lesart für eine allgemeine Mahnung zur „Langsamkeit" heranziehen; vgl. B. Guggenberger, „Zwischen Ordnung und Chaos" FAZ, „Bilder und Zeiten" v. 2.2.1991. Gesellschaften, die Ordnung aus Fluktuationen gewinnen, führen sich immer neue Diversität zu und sind insofern nicht geschlossen: Information hat die Eigenschaft, neue Möglichkeiten zu produzieren; vgl. Forsé, (Fn. 447). 449 Deleuze, (Fn. 36), S. 90. 450 Grimminger, (Fn. 264), S. 28. 451 Grimminger, (Fn. 264), S. 30; Hunyadi, (Fn. 335), S. 156.

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme

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der Raum gibt für strategische Abschätzungen, die mit unterschiedlichen Modellierungen vergleichend verfahren, Blockierungen nachspüren und ggf. durch Schaffung neuer Fluktuationen unterbrechen, Grenzen der im verfügbaren Wissen enthaltenen Möglichkeiten ausloten, also die Erhaltung von Ordnungsbildung aus Chaos ggf. auch durch künstliche Zufuhr von Momenten des Chaos verstetigen. Gerade das Ziel der Erhaltung und Erweiterung einer nicht-hintergehbaren Pluralität der Möglichkeiten innerhalb einer von Artifizialität bestimmten selbstgenerierten Weltkomplexität gibt dem auch über Individuen zu erhaltenden Alternativenreichtum mehr Raum als eine einheitliche Vernunftordnung, die keine ausreichende Institutionalisierung mehr findet und auf eine Reziprozität der Beziehungen setzt, der sich komplexere Entscheidungsstrategien entziehen müssen. In der hier vertretenen Perspektive einer transversalen, relationalen Vernunft können gerade Individuen als ein Unruhepotential angesehen werden, das ständig neue Möglichkeiten generiert und dadurch die Binnenrationalität einzelner Sprachspiele der Subsysteme füreinander durchlässig machen kann. Rationalität besteht dann eher in Formen eines immanenten Durchspielens und Eröffnens von Möglichkeiten und Relationierungen innerhalb der systemisch durch Verwendung von „Eigenwerten" generierten Anschlußzwänge, in der Erhaltung der Übersetzbarkeit von Sprachspielen ineinander, der Auseinander-Setzung und des Widerstreits heterogener Entscheidungsstrategien unter Bedingungen der Unentscheidbarkeit. I I . Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme 1. Zur Selbstproduktion

von Systemen nach Luhmann

Luhmanns neue Lesart der Systemtheorie basiert darauf, auch Gesellschaften (und einzelne Funktionssysteme) als autopoietisch geschlossene, sich durch selbstreferentielle Operationen (re-)produzierende Systeme zu konzipieren 452 . Sie geht zunächst davon aus, daß nicht Individuen, sondern Kommunikationen Elemente sozialer Systeme sind und daß die Individuen, die ihrerseits systemisch konstruiert werden, zur Umwelt der Gesellschaft gehören 453 . Dies mag man akzeptieren oder nicht, keinesfalls darf man dieses Modell aber als eine Art Ausbürgerung des Individuums und als eine Verselbständigung und Selbstermächtigung technokratischer Systemrationalitäten mißverstehen. Aus den oben angegebenen Gründen ist die Vorstellung von nicht-subjektiven autonomen Sy-

452 N. Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt 1984, S. 292. 453 Vgl. auch den anderen Ansatz bei P. M. Hejl, Self-Regulation in: Social Systems, LUMIS-Schriften 21 (1989), S. 14; ders., Der Begriff des Individuums. Bemerkungen zum ungeklärten Verhältnis von Psychologie und Soziologie, in. G. Schiepek (Hg.), Systeme erkennen Systeme, München / Weinheim 1987, S. 115 ff.; aber auch F. J. Varela, Diskussionsbeitrag in: Dupuy / Dumouchel (Hg.), (Fn. 383), S. 172.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

stemen, die aus Kommunikationen bestehen, zunächst schwer nachvollziehbar, aber wenn man berücksichtigt, daß der Begriff der Umwelt selbst nur durch das Prozessieren und Beobachten von System / Umwelt-Unterscheidungen qualifiziert ist, so bedeutet dies, daß die Umwelt nur im Plural vorkommen kann. Die Inkorporierung „des" ganzen Menschen in die als System verstandene Gesellschaft stellt sich für Luhmann als Hindernis bei der Konstruktion der pluralen Systemrationalitäten und der ihnen entsprechenden System-Umwelt-Unterscheidungen dar. Die Konstruktion einer einheitlichen, auf den Menschen aufbauenden Gesellschaftsordnung ist damit ausgeschlossen, aber innerhalb von pluralen Systemen und ihren Operationen vervielfältigt sich zugleich die an variable Stellen gebundene (Selbst-)Beobachtung, die über den Prozeß der Inklusion aller Bürger in den Aufmerksamkeitsbereich der gesellschaftlichen Institutionen hinaus für die „Beteiligung" der Individuen offen sind, auch wenn die Systeme nicht als aus ihnen zusammengesetzt betrachtet werden. Die Individuen sind auf eine paradoxe Weise „beteiligt" 454 , ohne Bestandteil zu sein. Die empirischen Subjekte sind, wie oben gezeigt, von dem Wandel des Verhältnisses von Subjekt, Objekt und Vernunft insbesondere durch das Dazwischentreten der Materialität der Sprache und damit ihre nicht-instrumentellen, von Relationen zwischen früheren Zeichenverwendungen abhängigen Ereignischarakters affiziert: die Sprache ist nicht mehr auf Universalität und Transparenz aufgebaut, sondern auf Konnektivität. Die Zeichenfunktion verliert ihren, durch die Verweisung auf die einzelnen, besonderen Bestandteile der Wirklichkeit gestifteten identitären Charakter 455 . Darauf basiert auch die oben skizzierte Annahme, daß die für die Reproduktion der Gesellschaft entscheidenden differentiellen „Ideenpopulationen" außerhalb des Selbstbewußtseins des Subjekts existieren. Die Sprache besteht danach eher aus Relationen, die sich in einer Kombinatorik von Verkettungen und Netzwerken selbst organisieren. Das Subjekt ist dann nur ein variabler „Relator" 456 , ein Bindeglied, zwischen zwei (oder mehreren) Elementen, die Sinn als Verweisungsüberschuß auf neue Relationierungen ermöglichen, aber nicht im Subjekt oder einem universellen hierarchischen System von Verknüpfungen verankert sind. Eine solche Konzeption systemischer Rationalität hat nichts mit der Unterstellung einer Struktur zu tun, die in Gestalt einer symbolischen Ordnung dem Individuum einen festen Platz zuweist. Den Systemen wird selbst keine vom Prozessieren ihrer Relationen, Verzweigungen und Vernetzungen von Anschlüssen und Anschlußmöglichkeiten unabhängige Einheit zugeschrieben, vielmehr werden sie als zeitabhängige, von Selbstorganisation bestimmte a-zentrische 454 Vgl. auch G. L. Ulmer, The Object of Post-Criticism, in: H. Foster (Hg.), The Anti-Aesthetic. Essays in: Modem Culture, Washington 1983, S. 83; J. Derrida, The Law of the Genre, Glyph 7 (1980), S. 202 ff., 208. 455 u. Eco, Semiotica e filosofia del linguaggio, Turin 1984, S. 263 ff. 456 Ulmer, (Fn. 454), S. 89.

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme

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Formationen betrachtet, an denen die Individuen (in einer noch zu klärenden Weise) beteiligt sind, die aber nicht aus ihnen zusammengesetzt sind. Ob allerdings die strikte Trennung von bewußten (individuellen) und kommunikativen (gesellschaftlichen) Operationen plausibel ist, erscheint zweifelhaft, wenngleich jede kritische Auseinandersetzung mit dieser Position zunächst (an-)erkennen muß, daß dies ein auf die Spezifizierung des Kollektiven zielender konzeptioneller Entwurf ist, dessen Herausforderung man sich nicht mit dem Rekurs auf die Reziprozität intersubjektiver Beziehungen entziehen kann, die das Gesellschaftliche in eine Summe von Relationen zwischen Individuen auflöst. (Institutionen reduzieren sich dann auf Teilversammlungen der Gesamtheit der Individuen oder sie werden zum entfremdeten ganz Anderen, das Entscheidungen zu verantworten hat, denen gegenüber sich die gesellschaftliche Vernunft auf den prozeduralen Selbstvollzug des Argumentierens zurückzieht, das sich nur als Protest noch zu einer kollektiven Existenz zusammennehmen kann.) Von dem Problem der Bestimmung des spezifisch Kollektiv-Gesellschaftlichen, das weder im Austausch zwischen den Individuen aufgeht, noch eine substanzhafte Eigenständigkeit besitzt, geht aber gerade die systemtheoretische Konzeption Luhmanns aus und versucht das „Zwischen" des Verhältnisses der Individuen, die Relation selbst, zum paradoxen Element einer neuen Form der Synthesis in einer heterarchischen Variante zu machen. Universelle Formen der Verknüpfung der (voneinander getrennten) Besonderheiten im System der auf das Subjekt und sein Selbstbewußtsein zulaufenden Synthesis werden damit transzendiert in eine transversale Logik der Verkettungen und Vernetzungen von Relationen zwischen dem Besonderen, die eine eigene Kombinatorik entwickeln, die weder nach der Seite der besonderen Objekte, der besonderen Subjekte noch nach der Seite der universellen zeitunabhängigen Gesetze aufgelöst werden kann. Vor diesem Hintergrund kann man die Funktion von Symbolen, die die Generalisierung von Sinn als Verweisungsüberschuß ermöglichen, mit Luhmann darin sehen, daß sie „das, was sie leisten, selbst sind" 4 5 7 , daß sie die „Wiederzugänglichkeit" der im gegenwärtigen, (frühere Sprachverwendungen aktualisierenden) Ereignis zugleich enthaltenden Verweisung auf künftige Möglichkeiten erhalten. Ein hypothetisch-deduktives Denken versucht, das in der Hypothese schon implizierte Wissen zum Ausdruck zu bringen, so wie das Besondere auf das System der Verknüpfungen „im selben Denken" des Subjekts zurückgeführt wurde. Das systemische Denken ist von einer anderen, nämlich „transversalen" oder lateralen Rationalität gekennzeichnet: Es geht von der Gleichzeitigkeit multipler Möglichkeiten aus, die in den Relationen eines Systems und ihren Verkettungen angelegt sind 458 . Jede Relation enthält eine Vielzahl von Verweisungsmöglichkeiten, die

457 Luhmann, (Fn. 452), S. 137. 4 58 G. Pinson/A. Demailly, Hologrammorphisme et logique holoscopique, in: G. Pinson/A. Demailly/D. Favre (Hg.), La pensée. Approche holoscopique, Lyon 1985, S. 41 ff., 58.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

sich in den „Eigenwerten" der Systeme stabilisieren und dort eine nicht-deduktive Ordnung bilden. Damit ist eine stabile Stellung des Subjekts bzw. des Individuums im System nicht vereinbar, ohne daß es damit zur quantité négligeable würde. Die laterale Verkettung von Möglichkeiten und der darin enthaltene, als Überschuß von Verweisungsmöglichkeiten verstandene Sinn wird gerade über die Sprache/Schrift prozessiert, die mit jedem Wort eine Fülle von differentiellen Verweisungen aktiviert, und die Sinn nur als différentielles Verhältnis ermöglicht 4 5 9 . Autopoiesis sozialer Systeme ist nach Luhmann — im Anschluß an Maturana und Varela — dadurch gekennzeichnet, daß soziale Systeme nicht nur ihre eigenen Strukturen hervorbringen (und ggf. ändern), sondern auch die Produktion ihrer anderen Komponenten einschließlich ihrer „Elemente" produzieren. Soziale Systeme bestehen danach aus Kommunikationen (nicht aus Individuen), die über ein Netzwerk von Kommunikationen, also Relationen, (re-)produziert werden 460 . Die Stabilität der Kognitionen oder allgemein der Systemoperationen wird nicht auf eine universelle Vernunft oder einen anderen Grund zurückgeführt 461, sondern auf die Rekursivität der Operationen, die wieder auf die Resultate von Operationen angewendet werden. Durch Wiederholung und „Einpassung" von Anschlüssen und Anschlußmöglichkeiten bildet sich schließlich ein „Eigenwert", der stabil gehalten werden kann. Die Konstitution von Systemen geht von Differenzen aus, nicht von Einheit. Die Leitdifferenzen werden zur Ausdifferenzierung von Systemen benutzt, indem eine spezifische System / Umwelt-Unterscheidung als Code institutionalisiert wird, mit dem das System seine basale Selbstreferenz prozessiert, etwa über die Unterscheidung Recht/Unrecht im Rechtssystem462. D. h. das Rechtssystem besteht nicht aus einem System von hierarchisch gestuften allgemeinen Sätzen, sondern aus Operationen, die mit Hilfe dieser Differenz über ein Prozessieren von nicht-zentral integrierten Relationen eine Eigenkomplexität aufbauen. Die Unterscheidung wird in das System wieder eingeführt und zum Gegenstand von (Selbst-)Beobachtung. Die Binarität des Codes drückt keine Gleichberechtigung von Alternativen aus, sondern durch den Aufbau von Programmen, die mit dem Code operieren, wird die Rekursivität nur der einen Seite dieser Unterscheidung (Recht) spezifiziert und weitergeführt. Die „Eigenwerte" autopoietischer Systeme werden nicht in Anpassung an eine externe Objektwelt gesucht oder im „selben Denken" der universellen Vernunft verankert, sondern im System über einen lateralen rekursiven Zusammenhang von Subjekt, Objekt, Rationalität und Sprache in einer ausdifferenzierten und spezifizierten Opera459 Pinson/Favre, (Fn. 458), S. 63; vgl. auch Varela, (Fn. 391), S. 72. 460 Luhmann, (Fn. 452), S. 242; ders., Die Einheit des Rechtssystems, RECHTSTHEORIE 1983, S. 129, 132. 461 N. Luhmann, Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: H. Haferkamp / M. Schmid (Hg.), Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung, Frankfurt 1987, S. 307 ff., 312. 462 N. Luhmann, Die Codierung des Rechtssystems, RECHTSTHEORIE 1986, S. 171 ff.

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tionsweise konstruiert, die das Objekt stets mit dem Prozeß seiner Entstehung und der Verweisung auf andere Möglichkeiten zusammenfaßt. Damit geht das „feste" Objekt einer Wirklichkeit in einem differentiellen, durch ein System spezifizierten Zusammenhang von Möglichkeiten, einer Art „Relator", auf und das Subjekt wird — nicht anders — als Schnittstelle zwischen Möglichkeiten verstanden. Die „Eigenwerte", über die das System seine Operationen strukturiert, prozessiert und vernetzt, werden im System selbst lokalisiert 463 . Deshalb benötigt das System Selbstbeschreibungen, über die es seine Relationierungen, insbesondere die Iterabilität von Operationen, modellieren und testen und damit eine Bewegung der Virtualisierung durch Verschleifung von Selbstbeschreibung und Operation erzeugen kann. Sinn wird hier nicht deduktiv wiedergefunden und wiedergegeben, sondern über Verkettungen von Möglichkeiten, in denen alles „Gesagte" selbst als mögliche Anschlußregel fungieren kann 4 6 4 und nicht ein universelles System von Verknüpfungen das Neue je als Besonderung eines vorgegebenen Allgemeinen ausweist. Wenn das klassische Regelsystem sich in ein heterarchisches Netz von Anschlußzwängen transformiert, über die Ordnung erzeugt wird, so muß dies — das sei noch einmal gegen eine problematische Beschwörung von Evidenzerlebnissen der Einheit des Subjekts eingewandt — Rückwirkungen auf den Status des Subjekts haben, das selbst durch den beschriebenen Verweisungszusammenhang geprägt wird. Darauf reagiert ja auch das Konzept der intersubjektiven kommunikativen Rationalität, das die Einheit der universellen Vernunft durch eine prozedurale Verweisung auf eine ebenfalls als abwesend unterstellte ideale Kommunikationsgemeinschaft ersetzt. Die Systemtheorie versucht nur die mangelnde Präsenz der Fülle des Subjekts auszuhalten, mit ihr zu operieren und sie nicht durch den Vorgriff auf seine Wiederherstellung aufzuheben. Dieser Verlust der Einheit ist insofern für sich genommen auch nicht bedrohlich, weil, wie oben gezeigt und wie in sehr unterschiedlichen Untersuchungen, von der Psychoanalyse bis zur Neurophysiologie bestätigt worden ist, Einheit ohnehin offenbar nur noch als Produkt von Differenzen denkbar ist. Das schließt nicht aus, daß „Personen" als „Sozialkonstrukte", die als solche relativ stabil sind, für die Zurechnung von Handlungen weiter benötigt werden 465 . Nach Luhmanns Konzeption wird die Autonomie autopoietischer Systeme dadurch charakterisiert, daß nicht nur das Netzwerk der Operationen, sondern auch die einzelnen Elemente eines Systems durch das System als Einheiten konstituiert werden. Damit ist, jede Art von basaler Gemeinsamkeit der Systeme" ausgeschlossen. „Was immer als Einheit fungiert, läßt sich nicht von außen beobachten, sondern nur erschließen". Der Beobachter muß sich daher an „Diffe463 G. Teubner, Recht als autopoietisches System, Frankfurt 1989, S. 23. 464 Eco, (Fn. 455), S. 350. 465 Teubner, (Fn. 463), S. 31.

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2. Teil: Zu einer postmodeen Theorie der Selbstreferenz

renzierungsschemata" orientieren 466 , die „Rückschlüsse darauf zulassen, was im Unterschied zu anderem als Einheit fungiert". Das bedeutet nichts anderes als die Schlußfolgerung aus dem Zerfall der Einheit einer Zentralperspektive in fragmentierte, variable Beobachterstandpunkte, die durchaus noch einen Zusammenhang in der Pluralität der Systeme erzeugen, aber nur durch transsubjektive Prozesse der „strukturellen Kopplung". Diese vollzieht sich in einerevolutionären Geschichte der Ausdifferenzierung und Abstimmung von Funktionen, die aber nicht auf einen einheitlichen „Meta-Mechanismus" zurückgeführt werden kann. Die Autonomie des Systems besteht darin, daß die „Systemkomponenten (Element, Struktur, Prozeß, Identität, Grenze, Umwelt, Leistung, Funktion) selbstreferentiell definiert" werden. G. Teubner hat dies dahin zugespitzt, daß von einem autopoietischen System im engeren Sinne erst dann gesprochen werden sollte, wenn die Systemkomponenten vom System „hyperzyklisch miteinander verkettet werden", d. h. wenn die selbstkonstruierten Systemkomponenten als „einander wechselseitig produzierend miteinander verkettet werden" (H. v. m i r — K . H. L.). Dies vollzieht sich über die Selbstbeschreibung der einzelnen Systemkomponenten in systemeigenen Kategorien 467 . Danach ist die auf der Verknüpfung basierende selbstreferentielle Produktion von Einzelzyklen selbst wiederum zu einem überlagernden Zyklus zusammengeschlossen468. Die Plastizität der internen zyklischen Verknüpfungen ermöglicht eine ständige „Unruhe", da Regeln nicht hierarchisch festgelegt sind, sondern durch heterarchische Verknüpfungsmöglichkeiten bestimmt sind 469 , die auch die höhere Ebene der Funktion oder der Struktur mit der der Elementebene verkoppeln und damit Selbstorganisation ermöglichen, über die das System aufgrund der Zufuhr neuer Möglichkeiten Veränderungspotentiale entwickelt, die nicht zentral gesteuert und kontrolliert werden können und ihrerseits nur nach selbstgenerierten und selbstmodifizierten Richtigkeitsstandards beobachtet werden können. Ordnung muß immer aus Komplexität, aus der Verknüpfung von Anschlußmöglichkeiten auf der Suche nach Stabilisierung in einer systemisch konstruierten Binnenperspektive gebildet werden. Die Stabilisierung der Systeme kann aber nur innerhalb eines nicht-linearen Ungleichgewichts erfolgen, Ordnung wird aus Chaos generiert und Ordnung erzeugt Chaos, weil sie zwangsläufig Referenzmuster zugrunde legt, die andere Möglichkeiten der Verknüpfung unterdrückt 470 . Auf Einzelheiten der Darstellung der Theorie der autopoietischen Systeme muß hier verzichtet werden; hier kommt es vor allem darauf an festzuhalten, daß eine Kritik an der Autonomisierung der Systeme gegenüber „dem" Menschen, dessen Ausbürgerung aus „der" Gesellschaft befürchtet wird, entweder auf psy466 Luhmann, (Fn. 452), S. 61. 467 Teubner, (Fn. 463), S. 44 f., 49. 468 Eigen / Winkler, (Fn. 402), S. 259 ff. 469 Vgl. auch Bourguignon, (Fn. 431), S. 510. 470 A. Atlan, Mémoire et auto-organisation, in: J. L. Le Moigne / D. Pascot (Hg.), Les procès collectifs de mémorisation, Paris 1980, S. 134 ff.

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme

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chische Evidenzerlebnisse spekuliert oder die Möglichkeit einer fundamentalen Einheit des Menschen oder der Gesellschaft unterstellt, deren theoretische Voraussetzungen unklar bleiben. Systemische Konzepte führen weder zum Verschwinden des Menschen oder des Individuums noch zur Verselbständigung der Systeme als neuer „Makro-Subjekte", die die Stelle der Individuen einnehmen. Die relationale Logik durchzieht — darauf muß insistiert werden — alle Komponenten des traditionellen Verweisungszusammenhangs von Subjekt, Objekt, Rationalität und Sprache: Das Individuum kann als empirisches Subjekt nicht mehr nach dem Modell der Internalisierung des großen „Anderen" gebildet werden, ebenso wenig wie die Systeme diesem Modell entsprechen, sie sind ja gerade ein Produkt der Dekomposition der traditionellen „Makro-Subjekte". Ihre Konstruktion basiert auf dem Übergang von der deduktiven Verknüpfung des Besonderen mit dem Allgemeinen zur horizontalen kreativen Verknüpfung von Operationen innerhalb einer Pluralität von differentiellen Systemen und systemrelevanten Umwelten. In diesem Prozeß sind Möglichkeiten auch für die Bildung neuer relationaler paradoxer Identitäten für die Individuen enthalten, die durch die Lockerung der in den traditionellen Makro-Subjekten 471 zusammenlaufenden Zwänge ermöglicht worden sind. Individualität in einem von einer Pluralität von Systemrationalitäten bestimmten Kontext wäre ihrerseits durch eine größere Porosität für sektorale systemische Möglichkeiten charakterisiert, die die Ausbildung einer neuen flexiblen relationalen Intelligenz im Umgang mit der unaufhebbaren Bewegung von Chaos und Ordnung, dem Wechsel von Perspektiven erzwingen. Selbst das Individuum hätte in diesem Kontext sich einerseits auf Systemperspektiven einzulassen, andererseits hätte es ein Moment der Durchlässigkeit der Pluralität von Binnenrationalitäten füreinander und der Übersetzbarkeit ihrer Sprachen ineinander durch die Abstimmung von systemischen Rationalitäten und individuellen Erwartungen zu ermöglichen. Daß damit auch die Auferlegung neuer Schranken einhergeht, liegt auf der Hand, aber dies war auch und gerade mit dem klassischen subjekt-zentrierten Denken verbunden. Nur das narzißtische Ich sieht sich als Einheit an und spiegelt in der Unmittelbarkeit des Verhältnisses zu alter ego nur das andere seiner selbst. „Das wahre Subjekt . . . kann stets nur »nachträglich4, gleichsam mit seinem eigenen Verschwinden, zum Sein kommen" 472 . Diese psychoanalytische Konstitution des Subjekts durch Einschreibung in die symbolische Ordnung läßt sich beziehen auf das Verhältnis zwischen dem Subjekt der klassischen Philosophie und der universellen Vernunft. Diese Beziehung ist unter den Bedingungen der beschriebenen Fragmentierung auf ein neues relationales Allgemeines übertragen worden, eben die „transversale" oder laterale Rationalität, nicht aber kann es in einer nicht-institutionalisierten Reziprozität aufgehen. 471 R. Bodei, Stratégies d'individuation, Critique 1985, S. 119 ff., 129. 472 H. Weiß / G. Pageis, Übergangsphänomene und symbolische Ordnung. Winnicott und Lacan, JbPsa 18, (1986), S. 54 f. 8 Ladeur

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

Demgegenüber ist der Mangel der verschiedenen Lesarten der prozeduralen argumentativen Rationalität gerade in der Unterbestimmtheit ihrer rechtlichinstitutionellen Komponente zu sehen, wie oben gezeigt. Sie führt dazu, daß die Überschätzung der Möglichkeit des wechselseitigen „Versprechens" — den übrigens auch der Doppelsinn des Begriffs signalisiert! — sich in einer leeren Selbstgerechtigkeit erschöpft, die der mit der Fragmentierung des „Makro-Subjekts" einhergehenden Freiheit eine illusionäre Autonomie abgewinnen zu können meint, die sich letztlich im Protest gegen jede Form der Fortsetzung von institutionalisierten Gebrauchsregeln und Anschlußzwängen und die sie prozessierenden Sprachspiele erschöpft. Das Ende des „zentralen Selbst namens »Vernunft'" 473 kann aber auch nicht den Zugang zur Über-Einstimmung mit einem „gemeinsamen menschlichen Kern" durch die Unmittelbarkeit eines Mitgefühls eröffnen; nicht erst die Psychoanalyse hat den narzißtischen Ursprung des Begehrens des anderen untersucht. Solidarität ist eine höchst selektiv eingegangene Bindung, mit der ein Wille zur Vernichtung des anderen korreliert ist. Gerade weil das Selbst ein „Netzwerk aus Kontingenzen" ist, ist auch Rationalität eher als ein Mechanismus zu konstruieren, „der Kontingenzen anderen Kontingenzen anpaßt" und die Unmittelbarkeit der Identifikation und Gegenidentifikation, aber auch die Grenzen der nur individuell bleibenden Kommunikation überwindet. Eine Alternative könnte durchaus in der systemtheoretischen Konstruktion einer „relationalen Logik" gesehen werden, die die evolutionäre Ausdifferenzierung der Systeme und ihrer Funktionen zu der normativen Forderung des „Seinlassen(s) der Systeme" zuspitzen würde 474 . Dies impliziert keine Gleichgültigkeit gegenüber dem selbstreferentiellen Prozessieren der Systeme, sondern bedeutet nur, daß die Unzugänglichkeit der Wirklichkeit für die Wahrnehmung der Individuen akzeptiert wird und ihre Rolle auf die Nicht-Hintergehbarkeit der über die Selbstkonstruktion pluraler Systeme erschlossenen artifiziellen Möglichkeitsräume eingestellt wird 4 7 5 . 2. Zur Konstruktion

des Autopoiesis-Konzepts

in der Biologie

Vor der genaueren Auseinandersetzung mit dem Problem der Übertragbarkeit des Konzepts der Autopoiesis auf soziale Systeme soll zunächst versucht werden, der Konstruktion und Verwendung dieses Begriffs in der Biologie in dem durch unsere Zwecke begrenzten Rahmen nachzugehen. In der Formulierung Maturanas 476 heißt es: „An autopoietic system is a system with a changing structure that follows a course of change that is continously being selected through its interaction in the medium in which is realized its autopoiesis". 473 Rorty, (Fn. 65), S. 66, 68. 474 Welsch, (Fn. 324), S. 1.19 N. 7. 475 Seel, (Fn. 168), S. 13. 476 H. Maturana, Man and Society, in: F. Benseler/P. M. H e j l / W . K. Köck (Hg.), Communication and Society, Frankfurt/M. 1980, S. 1 ff., 12

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme

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Autopoiesis ist durch spezifische Interaktion zwischen den Komponenten 477 und das Operieren mit einer Selbstbeschreibung charakterisiert, die die Selbstkonstruktion und Selbsterhaltung des Organismus durch ein „Programm" ermöglicht, das nicht von einem Modell „kopiert" wird, sondern durch rekursive Verschleifung mehrerer Ebenen des Systembaus die Redundanz einzelner Elemente und ihrer Verknüpfungen mit der Fähigkeit zur selbstinduzierten, auf der „Lektüre" ihres eigenen Programms beruhenden „Information" verbindet 478 . Der Begriff der Be-schreibung durch ein „Programm" ist beinahe wörtlich insofern zu verstehen, als es sich nicht um analoge Modelle handelt, die verwirklicht werden, sondern zyklisch verkoppelte Anschlußregeln, die Redundanzen „interpretieren" und damit mehr Information erzeugen können, als in ihnen enthalten sind 479 . Die Beschreibung ist nicht direkt auf einen Gegenstandsbereich kopierbar, sondern bedarf eines „Lektüreprozesses". G. Roth gebraucht den Begriff der Autopoiesis in einem engeren Sinne, wenn er diese Fähigkeit nur solchen Systemen zuschreibt, in denen alle Komponenten „sich ständig gegenseitig reparieren oder ersetzen". Wäre auch nur ein wesentlicher Bestandteil davon ausgenommen, würde das System im biologischen, Sinne aufhören zu existieren. Davon unterscheidet er insbesondere die „selbstreferentielle Erzeugung neuronaler Erregung im Nervensystem". Der Prozeß der Produktion von Komponenten, in dem das System (re-)generiert wird, erzeugt durch eine Kombinatorik mehr Information als in den Elementen enthalten ist. Dabei entsteht eine rekursive Geschlossenheit dadurch, daß einzelne Komponenten immer vom ganzen System repliziert werden und das ganze System durch sich selbst, aber nicht ohne die Replikation der Komponenten (re-)generiert wird. Die für die Replikation erforderliche Information kann in einem Code oder in einer distribuierten Form verfügbar sein. Dies hängt damit zusammen, daß die Entstehung der Komponenten funktional an die Existenz des Systems gebunden ist 4 8 0 , d. h. daß die emergente Fähigkeit der Komponenten zur Replikation die Wahrscheinlichkeit der wechselseitigen (Selbst-)Erzeugung der Komponenten und des Systems beeinflußt 481 . Selbstproduktion vollzieht sich über Selbstreplikation der Komponenten und ihrer Relationen. Individuelle Komponenten werden repliziert durch das ganze System und das ganze System wird durch sich selbst repliziert. 477

G. Roth, Autopoiese und Kognition: Die Theorie H. R. Maturanas und die Notwendigkeit ihrer Weiterentwicklung, in: G. Schiepek (Hg.), Systeme erkennen Systeme, München/Weinheim 1987, S. 55 ff., 65. ™ Atlan, (Fn. 385). 479 Η. H. Pattee, Dynamic and Linguistic Modes of Complex Systems, Int. J. of Gen. Systems 1977, S. 259 ff.; ders., Instabilities and Information in Biological Self-Organization, in: F. E. Yates (Hg.), Self-Organizing Systems. The Emergence of Order, New York / London 1987, S. 325 ff.; G. Kampis / V. Csanyi, Notes on Order and Complexity, J. of Theor. Biol. 124 (1987), S. I l l ff.; dies., (Fn. 409), S. 148. 480 U. an der Heiden /G. Roth/H. Schwegler, Die Organisation der Organismen: Selbstbeobachtung und Selbsterhaltung, in: Funkt. Bio. Med. 5 (1985), S. 335 ff. 4 «i Csanyi/Kampis, (Fn. 411), S. 303 f., 308; dies., (Fn. 479), S. 111, 114. 8'

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

Die funktionale Beziehung ist dadurch ausgezeichnet, daß das selbstproduzierende System nicht einfach einen Fixpunkt ansteuert, sondern sich als aktive Selbstkonstruktion vollzieht. D. h. durch die Entwicklung des Systems wird eine immer stärker differenzierte interne Organisation erzeugt, die mehrere Ebenen umfaßt und das System von kausalen Abhängigkeiten mehr und mehr unabhängig macht. Das System ist deshalb natürlich nicht von der Zufuhr von Informationen und Ressourcen von außen unabhängig — dies ist ein verbreitetes Mißverständnis —, aber entscheidend ist, daß die Verarbeitung dieser Einflüsse intern bestimmt wird. Vor allem Roth hat in der theoretischen Biologie die Auffassung vertreten, daß der Begriff der Autopoiesis eng interpretiert werden müsse und daß insbesondere die selbstreferentielle Erzeugung neuronaler Erregung im Nervensystem nicht als autopoietisch angesehen werden könne, weil das Wahrnehmungssystem nicht hierarchisch, sondern parallel und divergent aufgebaut sei und keine Konvergenz auf ein Zentrum entwickle. Autopoiesis sei durch strenge Zyklizität der Systemzustände charakterisiert, die über sehr spezifische Interaktionen zwischen den Komponenten realisiert werden. Im Nervensystem seien aber die Operationsweisen durch Variabilität der Zustände bestimmt. Durch Kognition werde etwas geschaffen, das „nicht in derselben ontologischen Ebene wie die Autopoiesis" anzusiedeln sei. Über Selbstbeschreibungen könne die Kognition die Autopoiesis ihres Organismus transzendieren, „weil sie über die Zustände ihrer Komponenten frei verfügen" kann. Lernfähige kognitive Systeme können danach ihre „Netzwerkstruktur" selbst ändern 482 . Kampis / Csanyi stellen darauf ab, daß lebende Systeme ihre Komponenten und Prozesse selbst unverändert reproduzieren. Nur bei identischer Replikation der das Netzwerk der Komponenten produzierenden Prozesse, die durch funktionale Interaktion der Komponenten dasselbe Netzwerk (re-)produzieren, das sie produziert hat, kann man danach von Autopoiesis im engeren Sinne sprechen 483. Zu dieser Streitfrage innerhalb der theoretischen Biologie kann hier natürlich nicht sinnvoll Stellung genommen werden. Roth und Kampis / Csanyi machen aber auf eine auch für die gesellschafts- und rechtstheoretische Rezeption interessante Fähigkeit höherentwickelter lebender Systeme zur Selbstmodifikation durch Kognition aufmerksam. Wenn man etwa die Selbstmodifikationsfähigkeit sozialer Systeme damit vergleicht, so erscheint zweifelhaft, ob das Konzept der Autopoiesis im engeren Sinne auf soziale Systeme übertragbar ist und das heißt, für die Theoriebildung fruchtbar werden kann. Die Leistungsfähigkeit des Konzepts in der Biologie scheint vor allem darin zu bestehen, für die Mechanismen der Entwicklung des Lebens eine Darstellung zu konzipieren, die sich von der mechanischen Kausalitätsauffassung in bezug auf die unbelebte Natur, wie sie im Newtonschen Weltbild zum Ausdruck kam, unterscheidet. Allerdings sind auch dort etwa durch I. Prigogine u. a. neue Begrif482 Roth, (Fn. 477), S. 60, 62 f. 483 Kampis / Csanyi, (Fn. 411), S. 310, 312.

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fe und Modelle konstruiert worden, die vor allem an der Kreiskausalität, der Bildung diskontinuierlicher zeitabhängiger Wirkungsbeziehungen, nicht-linearen Ungleichgewichtszuständen und, allgemeiner formuliert, an Phänomenen orientiert sind, an denen sich zeigt, daß in Beziehungen zwischen Elementen funktionale Informationen enthalten sind, die auf die Möglichkeit zu komplexer Ordnungsbildung jenseits punktueller Kausalverläufe und universeller Gesetzmäßigkeiten verweisen. In einem Netzwerk von Beziehungen zwischen Elementen wird offenbar mehr „Information" generiert, als sich in der Summe der einzelnen Relationen abbilden läßt. Dieses Phänomen, läßt sich in Phasenübergängen, der diskontinuierlichen Entwicklung von stabilen Trajektorien und instabilen Bifurkationspunkten in „dissipativen Strukturen" und ähnlichen Prozessen beobachten, die auf einzelne Ursachen nicht mehr zurückgerechnet werden können, sondern in einem „kollektiven" Phänomen enthalten sind. Hier machen sich Selbstorganisationsprozesse geltend, in denen die „Materie beginnt, um es ein wenig anthromorph auszudrücken, fern vom Gleichgewicht ihre Umgebung »wahrzunehmen 4"484, um „Attraktoren" auszubilden, an denen sich neue Ordnungszustände ankristallisieren. Das Neue dieses auch in den Wissenschaften von der unbelebten Natur beobachteten Phänomenbereichs fordert zur Bildung neuer Begriffe heraus, mit denen die an der Universalität von Gesetzmäßigkeiten orientierten klassischen Ordnungsmodelle, die das Besondere stets auf allgemeine Verknüpfungsregeln zurückführen, zwar nicht überwunden, aber doch relativiert und für spontane, zeitabhängige, diskontinuierliche Prozesse spezifiziert werden. Über eine Vielfalt von Elementen, unterstützt von der aktiven Rolle einzelner Fluktuationen in einer Gesamtheit anderer, wird Ordnung aus Komplexität, aus dem Zusammenspiel von Stabilität und Labilität als emergentes Phänomen generiert 485. Die Interaktion zwischen mikroskopischer und makroskopischer Ebene und die damit notwendig werdende, nicht anthropomorph mißzuverstehende „Beobachtung44 von Veränderungen sind die neuen Themen, mit denen sich die Naturwissenschaften bei der Untersuchung von Selbstorganisationsprozessen in der Natur befassen müssen 486 . Vor allem das Problem der Beobachtung stellt sich für die Naturwissenschaften in einer auch für sozialwissenschaftliche Rezeption fruchtbar zu machenden Weise neu, da eine deterministische Wahrnehmung nur für den Beobachter möglich ist, der sich selbst außerhalb der beobachteten Welt befindet, während sich nun vor allem im Bereich der neueren Systemforschung, aber nicht nur dort, die Beschreibung der Welt von neuem als Problem stellt 487 . 484 Prigogine/Stengers, (Fn. 354), S. 177; ders., (Fn. 355), S. 396, 399. 485 I. Prigogine, Time and Human Knowledge, in: Environment and Planning, Β, Planning and Design 1985, S. 5 ff. 486 ι. Prigogine, Only an Illusion, in: The Tanner Lectures on Human Values, V, 1984, Salt Lake City u. a. 1984, S. 37 ff., 40. 487 Vgl. zum Verhältnis zwischen klassischer idealistischer Philosophie und Newtonscher Naturwissenschaft, I. Kant, Werke in 12 Bänden, hrsg. von W. Weischedel, I,

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

Das für die sozialwissenschaftliche Reflexion relevante Moment dieser neuen Entwicklung der Naturwissenschaften besteht vor allem in einer Umstellung der Begrifflichkeit von Gleichgewichtsmodellen, die auf der Erhaltung von Kräften basieren, auf evolutionäre Prozesse, die sich in informationellen Kategorien beschreiben lassen und die Erzeugung, Vervielfältigung und Zerstörung von Information in den Vordergrund rücken. Information ist das Phänomen, das die Dynamik von Prozessen, die Vermehrung von Möglichkeiten durch vielfache Kopplung von „einfachen" Informationen denkbar macht. In der Mechanik erscheint die Welt als durch Kräfteerhaltung bestimmt. In der Thermodynamik und anderen neueren naturwissenschaftlichen Modellen erscheint die Welt als beherrscht von der Erzeugung neuer Möglichkeiten aus der Irreversibilität und Stochastizität von Prozessen. Auch das Modell der Autopoiesis der theoretischen Biologie ist mit den bisher beschriebenen Entwicklungen der Naturwissenschaften insofern zu vergleichen, als es an den internen Mechanismen der — nicht auf Kausalbeziehungen zu reduzierenden — Selbstproduktion von Organismen orientiert ist, die mit relativ wenigen Anfangsinformationen, die in einem nur unzulänglich sogenannten „genetischen Programm" enthalten sind, eine (auf jeden Fall teilweise) hochkomplexe Organisation aufbauen, die nur durch die Verschleifung von unterschiedlichen Komponenten und Organisationsebenen möglich sind und in denen stets mehr Information generiert wird durch das Prozessieren der „Lektüre" des Programms 488 . Ob man das Konzept der Autopoiesis soweit treiben muß, daß man jede „Information" des Systems von außen negiert, erscheint fraglich 489 . Kampis / Csanyi relativieren diese Konzeption dadurch, daß sie den „autogenetischen" Prozeß der Selbsterzeugung des seinen (vorläufigen) Endzustand anstrebenden werdenden Organismus durchaus auch von externen Informationen geprägt sehen. Denn in der Form der Zufuhr von Proteinen, die selbst eine Funktion im Sinne einer Information hätten, würden constraints für die interne Systembaudynamik erzeugt, über die die Wahrscheinlichkeit der Erzeugung von Komponenten wechselwirkend beeinflußt werde. Erst wenn der Organismus den Endzustand seiner „Autogenesis" erreicht habe, sei das Maximum der replikativen Information erreicht, d. h. das System hat seine Grenzen organisational durch Selbstreproduktion geschlossen, es hat keine funktionale Bindung an seine Umgebung trotz der natürlich fortbestehenden physikalischen Bindung (Nahrungsaufnahme etc.). Nur durch seine Grenze (Roth: „Rand") kann das System funktional geschlossen werden. In diesem Zustand entstehen keine neuen Funktionen mehr und es setzt auf der erreichten Ebene seine Replikation fort, solange die Umwelt dies zuläßt. Nach dem Erreichen des Niveaus der identischen rekursiven Replikation ist das System eine autonome sich selbst erhaltende Einheit, das durch ein Netzwerk Frankfurt 1968, S. 242, vgl. auch I. Prigogine, Explaining Complexity, Eur. J. of Operational Res. 1987, S. 97 ff., 98. 488 Atlan, (Fn. 385). 489 Csanyi / Kampis, (Fn. 411), S. 304.

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von Komponenten produzierenden Prozessen zugleich die Komponenten und durch deren funktionale Verbindung sich selbst als genau das bestehende organisationale Netzwerk, das die Komponenten produziert, erhält. Kampis/Csanyi 4 9 0 setzen der engeren Auffassung von Autopoiesis bei Maturana und Varela das Argument entgegen, daß Funktionen keine Fixpunkte eines dynamischen Prozesses seien, sondern in der aktiven Selbstkonstruktion ihrerseits einer Evolution unterliegen. Lebende Systeme replizieren sich danach nicht exakt, sondern sie verändern ihre Organisation — die nach Maturana und Varela ihre Identität ausmacht491 — durch mikroskopische Dauervariationen in einer nicht-identischen Replikation, die die Aufrechterhaltung ihrer Identität zu einem paradoxen Produkt einer sich ausbalancierenden Dynamik macht 492 . Für eine sozial- und rechtswissenschaftliche Rezeption dieses Modells der Autopoiesis ist vor allem das Konzept der Rekursivität interessant 493. Bevor darauf eingegangen wird, müssen aber einige wissenschaftstheoretische Voraussetzungen der Rezeption eines Konzepts aus der theoretischen Biologie in ein gesellschaftstheoretisches Modell geprüft werden. Eine engere Fassung des Konzepts beschränkt Autopoiesis auflebende (nicht-soziale) Systeme, weil das spezifisch autopoietische Moment der Selbstreferenz darin bestehe, daß der Organismus immer als ganzer handle 494 und die Änderung einer Komponente alle anderen Komponenten berühre, so daß keine Komponente unabhängig von der anderen mit der Umwelt interagieren könne. Die Entstehung aller „makroskopischen" Komponenten setzt die Einheit des Systems voraus 495 und findet in diesem statt. Ähnlich wie Kampis / Csanyi hält aber auch Roth die Aufnahme und Abgabe von mikroskopischen Komponenten durch autopoietische Systeme für möglich. Entscheidend ist danach die Selbstkonstitution durch Bildung eines „Randes" als einer „nur makroskopisch zu erfüllenden Bedingung" und die „strenge Zyklizität der Systemzustände"496, die insbesondere dazu führt, daß alle Komponenten 490 Csanyi/Kampis, (Fn. 411), S. 312, 315. 491 H. R. Maturana, Biologie der Sozialität, Delphin V (1985), S. 6 ff., 7. 492 F. J. Varela, Principles of Biological Autonomy, New York/Oxford 1979, S. 12. In der Psychoanalyse zeichnet sich eine Radikalisierung der Freud*sehen Dezentrierung des bewußten Ich ab, die sich ähnlicher Begriffe bedient. Anlehnend an den biologischen Begriff der Membran wird der Aufbau des Ich in einem „topographischen" Modell als Prozeß eines „wechselseitigen Einfügens von Rächen" beschrieben (D. Anzien, Das Haut-Ich, Frankfurt 1991, S. 21): Das Ich hat als „Haut-Ich" die „Struktur einer Hülle", deren Grenzen ziehende und neue Grenzen und Unterscheidungen ermöglichende Oberfläche den Austausch filtert und steuert. Die Oberfläche als Hülle hat keinen „dahinterliegenden Kern"; die Differenzierungen des Ich bleiben funktional an die Oberfläche gebunden. 493 Luhmann, (Fn. 442), S. 122. 494 G. Roth, Conditions of Evolution and Adaptation in Organisms as Autopoietic Systems, in: D. Mossakowski / ders., (Hg.), Environmental Adaptation and Evolution, Stuttgart/New York 1982, S. 37 ff., 42. 495 an der Heiden / Roth / Schwegler, (Fn. 480), S. 339. 4% Roth, (Fn. 477), S. 55 f., 60.

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sich ständig wechselseitig reparieren oder ersetzen. Deshalb sei auch der Prozeß der „Kognition" von der Autopoiesis verschieden: Insbesondere die visuelle Wahrnehmung erfolge nicht-hierarchisch, sondern parallel und divergent 497 . Der Begriff der Autopoiesis sei auf neuronale Aktivität nicht zu erstrecken, weil lebende Systeme damit über die Zustände ihrer Komponenten frei verfügen könnten 498 . Diese Schwierigkeit versucht Maturana durch die Einführung eines auch für eine gesellschaftstheoretische Rezeption zentralen Konzept der Beobachtung zu bewältigen, eine Verbindung, die nicht zwingend erscheint, die aber von Maturana zu der These zugespitzt wird, daß Kognition geradezu mit dem Leben gleichzusetzen sei 499 . Maturana verändert sicher das Modell der Autopoiesis durch den Einbau des Beobachters, zugleich aber spezifiziert er es, wenn er der Beobachtung ein biologisches Fundament darin zu geben versucht, daß er Beobachter und Beobachtetes als ontologisch primär gegenüber dem physischen Existenzbereich ansieht 500 . Damit ist keine Metaphysik der Selbsterzeugung intendiert, vielmehr wird der Begriff des Beobachters formalisiert und auf das Operieren mit Unterscheidungen insofern reduziert, als nichts in der ontogenetischen Entwicklung geschehen kann, was nicht durch die ursprüngliche Struktur ermöglicht worden ist 5 0 1 . Deshalb wird die Wahrnehmung bei Maturana auch als aktive Konstruktion einer Welt aufgrund von Distinktionen bestimmt, über die ein System seine Kopplung mit einer Umwelt fortsetzen kann. Die Beobachtung ist die Unterbrechung eines Kontinuums, aus dem das lebende System sich sozusagen entfernt, indem es sich selbst im Angesicht von Umweltirritationen durch Operationen konstruiert, die seine eigene Organisation aufrechterhalten. Damit wird auch die Sprache zu einem biologischen Phänomen; was immer ein System auch über „konsensuelle Bereiche" des mit anderen abgestimmten Operierens generiert, ist danach in der anfänglichen linguistischen Struktur der Beobachtung schon angelegt. Beobachtung ist damit letztlich immer Selbstbeobachtung (und Selbstbeschreibung). Das Konzept bleibt bei Maturana eher unterbestimmt, darf aber keinesfalls im Sinne einer Zuschreibung für ihre Wahrnehmungsfunktionen an — auch — niedere Lebewesen mißverstanden werden. Es konturiert sich durch seinen Gegensatz zu der Auffassung, die die Funktion des Lebens auf intern und extern wirkende lineare Kausalrelationen reduziert, als ein Modell, das den „Anfang" in der Unterscheidung des Lebens von einer Umwelt, in der Unterbrechung eines Kontinuums der unbelebten Natur begründet sieht. Die Konstitution eines „Selbst" (in einem formalen Sinne) durch Unterscheidung von einem Nicht497 Maturana, (Fn. 389), S. 255 ff. 49« Roth, (Fn. 477), S. 60, 62. 499 H. R. Maturana, The Biological Foundations of Self-Consciousness and the Physical Domain of Existence, in: Redder, (Fn. 442), S. 47 ff. 500 Maturana, (Fn. 499), S. 48. sot Maturana, (Fn. 499), S. 86.

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Selbst, durch die Trennung von innen und außen, ist damit der Beginn einer nicht-hintergehbaren „Selbst-Bestimmung". Diese Autonomie des Lebens setzt eine Selbst-Beschreibung voraus, weil es nirgendwo in der unbelebten Natur eine Ursache für die Entwicklung eines „Bauplans" des Lebens und seiner Realisierung gibt — was natürlich nicht im Sinne einer gänzlichen Ablösung von der Umwelt interpretiert werden darf. Das Konzept der Selbstbeschreibung bleibt bei Maturana / Varela zwar metaphorisch, es ist aber nicht reduktionistisch. Maturana erkennt für gesellschaftliche Systeme die Notwendigkeit einer „strukturellen Kopplung" einer Pluralität von Individuen an, über die die kulturellen Funktionen der Menschen sich schließlich vom Gehirn ablösen und zu kollektiven historischen Phänomenen werden 502 . Maturana reduziert also Kognition nicht auf ein biologisches Phänomen im engeren Sinne, aber Roth ist darin recht zu geben, daß einfache (Selbst-)Beschreibungen bis hin zu kulturellen, insbesondere wissenschaftlichen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft sich nicht in einer kontinuierlichen Linie gradueller Komplexitätssteigerung darstellen lassen. Mit Varela und Roth ist insbesondere für soziale Systeme einem eigenständigen Begriff der „Autonomie" der Vorzug zu geben und der Begriff der Autopoiesis für lebende Systeme mit strikter Zyklizität der Komponenten, ihrer Strukturen und Prozesse vorzubehalten. In dieser „weichen" Variante eröffnet das Konzept der (Selbst-)Beschreibung allerdings durchaus neue Perspektiven, wenn man den damit assoziierten Begriff der Sprache — zunächst auch in einem formalen Sinne — etwas genauer spezifiziert als dies vor allem bei Maturana der Fall ist. So läßt sich etwa das sog. „genetische Programm" eines lebenden Systems zunächst besser als eine Art Sprache verstehen. Es handelt sich dann nicht um eine Sammlung von „Befehlen" — dies wäre selbst noch mit einem klassischen Kausalitätsmodell vereinbar —, sondern es stellt sich dar als ein begrenzter Vorrat an Operationsregeln, ein Zeichenalphabet, eine Sinn-Semantik von Beschreibungen und — dies ist entscheidend — ein Bestand von darauf bezogenen Interpretationsregeln 503. Damit läßt sich die Schließung der autonomen Systeme besser spezifizieren. Sie basiert nämlich darauf, daß ein System mit einer begrenzten Menge von Symbolen ein sehr komplexes System entwickeln kann, dessen Möglichkeiten nicht abschließend in einer Menge von Sätzen ausdrückbar ist, das aber alle seine Möglichkeiten nur innerhalb der Sprache entwickeln kann. Darin wird deutlich, daß die Behauptung der Autonomie nicht gleichbedeutend ist mit Umweltunabhängigkeit, daß aber die Distinktionen, die die symbolische Ordnung eines lebenden Systems zur „Selbstbeschreibung" bereithält, mehr oder weniger begrenzt sind. 502 Maturana, (Fn. 499), S 113. 503 H. H. Pattee, Cell Psychology: An Evolutionary Approach to the Symbol-Matter Problem, in: Cognition and Brain Theory 5 (1982), S. 325 ff.; vgl. auch Varela, (Fn. 492), S. 73 ff.; L. Löfgren, Towards System: From Computation to the Phenomenon of Language, in: M. E. Cavallo (Hg.), Nature, Cognition and System, I, Dordrecht u. a. 1988, S. 129 ff.

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Durch den Bezug auf das spezifisch Symbolische läßt sich auch die Generierung von neuen Möglichkeiten und die Begrenztheit ihres Spektrums erklären: eine Bedeutung ist immer unvollständig, weil sie kein analoges Abbild ist, sondern mit symbolischen Reduktionen operiert, die im Bezug auf vorfindliche Zeichen und ihre Verwendungen Neues hervorbringen. Das symbolische Prozessieren ist auf Ergänzung durch zufällige Besonderheiten oder durch höherrangige Interpretationsregeln angewiesen, die komplexere Abstimmungen des Neuen mit dem Bekannten organisieren 504. Ein Beschreibungssystem verfährt damit sowohl „nach unten", im Hinblick auf Besonderheiten, induktiv als auch deduktiv (in einem weiteren Sinne), indem es die Änderung der Selbstbeschreibung über Interpretationsregeln ermöglicht. Dies kann man mit Löfgren als ein „autolinguistisches" Modell bezeichnen505: Beschreibungen und Interpretationen sind rekursiv miteinander verkoppelt und diese Verkopplung erzeugt über die biologische Interpretation biologischer Beschreibungen neue Möglichkeiten, die wiederum in den rekursiven Zirkel der Anwendung, Beschreibung und Interpretation eingehen. Auf diese Weise wird eine „innere Umwelt" konstituiert. Darin ist zugleich die Entstehung neuer Interpretationsregeln einschließlich der Erzeugung einer weiteren höheren Ebene der Selbstinterpretation (Interpretation der Interpretation) und damit einer Selbstreferenz angelegt, die erkennen läßt, wie die Beschreibung Regeln für ihre eigene Interpretation generiert 506 . Wenn man dies in Rechnung stellt, läßt sich die eigenartige und zunächst schwer nachvollziehbare These, daß die Beobachtung ontologisch dem Objekt vorhergeht 507 , als durchaus fruchtbar erkennen. Hier erweist sich zugleich die Fruchtbarkeit einer philosophischen Konzeption der Sprache als Weltverhältnis (statt einer instrumentellen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt). Das paradoxe Verhältnis von Beschreibung und Interpretation erklärt, daß und wie ein selbstreferentieller Verweisungszusammenhang zwischen beiden die Veränderungsmöglichkeiten des Systems bestimmt. In komplexen Systemen werden immer mehr Interpretationsregeln generiert, wenn dadurch auch die Beobachtung neuer Phänomene nicht notwendigerweise gesteigert wird. Das System wird auf diese Weise durch die Kopplung von Beobachtung / Beschreibung und Interpretation in die Lage versetzt, eine große Variabilität der Muster des Eigenverhaltens zu entwickeln 508 , aber zugleich bestimmte mögliche Kopplungen mit der Umwelt zu ignorieren. Varela bringt dies in einen Zusammenhang mit der zwangsläufigen Distanz von Signifikant und Signifikat, die ein Symbolsystem konstituiert 509 . Dabei muß man allerdings berücksichtigen, daß diese Distanz in der menschlichen Sprache selbst inzwischen mehr und mehr ihrer Stabilität entkleidet wird und Bedeutung eher als an den 504 Löfgren, (Fn. 503), S. 134. 505 Löfgren, (Fn. 503), S. 147. 506 Löfgren, (Fn. 503), S. 148. so? Maturana, (Fn. 499), S. 119. 508 Varela, (Fn. 390), S. 138. 509 Varela, (Fn. 492), S. 73 f.

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Gebrauch und die Relationierung mehrerer Signifikanten gebunden begriffen wird, da auch die Stabilität des Zeichens als Zusammenfassung von Signifikant und Signifikat labil geworden ist 5 1 0 .

3. In welcher Sprache beschreiben Systeme Systeme? Die Konzeption der autopoietischen oder autonomen Systeme ist für eine gesellschafts- oder rechtstheoretische Rezeption vor allem deshalb bedeutsam, weil sie ein Denken der Dynamik, der Veränderung in der Zeit ist, das selbst die Stabilität als Produkt von einander balancierenden Bewegungen betrachtet 511. Sie erlaubt es, Ordnung und Unordnung nicht als einander ausschließend zu betrachten, sondern als Momente eines Differenzierungsgeschehens, in dem Einheit und Differenz koexistieren, und eröffnet damit eine Perspektive, in der die oben beschriebene transsubjektive Evolution, die das Subjekt hervorgebracht hat, nach seinem Zerfall weitergedacht werden könnte. Das Konzept der Beobachtung muß man nicht notwendig in der radikalen Version Maturanas zum Modell eines neuen „Anfangs" erheben, aber die damit akzentuierte Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst steht — wenn man sich von anthropromorphen Assoziationen freihält — in einem Entsprechungsverhältnis zum Zerfall des Verweisungszusammenhangs von universeller Vernunft, Ordnung und der Zentralperspektive des Subjekts, in der kein Platz für diskontinuierliche Selbständerung (nur für Selbstaufklärung über die eine lineare Vernunft) war. Damit ist zugleich die Kontroverse zwischen realistischen und konstruktivistischen Wissenschaftstheorien aufgeworfen. Dies soll hier nur angemerkt werden 512 . Aber setzt sich nicht eine Theorie der Selbstbeobachtung der destruktiven Paradoxie aus, daß sie mindestens ihren Relativismus für wahrheitsfähig erklären muß? Für eine gesellschafts- und rechtstheoretisch instrumentierte Theorie der Beobachtung mag ein pragmatischer Relativismus zweiter Ordnung attraktiv erscheinen, für den beide Konzeptionen einander nicht ausschließen müssen. Dann wäre eine realistische Wissenschaftstheorie ein Sonderfall des Konstruktivismus, nämlich einer Beobachtung von Phänomenen, die relativ zeit- und beobachterunabhängig insofern sind, als man von der internen Konstruktion von Ordnung aus Unordnung absieht und eine bestimmte Konstanz der „strukturellen Kopplung" von Organismus und Umwelt unterstellen kann. Luhmanns Konzeption autopoietischer Systeme schließt an Maturanas Theorie an, wenn er soziale Systeme dadurch konstituiert sieht, daß sie aus Elementen bestehen, die durch das System als Einheiten hervorgebracht werden 513 . Die s") Varela, (Fn. 492), S. 57, 71. su Vgl. Balandier, (Fn. 351), S. 5 ff.; ders., (Fn. 353), S. 10, 229. 512 H. J. Wendel, Wie erfunden ist die Wirklichkeit?, Delphin XII 1989, S. 79 ff. 513 Luhmann, (Fn. 452), S. 58, 61.

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Selbstreferenz eines Systems aber zeigt sich daran, daß es alle seine Elemente als „Funktionseinheiten" selbst konstituiert. Kausale Elemente von sozialen Systemen sind nicht mehr „zeitfeste Einheiten" wie Menschen, sondern Ereignisse 514 . Damit ist zugleich „jede Art von basaler Gemeinsamkeit der Systeme" ausgeschlossen515. Was als Einheit fungiert, läßt sich nur von innen beobachten. Und der Beobachter muß sich an „Differenzierungsschemata" halten, die darüber bestimmen, was im System als Einheit fungiert. Die darauf aufbauenden „unterschiedlichen Operationsweisen" sind es 516 , die neben den Ereignissen, die das System als „basale Elemente" konstituieren, die Einheit des Systems und damit zugleich die Differenz zu anderen Systemen ausmachen. Das Subjekt als Einheit „desselben Denkens" wird in dieser theoretischen Perspektive aufgelöst in eine Pluralität von Beobachtern, die nicht einfach durch eine Mehrzahl fragmentierter Wahrnehmungen charakterisiert sind, sondern vielmehr im Handhaben von Unterscheidungen aufgehen, die das System als Einheit von einem Hintergrund abhebt 517 . Die soziale Systeme konstituierenden Unterscheidungen basieren auf einer bestimmten Leitdifferenz, einem Code, über den das System seine Operationen rekursiv immer wieder auf die Resultate seines Operierens anwendet und dadurch eine komplexere „interne Umwelt" aufbaut und verändert 518. Dazu gehört auch eine Selbstbeschreibung, ein „semantisches Artefakt", auf die das System weitere Kommunikationen beziehen kann. Selbstbeschreibungen und Selbstbeobachtungen sind nicht prinzipiell unterschieden, beide dienen der Bezeichnung der Einheit des Systems. (Zu einer „deutlicheren Differenzierung" kommt es erst „durch die Erfindung der Schrift" 519 ). Die Funktionen des Systems als „Synthese einer Mehrzahl von Möglichkeiten" dienen der Selbstbeschreibung des Systems. Innerhalb dieser Perspektive kommt es in einer an der möglichen Rezeption für die rechtstheoretische Begriffsbildung orientierten Fragestellung nicht auf die umfassende Darstellung der Autopoiesis sozialer Systeme bei Luhmann an, entscheidend sind hier vor allem die Stellung des (Selbst-)Beobachters als Alternative zum Subjektbegriff und die damit zusammenhängenden Probleme der Ordnungsbildung. Es sollte aus der Darstellung des Konzepts bei Maturana und bei Luhmann deutlich geworden sein, daß eher moralisierende Einwände, die nach dem Status des „Handelnden" und damit letztlich nach dem Subjekt fragen, zu kurz greifen, da sich soziale Systeme in Luhmanns Begriffsbildung zwar von „Bewußtseinsystemen" der Menschen unterscheiden, aber soziale Systeme des-

514 Luhmann, (Fn. 442), S. 132. 515 Luhmann, (Fn. 452), S. 61. 516 Luhmann, (Fn. 442), S. 132. 517 Luhmann, (Fn. 452), S. 63; H. R. Maturana, Autopoiesis, in: M. Zeleny (Hg.), Autopoiesis. A Theory of Living Organization, New York 1981, S. 21, 23. 518 Luhmann, (Fn. 401), S. 312. 519 Luhmann, (Fn. 452), S. 618.

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halb weder ohne Menschen auskommen noch Menschen ihrer Funktionsweise instrumenteil unterwerfen 520. Mit dem gleichen Recht hätte man der traditionellen Subjektphilosophie die Frage stellen können, wo denn das Interesse der Handelnden bleibt, wenn der Status des Subjekts an eine universelle Ordnung gebunden bleibt. Die Evolution dieser Beziehung hat zur Umstellung der Perspektive von der Subjektphilosophie auf die Intersubjektivität geführt 521 , ohne daß dadurch aber das Verhältnis von Ordnung und Individuum schärfer gefaßt worden wäre. Andererseits ist es eine Selbstverständlichkeit, daß Kommunikationen, aus denen nach Luhmann soziale Systeme „bestehen", sich nicht ohne Menschen vollziehen. Der Übergang von einer Handlungstheorie zur Systemtheorie bedeutet nur, daß — nachdem einmal die potentielle Einheit des (Makro-)Subjekts „desselben Denkens" und des empirischen Subjekts zerfallen ist, zwar auf die Zurechnung von Handlung an Personen nicht verzichtet werden kann, aber daß diese Personen sozusagen nur noch partiell, über „semantische Stellvertreter" 522 , d. h. mit Verhaltensanteilen am sozialen System beteiligt sind, die über das System selbst bestimmt werden, während im übrigen Bewußtsein und soziale Systeme nicht durch umfassende Koordinations- oder Tauschprozesse verbunden sind. Eine „Reintegration" der so getrennten sozialen und Bewußtseinssysteme523 ist nur durch Beobachtung möglich. Hier kommt aber wieder der enge Begriff der Beobachtung zum Tragen; Beobachtung führt nicht zu wechselseitiger Transparenz, sondern nur zur Interpénétration der Art, daß Beobachtungen „als zwangsläufig getrennte empirische Operationen" 524 Komplexität aus dem jeweils anderen Systembereich in den eigenen übernehmen und darüber, wenn auch durch die Resonanz der Operationen des jeweils anderen Systems angeregte, so doch systemintem spezifizierte Operationen aufbauen. Aber Beobachtungen können nach Luhmann nur „entweder bewußt oder kommunikativ ablaufen". Auch wenn die kommunikative Beobachtung die Eigenkomplexität des Bewußtseins „benutzt", wird das Kommunikationsereignis sozusagen im sozialen System rekursiv prozessiert oder umgekehrt im Bewußtsein als Erlebnis verarbeitet. Dasselbe Ereignis erhält Sinn nur durch seine Konnektivität, und diese ist in den Systemen getrennt aufgebaut. Dies hängt mit der Rekursivität und Anschlußfähigkeit in autopoietischen Systemen zusammen: Ein Ereignis wird nicht „abgebildet", sondern über eine Operation (re-)konstruiert, die an den Resultaten anderer Operationen orientiert wird. Und diese Konnektivität ist durch die Systemunterscheidungen getrennt aufgebaut. Die Beobachtung ist gerade dadurch charakterisiert, daß sie ihrerseits etwas mit Unterscheidungen bezeichnet (also konstituiert) und nicht „objektiv"

520 N. Luhmann, Wie ist Bewußtsein an Kommunikation beteiligt?, in: H. U. Gumbrecht / L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, Frankfurt 1988, S. 884 ff., 900. 521 Riedel, (Fn. 39), S. 135. 522 Teubner, (Fn. 463), S. 31. 523 Luhmann, (Fn. 520), S. 895, 900. 524 Luhmann, (Fn. 520), S. 890.

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reproduziert. Auch ein Beobachter ist also keine Person, sondern eine „Systemstelle", von der aus eine Unterscheidung vollzogen wird und die Beobachtung kann sich deshalb im Moment der „Verwendung einer Unterscheidung" nicht selbst beobachten, denn Selbstbeobachtung bedarf einer anderen Unterscheidung 525 . Soziale Systeme sind selbstverständlich auf menschliches Bewußtsein angewiesen, aber nicht darin, sondern innerhalb der rekursiv geschlossenen sozialen Systeme wird „Sinn", die Anschließbarkeit von Ereignissen, konstituiert. Das Verhältnis zwischen sozialen und Bewußtseinssystemen wird in Luhmanns Version der Systemtheorie als „Interpénétration" bezeichnet; dazu gehört auch die Sozialisation der Bewußtseinssysteme durch die sozialen Systeme einerseits und die Berücksichtigung der „Eigendynamik von Menschen in körperlicher und mentaler Hinsicht" durch die sozialen Systeme. Die „Art und Weise", in der die Eigenkomplexität im jeweils anderen System eine Funktion erhält, wird aber durch die „systemeigenen Strukturen und Operationen" bestimmt 526 . Deshalb ist trotz Interpénétration Sozialisation von Menschen nur als „Selbstsozialisation" sinnvoll, umgekehrt erhält die Eigendynamik der Menschen in Kommunikationssystemen eine spezifische Systembeschreibung durch „Inklusion". Dieses Verhältnis der Interpénétration als Verhältnis autopoietischer Systeme wird über den Sinnbegriff ermöglicht, der „Verweisungsreichtum" und unterschiedliche Verknüpfungsmöglichkeiten von Operationen desselben Ereignisses durch Beobachtung zuläßt 527 ., Jedes an Interpénétration beteiligte System realisiert in sich selbst das andere als dessen Differenz von System und Umwelt, ohne selbst entsprechend zu zerfallen". G. Teubner hat den Begriff der Interpénétration, der eng an den Begriff der Beobachtung gebunden ist, um den Begriff der „Interferenz" von Systemen ergänzt: Diese soll sich dadurch von der Interpénétration unterscheiden, daß die beteiligten Systeme „Sinnmaterial" einander zur Verfügung stellen. Damit soll „vorgeordnete Komplexität" insbesondere durch „kommunikativen Anschluß zwischen System und ,Lebenswelt4 44 generiert werden, die allerdings nicht die Autopoiesis der jeweils beteiligten Systeme berühre. Damit wird das „Sinnprozessieren über Systemgrenzen hinweg in einem nicht nur metaphorischen Sinne möglich, aber eben nicht als Information, sondern als Verkopplung mehrerer Informationen über ein und dasselbe kommunikative Ereignis 44528 . (Es erscheint zweifelhaft, ob Luhmanns Annahme der Möglichkeit einer Simultanpräsenz von Ereignissen in mehreren Systemen, die dem selben Ereignis unterschiedliche Informationen entnehmen, damit gleichzusetzen ist 5 2 9 ). 525 N. Luhmann, Wer sagt das? Erwiderung auf J. Wieland, Delphin XII1989, S. 90 ff. 526 Luhmann, (Fn. 520), S. 900. 527 Luhmann, (Fn. 452), S. 296; vgl. auch Teubner, (Fn. 463), S. 108. 528 Teubner, (Fn. 463), S. 109 f. 529 N. Luhmann, Closure and Openness: On Reality in the World of Law, in: G. Teubner, (Hg.), Autopoietic Law. A New Approach to Law and Society, Berlin / New York 1988, S. 335 ff., 342 f.

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Eine kritische Überlegung zu dieser Konstruktion des Verhältnisses von System und Beobachtung kann zunächst anknüpfen an die Ergänzung des Beobachterbegriffs in Maturanas Lesart um ein Konzept der Beschreibung und Interpretation eines spezifisch sprachlichen Symbolsystems. Luhmann hat sein Verständnis der Sprache zunächst mit Recht vom Begriff der Zeichen als eines Vorrats von Repräsentationen von Teilen einer sprachunabhängigen Wirklichkeit abgelöst. Er baut sein Sprachkonzept auf der „symbolischen Generalisierung von Sinn" auf. Die Besonderheit von Symbolen besteht danach darin, daß sie „das, was sie leisten, selbst sind" 5 3 0 . Dies erscheint insofern fruchtbar, als — wie oben gezeigt — die Funktion einer Sprache gerade nicht darin besteht, Wirklichkeit abzubilden, sondern die Konstruktion einer Welt mit einer begrenzten Menge von Symbolen, Regeln und Relationierungen zu ermöglichen. Die Hierarchie von Beschreibung und Interpretation und deren paradoxe Transzendierung durch Rückkopplungsprozesse und die Zufuhr von neuen „bedeutungslosen" Möglichkeiten führen zu einer für die Sprache charakteristischen Mischung aus Geschlossenheit und Offenheit: Sprache hat keinen direkten Zugang zur Wirklichkeit, Wirklichkeit ist selbst nur durch Beschreibung innerhalb der Sprache präsent, andererseits kann die Sprache sich partiell 531 auch selbst beschreiben, aber eben nur partiell und eben nur innerhalb der Sprache. Luhmanns Sprachbegriff bleibt aber eher unterbestimmt. Der Sprache wird die evolutionäre Eigenschaft zugeschrieben, gleichzeitig „lose gekoppeltes Medium" 5 3 2 und,rigide gekoppelte Form" zu sein und dadurch eine hohe „Spezifikation der als Wörter wahrzunehmenden Geräusche, grammatikalischen Regeln usw." mit einer „immensen Vielfalt möglicher Bindungen" und nachfolgender Entkopplung zu kombinieren. „Sprache behandelt alle Wörter gleich und disponiert noch nicht über die Themenvielfalt in kommunikativen Prozessen" 533. „Sprache verhindert, daß bei zunehmender Komplexität . . . bewußtseinsintern ein Chaos entsteht. Sie,»kanalisiert die Gedanken so, daß sie, gewissermaßen entlang von Sätzen, im Schnellzugriff verfügbar sind" 5 3 4 , ohne je das Medium dadurch zu „verbrauchen", daß „Worte in Sätzen" zusammen gedacht werden. Die Gefahr der „raschen Rigidifizierung" durch Bildung von sprachlichen Ausdrücken wird dadurch vermieden, daß die rigide Form das „weiche Medium" nicht dauerhaft durchsetzt: Sätze sind nur „Momente eines Prozesses, die im Entstehen schon wieder verschwinden" 535 und dadurch Instabilität erzeugen.

530 Luhmann, (Fn. 452), S. 137; vgl. auch N. Luhmann, Die Autopoiesis des Bewußtseins, Soziale Welt 1985, S. 402 ff. 531 Löfgren, (Fn. 503); vgl. auch Atlan, (Fn. 383). 532 Luhmann, (Fn. 520), S. 892. 533 Luhmann, (Fn. 452), S. 224. 534 Luhmann, (Fn. 530), S. 422. 535 Luhmann, (Fn. 520), S. 892.

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Luhmann geht zwar mit Recht von einem Sprachbegriff aus, der sich von einem einfachen Zeichenmodell ablöst und das konstruktive innersprachliche Prozessieren von Sinn als durch die Relationierung von Signifikanten, die einen flottierenden Sinn generieren, bestimmt sieht. Dies ist — darauf muß insistiert werden — eine Form der Verarbeitung der Fragmentierung des Subjekts, die auch die instrumenteile Bedeutung der Sprache als Selbsttransparenz stiftende Beziehungsrelation zwischen Subjekt und Objekt in Frage gestellt hat. Der Interprétant des Zeichens ist nicht mehr der Mensch als Sinnstifter, sondern er ist selbst ein Zeichen, das andere Zeichen zu einem neuen Zeichen verbindet 536 , aber die Eigenkomplexität der Sprache wird bei Luhmann letztlich auf eine Kombinatorik reduziert, deren Wechsel von Formstrenge und Medienoffenheit der Virtualisierung des Sinns als reine Verknüpfungsmöglichkeit entspricht. Die Einführung der Sprache in Maturanas Modell der Beobachtung, die die (SelbstBeschreibung eines Systems erst ermöglicht, hat gezeigt, daß diese nicht nur einen Zeichenvorrat und Kombinationsregeln voraussetzt, sondern aufgrund ihrer konstitutiven Unvollständigkeit auf eine durch Interpretation und Interpretationsregeln gesteuerte „Lektüre" und die darüber erfolgende Selbstergänzung verweisen muß. Dadurch wird eine rekursive Beziehung zwischen Beschreibung und Interpretation in Gang gesetzt, die zur Entstehung „sinnloser" neuer „Sätze" führt, die wiederum zu neuen Interpretationen usw. führen kann. Wenn man dies in Rechnung stellt, erscheint Luhmanns Lesart der Theorie autonomer Systeme als Theorie der Autopoiesis weitaus weniger plausibel. Die Akzentuierung der Eigenstruktur der Sprache / Schrift der (Selbst-)Beobachtung / (Selbst-)Beschreibung unterstützt Bühls Einwand, die Autopoiesis-Konzeption laufe auf eine „radikale Temporalisierung des Systems" und — vielleicht mehr noch — die übersteigerte „Punktualisierung der Elemente als Ereignisse" hinaus 537 . Die Reduktion der Systemerhaltung auf das Prozessieren der „Anschlußfähigkeit" von Element zu Element macht begreiflich, daß und warum Luhmann für die Autopoiesis-Konzeption in der starken Variante optiert: Die Selbstproduktion und Selbsterhaltung des Systems vollzieht sich danach von Punkt zu Punkt, während zugleich die Erklärungskraft der Leitdifferenz, etwa die Unterscheidung von Recht / Unrecht, die die System / Umwelt-Unterscheidung vornimmt, überbeansprucht wird. Die „Stabilität der Reproduktion von Systemoperationen" 538 wird letztlich auf die grundlegende Rekursivität der Anwendung von Optionen auf die Resultate von Optionen zurückgeführt, über die sich bei „hinreichend langer Wiederholung . . . diejenige Form herausfiltern" wird, die einen haltbaren „Eigenwert" hervorbringt. Bei Maturana wird die (nicht notwendigerweise menschliche) Sprache / Schrift der Selbstproduktion eines Systems zu wenig ausgearbeitet, sie wird letztlich in 536 Simon, (Fn. 70), S. 279.

537 w . L. Bühl, Grenzen der Autopoiesis, KZSS 1987, S. 225 ff., 230. 538 Luhmann, (Fn. 461), S. 307, 312.

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einer „Ursprungsstruktur" begründet 539 , der „genetischen Konstitution", die durch rekursive Operationen (re-)produziert wird. Dies ist schon für natürliche Systeme — wie gezeigt — präzisierungsbedürftig. Wenn man diese Sichtweise aber auf soziale Systeme überträgt, droht die Gefahr, daß die „binäre Codierung" des Systems mit einer solchen „Ursprungsstruktur" ineinsgesetzt wird. Luhmann spricht — ähnlich wie Maturana bei natürlichen Systemen — auch bei sozialen Systemen, ζ. B. beim Rechtssystem, von einem „Startpunkt aller Operationen, die das System bilden" in der Unterscheidung, mit der das System auf dem Hintergrund einer Umwelt konstituiert wird. So wird ζ. B. für das Rechtssystem ein „innerer Zusammenhang zwischen der Funktion des Rechts, Erwartungen im voraus für den Enttäuschungsfall sicherzustellen" und der binären Codierung unterstellt. Der Code Recht/Unrecht zeichnet sich durch den „Einsatz für diese Funktion" aus. Und durch die Weiterführung der „codierten Operationen entsteht ein System, das alles, was für das System als Einheit fungiert (unter Einschluß des Systems selbst), den eigenen Operationen verdankt" 540 . So ist auch die Zurückführung von „Theoriegeschichte und Strukturgeschichte" auf eine Gemeinsamkeit, „funktionaler Differenzierung" zu erklären; auch Theorie ist Theorie des Systems im System. Ähnlich verfolgt Maturana den „ontologischen Primat" der Beobachtung von den einfachen Formen des Lebens bis zur „konsensuellen Koordination" von Handlungen oder Unterscheidungen, über die etwa wissenschaftliches Denken generiert wird. Luhmanns Konzeption der Theorie des Systems im System ist insofern nicht recht überzeugend, als die Theorie der autopoietischen Systeme erst zu einer Zeit entstanden ist, als die Funktion des Rechtssystems aufgrund gesteigerter interner Komplexität zum Problem geworden ist. Im übrigen kann sie auch keineswegs in der Gegenwart als dominierend angesehen werden 541 . Ihre starke Akzentuierung der „basalen Elemente" schlägt sich in der Punktualisierung der Beobachtung nieder: Die Beobachtung als „Verwendung einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (also nicht der anderen) Seite" 542 hat die Bindung der Beschreibung (im wörtlichen Sinne) 543 an eine Sprache / Schrift und die darin enthaltenen Verwendungsweisen von Zeichen schon festgelegt auf die punktuelle Verknüpfung von Anschlußmöglichkeiten. Die mit der Einführung des Beobachters verbundene erkenntnistheoretische Innovation besteht aber gerade darin, daß der Beobachter von der Beobachtung nicht mehr unabhängig ist, wie dies dem klassischen Subjektmodell entsprach 544. Rekursivität wird bei Luhmann um ein

539 Maturana, (Fn. 499), S. 86. 540 Luhmann, (Fn. 462), S. 171, 176. 541 Einen darauf zielenden Einwand J. Wielands, Die Wirtschaft als autopoietisches System, Delphin X 1988, S. 18 ff., hat Luhmann in seiner Replik, (Fn. 525, S. 90) nicht aufgenommen. 542 Luhmann, (Fn. 461), S. 312. 543 Kampis / Csanyi, (Fn. 479). 9 Ladeur

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Moment der nicht-beherrschbaren Emergenz des qualitativ Neuen verkürzt, wenn die Verknüpfungsmöglichkeiten von vornherein auf die Führung durch Operationen von Punkt zu Punkt festgelegt sind: Operationen werden auf die Resultate von Operationen angewendet545. Das entscheidende Moment, das mit der (Selbst-)Beobachtung in die Systembeschreibung eingeführt ist, muß aber gerade darin gesehen werden, daß nicht nur die Elemente an andere Elemente anschließbar bleiben. Sicher kann das System seine,»Leitdifferenz" (ζ. B. Recht / Unrecht) nicht verändern, aber die Produktion eines Elements basiert immer auf der Aktivierung eines Sets von Beschreibungen, grammatischen Regeln und Interpretationen, die wiederum in Interpretationsregeln beschrieben werden können usw. 5 4 6 Die Beobachtung ist eine Intervention in das Beobachtete547. Das Charakteristische einer Beschreibung besteht nicht in der Formulierung einer objektiven Gesetzmäßigkeit, die für eine große Menge von besonderen Beobachtungen als invariant unterstellt wird. Es besteht gerade in einer konstitutiven Unvollständigkeit 548 . Die Elemente und ihre Relationen enthalten danach eine Redundanz, die auf eine prozeßhafte Selbstdefinition angelegt ist, die zugleich Selbstmodifikation impliziert. Das System befindet sich zwar nicht ständig in einem Prozeß grundlegender Neubestimmung, denn ohne Stabilität würde seine Funktion aufhören. Aber entscheidend ist, daß in dem System gerade durch die Implikation der Beobachtung und der Beschreibung / Interpretation ein prozeßhaftes, zeitabhängiges Moment der Dauervariation eingebaut wird; Beschreibung ist an Sprache gebunden und wird deshalb erst durch den und im Prozeß ihrer Interpretation (re-)definiert 549 . Das autonome System operiert mit einer Beschreibung, die die Interdependenz einer Vielzahl von Elementen und ihrer Relationierungen „bezeichnet" aber darüber hinaus auch mit Interpretationen, die eine übergreifende Kohärenz innerhalb der Vielzahl der erzeugten Möglichkeiten zu erhalten suchen 550 . Dies hängt damit zusammen, daß eine Theorie autonomer Systeme nicht auf stabilen Gesetzesannahmen aufbaut. Soziale Systeme operieren nach der Theorie autonomer Systeme mit Modellierungen, von denen das sie verwendende System nie genau weiß, warum und wieweit sie funktionieren 551 . Luhmann hat die Instabi544 R. H. Howe / H. v. Foerster, Introductory Comments to F. Varela*s Calculus for Self-Reference, Int. J. of Gen. Systems, 1975, S. 1 ff. 545 Luhmann, (Fn. 461), S. 312. G. Kampis, Some Problems of System Descriptions I: Function, Int. J. of Gen. Systems 1987, S. 143 ff. 546 Kampis, (Fn. 545) 547 Vgl. H. v. Foerster, What is Memory that it man have Hindsight and Foresight as well?, in: S. Bogoch (Hg.), The Future of Brain Sciences, New York 1969, S. 36 ff., 45. 548 Kampis, (Fn. 545), S. 144. 549 Kampis/Csanyi, (Fn. 409), S. 148. 550 F. J. Varela, Experimental Epistemology, Cahiers du CREA 9 (1986), S. 107 ff., 113. 551 G. Kampis, On the Modelling Relation, Syst. Res. 5 (1988), S. 131 ff.

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lität des Systems von vornherein dadurch begrenzt 552 , daß er die Selbstreferenz der basalen Operationen des Systems von der Selbstreferenz auf der Ebene der Strukturen weitgehend trennt: Die Autopoiesis sozialer Systeme basiert auf der Reproduktion von Ereignissen und deshalb benötigt das System zwei primäre Dichotomien, nämlich die zwischen System / Umwelt und die von Ereignis und Situation (als Horizont von Ereignissen). Die Produktion von Ereignissen in Situationen führt die System / Umwelt-Unterscheidung in einer spezifizierten differentiellen Selektivität fort, die die begrenzten Möglichkeiten der Produktion eines „nächsten" Ereignisses als Orientierung benutzt. Strukturänderung und Selbstreferenz auf der Strukturebene (Selbstorganisation) sind zwar ebenfalls möglich, aber das Problem wird,»nicht auf der Ebene eines mit vielen »Eigenschaften* ausgestatteten »Ganzen4 44 verortet 553 , das „entweder erhalten wird oder nicht, sondern auf der Ebene der Relationen zwischen elementaren Ereignissen, deren Reproduktion fortgesetzt wird oder nicht. 44554 Da das Problem der Sprache / Schrift, deren sich die Selbstbeschreibung und Interpretation des Systems bedient, vernachlässigt wird, kann die Konstruktion des Problems nur auf die Entscheidung zwischen zwei Alternativen festgelegt werden, die Annahme eines mit „vielen »Eigenschaften 4 ausgestatteten »Ganzen4 44 oder einer Kombinatorik von „Relationen zwischen elementaren Ereignissen44. Ausgehend von der letzteren Annahme ist Strukturänderung primär als „Selbstanpassung44 vorstellbar als Änderung der Relationierung von Elementen. Auch wenn sie selbst nicht Ereignischarakter hat, bleibt sie an Ereignisse gebunden, „da die Systeme ja aus Ereignissen bestehen und sich nur über Ereignisse transformieren können 44555 . Die starke Bindung der Systemkonstruktion an „basale Elemente44 und ihre Operationsweisen wird auch an der Unterscheidung des Prozeßbegriffs deutlich: Prozesse sind als „Selektivitätsverstärkungen 44 zu begreifen, über die „Ereignisse sich miteinander verketten 44. Die Menge der Strukturänderungen bildet keinen Prozeß, da sich ihr Zusammenhang nur aus der Einheit des Systems („Selbst44), nicht aber aus der horizontalen emergenten Verknüpfung von „Anpassungen44 generiert. Prozeßhafte Veränderungen sind danach entweder durch die „starke Form wechselseitiger Selektivität von vorausgehenden und späteren Ereignissen44 (H. i. O. — K. H. L.) charakterisiert (Handlungen werden nur deshalb gewählt, „ . . . weil sie Folgen haben werden, die ihrerseits nur eintreten können, wenn die Auslöseereignisse realisiert werden 44), oder sie handhaben als „morphogenetische Prozesse44 Selektivitätsverstärkungen nur einseitig: Sie schließen eine Strukturänderung an andere an, ohne sich dabei vorgreifend — rückblickend an Resultaten zu orientieren; sie akkumulieren dadurch Unwahrscheinlichkeiten, ohne diese als sinnvolles Resultat in den Prozeß selbst einzubeziehen". Morphoge552 553 554 555 *

Luhmann, Luhmann, Luhmann, Luhmann,

(Fn. 452), (Fn. 452), (Fn. 452), (Fn. 452),

S. 471. S. 475. S. 475. S. 479, 481.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

netische Prozesse sind auf „Mangel an Möglichkeiten zu neuen Strukturbildungen angewiesen"556. Damit wird aber die Invarianz von Systemen überbetont. Dies zeigt sich auch bei der Bestimmung der Rolle des Beobachters: Gerade angesichts der Verallgemeinerung des Phänomens der Beobachtung, des rekursiven Verhältnisses von „Selbst und Nicht-Selbst" kann die Trennung des Beobachters vom „vollen" Subjekt auch für soziale Systeme fruchtbar sein. Bei Luhmann wird der Beobachter aber geradezu im bloßen Vorgang des Unterscheidens aufgelöst 557. Dies erscheint im Ansatz durchaus produktiv, aber zugleich in der Durchführung zu eng. Auch hier zeigt sich wieder die Vernachlässigung der Sprache bei der Konstruktion des Beobachters. Diese kann durchaus an J. Simons 558 zeichenphilosophische Deutung der Subjektivität anschließen: Sowie das Subjekt abgelöst von dem sich gerade „vollziehenden Vollzug der Synthesis nichts »ist1 ", so ist auch der Beobachter ein heterogener Relator, dessen Stellung den gewandelten Charakter der nicht-subjektzentrierten Sprache entspricht. So wie die Sprache nicht mehr aus einer Kombinatorik von festen Verbindungen zwischen Zeichen und Bedeutungen besteht, sondern aus Verkettungen und Netzwerken von Relationen zwischen Signifikanten, die Sinn innerhalb der Sprache durch Relationierung mehrerer Signifikanten nur als „Verweisungsüberschuß" erzeugen können, so „ist" auch der Beobachter eine Schnittstelle von Relationen. Aber diese Konzeption muß zurückgebunden werden an die Sprache / Schrift der Selbstbeschreibung, mit der die Beobachtung operiert. Wie oben gezeigt, erlaubt die Beschreibung des Systems eine Reduktion der Zahl der „Befehle", die zu seiner Konstruktion erforderlich sind bei gleichzeitiger Steigerung der Ungewißheit, der Öffnung für Zufälle, für Neues, da Beschreibungen keine vollziehbaren „Baupläne" sind, die ihrerseits auf höherrangige Gesetze zurückgeführt werden können. Die flexible Selbstkonstruktion wird durch den rekursiven Einbau höherrangiger Interpretationen und Interpretationsregeln (als flexible heterarchische Abstimmungsmechanismen) gewährleistet, die wiederum an die Beschreibung zurückgebunden sind und dadurch ermöglichen, daß das System weder an übermäßiger Ordnung scheitert, noch wegen des erzeugten Chaos seine Selbstproduktion aufhört 559 . Der „Beobachter" interveniert aufgrund seiner „Lektüre" der Beschreibung in den Prozeß der Anwendung und ermöglicht dadurch zugleich Lernen, das aber nur aufgrund der in die Beschreibung / Interpretation des Systems eingebauten Unbestimmtheit zur Selbstveränderung des Systems beiträgt. Dies basiert darauf, daß Teile des Netzwerks der Relationen gegenüber anderen spezifiziert und von ihnen getrennt 560 und Variationen dadurch 556 Luhmann, (Fn. 452), S. 485 f.; vgl. auch H. Atlan, Création de signification dans des réseaux d'automates, Cahiers Science, Technologie, Société 9 / 1 0 (1986), S. 65 ff., 65. 557 Luhmann, (Fn. 525), S. 90 f. 558 Simon, (Fn. 70), S. 271. 559 Atlan, (Fn. 556), S. 65. 560 Atlan, (Fn. 556), S. 74.

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zugleich ermöglicht und eingegrenzt werden oder daß die Eigeninterpretation ihre Rekursivität verstärkt, während sie zugleich gegen ,,Lärm" von außen abgeschirmt wird. In sozialen Systemen dient vor allem die Trennung von Institutionen der Meinungs- und Willensbildung der Erhaltung eines von Handlungsfolgenverantwortung entlasteten Innovationspotentials, dessen Binnenrationalität aber nicht auf das an ökonomische und politische Folgen gebundene Handeln ohne Abpufferung durch deren systemische Eigenkomplexität rückgekoppelt werden kann. Jedes System muß ein Gedächtnis ausbilden, das Stoppregeln der Selbstorganisation enthält 561 . Der Selbstvollzug eines Replikationsprozesses sozialer Systeme ist aber keine Reduktion / Deduktion des Besonderen aus der Perspektive des Subjekts universeller Vernunft, sondern ein sich unter Ungewißheitsbedingungen vollziehender rekursiver Konstruktionsprozeß, der über die Verschleifung mehrerer Ebenen der Beschreibung und Interpretation / Variation, der Änderungen der Beschreibung und der Veränderung der Interpretation usw. eine zeitabhängige Eigendynamik erhält 562 . Deren Stabilität wird über die Stabilisierung der Verschleifung als solcher, nicht die der Ebenen gewährleistet. Der Beobachter nimmt gerade die Stelle im System ein, in der durch Unter- / Entscheidung unter Bedingungen von Unentscheidbarkeit Rekursivität sich festlegt und zugleich weitere Anschlüsse ermöglicht. Die Sprache gewinnt ihre zentrale Bedeutung für die Bestimmung der Stelle des Beobachters daraus, daß sie die Verschleifung der mehreren Ebenen des jeweiligen Systems ausdrückt und dafür ihre ebenso selbstorganisierte Komplexität zur Verfügung stellt 563 . Das Verhältnis von Beobachtung (Beschreibung) / Interpretation konstituiert ein Selbst, das Sinn nicht mehr in der Selbsttransparenz des Subjekts und seiner universalen Vernunft gründet und auch nicht auf die Ko-Präsenz der Intersubjektivität zurückgreifen kann, sondern Sinn durch Verknüpfung von Texten prozessiert 564. Die Konstitution von Sinn und Selbst als einer Einheit von Differenzen fällt im Beobachter zusammen. Über die Theorie des Beobachters läßt sich eine Theorie autonomer Systeme durchaus zu einem neuen heterarchischen Universalismus der Prozeduralisierung und Selbständerung entwickeln. Dabei sind zwar die Unterschiede zwischen natürlichen und sozialen Systemen zu akzentuieren, aber die Dezentrierung des Subjekts hat auch die Konstruktion von Beobachtung im natürlichen System erst denkbar gemacht und erlaubt einen neuen Blick auch auf die nicht-subjektiven Formen der Konstitution von Sinn in sozialen Systemen. Insbesondere die Hermeneutik stellt sich vor diesem hier beschriebenen Hintergrund als ein Übergang von der Universalität des Subjekts zur Universalisierung des Individuums dar, das sich das historisch-variable Wissen aneignen muß. 561 H. Atlan, Créativité biologique et auto-création du sens, Cahiers du CREA 9 (1985), S. 145 ff., 168. 562 Vidali, (Fn. 418), S. 105. 563 Vgl. auch Morin, (Fn. 343), S. 105. 564 Ricoeur, (Fn. 12), S. 141, 152.

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Aber die Hermeneutik gründet in einer Aporie, da die Interpretation der Texte (Sinn) von der Frage nach dem Erleben des Individuums überlagert wird 5 6 5 . Die Theorie der beobachtenden Systeme erlaubt eine genauere Thematisierung des Netzwerks, das Beobachter, soziale Systeme und Sprache(n) umfaßt und hält auch einen Begriff bereit, in dem das Moment der Unbestimmtheit und Kreativität einen Platz erhält, der in sozialen Systemen den Anschluß an historisch konventionalisierte „Sprachspiele" eröffnet. Ob der Begriff des „conversational domain" dafür angemessen ist 5 6 6 , mag zweifelhaft erscheinen, wichtig ist aber, daß Regelmäßigkeiten aufgegriffen und erhalten werden müssen, die sich in der Beziehung von Handlung und Handlungsintention nicht wiederfinden lassen, sondern transsubjektive Muster von Verknüpfungen und Sinnmöglichkeiten bilden, die selbst an einen Handlungsbereich gebunden sind. Innerhalb der und zwischen den Mustern bilden sich Selbstorganisationseffekte, die — weil sie sich dem einzelnen Individuum und der Zentralperspektive des Subjekts entziehen — der autopoietischen Reproduktion natürlicher Systeme und ihrer Binnenstruktur darin ähnlich sind, daß sie durch die Verschiffung von Beschreibung und Lektüre / Interpretationsebene aus „Lärm" (Unbestimmtheit) neuen Sinn generieren. Der Beobachter wird zum Operator beweglicher Figuren und damit nicht zur beweglichen Figur. Das Moment des unbeschreibbar Neuen wird bei Luhmann durch die extreme Punktualisierung der Systeme und der Beobachter letztlich dadurch stillgelegt, daß die Eigendynamik der Sprache der Beschreibung, mit der der Beobachter operiert, vernachlässigt wird. Die „autologische" Stellung des Beobachters, seine Einschreibung in den Prozeß der Beschreibung, die stets nur partielles, entwerfendes und selbständerndes Wissen ermöglicht, wird bei Luhmann 567 — mit einem kurzen Hinweis auf Löfgren — gerade ihrer sprachlichen Problematik entkleidet, die darin besteht, daß die Beschreibung in einer Sprache / Schrift erfolgt, deren Selbstreferenz keinen Zugriff auf die Welt „außerhalb" zuläßt 568 . Beobachter können „ihre Unterscheidung, also sich selber..., im Moment ihrer Verwendung als Perspektive oder als blinder Fleck nicht beobachten, denn dafür wäre eine andere Unterscheidung erforderlich". Das „autologische" sprachliche Moment der Beschreibung wird nur darin berücksichtigt, daß auch der „Beobachter zweiter Ordnung gewahr wird, daß er seinerseits ein Beobachter ist" 5 6 9 . Gerade die Punktualisierung der Beobachtung erlaubt es, das Problem der Verschleifung zwischen den sprachlichen Ebenen der Beschreibung und der Interpretation, die jeweils vom Beobachter aktualisiert werden, zu vernachlässigen. Dies läßt sich am Beispiel der Beobachtung des Beobachtens mit Hilfe von Preisen beschreiben: dabei tritt das Problem auf, daß das System auf Beschreibun565 566 567 568 569

Ricoeur, (Fn. 12), S. 86. Varela, (Fn. 394), S. 62; Winograd / Flores, (Fn. 373), S. 64. Luhmann, (Fn. 525), S. 90. Löfgren, (Fn. 503), S. 135. Luhmann, (Fn. 525), S. 90.

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme

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gen seiner selbst reagiert 570 und auch das Problem unvollständiger Information wiederum durch Operation mit unvollständiger Information bearbeitet 571. Zwar wird die Notwendigkeit der Integration „mehrerer Beschreibungsebenen" betont, aber letztlich bleibt die Pluralität der Beobachter durch das Auseinanderlegen von Beobachtung, Beobachtung von Beobachtung, Selbstbeobachtung etc. einerseits geordnet und andererseits wird die Heterarchie etwa des komplexen Systems Wirtschaft, das nach Luhmann aus Zahlungen besteht, trotz ihrer Polykontexturalität 5 7 2 infolge Vernetzung aller Operationen mit naheliegenden anderen durch verschiedene Kontexte insbesondere der Produktion, der Konsumtion etc. charakterisiert. Die Analogie von Sprache und Geld 5 7 3 kann sich hier insofern als fruchtbar erweisen, als die einzelnen Operationen von einer Asymmetrie bestimmt werden, die ebenfalls auf die Form der Verschleifung einer Beschreibungs- und einer Interpretationsebene gebracht werden können 574 . Der Markt wird einmal über ein Netz von lokalen Operationen gebildet, die zu einer Anpassung der Erwartungen führt. Diese Abstimmung erfolgt aber nicht Punkt-zu-Punkt, sondern nimmt ein „gemeinsames Wissen" als einen kollektiven Fixpunkt in Bezug. Zugleich bilden sich dabei aber große Gruppen unterschiedlicher Waren- und Geldbesitzer, die eine Meta-Ebene der Differenzierung von Regeln prägen, von denen aus die Entscheider / Beobachter auch die eigene Position beobachten und darüber entscheiden. Damit entsteht wiederum eine Verschleifung zwischen unterschiedlichen Ebenen, einer Ebene der Operationen und einer Ebene der Regeln, die nicht zentral-hierarchisch gesetzt sind 575 , sondern im Prozeß ihrer eigenen »Anwendung" (re-)generiert und modifiziert werden. Orléan 576 weist mit Recht darauf hin, daß etwa ein Phänomen wie die Inflation als ein autokatalytischer Prozeß der unbeabsichtigten Verbindung von Einzeloperationen mit einer Veränderung der Regeln (der Vermögensverteilung zwischen Gruppen etc.) entsteht577. Daraus erklärt sich auch, daß und warum ein Phänomen wie die „konzertierte Aktion" 5 7 8 durch eine Art von Konventionsbildung diesen Prozeß der ständigen Verschleifung verschiedener Ebenen zu begrenzen suchen kann. Das Geld ist das Medium dieser Verschleifung. Es ist auf aktuelle Übertragbarkeit von Operation zu Operation angelegt und setzt doch ein hochkomplexes Mehrebenensystem von kollektiven Regeln (Beschreibungen / Interpretationen) voraus und macht dabei gerade Entscheidungen unter Ungewißheitsbedingungen als Erproben von 570 N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1988, S. 118 ff., 126. 571 A. Orléan, Certitude et paradoxe, Economie Appliquée, 1985, S. 133 ff., 150. 572 Luhmann, (Fn. 570), S. 126. 573 Dagegen Luhmann, (Fn. 570), S. 147 N. 28. 574 Orléan, (Fn. 571), S. 150. 575 Orléan, (Fn. 420), S. 257. 576 A. Orléan, Pour une approche cognitive des conventions économiques, Rev. Econ. 1989, S. 242 ff., 255. 577 Orléan, (Fn. 571), S. 150. 578 H. Willke, Staatliche Intervention als Kontextsteuerung, KritV 1987, S. 214 ff.

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Erwartungen mit begrenztem Risiko möglich, ohne aber die Dauervariation des Regelsystems dadurch ausschließen zu können. Aus dem oben Gesagten ergibt sich für eine an der Theorie der Beobachtung orientierte Theorie autonomer Systeme eine Spezifizierung der Überlegung, daß der Komplexität solcher Systeme mit einer Mehrheit von Beschreibungen Rechnung zu tragen ist 5 7 9 . Dadurch ist die Suche nach dem Gleichgewicht ausgeschlossen, vielmehr sind komplexe Systeme durch eine Vielzahl von (Selbst-)Veränderungspotentialen charakterisiert, die nicht das Problem, sondern die Lösung sind, soweit sie ständig interne Möglichkeiten jenseits des verfügbaren Wissens erproben 580 . Eine solche Dynamik kann aber nur dann erhalten bleiben, wenn die darin zugleich enthaltene Möglichkeit der Selbstblockierung begrenzt wird 5 8 1 . Daran kann auch eine Theorie der staatlichen Beobachtung der Wirtschaft anknüpfen, die den eigenen Wert des Wirtschaftssystems weder voraussetzen noch ersetzen, aber Selbstblockierungsmechanismen und die Reduktion von Vielfalt durch Einbau von Such- und Lernprozessen beschreiben und begrenzen kann. Wirtschaftspolitik hätte insofern an die Selbstbeschreibung der Wirtschaft anknüpfend eine größere Zeitperspektive zu ermöglichen. Dem braucht hier nicht im einzelnen nachgegangen zu werden. Festzuhalten ist in der hier gewählten Perspektive, daß sich auch am Beispiel des Wirtschaftssystems zeigen läßt, daß die Akzentuierung der „Operationen" des Systems und der damit verknüpfte Status des Beobachters das Moment der Verschleifung zwischen den sprachlichen Ebenen der Beschreibung und Interpretation vernachlässigt und dadurch ein überschießendes Moment der sich selbst verstärkenden kollektiven emergenten Effekte vernachlässigt. Gerade auf diesem spezifisch kollektiven Moment muß die Notwendigkeit der Erhaltung einer Pluralität und Diversität von Beobachtungen begründet werden 582 , weil Beobachtung nicht punktuell von Operation zu Operation und auch nicht von Beobachtung zur Beobachtung von Beobachtung etc. verfährt, sondern kollektive, wenn auch nicht gemeinsame Abstimmungseffekte erzeugt. Über die Akzentuierung dieses kollektiven Effekts der Beobachtung läßt sich auch Anschluß gewinnen an das transsubjektive Differenzierungsgeschehen, dessen vorläufiges Ergebnis das klassische Subjekt der Vernunft war. Der fortgesetzte Verfall der Bindung an den fremden Willen und die im gleichen Maße steigende Artifizialisierung der kulturellen und gesellschaftlichen Ordnung zwingt dazu, différentielle, sich über permanente (Selbst-)Beschreibung und Selbstinterpretationsmodelle (re-)produzierende a-zentrische Systeme von „Ideenpopulationen" an die Stelle des festen Verweisungszusammenhangs von Subjekt, Objekt und Vernunft zu setzen. Die systemische Rationalität besteht in der Erhaltung des 579 580 581 582

Luhmann, (Fn. 570), S. 127. Allen, (Fn. 367), S. 567; ders., (Fn. 365), S. 110. Allen, (Fn. 365), S. 128. Vidali, (Fn. 418), S. 102.

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme

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Such- und Reproduktionsprozesses selbst, nachdem eine teleologische Ordnung ihr Fundament verloren hat. Diese Erhaltung kann über die Institutionalisierung einer Pluralität von Möglichkeiten und einer Vielfalt von Beobachtern erfolgen, die Entscheidungen unter Bedingungen von Ungewißheit gewährleisten können. Über den pluralen Prozeß der Beschreibung / Interpretation, der über eine Vielfalt von Beobachterstellen generiert wird, wird ein „hologrammatischer" kollektiver Effekt erzeugt, der an Rückkopplungseffekte zwischen einzelnen Operationen gebunden bleibt, ohne in ihnen aufzugehen. Die Vielzahl der Beobachter erzeugt einen Gesamteffekt, der nicht auf einer Gemeinsamkeit oder gar Gemeinschaft basiert, sondern auf Selbstorganisationseffekten, die nicht unabhängig von den Beschreibungen / Interpretationen der Beobachter erfolgen, aber doch nicht der Kontrolle ihrer Intentionen unterliegen. Lernfähigkeit kann daher nur innerhalb der „Ideenpopulation" als Fähigkeit zur Generierung von Sinn aus neuen zufälligen Möglichkeiten institutionalisiert werden. Damit wird nicht wieder eine hierarchische übergreifende prozedurale Lesart der Vernunft beschworen, sondern die Möglichkeit und Notwendigkeit der Konstruktion von neuen „Attraktoren" in Rechnung gestellt, über die eine ReSpezifizierung der Beschreibung / Interpretation des Systems oder einzelner Teile erfolgt und damit eine Dynamik der Selbständerung erhalten wird, in der Ordnung stets aus einer Kombination von Ordnung und Unordnung gewonnen wird. 4. Zum Verhältnis von Selbstreferenz der Operation und Selbstorganisation des Systems Bei Luhmann wird der einen „Leitdifferenz", die zur Unterscheidung von System / Umwelt in Teilsystemen institutionalisiert und codiert wird, eine zu hohe Fähigkeit zur Ordnungsbildung zugeschrieben. Dementsprechend wird die einzelne Operation mit der das System sich (re-)produziert, in den Vordergrund gerückt und die Struktur als Netzwerk zwischen Operationen davon weitgehend getrennt gehalten. Deshalb werden auch die Dynamik der Verknüpfung von Element zu Element und die Selbstorganisation als Selbständerung auf der Strukturebene gegeneinander isoliert. Die Fähigkeit zur Selbständerung wird auch durch die mehr oder weniger unausgesprochen bleibende Annahme einer weitreichenden Prädisposition der Leitdifferenz stark begrenzt. Die Polykontexturalität der Beobachtung und ihr überschießender kollektiver Effekt wird durch die Punktualisierung der Beobachtung und die Abschichtung von systeminternen Kontexten (ζ. B. Produktion, Konsumtion etc. in der Wirtschaft) gebändigt. Dies zeigt sich auch an wechselbezüglichen strategischen Operationen, die von den Strategien der anderen Beobachter abhängig sind 583 (meine Operation ist nur dann richtig, wenn deine falsch ist), einer Konstellation, in der sich eine die Entscheidung des einzelnen Beobachters übergreifende kollektive emergente 583 Luhmann, (Fn. 570), S. 120.

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Ebene geltend macht. Dieses kollektive Moment wird bei Luhmann im Anschluß an G. Günther 584 in einen „Rejektionswert" verwandelt, der als „dritter Wert" die Wahl zwischen primären Differenzen verwirft und zugleich eine neue binäre Codierung durch Unterscheidung von akzeptablen und nichtakzeptablen Risiken begründet. Gerade an dieser Stelle zeigt sich aber, daß die einzelne Operation immer (mehr oder weniger weitgehend) ein Moment der Selbsttranszendierung des Systems impliziert: die einzelne Operation bezieht sich auf eine übergreifende kollektive Ebene des „gemeinsamen Wissens" (Common knowledge), das unterstellt werden muß. Es handelt sich dabei um systemische emergente Effekte, die durch die Geschichte der Systemoperationen in der selbstreferentiellen Verkopplung von Operation und Beschreibung / Interpretation zur Bildung systeminterner Fixpunkte geführt haben 585 , die weiteren Operationen als Anknüpfungsmöglichkeit dienen. Die einzelne selbstreferentielle Operation innerhalb eines Sytems nimmt nicht nur einzelne Verknüpfungsmöglichkeiten von Punkt zu Punkt wahr, sondern benötigt auch eine mehr oder weniger latent bleibende Selbstreferenz auf eine symbolische Beschreibung / Interpretation, durch die das System als eine einzelne Operationen transzendierende Ganzheit mit der Selbstreferenz der Elementebene verbunden wird 5 8 6 . Gerade darin ist die oben skizzierte Verschleifung von Operations- und Systemebene und die darin implizierte Selbstmodifikation eines autonomen Systems begründet. Diese symbolische Beschreibung kann organisiert sein, wie in natürlichen Systemen (im „genetischen Programm") oder sie kann — mehr oder weniger — distribuiert sein über eine Mehrheit von Beobachtern, die kollektiv eine Beschreibung (re-)generieren, die nur in der selbstreferentiellen »Anwendung" wirkt und nirgendwo ganz konzentriert und verfügbar ist. Das macht gerade das Paradoxon der kollektiven Ebene der Kommunikation aus, daß sie — auch wenn eine allerdings ihrerseits pluralisierte „Gedächtnisbildung" durch Organisation institutionalisiert wird — von den individuellen Operationen der »Anwendung" abhängig ist, aber nicht in ihnen aufgeht und daß deshalb nicht nur das System den Beobachtern, sondern die Gesellschaft insgesamt den Menschen fremd bleibt. Man sollte Luhmann wegen der kühnen These, daß die Gesellschaft nicht aus Menschen „besteht", sondern ihnen unaufhebbar fremd bleibt, nicht schelten. Gesellschaftlichen „Widersprüchen", die nach linken Konzeptionen „aufgehoben" oder „überwunden" werden sollen, liegen Paradoxien zugrunde, die man nur mit ihrerseits paradoxen Strategien ertragbar machen, nicht aber abschaffen kann. Man müßte sonst über eine Meta-Ebene verfügen, auf der Meta-Regeln formulierbar sind, die weder von der vorherigen Objektebene noch von der 584 G. Günther, Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations, in: ders., Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 1, Hamburg 1976, S. 249 ff. 585 Dupuy, (Fn. 414), S. 24. 586 Dupuy, (Fn. 414), S. 20.

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Verwendung einer neuen künftigen Objektebene abhängig wären. Man kann das Problem, das Paradoxien dadurch sind, daß eine Regel durch ihre „Anwendung" verändert wird, Objekt- und Meta-Ebene miteinander verschleift werden, nur durch ihre operative Fortsetzung bewältigen. D. h. eine Paradoxie ist in Bewegung zu halten, indem immer wieder neue Versionen dieser Verschleifung ermöglicht werden, statt sie in einer Aporie der Selbstblockierung einrasten zu lassen587. Wir sind nicht mehr der Mittelpunkt der Welt, und der Standpunkt, von dem aus „Widersprüche" aufgehoben werden, basiert selbst auf der Verkennung des Prozesses der Dezentrierung des Subjekts, das ihn erst ermöglicht hat. Die nichthintergehbare Pluralität der Beobachter und der Beobachtungen läßt Einheit nur noch als Einheit von Differenzen zu, die über ausdifferenzierte Systeme Ordnung aus Komplexität generieren; dies legt ein „Seinlassen" 588 der Systeme nahe, aber auch die Möglichkeit eines „Seinkönnens" mit und in dem Wissen, das unter Ungewißtheitsbedingungen in einer artifiziell gewordenen Welt generiert und prozessiert wird. Die andere Alternative, die „Aufhebung" in einer „gemeinschaftlichen Subjektivität" basiert auf den klassischen Gedanken der „Vollendung des Individuums im gegenseitigen Verstehen als Aufhebung der Individualität", als „Vollendung des Individuums in der Idee des Menschen" 589 , d. h. letztlich der Annahme, daß Ego und Alter nur unterschiedliche Träger „desselben Denkens" sind 590 . Das idealistische Denken ist gerade dadurch charakterisiert, daß es die Paradoxie der Unterscheidungen, die, an vorangehende anknüpfend zu neuen Unterscheidungen führen, im Rückgriff auf eine verlorene oder im Vorgriff auf eine wiederzugewinnende Einheit aufzuheben intendiert 591 . Das hier skizzierte Konzept läuft auf ein multiples, polykontexturales Operieren einer Vielfalt von Beobachtern mit den in einem System akkumulierten und über rekursive Netzwerk- und Trajektorienbildung spezifizierten Möglichkeiten zu neuen Unterscheidungen, und d. h. Entscheidungen unter Bedingungen von Unentscheidbarkeit hinaus 592 . Aufgrund der nichtaufhebbaren Ungewißheit, die mit der Artifizialisierung der über innerweltliche symbolische Unterscheidungen und damit systemisch aufgebauten Welt einhergeht, ist Ordnung nur aufgrund der Erhaltung und Zufuhr von Unordnung und Diversität, durch plurale Selbstbeschreibung, durch paradoxe, nur durch eine Geschichte des experimentellen Operierens haltbare Einheit von Selbstentwurf und Selbstentdeckung möglich 593 . 587 Y. Barel, Le paradoxe, le paradigme et le parachute ou: du social en suspension, dialectiques Nr. 31 (1981), S. 91 ff.; vgl. auch P. Livet, Un facteur de complexité: Le jeu de Γ indétermination dans les relations humaines, in: Fogelman Soulié, (Hg.), (Fn. 385), S. 436 ff., 445: Die „Spielregel" besteht darin, Regeln zu suchen, die vom Prozeß des Ausprobierens, der immer auch ein Überschreiten ist, nicht ablösbar sind. 588 Welsch, (Fn. 324), S. 119 N. 7. 589 Simon, (Fn. 70), S. 105. 590 Simon, (Fn. 70), S. 105; vgl. auch Olivetti, (Fn. 201). 591 Y. Barel, La société du vide, Paris 1984, S. 208. 592 Morin, (Fn. 343), S. 106.

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Wenn man aber Ordnung und Unordnung zusammendenken muß 5 9 4 und ein „Anfang" der Erkenntnis nur in der Anknüpfung an schon vorgenommene Unterscheidungen und im Operieren mit ihnen möglich ist, kann in einer rechts- und verfassungstheoretischen Perspektive auch der Gegensatz von Individuum und Gesellschaft nicht mehr für die Begriffsbildung fruchtbar sein 595 . Beide müssen vielmehr in einem wechselseitigen Verhältnis der Selbst- und Fremdkonstruktion gedacht werden und gehen dann auf in einem selbstorganisierenden Netzwerk von Beziehungen und symbolischen (Selbst-)Beschreibungen / Interpretationen, die aufeinander verweisen 596 . Eine Betrachtungsweise, die die Gesellschaft nicht als einheitliches Gebilde mit stabilen Gruppen, Individuen und Gesetzmäßigkeiten betrachtet, sondern als selbstorganisierende diskontinuierliche Bewegung 597 , bedarf einer Theorie der pluralen Beobachtung, die den Zusammenhang von Subjekt, Objekt und Vernunft transformiert in eine relationale Logik des (Selbst-) Experiments und der (Selbst-)Konstruktion der Gesellschaft in der Geschichte der Evolution des transsubjektiven „Differenzierungsgeschehens" 598. Sie setzt damit die Bewegung fort, die das Subjekt selbst als eine historisch bedingte Form der Unterscheidung / Beobachtung innerhalb einer die Besonderheiten nach einem allgemeinen Gleichgewichtsmodell konstruierenden Vemunftordnung hervorgebracht hat. Die Pluralität der (Selbst-)Beobachtungen in und zwischen Systemen ist Ausdruck des Zerfalls dieses Modells und seiner Ablösung durch ein nicht-lineares Ungleichgewichtsmodell, in dem die Zeit dauerhafte Referenzbeziehungen zwischen Subjekt, Vernunft und einer Realität verhindert und multiple, auf Selbständerung angelegte mögliche Welten sich in einer von ihren Verwendungen nicht mehr unabhängigen, als Pluralität von „Sprachspielen" selbstorganisierenden Sprache erzeugen. Sprache erlaubt infolgedessen keine „Vor-Stellung" von Wirklichkeit durch ein Subjekt. Das Subjekt ist in eine Vielzahl von Beobachtern fragmentiert, die in zeitlicher Reihung oder zeitgleicher Differenzierung durch Operationen Möglichkeitsräume modellieren und nicht eine Welt repräsentieren 599 . Über die einzelnen Operationen wird, wie oben gezeigt, zugleich ein übergreifender Gesamteffekt generiert, der aber seinerseits nicht mehr der „sensus communis" einer einheitlichen Weltsicht ist. Die Akzentuierung der relationalen Logik des Experimentierens 600 und damit der Ermöglichung von Lernfähigkeit hat daher nichts mit der Aneignung einer gemeinschaftlichen Vernunft durch die wechselseitige Perspektivenverschränkung von Individuen und der damit verbun593 p. M. Allen, Self-organization in Human Systems, Rev. Belge de Statistique, d'Informatique et de Rech. Opérationnelle 1980 H. 4, S. 21 ff., 73. 594 Balandier, (Fn. 353), S. 134. 595 Balandier, (Fn. 353), S. 182. 596 Balandier, (Fn. 353), S. 182. 597 Balandier, (Fn. 351), 7. 598 Waldenfels, (Fn. 42), S. 9; Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 12. 599 Morin, (Fn. 343), S. 105. 600 Murphy, (Fn. 179), 139.

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denen Hoffnung der Verbesserung von „Wahrnehmung" oder Verständigung zu tun. Sie zielt vielmehr auf die Erhaltung der Autonomie systemischer Binnenrationalitäten, die auf der Relationierung von Operationen und Beobachtungen / Beschreibungen basieren und deren im Angesicht von Ungewißheit erfolgende Entwicklung an Pluralität und Diversität der Beobachtungen und die darüber generierte Vielfalt der entworfenen Optionen und Optionsräume gebunden bleibt. 5. Zum wissenschaftstheoretischen Status der Systemtheorie als Theorie des Systems im System Luhmann hat die sich aufdrängende Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status der Systemtheorie selbst mehrfach aufgegriffen und auf eine Weise beantwortet, die die Paradoxie einer Theorie, die auf Differenzen beruht, selbst zur Beantwortung benutzt: Muß nicht eine Theorie, die auf Differenz (statt Identität) und Beobachtung (statt Wahrnehmung) basiert, eine Meta-Ebene der Beobachtung behaupten, von der aus das Ganze der Differenzen beobachtet werden kann und hebt sie sich damit nicht selbst auf? Auch wenn man umgekehrt eine Position a postiori einnimmt, also sich selbst als ein Produkt der Differenzierung der Gesellschaft reflektiert, wie verhält sich dann die Theorie zu den konkurrierenden Interpretationen? Das besondere Problem der Beschreibung der Gesellschaft ergibt sich daraus, daß die Beschreibung / Interpretation der Gesellschaft selbstreferentiell ist und Selbstbeschreibung nicht von einer Meta-Ebene jenseits der Gesellschaft erfolgen kann. Luhmann hat dieses Problem natürlich gesehen und seine Theorie entzieht sich vordergründigen Einwänden, denen relativistische Theorien ausgesetzt sind, nämlich daß der Relativist wenigstens seinen Relativismus als absolut setzen müsse. Luhmann konstatiert mit Recht, daß sich alle Erkenntnistheorien „selbst als Teil ihres Gegenstandes" begreifen 601 . Deshalb erkennt er die „Unausweichlichkeit des Problems der Selbstreferenz an" und sieht gerade darin eine Lösung für das Problem der notwendigen Unterbrechung der Selbstreferenz. Das bedeutet aber nicht, daß jedenfalls das „Beobachtungsschema der Unterscheidung von System und Umwelt sich aufzwingt oder gar die einzig zutreffende Möglichkeit der Beobachtung anbietet. Aber wenn (H. v. mir — K. H. L.) man Selbstreferenz, sei es als Paradoxie, sei es als Tautologie, mit herkömmlicher logischer Genauigkeit als einem Problem ansieht und dafür eine Lösung sucht, kann man sie in der Theorie selbstreferentieller Systeme finden". Statt des Rückgriffs auf eine „Meta-Ebene", von der aus mehrere Ebenen unterschieden werden können, deren Behauptung aber ihrerseits Begründungsprobleme aufwirft, versucht die Systemtheorie das Paradoxon, das nicht lösbar ist, aushaltbar zu machen, und verweist hier auf „empirisch überzeugendere Argumente" 602 (Η. v. mir — K. H. L.). Dies erscheint auf dem ersten Blick überra-

601 N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1990, S. 360. 602 Luhmann, (Fn. 601), S. 360 f.

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sehend, ist aber letztlich treffend. Allerdings ist diese Rtickverweisung der Theorie an die Empirie doch erheblich folgenreicher für die Theorie, da iiicht einfach auf Plausibilität spekuliert werden kann. Hier wäre zu überlegen, ob man nicht das Modell der Verschleifung von Beschreibung und Interpretation, das sich für die Spezifizierung der Theorie der Autopoiesis lebender Systeme durchaus als fruchtbar erwiesen hat, mit einer methodischen Modifikation, die die Unmöglichkeit von stabilen Meta-Ebenen innerhalb einer Gesellschaft berücksichtigt, auf soziale Systeme übertragen kann: Man würde dann von vornherein in Rechnung stellen, daß innerhalb des transsubjektiven „Differenzierungsgeschehens" die Vorstellung einer Selbstkonstitution der Gesellschaft erst mit einer Pluralität der historischen oder zeitgleichen Vorstellungen von Gesellschaft und damit einer „Pluralität der Gesellschaft(en)" entstehen kann 603 und daß neue Interpretationen die Differenzen zwischen schon vorhandenen Beschreibungssystemen benutzen. Dann hätte man die Produktivität eines neuen Interpretationssystems gerade in dem „Zwischen" des Spannungsverhältnisses mehrerer Interpretationssysteme zu lokalisieren 604 . Damit wäre ein neues System nicht als ein höheres Meta-System charakterisiert, sondern selbst als Effekt einer Verschleifung ein Paradoxon, das man — wenn es schon nicht lösbar ist — doch weiter in Gang halten kann und muß. Insofern reagiert die Systemtheorie auf eine Geschichte der Theorie des Subjekts, dessen veränderter Weltbezug und die dadurch geschaffenen theoretischen Probleme mit der Auflösung der einen Realität in multiple Netzwerke anonymer Relationen zusammenhängt, eine Dynamik, die mit dem Übergang zur Informationsgesellschaft noch beschleunigt wird. Die Selbstbeschreibung operiert innerhalb der durch die Differenzen mehrerer historischer Beschreibungsmodelle, das „entre-deux", geschaffenen Möglichkeiten. D. h. aber, daß eine Systemtheorie, die sich selbst in einem Prozeß der Evolution des stets unvollständig bleibenden Wissens beobachtet605, sich stärker auf die Pluralität der Beobachter einlassen muß, eine Pluralität der Relationen und der Relatoren, die mit den Unterscheidungen zugleich einen Effekt der Verschleifung mit einer Pluralität von Beschreibungs- und Interpretationssystemen herstellen und dadurch im System neue Möglichkeiten und Möglichkeitsräume eröffnen. Die Unterscheidung, die der Beobachter wahrnimmt, entzieht sich im Moment ihrer Vornahme dem Beobachter, und wenn man diesen (inter-) textuellen Charakter der Beschreibungs- / Interpretationssysteme ernst nimmt, muß man konstatieren, daß die Beobachtung, gerade weil sie eine Unterscheidung nicht beherrscht und weil sie auf einem kollektiven Wissen beruht, auch einen 603 p. Livet, La fascination de Tauto-organisation, in: Dupuy / Dumouchel (Hg.), (Fn. 383), S. 165 ff., 169. «w Livet, (Fn. 603), S. 171. 605 R. H. McKinney, Toward a Resolution of the Modernist / Postmodernist Debate, in: Philosophy Today (Herbst 1986), S. 234 ff., 242.

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kollektiven Effekt erzeugt, der zur Selbständerung des Systems beiträgt. Gerade für eine mit Problemen der zunehmenden Selbstmodifikations- und Selbstkonstruktionsfähigkeit befaßte Systemtheorie wird eine Selbstbeschreibung als Modell benötigt, die die flexible Verarbeitung von selbsterzeugter Ungewißheit ermöglicht. Das kollektive Moment der Systembildung legt die Annahme nahe, daß ein System nicht aus Elementen besteht, sondern paradoxerweise aus Systemen, d. h. daß es im Prozeß der Relationierung von Elementen mit Beschreibungen / Interpretationen in sich wandelnden Kontexten immer neue Eigenwerte generiert 606 . 6. Zum Verhältnis

von Subjekt und System

Das Subjekt hat vor allem im Rechtssystem die Funktion der Zurechnung von Handlungen; in der klassischen Philosophie der Erkenntnis und des Handelns hat es — wie oben gezeigt — eine Universalisierungsfunktion dort, wo das Universelle nicht mehr durch einen substanzhaften fremden gesetzesstiftenden Willen repräsentiert wird. Es erbringt diese Universalisierungsleistung vor allem durch sprachliche Synthesis, auf der anderen Seite hat das große Subjekt der universellen Vernunft auch die Stellung eines Repräsentanten des Anderen der Sprache, dessen Internalisierung durch die Individuen zur Ausbildung von Individualität erforderlich ist, nachdem das Individuum nicht mehr als Seele Anteil an dem fremden göttlichen Willen haben kann. Das Subjekt ist eine Funktion der Sprache und aufgrund dieser Abhängigkeit muß es sich auch mit dem Zerfall des Verweisungszusammenhangs mit dem Objekt und der universellen (sprachlichen) Vernunft ändern, und das heißt vor allem: es fragmentiert sich. Das Subjekt steht nicht mehr im Zentrum 607 ; das oben beschriebene Netzwerk „anonymer Relationen" 608 tritt an seine Stelle. Und vor allem die (Re-)Produktion der Gesellschaft über Informationen und ihre Verteilung und die darin implizierte Vervielfältigung der systemischen Relationierungsmuster und -knoten des Wissens haben die Möglichkeiten der zentralen Verfügung des Subjekts über das in seinem Selbstbewußtsein zu synthetisierende universelle Wissen in verschiedenen Richtungen untergraben. Das individuelle Ich ist selbst zum ,»Feld von Differenzierungen" geworden 609 . Nicht zuletzt angesichts dieser Konstellation wird das Subjekt als „psychisches System" als Bewußtsein, vom sozialen System, das auf Kommunikation aufgebaut ist, getrennt: das menschliche Bewußtsein ist selbst durch zirkuläre Geschlossenheit charakteri606

Vgl. zum Operieren mit selbsterzeugter Ungewißheit auch J. Casti, On System Complexity, in: ders. / H. Karlqvist (Hg.), Complexity, Language and Live. Mathematical Approaches, Berlin u. a. 1986, S. 146 ff., 157; G. Marramao, L'ordine disincantato, Mailand 1985, S. 80 ff. 607 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 16. 608 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 18. 609 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 20; Bodei, (Fn. 471), S. 130.

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siert, ist aber in dieser Eigenschaft auf „strukturelle Kopplung" mit sozialen Systemen angelegt (und umgekehrt) 610 . Die Einbeziehung des empirischen Subjekts und seines Organismus, seines Gehirns, seines Bewußtseins in ein aus Kommunikationen bestehendes System erscheint als sinnlos, wenn die Universalität der Gesetzmäßigkeiten, die Abschichtung von Allgemeinem und Besonderem, von Geist und Körper durch das Auftreten von Selbstreferenz dezentriert wird. Wenn man den voraussetzungsvollen Charakter von Subjektivität und die Entwicklung einer ausdifferenzierten systemischen Rationalität in Anschlag bringt, erscheint die systemtheoretische Trennung von psychischen und sozialen Systemen nicht so anstößig, wie manche plakative Vereinfachung dies nahezulegen scheint. Denn auch nach dieser Konzeption muß das soziale System natürlich auf den selbstreferentiellen Operationsmodus auch des empirischen Subjekts Rücksicht nehmen, dessen Komplexität es zum Aufbau seiner eigenen Komplexität nutzt. Aber kann das empirische Subjekt über „semantische Stellvertreter" als Bestandteil von sozialen Systemen fungieren? Markowitz 611 führt zur Spezifizierung dieses Verhältnisses auch die „Partizipation" mit dem Ziel des Aushandelns von wechselseitigen Verhaltensverpflichtungen und -ansprüchen ein 6 1 2 . Es fragt sich, ob das Verhältnis von Individuum und sozialem System mit dem Begriff der „strukturellen Kopplung" besser bezeichnet werden kann. Strukturelle Kopplung ist innerhalb der Theorie autonomer Systeme dadurch charakterisiert, daß sie die spezifischen Beziehungen zwischen Systemen bezeichnet, die nicht auf den Austausch von „Informationen" reduziert werden können, die nach bestimmten Regeln von dem einen System produziert und dann auf das andere übertragen werden. In dieser Unterstellung der Möglichkeit von „Information" kommt noch die klassische Subjekt-Objekt-Dichotomie zum Ausdruck, die das Subjekt zum Zentrum „desselben Denkens" macht. In einer die sprachliche Kompetenz der Subjekte akzentuierenden Variante wird dabei der Besitz sprachlicher Regeln unterstellt, über die das Denken produziert und ausgetauscht wird. Wenn aber die über Systeme aggregierten sprachlichen Welten eine eigene Rationalität haben, die sich auf den Austausch zwischen Subjekten nicht zurückführen lassen, so muß dies auch auf die Konstruktion des Subjekts zurückschlagen. Da es nicht mehr Zentrum der universellen Vernunftregeln sein kann, sondern die sozialen Systeme immer „schon da" sind, muß es als Bewußtsein selbst als System konzipiert werden, das die „Perturbationen", die von den sozialen Systemen ausgehen, als Anregungen aufnimmt und zum Aufbau seiner eigenen Struktur benutzt. Maturana, der — anders als Luhmann — den Menschen als Bestandteil des sozialen Systems ansieht, bezeichnet den durch „strukturelle Kopplung"

610 Luhmann, (Fn. 530). 611 Markowitz, (Fn. 348), S. 38 f. 612 H. R. Maturana, The Biology of Language, in: Psychology and Biology of Language and Thought, Essays in Honor of Eric Lemberg, New York u. a. 1978, S. 27 ff.

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zwischen Menschen in der Gesellschaft insbesondere durch Sprache entstehenden Zusammenhang von wechselseitig generierten Verhaltensmustern als „konsensuellen Bereich" 613 . Dies ist keine gemeinsam beobachtete Realität, sondern ein kooperatives System von abgestimmten „passenden" Interaktionen in einem Bereich, der für mehrere Akteure relevant ist und in die eigene Struktur übernommen wird. Auch dies ist zu verstehen auf dem Hintergrund der Ablehnung der Vorstellung an ein subjekt-unabhängiges objektives Wissen. Auf die Besonderheit von Maturanas Konzeption der Beobachtung soll hier ebensowenig eingegangen werden wie auf die Meinungsunterschiede zwischen Maturana und Luhmann. Es sollen allerdings nicht Zweifel daran unterdrückt werden, ob Maturanas Version der Konstruktion des Menschen als Bestandteil des Systems Gesellschaft sinnvoll ist, weil damit letztlich der emergente kollektive Phänomenbereich, der in sozialen Systemen aggregiert wird, reduziert wird auf konsensuelle Abstimmungen, die durch strukturelle Kopplung je einzelner Individuen generiert werden. Dies ist letztlich damit zu erklären, daß Maturanas Konzeption sozusagen ein Kontinuum der (Selbst-)Beobachtung zugrundeliegt, von der einfachen biologischen Unterscheidung des „Eigenverhaltens" der Zelle gegenüber Kausalwirkungen aus der Umwelt bis zu komplexen kulturellen Leistungen, die zwar durch die Abstimmung mehrerer (eigen-)strukturdeterminierter „Organismen" zustande kommen, aber letztlich immer wieder auf interne (Re-)Konstruktion zurückführen und nicht auf Information von außen. Der Eigenkomplexität von systemischer kommunikativer Netzwerkbildung und dem spezifischen überschießenden kollektiven Moment der Produktion von Anschlußzwängen und -möglichkeiten für neuen Sinn kann so aber kaum angemessen Rechnung getragen werden. „Strukturelle Kopplung" in Maturanas Lesart ist also kein besonders überzeugendes Modell der Erklärung des Verhältnisses von Subjekt / Individuum und sozialen Systemen. Varela hat die Eigendynamik der „strukturellen Kopplung" zwischen Organismen, insbesondere Menschen, mit dem Begriff der „natürlichen" bzw. „kulturellen Drift" bezeichnet614. Damit wird die Entdeckung von Mustern im wechselseitigen Verhalten und deren Fortentwicklung als Folge von Interaktionen konstruiert, die mehrere Möglichkeiten der weiteren Verkopplung eröffnen und letztlich auf der Unterbestimmtheit strukturdeterminierter Systeme basieren. Die Individuen verstärken durch ihre Interaktionen ungewollt eine Möglichkeit vor anderen, die sie dann so wieder in ihren Eigenbereich übernehmen. Das Konzept der „Drift" ist aber für die Spezifizierung der gesellschaftlichen Eigendynamik wenig geeignet, weil es das Spannungsverhältnis zwischen der Präsenz und der Abwesenheit von Sinn in Gesellschaften, insbesondere den nichthintergehbaren Rückgriff auf frühere Sprachverwendungen nicht adäquat aufnehmen kann. Dadurch wird eine Dynamik in die Strukturen eingebaut, die über eu Vgl. auch Maturana, (Fn. 491), S. 6. 614 F. J. Varela, Living Ways of Sense-Making: A Middle Path for Neuro-Science in: Livingston (Hg.), (Fn. 387), S. 208 ff., 219. 10 Ladeur

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die „Geschichte der Verbundenheit" entsteht 615 . Dies versuchen Maturana / Varela 6 1 6 für „soziale Strukturenkopplungen" dahin zu spezifizieren, daß durch die Sprache das Phänomen der „persönlichen Identität" mit der „Bildung einer rekursiven Dynamik sozialer Strukturkopplungen" verbunden wird. Das Individuum soll zum Relator innerhalb eines Prozesses der „Transformation im Werden der sprachlichen Welt" werden 617 . Was dabei die Identität der Individuen ausmacht, wird um so problematischer, als es ja für das Bewußtsein des Individuums keine eindeutigen Kriterien für die Erhaltung von Autonomie gibt. Varela hat an anderer Stelle auch schon früher das Bewußtsein als „conversational domain" bezeichnet 6 1 8 und die Sprache, die — neben dem „Erzeugen von Regelmäßigkeit" — die „rekursive Dynamik der Strukturenkopplung" ermöglicht 619 , wird als ein von einer gemeinsamen Geschichte der strukturellen Kopplung abhängiges „Gewebe von Kommunikationen" bezeichnet620. Die Sprache wird als ein Medium der „Globalisierung" der Gesellschaft betrachtet 621. In diesem Zusammenhang räumt Varela auch ein, in früheren Arbeiten zu sehr die Invarianz von Systemen betont zu haben. Schließlich hat er die Idee der „operativen Geschlossenheit" autonomer Systeme auch explizit auf „Bewußtseinsformationen" erstreckt und damit soweit vom Individuum abgelöst, daß nicht mehr die (Re-)Konstruktion sprachlichen Sinns im Eigenbereich der Individuen im Vordergrund steht, sondern die Bildung einer „autonomen Ganzheit", die aus der Verkopplung mehrerer autonomer UnterEinheiten besteht 622 . Deren Verhalten als „Gewebe von Partykonversationen" 623 hat dann aber nicht mehr den Charakter einer geregelten Einheit. Das Verhältnis von System und Subjekt bleibt dabei eher unklar, jedenfalls besteht die Funktion des natürlichen Individuums aber darin, dem „conversational domain" immer neue Diversität zuzuführen 624. Damit nähert sich die Konzeption aber wieder einer Auffassung, die die Inklusionsfunktion der Subjektivität, an der potentiell jedes empirische Subjekt teilhat, in den Vordergrund rückt. Zwar wird sie abgelöst von einer klassischen Konzeption der Objektivität, die die „Übereinstimmung des Subjekts mit den Strukturen der Wirklichkeit zu stiften hatte" 625 , aber in umgekehrter Richtung bleibt die Individuationsfunktion der 615 Varela, (Fn. 393), S. 27. 616 Maturana/Varela, (Fn. 110), S. 250 ff. 617 Maturana/Varela, (Fn. 110), S. 228. 618 Varela, (Fn. 394), S. 62. 619 Maturana/Varela, (Fn. 110), S. 250 ff. 620 Varela, (Fn. 550), S. 107, 113. 621 F. J. Varela, Interview, in: Cahiers du CREA 8 (1985), S. 283 ff. 622 F. J. Varela, Diskussionsbeitrag, in: Dupuy / Dumouchel (Hg.), (Fn 388), S. 172; vgl. auch Maturana, (Fn. 499), S. 110. 623 Varela, (Fn. 391), S. 91. 624 Maturana, (Fn 499), S. 113; ders., Elemente einer Ontologie des Beobachters, in: Gumbrecht/Pfeiffer (Hg.), (Fn. 520), S. 830 ff. 625 Luhmann, (Fn. 601), S. 349.

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Subjektivität für das Individuum unterbestimmt 626. Im Hinblick auf die Universalisierungsfunktion ist das Subjekt verzichtbar. Das Subjekt, das in seinem Selbstbewußtsein das Zentrum der Erkenntnisbeziehung bildet, wäre abzulösen durch eine Pluralität und Diversität von algorithmisierten Operationen, die sich an „Eigenwerten" orientieren. Das Subjekt war als und durch einen sprachlichen Effekt konstituiert, um einem Prozeß, dessen vom Besonderen getriebene Eigendynamik gegen das Bewußtsein gleichgültig wurde, eine Einheit im Diskurs zu geben 627 . Daß Erkenntnis sich natürlich nicht ohne Menschen vollzieht, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich ohne Rekurs auf vorherrschende Sprachspiele und -Verwendungen und damit die Formen des bereits Gewußten und bereits Gesagten nichts erkennen und nichts sagen läßt. Das Erkennen vollzieht sich deshalb eher in der dritten Person, der Nicht-Person als dem interpersonalen leeren Austausch zwischen Ich und Du 6 2 8 . Einheit ist nur noch „transversal" als Distribution des Wissens über eine Vielzahl von Beobachtern möglich, die sich nicht mehr in einer Idee des Menschen oder der Vernunft zusammenführen läßt. So wie die Theorie des Subjekts sich nicht für das empirische Subjekt interessierte, sondern seine Fähigkeit zum Einrücken in den universellen Verweisungszusammenhang (durch Bildung, Auslegung von Regeln etc.), so ist auch für eine Systemtheorie als Gesellschaftstheorie das empirische Subjekt nur soweit relevant, wie es die Pluralität der systemischen Relationen als Relator vollziehen kann — was nicht gleichbedeutend mit der Annahme ist, daß das Subjekt sich darin erschöpfe. In einer Theorie autonomer sozialer Systeme, die nicht mehr — wie die Subjektphilosophie — auf einer universellen Vernunft und damit einem festen Bestand des Regelwissens basiert, sondern mit Ungewißheit operiert und dafür eine Vielzahl von Beobachtern in differenzierten Systemen für den Prozeß des Generierens neuen multiplen provisorischen Wissens benötigt, in dem Allgemeines und Besonderes in einer Ko-Varianz von Bindung und Variation prozessiert werden, hat das Subjekt nur noch eine begrenzte Funktion: Es verweist nicht mehr auf die universelle Vernunft, es repräsentiert vielmehr die notwendige Zufuhr nicht nur von „Relationen" für die Selbsterhaltung ausdifferenzierter Systeme, sondern von Diversität, Unbestimmtheit und Kreativität 629 . Was auf die Dauer relevant ist, ist nicht das, was bekannt ist, sondern das was unbekannt ist 6 3 0 . 626 Ähnliches gilt auch für die Bestimmung der Individuen als Knoten im Netzwerk sozialer Kommunikation, Hejl, (Fn. 453); vgl. zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft allgemein E. Steiner / L. Reiter, Zum Verhältnis von Individuum und sozialem System: Hierarchie, strukturelle Kopplung oder Interpénétration?, Familiendynamik 1986, S. 325 ff. 627 Vgl. allgemein D. Judowitz, Subjectivity and Representation in Descartes, Cambridge/Mass. 1988. 628 Deleuze, (Fn. 36), S. 90. 629 Rorty, (Fn. 65), S. 294. 630 Allen, (Fn. 368), S. 166. 10*

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Das bedeutet, daß eine neue Subjektkonzeption — für die Individuationsfunktion — die Fähigkeit zur flexiblen Verarbeitung von wechselnden Funktionsanforderungen fördern muß, daß also die empirischen Subjekte „poröser" 631 werden müssen für das Experimentieren mit und in offenen, auf Selbstveränderung angelegten Möglichkeitsräumen, mit der Modellbildung unter Ungewißheitsbedingungen. Eine systemisch-relationale Rationalität müßte gerade darauf zielen, die eigenen Erwartungen mit den Systemfunktionen abzustimmen und die NichtHintergehbarkeit der Pluralisierung von Beobachterstandpunkten zu akzeptieren, d. h. auf die Illusion einer umfassenden Synthesis der differenzierten Systemfunktionen in einem einheitlichen Subjekt der universellen Vernunft zu verzichten. Dies sollte um so eher akzeptabel sein, als, wie gezeigt, Diversität und Pluralität längst auch innerhalb der Infrastruktur des Subjekts vor allem seit dem Beginn des Zerfalls der Makro-Subjekte Gegenstand psychoanalytischer Theoriebildung geworden ist. Auch Gefühl und Mitgefühl sind als Instanzen eines „gemeinsamen menschlichen Konsenses"632 unzuverlässig. Wie oben gezeigt, sollte Gegenstand wissenschaftlichen Interesses weniger die sich im Protest gegen die Dezentrierung des Subjekts wendende Moralisierung von Politik als vielmehr deren Folgen für die Politikgestaltung sein. Das „Selbst" ist ein „Netz von Kontingenzen" geworden 633 , aber nach der Überwindung der daraus resultierenden narzißtischen Kränkung könnte sich die Einsicht einstellen, daß dies auch eine Hinterlassenschaft der Fragmentierung des Verweisungszusammenhangs von Subjekt, Objekt, Vernunft ist und daß ein relationales, multiples Subjekt nicht nichts ist. Eine systemisch-relationale Rationalität bedeutet durchaus eine neue Herausforderung, nämlich von der Verbindung des Willens zur Ordnung mit dem Subjekt einer transparenten Vernunft Abschied zu nehmen und die Welt mit und aus Systemen zu konstruieren, zu beobachten und die Heterogenität des Subjekts, um die Binnenrationalitäten der Systeme in einer variablen „transversalen" Logik füreinander durchlässig zu machen 634 und einen Überschuß an neuen Möglichkeiten aus den Anschlußzwängen von Systemen zu generieren. Ein relationales multiples Subjekt ist kein möglicher Partner eines auf die Selbstaufklärung im Medium der moralischen Reflexion gerichteten Vertrages, aber es kann sich auf das experimentelle Operieren mit provisorischen Konventionen über die Modellierung von Optionsräumen einlassen. Solche Konventionen stellen die Nicht-Beherrschbarkeit kollektiver Effekte einerseits und die Notwendigkeit des Entscheidens unter Unentscheidbarkeitsbedingungen andererseits in Rechnung. Die Neuauflage einer aus dem historischen Zusammenhang abstrahierten Vertragstheorie als Theorie eines Verfahrens der permanenten Gründung ist nichts anderes als eine Verleugnung der Autonomie des Kollektiven und der dadurch geschaffenen

631 632 633 634

Bodei, (Fn. 471), S. 119, 132. Rorty, (Fn. 65), S. 66. Rorty, (Fn. 65), S. 66; vgl. auch Cherniak (Fn. 220), S. 90. Waldenfels (Fn. 42), S. 67.

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme

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Anschlußzwänge und -möglichkeiten. Die Artifizialisierung der Welt dient der leeren Selbstreferenz eines Normativismus als Folie, auf der sich die Definition von Politik an die konvenierten guten Absichten binden läßt und für Abweichungen stets „die anderen" verantwortlich zu machen sind, eben die Urheber des Bösen. Die an die Stelle des Regeluniversalismus tretende Prozeduralisierung des Guten, seine Festlegung durch Vereinbarung, erlaubt es auch, die Zurechnung von Verantwortung „intersubjektiv" disponibel zu halten. Die Verflüssigung der Grenzen des regelorientierten Subjekts scheint zur gesteigerten Selbstdefinitionsfähigkeit des Selbst durch Zugriff auf die Meta-Ebene der Identitätsbildung zu ermächtigen. Unter diesem Aspekt erscheint auch das Verhältnis von Subjekt / Bewußtsein und sozialem System in der Konzeption der Autopoiesis nicht befriedigend ausgearbeitet. Das Verhältnis läßt sich selbst nur paradox formulieren: Es ist ein Verhältnis der Partizipation, ohne ein Verhältnis der Zugehörigkeit zu sein, ein Verhältnis der Teilnahme, ohne Bestandteil zu sein 635 . Wenn das Subjekt statt als Zentrum als der „Spalt" fungiert, der „verhindert, daß Systeme und Ordnungen ihre eigenen ,Subjekte4 produzieren", so ist auch darüber eine auf der NichtIdentität des Subjekts mit dem ihm anderen statt der imaginären Identität aufbauenden Rationalitätskonzeption möglich. Wenn Subjektivität nur noch im Plural möglich ist, ist es nicht verwunderlich, daß man den Plural auch im Subjekt wiederfindet. Subjektivität ist, nachdem die hierarchische Konstitution des empirischen Subjekts im „selben Denken" der Vernunft an der Pluralität des Besonderen gescheitert ist, nur noch in einer dekomponierten Variante beschränkter Anforderungen an interne Konsistenz zwischen verschiedenen „Gruppen" von Vorstellungen, Annahmen und unterschiedlichen, schwer integrierbaren Rationalitäten möglich 636 , die auf das Ankoppeln an systemisch aggregierte Anschlußzwänge verweisen. Dies ist ebenso wenig blinde Anpassung, die die Aneignung von Subjektivität durch die empirischen Subjekte in der klassischen Philosophie blindes Regeldenken implizierte. Es handelt sich um eine dem neuen Stand des „transsubjektiven Differenzierungsgeschehens" entsprechende Form einer lateralen, heterogenen Subjektivität, die ihre Einheit in eine situative Rationalität des Operierens mit Differenzen findet und sich dabei an die a-zentrische Dynamik der relationalen Logik der Selbstreferenz der Systeme anschließt. Das Moment der selbstreferentiellen Konstruktion von Subjektivität 637 zeigt sich in der wachsenden Bedeutung des Bildungssystems, des lebenslangen Lernens und der steigenden Anforderung an Flexibilität. Auf der anderen Seite müssen selbstreferentielle Systeme auch den „selbstreferentiellen Operationsmodus der teilnehmenden Personen begrifflich in sich aufgenommen 44 haben 638 . Das 635 636 637 638

Derrida, (Fn. 454), S. 206. Rorty, (Fn. 65), S. 86; Cherniak (Fn. 220), S. 84, 90. K. Krippendorff, On Constructing People in Social Inquiry, Ms. 1986. Markowitz, (Fn. 348), S. 38 ff.

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traditionelle Subjekt war geprägt vom Denken in Gleichgewichtsmodellen: Die Fluktuationen des Besonderen heben sich wechselseitig auf und erhalten dadurch eine Gesetzmäßigkeit, die sich im Selbstbewußtsein des Subjekts als Ausdruck einer universellen Vernunft darstellt. Demgegenüber ist die Gesellschaft vor allem des 20. Jahrhunderts von Organisationen geprägt, in denen sich komplexe Gedächtnisse bilden und damit mehr strategische Koordination und Reflexivität in Beziehungsnetzwerken erforderlich wird. Solche Organisationen sind nicht nur „große Subjekte", sie mediatisieren weitgehend die Handlungsmöglichkeiten der empirischen Subjekte. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit zur Bildung von Konventionen über die „Zumutungen" und „Ansinnen" an die empirischen Subjekte in einer Form zu bilden 639 , deren Flexibilität die Lösung und nicht das Problem ist. Aufgrund solcher etwa in Dauerrechtsverhältnissen zu verarbeitende Notwendigkeit einer offenen, nicht genau definierten Leistung von Individuen in und für Organisationen kann man auch davon sprechen, daß Subjektivität selbst Gegenstand von Verhandlungen wird 6 4 0 , und zwar von Verhandlungen, die ihrerseits Teil eines selbstorganisierenden Prozesses sind, der von keinem Beteiligten als Ganzes beherrscht werden kann 641 und deshalb auf die Bildung von „Konventionen" als Eigenwerten eines gemeinsamen orientierenden Wissens zwischen Organisation und Subjekten angewiesen ist 6 4 2 . Diese Entwicklung verstärkt sich noch in einer neuen Phase der Organisationsbildung, in der auch die Organisation selbst in zunehmendem Maße fragmentiert und pluralisiert wird. (Darauf wird weiter unten noch einzugehen sein). 7. Die Logik der Systeme als Substitut der Vernunftordnung? Die bisherigen Überlegungen lassen sich zusammenführen in einer neuen Konzeption einer prozeduralen Rationalität zweiter Ordnung, die im Unterschied zur substantiellen Rationalität, die an der Suche nach der besten Handlung innerhalb eines Gleichgewichtsmodells orientiert ist, vielmehr an der methodischreflexiven Konstruktion von Operationsmodellen orientiert ist 6 4 3 . Organisationen übernehmen teilweise die Bildung von gemeinsamem Wissen und Werten, die die Abstimmung von Erwartungen ermöglichen, die früher primär durch Familie 639 O. Favereau, Marchés internes / marchés externes, Rev. Econ. 1989, S. 273 ff., 295; Markowitz, (Fn. 348), S. 39. wo Krippendorff, (Fn. 637). 641 F. Malik/G. J. B. Probst, Evolutionäres Management, Die Unternehmung 1981, S. 121 ff. 642 Orléan, (Fn. 266), S. 63,71; J. P. Dupuy, Conventional Common Knowledge, Rev. Econ. 1989, S. 361 ff. 643 O. Favereau, Valeur d'option et flexibilité. De la rationalité substantielle à la rationalité procédurale, in: P. Cohendet/P. Llerena (Hg.), Flexibilité, information et décision, Paris 1989, S. 121 ff., 122, 148.

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und Schule in einer stabilen Form geleistet worden ist 6 4 4 , und an die dann angeknüpft werden konnte. Dieser Wandel impliziert, daß mehr und mehr die universelle öffentliche Vernunft und ihre Institutionen in ein „Multiversum" pluraler heterogener, nur locker verbundener, auf Selbständerung angelegter Optionsräume 645 transformiert werden. Die Paradoxie der Selbstreferenz des Subjekts ist mit der Zwischenschaltung der Organisationen und der Differenzierung der Teilsysteme sowie der damit einhergehenden Kumulation von Möglichkeiten und Anschlußzwängen zugleich, durch Phänomene der Irreversibilität und der Veränderung in der Zeit geprägt 646 . Das Subjekt verfügt nicht mehr nur über Möglichkeiten innerhalb einer auf Gleichgewicht angelegten Schwankungsbreite der Fluktuationen, es verändert und pluralisiert seine eigene Identität, indem es sich auf selbständernde Handlungsräume einstellt und sich damit in die Zeit projiziert. Dies setzt eine höhere Fähigkeit zum Operieren mit Ungewißheit voraus. Das Subjekt ist nicht mehr an einen festen Bestand von Regeln orientiert, den es zu internalisieren hat, sondern sieht sich mit der Forderung zur Entwicklung offener pluraler Fähigkeiten zur Ankopplung an variable Systeme und Organisationen konfrontiert. Damit wird auch die „Infrastruktur" des Subjekts zwangsläufig komplexer und von Selbstreferenz und Selbstreflexivität bestimmt: das klassische Subjekt fungierte als „Symbol der Inklusion" 647 , d. h. jeder, dem diese Selbstreferenz zugeschrieben wird, „kann sich selbst zu der Einsicht befähigen, die ihn mit anderen Subjekten in derselben Gegenstandsauffassung verbindet". Aber jeder kann sich demselben Denken auch verschließen, d. h.: „Mit dem Begriff des Subjekts wird das Verhältnis von Inklusion und Exklusion auf den Punkt gebracht, aber dabei bleibt es auch" 648 . Die Paradoxie der (Re-)Produktion von vernunftfähigen Subjekten war im 19. Jahrhundert und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts rechtlich in der Unterscheidung zwischen „besonderem Gewaltverhältnis" und „allgemeinem Rechtsverhältnis" entparadoxiert: Familie und Schule als Sozialisationsinstanzen unterlagen nicht der von Freiheit und Gleichheit der Subjekte geprägten Ordnung, die der Subjektivität vorgeordnet war. Wenn Schule und (potentiell) Familie verrechtlicht werden, wird die pluralistische Gesellschaft mit der paradoxen Notwendigkeit konfrontiert, den Pluralismus selbst in Institutionen zu reproduzieren 649 und als „Sphäre der Gemeinsamkeit" zu organisieren 650 . Die Beeinträchtigung der Familie als Sozialisationsinstanz hat zur Ver644 c. Menard, Les organisations en économie de marché, Rev. d'Econ. Pol. 1989, S. 771 ff., 785; L. Thévenot, Equilibre et rationalité dans un univers complexe, Rev. Econ. 1989, S. 141 ff., 174. 645 O. Godard, Environnement, modes de coordination et systèmes de légitimité, Rev. Econ. 1990, S. 215 ff., 220. 646 Godard, (Fn. 645), S. 228. 647 Luhmann, (Fn. 601), S. 351; zum subjektiven Recht vgl. ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt 1981, S. 360. 648 Luhmann, (Fn. 601), S. 350 f. 649 Vgl. j. S. Coleman, Familie und Schüler, RdJB 1989, S. 201 ff. 650 Meyer-Drawe, (Fn. 307), S. 222.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

schärfung dieser Paradoxie beigetragen: Nicht nur die soziale Differenzierung des Zugangs zur Bildung am Maßstab des Geldes oder auch die zu vermittelnden Werte werden zum Rechtsproblem, auch die Verwirklichung des Rechts auf Bildung für Nicht-Bildungswillige wird zum Gegenstand sozialpädagogischer Rekonstruktion von Subjektivität. Nicht-bearbeitete Selbstreferentialität der Gesellschaft, die Vernachlässigung der Paradoxie des „Verschleifens" von Objekt- und Meta-Ebene führt zu immer neuen Erscheinungsformen von durch den Zerfall der Einheit von Subjekt und Ordnung freigesetzten Omnipotenzphantasien. Das empirische Subjekt fordert von dem nicht mehr an universelle Regeln gebundenen Makro-Subjekt die aus Allgemeinem und Besonderem bestehende Welt insgesamt zu verändern. Das unklar gewordene Verhältnis von Heteronomie und Autonomie in einer auf Differenzen aufbauenden Gesellschaft läßt, wenn sie sich der traditionellen Formen der Rechtsverhältnisse bedient, ein narzißtisches Weiterdrehen der leeren Selbstreferenz der empirischen Subjekte zu: Dies ist eine neue Variante des Versuchs, eine Paradoxie aufzulösen, der man sich nicht entziehen kann und die man nur aushaltbar machen kann. Zusammenfassend läßt sich zeigen, daß das Subjekt durchaus einen Status auch in einer systemischen Rationalität hat. Aber es ist nur ein „schwaches Subjekt", das sich auf die relationale plurale Logik differentieller Systeme einlassen m u ß 6 5 1 , um ihnen neue Kreativität zuzuführen und daß daraus seine eigene Selbstreferentialität einstellen muß. Seine Partizipation an den Systemoperationen basiert aber nicht auf einer unspezifischen Betroffenheit; die Ausdifferenzierung von Systemen und Organisationen basiert gerade auf der Trennung von Entscheidung und Betroffenheit. Andererseits ist aber die Unterscheidung von Subjekt und System, auch wenn sie von beiden Seiten nicht voll beherrschbar ist, insofern wichtig, als nach dem Zerfall der Universalität der Vernunft Gesellschaft nicht als aus Subjekten oder Personen zusammengesetzt gedacht werden kann und sich auch „Betroffenheiten" nicht kompartementalisieren lassen. Die wechselseitige Verschleifung von Subjekten und Systemen muß vielmehr durch Selbstbeschreibungen zugleich getrennt und so aufeinander bezogen werden, daß eine produktive Entwicklungsdynamik entstehen kann. Entscheidend ist für unsere an der Entwicklung des transsubjektiven „Differenzierungsgeschehens" orientierte Betrachtungsweise vor allem, daß die zunehmende Selbstreferentialität der Gesellschaft wie des Subjekts nichts mit einer gesteigerten Verfügbarkeit der Welt zu tun hat, die — normativ — vom Selbstbewußtsein der Subjekte oder in der intersubjektiven Kommunikation zu konstruieren wäre. Deshalb kann das Denken des Subjekts nur ein „schwaches Denken" (pensiero debole) 6 5 2 sein, das mit der Artifizialisierung pluraler möglicher Welten

MI Dal Lago, (Fn. 54), S. 82 ff. 652 Vgl. die Beiträge in G. Vattimo /P. A. Rovatti (Hg.), Pensiero debole, Mailand 1983.

II. Die Systemtheorie als Theorie autonomer Systeme

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rechnet 653 , durch deren Dynamik das Selbst dezentriert wird. Auch das Subjekt oder die Intersubjektivität der prozeduralen Verständigung kann die Komplexität dieser Welten nicht mehr erschließen, da deren „Erkenntnis" vom Operieren mit und in diesen Welten nicht abzulösen ist. Das Verhältnis des Subjekts zu seinen Welten ist — wie oben gezeigt — nicht als eine Vorstellung, sondern eher als ein (Sein-)Können zu verstehen, das ein Seinlassen654 der Systeme voraussetzt, und die verlangt ein produktives Operieren mit Selbstreferenz und Paradoxie, nicht ihre Aufhebung. Nach dem katastrophalen Scheitern einer politischen Ordnung, die dem Anspruch nach die kollektiven Bedürfnisse kollektiv definiert und befriedigt hat und dabei doch nur verhindert hat, daß die auf Identität und nicht Differenz basierende Selbstbeschreibung und das Funktionieren des Systems völlig auseinandergefallen sind, treten kritische Positionen jetzt vor allem mit dem Anspruch auf, die Heterogenität und Entfremdung der emergenten kollektiven Ordnungen in der Intersubjektivität der Verständigung aufzuheben oder doch zu begrenzen (siehe oben). Aber aus einer „conjuratio" kann nun einmal keine kollektive Ordnung generiert werden 655 . Daß auf Identität aufbauende Systeme zwangsläufig zur inoffiziellen und deshalb um so gefährlicheren Macht- und Herrschaftsbildung führen, ist unausweichlich. Das Problem aller „emanzipatorischen" Subjektkonzeptionen besteht darin, daß sie im Vorgriff auf die Identität des Guten denken und Differenz nur als aufhebbare Abweichung verstehen, als ein vorübergehendes Problem, das keinen eigenen begrifflichen Status hat 656 . Die Überlegenheit einer auf Differenzen aufgebauten Gesellschaft mit einer ausdifferenzierten und das heißt letztlich kapitalistischen Ökonomie gegenüber allen Konkurrenten zeigt sich nicht darin, daß sie die besseren Ziele hat, sondern daß sie mit ihren eigenen Mängeln rechnet, daß sie Ordnung aus Unordnung erzeugt und insbesondere sich auch und gerade kreative innovative Momente der Kritik immer wieder einzuverleiben versteht, während sie gerade dadurch zugleich eine Art Selbstabstoßung der kritischen Bewegungen ins Sektierertum verstärkt. Denn die Fähigkeit zur Selbsterneuerung des Kapitalismus aus dem Arsenal der Kritik zeigt den Aktivisten der Kritik, daß diese übernommenen Elemente falsch sein müssen und daß man um so mehr die Identität des ganz Anderen akzentuieren muß. 653 Vattimo, (Fn. 91), S. 94. 654 Welsch, (Fn. 324), S. 119 N. 7. 655 Dupuy, (Fn. 414), S. 24 ff. 656 „Aufklärung" nimmt in „emanzipatorischen" Theorien leicht den Charakter eines Katharsis-Erlebnisses an; sie operiert nicht mit begrifflichen Differenzen, sondern strebt nach der Aufhebung der Differenz. Auch die Selbstaufhebung des Kollektiven in der Assoziation der Individuen versucht, den „Spalt" im Subjekt zu überwinden. Es ist kein Zufall, daß der „rationalistische Fehlschluß", der Gestus der permanenten Neugründung und Selbsterzeugung einer Rationalität, die sich selbst zu beherrschen glaubt (vgl. allgemein S. Benhabib, Critique, Norm and Utopia, New York 1986), sich gerade in Deutschland entwickeln konnte. Das „innere Reich" bleibt antithetisch fixiert auf das als mangelhaft erlebte „äußere Reich" und steht zu ihm in einem Verhältnis hysterischer Ablehnungsbindung.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

Insofern hat der Kapitalismus seine Kritik längst zu einer produktiven Differenz unter anderen gemacht und machen können, weil er auf dem paradoxen Operieren mit Differenzen beruht. Er führt sich dadurch neue produktive Perturbationen zu, die seine Erstarrung verhindern. Dies erklärt auch, warum Alternativbewegungen sich letztlich immer wieder als politik- und organisationsunfähig erweisen. Gerade weil sie Paradoxien ignorieren, sind sie außerstande zu erkennen, daß und warum sie soviele „schwierige Subjekte" anziehen, die die Selbstaneignung des Kollektiven durch die Subjekte im „Widerstand" gegen das System als unmöglichen Kampf um das „Mit-sichselbst-identisch-sein" führen und die Spaltung des Subjekts, das „Anders-alssein" 657 überwinden wollen. Die Systembildung über Differenzen führt dazu, daß Probleme wenn nicht gelöst, so doch bearbeitbar oder aushaltbar werden; die Stärke dieser Konzeption besteht darin, daß sie Komplexität aufgrund von Artifizialisierung der Welt akzeptiert und das Operieren der Systeme auf Risiken einstellt und „Fehler" auszubalancieren sucht. Eine „transversale Vernunft" operiert mit der Pluralität mehrerer systemisch konstruierter Welten und einer „porösen" relationalen Subjektivität, die weder auf eine den Zerfall der Einheit aufhebende Katharsis spekuliert, noch auf eine Intersubjektivität setzt, der die Möglichkeit zur Fremdreferenz auf eine emergente kollektive Welt der Verknüpfungen fehlt und deshalb in die leere Selbstreferenz des imaginären Vorgriffs auf das ganze Subjekt der Kommunikationsgemeinschaft führt. Die an der Intersubjektivität der Verständigung beteiligten Subjekte sind so emanzipiert, daß sie keine wirklichen sozialen Bindungen mehr haben, sondern die wechselseitige Implikation von „»Subjekt4 der Vorstellung und »Vorstellung4 4 4 6 5 8 nach der Seite des Subjekts im leeren Selbstbezug, dem sein Gegenstand gleichgültig wird, auflösen. Das Subjekt ist aber nur „mittels der geschichtlichen Schöpfung und Stiftung einer Sprache und einer öffentlichen Welt 44 65 9 . Der Versuch der Selbstkonstitution durch Vertrag oder „Verständigung 44, die sich von allen Anschlußzwängen abgelöst hat, ist so vielversprechend wie Münchhausens Griff nach dem eigenen Zopf. Eine postmoderne Gesellschaftskonzeption überwindet die Illusion des Subjekts darin, daß sie die Autonomie der Normen gegenüber der Realität nicht als Möglichkeit einer Selbstkonstitution der Gesellschaft durch das Subjekt mißversteht 660 . Diese Selbstkonstitution ist deshalb so problematisch, weil sie paradoxerweise keinen wirklichen Träger hat, der Verantwortung übernehmen könnte und wollte 6 6 1 . Sie erhebt sich über alle Bedingungen, die von der Gesellschaft und ihren Institutionalisierungen „gemacht44 worden sind, um sie anders zu machen.

657 Lipowatz, (Fn. 206), S. 18. 658 Descombes, (Fn. 138), S. 153. 659 c. Castoriadis, Merleau-Ponty und die Last des ontologischen Erbes, in: Métraux / Waldenfels (Hg.), (Fn. 128), S. 111 ff., 122. 660 Descombes, (Fn. 138), S. 165. 661 Descombes, (Fn. 35), S. 128.

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System?

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Dazu muß (ja kann) man nicht selbst schon anders sein, man muß nur wollen, daß alles anders wird. Wenn alles anders ist, sind alle anders! Der ferne Widerschein des ganz Anderen in der guten Absicht wirft ein goldenes Licht auf noch so blutige Irrtümer und erhebt sie über das praktisch Gelingende der ausbalancierten Fehler. ΠΙ. Das Rechtssystem als autopoietisches System? 1. Selbstreferenz

von „Element zu Element"?

Auch das Rechtssystem „besteht" nach Luhmann weder aus Menschen noch aus Sätzen, sondern aus Operationen. Es ist nicht hierarchisch strukturiert, sondern basiert darauf, daß der „Startpunkt aller Operationen, die das System bilden,... eine Unterscheidung" ist und ,»nicht irgendeine vorauszusetzende Einheit, nicht irgendein Prinzip, auch nicht das System als Träger (Subjekt) seiner eigenen Operationen". „Durch Weiterführung codierter Operationen" entsteht ein „System, das alles, was für dieses System als Einheit fungiert (unter Einschluß des Systems selbst), den eigenen Operationen verdankt" 662 . Die Unterscheidung, mit der das System operiert, ist eine spezifische System / Umwelt-Unterscheidung, eine binäre Codierung von Ereignissen nach einem binären Schematismus, für das Rechtssystem die Unterscheidung Recht / Unrecht. Diese Codierung wird für die Funktion des Rechts, eingesetzt „Erwartungen im voraus für den Enttäuschungsfall sicherzustellen" 663. Wie oben gezeigt, nimmt Luhmann einen „inneren Zusammenhang" zwischen dieser Funktion des Rechts und der binären Codierung an. Die Spezifizierung des Codes erfolgt über Programme, insbesondere Gesetze, die Entscheidungsprämissen vorgeben 664 . Auch hier kann nicht auf Details eingegangen werden, aber entscheidend ist die weitgehende Festlegung der Selbstbeschreibung des Rechtssystems auf die Selbstreferenz von Element zu Element, wenngleich daneben — aber getrennt davon — auch die Selbstreferenz der Struktur (als Selbstveränderung durch Selbstorganisation) registriert wird 6 6 5 . Die (Selbst-)Reproduktion des Rechts erfolgt primär von Ereignis zu Ereignis, d. h. mit einer Selektivität, die den Horizont eines Ereignisses für den Anschluß des nächsten Ereignisses nutzt 666 . Das bedeutet auch für das Rechtssystem nicht, daß die autopoietische Geschlossenheit des Systems völlig gegen „Einflüsse"

662 Luhmann, (Fn. 462), S. 176. 663 Luhmann (Fn. 462), S. 174. 664 N. Luhmann, Positivität als Selbstbestimmtheit des Rechts, RECHTSTHEORIE 1988, S. 11 ff., 22. 665 Luhmann, (Fn. 529); vgl. auch R. Frey, Vom Subjekt zur Selbstreferenz, Berlin 1989, S. 99. 666 Luhmann, (Fn. 460), S. 132.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

abgeschottet wird, sondern vielmehr daß die „Informationen" aus der Umwelt für das mit der Unterscheidung von System / Umwelt operierende System nur als Irritationen fungieren, die das System nach seiner eigenen Selektivität, mit Hilfe des Codes Recht / Unrecht und seiner Programme in Operationen verarbeitet. Dabei entsteht eine Art Geschichte, die über das Öffnen (Information) und Schließen des Systems (das Operieren von Ereignis zu Ereignis 667 ) zustande kommt. Aber dies ist eine selbstkonstruierte Geschichte des Systems, in der es sich situativ aktualisiert, ohne daß diese Dynamik noch auf ein Subjekt angewiesen wäre. Um so wichtiger wird dann die (Selbst-)Beobachtung / (Selbst-)Beschreibung für die Selbststabilisierung des Systems: Durch Selbstbeschreibung führt das System die System / Umwelt-Unterscheidung wieder ein und benutzt sie mit Hilfe der Bezeichnung der einen (und nicht der anderen Seite der Unterscheidung von Recht / Unrecht 668 ) zur Generierung von Informationen: Recht ist das, was das System unter Berücksichtigung der System / Umwelt-Unterscheidung, die einmal getroffen worden ist, „von innen" beobachten kann. Unrecht ist deshalb keine „gleichberechtigte" Alternative; nur mit der Bezeichnung Recht (im Unterschied zu Unrecht) kann das System weiteroperieren, Anschlüsse eröffnen und Beobachtung zweiter Ordnung ermöglichen. Die „Beobachtung zweiter Ordnung ersetzt die Einheit durch doppelte Differenz", sie macht die Unterscheidung, die der Beobachter erster Ordnung „anwendet", zum Gegenstand einer weiteren Unterscheidung 669. Das System behandelt die Unterscheidung System/ Umwelt als interne Kopplung von Selbstreferenz und Fremdreferenz, an der es alle eigenen Operationen orientiert, um sie als eigene beobachten und vollziehen zu können" 670 . Dies läßt sich präzisieren, wenn man zur Klärung ein Gegenmodell heranzieht, dies wäre ein Rechtssystem, das seinen „letzten identischen Startpunkt" in einem universalen Subjekt suchte 671 . G. Teubner hat das Konzept des autopoietischen Rechts stärker spezifiziert, wenn er es von einem nur autonomen Recht unterscheidet: Das erstere ist dadurch charakterisiert, daß nicht nur einzelne Systemkomponenten (Operation, Struktur, Prozeß, Leistung, Funktion, Identität, Grenze) vom System selbstreferentiell bestimmt werden, sondern auch die Systemkomponenten „als einander wechselseitig produzierend miteinander verkettet werden" 672 . Das Recht beginnt „seine eigenen Systemkomponenten mit seinen eigenen Kategorien zu beschreiben" 673. Diese Erweiterung ist insofern nützlich, als damit die Beschreibung des Rechtssystems präzisiert werden kann 674 . Den Selbstbezug des Rechtssystems darf man 667 Luhmann, (Fn. 647), S. 108. 668 Teubner, (Fn. 463), S. 97. 669 Luhmann, (Fn. 442), S. 131. 670 Luhmann, (Fn. 442), S. 132; vgl. auch Frey, (Fn. 665), S. 37; Teubner, (Fn. 463), S. 34. 671 Luhmann, (Fn. 442), S. 132. 672 Teubner, (Fn. 463), S. 44. 673 Teubner, (Fn. 463), S. 45, 49.

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System?

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sich nicht nach dem Modell des „schwarzen Kastens" vorstellen, in den Tatsachenmaterial von außen eingegeben wird und dessen nähere Operationsweise davon nur so abhängig ist wie der natürliche Organismus von der Nahrungsaufnahme. Die Autonomie des Rechtssystems knüpft vielmehr daran an, daß das traditionelle multifunktionale „Netz sozialer Zugehörigkeiten" 675 , das die Person definiert hat, aufgelöst wird in einer Pluralität von systemisch definierten Funktionsstellen, die „Ansinnen" auch an die Person stellen, die von ihr aber nur noch locker verkoppelt werden können (auch dabei muß noch einmal daran erinnert werden, daß schon der Begriff der Person / des Individuums ein historisches Produkt der christlich-jüdischen Kultur ist). Autonom ist das Rechtssystem insofern, als es nicht mehr an komplexe „Zugehörigkeiten" anknüpfen kann, weil ζ. B. bei einer zivilrechtlichen Klage auf Herausgabe einer Sache nicht zugleich der Status des Beklagten etwa als Träger eines besonderen Renommees eine Rolle spielt (oder jedenfalls nicht spielen darf). Die Sache erhält als Gegenstand eines Rechtsstreits eine eigene Codierung. Daß dies nicht rigide durchgehalten wird, also auch moralische Anschauungen („gute Sitten") durchaus eine rechtliche Rolle spielen 676 , zeigt, daß das Recht nicht blind ist. Aber das Beispiel zeigt zugleich, daß es das Rechtssystem selbst ist, das in seinen eigenen Darstellungsbedingungen und in Abstimmung mit seiner eigenen Operationsweise über die Berücksichtigung von Moral entscheidet und nicht ein anderes konkurrierendes System, hier das Moralsystem. Autonomie bedeutet auch nicht, daß das Rechtssystem keine wirtschaftlich oder politisch relevanten Entscheidungen träfe oder unabhängig von politischen oder wirtschaftlichen Operationen entscheiden könnte. Es bedeutet nichts anderes, als daß das Rechtssystem auch die externen gesellschaftlichen Realitätskonstruktionen immer nur für die (Re-)Konstruktion von „Rechtswirklichkeit" benutzen kann 677 . Teubner hält hier sogar „Interferenz" von Systemen, wie gezeigt derart für möglich, daß Systeme einander „Sinnmaterial" zur Verfügung stellen und „vorgeordnete Komplexität" übernommen wird. Das entscheidende Merkmal der Selbstreferenz und Autonomie des Rechtssystems besteht darin, daß die „Fixpunkte" seiner Operationsweise nicht — wie im Paradigma offener Systeme angenommen — in Umweltbedingungen gesucht werden, denen es sich möglichst optimal anpaßt, „sondern in sich selbst, genauer in einer Selbstbeschreibung, welche als internes Steuerungsprogramm die Systemprozesse so organisiert, daß es in seinen Operationen dieser Selbstbeschreibung entspricht, mithin durch seine Operationen sich kontinuierlich selbst er674 Vgl. auch G. Teubner, Episodenverknüpfung. Zur Steigerung von Selbstreferenz im Recht, in: Theorie als Passion, FS Luhmann, hg. v. D. Baecker u. a., Frankfurt 1989, S. 423 ff., 439, 441. 67 5 N. Luhmann, Interesse und Interessenjurisprudenz im Spannungsfeld von Gesetzgebung und Rechtsprechung, Z. f. Neuere Rechtsgeschichte 1990, S. 1 ff., 2. 676 Vgl. schon G. Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, Frankfurt 1971 ; ders., Generalklauseln als sozio-normative Modelle, in: Generalklauseln als Gegenstand der Sozialwissenschaften, Baden Baden 1978, S. 13 ff. 6 77 Teubner, (Fn. 463), S. 108.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

zeugt". Charakteristisch ist also das „Wechselspiel von Selbstbeschreibung und Operation" 678 . Die oben vorgetragenen Bedenken gegen die Theorie autopoietischer Systeme lassen sich für die rechtstheoretische Variante weiter spezifizieren. In Luhmanns Lesart wird die Selbstproduktion des Systems, wie gezeigt, von einem „Startpunkt" aus gedacht 679 . Die „Besonderheit dieser neuen Epistemologie" sieht er dann in der Annahme eines „strukturabhängigen, zufallsgetriebenen Aufbauvorgangs" 680 (Η. v. mir — K. H. L.), mit G. Teubner ist dagegen zunächst einzuwenden, daß mit dieser Überlegung „Phänomene unterschiedlich starker Ausdifferenzierung des Rechtssystems" nicht angemessen beschrieben werden können 681 . Eine Rechtstheorie, die sich als Theorie des Systems im System selbst beobachtet, müßte sich auch stärker darauf prüfen, warum sie jetzt und nicht zur Zeit des Rechtspositivismus entstanden ist. Gerade weil das Rechtssystem in Luhmanns Lesart, oder genauer gesagt seine Autopoiesis, so sehr auf der Produktion von Element zu Element und der daran anschließenden internen Strukturbildung verschiedener Komplexitätsstufen aufbaut, verstellt sich die Theorie den Zugang zu den spezifischen Bedingungen der Transformation des Rechtssystems, die in der Tat eine Thematisierung in der Begrifflichkeit der Theorie autonomer Systeme oder der Selbstorganisation fruchtbar erscheinen lassen. Gerade die oben beschriebenen Phänomene der heterarchischen Ordnungsbildung in nicht-linearen Ungleichgewichtsmodellen, der Verschleifung von Normsetzung und Normanwendung, die Entstehung von Irreversibilität durch situative Vernetzung von Relationen, die neue Relationen ermöglicht, die sie nicht aus Gesetzmäßigkeiten ableiten kann, etc. machen eine nicht-subjektzentrierte systemische Konstruktion auch der Rechtsproduktion sinnvoll, die Modelle für den Aufbau von „Komplexität aus Lärm" 6 8 2 , einer diskontinuierlichen auf Selbstmodifikation angelegten Ordnung aus Unordnung auch für das Rechtssystem entwickeln könnte. Dies läßt sich z. B. festmachen an den Grenzen der Ableitbarkeit von Entscheidungen aus allgemeinen Gesetzen, der Notwendigkeit einer situativen „Recht-fertigung" (R. Wiethölter), dem Auftreten von strategischen Bündelungseffekten zwischen Handlungen, inbesondere organisierter Akteure, bis hin zur Kompatibilisierung von Strategien mehrerer organisierter Akteure, der sekundären Modellierung von subjektiven Rechten durch Kompensationsrechte (Leistungsrechte), die vom Funktionieren des primären Modells abhängig sind, der Prozeduralisierung von Entscheidungen unter Ungewißheitsbedingungen, dem Verwischen der Unter678 Teubner, (Fn. 463), S. 23. 679 Luhmann, (Fn. 462), 171, 176. 680 Luhmann, (Fn. 667), S. 449 ff. 681 Teubner, (Fn. 674), S. 439; nur für Fälle der Haftung für rechtmäßiges Handeln räumt Luhmann die Möglichkeit ein, daß die „scharfe Codierung Recht / Unrecht versagt", So in: »Juristische Argumentation — Eine Analyse ihrer Form", Ms. 1991, S. 18. 682 H. Atlan, Uncommon Finalities, in: W. I. Thompson (Hg.), Gaia. A Way of Knowing, Great Barrington / Mass. 1987, S. 110 ff., 116.

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System?

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schiede zwischen subjektivem Recht und objektiver Rechtsordnung, um nur einige neue Funktionsprobleme zu nennen. In Luhmanns Version der Autopoiesis-Theorie sind dies nur Phänomene, die eine quantitative Zunahme von Komplexität der Struktur des Rechtssystems initiieren, aber nicht das Problem, auf das die Theorie antwortet. Ja, zwischen der Funktion des Rechts, „Erwartungen im voraus für den Enttäuschungsfall sicherzustellen und binärer Codierung" nach der Dichotomie Recht / Unrecht wird ein „innerer Zusammenhang" angenommen683. Damit ist die weitgehende Festlegung des Rechtssystems auf das klare wenn / dann-Schema als einer systemischen Spezifizierung der konstitutiven System / Umwelt-Unterscheidung nahegelegt. Dementsprechend sind Luhmanns Ansätze zur Einordnung verschiedener neuer Phänomenbereiche innerhalb des sich weiter ausdifferenzierenden Rechtssystems eher unbefriedigend. Dies gilt etwa für die Problematik der „Abwägung": Dabei wären zunächst punktuelle wenig spektakuläre einzelfallbezogene Interessenabwägungen von Formen der Prozeduralisierung zu unterscheiden, die aufgrund der „Einstellung" pluraler heterogener Belange einen situativen Selsbtdefinitionsprozeß des Rechts strukturieren. Luhmann thematisiert beides mit der Fragestellung, ob hier die „Einheit des Rechts" über Abwägungsformeln in ein auf das Operieren mit Differenzen gelegtes Rechtssystem wieder eingeführt werden solle — mit allen Folgen, die dies für dessen Operationsweise habe. Dies sei letztlich gleichbedeutend mit dem „Verzicht auf Programmatik" und laufe auf „um so höhere Anforderungen an rekursive Verknüpfung und Anschlußfähigkeit" hinaus 684 . Wenn Luhmann — u. a. gegen eine an anderer Stelle zur Abwägungung einer Figur des Planungsrechts vertretenen Auffassung — anmerkt, durch solche Formen der Abwägung werde keine Pluralisierung des Rechts herbeigeführt, sondern „nur" die Komplexität des Rechtssystems gesteigert, so liegt das Problem beim Wort „nur". Es geht in der Tat nicht um die Ablösung der Ordnungsbildung vom Recht / Unrecht-Code, aber andererseits ist das Problem auch nicht nur auf der Ebene der Programme zu lokalisieren 685 . Die neue Problematik ist m. E. mit Hilfe einer Neubestimmung der Funktion des Rechts genauer zu konstruieren: Gerade in einer Theorie des Systems im System legt sich die Frage nahe, ob die neuen Phänomene der Rechtsbildung mehr als eine Abweichung vom Modell der konditionalen Programmierung bedeuten können, ob sich darin nicht vielmehr eine neue Rationalität des Rechts ankündigt, die durchaus differenztheoretisch als eine neue Form der Selbstbeschreibung des Systems auf der Grundlage neuer Eigenwerte vorgesehen werden kann. Dazu muß man sich aber auf die Entstehung neuer Kommunikations- und Operationsformen einlassen. Funktionen dienen der Selbsbeschreibung komplexer Systeme, deren Operationsweise nicht mehr in 683 Luhmann, (Fn. 462), S. 174. 684 Luhmann, (Fn. 664), S. 24. 685 Teubner, (Fn. 673), S. 442.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

einem Subjekt zusammengeführt werden kann 686 . Die Annahme, daß alle Rechtsnormen konditional konstruiert sein müßten 687 , ist in dieser Allgemeinheit zu voraussetzungsvoll, wenn man sie nicht darauf reduzieren will, daß natürlich auch komplexe Abwägungsentscheidungen in eine wenn / dann-Form übersetzt werden können 688 . Entscheidend ist die Frage, ob das Recht nicht selbst Lernfähigkeit entwickeln muß, indem es in einer prozeduralen Logik Handlungsverknüpfungen so strukturiert, daß neue Möglichkeiten für Kommunikationen geschaffen werden, die so nicht erwartbar waren, aber nicht einfach zur Übernahme außerrechtlicher Interessenkonstellationen durch das Recht führen. Muß nicht die Funktion des Rechts, die bisher an der Stabilisierung von Erwartungen orientiert war, partiell auf Prozeduralisierung eingestellt und eine darauf aufbauende Selbstbeschreibung in das Rechtssystem eingeführt werden, ohne daß damit insgesamt die Funktion des Rechts neu definiert werden muß? Zwar wird nicht der Code pluralisiert, aber die Reduktion der neuen Phänomenbereiche auf eine bloße Erscheinung der Vervielfältigung der Programme oder gar als Verstoß gegen die differenztheoretische Konstruktion des Rechts erscheint nicht ausreichend. Man könnte die neuen Pluralisierungseffekte genauer als Folge einer „Polykontexturalität" der Rechtsfunktion spezifizieren. Es haben sich inzwischen unterschiedliche interne Umwelten des Rechtssystems ergeben, die insbesondere von unterschiedlichen Paradigmen der Ordnungsbildung der Gesellschaft ingesamt abhängig sind (dazu weiter unten). Das Recht muß seine Funktion und damit seine Selbstbeschreibung modizifizieren für Kontexte, die stärker von Kommunikationen zwischen Individuen, zwischen Organisationen (und Individuen) oder neuerdings von Phänomenen einer komplexen Selbstorganisation bestimmt werden 689 . In einem neueren Aufsatz hat Luhmann auch die Vermischung von Dogmatik und Rechtstheorie und damit eine veränderte Form der Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung des Rechtssystems für möglich gehalten. Dem ist zuzustimmen, wenn man zugleich die Pluralisierung der Rechtsfunktion mitberücksichtigt und das Monopol der „Konditionalität" auflöst. G. Teubner hat hier „neue Formen von Meta-Diskursen" gefordert 690 , die neue Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen Operationen eröffnen sollen, und eine Abkehr von „einer durch Dogmatik garantierten Rechtseinheit hin zu einer Vielheit von funktionalen Rechtsterritorien" gefordert 691 . Dies führt zu einer „Senkung der Konsistenzanforderungen" insofern, als das 686 Luhmann, (Fn. 457), S. 406. 687 N. Luhmann, The Self-Reproduction of Law and its Limits, in: G. Teubner (Hg.), Dilemmas of the Welfare State, Berlin/New York 1985, S. 111 ff. 688 Vgl. dazu H. J. Koch / H. Rüßmann, Juristische Argumentationslehre, München 1982, S. 64 f. 689 Vgl. auch Κ. H. Ladeur, Lernfähigkeit des Rechts und Lernfähigkeit durch Recht, JfR 4 (1990) S. 141 ff. 690 Teubner, (Fn. 674), S. 437. 691 Teubner, (Fn. 463), S. 129 f.

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System?

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Rechtssystem sich auf „rechtsinterne Systemkonflikte" und damit eine Pluralität von „Teilrechtsordnungen" einstellen muß, für deren Kompatibilisierung ein „funktionales Kollisionsrecht" 692 zu fordern ist. Diese Teilrechtsordnungen differenzieren sich aus, weil auch systemintern derselbe Sachverhalt durch unterschiedliche Verknüpfungsmöglichkeiten, Anschlußzwänge und Operationsweisen „polykontextural" werden kann: Daraus ergeben sich die „Kompetenzkonflikte" zwischen Zivilrecht und Steuerrecht, Wettbewerbsrecht und Rundfunkrecht, Verbraucherschutz und Wirtschaftsrecht, Wirtschaftsrecht und Umweltrecht etc. 693 . Solche Kollisionen sind nicht zu vermeiden, aber es ist in der Tat Aufgabe einer neuen Form der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Rechtssystems, unterschiedliche „Rechtsarenen" kompatibel zu halten und füreinander durchlässig zu machen, etwa verbesserte Prognosekapazität, die Konflikte früher entschärfen kann, durch Einbau von „störenden" Elementen der jeweils anderen Arena usw. 694 zu erzeugen. Das positivistische Rechtsverständnis benutzte die Beschreibung des Staates als juristischer Person nicht nur intern zur Kopplung der Operationen nach dem Modell der »Ableitung" des Besonderen aus dem Allgemeinen. Damit war zugleich eine Beschreibung der Gesellschaft als einer über den Staat zu steuernden Einheit verbunden 695. Die Umstellung der Selbstbeschreibung des Rechtssystems hängt gerade damit zusammen, daß seine Operationsweisen stärker heterarchisch über die Bildung von Teilordnungen entsprechend den unterschiedlich strukturierten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Arenen und darin bestehenden Netzwerken erfolgt 696 . Die Beobachtung der Gesellschaft als im Staat zusammenzufassende Einheit stößt mehr und mehr an Grenzen, da der Staat sich pluralisiert und die Heterarchie der Gesellschaft an sich selbst abbildet. Diese Entwicklung habe ich in dem Paradigma der „Gesellschaft der Organisationen" zusammengefaßt, das nunmehr im Prozeß des Übergangs zur Informationsgesellschaft von einem neuen Paradigma, dem der „Selbstorganisation" überlagert wird. Markt und Organisation werden unter dem Druck der Umstellung von einer Ressourcenökonomie zur Informationsökonomie immer stärker durchlässig füreinander 697 . Nicht nur die Zahl der Optionen wird gesteigert, sondern auch die Optionsräume werden im Übergang von einer Form der substantiellen zur prozeduralen Rationalität einem Prozeß der Selbständerung unterzogen: Die Gesell692 Teubner, (Fn. 463), S. 138. 693 Vgl. Κ. H. Ladeur, Rundfunkrecht und Kartellrecht, RuF 1990, S. 3 ff. 694 Vgl. Κ. H. Ladeur, Umweltrecht und technologische Innovation, UTR 5 (1988), S. 305 ff. 695 Vgl. auch N. Luhmann, „Etat" et Système politique, Traverses 3 3 / 3 4 (1985), S. 185 ff. 696 Vgl. Κ. Η. Ladeur, Verrechtlichung der Ökonomie-Ökonomisierung des Rechts?, in: Jb f. Rsoz + Rth 1982, S. 74 ff. 697 Vgl. K. Imai/H. Itami, Interpénétration of Organization and Market, Int. J. of Ind. Org. 2 (1984), S. 285 ff. ] 1 Ladeur

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schaft wird zu einer experimentierenden Gesellschaft, in der die Ziele, Mittel, Organisationen über Verfahren der Selbstdefinition generiert und modifiziert werden. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß aufgrund der Eigenart der Ressource „Information" immer mehr Möglichkeiten geschaffen werden: Information wird nur beschränkt verbraucht. W. B. Arthur 698 hat dies dahin zugespitzt, daß die rohstoffabhängige Industrie vom „Gesetz abnehmender Erträge" beherrscht sei, während der vom „technischen Wissensstand abhängige Teil der Volkswirtschaft" vom Gesetz zunehmender Erträge bestimmt werde. Das bedeutet insbesondere, daß die Informationsindustrie einen großen Vorlauf benötigt, der komplexe synergetische Forschungs-, Entwicklungs- und Fertigungsprozesse erfordert. Diese Prozesse verlaufen aber weit weniger systematisch und spezialisiert als traditionelle Produktentwicklungen, ihre Ergebnisse sind schwer prognostizierbar, da sich ganze Netzwerke neuer Möglichkeiten erschließen, die wegen des informationellen Anteils der Produkte durch postive Rückkopplungseffekte mehrfach nutzbar seien. Darauf wird noch zurückzukommen sein. An dieser Stelle ist festzuhalten, daß es bei der Entwicklung einer rechtstheoretischen Variante der Systemtheorie, die sich als Theorie des Systems im System versteht, darauf ankäme, ihre historische Entstehung als residierte Selbstbeschreibung an den Grenzen der bisherigen Theorie zu lokalisieren und nicht an den konkurrierenden Theorien vorbei die Stellung eines Beobachters zweiter Ordnung in das System einzubauen699. Die zu starke Akzentuierung des „Startpunktes" der einzelnen Teilsysteme 700 läßt die allgemeine Interpretation, die das System mit seiner Selbstbeschreibung assoziiert, in den Hintergrund treten: Die Unterschiede, mit denen das System operiert, sind immer verbunden mit expliziten dogmatischen Verknüpfungsregeln (verschiedenen Anschlüssen zu früheren und für künftige Entscheidungen) und mehr oder weniger implizit bleibenden theoretischen Interpretationen, die die Verknüpfungsregeln intern aufeinander abstimmen und extern (im Verhältnis zu anderen Systemen) mit Wahrscheinlichkeitsannahmen über global wirkende Selbststabilisierungsmechanismen abstützen. Diese theoretischen Interpretationen sind in der Rechtstheorie im Unterschied zur Rechtspraxis ihrerseits zu explizieren. Die Eigenkomlexität der „semantischen Artefakte", mit denen das System seine Selbst- und Fremdbeschreibungen sowie -Interpretationen vornimmt, enthalten zwangsläufig weit komplexere Verschiffungen, als dies mit dem Begriff „Beobachtung / Beschreibung zweiter Ordnung" indiziert wird. Auch wenn das Rechtssystem natürlich nicht die Wirklichkeit 698 w. Β. Arthur, Positive Rückkopplung in der Wirtschaft, Spektrum der Wissenschaft 1990 H. 8, S. 122 ff., 129; diesen Effekt vernachlässigen sozialwissenschaftliche Analysen zur Übertragbarkeit des zweiten Gesetzes der Thermodynamik auf die Gesellschaft. 699 Vgl. auch J. Wieland, Zur Ökonomie, Die Wirtschaft als autopoietisches System — einige eher kritische Überlegungen, Delphin X 1988, S. 18 ff.; ders., Eine Replik zweiter Ordnung (auf Luhmann), Delphin XII 1989, S. 92. 700 Vgl. etwa in der Ökonomie die „Zahlung" in Luhmanns Wirtschaftsmodell, Luhmann, (Fn. 570).

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abbildet und nur mit seinen Entscheidungen operieren und nur seine Unterscheidungen beobachten kann, so muß es sie doch auf die Selbstmodifikationsprozesse einstellen, die ständig in anderen Systemen erzeugt werden. Wenn die Selbstorganisationsprozesse ζ. B. in der Wirtschaft erheblich an Komplexität gewinnen, dann muß es eine rechtliche Konstruktion entwickeln, mit der es zunächst seine Funktion vergleichen, aber auch seine internen dogmatischen Regeln spezifizieren muß. A l l dies bedeutet nicht, daß das Rechtssystem ζ. B. das Wirtschaftssystem steuern könnte oder sollte, es bedeutet auch nicht, daß das Rechtssystem nunmehr doch „Gerechtigkeit" im Einzelfall zu verwirklichen hätte. Aber das rechtliche Modell der Gesetzesanwendung und die darauf aufgebaute Dogmatik entsprechen einem grundlegenden hierarchischen linearen Gleichgewichtsmodell, das von der Möglichkeit des Ausgleichs der vielfältigen individuellen Fluktuationen auf dem Markt in einem Ruhepunkt ausgeht. Darauf ist auch die Funktion des Rechts eingestellt, soweit sie in der Stabilisierung von Erwartungen und in der Nutzung von Konflikten für dieses Ziel gesehen wird 7 0 1 . Wenn aber eine Gesellschaft mindestens teilweise von großen organisierten kollektiven Akteuren bestimmt wird und dieses Paradigma das traditionelle liberale Modell der „Gesellschaft der Individuen" überlagert und sekundär modelliert wird, so muß dies Folgen auch für das Rechtssystem haben. Es zeichnen sich zeitabhängige neue Komplexitätsstufen ab, die der Tendenz zur beschleunigten, von der Nutzung der Ressource „Information" bestimmten Flexibilisierung und Selbständerung entsprechen und Markt- und Organisationsformen füreinander durchlässig machen. Wenn das Recht die Beobachtung seiner eigenen Unterscheidungen und Entscheidungen nicht auf solche Prozesse der Selbstmodifikation der Gesellschaft umstellt, droht die Gefahr, daß es zu perversen, ungewollten Effekten kommt. Wenn man all dies in Rechnung stellt, zeigt sich, daß die Autonomie des Rechtssystems heute wenigstens teilweise ganz anders zu konstruieren ist, als etwa zur Zeit des Rechtspositivismus, dem ja selbstverständlich und notwendigerweise ebenfalls ein simplifiziertes — zu Unrecht als ideologisches Konstrukt bezeichnetes — Gesellschaftsmodell zugrunde lag, das der Operationsweise des Rechtssystems durchaus angemessen war. Dieses Urteil gilt um so mehr, wenn man die selbst bei Laband zu findenden grundsätzlichen Überlegungen über die Parallelität von rechtlichen Institutionen und Gesetzmäßigkeiten in der Natur für eine genauere theoretische Einordnung des Rechtspositivismus heranzieht 702. Bei Luhmann 703 scheint die starke Akzentuierung der Basisoperation auch die „strukturelle Kopplung", die zwischen Systemen entsteht, auf die 701 Luhmann, (Fn. 667), S. 73 ff. 702 p. Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, 7. Aufl., Tübingen 1919, Einl. S. X; vgl. auch G. F. Puchta, Pandekten, 9. Aufl., Leipzig 1863, S. 34, 37. 703 Vgl. N. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 1990, S. 176 ff.; ders., Wirtschaft und Recht — Probleme struktureller Kopplung, Ms. 1989; ders., Economia e diritto — Problemi di collegamento strutturale, in: L'informazione neireconomia e nel diritto, Mailand 1991, S. 27 ff. 11*

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„Irritation" des jeweils anderen Systems durch Ereignisse festzulegen. Zwar können nach diesem Ansatz kognitive Fragen auch an das Recht gerichtet werden, wenn es um die „Interpretation" einer Rechtsnorm geht, aber dabei ist die Perspektive auf die Selbstinterpretation in einem sehr restriktiven Sinne eingestellt 704 . Die kognitive Offenheit gegenüber der Umwelt (und anderen Systemen) scheint dagegen auf eher punktuelle, wenn auch häufige Perturbationen reduziert zu sein. Was darüber hinausgeht, ist offenbar für das Rechtssystem (und allgemein für Systeme) nicht mehr beobachtbar und beschreibbar. Natürlich kann das Rechtssystem nicht die ungeordnete Komplexität anderer Systeme in seinen Unterscheidungsbereich übernehmen. Aber wenn man die Binnenstruktur des Rechts, und vor allem die durch die Sprachlichkeit von (Selbst-)Beschreibungen erzeugte Verschleifung von Kognition, Rechtsprogramm, Interpretation und Funktion berücksichtigt und die jeweiligen (Selbst-)Beschreibungen von Unterscheidungen sowie die Pluralität von Beobachtungen und Beobachtern erster, zweiter und folgender Ordnung nicht punktuell auseinanderzieht, wird der Weg frei zu einer komplexeren Wiedereinführung der System / Umwelt-Differenzierung in das Rechtssystem. A l l dies ist selbstverständlich — dies sei noch einmal zu betonen — nicht gleichbedeutend mit der Annahme, das Rechtssystem könne nun, von den engen Grenzen der „Rechtsanwendung" befreit, endlich Gerechtigkeit durch komplexe Wirklichkeitskonstruktion und -Steuerung herstellen. Aber Offenheit des Systems kann nicht nur auf der Ebene der Programmierung durch den Gesetzgeber 705 zugelassen sein. Das Moment der Nutzung der Binnenstruktur von kollektiven Akteuren für die strategische Bildung von Erwartungen 706 in organisational aggregierten Arenen über die Kompatibilisierung von Werten („Abwägung") zwischen politischen Parteien, Gruppen, privaten Großorganisationen etc. kann Luhmann 707 nur auf eine „Ziisatzfunktion" verweisen, die von der Rechtsfunktion offenbar getrennt zu halten ist: Das Recht kann „über Rechtsanwendung hinaus" die Funktion des „Streitmanagers" oder des „Schlichters" übernehmen und „bei diesen Aktivitäten", aber offenbar nur bei diesen, tritt der Gesichtspunkt der konditionalen Programmierung zurück. Akzeptabel erscheint eine solche „Zusatzfunktion" nur deshalb, weil man „auf Antrag einen entsprechenden Entscheidungsprozeß ablaufen lassen kann" 7 0 8 , in dem dann alternativ wieder auf die Hauptfunktion, nämlich das rechtliche Entscheiden, zurückgegriffen werden kann.

704 Frey, (Fn. 665), S. 42. 705 Frey, (Fn. 665), S. 46. 706 VGL. F. Hase / Κ. H. Ladeur, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System, Frankfurt/New York 1980. 707 Luhmann, (Fn. 675), S. 10. 708 Luhmann, (Fn. 675), S. 12.

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Die situative Orientierung rechtlichen Entscheidens, die letztlich mit dem Zerfall des über die Einheit von Subjekt und Staatssubjekt, von regelmäßigem Handeln und allgemeiner Handlungsregel stabilisierten Ordnungsgleichgewichts und den Übergang zu einer horizontalen, heterarchischen prozeßhaften Bildung von Ordnung aus Komplexität nachzeichnet, läßt sich in ein „autoregulatives Transformationsgeschehen" 709 einordnen, das nur innerhalb eines nicht-linearen, auf Selbstmodifikation, Pluralisierung angelegten Ungleichgewichtsmodells zu reflektieren ist. Es ist — wie oben angedeutet — auf rekursive und projektive Momente einer experimentellen, mit den Mechanismen der Selbsterfüllung von Prophezeihungen operierenden Modellierung angelegt. Für das Rechtssystem bedeutet dies, daß ein selbständerndes Recht sich weitgehend in und durch Verfahren aufgrund der Lektüre seiner eigenen Anwendung 710 über experimentelle Mechanismen der Abstimmung („Abwägung") prozessiert wird. Die für die Theorie autopoietischer Systeme konstitutive Annahme, daß Personen nicht Bestandteile des Gesellschaftssystems sind — eine Annahme, der grundsätzlich zuzustimmen ist —, ist auch erst aufgrund der historischen Entwicklung zu einem höheren Komplexitätsniveau der Gesellschaft der Organisationen eine produktive Hypothese geworden 711 . Die Konstitution der Gesellschaft durch das Subjekt basierte auf der Annahme der grundsätzlichen Gleichheit in der Teilhabe aller an „derselben" menschlichen Vernunft. Aber der Aufstieg der Organisation zum dominierenden Akteur hat dazu geführt, daß es sinnvoller ist, „Positionen" in einem komplexen Netzwerk von Relationen als „Elemente" der Gesellschaft zu betrachten. Die Gesellschaft als Netzwerk interdependenter „Positionen", das sich über eine Fülle von Beobachtern selbst entwirft und darüber im Bewußtsein des Subjekts nicht mehr zu lokalisierenden kollektiven emergenten „hologrammatischen" Effekt erzeugt 712 , ist in der Tat nicht mehr sinnvoll als Gemeinschaft von gleichen Subjekten zu konzipieren. Diese Einsicht ist gerade deshalb erforderlich, weil sich die Gesellschaft immer mehr über die Verteilung von Informationen reproduziert 713 und Informationen nur über relationale assoziative Kontexte austauschbar und verständlich werden 714 . Demgegenüber baut die Ressourcen-Ökonomie auf einem deduktiven Denken auf, nach dem die Information schon in der Ausgangshypothese (ζ. B. im Gesetz) enthalten ist. Das neue relationale Paradigma, das mangels eines festen Halts im Subjekt a-zentrisch orientiert ist, geht von einer Gleichzeitigkeit vielfältiger Relationierungsmöglichkeiten aus, aus dessen durch experimentelle Verschleifung Opera709 Meyer-Drawe, (Fn. 128), S. 271. 710 Atlan, (Fn. 385). 711 J. S. Coleman, The Asymmetrie Society, New York 1982, S. 68. 712 Fischer (Fn. 349), S. 27 f. 713 Meyer-Drawe, (Fn. 8), S. 16; Vattimo, (Fn. 91), S. 94; P. Lévy, La machine univers. Création, Cognition et culture informatique, Paris 1987, S. 39, 209, 212. 714 Pinson / Favre, (Fn. 458).

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tionen rekursiv und „präkursiv" über vorgeordnete Anschlußzwänge und laterale Verkettungen generiert werden. Dieses experimentell-innovative Moment, das auch das Rechtssystem prägt und prägen muß, weil unter Bedingungen des „stochastischen Chaos" in der Gesellschaft die vorhandenen Informationen, die erprobten Rechtserwartungen und die darauf aufbauende „Rechtsanwendung" allein nicht mehr ausreichend sind, muß die Flexibilität und Diversität der generativen Kapazität einer über ein Netzwerk von Relationen distribuierten und organisierten Information im Rechtssystem auch die Suche nach und die Produktion von neuen Möglichkeiten eröffnen. In Luhmanns Auseinandersetzung mit neueren Phänomenen der Rechtsbildung wird immer wieder dieses generative Moment der die Rechtsanwendung transzendierenden „Recht-fertigung" (Wiethölter) auf eine bloße Variante der Rechtsanwendung reduziert. So wird etwa die „lnteressenjurisprudenz" 715 letztlich darauf reduziert, daß das Rechtssystem die Differenz von System / Umwelt intern konstruiert, „also über die Unterscheidung von Fremdreferenz und Selbstreferenz verfügt". Davon ausgehend „liegt die Vermutung nahe, daß das Rechtssystem die Selbstreferenz über Begriffe, die Fremdreferenz dagegen über Interessen faktorisiert" 716 . Das Rechtssystem ist auf „ständige Verbegrifflichung" der Interessenpflege festgelegt. Dies ist sicher richtig, da — wie erwähnt — eine punktuelle Konfliktbewertung nach unspezifischen Gerechtigkeitserwägungen nicht angängig sein kann. Aber wie die „internen Strukturierungen interner Operationen" geleistet werden kann und welcher Funktionswandel dem zugrunde liegt, wird nicht reflektiert. Hier bleibt die Theoriebildung, weil zu sehr an der Fortsetzung der Operation von Ereignis zu Ereignis orientiert, zu wenig einläßlich. Ähnliches gilt für die Untersuchung zur Stellung der Verfassung im und zum Rechtssystem; deren Bedeutung soll vor allem darin bestehen, daß „Höherwertigkeit . . . im Rechtssystem selbst konstituiert werden muß" 7 1 7 . Die Verfassung wird zum „autologischen Text", in dem sie „selbst wieder vorkommt", da sie die eigene Änderbarkeit begrenzt. Der „Code Recht / Unrecht wird dem gesamten Recht übergeordnet". Aber es wird dabei vernachlässigt, daß die Verfassung als Rechtsverfassung, insbesondere als Gegenstand gerichtsfähiger Rechtskonflikte erst möglich wird, wenn explizit und implizit die Einheit des Staates als Rechtssubjekt aufgegeben und damit die Einheitlichkeit der Selbstbeschreibung des politischen Systems im Staat 718 durch die Pluralisierung von Teilorganisationen abgelöst wird, die partialisierte und konkurrierende Selbstbeschreibungen des Staates liefern. „Verfassungswerte" liefern den Rahmen, sozusagen die „Chips" mit einem Nennwert, dessen realer Kurs letztlich vom Verfassungsgericht provisorisch festgesetzt und immer wieder neu ins Spiel gebracht wird. Insofern erscheint die Annahme, „Werte" repräsentierten im Verfassungs-

715 716 717 718

Luhmann (Fn. 675), S. 10. Luhmann (Fn. 675), S. 10. Luhmann, (Fn. 703). Luhmann, (Fn. 695).

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recht das „was man früher wohlgeordnete Gesellschaft" 719 genannt habe, nicht sehr fruchtbar. Es handelt sich auch kaum um Festlegungen für die „Normalkommunikation", über das, „was unterstellt wird". Produktiv erscheint es gerade hier, den paradoxen, experimentellen, projektiven, auf Selbsterfüllung angelegten Charakter der „Werte" zu betonen. Sie sind geradezu das Futur II des Rechtssystems. Die Stellung der Organisationen und, in jüngster Zeit, die Entwicklung neuer Formen der flexiblen Selbstorganisation signalisieren die Notwendigkeit des Übergangs zu einer komplexen „lateralen Allgemeinheit" 720 , die in einer variablen, situativen, pluralen Ordnung der Verknüpfungen jeweils die Maßstäbe der Bewertung mitproduziert 721 , die das „Passen" der Spielzüge in ein Netz von Relationierungen beobachten helfen. Das System hat keine vollständige Herrschaft über den von ihm produzierten Sinn, deshalb benötigt es viel häufiger eine mit den Einzelentscheidungen zu mobilisierende und fortzuschreibende, also durch Lektüre ihrer eigenen „Anwendung" sich selbst transzendierende Selbstbeschreibung 722. 2. Selbstbeschreibung des Rechtssystems und die Konstruktion nicht-linearer Ungleichgewichtsmodelle Die Notwendigkeit der Einführung einer Selbstbeschreibung in das Rechtssystem ist in der hier angenommenen Perspektive weniger durch den Bezug auf die Alternative einer optimalen Anpassung an Umweltbedingungen zu spezifizieren 723 . Dies kann keine Rechtstheorie wollen; die entscheidende Veränderung, die in einer Rechtstheorie als Theorie autonomer Systeme verarbeitet werden kann und muß, besteht eher darin, daß das Rechtssystem nicht mehr mit einem stabilen Umweltmodell operieren kann, wie das Modell der Anwendung eines Gesetzes, das durch diesen Vorgang nicht selbst verändert wird und durch Dogmatik, Interpretationsregeln u. ä. interne Strukturen optimiert wird. Vielmehr muß das Recht mit pluralen gesellschaftlichen (und natürlichen) Umwelten rechnen, die mit Selbstorganisations- und Selbstmodifikationsfähigkeit ausgestattet sind und ihrerseits nicht einzelne Entwicklungstrajektorien innerhalb eines sich in bestimmten Ruhepunkten insgesamt erhaltenden Gleichgewichts zu optimieren suchen. Das Rechtssystem benötigt eine höhere Kapazität zur Selbstbeschreibung, weil es sich auf nicht-lineare Ungleichgewichtsmodelle einstellen muß, die nicht auf einem stabilen Bestand an Wahrscheinlichkeitsannahmen über die eigene Funktion und den Aufbau der Umwelt basieren, sondern (mindestens für einen neuen Phänomenbereich) eine prozedurale Rationalität zweiter Ordnung entwik719 720 721 722 723

Luhmann, (Fn. 703). Waldenfels (Fn. 143), S. 35. Waldenfels, (Fn. 143), S. 39. Casti, (Fn. 606), S. 157. Teubner, (Fn. 463), S. 23.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

kein muß, die mit der Pluralität und Modellierbarkeit von konkurrierenden Möglichkeitsräumen rechnet, innerhalb deren erst einzelne Entwicklungslinien vorstellbar werden. Darauf muß das Rechtssystem seine Selbstbeschreibung abstimmen, um einerseits mehr Möglichkeiten zu eröffnen oder innerhalb der Selbstmodifikationsprozesse der anderen Systeme auftretenden Blockierungseffekte begrenzen zu können. Die neuen Varianten der Selbstbeschreibung des Rechtssytems müssen auf die Notwendigkeit zur Selbstrevision und Selbstreflexion der eigenen Operationen und damit auch der Grenzen der Selbstbeschreibungsfähigkeit und der Selbstbeherrschbarkeit von Systemen berücksichtigen und ihre Selbstreferenz durch Verstärkung ihres konstruktiven und kreativen Charakters entwickeln. Dafür müssen Modelle der strategischen „Punktierung" von Vernetzungs- und Rückkopplungseffekten zwischen Operationen, der prozeßhaften Abstimmung von Operationen untereinander statt ihrer Deduktion aus unverändert bleibenden Normen entworfen werden, damit so der durch lineare Gleichgewichtsmodelle gesteckte Rahmen überwunden werden kann. Selbstbeschreibung enthält immer ein kreatives Moment der nicht beherrschbaren, überschießenden Selbstinterpretation, die neue Möglichkeiten eröffnet. Dieser kreative, experimentelle, generative Charakter der Selbstbeschreibung / Selbstinterpretation des Rechtssystems kommt auch in G. Teubners Konzeption zu kurz, in der die Selbstbeschreibung auf ein „internes Steuerungsprogramm" reduziert wird 7 2 4 , das die Systemprozesse so organisiert, daß ein „Wechselspiel von Selbstbeschreibung und Operation" in Gang gehalten wird. Ein produktives Konzept der Selbstbeschreibung eines Systems muß gerade die Entwicklung von Lernfähigkeit akzentuieren, die durch die Lektüre der eigenen „Anwendung", also positive Rückkopplungseffekte auf der Grundlage von Ungewißheit, von Entscheiden unter Unentscheidbarkeitsbedingungen, erzeugt wird oder besser noch, sich selbst erzeugt 725 . Im Anschluß an das oben Ausgeführte ist daran zu erinnern, daß eine (Rechts-) Theorie des Systems im System auch die früheren Modelle des Rechts der „Gesellschaft der Individuen" und der „Gesellschaft der Organisationen" nicht einfach überwindet, sondern mit ihnen weiter operiert, soweit die gesteigerte Selbstorganisations- und Selbstmodifikationsfähigkeit der Umwelt nicht erheblich ins Gewicht fällt. Aber innerhalb der komplexer gewordenen, auf eine Dynamik der Selbstkonstruktion und des Selbstentwerfens eingestellten Selbstbeschreibung erscheinen solche Situationen eher als Sonderfälle einer verlangsamten Selbstmodifikation der Gesellschaft 726, die als Gleichgewichtszustand beschrieben werden können und die keine wesentliche Berücksichtigung von Rückkopplungs- und Vernetzungseffekten zwischen „Anwendungen" des Rechts verlangen. Die komplexere, auf Selbst- und Fremdänderung von Selbstorganisations724 Teubner, (Fn. 463), S. 23. 725 Morin, (Fn. 343), S. 61. 726 M. Serres, Le parasite, Paris 1980, S. 98.

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System?

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Prozessen angelegte Selbstbeschreibung des Rechtssystems ist deshalb ihrerseits eher eine auf der »Anwendung" der früheren Selbstbeschreibungen basierende sekundäre oder tertiäre Remodellierung des Rechtssystems. Unter diesem Aspekt ist auch Luhmanns Annahme problematisch, daß „Gerechtigkeit" kein Kriterium einer Selbstbeschreibung ausdifferenzierter Rechtssysteme sein könne, da dies darauf hinauslaufe, daß das System nicht die Differenz von System / Umwelt in sich selbst einführe, sondern seine Identität sozusagen kompakt als solche, ohne das Operieren mit Differenzen selbstzubeschreiben suche 727 . Gerechtigkeit ist ein Kriterium der früheren Selbstbeschreibungen des Rechtssystems gewesen, mit denen dann auch die komplexeren Selbstbeschreibungen weiter operieren können und müssen, wenn auch in ihrer eigenen systemisch-relationalen Operationsweise: Gerechtigkeit als Problem, nicht als Lösung, kann auch in einer komplexen prozeduralen Rationalität zweiter Ordnung, einer Rationalität des Entwurfs von Möglichkeitsräumen, „prozessiert" werden, in dem Raum für die Reflexion des Problems, das System und Subjekt wechselseitig füreinander bedeuten, insbesondere durch die Erhaltung der Durchlässigkeit von Binnenrationalitäten geschaffen werden muß und „Gerechtigkeit" jedenfalls nicht ohne Berücksichtigung der vorhandenen und weiterzuentwickelnden Systembaumittel möglich ist, also selbst in einer experimentell-relationalen Sprache thematisiert werden muß. In der hier eingenommenen Perspektive läßt sich auch das Verhältnis von Rechtssystem und politischem System anders als bei Luhmann spezifizieren: Die Funktion der Produktion kollektiv bindender Entscheidungen728, insbesondere des Staates als Selbstbeschreibung des politischen Systems, ist modal konzipiert und bleibt insofern unscharf, als auch das Rechtssystem bindende Entscheidungen produziert und andererseits der Staat mehr und mehr Entscheidungen trifft, die Handlungsnetzwerke influenzieren und nicht Alternativen ausschließen. Umgekehrt werden auch im ökonomischen System wichtige Entscheidungen getroffen, die ohne kollektiv bindend zu sein, Entscheidungsalternativen des Staates praktisch festlegen. Gerade das Kriterium der kollektiven Bindungswirkung erscheint eher orientiert an einer traditionellen Politikkonzeption. Demgegenüber müßte auch hier wieder gefragt werden, welche neuen Phänomene einer politischen Theorie des Systems im System bedürfen. Diese neuen Effekte sind auch hier gerade in dem Auftreten einer Tendenz zur Steigerung der Selbstmodifikationsfähigkeit und der Notwendigkeit komplexer Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungsfähigkeit von Systemen zu suchen. Vor diesem Hintergrund betrachtet, wandelt sich der Staat von der kollektiv erzeugten Ebene der Selbstbeschreibung eines Allgemeininteresses (das durch eine politische Öffentlichkeit „vorstrukturiert" wird) über den Zwischenschritt der sekundären Modellierung durch das Paradigma des Staates der Gesellschaft der Organisationen als eines Mediums 727 Luhmann, (Fn. 667), S. 374 ff. 728 Luhmann, (Fn. 695), S. 186.

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der Abstimmung und des Austausches auf der Grundlage von durch Organisationen erzeugten Modellen zum Staat als Selbstbeschreibung eines (politischen) Systems von Systemen. Daran ist einerseits zum Ausdruck gebracht, daß der Staat an ein kollektives emergentes Allgemeininteresse anknüpfen muß, daß dieses aber nicht mehr hierarchisch als das von den Individuen getrennte, ihr Interesse übergreifende Gemeinsame (der Regelmäßigkeit) konstruiert werden kann, sondern daß systemisch als durch die anderen Systeme vorstrukturiert beschrieben werden muß. Der Staat steht insofern „über" den anderen Systemen, als er in alle anderen nach „eigenen" Kriterien intervenieren kann, aber zugleich besteht dieser „Eigenwert" nur darin, den anderen Systemen Selbstbeschreibungsund Selbstreflexionsfähigkeit für die Produktion ihrer Eigenwerte zur Verfügung zu stellen. Die Paradoxie besteht darin, daß der Staat, als System konzipiert, selbst ein kollektiver emergenter Effekt ist, der nicht mehr von den Individuen (als „Volk"), sondern von Systemen generiert wird, ohne deshalb aber ein MetaSystem sein zu können. Dies ist keine Selbstbeschreibung des Staates, die alle vorhergehenden abzulösen beansprucht, es ist eine tertiäre Modellierung des ursprünglichen Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, das spezifiziert wird für neue Konstellationen, die mit dem Auftreten von Selbstorganisationsprozessen verbunden sind und mit anderen „traditionell" modellierten Phänomenbereichen abgestimmt werden muß. Diese These nimmt die traditionelle Konzeption einer unbestimmten Souveränität des Staates insofern auf, als sie die Bindung des liberalen Staates an die Form der Allgemeinheit des Gesetzes und seine Verweisung an die Gesellschaft der Individuen zum Ausdruck bringt. In dieser Konzeption kann der Staat (modellhaft) alles, aber nur durch Ziehung von „Grenzen" regeln, damit die Setzung von Zielen letztlich den Individuen überlassen bleiben kann. In der sekundären Modellierung wird dieser Phänomenbereich ergänzt um Prozesse der Abstimmung von und Verhandlung über Wirklichkeitskonstruktionen, die über Organisationen generiert und in Modelle staatlichen Handelns übernommen werden. In der tertiären Modellierung wird die Selbstbeschreibungskapazität des Staates darauf eingestellt, die Selbstorganisations- und Selbstbeschreibungsfähigkeit der anderen Systeme als eine Art Katalysator anzuregen, zu restrukturieren, zu entparalysieren, aber nicht durch seine eigene Organisation zu ersetzen. Demgegenüber hat das politische System im weiteren Sinne (einschließlich Presse, Rundfunk, politische Öffentlichkeit etc.) die Funktion, ein Forum für Probehandeln und die Generierung von nicht-funktional gebundenen und spezifizierten Innovationen zu schaffen. Die Unterscheidung zwischen Rechtssystem und politischem System ist relativ geworden. Seitdem rechtliches Entscheiden nicht mehr notwendig deduktiv erfolgt. Rechtliches Entscheiden verfährt aber begründend von Fall zu Fall, es muß sich, auch wenn es innovativ ist, auf früher geschaffene Anschlußzwänge und neue Möglichkeiten beziehen. Aber das politische System kann seine Konsistenz nur erhalten, wenn es die Kompatibilisierung und Abstimmung von Strategien über die Selbstbeschreibungs- und Selbstbeobachtungskapazität

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System?

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des Rechtssystems strukturiert. Dabei unterscheidet sich die Rechtsprechung durch ihre distribuierte, von Fall zu Fall einsetzbare Fähigkeit zur Erzeugung selbst- und fremdbindender Entscheidungen. Die Konsistenz des Rechtssystems ist deshalb von der Stabilisierung von „Eigenwerten" durch Dogmatik, Interpretationsregeln etc. abhängig, über die die Bildung von und Bindung an Entscheidungsnetzwerke erhalten werden kann. Wie oben gezeigt, kann auf das Subjekt auch in einer systemisch konstruierten Rechtstheorie nicht verzichtet werden. Gerade die offene, kontextabhängige Form des Subjekts, die nicht mehr nur Zurechnungseinheit für die von Handlungsfolgen entlasteten Freiheitsrechte ist, sondern selbstreferentiell zum Gegenstand von Verhandlungen über Beteiligung an und in Organisationen und Handlungsnetzwerken wird, erfordert eine Neukonstruktion des traditionellen Verhältnisses von allgemeinem (Staats-)Subjekt und individuellem Rechtssubjekt. Es bedarf prozeduraler Regeln über das Aushandeln von Konventionen über das selbstreferentiell gewordene Subjekt, die aber die Selbstreferentialität der nicht mehr über Subjekte beherrschbaren Systeme in Rechnung stellen müssen. Das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie kann in einer artifiziell gewordenen Gesellschaft nur konventionalisiert werden. Extreme Autonomieansprüche tendieren dazu, die mit der Konstruktion der (Rechts-)Subjektivität verbundene Entlastung der sozialen Beziehungen von umfassender Motivabhängigkeit rückgängig zu machen (diese Abhängigkeit wird in Intimbeziehungen freiwillig akzeptiert). Die Grenzen zwischen vorausgesetzter privater Selbstbindung und öffentlicher Regelsetzung werden durch soziale Verteilung von Lebenschancen zunehmend disponibel. Aber dies ist selbst ein Systemproblem, das nicht durch regellose Individualisierung von Ansprüchen gelöst werden kann. Die Paradoxie, daß Autonomie die (Voraus-)Setzung von Zwängen impliziert, ist nicht aufhebbar. Das heißt Subjektivität muß ihrerseits konventionalisiert werden. Dies führt auch zur Reflexion über die Bedingungen der früher im besonderen Gewaltverhältnis eingeschlossenen und dem Recht vorausgesetzten Bildung von Subjekten im wörtlichen Sinne, wenn die Familiensozialisation nicht mehr oder weniger selbstverständlich unterstellt werden kann oder die Beschleunigung der Selbstmodifikationsfähigkeit der Gesellschaft und ihrer selbstorganisierenden Beziehungsnetzwerke die interne Selbstorganisationsfähigkeit des Individuums überfordert. Zur Verarbeitung dieses Problems der Erhaltung einer minimalen Rationalität der Individuen als „Eigenwert", mit dem sie sich auf die Selbstorganisationsprozesse der Gesellschaft einlassen, bedarf es auch des Staates als einer Institution, in der die Selbstbeschreibungen der Gesellschaft aufeinander bezogen und so füreinander durchlässig gehalten werden, daß die Differenzierung der Systeme und ihrer Eigenwerte die Selbstdestruktion und Selbstblockierung verhindert wird. So muß der Staat insbesondere über das Erziehungssystem, die Setzung von Regeln für interorganisationale, die Grenzen der Systeme überschreitende Kooperation („konzertierte Aktionen"), die Entwicklung von Verfahren für das Handeln unter Ungewißheitsbedingungen etc. längerfristige Perspektiven einer Kontinuität der

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

Selbstorganisation im Wandel als einer Form der systemisch-relationalen und prozeduralen Allgemeinheit generieren, die die substantielle Allgemeinheit des traditionellen Staates und der Gesellschaft der Individuen ablöst und dabei insbesondere die Möglichkeit zur Bildung selbstreferentieller Erwartungen von Erwartungen ermöglichen, die den Rückfall der Individuen in den leeren narzißtischen Selbstbezug verhindern. (Genau dazu tendieren neuere linke Konzeptionen, die das Kollektive als das Nicht-Selbst vom Selbst der Individuen abspalten und das Nicht-festgelegt-sein des Individuums als seine Autonomie reklamieren und im permanenten „Widerstand" in Bewegung zu halten suchen. Die Abstimmung der flexiblen, verflüssigten Form von Subjektivität auf die différentielle Systemrationalität und ihre Widersprüche wird verweigert und der Außenwelt die leere Selbstreferenz der „eigenen" Zwänge entgegengesetzt). Die Perspektive des Subjekts, das zwar nicht mehr im Zentrum steht, das keine feste Identität mehr in dem traditionellen Verweisungszusammenhang von Subjekt, Objekt und Vernunft findet, sondern seinen „Eigenwert" über die Resonanzfähigkeit für die Entwicklung der Systeme erhalten muß, bildet eine kontrastierende Folie, auf die die systemisch-relationalen Eigenwerte immer wieder durch Abstimmungsprozesse zurückbezogen werden müssen. Auch hier zeigt sich, daß die von den früheren Paradigmen aufgeworfenen Fragen nicht obsolet geworden sind, sondern nur reformuliert werden müssen. Dabei geht es nicht mehr um einen stabilen Kern der Subjektivität, die Garantie von Handlungsfreiheit oder von Handlungschancen, sondern in einer Perspektive der Selbstreferenz die Erhaltung eines Entsprechungsverhältnisses zwischen einem nicht-identitären, dezentrierten Subjekt und den Selbstorganisationsprozessen, die die sich selbst modifizierende, ihre Möglichkeitsräume modellierende Gesellschaft charakterisieren. Daraus ergibt sich auch als öffentliche Aufgabe die Ermöglichung der Vereinbarung von Regeln und Konventionen darüber, welche wechselseitigen Ansinnen in einer von Selbstreferenz bestimmten Gesellschaft, in der das Subjekt seine Grenzen nicht mehr einfach in Gesetzen oder Gesetzmäßigkeiten findet, an den und vom Staat, Organisationen etc. zur Erhaltung der Selbständerungsfähigkeit der Subjekte gestellt werden können. Was schuldet „die Gesellschaft" den Individuen und umgekehrt? Wie ist das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie des Subjekts in einer Gesellschaft zu bestimmen, die weitgehend artifiziell geworden ist und potentiell alles regeln kann, ohne aber die Folgen absehen zu können? Dazu ist auch die Entwicklung von Formen der Selbstsozialisation erforderlich, die dem nicht-linearen Ungleichgewichtsmodell der sich entwickelnden Gesellschaft entsprechen, aber nicht in die Paradoxie führen dürfen, daß — da alles „gemacht" ist — Ansinnen nicht an das Subjekt, sondern nur an den Staat zu stellen sind und damit die Eigenständigkeit des Kollektiven in der Selbstreferenz des Subjekts zum Verschwinden gebracht wird. Die klassische, auf der Identität basierende Konzeption der Subjektivität kann nicht ohne den Verweisungszusammenhang mit der Allgemeinheit der vernünftigen Regeln gedacht werden, die bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten des

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System?

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Subjekts voraussetzen oder besser: durch Aneignung in der Form von „Bildung" verlangen. Die Grenzen der durch die Allgemeinheit der Vernunft konstituierten Identität, die das Operieren mit Schwankungen innerhalb eines Gleichgewichtsmodells ermöglicht hat, können — wie oben gezeigt — nicht durch den Selbstbezug der Identität aufgeklärter individueller Akteure 729 — ohne Vermittlung durch Regeln — transzendiert werden. In einer von einer neuen prozeduralen Rationalität geprägten Konzeption 730 muß auch das Subjekt als Austragungsform der Nicht-Identität von systemisch-relationalen, über das Operieren mit Differenzen erfolgenden Aufbaus von Optionsräumen konstruiert werden, die auf Selbständerung angelegt sind und dem Individuum Lernfähigkeit abverlangen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, kollektiv institutionalisiertes und individuelles Lernen zu integrieren. Diese neue Form des Lernens ist nicht als eine Aneignung von Wissen, Regeln und Erfahrungen zu verstehen, sondern als Verschleifung des Selbstentwurfs der Individuen als Subjekte mit der Selbstkonstruktion der pluralen Systeme. Bei Offe /Preuß 731 wird zu Recht die Deliberation als Prozeß der Bildung von Präferenzen über soziale Werte und Ziele als konstitutive Bedingung von Demokratie bezeichnet, aber ein Lemprozeß ohne Lehre und Lehrplan, der letztlich auf die Einebnung sozialer Rollendifferen^ietung nach dem Muster von Partizipationsentscheidungen hinausläuft und sich auf die Institutionalisierung des „inneren Konflikts" des seine Präferenzen ordnenden Individuums hinausläuft, erweist sich als unterkomplex. Ein unstrukturiertes Lernen des Individuums, das von den differenzierten Operationsweisen der Systeme und des darin aggregierten Wissens abgelöst bleibt, muß sich in der leeren Selbstreferenz des Protests des sich seine Vernunft attestierenden Bürgers erschöpfen. Der Prozeß der Bildung von Identität, der Verschleifung der verschiedenen Ebenen der Optionen (innerhalb der der „einen" Realität entsprechenden substantiellen Rationalitätsform) und des selbstreferentiellen Entwurfs multipler Optionsräume (innerhalb einer prozeduralen Rationalität pluraler Möglichkeiten 732 ) kann, wenn das Individuum selbst zum Netzwerk von Kontingenzen wird 7 3 3 und eben nicht mehr potentiell Teilhaber an der universellen Vernunft ist, nicht durch Selbstreflexion erfolgen, deren Grenze auch nicht durch eine Pluralität der Teilnehmer zu überwinden ist, sondern nur in einer selbst systemisch-relationalen Form einer paradoxen „transversalen Vernunft" vermittelt werden. Eine solche Vernunft ist, wie oben gezeigt, statt durch ein wohlgeordnetes abstraktes, vom empirischen Verhalten getrenntes System der „Vermögen" (wie bei Kant), durch ein kooperativrelationales Vermögen des Durchgriffs durch systemische Binnenrationalitäten bestimmt 734 . Eine um das Moment des Nicht-Identischen verkürzte (Inter-)Sub729 730 731 732 733 734

Offe /Preuß, (Fn. 112), S. 2. Favereau, (Fn. 643), S. 148. Offe /Preuß, (Fn. 112), S. 29. Godard, (Fn. 645), S. 228. Rorty, (Fn. 65), S. 66. Waldenfels, (Fn. 143), S. 178; Welsch (Fn. 332), S. 253.

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2. Teil: Zu einer postmodernen Theorie der Selbstreferenz

jektivität bleibt letztlich auf die spiegelhafte Reziprozität eines nicht-institutionell vermittelten Mitgefühls verwiesen, dessen Gegenstände als bloße Irritationen des Selbstbezugs fungieren und dem Solidarität letztlich zur Stilisierung des im anderen sich spiegelnden, narzißtischen Wunsches gerät 735 . Auch die prozedurale Begründung von Präferenzen bleibt immer abhängig von einer kollektiven Praxis der Auseinander-Setzung der Anschlußzwänge und -möglichkeiten, die nunmehr über Systemdifferenzierung generiert wird. Diese repräsentieren das nicht-hintergehbare Andere des Kollektiv-Symbolischen 736 , ohne das Subjektivität nicht denkbar ist. Unter der Geltung des Paradigmas der Selbstorganisation darf der Staat als Organisation sich nicht auf unreflektierte systemare Interferenzen einlassen, etwa durch nicht selbstbestimmte politische Interventionen in das Wirtschaftssystem, weil dadurch seine Fähigkeit für Repräsentation einer prozeßhaften kollektiven Allgemeinheit gefährdet wird. Dadurch wird auf der anderen Seite die Entstehung von sozialen Bewegungen provoziert, die die Fähigkeit zur Transformation sozialer Konflikte in politische, und damit ihre Übersetzbarkeit in die Darstellungsformen des Kollektiv-Symbolischen verlieren. Der Staat und die Institutionen des Öffentlichen können nur wegen des Aushandelns und der Kompatibilisierung heterogener Werte sein, die weniger „begründet" als unter Ungewißheitsbedingungen ins Werk gesetzt, beobachtet, neu dimensioniert und damit stets virtualisiert werden. Der Staat dient damit zugleich der Selbstbeschreibung der Gesellschaft 737, über den sich Attraktoren als endogene, emergente, nicht-individuell konstituierte Fixpunkte der Abstimmung zwischen Systemen und Subjekten bilden. Diese Funktion muß der Staat einerseits durch systematischen Einbau von Verfahren, die neue Diversität erzeugen, auf Dauer stellen. Auf der Reziprozität der Individuen aufbauende Theorien verfehlen nicht nur die Autonomie der kollektiven Ebene, sondern auch die dadurch vermittelte Variabilität der „Binnenstruktur" der Subjekte. Das Subjekt ist nur mittels der gesellschaftlichen „Schöpfung und Stiftung einer Sprache und einer öffentlichen Welt" 7 3 8 . Das Subjekt, das sich auf den Standpunkt des anderen oder des generalisierten anderen stellt und sich „von außen" beobachtet739, ist das Subjekt, das sich im anderen Subjekt spiegelt und sich daher selbst sieht, nachdem die Unterbrechung der Selbstreferenz durch den Rekurs auf das allgemeine Vermögen der Vernunft unmöglich geworden ist. Die Identitätsbildung eines Subjekts, die der Bildung von Präferenzen vorgängig ist, kann nicht ihrerseits Gegenstand der reziproken Übereinstimmung werden 740 ; sie vollzieht sich auf einer Meta-Ebene, 735 736 737 738 739 740

Rorty, (Fn. 65), S. 66. A. Touraine, Le retour de l'acteur, Paris 1984, S. 323 f. Dupuy, (Fn. 414), S. 20, 25. Castoriadis, (Fn. 659), S. 122. Offe /Preuß, (Fn. 112), S. 31. Ricoeur (Fn. 148), S. 255.

III. Das Rechtssystem als autopoietisches System?

175

die aber weder dem Subjekt selbst noch der institutionalisierten Staatlichkeit verfügbar, sondern nur influenzierbar ist. Daraus ergibt sich, daß Intersubjektivität nur in einer schwachen Variante denkbar ist 7 4 1 , die sich auf das Operieren mit Paradoxien einläßt. Das Subjekt kann weder über sich selbst verfügen, noch ist eine verselbständigte Institutionalisierung der kollektiven Selbstverfügung denkbar, die sich von den in einem a-zentrischen Prozeß generierten „eigenen" Fixpunkten der Systembildung ablösen könnte; sie bleiben gebunden an die paradoxe unaufhebbare Verschleifung der Selbstreferenz von Subjekt und System. Denn Paradoxien kann man, wie oben gezeigt, nicht aufheben, sondern nur in Bewegung halten. Das Akzeptieren von und das Operieren mit Unterscheidungen unter Bedingungen von Ungewißheit könnte einen Beitrag dazu leisten, eine Kultur des Narzißmus, die von der Schwächung der Bindung an hierarchische Ordnungen in der Gesellschaft wie in der psychischen Binnenstruktur (aber auch der Fähigkeit zur Abgrenzung) bestimmt ist, durch ein Denken in flexiblen variablen Grenzziehungen zu transformieren. Die Wiederherstellung von Grenzen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung und die Fähigkeit, historisch und evolutionär kontingente Zwänge, Unterscheidungen und Anschlußmöglichkeiten zu erproben, können nicht im Rekurs auf die Natur erreicht werden. Die Bedingungen der Möglichkeit, neue Unterscheidungen vorzunehmen und d. h. neue Wissenssysteme zu bilden, müssen in den mit der Artifizialisierung der Gesellschaft geschaffenen Zwängen gesucht werden.

741 Vgl. die Beiträge in Vattimo / Rovatti (Hg.), (Fn. 652).

Dritter

Teil

Das Paradigma der Selbstorganisation und die Evolution der Grundrechtstheorie — Zur Funktion der Grundrechte unter Bedingungen gesteigerter Komplexität I. Grundrechtsfunktionen jenseits der Eingriffsabwehr I. Institutionelle

Komponenten (insbesondere)

der Kommunikationsrechte

Trotz aller Kontroversen über Verfassungstheorie im allgemeinen und Grundrechtstheorie im besonderen besteht weithin Einigkeit darüber, daß „autonome Persönlichkeitsentfaltung" 742 als Ziel der Kerngarantie der Grundrechte des Grundgesetzes zu gelten habe. Die liberalen Grundrechte gewährleisten danach in verschiedenen Varianten Bereiche des „ungehinderten Austausche von Gütern, Leistungen und Meinungen" vor allem durch Art. 2 Abs. 1, 4, 5, 8, 9, 12 und 14 GG, und zwar primär als „negative" Abwehrechte gegenüber dem Staat. Konsens herrscht letztlich aber auch darüber, daß dies nur die eine Seite des Grundrechtsschutzes ist, die ihre Ergänzung in verschiedenen „positiven" staatlichen Kompensationsformen findet, die gleichfalls in der einen oder anderen Weise grundrechtlich garantiert werden. Dies gilt für sozialstaatliche Leistungsbzw. Teilhaberechte, etwa das Recht auf eine finanzielle Mindestausstattung (Sozialhilfe) aus dem Gesichtspunkt der Gewährleistung von Minimalvöraw^fzungen für die Menschenwürde und Persönlichkeitsentfaltung (Art. 1, 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, Sozialstaatsprinzip) 743 oder das positive Recht auf Teilhabe an Ausbildungseinrichtungen, die vom Staat zur Verfügung gestellt werden und deshalb nicht mehr allein dem Regime der negativen individuellen Wahlfreiheit unterstehen können, da diesem idealtypisch eine negative Angebotsfreiheit für Ausbildungsleistungen zu entsprechen hätte. Das (faktische) staatliche Angebotsmonopol führt hier also zu einer Transformation des Wahlrechts in ein Teilhaberecht 744. Eine ähnliche Überlegung liegt auch der sozialstaatlichen Ab74

2 W. Brugger, Elemente verfassungsliberaler Grundrechtstheorie, Juristenzeitung 1987, S. 633 ff.; mit einem demokratietheoretischen Akzent: G. F. Schuppert, Grundrechte und Demokratie, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1985, S. 525 ff. 743 BVerwGE 1, 159 ff. (danach allerdings nur soweit objektiv-rechtlich eine Leistungsgewährung vorgesehen ist). 744 BVerfGE 33,305 ff., 332 (auch hier besteht der Anspruch zunächst nur im Rahmen des Möglichen).

I. Grundrechtsfunktionen jenseits der Eingriffsabwehr

177

Stützung der Privatschulfreiheit durch ein Grundrecht auf finanzielle staatliche Beihilfe zugrunde 745 : Wenn der Staat einmal ein umfassendes differenziertes Schulsystem anbietet und durch Schulgeldfreiheit für alle öffnet, muß — wenn die Angebotsalternative „Privatschule" überhaupt eine Minimalchance auf Mobilisierung öffentlicher Nachfrage haben soll — eine staatliche finanzielle Mindestausstattung gewährleistet sein. Die beiden letztgenannten Beispiele haben eine charakteristische Besonderheit darin, daß hier der Staat nicht mehr als „Dritter" einem Austauschverhältnis zwischen Privaten „von außen" gegenübersteht, sondern auf dem durch ein negatives Abwehrrecht strukturierten Handlungsfeld (Schul- und Hochschulausbildung) selbst einem Nachfrager (Studenten) bzw. Konkurrenten (Privatschule) „von innen" entgegentritt. Der kompensatorische Charakter dieser Leistungsrechte bestätigt letztlich die Regel des Abwehrcharakters der Grundrechte; ähnliches gilt auch für das Grundrecht auf Sozialhilfe: Zwar tritt der Staat hier tatsächlich nicht quasi-marktförmig, sondern als „Dritter" auf, aber auch hier bleibt das Leistungsverhältnis bestimmt von der Orientierung an Bereichen des „ungehinderten Austauschs von Gütern, Leistungen" etc., denn er leistet nur solange und soweit sich der Betroffene mit einem Mangel an Austauschpartnern konfrontiert sieht und dies nicht zu einer Verweigerung der Beteiligung an Austauschverhältnissen führen kann. Denn dann würde der Staat wiederum der Nachfrage nach (Arbeits-)Leistung durch gegenleistungsfreie Zahlung auf dem gesellschaftlichen Handlungsfeld , Arbeitsmarkt" selbst, also „von innen" entgegentreten. „Grundrechtsobjektivierungen" 746 und -institutionalisierungen bilden sich in verschiedenen Varianten, soweit die Austauschverhältnisse auf bestimmte objektiv-rechtliche Ordnungsstrukturen angewiesen sind (Vertragsrecht, Eigentumsschutz, Gesellschaftsrecht etc.). Diese objektiv-rechtlichen Ordnungen werden ihrem Kern nach der nachträglichen gesetzlichen Disposition mehr oder weniger stark entzogen. Andererseits werden objektiv-rechtlich — mit der Folge einer entsprechenden Subjektivierung in abgeleiteter Form — auch bestimmte Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen von Freiheiten geschützt. Dies ist grundrechtsdogmatisch und -theoretisch relativ unproblematisch , soweit es sich um den Schutz der von Individuen selbst geschaffenenen Freiheitsvoraussetzungen handelt, ζ. B. den Schutz eines Pressearchivs als Voraussetzung der materiellen Pressefreiheit gegen staatliche Ausforschung 747. Hier geht es eigentlich nur darum, einen Handlungs- und Sachbereich, der schon von der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) geschützt wäre, dem spezifischen, besser geschützten Grundrecht der Pressefreiheit durch Erweiterung des primären Aus745 BVerwGE 70, 290 ff.; BVerfGE 75, 40 ff., 61 ff. 746 Brugger (Fn. 745), S. 639; vgl. auch H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektiv-rechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Archiv des öffentlichen Rechts 110 (1985), S. 363 ff.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III / 1, München 1988, S. 921 ff. 747 BVerfGE 20, 162 ff. — „Spiegel" —. 12 Ladeur

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

tauschmomentes (Verbreitung einer Meinung) um ein prozeßhaftes Moment der Produktion und Vorbereitung von Meinungen zuzuordnen. Sobald dieses prozeßhafte Moment in einer reflexiven Wendung normativ formuliert wird und nach den zu institutionalisierenden Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen von freier Meinung in einem Pressebetrieb oder gar in der gesamten Gesellschaft gefragt wird, öffnet sich eine institutionelle Perspektive auf die Grundrechte, die sich nicht mehr am (rechtlich) „ungehinderten Austausch" zwischen Personen orientiert, sondern ein von den Individuen (als Eigentümern) abstrahiertes und verselbständigtes Selbstverständnis der Gesellschaft, eines Handlungsfeldes oder des Menschen in Bezug nimmt 7 4 8 und (Kommunikations-) Freiheit in einem über ausdifferenzierte Rollen verdichteten Netzwerk von Handlungsbeziehungen funktional verortet. Eine (Kommunikations-)Organisation kann man als ein Aggregat vertraglicher Austauschleistungen modellieren 749 , man kann sie aber auch als einen zirkulärrekursiv geschlossenen Handlungskreislauf ansehen, dessen Einheit über Selbstbeobachtung / Selbstbeschreibung als corporate actor vermittelt wird 7 5 0 . Diese Selbstbeschreibung läßt sich wiederum im politischen System (fremd-)beschreiben und modifizieren, indem ζ. B. von der Konzentration der Selbstbeschreibung / Selbstbeobachtung an der durch das Eigentum bestimmten Spitze zu einer über das System distribuierten prozeßhaften Form des institutionalisierten Professionalismus übergegangen wird. Damit wird die Frage nach der partiellen Entkopplung von Eigentum und Selbstdefinition des Presseunternehmens aufgeworfen. Ein Teil der Antwort wird dabei wiederum weiterverwiesen an die Selbst- und Fremdbeobachtung des corporate actor allgemein, insbesondere des Verhältnisses von Anteilseigentum und Eigentum der juristischen Person, um die es sich in der Regel handeln wird; Art. 19 Abs. 3 GG. Die herrschende Meinung zum Verständnis der Norm des Art. 19 Abs. 3 kann mit Ossenbühl dahin zusammengefaßt werden, „daß sie nicht etwa individuelle Freiheitsrechte zu einem überindividuellen Kollektivgrundrecht sublimiert, sondern lediglich die existent und unveränderlich bleibenden Individualgrundrechte gleichsam bündelt, so daß die juristische Person als ,Sachwalterin gebündelter 748 H. Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, Opladen 1975, S. 85; D. Stammler, Die Presse als soziale und verfassungsrechtliche Institution, Berlin 1971; Schuppert (Fn. 745), S. 528; W. Hoffmann-Riem, in: Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl., Neuwied 1989, Art. 5 Abs. 1, Rnr. 32 ff.; anders H. J. Papier, Über Pressefreiheit, Der Staat 1974, S. 399 ff. 749 ο . E. Williamson, The Economic Institutions of Capitalism, New York 1985; ders., The Modem Corporation: Origins, Evolution, Attributes, Journal of Economic Literature 1981, S. 1537 ff.; kritisch dazu G. Teubner, Unternehmenskorporatismus. New Industrial Policy und das „Wesen" der juristischen Person, Kritische Vierteljahresschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung 1987, S. 61 ff. 750 Teubner (Fn. 749); allgemein ders., Introduction to Autopoietic Law, in: ders. (Hg.), Autopoietic Law: A New Approach to Law and Society, Berlin / New York 1988, S. 1 ff.; ders., Recht als autopoietisches System, Frankfurt 1989.

I. Grundrechtsfunktionen jenseits der Eingriffsabwehr

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Individualrechte 4, anders ausgesprochen als »Trägerin zusammengefaßter individueller Rechte4 erscheint 44751 . Damit ist die gesetzliche Disposition über das Verhältnis zwischen den »gebündelten4 Rechten, zu denen auch die Rechte der durch Vertrag an das Unternehmen gebundenen Arbeitnehmer gezählt werden können, nicht ausgeschlossen752, wenngleich ihr damit aber enge Grenzen gesetzt werden. Das „Bündelungskonzept44 sieht in dem Wandel, den die grundrechtlich garantierten Handlungsfelder mit dem Auftreten von Momenten dauerhafter Verdichtung von Handlungsbeziehungen durch Organisation (statt punktueller Marktkontakte) erfahren, kein qualitativ neues, grundrechtstheoretisch zu respektierendes Phänomen. Demgegenüber läßt sich die Entstehung institutioneller Momente der Grundrechtstheorie gerade darauf zurückführen, daß das Konstrukt der juristischen Person im allgemeinen und des arbeitsteilig organisierten, zirkulär geschlossenen Prozesses der Presseproduktion im besonderen ein bedeutsames Moment der Selbstbeschreibung / Selbstbeobachtung sichtbar machen, da sie nicht wie (scheinbar?) die natürlichen Personen einfach „da sind44, sondern sich selbst erzeugen und nicht nur „am Anfang 44, sondern permanent über sich selbst als Einheit reflektieren und sich damit selbstreferentiell erhalten. Zugleich wird hier die Möglichkeit einer eigenständigen Konstruktion des Status der juristischen Person als Trägerin einer Organisation erkennbar, die in einer am Paradigma des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft der Individuen orientierten Sichtweise die Gefahr einer Überregelung von selbst erzeugten Problemen mit sich bringt. Es stellt sich aber die weiter unten noch aufzunehmende Frage, ob nicht auch andere Grundrechtsfunktionen stärker auf die Notwendigkeit zur Selbstdefinition und Selbständerung der Gesellschaft durch Produktion von mehr Möglichkeiten (nicht nur spontane Verarbeitung präsenten Wissens) eingestellt werden müssen. Die eine der erwähnten Auffassungen ignoriert die Problematik der Veränderung der Spielregeln der Freiheit durch Organisation, die andere ignoriert die Grenzen der kollektiven Selbstdefinition der Gesellschaft durch explizite öffentliche Organisation. Die traditionelle Form des öffentlichen Entscheidens über das öffentliche Wohl waren an bestimmte Zwänge der Regelsetzung und -anwendung 751 F. Ossenbühl, Rundfunkprogramm — Leistung in treuhänderischer Freiheit, Die Öffentliche Verwaltung 1977, S. 381 ff.; vgl. dazu Κ. H. Ladeur, in: Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl., Neuwied 1989, Art. 19 Abs. 3, Rnr. 18 ff. 7 52 BVerfGE 50, 290 ff., 349; vgl. dazu auch H. P. Schneider, Freiheit des Berufs und Grundrecht der Arbeit, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 43 (1984), S. 7 ff., 35; kritisch V. Beuthien, Die Untemehmensautonomie im Zugriff des Arbeitsrechts, Zeitschrift für Arbeitsrecht 1988, S. 1 ff.; vgl. auch Κ. H. Ladeur, Zu einer Grundrechtstheorie der Selbstorganisation des Unternehmens, in: H. Faber / E. Stein (Hrsg.), Auf einem dritten Weg, Festschrift für Helmut Ridder, Neuwied 1989, S. 179 ff.; vgl. zur Konzeption der Mitbestimmung in Presseunternehmen W. Mallmann, Empfiehlt es sich, zum Schutze der Pressefreiheit gesetzliche Vorschriften über die innere Ordnung von Presseunternehmen zu erlassen?, in: 49. Deutscher Juristentag, München 1972, Bd. 2, S. Ν 10 ff., 18. 12'

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

gebunden. Eine Ablösung des Staatlich-Öffentlichen von diesen Formen droht dem Staat die (Selbst-)Beobachtungsfähigkeit zu nehmen. Formen der Regelsetzung und -anwendung als Formen des Operierens mit Unterscheidungen waren an eine Vorstrukturierung des Handlungsbereichs durch die Gesellschaft der Individuen verwiesen. Eine Ablösung von diesem Bezugsrahmen durch „Materialisierung" der staatlich-öffentlichen Zweckverfolgung bedürfte mindestens einer genaueren Reflexion darauf, was der Staat eigentlich beobachten kann: Was sieht der Staat, wenn die Probleme nicht mehr primär durch Marktakteure vorstrukturiert sind? In der Behandlung der Organisation „wie" ein Individuum liegt durchaus eine gewisse Rationalität, weil sie auch unter gewandelten Verhältnissen an der strukturbildenden Kraft eines auf Unterscheidungen beruhenden Paradigmas festhält, während die andere Auffassung die angesichts der Unzugänglichkeit des Ganzen Beobachtungen erst ermöglichenden Unterscheidungen als Hindernis auf einem (illusionären) Weg zu einer identitären Konzeption des Gemeinwohls ansieht. Die erstere Position erkauft die Erhaltung der Operationsfähigkeit des Modells mit der Erzeugung von informellen Mechanismen, die sich dem rechtlich systematisierenden und regelnden Zugriff mindestens teilweise entziehen. Die andere tendiert dazu, die paradoxen selbstreferentiellen Momente der auf Selbständerung angelegten Gesellschaft durch ihre explizite Transformation in eine Organisation einem verhängnisvollen, sich selbst verstärkenden Zwang zur Überregulierung selbst erzeugter Komplexität auszusetzen. Eine so verstandene „Demokratisierung", die die juristische Person als regelsetzende und vollziehende Einheit betrachtet, neigt dazu, sie mehr oder weniger stark auf die Seite des Staates zu verbringen und ihre internen Strukturen an die staatlich-kollektiven Formen des Entscheidens anzuschließen. Beide Auffassungen bleiben aber letztlich an die klassische Dichotomie von Staat und Gesellschaft gebunden. Sie ignorieren das spezifisch kollektive Moment einer Organisation, und ignorieren die Möglichkeit einer weder am Individuum noch am Staat orientierten Form des Kollektiven. Weitgehend anerkannt ist ein von den Individuen als Eigentümern abgelöstes Moment grundrechtlich garantierter Selbstbeschreibung / Selbstbeobachtung, also die rekursive Geltung von Freiheit für den Prozeß der Bildung und Selbsterhaltung ihres eigenen Trägers für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Die Gewährleistung der Vielfalt der Programmelemente erfordert danach die Institutionalisierung einer (Gruppen-)Vielfalt 7 5 3 , die nicht selbst als eine Bündelung von Gruppenrechten (die ihrerseits eine Bündelung von Individualrechten wären) anzusehen ist 7 5 4 . Hier soll ein kollektiver emergenter Effekt der Selbstkonstruktion von Rundfunkfreiheit gewährleistet werden, für dessen Entstehung und Erhaltung die Gruppperi mobilisiert werden. Ein Übergangsphänomen zwischen der privaten Presse und dem 753 BVerfGE 12, 205 ff.; 295 ff. 754 BVerfGE 60, 53 ff., 66

I. Grundrechtsfunktionen jenseits der Eingriffsabwehr

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öffentlich-rechtlichen Rundfunk stellt die Organisation der privaten Rundfunkund Fernsehveranstalter dar. Auch hier ist Vielfalt — allerdings in reduzierter Form — organisatorisch zu gewährleisten. Die staatliche Garantiefunktion ist hier jedoch „weicher" durch die Möglichkeit des Wechsels vom Binnen- zum Außenpluralismus (und umgekehrt) und die (ggfs. verdoppelte) externe Gruppenbeobachtung über die neuen Landesmedienanstalten institutionalisiert 755 . Enger auf die Institutionalisierung eines „inpersonalen" Prozesses 756 der Selbstdefinition / Selbstbeschreibung eines Handlungsfeldes bezogen sind die Organisationen der wissenschaftlichen Hochschulen, der Kunstproduktion und -Vermittlung in der Form von Museen, Kunsthochschulen, Theater etc. 757 . Auch hier tritt der Staat als Quasi-Monopolist in Erscheinung, der in spezifisch-öffentlichen Formen Handlungsmöglichkeiten finanzieren und organisieren muß, die ohne seine Hilfe, also vermittelt über das Privateigentum nicht oder nur teilweise bestünden. 2. Gruppenrechte, Schutzpflichten, Verrechtlichung des „besonderen Gewaltverhältnisses", Drittwirkung im Privatrecht Echte Gruppenrechte, d. h. Garantien, die sich nicht nur auf die Aggregation von Personen in Vereinen und Versammlungen beziehen (Art. 8,9 Abs. 1 GG) 7 5 8 , gewährleistet das GG explizit nur in Art. 9 Abs. 3 (Tarifautonomie) und in Art. 21 für die Parteien 759. Die Besonderheit der Parteien besteht allerdings darin, daß sie nach herrschender Meinung zwischen institutionalisierter Staatlichkeit und den politischen Rechten der Individuen (insbesondere dem Wahlrecht) vermitteln, indem sie personelle und sachliche Alternativen für politische Wahlen vorstrukturieren und bündeln 760 und damit eine Verbindung von Repräsentation und plebiszitären Elementen ermöglichen, die den Demos selbst in handlungsfähige Segmente zusammenfaßt 761. Die Tarifautonomie garantiert in der Tat ein Recht der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, unter (partiellem) Ausschluß der individuellen Freiheit ihrer Mitglieder kollektiv über Arbeitskraft bzw. Vertragsbe755 Vgl. zur „dualen Rundfunkordnung" BVerfGE 73, 118 ff.; W. Goerlich/B. Radeck, Neugründung und Grundversorgung — die Rundfunkordnung in der dritten Phase, Juristenzeitung 1989, S. 53 ff. 756 Ridder (Fn. 748), S. 85 ff. 757 BVerfGE 35, 79 ff.; E. Denninger, in: Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl., Neuwied 1989, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaftsfreiheit), Rnr. 62 ff.; F. Hufen, Freiheit der Kunst in staatlichen Institutionen, Baden-Baden 1982; Κ. H. Ladeur, Kunstfreiheit und Kunsthochschulstruktur, Wissenschaftsrecht 1978, S. 205 ff. 758 A. Rinken, in: Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl., Neuwied 1989, Art. 9 Abs. 1, Rnr. 36 ff. 759 Vgl. dazu U. K. Preuß, in: Alternativ-Kommentar zum Grundgesetz, 2. Aufl., Neuwied 1989, Art. 21, Rnr. 36 ff. 760 BVerfGE 60, 53 ff., 66. 761 G. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl., Karlsruhe 1967, S. 71 ff.

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

dingungen zu verfügen und zwar in der Form verbindlicher Normsetzung, die ggfs. auch auf Nichtmitglieder durch Allgemeinverbindlichkeitserklärung erstreckt werden kann. Diese Kollektivrechte im engeren Sinne haben eine kritische Wendung gegen die Individualfreiheit, deren Geltungsbereich sie explizit beschränken, bis hin zum Ausschluß der Möglichkeit, auf die kollektive Verfügung individualvertraglich zu verzichten (Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG). Gemeinsam ist beiden Varianten einer kollektiven Rechtsgarantie, daß sie sich als Ausdruck eines spezifisch gesellschaftsbezogenen Demokratiegebots lesen lassen. Ein Ansatzpunkt dafür ergibt sich aus Art. 21 Abs. 1 Satz 3; für die Gewerkschaften läßt sich ähnliches aus Art. 9 Abs. 3 i. V. mit der potentiell gesellschaftsdemokratisierenden Wirkung des Sozialstaatsgebots für Verbände mit Öffentlichkeitsbezug 7 6 2 ableiten. Wiederum relativ nahe am Schutzbereich der klassischen (Eingriffabwehr-) Grundrechte sind die in der neueren Rechtsprechung des BVerfG mehrfach betonten grundrechtlichen Schutzpflichten anzusiedeln: Wenn man von atypischen Konstellationen absieht (Fall Schleyer, Abtreibung) 763 , handelt es sich vielmehr um die grundrechtlich gebotene Notwendigkeit, das bei Gefahrenlagen bestehende Nebeneinander einer klassischen ordnungsrechtlichen bipolaren Beziehung Staat / Anlagenbetreiber etc. und eines ebenso bipolaren zivilrechtlichen Nachbarverhältnisses in ein öffentlich-rechtlich ausgestaltetes Dreiecksverhältnis zu integrieren 764. Dies ist darauf zurückzuführen, daß das auf relativ stabilen Ausgleichsregeln basierende zivilrechtliche Nachbarrecht der Notwendigkeit einer konkreten Bestimmung von Gefahrengrenzen nicht mehr angemessen ist und der Schutz der Interessen der Nachbarn deshalb in die Gestaltung des ordnungsrechtlichen Verfahrens integriert werden muß. Dieses Verfahren erhält damit partiell einen planungsrechtlichen Einschlag. Diese Notwendigkeit ergibt sich umso mehr, als der Staat teilweise selbst als Förderer bestimmter Technologien auftritt (§ 1 AtomG) und auch insoweit ein Gesichtspunkt zu berücksichtigen ist, der auch oben bei der Untersuchung der leistungsrechtlichen Grundrechtskomponenten genannt worden ist, nämlich die staatliche Aktivität auf dem gesellschaftlichen Handlungsfeld selbst. Nicht weit davon entfernt ist auch der Grundrechtsschutz durch Verfahren anzuordnen 765: Hier geht es darum, den materiellen Grundrechten über den durch den explizit geregelten Verfahrensrechten (Art. 19 Abs. 4, 101, 103 GG) gewährleisteten Schutz hinaus eine formale Schutzrichtung abzugewinnen. Auch dies hat primär einen im weiteren Sinne kompensatorischen Charakter: Wenn den Sachentscheidungen immer häufiger ein komplexer Informationsgewinnungs- und -verarbeitungsprozeß vorausgehen muß, liegt es nahe, 762 H. Ridder, Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften im Sozialstaat nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1960, S. 19. 763 BVerfGE 46, 160 ff., 39, 1 ff. 764 BVerfGE 49, 89 ff., 142. 765 BVerfGE 53, 30 ff., insbes. 63 ff., 69 ff. (Sondervotum Heußner/Simon).

I. Grundrechtsfunktionen jenseits der Eingriffsabwehr

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aus den Grundrechten, die den Gegenstand der Sachbereichsentscheidung strukturieren, auch subjektive Rechte auf eine bestimmte Gestaltung des Verfahrens abzuleiten 766 . Auch diese beiden neuen Funktionen der Grundrechte signalisieren Phänomene der Artifizialisierung und Selbstreferenz der Gesellschaft: Im Bereich der Schutzpflichten fällt auf, daß es dort vor allem um die mit neuen komplexen Technologien verbundenen Wissensprobleme geht. Der Rechtsschutz Dritter wird weitgehend davon abhängig, daß die sich der allgemeinen Beobachtung entziehenden Gefahren und Risiken vom Staat (sowohl als Gesetzgeber wie als Verwaltung) zunächst beobachtet werden bzw. die Produktion des dazu erforderlichen Wissens den privaten Anlagenbetreibern etc. selbst auferlegt wird. Eine interessante neue Komponente des Grundrechtsschutzes hat das Bundesverfassungsgericht im Zuge der Verrechtlichung ehemals sog. besonderer Gewaltverhältnisse am Beispiel vor allem der Schule entwickelt 767 . Es hat dort nicht nur den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts über den Bereich der Eingriffsabwehr hinaus erweitert auf Fälle der „Grundrechtsberührung", in denen also — anders als in den durch die Schutzpflicht gekennzeichneten Dreiecksverhältnissen — die Maßnahme des Staates selbst nur faktischen Charakter hat, sondern es hat auch den Bereich des Persönlichkeitsrechts des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und des Rechts der Eltern aus Art. 6 Abs. 1 erweitert um eine positive Entwicklungskomponente. Das Persönlichkeitsrecht als Abwehrrecht ist ergänzt worden um ein Recht auf Persönlichkeitsentfaltung 768. Dies ist insofern von Bedeutung für unser Thema, als damit ein rekursives Moment der Reflexivität zur Geltung kommt, daß uns auch bei den Kommunikationsgrundrechten begegnet ist: Die Persönlichkeitsentwicklung vollzieht sich nicht mehr nach impliziten traditionalen Werten in Familie und Schule, sondern sie verlangt ein Moment auch rechtlich institutionalisierter Selbstbeschreibung / Selbstbeobachtung der Entwicklung von Persönlichkeit. Allerdings bleibt dieses rekursive Moment der Selbstdefinition, das gerade bei der Persönlichkeitsentwicklung schwierige (Selbst-)Definitionsprobleme aufwirft — weil das Selbst der Persönlichkeit ja der Ausgangspunkt der Grundrechtsausübung sein soll —, letztlich marginal: Es wird reduziert auf eine quasi-abwehrrechtlich konstruierte Begrenzung der Unterrichtsinhalte und im übrigen ein Gebot zur Gewährleistung eines gewissen Pluralismus gesellschaftlicher Werte. Trotz ihrer relativ geringen praktischen Relevanz kommt 766 κ. H. Ladeur, Recht auf Abwägung als Verfahrensrecht, Umwelt- und Planungsrecht 1985, S. 149 ff.; ders., Die Schutznormtheorie — Hindernis auf dem Weg zu einer modernen Dogmatik der planerischen Abwägung?, Umwelt- und Planungsrecht 1984, S. 1 ff.; zur Neubewertung des Verfahrens vgl. P. Lerche/E. Schmidt-Aßmann / W. Schmitt Glaeser, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, Heidelberg 1984. 767 BVerfGE 47, 47 ff. 768 BVerfGE 47, 49 ff., 73; BVerwG, Juristenzeitung 1989, S. 137 ff. m. Anm. M. Jestaedt (Schulbuchzulassung).

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

dieser Rechtsprechung doch eine grundsätzliche theoretische Bedeutung zu, weil mit der Verrechtlichung des schulischen Unterrichtsprozesses die früher unterstellte Trennung zwischen nicht-rechtlich traditional gesteuerter Entwicklung der Persönlichkeit (in der Schule), die sozusagen im besonderen Gewaltverhältnis eingeschlossen war, und der Freiheit der „fertigen" Persönlichkeit im allgemeinen Gewaltverhältnis aufgehoben wird. Auch dies ist eine Form der Selbstreferenz des Rechts, das seine eigenen, früher nur unterstellten Voraussetzungen mit zu gewährleisten sucht. Die bisherige Untersuchung hat ergeben, daß die Grundrechte in der Rechtsprechung des BVerfG und in der Literatur eine bemerkenswerte Fortentwicklung insbesondere dadurch erfahren haben, daß über den klassischen Eingriffabwehrcharakter hinaus eine Reihe neuer dogmatischer Formen der Grundrechtsgeltung konstruiert worden ist. Es läßt sich jedoch zeigen, daß der größte Teil dieser neuen Grundrechtsfunktionen mit der Erweiterung und Intensivierung der Staatstätigkeit zu tun hat und auf die — gegenüber dem liberalen Verwaltungsstaat — gewachsenen administrativen Leistungs- und Infrastrukturpotentiale und vor allem auf die selbstreferentielle Reproduktion der kulturellen und informationellen Voraussetzungen gesellschaftlichen und staatlichen Handelns zielt. Das gilt für die internen und externen Beziehungen der Schule, für Rundfunk, Wissenschaft, Kunst aber auch für Grundrechtsschutz durch Verfahren und Schutzpflichten. Die private Presse und der private Rundfunk lassen sich in einer Übergangszone ansiedeln, in der die Möglichkeit des Einbaus institutioneller Formen der Selbstdefinition / Selbstbeobachtung funktional organisierter Produktionsprozesse, die dem marktförmigen Austausch vorgelagert sind, mehr (Presse) oder weniger (Rundfunk) umstritten ist. Einwirkungen der Grundrechte auf Rechtsbeziehungen zwischen Privaten, an denen der Staat nicht seinerseits in einer grundrechtliche Schutzpflichten auslösenden Weise beteiligt ist, werden in der Rechtsprechung des BVerfG vor allem daraus abgeleitet, daß die Grundrechte zwar in der Regel (eine Ausnahme wäre Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG) keine unmittelbare „Drittwirkung" entfalten 769 , aber doch zugleich als „objektive Wertentscheidungen" anzusehen seien, die insbesondere über die Generalklauseln auch in das Zivilund Arbeitsrecht hineinwirken. Beispiele dafür sind das Recht der unerlaubten Handlungen (§ 826 BGB), die Auslegung vertraglicher Nebenpflichten aus dem Mietverhältnis 770 , Zumutbarkeitsgesichtspunkte bei der Bestimmung von Leistungspflichten (Art. 4 Abs. 1 GG als Grenze der Pflicht zur Leistung von Arbeit) 771 , die Begrenzung der Dauer der vertraglichen Bindung eines Arbeitneh769 Vgl. die Überlegungen zur Drittwirkung der Grundrechte bei A. Bleckmann, Neue Aspekte der Drittwirkung der Grundrechte, Deutsches Verwaltungsblatt 1988, S. 938 ff.; G. Hermes, Grundrechtsschutz durch Privatrecht auf neuer Grundlage?, Neue Juristische Wochenschrift 1990, S. 1764 ff. ™ BVerfGE 7, 230 ff. 771 LAG Düsseldorf, Juristenzeitung 1964, S. 258 ff.; W. Habscheid, Arbeitsverweigerung aus Glaubens- und Gewissensnot?, Juristenzeitung 1964, S. 246 ff.; BAG, Betriebsberater 1985, S.1859

I. Grundrechtsfunktionen jenseits der Eingriffsabwehr

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mers durch den mit dem Arbeitgeber geschlossenen Ausbildungsvertrag (Beschränkung der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG) 7 7 2 . Diese Rechtsprechung entwickelt eine behutsame verfassungsrechtliche Überformung von traditionellen Varianten einer Rückkopplung privatrechtlicher Rechtsformen, insbesondere der Vertragsfreiheit an nicht disponible gesellschaftliche Werte, mit denen eine Trennung gesellschaftlicher Institutionen und Medien (Religion / Wirtschaft, Privatheit/Öffentlichkeit, Liebe/Geld etc.) bzw. der „Objektsprache" des Vertragsrechts von bestimmten „Meta-Regeln" (also die Notwendigkeit der Erhaltung des Weiterlaufens vertraglicher Austauschverhältnisse angesichts der Möglichkeit, die Vertragsfreiheit selbst zum Gegenstand eines Austauschvertrags zu machen) erreicht werden soll. Die verschiedenen neuen, über die traditionelle Eingriffsabwehr hinausgehenden Grundrechtsfunktionen sind Indizien eines Wandels zur „Informations-" oder „Wissensgesellschaft" 773 als einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr selbstreferentiell zu ihrer eigenen Informations- und Wissensbasis verhalten muß. Vor allem im Bereich der Kommunikationsgrundrechte sind zunächst neue „institutionelle" Momente entwickelt worden, die darauf zielen, die Reproduktion von Wissen über den Bereich der staatsabwehrenden Grundrechtsfunktionen hinaus zu gewährleisten. Auch die neuen Grundrechtsfunktionen im Schulbereich müssen in diesem Kontext gesehen werden: Die Schule reproduziert nicht mehr einen durch Tradition gesicherten Wissensbestand, sondern sie muß sich selbstreferentiell zu den eigenen Lehrstoffen verhalten. Dazu sind neue, vor allem prozedurale Formen der Gewährleistung eines auf Vielfalt angelegten Suchprozesses erforderlich, der die Grenzen des statischen „besonderen Gewaltverhältnisses" sprengt. Auch der Geltungsbereich der aus materiellen Grundrechten entwickelten Schutzpflichten und Verfahrensgarantien und der Drittwirkung von Grundrechten im Privatrecht läßt sich bei aller Vielfalt der Erscheinungsformen des erweiterten Grundrechtsschutzes — soweit es sich nicht nur um Fortschreibungen von traditionellen Elementen eines Rechts auf Sicherheit handelt — auf den systembildenden Gesichtspunkt der selbstreferentiellen Reproduktion von Information (vor allem) für komplexe Entscheidungen unter Ungewißheitsbedingungen zurückführen. Informationen und Wissen sind nicht mehr in einem homogen sich entwikkelnden Erfahrungshorizont „von selbst" verfügbar, sie erhalten in zunehmendem Maße einen konstruktiven, auf den Entwurf von neuen Möglichkeiten bezogenen Charakter, der auch nach rechtlichen Mechanismen der organisierten, prozeduralen und pluralen Wissenserzeugung verlangt. In dieser Perspektive läßt sich auch die Frage nach den Folgen der Veränderung der Marktgesellschaft stellen, die mit der wachsenden Bedeutung der Organisationen verbunden sind. Insbesondere stellt sich das Problem, ob nicht eine stärkere Sensibilisierung des Rechtssystems für die Erscheinungsformen der Organisation und Selbstorganisation erforderlich 772 BVerwGE 30, 65 ff.; 40, 237 ff.; BAGE 13, 168 ff. 773 M. Zeleny, Management Systems for a Knowledge Society, Ms. 1988.

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

ist. Das klassische regelorientierte Verhältnis von Staat und Individuum war in einem linearen, an einen Ruhepunkt gebundenen Gleichgewichtsmodell konstituiert. Das Auftreten von Selbstreferenz in der Gesellschaft zwingt mindestens teilweise zur Neukonstruktion dieses die Selbstbeobachtung ermöglichenden Modells. Eine von der Selbständerung ihrer eigenen Gesellschaft gekennzeichnete Gesellschaft braucht auch eine revidierte Selbstbeschreibung, mit deren Hilfe sie ihre Operationen konstruiert und beobachtet.

3. Die Unternehmensverfassung zwischen individueller und Organisationsautonomie

Freiheit

Grundrechtstheoretisch weitaus bedeutsamer sind die Probleme, die mit der Ausgestaltung der Unternehmens- und Betriebsverfassung durch Organisationsgesetze einhergehen. Nach der herrschenden Lesart überträgt — wie oben ausgeführt — Art. 19 Abs. 3 GG die individualistische Grundstruktur der Freiheitsrechte auf die Organisation, die danach zur „Sachwalterin zusammengefaßter individueller Rechte" gemacht wird 7 7 4 . Dies ist eine Durchgriffskonzeption, die die juristische Person im Grunde instrumentell reduziert. Dies wirft zunächst Probleme der Abstimmung der Rechte der Anteilseigner und der juristischen Person aus Art. 12 Abs. 1, 14 GG auf, die in der Rechtsprechung des BVerfG dahin gelöst werden, daß der objektiv-rechtliche Gehalt der Institutsgarantie des Eigentums zwar den Gesetzgeber zur Schaffung einer organisationsrechtlichen Grundlage für die Bündelung der Individualrechte von Anteilseignern durch eine entsprechende mitgliedschaftliche Infrastruktur zwinge, aber zugleich wegen des Ausmaßes der sozialen Folgen, insbesondere der Abhängigkeit der Arbeitnehmer von der durch „Bündelung" noch verstärkten Eigentums- und Untemehmensrechte (Art. 12, 14 Abs. 1) die Sozialbindung des Eigentums bzw. die Möglichkeit des Gesetzgebers zur Regelung der Berufsausübung erweitert werde. Das BVerfG sieht hier auch die Stellung des Arbeitnehmers als durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt an, ohne allerdings aus diesem Grundrecht einen „verbindlichen Verfassungsauftrag zur Einführung einer Unternehmensmitbestimmung wie derjenigen des Mitbestimmungsgesetzes" abzuleiten 775 . Das als juristische Person organisierte Unternehmen kann danach seine Freiheitsrechte als Grundrechtsträger „nur mit Hilfe anderer, der Arbeitnehmer wahrnehmen, die ebenfalls Träger des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG sind. Schon insoweit steht ihre Freiheit in ,einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion'" 7 7 6 . 774 Ossenbühl (Fn. 751); vgl. zum Status der Handelsgesellschaft auch P. Badura, Die Unternehmensfreiheit der Handelsgesellschaften, Die öffentliche Verwaltung 1990, S. 353 ff. ™ BVerfGE 50, 290 ff., 365; Ο. E. Kempen, Das grundrechtliche Fundament der Betriebsverfassung, Arbeit und Recht 1986, S. 129 ff., 135. ™ BVerfGE 50, 365; BVerfG, Der Betrieb 1986, S. 486.

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187

Häberle und Kempen haben mit unterschiedlicher Akzentuierung 777 in Art. 12 Abs. 1 die Verankerung nicht eines „Rechts auf Arbeit" 7 7 8 aber doch eines „Grundrechts der Arbeit" gesehen, das insbesondere der Betriebsverfassung eine verfassungsrechtliche Basis verschaffen soll. Ob insbesondere die Ableitung aus dem Individualgrundrecht des Art. 12 Abs. 1 überzeugend ist, mag zunächst dahingestellt bleiben. Jedenfalls verbleibt dem Gesetzgeber dennoch eine weitgehende Entscheidungsfreiheit bei der Ausgestaltung der angenommenen Grundrechtskollisionen 779. Dies hängt vor allem damit zusammen, daß die Funktion der Grundrechte aus Art. 12 und 14 als Organisations- und Verfahrensgewährleistungen nicht von den vertragsrechtlichen Austauschbeziehungen zwischen Unternehmen und Arbeitnehmern getrennt thematisiert werden können 780 . Hier wird ein charateristischer Unterschied zu den oben erwähnten Leistungs- und Organisationsrechten sichtbar, die gerade den Mangel eines vom Staat unabhängigen, über Austauschbeziehungen strukturierten Handlungsfeldes kompensieren sollen. In der Unternehmensverfassung würde der Ausbau von Partizipationselementen immer auf den Abbau von individual- und vertragsrechtlicher Gestaltungsfreiheit hinauslaufen. Deshalb ist etwa Kempens Versuch 781 problematisch, in Analogie zur institutionell konstruierten Rundfunkfreiheit und der dem Gesetzgeber zu ihrer Realisierung auferlegten Pflicht, Kollisionen zwischen verschiedenen Grundrechtsträgern durch Organisations- und Verfahrensrecht „zum Ausgleich zu bringen" 782 , auch die Betriebsverfassung (wenn schon nicht die Unternehmensverfassung) unter das Postulat einer Koordination von Berufsfreiheit des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers zu stellen. Dort — in der öffentlich-rechtlichen Rundfunkverfassung — muß der Rundfunkproduktionsprozeß durch staatliches Recht organisiert werden, hier — in der Unternehmensverfassung — geht es darum, eine Verfassung für das Unternehmen als eine Einheit zu schaffen, die sich auf einem Markt selbsterhalten soll und darum, ob es mit dieser Funktion vereinbar ist, Arbeitnehmern, die primär in einem vertragsrechtlichen Verhältnis zum Unternehmen stehen, zugleich mitgliedschaftsähnliche Gruppenrechte einzuräumen. Dies mag zulässig sein, aber daß „Knappheit von Arbeitsplätzen in einer hochtechnisierten Gesellschaft sowie die Bedeutung der Arbeit für die Lebenshaltung der Bevölkerung" 783 für den verfassungsrechtlichen Status der Betriebsverfassung den gleichen Stellenwert habe wie die Organisation von Vielfalt in der 777 p. Häberle, Arbeit als Verfassungsproblem, Juristenzeitung 1984, S. 345 ff.; Kempen (Fn. 775), S. 129; vgl. auch Schneider (Fn. 752) 778 Zum Recht auf Arbeit vgl. H. Hoebink, Das Recht auf Arbeit und seine Verankerung in der nordrhein-westfälischen Verfassung, Der Staat 1988, S. 290 ff. 779 B. Pieroth/B. Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 6. Auflage, Heidelberg 1990, Rnr. 359 ff. 780 Beuthien (Fn. 752). 781 Jarass (Fn. 746). 782 BVerfGE 57, 295, 327; Kempen (Fn. 775), S. 135. 783 Kempen (Fn. 775), S. 135.

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt, ist schon deshalb nicht plausibel, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk ohne Organisationsgrundlage schlicht nicht existieren kann. Daß die Betriebsverfassung für die Erhaltung von Arbeitsplätzen und die Sicherung der Bedeutung von Arbeit einen vergleichbaren Stellenwert hat, kann angesichts anderer Arbeitsverfassungsformen in anderen Ländern kaum behauptet werden. Dies gilt um so mehr, als an dem Netzwerk von Austauschbeziehungen des Unternehmens auch die Kunden beteiligt sind und gerade in diesem Verhältnis sich die Eigenständigkeit des Unternehmens erhalten muß. Diese Überlegungen lassen auch erkennen, daß und warum wir auf ein qualitativ anderes Grundrechtsproblem stoßen und daß deshalb auch die Frage nach der staatlichen Ausgestaltungsbefugnis und ihren Grenzen schärfer zu stellen ist als in den bisher diskutierten Problemfeldem, auf denen sich eine Evolution der Grundrechte über die Grenzen der klassischen Eingriffsabwehr hinaus vollzogen hat: Die Arbeitnehmer repräsentieren anders als etwa Journalisten (im Rundfunk) oder Wissenschaftler (in Hochschulen) nicht einmal primär ein professionell verselbständigtes Interesse an Leistungsstandards eines bestimmten gesellschaftlichen Handlungsbereichs, der gegen den Geldmechanismus relativ weitgehend abgesichert ist und in dem sich gerade dadurch auch ein Interesse der Öffentlichkeit widerspiegelt. Das Interesse am Schutz der Arbeitskraft in Unternehmen kann aber nicht nur mit dem Interesse des Unternehmens kollidieren, sondern zugleich mit den Interessen derjenigen, die Arbeit suchen, und den Interessen der Kunden an Qualität, Quantität und Preis der angebotenen Leistungen. Deshalb kann schließlich sogar der gegenwärtige Schutz der Arbeitnehmer im Unternehmen deren künftige Interessen gefährden. Es zeigt sich, daß wir es hier mit einer weitaus komplexeren dynamischen Konstellation zu tun haben als in allen anderen bisher berührten Handlungsfeldern. Deren Ausdifferenzierung soll den Marktmechanismus abpuffern und Selbstreflexions- und Lernfähigkeit der Gesellschaft durch die Ermöglichung von „Probehandeln" in größeren Zeithorizonten und damit die Bildung von sozialen Wissenssysteme institutionalisieren, die gerade wegen ihres größeren Zeithorizonts ihre eigenen (auch vom staatlichen Entscheidungssystem unabhängigen), sich selbst modifizierenden Kontrollkriterien entwickeln. Das so generierte Wissen wird primär nicht für die — andere ausschließende — individuelle Aneignung produziert, ja es zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es durch vielfache Aneignung nicht verbraucht wird, sondern an Wert gewinnt; so steigert ein hohes Bildungsniveau der Bevölkerung auch den „Wert" der Bildung der Einzelnen. Der Einbau organisierter Akteure in das Wirtschaftssystem kann in einer kognitivistischen Perspektive als Erweiterung der Lernfähigkeit durch Verlängerung des Entscheidungshorizonts gegenüber individuellen Marktakteuren interpretiert werden. Aber die Besonderheit der Organisation für das Wirtschaftssystem besteht darin, daß sie kein neues eigenständiges Kontrollkriterium für das

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generierte Wissen entwickelt, sondern die durch größere Lernfähigkeit erzeugten Wissensbestände (in Produktion, Marketing, Finanzierung etc.) letztlich, wenn auch über komplexeres strategisches Handeln, wieder an den Markt rückgekoppelt werden. Das in der Organisation aggregierte Wissen wirkt zwar auf die Nachfrage zurück, kann dieses Kriterium aber nicht ablösen und muß daher auf individuelle Aneignungsfähigkeit (von Produkten) eingestellt sein. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen Markt und Organisation. Dessen Dynamik wird aber weder in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch in der Konzeption der Kritiker angemessen verarbeitet. Die Dogmatik schwankt so zwischen dem Versuch der Subsumtion des Unternehmens unter das Paradigma des individuellen Subjekts und der Zuordnung des Unternehmens zu dem vom Markt partiell entkoppelten Bereich des Öffentlichen. In der erSteren Perspektive bleibt die Binnenorganisation des Unternehmens und ihre grundrechtliche Abstützung sehr stark an den traditionellen Bedingungen und Formen der Außenbeziehungen des Marktsubjekts orientiert. Demgegenüber werden diese Außenbeziehungen in dem anderen Modell mindestens teilweise einer staatlich zu gewährleistenden Mit- und Selbstbestimmung der Arbeitnehmer in der Binnenorganisation subsumiert. Die Unklarheit und Widersprüchlichkeit der grundrechtlichen Konstruktion des Unternehmens ist symptomatisch für eine Grundrechtstheorie, die einerseits am Eingriffsabwehrdenken festhält und damit andererseits auch ein bestimmtes Entsprechungsverhältnis von Staat und Individuum / Gesellschaft unterstellt, sich zugleich aber mit einer Fülle von interventionistischen Einwirkungen des Staates auf die Wirtschafts- und Arbeitsbeziehungen konfrontiert sieht. In der Rechtsprechung des BVerfG schlägt sich diese Konstellation in einer unklaren Mischung von quasi-individuellen und quasi-staatlich-öffentlichen Elementen der Unternehmensverfassung nieder. Dieses unklare Verhältnis von individuellen und kollektiven Momenten der Grundrechtsfunktionen ist auch an der „verfassungsliberalen" Annahme abzulesen, die Kerngarantie der grundrechtlichen Freiheiten gelte der „autonomen Persönlichkeitsentfaltung" und diese wiederum bestehe darin, daß der „Mensch und Bürger seine grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten und Rechte in eigenständiger Wahl nutzt" 784 . Das qualitativ neue Moment der Organisation wird in den verschiedenen Varianten der Dogmatik vernachlässigt. Das Verhältnis von Außen- und Innenbeziehungen des Unternehmens als juristische Person hat das BVerfG mit der Entscheidung für den „Vorrang des Eigentums vor der Berufsfreiheit" 785 zwar zu Gunsten der ersteren geklärt, wenn es trotz der Notwendigkeit, die Berufsfreiheit der Arbeitnehmer auch innerhalb des Unternehmens zu schützen, eine Garantie des „eigentümerischen" und „unternehmerischen" Letztentscheidungsrechts der die Anteilseigner repräsentierenden Organe annimmt 786 . Dennoch entsteht 784 Brugger (Fn. 742), S. 639. 785 BVerfGE 50, 365.

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

hier eine Unklarheit, weil der qualitative Unterschied von Innen und Außen des Unternehmens in ein quantitatives Verhältnis von Mehr/Weniger an Entscheidungsrechten transformiert wird. Die Eigenständigkeit der juristischen Person wird aufgelöst in eine Reihe von „funktionalen Parzellen von Freiheit" 787 , die zwischen Arbeitnehmern und Unternehmer verteilt werden, während die juristische Person selbst nur das Aggregat dieser Teilrechte zu sein scheint. Suhr geht sogar so weit, vom „ersten Anschein" einer „prinzipiellen Symmetrie in den Chancen konkordanter Ausfüllung" der „unterschiedlichen Freiheitssphären" 788 der natürlichen Personen zu sprechen, die dem Unternehmen angehören. Die Außenbeziehungen, die „Funktionstüchtigkeit des Unternehmens nach außen", müssen danach zwar gewahrt bleiben, aber diese „Voraussetzung" bleibt merkwürdig unverbunden neben den „prinzipiell gleich mediatisierten Rechten, Freiheiten und Chancen" im Unternehmen stehen. Zwar unternimmt Suhr den verdienstvollen Versuch, den Status des Unternehmens und seiner Umwelt insbesondere im „Geldsystem" zu analysieren, aber auch dort reduziert die Beobachtung von Asymmetrie, des ,»Kontrahierungsvorteils" des Unternehmers gegenüber den Arbeitnehmern, das Unternehmen auf ein Machtverhältnis, das auch innerhalb der Grenzen seiner Organisation zur Störung der Bedingungen und Strukturen führe, „unter denen es zur Konstituierung »freier* und »verantwortlicher 4 SelbstEntfaltung natürlicher wie juristischer Personen kommt" 7 8 9 . Dieses Konzept von grundrechtstheoretisch reflektierter Autonomie postuliert als seine Basis „»kreisförmige 4, also zyklische Abläufe in der Selbstentfaltung der natürlichen (und in den verfaßten Abläufen der juristischen) Personen". In diesem zirkulär geschlossenen »»Selbst", dem Zusammenhang von „Freiheit, Verantwortung und Identität der Persönlichkeit" 790 erscheint das Eigentum — im normativen Entwurf, nicht in der realen Wirtschaftsverfassung — als Selbst-Begegnung der Person mit der Attribution der Folgen seiner sozialen Handlungen als einer Art alter ego. Denn — so zitiert Suhr Hegel — "in dem Eigentum ist die Person mit sich selbst zusammengeschlossen". Demgegenüber seien die „Verantwortungskreise" bei der kapitalistischen Aktiengesellschaft als Produkt der vom Geldsystem erzeugten Asymmetrien „weniger »geschlossen4 ", weil ihre Organe nicht den Arbeitnehmern im gleichen Maße verantwortlich sind 791 . — Dies ist zwar nicht die Position des Bundesverfassungsgerichts, das Gericht ist sich aber der Heterogenität der unternehmensverfassungsrechtlichen Konzepte, die es durch eine quantitative Verteilung von Entscheidungsrechten harmonisieren zu können glaubt, letztlich nicht bewußt. 786 D. Suhr, Organisierte Ausübung mediatisierter Grundrechte im Unternehmen, Arbeit und Recht 1988, S. 65 ff., 71. 787 Suhr (Fn. 742), S. 70. 788 Suhr (Fn. 786), S. 71. 789 Suhr (Fn. 786), S. 76. 790 Suhr (Fn. 786), S. 76. 79) Suhr (Fn. 786), S. 77.

II. Grundrechte und Wissensgesellschaft

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I I . Die Grundrechte im Übergang zur Informationsund Wissensgesellschaft 1. Die juristische

Person und die Grundrechtsbetätigung im Unternehmen

An dieser Stelle soll zunächst noch einmal ein Blick zurück auf die oben behandelten Fragen nach dem Verhältnis von Grundrecht und Organisation im Bereich der öffentlichen Kommunikation geworfen werden. Es hat sich gezeigt, daß neue organisations-, Verfahrens- und leistungsbezogene Grundrechtsdimensionen gerade dort entwickelt worden sind, wo entweder der Staat sein Handlungsfeld erweitert hat (Verwaltungsverfahren) oder durch Organisation die kulturelle und politische Identität der Gesellschaft reflektiert wird (Wissenschaft, Presse, Rundfunk). Dort hat sich die Frage gestellt, ob und wieweit die Binnensphäre der Produktion gegenüber dem externen Aspekt des Austauschs mit den „Konsumenten" autonomisiert und der Zeithorizont der Programme erweitert werden kann. Anforderungen von „Konsumenten" sollen nicht unmittelbar auf die Produktion von Wissenschaft, Kultur, Informationen etc. durchschlagen. Daß dies kein risikoloses Verfahren ist, liegt auf der Hand, aber es kann doch darauf vertrauen, daß die nötige Selbsterneuerung solcher Systeme über die Institutionalisierung von Professionalismus und die damit verbundenen Motivationen sowie die in abgeschwächter Form fortbestehenden Rückkopplungen an die Öffentlichkeit gewährleistet bleibt. Letztlich sollen dadurch der Zeithorizont der Entwicklung einer Gesellschaft erweitert und mehr Möglichkeiten erzeugt bzw. erhalten werden, da die Selbst-Verständlichkeit der Gesellschaft mehr und mehr in Frage gestellt ist, während die klassische Doktrin noch von einer größeren Konkordanz zwischen Individuellem und Allgemeinem ausgehen konnte 792 . (Darauf wird noch zurückzukommen sein). Wenn man in einem Gedankenexperiment den Gesichtspunkt der Erweiterung des Zeithorizonts der Gesellschaft durch Vervielfältigung von nebeneinander herlaufenden Möglichkeiten als ein die Unterschiedlichkeit der Handlungsfelder übergreifendes Kriterium für die Bewertung der Grundrechtsrelevanz auch der Unternehmensverfassung heranzieht, so läßt sich möglicherweise eine neue Perspektive nicht nur auf das Problem der Grundrechtsfähigkeit der Organisation sondern auch auf die Funktion von Grundrechten unter den durch gesteigerte Komplexität charakterisierten Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels gewinnen: Auf der einen Seite spricht zunächst einiges für die Grundrechtsrelevanz der Stellung der Arbeit in Unternehmen („Grundrecht der Arbeit"). Den Status der Arbeit allein auf den Austausch von Arbeitsleistung gegen Geld zu reduzieren,

792 R. Wiehl, Die Komplementarität von Selbstsein und Bewußtsein, in: K. Cramer / H. F. Fulda / R. P. Horstmann (Hg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt 1987, S. 44 ff.,

61.

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

hieße die Eigentümlichkeit der Organisation als eines kollektive Lernfähigkeit institutionalisierenden Netzwerks von Handlungen und die Notwendigkeit der Gewährleistung von Partizipationschancen an einem Produktionsprozeß gänzlich vernachlässigen 793. Auf der anderen Seite verfehlt aber die etwa von Suhr auf die Spitze getriebene Tendenz zur Konstruktion des Unternehmens als eines Aggregats von personalen Freiheitssphären die genauere Bestimmung des Verhältnisses von innen und außen des Unternehmens. Denn in den oben geschilderten Sphären des Öffentlichen wird die stärkere Geschlossenheit der Funktionssysteme Wissenschaft, Rundfunk etc. gegenüber zahlungskräftiger „Nachfrage" kompensiert durch die Verstärkung des Professionalismus bzw. die Internalisierung der „Kundeninteressen" in der Form des institutionalisierten Gruppenpluralismus und der darin zum Ausdruck kommenden Vielfalt mediatisierter kultureller Interessen. Das Verständnis von Mitbestimmungsformen als Elemente,»kollektiver grundrechtlicher Selbstbestimmung" der Arbeitnehmer 794 oder die Annahme einer „prinzipiellen Symmetrie... bei der Organisation konkordanter Grundrechtsausübung im Unternehmen" als Basis des „Selbst der juristischen Person Unternehmen 7 9 5 , kann jedoch nicht einmal plausibel das selbstgesteckte Ziel erreichen, die „Knappheit von Arbeitsplätzen in einer hochtechnisierten Gesellschaft" sowie die „Bedeutung der Arbeit für die Lebenshaltung der Bevölkerung" 796 zur Grundlage einer mit den Rechten der Unternehmer kollidierenden organisations- und verfahrensrechtlichen Komponente des Art. 12 Abs. 1 GG (in der Hand des Arbeitnehmers) zu erheben. Dies würde zunächst voraussetzen, daß es ein relativ einheitliches, von den Gewerkehaften oder Betriebsräten prozedural zu definierendes repräsentatives Interesse „der Arbeit" geben könnte. Die zunehmende Heterogenität der Entwicklung der Arbeitnehmerinteressen (Stichwort: „Individualisierung") und das schwer strukturierbare Problem der Arbeitslosigkeit 797 sprechen eher dagegen. Daß überdies Interessen an der Erhaltung öffentlicher Güter wie der Umwelt mit denen der Arbeitnehmer nicht unbedingt identisch sind, ist gleichfalls bekannt 798 . Die der kritisierten Position zugrunde liegenden Sichtweise eines relativ einheitlichen Interesses „der Arbeit" an Selbstbestimmung, das mit der „Fremdbestimmung" durch die Unternehmer kollidiert und deshalb durch Gesetz auszugleichen ist, hat allerdings historisch mindestens 7 93 J. Markowitz, „Seele" in der Defensive. Anmerkungen zum Problem der Partizipation, KulturRevolution No. 19 (1988), S. 38 ff. 794 Ο. E. Kempen, Demokratieprinzip, Grundrechtssystem und Personalvertretung, Arbeit und Recht 1987, S. 9 ff., 11. 795 Suhr (Fn. 786), S. 75. 7% Kempen (Fn. 775), S. 135. 797 p. Rosanvallon, La question syndicale, Paris 1988. 798 Vgl. zu einer neuen Unternehmenstheorie P. Ulrich, Die Transformation der ökonomischen Vernunft, Stuttgart 1986; ders., Die neue Sachlichkeit, Die Unternehmung 1987, S. 409 ff.

II. Grundrechte und Wissensgesellschaft

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partiell eine Grundlage in der Entwicklung der Massen-(Fließband-)Produktion gehabt, die relativ uniforme Bedürfnisse in standardisierten, auch die Arbeitskraft subsumierenden Produktionsverfahren zu befriedigen schien 799 . Daran knüpft auch die Vorstellung einer das Unternehmen „veröffentlichenden" gesellschaftsdemokratisierenden Funktion des Sozialstaatsprinzips an 800 : Die auf der Grundlage eines relativ homogenen Interesses durch die Gewerkschaft als „Demos" des Unternehmens konstituierten Arbeitnehmer verfügen danach durch die Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3) und die Mitbestimmung auf Unternehmens- und Betriebsebene über die Verausgabung von Arbeitskraft mit. Die Konzeption ist orientiert an distributiver Gerechtigkeit: Die durch Machtungleichgewicht beschränkte Individualfreiheit der Arbeitnehmer wird durch die Möglichkeit zur kollektiven Verfügung über ein Gesamtinteresse der Arbeitnehmer, also durch Gruppenautonomie und Chancengleichheit wieder kompensiert. Eine befriedigende Grundrechtstheorie der Organisation ist so nicht zu gewinnen. Diese Konzeption gerät vor allem durch die veränderten technologischen, sozialen und organisatorischen Bedingungen der Produktion unter immer größeren Argumentationsdruck, da sich die Vernachlässigung der (Markt-) Umwelt der Unternehmen kaum legitimieren läßt. Ist dies gleichbedeutend mit einem Plausibilitätsgewinn der individualistischen Freiheitskonzeption? Oder ergibt sich die Möglichkeit oder gar die Notwendigkeit einer Neukonstruktion der ökonomischen Freiheitsrechte des Unternehmens wie des Individuums? Mit anderen Worten: Gibt es angesichts der schwerfällig gewordenen Institutionen sozialstaatlich modellierter Gruppenautonomie eine Alternative zur Rückkehr zum marktorientierten Individualismus? Die Beantwortung dieser Frage soll zunächst in theoretischen Argumentationsschritten vorbereitet werden. 2. Individuum und Organisation im Prozeß der gesellschaftlichen Wissensproduktion Für den weiteren Gang der Untersuchung ist es wichtig festzuhalten, daß Freiheit immer von einer Gesellschaftskonzeption abhängig und deshalb auch das Verhältnis der Trennung von Staat und Gesellschaft (der Individuen) kein Verhältnis der Gleichgültigkeit war. Diese Konzeption war seit dem 19. Jahrhundert offen oder versteckt mit Annahmen über bestimmte nach Newtons Weltbild oder nach Darwins Lehren konstruierten Gesetzmäßigkeiten verbunden. Aber letztlich konnte damit kein neuer exogener Fixpunkt der Gesellschafts- und Rechtsentwicklung mehr gefunden werden. Es bleibt eine endogene paradoxe Form der Selbstbeschreibung der Gesellschaft, in der die Gesellschaft als kollektiver Effekt den Individuen als Produkt von Gesetzmäßigkeiten entgegentritt, ob799

Vgl. das Konzept von M. J. Piore / Ch. F. Säbel, Das Ende der Massenproduktion, Berlin 1985. eoo Ridder (Fn. 762), S. 19. 13 Ladeur

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

gleich sie zugleich deren Bestandteile sind 801 . Die Gesellschaft bedient sich naturwissenschaftlicher Bilder, um das Vertrauen in ihre Selbstreproduktionsfähigkeit und Beständigkeit zu erhalten 802 . Die liberale Staatstheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat diese Entwicklung zur Selbststabilisierung der Wirtschaft in einem linearen Gleichgewicht mit der dogmatischen Konstruktion des Eingriffsabwehrrechts der Individuen zu einem vorläufigen Abschluß gebracht: Die „natürliche" Handlungsfreiheit, der gegenüber sich die staatlichen Gesetze als „Schranken" darstellen, ist einem quasi-naturgesetzlichen Charakter der Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen zu verdanken, an dem der Gesetzeswille des Staatssubjekts seine immanenten Grenzen findet. Diese Variante der „natürlichen" Handlungsfreiheit hat also einen gänzlich anderen Charakter als die den klassischen bürgerlichen Vertragstheorien vorausgesetzte Freiheit des Individuums in der Natur, die mangels einer externen Bindung erst in eine rechtlich konstituierte Freiheit innerhalb der Gesellschaft zu transformieren ist 8 0 3 . Diese kurze Reminiszens des Eingriffsabwehrdenkens öffnet den Blick dafür, daß eine adäquate Bestimmung des Verhältnisses von (Markt-)Freiheit und Organisation zunächst eine Überlegung zur Funktion des Marktes selbst als einer kollektiven Institution voraussetzt. Eine moderne Form der Rekonstruktion dieses Zusammenhangs von Gesellschaft und Individuen ist in Hayeks Variante des methodologischen Individualismus zu sehen. Diese Theorie geht nicht mehr von einem fixen Bestand von Präferenzen aus, auf dessen Grundlage sich eine Vielfalt von Austauschprozessen entwickelt. Sie setzt auf einer höheren Abstraktionsebene an: Die Entscheidungsfreiheit der (Markt-)Subjekte ist danach darin begründet, daß die Kenntnis aller möglichen besonderen Umstände, Interessen, Wünsche, Produktionsmöglichkeiten etc. über eine Vielzahl von Individuen verstreut ist 8 0 4 und daß nur die Preise ein Verfahren gewährleisten, über das so viele Informationen in kondensierter Form den Marktsubjekten zur Verfügung gestellt werden, wie sie brauchen, um ihre Entscheidungen auf die Ordnungsmöglichkeiten des Systems abzustimmen. Diese Kenntnis in anderer Form zu vermitteln, wäre geradezu unmöglich. Das „Entdeckungsverfahren" Markt gewährleistet die Anpassung an die Bedingungen einer sich rasch wandelnden Welt durch den Mechanismus der „spontanen Ordnungsbildung" 805 . Hier tritt ein selbstreferentieller Mechanismus auf, denn die Regel des Entdekkungsverfahrens verdankt sich der Anwendung des Entdeckungsverfahrens auf soi J. P. Dupuy, L'autonomie du social, Manuskript 1986, S. 26. 802 F. Tinland, Droit naturel, loi civile et souveraineté, Paris 1988. 803 F. A. v. Hayek, Law, Legislation and Liberty, Vol. 1 : Rules and Order, London 1973, S. 14; vgl. zu Hayek allg. H. Bouillon, Ordnung, Evolution und Erkenntnis, Tübingen 1991. 804 Hayek (Fn. 803). 805 Hayek (Fn. 803).

II. Grundrechte und Wissensgesellschaft

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sich selbst: Die Erfahrung, von der wir bei unseren Handlungen ausgehen, lagert sich, ohne daß wir dies wissen, in den Schemata ab, von denen wir uns bei unseren Entdeckungen leiten lassen806. Die Erfahrung wird damit Gegenstand und Kriterium ihrer eigenen Beurteilung 807 . Von den Konzeptionen des 19. Jahrhunderts unterscheidet sich diese Theorie deutlich dadurch, daß sie nicht mehr von einem stabilen linearen Gleichgewichtsmodell ausgeht, sondern in einem größeren Umfang mit der Selbstmodifikation der Gesellschaft rechnet. Aufgrund eines Paradigmawechsels in den Natur- und Gesellschaftswissenschaften der letzten Jahre, der zur Entdeckung von Irreversibilität geführt hat, läßt sich das Auftreten von Selbstreferenz nicht mehr als vorübergehendes Krisenphänomen, sondern als ein permanentes Phänomen der Selbstmodifikation von Regeln und Regelmäßigkeiten durch den Prozeß ihrer „Anwendung" charakterisieren. Objekt-Ebene (Regelanwendung) und Meta-Ebene (Regelbildung) sind stets nur provisorisch voneinander getrennt. Neben der Regelanwendung verläuft ein nicht-intendierter Prozeß der Selbständerung durch Fluktuationen, die teils abgedämpft, teils aber auch sprunghaft an Bifurkationen zu einem qualitativ anderen Systemzustand führen 808 . Ordnung stellt sich damit immer mehr als „Ordnung durch Schwankungen" fern vom Gleichgewicht dar 809 . Trotz bedeutsamer Unterschiede kann auch die Theorie der Autopoiese / Selbstorganisation in diesen Zusammenhang gestellt werden 810 , weil auch für sie Ordnung nicht mehr einer universellen, analytisch zu rekonstruierenden Gesetzmäßigkeit unterworfen ist, sondern unter Bedingungen des Ungleichgewichts und der Kreativität der Zeit paradoxe Formen einer zirkulär-rekursiven Selbsterzeugung von Ordnung aus der Interdependenz von Komponenten generiert werden 811 . Eine Parallele zur Theorie der „Ordnung durch Schwankungen" besteht darin, daß die Kohärenz von Systemen nicht mehr deduktiv aus einem vorausgesetzten universellen Gesetz gewonnen wird 8 1 2 , sondern „lokale" zirkulär geschlossene Vernetzungsprozesse als systembildend postuliert werden. Es scheint gerade so, als ob die einzelnen Komponenten mit Informationen über den Zustand des gesamten Systems operieren, also einen kollektiven Effekt erzeugen können, der nicht analytisch an den 806 Dupuy (Fn. 803), S. 29. 807 M. Steiner, Entscheidungsregeln in „orthodoxen" and „evolutionären" Wirtschaftstheorien, RECHTSTHEORIE 1987, S. 183 ff. 808 I. Prigogine, Science, Civilization and Democracy, Futures 1986, S. 493 ff., 504. 809 Vgl. zur Theorie der Autopoiesis allgemein H. R. Maturana / F. J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, Bern u. a. 1987; zu einer soziologischen Lesart N. Luhmann, Soziale Systeme, Frankfurt 1984; zur Übertragbarkeit auf die Rechtswissenschaft Teubner (Fn. 750). βίο F. J. Varela, Experimental Epistemology: Background and Future, Cahiers du Centre de Recherche Epistemologie et Autonomie No. 9 (1986), S. 107 ff., 116. en A. Boutot, Structures dissipatives et catastrophes, Revue philosophique 1988, S. 171 ff., 198. 812 F. J. Varela, Der kreative Zirkel, in: P. Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, München/Zürich 1981, S. 194 ff., 198. 13*

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

einzelnen Elementen oder an ihrem Durchschnitt als Effekt eines allgemeinen Gesetzes nachweisbar ist 8 1 3 . Durch das Zusammenwirken der Elemente werden Einheiten einer höheren Ordnung erzeugt, die dennoch auf eine paradoxe Weise schon im Zusammenwirken dieser Elemente enthalten sein muß. Diese Konzepte werden in verschiedenen Lesarten auch auf Gesellschafts- und Geisteswissenschaften übertragen 814. Für unseren Zusammenhang mag es zunächst genügen festzuhalten, daß die Phänomene der Selbstreferenz, Selbständerung, Selbstorganisation als Formen einer zirkulär-rekursiven Verschleifung von Objektebene (Element, Regel, Entscheidung etc.) und Meta-Ebene (System, Meta-Regel etc.) zu Dauerphänomenen geworden sind. Aus dieser Perspektive ergibt sich für die Sozial- und Rechtswissenschaften das Problem, Reflexivität sozialer Systeme durch Konstruktion und Revision von Selbstbeschreibung / Selbstbeobachtung zu ermöglichen und in einer paradoxen Weise die Erwartung des Unerwarteten zu ermöglichen, weil es in Ungleichgewichtssystemen keine dauerhaft stabilen Erwartungen geben kann. Dies führt zunächst in einem ersten Evolutionsschritt, der zur Entstehung der „Gesellschaft der Organisationen" führt und ganz in der sekundären Modellierung des traditionellen Strukturmodells der „Gesellschaft der Individuen" aufgeht. „Materialisierung" von Freiheit und Gleichheit in der Form der Gruppenautonomie, der „faktischen" Ungleichgewichtslagen kompensierenden Parität, Chancengleichheit etc., bleiben an die Strukturvorgaben der „Gesellschaft der Individuen" gebunden. Aber die Organisation verschiebt auch den Wissens- und Zeithorizont der Gesellschaft. In einer kognitivistischen, auf der Generierung von Wissen aufbauenden Perspektive drängt sich damit die Notwendigkeit auf, die Selbstbeschreibungen des Rechtssystems mindestens partiell von der Orientierung an quasi-räumlich verstandener Abgrenzung von Handlungs- / Freiheitssphären abzulösen und auf die veränderten Bedingungen der Generierung des zur Reproduktion einer solchen Gesellschaft erforderlichen Wissens einzustellen. Die Organisation kann mehr und anderes Wissen speichern als das Netzwerk der Individuen, sie bildet eine neue Form des Gedächtnisses aus und erweitert die strategischen Handlungsmöglichkeiten. Der damit einhergehende Veränderungsdruck wird noch einmal gesteigert durch den Übergang zur „selbstorganisierten Informationsund Wissensgesellschaft", in der Organisation und Markt flexibel und diskontinuierlich miteinander verbunden werden und damit neue Variationen eines konstruktiven Offerierens in und mit multiplen Optionsräumen sich entwickeln. Damit 813 Steiner (Fn. 807); U. Witt, Individualistische Grundlagen der evolutionären Ökonomik, Tübingen 1987, S. 148 ff.; P. M. Hejl, Towards a Theory of Social Systems: SelfOrganization and Self-Maintenance, Self-Reference and Syn-Reference, in: H. Ulrich / G. J. Β. Probst (Hg.), Self-Organization and Management, Berlin u. a. 1984, S. 68 ff. s*4 R. H. Day, Disequilibrium Dynamics, in: ders. /G. Eliasson (Hg.), Economic Behavior, Disequilibrium and Structural Change. From Micro-Force to Macro-Effect, Amsterdam 1986, S. 51 ff., 56.

II. Grundrechte und Wissensgesellschaft

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werden ganz neue Probleme eines stärker konstruktiv, mit selbsterzeugter Komplexität operierenden modellbildenden Denkens geschaffen, die über die sich in einem relativ homogenen Raum sich stellenden Probleme der optimalen Wahl zwischen vorhandenen Optionen hinausweisen. Das produktive, den kollektiven Effekt des Individualismus akzentuierende Moment in Hayeks Theorie besteht in der kognitivistischen Konstruktion seines Ansatzes, der gesellschaftliche Institutionen auf ihre Leistungsfähigkeit unter Bedingungen des Operierens mit und unter Ungewißheit testet. Allerdings bleibt die Konzeption insofern begrenzt, als sie zwar bis zur Selbstreferentialität der sich selbst evaluierenden, kontinuierlich sich bildenden Erfahrung verstößt, aber die Möglichkeit einer diskontinuierlichen Selbstmodifikation bzw. Selbstblokkierung gesellschaftlicher Erfahrung vernachlässigt. In den dem neueren Paradigma der Selbstorganisation zugrunde liegenden Ungleichgewichtssystemen können jedoch keine stabilen Erwartungen gebildet werden, wie dies etwa zur Zeit der Gültigkeit des Gleichgewichtsmodells, in der sich die Individuen an einer potentiell von allen geteilten Erfahrungen orientieren konnten, noch zu unterstellen war. Jetzt müssen sie permanent beobachten und sich selbst beobachten815, und Modelle bilden unter Bedingungen der Ungewißheit darüber, ob und wieweit die (Selbst-)Beschreibungen passen. 3. Markt und Eigentum In einer kognitivistischen, an der Generierung von Wissen für das Entscheiden unter Ungewißheitsbedingungen orientierten Perspektive läßt sich auch die Funktion des Eigentums exemplarisch neu beschreiben. Das Eigentum ist mit der traditionellen zivilrechtlichen Charakterisierung als Rechtsgarantie der Sachherrschaft nur noch ungenügend zu erfassen. Der verfassungsrechtliche Begriff des Eigentums geht deshalb erheblich weiter 816 , aber auch dieser weitere Begriff bleibt noch orientiert an der Vorstellung einer substanzhaften Verfügungsmöglichkeit. In der neueren Systemtheorie wird mit Recht darauf hingewiesen, daß man Eigentum als ein „relationales" Konzept verstehen müsse 817 . Die Verfügungsmöglichkeit, die das Eigentum gewährt, ist einmal zusammen mit der Ausschließung von Nichteigentümern zu denken und zum anderen als „Position im Verhältnis zu anderen Positionen" zu konstruieren. Als solche ist sie immer schon „aufs Spiel gesetzt" 818 . Auf dem Hintergrund der oben skizzierten Konzeption einer zunehmenden Selbstreferenz der Gesellschaft, des Operierens mit selbstgeschaffener Konstruktion, kann Eigentum als Objektseite der Selbstbe815 G. Kampis, On the Modeling Relation, in: Systems Research 1988, S. 131 ff., 131. 816 Vgl. nur K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 17. Aufl., Heidelberg 1990, Rnr. 441 ff.; vgl. zur neueren dogmatischen Diskussion den Literaturbericht von J. Schwabe, Facetten des Eigentums, Der Staat 1988, S. 93 ff. 817 D. Baecker, Information und Risiko in der Marktwirtschaft, Frankfurt 1988, S. 162. sie Baecker (Fn. 817).

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

Schreibung des Rechtssubjekts insofern angesehen werden, als einmal bestimmte Operationen als eigene zugerechnet werden und zum anderen damit selbstreferentiell auf das Subjekt zurückverweisen. Es kann damit ebensowenig wie das Subjekt dauerhaft definiert werden, sondern wird im Prozeß des Operierens mit einem Verweisungszusammenhang immer wieder neu beschrieben 819. Das Eigentum führt sozusagen als Unterbrecher ein Moment der Heterogenität in den Prozeß der Abstimmung von Erwartungen auf dem Markt ein 8 2 0 , denn eine nur über Kommunikation erfolgende Konsensbildung würde zu einer völligen Blockierung des Austausche wie der Produktion führen, da die Konsensmöglichkeiten dort, wo in der Ökonomie über Präferenzen entschieden werden muß, angesichts zunehmender Pluralisierung von Optionen immer unwahrscheinlicher werden 821 . Insofern ist die Kritik an der über das Eigentum erfolgenden „Selbstisolierung" des Subjekts 822 verfehlt: Das Eigentum macht eine Paradoxie operationalisierbar; es ermöglicht Kooperation, indem es die Konsensanforderungen reduziert 823 . Eigentum als die Objektseite des rekursiv geschlossenen Zirkels der Selbstbeschreibung des Rechtssubjekts als Eigentümer erlaubt erst die spezifizierte Fremdreferenz auf den Verweisungszusammenhang der Anschlußmöglichkeiten an anderes Eigentum, über die ein Prozeß der Erzeugung von emergenten Selbstorganisationseffekten generiert wird — den man auch als „Entfremdung" bezeichnen könnte. Morin nennt ein solches paradoxes Verhältnis ,,auto-écoorganisation" 824 . Diese Formulierung läßt sogleich erkennen, daß und warum die Selbstbeschreibung des Subjekts kein objektives „Abbild" ist, sondern eine projektive Selbstkonstruktion, die notwendigerweise unvollständig bleibt und auf Selbständerung durch die „Lektüre" der Ergebnisse ihrer »Anwendung" angewiesen ist und dadurch stets ein Moment der Emergenz des Neuen impliziert. Dieser Prozeß wird gespeist aus der Asymmetrie von Entscheidung / Verfügung und Betroffenheit, die darauf zurückzuführen ist, daß das Eigentum die Rückkopplung zwischen den Akteuren (Mikro-Ebene) und dem Markt als kollektivem, die Summe der Austauschbeziehungen überschießenden Effekt der gesellschaftlichen Selbstorganisation (Makro-Ebene) gewährleistet. Die Umstellung von einer Ressourcen- zu einer Informationsökonomie legt auch eine Neukonstruktion des Eigentums nahe, dessen Struktur immer noch 819

P. Vidali, La ragione osservativa. Per una teoria dell'auto-osservazione, in: G. Barbieri / ders. (Hg.), La ragione possibile, Mailand 1988, S. 88 ff. 820 j. Coleman, Competition and Cooperation, Ethics 98 (1987), S. 86 ff., 86; M. Forsé, L'ordre improbable, Thèse d'Etat (Paris V), 1987, S. 344. 821 Die wirtschaftspolitische Konzeption der „Grünen" enthält ein auf hohem Konsensbedarf basierendes Modell, dessen Realisierung die „Fundi" / „Realo"-Konflikte zur Normalform ökonomischer Rationalität machen würde. 822 Vgl. dazu Suhr (Fn. 786), S. 70. 823 Day (Fn. 814), S. 56; Coleman (Fn. 81), S. 86. 824 E. Morin, La Méthode. Bd. 3: La connaissance de la connaissance, Paris 1986, S. 43.

II. Grundrechte und Wissensgesellschaft

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paradigmatisch vom Sacheigentum bestimmt wird. Daraus resultieren ζ. B. Probleme der Verarbeitung des gesellschaftsrechtlich vermittelten (Unternehmens-) Eigentum. In einer kognitivistischen (wissensorientierten) Perspektive wäre das Eigentum heute eher vom (früheren) Sonderfall des Patent- oder Urheberrechts 825 her zu konstruieren: Es wird zum Recht, bestimmte spezifische Ideen innerhalb der gesellschaftlichen „Ideenpopulation", in der sich eine Geschichte des Operierens mit Unterscheidungen als Netzwerk von An- und Verknüpfungsmöglichkeiten eingeschrieben hat, durch bestimmte, heute vor allem organisationale Verfügungs- und Ausschließungsrechte zu nutzen. Nach der Ablösung des Subjekts vom Boden vollzieht sich auch die Geschichte des Eigentums als ein Differenzierungsgeschehen, das die Möglichkeit einer zentral verfügbaren und definierbaren Gerechtigkeit nicht mehr zuläßt. Eigentum wird prinzipiell selbst zur schöpferischen Quelle neuen Eigentums und nur sekundär zum Recht an einer Sache. Das Eigentum hat eine vergangenheitsorientierte, gedächtnisbildende Funktion, insofern als es die Fortsetzung des Operierens mit den in ihm aggregierten Unterscheidungsmöglichkeiten ermöglicht und begrenzt und damit zugleich eine konsensuelle (identitäre) Form der „gedächtnislosen" Verfügung nicht mehr zuläßt. Gerade Lincolns gesellschaftliche und Rechtstheorien leben von einem Mythos der permanenten Neugründung, einer Katharsis, die reinen Tisch macht mit den Ambivalenzen einer auf einer Geschichte von Unterscheidungen basierenden Konstruktion des Kollektiven als eines emergenten, nicht in den Dispositionen der Individuen aufgehenden Effekts. In einer dynamischen, an einer Geschichte des Operierens mit Unterscheidungen orientierten Sichtweise ist auch der Nicht-Eigentümer in den Prozeß der Generierung der über das Privat-Eigentum vermittelten Ausschließungen und Anschlußzwänge einbezogen, da dadurch paradoxerweise die Vielfalt des allgemein verfügbaren, öffentlichen Pools der Möglichkeiten gesteigert wird, die durch Kommunikationsfreiheit, insbesondere Art. 5, 8, 9, 12, aber auch Rechte auf Erziehung zugänglich gemacht werden. Diese dynamische Konstruktion läßt erkennen, daß und warum auch die Struktur des Eigentumsrechts sich von der anderer Freiheitsrechte nicht grundsätzlich unterscheidet und der Gegensatz von universellen (jedermann zustehenden) Freiheitsrechten und exklusivem Eigentumsrecht nur in einer statischen Betrachtungsweise begründbar ist, die am nichtvermehrbaren Grundeigentum orientiert ist. Umgekehrt sind auch die universellen Freiheitsrechte i. e. S. nicht so universell, da auch hier persönliche Begabungen und Fähigkeiten ebenso wie die Geschichte der gesellschaftlichen „Ideenpopulation" mehr oder weniger Anschlüsse, aber eben nicht alles zulassen. Auch die universellen Freiheitsrechte bedürfen der institutionellen Reproduktion eines nicht individuell aneignungsfähigen gemeinsamen Wissens, das institutionell in der Schule, durch die Wissenschaft, im Rundfunk, Presse etc. reproduziert werden 825 I. W. Child, The Moral Foundations of Intangible Property, The Monist 1990, S. 578 ff.

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

muß und so erst die Vielfalt organisiert, die die Spielräume für individuelle Freiheit eröffnet. Eigentum und Freiheit stehen in einem historischen Entsprechungsverhältnis insofern, als sie ein produktives, Diversität ermöglichendes Verhältnis von Ordnung und Chaos in dem transsubjektiven Differenzierungsgeschehen der gesellschaftlichen Evolution erhalten. Umgekehrt zeigt sich in dieser Sichtweise, daß und warum auf „Volkseigentum" basierende Gesellschaften nicht lernen können: Sie reduzieren alle Unterscheidungen und die daran zu spezifizierende Erfahrung auf die eine Differenz zum Kapitalismus.

I I I . Grundrechte und Selbstreferenz 7. Markt, Organisation und prozedurale Rationalität Die neuere Grundrechtstheorie sieht sich zwar immer häufiger mit Kollektivphänomenen, relationalen Kontexten von Handlungen in Situationen und Organisationen konfrontiert, aber eine spezifische, für dieses neuartige oder in seiner Bedeutung sich verändernde Vernetzungsphänomen sensibilisierte Dogmatik hat sich dafür noch nicht entwickelt. Die dogmatische Figur der durch Abwägung zu bewältigenden „Grundrechtskollision" erscheint eher unterbestimmt. Insbesondere für die Entwicklung einer Grundrechtsdogmatik der (wirtschaftlichen) Organisation kommt es darauf an, unspezifische Rekurse auf „Selbstbestimmung" von Individuen in Organisationen oder eine das kollektive Moment der Kooperation in eine Vielzahl punktueller Zweierbeziehungen auflösende vertragsrechtliche Konstruktion (O. Williamson) zu überwinden. Die Organisation ist ein spezifisches, mit eigenem „Selbst" ausgestattetes Produkt der Transformation punktueller kooperativer Verhältnisse in einen dauerhaften Kooperationsprozeß, sie ist weder eine bloße Erweiterung individueller Selbstbestimmung noch eine Gemeinschaft mit einem von den Individuen getrennten Ziel. In der hier eingenommenen kognitivistischen Perspektive, die nach den Leistungen gesellschaftlicher Institutionen und Regeln für das Handeln unter Ungewißheitsbedingungen fragt, erscheint sie als ein funktional spezifiziertes Aggregat kollektiver Wissensbestände826. Entscheidend für die hier vertretene Konstruktion ist die Annahme, daß Markt und Organisation in der Grundrechtstheorie als zwei unterschiedliche Weisen der Wissensgenerierung zu modellieren sind: Die relative Dauerhaftigkeit des in der Organisation regelhaft aggregierten, auf Selbstmodifikation angelegten Systems produktiven Wissens ist zu unterscheiden von dem über den Markt distribuierten, nur über schwankende Preise im nachhinein „lesbaren" Wissen, das seinerseits ein kollektives Produkt nichtintendierter selbstorganisationsfähiger Nebeneffekte einer Vielzahl individueller 826 o. Favereau, Marchés internes, marchés externes, Revue économique 1989, S. 273 ff., 297.

III. Grundrechte und Selbstreferenz

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Handlungen ist. Aber Markt und Organisation bleiben auf eine paradoxe Weise miteinander verbunden: Dadurch daß in der Organisation ein längerfristig sich entwickelndes und erhaltendes, durch Lernen immer wieder sich modifizierendes System von Regeln und Wissen institutionalisiert wird, erhält potentiell auch das Marktsystem eine größere Flexibilität über die Zulassung von mehr Möglichkeiten — wenn nicht Organisation das über Selbstorganisation sich spontan bildende Wissen unterdrückt — nämlich durch den größeren Zeithorizont des Entscheidens in und durch Organisationen 827. Insofern ist das Verhältnis von Markt und Organisationen durch ein heterogenes différentielles Zusammentreffen zweier Rationalitäten bestimmt, nämlich: des regelhaften, komplexere Formen der Selbstreflexivität ermöglichenden produktiven Wissens und der nicht dauerhaft strukturierten Ungewißheit, die über Selbstorganisationseffekte zwischen den (über eine Fülle von Individuen und Organisationen) zerstreuten Wissensbeständen auf dem Markt „prozessiert" wird. Diese beiden Rationalitäten für einander durchlässig zu halten, dabei aber weder die eine noch die andere Seite dominant werden zu lassen, ist eine spezifisch rechtliche Regelungsaufgabe: Durch Schaffung von Regeln, Verfahren, Institutionen muß gerade die produktive, nicht hintergehbare Heterogenität der Ordnungsprinzipien der Organisation und des Marktes und die dadurch gewährleistete Fähigkeit zur Selbstmodifikation der Gesellschaft erhalten werden. Der Sozialstaat hat das paradoxe kollektive Moment des Individualismus, die Erzeugung und Erhaltung der Gesellschaft durch einen „hinter dem Rücken der Individuen" sich vollziehenden Selbstorganisationseffekt in einer substantiellen Rationalität aufgegriffen und die prozedurale Rationalität wirklicher Ungleichheit kompensiert. An dieser substantiellen Rationalität des Sozialstaats ist auch die Annahme der Notwendigkeit des Ausgleichs von Grundrechtskollisionen im Unternehmen orientiert. Demgegenüber wäre ein der Erhaltung des heterogenen Verhältnisses von Markt und Organisation angemessenes komplexeres Ungleichgewichtsmodell, das die bloß kompensatorische Logik der substantiellen Rationalität überwände, eher in einer „prozeduralen Rationalität zweiter Ordnung" zu institutionalisieren 828 . „Prozedural" in diesem Sinne ist nicht etwa der Rekurs auf eine durch Offenheit der Beteiligung einzulösende diskursive Argumentationslast 829, die eine deduktive mit vorgegebenen Regeln operierende Rationalität ablösen könnte, auch nicht ein auf vollständige Information und damit auf die eine beste Lösung verzichtender pragmatischer Entscheidungsmodus. Prozedural — im Sinne der 827

L. Thévenot, Equilibre et rationalité dans un univers complexe, Revue économique 1989, S. 141 ff., 172. 828 Thévenot (Fn. 827). 829 Vgl. dazu J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt 1981, S. 532; Κ. Günther, Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungsdiskurse in Moral und Recht, Frankfurt 1988, S. 157 ff.

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

hier vertretenen kognitivistischen Position — ist vielmehr eine Rationalität, die — insoweit in Übereinstimmung mit Hayek 830 — selbstreflexiv (und damit den Staat als Regulierungsinstanz einbeziehend) soziale Institutionen primär unter dem Aspekt der paradoxen Konstruktion von Wissen unter Ungewißheitsbedingungen betrachtet. Die Bezeichnung als „prozedurale Rationalität zweiter Ordnung " ist darin begründet, daß nicht mehr nur — wie bei Hayek — der Markt als Erzeugung von Wissen unter Ungewißheitsbedingungen gewährleistende Institution begriffen wird, sondern die Selbsttranszendierung der Marktrationalität durch neue, über die Kreativität der Zeit ermöglichte Formen der Wissensgenerierung als Produkt einer mit der zunehmenden Entfernung der Gesellschaft von der Natur evolutionär zunehmenden Selbstreferentialität und Selbstreflexivität der Gesellschaft akzeptiert wird. In diesem Prozeß der Selbstkonstruktion der Gesellschaft unter Bedingungen selbsterzeugter Ungewißheit kann es nicht nur eine Institution geben, die Wissen für das Operieren mit Ungewißheit generiert. Deshalb kann es andererseits auch nicht nur um die Zulassung aller Individuen zur diskursiven Begründung gesellschaftlicher Institutionen und Regeln gehen, sondern primär um die strategische Relationierung einer Pluralität von ausdifferenzierten kognitiven Institutionen. Markt, Politik, Produktion, sozialstaatliche Institutionen etc. sind als heterogene, Wissen prozessierende Teilsysteme mit je eigenen Regeln in einer sekundären konstruktiven Modellierung durch das Recht aufeinander abzustimmen. Für den Staat heißt dies, daß die rekursive Zirkularität der spezifischen Selbstorganisationsfähigkeit von Institutionen nicht durch substantielle „positive" Aufgabenbeschreibung zu gewährleisten ist, sondern daß durch unterbrechende oder relationierende Auferlegung von „negativen" constraints, die deren Fähigkeit zur Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung steigern und auf Erzeugung von mehr Möglichkeiten zielen 831 , Resonanz in den jeweils anderen Institutionen zu erzeugen ist. Grundrechte und Staatsaufgaben entsprechen einander in der paradoxen Funktion der Gewährleistung von Koordination auf der Grundlage von Trennung und der Generierung von Wissen auf der Basis von Ungewißheit. Im Gegensatz zu Hayek ist aber darauf zu bestehen, daß Ungewißheit nicht nur über den Markt, sondern auch durch andere Institutionen (insbesondere Organisationen) strukturiert und durch Erzeugung von Wissen bearbeitet, wenn auch nicht ausgeräumt werden kann. Der Vorteil dieser „prozeduralen Rationalität zweiter Ordnung" besteht darin, daß die dem klassischen Eingriffsabwehrdenken zugrunde liegende Thematisierung des Entsprechungsverhältnis von Staat und Individuum unter der paradoxen Formel einer quasi-räumlichen Trennung einer Sphäre des Gesellschaftlichen und des Staatlich-Öffentlichen aufgenommen und in einer komplexeren Form sekundär modelliert wird. 830 Hayek (Fn. 803). 831 K. Krippendorff, Information, Information Society and Some Marxian Propositions, Informatologia Yugoslavica 1985, S. 7 ff., 34.

III. Grundrechte und Selbstreferenz

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Aus den bisherigen Ausführungen lassen sich einige Präzisierungen für das (organisierte) Unternehmenseigentum gewinnen: Wie oben gezeigt, ist die Organisation nicht als Verband von Personen (Arbeitnehmern, Anteilseignern, Managern), sondern als ein unter Bedingungen von Ungewißheit auf Selbständerung angelegtes, kollektive Lernfähigkeit ermöglichendes (produktives) Wissenssystem zu konstruieren. Das heißt nicht, daß dies etwa eine ontologisch zu rekonstruierende objektive Eigenschaft des Unternehmens wäre. Dies ist vielmehr die spezifische Differenz, mit der das Rechtssystem die Rechtsform des Unternehmens modellieren kann, weil sie zugleich die Differenz von Markt und Organisation operativ zusammenfaßt und eine Abstimmung von Selbst- und Fremdbeschreibung innerhalb der je eigenen Systemgrenzen (des Wirtschafts- wie des Rechtssystems) ermöglicht. Die grundrechtliche Struktur des Unternehmenseigentums muß deshalb an der Erhaltung der Lernfähigkeit des Unternehmens orientiert sein und dafür die rechtliche Binnenorganisation und die Rollen der am und im System „Unternehmen" Beteiligten sensibilisieren. Das bedeutet ζ. B., daß der Entscheidungshorizont des Unternehmens nicht durch kurzsichtige Interessenperspektiven der Binnenakteure und Interessenten begrenzt wird. Dies kann sowohl bei Aktionären (Stichwort: Spekulation), Managern (Stichwort: Wechselabsichten), Arbeitnehmern (Stichwort: kurzfristige Lohninteressen) als auch bei externen Interessenten (Stichwort: spekulative Übernahmen) der Fall sein. Daneben besteht generell die Gefahr, daß Unternehmen, soweit sie durch die Epoche der Massenproduktion geprägt sind, aufgrund ihrer Fähigkeit, die parametrische Rationalität des Handelns unter Marktbedingungen (Preis) in einer strategischen Rationalität zu verändern, sich Flexibilisierungs- und Anpassungszwängen partiell zu entziehen 832 und erfolgreiche Strategien zu verstärken suchen. Es ist gerade diese Abschottung von der Markt-Umwelt, die zu einer bestimmten Lesart eines „Grundrechts der Arbeit" als Grundlage der kollektiven Mitbestimmung im Unternehmen geführt hat: Großunternehmen scheinen (von außen) weniger lernen zu müssen und weniger verlernen zu können. Gerade dadurch entsteht die Gefahr, daß durch erweiterte Möglichkeiten der Disposition über gesellschaftliche Interaktionsnetzwerke externe Turbulenzen erzeugt werden, gegen deren Folgen sie sich intern und ggfs. auch durch den Ruf nach Staatshilfe stärker abschotten. Dadurch entsteht zugleich die Möglichkeit, daß Gewinn an Lernfähigkeit durch Organisation über strategische Blockierung dynamischer Selbstorganisationseffekte des Marktes wieder verspielt wird. Aus diesen Schwierigkeiten hat sich auch für das Unternehmen eine neue, die Selbstbeobachtungsfähigkeit akzentuierende Sichtweise in der Wirtschaftswissenschaft entwickelt 833 , die den Akzent bei der Erzeugung von mehr Wissen und 832 w. H. Starbuck, Organizations as Action Generators, American Sociological Review 1983, S. 91 ff., 96. 833 G. Morgan, Images of Organization, Beverly Hills u. a. 1986, S. 92; M. Zeleny, Integrated Knowledge Management, Human Systems Management 1987, S. 59 ff.; K. Krippendorff (Fn. 831).

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

damit mehr Möglichkeiten innerhalb der Organisation setzt, um das Unternehmen stärker für Selbständerungsprozesse durchlässig zu machen, die auch für eine Reintegration von externalisierten Effekten fruchtbar gemacht werden kann 834 . Daraus wird eine Neukonstruktion des Unternehmens als einer kollateralen (heterarchischen) Organisation entwickelt, die sich auf gesteigerte Selbstmodifikation durch Flexibilität einstellt. Dies zielt vor allem darauf, daß die Selbstbeobachtung des Unternehmens stärker dezentral distribuiert wird 8 3 5 und dadurch die Vorzüge der Institution Markt partiell in das Unternehmen wieder eingeführt werden. Die Durchlässigkeit der zirkulär-rekursiven Selbstorganisation des Unternehmens für Innovationen soll durch die Möglichkeit der Erzeugung von „Ordnung und Chaos" durch den Einbau von „Gegenkulturen" in die Organisation und d. h. mehr Pluralität und Heterogenität des prozessierten Wissens ermöglicht werden 836 . Dies ist nicht zuletzt eine Reaktion auf die von der evolutionären Ökonomie formulierte Vermutung, daß die (Groß-)Unternehmen keineswegs stets die beste Lösung eines Problems suchen, sondern primär in der „Nachbarschaft" des Erprobten nach Anschlußmöglichkeiten forschen 837. Die unter dem Paradigma des Ungleichgewichts sich stellende Notwendigkeit des Operierens mit einer Pluralität von Möglichkeiten statt mit der einen Wirklichkeit wird das Moment der Selbstkonstruktion durch Selbst- und Fremdbeobachtung stärker hervortreten lassen und den Übergang zu einer experimentellen strategischen, auf Selbstmodifikation angelegten, eben prozeduralen Rationalität verlangen 838 . Das bedeutet, daß die Selbstbeschreibung des Unternehmens nun in einer flexibel und variabel über seine Komponenten distribuierten Form sozusagen als ein auf Selbständerung angelegtes Produkt einer „Ideenpopulation" innerhalb der Organisation ermöglicht und erhalten werden muß 8 3 9 . Die Generierung von Wissen durch Organisation ist damit als endogenes Konstruktionsproblem und nicht primär als exogenes Problem der Informationssuche zu sehen. Insbesondere das Eigentum als Form der Rückkopplung von Mikro- und Makro-Ebene der Wirtschaft, das sowohl innerhalb des Unternehmens wie außerhalb — auf dem Markt — Kooperation punktuell oder dauerhaft durch ein paradoxes Moment der Heterogenität, ja der Ungleichheit, erst ermöglicht, kann darauf 834 G. J. B. Probst, Und was macht ein ganzheitlicher Manager?, Die Unternehmung 1989, S. 2 ff. 835 Zeleny (Fn. 833), S. 61. 836 I. Nonaka, Creating Organizational Order out of Chaos: Self-Renewal in Japanese Firms, California Management Review 1988, S. 57 ff., 59. 837 R. Nelson / S. Winter, An Evolutionist Theory of Economic Change, Cambridge / Mass. 1982; A. Bienaymé, Technologie et nature de la firme, Revue d'Economie Politique 1988, S. 823 ff., 836. 838 G. F. Lanzara, The Design Process: Frames, Metaphors and Games, in: U. Briefs / C. Ciborra / L. Schneider (Hg.), Systems Design for, with and by the Users, Dordrecht 1983, S. 29 ff., 33. 839 G. Kampis / V. Csanyi, Replication in Abstract and Natural Systems, BioSystems 1987, S. 143 ff.; P. Vidali (Fn. 80).

III. Grundrechte und Selbstreferenz

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beobachtet werden, ob es in seiner kollektiven, über verschiedene Varianten der Trennung bzw. Verbindung fragmentierter Elemente (Anteilseigentum, Beherrschung von Organen, Managementkontrolle, Konzernierung, Abhängigkeiten etc.) noch leistungsfähig ist oder durch Gegengewichte, Unterbrechung von blokkierenden Funktionsvermischungen oder Wiederherstellung von produktiven Funktionsverbindungen neu justiert werden kann oder muß. Dazu können ggf. auch Formen der Unternehmens- oder betrieblichen Mitbestimmung beitragen. (Auf Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden). Entscheidend für die hier entwickelte Konzeption ist aber stets die Orientierung an einer prozeduralen Rationalität (in dem angedeuteten Sinne), die die Generierung und Selbstmodifikation von Wissen unter Ungewißheitsbedingungen zum Kriterium erhebt. 2. Funktion der Grundrechte: Gewährleistung von Flexibilität und Selbstmodifikationsfähigkeit des gesellschaftlichen Wissens Es läßt sich schließlich ein Bogen von den im weiteren Sinne wirtschaftlichen zu den kommunikativen und politischen Grundrechten schlagen: Freiheitsrechte dienen unter Bedingungen komplexer, Meta- und Objektebene, Rechtssetzung und Rechtsanwendung verschleifender Selbstorganisationsprozesse primär der Erhaltung der Selbstmodifikationsfähigkeit des gesellschaftlichen Wissens unter Ungewißheitsbedingungen und damit der Flexibilität der Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft. Auf diese Weise läßt sich ein neuer Zugriff auf den in älteren Grundrechtstheorien (vor allem des 19. Jahrhunderts) auf der Grundlage eines linearen Gleichgewichtsmodells vorausgesetzten Zusammenhang von kollektiven und individuellen Momenten der Grundrechte gewinnen. Die Gewährleistung von Flexibilität und Selbstmodifikationsfähigkeit des gesellschaftlichen Wissens wäre evolutionär die Fortschreibung der Funktion der Grundrechte unter Ungleichgewichtsbedingungen. Mit diesem Konzept ließe sich eine Spezifizierung der unstrukturierten, durch die Zunahme von „Grundrechtskollisionen" notwendig gewordenen Abwägungsdogmatik erreichen. Dem Ungleichgewichtsmodell entspräche eher ein relationales, laterales Paradigma der multiplen, variablen Ordnungen, innerhalb deren sich Handlungsfelder und Wissenskonstruktionen in Netzwerken ablagern 840. Mit der gesteigerten Komplexität entstehen neue, in den bestehenden Regeln und Institutionen nicht zu verarbeitende negative synergistische Interaktionseffekte (Umweltprobleme, Arbeitslosigkeit etc.), die eine Erweiterung des Zeithorizonts gesellschaftlicher Institutionen zum Zwecke der Sensibilisierung für die „Kreativität der Zeit" und der damit einhergehenden Diskontinuität und Irreversibilität erfordern. Der Ungleichgewichtscharakter gesellschaftlicher Evolution hat eine höhere Komplexität angenommen und immer mehr Möglichkeiten und zugleich größere Ungewißheit geschaffen. Der Prozeß des Suchens und der Selek840 B. Waldenfels, Umdenken der Technik, in: W. Ch. Zimmerli (Hg.), Technologisches Zeitalter oder Postmoderne?, München 1988, S. 199 ff., 200.

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

tion von Anschlußmöglichkeiten für Handlungen kann nicht mehr nach relativ stabilen Parametern erfolgen, sondern verlangt nach einer neuen, auf Phänomene der Selbständerung und Selbstkonstruktion gesellschaftlicher Institutionen eingestellten prozeduralen Rationalität 841 . Diese Entwicklung ist weder in einer prozeduralen Rationalität erster Ordnung noch in einer an Gerechtigkeitszuständen orientierten substantiellen noch in einer auf Universalität des Begründungsverfahrens aufbauenden diskursiven Rationalität abzubilden und deshalb auch vom Staat nicht in universellen Regeln zu normieren oder nach staatlich gesetzten Zielen zu steuern. Grundrechte hätten die in einer a-zentrisch gewordenen Gesellschaft erforderliche Pluralität und Heterogenität des gesellschaftlichen Wissens unter Ungewißheitsbedingungen generierenden Teilsysteme zu erhalten und mehr Möglichkeiten für die Erhaltung von Selbstorganisationsfähigkeit zu schaffen. Das bedeutet nicht, daß Grundrechte „nichts als" Wissen gewährleisten sollen; die Grundrechte schützen faktisch eine Fülle von Motiven, Bedürfnissen, Zwecken etc., aber als Rechte statuieren sie Regeln über das „Wie", eben das gesellschaftliche Wissen („know how"), nicht das „Warum" und „Wozu". Auch hier läßt sich an klassische formale zweck- und folgenentlastete Freiheitskonzeptionen anknüpfen. (Daß auch dieser Grundsatz ebenso wie im klassischen Eingriffsabwehrdenken nicht „schrankenlos" gilt, sondern als Argumentationslastregel fungiert, versteht sich von selbst). Der entscheidende Vorteil einer solchen formalen Konzeption besteht darin, daß sie eine eigene Selbstbeschreibung des Rechtssystems in Bezug auf die Grundrechte ermöglicht und die Selbstbeschreibung anderer Systeme, die andere Aspekte der geschützten, aber je für sich poly-kontexturalen Handlungsfelder spezifizieren und in ihren Funktionsbereich übernehmen (Wirtschaft, Presse, Kunst etc.), respektiert und nicht zu ersetzen versucht. Auf diese Weise läßt sich auch Anschluß an eine Individuum, gesellschaftliche Institutionen und Staat zusammenführende allgemeine Theorie der Informationsgesellschaft gewinnen. Für diese sind weder die das Allgemeine an den Staat verweisenden Punkt-zu-Punkt-Beziehungen der liberalen Gesellschaft noch der kollektive Momente korporatistisch verselbständigende Sozialstaat kennzeichnend, sondern vielmehr die über Wissen / Information vermittelten Selbstorganisationseffekte zwischen Individuum und kollektiver Vernetzung 842 . Sie reflektiert insoweit die Bedeutung der Eigenart des Wissens als einer nicht in vollem Umfang kollektiv aneignungsfähigen Ressource für die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft. 841

Favereau (Fn. 826); ders., Valeur d'option et flexibilité: de la rationalité substantielle à la rationalité procédurale, in: P. Cohendet / P. Llerena (Hg.), Flexibilité, Information et décision, Paris 1989, S. 121 ff.; Thévenot (Fn. 827);vgl. auch H. A. Simon, From Substantive to Procedural Rationality, in: S. Latsis (Hg.), Method and Appraisal in Economics, Cambridge 1976, S. 129 ff. 842 Vgl. dazu G. Kirsch, Die Deregulierungsdebatte, Anmerkungen zu einem bornierten Streit, in: Th. Schmid (Hg.), Entstaatlichung, Berlin 1988, S. 38 ff.

III. Grundrechte und Selbstreferenz

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3. Die Bedeutung der Grundrechte in einem nicht-linearen Ungleichgewichtsmodell der Gesellschaft Daraus ergibt sich, daß der kollektive Charakter der Unternehmens- und Wirtschaftsorganisation nicht zu ihrer Subsumtion unter die Entscheidungsregeln des Staatlich-Öffentlichen führen darf; andererseits kann sie auch nicht durch Abschließung ihrer Interna wie ein großes Individuum behandelt werden. Ein neues, Organisation und Selbstorganisation übergreifendes Konzept kann den Anschluß an das traditionelle liberale Modell der Trennung von Staat und Gesellschaft finden, indem es die darin implizierten Probleme der Generierung von und des Operierens mit dem für das Entscheiden unter Ungewißheitsbedingungen erforderlichen Wissen aufgreift, um darüber den Zugang zu einer veränderten Selbstbeschreibung des Rechts unter Bedingungen der gesteigerten Komplexität einer sich selbst modifizierenden Gesellschaft zu gewinnen. Die hier entwickelte Konzeption mußte in dem gesteckten Rahmen relativ abstrakt bleiben und konnte keine konkrete Theorie einzelner Grundrechte oder einzelner grundrechtlich strukturierter Handlungsfelder präsentieren. Sie versucht vielmehr, die strukturbildende Ordnungsleistung des Eingriffsabwehrdenkens historisch innerhalb eines transsubjektiven Differenzierungsgeschehens genauer zu verorten, daraus eine an der Wissensgenerierung orientierte kognitivistische Perspektive auf die Funktion des Rechts zu entwickeln, die sich für das Phänomen der Selbstreferenz der Gesellschaft öffnet. Die materialisierenden Gerechtigkeitsziele können die erforderlichen strukturbildenden Momente nicht liefern, da sie die Grenzen einer auf Unterscheidungen basierenden Selbstbeobachtungs- und Selbstbeschreibungsfähigkeit des Rechts und des Staates überfordern würde. Die Generierung von Wissen und die Erhaltung einer Pluralität und Diversität der Möglichkeitsräume scheint dagegen eine Funktionsbeschreibung zu ermöglichen, die sicher für die einzelnen Handlungsfelder und Grundrechte der Ausdifferenzierung bedarf, aber doch das Verhältnis von Staat und Individuum benutzt, um nach der Möglichkeit eines neuen Verhältnisses von gesellschaftlicher Autonomie und staatlicher Heteronomie zu fragen, und nicht um angesichts seiner Grenzen zu einer identitären Gesellschafts- und Rechtskonzeption überzugehen. Darauf lassen sich auch die einzelnen Komponenten der neuen Grundrechtsfunktionen, insbesondere die aus den materiellen Grundrechten abgeleiteten Schutzpflichten, Verfahrens- und Organisationsprinzipien und die Funktion des subjektiven Rechts beziehen. Es hat sich gezeigt, daß Grundrechte und Staatsfunktionen immer in einem Entsprechungsverhältnis gestanden haben. Gerade das Eingriffsabwehrdenken hat die großen staatlichen Kodifikationen insbesondere des Bürgerlichen und des Gesellschaftsrechts, des Straf- und Strafprozeßrechts und die Entwicklung eines allgemeinen Verwaltungsrechts vorausgesetzt. Das Verständnis von Freiheit als Garantie eines „natürlichen", nicht staatlich ermöglichten Handlungsraumes ist auf eine relativ eindeutige, aber ihrerseits rechtlich konstituierte regelhafte Ab-

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

grenzung des Verhältnisses von Privatem und Staatlichem zurückzuführen. Diese Regelhaftigkeit war an bestimmte historisch nicht wiederholbare Bedingungen gebunden; sie ließ sich beschreiben in einem linearen Gleichgewichtsmodell mit festem Ruhepunkt, in dem sich die besonderen Schwankungen des Markt- und sonstigen individuellen Handelns ausgleichen. Der Übergang von einer „Gesellschaft der Individuen" zur „Gesellschaft der Organisationen" hat zur Entstehung einer Fülle neuer „sekundärer Modellierungen" dieser auf Operationalisierung angelegten Selbstbeschreibung des Rechts geführt, die man als „Materialisierungen" 8 4 3 begreifen kann: Das Markthandeln schwächerer Akteure wird über staatliche Zwecksetzung, die Verstärkung von Individualrechten durch Gruppenrechte, Kompensationsleistungen zur Erhaltung von Minimalstandards u. ä. sozialstaatliche Regelungen korrigiert. Die staatliche Willensbildung wird im Parlament durch Parteien, in der Verwaltung durch Aushandlungsprozesse von Gruppen vorstrukturiert, die Gerichte müssen angesichts der selbstreferentiellen Verschleifung von Regelsetzung und -anwendung mehr und mehr eine rechtsschöpferische Rolle übernehmen. Diese „Materialisierungen" waren nicht nur Produkte einer normativen Rückkopplung des Formalrechts an Gerechtigkeitsziele, sie waren auch Folgen von Standardisierungseffekten, die mit dem Übergang zur Massenproduktion 844 und dem Abbau traditioneller Wert- und Wissensbestände verbunden waren. Arbeitsleistungen, Qualifikationen, gesellschaftliche Werte etc. werden in einem Prozeß vereinheitlicht, der zur Entstehung neuer Gruppen, Großunternehmen, neuer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Regelungs- und Abstimmungsformen für die Bildung von variablen Konventionen 845 führt und damit zugleich die Artifizialisierung und Selbstmodifikationsfähigkeit der Gesellschaft steigert. In der hier gewählten kognitivistischen Perspektive ermöglichen Großgruppen und Großunternehmen eine höhere Gedächtnisleistung, auf deren Grundlage die spontane regelgesteuerte Bildung von Erwartungen durch strategische Koordination von Handlungen überdeterminiert werden kann. Das spontan und kontinuierlich über Vernetzungsprozesse zwischen Individuen sich entwickelnde Erfahrungswissen wird überlagert von strategisch modelliertem und konventionalisiertem Wissen. Die Leistungsfähigkeit dieses.neuen Systems, das als „Gesellschaft der Organisationen" bezeichnet werden kann, darf trotz (oder wegen) seines a-zentrischen Charakters nicht unterschätzt werden. Es hat eine Flexibilisierung und Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft durch Ermöglichung von Abstimmungs- und Koordinationsleistungen auf einer intermediären Ebene zwischen

84

3 Vgl. R. Wiethölter, Materialisierungen und Prozeduralisierungen von Recht, in: G. Brüggemeier / Ch. Joerges (Hg.), Workshop zu Konzepten des postinterventionistischen Rechts, Zentrum für Europäische Rechtspolitik, MAT 4, Bremen 1984, S. 25 ff. sowie B. Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, Frankfurt 1991, insb. S. 227 ff. Zum Gegenmodell der Prozeduralisierung. 844 Piore/Säbel (Fn. 799). 84 5 Vgl. Zur Konventionsbildung auch O. Servais, La relation salariale organisée, Economie Appliquée 1990, S. 75 ff., 88.

III. Grundrechte und Selbstreferenz

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Markt und Staat erlaubt. Aber auch dieses System war an ein Gleichgewichtsmodell gebunden. Es hatte das alte Modell der „Gesellschaft der Individuen" durch Kompensation für wahrgenommene Defizite erneuert, aber nicht grundsätzlich verändert. Die sekundäre Modellierung der Selbstbeschreibung der „Gesellschaft der Individuen" hatte — in einer kognitivistischen Perspektive betrachtet — die damit erzeugte Abhängigkeit von den Gedächtnisleistungen der Organisationen und deren zentrale Bedeutung für die Reproduktion der Gesellschaft vernachlässigt. Sie hat sich damit ihrerseits den Zugang zu ihren eigenen Entstehungsbedingungen und damit auch zur Reflexion ihrer eigenen Evolution verstellt. Wenn die Großorganisationen aufgrund der Tendenz zur Auflösung der Massenproduktion durch stärker flexibilisierte variable Organisations- und Produktionsformen ihre zentrale Bedeutung verlieren, muß auch der Wert der durch sie erbrachten Gedächtnis- und damit Orientierungsleistung für den Prozeß der Selbstmodifikation der Gesellschaft problematisch werden. Damit entsteht ein Bedürfnis nach einer revidierten Selbstbeschreibung der Gesellschaft und auch des Rechtssystems. Der durch den Übergang vom ersten zum zweiten Paradigma entstandene Bruch hat zugleich neue Entscheidungen und damit eine neue Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung des Rechtssystems ermöglicht. Die Selbstbeschreibungen des Rechtssystems sind von seiner eigenen historischen Entwicklung abhängig und erst der Bruch zwischen den Modellen läßt einen Vergleich zu, der wiederum eine neue zukunftsorientierte Perspektive eröffnet. In dieser so ermöglichten Sichtweise erscheint die Generierung von Wissen für das Entscheiden unter Ungewißheitsbedingungen, die für die sich immer mehr selbst zum Problem werdende Gesellschaft charakteristisch sind, als die zentrale, Selbst- und Fremdreferenz verbindende Aufgabe im Prozeß der gesellschaftlichen Reproduktion. Die Erfüllung dieser Aufgabe zwingt zur Revision der Selbstbeschreibung gesellschaftlicher Institutionen, insbesondere des Rechts, im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur Generierung neuen Wissens und erlaubt die Frage nach den Konsequenzen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse für die Wissensproduktion. Auf dieser Grundlage läßt sich die Annahme formulieren, daß die Selbstbeschreibung des Rechtssystems auf ein nicht-lineares Ungleichgewichtsmodell umgestellt werden muß. Mehr und mehr werden neue Formen der flexiblen, variablen Selbstorganisation sichtbar, die nicht mehr auf der Standardisierung von Produktion, Verfahren, Qualifikationen, Wert- und Wissensbeständen basieren, sondern in verschiedenen Phasen kontinuierlich und diskontinuierlich ihre Selbsterneuerung betreiben. Damit wird der konstruktive Charakter des von den Bedingungen der An- und Verwendung geprägten Wissens verstärkt: Die beschleunigte Veränderung und zunehmende Artifizialisierung des Wissens, seine Ablösung von der Kontinuität der Erfahrung reduzieren den zeitlichen Abstand zwischen Wissenserzeugung und -anwendung. Das Wissen wird selbst zur Konstruktion eines Optionenraums generiert und nicht mehr nur für die optimale Entscheidung zwischen mehr oder weniger festgelegten Optionen. Andererseits tritt die Bedeutung der materiellen 14 Ladeur

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

Ressourcen für die Produktion zurück; die Ressourcenökonomie wird zur Informations· und Wissensökonomie. Innerhalb eines solchen Modells kann die Gedächtnisleistung der Großorganisationen und ihre Funktion in der Konventionsbildung und der Abstimmung von erwartungsbildenden Werten- und Wissensbeständen nicht mehr umstandslos vorausgesetzt werden. Diese Funktion muß vielmehr in den Prozeß der Selbstorganisation durch Formen eingebaut werden, die durch Diversität und Pluralität der Möglichkeiten die Flexibilität eines azentrischen gesellschaftlichen Evolutionsprozesses gewährleisten können, der weder an einem Ziel noch an der Erhaltung eines Gleichgewichtszustandes orientiert ist. Er kann deshalb nur an der paradoxen Erwartung des Unerwarteten orientiert werden. Dieser prozeßhafte Charakter der Selbstmodifikation der Gesellschaft zwingt auch zur Reorganisation des Rechtssystems und insbesondere der Grundrechte. Der ohnehin prekär gebliebene Einbau von Organisationen in den Prozeß der das Recht ausdifferenzierenden und flexibilisierenden Konventionsbildung 846 (durch Tarifverträge und Aushandlungsprozesse) muß in einem Prozeß der „tertiären Modellierung" mindestens ergänzt werden um Organisationsformen, die Alternativenreichtum in und durch Organisation und Verfahren zu erhalten suchen und insbesondere neue Komponenten des Grundrechtsschutzes für die Erhaltung von Pluralität und Diversität unterschiedlicher mit Ungewißheit operierender und damit paradox werdenden Wissenssysteme in einer auf Selbstreferenz und Selbstkonstruktion angelegten Gesellschaft entwickeln. Diese neuen Formen sind auf die Erhaltung einer Diversität von Möglichkeiten und Unterscheidungen für den Prozeß der Selbstkonstruktion der Gesellschaft einzustellen. Auch wenn den Staat durchaus Interventionspflichten treffen oder er zur „Grundrechtspolitik" ermächtigt wird 8 4 7 , so wird dabei doch an grundrechtliche Traditionen insofern angeknüpft, als es nicht darum geht, materielle Aufgaben auf den Staat zu übertragen, sondern die Selbsterhaltung und Selbstdefinition der einzelnen durch die Grundrechte garantierten Wissenssysteme nur so zu garantieren, wie der Staat in der Epoche des Liberalismus die Handlungsfreiheit der Individuen durch Gesetze zu schützen hatte. Und in diesem Kontext findet auch der subjektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte eine neue Bedeutung: Sie garantieren nicht mehr eine quasi-räumliche Handlungsfreiheit, sondern auch das Recht auf Mit-Konstruktion komplexer, aber ausdifferenzierter Möglichkeitsräume, innerhalb deren sich Handlungsfreiheit entfalten kann 848 . Aber es sind jeweils besondere Konstruktionsbedingungen zu erhalten, dies ist eine Fortsetzung der Tradition des früher am Individuum

846 Vgl. dazu instruktiv D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, S. 5 ff. 847 Vgl. dazu D. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, recht 1988, S. 41 ff. 848 Vgl. J. Waldron, Can Communal Goods be Human Rights?, Arch. Eur. de Soc. 1987, S. 296 ff.

III. Grundrechte und Selbstreferenz

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festgemachten Momentes des Schutzes der Freiheit als Garantie von Selbstdefinitionsfähigkeit. Es ist die Rationalität der selbstorganisationsfähigen, ausdifferenzierten, systembildenden Handlungsnetzwerke, und nicht ein „Element" des jeweils einheitlichen „Volkes", das grundrechtlich zur Geltung gebracht werden muß. Die Grundrechte institutionalisieren auch in einer komplexer gewordenen Gesellschaft die Notwendigkeit, mit pluralen differentiellen Zwängen zu operieren und verhindern den — zum Scheitern verurteilten — Versuch, die Meta-Ebene des Kollektiven einer expliziten Kontrolle zu unterwerfen. Die Funktion der Grundrechte ist ihrerseits unter Bedingungen gesteigerter Selbstreferenz der Gesellschaft komplexer geworden, weil sie nicht mehr auf einem einheitlichen linearen, an Regeln orientierten Gleichgewichtsmodell aufbauen kann. Grundrechte müssen mindestens teilweise ihre eigenen Voraussetzungen mitgarantieren und die Veränderungen der Handlungsbedingungen in einem nicht-linearen Ungleichgewichtsmodell mitreflektieren. Aber daraus ergibt sich keine Verfügbarkeit des Kollektiven in expliziten Formen der Selbstdefinition, sondern die Grundrechte sind in einem Modell prozeduraler Rationalität auf die Ermöglichung der Vielfalt von Informationen und Informationssuchprozessen einzustellen, weil nur durch Flexibilität, durch Bereithaltung von mehr Möglichkeiten die paradoxe Erwartung des Unerwarteten haltbar werden kann. Das zentrale strukturbildende neue Phänomen, das die Bezeichnung der hier entwickelten Konzeption als „post-modem" legitimiert, ist in dem verstärkten Auftreten von Phänomenen der Selbstreferenz zu sehen, insbesondere der Rückwirkung der Regelanwendung auf die Regel selbst. Dieses paradoxe Verhältnis kann nur in einem nicht-linearen Ungleichgewichtsmodell (selbst-)beschrieben werden. Das Rechtssystem hat die damit notwendig werdenden Selbstrevisionen bisher eher spontan entwickelt, durch Ausdifferenzierung verschiedener Rechtsmaterien, die Verstärkung der rechtsgestaltenden Funktionen der Rechtsprechung, die beschriebenen neuen Komponenten des Grundrechtsschutzes etc. Auch die Bundesbank ist in diesem Zusammenhang zu nennen, weil sie die Rückwirkung der strategisch gewordenen Preis- und Lohn-„Politik" auf die Meta-Ebene der Regelsetzung und der Verteilung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen (insbesondere durch das Phänomen der Inflation) durch Geldwertpolitik zu begrenzen sucht. Es ist kein Zufall, daß gerade Institutionen als relativ funktionstüchtig gelten können, die die Akkumulation von selbstreferentiell werdender Regeldisposition zu perversen Effekten begrenzen. Das demokratische Defizit von Institutionen wie des Bundesverfassungsgerichts und der Bundesbank sollte nicht überbewertet werden, da darin ein Moment von der Unverfügbarkeit der Regeln auch durch Mehrheitsentscheidungen in einer neuen prozeduralen und institutionellen Form aufgenommen wird. Die Fortsetzung der Evolution der Gesellschaft in einem transsubjektiven Differenzierungsgeschehen, „das als Ganzes, als dastehende und spezifisch wirksame Einheit, keinen Produzenten hat, nicht aus einer 14*

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3. Teil: Das Paradigma der Selbstorganisation

entsprechenden Einheit eines seelischen Subjektes hervorgegangen ist" 8 4 9 (H. i. O.), verlangt eine neue prozedurale Rationalität, die die Selbstreferenz des Zirkels der Regelsetzung und Regelanwendung in Rechnung stellt und ihn nicht in einem imaginären Griff nach der Verfügung von einer Meta-Ebene aus aufzuheben sucht. Die Diskussion ist noch sehr stark durch zwei Alternativen bestimmt, deren eine den Zirkel der Selbstreferenz wie eine lineare Bewegung von Fluktuationen um einen Ruhepunkt zu behandeln sucht, während die andere darauf zielt, endlich „reinen Tisch zu machen" und die Meta-Regel zu setzen, die MetaOrganisation, das Meta-Verfahren zu schaffen, daß die Selbstverfügung des Menschen über sich selbst eröffnet. Dies sind zwei Varianten der Aufhebung der Verschleifung von Regel und Regelanwendung, von denen die letztere allerdings zweifellos die problematischere ist, weil sie das Operieren mit Differenzen gänzlich aufheben und zwangsläufig in Selbstdestruktion führen würde. Weil aber narzißtische Allmachtphantasien von der Einheit der Gesellschaft mit sich selbst durch kein noch so katastrophales Scheitern an der Realität widerlegbar sind, sondern nur zu Katharsiserlebnissen führen, muß auch damit weiter gerechnet werden. Demgegenüber hätte eine post-moderne Rechtskonzeption Paradoxien nicht aufzuheben, sondern prozedurale Modelle ihrer Bewegung und (Selbst-)Beschreibung zu entwickeln, die den zirkulären Prozeß der Verschleifung von Regel und Regelanwendung durch Verfahren der Bildung von ihrerseits auf Selbstrevision angelegten Konventionen „(aus)haltbar" zu machen, und der Eigenständigkeit des Kollektiven angemessen sind. D. h. sie hätte mit der Illusion zu brechen, daß das Kollektive der expliziten Selbstverfügung in einer homogenen Perspektive zugänglich ist. Das Kollektive ist nicht mehr in einer identitären Tradition gegründet, sondern muß be-gründet werden. Aber auch als artifizielles Netz selbsterzeugter Relationen bilden soziale Systeme „Formen und Zusammenhänge unter sich, die mit denen des Ich nicht zusammenfallen wollen" 8 5 0 und Zwänge schaffen, die auf eine paradoxe Weise neue Optionen durch An- und Verknüpfung ermöglichen und wiederum neue Ungewißheit erzeugen. Aufgabe des Rechts wird es sein müssen, Verfahren und Regeln zu entwickeln, die ein produktives Konfliktverhältnis von Ordnung und Chaos garantieren, das für die Fortsetzung der Selbstorganisation der pluralen differenzierten sozialen Systeme erforderlich ist. „Prozeduralisierung" ist dann keine Annäherung an die Wahrheit und Richtigkeit des Rechts als eines unerreichbaren Grenzbegriffs, sondern die Bewegung des „entre les deux" 851 , eine Logik der Nicht-Identität, deren „Spielregel" die Suche nach Regeln ist. Die Moderne war in dem Wissen begründet, daß die 849 G. Simmel, Philosophische Kultur, Berlin 1984, S. 210 f. »so Vgl. Simmel (Fn. 849). 851 Vgl. p. Ricoeur, Le juste entre le légal et le bon, Esprit 1991 / 9, S. 5 ff., 19; vgl. demgegenüber aber Peters (Fn. 843) S. 227 ff.

III. Grundrechte und Selbstreferenz

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Gesellschaft nicht durch einen fremden Willen gestiftet wird. Die Postmoderne radikalisiert dieses Denken der Immmanenz, indem sie es als „historisch selbsttragende Konstruktion" 852 auf die Lektüre seiner eigenen Tradition zurückverweist und auch jeden Rekurs auf einen endogenen Fixpunkt (Individuum, Volk) oder ein der historischen Kontingenz enthobenes prozedurales Surrogat, die permanente Neugründung der „Souveränität" im Diskurs, abschneidet.

852 Vgl. Steenblock (Fn. 320), S. 222.

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Nachwort zur 2. Auflage Eine post-moderne Rechtstheorie - der Begriff mag wegen seiner Vieldeutigkeit problematisch erscheinen - ist keine anti-moderne Rechtstheorie. Die Distanz zum modernen Rechtsparadigma wird hier eher gewählt, um einerseits einen Zugang zu den Anfängen zu finden und nach den Leistungen zu fragen, die die Moderne für die liberale Gesellschaft erbracht hat, und um dadurch andererseits den Blick für die evolutionären Veränderungen zu schärfen, denen es seitdem ausgesetzt war. Dem liegt die Annahme zugrunde, daß ein azentrisches Rechtssystem einem kontinuierlichen Prozeß des Suchens nach und des Erprobens von neuen Möglichkeiten unterliegt, einem Prozeß, dessen „Fortschritt" alles andere als gewiß ist, ja, in dem nicht einmal sicher ist, wie Fortschritt sich von Rückschritt unterscheidet. Gerade diese Unmöglichkeit stabiler Unterscheidungen zeichnet das moderne Recht aus: Es operiert mit historischen prozeßabhängigen Festlegungen, deren Anwendung auf diese selbst und die davon bestimmten Möglichkeiten der Selbstbeschreibung zurückwirkt. Angesichts der Offenheit dieses durch das moderne Recht eröffneten Prozesses der Selbständerung und der Selbstrevision ist es nicht verwunderlich, daß der Überschuß des Möglichen zu unterschiedlichen Interpretationen Anlaß gegeben hat. Der folgenden Arbeit liegt die These zugrunde, daß dieser eigentümliche Modus des Möglichen nicht einem kollektiven Prozeß der Verständigung im Medium vernünftigen Argumentierens zugänglich ist, sondern nur Selbstbeschreibungen und selbstreferentielle Bewertungen zuläßt, die sich in eine relationale Logik der experimentellen Verknüpfung von Anschlußmöglichkeiten, der Beachtung von Anschlußzwängen und der Selbstbeobachtung am Maßstab historisch bewährter, sich selbst stabilisierender Praktiken einordnen. Deshalb kann es sich auch als fruchtbar erweisen, nach den Bedingungen einer Wiederanknüpfung an bestimmte strukturbildende Paradigmen der Rechtsentwicklung des 19. Jahrhunderts zu fragen. Dabei geht es nicht um eine schlichte neo-liberale Erneuerung des gegenwärtigen Rechts, sondern um die Frage nach den Bedingungen des Bruchs, den die liberale Gesellschaft und die Durchsetzung des klassischen Rechtsuniversalismus mit der Tradition vollzogen hat. Es geht also um die Möglichkeit der Unterscheidung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Rechtsentwicklung, eine Unterscheidung, mit deren Hilfe retrospectiv das Abtasten der späteren Veränderungsprozesse nach produktiven und unproduktiven Verknüpfungsmöglichkeiten spezifiziert und prospektiv Gedankenexperimente mit innovativen Relationierungen und der Unterbrechung von Selbstblockierungen entworfen werden können.

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Nachwort zur 2. Auflage

Eines der besonderen Merkmale der gegenwärtigen „post-modernen" Rechtsentwicklung besteht in der wachsenden Komplexität und Heterogenität der Erscheinungsformen des Rechts. Die klassische Rechtsdogmatik hatte im Individuum und im individuellen Recht ihre Beziehungspunkte gefunden. Bevor die vielfältigen neuen sozialstaatlichen und kollektivrechtlichen Ergänzungen des klassischen liberalen Ordnungsmodells in den Blick genommen werden können, muß zunächst genauer nach den Bedingungen einer Verknüpfung mit den neuen Remodellierungen gefragt werden. Freiheits- und Gleichheitsrechte können nicht gleichrangig in eine moderne Verfassung aufgenommen werden, sozialstaatliche „positive" Rechte können nicht einfach den klassischen „negativen" hinzugefügt werden. Auf der anderen Seite schließen sie einander auch nicht prinzipiell aus. Der Einbau neuer Rechte und Rechtstellungen führt zu einer grundsätzlichen Veränderung des Rechtssystems, da die eine Figur („positives Recht") die durch die anderen erzeugten Rechtswirkungen kompensieren soll. Beide Rechtstrukturen können nicht von einander getrennt bleiben: Bei der Ausübung negativer Rechte werden strategisch antizipierend kompensatorische Effekte der positiven Rechte mit in Rechnung gestellt. Dies gilt umso mehr, als der Einbau dieser positiven Rechte in das Rechtssystem eine Folge des Übergangs von der Gesellschaft der Individuen zur Gesellschaft der Organisationen (mit höherem strategischem Handelungspotential) ist. Dies wäre eine Bruchstelle innerhalb des Evolutionsprozesses, an der die Beobachtung und Beschreibung der Leistungen des klassischen Rechtsmodells (und seiner Grenzen!) auf der Folie einer sich neu herausbildenden Schicht kollektiver Rechte und Relationierungsformen spezifiziert werden kann - und umgekehrt. Die Veränderung des Rechts verändert auch die Möglichkeiten der Selbstbeschreibung. Wer die neuen sozialen und kollektiven Rechte mit der Perspektive der Rückkehr zum klassischen liberalen Recht zurückdrängen will, wird dem mit dem Aufstieg der Organisation einhergehenden Strukturwandel nicht gerecht. Umso wichtiger ist es aber, sich mit diesem Spannungsverhältnis von - vereinfacht gesprochen - liberalem und kollektivem Recht genauer auseinanderzusetzen, um aus dieser Bestimmung des Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität Ansatzpunkte für eine Beschreibung gegenwärtiger Veränderungsprozesse zu gewinnen und angesichts der gesteigerten Komplexität des Rechts nicht auf einfache Alternativen festlegen zu lassen: Zurück zum klassischen liberalen Recht oder mehr soziale Rechte! Der Modus des Möglichen, innerhalb dessen der Such- und Erprobungsprozeß des modernen Rechts operiert, und seine Offenheit darf nicht überschätzt werden. Auch wenn das Recht nicht mehr auf die Aufrechterhaltung einer bestimmten Tradition festgelegt ist (wie das ältere Recht), erzeugt doch die relationale Logik der Verknüpfungen ihre eigenen Grenzen, deren Beschreibung sie zugleich erschwert, weil sie von ihrem Bezug auf Identität (der Tradition als Wissensbasis) abgelöst und auf ein différentielles Operieren mit theoretischen Unterscheidungen umgestellt wird.

Nachwort zur 2. Auflage

In der hier eingenommenen Perspektive kann es nicht darum gehen, normativ ein neues Rechtssystem zu entwerfen, sondern - dies wäre die Kontinuität der Post-moderne mit der Moderne - die Leistungen des liberalen Rechts als Bezugsrahmen zu akzeptieren und genauer nach seinen historischen Voraussetzungen und Bedingungen zu fragen sowie auf diesem Hintergrund eine Beschreibung seiner historischen Evolution zu versuchen, um diese normativ nach produktiven Entwicklungsmöglichkeiten abzutasten. Dabei wäre an die orientierungsbildende Leistungen des modernen Rechts anzuknüpfen; es geht also nicht um die Wiederherstellung des alten klassischen liberalen Rechts und seiner Konsistenz, sondern das Suchen nach und das Erproben von funktionalen Äquivalenten, die die Eigenrationalität des liberalen Rechts und seiner Leistungsgrenzen beachten und sie produktiv für das Operieren mit höherer Komplexität respezifizieren. Wenn man den historischen Bruch des liberalen Rechts mit der an eine kompakte Faktizität gebundenen Tradition in den Vordergrund rückt, wird von vornherein die Möglichkeit ausgeschlossen, dieses liberale Recht und seine Selbstinterpretation als Neuanfang auf einer tabula rasa beim Wort zu nehmen. Diese Darstellung, die sich vor allem mit den Rechtsfiguren des Gesellschaftsvertrags und modernen Varianten des Naturrechts verbindet, hat zu Fehlinterpretationen geführt, die ihren eigenen historisch bestimmten Beobachterstandort vernachlässigen, die historische Relativität des liberalen Konzepts des Anfangs der modernen Gesellschaft ignorieren und statt dessen in unterschiedlichen Varianten die die selbstgesetzten Grenzen sprengende Realisierung der Selbstbegründung der Gesellschaft im Prozeß der Selbstverständigung einfordern. Der Befreiung von den rechtlichen Zwängen der Tradition soll die Verwirklichung der Befreiung des Rechts von seinen liberalen Zwängen und Grenzen folgen. Merkwürdig ist dabei jedenfalls die Anknüpfung an eine liberale Rechtstheorie, die deren eigene Selbstinterpretation als Neuanfang beim Wort nimmt (Gesellschaftsvertrag!), aber deren Selbstbegrenzung durch das Paradigma des Individualismus als bloße Ideologie abtut, die einer konsequenten „Materialisierung" der Freiheit im Wege stehe. St. Holmes1 hat überzeugend darauf aufmerksam gemacht, daß dem Liberalismus keine sozial-anthropologische „natürliche" Unterstellung der Möglichkeit eines sich nach rechtlichen Regeln autonom bestimmenden Individuums zugrunde liegt, sondern daß die Selbstinterpretation des Individualismus nicht von seiner antithetischen historischen Fixierung auf die Tradition abgelöst werden kann: Das Postulat des Neuanfangs im Gesellschaftsvertrag ist historisch konstituiert in der Kritik der politischen und kulturellen Autoritäten, die die ausschließliche und tradierte Legitimation zur Interpretation des „guten Lebens" in der Gesellschaft für sich in Anspruch nehmen. Deshalb läßt sich auch das theoretische Problem des liberalen Rechts nicht in eine fortschrittliche, auf 1

St. Holmes, The Anatomy of Antiliberalism, Cambridge/London 1993.

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Selbstbestimmung eingestellte Komponente und eine davon getrennte Komponente der ideologischen Begrenzung auseinanderlegen. Der Neuanfang durch Selbstkonstitution der Individuen zur bürgerlichen Gesellschaft bleibt selbst auf eine fundamentale Weise abhängig von der durch den Zerfall der tradierten Gesellschaft entstandenen Leerstelle, den Zwang zur paradoxen Gründung der Gesellschaft in einer nichtteleologisch durch Tradition gebundenen Unbestimmtheit. Die beiden Seiten des Liberalismus, Neuanfang und Selbstbestimmung sowie die Selbstbegrenzung durch selbst auferlegte Regeln und Zwänge und das damit einhergehende Denken in Grenzbegriffen (individuelles Recht/gesetzlicher Grenzen, Gewaltenteilung, Trennung von Privatem und Öffentlichem etc.), die keine unmittelbare Sinnstiftung zulassen, sind nicht voneinander zu trennen. Nur auf dem Hintergrund des zerbrochenen Traditionszusammenhangs und der Offenheit der Gesellschaftsentwicklung sind Leistungen und Grenzen des liberalen Rechtsparadigma erkennbar. Nur durch Freilegung dieser historischen Bedingungen wird gerade der artifizielle Charakter der Setzungen des liberalen Rechts verständlich, die sich nur dann als Ideologie darstellen, wenn man das Problem ignoriert, dessen Lösung der Liberalismus zu sein beansprucht: Die Abspannung der Unbestimmtheit durch die Schaffung von Institutionen, die die Gesellschaft mit selbst erzeugten Zwängen konfrontieren und aber auch die Regeln selbst einem nicht kontrollierbaren Prozeß der Selbstmodifikation durch Evolution aussetzen. Damit rückt der Universalismus der Regelorientierung des Liberalismus in ein anderes Licht: Er bewältigt eine Paradoxie, indem er die konstitutive Unbestimmtheit der Gesellschaftsentwicklung durch sich selbst transformierende, auf Lernfähigkeit angelegte Festlegungen historisch in Bewegung setzt und damit eine von vornherein begrenzte Rationalität akzeptiert. Über die Angemessenheit dieser „Lösung" läßt sich natürlich streiten, aber die Alternative kann nicht darin bestehen, die Voraussetzung des liberalen Rechtsmodells, die rechtliche Freiheit des Individuums, zu kritisieren und zugleich daran anknüpfend seine Entgrenzung durch die Herstellung „wirklicher" Freiheit zu verlangen ! Dies bedeutet, eine sicherlich begrenzte, ohne die Sinnunterstellungen der Tradition auskommende Lösung des Problems kollektiven Handelns durch Wiedereinführung des Problems zu kritisieren. Der hier gewählte Ansatz versucht demgegenüber, genauer diesen Zusammenhang zwischen Freiheit von Tradition und Selbstbegrenzung durch Regeln (und nicht tradierte substantielle Vorstellungen des „guten Lebens" oder einer gemeinschaftszentrierten, teleologisch fixierten Tugend) als Form der Bewältigung von Unbestimmtheit zu verstehen, die mit dem Zusammenbruch der durch einen fremden Willen (Gott) bestimmten Ordnung und der dadurch gelassenen Leerstelle entstanden sind. Die Arbeit versucht, diesen Zusammenhang in systemtheoretische Begriffsbildungen zu interpretieren, um auf dieser Grundlage einen Zugang zu den die damit ermöglichten Selbstveränderungen der Gesellschaft zu gewinnen. Der

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„post-moderne" Charakter der Gesellschaft besteht dann in dem das liberale Rechtsparadigma und seine Institutionen selbst affizierenden Charakter der Remodellierungen, die mit dem Aufkommen der Organisation als eines gegenüber dem Individuum nicht mehr nur als Ausnahme zu behandelnden Akteurs zusammenhängen. Ein weiterer Evolutionsschritt zeichnet sich im Übergang zu zunehmend flexiblen, sich von der großen repräsentativen Organisation oder dem stabilen Produktionsunternehmen entfernenden Erscheinungsformen variabler Selbstorganisationsprozesse ab. Der Zugang zu den sich damit abzeichnenden Remodellierungen des liberalen Rechtsparadigmas läßt sich nach dem hier gewählten Ansatz als Frage nach dem auf diese neue Variante gesellschaftlicher Selbstmodifikation eingestellten funktionalen Äquivalent der Bewältigung von Ungewißheit umformulieren. Die Betonung der historischen Relativität des liberalen Rechtsmodells erlaubt eine Höherlegung des Abstraktionsniveaus, die den Blick für funktionale Äquivalente öffnet, sich nicht auf vordergründige Entgegensetzungen von Individuum und Organisation, negativem und positivem Recht etc. einläßt, sondern eine Anknüpfung an die Paradoxie der Bewältigung von Unbestimmtheit durch historisch variable Festlegungen ermöglicht. Der hier gewählte Bezugsrahmen akzentuiert die begrenzte Rationalität des liberalen Rechtsmodells nicht als im nachhinein auferlegte Beschränkung eines utopischen Anspruchs auf Herstellung einer mit sich selbst identischen herrschaftsfreien Gerechtigkeitsordnung, sondern als Folge der Umstellung auf différentielle Ordnungsbildung, für den das liberale Recht mit seinem Denken in Trennungen charakteristisch ist. Die Unvollständigkeit des Rechts ist angesichts der Kontinuität der Selbstmodifikation der Gesellschaft nicht das Problem, sondern die Lösung ! Und dies ist zugleich ein Anknüpfungspunkt für die Beschreibung der Fortentwicklung des post-liberalen Rechts im Sozialstaat und in der gegenwärtigen Phase der Transformation zu einer komplexen, unter gesteigerter Ungewißheit operierenden Gesellschaft („selbstorganisierende Gesellschaft"). Da die Stärke des liberalen Rechts gerade in der Ermöglichung von Entscheidungen unter Unentscheidbarkeitsbedingungen bestanden hat, so wäre dies ein Anknüpfungspunkt für die Spezifizierung der rechtstheoretischen Beobachtung der Transformation des Rechts im gruppenpluralistischen Sozialstaat und in dem gegenwärtig sich vollziehenden Prozeß der Flexibilisierung der Gesellschaft. Dann wäre einmal danach zu fragen, welche Orientierungsleistung bestehende pluralistische Institutionen erbringen, in welchen Rechtsformen sie erfolgen, welche Grenzen damit gesetzt sind und wie sich diese neue Schicht der „Materialisierung" (durch Kompensation des klassischen formalen Rechts) zu der ersten Schicht des liberalen Rechts verhält. Die Leistung sozialstaatlicher Institutionen könnte, in dieser Perspektive betrachtet, dann vor allem darin bestehen, daß die kognitive Infrastruktur des Rechts, seine enge Bindung an die Erfahrung als eines variablen Bestandes handlungsleitenden Wissens durch den in Organisationen gespeicherten Vorrat an Standardisierungen und Konventionalisierun-

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gen für neue komplexe Bewertungs- und Entwicklungsprobleme ergänzt wird. Für die neue im engeren Sinne „post-modernen" Entwicklung käme es dann darauf an zu fragen, ob und wieweit neue Formen für die Bewältigung einer gesteigerten Komplexität, insbesondere für das Operieren unter Ungewißheitsbedingungen gefunden werden können. Die Arbeit sucht also nach einer bestimmten abstrakter gefaßten funktionalen Konstante innerhalb des modernen und postmodernen Rechts, die die theoretischen Begriffe bereitstellen und das Verhältnis von Kontinuität und Wandel erfassen können. Dieser Ansatz bringt es zwangsläufig mit sich, daß bestimmte Begriffe hier in einer anderen Lesart verwendet werden. Dies gilt für die Vergangenheit, insbesondere für die Beschreibung des liberalen Rechts, aber auch und vor allem für die Diagnose der Gegenwart. Im Zentrum der Untersuchung steht hier der Begriff der „Prozeduralisierung", der in der Habermasschen Theorie auch in einer juristischen Spezifizierung mit der Konzeption einer kommunikativen Rationalität eines offenen intersubjektiven Prozesses des Argumentierens verbunden wird, eines Prozesses, dem aufgrund einer Unterstellung des der Alltagssprache zugeschriebenen Selbstaufklärungspotentials eine Richtigkeitsgewähr abverlangt wird 2 , die bewußt mit der universalistischen Logik des klassischen liberalen Gesetzes gleichgesetzt wird. Darin ist aber zugleich auch die Problematik dieser Version von Prozeduralisierung angelegt: So wie der traditionelle universalistische Anspruch der liberalen Kodifikation, die durch ihren Universalismus selbst die privaten, besonderen Elemente des „Falles" in der allgemeinen Vernunft des Gesetzes aufzuheben beanspruchte, eine praktische, und vor allem formal begrenzte Unterstellung war, so kann der Rekurs auf das Selbstaufklärungspotential der Alltagssprache ebenfalls nur ein praktischer sein - dies sieht Habermas selbst. Es kann aber dann darin keine Wahrheitsgewähr gesehen werden3. Die prozedurale Rationalität verweist dann selbst auf eine Praxis und deren Regelhaftigkeit zurück. Eine der Komplexität des post-modernen Rechts entsprechende Lesart der prozeduralen Rationalität ist deshalb zu beziehen auf die durch die Evolution des Rechts selbst erzeugten Zwänge. Und diese erscheinen vor allem dadurch charakterisiert, daß mehr und mehr Entscheidungen unter Ungewißheitsbedingungen getroffen werden müssen, die auch mit den auf der zweiten Stufe der Remodellierung des liberalen Rechts geschaffenen Instrumenten nicht mehr zu bewältigen sind, weil die auf dieser Ebene bereitgehaltenen, auf kontinuierliche Erweiterung angelegten, an das Recht gekoppelten konventionalisierten Wissensbestände auch jenseits der spontan gesammelten Erfahrung festgelegt sind auf Organisation und Verhandlung strukturierter und standardisierter Entscheidungsprobleme. 2 Vgl. J. Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, insbes. S. 17ff. W.L. Schneider, Intersubjektivität als kommunikative Konstruktion, in: P. Fuchs/A. Göbel (Hrsg.), Der Mensch - das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt/M. 1994, S. 189 ff. 3

Nachwort zur 2. Auflage

Prozeduralisierung in der hier vertretenen Version setzt nicht auf den offenen Prozeß des Argumentierens als Kriterium der Wahrheit, auch nicht auf die Rationalität des Verfahrensrechts als Garantie der möglichst umfassenden Berücksichtigung der Argumente in der Entscheidung4, sondern sieht die Verfahrensrationalität konstituiert in einem neuen Evolutionsschritt, der zu einer weiteren Entwertung des verfügbaren Entscheidungswissens führt, nachdem die erste Entwertung durch den Einbau von Organisationen in eine pluralistische Ordnung kompensiert worden ist. Die neuen Varianten der Komplexität zeichnen sich dadurch aus, daß praktische Entscheidungen nicht mehr auf verfügbares, wenn auch fragmentarisches Wissen aufbauen können, sondern explizit zur Modellbildung und zur Generierung neuen Wissens durch das Entscheidungsverfahren selbst übergehen müssen. Zwischen Rechtsstrüktur und Wissensinfrastruktur (Erfahrung und Organisation als „Gedächtnis" auf den beiden ersten Stufen) besteht kein stabiles Verhältnis mehr. Die Entscheidungsverfahren, ζ. B. im Umwelt- und Planungsrecht, im Sozialrecht, in großen Teilen des Verfassungsrechts, um nur einige Beispiele zu nennen, müssen neue Optionen und damit neues, nicht nur fragmentarisch bleibendes, sondern verfahrensabhängiges „artifizielles" Wissen generieren, dessen Haltbarkeit zu einem großen Teil nicht mehr durch praktische Erfahrung geprüft werden kann, sondern eine prozeßhaft organisierte, experimentelle Verfahrensweise voraussetzt. Diese ist dadurch charakterisiert, daß sie systematisch auf die Schaffung von Optionen und deren Selbstbeobachtung in einem gestreckten, nicht mehr punktuell ergebnisorientiert begriffenen Entscheidungsverfahren angelegt sein muß und auch nicht mehr auf die spontane Korrektur von Irrtümern durch kontinuierliche praktische Fortschreibung der Erfahrung oder des organisatorisch akkumulierten Entscheidungswissens vertrauen kann. Diese Konstellation führt vor allem im Umweltrecht zu Forderungen, immer mehr Wissen in die Entscheidungsverfahren einzuführen und immer mehr potentielle Nebenwirkungen, aber auch die Heterogenität gesellschaftlicher Werte durch komplexe Technikfolgen - Abschätzungsverfahren etc. zu berücksichtigen. Das Problem besteht aber nicht in dem quantitativen Mangel des Entscheidungswissens, sondern in der praktischen Bewältigung nicht hintergehbarer Ungewißheit durch komplexere Verfahrens vorgaben. Eine andere Erscheinungsform der mangelhaften Verarbeitung von Komplexität besteht in dem Versuch, bestimmte durch das Selbstverständnis von Organisationen abgestützte normative Interpretationen komplexer Phänomene, die durch eine Vielzahl von Wechselwirkungen gekennzeichnet sind, in der Öffentlichkeit durchzusetzen und dafür politische Anhänger zu gewinnen. Ein Beispiel dafür sind Kontroversen um Arbeitslosigkeit und ihre Ursachen. Ähnliches gilt für andere soziale Probleme,

4 Kritisch dazu M. Shapiro, The Giving Reasons Requirement, University of Chicago Legal Forum 1992, 179ff.

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die durch das Zusammenwirken einer Vielzahl von Teilursachen charakterisiert sind 5 . Die Entwicklung der Probleme des Umweltschutzes hat längst zur Anerkennung komplexer Kausalität in der Natur geführt. Auch in der Gesellschaft entwickeln sich aber in zunehmendem Maße Konstellationen, die nur mit diesem Begriff bezeichnet werden können. Hier wie dort wird es keine einfachen „end-of-the-pipe"-Technologien geben. Wenn man Anschlußmöglichkeiten im klassisischen liberalen Recht sucht, so kommt weder die Verfahrensalternative der möglichst umfassenden Berücksichtigung aller Umstände in Betracht noch das Ignorieren komplexer „Nebenwirkungen", eine Lösung, die darauf vertraut, daß sich verschiedene problematische Effekte wechselseitig neutralisieren und eine „Abschichtung natürlicher Komplexitätsniveaus"6 nach wie vor vorausgesetzt werden kann. Dies würde aber unterstellen, daß zwischen „Hauptursachen" und zu vernachlässigenden Nebenwirkungen unterschieden werden kann. Gerade in der Rückschau wird deutlich, daß Kausalität kein rein naturwissenschaftliches Konzept war, sondern immer gebunden blieb an eine handlungsorientierte Verknüpfung mit praktischem Entscheidungswissen. Diese Verbindung hat sich, wie gezeigt, im Modell der Erfahrung und des „pluralen Organisationswissens" niedergeschlagen. Die Prozeduralisierung im hier vertretenen Sinne würde nach neuen Formen der Verknüpfung der Wissenserzeugung mit experimentellen, auf Selbstbeobachtung angelegten Entscheidungen suchen und dafür Regeln formulieren, die komplexere Formen der Modellbildung institutionalisieren: Dazu würden Elemente der Verfahrensstufung, des expliziten Einbaus von Monitoring-Elementen, der organisierten Selbstrevision von Entscheidungen, der Erzeugung von mehr Optionen, die Verknüpfung zwischen mehreren Entscheidungen gehören, um nur einige Beispiele zu nennen. Daraus ergibt sich auch ein Unterschied zur Konzeption der Prozeduralisierung bei Habermas. Eine post-moderne Rechtstheorie muß nach funktionalen Äquivalenten für den Entscheidungen ermöglichenden Zusammenhang einer Normativordnung und ihrer Wissensinfrastruktur suchen. Der Anschluß an das liberale Rechtsmodell wird aber gerade durch die Freilegung der Bedingungen seines „Anfangs" in der Unbestimmtheit einer nicht teleologisch festgelegten gesellschaftlichen Ordnung gewährleistet. Die Tiefenstruktur des liberalen Rechts konnte selbst früher unausgesprochen bleiben, weil sie mit einem Gleichgewichtsmodell verbunden war, das auf Ausgleich von Schwankungen um einen sich selbst erhaltenden Ruhepunkt gesetzt hatte. Die Entwicklung eines post-modernen Rechts ist nur in einem Ungleichgewichtsmodell darstellbar: Es muß mit weitaus mehr „Nebenwirkungen" rechnen, so daß die Selbststabili5 Vgl. allgemein K.-H. Ladeur, Social Risks, Welfare Rights, and the Paradigm of Proceduralization, Working Paper, EUI/LAW 95- 2. 6 Vgl. L. Krüger, Kausalität und Freiheit, Neue Hefte für Philosophie 1992, lf.

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sierung von Natur und Gesellschaft sich nicht mehr voraussetzen läßt. Die größeren Schwankungen, die mit Komplexität einhergehen, können aber durch Bereithaltung höherer Flexibilität und den expliziten Einbau von Selbstbeobachtung ermöglichenden Komponenten in das Rechtssystem einer „experimentellen Gesellschaft" bewältigt werden. Über die weitere Entwicklung einer post-modernen Rechtstheorie, wie sie in diesem Buch skizziert wird, ließe sich auch ein Zugang zur Neukonzeption des Staates jenseits der Alternative von Sozialstaat und Neoliberalismus entwerfen: Sie steht in der Kontinuität des grundlegenden Paradigmas des Liberalismus, der (selbst-)begrenzten Rationalität, und verwirft auch als idealtypischen Grenzfall die Möglichkeit der Selbstevaluation einer Gesellschaft von einem idealen Beobachterstandpunkt aus. Eine post-moderne Rechtstheorie akzeptiert systematisch begrenzte Rationalität und setzt explizit auf die Möglichkeit, die Unvollständigkeit des Rechts und seiner Wissensstruktur nicht als Problem, sondern als Lösung zu betrachten, die flexibles Operieren mit und unter Ungewißheitsbedingungen erlaubt. Florenz, im Juni 1995