Spanische Studien zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie [1 ed.] 9783428468232, 9783428068234


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German Pages 432 Year 1990

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Spanische Studien zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie [1 ed.]
 9783428468232, 9783428068234

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Spanische Studien zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

Schriften zur Rechtstheorie Heft 141

Spanische Studien zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie

Herausgegeben von

Ernesto Garzón Valdés

Duncker & Humblot * Berlin

CIP-Titelaufnähme der Deutschen Bibliothek

Spanische Studien zur Rechtstheorie und Rechtsphilosophie / hrsg. von Ernesto Garzón Valdés. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Schriften zur Rechtstheorie; H. 141) ISBN 3-428-06823-8 NE: Garzón Valdés, Ernesto [Hrsg.]; GT

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-06823-8

Inhaltsverzeichnis

Ernesto Garzón Valdés Einführung

7

I. Struktur und Rationalität der Rechtsordnung Manuel Atienza Über das Vernünftige im Recht

49

Albert Calsamiglia Effizienz und Recht

69

Rafael Hernândez Marin Recht und Zeit

87

Juan Ramon de Pàramo Argüelles Interner Standpunkt und Normativität des Rechts

99

Alfonso Ruiz Miguel Das Prinzip der normativen Hierarchie

115

II. Rechtsphilosophische und rechtstheoretische Ansätze Felipe Gonzâlez Vicen Die Freirechtsbewegung. Eine methodologische Betrachtung

137

Nicolas Maria Lopez Calera Rechtsphilosophie als kritische Theorie

145

Andrés Ollero Gleichheitsprinzip und Rechtstheorie

155

Gregorio Peces-Barba Martinez Die Grundpflichten

171

Gregorio Robles Morchón Rechtstheorie

187

Juan Ruiz Manero Einige Kritikpunkte an Kelsens Marxismus-Kritik

207

Inhaltsverzeichnis

6

III. Praktische Philosophie Jesus Ballesteros Nietzsche: Ethik der Heimatlosigkeit und des Spiels

221

Juan-Ramon Capeila Schlechte Zeiten für Ethik

235

Luis Garcia San Miguel Über den Nonkognitivismus in der Moralphilosophie

247

Javier de Lucas Über das Verhältnis von Politik und Moral: Das Publizitätsprinzip im Werk Immanuel Kants 265

IV. Ethik und Recht Eusebio Fernândez Garcia Gerechtigkeit und Rechtsgehorsam

281

Liborio L. Hierro Menschenrechte oder menschliche Bedürfnisse? Probleme mit einem Begriff

. 293

Francisco Laporta Über die Beziehungen zwischen Recht und Moral

313

Antonio-Enrique Pérez Luno Recht, Moral und Politik: Zur Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs in Spanien während der Franco-Zeit 329 Luis Prieto Sanchis Grundrechte zwischen Natur und Konsens

343

V. Legitimationsprobleme des demokratischen Verfassungsstaates Elias Diaz Der neue Gesellschaftsvertrag: Politische Institutionen und soziale Bewegungen 359 Jorge F. Malern Sena Zur juristischen Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams

373

Modesto Saavedra Ist politische Demokratie eine moralische Instanz für rechtliche Legitimität?

391

Virgilio Zapatero Der Wohlfahrtsstaat als sozialer Rechtsstaat

407

Die Autoren dieses Bandes

421

Personenregister

426

Einführung: Recht, Ethik und Politik in Spanien Von Ernesto Garzón Valdés In der 1783 erschienenen Encyclopédie méthodique findet man einen Artikel unter dem Stichwort „Espagne", dessen Verfasser, Nicolas Masson de Morvilliers, Spanien als bestes Beispiel für all das darstellt, was die Aufklärung zu bekämpfen suchte: Intoleranz, Ignoranz und Rückständigkeit. A m Ende des Artikels stellt sich der Autor die rhetorische bzw. ironische Frage: „Was verdanken wir Spanien? Was hat es in den vergangenen zwei, vier, sechs Jahrhunderten für Europa geleistet?" (vgl. Ernesto und Enrique Garcia Camarero 1970, 52). Die hier suggerierte Antwort ist offenbar: gar nichts. Im Jahre 1909 schrieb Heinrich Morf: „Die iberische Halbinsel hat keine eigentliche Renaissance erlebt. Von deren Bildungselementen hat sie mancherlei aus Italien übernommen, ohne einen Bruch mit dem Mittelalter zu vollziehen . . . " {Morf 1909, 220)

Etwa zwanzig Jahre später, im Jahre 1927, bestritt auch Viktor Klemperer in einem Aufsatz, der in einer der renommiertesten geisteswissenschaftlichen Zeitschriften der damaligen Zeit erschien (Logos X V I , 2, 129 ff.), die Existenz einer spanischen Renaissance. Die von Klemperer gegebene Erklärung stellt eine partielle Verneinung der These von Morf dar: Spanien habe eben deswegen keine Renaissance gehabt, weil es auch kein Mittelalter gehabt habe: „Es gibt keine spanische Renaissance, aber es gibt auch kein spanisches Mittelalter. Denn der Begriff Renaissance erhält ja nur seinen Sinn, wenn er sich vom Mittelalter als von einem Begriffe und nicht etwa nur einem Datum abhebt." (a.a.O., 160)

Noch ein Vierteljahrhundert später konnte man im Grundriß der Geschichte der Philosophie von F. Überweg (1953/III, 206) lesen: „Spanien hat keine eigentliche Renaissance erlebt". José Luis Abellan (1982) hat meines Erachtens überzeugend dargestellt, daß diese Urteile falsch sind (vgl. außerdem Bataillon 1937). Die Beispiele von Masson de Morvilliers und den deutschen Autoren, die sich mit der Frage der spanischen Renaissance beschäftigt haben, sind bezeichnend, weil man bei ihnen allen die Neigung spürt, die spanische Kultur als etwas der „eigentlichen" europäischen Geistesgeschichte ziemlich Fremdes zu betrachten. Dies hat dazu beigetragen, daß eine Reihe von Vorurteilen und

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Ernesto Garzón Valdés

Gemeinplätzen über die Eigentümlichkeit der Aktivitäten der spanischen Intellektuellen genährt wurde, was in nicht wenigen Fällen einen fruchtbareren Dialog zwischen Spanien und dem restlichen Europa verhindert hat. Es geht mir hier nicht darum, die jahrhundertealte Diskussion wieder aufzunehmen, die durch den Artikel von Masson de Morvilliers ausgelöst wurde (vgl. dazu Garcia Camarero, a.a.O., mit umfangreicher Bibliographie), oder einen Kreuzzug zur Ehrenrettung des spanischen Beitrags auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften - insbesondere dem des Rechts, der Ethik und der Politik - zu unternehmen. Ich möchte vielmehr an einigen bezeichnenden Beispielen verdeutlichen, daß diesbezüglich ein radikal negatives Urteil unberechtigt ist, und darüber hinaus einen Erklärungsversuch für ein solches Urteil skizzieren. Ich denke, daß dies dem deutschen Leser zu einem besseren Verständnis der im vorliegenden Sammelband enthaltenen Arbeiten verhelfen kann, indem es ihre Einordnung in den größeren Zusammenhang der Ideengeschichte erleichtert. Die ausgewählten Beispiele sollen deutlich machen, in welchem Maße spanische Autoren über ähnliche Themen wie ihre europäischen Zeitgenossen nachdachten, wobei sie in vielen Fällen auch zu ähnlichen Ergebnissen gelangten und ihnen gelegentlich sogar zuvorkamen. I. Menschenrechte, internationales Recht und Rechtstheorie im 16. Jahrhundert Das 16. und der Anfang des 17. Jahrhunderts in Spanien waren geprägt vom Werk drei großer Theologen und Juristen: Bartolomé de las Casas, Francisco de Vitoria und Francisco Suarez. Mitte des 16. Jahrhunderts führte der durch die Entdeckung Amerikas und die Konfrontation mit neuen Kulturen und Lebensformen bewirkte Anstoß im Umfeld der spanischen Universitäten zu einer heftigen Diskussion über das Recht auf Eroberung und über die Grundnormen, die die Beziehungen zwischen den Völkern regeln. Bartolomé de las Casas (1474-1566) ist selbstverständlich für seine Verteidigung der amerikanischen Indios sowie als Vorläufer der sogenannten „Theologie der Befreiung" hinreichend bekannt. Auf diese Aspekte seines Werkes möchte ich daher hier nicht eingehen. Vielmehr möchte ich mich auf eine posthume Schrift beziehen: De imperatoria seu regia potestate. Dieses Buch wurde erstmals im Jahre 1571 in Frankfurt veröffentlicht, und es war ein Deutscher - Wolfgang Griesstetter, Jurist und Mitglied des Reichskammergerichts zu Speyer - , der diese erste Ausgabe besorgte. Das Werk ist Adam von Dietrichstein, Baron von Hollenburg, Kinkenstein und Talberg, dem ehemaligen Gesandten des Kaisers in Madrid, gewidmet (für weitere Informationen zu

9

Einführung dieser Ausgabe vgl. Estudio preliminar zu Bartolomé

de las Casas, D e regia

potestate ο derecho de autodeterminación, kritische Ausgabe von L. Perena u. a., M a d r i d 1969). Es ist jedoch nicht die anekdotische Beziehung zum deutschen juristischen und politischen U m f e l d , was mich veranlaßt, dieses W e r k hier zu erwähnen. Seine Bedeutung liegt in der entschiedenen Formulierung demokratischer Organisationsprinzipien,

die zwei Jahrhunderte später zum gemeinsamen

Erbe des europäischen politischen Denkens werden sollten. Einige Zitate aus der genannten Schrift mögen genügen, u m diese Behauptung zu belegen: „Keine Unterwerfung, keine Knechtschaft, keine Bürde darf dem Volk auferlegt werden, ohne daß das Volk, das sie ertragen soll, dazu seine freie Zustimmung gegeben hat." (Las Casas, a.a.O., 33) M a n vergleiche dies m i t John Locke: „These are the bounds . . . in all forms of government: . . . Thirdly, they must not raise taxes on the property of the people without the consent of the people, given by themselves or their deputies." (Locke [1690] 1975, 81) M a n beachte auch den folgenden Satz, der gewissermaßen Rousseau bzw. Habermas vorwegnimmt: „Außerdem soll in Angelegenheiten, die allen nützen oder schaden, nach Maßgabe der allgemeinen Zustimmung gehandelt werden. Aus diesem Grund ist bei allen Arten öffentlicher Angelegenheiten die Zustimmung aller freien Männer einzuholen. Es ist daher das ganze Volk einzuberufen, um seine Zustimmung zu erbitten." (Las Casas, a.a.O., 35) Oder die folgende D e f i n i t i o n der „ r u l e of l a w " : „ . . . und so kommt es, daß die Bürger frei bleiben, da sie keinem Mann gehorchen, sondern dem Gesetz." (ebd., 50) Diese Prinzipien von Las Casas lassen sich ergänzen, wenn man auf die Ausgabe von Fragmenten des oben genannten Werkes zurückgreift, in der die von den Herausgebern sogenannte „Menschenrechts-Charta nach Bartolomé de las Casas" enthalten ist (Las Casas 1974, 143 ff.): „Niemand darf prinzipiell in Sklaverei oder Knechtschaft gezwungen werden." „Aufgrund eines natürlichen Rechts besitzt kein Mensch Herrschaft über einen anderen Menschen." (vgl. Art. 4 der Allgmeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948) „Niemand darf gezwungen werden, eine bestimmte Religion anzunehmen." (vgl. Art. 18 der genannten Erklärung) „Niemand darf aufgrund religiöser oder kultureller Unterschiede seiner persönlichen Freiheit oder des Eigentums seiner Güter beraubt werden." „Aufgrund allgemeiner menschlicher Solidarität hat jede öffentliche oder private Person die Pflicht, den Unterdrückten zu helfen, sowie die Verpflichtung, im Rah-

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Ernesto Garzón Valdés men ihrer Möglichkeiten bei deren Befreiung mitzuwirken." (über die Bedeutung dieses Prinzips und seine Beziehung zur aktuellen Diskussion über positive moralische Pflichten über nationale Grenzen hinweg vgl. unter anderen Robert E. Goodin 1985) „Kein Volk darf aufgrund von Zivilisation oder Kultur einen anderen Staat seiner Freiheit berauben, ihn erobern oder unterwerfen." (vgl. die ähnlich lautenden Überlegungen von Kant, Metaphysik der Sitten, 1956/IV, 377) „Jeder Staat, so rückständig er auch sein mag, hat das Recht, sich zu verteidigen und ein anderes, zivilisierteres Volk zu bestrafen, wenn dieses eine Aggression begeht und die natürlichen Rechte des ersteren verletzt."

Zwei der Autoren des vorliegenden Bandes, Antonio Pérez Luno und Gregorio Peces-Barba, stehen in enger Verbindung zum Werk von Las Casas: der erste ist derzeit dabei, eine neue kritische Ausgabe des hier genannten Buches zu besorgen; der zweite führt mit seinem Institut für Menschenrechte an der Universidad Complutense von Madrid und der Herausgabe des Anuario de Derechos Humanos die Linie des ethischen Anliegens von Las Casas fort. Das genannte Werk und die übrigen Schriften von Las Casas wurden jedoch im restlichen Europa weniger als Beiträge zur theoretischen Diskussion über die Menschenrechte aufgefaßt denn als politisches Mittel, das dazu dienen konnte, die spanische Macht in Amerika und Europa zu schwächen. In diesem Sinne erwiesen sie sich denn auch als fatal für das offizielle Spanien: Man denke an die Entstehung der sogenannten „Schwarzen Legende" in England oder an die Bestärkung der rebellischen Haltung der Flamen in den Niederlanden (vgl. Estudio preliminar in Las Casas 1969, CXV, und William S. Maltby 1968). Die europäische Reaktion hatte zweifellos eine reale Grundlage: Das politische Leben im Spanien der Habsburger war mehr von papistischer Intoleranz und Eroberungsdrang als von den ethischen Überlegungen seiner Gelehrten geprägt. Die Bedeutung von Francisco de Vitoria (1483? - 1546) für die Schaffung des Völkerrechts blieb bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts nahezu unbemerkt. Erst 1816 betonte der Schotte Sir James Mackintosh in der Edinburgh Review in Bezug auf die Ursprünge des Völkerrechts, diese seien weniger bei Hugo Grotius als vielmehr bei Francisco de Vitoria zu suchen. Tatsächlich findet man bei Vitoria „zum ersten Mal nicht nur die Idee einer internationalen Gesellschaft mit dem ihr eigenen Recht, sondern auch einen großen Teil der Normen und Prinzipien, die bis heute das Zusammenleben der Völker leiten" (Antonio Gómez Robledo in: Francisco de Vitoria 1974, X X X ) . Seine Relectio de potestate civili, Relectio de Indis und De temperantia enthalten Prinzipien von unzweifelhafter Aktualität zu Themen des Völkerrechts, und zwar besonders solche, die mit der möglichen Rechtfertigung der Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten zusammenhängen. Ich möchte hier nur einige wenige Beispiele anführen:

Einführung

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„Das Völkerrecht gilt nicht nur aufgrund von Verträgen und Übereinkünften der Menschen, sondern es hat echte Gesetzeskraft. Es hat nämlich die Welt als ganze, die gewissermaßen eine Republik bildet, die Macht, gerechte und für alle akzeptable Gesetze zu erlassen, wie es die Gesetze des Völkerrechts sind." (Vitoria 1974, 19) „ A m Anfang der Welt (als alles Gemeineigentum war) war es einem jeden erlaubt, dorthin zu gehen und sich zu bewegen, wo er wollte. Und es ist nicht einzusehen, daß dies durch die Verteilung des Landes abgeschafft worden sein sollte; denn es war nie die Absicht der Völker, den Umgang der Menschen miteinander durch diese Aufteilung zu verhindern." (ebd., 60) „Wenn aber die Barbaren den Spaniern gestatten, friedlich mit ihnen Handel zu treiben, dann läßt sich kein gerechter Grund dafür vorbringen, ihnen ihre Besitztümer wegzunehmen, genausowenig wie im Falle von Christen." (ebd., 65)

Etwa zwei Jahrhunderte später gab Immanuel Kant ein ähnliches Urteil ab: „Es ist hier . . . von Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden . . . Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann . . . , sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde . . . und das Recht der Oberfläche, welches der Menschengattung gemeinschaftlich zukommt, zu einem möglichen Verkehr zu benutzen." (Kant 1956/VI, 213 f.)

Die Frage, inwieweit die Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes geduldet werden kann, falls in diesem Land die Menschenrechte systematisch verletzt werden, ist bekanntlich eines der umstrittensten Themen in der ethischen Auseinandersetzung mit dem Völkerrecht (vgl. ζ. B. Charles R. Beitz 1979). Eine Intervention scheint auf den ersten Blick nur schwerlich zu rechtfertigen, wenn die Bevölkerung des intervenierten Staates selbst den Menschenrechtsverletzungen ihre Zustimmung gibt. Der faktische Konsensus wird oft als hinreichende Bedingung für Legitimität angesehen, und es wird dann jede Möglichkeit der Rechtfertigung einer Intervention kategorisch bestritten. Ich habe mich anderswo (vgl. Garzón Valdés 1989) über die Schwierigkeiten ausgelassen, die der Rückgriff auf den faktischen Konsensus als Legitimitätskriterium mit sich bringt, und will darauf hier nicht eingehen. Mir geht es an dieser Stelle nur um den Hinweis darauf, daß man bei Vitoria - in seinen Überlegungen über die in Amerika praktizierten Menschenopfer plausible Argumente gegen die Annahme des faktischen Konsenses als hinreichende Bedingung für Legitimität finden kann: ,,[E]s ist kein Hindernis, daß alle Indios diesen Gesetzen und Opfern zustimmen und daß sie diesbezüglich nicht von den Spaniern verteidigt werden wollen. Denn sie sind diesbezüglich nicht Herren ihrer selbst, und sie haben auch nicht das Recht, sich selbst und ihre Kinder dem Tod auszuliefern." (Vitoria 1967, 94)

Aus der Lektüre von De legibus von Francisco Suârez (1548 - 1617) lassen sich mindestens drei Hauptthesen zum Problem der Interpretation und zur

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Geltung der Gesetze sowie zur Rolle der Rechtsdogmatik ableiten. Diese drei Thesen weisen eine deutliche Übereinstimmung mit Vorschlägen heutiger Strömungen des Rechtsdenkens auf. Die erste These kann man die „These der Entmythologisierung der Sprache" nennen. Die vom Gesetzgeber benutzte Sprache ist, nach Suârez, zunächst die gewöhnliche oder natürliche Sprache. „Natürlich" soll hier nicht heißen, daß die Bedeutung der Wörter irgendeine Beziehung zur Natur oder zum Wesen der Dinge besitzt und daß diese daher als Anhaltspunkt oder Kriterium für jene dienen könnte. Die Bedeutung jedes Wortes ist willkürlich und ergibt sich aus einer Konvention hinsichtlich einer Zuweisung. So sagt Suârez: „Die erste (die natürliche Bedeutung) heißt nicht so, weil die Bedeutung der Wörter aus der Natur hervorginge - denn es ist so, daß alle Wörter der menschlichen Gesetze ihre Bedeutung durch freie Zuweisung erhalten haben - , sondern weil sie . . . aus der einfachen und ursprünglichen Zuweisung der Wörter entspringt." (De legibus, Buch V I , Kap. 1.9)

Mit dieser These vermeidet Suârez die schwere begriffliche Verwirrung, die dadurch entsteht, daß man glaubt, Wörter hätten eine wesensmäßige Bedeutung, die über eine bloße Konvention hinausgeht. Folge dieses Irrtums ist gewöhnlich die vergebliche Suche nach „Wesenheiten", „Naturgegebenheiten", „logisch-objektiven Strukturen" usw., von der eine umfangreiche juristische und philosophische Literatur zeugt. Man erkennt unschwer die große Ähnlichkeit zwischen dieser These von Suârez und der These von Rudolf Carnap über die „magische Auffassung der Sprache": „Viele vertreten eine magische Auffassung der Sprache, also eine Auffassung, die behauptet, es gebe eine mysteriöse natürliche Verbindung zwischen bestimmten Wörtern . . . und ihrer Bedeutung. Richtig ist, daß es nur ein historischer Zufall in der Entwicklung unserer Kultur ist, daß das Wort ,blau' eine bestimmte Farbe bezeichnet." (Carnap 1966, 115 f.)

Die zweite These ist die „These der Gleichsetzung": Nach Suârez sind die Ausdrücke „gültiges Gesetz", „existierendes Gesetz" und „verbindliches Gesetz" analytisch äquivalent. Diese These entspricht - wie ich in einer anderen Arbeit (Garzón Valdés 1977) dargestellt habe und wie in diesem Band auch Jorge Malern aufzeigt - weitgehend der Position von Hans Kelsen, und zwar nicht nur hinsichtlich der Geltung von Normen, sondern auch hinsichtlich der Existenz bzw. Nichtexistenz von permissiven Normen. Kelsen hätte wohl ohne weiteres die Meinung von Suârez akzeptiert, daß „permissive Gesetze insofern Gesetze sind, als sie implizit Vorschriften enthalten, ohne die man die durch das Gesetz speziell erteilte Erlaubnis nicht verstehen könnte." (Suârez , a.a.O., Buch I, Kap. X I V , 5)

Für Suârez ist das Gesetz eine Hypothese von Gerechtigkeit und Vernünftigkeit, die der Interpret in jedem Einzelfall analysieren und prüfen muß; wird die Hypothese durch den Einzelfall falsifiziert, so ist sie zu modifizieren. Zu

Einführung

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diesem Zweck hat man sich der ,epiqueya q zu bedienen, die sich nicht nur an Kriterien der abstrakten Gerechtigkeit orientiert, sondern auch an solchen der pragmatischen Nützlichkeit. Sie ist es, die „das Gesetz in den Punkten, in denen es aufgrund seiner Universalität versagt, korrigiert" (ebd., Buch V I , Kap. 6.4). Diese Vorgehensweise ist nicht sehr verschieden von derjenigen, die Richard M. Hare (1963) zur Überprüfung moralischer Prinzipien vorgeschlagen hat, also von der hypothetisch-deduktiven Methode. In der moralischen Argumentation werden Prinzipien formuliert, aus denen Vorschriften für die Einzelfälle abgeleitet werden. Sind die Schlußfolgerungen unannehmbar, wird das Prinzip verworfen oder geändert. Bei der Interpretation eines Gesetzes ist dieses zu ändern, falls in einem Einzelfall oder in einer Klasse von Fällen die aus dem Wortlaut abgeleitete Schlußfolgerung inakzeptabel (ungerecht, absurd oder unnütz) ist. Die These von Suârez über Interpretation und Funktion der Billigkeit erscheint in diesem Sinne als vorweggenommene Erläuterung der Anwendbarkeit der Methode von Karl Popper auf die normativen Wissenschaften, wie sie von Hare vorgeschlagen wurde. Norberto Bobbio hat sehr deutlich die präskriptive Rolle der rechtsdogmatischen Auslegung herausgestellt und so die radikale Behauptung Kelsens zur Diskussion gestellt, daß die Funktion des Rechtstheoretikers (des Dogmatikers) nur in der Beschreibung des Rechts, so wie es ist, besteht. Auch Suârez betonte, daß „jede Interpretation Wandel ist" (a.a.O., Buch V I , Kap. 1.5; übrigens ein Satz, dem Napoleon zweifellos zugestimmt hätte, der schließlich jede Interpretation seines Code Civil untersagte), und er überließ der „Klugheit" des Interpreten die letzte Entscheidung über die Verbindlichkeit der Gesetze. Diese interpretative Arbeit ging einerseits von der Annahme aus, daß der Gesetzgeber zwar rational und gerecht ist (zur Idee des rationalen Gesetzgebers vgl. Carlos S. Nino 1974), daß es aber andererseits „unmöglich [ist], daß die allgemeine Bestimmung eines menschlichen Gesetzes in allen Einzelfällen so treffend ist, daß sie nicht in irgendeinem Fall einmal fehlgeht" (Suârez, a.a.O., Buch V I , Kap. 6.4). Genau zur Vermeidung solcher Fehlschläge greift der Interpret ein, der dadurch, daß er das Gesetz zugunsten von Vernünftigkeit und Gerechtigkeit korrigiert, in gewissem Sinne eine präskriptive Aufgabe erfüllt: „Man muß sagen, . . . daß menschliche Gesetze auch die juristische Auslegung zulassen, die, obwohl sie für sich allein keine Verbindlichkeit schafft, da sie nicht die Kraft hat, Gesetze zu machen, doch einen gewissen Grad von Autorität besitzt, der manchmal so sicher sein kann, daß er Verbindlichkeit erzeugt." (ebd., Buch V I , Kap. 1.6)

Der Interpret „optimiert" nach Suârez das Gesetz, indem er es nicht nur zeitlich, sondern im aristotelischen Sinne des Wortes aktualisiert, es also ver1

Von griechisch ,epiéikeia': Auslegung der Gesetze nach Kriterien der Billigkeit; Anm. d. U.

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Ernesto Garzón Valdés

bessert und ändert, falls dies erforderlich ist, um zu vermeiden, daß es absurd (widersprüchlich), unnütz (redundant oder unerfüllbar) oder ungerecht ist. Bei Suârez werden die Grundlagen für diese Haltung gegenüber dem Problem der Gesetzesauslegung explizit gemacht. Die heutigen Juristen sind in der Regel diesbezüglich nicht so offen: Unter dem Deckmantel einer angeblichen Beschreibung des Gesetzes vollziehen sie genau das, was Suârez ohne Umschweife benannt hat. Die rechtsphilosophische Abteilung der Universität von Granada, an der drei Autoren dieses Bandes - Nicolâs Lopez Calera , Andrés Oller ο und Modesto Saavedra - lehren, ehrt das Andenken dieses hervorragenden Rechtsgelehrten mit der Herausgabe der Zeitschrift Anales de la Câtedra Francisco Suârez. Dessen ungeachtet war die Anerkennung seiner Verdienste nicht immer von dem ernsthaften Bemühen begleitet, diese Verdienste auch wissenschaftlich zu belegen (vgl. Pérez Luno 1972, 666). Nicht selten wurde das Denken von Suârez als ausschließliches Erbe einer radikal katholischen Denkrichtung angesehen, was ein umfassendes Verständnis nicht nur im Ausland, sondern auch in Spanien selbst behindert hat. Die vor kurzem erfolgte Veröffentlichung der Monographie von Heribert Franz Köck Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten (1987, mit umfangreicher Bibliographie) ist in diesem Zusammenhang zweifellos ermutigend. I I . Das pädagogisch-moralisierende Anliegen im 17. Jahrhundert Obwohl die sogenannten spanischen „Tacitisten" des 17. Jahrhunderts auf einige Strömungen des 20. Jahrhunderts einen gewissen Einfluß gehabt haben mögen (Matthias Kaufmann hat kürzlich [1988, 47, Anm. 9] daran erinnert, daß einer von ihnen, Alamos de Barrientos, die Auffassung vertrat, das Politische sei durch die Unterscheidung von Freund und Feind gekennzeichnet), gilt wohl noch immer die vor mehr als dreißig Jahren formulierte Überlegung von José Antonio Maravall: „Es ist wirklich überraschend zu sehen, daß die allgemeine Geschichte des politischen Denkens allzu oft dem Beitrag spanischer Autoren des 17. Jahrhunderts keine Beachtung schenkt . . . " (Maravall 1955, 15). Die Bedeutung dieser Autoren liegt meines Erachtens in ihrer Beschäftigung mit den normativen Kriterien, die der Herrscher - also der katholische Fürst - erfüllen müßte, um als gerecht gelten zu können. Der Grund dafür ist vermutlich zu einem großen Teil in dem religiösen Kreuzzug zu suchen, den Spanien in Europa durchzuführen entschlossen war: „Vom Geist der Gegenreformation übernahm Spanien vor allem das inbrünstige Verlangen nach der inneren Reform des Menschen. Es war folglich logisch, daß auch das gesamte politische Denken dieser Epoche dieses tiefe Streben widerspiegelte,

Einführung

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was sich sehr bald in einer umfassenden Literatur von pädagogischem und moralisierendem Charakter zeigen sollte, in der man ein Bild des idealen Herrschers zu zeichnen versuchte." (Antonio Ruiz de la Cuesta 1984, 30)

Ich möchte im folgenden einige der Argumente hervorheben, die von den spanischen Autoren des 17. Jahrhunderts vorgebracht wurden, um eine Moralisierung der Politik oder, anders ausgedrückt, eine größere Genauigkeit in der Bestimmung der ethischen Grenzen der Machtausübung zu erreichen. Dabei will ich mich nur auf zwei Fragen beziehen: die der möglichen ethischen und/oder juristischen Grenzen des Souveräns und die der Rolle, welche die Zustimmung der Bürger für Legitimität und Stabilität eines politischen Systems spielt. Während für Bodin princeps est legibus solutus und nach Hobbes voluntas non justitia facit legem, lautet die Formel im spanischen Rechtsdenken des 17. Jahrhunderts: ratio non voluntas facit legem. Der Begriff der Souveränität bezieht sich daher weniger auf die uneingeschränkte Macht des Monarchen, die Launen seines bloßen Willens im Inneren durchzusetzen, als vielmehr auf seine Unabhängigkeit auf internationaler Ebene. Die hier angesprochenen Autoren nehmen die mittelalterliche Tradition wieder auf, nach der Kaiser oder König ein vicarius Dei ist, dessen Funktion einen ganz klaren Zweck hat: „ . . . die Seinen mit Macht und Herrlichkeit in Gerechtigkeit und Wahrheit zu halten und vor allem Recht, Ordnung und Harmonie zu gewährleisten." (Maravall 1955, 164)

Die Auslegung der Macht des Monarchen als Stellvertretermacht impliziert die Annahme einer Abordnungs- oder Mandatsbeziehung mit einem genau bestimmten Zweck. Dies ist selbstverständlich ein hervorragendes Mittel zur Festlegung von Grenzen für die Entscheidungsgewalt. John Locke brachte die Idee des „trust" ins Spiel, um die Regierungskompetenzen zu beschränken. Während nach der Lockeschen Auffassung die Souveränität letztlich beim Volk lag, ist nach der spanischen Vorstellung die letzte Quelle der Macht der Wille Gottes, wie er sich im göttlichen Gesetz und im Naturgesetz manifestiert, die beide durch ihre Übereinstimmung mit den Geboten der recta ratio gekennzeichnet sind. Wenn der Wille des Monarchen von den Geboten des göttlichen Gesetzes oder - was dasselbe ist - der Vernunft abweicht, dann übt er nicht mehr politische Macht aus, sondern wird zum Tyrannen: „So will ich es; so befehle ich es; der Wille gelte anstelle der Vernunft: das ist ein Ausspruch von Tyrannen" (Francisco de Quevedo y Villegas, Politica de Dios . . . [1626], in ders. 1974, 598 a). Diese Auffassung der politischen Macht ist der des radikalen Voluntarismus, wie er von Wilhelm von Ockham propagiert und später von Hobbes übernommen wurde, diametral entgegengesetzt. Die Ablehnung der voluntaristischen Auffassung einerseits und die Auffassung des bürgerlichen Gesetzes als Ordnung, deren Geltung von der Übereinstimmung mit dem göttlichen

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E e s t o Garzón Valdés

Gesetz abhängt, andererseits erlaubte es einem großen Teil der spanischen Juristen des 17. Jahrhunderts, der Macht des Monarchen Grenzen zu setzen. Die Argumentationslinie war dabei folgende: Offenbar kann niemand sich selbst etwas befehlen, aber das heißt nicht, daß derjenige, der das Gesetz erläßt, es nicht selbst auch einhalten müßte: „ . . . der wahre Ursprung dieser Verpflichtung ist die Rechtfertigung des Gesetzes; solange es dem Gesetz Gottes entspricht und dazu dient, das auszuführen, was dieses befiehlt, können die Fürsten nicht umhin, ihm zu gehorchen, auch wenn sie selbst es erlassen haben und niemand sich selbst gebieten kann, denn wir sagen ja nicht, daß sie verpflichtet sind, ihm zu gehorchen, weil sie sich selbst Gehorsam schuldig sind, sondern weil sie ihn Gott und dem Naturgesetz schuldig sind, welches will, daß der Kopf mit den übrigen Gliedern in Einklang ist und für sich selbst als gerecht annimmt, was nach seinem Willen für die anderen gerecht ist (Fray Juan de Mârquez [1612], zitiert nach Maravall 1955, 226)

Darüber hinaus gilt aber, da per definitionem ein ungerechtes Gesetz nicht Gesetz ist bzw., was das gleiche ist, da das Gesetz nichts anderes ist als Ausdruck der Gerechtigkeit (weil es sich vom göttlichen Gesetz herleitet): „Wer nicht einhält, was er befiehlt, befiehlt Unrecht; wenn das, was er befiehlt, gut ist, warum dann nicht auch für ihn? Denn - wie Baldo sagt - es ist zwar richtig, daß der König über den Gesetzen steht, er steht aber nicht über der Vernunft." (Juan de Santa Maria [1619], zitiert nach Maravall 1955, 172 f.)

Von diesem Standpunkt aus fallen Legalität und Legitimität zusammen. Die Macht des Monarchen ist per definitionem legal: „König (rey) und Gesetz (ley) unterscheiden sich nur durch einen Buchstaben. Sie sind insofern das gleiche, als der König sprechendes Gesetz, das Gesetz aber stummer König ist" (Diego Saavedra Fajardo [1640] 1927, 259). Das wichtigste am Gesetz ist jedoch nicht, daß es ein Willensakt des Souveräns, sondern daß es eine der Vernunft entsprechende Bestimmung ist. Daher kann im Rahmen dieser rationalistischen, antivoluntaristischen Auffassung behauptet werden, daß sich „die wahre Politik auf dem Felsen des Gesetzes, nicht dem des Willens gründet" (Saavedra Fajardo, a.a.O.). Fünfzig Jahre später sollte John Locke sagen: „ . . . the difference betwixt a king and a tyrant . . . consists only in this: that one makes the laws the bounds of his power . . . ; the other makes all give way to his own will and appetite." (Locke [1690] 1952, 113)

Die antivoluntaristische Haltung und die Verbindung des Gesetzesbegriffs mit dem der rechten Vernunft (oder, wie man heute sagen würde, mit den ethischen Prinzipien der praktischen Vernunft) erlaubt den Schluß, daß Monarch und Untertanen nur innerhalb des Gesetzes frei sind, das heißt mit anderen Worten, daß es das Gesetz ist, was den Menschen frei macht. Für den Monarchen gilt: „Die Freiheit des Fürsten . . . ist nicht die Freiheit, die sich von der Vernunft entfernt, denn dann heißt sie Mißbrauch und Knechtschaft; er ist frei, wenn er sich der

Einführung

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rechten Vernunft bedient; wenn nicht, dann ist er ein Tyrann." (Quevedo, Politica de Dios . . . , zitiert nach Maravall 1955, 178)

Für die Untertanen gilt: „Nach unserer guten und klaren, von Leidenschaften freien Vernunft leben, das heißt, in Freiheit leben. Gerechte Gesetze stimmen nämlich mit der natürlichen oder übernatürlichen rechten Vernunft überein, und der Mensch kann nicht seiner Natur mehr entsprechend handeln, als wenn er die Vernunft zum Führer nimmt; folglich ist das Leben nach den Gesetzen, wie sie die rechte menschliche oder göttliche Vernunft festgelegt hat, nicht nur keine Sklaverei, sondern in hohem Maße Freiheit." (Fray Juan de Madariaga [1617], vgl. Maravall 1955, 259) „Das Gesetz ist die Grundlage der wahren Freiheit." (Pedro Portocarrero Maravall, a.a.O.)

[1700], vgl.

„ M i t der Durchsetzung der Gerechtigkeit gewinnen die Untertanen die Freiheit, denn damit endet die Herrschaft der Mächtigen, und jeder lebt ohne Unterdrückung, dank der Gesetze." (Juan Alfonso Rodriguez de Lancina [1687], vgl. Maravall, a.a.O.)

Dieser Gedanke, daß man frei ist, wenn vernünftige, gerechte Gesetze befolgt werden, sollte später bekanntlich zu einem der bevorzugten Themen der politischen und Moralphilosophie des europäischen 18. Jahrhunderts werden. Und die Auffassung, daß auch der Inhalt eines Gesetzes für dessen Geltung von Bedeutung ist, findet sich auch in den modernen Verfassungen, die einen Grundrechtskatalog enthalten, dessen Verletzung die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes bewirkt. Die Vorstellung, die sich die spanischen Juristen vom souveränen Monarchen machen, entspricht dem, was ich in einer anderen Arbeit (vgl. Garzón Valdés 1982) „Souverän^' genannt habe; es handelt sich dabei um denjenigen, der die höchste Gewalt aufgrund der Delegation durch den ursprünglichen Souverän oder „Souverän 0 " ausübt. Nach der spanischen Auffassung des 17. Jahrhunderts ist der „Souveräno" Gott; nach der heutigen demokratischen Vorstellung ist es das Volk. In beiden Fällen hat der „Souverän^' den Charakter eines Stellvertreters oder Delegierten des „Souverän 0 ". Diego de Tovar y Valderrama wies 1645 darauf hin, daß das Hauptproblem der politischen Wissenschaft darin bestehe zu bestimmen, „wo die Vernunft die Grenzen der Macht gezogen hat" (vgl. Maravall 1955, 180). Diese von der Vernunft selbst aufgegebene Beschränkung konnte nur dann wirksam sein, wenn der Monarch aufgrund eines geschärften Bewußtseins von seiner moralischen Pflicht dazu bereit war, sich ihr zu unterwerfen. So gesehen ist der beste Weg, um zu verhindern, daß ein Monarch zum Tyrannen verkommt, die Erziehung des Fürsten. Die Fülle von Literatur, die im 17. Jahrhundert in Spanien zu diesem Thema geschrieben wurde, ist beeindruckend. Es seien hier nur einige Beispiele genannt: El Gobernador cristiano deducido de las obras de Moysés y Josué, principes del pueblo de Dios (1612) 2 Garzón Valdés

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Ernesto Garzón Valdés

von Fray Juan Marquez; Del Senado y de su Principe (1617) von Juan de Madariaga; Tratado de Repùblica y Policia Christiana. Para reyes y principes y para todos los que en el gobierno tienen sus veces (1619) von Juan de Santa Maria; El politico (1640) von Baltasar Graciân; Politica de Dios, gobierno de Cristo , tirania de Satanâs (1626) von Francisco de Quevedo y Villegas. Maravall führt in seiner Bibliographie nicht weniger als 58 Titel zu diesem Thema an. Das Vertrauen in die Möglichkeiten pädagogischer Aktivitäten setzte offenbar den festen Glauben daran voraus, daß der Mensch sich verbessern läßt. Die betreffenden Autoren sind daher (bezeichnenderweise mit Ausnahme der „Tacitisten") entschieden antimachiavellistisch eingestellt. Die „vertù" Machiavellis ist etwas völlig anderes als die „virtud", die die spanischen Verfasser für den Fürsten anstreben. Der tugendhafte Fürst bei Machiavelli kennt das Gute wohl; wichtig ist für ihn aber nicht, gut zu sein, sondern gut zu scheinen. Pedro de Rivadeneyra (1595) meinte dazu: „die Tugenden des christlichen Fürsten müssen echt sein und nicht nur vorgetäuscht, wie Machiavelli lehrt" (vgl. Maravall 1955, 192). Die wahrhaftige Tugend des Fürsten ist es, die ihm das göttliche Wohlwollen und die Stabilität seiner Regierung sichert. Der Stellvertretercharakter der Macht des Fürsten zeigt sich auch auf der Ebene der Tugenden, denn ihre Pflege ist nichts anderes als die Erfüllung des göttlichen Gesetzes. Legitimität, verstanden als Übereinstimmung mit den von Gott bestimmten Prinzipien, ist daher eine notwendige Voraussetzung für Stabilität, d. h. für die Bewahrung der Monarchie und die Verhinderung ihrer Verwandlung zur Tyrannei. Es ist aber auch ein anderer, für die Stabilität der Regierung wesentlicher Faktor zu berücksichtigen. Juan Alfonso Rodriguez de Lancina wies Ende des 17. Jahrhunderts darauf hin, daß „Gehorsam und Respekt auf der öffentlichen Meinung beruhen", womit er sagen wollte, daß eine Macht dann bestehen bleibt, wenn sie vom Volk akzeptiert wird, und daß andernfalls ihr Bestand unwahrscheinlich ist (vgl. Maravall 1955, 279). Diese Behauptung impliziert selbstverständlich nicht, daß die Regierung letztlich in Händen des Volkes liegen muß, und auch nicht, daß die öffentliche Meinung als Kriterium für politische Wahrheit anzusehen ist. Die öffentliche Meinung wurde vielmehr verstanden als ein realer Machtfaktor, der die Autorität des Monarchen untergraben konnte. Zur gleichen Zeit setzte auch in England Lord Delamere die Autorität mit der „good opinion" in Beziehung, die die Untertanen von ihren Regierenden haben. Er stimmte damit der Ansicht seines Zeitgenossen Sir William Temple zu, der betont hatte, daß sich jede Regierung auf die öffentliche Meinung gründet (vgl. J. A. W. Gunn 1989, 248). Wenn die öffentliche Meinung ein eng mit der Stabilität der Macht verbundener politischer Faktor war, dann war es folglich auch wichtig zu wissen, welche Haltung man ihr gegenüber einnehmen sollte und welche gesellschaftli-

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chen Gruppen es waren, deren Meinung man zu berücksichtigen hatte. Unter den spanischen Autoren des 17. Jahrhunderts herrschte zunächst einmal eine ausgeprägte Tendenz zur Ablehnung der Zensur vor: „Welch elender Zustand eines Reiches, wenn man es nicht wagen kann, seine Meinung öffentlich und unter dem Namen des Urhebers auszusprechen. Wieviel elender noch derjenige, der dafür verantwortlich ist." (Quevedo, Migajas sentenciosas, in ders. 1974, 1222 b) „Es ist nicht gut, Richter und Inquisitoren schaffen zu wollen, gegen die man manchmal nicht frei sprechen kann, denn es ist nicht immer möglich, die Zunge freier Männer in einem freien Land zu zügeln." (Juan de Santa Maria [1619], zitiert nach Maravall 1955, 279)

J. A . W. Gunn (1989, 249) hat an die Verachtung erinnert, die die britischen und französischen Intellektuellen des 17. Jahrhunderts der öffentlichen Meinung entgegenbrachten, die sie als Meinung der Massen bzw. niederen Klassen der Gesellschaft betrachteten. Auch die spanischen Autoren haben kein Vertrauen in die Meinung der Masse und in ihre Begeisterungsschreie. Diesbezüglich liegt nichts ihrem Denken ferner als der Gedanke der „Akklamation durch das Volk", wie sie im 20. Jahrhundert von den Ideologen des Totalitarismus vertreten werden sollte. Der Satz Quevedos: „Das Volk ist wie die Luft, die sich atmen läßt, aber nicht trägt. Die Menge läßt einen ebenso leicht fallen, wie sie einem folgt, und anstatt zu unterstützen, vereitelt sie; rauschend bäumt sie sich auf wie das Meer, und die sich ihr anvertrauen, verschlingt sie nur" (Quevedo, La vida de Marco Bruto [1644], in ders. 1974, 939 b)

zeigt, wie wenig er von der Begeisterung der Massen hält und welche Gefahr er darin sieht, ihr zu trauen. Carl Schmitt dagegen vertrat die Ansicht, daß „das wirklich versammelte Volk . . . das tun (kann), was spezifisch zur Tätigkeit dieses Volkes gehört: es kann akklamieren, d. h. durch einfachen Zuruf seine Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken, Hoch oder Nieder rufen . . . " (Schmitt 1928, 243 f.),

und daß es dieses „akklamierende Volk" ist, das die öffentliche Meinung um so „authentischer" und „verläßlicher" wiedergibt, je unüberlegter es dies tut (vgl. ebd., 247). Den Autoren des 17. Jahrhunderts geht es nicht um diese Art der Zustimmung oder Ablehnung. Der Begeisterung der Massen zu mißtrauen, heißt aber nicht, die Meinung der Mitglieder der unteren Bevölkerungsschichten nicht zu berücksichtigen. Bei den Spaniern findet man nicht jenen „affected disdain for popular opinion" der Intellektuellen, wie er sich nach Gunn (a.a.O.) im übrigen Europa finden läßt. Im Gegenteil forderte Santa Maria: „Täuscht den Fürsten nicht, indem ihr ihn glauben macht, er könne darauf verzichten, die Meinung des Volkes zu berücksichtigen, denn ohne sie kann er sein Reich weder bewahren noch verteidigen; etwas anderes zu versuchen, wäre unnütz: es wäre 2*

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Ernesto Garzón Valdés so, als wollte man versuchen, mit einem Kopf, aber ohne Körper zu leben." (nach Maravall 1955, 281 f.)

Es geht darum, aktiven Gehorsam zu erreichen oder doch wenigstens, daß die Untertanen „ohne Abscheu gehorchen", um die Formulierung von Lancina zu gebrauchen. Zu diesem Zweck ist es angebracht, ihnen die Möglichkeit zu gewähren, ihre Meinung über die Regierung vorzutragen. „Gehorsam ohne Abscheu" oder - besser noch - aktiver Gehorsam sind Zeichen eines öffentlichen Konsenses, der zwar nicht Bedingung für die Legitimität, wohl aber für die Stabilität ist. Francisco de Quevedo gab den Monarchen den Rat, diese Zustimmung zu erwirken, denn „selbst um die Jungfrau Maria zur Königin der Engel und zur Mutter Gottes zu machen . . . schickte (Gott) nach ihrer Einwilligung. Wie sollten da die Monarchen der Erde darauf verzichten, die ihrer Untertanen einzuholen . . . ? " (Quevedo, Politica de Dios . . . , in ders. 1974, 700 b)

Den spanischen Autoren des 17. Jahrhunderts ging es nicht so sehr um eine Beschreibung der politischen Wirklichkeit ihrer Zeit, sondern sie nahmen eine präskriptive Haltung ein und konzentrierten ihre Bemühungen auf die Formulierung von Regeln für die moralisch begründete Absicherung einer Monarchie, die schon nicht mehr mit den Problemen des Feudalismus konfrontiert und die auch nicht, wie im übrigen Europa, von inneren Religionskriegen bedroht war. Spanien besaß zu Beginn des 17. Jahrhunderts das größte Reich der Erde, so daß dies eine günstige Epoche für die Verbesserung der Monarchie - auch hinsichtlich ihrer Legitimität - zu sein schien. Aber wie im 16. Jahrhundert die ethisch-juristischen Überlegungen kaum Anwendung im täglichen politischen Leben gefunden hatten, so waren auch die auf die Erziehung des Fürsten bedachten Pädagogen mit der prekären Wirklichkeit der Monarchen der letzten Epoche des Hauses Habsburg konfrontiert. Während die politischen Autoren darum bemüht waren, den Fürsten so zu erziehen, daß er den Aufgaben eines absoluten Monarchen voll und ganz gerecht werden könne, führten die Schwäche und Unfähigkeit von Philipp III. und Philipp IV. diese dazu, die Regierungsgeschäfte einem Günstling zu übertragen. Die Epoche war gekennzeichnet von bemerkenswerter wirtschaftlicher Stagnation, Inflation, Korruption der Verwaltung und Verschwendung am Hof. Dazu kam eine tollkühne politische Unternehmung, nämlich der Versuch, im Zuge der Gegenreformation in Europa eine einzige universale Monarchie zu errichten. Die spanischen Könige verschleuderten die amerikanischen Reichtümer in europäischen Kriegen, verschlossen sich der Möglichkeit, das Bürgertum weiter zu stärken, und ordneten die Vertreibung von 300 000 Morisken an, so daß ein erheblicher Teil der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte verloren ging. A m Ende des 17. Jahrhunderts war Spanien zu einer zweitrangigen Macht in Europa geworden; zudem förderte das Scheitern der spanischen Politik in Europa die Isolierung des Landes:

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„Spanien beginnt, sich in einer Haltung der Isolation und des Mitrauens gegenüber einem feindlichen Europa auf sich selbst zurückzuziehen . . . ergriffen von gerechtem Zorn, zerreißt es sich in einer tiefen Krise und verfällt in das, was man ,das spanische Problem' genannt hat, das seitdem bis in unsere Tage andauert." (Alberto MontoroBallesteros, Fray Juan de Salazar, moralista politico, Madrid 1972, 50 f., zitiert nach Antonio Ruiz de la Cuesta 1984, 29)

I I I . Von der erstarrten Orthodoxie zur liberalen Verfassung von 1812 Die Isolation des offiziellen Spanien und das praktische Scheitern der pädagogisch-moralisierenden Bemühungen der Denker des 17. Jahrhunderts hatten negative Auswirkungen, die bis weit ins 18. Jahrhundert reichten und in gewisser Weise das Urteil von Nicolas Masson de Morvilliers aus der Encyclopédie méthodique verständlich machen, sofern man es auf diese Epoche beschränkt. Daher konnte auch Santiago Ramon y Cajal 1896 mit gutem Grund sagen: „Wir schlossen die Grenzen, damit der Geist Europas sich nicht einschleichen könne, und Europa rächte sich, indem es an den Pyrenäen eine noch viel höhere moralische Schranke errichtete: die Schranke der Verachtung. Seit Ende des 17. Jahrhunderts wurden unsere Wissenschaftler, unsere Philosophen und unsere Literaten so gut wie gar nicht mehr gelesen und zitiert." (Ramon y Cajal [1896] 1970, 392)

Der militante Katholizismus und die Inquisition behinderten die Rezeption und die Übersetzung der wichtigsten europäischen Denker der Zeit und die Diskussion der „Neuerungen" von der anderen Seite der Pyrenäen. Jede Neuerung war schon als solche verdächtig. So schrieb Enrique de Villegas (1641) in seinen Advertencias eruditas para principes y ministros: „Nicht nur in den großen Dingen verweigert der Fürst die Neuerung gegen die überlieferten Sitten, sondern auch in den ganz kleinen, und er glaubt, das Alte sei das Beste und der Wandel ginge vom Guten zum Schlechten." „Der Fürst will, daß die Einführung einer Neuerung durch Erlaubnis, nicht durch Gebot erfolgt, um so den Klang nach Neuerung zu vermeiden, der in den Ohren des Volkes schrecklich ist." (zitiert nach Juan Mercader und Antonio Dominguez 1977, 191)

Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit wurde meist unter Anführung seltsamer Argumente gerechtfertigt, wie die folgenden des Pater Munana: „Die Alten hatten mehr Temperament, weil sie gehaltvollere Speisen aßen und weil die noch junge menschliche Natur größere Kraft besaß; so konnten sie, obwohl sie Heiden waren, eine Philosophie schaffen, und wir, die wir Christen sind, können das nicht." (vgl. Mercader und Dominguez 1977, 194)

Es kann daher nicht überraschen, daß Benito Jerónimo Feijoo (1676 1764), einer der wenigen kritischen Geister der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, sich beklagte:

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E e s t o Garzón Valdés „Die Wissenschaft kann in Spanien nicht vorankommen, solange unsere Autoren ihre Forschung und ihre Feder nur dem widmen, was diejenigen wußten und schrieben, die ihnen in den letzten eineinhalb Jahrhunderten vorausgegangen sind." (vgl. ebd., 192)

Ergebnis dieser Haltung war eine verknöcherte Scholastik, gegen die die Minderheit der „Aufgeklärten" zu kämpfen versuchte, die sich um die Jahrhundertmitte - vor allem unter der Herrschaft von Karl III. (1759 - 1788) - zu behaupten begann, die sozio-ökonomische Reformen durchführte und die in nicht geringem Maße die Gestaltung der liberalen Ideologie des beginnenden 19. Jahrhunderts beeinflussen sollte. Gaspar Melchor de Jovellanos (1744 - 1811), Ökonom und Pädagoge und wohl die bedeutendste Gestalt der spanischen Aufklärung, richtete einen großen Teil seiner Überlegungen auf die Notwendigkeit, die öffentliche Bildung auf der Grundlage rationaler Prinzipien zu fördern, und zwar nicht nur, um die Entwicklung des Landes anzukurbeln, sondern auch als wirkungsvollsten Weg zur Erreichung des internationalen Friedens. Seine Interessen entsprachen demnach denen zahlreicher Autoren des 18. Jahrhunderts - man denke nur an den Abbé Charles de Saint-Pierre, an J. J. Rousseau oder an Immanuel Kant. Im Jahr 1804, neun Jahre nach der Veröffentlichung der berühmten kantischen Schrift Zum ewigen Frieden, die Jovellanos wahrscheinlich nicht kannte, formulierte der spanische Denker ganz ähnliche Vorstellungen wie der Philosoph aus Königsberg, vor allem hinsichtlich der Idee einer europäischen Konföderation und über die Rolle der Aufklärung: „Wer sieht nicht, daß mit dem Fortschreiten der Aufklärung die Regierungen nur noch beständig für das Glück der Regierten arbeiten und daß die Nationen, anstatt sich aus elendem Eigeninteresse und Ehrgeiz gegenseitig zu verfolgen und zu zerstören, untereinander die Bande der Liebe und der Freundschaft knüpfen werden, die die Vorsehung ihnen bestimmt hat? Wer sieht nicht, daß die Zunahme der Bildung eines Tages zuerst die aufgeklärten Nationen Europas und schließlich alle Nationen der Erde zu einer allgemeinen Konföderation führen wird, deren Zweck es sein wird, jeder einzelnen den Genuß der Vorteile zu sichern, die sie dem Himmel verdankt, einen unverletzbaren, ewigen Frieden zwischen ihnen allen zu bewahren und nicht mit Armeen und Kanonen, sondern mit der Kraft ihrer Stimme, die stärker und furchtbarer sein wird als jene, dasjenige vermessene Volk zu zügeln, das es wagen sollte, die Ruhe und das Glück der menschlichen Gattung zu stören? Wer sieht schließlich nicht, daß diese Konföderation der Nationen und Gesellschaften, die die Erde bevölkern, die einzige für die menschliche Gattung mögliche allgemeine Gesellschaft i s t . . . ? " CJovellanos [1804] 1951, 255)

Die spanischen Aufklärer betrachteten die Gesellschaft als ein großes Unternehmen, an dem jeder nach seinen Fähigkeiten teilhat, wobei der König zum Partner seiner Untertanen wird, die ihrerseits nicht mehr Vasallen sind, sondern zu „Bürgern" (das Wort wurde übrigens von Jovellanos ins Spanische eingeführt) werden. Wie der König von Preußen sich selbst als „ersten Diener des Staates" bezeichnete, so bemerkte der Sevillaner Ignacio de Aguirre, daß

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der König der „erste Partner der Nation" sei (vgl. Maravall 1979, 311). Der Gedanke von der Gesellschaft als einem gemeinsamen Unternehmen zum Wohle aller - als einer „cooperative venture for mutual advantage", um den bekannten Ausdruck von John Rawls (1971, 4) zu gebrauchen - wird von den Aufklärern unterstrichen: „Ist die Gesellschaft denn etwas anderes als eine große Gemeinschaft, in die jeder seine Fähigkeiten und Talente einbringt und sie zum Wohl der anderen einsetzt?" (Jovellanos, Oración sobre la necesidad de unir el estudio de la literatura al de las ciencias, in ders. 1951, 331)

Die Vorstellung von Adam Smith - ein bei den spanischen Aufklärern bestens bekannter Denker - , daß das freie Spiel privater Interessen eine wesentliche Grundlage für die Gesamtentwicklung der Gemeinschaft sei, wurde von den spanischen Autoren geteilt: „ . . . die Gesellschaft wird sich nie gründen, es sei denn aufgrund gegenseitiger Interessen." (Leon de Arroyal [1793], vgl. Maravall 1979, 318) „Ziel jeder politischen Gesellschaft ist es, jedes Mitglied dazu anzuhalten, im eigenen Interesse zur Harmonie des Ganzen beizutragen, und dazu, daß durch die Vervielfältigung des Wirkens jedes Einzelnen folglich das gemeinsame Wirken mehr sei als die Summe aller Einzelnen." (Francisco de Cabarrùs [1784], vgl. Maravall 1979, 318)

Die Befürwortung des freien Spiels der Einzelinteressen als wirksamstes Mittel zur Förderung des Gemeinwohls impliziert jedoch nicht, daß die ethischen Beschränkungen mißachtet werden, daß man also in „moralische Ignoranz" (Jovellanos [1804] in ders. 1951,251) verfällt. Die Verfolgung des Eigeninteresses wird nicht mit Egoismus gleichgesetzt, dessen Aufkommen in der „neuen politischen Nomenklatur" Jovellanos kritisiert, denn: „Immer am persönlichen Interesse orientiert, kümmert [der Egoist] sich nie um seine Mitbürger oder um das Wohlergehen des Staates, und sieht auch mit Gleichgültigkeit die Ungerechtigkeiten, die Unordnung, die Gefahr und den Ruin der öffentlichen Angelegenheiten, solange ihm dies nur zum Nutzen gereicht." (Jovellanos [1804] 1951, 256)

Im Jahr 1987 klagte Amartya Sen: „The misinterpretation of Smith's complex attitude to motivation and markets, and the neglect of his ethical analysis of sentiments and behaviour, fits well into the distancing of economics from ethics that has occurred with the development of modern economics." (Sen 1987, 27 f.)

Für die spanischen Denker am Ende des 18. Jahrhunderts kann dieses Urteil kaum gelten. Jovellanos, ein eifriger Leser von Adam Smith, übernimmt dessen Gedanken, daß der Mensch sich als „a member of the vast commonwealth of nature" ansehen und „at all times . . . willing that his own little interest should be sacrificed" sein sollte (Adam Smith , The Theory of Moral Sentiments [1790], zitiert nach Sen 1987, 22 f.), wenn er sagt:

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Ernesto Garzón Valdés „Es ist aber nicht weniger gewiß, daß der Mensch zum großen Kreis der menschlichen Gattung gehört; daß das ewige Gesetz ihn durch ein Band der Liebe an seine Art bindet, und daß dieses Gesetz ihm Aufgaben und Pflichten überträgt, die in Beziehung zu allen und jedem einzelnen ihrer Individuen stehen. Nicht weniger gewiß ist, daß die sozialen Institutionen diese Pflichten nicht etwa schwächen, sondern im Gegenteil bestätigen und vervollkommnen . . . " (Jovellanos [1804] 1951,253)

Die Vorstellung, die diesem aufgeklärten Denken zugrundeliegt, ist also einerseits die Anerkennung des privaten Interesses als Grundmotiv des menschlichen Handelns und andererseits die Bekräftigung der Pflichten, die sich aus der bloßen Tatsache der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung ergeben. Diese universale Solidarität zeigt sich bei Jovellanos auch in seinen heftigen Angriffen gegen die „unmenschliche" Auffassung, die „die Bezeichnungen ,Fremder' und ,Feind' als Synonyme" ansieht (a.a.O.). Und mehr noch: „Ich wollte, daß ihre Kinder [die seiner Zeitgenossen, E. G. V.], auch wenn sie stolz darauf sind, Spanier und Katholiken zu sein, doch niemals vergessen, daß sie Menschen sind; auch wenn sich ihr Reich über den ganzen Erdball ausdehnt, wollte ich doch, daß sie alle, die darauf wohnen, als Brüder betrachten. Ich wollte schließlich, daß sie, auch wenn sie ihrem Vaterland treu dienen, niemals das Band aus den Augen verlieren, das sie an ihre ganze Art bindet, zu deren Vervollkommnung alle Völker und alle Menschen gemeinsam beitragen müssen." (a.a.O.)

Es sind diese Solidaritätspflichten, die der zivilen Gesellschaft zugrundeliegen, welche ihren Hauptzweck ja in deren Erfüllung hat. In diesem Sinne kann es nicht überraschen, daß die hier betrachteten Autoren sie sich als eine demokratische und egalitäre vorstellten, ohne die erblichen Privilegien des Adels. José Cadalso (1741-1782) hat in seinen Cartas Marruecas (1789 posthum veröffentlicht) eben diese Privilegien des Adels kritisiert und sich über diese Institution lustig gemacht: „Erblicher Adel ist die Einbildung, die ich darauf gründe, daß achthundert Jahre vor meiner Geburt einer gestorben ist, der so hieß wie ich und der ein fähiger Mann war, auch wenn ich selbst zu nichts tauge." (José Cadalso 1978, Carta 13)

In seiner Schrift Zum ewigen Frieden drückte auch Kant seine Zweifel an der angeblich notwendigen Beziehung zwischen erblichem Adel und öffentlichem Verdienst aus: „Nun ist offenbar: daß, wenn der Rang mit der Geburt verbunden wird, es ganz ungewiß ist, ob das Verdienst . . . auch folgen werde . . . Denn ein Edelmann ist darum nicht sofort ein edler Mann." (Kant 1956/VI, 205)

1782 ging Francisco Cabarrùs in seiner Kritik an der sozialen Ungleichheit sogar noch weiter und sah deutlich die Probleme voraus, mit denen die entstehende bürgerliche Gesellschaft konfrontiert sein würde: „Die ungleiche Verteilung der Güter, wie auch immer sie zustande kam, ist eines der Übel, deren Ausrottung größere Umsicht und Weisheit verlangt, denn der Gesetzge-

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ber bewegt sich zwischen zwei fürchterlichen Abgründen, die er leicht hinabstürzen kann: Erhaltung der Gesellschaft als höchstes Gesetz und individuelles Eigentum als ein Grundgesetz." (Cabarrus , Memoria para la extinción de la Deuda Nacional y arreglo de contribuciones, vgl. José Luis Abellân 1981/III, 859)

Der soziale Radikalismus von Cabarrûs mit seiner Verurteilung der wachsenden Verelendung in Verbindung mit übergroßem Reichtum einiger weniger wird von José Antonio Maravall (1967) der gleichen Strömung zugerechnet, die im 19. Jahrhundert in der Marxschen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft gipfeln sollte. Das Denken der spanischen Aufklärer wurde in einem internationalen geschichtlichen Zusammenhang formuliert, der seine akademische Institutionalisierung schwierig machte. Gerade für das Gebiet der Rechtsphilosophie ist der Hinweis interessant, daß 1770 der erste Lehrstuhl für Naturrecht an den Reales Estudios de San Isidro in Madrid eingerichtet wurde, und zwar mit dem Zweck, „die Staatsräson mit dem Gewissen, der Religion und dem katholischen Glauben in Einklang zu bringen" (vgl. Antonio Enrique Pérez Luno 1987, 315). Dieser Lehrstuhl wurde jedoch - wie die anderen, die in Granada, Valencia und Zaragoza eingerichtet worden waren - 1794 im Zuge einer Maßnahme zur Verteidigung gegen den Einfluß der Französischen Revolution wieder abgeschafft (vgl. Antonio Truyol y Serra 1975, 242), dem gegenüber sich die spanische Monarchie der Bourbonen besonders empfindlich zeigte. Trotzdem wurden einige Universitäten - wie etwa die von Salamanca - zu einem starken Bollwerk liberalen Denkens, das sich dann im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts voll entfalten sollte. Nach der napoleonischen Invasion von 1808 lehnten die spanischen Liberalen - die Nachfolger der Aufklärer des 18. Jahrhunderts - die napoleonische Verfassung von Bayonne ab und verabschiedeten in den Cortes von Cadiz eine Verfassung, durch die eine demokratische Monarchie errichtet werden sollte. Es schien, als hätte die Vernunft über den Dogmatismus gesiegt und als sollte sich in Spanien die aufgeklärte Prophezeiung Voltaires verwirklichen: „ . . . obwohl die schwachsinnigen Dogmatiker an Zahl den Aufklärern noch immer überlegen sind . . . wird am Ende die kleine Gruppe der Denkenden die große Menge führen." (vgl. Patrick Riley 1941, 130)

In den Cortes von Cadiz, die am 24. September 1810 - während das übrige Spanien unter napoleonischer Herrschaft stand - eröffnet wurden, versammelten sich nämlich Abgeordnete der iberischen Halbinsel, Amerikas und der Philippinen. Sie erließen am 19. März 1812 eine Verfassung, die die Grundzüge des spanischen Liberalismus bis zur Revolution von 1868 festlegte und die mindestens bis zum Erlaß der französischen bzw. der belgischen Verfassung in den Jahren 1830 und 1831 zum Verfassungsprogramm der europäischen Liberalen wurde: „it was at the time hailed by other continental liberals as a shining beacon light" (John R. Dinwiddy 1978, 30). Hier ist vielleicht auch

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daran zu erinnern, daß der Begriff „liberal" als Bezeichnung für die spanischen Anhänger der Verfassung von 1812 entstand (vgl. Heinrich August Winkler 1979, 15). Einer der Autoren des vorliegenden Buches, Juan Ramon de Pâramo Argüelles, hat eine interessante Untersuchung über diese Verfassung geschrieben (de Pâramo 1983), auf die ich hier jedoch nicht näher eingehen will. Ich möchte stattdessen einige Punkte hervorheben, die mir relevant scheinen, um die Modernität der Verfassungsgeber von 1812 im europäischen Kontext der damaligen Zeit zu verdeutlichen. Ich werde mich dabei auf den Text der Verfassung sowie auf die sogenannte Vorrede (Discurso Pr eliminar) beziehen, deren Verfassung in erster Linie Agustin de Argüelles zugeschrieben wird. Schon in den ersten Sätzen der Vorrede wird auf die Bedeutung der rechtspolitischen Geschichte Spaniens sowie auf die Notwendigkeit hingewiesen, den „Fortschritt [zu berücksichtigen, den] die Regierungswissenschaft in Europa bewirkt hat" (Argüelles [1812] 1983, 60). Art. 3 der Verfassung bestimmt, daß „die Souveränität wesentlich bei der Nation liegt". Dieser Gedanke der nationalen Souveränität, der den politischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts so wichtig war und der schon in die französische Verfassung von 1791 aufgenommen wurde, wird von Argüelles zurückverfolgt bis zum Fuero Juzgo des mittelalterlichen Aragon mit seinem System gewählter Könige. Dabei spielt es hier keine große Rolle, ob der Rückgriff auf spanische Vorläufer neben der Bemühung um eine gewisse verfassungsgeschichtliche Kontinuität auch einer rhetorischen Strategie des Autors entsprach, um so Begriffe einführen zu können, die durch die Französische Revolution aktualisiert worden waren, ohne die Empfindlichkeit der spanischen Bourbonenmonarchie zu reizen. Die Regierung der spanischen Territorien (im Plural, da sie die Reiche und Provinzen beider Hemisphären umfassen) ist eine „gemäßigte Erbmonarchie" (Art. 14). Wichtig ist hier die Einschränkung „gemäßigt", denn dies bezieht sich auf die Grenzen der königlichen Macht und bedeutet einen grundlegenden Einschnitt im Vergleich zum früheren Regime. Die Beschränkungen sind hauptsächlich von zweierlei Art: einerseits die Unterstellung des Monarchen unter das Gesetz und andererseits die Gewaltenteilung im Sinne Montesquieu. Zum ersten Typ von Beschränkungen sagte Argüelles: „Von allen menschlichen Institutionen ist keine erhabener und bewundernswerter als die, welche in den Menschen die natürliche Freiheit beschränkt, indem sie sie unter das sanfte Joch des Gesetzes zwingt. In seinen Augen sind alle gleich, und die Unparteilichkeit, mit der die von ihm vorgeschriebenen Regeln eingehalten werden, wird immer das wahre Kriterium dafür sein, ob es in einem Staat bürgerliche Freiheit gibt oder nicht." (.Argüelles, a.a.O., 81)

Schon Francisco Suârez hatte im 16. Jahrhundert die Probleme aufgezeigt, die sich aus der Vagheit und Mehrdeutigkeit der Gesetze ergeben. Argüelles

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scheint diese Beobachtung vor Augen zu haben, wenn er sagt, daß die Beschränkungen der Macht des Monarchen in einer klaren Sprache verfaßt sein müssen, „damit nicht wieder zugunsten von Obskurität und Mehrdeutigkeit der Gesetze jene unheilvollen Änderungen vorgenommen werden, die den Charakter der Monarchie so sehr entstellt und wechselhaft gemacht haben" (a.a.O., 69). Die Lektüre des Verfassungstextes zeigt, mit welchem Erfolg sich die Verfassungsväter darum bemühten, eine unzweideutige Interpretation der erlassenen Bestimmungen zu ermöglichen. Die Scholastiker des 17. Jahrhunderts hatten ihrerseits auf der logischen Beziehung zwischen Gesetz und Gerechtigkeit bestanden und auf eben diese Beziehung die Pflicht zur Einhaltung des Gesetzes gegründet, und zwar auch seitens des Monarchen. Die Verfassung von 1812 nimmt in ihren Art. 4 und 12 diesen Gedanken auf, wenn sie bestimmt, daß die Gesetze „weise und gerecht" sein sollen. Aber nicht nur die materielle Gerechtigkeit wird berücksichtigt, sondern es werden auch Grundprinzipien der formalen Gerechtigkeit mit aufgenommen. Wie Argüelles bemerkte, ist ein wesentliches Kriterium für die Gerechtigkeit der Gesetze, nicht zu vergessen, daß die bürgerliche Freiheit „unvereinbar [ist] mit jeder Einschränkung, sofern sie nicht aufgrund eines nach dem bestehenden Gesetz eingeleiteten und abgeschlossenen Prozesses gegen eine bestimmte Person gerichtet ist" (.Argüelles, a.a.O., 81). Die Verfassung sanktionierte damit das wesentliche Prinzip des Rechtsstaats: nullum crimen, nulla poena sine lege (vgl. Art. 244 ff.) Nachdem in Art. 168 festgelegt wurde, daß „die Person des Königs heilig und unverletzbar und keiner Rechenschaftspflicht unterworfen ist", erläßt Art. 172 eine Reihe von Beschränkungen für die Autorität des Monarchen (wie etwa das Verbot, direkte Abgaben zu erheben, das Eigentum von Individuen oder Körgerschaften anzutasten oder selbst jemandem die Freiheit zu nehmen oder eine Strafe aufzuerlegen). Damit wird die Exekutivgewalt des Königs nach Maßgabe einer „liberalen Verfassung" (wie Argüelles sie nennt; vgl. a.a.O., 108) abgesteckt. Unter theoretischen Gesichtspunkten allerdings scheint mir Art. 173 von besonderem Interesse. Darin wird nämlich die Formel für den Eid festgelegt, den der König bei der Thronbesteigung zu leisten hat, und diese enthält eine Bestimmung, die man - analog zum klassischen Beispiel für selbstauferlegte Beschränkungen der Befehlsgewalt - als „Odysseus-Klausel" bezeichnen könnte. Es heißt dort: „und wenn ich hinsichtlich dessen, was ich geschworen habe, oder eines Teils davon, das Gegenteil tun sollte, dann soll mir nicht gehorcht werden, vielmehr soll das, worin ich zuwiderhandle, null und nichtig sein." Soweit mir bekannt ist, ist diese Selbstbeschränkung der Macht eines Staatschefs in der Geschichte des Verfassungsrechts einzigartig: der König selbst legt fest, daß eine Verletzung der Verfassungsprinzipien von seiner Seite die Gehorsamspflicht aufhebt, ja mehr noch, er befiehlt, ihm den Gehör-

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sam zu verweigern. Da der Monarch nicht mehr ursprünglicher Souverän ist (Art. 2 und 3), wirft Art. 173 nicht die Probleme der rechtlichen Selbstbeschränkung auf, die John Austin in The Province of Jurisprudence Determined (1832) analysiert hat, sondern er zeigt den grundlegenden Wandel, den die liberale Auffassung für das Verständnis der Rolle des Monarchen bedeutet. Jetzt konnte man nicht mehr wie Jean Bodin (1583) sagen: „Genau wie sich der Papst die Hände nicht binden kann . . . , kann der souveräne Fürst dies nicht tun, selbst wenn er wollte" (Bodin 1961, 132). Darüber hinaus war die Gewaltenteilung in der Verfassung ganz klar festgelegt: die gesetzgebende Gewalt liegt bei den Cortes (Art. 131 - 156) und die „Befugnis, die Gesetze in zivil- und strafrechtlichen Fällen anzuwenden, kommt ausschließlich den Gerichten zu" (Art. 242). Diesbezüglich schrieb Argüelles: „Damit die Befugnis, die Gesetze im Einzelfall anzuwenden, niemals zu einem Instrument der Tyrannei werden kann, werden auf diese Weise die Funktionen des Richters von jedem anderen A k t der souveränen Autorität getrennt, so daß weder die Cortes noch der König sie unter keinen Umständen jemals ausüben können." (a.a.O., 83)

Da das Ziel der Regierung das Glück der Nation ist, weil ja „der Zweck jeder politischen Gesellschaft kein anderer ist als das Wohlergehen der Individuen, aus denen sie besteht" (Art. 13), werden Folter und Zwangsmaßnahmen (Art. 303), willkürliche Festnahme (Art. 299), Beschlagnahmung des Eigentums (Art. 304) und die Erhebung von Steuern, die von den in den Cortes versammelten Vertretern des Volkes nicht genehmigt worden sind (Art. 172), abgeschafft. Gleichfalls wird das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert: „Da nichts so unmittelbar zur Aufklärung und zum allgemeinen Fortschritt der Nationen und zur Bewahrung ihrer Unabhängigkeit beiträgt wie die Freiheit, alle Ideen und Gedanken veröffentlichen zu können, die für die Untertanen eines Staates nützlich und vorteilhaft sein könnten, muß die Pressefreiheit als echte Vermittlerin der Aufklärung zum Grundgesetz der Monarchie gehören, wenn die Spanier wirklich frei und glücklich sein wollen." (Argüelles 1983, 106)

Im Jahr 1813 schafften die Cortes die Inquisition ab. Die dadurch hervorgerufene Debatte „war die erste öffentliche Diskussion über die Vergangenheit Spaniens, über den Sinn, den die spanische Geschichte gehabt hatte" (J. Vicéns Vives , J. Nadal und R. Ortega 1977, 289 f.). Während jedoch in diesem Augenblick die Hoffnung nahelag, daß der liberale Impuls der spanischen Verfassungsväter den Weg zur politisch-geistigen Modernisierung des Landes weisen würde, brachte schon das Jahr 1814 die Rückkehr von Ferdinand V I I . (1814 - 1833) auf den Thron und die absolutistische Restauration (mit der kurzen Unterbrechung der drei liberalen Jahre von 1820 - 1823). Die Verfassung von 1812 wurde widerrufen, die Zensur wieder

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eingerichtet, und die liberalen Denker wurden dazu verurteilt, zu schweigen oder ins Exil zu gehen. Die von Ferdinand V I I . erzwungene Restauration förderte außerdem - wie 170 Jahre nach dem Erlaß der Verfassung von Cadiz einer seiner Nachkommen zugab - die Unabhängigkeit der Länder Südamerikas: „Wenn die Verfassung von 1812 Bestand gehabt hätte, dann wäre vielleicht Versöhnung in Pluralität möglich gewesen, und es wären Ströme von Blut und der Zerfall Spanisch-Amerikas vermieden worden . . . " (Juan Carlos /., Rede in Cadiz am 12. Oktober 1982)

Voltaire hatte an die befreiende Möglichkeit der Regierung einer aufgeklärten Minderheit über die Mehrheit der „schwachsinnigen Dogmatiker" gedacht. Nicht gedacht hatte er an die Möglichkeit, daß sich seine Formel ins Gegenteil kehren könnte: in den schwachsinnigen Dogmatismus einer Minderheit, die aus einer Position der Macht die aufgeklärt-liberalen Bemühungen bremsen und zunichte machen könnte. Die Regierung der Restauration verhalf tragischerweise dem sogenannten „spanischen Problem" - also der Frage, „ob das offizielle Spanien den wahren historischen Sinn des Volkes repräsentierte oder ob es ein von der bürokratischen Struktur ständig verdecktes Spanien gab" (Vicéns Vives u. a., a.a.O., 290) - zu neuer Aktualität. Die Tatsache, daß die Gedanken der Theoretiker des 16., das pädagogische Programm der Scholastiker des 17. und die Vorstellungen der fortschrittlichen Intellektuellen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine praktische Umsetzung in der Wirklichkeit erfuhren, scheint auf das Zutreffen der zweiten Alternative hinzudeuten. Immerhin sollten mehrere Jahrzehnte vergehen, bevor erneut ein politisch-intellektuelles Projekt formuliert werden konnte, das in der Lage war, dem offiziellen Dogmatismus Einhalt zu gebieten. Dies war der Fall mit dem sogenannten „spanischen Krausismus", den ich im folgenden Abschnitt behandeln werde.

I V . Vom krausistischen Reformismus zur konstitutionellen Monarchie Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden in Spanien verschiedene philosophische Theorien der Zeit aus Europa rezipiert, vom doktrinären Liberalismus bis zum Rechtshistorizismus (vor allem in Katalonien) und Hegelianismus (vor allem an der Universität von Sevilla; vgl. dazu Juan Ramon Garcia Cue 1983). Keine dieser Strömungen sollte jedoch so große Bedeutung erlangen wie die idealistische Philosophie von Karl Christian Friedrich Krause (1781 - 1832). Die These, daß diese Rezeption aus Zufall erfolgte bzw. daß sie Folge der „intellektuellen Trägheit" von Julian Sanz del Rio (1814 - 1869) war, der sie nach Spanien brachte, wie Marcelino Menéndez y Pelayo behauptet hat (vgl. erschöpfend zu diesem Thema Elias Diaz 1983, vor allem 15 ff.) scheint mir nicht haltbar.

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Tatsache ist, daß die fortschrittlichen spanischen Intellektuellen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in erster Linie an einer philosophischen Theorie interessiert waren, die in direkter Beziehung zu einer ethisch ausgerichteten, liberalen politischen Praxis stand. Der „harmonische Rationalismus" Krauses, den Sanz del Rio anläßlich einer Deutschlandreise Anfang der 40er Jahre näher kennenlernte, schien diesem Anliegen zu entsprechen: er wurde zur beherrschenden Richtung in Philosophie und Sozialwissenschaften und bewirkte einen beträchtlichen Wandel in der politischen Haltung eines großen Teils der spanischen Intellektuellen. Wie Francisco Giner de los Rios (1839 1915) sagte, der den Krausismus in die spanische Rechtsphilosophie einführte: „Über die Lehre Krauses kann man diskutieren, nicht aber über die Dankbarkeit, die sie direkt oder indirekt von all denen verdient, die die kaum begonnene Emanzipation unseres Volkes gutheißen. Denn nur auf dem Weg über die Ideen und durch deren Wirkung auf die geistige Entwicklung, nicht durch Revolutionen oder durch die unfruchtbaren Kämpfe einer heuchlerischen, oberflächlichen und formalistischen Politik, kann es wiedergeboren werden und sich der Wohltaten würdig erweisen, die ihm heute in den Schoß fallen, und mit der allgemeinen Strömung der Geschichte zu kooperieren beginnen, für die es sich bislang so wenig interessiert hat." (Giner de los Rios 1883, X I f.)

Der Krausismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte zur Philosophie der liberal-reformistischen Bourgeoisie werden, die in gewissem Sinne die Linie der Cortes von Cadiz weiterführte und die demokratische Bewegung unterstützte, die zur Revolution von 1868 und zur Errichtung der ersten Republik im Jahre 1873 führte; und er stand auch in Zusammenhang mit manchen Ideen der Gründer der PSOE, der heute regierenden Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens. Der Einfluß des eigentlichen Krausismus dauerte ungefähr bis 1915 bzw. 1917 an, also bis zum Tod zweier seiner bedeutendsten Vertreter: Giner de los Rios und Gumersindo de Azcarate. Mit den Änderungen, die durch den Positivismus und den Sozialismus bewirkt wurden und die mit den Namen von Adolfo Posada (1860 - 1944) und Julian Besteiro (1870 - 1940) einerseits und Fernando de los Rios andererseits verbunden sind, bewahrte der Krausismus jedoch seine Präsenz im geistigen Leben Spaniens während des ganzen ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Elias Diaz hat darauf hingewiesen, daß der Krausismus in Spanien vor allem Verbreitung fand wegen „der großen Übereinstimmung seiner [Krauses] Philosophie mit den politisch-kulturellen Vorstellungen relativ breiter Teile der spanischen fortschrittlich-liberalen Bourgeoisie in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts . . . es handelt sich also weder ausschließlich noch vorwiegend um Berührungspunkte mit dem spanischen Mystizismus und Stoizismus, um Übereinstimmungen mit einem unveränderlichen traditionellen Wesen' Spaniens, wie es auf eine etwas abstrakte, ahistorische und zeitlose Weise charakterisiert wird." (Diaz 1983, 28)

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Wahrscheinlich hat Diaz Recht hinsichtlich der Motive, die der Rezeption des Krausismus zugrundelagen. Man kann jedoch nicht umhin, im Werk von Giner de los Rios grundlegende Aspekte wahrzunehmen, die in gewisser Weise eine Denklinie fortsetzen, die mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückgeht. Ich beziehe mich auf seine antivoluntaristische Haltung einerseits und auf seinen pädagogischen Eifer andererseits. Während die Denker des 17. Jahrhunderts betonten, daß die Funktion des Monarchen darin bestand, für Recht zu erklären, was mit der göttlichen Vernunft übereinstimmte, stellt Giner fest, daß der Staat nichts anderes tue, als ein schon vorher existierendes Recht, das der Vernunft entspringt und dem Willen vorausgeht, „anzuerkennen und zu erklären, niemals zu schaffen" (vgl. Elias Diaz 1983, 83 ff.). Diese Rechtsauffassung setzt voraus, daß jedes menschliche Wesen Träger von Rechten ist, die es zur Befriedigung seiner Grundbedürfnisse und seiner vernünftigen Lebensziele gegenüber allen anderen geltend machen kann. So sagte Giner: „Da aber das Recht eines jeden Menschen, wie wir gesehen haben, eine seiner Eigenschaften ist, beruht es zuallererst auf seiner Natur, von der allein es abhängt und nicht vom Verhalten der anderen ihm gegenüber noch gar von seinem eigenen. Allein zu den Bedürfnissen und Zwecken, die er hat, sollen die anderen beitragen und ihnen gewissenhaft dienen. So ist das Kind, das kaum Dienstleistungen für andere verrichten kann, trotzdem mit ebenso eigenen und vollkommenen Rechten ausgestattet wie die der Erwachsenen, auch wenn sie seinen Lebensbedingungen angepaßt und auf sie bezogen sind, und das gleiche gilt für den Verrückten und sogar für den Fötus . . . " (Diaz 1983, 107) „ I n dem Maße, in dem das hervorragende Rechtsprinzip tiefer in die Gedanken eindringt, daß es jedem Menschen zukommt, von den anderen, seien es Individuen oder Körperschaften, . . . jeweils zu verlangen, was er an Mitteln für seine vernünftigen Lebensziele braucht, soweit diese es erfordern und jene von denen, die sie besitzen, mit gutem Gewissen zur Verfügung gestellt werden können, in dem Maße werden auch die wirtschaftlichen Beziehungen, die heute von einem gewissenlosen Egoismus beherrscht werden . . . , diese bessere Rechtserziehung der Gesellschaften faktisch widerspiegeln." (Giner 1898/1, 324)

Im vorliegenden Band befaßt sich Liborio Hierro mit dieser Auffassung der Frage, wie sich Pflichten aus für grundlegend gehaltenen Rechten ergeben. Modern ausgedrückt versucht Giner mit seinen Überlegungen eine begriffliche Beziehung zwischen den Grundbedürfnissen eines Individuums und seinen Anspruchsrechten herzustellen. Angesichts der aktuellen Diskussion über die Reichweite positiver Rechte und Pflichten ist aber noch auf etwas anderes hinzuweisen, und zwar auf die Unterscheidung, die Giner zwischen Starken und Schwachen vornimmt, und auf die Bedeutung der Wahrung positiver Rechte als Grundlage der Menschenwürde:

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Ernesto Garzón Valdés „Man kann von einem Wilden nicht das gleiche verlangen wie von einem Europäer, von einem Verrückten nicht das gleiche wie von einem Gesunden, von einem Kind nicht das gleiche wie von einem Erwachsenen, von einem Armen nicht das gleiche wie von einem Reichen, von einem Unwissenden nicht das gleiche wie von einem Weisen. Gesundheit, Glück, Macht, Reichtum, Wissen, Tugend, Bildung, überhaupt alle inneren oder äußeren Eigenschaften, die dazu beitragen können, daß das Handeln eines Subjekts nützlicher und fruchtbarer wird, sind für dieses auch ebensoviele weitere Quellen zwingender und unausweichlicher Pflichten." (vgl. Diaz 1983, 108) „Gerade aufgrund dieser gemeinsamen und gleichen Grundlage ist das Recht jedes Menschen auf Anerkennung seiner persönlichen Würde unabhängig von seinem Betragen, so daß man auch wegen der schändlichsten Taten nicht annehmen kann, er habe eine dem menschlichen Wesen essentielle Eigenschaft verloren: es gibt keinen Menschen ohne Würde im wahren Sinne des Wortes." (Giner 1898/1, 244)

Wer mit der heutigen Diskussion über positive Hilfspflichten und ihre begriffliche Beziehung zur Menschenwürde und zur Verfügbarkeit ausreichender Ressourcen zu deren Erfüllung auch nur halbwegs vertraut ist, wird in den Sätzen Giners eine Argumentationslinie von außerordentlicher Aktualität erkennen. Man betrachte nur die folgenden Beispiele: „ A right is the rational basis, then, for a justified demand. Rights do not justify merely requests, pleas, petitions. It is only because rights may lead to demands and not something weaker that having rights is tied as closely as it is to human dignity." (Henry Shue 1980, 14) „ A world with claim-rights is one in which all persons, as actual or potential claimants, are dignified objects of respect, both in their own eyes and in the view of others." (Joel Feinberg 1973, 58 f.)

Die Feststellung, daß es Pflichten und Verantwortlichkeiten gibt, die denen zufallen, welche in der Gesellschaft eine relativ bevorzugte Stellung einnehmen, und die Anerkennung ihrer Bedeutung für die Gewährleistung eines menschenwürdigen Lebens bedeutete einen entscheidenden Schritt über die klassische Auffassung vom liberalen Staat hinaus und zielte ab auf eine tiefgreifendere Veränderung der Gesellschaft. Giner war der Ansicht, dieser Wandel müßte sich nicht nur mit Hilfe angemessener rechtlicher Institutionen vollziehen, sondern in nicht geringem Maße auch mit Hilfe der Erziehung. Es ging allerdings jetzt nicht mehr um die Erziehung des Fürsten, um die sich die Denker des 17. Jahrhunderts Gedanken gemacht hatten, sondern um die des Volkes, um so das zu schaffen, was Not tat: „ein reifes Volk" (Giner, zitiert nach Diaz 1983, 139). Wie Francisco Laporta bemerkt, ist „die Erneuerung der Nation mit Hilfe eines Erziehungsprozesses . . . eine Idee, die ihren Ursprung in der krausistischen Auffassung vom Recht als etwas hat, das erfordert, daß man die ethischen Zwecke kennt, sich ihrer bewußt ist, und sie frei zu verwirklichen sucht." (Laporta 1974, 99)

Dieses pädagogische Anliegen fand seinen deutlichsten Ausdruck in der Freien Lehranstalt (Institución Libre de Enseiïanza), die Giner de los Rios

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1876 gründete und deren geistiger Einfluß in Spanien bis heute zu spüren ist. Mehr noch: man hat die Epoche von der Einrichtung der Institución Libre de Ensenanza bis 1936 sogar als halbes Jahrhundert eines „goldenen Zeitalters" für die spanische Kultur bezeichnet (vgl. Elias Diaz 1982, 104). Auf der universitären Ebene - speziell im Falle der juristischen Fakultäten - versuchte Adolfo Posada, ein anderer Deutschlandreisender, die Arbeitsweise der deutschen Seminare zu übernehmen und schuf 1895 die neue Escuela Pràctica de Estudios Juridicos y Sociales der Universität von Oviedo sowie 1898 die Extension Universitaria von Oviedo (vgl. Laporta 1974, 44 f.). Selbstverständlich ist es aber nicht diese Tatsache, die dem Jahr 1898 Bedeutung verleiht und es zu einem Schlüsseldatum der spanischen Geschichte werden läßt: Infolge des Krieges mit den Vereinigten Staaten und aufgrund des Pariser Vertrages vom 10. Dezember 1898 „verliert Spanien in einer Zeit voller imperialistischer Leidenschaft sein Kolonialreich, und damit ist das abgedroschene Bild von seiner Größe und seiner überragenden Rolle für die ,Geschicke der Zivilisation 4 zerstört" (Laporta 1974, 38). Ein Jahrhundert zuvor, im Jahr 1798, konnte Miguel de Basterra noch einem seiner Bücher den Titel Spanische Universalherrschaft ( Dominio Universal de Espana) geben; Ende des 19. Jahrhunderts hätte ein solcher Titel nicht nur Verwunderung hervorgerufen, sondern sogar Anlaß zu Zweifeln an der geistigen Gesundheit des Autors gegeben. Die Jahreszahl 1898 sollte dann auch zur Bezeichnung einer ganzen Generation von Intellektuellen dienen, die in erheblichem Maße vom Denken Kierkegaards und Nietzsches beeinflußt waren. Die Namen Miguel de Unamuno (1864-1936), Ρίο Baroja (1872-1956), José Martinez Ruiz „Azorin" (18731967) und Ramiro de Maeztu (1875-1936) sind vielleicht die für diese Generation am meisten repräsentativen. Die Katastrophe von 1898 bewirkte - wie Virgilio Zapatero f ein weiterer der Autoren dieses Sammelbandes, betont hat - einmal mehr die Hinwendung zu Europa: „Angesichts der nationalen Katastrophen wandten einige Mitglieder der ,Generation von 98' den Blick nach Europa, in der Hoffnung, ,Spanien zu europäisieren'. Sie unterziehen unsere Wirklichkeit einer beißenden, harten Kritik und sehen keinen anderen Ausweg für unser nationales Wesen als die ,Europäisierung'. Der Kriegsschrei ,Europäisierung' war gefallen. Es war aber erst die folgende Generation, die die Herausforderung annahm und sich ans Werk der ,Europäisierung Spaniens' machte." (Zapatero 1974, 32 f.)

Inspiriert durch die Institución Libre de Ensenanza, wird im Jahr 1907 die Junta para la Ampliación de Estudios gegründet, die Stipendien zur universitären Weiterbildung vergab. Die große Mehrheit der Stipendiaten studierte in Deutschland und führte so die Tradition der Suche philosophischer Inspiration bei germanischen Quellen fort, die von Sanz del Rio begonnen worden war 3 Garzón Valdés

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und die mindestens bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs andauern sollte. Der Ausspruch von Luis de Zulueta „Sag' mir, bei wem Du in Deutschland warst, und ich sage Dir, wer Du bist" (vgl. Zapatero 1974, 32) drückt anschaulich die Bedeutung aus, die die deutsche Philosophie für das Spanien der damaligen Epoche hatte. Fernando de los Rios (1879 - 1948), ein Krausist humanistisch-sozialistischer Ausrichtung, betonte mehrfach, daß das spanische Problem ein Kulturproblem sei, über das er sich in seinen Studienjahren in Deutschland klar geworden sei. Hinsichtlich der Universitäten dieses Landes bemerkte er: „Und wie dort gearbeitet wird! Auf welch ganz andere Weise! Mit welcher Bitterkeit, mit welchem Schmerz und welcher Heftigkeit man in manchen Augenblicken die kulturelle Bedeutungslosigkeit und Armut unseres spanischen Lebens fühlt . . . Im Grunde ist Deutschland in seinen Universitäten gegenwärtig. Für uns ist dies nur schwer vorstellbar, weil unsere Universitäten kostspielige Phantomgebilde sind, die mit den deutschen nichts gemein haben als den Namen." (vgl. Zapatero 1974, 33 f.)

Ein ähnliches Urteil fällte Felipe Gonzâlez Vicen noch 1986 in einer Bemerkung über die deutschen Universitäten der 20er und 30er Jahre: „ . . . sicher ist, daß ich nur in Deutschland Antwort auf die Fragen und Probleme fand, die mich beschäftigten . . . mich beeindruckte der Ernst, mit dem an den deutschen Universitäten gearbeitet wurde . . . " (Gonzâlez Vicen 1986, 318)

Die Liste der „intellektuellen Deutschland-Pilger" ist endlos lang. Ich will hier nur einige Namen nennen: Julian Besteiro (1870 - 1940), Vertreter eines kantianisch-ethischen Sozialismus (vgl. E. Lamo de Espinosa 1973, 214 f.), studiert von 1909 bis 1911 in München, Leipzig und Berlin. Fernando de los Rios studiert 1909 in Jena und 1910 in Marburg bei Paul Natorp und Hermann Cohen. In Marburg studierten in diesen Jahren auch zwei herausragende Mitglieder der sogenannten „Generation von 1914": Manuel Garcia Morente (1888 - 1942) und José Ortega y Gasset (1883 - 1955). Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre kamen unter anderem Xavier Zubiri (1898 1983), Enrique Gómez Arboleya (1910-1959), Luis Recasens Siches (1903 1977) und Francisco Ayala (1906) nach Deutschland. Enrique Gómez Arboleya schrieb über den deutschen Einfluß auf die spanischen Intellektuellen: „Diese Schicht der spanischen Intellektuellen begann, sich in dem Land zu bilden, in dem angesichts ähnlicher sozialer Bedingungen ein Höchstmaß an Technifizierung und Formalisierung des universitären Wissens erreicht worden war: in Deutschland (selbst die Sprachschwierigkeiten konnten als ,Initiationsritus' dienen) . . . Während einer Spanne von fünfundzwanzig Jahren war der deutsche Einfluß auf die spanische Kultur entscheidend." (Gómez Arboleya 1962, 679 f.)

Während Gumersindo de Azcarate (1840 - 1917) den Krausismus zu einer stärkeren Berücksichtigung der Probleme der Arbeiter führte und als Vertreter des sogenannten krausistischen organischen Liberalismus - im Unterschied zum individualistischen Liberalismus und zum positivistisch-biologistischen

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Organizismus - gelten kann (vgl. Diaz 1983, 215), verkörperte ein anderer Krausist, Fernando de los Rios, die Hoffnung eines liberalen Sozialismus, die „im Spanien der Zeit vor dem Bürgerkrieg zunichte gemacht worden war" {Zapatero 1974, 252). 1914 hielt Ortega y Gasset seinen berühmten Vortrag „Alte und neue Politik", in dem er ein „vitales, aufrichtiges, rechtschaffenes" Spanien einem „offiziellen Spanien, das darauf beharrt, die Gesten eines abgeschlossenen Zeitalters zu verlängern", gegenüberstellt (Ortega y Gasset 1943/1, 90). Dabei prophezeite er: „Ein ganzes Spanien - mit seinen Regierenden und Regierten - , mit seinen Mißbräuchen und Bräuchen, liegt im Sterben" (ebd., 91). Durch die von ihm gegründete Revista de Occidente trug Ortega in erheblichem Maße zur „Europäisierung" Spaniens und vor allem zur Verbreitung des zeitgenössischen deutschen philosophischen Denkens bei. Ebenso wie 1898 diente auch die Jahreszahl 1914 zur Bezeichnung einer Generation. Zur ihr gehörte eine Gruppe von stark vom Marburger Neukantianismus und von der Phänomenologie beeinflußten Denkern, die unter der Diktatur von Primo de Rivera (1923 - 1930) verfolgt wurden und die 1931 die Gründung der zweiten Republik unterstützten. Viele von ihnen gingen 1939 ins Exil. Einige, darunter Posada, bezeichneten sich selbst als „Schiffbrüchige", ein Ausdruck, der mir geeignet erscheint, um die geistige Stimmung vieler dieser Intellektuellen zu beschreiben. So sagte Adolfo Posada: „Kann man von einem Mann von liberaler Geisteshaltung und Bildung, der in der belle époque Professor für Politikwissenschaft ist . . . , der aber die bolschewistische Revolution, die parlamentarische Krise von Weimar, die der III. Französischen und die der II. Spanischen Republik, die Machtergreifung Hitlers und schließlich auch noch den spanischen Bürgerkrieg und die härtesten Jahre der Nachkriegszeit miterlebt, kann man von einem solchen Mann erwarten, daß er sich nicht als Schiffbrüchiger fühlt?" (vgl. Laporta 1974, 79)

Anfang der 30er Jahre beginnt die Rezeption der Schriften der drei großen deutschen Juristen und Staatstheoretiker: Hans Kelsen, Carl Schmitt und Hermann Heller (der übrigens 1933 im Madrider Exil starb). Der Einfluß dieser drei Autoren ist bis heute - in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung, je nach den politisch-sozialen Umständen in Spanien - erhalten geblieben. Was Carl Schmitt betrifft, so ist ein Vergleich der begeisterten Bewertung von Manuel Fraga Iribarne (1962) mit der ablehnenden von José Antonio Estévez (1988) interessant; für den Fall von Hermann Heller vergleiche man Enrique Gómez Arboleya (1940) und Antonio Lopez Pina (1984). 1930 übersetzte Luis Recasens Siches die Einführung in die Rechtswissenschaft und 1933 José Medina Echavarria die Rechtsphilosophie von Gustav Radbruch. Dazu bemerkt Felipe Gonzalez Vicen: „Die Veröffentlichung dieser Werke bietet zum erstenmal die Gelegenheit zu einer Kritik des logizistischen Neukantianismus in der Rechtswissenschaft, besonders an 3=

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Ernesto Garzón Valdés seinen beiden Hauptbegriffen, dem des formalen Rechts und dem der Rechtssicherheit als höchstem Wert der Rechtsordnung; wiederholt wird darauf hingewiesen, daß diese beiden Begriffe nicht genügen, weder um den Zwangscharakter des Rechts zu rechtfertigen, noch um seine soziale Bedingtheit zu begreifen." (Gonzâlez Vicen 1937, 33)

Diese Kritik führte jedoch nur zu dem Versuch, ziemlich unbedeutende naturrechtliche Gedanken wiederzubeleben, bzw. zu eklektischen Positionen, die in geringem Maße von der Phänomenologie beeinflußt waren und die ihren Ursprung vor allem in der Übersetzung von Adolf Reinachs Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts hatten. Der Bürgerkrieg (1936 - 1939) bewirkte hinsichtlich seiner geistigen Folgen so etwas wie der „Widerruf des Ediktes von Nantes", um es mit einem Ausdruck von Gómez Arboleya zu sagen: „Eine beträchtliche Minderheit von Intellektuellen emigriert... Die spanische intellektuelle Minderheit überflutet (wie es die emigrierten französischen Hugenotten getan hatten) den spanischen Büchermarkt mit Übersetzungen, vor allem aus Mexiko und Argentinien." (Gómez Arboleya 1962, 686)

Unter den Emigranten befanden sich erstklassige Philosophen, Juristen und Soziologen: José Gaos, Eduardo Nicol, Juan David Garcia Bacca, José Ferrater Mora, Eugenio Imaz, Fernando de los Rios, Luis Jiménez de Asüa, Francisco Ayala, Luis Recasens Siches, Manuel Garcia Pelayo, José Medina Echavarria. Der Einfluß dieser Emigranten, vor allem in Mexiko und Argentinien, war erheblich. Ohne die Anwesenheit von Jiménez de Asüa läßt sich beispielsweise die Entwicklung des modernen Strafrechts in Argentinien nicht erklären, ebensowenig wie die verlegerischen Aktivitäten in Mexiko oder die Forschung im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften in diesem Land seit 1940 ohne die Anwesenheit der Spanier. Viele der Intellektuellen, die in Spanien blieben, waren dagegen vom universitären Leben ausgeschlossen, darunter auch die beiden größten Philosophen dieses Jahrhunderts: José Ortega y Gasset und Xavier Zubiri. Es ist daher nicht übertrieben zu behaupten, daß „die kulturelle Lage Spaniens in der Zeit unmittelbar nach dem Bürgerkrieg und als direkte Folge desselben . . . die einer völligen intellektuellen Einöde" war {José Luis Abellân 1971, 9). Es herrschte damals eine offizielle Kultur vor, die, wie Elias Diaz sagt, „jede Verbindung zur europäischen Kultur liberalen Ursprungs und zu sehr weiten Teilen der Philosophie und Wissenschaft, die in jenen Jahren in Europa getrieben wurde, unterbrach." (Diaz 1978, 25)

Dionisio Ridruejo bemerkte dazu treffend: „Forschung und Lehre werden zu offiziellen Unternehmungen eines dogmatischen Staates, der sie oft einer kreuzzüglerischen Kirche überträgt . . . Die theoretische Spekulation . . . wird aufgrund ihrer doktrinären Bedingtheiten und infolge des

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Drucks einer vornehmlich religiös inspirierten Zensur äußerst mühsam." (Ridruejo 1972, 71 f.)

Von 1939 an wird die liberale Strömung, die die Institución Libre de Ensenanza zu verankern versucht hatte, umgekehrt. Der Consejo Superior de Investigaciones Cientificas wird gerade als „Gegenentwurf zur berüchtigten Junta para la Ampliación de Estudios" geschaffen (Diaz 1978, 43). Die geistig-politische Haltung derer, die in jenen Jahren das neue Regime stützten, wird, wie ich finde, von einem ihrer bekanntesten Vertreter, Eloy Montero, anschaulich dargestellt: „ . . . wir als Katholiken durften uns der sogenannten faschistischen Bewegung, die vor allem national war, nicht entgegenstellen; wir mußten sie in Liebe aufnehmen und auf angemessene Weise in traditionelle und christliche Bahnen lenken; man mußte die moderne autoritäre Strömung mit unserer glorreichen Tradition in Einklang bringen, so daß ein neuer Staat entstehen konnte, frei von den überlebten Spuren der Demokratie und des Liberalismus, durchdrungen von unseren historischen Institutionen." {Montero 1939, 242)

Einer der großen Emigranten im Bereich der Rechtsphilosophie war Luis Recasens Siches. Von Mexiko aus arbeitete er bis zu seinem Tode (1977) an einer direkt von der Philosophie Ortega y Gassets beeinflußten Version des Rechts, die in einer den Positionen Theodor Viehwegs oder Chaim Perelmans äußerst verwandten Fassung der Rechtsdogmatik und der richterlichen Auslegung gipfelte. Einer der Hauptpunkte seiner Auslegungslehre war die Ablehnung der traditionellen Logik: „Die traditionelle Logik hilft dem Juristen nicht dabei, den Inhalt der Rechtsbestimmungen auf gerechte Weise zu verstehen und auszulegen; sie hilft ihm nicht dabei, die individualisierte Norm des richterlichen Urteils oder der Verwaltungsentscheidung zu schaffen; und sie hilft auch dem Gesetzgeber nicht bei seiner Aufgabe, allgemeine Regeln aufzustellen." (Recasens Siches 1963/1, 547)

In Spanien selbst war ein herausragender Vertreter des Rechtsdenkens der damaligen Zeit Luis Legaz y Lacambra (1906 - 1980), der stark von Hans Kelsen beeinflußt war (von dessen Werk er einen großen Teil übersetzte), der aber später zu einem christlichen Naturrecht unter Einbeziehung existentialistischer Ansätze neigte: „Es liegt auf der Hand, daß jeder theoretische Versuch der Begründung einer neuen Rechtsphilosophie unfruchtbar bleiben muß, solange nicht in aller Deutlichkeit die grundlegende Frage nach der Existenz und der Möglichkeit der Einführung des Rechts als eine ihrer radikalen Formen gestellt wird." (Legaz Lacambra 1947, 149)

Antonio Enrique Pérez Luno (1987, 328) hat darauf hingewiesen, daß die Naturrechtslehre von Legaz sich als „eine normative Formulierung der Bedürfnisse der Person in Abhängigkeit von und in Entsprechung zu ihrer Entwicklung und ihrem Bewußtsein unter den verschiedenen historischen und sozialen Verhältnissen" darstellt.

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Der zweifellos bedeutendste Rechtsphilosoph der ausgehenden 40er Jahre und Lehrer der heutigen spanischen Rechtsphilosophen ist jedoch ein anderer der Autoren dieses Buches, nämlich Felipe Gonzâlez Vicen (vgl. Atienza 1983). 1936 seines Lehrstuhls für Rechtsphilosophie in Sevilla enthoben, wird er 1946 wieder als Professor tätig, allerdings an die spanische Peripherie versetzt: an die Universität von La Laguna auf den Kanarischen Inseln. Wie er selbst angibt (vgl. Gonzâlez Vicen 1986, 317), ist fast sein gesamtes Werk auf deutsche Quellen gegründet bzw. bezogen. Die Position von Gonzalez Vicen läßt sich dem Rechtspositivismus insofern zurechnen, als das Recht als historisches Phänomen verstanden wird, also als eine konkrete Ordnung des menschlichen Verhaltens in einer bestimmten Epoche. Das Recht ist demnach nicht eine von der sie bedingenden sozialen Wirklichkeit unabhängige, abstrakte Normenmenge. Antonio Enrique Pérez Luno (1987, 325) hat die methodologischen Folgen untersucht, die sich daraus ergeben, sowie die Probleme im Zusammenhang mit der Geltung und Verbindlichkeit der Rechtsnormen. Dieser letzte Aspekt ist bis heute eines der zentralen Themen des Werkes von Gonzalez Vicen geblieben. Elias Diaz hat in seinem Buch Pensamiento espanol 1939 - 1975 die Entwicklung Spaniens bis zum Tode Francos (1975) im Hinblick auf die Ideengeschichte ausführlich beschrieben. Die Tatsache, daß dieses Buch demnächst auf deutsch erscheinen wird (Vervuert, Frankfurt a. M.) erspart es mir, die Höhen und Tiefen der intellektuellen Aktivitäten in Spanien in dieser Periode hier zu erläutern. Was jedoch speziell die Ethik, die Rechtsphilosophie und die Sozialwissenschaften betrifft, sind in jedem Fall die Namen José Luis Aranguren (1909), Enrique Tierno Galvân (1918 - 1986), Manuel Sacristan (1925 - 1985) und Joaquin Ruiz Giménez (1913) zu erwähnen. Die Entwicklung der Ethik in Spanien in den vergangenen dreißig Jahren ist nicht zu verstehen, wenn man das Werk und die Lehrtätigkeit von José Luis Aranguren nicht kennt; Tierno Galvân entwickelte sich von einer neopositivistischen Haltung angelsächsisch-analytischen Zuschnitts hin zu einem kritischen Marxismus, der sich auf die Analyse der philosophischen Voraussetzungen des Sozialismus konzentrierte (vgl. Diaz 1986, 22); das Werk von Sacristan, das deutlicher vom Marxschen Denken geprägt war, hat spürbaren Einfluß auf einen weiteren der Autoren des vorliegenden Bandes gehabt, nämlich auf Juan Ramon Capella; der an der christlichen Naturrechtslehre orientierte Joaquin Ruiz Giménez übte ab 1963 harte Kritik an der Rechtspolitik des FrancoRegimes und hat eine bedeutende Rolle im Laufe des Übergangs zur Demokratie gespielt. 1978 wurde in Spanien die derzeit geltende Verfassung erlassen. Gregorio Peces-Barba, ebenfalls Mitautor dieses Bandes, ist einer der Väter dieser Verfassung, deren Analyse - insbesondere der Analyse der den Grundrechten gewidmeten Artikel - er einen beträchtlichen Teil seines Werkes gewidmet hat.

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Mit dem Erlaß dieser Verfassung und der vollen Herstellung der Demokratie wurden in Spanien die notwendigen Bedingungen für eine umfassende wissenschaftliche Entwicklung geschaffen. Die jahrhundertealten Bemühungen um die Anerkennung der Menschenrechte und um eine vollständige Integration in Europa scheinen im vergangenen Jahrzehnt ihr Ziel endlich erreicht zu haben. Schlußbemerkungen Zweck dieser Einführung sollte es sein, anhand einiger bezeichnender Beispiele zu verdeutlichen, in welchem Maße spanische Denker auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, der Ethik und der politischen Wissenschaft in den vergangenen vier Jahrhunderten bedeutende Beiträge zur westlichen Ideengeschichte geleistet haben. Gleichzeitig sollten in großen Zügen auch die Ursachen aufgezeigt werden, die einerseits die praktische Umsetzung vieler ihrer Vorstellungen und andererseits einen fruchtbaren geistigen Austausch mit dem übrigen Europa erschwert haben. In einer detaillierten Untersuchung hat kürzlich Raùl Fornet-Betancourt (1988) die Schwächen der Rezeption der spanischen Philosophie in Deutschland dargestellt. Die vorliegende Publikation versteht sich als ein Beitrag zur Überwindung dieses Defizits auf dem Spezialgebiet der Rechtstheorie und -philosophie. Der Leser wird sicher auch an einigen knappen Informationen über die besonderen Merkmale der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der zeitgenössischen spanischen Rechtswissenschaftler und vor allem der Autoren dieses Bandes interessiert sein. Abgesehen von den Angaben, die schon im Laufe dieser Einführung zu den Arbeiten einiger von ihnen gemacht wurden, lassen sich zumindest die folgenden Punkte herausstellen: 1. Festzustellen ist ein deutliches Bemühen um die Aufarbeitung und Aktualisierung des spanischen Denkens, das die Bildung eines demokratischen und sozialen Bewußtseins möglich gemacht und seine politisch-rechtlichen Ideale selbst in den schwierigsten Abschnitten dieses Jahrhunderts beibehalten hatte. Diesem Aspekt, über den auch Virgilio Zapatero, Francisco Laporta und Luis Garcia San Miguel gearbeitet haben, schreibt vor allem Elias Diaz besondere Bedeutung zu. 2. Es hat eine Öffnung gegenüber allen aktuellen Strömungen des Rechtsdenkens stattgefunden. Dies hat offenbar zum Verschwinden des „germanischen Monopols" und zu einer stärkeren Rolle des skandinavischen, angelsächsischen und italienischen Rechtsdenkens geführt. Nicht von ungefähr schrieben Alfonso Ruiz Miguel, Juan Ramon de Pâramo und Liborio Hierro ihre Dissertationen über Norberto Bobbio, H. L. A . Hart bzw. den Skandinavischen Realismus. Rafael Hernândez Marin hat dem Werk von A l f Ross ein Buch gewidmet. Und Albert Calsamiglia hat in letzter Zeit einen erheblichen

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Teil seiner Aufmerksamkeit dem Studium von Themen gewidmet, die mit den Auffassungen von John Rawls und David Gauthier in Verbindung stehen. 3. Obwohl das Monopol des deutschen Einflusses abgebaut wurde, ist allerdings die Bedeutung der Theorie des praktischen Diskurses von Jürgen Habermas und von dessen juristischer Version bei Robert Alexy nicht zu übersehen. Manuel Atienza hat diese Denkrichtung mit interessanten eigenen Beiträgen verfolgt. Gregorio Robles seinerseits sieht in Kelsen den „großen Lehrer, in dessen Fußstapfen man treten sollte" {Robles 1982, 149), und in seinen Arbeiten läßt sich unschwer der Einfluß zeitgenössischer deutscher Rechtswissenschaftler feststellen. Juan Ruiz Manero und Albert Calsamiglia haben sich ebenfalls mit der Lehre Kelsens auseinandergesetzt. Auch Juan José Gil Cremades - ein Rechtsphilosoph, der leider im vorliegenden Band nicht vertreten ist - hat sich mit dem deutschen Rechtsdenken beschäftigt. 4. Es gibt einen intensiven Dialog mit lateinamerikanischen und insbesondere argentinischen Rechtsphilosophen. Die Dissertation von Manuel Atienza über die Rechtsphilosophie in Argentinien, die von ihm herausgegebene Zeitschrift DOXA oder auch die Arbeiten von Rafael Hernândez Marin zur deontischen Logik legen davon klares Zeugnis ab. 5. Auffallend ist das deutliche Interesse an der Problematik der Grund- und Menschenrechte aus einer Perspektive, die über die traditionelle naturrechtliche Auffassung hinausgeht, wie kürzlich von Karl-Peter Sommermann (1989) betont wurde. Außer Gregorio Peces-Barba sind hier Antonio Enrique Pérez Luno, Eusebio Fernândez, Francisco Laporta , Jesûs Ballesteros, Nicolàs Lopez Calera , Javier de Lucas, Gregorio Robles, Alfonso Ruiz Miguel, Modesto Saavedra und Luis Prieto Sanchis zu nennen. Mit den Problemen einer ökologischen Ethik hat sich in letzter Zeit Juan Ramon Capeila auseinandergesetzt, mit denen einer möglichen ethisch-politischen Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams Jorge Malern. 6. Die juristische Informatik ist auf besonderes Interesse gestoßen, wie die zahlreichen zu diesem Thema in Spanien abgehaltenen Kongresse sowie die Arbeiten u. a. von Pérez Luno und Atienza zeigen. 7. Auch die Geschichte des Rechtsdenkens wird weiter untersucht, und zwar aus einer Perspektive, die die Behandlung aktueller Probleme mit einschließt. Felipe Gonzâlez Vicen, Javier de Lucas, Jesûs Ballesteros und Modesto Saavedra stellen im vorliegenden Sammelband Arbeiten zu diesem Thema vor. 8. Rechtssoziologische Themen wie etwa die Rolle der Rechtsordnung für den gesellschaftlichen Wandel sind u . a . von Nicolàs Lopez Calera untersucht worden. Elias Diaz wurde von Thomas Knöpfel (1982, 69) ein „Pionier der modernen spanischen Rechtssoziologie" genannt, und Manuel Atienza hat sich ebenfalls in letzter Zeit rechtssoziologischen Fragen zugewandt. Ganz all-

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gemein hat die Rechtssoziologie in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen (für einen Überblick über diese Fachrichtung in Spanien vgl. Knöpfel 1982). 9. Andrés Ollero, Albert Calsamiglia und praktisch auch alle anderen Autoren dieses Bandes beschäftigen sich mit zentralen Fragen der Rechtstheorie, wie man der Bibliographie entnehmen kann, die sich an die Aufsätze anschließt. Der interessierte Leser findet in der ersten Nummer der Zeitschrift DOXA (1984) eine Selbstdarstellung der rechtswissenschaftlichen Standpunkte und Interessen von Manuel Atienza, Albert Calsamiglia, Elias Diaz, Eusebio Fernândez, Francisco Laporta, Javier de Lucas, Juan Ramon de Pâramo, Gregorio Peces-Barba, Antonio Enrique Pérez Luno, Gregorio Robles, Juan Ruiz M anero und Alfonso Ruiz Miguel. 10. Einige Daten mehr statistischer Natur mögen dieses Bild abrunden: In Spanien werden derzeit fünf auf rechtsphilosophische Themen spezialisierte Zeitschriften herausgegeben, und zwar: Anuario de Filosofia del Derecho, Anales de la Câtedra Francisco Suârez, DOXA, Anuario de Derechos Humanos und Persona y Derecho. Es gibt insgesamt 282 Dozenten für Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, die sich auf 28 Universitäten verteilen (vgl. den Informe de la Sociedad Espanola de Filosofia Juridica y Social 1988). Selbstverständlich war es nicht möglich, in diesem Buch Aufsätze von allen Rechtswissenschaftlern zu veröffentlichen, die über rechtsphilosophische Themen arbeiten. Mancher Leser mag befinden, daß wichtige Autoren fehlen. In einigen Fällen liegt der Grund für ihr Fehlen in den für eine Publikation dieser Art unverzichtbaren Auswahlkriterien, in anderen Fällen darin, daß die entsprechenden Arbeiten bei Redaktionsschluß nicht vorlagen. Es ist zu hoffen, daß weitere Sammelbände die unvermeidlichen Lücken schließen werden. Mein Dank als Herausgeber gilt Francisco Laporta, dem Direktor des Centro de Estudios Constitucionales in Madrid, der die Finanzierung dieses Projekts möglich gemacht hat. Ruth Zimmerling hat die Übersetzung des Buches besorgt. Ihr schon sprichwörtliches Engagement und ihre sprachliche Genauigkeit ließen sie zahlreiche Übertragungsprobleme überwinden. Ihr gilt meine besondere Anerkennung, ebenso wie meinen Kollegen Elias Diaz (Madrid), dem ich bibliographische Hinweise und andere Ratschläge verdanke, und Werner Krawietz (Münster), der mich dazu ermutigt hat, mit dieser Anthologie die Arbeit fortzusetzen, die ich mit der Mitherausgabe des ebenfalls beim Verlag Duncker & Humblot erschienenen Bandes Argentinische Rechtstheorie und Rechtsphilosophie heute begonnen hatte. Auch in diesem Fall hat mir der Geschäftsführer des Verlages, Rechtsanwalt Norbert Simon, wieder seine tatkräftige Unterstützung gewährt.

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I. Struktur und Rationalität der Rechtsordnung

Über das Vernünftige im Recht Von Manuel Atienza I. Dem Begriff der Vernünftigkeit bzw. des Vernünftigen, der gewöhnlich dem der Rationalität bzw. des Rationalen gegenübergestellt wird (vgl. Hab a 1978), scheint in der praktischen Argumentation im allgemeinen und in der juristischen Argumentation im besonderen große Bedeutung zuzukommen. Für nicht wenige Autoren (wie zum Beispiel Recasens Siches 1956, Perelman 1984, MacCormick 1984 oder Aarnio 1987) handelt es sich um den Hauptbegriff oder doch um einen der Hauptbegriffe der Theorie und Praxis der juristischen Argumentation. Allerdings kann man nicht sagen, daß es ein sehr klarer Begriff ist. Man könnte sogar meinen, daß wir es mit einer Idee zu tun haben, die sich - zumindest vorläufig - nur sehr unvollständig analysieren läßt. Ich will mich daher hier damit begnügen, eine „vernünftige" Annäherung an den Begriff des Vernünftigen im Recht zu versuchen. II. Um zu verstehen, was in juristischen Zusammenhängen ein Satz wie „ X ist vernünftig" bedeuten kann, muß man zunächst zeigen, welches die möglichen Subjekte dieses Satzes sind, also welchen Einheiten man die Eigenschaft des Vernünftigen zuschreiben kann. Es scheint im Prinzip drei Möglichkeiten zu geben für das, wofür X stehen könnte: 1. ein Rechtssatz wie etwa eine Norm, ein Prinzip, eine Definition usw. oder irgendeine Kombination von derartigen Sätzen; 2. ein individueller oder kollektiver juristischer Akteur (Gesetzgeber, Richter, Beamter usw.) oder sogar ein beliebiger Akteur, sofern sich das Recht auf ihn bezieht (beispielsweise, wenn das Verhalten eines „vernünftigen Menschen" als Maßstab benutzt wird); 3. eine Handlung, die darin besteht, Rechtssätze festzusetzen, zu interpretieren oder anzuwenden, oder auch einfach darin, dem in derartigen Sätzen genannten Verhalten zu folgen (sich zu verhalten wie ein vernünftiger Mensch). Ich werde mich im folgenden nur damit befassen, die mögliche Bedeutung von „vernünftige Rechtsentscheidung" zu analysieren, also mit der Frage, was 4 Garzón Valdés

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„vernünftig" als Prädikat von Handlungen bedeutet, die darin bestehen, Rechtssätze zu interpretieren und fallweise anzuwenden. Bei einer Rechtsentscheidung lassen sich nun zwei Aspekte unterscheiden: die Tätigkeit des Entscheidens (Entscheidung als Prozeß) und das Ergebnis der Entscheidung (Entscheidung als Produkt einer bestimmten Tätigkeit). Unter diesem zweiten Gesichtspunkt stimmt der Begriff der „Rechtsentscheidung" zumindest zu einem großen Teil mit dem des „Rechtssatzes" überein. Allerdings wird es hier erforderlich, zwischen zwei Typen (oder zwei Funktionen) von Rechtssätzen zu unterscheiden: 1. solche, die (als Prämissen oder Voraussetzungen) dazu dienen oder dienen sollen, Fälle zu entscheiden, und 2. solche, die das Ergebnis (die Schlußfolgerung aus) der Entscheidung von Fällen sind. Die Definition von „vernünftige Rechtsentscheidung", die ich vorschlagen werde, läßt sich auch als Definition dieses zweiten Typs von Rechtssätzen, nicht aber des ersten Typs auffassen. Andererseits kann man natürlich unter einem „vernünftigen Akteur" einen solchen verstehen, „der vernünftige Entscheidungen fällt". Es könnte aber trotzdem sein, daß der Begriff des vernünftigen Akteurs nicht einfach als Ableitung des Begriffs der vernünftigen Entscheidung zu sehen ist, sondern daß vielmehr jener als eine Voraussetzung für diesen zu betrachten ist. Außerdem kann man immer noch zumindest in zwei Bedeutungen von „vernünftigen Rechtsentscheidungen" sprechen. Im weiteren Sinne könnte man sagen (und dies sagt beispielsweise Perelman), daß alle Rechtsentscheidungen vernünftig sein sollten; die Vernünftigkeit würde dann als Kriterium bzw. allgemeine Schranke für den juristischen Diskurs (den praktischen Diskurs) fungieren. Im strengen Sinne kann man jedoch Vernünftigkeit nur von bestimmten Rechtsentscheidungen behaupten: nämlich von solchen, die man nicht fällen könnte (oder dürfte), wenn man strengen Rationalitätskriterien folgen würde. Es ist gerade der letzte Zusammenhang, der hier interessiert und bei dem die Gegenüberstellung von Rationalem und Vernünftigem, von rationaler Rechtsentscheidung und (einfach) vernünftiger Rechtsentscheidung auftritt. III. Unter rationaler - oder vielleicht besser: streng rationaler (um zu vermeiden, daß das Vernünftige dem Rationalen allzu kr aß gegenübergestellt wird; das Vernünftige kann auch als rational angesehen werden, wenn man diesen Ausdruck in einem weiten Sinne benutzt: man könnte sagen, daß alles Vernünftige rational ist, obwohl nicht alles Rationale vernünftig sein mag) -

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Rechtsentscheidung ist hier eine Rechtsentscheidung zu verstehen, die der rationalen Rechtfertigung zugänglich ist. Und eine Rechtsentscheidung kann dann und nur dann als rational gerechtfertigt angesehen werden, wenn sie: 1. den Regeln der deduktiven Logik genügt, so daß ihre Begründung keine logischen Fehler enthält; Beispiele für logische Fehler wären: der Gebrauch widersprüchlicher Prämissen; das Fehlen für die Schlußfolgerung notwendiger Prämissen (sofern diese auch nicht als implizit enthalten angesehen werden können); der Gebrauch ungültiger Schlußformen usw. (vgl. Klug 1982,155 ff.); 2. die Prinzipien der praktischen Rationalität beachtet, wobei der Begriff zunächst im Sinne von Alexy zu verstehen ist (.Alexy 1978); dieser Begriff ist im wesentlichen auch von anderen Autoren aufgegriffen worden, wie Peczenik (1984) und Aarnio (1987), und stimmt auch weitgehend mit dem Rationalitätsbegriff überein, den man bei MacCormick finden kann (vgl. MacCormick 1986); ganz knapp zusammengefaßt kann man sagen, daß praktische Rationalität den Begriff der logischen Rationalität, wie er in 1. angesprochen war, voraussetzt, daß er aber darüber hinausgeht, da er verlangt, daß in der Entscheidungsbegründung Prinzipien wie Konsistenz, Effizienz, Kohärenz, Allgemeinheit und Wahrhaftigkeit beachtet werden (vgl. Aarnio 1987); 3. als Prämisse irgendeine verbindliche Rechtsquelle benutzt; 4. als entscheidende Elemente der Begründung nicht ethische, politische oder andere Kriterien anführt, die in der Rechtsordnung nicht spezifisch vorgesehen sind (auch wenn sie generell vorgesehen sein mögen). Akzeptiert man diesen Begriff von rationaler Rechtsentscheidung, dann muß man sich die Frage stellen, was mit den Entscheidungen geschehen soll, die sich nicht auf diese Weise rechtfertigen lassen. Die erste Anforderung bringt keine großen Probleme mit sich, da man eine Rechtsentscheidung (etwa einen Richterspruch), bei deren Rechtfertigung Fehler logischer Art wie die oben genannten begangen werden, als irrational qualifizieren (und damit disqualifizieren) muß. Vielleicht wäre es aber nicht zweckmäßig, auch all diejenigen Rechtsentscheidungen so zu qualifizieren, bei deren Rechtfertigung eine der unter 2., 3. und 4. angeführten Anforderungen verletzt wird. Ein interessantes Problem bringt beispielsweise der Gebrauch von Fiktionen im Recht (in der juristischen Argumentation) mit sich, denn damit scheint nicht nur impliziert zu sein, daß verbindliche Rechtsquellen nicht angewandt werden, sondern auch die Verletzung von mindestens einem Prinzip der praktischen Rationalität: dem der Wahrhaftigkeit. 1 Als Beispiel für eine Fiktion 1 Erstaunlicherweise (oder vielleicht bezeichnenderweise?) wird das Problem der Fiktionen von Alexy in keinem seiner Werke behandelt.

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läßt sich der Fall anführen, daß ein Richter, ein Gericht oder eine Jury davon ausgeht, daß der Wert eines Diebesguts nicht über einem bestimmten Betrag liegt (obwohl bekannt ist, daß dies nicht stimmt und daß der, der es behauptet, die nach der Prozeßordnung geltenden Regeln der Beweiswürdigung verletzt), um so die Verhängung einer Strafe zu vermeiden, die als unverhältnismäßig hart angesehen wird. Es ist zunächst offensichtlich, daß eine Fiktion keineswegs die Verletzung der Regeln der Logik bedeuten muß. Das genannte Beispiel für eine Entscheidung etwa ließe sich nach folgendem logischen Schema nachvollziehen (intern rechtfertigen 2): der Diebstahl von Gegenständen, deren Wert den Betrag X nicht übersteigt, ist mit der Strafe Y zu bestrafen; A hat Gegenstände gestohlen, deren Wert den Betrag X nicht überstieg (daß diese Prämisse falsch ist, beeinträchtigt offensichtlich nicht die Gültigkeit der logischen Deduktion); also ist A mit der Strafe Y zu bestrafen. Man könnte meinen, daß eine Rechtsentscheidung, die sich auf Fiktionen gründet, eine irrationale Rechtsentscheidung ist, aber in diesem Fall würde „irrational" nicht unbedingt „verwerflich" oder „ungerechtfertigt" bedeuten. Unter bestimmten Umständen ist der Rückgriff auf eine Fiktion wahrscheinlich das beste Verfahren, um zu vermeiden, daß man eine für unannehmbar gehaltene Entscheidung fällt. Abgesehen vom Fall der Fiktionen (den man vielleicht als einen Grenzfall betrachten kann) gibt es viele andere Beispiele für Rechtsentscheidungen, die sich unter Beachtung der genannten Anforderungen 1. bis 4. nicht rechtfertigen lassen, die aber trotzdem auf andere Weise zu rechtfertigen sein müssen. Gerade aus diesem Grund scheint es angebracht, eine irrationale (also nicht zu rechtfertigende) Rechtsentscheidung von einer einfach vernünftigen (zu rechtfertigenden) zu unterscheiden. Wie sieht aber eine solche Rechtfertigung aus? Was ist eigentlich unter vernünftiger Rechtsentscheidung zu verstehen? IV. Eine erste Eigenschaft oder Voraussetzung vernünftiger Rechtsentscheidungen ist die Tatsache, daß sie den (streng) rationalen nachgeordnet sind. Das bedeutet, daß der Rückgriff auf Kriterien der Vernünftigkeit nur dann gerechtfertigt ist, wenn sich zeigt, daß die Kriterien der strengen Rationalität unzureichend sind, und auch dann nur insoweit, als diese unzureichend sind. Solche Unzulänglichkeiten können unterschiedliche Ursachen haben, die sich im übrigen nicht gegenseitig ausschließen: 1. Eine Ursache ist, daß es, wenn man allein die oben genannten Kriterien besäße, Fälle gäbe, in denen keine Entscheidung gefällt werden könnte 2 Ich benutze die übliche Unterscheidung zwischen interner und externer Rechtfertigung, die auf Wróblewski (1974) zurückgeht.

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bzw. in denen die getroffene Entscheidung nicht gerechtfertigt werden könnte. Zum Beispiel sagt Art. 14 der spanischen Verfassung, daß „die Spanier . . . vor dem Gesetz gleich [sind], ohne daß irgendeine Diskriminierung aufgrund von Geburt, Rasse, Geschlecht, Religion, Überzeugung oder irgendeines anderen persönlichen oder gesellschaftlichen Umstandes erfolgen darf". Das Verfassungsgericht hat dem hinzugefügt, daß Diskriminierung erfolgt, wenn „ein Unterschied in der Behandlung [vorgenommen wird], der keine objektive und vernünftige Rechtfertigung besitzt". Es ist klar, daß auf der Grundlage dieser beiden Kriterien in einem Fall von vermeintlicher Diskriminierung nicht entschieden werden kann, ohne Anforderung 4. des vorigen Abschnitts zu verletzen. 2. Eine andere Ursache ist, daß es, wenn man allein die Kriterien der strengen Rationalität anwenden dürfte, Fälle gäbe, die man nur lösen könnte, indem man unannehmbare Entscheidungen trifft. Dabei ist wiederum zu unterscheiden zwischen verschiedenen Gründen für die Unannehmbarkeit: 2.1. Es könnte beispielsweise ein Widerspruch entstehen zwischen den Folgen, die sich aus der Annahme der Entscheidung ergeben würden, und den Zielen oder Zwecken, die das Rechtssystem selbst erreichen will; trifft man in einem solchen Fall eine streng rationale Entscheidung, dann verhält man sich rein rituell. 2.2. Es könnte auch vorkommen, daß ein Widerspruch entsteht zwischen den Folgen der Entscheidung und gesellschaftlichen Werten oder Zwekken, die im Rechtssystem entweder nicht berücksichtigt sind oder die sogar in einem direkten Widerspruch zu den im Rechtssystem enthaltenen stehen. 2.3. Die vielleicht häufigste Möglichkeit ist schließlich, daß das System Werte enthält, die untereinander widersprüchlich sind oder die sich zumindest nicht leicht harmonisieren lassen.

V. In all den soeben genannten Fällen, also in den Fällen, in denen es gerechtfertigt ist, Entscheidungen auf der Grundlage nicht streng rationaler Kriterien zu fällen, kann man nun davon sprechen, daß ein Gegensatz zwischen Werten bzw. Prinzipien existiert (unabhängig davon, ob diese alle zum positiven Recht gehören oder nicht), zwischen denen abzuwägen ist, bis ein Gleichgewicht erreicht wird. Ein solches Gleichgewicht findet sich natürlich nicht immer (und vielleicht nie) „in der Mitte", da die Werte unterschiedliches „Gewicht" haben können, so daß sich das Gleichgewicht näher an dem einen als an dem anderen Extrem befindet; das Gleichgewicht besteht also nicht darin, daß jeder „gleichermaßen" nachgibt. In einigen Fällen ist dieser Gleich-

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gewichtspunkt nicht schwer zu finden, weil es möglich ist, eine mehr oder weniger klare Wertehierarchie aufzustellen, so daß beispielsweise die Anforderungen, die sich aus einem höherrangigen Wert ergeben, Vorrang vor denen haben, die sich aus untergeordneten Werten herleiten. Solche Fälle sind tatsächlich nicht im eigentlichen Sinne schwierig, sofern sie als Fälle mit einer einzigen akzeptablen (also ohne Diskussion akzeptierten) Lösung aufgefaßt werden können. Schwieriger sind dagegen jene Fälle, in denen ein Konflikt zwischen Werten - bzw. zwischen Anforderungen, die sich aus Werten herleiten - entsteht, die den gleichen hierarchischen Rang besitzen oder von denen man dies zumindest annehmen kann. Das ist etwa dann der Fall, wenn zwei oder mehr „Grundrechte" in Konflikt geraten, wie in dem folgenden Beispiel. In einem Urteil aus jüngster Zeit (160/1987 vom 27. Oktober) hatte das spanische Verfassungsgericht eine Verfassungsklage zu entscheiden, die der Ombudsman gegen das Gesetz (eigentlich zwei Gesetze: ein gewöhnliches und ein organisches) über Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen von 1984 (48/1984 vom 26. Dezember) eingelegt hatte. Eines der Probleme, um die es dabei ging, war die Frage, ob Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes als verfassungswidrig anzusehen sei (wegen eines grundsätzlichen Verstoßes gegen das Gleichheitsprinzip von Art. 14 der Verfassung), da er für den von den Verweigerern abzuleistenden Ersatzdienst eine Dauer zwischen 18 und 24 Monaten festlegte (die endgültige Dauer sollte die Regierung durch königlichen Erlaß bestimmen), während die Dauer des Militärdienstes nur 12 Monate beträgt. Die Mehrheitsmeinung des Gerichts war, daß das Gesetz nicht zur Diskriminierung führt (daß also die fragliche unterschiedliche Behandlung „vernünftig und objektiv" ist), da die beiden Fälle - Militärdienst und ziviler Ersatzdienst - „nicht gleich sind und man die Beschwerlichkeit' des einen und des anderen nicht einander gleichsetzen kann" (Urteilsbegründung 5, c); das in Art. 30 Abs. 2 der Verfassung niedergelegte Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen „ist kein unbedingtes Recht", sondern „die Ausnahme von einer allgemeinen Pflicht (dem Militärdienst)" (Urteilsbegründung 5). Nicht alle Richter des Gerichts schlossen sich jedoch dieser Lösung an. Von den drei Richtern, die vom Mehrheitsvotum abwichen (das in diesem Punkt von den übrigen neun Richtern getragen wurde), rechtfertigte einer sein Votum damit, daß er der Ansicht sei, daß „es nicht im Rahmen des Vernünftigen - in all seiner Relativität - liegen kann, für den Ersatzdienst eine im Vergleich mit dem Militärdienst um 100 %, also auf das Doppelte erhöhte Dauer festzulegen" (Sondervotum von C. de la Vega, Abs. 3); der Richter vertrat in seiner Argumentation die These, daß „das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen ein in der Verfassung anerkanntes Recht ist . . . , das von seiner Natur her per se ein Grundrecht, also ein Recht autonomer Kategorie, und auf der gleichen Ebene wie das Recht auf weltanschauliche Freiheit ange-

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siedelt ist" (Abs. 1); Ersatzdienst und Wehrdienst seien demnach „hinsichtlich ihres materiellen Inhalts verschieden, aber analog insofern, als beide Ausdruck der allgemeinen Pflicht sind, Spanien zu dienen" (Abs. 3). Auf die Frage, welche der beiden Lösungen nun die vernünftige (bzw. die „vernünftigere") ist, müßte man vielleicht (unter Zuhilfenahme des Begriffs des Gleichgewichts, um den sich jene zweite Anforderung an die Definition des Vernünftigen dreht) antworten, daß es die zweite ist, da sie - anders als die erste - einen (im Gesetz nicht zu findenden) Gleichgewichtspunkt sucht zwischen den Anforderungen des Rechts auf Verweigerung aus Gewissensgründen, der allgemeinen Pflicht, Spanien zu dienen, und dem Gleichheitsprinzip. Diese Behauptung ist jedoch keineswegs unangreifbar. Eine sorgfältige Lektüre des Urteils erlaubt die Schlußfolgerung, daß auch die Mehrheitsmeinung des Gerichts diese drei Anforderungen auszugleichen beabsichtigt. Da dort aber von einer anderen Interpretation (als bei dem abweichenden Richter) einerseits hinsichtlich der Beziehung zwischen der allgemeinen Pflicht, Spanien zu dienen, und dem Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen und andererseits hinsichtlich der Beziehung der mehr oder weniger großen Beschwerlichkeit zwischen sozialem Ersatzdienst und Militärdienst ausgegangen wird, liegt das Gleichgewicht hier an einem anderen Punkt, und dies führt zu der Auffassung, daß das fragliche Gesetz das Gleichgewicht nicht bricht. Verallgemeinernd könnte man sagen, daß ein Fall schwierig ist, wenn sich dazu prinzipiell mehr als ein Gleichgewichtspunkt zwischen entgegengesetzten, aber notwendigerweise in der Entscheidung zu berücksichtigenden Anforderungen finden läßt und man folglich eine Wahl treffen (und rechtfertigen) muß. Der Begriff des Gleichgewichts läßt sich vielleicht folgendermaßen erklären. Angenommen, um Fall F zu lösen, muß man auf zwei Prinzipien zurückgreifen, die die Werte X bzw. Y verkörpern, welche von der herrschenden Ordnung als Grundwerte betrachtet werden. Aus dem Wert X leiten sich die Anforderungen x 1 ? x 2 und x 3 ab, aus dem Wert Y die Anforderungen y 1 ? y 2 und y 3 . Die Anforderungen, die aus ein und demselben Wert entstehen, seien miteinander vereinbar. Außerdem sei X\ mit y x und y 2 vereinbar, jedoch unvereinbar mit y 3 ; x 2 sei mit y χ vereinbar, nicht aber mit y 2 und y 3 ; und x 3 sei sowohl mit yi als auch mit y 2 und y 3 vereinbar. Das läßt sich dann folgendermaßen darstellen: Xl

X2

X3

yi

V

V

V

Y2

V

u

V

Y3

u

u

V

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Wäre die einzige wesentliche Anforderung von Χ Χι und von Y y l 5 dann könnte man prinzipiell verschiedene Lösungen finden, die über das hinausgehen würden, was man das minimale Gleichgewicht nennen könnte. A u f der Basis mehr oder weniger intuitiver Regeln wäre konkret in diesem Fall sowohl die Kombination Xi — x 2 — X3 — yi als auch die Kombination Xi - X3 - yi - y2 möglich. Der Unterschied zwischen diesen beiden möglichen Entscheidungen besteht darin, daß man im ersten Fall zugunsten von x 2 votiert und im zweiten Fall zugunsten von y 2 (xi und y! müssen in allen Kombinationen auftreten, da sie als wesentliche Anforderungen betrachtet wurden, und dasselbe gilt auch für x 3 , das zwar keine wesentliche Anforderung ist, das aber absolut kompatibel ist, das heißt kompatibel mit allen anderen; dagegen muß y 3 von jeder möglichen Kombination ausgeschlossen sein, da es mit der wesentlichen Anforderung X! unvereinbar ist). Das optimale Gleichgewicht würde von der Entscheidung bzw. den Entscheidungen gebildet, die nicht nur die wesentlichen Anforderungen erfüllen, sondern auch weitere, nicht wesentliche Anforderungen, je nach dem unterschiedlichen „Gewicht", das diesen zugemessen wird, und nach den Entscheidungskriterien oder -regeln, die benutzt werden. Der obige Fall wäre also zugunsten von Xi - x 2 - x 3 - yi zu lösen (in dem Sinne, daß mit der Entscheidung ein optimales Gleichgewicht erreicht wird), wenn man x 2 ein deutlich höheres Gewicht beimessen kann als y 2 . Die Dinge werden natürlich noch komplizierter, wenn das „Gewicht" von x 2 und y2 gleich ist oder wenn es um einen komplexeren Fall geht, wie es etwa der folgende wäre:

Xl

X2 0,7

1 yi

V

1 0,7

1

0,6

u

0,8

u

0,8

0,8

1

0,7

u 0,5

u

1

u

Y3

0,6

u

1

Y2

X3

0,6

u 0,5

u 0,5

In diesem Fall besteht das Problem nicht allein darin, jeder Anforderung ein bestimmtes Gewicht beizumessen (für die Beispielfälle wird angenommen, daß wesentliche Anforderungen ein Gewicht von 1 und nicht wesentliche ein kleineres Gewicht als 1 haben; die Sache würde aber noch komplizierter, wenn man davon ausginge, daß das Gewicht jeder Anforderung nicht ein

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absoluter, sondern ein relativer Wert ist, so daß beispielsweise y 2 ein Gewicht von 0,8 relativ zu x 2 , aber von 0,9 relativ zu x 3 hat usw.), sondern auch in der Bestimmung von Entscheidungsregeln, um zwischen den verschiedenen Kombinationen zu wählen, die über das minimale Gleichgewicht hinausgehen, und die nicht mehr so einfach sein könnten wie die weiter oben vorgeschlagenen. 3 VI. Die verschiedenen Fälle, die weiter oben angeführt wurden (einschließlich der Fall der Verweigerung aus Gewissensgründen mit seinen zwei verschiedenen möglichen Lösungen) besitzen ein gemeinsames Merkmal, von dem man vielleicht nicht annehmen kann, daß es in allen möglichen Rechtsfällen gegeben ist. Dieses Merkmal ist, daß man in allen von ihnen eine (mindestens eine) Lösung finden zu können scheint, die ein minimales Gleichgewicht herstellt. Ein Fall ist dann mehr oder weniger schwierig, je nachdem, wie schwierig es ist festzustellen, welche die optimale Lösung ist. A n dieser Stelle ist eine weitere Unterscheidung möglich zwischen Theorien wie der von Dworkin (die zumindest in diesem Punkt alles andere als neu ist), nach der es für jeden Rechtsfall eine einzige richtige Lösung gibt (vgl. 1977 und 1985, 119 - 145) bzw. anders ausgedrückt für jeden schwierigen Fall eine einzige Lösung, die den Punkt des optimalen Gleichgewichts trifft, und solchen Theorien, die diesen Anspruch verneinen, weil sie etwa davon ausgehen, daß es kein Verfahren gibt, das es erlauben würde, in jedem Fall diese einzige Lösung zu finden, selbst wenn sie zugeben, daß die einzige richtige Antwort als regulative Idee fungiert (vgl. Alexy 1988).4 Demnach scheinen aber nicht nur Dworkin, sondern auch seine Kritiker (zumindest, soweit mir ihre Kritiken bekannt sind) die Möglichkeit dessen ausgeschlossen zu haben, was man - als dritte Kategorie neben den leichten und den schwierigen Fällen - tragische Fälle nennen könnte (vgl. Calabresi / Bobbitt 1978). Ein Fall ist als tragisch zu betrachten, wenn es für ihn keine Lösung gibt, die oberhalb des minimalen Gleichgewichts liegt. So wären zum Beispiel die wei3 Hier könnte man beispielsweise eine Regel anwenden wie die, welche Rescher für die Lösung eines ähnlichen Problems einführt und die darin besteht, daß kein höherer Wert (Anforderung) zugunsten eines niedrigeren geopfert werden darf; vgl. Rescher 1976, Kap. VI. 4 „Die regulative Idee der einzigen richtigen Antwort setzt nicht voraus, daß es in jedem Fall eine einzige richtige Antwort gibt. Sie setzt nur voraus, daß man in einigen Fällen eine einzige richtige Antwort geben kann und daß man nicht weiß, in welchen Fällen dies so ist . . . Die Antworten, die man im Rahmen dieses Versuchs auf der Grundlage der Regeln und Prinzipien nach den Kriterien der rationalen juristischen Argumentation, welche die der allgemeinen praktischen Argumentation einschließen, finden kann, entsprechen folglich, auch wenn sie nicht die einzigen richtigen Antworten sind, den Anforderungen der praktischen Vernunft und sind in diesem Sinne zumindest relativ richtig"; Alexy 1988.

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ter oben vorgestellten Fälle tragisch, wenn Xi und y ι miteinander unvereinbar wären: wenn dies der Fall wäre, dann könnte man keine Lösung finden, die nicht das Wesentliche eines der beiden Werte X oder Y opfern würde. Man stünde dann nicht mehr vor einer einfachen Alternative, sondern vor einem Dilemma. Vor allem die beiden folgenden Überlegungen bewegen mich zu der Annahme, daß es im Recht - in unseren existierenden Rechtssystemen - sehr wohl tragische Fälle gibt. Die erste Überlegung bezieht sich auf die Unterscheidung, die man gewöhnlich zwischen bedingten Normen und Zwecknormen macht (vgl. dazu beispielsweise Luhmann 1974), und darauf, daß das Recht des Sozialstaats gerade als ein Recht charakterisiert wird, in dem die Normen der zweiten Art besondere Bedeutung besitzen. Nun wächst aber die Möglichkeit für das Aufkommen tragischer Fälle (vom Standpunkt eines normativen Systems) genau in dem Maße, in dem die Anzahl von Zwecknormen wächst, und vor allem in dem Maße, in dem diese an die Spitze der normativen Pyramide drängen. Dies ist deswegen der Fall, weil die Normen - oder Prinzipien - , die anzeigen, daß Ζ ein anzustrebender Zweck ist (unabhängig davon, ob sie sich logisch auch nach dem klassischen Schema von Tatbestand/Rechtsfolge analysieren lassen), damit auch zu implizieren scheinen, daß man dazu verpflichtet ist, oder daß es doch zumindest erlaubt ist, die Handlungen auszuführen, die als notwendig für Ζ anzusehen sind (vgl. Nino 1981); das heißt, sie haben eine größere expansive Kraft als die Normen, die einfach einen Tatbestand (der nach mehr oder weniger allgemeinen Eigenschaften bestimmt wird) mit einer Rechtsfolge verbinden. Die zweite Überlegung basiert auf der Unterscheidung, die man zwischen Gleichgewicht und Kompromiß machen kann, und auf der Gestaltung der rechtlichen Entscheidungsorgane (zumindest der klassischen Rechtsinstanzen) als Organe, die sich nicht am zweiten, sondern am ersten der beiden Begriffe orientieren müssen. Während ein Kompromiß geschlossen wird zwischen Interessen, die mit Hilfe irgendeines Wertes miteinander in Verbindung gebracht werden (Werte lassen sich auffassen als mehr oder weniger kohärente Verallgemeinerungen von Interessen: biologische, soziale, usw.), muß ein Gleichgewicht zwischen Werten selbst hergestellt werden (oder zwischen Anforderungen, die sich aus Werten ergeben), so daß man, wenn es sich um die höchsten Werte eines Systems handelt (etwa um die moralischen Werte), nicht mehr auf einen höheren Wert zurückgreifen kann. Andererseits enthält der Gedanke des Gleichgewichts eine moralische Komponente, die beim bloßen einfachen Kompromiß fehlt. Damit es einen Kompromiß gibt, genügt es, daß die daran Beteiligten bzw. die davon Betroffenen ihn als das für sie bestmögliche (oder am wenigsten schlechte) Ergebnis anerkennen; beim Gleichgewicht ist darüber hinaus erforderlich, daß das Ergebnis richtig ist, daß es

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nicht nur das bestmögliche, sondern daß es - auf irgendeine Weise - gut ist. Daraus folgt auch, daß sich der Kompromiß auf einen faktischen Konsens stützen kann, während das Gleichgewicht einen idealen bzw. rationalen Konsens verlangt. Ein Beispiel für eine Entscheidung, die einen Kompromiß, nicht aber ein Gleichgewicht zwischen entgegengesetzten Interessen erzielt, wäre das folgende. Angenommen, A und Β sind Partner mit je 50 % Anteil und beide fordern von C eine Million D M für den Kauf einer Ware, die von der A und Β gehörenden Firma F hergestellt und von C erworben wurde. Angenommen weiterhin, daß C mit dieser Forderung nicht einverstanden ist (er denkt vielleicht, daß die Forderung durch Arbeiten abgegolten ist, die C für die Firma F ausgeführt hat), daß er aber gewillt ist, einen bestimmten Teil der geforderten Summe zu bezahlen, da er fürchtet, daß A und Β sonst vor Gericht gehen. Da er die schwierige finanzielle Lage kennt, in der sich Β befindet, bietet C diesem an, ihm 200 000 D M zu zahlen, während er A anbietet, ihm 300 000 D M zu zahlen. A akzeptiert den Betrag, denn er ist zwar der Meinung, daß die ihm geschuldete Summe höher ist, er weiß jedoch, daß die Justizverwaltung in seinem Land sehr langsam arbeitet, daß der Ausgang der Verfahren ungewiß ist und daß Anwälte teuer sind. Auch Β akzeptiert den Vorschlag, da bei ihm zu den soeben genannten Gründen noch die schwierige finanzielle Lage hinzukommt. Die von den drei Personen einstimmig angenommene Entscheidung (die vielleicht auch von einem Außenstehenden vorgeschlagen worden sein könnte) läßt sich insofern als ein tatsächlich erzielter Kompromiß zwischen den Interessen der drei Beteiligten auffassen, als diese ihr Verhalten an einem einzigen ökonomischen Wert ausrichten: an der Maximierung ihrer Gewinne und der Minimierung ihrer Verluste. Die Entscheidung ist jedoch keine Gleichgewichtsentscheidung, weil sie eindeutig den Wert der Gleichheit opfert, da ja A und Β unterschiedlich behandelt werden, obwohl sie sich (vom rechtlichen Standpunkt aus) gegenüber C in der gleichen Lage befinden. Ein Richter bzw. ein Gericht (sofern es sich nicht um einen Schiedsrichter, um einen freundschaftlichen Vermittler o. ä. handelt) würde damit ungerechtfertigt handeln, nicht nur, weil so geltendes Recht mißachtet würde, sondern weil von diesen Instanzen Entscheidungen erwartet werden, die mehr sind als ein Kompromiß. Im übrigen ist es wohl nicht schwierig, empirische Beispiele für tragische Fälle zu nennen. Ohne hier näher darauf einzugehen, denke ich, daß eine große Anzahl der Fälle, die die Strafrichter zu entscheiden haben, als tragische Fälle aufgefaßt werden können, auch wenn die Richter selbst - aus verständlichen Gründen - nicht zu dieser Ansicht neigen. Wie kann man denn in sehr vielen Fällen entscheiden, ohne dabei weder die Anforderung der Anwendung der Strafgesetze (eine wesentliche Anforderung im Rechtsstaat) zu opfern noch das Prinzip, daß die Strafe die Funktion der Resozialisierung

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erfüllen soll (ein Prinzip, daß etwa in der spanischen Verfassung enthalten ist)?5 Es könnte jemand dagegen argumentieren, daß das zweite Prinzip zwar Pflichten der Exekutive oder der Legislative anspricht, nicht aber an die Richter gerichtet ist. Dies scheint mir jedoch keineswegs der Fall zu sein: Die Richter haben vielleicht nicht die positive Pflicht, die Mittel zur Verfügung zu stellen, die zum Ziel der Resozialisierung führen; sie haben aber - nach dem betreffenden Artikel der Verfassung - sehr wohl die negative Pflicht, nichts zu tun, was sich notwendigerweise gegen die Erreichbarkeit dieses Ziels auswirkt. Man muß sich nun die Frage stellen, ob man in Bezug auf tragische Fälle in irgendeiner Weise von gerechtfertigten oder vernünftigen Entscheidungen sprechen kann. Meine Antwort wäre, daß dies nur in einem ziemlich schwachen Sinn möglich ist. Sicher kann man auch in solchen Zusammenhängen die gleichen Regeln anwenden wie in den bloß schwierigen Fällen (beispielsweise, daß man keine höherrangige Anforderung zugunsten untergeordneter Anforderungen opfern darf), der Unterschied ist aber, daß die Entscheidung jetzt nicht mehr beanspruchen kann, im Gleichgewicht zu sein, da ja etwas wesentliches geopfert werden mußte. Eine Entscheidung in derartigen Zusammenhängen wäre wohl nur in dem Sinne vernünftig, daß man für ihre Annahme bessere Gründe anführen kann als für irgendeine andere. Man könnte sagen, daß die Rechtfertigung nur eine relative wäre: die fragliche Entscheidung ist nicht gut, aber sie ist die bestmögliche. VII. Das bisher Gesagte ist selbstverständlich keine vollständige Charakterisierung dessen, was als „vernünftige Rechtsentscheidung" aufzufassen ist. Wie ich schon zu Anfang sagte, ist eine derartige Charakterisierung (ein „geschlossener" Begriff) des Vernünftigen sicherlich unmöglich, aber vielleicht läßt sich der Bereich der Unbestimmtheit noch ein bißchen verkleinern. Gesucht ist ein Kriterium oder ein Ansatz für ein Kriterium, mit dessen Hilfe sich verhindern läßt, daß die Entscheidung darüber, wann der Rückgriff auf Kriterien der Vernünftigkeit gerechtfertigt ist, wann man ein Gleichgewicht finden kann und wann man es mit einem tragischen Fall zu tun hat, wie man die verschiedenen Anforderungen zu gewichten hat und schließlich welche von mehreren möglichen oder tatsächlich vorgeschlagenen Lösungen als die vernünftigste oder als die dem optimalen Gleichgewicht am nächsten liegende angesehen werden 5 Art. 25 (2) der spanischen Verfassung lautet: „Freiheitsstrafen und Sicherheitsmaßnahmen dienen der Umerziehung und der gesellschaftlichen Wiedereingliederung und können nicht in Zwangsarbeit bestehen". Und Art. 53 (1) erklärt: „Die Rechte und Freiheiten, die im Zweiten Kapitel des vorliegenden Titels [in dem auch Art. 25 enthalten ist] anerkannt werden, sind verbindlich für alle öffentlichen Gewalten [folglich auch für die Richter]".

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kann, eine rein willkürliche Entscheidung ist. Meines Erachtens ist die einzig mögliche Antwort auf alle diese Fragen der Rückgriff auf die Idee des Konsenses. Die Entscheidung, die in jedem Einzelfall zu treffen ist, ist demnach diejenige, von der man annehmen kann, daß sie akzeptabel ist für eine Gemeinschaft von Menschen oder für einen Menschen, der diese Gemeinschaft repräsentiert, oder (falls es mehrere Entscheidungen gibt, die prinzipiell akzeptabel sein können) diejenige, die größere Akzeptanz, einen größeren Konsens erzielen kann. Nun kann man aber von Konsens zumindest in zwei verschiedenen Bedeutungen sprechen: von faktischem Konsens und von idealem oder rationalem Konsens (vgl. Weinberger 1981). Die beiden Möglichkeiten sollen kurz untersucht werden. Die Anforderung, daß eine Rechtsentscheidung, um vernünftig zu sein, faktisch von einer Gemeinschaft akzeptiert werden muß, ist gewiß eine sinnvolle Anforderung. Wie schon so oft gesagt wurde, liegt der große Vorteil der Entscheidungen, die ich streng rational genannt habe, darin, daß sie innerhalb gewisser Grenzen vorhersehbar sind. Die Vorhersehbarkeit wird dadurch gewährleistet, daß diese Entscheidungen nach bestimmten Verfahrensregeln gefällt werden (nach den weiter oben genannten Kriterien 1. bis 4.). Da nun diese Bedingungen bei den vernünftigen Entscheidungen nicht (bzw. nicht vollständig) beachtet werden, müßte man hier ein Element finden, das es erlauben würde, diesen Mangel sozusagen zu kompensieren. Und ein solches Element könnte sehr wohl die Existenz eines faktischen Konsenses sein, also die Tatsache, daß die Entscheidung von der Gemeinschaft akzeptiert wird. Der faktische Konsens kann jedoch offenbar im allgemeinen weder als das letzte noch als das einzige Kriterium für die Lösung der oben aufgeworfenen Fragen angesehen werden (obwohl er sicherlich ein Kriterium ist, das Berücksichtigung verdient). Eine erste Schwierigkeit, die sich aus dem faktischen Konsens ergibt, besteht darin, daß er eben gerade als Kriterium für die Lösung schwieriger Fälle dienen sollte, also von Fällen, bezüglich derer es keine klare Übereinstimmung gibt: ein Teil der Gemeinschaft, Gruppe A , unterstützt Entscheidung X, während ein anderer Teil, Gruppe B, Entscheidung Y unterstützt. Das Problem ließe sich natürlich lösen, indem man ein weiteres Kriterium benutzt, wie etwa die Mehrheitsregel, aber dann hätte man unter anderem das Problem, was denn unter Gemeinschaft zu verstehen ist. Tatsächlich gibt es im Recht mehrere Gemeinschaften oder Foren: das entscheidende Gericht, die Menge der Gerichte eines Landes, die Rechtsdogmatik, die von der Entscheidung Betroffenen, die Gesellschaft als Ganzes, usw. Und es ist keineswegs selten, daß die verschiedenen Foren zu Mehrheitsmeinungen kommen, die aber entgegengesetzte Vorzeichen haben. So wird beispielsweise das in der Praxis am meisten angewandte Kriterium oftmals von der Dogmatik mehrheitlich oder sogar einstimmig zurückgewiesen.

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Die grundlegende Schwierigkeit des faktischen Konsenses liegt aber nicht darin, sondern in der Tatsache, daß bei der Herstellung von Übereinkünften immer auch soziale Vorurteile, das Informationsniveau des Auditoriums, die unterschiedliche argumentative Gewandtheit derjenigen, die die eine oder die andere Meinung vertreten, und ganz allgemein eine Reihe von zufälligen Umständen und Faktoren eine Rolle spielen, die bewirken, daß man nicht ohne weiteres „Mehrheitsmeinung" und „vernünftige Meinung" gleichsetzen kann. Denn wer könnte von vornherein die Möglichkeit ausschließen, daß manchmal die vernünftige - oder die vernünftigste - Meinung faktisch gerade die Meinung der Minderheit ist? Greift man nicht auf einen faktischen, sondern auf einen idealen oder „rationalen" Konsens zurück, dann kann man vielleicht diese Probleme lösen, obwohl man sich damit natürlich andere Probleme einhandelt. Eins davon ist die Schwierigkeit, diesen Begriff zu operationalisieren angesichts der Tatsache, daß der Nachweis der Vernünftigkeit - oder der größtmöglichen Vernünftigkeit - einer Entscheidung auf einem bloß hypothetischen Urteil beruhen würde: wenn bestimmte Bedingungen erfüllt wären oder wenn man bestimmten Regeln folgen würde usw., dann würde Übereinstimmung hinsichtlich einer bestimmten Entscheidung erzielt werden. Das Problem ist nur, daß diejenigen, die dieses hypothetische Urteil abgeben müssen, wirkliche Menschen sind, beispielsweise A und B, und daß es möglich ist, daß A behauptet, es käme ein Konsens über X zustande, während Β dies für Y behauptet. Eine weitere Schwierigkeit ist die Bestimmung der idealen Bedingungen. Die erste Schwierigkeit erscheint mir unlösbar, obwohl sie vielleicht nicht so schwerwiegend ist, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag. Letztlich müßte auch ein faktischer Konsens oftmals hypothetischen Charakter besitzen, und schließlich ist die juristische Argumentation immer unter einem wichtigen Gesichtspunkt hypothetisch gerade insofern, als sie konsequentialistisch ist: eine häufige Argumentationsweise im Recht (so häufig, daß MacCormick sagen konnte, juristische Argumentation sei mit gewissen Einschränkungen immer konsequentialistisch; vgl. MacCormick 1978) besteht darin, daß Lösung X der Lösung Y vorgezogen wird, weil X vermutlich zu besseren Ergebnissen führt. Für einen Lösungsversuch des zweiten Problems bieten sich verschiedene Wege an: die Theorien des unparteiischen Beobachters, die mindestens bis auf Hume zurückgehen (vgl. Muguerza 1977), der Gedanke Perelmans bezüglich des universalen Auditoriums (Perelman und Olbrecht Tyteca 1970), der Rawlssche Urzustand (Rawls 1971), die ideale Kommunikationsgemeinschaft (Habermas 1981) usw. Ich will hier keine Analyse dieser Möglichkeiten vornehmen, die ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede, ihre Schwachpunkte usw. aufzeigen könnte. Hinsichtlich der Aspekte, die hier interessieren, gibt es

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kaum Meinungsverschiedenheiten darüber, daß der Konsens erzielt werden müßte zwischen rationalen, hinreichend informierten, unparteiischen und freien Akteuren bzw. zwischen Akteuren, die nach den Regeln und Prinzipien des rationalen praktischen Diskurses diskutieren (vgl. Alexy 1978 und 1981). Man sollte jedoch auf zwei Punkte hinweisen, die ich für besonders interessant halte. Der erste ist, daß von diesem Standpunkt aus kein Unterschied besteht zwischen der juristischen Argumentation und jeder anderen Art von praktischer Argumentation (beispielsweise der moralischen Argumentation). Ich will damit sagen, daß man ζ. B. verlangen kann, daß diejenigen, die diese Bedingungen erfüllen, Akteure sind, die nach den Regeln und Prinzipien der praktischen Rationalität diskutieren, und daß trotzdem der Konsens über Entscheidungen zustandekommt, die diese Regeln verletzt haben. Das Kriterium für den Konsens könnte beispielsweise die Rechtfertigung einer Entscheidung erlauben, die auf einer Fiktion gründet (natürlich ohne dazu eine neue Fiktion zu benutzen). Auf dieser argumentativen (oder besser: meta-argumentativen) Ebene wäre die juristische Argumentation (falls man sie immer noch so nennen kann) ebenso wenig eingeschränkt wie die moralische. Der zweite Punkt ist, daß die Operationalisierung des Kriteriums des idealen Konsenses im Falle juristischer Entscheidungen durch die Tatsache erleichtert wird, daß es sich hier im allgemeinen nicht darum handelt, abstrakte Gerechtigkeitskriterien zu finden, sondern darum, konkrete Fragen zu beantworten, die außerdem die Existenz verschiedener Punkte der Übereinstimmung voraussetzen. Eine angemessene Strategie müßte also darin bestehen, nicht „von oben nach unten", sondern „von unten nach oben" vorzugehen, um diese Punkte der Übereinstimmung zu finden (diese sind nichts anderes als die Topoi der Topik; vgl. Viehweg 1974), von denen weitgehend die Kontrolle über die Vernünftigkeit von Rechtsentscheidungen abhängt. Es geht eigentlich darum, den idealen Konsens mit dem faktischen Konsens zu kombinieren, 6 eine Vorgehensweise, die mir nicht illegitim erscheint, sondern die die einzige Möglichkeit darstellt, weder die Operationalisierbarkeit noch das kritische Potential des Kriteriums zu opfern. Ich komme hier noch einmal auf das Beispiel des Gesetzes über die Verweigerung aus Gewissensgründen zurück, um zu verdeutlichen, wie dies funktionieren könnte. 6 Die Kombination der beiden Kriterien (also des faktischen und des rationalen Konsenses) setzt die Existenz eine neuen Kriteriums (einer Meta-Regel) voraus, die folgendermaßen auszusehen hätte: „ A u f den idealen Konsens muß nur dann zurückgegriffen werden, wenn kein deutlicher faktischer Konsens vorliegt oder wenn ein solcher zwar vorliegt, wenn es aber Gründe gibt zu bezweifeln, daß dieser zu rechtfertigen ist." Anders ausgedrückt: Es wird eine Vermutung zugunsten der Rechtfertigungsfähigkeit des faktischen Konsenses etabliert. Wenn sich aber rechtfertigen läßt, daß der ideale Konsens zu einer anderen Entscheidung führen würde, dann wird dieser (wenn es darum geht zu bestimmen, was als vernünftige Entscheidung anzusehen ist) jenem vorgezogen.

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Wie wir gesehen haben, beruhte die Entscheidung, daß das fragliche Gesetz verfassungskonform ist (Di), auf der Voraussetzung, daß das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen zwar ein autonomes Recht, aber kein Grundrecht ist (Pi), während die gegenteilige Entscheidung (D 2 ) die Auffassung zur Voraussetzung hatte, daß das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen ein Grundrecht ist (P 2 ). Davon ausgehend könnte man wohl sagen (sofern man davon ausgeht - wie ich dies tue - , daß keine der beiden Seiten in diesem Teil der Überlegungen einen „Argumentationsfehler" begeht), daß unter der Annahme von Pi der Konsens bezüglich D i zustandekommt, unter Annahme von P 2 jedoch der Konsens auf D 2 fällt. Das einzige, was man damit erreicht hat, ist natürlich, daß das Problem jetzt um einen Schritt vorverlegt wurde. Wie kann man nun zwischen Pi und P 2 entscheiden? Das heißt, wie kann man vorgehen, um einer der beiden Prämissen ein höheres Gewicht zuzuschreiben? Man muß auf das Urteil zurückgehen, um zu sehen, wie Pi und P 2 begründet werden. Wenn man dies tut, dann stößt man darauf, daß sowohl die Mehrheitsmeinung des Gerichts (Di) als auch die Meinung des abweichenden Richters (D 2 ) in der jeweiligen Argumentation zugunsten von Pi bzw. von P 2 ein früheres Urteil des Verfassungsgerichts anführen (15/1982 vom 23. April). Die beiden Seiten interpretieren dieses Urteil unterschiedlich, das relevante Faktum ist aber, daß beide Seiten dieses Urteil anerkennen, das heißt, daß sie der dort niedergelegten Meinung zu folgen (bzw. nicht von ihr abzuweichen) behaupten. Angenommen nun, es gebe kein anderes Argument zugunsten von Pi oder P 2 (und von D i bzw. D 2 ) . Man könnte dann die Frage konkreter stellen: Falls man die in jenem Urteil ausgedrückte Meinung akzeptiert und die weiter oben genannten idealen Bedingungen beibehält: Welche der beiden Interpretationen, die zu Pi bzw. zu P 2 führen, würde dann einen größeren Konsens erzielen? Obwohl für die Argumentation als solche nicht die konkrete Antwort wichtig ist, sondern die Art der Fragestellung, würde ich doch sagen, daß der Konsens - oder der größere Konsens - sich für P 2 ergeben würde. Zwischen der in dem Urteil von 1982 niedergelegten Meinung (wie sie in der Argumentation des abweichenden Richters aufgenommen wird), nach der die Gewissensfreiheit eine „Konkretisierung der weltanschaulichen Freiheit, die unsere Verfassung in Art. 16 anerkennt" (Abs. 1), darstellt (hinsichtlich des grundlegenden Charakters des letztgenannten Rechts gibt es keine Zweifel), und P 2 (der These, daß die Verweigerung aus Gewissensgründen ein Grundrecht ist) gibt es eine enge und deutliche Verbindung, die P 2 erhöhtes Gewicht verleiht. Dagegen hat die Argumentation der Mehrheit des Gerichts, daß nämlich „auch aus diesem Urteil [dem von 1982] nicht hervorgeht, daß das fragliche Recht als von grundlegendem Rang aufzufassen ist. In diesem Urteil wurde nur der Verfassungsrang des Rechts auf Verweigerung aus Gewissensgründen erklärt" (Begründung 3), ganz den Anschein einer Ausflucht, die das Gericht andererseits dazu zwingt, die „eigenartige" Kategorie (eigenartig, da sie nur

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ein Element enthalten wird) „autonomer, aber nicht grundlegender Rechte" zu schaffen (vgl. Capeila u. a. 1987), wie sie in Pi enthalten ist; Pi erhält damit ein wesentlich geringeres Gewicht als P 2 . 7 Wenn dies richtig ist, dann muß man sagen, daß Entscheidung D i weniger gerechtfertigt ist als D 2 , da sie auf Prämissen basiert, die vergleichsweise schwächer sind als die von D 2 . Ό ι erzielt kein optimales Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Anforderungen, die der Fall aufwarf, sondern opfert ungerechtfertigterweise diejenigen, die sich aus dem Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen ergeben. Daher wäre in diesem Fall D 2 , also die Erklärung der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes in diesem Punkt, die vernünftige Entscheidung gewesen. VIII. Um all das bis hierhin Gesagte zusammenzufassen, könnte man die folgende Definition einer „vernünftigen Rechtsentscheidung" vorschlagen: Eine Rechtsentscheidung ist vernünftig im strengen Sinne dann und nur dann, wenn sie 1. unter Umständen gefällt wird, in denen eine streng rationale Entscheidung nicht gefällt werden kann oder nicht akzeptabel wäre; 2. ein optimales Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Anforderungen herstellt, die in der Entscheidung zu beachten sind; 3. den größtmöglichen Konsens erzielt. Diese Definition und die ihr vorangestellte Analyse werden mehr oder weniger positiv zu bewerten sein, je nachdem, ob sie die beiden folgenden Zwecke erfüllt haben: 1) eine Rekonstruktion des Begriffs des Vernünftigen im Recht (einem eingeschränkten Untersuchungsbereich) zu bieten, die eine Synthese und nicht eine einfache Vermischung der verschiedenen Elemente darstellt, die gewöhnlich mit diesem Gedanken verbunden werden; und 2) einen Begriff des Vernünftigen vorzuschlagen, der nicht einfach dazu benutzt werden kann, als solche praktisch jede Lösung zu rechtfertigen, die man angesichts eines schwierigen oder tragischen Falles akzeptieren könnte, sondern der ein gewisses kritisches Potential enthält, der sich also als ein Kriterium oder als ein Ansatz für ein Kriterium gebrauchen läßt, das es zu rechtfertigen erlaubt, daß eine bestimmte Interpretation oder Entscheidung einer anderen vorzuziehen (daß sie also mehr gerechtfertigt) ist.

7 Man könnte die Situation dahingehend interpretieren, daß Pi weniger kohärent ist als P 2 , wobei dieser Ausdruck in dem heutzutage mehr oder weniger gebräuchlichen Sinn zu verstehen ist, der von einer Unterscheidung von Kohärenz und Konsistenz ausgeht.

5 Garzón Valdés

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Über das Vernünftige im Recht

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Effizienz und Recht Von Albert Calsamiglia Einführung Im Laufe der vergangenen zehn Jahre haben Wirtschaftswissenschaftler ihr begriffliches Instrumentarium zur Untersuchung von Themen eingesetzt, die traditionell Philosophen und Rechtswissenschaftlern vorbehalten waren. Wiederholt wurde von den Ökonomen beklagt, auf wie wenig Aufmerksamkeit und Verständnis ihre Arbeiten bei ihren Kollegen - Philosophen wie Juristen - gestoßen sind. In diesem Aufsatz möchte ich eine Brücke bauen, um die Bewertung einiger der wichtigsten Ideen, die von Ökonomen vorgebracht wurden, für Philosophen und Rechtswissenschaftler zu erleichtern. Die jüngsten Veränderungen des zeitgenössischen Staates haben eine Legitimationskrise hervorgerufen. Dies hat dazu geführt, daß Effizienz zum Hauptkriterium für die Rechtfertigung des sozialen Systems geworden ist. Die traditionellen Kriterien für die Rechtfertigung öffentlicher Entscheidungen sind unzureichend geworden. Als Reaktion darauf ist das Problem der Gerechtigkeit zu einem der Hauptprobleme des aktuellen Denkens geworden. Eine wohlgestaltete Gesellschaft setzt die Einhaltung des Gleichheitsprinzips voraus. Aber eine Gesellschaft ist nicht allein deshalb gerecht, weil sie einer bestimmten Auffassung von Gleichheit nachkommt, sondern sie muß zudem auch die Ressourcen korrekt zuteilen. Eine Gesellschaft, die Ressourcen verschwendet, welche Grundbedürfnisse befriedigen könnten, ist keine gerechte Gesellschaft. Effizienz läßt sich als eine der wesentlichen Komponenten der Gerechtigkeit auffassen, wenngleich offenbar weder als die einzige noch auch vielleicht als die wichtigste. Effizienz kann sicherlich ein Wert sein, aber einer, der sich zu einer anderen grundlegenden Komponente des Gerechtigkeitsgedankens, nämlich dem Gleichheitsprinzip, umgekehrt proportional verhält. Die Wirtschaftstheorie hat zu diesen Fragen eine Menge bedeutender Beiträge geleistet. Darunter sind drei besonders hervorzuheben: - Die Konstruktion und Bereinigung des Begriffs der Effizienz: Die Effizienz ist ein Kriterium, das es erlaubt, normative Vorschläge für die Lösung von Konflikten zu formulieren und öffentliche Entscheidungen zu begründen.

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Die Juristen haben sich immer mit der Frage befaßt, wer im Recht und wer schuldig ist. Vielleicht ermöglicht es die wirtschaftswissenschaftliche Position, die Fragestellung neu zu formulieren. Sie faßt nämlich das Gesetz als ein Datum und nicht als das ausschließliche Kriterium für die Lösung von Konflikten auf. Es ist nicht sehr gewagt zu vermuten, daß viele Normen nicht eingehalten werden, weil die Bürger es vorziehen, sie zu verletzen, anstatt sie zu befolgen, obwohl dies Sanktionen nach sich zieht. - Der methodologische Vorschlag: Die Wirtschaftstheorie hat unter den Sozialwissenschaften inzwischen die Vorherrschaft errungen. Ihre deskriptive Dimension ist zwar wichtig, aber es geht nicht um sie allein. Die normative Ökonomie begnügt sich nicht damit, die Wirklichkeit bloß zu beschreiben. Die Konstruktion hypothetischer oder idealer Modelle dient nicht so sehr der Beschreibung der Wirklichkeit - die soziale Wirklichkeit entspricht nie ganz einem Modell - , sondern dazu, ausgehend vom Modell zu fragen, warum die Wirklichkeit ist, wie sie ist, sowie dazu, ausgehend vom Modell Änderungsmaßnahmen vorzuschlagen. In diesem Sinne unterscheidet sich die Wirtschaftstheorie von der Rechtstheorie. Jegliche normative Dimension der Rechtswissenschaft ist ein Hinweis auf ideologische Verunreinigung. - Schließlich erfordern die Veränderungen des zeitgenössischen Staates ein neues Legitimationssystem. Die Intervention des Staates in die Wirtschaft wird vor allem mit der Fähigkeit bzw. Unfähigkeit der staatlichen Verwaltung gerechtfertigt, in angemessener Qualität und Quantität öffentliche Dienstleistungen anzubieten. Zur Legitimation durch Legalität kommt eine neue Art von Legitimation: Wichtig ist vor allem, daß die Verwaltung ein Maximum an Wohlfahrt für ein Minimum an Kosten bietet. Die Rechtswissenschaft hat traditionell diese wirtschaftlichen Parameter ignoriert. Aus welchen Gründen ist aber eine Öffnung zu solchen Themen nicht möglich gewesen? Die Rechtswissenschaft des letzten Jahrhunderts ist von einem wohldefinierten Forschungsprogramm ausgegangen. Eine vollständige Rechtstheorie sollte zwei Grundthemen behandeln. Die normative Rechtsdisziplin sollte sich damit beschäftigen, wie das Recht sein soll, während die deskriptive Rechtsdisziplin sich damit befassen sollte, wie das Recht ist. Die Rechtswissenschaft im engeren Sinne ist die deskriptive Disziplin, während die normativ-präskriptiven Wissenschaften nicht von Rechtswissenschaftlern, sondern von Philosophen und Politologen betrieben werden sollten. Obwohl es wichtige Beziehungen zwischen den beiden Disziplinen gibt, werden sie von den heutigen positivistischen Rechtstheorien - als Reaktion auf die Bedingtheit der Beschreibung durch die Bewertungsgrundlagen, wie sie für einige naturrechtlichen Ansätze charakteristisch ist - unterbewertet.

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Dieses Forschungsprogramm erlaubte die Entwicklung einer Rechtswissenschaft - der Jurisprudenz oder Rechtsdogmatik - während des ganzen 19. und eines Teils des 20. Jahrhunderts. Diese Auffassung setzte die Vorstellung einer dem Gesetz völlig untergeordneten Funktion des Juristen voraus. Seine Funktion als Praktiker des Rechts ist die Anwendung von Gesetzen, seine Funktion als Theoretiker ist ihre Beschreibung. Man könnte sich nun fragen, wie weit dieses Programm entwickelt wurde, wie weit die Aufgabe des Juristen tatsächlich die in dem Programm definierte gewesen ist. A n anderer Stelle (Calsamiglia 1986) habe ich zu zeigen versucht, daß die Rechtswissenschaft im strengen Sinne nicht nur deskriptive, sondern auch präskriptive Funktionen besitzt. Unabhängig von den Abweichungen zwischen dem Programm und seiner praktischen Umsetzung steht jedenfalls unzweifelhaft fest, daß jenes es nicht erlaubt, wichtige Probleme aufzugreifen und etwa als Leitfaden für die Praxis des Gesetzgebers zu dienen. Nach dem Paradigma des 19. Jahrhunderts ist die Kritik der Gesetzgebung keine Aufgabe des Rechtswissenschaftlers. Auch verfügt man damit nicht über angemessene Instrumente, um abzuschätzen, wie die Reaktion der Bürger gegenüber einem Gesetz sein wird. Diesem Programm entspricht andererseits die Neigung, an die Autonomie und Höherrangigkeit des Rechts gegenüber der Gesellschaft zu glauben. Um die Gesellschaft zu ändern, brauche man nur das Recht zu ändern. Die Gesellschaft werde dem folgen und gehorchen, was die legal eingesetzte Gewalt vorschreibt. Die Teile des juristischen Puzzles passen gut zusammen. Die juristische Rationalität ist mit diesem Programm und mit diesen Annahmen konsistent. Jedoch hat die Krise des Modells zusammen mit der Krise des Rechts deutlich gemacht, wie unangemessen die traditionelle juristische Rationalität ist. Mehr als ein Jahrhundert historizistischer Kritik hat nicht ausgereicht, um in der juristischen Ausbildung analytische Instrumente anbieten zu können, die auch nur ein wenig über das hinausgingen, was für die Beschreibung von Normen erforderlich ist. Es ist nicht verwunderlich, daß in dieser Situation Untersuchungen entstehen wie die über Technik und Wissenschaft der Gesetzgebung, die das Forschungsprogramm - und sein begriffliches Netz - aufbrechen, um eine gewisse Ordnung und Rationalität in die Gesetzgebungsmaschine einzuführen. Die Gesetzgebungswissenschaft befaßt sich nicht mit der Interpretation und Anwendung der Gesetze - dies sind Aufgaben der Rechtswissenschaft bzw. Rechtsdogmatik - , sondern mit dem Prozeß der Erzeugung von Gesetzen und Normen. Dieser Prozeß betrifft aber nicht nur die Rechtsdisziplinen, sondern auch andere, nicht-juristische Fächer (Gretel 1986). Eine gute Theorie und

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Wissenschaft der Gesetzgebung muß Disziplinen wie Logik, Informatik, Soziologie, Jurisprudenz, Ökonomie und Ethik miteinander verbinden. Mit dem Paradigma des vergangenen Jahrhunderts läßt sich nicht vorzeichnen, welches die Bedingungen sind, denen Gesetze genügen müssen, um gute Gesetze zu sein. Um einen solchen Entwurf auszuarbeiten, muß man sich aus den juristischen Begriffsnetzen - denen der Rechtswissenschaft im engeren Sinne - lösen. Wie Manuel Atienza (1988) gezeigt hat, muß ein gutes Gesetz einer Menge von Rationalitäten genügen: erstens der kommunikativen Rationalität insofern, als nämlich derjenige, der ein Gesetz erläßt, in der Lage sein muß, in flüssiger Weise dem Empfänger eine Botschaft zu übermitteln; zweitens der formal-juristischen Rationalität in dem Sinne, daß sich die Botschaft harmonisch in das Rechtssystem einfügen muß, ohne Normenwidersprüche hervorzurufen; drittens der pragmatischen Rationalität, das heißt, daß sich das Verhalten der Individuen dem im Gesetz vorgeschriebenen anpassen muß; viertens der technischen Rationalität, da das Gesetz die Ziele, die es verfolgt, mit angemessenen bzw. effizienten Instrumenten und Mitteln erreichen muß; und schließlich muß ein Gesetz der ethischen Rationalität genügen insofern, als Verhalten und Ziele ethisch gerechtfertigt sein müssen. Diese rationalen Indikatoren würden es erlauben, besser gestaltete Gesetze zu machen. Dafür sind aber nicht nur juristische, sondern auch extrajuristische Kenntnisse erforderlich. So muß man beispielsweise voraussehen können, wie die Reaktion der Bürger auf eine gesetzliche Maßnahme sein wird. Dazu sind die Anreize zu analysieren, die ihnen geboten werden, um das Recht zu befolgen, oder auch, ob die Gesetze effiziente Mittel zum Erreichen der Ziele sind. Zweifellos ist es wichtig, Brücken zu anderen Sozialwissenschaften zu schlagen, um den Diskussionsbereich der Sozialwissenschaften zu erweitern. Wenn Juristen den allgemeinen Fragestellungen der Ökonomen größere Beachtung schenken, wird sie dies nicht zu Wirtschaftswissenschaftlern machen, sondern es wird ihnen erlauben, deren Beiträge zu verstehen und sie in einen weitergefaßten und tiefergehenden gemeinsamen Rahmen einzuordnen. Ich werde im folgenden meine Aufmerksamkeit auf die Untersuchung einiger grundlegender Aspekte der aktuellen Wirtschaftswissenschaften richten, die für die juristische Erkenntnis wichtige Orientierungshilfen bieten. I. Wertannahmen der ökonomischen Theorie Die ökonomische Theorie ist zur derzeit am weitesten entwickelten Sozialwissenschaft aufgestiegen. Sie hat, indem sie alte Vorstellungen der Sozialwissenschaften überwand, die Wissenschaft mit Beschreibung gleichsetzten, Modelle geschaffen und benutzt, um von ihnen aus die Frage zu stellen,

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warum die Wirklichkeit ist, wie sie ist. Die ökonomische Theorie geht überdies von einer Menge von Werten aus, die auch die rationalistische Naturrechtslehre teilte. Adam Smith vertrat die Auffassung vom homo oeconomicus als einem rationalen, individualistischen und egoistischen Menschen. Es gebe eine unsichtbare Hand, die die Wirtschaft lenkt - das Naturgesetz der Wirtschaft - , wonach Individuen, die ihre eigenen Interessen innerhalb eines kompetitiven Marktes verfolgen, ein unbeabsichtigtes und ungeplantes Ergebnis hervorrufen: das Gemeinwohl. Derselbe Geist, der die Ökonomen dazu führte, gerechte Naturgesetze zu suchen, gab den Juristen den Anreiz dazu, in der Natur ein Kriterium für die gerechte institutionelle Ordnung zu suchen. Die Verwandtschaft der klassischen Ökonomie mit bestimmten Richtungen des juristischen Denkens ist unverkennbar. Ihre jeweilige Geschichte ist aber sehr unterschiedlich. Die Vorstellung von der unsichtbaren Hand, die die Wirtschaft lenkt und mit Hilfe der Gesetze des Marktes zur Effizienz führt, ist nicht mehr ein irrationaler Glaube, sondern wurde mit Hilfe starker Analyseinstrumente formalisiert. Die Kraft dieser Argumente ist heutzutage wohlbekannt, aber auch die Bedingungen, unter denen sie gelten. II. Der Individualismus In der Rechtfertigung des Individualismus nimmt Locke eine wichtige Stellung ein. Nach Locke besteht die Gesellschaft aus einer Summe von Individuen, die bereits angeborene unverletzbare und unveräußerliche Rechte besitzen. Der Mensch im Naturzustand hat Rechte, die keiner Mehrheit und keinem kollektiven Gut untergeordnet werden können. Das Individuum besitzt damit ein Veto gegenüber dem Staat und gegenüber allen anderen Menschen. Aus dem Individualismus folgt die Ablehnung jeglicher exogenen Sozialethik, die dem Willen der Individuen, die sie betrifft, zuwiderläuft oder auch nur von ihm unabhängig ist. Jede Beschränkung der Rechte des Individuums ist nur erlaubt und zu rechtfertigen, wenn das betroffene Individuum damit einverstanden ist. Es gibt keinen Grund dafür - so würde ein guter Liberaler behaupten - , daß uns von einem Außenstehenden gesagt wird, was gut ist. Die Präferenzurteile von außenstehenden Planern sind genausoviel wert wie die eines jeden Individuums. Der Individualismus nimmt die Rechte der Individuen ernst. Die Dogmatik hat daraus abgeleitet, daß die freie Marktwirtschaft - da sie auf dem Individualismus beruht - nicht nur deswegen vorzuziehen ist, weil sie Produktionsanreize liefert, sondern auch, weil es das einzige System ist, das mit nicht-ökonomischen individuellen Grundrechten wie etwa der Freiheit vereinbar ist. Der liberale Individualismus von Locke und Smith ist vielfältiger Kritik unterzogen worden. Einerseits wurde behauptet, daß die Vermehrung des Reichtums weder der einzige noch auch der wichtigste Wert ist. Vielleicht ist

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eine sehr egalitäre Gesellschaft keine Gesellschaft mit optimaler Ressourcenallokation, aber sie kann doch einer hochgradig ungleichen Gesellschaft vorzuziehen sein. Es gibt keinen Grund, der es erlauben würde, rational zu entscheiden, daß höchste Produktivität bei geringstmöglichem Kostenaufwand der einzige oder der wichtigste Wert ist, der dazu dienen würde, eine bestimmte Gesellschaft zu rechtfertigen. Man könnte sich fragen, ob gesellschaftlicher Reichtum ein letzter Wert, ein instrumenteller Wert oder vielleicht überhaupt kein Wert ist (Dworkin 1985). Zum zweiten gibt es Gesellschaften mit nicht-individualistischen Philosophien - wie zum Beispiel die japanische - , die einen hohen Grad an Effizienz erreicht haben. Effizienz - also höchste Produktivität bei geringstmöglichen Kosten - kann nicht allein vom Individualismus beansprucht werden. Zum dritten gibt es keine zufriedenstellenden Mechanismen für die Übertragung individueller auf gesellschaftliche Präferenzen. Arrow hat gezeigt, daß es keinen solchen Mechanismus gibt, der es erlaubte, ausgehend allein von individuellen Präferenzen zu sozialen Präferenzen zu kommen (Arrow 1951). I I I . Egoismus und Rationalismus Ein Individuum ist egoistisch, wenn es seine eigenen Interessen verfolgt und sich an seinen überlegten (considered) Präferenzen orientiert. Präferenzen manifestieren sich im Verhalten eines Individuums und setzen die Möglichkeit voraus, Alternativen zu vergleichen und zwischen ihnen so zu wählen, daß das Ergebnis konsistent, transitiv und stabil ist. Präferenzen von Individuen sind allerdings nicht unveränderlich, und sie können auf Irrtümern, mangelnder Information oder Unerfahrenheit beruhen. Die ökonomische Theorie geht nicht nur vom Individualismus aus, sondern zusätzlich davon, daß der Mensch ein rationales und egoistisches Wesen ist, so daß das Individuum selbst am besten über seine Präferenzen und Interessen informiert ist und diese auch am besten zu verteidigen weiß. Einige Liberale insbesondere Hayek - nehmen darüber hinaus an, daß Individuen über Informationen verfügen, wie sie kein Sozialplaner je besitzen kann. Die Verarbeitung dieser Information wäre sehr viel kostspieliger, wenn sie nicht dem Markt überlassen würde. Individueller Egoismus ist eine Folge der Struktur der Konkurrenzgesellschaft, da Individuen, die sich nicht diesem Prinzip entsprechend verhalten, leicht als Subjekte aus dem Markt verdrängt werden. Außerdem muß ein Individuum, wenn es nicht rational ist, die Folgen seiner Irrationalität selbst tragen, so daß ein Anreiz dafür existiert, daß sich Individuen rational verhalten. Der Begriff der ökonomischen Rationalität ist wichtig. Nun können sich Individuen aber in parametrischen Situationen oder in Situationen der Inter-

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aktion mit anderen Individuen befinden. Situationen, in denen die Präferenzen eines Individuums die einzigen unabhängigen Variablen sind und die Präferenzen anderer Individuen nicht berücksichtigt werden, werden als Situationen parametrischer Rationalität bezeichnet. Zuweilen muß das Individuum aber die Entscheidungen anderer Individuen bzw. das von ihnen erwartete Verhalten berücksichtigen. Diese Art der Rationalität wird strategische Rationalität genannt. Der Begriff der strategischen Rationalität ist für das Fällen sozialer Entscheidungen wichtig (Gauthier 1986, 21). Wie weiter unten noch zu zeigen sein wird, erfordern viele juristische Situationen nicht parametrische, sondern strategische Rationalität. Individuen reagieren auf Gesetze, und um die richtige Entscheidung zu treffen, muß man vorhersehen, wie diese Reaktion aussehen wird. I V . Fairness und Effizienz Ein weiterer wichtiger Wert, der vorausgesetzt wird, bezieht sich auf die Bewertungskriterien einer bestimmten Gesellschaft. Die Gesetze des kompetitiven Marktes, dessen Akteure rationale und egoistische Individuen sind, führen zu sozialer Effizienz. Die Effizienz ist für ein Wirtschaftssystem der Wert schlechthin (Schotter 1987, 140). Viele Ökonomen vertreten jedoch die Ansicht, daß eine Umkehrbeziehung - im Sinne eines trade off - zwischen Prinzipien der Fairness und solchen der Effizienz besteht. In dem Maße, in dem man sich darum bemüht, daß eine Verteilung fair ist, entfernt man sich von der Effizienz. Dadurch kommt es zu einem steilen Abfall des gesellschaftlichen Reichtums. Die ökonomische Theorie hat sich in letzter Zeit mit diesem Problem beschäftigt. Die Existenz einer Umkehrbeziehung zwischen Fairness und Effizienz bedeutet jedoch nicht, daß diese Lösung immer die wünschenswerte ist, wenn öffentliche Entscheidungen zu treffen sind. Die ökonomische Theorie tendierte - besonders in jüngster Zeit - dazu, die Widersprüchlichkeit bzw. Unvereinbarkeit normativer Kriterien aufzuzeigen. Dieser Punkt ist meines Erachtens wichtig, da es eine Neigung gibt, Effizienz als einziges Kriterium anzusehen, nach dem ein System zu beurteilen ist. Nach Barbera „beruht ein großer Teil der Meinungsverschiedenheiten, zu denen der Gebrauch so allgemeiner normativer Kriterien wie beispielsweise Gerechtigkeit und Fairness führen kann, darauf, daß . . . es nicht leicht ist, sie formal auszudrücken. Es wäre aber wichtig, dies zu tun, weil es erlauben würde, sie auf die gleiche Stufe wie das Pareto-Kriterium zu stellen" (Barberà 1978, 213). Die Beziehungen zwischen Gerechtigkeit und Effizienz sind sehr komplex und lassen sich aus vielen Blickwinkeln, in ganz einfacher oder in sehr differenzierter Form, betrachten. Eine auf ideale Weise gerechte Gesellschaft ist jedenfalls eine effiziente Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die Ressourcen verschwendet, ist keine gute Gesellschaft.

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Schließlich sind Effizienz und Fairness auch nicht immer gegenläufig. Es kann Situationen geben, in denen die Umkehrbeziehung nicht gilt. Wenn zum Beispiel keine Verteilungskosten entstehen, dann existiert keine Umkehrbeziehung zwischen Produktion und Distribution. Manche Ökonomen betonen, daß ihr Problem nicht das der Verteilung, sondern das der Produktion ist. Polinsky etwa beharrt darauf, daß es die Aufgabe des Ökonomen ist, den Kuchen so groß wie möglich zu machen, und daß die Aufgabe, über seine Verteilung zu bestimmen, anderen - beispielsweise den Gesetzgebern - überlassen bleibt {Polinsky 1985, 18). V . Effizienzbegriff und Nutzenbegriff Unter den zahlreichen Bewertungskriterien für ein Wirtschaftssystem kommt den utilitaristischen und dem der Effizienz besondere Bedeutung zu. Die utilitaristischen Lehren werden heute kritisiert als Lehren, die den Status quo verteidigen. Ihre ersten Anhänger benutzten sie jedoch, um rechtliche Änderungen zu erzwingen. Die individualistischen Lehren des frühen Liberalismus wurden vom Utilitarismus kritisiert. Bentham vertrat die Meinung, daß „das Glück der Individuen, die eine Gesellschaft bilden, der Zweck i s t . . . der einzige Zweck, den der Gesetzgeber verfolgen darf, der einzige Leitgedanke, an dem jedes Individuum sein Verhalten ausrichten muß" {Jeremy Bentham, The Principles of Morals and Legislation, Oxford 1948, Kap. 3, Abschnitt 1). Bentham fragte sich, worin das Interesse der Gemeinschaft besteht, und er kam zu einer - scheinbar - ganz einfachen Antwort: in der Summe der Interessen der einzelnen Mitglieder, aus denen sie besteht. Das Kriterium des „größten Glücks der größten Zahl" erlaubte es, die gesetzgeberische Politik der Regierungen zu rechtfertigen oder zu kritisieren. Eine Gesetzgebungswissenschaft sollte dieses Glück erreichen helfen. Um das Ziel zu erreichen, war es unumgänglich, quantitative Vergleiche zwischen dem Glück anzustellen, das verschiedene Maßnahmen produzieren würden. Die Kriterien, nach denen solche Kalküle vorgenommen werden sollten, haben jedoch nicht den erforderlichen Konsens gefunden. Pareto hat daher ein Effizienzkriterium vorgeschlagen, das diese Probleme nicht aufwarf und das sich in den Wirtschaftswissenschaften durchgesetzt hat. (Allerdings gibt es über den Effizienzbegriff Diskussionen. Man vergleiche beispielsweise J. Coleman, The Economic Analysis of Law, in: J. Pennock und J. Chapman (Hrsg.), Ethics, Economis and Law, NOMOS X I V , New York 1982, 83 ff., wo die Mehrdeutigkeit des Effizienzbegriffs und dessen Interpretationen nach Pareto und Kaldor-Hicks beibehalten werden.) Nach Pareto ist eine gesellschaftliche Entscheidung optimal, wenn es keine andere, einstimmig bevorzugte Situation gibt. Der Gedanke, daß all die Situationen abzulehnen sind, die alle Mitglieder einstimmig für schlechter halten als

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eine andere, mag weite Zustimmung finden. Darin liegt die Stärke des ParetoKriteriums. Es ist jedoch aus vier grundlegenden Gründen häufig kritisiert worden. Erstens, weil jedem Individuum der Gesellschaft ein Vetorecht für jede gesellschaftliche Maßnahme oder Entscheidung eingeräumt wird. Eine äquivalente Alternativdefinition des Pareto-Optimums wäre nämlich folgende: Eine Situation ist Pareto-optimal, wenn bei jeder anderen Alternative jemand sein Veto einlegt. Die Folge davon ist, daß es in der Regel viele verschiedene Situationen gibt, die alle Pareto-optimal sind. Zweitens, weil der Ausgangszustand nicht in Frage gestellt und daher der Status quo erhalten wird. Drittens, weil das Kriterium kaum auf Probleme der Verteilungsgerechtigkeit eingeht. Und viertens, weil viele wichtige Probleme damit nicht zu lösen sind. Es gibt zahlreiche Rechtskonflikte, bei denen der eine gewinnt, was der andere verliert. Gerade aus diesem Grund benutzt Posner ein Effizienzkriterium, das sich von dem Paretos etwas unterscheidet und das auf hypothetischen Entschädigungen beruht.

V I . Juristische Erkenntnis und ökonomische Theorie Viele Ökonomen teilen die Meinung, daß vom ökonomischen Standpunkt aus die einzige Anforderung, die an ein System zu stellen ist, seine Effizienz sei und daß jede moralische Frage sinnlos sei. Dieser Ansatz wurde über die Schulen der ökonomischen Analyse in das Rechtsdenken eingeführt und wird in vielen Teildisziplinen angewandt. Posner (1981) vertritt die These, daß „Effizienz - wie ich sie definiere - . . . eine angemessene Auffassung von Gerechtigkeit" sei. Diese These ist sehr radikal. Sie ist aber vielleicht nützlich, um auf etwas hinzuweisen, was die Juristen bisher gerne übersehen haben. Sie haben sich hauptsächlich mit den Problemen beschäftigt, die ein Rechtssystem unter dem Gesichtspunkt der Dialektik zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit aufwirft, während sie der Analyse von Rechtsproblemen unter dem Aspekt der Folgen, der Kosten und der Effizienz kaum Aufmerksamkeit geschenkt haben. Die wichtigsten Fragen, mit denen sich der Jurist befaßt, sind intrasystemische. Er fragt sich, ob innerhalb seines abgeschlossenen Systems unvereinbare oder mehrdeutige Normen, Lücken oder unbestimmte rechtliche Begriffe auftauchen. Rechtstheorie und -philosophie sind von der Bedeutung der Analyse sozialer Folgen und Kosten nicht ganz unberührt geblieben. Die ganze antiformalistische Bewegung vom Ende des 19. Jahrhunderts betonte das Thema des Zwecks im Recht und die Notwendigkeit, Rechtskonflikte mit Hilfe von Kriterien zu lösen, die zu gerechten und effizienten Ergebnissen führen. Aber all diese Feststellungen waren nicht mehr als methodologische Vorschläge mit dem Wunsch, sich von einem Modell der sozialen Funktion des Juristen zu lösen, das beschränkt war auf die Unterordnung unter das Gesetz und auf

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dessen Bewahrung, Interpretation und Anwendung. Man verfügte jedoch noch nicht über die richtigen Instrumente, um diese alte Bestrebung in die Tat umzusetzen. Der Hinweis auf Folgen, Kosten und Wirksamkeit diente dazu, sich vom Wortlaut des Gesetzes zu distanzieren. Intuitive Vorstellungen von der materialen Gerechtigkeit - zu der jede Art von Werturteilen gehören - machten auf anderen Wegen, als in der Gesetzgebung vorgesehen, Entscheidungen zu Rechtsentscheidungen. Der Preis der Anpassung der Anwendung des Rechts an neue gesellschaftliche Zustände war aber, daß eins der Grundprinzipien jeder wohlgestalteten normativen Ordnung verfälscht wurde, nämlich die Rechtssicherheit. Letztlich berief man sich auf einen intuitiven Begriff von materialer Gerechtigkeit, der zur Entscheidung herangezogen wurde. Wahrscheinlich konnte man gar nichts anderes tun, da keine angemessenen analytischen Instrumente für die Behandlung von Effizienz bzw. Wirksamkeit zur Verfügung standen. Diese alte Bestrebung wurde von wichtigen Teilgebieten der Ökonomie aufgenommen, die nicht nur Vorschläge zur Reform, sondern auch zur Methodologie machten, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Sie gingen, kurz gesagt, von dem Gedanken aus, daß Effizienzkriterien dann wichtig sind, wenn es darum geht, die Spielregeln einer Gesellschaft festzulegen. Das Recht hat folglich den Sinn einer praktischen Idee, die auf einen bestimmten Zweck abzielt: auf Effizienz. Die Ökonomen sind in der Lage, Methoden beizutragen für die Berechnung der gesellschaftlichen Effizienz von Gesetzen und Urteilen. Es ist interessant, ökonomische Fragestellungen und Annahmen auf die Untersuchung des Rechts anzuwenden. Mit den Modellen der Wirtschaftswissenschaften läßt sich fragen, warum das Recht ist, wie es ist, und sie erlauben auch den Vorschlag gesetzgeberischer Reformen, die zum Erreichen bestimmter Ziele angemessen sind. Die präskriptive Dimension, die nach der traditionellen juristischen Methodologie verboten war, wirft wichtige Probleme auf, die vom traditionellen Standpunkt aus nicht zu sehen waren. V I I . Zwei Modelle der gesellschaftlichen Funktion des Juristen Der Durchbruch ökonomischer Methoden bei der Erforschung des Rechts kommt einem alten Anspruch entgegen, der von den antiformalistischen Lehren Ende des vergangenen Jahrhunderts formuliert worden war. Das herrschende Modell der gesellschaftlichen Funktion des Juristen war das konservative legalistische Modell. Bekanntlich erforderte die Aufgabe der Kodifizierung eine bedeutende Rationalisierung des Rechts. Man glaubte, das Recht sei die Positivierung des rationalen Rechts. Der Jurist sah sich selbst als

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Bewahrer des schon bestehenden Regelkorpus. Seine Hauptfunktion sei es, die Regeln so zu bewahren, wie sie vom Gesetzgeber erlassen wurden, dessen Rationalität angenommen wird. Aufgabe des Juristen sei also die Interpretation und Anwendung des Rechts. Die Quelle schlechthin sei das Gesetz, und weder die Rechtsprechung noch die Dogmatik dürften als Kriterien für die Lösung sozialer Konflikte herangezogen werden. Die Aufgabe der Interpretation und Anwendung des Rechts wurde - idealerweise - als eine logische Aufgabe angesehen. Die Rechtswissenschaft sei auf die Beschreibung der Normen zu beschränken. Rechtspolitik und Fragen der Gerechtigkeit lägen außerhalb des Gebietes streng rechtswissenschaftlicher Arbeit. Dieses konservative Modell - das mit dem Legitimationssystem des liberalen Rechtsstaats einhergeht und auch heute noch großen Einfluß besitzt wurde vom antiformalistischen Standpunkt aus gegen Ende des vorigen Jahrhunderts kritisiert. Das reformerische Modell betrachtet den Juristen als einen Spezialisten für die Lösung sozialer Konflikte. Zu den Kriterien der Konfliktlösung gehört das Gesetz. Dies ist aber weder das einzige, noch das wichtigste Kriterium. Die Aufgabe des Juristen wird als die eines Sozialingenieurs aufgefaßt. Der Jurist soll Konflikte gerecht und effizient lösen. Das konservative legalistische Modell ist nicht nur unzweckmäßig - weil es gesellschaftlichen Wandel nicht berücksichtigt - , sondern es ist auch falsch - weil in der historischen Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts das Gesetz tatsächlich nicht das einzige Kriterium war, das zur Lösung von Konflikten herangezogen wurde. Das reformerische Modell ordnet die Unterwerfung unter das Gesetz dem Prinzip der effizienten und gerechten Lösung der Konflikte nach. Prinzipiell geht der reformerische Jurist vom Gesetz ab, wenn er der Meinung ist, dies sei nötig, um zu einer besseren Lösung zu kommen. Er sucht Hilfe bei anderen Sozialwissenschaften, um Kriterien für die Konfliktlösung zu finden. Der Preis, den er bezahlen muß, ist die Rechtsunsicherheit. Außerdem erhalten damit nichtrepräsentative Organe größere politische Macht, was zu Legitimationsproblemen führt. Die Ökonomie bietet den Juristen nun die Möglichkeit, Instrumente zu benutzen, die ein reformerisches Modell eher realisierbar machen. Der Jurist als Sozialingenieur muß, mit anderen Worten, Brücken schlagen zu anderen Sozialwissenschaften, um von ihnen relevante Kriterien für die Gestaltung von Institutionen, Verträgen, Urteilen oder Gesetzen zu übernehmen. Wichtig ist das Gleichgewicht zwischen Sicherheit - Legalität - , Effizienz und Gerechtigkeit. Das konservative Modell betont den Wert der Legalität, das reformerische Modell den der materialen Gerechtigkeit. Weder der eine noch der andere Wert können immer vorherrschend sein. Gleichgewicht, Kompromiß und Rechtfertigung bilden den Rahmen des juristischen Handelns.

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V I I I . Ansätze der Wirtschaftstheorie: Rationalität und Effizienz Eines der Hauptthemen, mit denen die ökonomische Theorie einen Beitrag zu rechtlichen Überlegungen leisten kann, ist das der individuellen Rationalität. Es ist plausibel, den Menschen in der wirtschaftlichen Welt als rationales und egoistisches Individuum aufzufassen, das seine Interessen mit einem Minimum an Kosten zu befriedigen sucht. Dieses Rationalitätskriterium ist dem Menschen nicht nur im ökonomischen Bereich eigen. Es geht aber nicht nur darum. Wie wir gesehen haben, kann man nämlich Rationalität parametrisch oder strategisch verstehen. Die traditionelle juristische Rationalität ging von einer parametrischen Situation aus, in der es nur wichtig war, ob das Gesetz mit einem Grundprinzip der Gerechtigkeit übereinstimmte. Dies hatte den Glauben an die Autonomie des Rechts in dem Sinne zur Folge, daß man durch Änderungen im Recht die Gesellschaft ändern zu können meinte. Heute weiß man, daß sich gesellschaftliche Änderungen nicht durch Verordnung erreichen lassen. Die juristische Rationalität ist nicht parametrisch, sondern strategisch. Die Adressaten von Normen reagieren strategisch auf diese. Gehorsam wird nicht durch die bloße Tatsache der Erlassung eines Gesetzes gewährleistet. Normen müssen den Individuen einen Anreiz zu ihrer Befolgung geben, sie müssen mögliches Verhalten der Adressaten vorhersehen und als wichtiges Element berücksichtigen. Die Entscheidungen des Gesetzgebers müssen die erwarteten Reaktionen der Normadressaten in ihre Überlegungen einbeziehen. Die Adressaten stellen ein Kalkül an; sie betrachten Normen als ein Datum unter anderen und nicht als unbedingte Verhaltensvorgabe. Manchmal geben Normen sogar einen Anreiz, das Recht zu mißachten, weil die Nachteile durch die entsprechende Sanktion geringer sind als die Vorteile, die aus der Norm Verletzung entstehen. Von diesem Standpunkt aus ist die Geltung einer Norm - aufgefaßt als Legalität ihres Erlasses - nicht hinreichend, damit ein Gesetz wohlgestaltet ist. Geht man von der Perspektive des Prozesses der Normerzeugung aus - eines Prozesses, in dem die Rechtsdogmatik eine wenn auch begrenzte Rolle spielt - , so ist die Geltung notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine gute Norm. Dafür sind Daten, die über den Gesetzestext hinausgehen, erforderlich. Aus der Sicht der Gesetzgebungswissenschaft kommt man ohne strategische Rationalität nicht aus. Und dazu können die Ökonomen sehr viel beitragen, da dies der fortgeschrittenste Zweig der Theorie der rationalen Entscheidung ist. Die zweite wichtige Voraussetzung ist: Gesetze müssen wirksam sein. Die Funktion von Gesetzen ist es nicht, einfach moralische Prinzipien bzw. Prinzipien der Gerechtigkeit zu erklären. Gesetze haben verhaltensleitende Funktionen. Das Recht läßt sich unter dem Aspekt der Wirksamkeit im folgenden Sinne betrachten: Eine Norm ist wohlgestaltet, wenn die Mehrheit der Bürger

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ihr spontan gehorcht und sie nur in außergewöhnlichen Fällen mißachtet und wenn in diesen Fällen eine Sanktion allgemein zur Anwendung kommt. Ein gültiges Gesetz - also ein Gesetz, das mit der Rechtsordnung vereinbar ist und das auf legale Weise erlassen wurde - , das aber nicht wirksam ist - das also weder befolgt noch angewandt wird - , besitzt einen schweren Konstruktionsfehler. Das Kriterium der Wirksamkeit ist ein nützliches - wenn auch nicht das einzige - Kriterium beim Entwurf von Institutionen. Dies ist ein Grundgedanke bei der Frage, was gutes Recht ist. Durch ihn wird der Prüfstein der Abschätzung künftigen Verhaltens als eines der Hauptkriterien für den Entwurf von wohlgestaltetem Recht eingeführt. I X . Das Paradigma von Austin Betrachtet man die vorherrschende Rechtslehre mit ihrer normativistischdogmatischen Wurzel, so stellt man fest, daß der Hauptzweck der Rechtswissenschaft die Beschreibung der Normen des positiven Rechts ist. Ein Gesetz wird beurteilt nach einem festgelegten Parameter der Gerechtigkeit. Ein Gesetz ist gerecht, wenn es einem bestimmten Gerechtigkeitsideal entspricht. Man beachte, daß der Vergleich zwischen einem Gesetzestext und einem normativen Gerechtigkeitsprinzip erfolgt. Es geht nicht direkt mit ein, ob die Norm eine Aussicht hat, befolgt zu werden, oder ob sie tatsächlich die angestrebten Zwecke erfüllt. Wirksamkeit wird nur als allgemeines Merkmal der Rechtsordnung in Betracht gezogen. Wichtig ist allein die Erklärung des Zwecks und die Übereinstimmung von beidem - von Recht und Gerechtigkeit. Zudem wird weder nach der Zweckmäßigkeit gefragt, also danach, ob das Mittel - das Gesetz - seinem Zweck angemessen, mit ihm vereinbar oder unvereinbar ist, noch nach der Effizienz, also danach, ob der Zweck mit den geringstmöglichen Kosten erreicht wird. Es wird nur die Frage nach der Übereinstimmung von Wortlaut und Wert gestellt. Das am weitesten entwickelte und verbreitete Rechtswissen ging von einem klar definierten Forschungsprogramm aus. Eine vollständige Rechtswissenschaft muß zwei wohldefinierte Probleme unterscheiden. Sie muß sich einerseits mit der Gesetzgebungswissenschaft befassen, deren Hauptzweck es ist zu entwerfen, wie das Recht sein soll. Neben dieser GesetzgebungsWissenschaft gibt es dann noch eine andere, Jurisprudenz - im Sinne von Wissenschaft vom Recht - genannt. Die Jurisprudenz beschäftigt sich nicht damit, wie das Gesetz sein soll, sondern damit, wie es ist. Austin hat dieses Programm präzise festgelegt, und die ganze dogmatische Rechtswissenschaft hat sich hauptsächlich mit dem Problem der Beschreibung des Rechts beschäftigt. Das am weitesten entwickelte Rechtswissen hat zwei wichtige Aspekte betont. Erstens, daß rechtswissenschaftliche Fragen im Grunde Fragen der objektiven Beschrei6 Garzón Valdés

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bung der Normen einer Rechtsordnung seien. Zweitens, daß Fragen der Rechtfertigung der Normen oder des Rechts metajuridische Fragen seien, die mit der Philosophie und insbesondere mit der normativen Ethik zu verbinden sind. Dies sei aber nicht Aufgabe des Rechts- sondern des Politikwissenschaftlers. Dieses Paradigma ist auf Kritik gestoßen, da sich die Juristen nie an die ihnen gesteckten engen Grenzen gehalten haben (Dworkin 1986). X . Öffnung des Paradigmas: Hinwendung zur Gesetzgebungswissenschaft Der Vorschlag der ökonomischen Theorie, die Effizienz als ein Hauptkriterium bei der Untersuchung rechtlicher Probleme zu benutzen, kann dazu dienen, das Universum des rechtlichen Diskurses zu erweitern und normativistischen Reduktionismus zu vermeiden. Diese Sichtweise ist besonders interessant vom Standpunkt der Gesetzgebungswissenschaft. Wenn der Gesetzgeber vor einer neuen Entscheidung steht, kann ihm der Normativismus - bestenfalls - nur eine rein juristische Technik bieten, das heißt eine Antwort auf die Frage, wie Normen zu formulieren und wie sie in die Gesamtheit der Rechtsordnung einzufügen sind. Dies ist aber nicht das einzige Problem. Eine der Fragen, die sich dem Gesetzgeber stellen, ist vielmehr, ob eine solche Maßnahme gerecht oder ungerecht ist. Der Gesetzgeber vergleicht in dieser Hinsicht den Wortlaut der Norm mit einem Ideal. Das Gesetz ist das Instrument, das ihm dazu dient, seine Zwecke zu erreichen. Er verfügt aber nicht über die Begriffsgefüge, mit deren Hilfe er feststellen könnte, ob dieses Mittel zur Erreichung der genannten Zwecke das richtige ist. Dies ist ein grundlegendes Problem der Gesetzgebungswissenschaft. Die juristischen Methoden bestehen auch heute noch aus einem guten Teil Intuition der Gerechtigkeit und einem guten Teil Prinzipienpostulierung, gepaart mit einer normativen Konstruktion, die intuitiv zweckmäßig und mit der normativen Ordnung vereinbar ist. Man sollte sich aber nicht täuschen: Oft entsprechen die Resultate - das soziale Verhalten - nicht den Zwecken des Gesetzes. Man geht von der Annahme aus, daß das Gesetz gut ist, weil es einem Gerechtigkeitsideal entspricht. Dabei wird nicht berücksichtigt, daß die Individuen, die diesem Gesetz unterworfen sind, mit Verhaltensweisen reagieren können, die von den Zwecken des Gesetzes verschieden sind oder sogar im Widerspruch zu ihnen stehen. Die Wechselwirkung zwischen Gesetz und Adressat wird nicht in Betracht gezogen. Manchmal sieht es so aus, als ob die Gesetze nicht den Zweck hätten, das Verhalten der Bürger zu leiten, sondern einfach den, ihnen „moralische" Zwecke zuzuweisen. Der Begriff der Zweckmäßigkeit kann besonders hilfreich sein für eine Neugestaltung der Aufgabe der GesetzgebungsWissenschaft, die bisher allzu intuitionistisch und subjektiv war. Ein gutes Gesetz ist nicht dasjenige, das

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gerechte Zwecke benennt, sondern dasjenige, welches sie außerdem auch erreicht. Die Aufgabe der gesellschaftlichen Leitung läßt sich nicht auf die Erklärung guter Absichten beschränken. Eine wichtige Bedingung, die ein Gesetzgeber bedenken muß, ist, daß die Bürger einen Anreiz zur Befolgung haben müssen und daß ein Gesetz in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auch befolgt werden muß. Die normativistische Tradition hat die Wirksamkeit - grundlegend verstanden als das soziale Verhalten der Normenbefolgung - nicht als einen der Grundwerte angesehen, die beim Entwurf von Institutionen zu berücksichtigen sind. Die Reaktion der Bürger kann im Ergebnis die guten Absichten des Gesetzgebers zunichte machen. Wichtig für ein Gesetz ist nicht nur, was damit beabsichtigt ist, sondern was es erreicht. Das Gesetz soll nicht nur symbolischen Wert besitzen. A n dieser Stelle ist ein kurzes Verweilen angebracht. Es wurden drei verschiedene Begriffe benutzt, die beim Entwurf von Gesetzen und Institutionen wichtig und die eng miteinander verbunden sind. Zum einen ist die Geltung von Normen eine Eigenschaft, die es erlaubt, ihre Zugehörigkeit zum Rechtssystem festzustellen. Neben der Geltung wurde ein anderer - nicht formaler - Begriff behandelt, der Wirksamkeit genannt wurde. Eine Norm ist wirksam, wenn sie allgemein befolgt bzw. angewandt wird. Der Rechtsdogmatiker fragt sich nun, wie das Verhalten gemäß der Rechtsordnung aussehen soll, verfügt aber nicht über ausreichende Instrumente für die Untersuchung der Frage, wie das gesellschaftliche Verhalten ist. Neben diesen beiden klassischen, von der Rechtstradition überlieferten Begriffen sind aber noch zwei weitere wichtige Begriffe einzuführen. Der erste - die Zweckmäßigkeit - bezieht sich auf die Zwecke. Normen dienen der Verfolgung von Zwecken. Es ist möglich, daß eine Norm gültig und auch wirksam ist - daß sie also mit der Rechtsordnung vereinbar und ihr zugehörig ist und daß sie zudem überwiegend befolgt bzw. angewandt wird - und daß sie trotzdem ihren Zweck nicht erfüllt. Eine solche Norm ist wahrscheinlich schlecht gestaltet, weil das gesellschaftliche Verhalten sich zwar dem von der Norm Vorgeschriebenen fügt, aber nicht das Ergebnis hervorbringt, das der Gesetzgeber beabsichtigt hat. Außerdem läßt sich ein Zweck oft mit verschiedenen Mitteln erreichen. Eine Norm ist zweckmäßig, wenn sie den angestrebten Zweck erreicht. Und sie ist effizient, wenn sie diesen Zweck mit dem geringstmöglichen Kostenaufwand erreicht. Zweckmäßigkeit bezieht sich auf den Zweck, Effizienz auf das günstigste Mittel, ihn zu erreichen. Akzeptiert man die vorgetragenen Überlegungen, dann ist die Entscheidung des Gesetzgebers nicht allein durch die ethische Güte eines Prinzips bestimmt, sondern auch durch seine Realisierbarkeit. Zuweilen führt ein 6*

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Albert Calsamiglia

Gesetz mit weniger ehrgeizigen Zielen zu besseren Ergebnissen, weil die Bürger einen Anreiz zu seiner Befolgung verspüren und weil die Gesellschaft in der Lage ist, die Kosten zu tragen, die es mit sich bringt. Die Optimierung der Gesetzgebung verlangt, daß sozusagen der Test der kommunikativen, logischen, pragmatischen, technischen und ethischen Rationalität bestanden wird. Sie setzt damit die Zusammenarbeit von verschiedenen Sozialwissenschaften voraus. Keine von ihnen kann das Ziel allein erreichen. Interdisziplinäre Untersuchungen sind notwendig, wenn das Ziel Rationalisierung ist. Es gibt aber noch einen weiteren Punkt, der herauszustellen ist. Vom ontologischen Standpunkt aus muß ein Gesetz ein Mindestmaß an Wirksamkeit besitzen. Ein Gesetz, das weder befolgt noch angewandt wird, hat nur den Anschein eines Gesetzes. Ein Gesetz, das zu anderen als den angestrebten Ergebnissen führt, ist überdies ein Gesetz mit schweren Mängeln. Wollte man ein ideales Recht entwerfen - das dann nicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit entspräche - , so müßte man verlangen, daß erstens die Gesetze die Ziele erreichen, die sie anstreben, daß zweitens bestimmte unveräußerliche Rechte gewährleistet sind und daß drittens die Bürger Rechtssicherheit besitzen. Nun kann das begriffliche Instrumentarium der Ökonomen dazu dienen, ein unter dem Gesichtspunkt der Effizienz wohlgestaltetes Recht zu erreichen. Ein effizientes Recht ist aber nicht notwendigerweise auch gerecht. Effizienz ist nicht das einzige Kriterium, sondern nur eins der Hauptkriterien für gutes Recht. Gutes Recht darf darüber hinaus auch nicht widersprüchlich sein, es muß seine Vorschriften klar darstellen, es muß befolgt und angewandt werden, es muß die Ziele erreichen, die es anstrebt, und zwar mit dem geringstmöglichen Kostenaufwand, und diese Ziele müssen außerdem ethisch gerechtfertigt sein. Das normativistische Paradigma muß verbessert werden. Die Fragen der Gesetzgebungspolitik sind von großer Bedeutung und dürfen keinesfalls unberücksichtigt bleiben. Vorstellungen vom richterlichen Ermessen, von der Anwendung von Kriterien materialer Gerechtigkeit - von den Juristen typischerweise in schwierigen Fällen aufgegriffen - müssen der notwendigen Rationalisierung und Diskussion Platz machen. Damit leugne ich nicht die Bedeutung intuitiver Entscheidungen. Intuitionen sind aber nicht ausreichend, um Entscheidungen zu begründen, weil eine Rechtsordnung nicht subjektiven Kriterien ausgeliefert werden darf. Wer sich auf solche beruft, opfert grundlegende Prinzipien wie Legalität, Sicherheit und Ablehnung der rückwirkenden Geltung, die allesamt bedeutende historische Errungenschaften darstellen. Und es gibt noch eine letzte Frage. Der Beitrag der ökonomischen Theorie zum Studium dieser Themen impliziert nicht, daß diese Theorie mit Hilfe eini-

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ger lexikographischer Kriterien alle Meinungsverschiedenheiten lösen könnte. Meines Erachtens stellt es aber schon einen wichtigen Schritt dar, wenn sie dazu beiträgt, Probleme aufzuzeigen und Lösungskriterien zu entwerfen sowie in vielen Fällen die Unvereinbarkeit der Kriterien deutlich zu machen. Schlußbetrachtung Die Hauptsorge unseres juristischen Berufsstands ist es - zumindest bis in jüngste Zeit - gewesen, ein Gleichgewicht zwischen Rechtssicherheit und bestimmten Gerechtigkeitskriterien herzustellen, die sich im Laufe der Geschichte verändern. Das Rechtssystem ist gedacht als ein System von Rechten, das heißt, es geht um die Frage, wer Recht hat und wer nicht. Dies erfordert ein Denken von den Prämissen, also vom Gesetz aus, und einen ständigen Rückgriff auf das Gesetz. Das Rechtssystem ist eine Einrichtung, die darüber entscheidet, wer einen Rechtsstreit gewinnt, weil dies entweder nach den Gesetzestexten oder nach der Gerechtigkeit des Falles bzw. nach Prinzipien gerechtfertigt ist. Der Normativismus bedeutete einen wichtigen Fortschritt im Verständnis der Struktur des Rechts, der Beziehungen zwischen Normen, der Hierarchie dieser Beziehungen und der Problematik der Interpretation. Der Normativismus greift jedoch, wenn es um schwierige Fälle geht, auf so unklare Begriffe wie das richterliche Ermessen zurück. Die Diskussion schwieriger Probleme ist nützlich für die Erstellung von Kriterien und die Wahl zwischen ihnen. Diese Auswahl darf aber nicht der Subjektivität, dem Ermessen des Interpreten überlassen bleiben, denn damit würde die Vorhersehbarkeit des Rechts aufgegeben. Der Vorschlag der Ökonomen - und besonders ihrer radikaleren Schulen ist es, das Recht unter dem Gesichtspunkt der Effizienz zu betrachten. Probleme lassen sich nicht, oder besser gesagt nicht vollständig nach dem Kriterium des Alles-oder-Nichts lösen. Gerade deswegen ist es eine beachtenswerte Forderung, das Kriterium der minimalen sozialen Kosten, der Effizienz, als eine wichtige Variable im Auge zu behalten. Effizienz zu betonen heißt nicht, diesen Wert über alle anderen zu stellen. Ich wiederhole dies nachdrücklich, denn das Recht soll nicht nur gewisse Ziele mit einem Mindestmaß an Kosten verfolgen, sondern diese Ziele müssen auch ethisch zu rechtfertigen sein. Der Wert Effizienz ist wichtig, aber es gibt andere, noch wichtigere, wie zum Beispiel Legalität, Konsistenz, Vorhersehbarkeit, Rechtssicherheit oder Verneinung der rückwirkenden Geltung der Gesetze. Das Ziel ist es, ein Gleichgewicht zwischen diesen widersprüchlichen Kräften herzustellen. Ein nicht einschätzbares oder unsicheres institutionelles System kann nicht als gerecht betrachtet werden. Ein ineffizientes System jedoch ebensowenig.

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Albert Calsamiglia Besonders für die Erarbeitung einer Rechtspolitik, die ihre Ziele auch

erreicht, kann es nützlich sein, das Phänomen des Rechts unter dem Gesichtspunkt der Effizienz zu betrachten. Rechtsinstrumente können effizient sein oder auch nicht. E i n Gesetzgeber ist nicht nur bemüht, ein Idealmodell zu entwerfen, an dem er sich orientieren kann, sondern es geht i h m auch darum, die besten Wege zu finden, die zu seinem Z i e l führen.

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Recht und Zeit Von Rafael Hernandez Marin I. Recht in der Zeit und Zeit im Recht Im Rahmen der Untersuchung von Problemen, die sich unter der Überschrift „Recht und Zeit" zusammenfassen lassen, gibt es eine grundlegende Unterscheidung, auf die man nicht verzichten kann. Es handelt sich dabei, um es mit den Worten von K. Engisch zu sagen, um die Unterscheidung zwischen dem ontologischen und dem logischen Aspekt der Beziehungen zwischen Recht und Zeit 1 bzw., mit den Worten von G. Wielinger, 2 zwischen der Zeit als Rahmen für die (juridische) Existenz und der Zeit als Inhalt von Rechtsbestimmungen. Man könnte auch sagen, daß es um die Unterscheidung zwischen dem Recht in der Zeit und der Zeit im Recht geht. Betrachtet man das Recht in der Zeit, dann erscheint die Zeit als Intervall, während dessen Dauer ein Satz dem Recht angehört, also ein Rechtssatz ist. Das größte Zeitintervall, während dessen ein Satz dem Recht angehört, soll Geltungsintervall (dieses Satzes) genannt werden. Die Zeit im Recht hat zeitliche Bezüge in Rechtssätzen zum Thema, also die zeitlichen Aspekte, die in Rechtssätzen enthalten sind. Da Rechtssätze zwei Komponenten besitzen, nämlich Tatbestand und Rechtsfolge, sind beim Thema der Zeit im Recht wiederum zwei Aspekte zu unterscheiden: Zeit im Tatbestand und Zeit in der Rechtsfolge eines Rechtssatzes. I I . Zeit im Tatbestand 1. Bezugsintervall

des Tatbestands

Das Bezugsintervall (des Tatbestands) eines Rechtssatzes ist das Zeitintervall, auf das sich der Tatbestand dieses Satzes bezieht. Man denke etwa an einen Rechtssatz, der sich in seinem Tatbestand auf Personen bezieht, deren Einkommen im Laufe des Jahres 1988 mehr als eine 1

Karl Engisch: Vom Weltbild des Juristen, Heidelberg 1950, 69. Gerhard Wielinger: Die Zeit als Rahmen der Existenz und als Inhalt von Rechtsvorschriften, in: Günther Winkler/Bernd Schilcher (Gesamtredaktion): Gesetzgebung, Wien/New York 1981, 154 - 166, hier 161 und 165. 2

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Rafael Hernandez Marin

Million Mark betrug. Das Bezugsintervall dieses Satzes ist das Jahr 1988; es beginnt also am 1. Januar 1988 und endet am 31. Dezember 1988. 2. Bezugsintervall

und Geltungsintervall

Das Bezugsintervall eines Rechtssatzes ist nicht sein Geltungsintervall. Im obigen Beispiel wurde von einem Rechtssatz gesprochen, dessen Bezugsintervall das Jahr 1988 ist. Damit ist aber nichts ausgesagt über das Geltungsintervall des Rechtssatzes. Es ist nicht gesagt, in welcher Zeit der Satz dem Recht angehört: ob er ihm heute - 1988 - angehört, vor 10 Jahren angehörte oder in 10 Jahren angehören wird. Geltungsintervall

Bezugsintervalle

9 10 11 12 13 Abb. 1

Die vorstehende Abbildung (Abb. 1) zeigt einige der Beziehungen, die sich zwischen Bezugsintervall und Geltungsintervall eines Rechtssatzes ergeben können. Hier einige Beispiele: Fall 1 stellt diejenigen Rechtssätze dar, deren Bezugsintervall vor Beginn des Geltungsintervalls beginnt und endet. Dies wäre etwa der Fall bei einem Satz, dessen Geltungsintervall heute beginnt und der sich in seinem Tatbestand auf diejenigen bezieht, die im vergangenen Jahr einen Kredit aufgenommen haben. Das Bezugsintervall dieses Satzes ist das vergangene Jahr; es

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beginnt also am 1. Januar und endet am 31. Dezember des vergangenen Jahres. Da gesagt wurde, daß das Geltungsintervall dieses Satzes heute beginnt, wäre dies ein Satz, dessen Bezugsintervall vor Beginn seines Geltungsintervalls beginnt und endet. Fall 9 zeigt Rechtssätze, deren Bezugsintervall nach Beginn des Geltungsintervalls beginnt und vor Ende des Geltungsintervalls endet. Man denke hier an einen Satz, dessen Geltungsintervall heute beginnt und der sich in seinem Tatbestand auf Firmen bezieht, die im Laufe des kommenden Jahres Personen unter 25 Jahren einstellen. Das Bezugsintervall dieses Satzes ist das kommende Jahr; es beginnt also am 1. Januar und endet am 31. Dezember des kommenden Jahres. Folglich liegen sowohl Beginn wie Ende des Bezugsintervalls nach dem Beginn des Geltungsintervalls, welcher heute ist. Nimmt man zudem an, daß dieser Satz, dessen Geltungsintervall - dessen Zugehörigkeit zum Recht - heute beginnt, bis nach dem 31. Dezember des kommenden Jahres zum Recht gehören wird, dann hat man zugleich einen Satz, dessen Geltungsintervall nach dem Ende des Bezugsintervalls endet. Der letzte Fall der Abbildung ist der Fall von Rechtssätzen, deren Bezugsintervall nach dem Ende des Geltungsintervalls beginnt und endet. Man denke an den Satz des vorigen Beispiels, dessen Geltungsintervall heute beginnt und der sich in seinem Tatbestand auf Firmen bezieht, die während des kommenden Jahres Personen unter 25 Jahren einstellen. Auch diesmal sei das Bezugsintervall das kommende Jahr, so daß Beginn (1. Januar des kommenden Jahres) und Ende (31. Dezember des kommenden Jahres) des Bezugsintervalls nach dem Beginn des Geltungsintervalles liegen. Man nehme aber jetzt an, daß dieser Satz, dessen Geltungsintervall, also dessen Zugehörigkeit zum Recht, heute beginnt, vor dem 1. Januar des kommenden Jahres widerrufen wird. Dann würde der Fall eintreten, daß der Satz vor dem 1. Januar des kommenden Jahres aufhört, zum Recht zu gehören, daß also das Geltungsintervall des Satzes vor dem 1. Januar des kommenden Jahres endet. Folglich wäre dies ein Satz, dessen Geltungsintervall vor Beginn seines Bezugsintervalls endet. Die Abbildung zeigt nicht alle möglichen Beziehungen, die zwischen dem Geltungsintervall und dem Bezugsintervall eines Rechtssatzes auftreten können. So sind etwa in der Abbildung nur Sätze dargestellt, deren Bezugsintervall zusammenhängend ist. Es gibt jedoch auch Rechtssätze, deren Bezugsintervall unzusammenhängend ist. Man denke etwa an einen Rechtssatz, der sagt: „ I n den Wintermonaten schließen die Cafés um 24 Uhr." Das Bezugsintervall dieses Satzes bilden die Wintermonate jedes Jahres. Dieses Zeitintervall ist nicht zusammenhängend.

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3. Rechtssätze ohne Angabe des Bezugsintervalls Die Mehrheit der Rechtssätze gibt in ihrem Tatbestand kein bestimmtes Zeitintervall - eben das Bezugsintervall - an. Es sind diesbezüglich drei Arten von Rechtssätzen zu unterscheiden: solche, die lediglich das Ende des Bezugsintervalls nennen; solche, die lediglich den Beginn des Bezugsintervalls nennen; und solche, die weder Beginn noch Ende des Bezugsintervalls festlegen. Die Interpretation solcher Sätze erlaubt es jedoch, das Element bzw. die Elemente des Bezugsintervalls, die in dem Satz nicht explizit ausgedrückt sind, zu bestimmen. Man nehme zum Beispiel einen Rechtssatz, dessen Geltungsintervall heute beginnt und der sich in seinem Tatbestand auf diejenigen Prozesse bezieht, die vor dem ersten Tag des laufenden Jahres begonnen wurden, also auf alle die Prozesse, die in einem Zeitintervall begonnen wurden, das am 31. Dezember des vergangenen Jahres endet. Dieser Satz nennt explizit nur das Ende seines Bezugsintervalls (den 31. Dezember des vergangenen Jahres); er sagt dagegen nichts über den Beginn des Intervalls. Was wäre dann dieser Beginn? Meines Erachtens kann man in solchen Fällen dem Bezugsintervall keinen Beginn keinen Anfangszeitpunkt - zuschreiben. Ich denke, daß jeder Anfangszeitpunkt, den man nennen würde, willkürlich wäre. Anders ausgedrückt scheint es so, als ob sich der Satz des Beispiels auf alle Prozesse bezieht, die irgendwann vor dem 1. Januar des laufenden Jahres begonnen wurden, sei es vor zwei, vor einhundert oder vor tausend Jahren. In solchen Fällen verliert sich der Beginn des Bezugsintervalls sozusagen in der Vergangenheit. I I I . Zeit in der Rechtsfolge 1. Wirkungszeit Auch in ihren Rechtsfolgen geben Rechtssätze zeitliche Bezüge vor. Ich werde den Zeitpunkt bzw. das Zeitintervall, worauf sich die Rechtsfolge eines Rechtssatzes bezieht, die Wirkungszeit des Satzes nennen. Wie im folgenden zu sehen sein wird, ist es möglich, daß die Wirkungszeit nicht mit dem Bezugsintervall des Tatbestandes zusammenfällt. 2. Rechtssätze mit fester Zeitspanne als Wirkungszeit Die Wirkungszeit eines Rechtssatzes kann eine feste Zeitspanne - ein bestimmter Zeitpunkt oder ein bestimmtes Intervall - sein. Man betrachte beispielsweise einen Rechtssatz, der sich in seinem Tatbestand auf diejenigen Personen bezieht, die im Laufe des vergangenen Jahres

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ein Einkommen von mehr als einer Million Mark hatten. Die Rechtsfolge des Satzes könnte etwa festlegen, daß diese Personen (auf die sich der Tatbestand bezieht) ihre Einkommenserklärung im Juni des laufenden Jahres vorlegen müssen. Wie man sieht, ist in diesem Fall die Wirkungszeit eine feste Zeitspanne, nämlich der Monat Juni des laufenden Jahres. (Ebenfalls kann man sehen, daß in dem Beispiel die Zeit, auf die sich die Rechtsfolge bezieht, also die Wirkungszeit, nämlich der Monat Juni des laufenden Jahres, nicht einmal teilweise mit der Zeit zusammenfällt, auf die sich der Tatbestand bezieht, d. h. mit dem Bezugsintervall, welches nämlich das vergangene Jahr ist.) 3. Rechtssätze mit variabler Zeitspanne als Wirkungszeit Manche Rechtssätze legen als Wirkungszeit eine variable Zeitspanne fest, die von einem anderen Zeitpunkt oder Intervall abhängt. 3.1. Rechtssätze, deren Wirkungszeit von dem Zeitpunkt abhängt, in dem der im Tatbestand genannte Fall eintritt. Man betrachte den Satz: Falls im Vertrag nicht anders festgelegt, muß der Käufer den Kaufpreis in dem Moment zahlen, in dem die Übergabe der verkauften Sache stattfindet.

Der Sinn dieses Satzes - der Art. 1500, § 2 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuchs entspricht - ist der folgende: Falls im Vertrag der Zeitpunkt nicht festgelegt ist, in dem der Käufer den Kaufpreis zahlen muß, dann muß, wenn die Übergabe der verkauften Sache im Zeitpunkt t stattfindet (der zu einem Bezugsintervall I gehört), der Käufer den Kaufpreis in diesem Zeitpunkt t zahlen.

Wie man sieht, ist in diesem Satz die Wirkungszeit a) variabel, b) abhängig von dem Zeitpunkt, in dem der im Tatbestand genannte Fall eintritt, und c) mit dem Zeitpunkt identisch, in dem der im Tatbestand genannte Fall eintritt. 3.2. Rechtssätze, deren Wirkungszeit nicht von dem Zeitpunkt abhängt, in dem der im Tatbestand genannte Fall eintritt. Man betrachte den Satz: Der Käufer ist verpflichtet, den Kaufpreis in dem im Kaufvertrag festgelegten Zeitpunkt zu zahlen.

Der Sinn dieses Satzes - der Art. 1500, § 1 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuchs entspricht - ist der folgende: Falls in einem Kaufvertrag, der in einem Zeitpunkt t abgeschlossen wird (der zu einem Bezugsintervall I gehört), festgelegt wird, daß der Käufer den Kaufpreis in

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Rafael Hernandez Man einem Zeitpunkt ti zahlen muß, dann muß der Käufer den Kaufpreis in diesem Zeitpunkt ti zahlen.

Wie man sieht, ist in diesem Beispiel die Wirkungszeit ein variabler Zeitpunkt, der nicht von dem Zeitpunkt abhängt, in dem der im Tatbestand genannte Fall eintritt, das heißt, sie hängt (im vorliegenden Beispiel) nicht von dem Zeitpunkt ab, in dem der Kaufvertrag abgeschlossen wird; sie hängt von dem ab, was in einem bestimmten Dokument - genauer: in dem betreffenden Kaufvertrag - festgelegt wurde. 4. Rechtssätze ohne Angabe der Wirkungszeit Die Mehrheit der Rechtssätze gibt in ihrer Rechtsfolge die Wirkungszeit nicht explizit an. In diesen Fällen geht man davon aus, daß die Wirkungszeit ein variabler Zeitpunkt ist, der von dem Zeitpunkt abhängt, in dem der im Tatbestand genannte Fall eintritt. Es ist dabei möglich, daß die Wirkungszeit vor dem Zeitpunkt liegt, in dem der im Tatbestand genannte Fall eintritt, wie etwa in dem folgenden Satz: Derjenige, der zur Übergabe einer Sache verpflichtet ist, ist auch dazu verpflichtet, sie mit der Sorgfalt eines guten Familienvaters zu behandeln.

Der Sinn dieses Satzes (der dem Inhalt von Art. 1094 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches entspricht) ist ungefähr der folgende: Wenn χ (durch Gesetz, Erlaß o. ä.) verpflichtet ist, eine Sache ζ in einem Zeitpunkt ti zu übergeben, und wenn t ein Zeitpunkt ist, der vor ti liegt, und wenn die Sache ζ in t in Besitz von χ ist, dann muß χ sie in t mit der Sorgfalt eines guten Familienvaters behandeln (oder, anders ausgedrückt: Wenn eine Person dazu verpflichtet ist, eine Sache in einem bestimmten Zeitpunkt zu übergeben, dann ist sie in jedem früheren Zeitpunkt, in dem die Sache in ihrem Besitz ist, verpflichtet, sie mit der Sorgfalt eines guten Familienvaters zu behandeln).

I V . Rückwirkung 1. Einleitung Eine alte Tradition brachte das Thema der Rückwirkung von Rechtssätzen mit dem Thema der erworbenen Rechte in Verbindung. Die Rechtstheorie und die Rechtspraxis haben jedoch im Laufe der Zeit die beiden Fragen getrennt, da man zu der Einsicht gelangte, daß das Thema der Rückwirkung von Rechtssätzen nicht immer Rechtssätze betrifft, die erworbene Rechte berühren (beeinträchtigen). Für das Thema der Rückwirkung ist charakteristisch, daß es dabei immer um zeitliche Fragen geht, unabhängig davon, ob erworbene Rechte berührt werden oder nicht. 3

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Diese zeitlichen Fragen können erst dann analysiert werden, wenn man über die erforderlichen analytischen Werkzeuge verfügt, nämlich über die weiter oben dargestellten Unterscheidungen: die Unterscheidung zwischen dem Recht in der Zeit und der Zeit im Recht auf der einen und die Unterscheidung zwischen Bezugsintervall und Wirkungszeit auf der anderen Seite. Hat man diese grundlegenden Präzisierungen vorgenommen, dann kann man sich umfassend mit dem Thema der Rückwirkung befassen und zunächst feststellen, daß dabei zwei unterschiedliche Phänomene zu unterscheiden sind: das der rückwirkenden Rechtssätze und das der Rechtssätze mit rückwirkender Wirkung. 2. Rückwirkende

Rechtssätze

2.1. Falsche Beschreibungen des Phänomens a) „Rückwirkendes Inkrafttreten" Das Phänomen der rückwirkenden Rechtssätze wird oft mit Hilfe einer Fiktion beschrieben. In rückwirkenden Rechtssätzen, so heißt es, wird fingiert, daß der Satz in einem Zeitpunkt in Kraft tritt, der vor dem Zeitpunkt seines tatsächlichen Inkrafttretens liegt. Der Rechtssatz wird zum Beispiel heute im Bundesanzeiger veröffentlicht; es wird aber (wenn er rückwirkend ist) so getan, als ob der Satz schon viel früher, vielleicht sogar zwanzig Jahre früher, in Kraft trat und zum Recht zu gehören begann. Aus diesem Grund spricht man bezüglich solcher Rechtssätze von „rückwirkendem Inkrafttreten". Dies ist jedoch ein schlechter Einstieg für eine Theorie. Eine Theorie, die bewußt auf einer Fiktion, also auf etwas Falschem und sogar auf einem Widerspruch, beruht, kann zu einem Fehler nach dem anderen führen (die nicht deswegen weniger Fehler sind, weil man sich ihrer bewußt ist). Das Schlimmste von allem ist, daß diese verwerfliche Fiktion 4 nicht nur von Verfassern von Lehrbüchern zur Theorie der Gesetzgebung empfohlen wird, 5 sondern sogar von vielen offiziellen Richtlinien zur Gesetzgebungstechnik.6 3 Vgl. in diesem Sinne Günter Kisker: Die Rückwirkung von Gesetzen, Tübingen 1963, 158 f.; Elmer A. Driedger: The Composition of Legislation, Ottawa 1977, 111 ff. 4 Vgl. auch kritisch Kisker, zit. Anm. 3, 9 (Anm. 4). 5 Driedger, zit. Anm. 3,175; Hanswerner Müller: Handbuch der Gesetzgebungstechnik, Köln u. a. 1963, 188 f.; Hans Schneider: Gesetzgebung, Heidelberg 1982, 266ff.; G. C. Thornton: Legislative Drafting, London 1979, 156. 6 Richtlinien der Gesetzestechnik 1976 (Schweiz), in: Winkler/Schilcher, zit. Anm. 2, 255 - 284, hier 271; Auszug aus der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien. Besonderer Teil (GGO II), in: Schneider, zit. Anm. 5, 347 - 377, hier 350; Richtlinien der Landesregierung (Baden-Württemberg) über die Vorbereitung und die formale Gestaltung von Rechtsvorschriften, in: ebd., 378 - 394, hier 1388.

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b) „Rückwirkende Anwendung" Gelegentlich greift man auch, um das Phänomen der rückwirkenden Rechtssätze zu beschreiben, auf den Begriff der Rechtsanwendung zurück. Man sagt also manchmal, daß ein rückwirkender Rechtssatz ein solcher ist, der auf Fälle angewandt wird, die eingetreten sind, bevor der Satz in Kraft trat. 7 Daher spricht man bezüglich solcher Rechtssätze von „rückwirkender Anwendung". 8 Das Phänomen der rückwirkenden Rechtssätze hat jedoch nichts mit der Anwendung des Rechts zu tun. Anders ausgedrückt: Die Tatsache, daß ein Rechtssatz rückwirkend ist, hängt nicht davon ab, daß der besagte Satz von Richtern angewandt wird; sie läßt sich unabhängig von der Anwendung des Satzes durch Richter und andere Rechtsprechungsorgane feststellen. 2.2. Richtige Beschreibung des Phänomens Die richtige Form, um rückwirkende Sätze zu beschreiben, ist die folgende: Ein rückwirkender Satz ist ein solcher, der sich in seinem Tatbestand auf Fälle bezieht, die vor Beginn seines Geltungsintervalls eingetreten sind. 9 Damit ein Rechtssatz (in einem höchst vagen Sinne) „zutrifft" auf vergangene Fälle, ist es nicht nötig, daß der Satz ein Rechtssatz der Vergangenheit wird (was sich außerdem durch eine Fiktion nicht erreichen läßt), und auch nicht, daß er auf vergangene Fälle angewandt wird (es könnte sein, daß er niemals angewandt wird). Es genügt, daß der Satz sich in seinem Tatbestand auf vergangene Fälle bezieht. Man kann auch auf die folgende Weise ausdrücken, was rückwirkende Sätze sind: Ein rückwirkender Satz ist ein solcher, bei dem der Beginn des Bezugsintervalls (seines Tatbestands) vor dem Beginn des Geltungsintervalls liegt. Die fünf ersten Fälle von Abb. 1 bilden rückwirkende Rechtssätze ab. Es sind zwei Klassen zu unterscheiden: völlig rückwirkende Sätze, bei denen das Ende des Bezugsintervalls vor oder gleichauf mit dem Beginn des Geltungsintervalls liegt (Fälle 1 und 2 der Abbildung); und partiell rückwirkende Sätze, bei denen das Bezugsintervall nach Beginn des Geltungsintervalls endet (Fälle 3, 4 und 5 der Abbildung).

7 So etwa Eugenio Bulygin: Time and Validity, in: Antonio A . Martino: Deontic Logic, Computational Linguistics and Legal Information Systems, Amsterdam u. a. 1982, 65 - 81, hier 69. 8 Dies ist die Terminologie von Kisker, zit. Anm. 3, 9 (Anm. 4) und 21. 9 Im gleichen Sinne Ota Weinberger: Rechtslogik, Wien/New York 1970, 240 f.; Kisker, zit. Anm. 3, 12 - 30.

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3. Rechtssätze mit rückwirkender

Wirkung

3.1. Einleitung Die Analyse rückwirkender Sätze ist, wie man gesehen hat, ziemlich einfach. Komplizierter ist zweifellos die Untersuchung von Sätzen mit rückwirkender Wirkung. Zunächst ist festzustellen, daß die Tatsache, daß ein Rechtssatz rückwirkend ist, wie wir gesehen haben, von dem Zeitpunkt abhängt, in dem das Bezugsintervall beginnt, also das Zeitintervall, auf das sich der Tatbestand bezieht. Die Tatsache, daß ein Satz rückwirkende Wirkung besitzt, hängt dagegen von der Wirkungszeit ab, also von dem Zeitpunkt, auf den sich die Rechtsfolge des Satzes bezieht. 3.2. Definitionen Wenn man sagt, ein Rechtssatz habe rückwirkende Wirkung, dann bedeutet dies, daß seine Wirkung sozusagen rückwärts eintritt, also in einem Zeitpunkt ti, der vor einem anderen Zeitpunkt t 2 liegt. Welches ist aber dieser andere Zeitpunkt t 2 ? Der Sprachgebrauch des Ausdrucks ,Rechtssatz mit rückwirkender Wirkung' erlaubt hier keine Präzisierung. Es scheint jedoch drei wichtige Zeitpunkte zu geben: 1. der Zeitpunkt, in dem der im Tatbestand des Satzes genannte Fall eintritt; 2. der Zeitpunkt des Beginns des Bezugsintervalls; 3. der Zeitpunkt des Beginns des Geltungsintervalls. Anscheinend läßt sich der Zeitpunkt t 2 mit jedem dieser drei Zeitpunkte identifizieren. Man hat folglich drei verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks ,Rechtssatz mit rückwirkender Wirkung' zu unterscheiden: Ein Rechtssatz hat rückwirkende Wirkung in der ersten Bedeutung dann und nur dann, wenn die Wirkungszeit vor dem Zeitpunkt liegt, in dem der im Sachverhalt des Satzes genannte Fall eintritt. Ein Rechtssatz hat rückwirkende Wirkung in der zweiten Bedeutung dann und nur dann, wenn die Wirkungszeit vor Beginn des Bezugsintervalls liegt. Ein Rechtssatz hat rückwirkende Wirkung in der dritten Bedeutung dann und nur dann, wenn die Wirkungszeit vor dem Beginn des Geltungsintervalles liegt.

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4. Rückwirkende mit rückwirkender

Rechtssätze und Rechtssätze Wirkung: Gegenüberstellung

Wie sich aus den vorstehenden Bemerkungen ergibt, sind drei verschiedene Phänomene mit der Bezeichnung ,Rechtssatz mit rückwirkender Wirkung 4 zu unterscheiden. Da die Phänomene verschieden sind, ist es möglich, daß ein Satz rückwirkende Wirkung in einer der drei Bedeutungen, nicht aber in den anderen beiden Bedeutungen besitzt. Es lassen sich leicht Beispiele finden, die die Bemerkung verdeutlichen. Ich werde die Beispiele jedoch zur Illustration eines anderen Umstandes aufsparen, nämlich der Tatsache, daß das Phänomen der rückwirkenden Sätze unabhängig ist von dem (bzw. denen) der Sätze mit rückwirkender Wirkung. Deutlicher ausgedrückt: Anhand einiger Beispiele wird sich zeigen, daß es möglich ist, daß ein Satz rückwirkend ist, ohne rückwirkende Wirkung in irgendeiner der drei Bedeutungen zu haben, und ebenso, daß ein Satz nicht rückwirkend ist und trotzdem in den drei Bedeutungen rückwirkende Wirkung hat. Beispiel 1: Man betrachte den Satz, dessen Geltungsintervall heute, am 7. Januar, beginnt und der festlegt, daß alle, die während des vergangenen Jahres ein Einkommen von mehr als einer Million Mark hatten, ihre Einkommenserklärung im Monat Juni des laufenden Jahres vorlegen müssen. Die folgende Abbildung (Abb. 2) verdeutlicht die verschiedenen zeitlichen Aspekte dieses Satzes: 7. 1. des laufenden Jahres

Geltungsintervall

1.1. des vergangenen Jahres

I

W

X—

Juni des 31. 12. des

Bezugsintervall

laufenden

vergangenen

Jahres

Jahres Abb. 2

Dieser Satz ist rückwirkend, da der Beginn des Bezugsintervalls (1. Januar des vergangenen Jahres) vor dem Beginn des Geltungsintervalls (7. Januar des laufenden Jahres) liegt; mehr noch, es handelt sich um einen völlig rückwirkenden Satz, da auch das Ende des Bezugsintervalls (31. Dezember des ver-

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gangenen Jahres) vor dem Beginn des Geltungsintervalls liegt. Der Satz hat jedoch keine rückwirkende Wirkung, und zwar in keiner der drei Bedeutungen: Als erstes nehme man an, eine Person ζ habe während des vergangenen Jahres, also etwa bis zu dem Zeitpunkt, der in Abb. 2 mit χ gekennzeichnet ist, ein Einkommen von mehr als einer Million Mark gehabt. Zu diesem Zeitpunkt erfüllt ζ den Tatbestand des Satzes. Die Wirkung des Satzes (also die Verpflichtung, seine Einkommenserklärung vorzulegen) entsteht für ζ aber zu einem Zeitpunkt bzw. in einem Zeitraum W (Juni des laufenden Jahres), der nicht vor (sondern nach) dem Zeitpunkt liegt, in dem ζ den Tatbestand erfüllt. Daher hat der Satz keine rückwirkende Wirkung in der ersten Bedeutung. Der Satz hat aber auch keine rückwirkende Wirkung in der zweiten Bedeutung, da die Wirkungszeit W nicht vor (sondern nach) dem Beginn des Bezugsintervalls liegt. Schließlich hat der Satz aus dem Beispiel auch keine rückwirkende Wirkung in der dritten Bedeutung, da die Wirkungszeit W nicht vor (sondern nach) dem Beginn des Geltungsintervalls liegt. Beispiel 2: Man betrachte den Satz, dessen Geltungsintervall heute, am 7. Januar, beginnt und der festlegt, daß alle, die in den Monaten Juni, Juli, August oder September des laufenden Jahres einen Universitätsabschluß erwerben, vom 1. Januar des laufenden Jahres an Beamte sind. Die folgende Abbildung (Abb. 3) illustriert die verschiedenen zeitlichen Aspekte dieses Satzes: 7. 1. des laufenden Jahres

Geltungsintervall

W 1. 1. des laufenden Jahres

1. 6. des

30. 9. des

laufenden

laufenden

Jahres

Jahres Abb. 3

Dieser Satz ist nicht rückwirkend, da der Beginn des Bezugsintervalls nicht vor (sondern nach) dem Beginn des Geltungsintervalls liegt. Der Satz hat jedoch rückwirkende Wirkung in allen drei Bedeutungen: 7 Garzón Valdés

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Rafael Hernandez Marin

Der Satz hat rückwirkende Wirkung in der ersten Bedeutung, da die Wirkungszeit W vor dem in Abb. 3 mit χ gekennzeichneten Zeitpunkt liegt, in dem eine Person den Tatbestand des Satzes erfüllen kann. Er hat auch rückwirkende Wirkung in der zweiten und in der dritten Bedeutung, da die Wirkungszeit W vor Beginn sowohl des Bezugs- als auch des Geltungsintervalls liegt.

Interner Standpunkt und Normativität des Rechts Von Juan Ramon de Pàramo Argüelles In einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz (Paramo 1988) habe ich die These vertreten, daß der normative Wert von Verfassungstexten von einer reflexiven Haltung abhängt, die aufrund einer Menge von Prämissen eingenommen wird, deren Inhalt zu einem Rechtfertigungsdiskurs moralischer Art gehören würde. Anders ausgedrückt: Wendet man eine Norm an, so setzt man voraus, daß diese Norm Prämisse eines Argumentes wäre, mit dem man eine Entscheidung rechtfertigen könnte, das heißt, die Anwendung einer Norm ist eine Haltung, die sich in einem praktischen Diskurs äußert. Der normative Wert der Verfassung hängt daher von einer Argumentation ab, in der es mehr darum geht, wie man sie auffaßt (was sie ist, wie sie vorschreibt), als darum, wie man ihre normativen Bestimmungen interpretiert (was sie sagt, was sie vorschreibt). Die Idee vom Vorrang der Verfassung etwa kann nicht Teil des Inhalts der normativen Verfassungsbestimmungen sein, sondern ergibt sich aus einem praktischen Diskurs, bei dem es um die Haltung der Person geht, die die Verfassung akzeptiert. Diese These gehört zu einer Rechtsauffassung, bei der das Recht als eine Form des praktischen Diskurses verstanden wird, was aber nicht impliziert, daß man damit bestreiten würde, daß das Recht auch ein soziales Faktum ist, nämlich eine gesellschaftliche Institution, die in einer Gemeinschaft Gewalt regelt und beschränkt. Das bedeutet, daß man das Recht nur dann verstehen kann, wenn man eine angemessene Theorie vorweisen kann, die seine Normativität - seine Fähigkeit, Handlungsgründe zu liefern - erklärt. Der Charakter solcher Gründe ist problematisch, vor allem dann, wenn wir weiterhin die positivistische These von der begrifflichen Trennung von Recht und Moral aufrechterhalten wollen. Im vorliegenden Aufsatz möchte ich den Begriff der rechtlichen Normativität bzw. Verbindlichkeit untersuchen und den normativen Gebrauch der Rechtssprache und ihre Vereinbarkeit mit der positivistischen These von der begrifflichen Trennung von Recht und Moral zu klären versuchen. Ich werde zu diesem Zweck einige klassische und neuere Modelle untersuchen, die hinsichtlich dieses Problems erstellt wurden. I. Im Rahmen seiner Analyse der Kelsenschen Theorie der Grundnorm stellt Raz zwei Arten bzw. Auffassungen von Normativität vor (Raz 1979, 134): i*

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gerechtfertigte Normativität, nach der die rechtlichen Verhaltensregeln dann und nur dann Normen sind, wenn sie gerechtfertigt sind (wobei sie aus ganz verschiedenen Gründen gerechtfertigt sein können, die von allgemeingültigen Gründen bis zu persönlichen Verpflichtungen reichen können); und soziale Normativität, nach der man rechtliche Verhaltensregeln unabhängig von ihrem moralischen Wert als Normen betrachten kann: Sie sind soziale Normen, wenn sie gesellschaftlich als verbindliche Standards unterstützt werden, das heißt, wenn die betreffende Gesellschaft Druck ausübt, damit die Adressaten der Regeln diese einhalten. Kann man traditionell die Vertreter des Naturrechtsgedankens der ersten Auffassung zuordnen („a legal system can be regarded as normative only by people considering it as just and endorsing its norms by accepting them as part of their own moral views"), so können die Vertreter einiger Richtungen des Rechtspositivismus - wie Hart - der zweiten zugeordnet werden („everyone should regard legal systems as normative regardless of his judgment about their merits"). Welche Art von Normativität vertritt Kelsen? Nach Raz - dessen Urteil ich teile - scheint Kelsen manchmal den Gedanken der sozialen Normativität abzulehnen, wenn er etwa zwischen subjektiven und objektiven Pflichten unterscheidet, um dann zu sagen, daß der Begriff der objektiven Pflicht den Gedanken der Rechtsnormen erklärt, oder wenn er zwischen objektiven und subjektiven Werturteilen unterscheidet, um den letzteren einen soziologischpsychologischen Charakter zuzuschreiben, der sich zu einer normativen Interpretation nicht eignet (Kelsen 1960, 224). Nach Kelsen läßt sich nur unter Zuhilfenahme des Begriffs der gerechtfertigten Normativität der tatsächliche Charakter von Rechtssystemen als normativen Systemen verstehen. Trotzdem behauptet Kelsen an anderer Stelle, daß Rechtsnormen objektiv sind, da sie gesellschaftliche Wirklichkeit widerspiegeln, das heißt, weil sie objektiv feststellbaren Tatsachen entsprechen, deren Bedeutung eine subjektive Pflicht ist (Kelsen 1960, 20 f.). Offenbar hat jede dieser beiden Auffassungen unterschiedliche, schwerwiegende theoretische und praktische Folgen. Akzeptiert man den Begriff der gerechtfertigten Normativität, dann gibt es keinen Unterschied zwischen der Normativität des Rechts und der Pflicht, ihm zu gehorchen. Eine gültige Rechtsnorm ist immer bindend. Akzeptiert man den Begriff der sozialen Normativität, dann ist die vorstehende Gleichsetzung falsch; aus der Tatsache, daß eine Norm gesellschaftlich akzeptiert ist, ergibt sich noch keine Gehorsamspflicht. Kelsen scheint die erste Möglichkeit zu vertreten, wenn er „Geltung" und Bindungskraft des Rechts gleichsetzt (Kelsen 1960, 196): „Daß eine sich auf das Verhalten eines Menschen beziehende Norm ,gilt\ bedeutet, daß sie verbindlich ist, daß sich der Mensch in der von der Norm bestimmten Weise verhalten soll." Die These Kelsens über die Rechtfertigung der Normativität des Rechts wird schon vorweggenommen durch die Voraussetzung des Begriffs der

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Grundnorm. Die Rechtfertigung der Grundnorm kann mit persönlichen moralischen Ansichten in Konflikt geraten, was aber nach Meinung Kelsens keinen normativen, sondern einen psychologischen Konflikt darstellt. Seine Theorie der Normativität impliziert - wenngleich er später diesen Gedanken differenzierte - , daß es unmöglich ist, daß Normen miteinander in Konflikt stehen, bzw., was das Gleiche ist, die notwendige Konsistenz gültiger Normen. Kelsen spricht vom Standpunkt einer „positiven Rechtswissenschaft" aus. Sein Diskurs setzt daher die Existenz einer Grundnorm voraus, obwohl diese nicht unbedingt für richtig gehalten werden muß. Die Reine Rechtslehre stellt keinerlei Vermutung oder Behauptung über die Haltung der Rechtssubjekte an, wie man sieht, wenn Kelsen etwa die Anerkennungstheorie zurückweist (Kelsen 1960, 225). Ein Rechtssystem existiert, wenn es wirksam ist. Das impliziert aber nicht, daß man es als moralisch richtig akzeptiert. Die Rechtswissenschaft beschreibt das Recht vom Standpunkt eines hypothetischen Juristen aus, der die Geltung der Grundnorm voraussetzt. Das Problem ist, daß Kelsen nicht unterscheidet zwischen der Rechtswissenschaft, die die Juristen betreiben, wenn sie über das Recht sprechen, und der Tätigkeit von Anwälten und Richtern, die das Recht benutzen. Aus diesem Grund sind die „Rechtssätze" von Kelsen „Soll-Sätze" in deskriptivem Sinn. Die Rechtswissenschaft setzt die Grundnorm nicht so voraus, wie es diejenigen tun können, die das Recht benutzen - nämlich, indem sie sie als richtig akzeptieren - , sondern in ihrem speziellen, professionellen und nicht engagierten Sinn. Wie Bulygin (1981) bemerkt hat, ging es Kelsen nicht um die Sprache der Praktiker (Richter, Anwälte) - im Gegensatz zu Hart, wie dessen These von den internen Aussagen zeigt. Sein Begriff der gerechtfertigten Normativität erklärt nur einen professionellen Gebrauch des normativen Rechtsbegriffs, nicht aber Rechtsverbindlichkeit, verstanden als Grund für bestimmtes Verhalten.

IL Es wurde gesagt, daß man institutionalisierte normative Systeme von zwei verschiedenen Standpunkten aus analysieren kann: einerseits führen sie zu Verhaltensregelmäßigkeiten, die durch Interessen und Kalküle der Klugheit bestimmt werden; andererseits werden diese Regelmäßigkeiten „von Individuen auch als verbindliche Standards oder Regeln beziehungsweise Normen im engeren Sinne vorgestellt" (Kliemt 1985, 204). Man pflegt daher zu unterscheiden zwischen „externen" Dispositionen, die sich aus einem Interessenkalkül ergeben, und „internen" Dispositionen, die aus der Anerkennung von Regeln bzw. Normen entstehen. Benutzt man diese Unterscheidung, so lassen sich zwei unterschiedliche Sichtweisen des normativen Aspekts sozialer Institutionen darstellen. Die einen erklären die Institutionen durch interessenrele-

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vante Verhaltensregelmäßigkeiten, so daß ein reguläres Verhalten obligatorisch wird, weil eine andere Verhaltensregelmäßigkeit bzw. -disposition besteht, die abweichendes Verhalten unter Sanktion stellt. Beispiele für diese These finden sich bei Hobbes, Bentham, Austin und im allgemeinen bei allen „vorhersagenden" Versionen der Pflichttheorie. Das vorhersagende Modell von der Rechtspflicht stellt eine vorhersagbare Beziehung zwischen menschlichem Handeln und institutionalisierten Sanktionen her. Der andere Ansatz dagegen sagt, daß das Normative - das Gebotene oder Verbotene, das Erlaubte oder Fakultative, über das Normen etwas aussagen - mehr ist als die bloße Vorhersage negativer Folgen aus abweichendem Verhalten: es gehört, vom internen Standpunkt aus betrachtet, zu den Handlungsgründen dessen, der eine Regel akzeptiert. Von diesem Standpunkt aus sind Rechtssysteme institutionalisierte Normensysteme und nicht einfach Zwangssysteme. Austin betrachtete den Zwang als ein wesentliches Element seiner Rechtstheorie; er definierte Recht als Gebot (command) des Souveräns (Austin 1954). Die umfassendste Kritik an seinem auf Zwang beruhenden Modell kommt von Hart, der in seinem Hauptwerk eine ganze Reihe analytischer Einwände vorbringt (Hart 1961). Hart macht das Modell, welches das Recht als von Drohungen unterstützte Befehle auffaßt, zur Hauptzielscheibe seiner Kritik, wobei er den Gedanken betont, daß Rechtsnormen viel eher als institutionell akzeptierte Regeln denn als Zwangsbefehle zu betrachten sind. Die Imperati v-Theorie von Austin impliziert, daß Rechtssysteme im wesentlichen auf Zwang gründen. Die Theorie von Hart besteht - wie die Kelsens in diesem Punkt - darauf, daß sie normativ sind, und um dies zu erklären, ersetzt sie den Begriff des „Gebots" des Souveräns durch den der „anerkannten Regel". Der Schlüssel zu dieser Auffassung liegt in der „internen" Haltung, die bestimmte Subjekte dem Recht entgegenbringen, so daß Regeln als Anleitung zum Handeln und als Wertmaßstab für fremdes Verhalten dargestellt werden. Für Hart ist die notwendige Bedingung für die Existenz von Rechtssystemen eine bestimmte Art von Haltungen gegenüber den Regeln, insbesondere die Anerkennung der Regeln seitens eines Teils der Richter und Beamten. Der Begriff der Regel impliziert eine andere normative Haltung als einfach Furcht vor Strafe. Der Unterschied ist der gleiche wie der zwischen dieser Auffassung von Rechtssystemen und derjenigen von den normativen Systemen der von Drohungen unterstützten Befehle. Trotz der Kritik von Hart könnte man sich aber fragen, ob nicht auch in dem Modell von Austin bei denen, die souverän sind, eine ähnliche normative Haltung vorausgesetzt ist, auch wenn der Begriff der Regel nicht benutzt wird. Dies wurde von Soper (1984) sehr gut dargestellt, der sagt, daß das Modell von Hart den impliziten Voraussetzungen der Theorie von Austin nichts hinzufügt. Die von Austin vorgeschlagene Definition - nicht Beschreibung - des Rechts faßt zwar den Zwang als ihr Hauptelement auf, ist aber nicht unvereinbar mit der Annahme, daß es eine gewisse Haltung der Akzeptanz bei einigen qualifizierten Mitgliedern des Systems

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gibt. Um das auf Zwang gestützte Modell zu kritisieren, muß man die Normativität des Rechts zum grundlegenden Merkmal von Rechtssystemen erklären, das sie von der einfachen Ausübung organisierter Gewalt unterscheidet. „Genötigt zu sein" (to be obliged ) durch von Drohungen gestützte Befehle ist für Hart etwas anderes als „verpflichtet zu sein" (to have an obligation), ein Verhalten Regeln anzupassen, denen es unterliegt, und dieser Unterschied wird von ihm als einer der Schlüssel zu dem Problem dargestellt. Was bedeutet es aber, wenn man sagt, A ist rechtlich verpflichtet? Worauf beruht die Verbindlichkeit von Rechtsnormen? Wenn man sagt, die Rechtsverbindlichkeit beruht auf der Anerkennung der Regeln, und diese Anerkennung hat keine deskriptive Bedeutung - im Sinne der Vorhersage eines zukünftigen Schadens im Falle der Nichtbefolgung - , setzt man dann rechtliche Verpflichtung mit moralischer Verbindlichkeit gleich oder sagt man, daß die rechtliche Verpflichtung einen anderen Status hat? Und was könnte dieser Status sein? Hart glaubt, daß die Rechtspflicht ein eigenständiger Begriff ist und daß es möglich ist, von der Normativität des Rechts zu sprechen und gleichzeitig die These von der begrifflichen Trennung von Recht und Moral aufrechtzuerhalten. Seine These wurde in zwei Schritten erarbeitet. Zunächst der Vorschlag, den er in The Concept of Law auf der Grundlage seiner Unterscheidung von „internen" und „externen" Aussagen vertritt. Dann eine differenziertere Version, die er in seiner Arbeit über Bentham vorstellt und die zwar seine frühere Fassung korrigiert und differenziert, die aber den Kern seines Vorschlags beibehält (Hart 1982, Kap. V I und X). In The Concept of Law unterstreicht Hart die Bedeutung der internen Aussagen für die Analyse des Rechts. Der größte Teil der Aussagen über das Recht, die von Bürgern, Anwälten, Richtern, Polizisten, Professoren und Studenten der Rechtswissenschaft gemacht werden, sind interne Aussagen: also solche, die das Recht benutzen, indem sie es als Maßstab einsetzen, mit dessen Hilfe Verhalten bewertet, geleitet oder kritisiert wird. Es sind im starken Sinne normative Aussagen, da sie eine Anerkennung von Regeln ausdrücken. Eine Norm wird implizit unterstützt, wenn sie regelmäßig benutzt wird, um jene Handlungen zu leiten, zu bewerten oder zu kritisieren, auf die sich die Norm selbst bezieht. Dagegen sind „externe" Aussagen über das Recht Aussagen über Praktiken und Handlungen von Personen, über ihre Haltungen und Überzeugungen bezüglich des Rechts. Vom externen Standpunkt aus gemachte Aussagen können ihrerseits von zweierlei Art sein. Der Beobachter kann sich, ohne selbst die Regeln zu akzeptieren, darauf beziehen, wie die Mitglieder der Gruppe die Regeln vom internen Standpunkt aus betrachten. Er kann aber auch beobachtbare Verhaltensregelmäßigkeiten feststellen, die die Übereinstimmung mit den Regeln ausdrücken, ebenso wie zusätzliche Regelmäßigkeiten, die in Form von Tadel oder Strafe abweichendem Verhalten entgegengesetzt werden. Es ist wichtig, sich klar zu machen, daß bei Hart

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der Begriff der Anerkennung oder Unterstützung einer Norm keine moralische Zustimmung impliziert. Ein Subjekt kann eine Norm aus anderen Gründen als aus moralischer Zustimmung unterstützen. Die bindende Kraft gültiger Normen ist nicht notwendigerweise mit moralischer Verbindlichkeit gleichzusetzen. Die Bedeutung interner Aussagen ergibt sich aus der These über die Gültigkeit von Rechtssystemen. Ein Rechtssystem existiert in einer bestimmten Gemeinschaft, wenn die Haltung der Anerkennung bei der Mehrheit der Beamten des Systems gegeben ist. Diese Anerkennung äußert sich typischerweise im Gebrauch interner Aussagen. Hart modifizierte diese Position, als er bemerkte, daß er damit den Gebrauch der normativen Sprache auf diejenigen Subjekte beschränkte, die tatsächlich von der Geltung der Rechtsregeln überzeugt sind. In Anlehnung an Kelsen und Raz (Raz 1979, Kap. 7 und 8) erkannte Hart eine dritte Art von rechtlichen Aussagen an, die sich von internen und externen Aussagen unterscheiden. Die entsprechende These befindet sich in seinem Werk über Bentham, insbesondere in den Kapiteln 6 und 10 (Hart 1982). Ich werde sie im folgenden darstellen. Das Hauptproblem der Imperativ-Theorie des Rechts, so wie sie von Austin und Bentham dargestellt wurde, liegt darin, daß sie keine angemessene Theorie der Rechtspflicht auf der Basis von Geboten und Gehorsamsgewohnheiten bieten kann. Wenn man sagt, jemand habe eine Rechtspflicht, etwas zu tun oder zu lassen, so impliziert das nicht einfach eine Aussage über das Recht das heißt, daß eine Regel existiert, die ein bestimmtes Verhalten fordert - , sondern eine Aussage, die das entsprechende Verhalten von dem Standpunkt aus betrachtet, den zumindest die Richter des Rechtssystems einnehmen, die das Recht zur Anleitung, Bewertung und Kritik von Verhalten akzeptieren. Solche Aussagen sind normativ, und sie stellen die häufigste Art und Weise von Aussagen über den Inhalt des Rechts neben der anderen Art der deskriptiven Aussagen über das Recht dar. Es sind normative Aussagen, die jedoch nicht mit moralischen Aussagen verwechselt werden dürfen. Aussagen, die bestimmten Personen bestimmte juristische Rechte oder Pflichten zuschreiben, stehen nicht in Widerspruch mit Aussagen, die behaupten, daß es keine moralische Verpflichtung gibt, das zu tun, was das Recht verlangt. So schließt Hart: „The natural inference to draw from these facts is that legal and moral rights and duties are not necessarily related, that normative statements of law are not as such forms of moral judgement, and that the expressions ,right', ,duty\ and ,obligation' have different meanings though they may share certain common features in legal and moral contexts." (Hart 1982, 146 f.)

Nachdem er die These von Dworkin über die begriffliche Einheit von rechtlichen und moralischen Pflichten kritisiert hatte, befaßte sich Hart mit der

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Theorie von Raz über Normativität, verstanden als Handlungsgrund (Raz 1975, 123 - 129, 146 ff., 162 - 177; 1979, Kap. 8; 1980, Postscript). Während die Theorie von Dworkin die Ähnlichkeit der Bedeutung von Rechten und Pflichten in juristischen und moralischen Zusammenhängen der Tatsache zuschreibt, daß es implizite Prinzipien - verstanden als objektive moralische Tatsachen - gibt, die die Rechtssysteme rechtfertigen, führt Raz dies auf andere Gründe zurück. Raz schlägt zwei wichtige Unterscheidungen vor: die erste zwischen „engagierten" (committed) und „neutralen" oder unparteiischen (detached) normativen Aussagen; die zweite zwischen der Möglichkeit, den Rechtsgehorsam moralisch zu rechtfertigen, und der - falschen oder richtigen - Überzeugung davon, daß das Recht selbst moralisch zu rechtfertigen sei. Die erste Unterscheidung bezieht sich auf ein wichtiges Merkmal des moralischen Diskurses: Dabei können normative Aussagen sowohl von denen gemacht werden, die die betreffenden Prinzipien als Verhaltensrichtlinien und Bewertungsmaßstäbe anerkennen, als auch von denen, die sie nicht anerkennen. Erstere wären dann normativ engagierte Aussagen („Ich soll Kraftfahrzeugsteuer zahlen."), während letztere zwar vom Standpunkt dessen gemacht werden, der sie als Maßstäbe akzeptiert, aber ohne daß der, der sie ausspricht, sie wirklich anerkennt. Ein Subjekt kann also etwa zu einem Vegetarier sagen: „ D u sollst kein Fleich essen!" Diese Aussage wird vom Standpunkt einer Person gemacht, die die vegetarische Diät akzeptiert, auch wenn das Subjekt, das die Aussage tut, diesen Standpunkt vielleicht nicht teilt. Wichtig ist, daß es hier nicht einfach um eine Aussage über vegetarische Normen geht, sondern um eine Aussage des vegetarischen Normenkodex selbst, auch wenn der, der sie ausspricht, bezüglich ihres Inhalts nicht Partei bezieht. Es sind dies die typischen Kelsenschen Aussagen des Rechtstheoretikers, der das Recht normativ beschreiben kann, ohne von seiner Verbindlichkeit überzeugt zu sein. Der Gebrauch der normativen Sprache läßt sich also in drei Arten von Aussagen zusammenfassen: 1. Interne (committed) normative Aussagen: Sie drücken die Anerkennung der Regeln durch den aus, der die Aussage macht. 2. Gemäßigte externe Aussagen: Sie beschreiben die Tatsache, daß irgendwelche Personen den Regeln gegenüber eine anerkennende Haltung einnehmen. 3. Unparteiische (detached) Aussagen: Dies sind normative Aussagen vom Standpunkt dessen aus, der die Regeln anerkennt. Sie unterscheiden sich von den vorhergehenden, weil es keine Aussagen über die Überzeugungen oder Haltungen derjenigen sind, die die Regeln anerkennen, sondern echte normative Aussagen, auch wenn der, der sie macht, den Standpunkt der wirklich engagierten Personen nicht teilen muß. Es sind nicht-engagierte normative Aussagen.

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Akzeptiert man diese Unterscheidung, dann kann man die These vertreten, daß es möglich ist, normative Rechtssätze zu formulieren, ohne damit irgendein Engagement hinsichtlich ihrer Rechtfertigung zu implizieren. Ich werde weiter unten auf diese Unterscheidung zurückkommen, insbesondere um zu sehen, ob sie die These von der begrifflichen Trennung von rechtlichen und moralischen Pflichten stützen kann, vorausgesetzt, der Begriff „Pflicht" erhält einen normativen und nicht bloß deskriptiven Gehalt. Die zweite von Hart behandelte Unterscheidung ist die zwischen der tatsächlichen Möglichkeit, den Rechtsgehorsams zu rechtfertigen, und der falschen oder richtigen Überzeugung davon, daß er moralisch zu rechtfertigen ist. Diese Unterscheidung spielt eine wichtige Rolle, wenn man die Bedingungen festlegen will, unter denen ein Rechtssystem als das Recht einer bestimmten Gesellschaft funktionieren kann. Nach Meinung von Raz ist die Überzeugung oder zumindest der Anschein der Überzeugung von der moralischen Rechtfertigung des Rechts von Seiten der Richter die einzige notwendige Bedingung für die Existenz des Rechts. Dies scheint der Theorie der Anerkennungsregel (rule of recognition) von Hart zu entsprechen. Während aber Hart meint, daß die Anerkennung dieser Regel letztlich eine faktische Frage ist eine institutionalisierte gesellschaftliche Praxis - , sagt die These von Raz, daß die normativen Aussagen, die von Richtern gemacht werden, wenn sie das Recht anwenden, moralische Kraft beanspruchen, da die Handlungsgründe, die mit dem Begriff der Pflicht impliziert werden, moralische Gründe sind. Die Anerkennung durch die Richter hat folglich ein moralisches Moment, das schwerlich mit der These von der begrifflichen Trennung von Recht und Moral vereinbar ist. Diese These von Raz ist Teil seiner allgemeinen Theorie der praktischen Vernunft im Sinne objektiver Handlungsgründe, nach der normative Sätze, die die Existenz von Pflichten behaupten, die Existenz solcher Gründe behaupten. Die These von Hart ist eine andere: Wenn man sagt, eine Person habe eine rechtliche Pflicht, in bestimmter Weise zu handeln, so bedeutet dies, daß man sagt, diese Handlung kann von ihr nach den Rechtsregeln oder -prinzipien, die solche Handlungsanforderungen regeln, verlangt werden. Wenn ein Richter in einer Fallentscheidung erklärt, daß eine Person eine Rechtspflicht hat, dann macht der Richter eine normativ engagierte Aussage, da er die Anerkennungsregel des Systems anerkennt, die den Erlaß einer Norm durch die gesetzgebende Gewalt als Kriterium für die Identifizierung der Regeln beinhaltet, die der Richter anwenden und für deren Befolgung er sorgen muß. Die Erfüllung der Geltungskriterien, die von der Anerkennungsregel des Systems festgesetzt sind, stellt für den Richter, der die Anerkennungsregel anerkennt, das dar, was Hart (1982, 160) einen „autoritativen Rechtsgrund" (authoritative legal reason) nennt. Ein solcher Grund hat nicht unbedingt ein moralisches Moment. Richter, die engagierte Aussagen über Rechtspflichten („interne"

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Aussagen) machen, müssen nicht unbedingt davon überzeugt sein oder den Anschein der Überzeugung erwecken, daß sie sich auf eine Art moralischer Pflicht beziehen. Im letzten Aufsatz seines Buches über Bentham untersucht Hart genauer seinen Begriff des „autoritativen Rechtsgrundes" als Erklärung des Gedankens der Anerkennung der Anerkennungsregel (Hart 1982, 243 ff.) und als Schlüssel zur Erklärung der Normativität des Rechts unter Aufrechterhaltung der These von der begrifflichen Trennung von Recht und Moral. Die Normativität liegt der Einnahme einer besonderen Art von normativer Haltung zugrunde, die charakteristisch ist für diejenigen, die das Recht handhaben, und die darin besteht, daß bestimmte Tatsachen anerkannt werden als „endgültige" {peremptory ) und „inhaltsunabhängige" (content-independent ) Handlungsgründe (Hart 1982, 253 ff.) Solange eine solche Haltung von vielen geteilt wird, haben entsprechende Ereignisse nicht nur natürliche, sondern auch normative Folgen. Die „autoritativen Rechtsgründe" bilden eine Unterklasse solcher Gründe. Sie sind inhaltsunabhängig in dem Sinne, daß weder die Natur noch die Kraft der Gründe von den Handlungen beeinflußt wird, deren Gründe sie sind. Die Anerkennung solcher Gründe hängt in keiner Weise von dem moralischen Wert der Handlungen ab. Andererseits sind sie „endgültige" Gründe in dem Sinne, daß sie positive Handlungsgründe sind und daß sie außerdem die eigenständige Abwägung der Vorzüge durch denjenigen, der sie in Betracht zieht, überflüssig machen. Wie Postema (1987, 86) sehr richtig bemerkt hat, setzt der Begriff der autoritativen Rechtsgründe die Vorstellung vom typisch institutionellen Charakter des Rechts voraus: Die Geltung von Rechtsnormen wird dadurch bestimmt, daß sie seitens gewisser primärer Institutionen, die mit der Interpretation und Anwendung der Normen des Systems beauftragt sind, aufgrund ihrer Beziehung zu irgendeiner anerkannten Quelle des Systems (Gesetzeserlaß, Verwaltungsvorschriften verschiedenen Ranges, Gewohnheit, Präzedenzfall usw.) anerkannt werden. Die Anerkennungsregel ist die letzte Geltungsquelle für alle Normen des Systems, und ihre Geltung drückt sich in gesellschaftlichen Praktiken bei der Identifizierung der Normen selbst aus. Diese gesellschaftlichen Praktiken haben eine normative Dimension, da sie gerade dann vorliegen, wenn es eine charakteristische normative Haltung derjenigen gibt, die das Recht handhaben, und zwar, daß sie die Anerkennungsregel als „endgültigen" und „inhaltsunabhängigen" Grund akzeptieren. Postema faßt die Theorie der Normativität von Hart in den folgenden vier Punkten zusammen: 1. Es ist eine notwendige Bedingung für die Existenz von Rechtssystemen, daß die Gerichte engagierte („interne") normative Sätze erlassen. „Unparteiische" (detached) Rechtssätze sind möglich, weil sie vom Standpunkt derjenigen aus gemacht werden, die normative Rechtssätze erlassen.

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2. Der Satz „ X hat die Rechtspflicht A " drückt, wenn er von einem Richter geäußert wird, einen engagierten (committed) Rechtssatz dann und nur dann aus, (a) wenn der Richter gemeinsam mit anderen Richtern des Rechtssystems die Anerkennungsregel R akzeptiert, die die Identifikationskriterien für die Normen des Systems definiert, die anzuwenden und für deren Einhaltung zu sorgen sie als Richter die Pflicht haben; (b) wenn es eine Regel L* gibt, die mittels R zu identifizieren ist; und (c) wenn L* die Schlußfolgerung „ X hat die Rechtspflicht A " erlaubt. 3. Sind die Bedingungen von Punkt 2. gegeben, dann stellt die Tatsache, daß L* die Geltungskriterien des Systems erfüllt, für den Richter einen autoritativen Rechtsgrund dafür dar, daß er sich an L* hält, das heißt, einen Grund, L* als Bewertungsmaßstab für das Verhalten aller Subjekte zu betrachten, die in seinen Bereich fallen, sowie für die Bestimmung der Anforderungen, die sich aus dem Inhalt von L* ergeben. 4. So bedeutet „ X hat die Rechtspflicht A " - sofern es einen engagierten Rechtssatz ausdrückt - , daß A von X zwangsweise verlangt werden kann, gemäß der Regeln, die derartige Anforderungen festlegen (Postema 1987, 87; Hart 1982, 160). Es ist zu beachten, daß engagierte Aussagen über Rechtspflichten keine engagierten moralischen Urteile implizieren. Das Vorliegen einer Überschneidung - daß der Richter denkt, X habe die moralische Pflicht A - ist kontingent, aber nicht notwendig. Der Grund, den der Richter hat, um sich an das Recht zu halten, ist ein endgültiger, inhaltsunabhängiger Grund. Er besteht aufgrund der Tatsache, daß L* die durch die Anerkennungsregel definierten Kriterien erfüllt, nicht aufgrund des moralischen Wertes von L*. Die Tatsache, daß L \ wenn es die Kriterien der Anerkennungsregel erfüllt, dem Richter einen Grund für die Anwendung von L* bietet, beruht darauf, daß der Richter - zusammen mit anderen Richtern des Rechtssystems - eine institutionalisierte Position innehat, von der aus Regeln, die der Anerkennungsregel genügen, als autoritative Rechtsgründe angesehen werden. Nach Hart sind die Gründe, die ein Richter dafür hat, daß er diese Haltung einnimmt, völlig unerheblich, ebenso wie die Frage, ob er an die moralische Legitimität einer solchen Haltung glaubt oder nicht. Die Existenz „unparteiischer" (detached) Rechtsurteile bzw. -sätze ist vereinbar mit der These der begrifflichen Trennung von Recht und Moral, da es sich um Sätze handelt, die vom Standpunkt dessen aus gebildet sind, der die Geltung der betreffenden Rechtsregeln anerkennt, ohne daß es aber notwendig wäre, daß derjenige, der den Satz äußert, diesen internen normativen Standpunkt selbst einnimmt. Wenn ein Anwalt seinem Klienten sagt, er habe die Rechtspflicht X , dann tut er dies in der Absicht zu informieren, ohne daß er unbedingt die normativen Grundlagen dieses Anspruchs teilen müßte. Die These von Hart über die Normativität von Rechtssätzen ist jedoch noch stär-

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ker: Engagierte Rechtssätze betrachten die Kriterien der rechtlichen Geltung als Grund für das Einhalten der Regeln, unabhängig von den persönlichen Gründen derjenigen, die sie äußern: „ . . . where the law is clearly settled and determinate, judges, in speaking of the subject's legal duty, may mean to speak in a technically confined way. They speak as judges, from within a legal institution which they are committed as judges to maintain, in order to draw attention to what by way of action is ,owed' by the subject, that is, may legally be demanded or exacted from him. Judges may combine with this, moral judgement and exhortation especially when they approve of the content of specific laws, but this is not a necessary implication of their statements of the subject's legal duty." (Hart 1982, 266)

Diese Art von Sätzen funktioniert demnach wie eine Art hypothetischer Imperativ: Wer sie äußert, sieht in den Rechtsregeln den Grund für ihre Anerkennung, ohne die Gründe zu berücksichtigen, welche die Adressaten für ihre Befolgung haben. Diese These unterscheidet sich sowohl von der Theorie, die behauptet, Rechtspflichten seien eine Art von moralischen Pflichten, als auch von derjenigen, nach der die Existenz von Rechtspflichten nur die richtige oder falsche Überzeugung voraussetzt, daß rechtlich Gefordertes moralisch verpflichtend ist. Die Vorstellung von einer Rechtsautorität erfordert für ihre Existenz nicht die Überzeugung von ihrer moralischen Legitimität, da der Begriff des autoritativen Rechtsgrundes im praktischen Diskurs dessen, der ihn berücksichtigt, eine eigenständige Rolle spielt, indem er als Handlungsgrund fungiert. Hart ist sich bewußt, daß seine These auf folgende Weise kritisiert werden kann: Ein Handlungsgrund muß sich, um als solcher dienen zu können, auf irgendeinen anderen, nicht-künstlichen Grund berufen, und die einzige Art von sonstigen Gründen, die zufriedenstellend erklären könnten, was Gerichte tun und sagen, impliziert notwendigerweise ihre Überzeugung von der moralischen Legitimität der Institution, die die Normen erzeugt, also des Gesetzgebers. Stellt man sich die Frage, warum Richter normative, gesetzliche Bestimmungen als Maßstäbe für ihr richterliches Verhalten und als Gründe dafür anerkennen, daß die von ihnen gesprochenen Urteile angewandt und ausgeführt werden, dann muß man offenbar auf eine allgemeine politisch-moralische Theorie des Begriffs der Legitimität und der Rechtfertigung politischer Systeme zurückgreifen. Geht es jedoch darum, daß Richter einsehbare Motive dafür haben müssen, daß sie sich verhalten, wie sie es tun, dann meint Hart, man könne darauf zufriedenstellend antworten, indem man auf Motive verweist, die nichts zu tun haben mit der Überzeugung von der moralischen Legitimität der Autorität, deren Bestimmungen von den Richtern als Recht identifiziert und angewandt werden. Die Richter könnten zum Beispiel ihre Anerkennung dadurch erklären bzw. rechtfertigen, daß sie einfach sagen, sie wollten „einer eingeführten Praxis folgen", die sie stillschweigend übernehmen, indem sie die gültigen Rechtsregeln anerkennen, wenn sie in ihrer Funktion

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als Richter handeln. Diese Art der richterlichen Anerkennung von Rechtsbestimmungen wird von Raz (1979, 155, Anm. 13) als eine schwache Form der Anerkennung charakterisiert. Raz besteht darauf, daß man entweder eine starke Version der Anerkennung benötigt, die die Überzeugung verlangt, daß es moralische Gründe dafür gibt, die gesetzlichen Bestimmungen anzuwenden und für ihre Einhaltung zu sorgen, oder zumindest, daß der Anschein einer solchen Überzeugung impliziert wird. Diese These betont erneut die Vorstellung, daß Richter, wenn sie engagierte Rechtssätze äußern, die Rechtspflichten implizieren, welche gegen die persönlichen Interessen ihrer Adressaten gerichtet sind, von der moralischen Legitimität der Autoritäten überzeugt sein müssen, die die normativen Bestimmungen erlassen, welche sie zu identifizieren und anzuwenden haben. Für Hart ist bekanntlich diese Beziehung nicht notwendig, sondern nur kontingent: Wenn Richter von Rechtspflichten sprechen, dann tun sie dies von einem „technischen" Standpunkt aus, der den Adressaten über diese Pflicht - die in den Regeln enthalten ist - sowie über die rechtlichen Folgen, die sich aus seinem Handeln ergeben, informiert. Hart hat in einem Interview für die spanische Zeitschrift Doxa (Nr. 5, 1988), in dem er den Begriff der Pflicht, wie er ihn in The Concept of Law definiert hatte, noch einmal modifiziert hat, erneut seinen autonomen Begriff der Rechtspflicht bekräftigt. Nach dem Urteil von Hart selbst lag der Fehler seiner ursprünglichen Analyse hauptsächlich darin, daß er behauptet hatte, alle Pflichten rührten aus gesellschaftlichen Regeln, die von der Mehrheit der Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe anerkannt und die als Handlungsrichtlinien und als Bewertungsmaßstäbe für abweichendes Verhalten interpretiert werden. Diese Vorstellung könne in einem System von primären Regeln funktionieren, nicht aber in komplexeren normativen Systemen, wie es die Rechtssysteme sind. In solchen Systemen gebe es Pflichten, die aus Regeln hervorgehen, welche die von der Anerkennungsregel definierten Geltungskriterien erfüllen, und diese Entstehung von Pflichten sei nicht mit dem Kriterium der gesellschaftlichen Anerkennung der Regeln zu erklären. Die Existenz von Regeln, die Pflichten auferlegen, hänge nicht einfach davon ab, daß sie faktisch durch sozialen Druck und eine allgemeine Forderung nach Einhaltung gestützt werden, sondern davon, daß mehrheitlich anerkannt wird, daß diese Regeln legitime Antworten des Systems auf mögliches abweichendes Verhalten darstellen. Das zentrale Element des Pflichtgedankens bestünde daher nun in der Vorstellung von einer legitimen Antwort auf abweichendes Verhalten, die sich in Forderungen und Druck zugunsten der Aufrechterhaltung konformen Verhaltens ausdrückt. Dies ist eine neue Ausdrucksweise für den internen Standpunkt derer, die die Regeln anerkennen, welche solche Antworten erlauben oder verlangen. Demnach existieren Rechtspflichten, wenn Forderungen nach konformem Verhalten und sozialer Druck durch positivrechtliche Regeln legitimiert sind, während die Existenz von moralischen Pflichten auf ihrer Legitimierung durch moralische Regeln bzw. Prinzipien

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beruht. Folglich wird erneut die Vorstellung unterstrichen, daß zwar das rechtlich Gebotene auch moralisch geboten sein kann und es oft tatsächlich ist, daß aber diese Beziehung weder notwendig noch logisch, sondern kontingent ist. Auf diese Weise kann, so Hart, eine Person eine Rechtspflicht besitzen, sich auf eine bestimmte Weise zu verhalten, auch wenn es keinen moralischen Grund dafür gibt und sogar gute moralische Gründe, genau das Gegenteil zu tun. Letzten Endes seien Rechtspflichten moralisch neutrale Pflichten. Die rechtliche Verbindlichkeit bzw. Normativität sei vom moralischen Standpunkt aus ein neutraler Begriff. Diese Schlußfolgerung ist im Kontext der Rechtstheorie von Hart sinnvoll, da für ihn der Zweck einer Theorie der Rechtspflicht - und der Rechtstheorie im allgemeinen - darin besteht, eine präzise Beschreibung einer spezifisch gearteten sozialen Institution zu geben, die im Laufe der Geschichte gewisse Konstanten aufweist. Ist man jedoch der Ansicht, die Rechtstheorie sei eine besondere Art von Moraltheorie, die sich mit der Frage befaßt, warum und unter welchen Bedingungen rechtlicher Zwang zu rechtfertigen ist, dann muß man offenbar die Autonomie der Rechtsverbindlichkeit ablehnen. Welches Problem ergibt sich nun aus der Wahl zwischen diesen beiden Alternativen? Was geschieht, wenn man zwischen einem autonomen, moralisch neutralen Begriff der Rechtspflicht und des internen Standpunkts auf der einen Seite und einer moralisch verbindlichen Version beider Begriffe auf der anderen Seite auswählt? Es scheint, daß es hierbei nicht nur um ein besonderes Problem innerhalb der Rechtstheorie geht, sondern um ein allgemeines Problem in Bezug auf die Rechtstheorie. Hat die Wahl einer der beiden Versionen der Rechtstheorie - der deskriptiven oder der normativen Version irgendwelche praktischen Folgen? Wendet man sich wieder dem besonderen Problem des Begriffs des „internen Standpunkts" zu und fragt man nach den praktischen Implikationen, die sich aus der begrifflichen Analyse ergeben, dann scheint man im Prinzip zu dem Schluß kommen zu müssen, daß Nominaldefinitionen - in diesem Fall also, daß man dem Begriff einen moralischen oder einen nicht-moralischen Inhalt gibt - keine praktische Bedeutung haben. Trotzdem handelt es sich bei dieser Diskussion nicht nur um die Frage einer einfachen Zuschreibung von Namen und Eigenschaften, sondern es scheint um verschiedene Arten von normativen Haltungen zu gehen, die Individuen gegenüber dem Recht einnehmen. Wenn man sagt, daß Rechtsnormen Handlungsgründe darstellen und daß Richter, wenn sie Urteilssprüche erlassen, Urteile normativer Zustimmung äußern (Nino 1985, 86 und 140), dann begibt man sich auf das Gebiet der politischen Theorie und der Diskussion über die Pflicht zum Rechtsgehorsam. Man kann nicht einfach entscheiden, daß es einen normativen Begriff gibt, der völlig vom Bereich der Moral abgekoppelt ist - wie der Gedanke vom internen Standpunkt als technisches Urteil über das Recht - , weil dies unsere Intuitionen über Pflichten und Verpflichtungen derart ändern würde, daß wir gezwungen wären, unsere eigene Spra-

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che und Kultur zu vergessen, um in diesem Fall etwa alle Bedeutungen damit zusammenhängender Begriffe zu ändern. Dies hat Soper sehr gut ausgedrückt: „Law has emotive force because it has already been connected with other concepts of practical reasoning in ways that we cannot alter without altering our existing moral vocabulary" (Soper 1986, 45). Wenn man sagt, es gebe Rechtspflichten, die normativ abgekoppelt sind vom Bereich der Moral, das heißt, wenn man einen moralisch neutralen, autonomen - und nicht einfach mit Gewalt gleichzusetzenden - Begriff von Normativität vertritt, dann verschleiert man das tatsächliche Problem der emotiven Kraft des Rechts, die dazu neigt, Reaktionen und Haltungen des Gehorsams hervorzurufen. Es ist gerade die emotive Kraft des Ausdrucks „rechtlich", die bewirkt, daß man nicht so schnell den Gedanken verwirft, die Rechtstheorie mit praktischen Problemen zu verbinden. Das Recht ist ein praktischer Begriff, ein Begriff, der sich immer seiner Hauptfunktion bewußt sein muß: das Verhalten von Richtern, Beamten und Bürgern zu leiten. Wodurch unterscheiden sich aber Rechtspflichten von einfachem Zwang? Warum kann man sagen, daß die Rechtspflicht normativ und verbindlich ist und nicht einfach ein Akt der Gewalt? Und wenn man diese besondere Normativität anerkennt, worin unterscheidet sie sich dann von der moralischen Normativität? Die Lösungen dieser Fragen hängen vom Standpunkt ab, den man hinsichtlich des Rechts einnimmt. Zu Beginn dieses Aufsatzes hatte ich darauf hingewiesen, daß es zwei Arten der Rechtsauffassung gibt: die eine betont das Recht als Zwangsform der gesellschaftlichen Organisation, während die andere die Rolle unterstreicht, die es im praktischen Diskurs und als Anleitung für menschliches Handeln spielt. Dies sind keine sich gegenseitig ausschließenden Überzeugungen, aber wer die erste teilt, vertritt in der Regel auch einen deskriptiven Rechtsbegriff, während die Verfechter der zweiten häufig einem normativen Begriff anhängen. Manchmal erreicht man mit mehr oder weniger großem Erfolg gleichgewichtige Versionen, wie die Theorie Harts vom „internen Standpunkt", die den normativen Gebrauch dieses Ausdrucks zu beschreiben und dabei seine deskriptive Bedeutung zu rekonstruieren versucht. Nino (1985, 185ff.) hat diese Alternative sehr klar herausgestellt, wobei er Argumente für und gegen jeden der Ansätze anbietet und sich für die Anerkennung mehrerer Rechtsbegriffe, je nach dem Kontext, in dem man sich bewegt, ausspricht. Wenn es in unserem Fall darum geht, die Rolle zu beleuchten, die die rechtliche Normativität in Argumentationszusammenhängen spielt, dann ist offenbar der Rechtsbegriff, den wir benutzen, wenn wir vom internen Standpunkt sprechen, der normative. Dies impliziert jedoch nicht die Ablehnung der These von der begrifflichen Trennung von Recht und Moral, wenn wir bestimmte formale und analytische Charakteristiken von Rechtssystemen zu bestimmen versuchen.

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Bibliographie Austin, John (1954): The Province of Jurisprudence Determined, New York. Bulygin, Eugenio (1981): Enunciados Juridicos y Positivismo: Respuesta a Raz, in: Anâlisis Filosofico 1 (1981) Nr. 2. Hart, H. L. A. (1961): The Concept of Law, Oxford. — (1982): Essays on Bentham, Oxford. — (1988): Interview für Doxa (Alicante) Nr. 5. Kelsen, Hans (1960): Reine Rechtslehre, Wien. Kliemt, Hartmut (1985): Moralische Institutionen, Freiburg/München. Nino, Carlos S. (1985): El enfoque esencialista del concepto de Derecho, in: ders., La validez del Derecho, Buenos Aires. Pâramo, Juan Ramon (1988): Razonamiento juridico e interpretación constitucional, in: Revista Espanola de Derecho Constitucional (Madrid) 8: 22 (Jan. - April). Postema, G. J. (1987): The Normativity of Law, in: R. Gavison (Hrsg.): Issues in Contemporary Legal Philosophy, Oxford. Raz, Joseph (1975): Practical Reasons and Norms, London. — (1979): The Authority of Law, Oxford. — (1980): The Concept of a Legal System, 2. Aufl., Oxford. Soper, P. H. (1984): A Theory of Law, Harvard Univ. Press. — (1986): Choosing a Legal Theory on Moral Grounds, in: Social Philosophy & Policy 4: 1.

8 Garzón Valdés

Das Prinzip der normativen Hierarchie Von Alfonso Ruiz Miguel I. Einführung Ich möchte in dieser Untersuchung folgende Frage behandeln: Worin liegt vom rechtlichen Standpunkt aus der Grund für das Prinzip der normativen Hierarchie, oder anders ausgedrückt, welches sind die rechtlichen Kriterien, anhand derer die Existenz einer hierarchischen Beziehung zwischen Rechtsnormen bestimmt wird? Mit der Einnahme des rechtlichen Standpunkts schließe ich historische, politische, funktionale und andere Gründe von der Untersuchung aus, die die Existenz von Rechtsordnungen, die ihre Normen in eine Hierarchie stellen, erklären könnten, und betrachte nur die wichtigsten der Kriterien, die von Juristen zur technischen Erklärung des Problems angeführt worden sind. Wenn sich auch die Analyse im Bereich der allgemeinen Rechtstheorie bewegen wird - und sie, da es um ein letztes Problem geht, mit der Rechtsphilosophie in engerer Verbindung stehen wird als mit der Rechtsdogmatik - , so folgt daraus doch nicht, daß hier beabsichtigt ist, so etwas wie das Wesen der normativen Hierarchiebeziehung zu entdecken, als ob eine solche Beziehung unabhängig wäre von dem, was Rechtsordnungen vorschreiben, die hierarchische Beziehungen zwischen ihren Normen herstellen. Die Frage, ob jede Rechtsordnung eine hierarchisch organisierte Struktur von Normen ist, wird hier nicht entschieden - ja, sie wird nicht einmal gestellt. Im Gegenteil soll vielmehr - ausgehend von der Analyse bestimmter Kriterien und Beispiele, von denen viele dem spanischen Recht entnommen sind - versucht werden, eine allgemeine Hypothese über den rechtlichen Grund für hierarchische Beziehungen in solchen Ordnungen zu rechtfertigen, die diese Beziehungen auf ähnliche Weise wie die spanische Rechtsordnung festlegen. 1 1 Rafael Hernândez Marin formuliert den Einwand, daß die von Kelsen und Merkl benutzten Kriterien für die Erklärung der normativen Hierarchie völlig willkürlich sind, und schließt damit, daß „die normative Hierarchie der Wiener Schule nicht existiert" und daß es „eine normative Hierarchie ebensowenig gibt wie die semantische Hierarchie" (vgl. Historia de la filosofia del derecho contemporànea, Madrid 1986,159 f. und 173 - 175); es handelt sich jedoch um einen unangebrachten Einwand, insofern man von der Rechtstheorie nicht erwarten kann, daß sie einen von aprioristischen Zügen geprägten Wesensbegriff des Rechts zur Verfügung stellt; außerdem handelt es sich um einen ungerechtfertigten Einwand gegen Merkl, der die allgemeine Theorie des Ver-

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Die Untersuchung umfaßt vier Teile: In den ersten drei Teilen werde ich verschiedene Gruppen von Kriterien analysieren, die gelegentlich benutzt worden sind, um die normative Hierarchie zu begründen, die aber nichts weiter sind als einfache - niemals notwendige und noch weniger hinreichende Auswirkungen und Ausdrucksformen einer solchen Hierarchie. Im vierten Teil werde ich schließlich das Kriterium vorschlagen, das mir selbst angemessen scheint für die rechtliche Erklärung der Existenz hierarchischer Beziehungen in komplexen Rechtsordnungen ähnlich der spanischen. II. Organ, Anwendbarkeit in Konfliktfällen und rechtliche Kontrolle Die Bedeutung des Prinzips der normativen Hierarchie wurde gelegentlich herzuleiten versucht durch Berufung auf das Organ der Normenschaffung. Nach diesem Kriterium ist eine Norm einer anderen hierarchisch übergeordnet (oder gleichgeordnet), weil das Organ, das sie geschaffen hat, von übergeordneter (oder gleichgeordneter) Art ist. 2 Vom rechtstheoretischen Standpunkt aus löst diese Berufung auf die Organe das Problem der normativen Hierarchie kaum, denn sie verlagert es nur auf die Bestimmung, warum ein Organ einem anderen rechtlich über- oder gleichgeordnet ist. Dieser Weg birgt zusätzlich die Versuchung zu sagen, wie dies Mer kl tat, 3 daß die Hierarchiebeziehung zwischen einem Organ und einer Norm genau die umgekehrte ist, daß nämlich ein Organ einem anderen übergeordnet ist, weil es eine übergeordnete normative Funktion oder Kompetenz besitzt. Läßt man die Beziehung zwischen Hierarchie und Kompetenz einmal beiseite, dann ist jedoch die Frage nach dem Grund für den Rang des Organs oder umgekehrt für den der Norm eine Frage der Konvention und des Standpunktes, die darin der alten und ungelösten Frage gleichkommt, ob Ei oder Henne bzw. in unserem Fall Macht oder Norm zuerst da waren. waltungsrechts als eine induktive Konstruktion auffaßte, die man ausgehend von Gemeinsamkeiten der verschiedenen positiven Rechtssysteme erhalten könne (vgl. Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien und Berlin 1927, 96 f.). Er wollte also keineswegs behaupten, daß die normative Hierarchie und ihre Kriterien ein wesentliches Element jedes Rechtssystems seien. 2 So schreibt Tomàs-Ramón Fernândez: „Die Hierarchie der Normen ist niemals eine Hierarchie der Entstehungs- und Ausarbeitungsverfahren der Normen, sondern spiegelt die unterschiedliche Qualität der Subjekte wider, die sie schaffen, und ist deren Folge" (Las leyes orgânicas y el bloque de constitucionalidad. En torno al articulo 28 de la Ley Orgànica del Tribunal Constitucional, Madrid 1981, 77); diese Antwort scheint mir eher vom politiktheoretischen als vom rechtstheoretischen Standpunkt aus plausibel, aber selbst auf dieser Ebene ist sie noch ungeheuer vage. Denn je nachdem, wie man das Kriterium der „unterschiedlichen Qualität der Subjekte" versteht, kann genauso gut der gewöhnliche Gesetzgeber wie der Verfassungsrichter, das Parlament, wenn es Gesetze erläßt, wie das Volk, wenn es gewohnheitsmäßig eine Norm mißachtet oder wenn es mittels normativer Gebräuche Recht schafft, übergeordnet sein. 3 Mer kl, zit. Anm. 1, 37 f.

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Allerdings scheint es zumindest drei Einwände zu geben, die es sinnvoller erscheinen lassen, für die Analyse des Hierarchieprinzips von der Norm auszugehen: a) Es gibt Fälle, in denen ein und dasselbe Organ Normen von unterschiedlichem Rang erlassen kann: ein Parlament etwa kann gewöhnliche Gesetze und Gesetze von Verfassungsrang verabschieden, der Ministerrat kann Verordnungen und Verordnungen mit Gesetzeskraft beschließen; b) es gibt Fälle, in denen verschiedene Organe Normen erarbeiten, deren hierarchische Beziehungen sich durch die Art der betreffenden Normen leichter bestimmen lassen als durch die Organe, die sie hervorbringen: dies ist etwa der Fall bei den Normen - mit und ohne Gesetzeskraft - , die von der Regierung erlassen werden, im Vergleich mit den vom Parlament verabschiedeten Gesetzen; und c) es gibt Fälle, in denen Normen von gleichem Rang teilweise von den gleichen und teilweise von verschiedenen Organen erlassen werden: so kann eine Verfassungsreform bezüglich bestimmter Materien vom Parlament verabschiedet werden müssen, welches über die Reform entscheidet, während bezüglich anderer Materien die Wahl einer verfassungsgebenden Versammlung erforderlich sein kann; ebenso können bestimmte Reformen vom Parlament allein durchgeführt werden, während andere außerdem die Beteiligung des Volkes vermittels eines Referendums verlangen. Wenn auch die Betrachtung der Normen vorzuziehen ist, so ist doch von vornherein auszuschließen, daß der Grund für die Hierarchie in der Anwendbarkeit im Konfliktfall liegt, nämlich der Anwendbarkeit der übergeordneten Norm vor der untergeordneten Norm: Nach diesem Kriterium ist von einem Normentyp X und einem Normentyp Ζ derjenige übergeordnet, der im Konfliktfall anzuwenden ist. Es gibt jedoch wiederum zumindest drei Einwände, die die Ablehnung dieses Kriteriums nahelegen. Wenn man das Kriterium der Anwendbarkeit im Konfliktfall wörtlich nähme, dann ergäbe sich erstens, daß alle ausländischen Normen, die in Angelegenheiten des internationalen Privatrechts anwendbar sind, übergeordneten Rang hätten. Abgesehen davon kann zweitens die Präferenz für die Anwendung einer von zwei Normen andere Gründe haben als ihren unterschiedlichen Rang, wie etwa, daß die eine von ihnen später als die andere erlassen wurde, daß die eine allgemeiner und die andere spezieller ist, die Existenz einer vorausgehenden und sich nicht überschneidenden Verteilung von Zuständigkeiten zwischen den beiden oder schließlich die Berufung auf rechtliche Prinzipien oder auf Gründe materieller Gerechtigkeit. Schließlich garantiert nicht einmal die Präferenz, die in Rechtssystemen wie dem unseren gewöhnlich dem Hierarchieprinzip gegenüber anderen Kriterien für die Lösung von Antinomien zugestanden wird, dessen vorherrschende Anwendung: hinsichtlich der Beziehung zwischen bestimmten Normentypen ist es durchaus möglich und vielleicht sogar üblich, daß das Kriterium der Spezialität in der Praxis über das der Hierarchie dominiert, so daß die untergeordnete spezielle Norm in Anwendung kommt, die einer übergeordneten allgemeinen Norm widerspricht. So ist also die Anwendbarkeit in

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Konfliktfällen manchmal unzureichend und manchmal unnötig, um die Existenz einer Beziehung der Höherrangigkeit zwischen Normen aufrechtzuerhalten. Außerdem wäre, auch wenn in einem hypothetischen Rechtssystem die hierarchische Höherrangigkeit - offiziell wie in der Praxis - das alleinige Kriterium für die Wahl zwischen widersprüchlichen Normen wäre, die Anwendbarkeit eines Normentyps über einen anderen nicht mehr als die (in diesem Fall notwendige) Folge des hierarchischen Ranges, nicht aber dessen Grund. Denn um die übergeordnete Norm im Konfliktfall anwenden zu können, müßte man zuvor schon genau wissen, welches die übergeordnete Norm ist. Mit dem Kriterium der Anwendbarkeit im Konfliktfall wüßte man also immer noch nicht den Grund dafür, daß eine Norm einer anderen übergeordnet ist. Die Anwendbarkeit im Konfliktfall ist nicht die einzige offenbar mögliche Folge der Existenz einer Beziehung der hierarchischen Höherrangigkeit zwischen zwei Normen. Eine andere wichtige Folge ist die Einrichtung eines rechtlichen oder ähnlichen Verfahrens der Kontrolle als ein Mittel, um die Achtung des höheren Ranges bestimmter Normen zu sichern: deutliche Beispiele hierfür sind die Systeme der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Diese Art Mechanismen dient jedoch allein dazu, soweit möglich und nur teilweise die Achtung des übergeordneten Ranges der betreffenden Normenklasse zu garantieren, 4 aber auch hier handelt es sich nicht um eine notwendige Erscheinungsform der hierarchischen Höherrangigkeitsbeziehung. Es ist sogar möglich, daß es überhaupt kein Kontrollverfahren gibt, das diesen Namen verdiente - zum Beispiel, weil die Feststellung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze ausschließlich dem Parlament überlassen wird - , ohne daß man deswegen gleich aufhören müßte, von der Höherrangigkeit einer bestimmten Norm zu sprechen. Es besteht kein Zweifel, daß die Verfassung der Vereinigten Staaten auch dann die höchste Norm geblieben wäre, wenn der Fall Marbury vs. Madison anders entschieden worden wäre, als er entschieden wurde: selbst wenn man annimmt, daß es dieses Urteil und die Urteile, die es unterstützen, nicht gegeben hätte, wäre es keineswegs unumgänglich, sondern im Gegenteil unvertretbar, die rechtliche Position des US-amerikanischen Gesetzgebers, die durch die Verfassung beschränkt ist, mit der des unbeschränkten britischen Gesetzgebers gleichzusetzen.5

4 Ich sage, daß die Kontrolle in der Regel die Respektierung der normativen Hierarchie nur zum Teil garantiert, weil es sich nur um einen Kontrollmechanismus für positive Verletzungen übergeordneter durch untergeordnete Normen handelt und nicht für Verletzungen durch Unterlassung (daher die Vorstellung vom „negativen Gesetzgeber", wie sie Verfassungsgerichten wie dem spanischen anhaftet). 5 Vgl. Geoffrey Marshall, Constitutional Theory, Oxford 1980, 105 ff.

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I I I . Normative Widerrufbarkeit: Derogatorische Besonderheit und derogatorische Befugnis Ein von den vorigen verschiedener Ansatz hängt zusammen mit dem Gedanken der Widerrufbarkeit: Es ist gelegentlich behauptet worden, daß eine Norm einer anderen übergeordnet ist, wenn sie diese widerrufen kann, ohne von ihr widerrufen werden zu können, und zwar aufgrund der Existenz eines besonderen Reformverfahrens für erstere. 6 Von gleichem Rang sind sie demnach dann, wenn sie sich beide gegenseitig widerrufen können. Man sollte jedoch in der vorangegangenen Formulierung des Gedankens der Widerrufbarkeit zwei unterschiedliche Thesen auseinanderhalten, die, wie ich glaube, aus der doppelten Bedeutung des Ausdrucks „nicht können" in normativen Zusammenhängen herrühren: einmal hat er relative Bedeutung, im Sinne eines überwindbaren Hindernisses bzw. einer bloßen normativen Erschwernis, ein andermal absolute, im Sinne eines Verbots bzw. normativer Unmöglichkeit. Ein Kriterium, das man das Kriterium der derogatorischen Besonderheit nennen könnte, bezieht sich dann auf die größere Schwierigkeit der Derogation, die darin besteht, daß eine Norm vom Typ X nicht widerrufen oder geändert werden kann, wenn nicht bestimmte besondere Voraussetzungen erfüllt sind, die beschwerlicher sind als diejenigen, die für die Derogation oder Änderung einer Norm vom Typ Ζ nötig sind, weil ein besonderer Reformmechanismus existiert, der die Derogation oder Veränderung des ersten Normentyps erschwert. Das andere Kriterium, das man das Kriterium der derogatorischen Befugnis nennen könnte, bezieht sich dagegen auf das Zusammentreffen der rechtlichen Möglichkeit, daß eine Norm X eine Norm Ζ widerruft, mit der umgekehrten Unmöglichkeit, daß die Norm Ζ die Norm X widerruft, wobei beides nicht davon abhängt, daß eine besonderes Reformverfahren vorgesehen ist - das existieren mag oder auch nicht - , sondern einfach davon, daß es verboten ist, die Norm vom Typ X mittels des Reform Verfahrens der Norm vom Typ Ζ zu widerrufen oder zu verändern, und es gleichzeitig erlaubt ist, die Norm vom Typ Ζ mittels des Reformverfahrens der Norm vom Typ X zu widerrufen oder zu verändern. Der Unterschied zwischen dem Kriterium der derogatorischen Besonderheit und dem der derogatorischen Befugnis wird sichtbar in der Beziehung zwischen einer Norm X , die sich auf eine bestimmte Materie bezieht und die nur durch Α + Β widerrufen werden kann - etwa durch das Parlament und ein Referendum - , und einer Norm Z, die sowohl durch A als auch durch Α + Β 6 So sagt Kelsen, daß die Verfassung dem Gesetz formal übergeordnet sein kann „unter der Voraussetzung, daß das einfache Gesetz nicht die Kraft hat, dem seine Erzeugung und seinen Inhalt bestimmenden Verfassungsgesetz zu derogieren, daß dieses nur unter erschwerten Bedingungen, wie qualifizierte Mehrheit, erhöhtes Quorum u. ä. abgeändert oder aufgehoben werden kann." (Reine Rechtslehre, Wien 1960, 230).

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widerrufen werden kann. Während nämlich eine Norm X nach dem Kriterium der derogatorischen Besonderheit einer Norm Ζ übergeordnet wäre - da bei ihr eine größere Schwierigkeit der Derogation vorliegt, weil für die Reform der ersten Norm beschwerlichere Voraussetzungen erfüllt werden müssen - , könnten nach dem Kriterium der derogatorischen Befugnis beide Normenklassen den gleichen hierarchischen Rang einnehmen, wenn sie sich zum Beispiel gegenseitig widerrufen können (dann natürlich mittels des Referendums, das für die Normen vom Typ X erforderlich ist). Also müssen die beiden Kriterien getrennt voneinander analysiert werden. Das Kriterium der derogatorischen Besonderheit ist offenbar unangemessen, um hierarchische Höherrangigkeit anzuzeigen. Es ist nicht richtig, daß immer dann, wenn eine Norm der Klasse X mit Hilfe eines besonderen, beschwerlicheren Verfahrens reformiert werden muß als das für die Normenklasse Z, die erste Norm deswegen der zweiten übergeordnet ist, sondern die beiden können auch von gleichem Rang sein. Würde man nämlich das Kriterium der derogatorischen Besonderheit ernst nehmen, so würde dies unausweichlich zu der These führen, daß Normen, die sich auf eine bestimmte Materie beziehen und die nur durch ein bestimmtes Verfahren plus ein Referendum zu verändern sind, allein deswegen höheren hierarchischen Wert besitzen als andere Normen, die ihnen in allem gleich sind, nur daß sie sich auf eine andere Materie beziehen und für deren Derogation oder Veränderung ein Referendum nicht erforderlich ist. Danach müßte man aus der einfachen Tatsache, daß für die Reform bestimmter Verfassungsmaterien ein bestimmtes Verfahren und fakultativ ein Referendum vorgesehen ist, während das Verfahren für andere Materien erschwert und das Referendum obligatorisch ist, die Existenz von zwei hierarchischen Rängen in unserer Verfassung selbst ableiten. Und es ist nicht denkbar, daß die Ranggleichheit in diesen Fällen nur deswegen entsteht, weil das sogenannte Zuständigkeitskriterium - das heißt die exklusive Zuschreibung der Regelungskompetenz für bestimmte Materien an bestimmte Verfahren und/oder Organe - hier zum Tragen kommt, denn nicht immer gilt, daß eine Beziehung hierarchischer Höherrangigkeit besteht zwischen zwei Normentypen, deren Kompetenzen nicht scharf und klar abgegrenzt sind und von denen der eine durch ein einfaches und der andere durch ein erschwertes Verfahren zu sanktionieren ist: auch hier kann unsere Verfassung als Beispiel dienen, wo die beiden Reform verfahren zum Teil eine gemeinsame Materie haben - Titel I I I und I X können durch das einfache oder das erschwerte System reformiert werden, je nachdem ob es sich um einzelne Reformen oder um eine globale Reform handelt - , ohne daß sich die Lehre durchgesetzt hätte, daß sie zwei verschiedenen Rangstufen zuzuordnen sind. 7 7

Mit den vorstehenden Bemerkungen soll die Theorie von den „verfassungswidrigen Verfassungsnormen" nicht als völlig undenkbar verworfen werden, da man nicht ausschließen kann, daß sich in der Praxis scheinbar absurde Kategorien institutionalisieren. Es soll damit nur gezeigt werden, daß es undenkbar und absurd ist, diese Theorie

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Darüber hinaus wäre das Kriterium der derogatorischen Besonderheit, das auf der mehr oder weniger großen Schwierigkeit der Reform oder Derogation eines Normentyps im Vergleich mit einem anderen beruht, wenig hilfreich in Fällen, in denen der Schweregrad der Änderungsregeln für zwei Normen nicht vergleichbar ist: so würde, wollte man diesem Kriterium folgen, der hierarchische Rang von Verträgen in unserem Recht von den in den Verträgen selbst vorgesehenen unterschiedlichen Verfahren abhängen sowie von der Möglichkeit, ihre Widerrufungsverfahren mit denen der Gesetze zu vergleichen. Mehr noch, das Kriterium der derogatorischen Besonderheit wäre unanwendbar in den nicht seltenen Fällen, in denen die Reform verfahren zweier Normenklassen heterogen und damit unvergleichbar sind: so bliebe die Beziehung zwischen Gesetz und Gewohnheit oder zwischen den Gesetzen der autonomen Gemeinschaften und denen des Staates völlig ungelöst, da diese nicht eigentlich in einer Beziehung der erschwerten Reform stehen, sondern in einer der gegenseitigen Unmöglichkeit. Diese Probleme, die zeigen, daß das Kriterium der derogatorischen Besonderheit nicht nur nicht hinreichend, sondern auch nicht notwendig ist für das Aufzeigen einer Beziehung hierarchischer Höherrangigkeit, will das Kriterium der derogatorischen Befugnis umgehen. Das Kriterium der derogatorischen Befugnis geht davon aus, daß diejenige Normenklasse übergeordnet ist, die eine andere widerrufen kann, ohne von dieser widerrufen werden zu können. Diese andere ist dann untergeordnet, während zwei Normentypen, die sich gegenseitig widerrufen können, gleichrangig sind. So formuliert, ist das Kriterium aber nicht vollständig, da es die Beziehung ungelöst läßt, die zwischen den Normentypen besteht, welche sich gegenseitig nicht widerrufen können. Das Kriterium behauptet nicht und könnte auch gar nicht behaupten, daß jeder Normentyp untergeordnet ist, der einen anderen Normentyp nicht widerrufen kann - der dann übergeordnet wäre - , denn dies würde zu dem absurden Ergebnis führen, daß man Normen, die sich gegenseitig nicht widerrufen können, gleichzeitig als einander überund untergeordnet ansehen müßte (zum Beispiel ein französisches und ein spanisches Gesetz oder - im Rahmen von Normen, die demselben System angehören - der Erlaß eines Bürgermeisters und die Verfügung eines Generaldirektors). Das Kriterium läßt sich also vervollständigen, indem man sagt, daß - vorausgesetzt, zwei Normenklassen gehören demselben System an - diejenige der anderen übergeordnet ist, die diese widerrufen kann, ohne von ihr widerrufen werden zu können, wobei gleichrangig nicht nur solche Normentypen sind, die sich gegenseitig widerrufen können, sondern auch solche, die sich gegenseitig nicht widerrufen können. 8 Es gibt jedoch auch hier wieder auf die Existenz zweier Arten von Verfassungsreform zu stützen. In der Tat ist es vernünftig - und allgemein gebräuchlich - , Verfassungsnormen mit zwei Arten der Reform als gleichrangig anzusehen. 8 Dagegen hat ζ. B. Vezio Crisafulli behauptet, daß das Kriterium der Hierarchie ein vorgelagertes Element ist, das nur dann zur Bestimmung der gültigen Norm dient,

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mindestens drei Einwände dahingehend, daß das Kriterium der derogatorischen Befugnis für die Erklärung von Hierarchiebeziehungen zwischen Normen nicht ganz befriedigend erscheint. Erstens können zwei Normen, die von unterschiedlichen Organen erlassen wurden, gegenseitig unterschiedliche derogatorische Befugnis und gleichzeitig den gleichen hierarchischen Rang besitzen: Man denke an die Beziehung zwischen dem gewöhnlichen Gesetz und dem Erlaß mit Gesetzeskraft in unserem Recht, wobei es sich um Normen von unbestritten gleichem formalem Rang handelt, obwohl das gewöhnliche Gesetz immer jeden Erlaß mit Gesetzeskraft widerrufen kann, während ein Erlaß mit Gesetzeskraft nur gewöhnliche Gesetze ganz bestimmten Inhalts und in ganz bestimmten, eingeschränkten Fällen widerrufen kann. 9 Eine zweite befremdliche und in jedem Fall umstandsbedingte Folge - die also davon abhängt, ob sie in dem betreffenden Rechtssystem so festgelegt wurde - des Kriteriums der derogatorischen Befugnis wäre, daß Verfassungsnormen, deren Widerrufung oder Änderung verboten ist (und die Normen, die ein solches Verbot festlegen) die hierarchisch höchstrangigen Normen wären, da das Organ, das sie erlassen hat, als verfassungsgebendes Organ die Befugnis besessen haben muß, jegliche Norm zu widerrufen, und da kein nachfolgendes Organ (natürlich vom Standpunkt dieser Verfassung aus) jemals wieder eine solche Befugnis besitzen kann; und trotzdem folgt daraus nicht zwingend, daß die Existenz solcher Fälle der Unveränderbarkeit allein deswegen schon eine doppelte normative Hierarchie der Verfassung impliziert. Drittens schließlich ist auch die These, daß sowohl wenn es einen „freien Wettbewerb" von Quellen zur Regulierung der gleichen Materie gibt (Lezioni di diritto costituzionale, I I , L'Ordinamento costituzionale italiano [Le fonti normative. La Corte Costituzionale], Padua 1978, 190); wie mir scheint, ist aber diese Auffassung der Prinzipien der Konkurrenz und der Hierarchie als getrennt und parallel eine Frage der Konvention ohne jede praktische Bedeutung, zumindest was die Beziehung zwischen zwei Normen betrifft, die sich nicht gegenseitig widerrufen können; im Text wird die einfachste Formulierung gewählt, die eine Unterscheidung nicht erforderlich macht und die daher die Beziehung der Konkurrenz als in der Beziehung der Hierarchie - in diesem Fall der Gleichrangigkeit - enthalten ansieht. 9 Der mögliche Einwand, daß dieses Beispiel nichts beweist, weil die Regierung in bestimmten Bereichen und Fällen nicht die Kompetenz besitzt, Rechtsverordnungen zu erlassen, so daß solche Normen nicht aus Gründen der Hierarchie, sondern aus Gründen der Kompetenz ungültig wären, würde zu einer Umformulierung des Kriteriums der derogatorischen Befugnis führen, die keine Lösung brächte. Man müßte dann nämlich sagen, daß eine Norm einer anderen übergeordnet ist, wenn sie diese widerrufen kann, ohne von ihr widerrufen werden zu können, außer in dem Fall, daß beide Normen exklusive Kompetenzen besitzen. In diesem Fall wären sie ebenso gleichrangig, wie wenn sie sich gegenseitig widerrufen können oder wenn sie sich gegenseitig nicht widerrufen können. Will man aber diese komplexe Definition positiv formulieren, dann zeigt sich ihre Zirkularität, denn dann heißt es, daß eine Norm einer anderen übergeordnet ist, wenn sie sie aufgrund ihrer Höherrangigkeit, nicht aber aufgrund ihrer Kompetenz, widerrufen kann, ohne von ihr widerrufen werden zu können, so daß man immer noch nicht weiß, worin die Beziehung der hierarchischen Über- und Unterordnung besteht.

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die Normen vom gleichen hierarchischen Rang sind, die sich gegenseitig widerrufen können, als auch diejenigen, die dies nicht können, keineswegs so schlüssig, wie sie auf den ersten Blick scheinen mag: So kann mit der Kelsenschen Definition von „Norm" die Beziehung zwischen einem vom Parlament verabschiedeten Gesetz und dem Urteilsspruch eines Gerichts mit endgültiger Rechtskraft - je nachdem, ob der Ausdruck „Derogation" enger oder weiter gefaßt wird - eine Beziehung der Widerrufbarkeit oder der Unwiderrufbarkeit sein; sowohl in dem einen wie in dem anderen Fall ist die Beziehung jedoch gegenseitig, da im strengen Sinne weder die ständige Nichtanwendung oder die Aufhebung eines Gesetzes durch ein oberstes Gericht noch die gesetzliche Aufhebung eines Urteils durch das Parlament Akte der Derogation sind, während, wenn man die Derogation im weiteren Sinne auffaßt, es keinen Grund gibt zu der Annahme, daß letzteres keine Derogation ist, sofern man ersteres dafür hält. Auf diese Weise wären also mit dem Kriterium der derogatorischen Befugnis das Gesetz und bestimmte Urteilssprüche hierarchisch gleichrangig, was in offenem Gegensatz zum Prinzip des Rechtsprimats steht, welches die hierarchische Höherrangigkeit des Rechts festlegt. I V . Der Geltungsgrund von Normen Von den Kriterien, die als hinreichende Gründe für normative Hierarchiebeziehungen angeführt werden, ist der komplexe Begriff des Geltungsgrundes von Normen zu untersuchen, ein Grundgedanke der Kelsenschen Rechtslehre, der die hierarchische Struktur der Rechtsordnung erklären soll. Bezüglich des uralten Problems der Unterscheidung zwischen dem Befehl eines Verbrechers und dem rechtlichen Gebot eines Polizisten - das Kelsen abstrakt formuliert als Unterschied zwischen der bloß subjektiven Geltung einer Norm (der Existenz eines Gebots) und ihrer auch objektiven Geltung (der rechtlichen Verbindlichkeit der Norm) - stellt die reine Rechtslehre die Begründung der objektiven Geltung von Normen als eine hierarchische Beziehung derart dar, daß eine Norm einer anderen übergeordnet ist, wenn sie ihr Geltungsgrund ist. Nun kann man aber den Begriff des Geltungsgrundes einer Norm sowohl in einem materiellen, als auch in einem formellen Sinn verstehen oder sogar - wie es, in etwas verwirrender Weise, Kelsen wohl getan hat - gleichzeitig im einen wie im anderen Sinn. Ich benutze so mehrdeutige Ausdrücke wie „materiell" und „formell" in einer ähnlichen Bedeutung wie wenn man von materieller und formeller Verfassung oder von materiellem und formellem Gesetz spricht, das heißt, um mich auf Normen zu beziehen, die durch ihren Inhalt, im Gegensatz zu solchen, die durch die Kraft oder den Wert des Typs, dem sie zugehören, charakterisiert sind: so ist materielle Verfassung die Normenmenge, die die Bedingungen für die Schaffung allgemeiner Normen regelt, und materielles Gesetz jede allgemeine Norm, während formelle Verfassung oder formelles Gesetz jede erlassene Norm ist, die Verfassungs- bzw.

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Gesetzescharakter besitzt und der eine bestimmte Kraft zugesprochen wird. Da ich denke, daß es nützlich ist, die beiden Begriffe getrennt zu behandeln, werde ich zuerst das Kriterium untersuchen, das die Begründung der normativen Geltung als eine Beziehung materieller Art ansieht. Mit dem Kriterium des materiellen Geltungsgrundes - das bis zu einem gewissen Punkt das von Kelsen im Prinzip anerkannte Kriterium zu sein scheint - erscheint die normative Hierarchie als eine Beziehung, die durch den Inhalt der Normen festgelegt wird, das heißt durch das, was die Normen besagen, und nicht durch ihre Kraft oder ihren Wert, unabhängig von dem, was sie sagen; mit anderen Worten ist eine Norm einer anderen einfach deswegen übergeordnet, weil ihr Inhalt darin besteht, daß sie einem Organ die Befugnis erteilt, die andere zu schaffen. Nimmt man dies wörtlich, so behauptet diese These, daß eine Norm ihre Geltung auf der Norm begründet, die sich auf ihre Schaffung bezieht, welchen formellen Rang auch immer beide Normen einnehmen. 10 Abgesehen von anderen kritischen Bemerkungen, die sofort folgen werden, springt als erster Einwand gegen diese Erklärung der normativen Hierarchie ins Auge, daß damit die Möglichkeit einer völligen Nichtübereinstimmung mit den hierarchischen Ebenen der bestehenden Rechtssysteme gegeben ist. Konkret ist für die Theorie des materiellen Geltungsgrundes jede Norm Z, die aufgrund dessen erlassen wird, was in einer Norm X festgelegt wurde, dieser Norm untergeordnet, auch wenn für die konkrete Rechtsordnung die erste 10 Diese Vorstellung von der hierarchischen Beziehung als materiell und nicht formell ist nicht zu verwechseln mit der Vorstellung, daß die Beziehung zwischen übergeordneten und untergeordneten Rechtsnormen nach Kelsen nicht statisch, sondern dynamisch ist. Bekanntlich beharrt Kelsen darauf, die Begründung der rechtlichen Geltung als eine „dynamische" Beziehung zu charakterisieren, also als eine Beziehung, die darin besteht, daß die übergeordnete Norm bestimmt, auf welche Weise die untergeordneten entstehen können, indem sie das zuständige Organ benennt und gegebenenfalls das Verfahren vorgibt, nach dem das entsprechende Organ vorgehen soll; für Kelsen ist es nebenbei auch möglich, daß die übergeordnete Norm den Inhalt der untergeordneten durch die Vorgabe von Einschränkungen mitbestimmt, das heißt daß sie bestimmt, welche Materien von ihr geregelt werden können; letzteres ist die Beziehung, die er statisch nennt und die er für typisch für moralische Ordnungen im Unterschied zu Rechtsordnungen hält. Nun ist die dynamische Beziehung formell und die statische materiell, aber in einem anderen Sinne als in diesem Text. Hier wird von der materiellen Hierarchiebeziehung gesprochen, wobei unter „Materie" das verstanden wird, was die Normen besagen, im Unterschied dazu, welchen Stellenwert die Normen besitzen in einer Anordnung nach ihrem Rang oder ihrer Kraft. Dabei ist diese materielle Beziehung dynamisch, also „formell" in dem anderen Sinne, nach dem das, was die Norm, die Kompetenz erteilt, besagt, darin besteht, daß die untergeordnete Norm von einem bestimmten Organ geschaffen werden kann, eventuell unter Festlegung bestimmter Verfahrensbeschränkungen. So umfaßt also die materielle Hierarchiebeziehung, von der im Text die Rede ist und die sich auf das bezieht, was die Normen besagen, und nicht auf den Stellenwert, den sie aufgrund ihres Ranges besitzen, sowohl die dynamische Beziehung im Sinne der Festlegung von Verfahrensweisen als auch die statische Beziehung im Sinne der Festlegung von Inhalten.

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formell übergeordnet oder gleichrangig ist (und damit die zweite entsprechend untergeordnet oder gleichrangig): Nach diesem Kriterium wäre ein Erlaß, der eine Materie regelt und dabei auf eine vorausgegangene ministerielle Verordnung verweist, ebenso untergeordnet wie ein Gesetz, das einen Inhalt entwikkelt, auf den schon in einem früheren Gesetz bezug genommen wurde; mehr noch, nach dem strengen Kriterium des materiellen Geltungsgrundes könnte ein Individuum einem anderen Individuum die Befugnis erteilen, Gesetze zu erlassen, oder ein Bürgermeister könnte den Normen eines anderen Landes für das ganze Staatsgebiet Geltung verschaffen. 11 Mit diesem materiellen Kriterium der normativen Hierarchie eng verbunden ist ein anderer wichtiger Gedanke der reinen Rechtslehre: der Gedanke, daß die Beziehung zwischen untergeordneten und übergeordneten Normen nicht nur immer so ist, daß zwischen ihnen Widerspruchsfreiheit besteht, 12 sondern daß es sich auch um einen Prozeß der Konkretisierung oder Spezifizierung handelt. Auf diese Weise sind die übergeordneten Normen allgemeiner als die untergeordneten, die sich dem Rahmen der ersteren anpassen müssen, indem sie ihn konkretisieren. Diese These des Konkretisierungsprozesses bringt zwei Arten von Folgen mit sich, die ebenfalls Grundsätzen und Praktiken entgegenstehen, die den empirischen Rechtsordnungen gemein sind. Erstens wäre in dem Schema von Kelsen kein Platz für den Fall, daß eine Norm von formell höherem Rang das spezifiziert, was in einer allgemeineren Norm von niedrigerem Rang festgelegt ist (ζ. B. der Verwaltungsakt einer Lizenzvergabe per Erlaß in Ausführung einer durch ministerielle Verordnung erlassenen Regel) und auch nicht für den Grenzfall der Spezifizierung einer Norm durch eine andere von gleichem formellem Rang; dabei sind dies beides Fälle, die, wenn sie nicht möglich wären, das Prinzip der Widerrufbarkeit von Regeln durch eine einzelne Norm überflüssig machen würden. Zweitens würde das Kelsensche Schema dazu zwingen, die Aufhebung von Normen, die zu anderen Normen vom gleichen Rang in Widerspruch stehen, anzuerkennen (ζ. B. die schon erwähnte Kategorie der sogenannten „verfassungswidrigen Verfassungsnormen"). Dies wäre ein Phänomen, das immer dann auftreten müßte, wenn eine Norm in einem nicht autorisierten Sinn das spezifizieren würde, was in einer allgemeineren Norm festgelegt ist, auch wenn beide von gleichem Rang sind und die erste gleichzeitig mit oder nach der zweiten erlassen wurde. 13 Das Kriterium des materiellen Geltungsgrundes von Normen 11 Zu all diesem vgl. H. L. A. Hart, Kelsen's Doctrine of the Unity of Law, in: Essays in Jurisprudence and Philosophy, Oxford 1983, 309 - 342. 12 Bekanntlich geht dies bis zu dem extremen und umstrittenen Punkt, daß Kelsen die Möglichkeit verneint, daß eine untergeordnete Norm dem widersprechen kann, was in einer übergeordneten Norm festgelegt ist, unter der Voraussetzung, daß letztere oder die Grundnorm - implizit jedweden Inhalt autorisiert, solange die untergeordnete Norm nicht in Übereinstimmung mit den Rechtsverfahren des betreffenden Systems annulliert wird.

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widerspricht also völlig dem Prinzip der normativen Hierarchie, das sowohl offiziell als auch i n der Praxis in einem formellen Sinne zu funktionieren pflegt. 1 4 A b e r die Beziehung der Geltungsbegründung zwischen einer übergeordneten und einer untergeordneten N o r m kann auch angesehen werden s\s formeller Geltungsgrund.

Nach dieser Auffassung ist die übergeordnete N o r m Gel-

tungsgrund für die untergeordnete nicht nur, weil sie ihre Entstehungsweise regelt - weil sie etwas über die Geltung der untergeordneten N o r m aussagt - , sondern auch u n d vor allem weil sie die Befugnis oder Kraft zu deren Regelung besitzt - weil sie gültig ist und in der Lage, die Geltung der untergeordneten N o r m zu begründen - , das heißt aufgrund ihres formell übergeordneten Ranges. D i e A n e r k e n n u n g dieser formellen Bedeutung des Geltungsgrundes ist zwingend für eine Theorie, die - wie die Kelsens - das Recht als eine Struktur auffaßt, in der die N o r m e n gültig sind, weil sie sich stufenweise und hierarchisch Geltung verleihen (wenngleich dies nicht unbegrenzt funktioniert, weswegen er zum Ausweg der G r u n d n o r m oder, wie man besser sagen sollte, der „begründenden" N o r m g r e i f t ) . 1 5 W i e schon gezeigt, kann die bloße Tatsache

13 Soviel ich weiß, gibt es in Kelsens Werk eine einzige Ausnahme zu der Vorstellung, daß die untergeordneten Normen das konkretisieren, was in den übergeordneten Normen festgelegt ist: die in seiner Allgemeinen Theorie der Normen, Wien 1979, 213, eingeführte Möglichkeit, daß es zwei Normen von unterschiedlichem hierarchischem Rang geben kann, die aber beide individuelle Normen und die nach ihrem Inhalt identisch sind (der von einem Kompaniekommandanten gegebene Befehl „C soll erschossen werden" und der gleiche Befehl, aber von einem Regimentskommandanten gegeben). Diese Ausnahme könnte darauf hinweisen, daß die Beziehung der Konkretisierung für Kelsen zwar eine hierarchische Beziehung anzeigt, sie aber nicht ausmacht. Wenn nämlich die Beziehung der Konkretisierung mit der Rangordnung identifiziert würde, dann hätte Kelsen die Existenz von Normen mit dem gleichen Inhalt und von unterschiedlichem hierarchischem Rang nicht zulassen können. Man braucht aber nur den Prozeß der Konkretisierung durch die untergeordneten Normen als eine allgemein aus der Hierarchiebeziehung abgeleitete Folge ansehen und dem die Tatsache hinzufügen, daß Kelsen die Möglichkeit bestreitet, daß eine untergeordnete Norm einen allgemeineren Inhalt haben kann als eine übergeordnete Norm, um sich darüber klar zu werden, daß die reine Rechtslehre mit Begriffen operiert, die eine Auffassung der hierarchischen Beziehung als Beziehung des materiellen Typs im Sinne dessen, was die übergeordnete Norm über die Schaffung der untergeordneten - hinsichtlich der Verfahrensweise oder hinsichtlich ihres Inhalts - sagt, privilegieren und nicht in Betracht ziehen, sie als eine formelle Beziehung im Sinne dessen anzusehen, was die übergeordneten Normen aufgrund ihrer Kraft oder ihres Ranges für einen Stellenwert besitzen, wobei es dann durchaus möglich wäre, daß eine übergeordnete Norm das konkretisiert, was durch eine untergeordnete abstrakt festgelegt wurde. 14 Eine andere und hier nicht zu behandelnde Frage ist der Gebrauch des Kriteriums des materiellen Geltungsgrundes für den Versuch der Rechtfertigung der letzten ethisch-politischen Kriterien eines Rechtssystems wie das spanische, wie ihn Francisco J. Laporta unternimmt in „Norma basica, constitución y decision por mayoria", in: Revista de las Cortes Generales, Nr. 1 (1984), bes. 35 - 47. 15 Kelsen akzeptiert nämlich, wenn auch nur teilweise und in letzter Instanz, diesen formellen Sinn der Geltungsbegründung: er erkennt ihn teilweise an, wenn er z. B. vom

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der materiellen Begründung der Geltung einer Norm durch eine andere nicht ausreichen, um ihr Geltung „im objektiven Sinne" zu verleihen, da man nach diesem Kriterium den subjektiven Sinn des Befehls eines Kriminellen, der Anordnungen seines Anführers befolgt, nicht unterscheiden kann von dem Gebot eines Polizisten, der ein parlamentarisch erlassenes Gesetz durchsetzt (aus dem gleichen Grund könnte, wie schon gesagt, ein Individuum einem anderen die Befugnis übertragen, Verträge zu unterzeichnen; ein Bürgermeister könnte in einem Staat den Normen eines anderen Staates Geltung zusprechen; und ein Erlaß oder ein Gesetz, die auf ein späteres Gesetz verweisen, hätten einen höheren Rang als dieses). Zur Vermeidung solcher Folgen scheint es angebracht, davon auszugehen - wie dies Kelsen gewiß tut - , daß eine Norm X , die einem Organ die Befugnis verleiht, eine Norm Ζ zu erlassen, zunächst die Befugnis besitzen muß, jene Befugnis zu verleihen. Wenn die Begründung aber formell sein muß in dem Sinne, daß die begründende Norm die Befugnis besitzen muß, die untergeordnete Norm zu begründen das heißt die Befugnis, dem Organ, das diese schafft, die Befugnis dazu zu übertragen - , dann scheint man schließen zu müssen, daß die begründende Norm der begründeten Norm übergeordnet sein muß. Damit kann also letztendlich die begründende Norm nicht deswegen übergeordnet sein, weil sie begründet, da sie ja gerade begründen kann, weil sie übergeordnet ist. Der Geltungsgrund ist also nicht der Grund für die normative Hierarchie, sondern ihre Folge. V . Gehorsamspflicht und Anerkennungsregel Um alles bisher Gesagte zusammenzufassen: Die Kriterien der Anwendbarkeit der übergeordneten Norm im Konfliktfall, der derogatorischen Besonderheit und der ungleichen derogatorischen Befugnis sind weder hinreichende noch notwendige Ausdrucksformen und Auswirkungen der hierarchischen Höherrangigkeit, da man nicht immer, wenn sie auftreten, die betreffenden Normen als in einer Beziehung der Unterordnung stehend auffaßt und da umgekehrt die Existenz einer solchen Beziehung nicht notwendig impliziert, daß die übergeordnete Norm im Konfliktfall anzuwenden ist, daß diese durch ein besonderes, erschwertes Derogations- oder Reformverfahren geschützt ist oder daß die derogatorische Befugnis der beiden Normen unterschiedlich ist. Das Kriterium der Rechtskontrolle seinerseits ist das einzige, das als sicheres

Begriff der Verfassung im formellen Sinn spricht und sie charakterisiert durch die Festlegung eines Änderungs- oder Aufhebungsverfahrens, das anders ist und beschwerlicher als das für die Gesetze (Reine Rechtslehre, zit. Anm. 6, 228 - 230); und er erkennt ihn in letzter Instanz an in Bezug auf die Geltung der Verfassung, die - nach Kelsen nicht hergeleitet werden kann aus der Autorität der verfassungsgebenden Versammlung selbst, denn diese kann nur dank der Grundnorm überhaupt eine Autorität sein (ebd., 208, Anm.).

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Indiz für das Vorliegen einer hierarchischen Beziehung der Höherrangigkeit zu fungieren scheint, wenngleich das Umgekehrte nicht gilt: sicher gibt es immer, wenn ein Kon troll verfahren vorgesehen ist, um den Vorrang eines bestimmten Normentyps zu sichern, logischerweise eine Beziehung der hierarchischen Unterordnung, aber es handelt sich dabei nicht um ein notwendiges Kriterium, da nicht immer, wenn ein Normentyp einem anderen übergeordnet ist, ein Gerichtsverfahren oder etwas ähnliches verfügt wird, um diesen Vorrang zu sichern. Was schließlich das Kriterium des Geltungsgrundes betrifft, so ist auch dies unzureichend als Begriff der Erklärung oder Rechtfertigung der normativen Hierarchie: einerseits, in seiner materiellen Bedeutung, weil es - abgesehen davon, daß es absurde Folgen hat - eine hierarchische Ordnung ergibt, die mit denen der empirischen Rechtssysteme nichts zu tun hat; und ebenso, weil es, wegen der Beziehung zwischen diesem materiellen Kriterium und dem Prozeß der normativen Konkretisierung, weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit zuläßt, Konfliktfälle zwischen einer formell übergeordneten Norm und einer untergeordneten Norm, die aber Geltungsgrund der ersten ist, zu regeln, und weil es außerdem dazu zu zwingen scheint, die Annullierbarkeit derjenigen Normen zu akzeptieren, die in einem nicht vorgesehenen Sinn das konkretisieren, was in anderen Normen von gleichem formellem Rang und gleicher oder früherer Entstehungszeit festgelegt ist; andererseits, in der formellen Bedeutung des Kriteriums des Geltungsgrundes, weil es nicht die formelle Grundlage ist, die es erlaubt, die normative Hierarchie zu erklären und zu rechtfertigen, sondern der höhere hierarchische Rang einer Norm, der es erlaubt, die Geltung anderer Normen formell zu begründen. Nach all dem Vorangegangenen könnte man folglich schließen, daß nichts anderes übrigbleibt, als auf eine nur scheinbar tautologische Minimalbedeutung des Prinzips der normativen Hierarchie zurückzugreifen: Ein bestimmter Normentyp ist einem anderen übergeordnet, gleichgeordnet oder untergeordnet, wenn er in dem betreffenden Rechtssystem explizit oder implizit als formell über-, gleich- oder untergeordnet angesehen wird, so daß die einzige notwendige Folge die Pflicht der Organe, die untergeordnete Normen erlassen, ist, das, was in den übergeordneten Normen festgelegt ist, zu befolgen, sowie die Nichtexistenz einer solchen Pflicht im Fall von Normen gleichen Ranges.16 16 Wenngleich es so scheinen könnte, fällt die Gehorsamspflicht nicht mit dem vorher erwähnten Kriterium der Anwendbarkeit im Konfliktfall zusammen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens erfordert die Höherrangigkeit als Kriterium für die Lösung von Konflikten das Eingreifen eines Dritten, eben um den Konflikt zu lösen, während die Gehorsamspflicht aufgrund der Höherrangigkeit auch und in erster Linie eine Pflicht des Urhebers untergeordneter Normen ist; zweitens können, während mit dem Kriterium der Konfliktlösung das Prinzip der Hierarchie durch andere Kriterien übergangen werden kann (so etwa bei dem schon genannten Konflikt zwischen einem höherrangigen Verwaltungsakt und einer untergeordneten Verfügung), mit dem Kriterium der Gehorsamspflicht gegenüber der übergeordneten Norm solche Fälle erklärt werden als Befolgung einer Norm von noch höherem Rang innerhalb der normativen Hierarchie

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Es ist keineswegs so, als ob diese Pflicht auch immer wirksam befolgt wird denn es kann, wie schon gesagt, vorkommen, daß der Vorrang des Prinzips der hierarchischen Höherrangigkeit vor einem anderen Prinzip wie etwa dem des lex specialis zwar offiziell besteht, nicht aber wirklich praktiziert wird - , aber die Pflicht als solche ist unbestritten und behält auch im schlimmsten Fall zumindest ihren symbolischen Wert. Diese Gehorsamspflicht ist ihrerseits vereinbar damit, daß weitere, nicht notwendige Ausdrucksformen des Kriteriums der hierarchischen Höherrangigkeit, je nach dem konkreten Fall gemeinsam oder einzeln, rechtlich vorgesehen sein können, wie etwa die Existenz eines Kontrollmechanismus, die ungleiche derogatorische Befugnis, die Erfordernis besonderer Reform verfahren usw. Aber die Tatsache, daß sich keine dieser Ausdrucksformen zeigt, impliziert nicht, daß keine Beziehung hierarchischer Höherrangigkeit vorliegt, die ja, wie ich glaube, nur den einen zwingenden Effekt hat, daß die untergeordneten Normen zum Gehorsam verpflichtet sind. Wenn nun aber ein Normentyp einem anderen deswegen über-, gleich- oder untergeordnet ist, weil es in dem Rechtssystem, um das es geht, so festgelegt wurde, dann liegt der Grund für die Existenz des Prinzips der normativen Hierarchie darin, daß es explizit oder implizit durch bestimmte Rechtsnormen vorgeschrieben wurde. Heißt dies aber, wie von der ganzen Argumentation Kelsens vorausgesetzt wird, daß die Vorschrift der Beziehungen der Über-, Gleich- oder Unterordnung selbst enthalten sein muß in einem Normentyp, der den Typen - auch den als übergeordnet festgelegten - , auf die sich die Vorschrift bezieht, übergeordnet sein muß? Dies scheint nicht nur auf den ersten Blick logisch unnötig, sondern auch empirisch widerlegbar: ebenso, wie die Befugnis zur Veränderung von Verfassungsnormen gewöhnlich durch eine Norm verliehen wird, die selbst Verfassungsrang besitzt, so wurde auch der höhere Rang, den das Gesetz gegenüber der Gewohnheit hat, in unserem Recht jahrelang durch eine Norm mit Gesetzesrang festgelegt. 17 Es hat also (eben der Gesetzesnorm, die die Unwiderrufbarkeit von Verfügungen durch einzelne Normen verbietet). Die Gehorsamspflicht läßt sich ebensowenig mit dem Kriterium der derogatorischen Befugnis identifizieren, denn es kann - wie schon gesagt - zwischen zwei Normentypen hierarchische Höherrangigkeit vorliegen - und folglich Gehorsamspflicht - , während gleichzeitig jeder der beiden Typen jeweils bezüglich des anderen Typs derogatorische Befugnis (oder Nichtbefugnis) besitzt. 17 Ein anderes Problem liegt vor, wenn man nicht ein formelles Kriterium der Höherrangigkeit festlegen will, sondern ein materielles Prinzip der Einschränkung für einen Typ von Normen. Dieses muß in der Tat von einer übergeordneten Norm vorgeschrieben sein, da es andernfalls wirkungslos wäre; wenn z. B. Art. 134.7 der spanischen Verfassung - der die Änderungen von steuerlichen Abgaben durch das Haushaltsgesetz nur dann zuläßt, wenn ein anderes Steuergesetz dies vorsieht - nur in einem Gesetz enthalten wäre, dann wäre er gerade wegen des Prinzips der Hierarchie in den Wind geschrieben, da jedes andere Gesetz, das Haushaltsgesetz eingeschlossen, ihn sowohl explizit als auch implizit und ebenso im allgemeinen wie im Einzelfall widerrufen könnte. Ebenso ist das Prinzip der Unwiderrufbarkeit von Verfügungen durch eine einzelne Norm in Spanien gerade deshalb nicht ohne weiteres auf die Gesetze selbst anwendbar 9 Garzón Valdés

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den Anschein, als ob das Prinzip der hierarchischen Höherrangigkeit nicht in einer Norm vorgesehen sein muß, die höheren Rang besitzt als diejenigen Normen, die sie in hierarchische Beziehung setzt, wenn auch in einer Norm, die den höchstrangigen von ihnen gleichrangig sein muß. Diese letzte Lösung bietet zwei neue Schwierigkeiten, die letztlich mit dem Problem der Kriterien für die Zugehörigkeit von Normen zu einer Rechtsordnung zusammenhängen: Einerseits sind die Fälle problematisch, in denen die Vorschrift des Kriteriums der hierarchischen Höherrangigkeit zumindest scheinbar in Normen niedrigeren Ranges auftaucht; andererseits stellt sich das Problem des hierarchischen Ranges derjenigen Norm, die die letzten Kriterien der normativen Höherrangigkeit festlegt. Bezüglich des ersten Problems scheint es keineswegs unmöglich zu behaupten, daß eine untergeordnete Norm einer anderen einen hierarchisch übergeordneten Rang verleihen kann. Man kann hier auf die historisch nicht seltene Tatsache verweisen, daß die Kompetenz einer verfassungsgebenden Versammlung von einem Erlaß einer provisorischen Regierung herrührt. Da dies aber die Auswirkung einer Ausnahmesituation und eines Rechtswandels darstellt, sollte man besser einen alltäglichen Fall anführen wie den, daß das Gewohnheitsrecht eine Art von Normen darstellt, die aufgrund ihres Ursprungs offiziell innerhalb des Systems als von niederem Rang gilt, während es gleichzeitig eine Gewohnheitsnorm ist, die die Grundkriterien für die Geltung und den Rang der bedeutenderen Normen festlegt. Damit ist nicht nur das britische Prinzip des Vorranges der Gesetzgebung über das Gewohnheitsrecht angesprochen, ein Kriterium also, das in einer so gewohnheitsrechtlichen Norm, wie es das Common Law ist, enthalten ist, das hinsichtlich seines Ranges als dem Gesetz untergeordnet gilt. Vielmehr ergibt sich genau der gleiche Sachverhalt, unbeschadet aller Unterschiede, in jedem komplexen Rechtssystem, auch wenn die Hauptkriterien der normativen Rangfolge in einer festgefügten Verfassung auftreten. Tatsächlich sind - und damit kommen wir zum zweiten Problem - die letzten Kriterien der normativen Hierarchie ebenso wie diejenigen für die Zugehörigkeit von Normen zum System letztendlich Gewohnheitsnormen. Die Tatsache, daß eine Verfassung sagt, sie selbst sei die höchste Norm, kann nicht der Grund für diesen hierarchischen Rang sein, wenn man nicht schon von der Geltung und Höchstrangigkeit der Verfassung ausgeht. Eine solche Annahme aber kann nur darin bestehen, daß die Verfassung zusammen mit dem System, das sie begründet, regelmäßig wirksam ist. Damit ist letztlich der Grund dafür, daß die Verfassung gültig und übergeordnet ist, die Existenz einer normativen - als hypothetisches Prinzip der Unwiderrufbarkeit eines allgemeinen Gesetzes durch ein spezielles Gesetz - , weil es in einem Gesetz festgelegt ist (eine andere Frage ist, ob man - was plausibel ist - die Auffassung vertritt, daß sich dieses Prinzip vom Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz ableiten läßt, das in der Verfassung, also in einer übergeordneten Norm, verankert ist).

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Praxis gewohnheitsrechtlicher Art. Ausgedrückt in der Begrifflichkeit von H. L. A . Hart handelt es sich um die Anerkennungsregel (rule of recognition) des Systems, also um die Menge von Kriterien, die von den Bürgern und insbesondere von den Staatsbeamten benutzt werden, um zu bestimmen, welche Normen dem System angehören. 18 Was nun die normative Hierarchie betrifft, so können diese Kriterien sicher ganz oder teilweise mit dem Inhalt bestimmter im System formell ausgedrückter Normen, unabhängig von deren Rang, übereinstimmen. Der Schlüssel liegt aber darin, daß sie ihren Charakter von letzten Kriterien nicht von diesen Normen erhalten, sondern daraus, daß sie praktisch als Anerkennungsregel akzeptiert sind. Diese Interpretation führt anscheinend zu dem Paradox, daß man, sofern es eine Gewohnheitsnorm ist, die den Gesetzesnormen ihren Vorrang vor den Gewohnheitsnormen verleiht, damit entweder die hierarchische Höherrangigkeit der Gewohnheitsnormen behauptet - mit der gleichzeitigen Anerkennung der desuetudo als eine Form des Geltungsverlusts von Gesetzen - , entgegen dem, was die Anerkennungsregel selbst festlegt, oder daß sich damit die Selbstwiderlegung der Anerkennungsregel als höchster Regel ergibt. Mir scheint, daß dieses Problem weder durch einen Schritt zurück - wie ihn der britische Rechtswissenschaftler John Salmond bezüglich des rechtlichen Grundes für das Prinzip der Höherrangigkeit des Gesetzes tat, indem er feststellte: „It is the law because it is the law, and for no other reason that it is possible for the law itself to take notice o f 4 9 - noch durch einen Schritt nach vorn - wie ihn Kelsen mit seiner fiktiven Grundnorm unternehmen wollte - , der doch nur eine Flucht nach vorn ist, aus dem Weg geräumt werden kann. Vielmehr glaube ich, daß die Auflösung des Paradoxes von einer Unterscheidung herkommen kann, die Hart selbst benutzte und die es erlaubt, Zirkularität und infinitiven Regreß zu vermeiden, nämlich die Unterscheidung von letzter Norm und höchster Norm. 2 0 Nur wenn man voraussetzt, daß die Anerkennungsregel allen Normen übergeordnet sein muß, für die sie die Geltungskriterien liefert - so daß sie die höchste Norm darstellt, da zu diesen Normen auch die höherrangigen Normen des Systems gehören - , ergibt sich das Paradox, daß eine Gewohnheitsnorm

18 Hier wird angenommen, daß die Anerkennungsregel - wie Hart behauptet - von einem internen Standpunkt aus, als eine anerkannte Norm, betrachtet werden kann und nicht nur von einem externen Standpunkt aus, als eine bloße regelmäßige Gewohnheit, die sich beschreiben läßt (vgl. The Concept of Law, Oxford 1961, 106 f.; deutsch: Der Begriff des Rechts, Frankfurt a. M. 1973), oder - wie Eugenio Bulygin behauptet hat - als bloße begriffliche Regel ohne jeden normativen Wert (vgl. „Sobre la regia de reconocimiento", in: Bulygin u. a., Derecho, Filosofia y Lenguaje. Homenaje a Ambrosio L. Gioja, Buenos Aires 1976, 31 - 39). 19 John Salmond, On Jurisprudence, London 101947, 155. 20 Vgl. H. L. A. Hart, The Concept of Law, zit. Anm. 18, 102 - 107.

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den Gesetzesnormen Vorrang über die Gewohnheitsnormen einräumt. Wenn man dagegen sagt, daß diese Regel nur eine letzte Regel ist, die deswegen den Normen, auf die sie sich bezieht, weder über-, noch gleich-, noch untergeordnet sein muß, dann verschwindet das Paradox. Es läßt sich nämlich die Auffassung vertreten, daß die Anerkennungsregel ein letztes Kriterium ist, insofern als sie die Geltungskriterien für andere Normen liefert, daß sie aber selbst weder eine übergeordnete noch eine höchste Norm ist, denn sie beruft sich auf ein höchstes Geltungskriterium, daß selbstverständlich nicht sie selbst ist, sondern eine andere Art von Norm, wie zum Beispiel die Verfassung, das Gesetz u.ä. Wenn demnach die letzten Kriterien, die die normative Hierarchie vorschreiben, nicht in einer untergeordneten Norm enthalten sein können, so müssen sie doch nicht in einer übergeordneten Norm erscheinen: sie sind einfach in einer letzten und nicht selbstbezüglichen Regel wie etwa die Anerkennungsregel enthalten. Die Auflösung des vorstehenden Paradoxes hilft jedoch nicht weiter bei einer Art Antinomie, die sich aus der Anerkennungsregel selbst ergeben kann. Es geht konkret um die mögliche Antinomie zwischen dem, was die Anerkennungsregel als Kriterium für die Hierarchie bezüglich bestimmter Normen akzeptiert, und dem, was bezüglich derselben Normen anhand eines anderen Kriteriums andere Normen des Systems festlegen, die gemäß der Anerkennungsregel selbst gültig und übergeordnet sind. Es ist zum Beispiel möglich, daß die Anerkennungsregel das Kriterium enthält, daß die Verfassung die höchste Norm innerhalb des Systems ist, so daß sie zumindest implizit auf die Kriterien verweist, die die Verfassung bezüglich der normativen Hierarchie vorgibt, und daß sie folglich etwa das Kriterium des Vorrangs eines Typs von Gesetzesnormen über einen anderen anerkennt, daß aber de facto die Bürger und insbesondere die Beamten des Systems ein anderes, entgegengesetztes Kriterium anerkennen. Es ist zu beachten, daß die fragliche Anerkennungsregel sich nicht auf die bloße Ungebräuchlichkeit (desuetudo) bezieht, die einfach ein sich wiederholendes Verhalten darstellt und nicht ein gewohnheitsrechtliches Kriterium, sondern daß sie auf die Existenz einer eventuellen Gewohnheit der Systembeamten abstellt, die als ein Kriterium für die normative Rangbestimmung dient, das vom offiziell festgelegten verschieden ist. Eine solche Anerkennungsregel würde also zum Beispiel nicht die Gewohnheit contra legem vieler Richter gültig machen, bei Beweisaufnahmen in Zivilverfahren nicht den Vorsitz zu führen, wohl aber den möglichen Fall, daß die Gerichte und anderen Organe des Rechtssytems de facto Gesetze, die mit absoluter Mehrheit verabschiedet wurden, solchen Gesetzen, die nur mit einfacher Mehrheit beschlossen wurden, als übergeordnet betrachten, obwohl offiziell ein solcher Unterschied nicht vorgesehen ist; oder umgekehrt, daß sie die Beziehung zwischen den beiden Gesetzestypen als gleichrangig ansehen, wenn die ersteren offiziell für übergeordnet gehalten werden. Dieser Widerspruch zwischen dem offiziellen Kriterium - einmal angenommen, dies sei das

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ausdrücklich in der Verfassung genannte - und dem effektiven Kriterium also dem, das nach unserer Annahme von den Amtsträgern benutzt wird - ist ein Widerspruch in der Anerkennungsregel selbst, da ja die im System geltende Praxis einen bestimmten Normentyp als gültig und übergeordnet anerkennt, nach dem Normen vom Typ X solchen vom Typ Ζ übergeordnet sind, während sie gleichzeitig de facto davon ausgeht, daß Normen vom Typ X denen vom Typ Ζ gleichrangig - oder untergeordnet - sind. Die Anerkennungsregel des fraglichen Systems ist sozusagen „scheinheilig", denn sie erkennt Normen an, die ein bestimmtes Kriterium nennen, während sie gleichzeitig ein anderes Kriterum anwendet. Ja mehr noch, es könnte in Übereinstimmung mit dem Vorstehenden sogar der Fall eintreten, daß die Bürger und insbesondere die Organe und anderen Funktionsträger des Rechtssystems - unter Einschluß der Rechtstheoretiker, die einen gewissen Einfluß auf die autorisierten Beamten ausüben - , also diejenigen, die die Anerkennungsregel schaffen, als Gründe für die Beziehung der hierarchischen Höherrangigkeit einige der Kriterien annehmen, die weiter oben als unnötig oder unzureichend abgelehnt wurden. Das heißt, daß es geschehen könnte, daß in einem bestimmten System die Kriterien für die Bestimmung der hierarchischen Höherrangigkeit einiger Normentypen gegenüber anderen die Anwendbarkeit im Konfliktfall, die ungleiche derogatorische Befugnis oder die derogatorische Besonderheit wären oder eventuell auch der materielle Geltungsgrund. Wenn dem so wäre - und es handelt sich hier um eine empirische Frage - , dann müßte man sagen, daß die vorliegende Untersuchung vor einem letzten Paradox steht: Nachdem versucht wurde zu zeigen, daß bestimmte Kriterien nicht Grund, sondern nur Ausdruck des Prinzips der normativen Hierarchie sind, und daß der einzig akzeptable Grund letztlich die Anerkennung des Prinzips in der Systempraxis ist, daß nämlich ein Normentyp einem anderen übergeordnet, gleichgeordnet oder untergeordnet ist, kann nun der Fall eintreten, daß gerade die Praxis genau die genannten Ausdrucksformen als letzte Gründe oder Kriterien auffaßt, so daß die hier unternommene Beschreibung zumindest unvollständig wäre. Allerdings hängt sowohl der Widerspruch in der Anerkennungsregel als auch das angebliche Paradox dieser Untersuchung mit ein und demselben altbekannten Problem zusammen: mit den beiden miteinander in Verbindung stehenden Kontrasten zwischen Regeln als Tatsachen oder wirksamen Regeln und Regeln als Pflicht oder gültigen Regeln auf der einen Seite und zwischen einem deskriptiven und einem normativen Standpunkt bei der Untersuchung der Regeln auf der anderen Seite. Vom normativen Standpunkt aus scheint ein Maximum an Rationalität im Recht und damit die Eliminierung seiner möglichen Widersprüche und Unzulänglichkeiten durchaus zumutbar. Vom deskriptiven Standpunkt aus kann man dagegen problemlos akzeptieren, daß Rechtssysteme faktisch - sei es in der Anerkennungsregel, sei es in anderen

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Systemnormen - unvollständige und vielleicht sogar widersprüchliche Kriterien für die Regelung ihrer normativen Hierarchiebeziehungen benutzen können. Denn einerseits kann die These, daß die normative Hierarchie darauf beruht, daß anerkannt wird, daß eine Norm einer anderen über-, gleich- oder untergeordnet ist und daß infolgedessen jede übergeordnete Norm von den untergeordneten Normen befolgt werden soll, sowohl zur Beschreibung von Rechtssystemen dienen, die keine unnötigen oder unzureichenden Kriterien wie die eben angeführten benutzen, wie als ein hinreichendes normatives wenn auch nur doktrinäres - Kriterium für jene Systeme, die faktisch solche Kriterien wie die genannten benutzen. Andererseits kann der Gedanke, daß eine Rechtsordnung widersprüchliche Kriterien für die normative Hierarchie anerkennen kann, indem sie die einen nennt und die anderen anwendet, wenigstens dazu dienen, die Aufmerksamkeit auf ein Problem zu lenken, das hier nur als solches aufgezeigt werden konnte.

II. Rechtsphilosophische und rechtstheoretische Ansätze

Die Freirechtsbewegung Eine methodologische Betrachtung Von Felipe Gonzalez Vicen Die Begründung der Historischen Rechtsschule, bekanntlich ein Produkt des berühmten Streites zwischen Thibaut und Savigny, führte dazu, daß im 19. Jahrhundert in Deutschland jenes rationalistische Naturrecht keine Verbreitung mehr fand, das während des 17. und 18. Jahrhunderts unumschränkt vorgeherrscht hatte. Die Ablehnung dieses rationalen Rechtes verhinderte aber nicht, daß sowohl Savigny als auch Puchta das Recht als ein „System" auffaßten, das heißt als eine Menge von Propositionen, die zurückgeführt werden zu einer höheren Einheit aufgrund logischer Beziehungen formalen Charakters, die sie alle untereinander verbinden. So schreibt Savigny: Die einzige Methode, um positives Recht in der Gesamtheit seiner Ausdrucksformen wissenschaftlich zu verstehen, ist, es als ein System aufzufassen und es zurückzuführen „in die Erkenntnis und Darstellung des inneren Zusammenhangs oder der Verwandtschaft, wodurch die einzelnen Rechtsbegriffe oder Rechtsregeln zu einer großen Einheit verbunden werden". 1 Das Recht der deutschen Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts, das per definitionem positives Recht ist, das also der höchsten Gewalt der Gemeinschaft entspringt und dessen Geltung von eben dieser Gewalt abhängt, wird so für seine Erkenntnis der formalen Methode im strengen Sinne unterworfen. „Die Propositionen sind nicht ohne gegenseitige Wirkung aufeinander, so daß eine von ihnen geändert werden könnte, ohne daß die anderen davon betroffen würden, sondern sie stehen alle in gegenseitiger Verbindung, sie setzen sich gegenseitig voraus, und man kann die einen aus den anderen herleiten". 2 Die Vorstellung von einer totalen Rechtsnorm enthält schon die Vorstellung von Elementen, die zu isolieren und zu zeigen sind, wie andere Begriffe auch, die ihrerseits auseinanderzunehmen und zu untersuchen sind, bis man so schließlich zu den letzten konstitutiven Elementen des Rechts vordringt. 3 Das Mieten einer Wohnung zum Beispiel bedeutet ein Verfügungsrecht über fremdes Eigentum; es impliziert aber auch einen ganz spezifisch gearteten Vertrag, der 1 Friedrich Carl von Savigny, Das System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, X X X V I . 2 Georg Friedrich Puchta, Das Gewohnheitsrecht, Erlangen 1828 - 1837, Bd. 1,166. 3 Β. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Frankfurt/M. 51882, Bd. 1, 63 ff.

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zu einem ebenfalls spezifischen Gebiet des Rechtsgeschäfts, der Willenserklärung, gehört, und so kann man fortfahren. A l l diese Begriffe bilden eine theoretische Einheit, deren Elemente durch formale Beziehungen zusammengehalten werden: durch Analogie, Deduktion, Induktion . . . Es handelt sich, wie gesagt, um eine theoretische Einheit, womit auf ihre formale und rein begriffliche Natur hingewiesen ist und darauf, daß keinerlei Zusammenhang oder Verbindung besteht mit der Gesellschaft, die sie zu beherrschen beansprucht. Diese Gesellschaft, die sich aus Einzel- und Gruppenschicksalen, aus deren Verflechtung und aus Interessenkonflikten jeder Art zusammensetzt, lebt außerhalb des grossen Gebäudes, das von den Juristen konstruiert wird. Solange die Begriff sjurisprudenz in der deutschen Rechtswissenschaft die vorherrschende oder gar die einzige Methode blieb, dauerte der Konflikt zwischen Pandektenrecht und sozialer Wirklichkeit an. Die bemerkenswertesten Ereignisse und die tiefgehendsten Änderungen in der Gesellschaft hinterließen keine Spur im Rechtsaufbau: weder die schweren Vorwürfe von Moses Hess, die sich sinngemäß zu dem Ausspruch zusammenfassen lassen: „Wir wollen nicht eure Freiheit, sondern die menschliche Freiheit!", 4 noch die blutigen Kämpfe der zweiten Hälfte des Jahrhunderts noch das allmähliche Voranschreiten der industriellen Revolution, die die archaische deutsche Manufakturwirtschaft bis auf ihre Grundfesten zerstören sollte. Nichts davon hatte einen spürbaren Einfluß auf die scheinbar unzerstörbare Architektur der Rechtsauffassung. Die Tatsachen waren jedoch klar und sprachen eine so überzeugende Sprache, daß man schon gegen Mitte des Jahrhunderts in den hervorragendsten Kreisen des Landes Unbehagen und Anzeichen von Hilflosigkeit zu verspüren begann. Der erste, der die Stimme erhob, war Jhering. Er, der während der ersten Hälfte seines Lebens zu den Begriffsrechtlern gehört hatte, richtete nun die giftigen Pfeile seines Spottes auf seine ehemaligen Gefährten. Vor allem aber begann er, mit unauslöschlichen Zügen eine neue Vorstellung vom Recht zu zeichnen.5 Die erbarmungslos geführten, blutigen sozialen Kämpfe, die vor seinen eigenen Augen stattfanden, veranlaßten ihn, den genialen Gedanken vom Recht als einem sozialen Element zu begründen und zu formulieren, das nur im menschlichen Zweckstreben Kraft und Existenz erhält. Das Unbehagen war aber, wie schon erwähnt, ein allgemeines und Jhering nur ein geniales Symptom eines geistigen Zustands. Neben Jhering gab es auch andere Juristen, die versuchten, von Standpunkten aus, die der offiziellen begriffsjuristischen Orthodoxie fremd waren oder gar entgegenstanden, 4 Moses Hess, Die Eine und ganze Freiheit! (1843), in: ders., Philosophische und Sozialistische Schriften 1837 - 1850 (hrsg. von A . Cornu und W. Mönke), Berlin (Ost) 1961, 226 - 230. 5 Zu Jhering vgl. meinen Aufsatz „Rudolf von Jhering y el problema del mètodo juridico", in: Anuario de Filosofia del Derecho, Neue Serie, Bd. I V (1987), 223 ff.

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neue Wege aufzuzeigen. Darunter verdient der heute fast vergessene Oskar Bülow Erwähnung, der einen so großen und entscheidenden Einfluß auf die großen methodologischen Debatten besaß, mit denen das eine Jahrhundert zu Ende ging und das nächste begann. Was Bülow auszeichnet und ihm einen herausragenden Platz unter seinen Zeitgenossen verleiht, ist seine neue Rechtsauffassung. Bülow bleibt zwar ein Vertreter der Begriffsjurisprudenz, überdenkt aber noch einmal deren Annahmen und kommt so zu ganz neuen Schlußfolgerungen. Als guter Positivist glaubt auch Bülow, daß alles Recht von der höchsten Gewalt der Gemeinschaft herrührt, interpretiert dies aber auf seine eigene Weise. Der Gesetzgeber drückt mit einem Gesetz nicht nur seinen Willen aus, daß dieses Gesetz von einer undifferenzierten Masse von Untertanen eingehalten werden soll, sondern zieht auch die Erfolgsperspektiven für das Erreichen bestimmter Ziele angesichts der menschlichen Eigenschaften der betreffenden konkreten Gemeinschaft in betracht. Mit anderen Worten: Das von der höchsten Macht erlassene Gesetz bzw. Recht „ist nur ein Plan, nur der Entwurf einer zukünftigen, erwünschten Rechtsordnung, was der Gesetzgeber von sich aus fertig zu bringen vermag". 6 Die Anwendung des Gesetzes auf einen konkreten Fall erfordert aber nicht nur Kenntnisse über das Gesetz und die Absichten, die sich darin verbergen, sondern auch über die Struktur der Umstände des Sachverhaltes selbst, auf den das Gesetz anzuwenden versucht wird. Beauftragt mit dieser wesentlichen Arbeit ist der Richter, der damit in den Vordergrund jeder juristischen Überlegung rückt. 7 Deswegen kann er seine Darstellung mit einem Satz beschließen, der ein ganzes Programm enthält: „Denn nicht das Gesetz, sondern Gesetz und Richteramt schafft dem Volk sein Recht". 8 Die Vorstellung vom Richter als dem Zentrum des Rechtslebens ist seither aus der deutschen Rechtswissenschaft nie mehr verschwunden. Jeder Rechtspositivismus mündet in Gesetzbücher, in denen für alle Probleme, die sich im Zusammenleben ergeben können, die angemessenen Lösungen gesammelt und systematisch strukturiert werden. Auch der deutsche Positivismus mündete in ein Zivilgesetzbuch, das noch heute geltende BGB. 9 Dieses Gesetzbuch, das beanspruchte, angemessene Lösungen für jedes vorstellbare Problem zu enthalten, und das damit - vielleicht unbewußt - die Gestalt und Bedeutung des Richters im Rechtsalltag verringerte oder gar verschwinden ließ, führte schon vor seinem Inkrafttreten zu zahllosen „Berichtigungen", „Zusätzen" und „Vorbehalten", die deutlich machen sollten, wie unzulänglich und fehlerhaft das neue Gesetzbuch war. Es war ein legitimes Kind des im 6

Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt, Leipzig 1885, 3. ebd., 6 ff. « ebd., 48. 9 Das Bürgerliche Gesetzbuch wurde 1896 veröffentlicht und trat am 1. Januar 1900 in Kraft. 7

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letzten Jahrhundert vorherrschenden Begriffspositivismus, von dem gesagt wurde, es sei „ein in Artikel gefaßter Traktat von Pandekten". 10 A m meisten aber wurde dem neuen Rechtskorpus zum Vorwurf gemacht, daß es mit seiner Auswahl von Lösungen für jedes mögliche Problem oder jeden möglichen Konflikt prinzipiell die Rolle und die Funktion des Richters verschwinden lasse. In dieser Gegnerschaft gegen das neue Gesetzbuch und gegen die Quellen der formalistischen Begriffsjurisprudenz, von denen seine Autoren inspiriert waren, sind die Ursprünge des antiformalistischen Geistes zu sehen, der noch bis weit in unser Jahrhundert in Rechtskreisen zu spüren war. Aus diesem Geist sollte das entstehen und Bedeutung erlangen, was sich „FreirechtsBewegung" nannte. 11 Es ist daher schwierig, eine Definition oder doch zumindest eine Beschreibung von dieser Bewegung zu geben, deren Lehre ihr vorausgeht. Will man in wenigen Worten das Wesentliche der Freirechtslehre darstellen, so ist die Aufmerksamkeit in erster Linie auf ihre völlige Ablehnung des im letzten Jahrhundert herrschenden Gesetzespositivismus zu lenken, nach dem das Recht völlig im geschriebenen Gesetz und seiner Interpretation enthalten ist. Es handelt sich damit um eine Rechtsordnung, in der der Richter - um es mit einem bekannten Ausspruch zu sagen - nur „der Mund ist, der die Worte des Gesetzes wiedergibt". Genau diese Haltung war es, die der Bewegung zu einem ungeahnten Erfolg verhelfen sollte, zu dem auch die Namen der bekanntesten Juristen des Landes beitrugen. 12 Zu den Begründern und Vorläufern der Freirechts-Bewegung gehört der Rechtssoziologe Eugen Ehrlich, der mit einem zu Anfang des Jahrhunderts gehaltenen berühmten Vortrag der Bewegung, der dann die deutsche Rechtswelt ihre Pforten öffnen sollte, ihren endgültigen Namen gab. 13 Schon auf den ersten Seiten des Vortrags sagt er unumwunden, wie seine Vorstellung vom Recht aussieht. Das Recht ist für ihn nicht ein vollständiges und abgeschlossenes System von abstrakten Rechtsregeln, sondern er ist der Ansicht, daß es „aus Einzelentscheidungen besteht, und dass auch nach ihm der Richter, wenn ihn die festgelegten Rechtsregeln verlassen, durch die freie Rechtsfindung das Recht den Bedürfnissen der Zeit anpassen soll". 1 4 Es ist ein Irrtum zu glau10 Dies ist ein in den deutschen Unversitäten anläßlich der Veröffenlichung des BGB weit verbreiteter Ausspruch, der dem Autor mündlich überliefert wurde. 11 Es handelt sich um eine „Bewegung", nicht um eine „Schule". Zur Unterscheidung vgl. J. Schmidt, Das „Prinzipielle" in der Freirechts-Bewegung, Bonn 1968, 3 und 7 f., und vor allem L. Lombardi, Saggio sul diritto giurisprudenzale, Mailand 1967, 221 ff. In Anlehnung an den religiösen „Modernismus" wurde das Freirecht auch „juristischer Modernismus" genannt; vgl. Lombardi, a.a.O., 219 ff. 12 Lombardi, a.a.O., 232 ff. 13 Eugen Ehrlich, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft (1903), Aalen 1973. Die Seitenangaben beziehen sich auf die Aalener Ausgabe. 14 ebd., IV.

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ben, jede Rechtsnorm impliziere nur eine einzige Entscheidung. Ganz im Gegenteil ist in jeder Rechtsnorm eine Vielzahl möglicher Entscheidungen angelegt, von denen der Richter eine übernimmt, wobei er die Umstände des Falles sowie seine sozialen Auswirkungen und andere mögliche Aspekte berücksichtigt. 15 Ehrlich betont die Rolle, die das Individuum und seine Eigenheiten im Rechtsleben spielen, da „die Bedeutung, die dem Recht im Leben tatsächlich zukommt, weit mehr als von seiner Auslegung, von den Personen abhängt, die berufen sind, es zu handhaben". 16 Es handelt sich hier um zwei Aussagen, die in enger Verbindung stehen. Wenn in jeder Rechtsnorm per definitionem eine Vielzahl möglicher Entscheidungen angelegt ist und es von der Auffassung des Urteilenden abhängt, welche davon sich durchsetzt, dann ist das Entscheidende im Rechtsleben offenbar die Figur desjenigen, der befugt ist, die Entscheidung zu fällen. Zieht man darüber hinaus in betracht, daß die Entscheidung unter Berücksichtigung der sozialen Umstände des verhandelten Sachverhalts zu treffen ist, dann kann man nicht umhin, die allgemeine Bedeutung der Freirechtsbewegung für die Methodologie der Rechtswissenschaft zu begreifen. Wenn es auch richtig ist, daß - wie Kantorowicz sagt - eine noch im Werden begriffene und sich formierende Bewegung keine klare begriffliche Vorstellung ihrer eigenen Grundlagen besitzen kann, 17 so ist doch nicht weniger richtig, daß auch der uninformierte Leser schon bei der Lektüre der ersten Vordenker der Freirechtsbewegung sofort der Distanzierung und Ablehnung gegenüber jeder Art von Formalismus gewahr wird, wie man sie schon in den ersten Reaktionen des gleichen Tenors um die Jahrhundertmitte vorfindet. In beiden Fällen zeigt sich eine radikale Abneigung dagegen, im Recht eine begriffliche Menge zu sehen, die per definitionem außerhalb jeglicher sozialen Realität angesiedelt ist und deren Probleme auf eigene Weise vermittels logischer Operationen gelöst werden. Vor allem ist das Recht nicht, wie der formalistische Positivismus behauptete, ein vollständiger und geschlossener Kreis, in dem schon alle möglichen Probleme gestellt sind, sondern im Gegenteil ein Entwurf zum Handeln, der viele normative Leerstellen - die sogenannten Rechtslücken - enthält. Der formalistische Positivismus bestritt energisch die Existenz solcher Rechtslücken, da er davon ausging, daß jede normative Leerstelle aus den restlichen Aussagen mit Hilfe logischer Operationen gefüllt werden könne. Die Freirechtsbewegung jedoch sah in den Rechtstexten eine solche Vielzahl von Lücken, daß Kantorowicz sogar sagen konnte, im Gesetz

κ ebd., 7 ff. ebd., 7. 17 H. Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft (Pseud. Gnaeus Flavius), Heidelberg 1906, 5. Mehrere Arbeiten von Kantorowicz sind in dem Band Rechtswissenschaft und Soziologie, Karlsruhe 1962, zusammengefaßt. Die Seitenangaben im folgenden beziehen sich jedoch auf die Originalausgabe.

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gebe es ebensoviele Worte wie Lücken. 18 Diese Lücken zu füllen, ist relativ einfach, wenn man das Recht auffaßt als eine Menge von Propositionen, die durch formale Beziehungen miteinander verbunden sind. Es ist allerdings schwieriger, wenn man das Recht als auf die Gesellschaft bezogen und als deren Gestaltung auffaßt. In diesem Fall muß man die sozialen Umstände und den Sachverhalt untersuchen, der strittig ist, wobei man sich nicht auf das geschriebene Recht, sondern auf das freie Recht zu stützen hat, das „mit der Spontaneität seiner Entscheidungen und der gefühlsmäßigen Deutlichkeit seiner Inhalte" seinen Auftrag erfüllen kann. 19 Es ist dieser Freiraum, auf den man zurückgreifen muß, um das Problem der Lücken lösen zu können, der die Freirechtsbewegung charakterisiert und ihr ihren Namen gibt. Wird dem Richter eine Angelegenheit zur Entscheidung vorgelegt, die ganz genau einem Gesetz entspricht, dann muß und soll er in diesem Fall nur das betreffende Gesetz anwenden. Es kann aber vorkommen, daß die Anwendung des Gesetzes zu einem unhaltbaren Ergebnis führen würde oder daß die strikte Anwendung des Gesetzes eine Situation hervorrufen würde, von der der Richter genau weiß, daß der Autor des Gesetzes sie nicht gewollt hätte. „ I n beiden Fällen soll [der Richter] die Entscheidung treffen, die, seiner Überzeugung nach, die gegenwärtige Staatsgewalt, falls der einzelne Fall ihr vorgeschwebt hätte, getroffen haben würde." Kann er sich geistig nicht in eine solche Situation hineinversetzen, dann muß der Richter frei und autonom entscheiden.20 Dieser Freiraum, der dem Gutdünken des Richters überlassen bleibt, veranlaßte eine große Zahl von Juristen dazu, sich der Freirechtsbewegung anzuschließen mit dem Wunsch, auf irgendeine Weise den Netzen der Begriff s jurisprudenz zu entgehen. Damals wurden auch zum Hauptmotto der Bewegung die Worte „contra legem", die später Anlaß zu so vielen Mißverständnissen geben sollten. Nach der Freirechtslehre richtet der Richter nicht gegen das Gesetz, sondern korrigiert dieses und paßt es nach den Umständen des Sachverhalts an die Fragestellung an. Dies ist die große Aufgabe des freien Juristen: Die sozialen Umstände, die in der zu entscheidenden Frage vorliegen, im Recht zur Geltung zu bringen. Diese knappe Beschreibung des Freirechts und seiner Hauptvertreter bliebe unvollständig ohne die Erwähnung von Ernst Fuchs, des großen deutschen Juristen, dessen Name über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahren untrennbar mit der Freirechtsbewegung verbunden war. Anders als seine Vorgänger, war Ernst Fuchs nicht Universitätsprofessor, sondern Anwalt am Gerichtshof in Karlsruhe, also praktischer Jurist. Er war ein unerbittlicher Gegner der gemeinrechtlichen Wissenschaft und der Begriffsjurisprudenz, ein unermüd-

« ebd., 15 ebd. 20 ebd., 41.

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licher Arbeiter, der bis zu seinem Tode fünf Bücher und über vierzig Aufsätze geschrieben hatte. 21 In allen seinen Arbeiten wird deutlich, daß die erörterten Fälle tatsächliche und reale, aus dem Leben genommene Fälle sind und nicht in der Einsamkeit der Studierstube erdacht wurden. Dies ist kein Zufall, sondern ein wohlüberlegtes methodisches Prinzip. In einem seiner letzten Aufsätze wies er daraufhin, daß das, was den freien Juristen von jedem anderen unterscheidet, darin besteht, daß der freie Jurist der Atmosphäre seiner Arbeitsstube entflieht und hinausgeht ins Freie, wo das Leben stattfindet, wo Geschäftigkeit herrscht und sich das Schicksal der Menschen entscheidet.22 Dieser Drang, hinauszugehen und im Schöße des Lebens selbst nachzudenken, verleiht seinen Schriften unbeschadet ihrer unvermeidlichen Monotonie einen großen Wert. Die Tatsache, daß viele Juristen de facto als Freirechtler handeln, auch wenn sie sich nicht dazu bekennen, ist ein großer posthumer Triumph von Ernst Fuchs.

21

Die Bücher und Aufsätze sind fast alle enthalten in Ernst Fuchs, Gesammelte Schriften über Freirecht und Rechtsreform, 3 Bde., Aalen 1970 - 1975. Sehr ausführliche Literaturangaben zu Ernst Fuchs finden sich in D. Moench, Die methodologischen Bestrebungen der Freirechtsbewegung auf dem Wege zur Methodenlehre der Gegenwart, Frankfurt/M. 1971, 168 ff. 22 Fuchs, a.a.O., Bd. 11,24.

Rechtsphilosophie als kritische Theorie Von Nicolas Lopez Calera In der heutigen Zeit fällt es schwer, Notwendigkeit und Nutzen einer Rechtsphilosophie als kritische Theorie zu zeigen. Naturwissenschaften und Technologie sind allgegenwärtig und beherrschend. Schon 1969 erklärte Max Horkheimer in einem Vortrag, den er in Venedig hielt, daß die Kritische Theorie im Grunde in reiner Opposition zum positivistischen Szientismus entstanden war und deswegen, weil die Wissenschaft nicht genügend über sich selbst nachdachte, um die gesellschaftlichen Motive erkennen zu können, die sie in eine bestimmte Richtung drängten. Die Kritische Theorie wollte nach Horkheimer außerdem von den Greueln des Faschismus und des Kommunismus künden. Nach meiner Vorstellung erhebt eine Rechtsphilosophie als kritische Theorie ohne Zweifel weniger Ansprüche. Es handelt sich darum, eine relative Rationalisierung des Rechts über seine bloße Existenz als Machtfaktum hinaus vorzuschlagen und zu postulieren. Eine solche Rechtsphilosophie müßte selbstverständlich auch die Methode, derer sie sich bedient, erklären und rechtfertigen. Es ist mir hier nicht möglich, eine derartige Methodologie zu erstellen. Aber ein Datum der sozio-kulturellen Erfahrung ist entscheidend, um ihr zumindest einen Ansatzpunkt der Legitimität zu verleihen. Dieses in der ganzen Zeit der Geschichte des Rechtsdenkens immer gleich gebliebene Datum ist, daß es immer spekulative Bemühungen gegeben hat, um die Voreingenommenheit, Irrationalität und Unmenschlichkeit der historischen Rechtsformen aufzuzeigen, und daß diese spekulativen Bemühungen auf der Überwindung, nicht auf der Ablehnung und Geringschätzung der Methoden basierten, die den Sozialwissenschaften im engeren Sinne eigen sind. Wenn auch eine solche Methodologie hier nicht gerechtfertigt werden kann, so ist es doch möglich, die Funktionen und Vorurteile (vorausgehenden Urteile) zu erläutern, die eine solche Rechtsphilosophie als kritische Theorie mit sich bringt. Als kritische Theorie muß eine ihrer Hauptaufgaben die Erarbeitung von Argumenten bezüglich der Frage sein, was Recht sein soll und was nicht. Die Legitimation einer solchen Rechtsphilosophie verlangt eine Erklärung und bis zu einem gewissen Grad eine Rechtfertigung der Werte und Grundsätze, auf denen diese kritische und utopische Arbeit aufbaut. Was dies betrifft, so bin ich der Meinung, daß es nicht möglich ist, eine endgültige und absolute Liste von Werten anzugeben und anzuerkennen. Die klassischen naturrechtlichen 10 Garzón Valdés

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Lösungen, die für sich in Anspruch nahmen, objektive, universale und unveränderliche Kriterien vorzugeben, beruhen auf erkenntnistheoretischer Naivität oder aber Überheblichkeit, die ich kaum für vertretbar halte. Meines Erachtens sollte man für die Beurteilung und Bewertung einer historischen Rechtsform einen relativistischen Ansatzpunkt wählen, was aber keineswegs ein starkes und vernünftiges Engagement zugunsten gewisser Werte ausschließen soll. Jedenfalls muß jede Rechtsphilosophie die Werte, von denen sie ausgeht, offenlegen und erklären. Wie Ralf Dahrendorf festgestellt hat, ist Objektivität im Bereich der Sozialwissenschaften unmöglich; wenn aber die Werte, die eine theoretische Arbeit mitbestimmt haben, offengelegt werden, dann gewinnt diese Arbeit an Wahrhaftigkeit, Genauigkeit und Glaubwürdigkeit. Dementsprechend gebe ich gerne zu, daß meine Rechtsphilosophie als kritische Theorie von der Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen ausgeht sowie von der Anerkennung der Volkssouveränität als Kriterium für die Lösung von Konflikten, die sich bei der Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit aller Menschen ergeben können. Offenbar ist hier nicht der Ort, um Grundlage, Sinn und Ausmaß dieser Werte und Kriterien zu rechtfertigen. Ich möchte jedoch zumindest in einem gewissen Grad die theoretischen Prinzipien rechtfertigen, die die Möglichkeit eines rationalen Diskurses begründen, der über streng wissenschaftliche Methoden hinausgeht und der positiven und negativen Kritik am historischen Recht dient. Das erste Prinzip, das in diesem Sinne anerkannt werden kann und muß, ist die Möglichkeit einer transzendenten Vernunft. Das heißt man kann vernünftigerweise annehmen, daß der Mensch Realitäten begreift, die nicht in seiner unmittelbaren Erfahrung liegen, daß er Grundsätze aufstellt und ausarbeitet, die implizit in der Realität vorhanden sind, die aber nicht durch induktives Vorgehen verständlich sind, und daß er Prinzipien ausarbeiten kann, die in der Realität nicht existieren, die eine bloße rationale oder ideale Schöpfung sind, die aber die Realität bestimmen können, sie anders machen können. In diesem Sinne ist eine Rechtsphilosophie als kritische Theorie gerechtfertigt, wenn man zugibt, daß die Realität manchmal anders ist, als sie aufgrund ihrer unmittelbaren Äußerungen erscheint, wenn man zugibt, daß die menschliche Vernunft in der Lage ist, die unmittelbare Realität zu transzendieren, und wenn man zugibt, daß es vernünftig ist, Prinzipien aufzustellen und anzuerkennen, die rationales Produkt oder ideale Schöpfung einer erkennenden Subjektivität sind und die dadurch eine real-existenzielle Seinsweise erhalten. Über diese Fähigkeiten oder Möglichkeiten der menschlichen Vernunft läßt sich ohne Zweifel diskutieren. Das menschliche Bemühen darum, sich und andere von der Vernünftigkeit dieser Fähigkeiten und Möglichkeiten zu überzeugen, ist aber eine durch alle Jahrhunderte hindurch beständige Tatsache.

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Eine transzendente Vernunft ist jedenfalls, wie ich glaube, eine reale Möglichkeit der Denkstruktur des Menschen, die sich deutlich nachweisen läßt anhand der gnoseologischen Erfahrungen, die in der menschlichen Geschichte gemacht wurden und weiter gemacht werden. Klar ist auf jeden Fall, daß diese transzendente Vernunft nicht als absolut behandelt werden kann. Es ist keine objektive Vernunft, die objektive Wahrheiten darstellt. Es ist eine subjektive und historische Vernunft. Es ist eine relative Vernunft. Tradition, Überzeugungen, Ideologien, sozio-ökonomische Umstände, kulturelle und psychologische Faktoren usw. bilden ein Geflecht, in dessen Rahmen diese transzendente Vernunft lebt und umgesetzt wird, die aus einem einzelnen Subjekt heraus und in einer bestimmten Zeit agiert. Man kann daher sagen, daß diese Vernunft nicht von Anfang an existiert oder aber von selbst entsteht, sondern daß sie gemacht wird. Die Relativität dieser Vernunft entspringt also aus ihrer eigenen historischen Struktur und daher, daß sie Subjekten eigen ist, die immer einzigartig sind. Jedes Subjekt reagiert in einer individualisierten Weise rational, und niemand kann behaupten, er habe Prinzipien entdeckt, die für alle und für immer gültig sind. Die Geschichtlichkeit und der Reichtum der menschlichen Individualität machen es unmöglich, daß eine transzendente Vernunft im hier dargestellten Sinn zu einer absoluten Vernunft wird. Gerade wegen der Relativität einer transzendenten Vernunft kann das Problem des gerechten Rechts nicht nur eine einzige Antwort haben. Daher und weil das Recht ein Zwangsinstrument sozialer Ordnung ist, ist das gerechte Recht mit Hilfe der gegenseitigen Übereinstimmung von Gründen zu suchen, das heißt, seine konkreten Inhalte müssen bestimmt werden mit Hilfe der Teilnahme aller seiner Adressaten. Die Gerechtigkeit des Rechts ist seine soziale Rationalisierung, und seine Rationalisierung ist seine demokratische Legitimation. Angewandt auf das Recht, erlaubt es diese transzendente, relative Vernunft zudem dem Juristen, sich von der unmittelbaren rechtlichen Wirklichkeit, von den konkreten Rechtsnormen zu lösen, um sie über ihre unmittelbare, formale Geltung hinaus zu bewerten. Eine Vernunft von dieser Art kann der praktischen Arbeit des Juristen eine bedeutende kritische Dimension verleihen, durch die er nicht darauf beschränkt bleibt, Experte für Techniken gesellschaftlicher Organisation zu sein. Ohne diese transzendental-instrumentale Vernunft gäbe es nicht die Möglichkeit, daß das historische Recht einmal anders werden könnte. Diese transzendente Vernunft muß aber auf jeden Fall besonders darauf achten, daß sie sich nicht allzu weit von der unmittelbaren Rechtswirklichkeit entfernt. Löst sich die Vernunft auf übertriebene und ungerechtfertigte Weise von der empirischen Wirklichkeit, so läuft sie Gefahr, zu reiner Phantasie, Einbildung oder purem Unsinn zu werden. Aus all diesen Gründen bin ich der Ansicht, daß eine transzendente Vernunft für eine 10*

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Rechtsphilosophie eine Vernunft sein muß, die sich eng an gesellschaftliche und rechtliche Fakten anlehnt und die das geschichtliche Bewußtsein der Gemeinschaft berücksichtigt, in der sie entsteht und angewandt wird. Nur diese Abstimmung mit der unmittelbaren Rechtsgeschichte und mit dem historischen Bewußtsein einer konkreten Gesellschaft kann dazu führen, daß eine transzendente Vernunft operativ wird. Die Relativität dieser transzendenten Vernunft erklärt sich auch aus der Bestimmung, die sie seitens einer Reihe von onto-dialektischen Bezügen erfährt, welche eine dauerhafte Struktur der Geschichte darstellen. Diese Bezüge sind einfach reale Aspekte der geschichtlichen Dynamik, der Natur der geschichtlichen Sache selbst, die sich im Laufe der Zeit wiederholen. Wie immer die Verfahrensweisen und die Ergebenisse der rationalen Arbeit des Menschen über die Wirklichkeit im allgemeinen und über die Rechtswirklichkeit im besonderen aussehen mögen, es gibt eine Reihe von realen Dichotomien, in denen die menschliche Vernunft „gefangen" ist. Es handelt sich dabei nicht eigentlich um ontologische Faktoren, die den Gebrauch der Vernunft vorherbestimmen, wie es die klassische Metaphysik postulierte, sondern um eine ständig feststellbare Dialektik, die einen wesentlichen Teil der Struktur der menschlichen Geschichte selbst darstellt. Die transzendente Vernunft wird sich immer eingebettet in diese Dialektik finden, die das Auftreten bestimmter entgegengesetzter Realitätspaare bewirkt. Keine dieser Realitäten kann ihre geschichtliche Vorherrschaft endgültig behaupten. Im Bereich ethischer, rechtlicher und politischer Theorien ist es häufig eine Versuchung oder ein Traum gewesen zu glauben, die menschliche Geschichte könne in ihren verschiedenen Elementen geordnet und in eine Hierarchie gebracht werden, um sie so zu einer harmonischen Einheit zu machen. Die Erkenntnis jener onto-dialektischen Bezüge deckt dieser Rechtsphilosophie die komplexe und unausweichliche Widersprüchlichkeit des Menschen und der Gesellschaft auf, in der das Recht entsteht und verwirklicht wird. Einige dieser dialektischen Paare sind von besonderer Bedeutung für eine Rechtsphilosophie, und es ist nützlich, sie als unumgängliche Voraussetzungen ihres Wirkens zu entschleiern. Es ist nun zu betrachten, welche diese sind und worin ihre Bedeutung für den Aufbau einer Rechtsphilosophie als kritische Theorie besteht. Der erste onto-dialektische Bezug, der hier zu erläutern ist, heißt Objektivität-Subjektivität. Es handelt sich um einen substanziellen Teil der realen Dialektik, die sich auf den theoretischen Diskurs auswirkt. Er ist von ungeheuerer Komplexität. Im Grunde drückt dieser onto-dialektische Bezug einfach die Tatsache aus, daß jede theoretische Anstrengung des Menschen sich immer unter der Spannung vollzogen hat, die zwischen Objektivität und Subjektivität als Alternativen für die Rechtfertigung und Behauptung menschlichen Wissens besteht. Was aber ist Objektivität und was Subjektivität? Offenbar sind Objektivität und Subjektivität an sich gar nichts, da sie eigentlich begriffliche

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Kategorien oder Konstrukte sind, um eine menschliche Erfahrung auszudrükken. Diese Erfahrung besagt, daß das erkennende Subjekt unweigerlich zu einer dieser beiden Alternativen genötigt ist. Entweder behauptet es, das Erkannte stimmt mit der Wirklichkeit überein, und vertritt folglich die Ansicht, daß es eine objektive Wahrheit gibt und daß es möglich ist, diese objektive Wahrheit zu erfassen und auszudrücken. Oder es behauptet, daß das Erkannte immer subjektive Elemente enthält, die in der Wirklichkeit nicht vorhanden sind, so daß es daraus schließen muß, daß es weder objektive noch absolute Wahrheiten gibt. Diese Erfahrung sagt mit anderen Worten, daß die erkennenden Subjekte sich in der Dialektik befangen sehen, das Erkannte entweder mit einem Objekt zu identifizieren oder mit einem subjektiven Konstrukt. Obwohl es angesichts dieser Dialektik keine endgültige Alternative gibt, ist meiner Meinung nach theoretisch die subjektive Option vorzuziehen. Selbst wenn ich zugebe, daß das Objektive als etwas existiert, das vom Subjekt getrennt ist, bin ich also doch der Ansicht, daß diese Objektivität vom theoretischen Standpunkt aus nichts ist oder nichts bedeutet, solange sie ein Subjekt nicht versteht, erfaßt und schließlich interpretiert. Gewiß gäbe es keine erkennende Subjektivität, ohne daß es etwas zu erkennen gäbe, ohne etwas, das außerhalb des Subjektes da ist. Aber ebenso gewiß ist, daß diese erkennbare Objektivität theoretisch und praktisch nichts ist, solange sie nicht von einem Subjekt aufgenommen, erkannt wird. Wenn es nun also um den Aufbau einer Rechtsphilosophie geht, dann ist es meines Erachtens wichtig zu erkennen, daß die Dialektik die besagte Spekulation beeinflußt. Tatsache ist, daß die Geschichte des Rechtsdenkens eine beständige Erfahrung dieser Dialektik ist. Die einen Lehrmeinungen behaupten, das Recht habe eine objektive, letzte Realität, die erkannt werden könne und von der der Sinn jeder anderen Realität abhänge, die vorgibt, rechtlicher Natur zu sein. Die anderen Lehrmeinungen sind der Auffassung, daß es keine objektiv-universale Rechtswirklichkeit in Raum und Zeit gebe und daß das Recht eine historische und relative Schöpfung sei. Die Rechtsgeschichte (die Geschichte des Rechtsdenkens und der Rechtspraxis) beweist, daß je nach der historischen Epoche, nach der Ausformung der erkennenden Subjektivität selbst und nach kulturellen, politischen, wirtschaftlichen und anderen Faktoren diese dialektische Spannung im einen oder im anderen Sinne gelöst wird, aber niemals in endgültiger Weise. Es hat noch keine Rechtstheorie gegeben, die in der Lage gewesen wäre, diese Dialektik von Objektivität-Subjektivität vollkommen zu lösen. Es kann also keine Rechtsphilosophie geben, die auf endgültige Weise definiert und erklärt, was das Recht ist und was es sein sollte. Das Recht ist eine historische Realität, und auch die Erkenntnis und Erklärung dessen, was Recht ist und was es sein sollte, ist eine historische Realität. Im Bewußtsein

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der Bedingtheit durch diese Dialektik und der Unmöglichkeit, sie auf absolute Weise aufzulösen, liegt ein Prinzip, von dem meine Vorstellung von der Rechtsphilosophie als kritische Theorie ausgeht bzw. auf der sie aufbaut. Ein weiterer onto-dialektischer Bezug ist die Dichotomie Vernunft Gewalt, die von besonderer Bedeutung ist in der sozialen Dynamik, in der sich das Recht entwickelt. Allgemein gesprochen bezieht sie sich auf die Spannung, die aus der Erfahrung entsteht, daß man nicht definitiv weiß, ob die Geschichte das Produkt einer Vernunft ist, die sie versteht und lenkt, oder ob die Geschichte einfach das Ergebnis der größeren Gewalt ist. Die Erfahrung dieser unaufgelösten Dialektik ließe sich auf die verschiedensten Weisen und für die verschiedensten Bereiche umformulieren. Entwickelt sich die Geschichte mit Hilfe einer internen oder externen Vernunft, die sich langfristig durchsetzt? Ist die Vernunft, die Theorie ein Mittel, um die Wirklichkeit zu verstehen und zu verändern? Ist die Geschichte ein ständiger Machtkonflikt, der zu Ergebnissen führt, die nur durch ein Kalkül gegenwärtiger Gewaltpotentiale vorhersehbar sind? Diese dialektische Erfahrung zeigt jedenfalls den Konflikt zwischen Vernunft und Gewalt, das heißt das Problem, ob die Vernunft die Gewalt lenkt oder ob die Gewalt die Vernunft bestimmt und zerstört. Es geht hier um einen realen, aber auch um einen begrifflichen Konflikt. Aus der Annahme der Vorherrschaft von Vernunft oder Gewalt lassen sich sehr unterschiedliche Schlußfolgerungen ableiten für die Spekulation selbst, aber auch für die individuelle und kollektive Praxis. Wie in allen diesen für die historische Dialektik wesentlichen Konflikten ist es nicht möglich, die absolute Vorherrschaft eines dieser Elemente der Dichotomie aufrechtzuerhalten. Auf theoretischer Ebene hat es absolut realistische Ansätze gegeben, die die Gewalt, und absolut idealistische Ansätze, die die Vernunft betonen. In der Praxis ist jedoch klar, daß keine dieser Optionen endgültig den Sieg davongetragen hat. Sogar theoretisch wird jedes Subjekt, das nicht radikale oder übermäßig naive Vorstellungen vertreten will, sich davor hüten zu behaupten, die Gewalt oder die Vernunft sei der einzige Bestimmungsfaktor des Geschichtsverlaufs. Innerhalb dieser Dialektik geschieht es jedoch häufig, daß eine Vorliebe für das eine oder das andere der beiden Elemente, und insbesondere für die Vernunft, vorherrscht. Das heißt, daß die ideale oder idealistische Option sich größerer Anerkennung erfreut. Es wird also häufiger die Meinung vertreten, daß es die Vernunft - eine übereinstimmende Vernunft, die durch Kommunikation und Konsens entsteht sein muß oder sein soll, die die Wirklichkeit, die Geschichte, interpretiert und bestimmt. In dieser dialektischen Dichotomie gibt es vielleicht - zumindest idealerweise - eine mehrheitlich geteilte theoretische Lösung, anders als es bei der vorher behandelten dialektischen Dichotomie (Objektivität-Subjektivität) der Fall war. In diese Dialektik sind auch sowohl das Recht als auch der juristische Diskurs eingebettet. Der Rechtstheoretiker wird immer nur diese Möglichkeiten

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haben: Entweder behauptet er, das Recht sei Gewalt, oder er behauptet, das Recht sei eine rationale Realität, oder er behauptet, das Recht sei gleichzeitig etwas von beiden dieser realen Faktoren, ohne daß er definitiv feststellen könnte, in welchem Ausmaß. Meiner Meinung nach muß aber eine Rechtsphilosophie als kritische Theorie von dem Vor-Urteil ausgehen, daß die Vernunft die Geschichte und damit auch die Rechtswirklichkeit verändern soll (etwas anderes ist es, ob und in welchem Ausmaß sie dies kann). In jedem Fall glaube ich, daß der Vernunft die wichtigste Rolle im Rechtsleben zukommt, obwohl ich gleichzeitig zugebe, daß sich die Gegenüberstellung von Vernunft und Gewalt nicht absolut zugunsten eines dieser beiden Elemente oder Faktoren, die die historische Dynamik ausmachen, aufheben läßt. Es ist also in Übereinstimmung mit dem Gesagten klar, daß diese Rechtsphilosophie, die auf die Vernunft setzt, nicht über die Gewalt wird triumphieren können. Es scheint mir aber einen humanisierenden Sinn zu haben, auf die Vernunft zu setzen, um die Rechtswirklichkeit zu verstehen und zu verändern. Auf die Gewalt zu setzen, mag realistischer sein, aber es nimmt weniger Rücksicht aus das, was den Menschen adelt: auf das Wort, den Dialog. Ein anderer onto-dialektischer Bezug, mit dem die transzendente Vernunft zu tun hat, die die Rechtswirklichkeit erkennt, interpretiert und bewertet, ist die Tatsache, daß der Mensch ein Individuum ist, das sich zusammen mit oder neben anderen Individuen verwirklicht. Es ist die Dialektik Individualität Geselligkeit. Unter Individualität kann man die Menge von Werten, Interessen und Zwecken verstehen, die einem einzelnen Individuum innewohnen oder, philosophischer ausgedrückt, die dem Menschen als Realität für sich eigen sind. Die Geselligkeit bedeutet, daß diese individuellen Werte, Interessen und Zwecke neben ihren konkreten Inhalten eine unausweichliche soziale oder intersubjektive Natur besitzen, daß sie also in allen Individuen vorliegen und daß ihre Verwirklichung in vielen Fällen von ihrem interindividuellen Zusammenhang, von der Organisation der intersubjektiven Beziehungen abhängt. Deswegen erfordert die Förderung und Verwirklichung von Individualität, daß ihre soziale Verwirklichung ins Auge gefaßt wird, daß also die menschliche Geselligkeit berücksichtigt wird. Wird nur die Individualität beachtet, dann gibt es schwere Konflikte zwischen Individuen, Aufhebungen konkreter Individualitäten, denn die Behauptung einzelner individueller Interessen und Ziele kann nur stattfinden gegen andere Individuen, die die gleichen Interessen und Ziele verfolgen können. Es scheint aber auch klar, daß die Berücksichtigung der Geselligkeit in gewisser Weise die Beschränkung und Verneinung des konkreten Individuellen verlangt, wenn dies auch zu rechtfertigen ist durch die Notwendigkeit bzw. Zweckmäßigkeit einer erhöhten (egalitären) Förderung des Individuellen an sich. Aus dem bisher Gesagten kann man schließen, daß eine dialektische Beziehung zwischen Individualität und Geselligkeit besteht. Diese Dialektik war historisch unaufhebbar, trotz der theoretischen und praktischen Anstrengun-

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gen, die unternommen wurden, um einem der Elemente dieser Dichotomie zur Geltung zu verhelfen. Eine Rechtsphilosophie, die das Rechtsleben kritisch und utopisch rationalisieren will, wird auf diese Dialektik stoßen, die das ganze menschliche Leben im allgemeinen beeinflußt, auf ganz besondere Weise aber das Recht, das historisch vor allem als ein Kriterium in Erscheinung tritt, um die Konflikte zu lösen, die zwischen den Individuen entstehen, welche notwendigerweise zusammenleben müssen. Nach meiner Meinung hat bisher keine Rechtstheorie diesen Konflikt zwischen dem Individuellen und dem Sozialen endgültig lösen können. Deswegen muß meines Erachtens die Rechtsphilosophie diese ständige Dialektik im Auge behalten und versuchen, die in der Geschichte zugunsten des einen oder des anderen Faktors dieser Dichotomie aufgetretenen Exzesse kritisch zu korrigieren. In diesem Sinne ist es möglich und vernünftig, daß eine politische oder Rechtstheorie ihre Vorlieben für einen dieser Aspekte der komplexen Realität des Menschen zeigt, aber eine solche Option läßt sich nach meinem Dafürhalten nur rechtfertigen durch ihren Zweck, die entgegengesetzten Vorlieben zu korrigieren oder a b zugleichen, und keineswegs damit, daß sich eine definitive Lösung dieses dialektischen Konflikts rechtfertigen läßt. So macht politisch der Radikalismus der liberalen Ideologie gegenüber der absoluten Monarchie oder auch der marxistische Kollektivismus gegenüber den Exzessen des Liberalismus Sinn. Nicht vernünftig scheint es aber zu glauben, Liberalismus oder Marxismus hätten als Theorie oder in der Praxis auf abschließende Weise diese Dialektik zwischen dem Individuellen und dem Sozialen aufgehoben. Ein anderer dialektischer Konflikt, der sich aus der komplexen Struktur des Menschen ableitet, ist derjenige zwischen Freiheit und Autorität, das heißt zwischen der Freiheit von Individuen oder sozialen Gruppen und der Autorität als Ordnungsinstanz des sozialen Lebens, die mit Hilfe verschiedener Mechanismen handelt, von denen einer das Recht ist. Die dialektische Spannung zwischen Freiheit und Autorität hat neben anderen Quellen ihren Ursprung in der Unersättlichkeit und Unerschöpflichkeit der primärsten Lebensbestrebungen des Menschen. So wird festgestellt, daß die allgemeinste Bestrebung des Menschen die des Mehrseins ist, die sich als Synonym des Überlebens erweist, des Mehrseins in der Zeit, aber auch als Verwirklichung der Potentiale, die dem Menschen als Subjekt eigen sind, das erkennt und wünscht, als Subjekt, das die Wirklichkeit erklären muß, das als eine Form des Mehrseins beherrschen muß, was es umgibt. Dieses Mehrsein des Menschen, aller Menschen, ergibt sich - neben dem Kampf ums Überleben - auf drei Ebenen: im Wissen, im Besitzen und im Beherrschen. Von Ausnahmen und von den unterschiedlichen Intensitätsgraden einmal abgesehen, die diese Bestrebungen aufweisen können, ist es ein Faktum, daß das soziale Leben intrinsisch konfliktiv wird, weil diese Bestrebungen, da sie unerschöpflich sind, da sie praktisch bei allen Individuen vorliegen und da sie inmitten von intersubjektiven Beziehungen auftreten, unausweichliche Konflikte hervorrufen.

Rechtsphilosophie als kritische Theorie

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Aus dieser ständigen und manchmal schweren menschlichen Konfliktsituation leitet sich die Notwendigkeit ab, das Zusammenleben nach Kriterien zu ordnen, die zumindest dazu dienen zu bestimmen, auf welche Weise mit dieser Konfliktsituation umgegangen wird. In jeder sozialen Gruppierung hat es immer eine Autorität mit einer mehr oder weniger klaren Ordnungsfunktion gegeben, die von der Herstellung einer relativen Harmonie oder eines Gleichgewichts dieser Bestrebungen unter allen Menschen bis zur Lösung des Konflikts durch die Ausschaltung oder die Unterwerfung einer der betroffenen Seiten reichen konnte. Die Autorität nimmt die verschiedensten Formen an, sie kann etwa religiös, moralisch, familiär, politisch oder rechtlich sein. Das Recht ist eine Form der Autorität, der Macht, eines der Kriterien oder Instrumente, deren sich die Autorität bedient, um der sozialen Konfliktsituation zu begegnen, ein Zwangsinstrument, um eine bestimmte soziale Ordnung herzustellen. Das Recht tritt im sozialen Leben auf als ein Instrument der Beschränkung und der Ordnung dieser fundamentalen Bestrebungen jedes Individuums. Es handelt sich dabei um eine Beschränkung der Freiheit des Menschen, da es diese Bestrebungen beschränkt, die nichts anderes sind als ein Ausdruck der Freiheit jedes Individuums, einen Lebensplan auf den drei genannten Ebenen des Wissens, des Besitzens und des Beherrschens zu verwirklichen. Die Verwirklichung dieser Bestrebungen ist eine Form der Verwirklichung der Freiheit jedes Menschen. Gleichzeitig gebietet es aber die Achtung vor dem Menschen, vor allen Menschen, die Freiheiten aller zu harmonisieren und folglich zu beschränken. Die Autorität im allgemeinen und das Recht im besonderen erfüllen im Prinzip diese Funktion der Aufhebung der Freiheit um ihrer Erhaltung willen. Das Recht ist enthalten in dieser unauflöslichen Dialektik zwischen Freiheit und Autorität. Jede Rechtstheorie muß sich im klaren sein, daß sich kein endgültiges Argument finden läßt, das diese Dialektik aufheben und einem der beiden Elemente den Sieg zusprechen würde. Weder läßt sich eine Gesellschaft ohne Freiheit, ohne Kampf für die Freiheit, denken, noch scheint eine Gesellschaft ohne jede Autorität denkbar. Das Ideal einer Rechtstheorie wäre also die Auffindung eines vollkommenen Gleichgewichts zwischen Freiheit und Autorität oder genauer zwischen Freiheit und Recht. Um dies zu erreichen, ist es immer wichtig, ohne daß dies die Verwirklichung des Ideals bedeutet, eine Autorität und ein Recht zu haben, die sich unter anderem dadurch rechtfertigen lassen, daß sie mit der Beschränkung der Freiheit für eine größere Zahl von Subjekten mehr Freiheit ermöglichen. Letztlich muß eine transzendente Vernunft, die sich mit dem Recht auseinandersetzt, erkennen, daß sie unwiderruflich in dieser Dialektik befangen ist. Das wichtigste, das sie von ihrer kritischen Einstellung aus tun kann, ist es, das geschichtliche Recht ständig der Bewertung zu unterziehen, um festzustellen, ob es wirklich dem Erreichen von mehr Freiheit für mehr Menschen dient oder ob das Recht zu einer bloßen Verweigerung von Freiheit wird. Ebenfalls muß sie, wenngleich dies nur aus-

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nahmsweise der Fall sein wird, beobachten, ob das Recht zum bloßen Beschützer von Freiheiten wird, die sich aber, weil sie keinem strengen Harmonisierungskriterium unterworfen sind, gegenseitig zerstören. Meiner Meinung nach muß aber eine Rechtsphilosophie als kritische Theorie sich in stärkerem Maße mit den Exzessen befassen, die das Recht als Verweigerer von Freiheiten begehen kann, als mit dem Chaos, das das Recht hervorrufen kann, wenn es individuelle Freiheiten radikal verteidigt. Weder kann jedoch noch sollte meiner Meinung nach eine transzendente Vernunft, die kritisch sein soll, sich für neutral erklären angesichts dieser Konflikte und insbesondere angesichts der konjunkturellen oder umstandsbedingten Vorherrschaft, die das Recht normalerweise hinsichtlich jedes der Elemente dieser Dichotomien einnimmt. Eine kritische Vernunft muß als solche die Übertreibungen und Radikalismen anprangern, die häufig mit dem Recht einhergehen. In diesem Sinne sollte sie diejenigen impliziten Werte in diesen Dichotomien bevorzugen, die in einem bestimmten historischen Augenblick durch ihre Gegenspieler am meisten bedroht sind. Insbesondere muß sie empfindsam sein hinsichtlich der Verwirklichung der Freiheit, als Substanz der menschlichen Würde, denn die Freiheit ist der Wert, der normalerweise im Rahmen von Rechtssystemen am meisten leidet. Schließlich soll eine solche Rechtsphilosophie, neben diesen konjunkturellen und strategischen Zwecken, ein Gleichgewicht zwischen den Wertepaaren fördern, die sich aus diesen dialektischen Dichotomien ergeben. Es wurde schon gesagt, daß ein vollkommenes oder endgültiges Gleichgewicht nicht möglich ist, weil dies eine Art ewigen Frieden oder so etwas wie das Ende der Geschichte bedeuten würde, abgesehen davon, daß es, wie eine jahrtausendelange geschichtliche Erfahrung zeigt, in der Theorie und noch viel weniger in der Praxis nicht möglich ist. Aber die unabgeschlossene und unabschließbare Suche nach diesem Gleichgewicht wäre eine für die Vermeidung von Radikalismen, Fanatismen und axiologischen Dogmatismen sehr positive Zusammenarbeit. Eine so als kritische Theorie verstandene Rechtsphilosophie kann eine positive Instanz für die Zusammenarbeit im sozialen Dialog sein, der mit Hilfe des unverzichtbaren Prinzips der Volkssouveränität zur Schaffung, Reform oder Widerrufung bestimmter Rechtsnormen führt. In jedem Fall muß das letzte Wort darüber, was Recht ist oder was es sein sollte, dem Volk direkt oder vermittels seiner repräsentativen Institutionen zukommen.

Gleichheitsprinzip und Rechtstheorie Von Andrés Ollero I. Prinzipien und Normen Spricht man vom Gleichheits-„Prinzip", so ist damit ein Dualismus angesprochen, der in der Rechtstheorie wieder an Aktualität gewonnen hat. Schon vor dreißig Jahren machte man von der Unterscheidung zwischen Prinzip und Norm Gebrauch, um die Unzulänglichkeiten des Rechtspositivismus zu verdeutlichen; in jüngerer Zeit wurde die Unterscheidung wieder aufgenommen, um den Normativismus angesichts seiner Unbeugsamkeit als Erklärungsschema für die Rechtswirklichkeit in Frage zu stellen.1 Im ersten Fall zeigte sich die Realitätsferne einer Auffassung, die das positive Recht als eine bloße Menge von „gesetzten" Normen verstand; im zweiten Fall ging man noch weiter und bezweifelte sogar, daß das Recht nichts als ein „System von Normen" sei,2 wie auch immer diese gesetzt sein mögen. Von beiden kritischen Standpunkten aus läßt sich als Korollar der tatsächliche Vorrang der Prinzipien vor den Normen im rechtlichen Handlungsbereich aufstellen. Im ersten Fall wird der angeblich subsidiäre Charakter der Prinzipien (verstanden als „allgemeine Rechtsprinzipien") bestritten und statt dessen ihre informative Rolle hervorgehoben, wie sie etwa in Spanien im Rahmen der Reform des einleitenden Kapitels zum Bürgerlichen Gesetzbuch zur Anerkennung gelangte;3 im zweiten Fall wird betont, daß das Recht kein starres System von Normen ist, die nach einem Alles-oder-Nichts-Schema funk-

1 Ich beziehe mich auf J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956, und auf R. M. Dworkin , Taking Rights Seriously, London 1977. 2 F. Laporta relativisiert in seinem Aufsatz „ E l principio de igualdad: introducción a su anâlisis", in: Sistema (Madrid) Nr. 67 (1985), 5 - 12, die Bedeutung der Unterscheidung. Sie scheint ihm aufgrund der größeren Abstraktion der Prinzipien eine rein graduelle zu sein. „Ein Kriterium ist nichts anderes als eine Norm"; daraus ergibt sich, daß „das Gleichheitsprinzip so in eine Vielfalt von Normen atomisiert, aufgelöst wird". Durch diese Atomisierung des Normativismus scheint der Unterschied in der Tat nur noch ein terminologischer zu sein, aber er verschleiert etwas Reales: Man kann jetzt angesichts des diffusen Charakters seiner Prinzipien, die entweder keine Normen sind oder aber Normen sind, die seinen Gehalt nicht ausdrücklich „setzen" können, nicht mehr die Auffassung vertreten, daß das Recht in den Normen „gesetzt" ist. 3 Vgl. dazu mein „Interpretation del derecho y positivismo legalista", Madrid 1982, 131 ff. und 167 ff.

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tionieren (die also entweder angewandt oder nicht angewandt werden und die, falls sie angewandt werden, jede andere, mit anderem Inhalt versehene Norm ausschließen), sondern daß es auch und vor allem ein Gefüge von Prinzipien darstellt, die gemeinsam auftreten können, so daß jede Lösung einer Rechtsfrage zu einer Aufgabe des Gegeneinanderabwägens entgegengesetzter Prinzipien wird. Von der Diskussion darüber, wie Recht „gesetzt" wird, geht man also über zu der Auseinandersetzung darüber, woraus dieses Recht besteht (ob nur aus Normen oder auch aus Prinzipien), wobei die grundlegende Frage eigentlich offen bleibt: ob das Recht zu diesem wird, wenn und weil es gesetzt wird, oder ob es im Gegenteil aufgrund seiner „vorgegebenen" Wirklichkeit nach Positivierung verlangt. Diese Frage gewinnt besondere Bedeutung im Hinblick auf die Möglichkeit, die Geltung von Gesetzen zu kontrollieren, je nachdem, ob sie den „Wesensgehalt" bestimmter Rechte respektieren oder nicht. 4 Die Spannung zwischen Prinzip und Norm scheint sich jedoch in der spanischen Verfassungsrechtsprechung unter weniger aktuellen theoretischen Perspektiven zu zeigen, die außerdem in enger Beziehung zum Rechtsnormativismus stehen. Schreibt man dem Recht ein Moment der Verbindlichkeit zu, das von seinem Entwurf als System von „Normen" nicht zu trennen ist, dann lassen sich zwei Elemente ausmachen, die unterschiedlich behandelt werden können. Die Dynamik der „Normen" erweist sich als ungeeignet zur Erklärung des tatsächlichen Rechtslebens, weswegen man auf metanormative („metajuridische"!?) Faktoren zurückgreifen muß, um seine Funktionsweise zu erklären. Sinnvoller erscheint es, die reale Existenz von zwei Arten rechtlicher (bzw. verbindlicher) Elemente mit unterschiedlicher praktischer Bedeutung anzuerkennen: eben Prinzipien und Normen. Dies geschieht jedoch nicht. Wo das Verfassungsgericht in einem seiner Urteile das Problem der „unmittelbaren Verbindlichkeit" der in den Artikeln 14 bis 38 der spanischen Verfassung zusammengefaßten „Rechte und Freiheiten" behandelt, bezieht es sich sofort auf deren „unmittelbaren normativen Wert". 5 Unabhängig von ihren unterschiedlichen Auffassungen hinsichtlich der „Verbindlichkeit" der Verfassung teilen dabei die rechtsprechenden Organe, gegen die das Verfassungsgericht angerufen wurde (Oberlandesgericht von Sevilla und Erste Kammer des Obersten Gerichtshofs), und das Verfassungsgericht selbst - vielleicht sogar bewußt - eine normativistische Auffas4 Auf diese „naturrechtliche" Dimension des Problems, die von den Kritikern Dworkins aufgezeigt wurde, bin ich in meinem „Interpretación del derecho . . . " , zit. Anm. 3, 199ff., eingegangen. 5 Ich beziehe mich hier auf das Urteil des Verfassungsgerichts (STC) 80/1982 vom 20. Dezember, vorgetragen von F. Tomas y Valiente, Begründung 1. Ein typisches Beispiel für diese Bemühung, nicht nur „Prinzipien", sondern sogar „Werte" als „Normen" zu betrachten, um ihnen nicht ihre Bindungskraft zu nehmen, ist G. Peces-Barba, Los valores superiores, Madrid 1984.

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sung vom Recht. Das Ergebnis ist ein ganz anderes als das weiter oben aufgezeigte. Die Diskussion über die „Verbindlichkeit" der Verfassung wird zur Debatte darüber, ob bestimmte Artikel zu verstehen sind als „bloße Äußerungen von Prinzipien, die zur Orientierung der künftigen Arbeit der öffentlichen Gewalt dienen sollen" (Oberlandesgericht), so daß Art. 14 „einer Prinzipienerklärung gleichkommt" (Oberster Gerichtshof), oder ob im Gegenteil die Verfassung „unsere höchste Norm und nicht eine Programm- oder Grundsatzerklärung" ist (Verfassungsgericht). Der Normativismus führt dazu, daß man die Verfassung nicht nur als eine Menge von „Prinzipien" auffaßt, weil diesen gerade ein im eigentlichen Sinne rechtlicher Charakter abgesprochen wird und sie stattdessen dem vorrechtlichen Bereich des Programmatischen zugeordnet werden. Die konsistente Beibehaltung dieser Einstellung führt zwangsläufig dazu, daß man die „Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik", wie sie in Art. 39ff. niedergelegt sind, ihres rechtlichen Inhalts beraubt, eine Folge, die sich nur schwer verteidigen läßt. Selbst wenn sie keine „unmittelbare Verbindlichkeit" besitzen, gibt es doch keinen Zweifel an ihrem verfassungsrechtlichen Charakter, der ihnen Bedeutung für die „positive Gesetzgebung" wie für die „Rechtsprechungspraxis" verleihen kann (Art. 53, 3). Es wäre wohl die Vorstellung korrekter, daß das „Recht auf Gleichheit", dessen „Wesensgehalt" die positive Gesetzgebung und die Rechtsprechungspraxis zu beachten haben, von der Verfassung als ein rechtliches Prinzip von „unmittelbarer Verbindlichkeit" anerkannt wird, wenngleich es, wie sich noch zeigen wird, tatsächlich kaum die Rolle einer rechtlichen Norm im engeren Sinne spielen kann. Abgesehen von dieser theoretischen Unterscheidung bleibt die Tatsache bestehen, daß die Verfassung einen Vorrang der Rechte vor dem Gesetz anerkennt. „Die Notwendigkeit, daß dieses deren Wesensgehalt beachtet, impliziert, daß die Rechte schon als verbindlich für alle öffentlichen Gewalten existieren, zu denen offenbar auch ,die Richter und Beamten der rechtsprechenden Gewalt' gehören". 6 Eben dies ist der Grund für die Meinung, daß das Recht auf Gleichheit als eine direkt anzuwendende Norm zu verstehen sei (als ob nicht auch Prinzipien „angewendet" würden) und nicht als „bloßes" Prinzip. Es wird also die Ansicht vertreten, daß die Gesetze Geltung erhalten im Rahmen der verfassungsmäßigen Rechte. Damit wird der Gedanke aufgegeben, daß es für „die Entstehung der bürgerlichen Rechte" erforderlich sei, daß sie „durch spätere Gesetze entwickelt werden" (Oberlandesgericht). Dieser „vorgängige" Charakter der Rechte7 scheint entscheidend für die sich nun anschließende Analyse. 6

STC 80/1982, zit. Anm. 5, Begründung 1. Ich bin darauf in meinem Aufsatz „Para una teoria ,juridica' de los derechos humanos", in: Revista Estudios Politicos Nr. 35 (1983), 103 - 122, bes. 113ff., eingegangen. 7

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I I . Gleichheit und Recht: ein paradoxer Zirkel Der Vorrang der Prinzipien vor den Normen führt zu einer Auffassung des Rechtssystems als Geflecht von Wertungsprinzipien, die dazu dienen sollen, die gesellschaftlichen Verhältnisse in einer menschenwürdigen Weise zu regeln. Damit dies möglich ist, braucht man aber auch normative Schemata, die in der Lage sind, diesen Forderungen selbst zu genügen: allgemeine Gleichbehandlung, zeitliche Dauer, Garantien gegen Willkür (was nicht mehr nur „Normen" verlangt, sondern auch, daß diese in „primäre" und „sekundäre" unterteilt sind), usw. Die Koordinierung dieser Prinzipien führt zu einer „Rechtstheorie", die einerseits einer Anthropologie und einer Sozialphilosophie verpflichtet sein muß und die andererseits auch die praktischen Forderungen zu berücksichtigen hat, die als historische Manifestation des theoretischen Inhalts erscheinen und vor deren Hintergrund sich ihre mehr oder weniger große Richtigkeit erweist. Aus diesem Blickwinkel läßt sich der Vorrang des Rechts vor den Gesetzen übersetzen als derjenige der Verfassungsprinzipien vor den Gesetzesnormen und den Urteilen der Rechtsprechung (also den partikulären Normen, wie Kelsen sagen würde). Will man nun dieses „Recht" bestimmen, das die Gesetze bedingt, dann muß man sich mit einem Prinzipiengeflecht befassen, in dem das Prinzip der Gleichheit eine doppelte Rolle spielt: einerseits aufgrund der theoretischen Bedeutung, die ihm die spanische Verfassung zuerkennt, indem sie es zu den „höheren Werten" der Ordnung zählt (Art. 1.1) und es an die Spitze der „Rechte und Freiheiten" stellt (Art. 14); außerdem aber auch, weil die praktischen Forderungen, durch die dieses Grund-„Recht" verwirklicht und unter Beweis gestellt werden kann, mit erdrückender Mehrheit - auf allen vorgesehenen Wegen: Verfassungsklage, Amparo-Klage, Anzweifeln der Verfassungsmäßigkeit - zur Forderung nach Gleichheit geworden sind. 8 Nur die in Art. 24 vorgesehenen Verfahrensgarantien haben ein ähnliches praktisches Echo erfahren. Wenn man also weiß, worin die Gleichheit besteht, dann ist man in dem Bemühen um eine Bestimmung jener zugrundeliegenden „Rechtstheorie" ein gutes Stück weiter gekommen, ohne daß man damit der Notwendigkeit enthoben wäre, den Zusammenhang der Forderungen dieses Prinzips mit denen anderer Prinzipien 9 von mehr oder weniger großer theoretischer Bedeutung oder praktischer Relevanz näher zu untersuchen. 8

Unter den Arbeiten, die die umfangreiche Rechtsprechung dazu erstmals katalogisierten, vgl. L. Lopez Rodò , El principio de igualdad en la jurisprudencia del Tribunal Constitucional, in: Anales Real Academia Ciencias Morales y Politicas Nr. 60 (1983), 297 und 311; A. Cano Mata, El principio de igualdad en la doctrina del Tribunal Constitucional, Madrid 1983, sowie E. Alonso Garcia, El principio de igualdad del articulo 14 de la Constitución Espanola, in: Revista Administración Pùblica Nr. 100 - 102 (1983), 21 - 92. 9 Oder auch mit anderen Dimensionen des Gleichheitsprinzips selbst, wie sie in Art. 9.2 niedergelegt sind, der zur Förderung von Bedingungen und zur Beseitigung von

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Das Recht führt also zur Gleichheit, wenn man sich näher mit seinem Inhalt befassen will. Würde es sich um eine leicht zu formalisierende arithmetische Gleichheit handeln, so wären die entsprechenden Bemühungen erfolgversprechend. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Man braucht nur von den theoretischen Ansätzen zu den praktischen Forderungen überzugehen, um sofort festzustellen, daß das Gleichheitsprinzip ungleiche Behandlung nicht ausschließt. Ganz abgesehen davon, daß die spanische Verfassungsrechtsprechung - in diesem wie in anderen Fällen - unter dem Mangel an einer auch nur minimalen terminologischen Einheitlichkeit leidet, kann man sagen, daß nicht jede „Ungleichheit" auch „Diskriminierung" 1 0 im Sinne von Art. 14 impliziert. Entscheidend ist, ob die Behandlung hinreichend „gerechtfertigt" scheint in dem Sinne, daß man in überzeugender Weise die Gleichheit der Gleichbehandelten bzw. die Ungleichheit der Ungleichbehandelten darstellt. Dies führt zu einer paradoxen Zirkularität. Das vorgesetzliche Recht verweist uns auf vornormative Prinzipien. Eines der Grundprinzipien - das der Gleichheit - bietet jedoch keineswegs einen klaren Bewertungsmaßstab, sondern verweist seinerseits auf einen „Rechtfertigungs"-Akt, der sich, wie man unschwer erkennt, auf eine ganz besondere „Theorie der Gerechtigkeit" gründet. Abgesehen davon, daß ihre explizite Darstellung vorwiegend praktischer Art ist, kann eine solche Theorie der Gerechtigkeit - mit ihrer Anthropologie und Sozialphilosophie - nichts anderes sein als eben die „Rechtstheorieum deren Bestimmung es von Anfang an ging. Nur mit einem Verständnis (bzw. Vor-Verständnis) von ihren Forderungen läßt sich also in Erfahrung bringen, welches die Inhalte dieses unsere Gesetze bedingenden Rechts sind. Die entscheidende Aufgabe der „Rechtfertigung" gleicher oder ungleicher Behandlung läßt sich nicht durch streng logisches Vorgehen lösen; sie kann aber auch nicht der Willkür überlassen werden. Rechtfertigen heißt, eine „objektive und vernünftige Begründung" geben. Es scheint durchaus nicht unnütz, sich mit diesen drei Termini auseinanderzusetzen, auch wenn man erneut betonen muß, daß Verfassungsrichter die Freiheit besitzen sollten, Begriffe eher mit juristischer Unbefangenheit als mit philosophischer Strenge zu behandeln. Begründung bedeutet offenbar die Darlegung einer Grundlage; also von etwas, auf das sich ein Urteil stützen kann, um nicht zu bloßem Dezisionismus ohne Grundlage zu verkommen. Damit eine Begründung als objektiv angesehen werden kann, scheint es unerläßlich, daß es ein Objekt gibt, auf das man verweisen kann, denn andernfalls stünde der Richter mit seinen subjektiven Entscheidungen allein da. Die Hindernissen für die Gleichheit derart auffordert, daß damit die ungleiche Behandlung der derzeit noch Ungleichen gerechtfertigt werden kann. 10 Zum Beispiel das Verfassungsgerichtsurteil (STC) vom 2. Juli 1981, Begründung 3, vorgetragen von G. Begué, der sich auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berief.

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Erkenntnis dieser objektiven Wirklichkeit bleibt dabei nicht der Gabe zur Intuition überlassen, die sich der jeweilige Richter selbst zuschreiben könnte. Denn jede objektive Wirklichkeit ist in der Lage, sich demjenigen Richter zu offenbaren, der sich der Mühe unterzieht, das Wissen um die Existenz dieser Wirklichkeit mit Hilfe einer vernünftigen Argumentation überzeugend weiterzugeben. A n diesem Punkt könnte man schon einwenden, daß dies zu weit geht. Immerhin wird damit ja zugegeben, daß das Recht mit seiner Aufgabe von eindeutig praktischer Dimension eine rational erfaßbare, objektive Wirklichkeit besitzt. Ontologie und praktische Vernunft, damit geht es los. Der Ansatz zeichnet sich zweifellos weder durch übergroße Vorsicht noch durch allzu geringen Ehrgeiz aus; eine konsistente Alternative ist aber nicht leicht zu finden. Läßt man sich darauf ein, objektive und vernünftige Begründungen zu gebrauchen oder auch zu mißbrauchen, so kann dies, auch wenn man sich vor dem Anschein hütet, daß man die Existenz einer realen Grundlage, einer objektiven Wirklichkeit und der Fähigkeit, diese rational zu erfassen, behauptet, letztlich - so wenig man dies auch beabsichtigen mag - eine äußerst anmaßende Form von Selbstüberschätzung sein. Wenn das ganze Gerede vom Recht weiter nichts ist als ein Jargon, der dazu beitragen soll, daß derjenige, der herrscht, tut, was er will, solange man ihn läßt, dann können diese - und andere, weit verdienstvollere - Überlegungen nichts weiter sein als bloße Sphärenklänge. Nimmt man die Sache ernst - was vielleicht eine gehörige Dosis an Naivität voraussetzt - , dann stellt man fest, daß man mit nichts geringerem befaßt ist als mit der Suche nach dem „objektiven Recht" (im klassischen vorgesetzlichen Sinne) und mit dem Bemühen darum, es mit Hilfe einer Vorgehensweise zu umreißen und abzugrenzen, die beansprucht, gleichzeitig rational und praktisch zu sein. Es geht nicht darum, eine substantielle „objektive" Wirklichkeit zu erfassen, indem man sie unter der Oberfläche des äußeren Anscheins hervorzieht, oder darum, ein vollständig definiertes „Objekt" festzuhalten, sondern darum, unter konkreten Verhältnissen die rechtlichen Forderungen interpretati ν zu verstehen, die aus ihnen entstehen. 11 Theorie und Praxis stehen in ständiger Wechselwirkung. Es geht nicht darum, die Implikationen aus einem Grundprinzip geometrisch darzustellen oder eine Lösung aufzunehmen, die in dem Fall selbst vorgegeben ist. Für die Richter ist „die Gleichheit... nur dann verletzt, wenn es für die Ungleichheit keine objektive und vernünftige Recht11 A. Kaufmann zeigt, wie die hermeneutische Zirkularität substanz-ontologische Versuche zunichte macht und zu einer „relationalen" Ontologie drängt. Vgl. „Gedanken zu einer ontologischen Grundlegung der juristischen Hermeneutik", in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für H. Coing zum 70. Geburtstag, München 1982, Bd. 1, 537 - 548.

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fertigung gibt", aber „die Existenz dieser Rechtfertigung ist im Verhältnis zu Zweck und Wirkungen der betreffenden Maßnahme zu betrachten, wobei zwischen den eingesetzten Mitteln und dem verfolgten Zweck ein vernünftiges Verhältnis bestehen muß". 1 2 Man erkennt leicht die teleologische Dimension dieser Erkenntnisoperation. Doch damit ist man der Zirkularität noch nicht entkommen. Nur wenn man ein Vorverständnis von zulässigen und unzulässigen Zwecken besitzt, kann man verstehen, ob eine Maßnahme gerechtfertigt ist oder nicht. Man darf die Wirkungen nicht vergessen, von denen einige vielleicht abzulehnen sind, sofern sie nach dem Vorverständnis für unerwünscht angesehen werden. Damit wird nun aber nicht der Konsequentialismus verfochten, denn ein Ziel rechtfertigt nicht jedes Mittel, sondern nur solche, die nach dem Vorverständnis in einem vernünftigen Verhältnis zum Ziel stehen. Ohne Vorverständnis läßt sich gar nichts verstehen, wenn auch das praktische Bemühen um Verständnis andererseits vor der dunklen Übereile des Vorverstandenen bewahrt. Der Leser wird gewiß verstehen, daß als logische Folge des Bemühens um die getreue Wiedergabe eines Sich-im-Kreise-Drehens das hier aufgetretene Schwindelgefühl unvermeidbar ist. I I I . Wie läßt sich Ungleichheit rechtfertigen? Die gesetzliche Regelung des Ruhestands für Erwerbstätige bot Gelegenheit für ein bezeichnendes Beispiel der vorhandenen Möglichkeiten zur Rechtfertigung von Ungleichheit. Die fünfte Zusatzbestimmung des Erwerbstätigengesetzes (Gesetz 8/1980 vom 10. März) schuf eine „oberste Altersgrenze" für die „Arbeitsfähigkeit" und das „Erlöschen von Arbeitsverträgen", die von der Regierung zu bestimmen sei. „ I n jedem Fall beträgt das Höchstalter 69 Jahre." Nachdem ein Erwerbstätiger wegen Erreichens dieser Altersgrenze ausgeschieden war, legte der Arbeitsrichter Verfassungsbeschwerde ein, unter anderem wegen Unvereinbarkeit mit Art. 14. Das Urteil stellte in der Beschwerdebegründung bis zu „drei Argumentationslinien" fest, 13 die es der Verfassung gegenüberstellt. Bezüglich der ersten ist es der Ansicht, daß es „nicht vernünftig" sei anzunehmen, daß „alle Erwerbstätigen im gleichen Alter" körperlich oder geistig arbeitsunfähig werden. Damit wird man auf eine Tatsachenfeststellung verwiesen - Ungleichheit der körperlichen und geistigen Verfassung - , um eine mögliche rechtliche Gleichbehandlung abzulehnen. Andererseits könne man diese Einschränkung des Rechts auf Arbeit nicht damit „rechtfertigen", daß 12 13

STC 2. Juli 1981, zit. Anm. 10, Begründung 3, Hervorhebung hinzugefügt. Ebd., Begründung 4.

11 Garzón Valdés

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man eine solche Arbeitsunfähigkeit für die „nicht selbständig Beschäftigten" annimmt, ohne daß davon auch die freie Ausübung der gleichen beruflichen Tätigkeit betroffen wird. Es wird also jetzt bestritten, daß zwischen den Bürgern eine faktische Ungleichheit besteht, die als Grundlage für die mögliche Festlegung einer rechtlichen Ungleichheit dienen könnte. Schließlich wird die Gleichsetzung eines Höchstalters für die Erwerbstätigkeit mit der Festlegung eines Mindestalters zurückgewiesen, da letztere eine „Maßnahme [ist], die sich an in die Verfassung aufgenommenen Prinzipien und Grundwerten orientiert". 1 4 Wir sind also, kurz gesagt, alle körperlich und geistig verschieden genug, um nicht im gleichen Alter in gleichem Maße für arbeitsunfähig gehalten werden zu können; wir sind alle gleich zu behandeln, sobald wir für körperlich oder geistig unfähig gehalten werden, unabhängig davon, ob wir abhängig oder selbständig beschäftigt sind. Die Zurückweisung der Gleichsetzung von Höchst- und Mindestalter für die Erwerbstätigkeit dagegen verläßt die tatsachengestützte Argumentation und verlegt sich auf die Bewertung des verfolgten Zwecks. Die „zweite Argumentationslinie" 15 weist eine mehr bewertende Dimension auf, da hier zur Diskussion gestellt wird, ob man den Altersruhestand als eine „Errungenschaft auf dem Weg zur Humanisierung der Arbeit" im Rahmen einer „Politik des Schutzes des dritten Lebensalters" zu verstehen hat. Damit nähert man sich der historischen Dimension von objektiven Wirklichkeiten, die eine ungleiche Behandlung begründen können. Niemand scheint zu bezweifeln, daß der Schutz des dritten Lebensalters rechtlich geboten ist; trotzdem wird eine Maßnahme, die noch vor hundert Jahren zweifellos diesbezüglich als eine „Errungenschaft" angesehen worden wäre, heute unter „entgegengesetzten Vorzeichen" gesehen. Die Arbeit, die früher aufgrund der Umstände, unter denen sie geleistet wurde, vorwiegend als eine Last empfunden wurde, von der man befreit werden wollte, erscheint heute in einem veränderten gesellschaftlichen Kontext als menschliche Dimension, 16 die man bestenfalls „freiwillig" und in einem „allmählichen Übergang" aufzugeben bereit ist. Die gleiche reale und objektive Forderung nach dem Schutz des dritten Lebensalters, die in einem bestimmten historischen Augenblick den „obligatorischen" und „radikalen" Zwangsruhestand verlangte, stellt unter anderen historischen Umständen den „freiwilligen und allmählichen" Ruhestand als wünschenswert dar. Hieraus relativistische Folgerungen über die objektive Begründung des Schutzes des dritten Lebensalters abzuleiten, scheint nicht besonders vernünftig. Auf jeden Fall wird heutzutage die Zwangspensionie14

Ebd., Begründung 5. Ebd., Begründung 6. 16 Dies habe ich in meinem Aufsatz „ E l trabajo corno fuente de socialización" in dem Sammelband Estudios sobre ,Laborem exercens', Madrid 1987, 317 - 344, behandelt. 15

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rung nicht mehr als „Errungenschaft" dargestellt, die „die Einschränkung der Wahrnehmung des Rechts auf Arbeit rechtfertigen" könnte. Ein Einkommen zu haben, ohne zu arbeiten, wird nicht mehr als Ideal betrachtet, und zwar nicht nur, weil man mehr verdient, wenn man arbeitet, sondern durch die menschliche Entwurzelung, zu der die Ausgrenzung aus dem Arbeitsleben führen kann. Hieraus ergibt sich folglich die Aufforderung zu einer anthropologischen Diskussion über den menschlichen Wert der Arbeit und über die Diskriminierung, die darin liegt, daß jemand von einem bestimmten Alter an zur Aufgabe gezwungen wird, ohne daß körperliche oder geistige Unfähigkeit vorliegt, die dies rechtfertigen könnte. Die „dritte Argumentationslinie" 17 vertieft diese Richtung noch, da hier die sozialphilosophischen Folgen näher betrachtet werden, die sich aus dieser Auffassung vom Menschen ergeben. Der Mensch ist nicht nur Einzelperson - die unbeschränkte Ansprüche stellen kann - , sondern auch ein soziales Wesen: er besitzt Rechte, die per definitionem 18 nur vorstellbar sind als aus Gründen der Solidarität eingeschränkte Ansprüche. Das „individuelle" Recht auf Arbeit kann so eben „eingeschränkt" werden durch eine „kollektive Perspektive" des Rechts auf Arbeit im Rahmen einer Vollbeschäftigungspolitik. Die allgemeine und individuelle „Freiheit zur Arbeit" kann sich konkret nur ergeben als „Recht auf einen Arbeitsplatz" 19 innerhalb eines Kollektivs, in dem produktive Arbeit inzwischen ein knappes Gut geworden ist. Wie kann man sie also verteilen, ohne gegen die Gleichheit zu verstoßen? Soll man sie in genau gleich große Teile zerstückeln? Soll man sich auf Kriterien berufen, die eine ungleiche Verteilung rechtfertigen können? Kann man dafür eine reale und objektive Begründung finden? Indem es sich auf „die Solidarität, die reale und effektive Gleichheit und die Beteiligung aller am wirtschaftlichen Leben des Landes" beruft, erachtet das Urteil die Einschränkung „wegen ihres Beitrags zum Gemeinwohl" für „gerechtfertigt", „wenn man die negativen sozialen Folgen berücksichtigt, die mit der Arbeitslosigkeit von Jugendlichen einhergehen". 20 Man könnte noch viele andere Gesichtspunkte ins Spiel bringen: man könnte der Auffassung sein, daß die von einem Beschäftigten geleisteten Dienste für die Gemeinschaft es rechtfertigen, daß er seinen Arbeitsplatz nur freiwillig aufgeben muß, ohne daß er ihm einfach entzogen wird; man könnte den sozialen Gewinn aus der erworbenen Erfahrung in Rechnung stellen und je nach der Art der Beschäftigung unterschiedliche Höchstgrenzen festlegen, 17 18 19 20

11*

STC 2. Juli 1981, zit. Anm. 10, Begründung 7. „Para una teoria ,juridica' . . . " , zit. Anm. 7, 105 ff. STC 2. Juli 1981, zit. Anm. 10, Begründung 8. Ebd., Begründung 9.

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usw. In jedem dieser Fälle liefert die jeweilige Lösung einen Beitrag zu einem praktischen Entwurf eines bestimmten „Gesellschaftsmodells" 21 und zur Stützung einer bestimmten Auffassung vom Menschen. Es scheint hier bei der Suche nach dem geringeren Übel den Erfordernissen des Überlebens der Gesellschaft Vorrang eingeräumt worden zu sein. So paradox dies auch scheinen mag, wird hier der Jugendliche dem älteren Menschen vorgezogen, vielleicht aufgrund seines höheren Aggressionspotentials oder weil man annimmt, daß seine Fähigkeit zu Altruismus und ethischer Selbstkontrolle geringer ist. Mit Hilfe von Rechtsmitteln verzichtet man darauf, die vorhersehbaren „gesellschaftlichen Folgen" zu mildern, und geht stattdessen den Weg des geringsten Widerstands. Ist die Entscheidung für diese Alternativer erst einmal gefallen, dann wird eine damit völlig konsistente Zusatzforderung gestellt: die Pensionierung „darf keinesfalls zu einem Wegfall von Arbeitsplätzen führen", und sie muß mit einer „Entschädigung" verbunden sein, durch die eine Rente garantiert wird. Nicht die Geschichtlichkeit hat hier zu einer ganzen Reihe von Problemen geführt, indem sich aus einem einzigen Bewertungsprinzip immer neue Dimensionen ergeben haben. Es hat sich vielmehr die Problematik der konkreten Einzelfälle gezeigt, bei denen verschiedene Prinzipien und Gesichtspunkte zum Tragen kommen, die sich nicht gegeneinander abwägen oder miteinander vereinbaren lassen. Die „Solidarität" führt zu ganz unterschiedlichen Imperativen, je nachdem, ob man die der Erwachsenen mit den Jugendlichen ins Auge faßt oder umgekehrt. In beiden Fällen wäre die Alternative „solidarisch". Gibt es aber eine reale und objektive Grundlage, nach der man die eine als solidarischer als die andere ansehen könnte? Die argumentative Bemühung des Urteils scheint dies vorauszusetzen. Um es aber noch einmal zu sagen: Die Verschiedenheit der Betrachtungsweisen nimmt der betrachteten Wirklichkeit nicht ihre Objektivität. Sie vereitelt jedoch den Anspruch, die „Objektivität" als Allheilmittel darzustellen, und schützt so vor jedem Versuch der Monopolisierung einer angeblich offenkundigen Erfassung der Wirklichkeit. Aus der Sicht einer neoindividualistischen Philosophie würde beispielsweise nicht die Realität der schädlichen Folgen bestritten, die die Jugendarbeitslosigkeit für das gesellschaftliche Leben impliziert; es würde aber sehr wohl argumentiert, daß ein Arbeitsplatz, den jemand vielleicht aufgrund eigener Verdienste erworben hat und der kompetent ausgefüllt wurde, seinem Inhaber nicht entzogen werden kann, ohne diesen in seiner eigenen Würde zu verletzen. Keine auf gesellschaftliche Optimierung ausgerichtete „Politik"

21

Vgl. dazu „Para una teoria Juridica' . . . " , zit. Anm. 7, 110. Die gleiche Folge, die sich auch im wirtschaftlichen Handeln zeigt, habe ich in dem Aufsatz „,Balance social' y modelo de sociedad" in dem Sammelband „ E l balance social de la empresa y las instituciones financieras," Madrid 1982, 73 - 88, bes. 82ff., behandelt.

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könne die Manipulierung von Grundgütern rechtfertigen, die aus „Prinzip" 2 2 nicht zur Verhandlung freigegeben seien. Die Folgerung aus dieser unausweichlichen Problematik der praktischen Probleme nötigt jedoch nicht zur Annahme eines skeptischen Relativismus, also eines Nonkognitivismus, der an die Stelle der Diskussion die willkürliche Entscheidung setzt. Sie führt auch nicht zu künstlichen Formeln, die die Folgen abschwächen, indem sie versuchen, einen argumentativen Diskurs aufrecht zu erhalten, ohne jedoch von einer realen und objektiven Grundlage auszugehen. Wenn es keine objektive Wirklichkeit gibt, auf die man sich berufen kann, dann wird das Argument zur rhetorischen Verbrämung der Entscheidung. Die Sprache beschränkt sich dann darauf, Gewalt zu verschleiern, ohne von einer Wirklichkeit zu künden, die ja schon vorher als inexistent beurteilt wurde. Das Problem verschärft sich noch, weil die praktische Problematik immer im Rahmen der historischen Dynamik entsteht. Es ist noch einmal zu betonen, daß diese „objektive" Wirklichkeit - der einzige Faktor, der dem Diskurs einen Sinn verleiht und der verhindert, daß dieser zu „ideologischer" Spitzfindigkeit verkommt - kein „fertiges und endgültig festgelegtes Objekt" ist, sondern eine reale Forderung, die - wie wir gesehen haben - dazu bestimmt ist, bei einer konkreten Gelegenheit Gestalt zu gewinnen. Nur das Vorurteil, daß man keine andere Wirklichkeit wahrnimmt als die, die in den Rahmen der naturwissenschaftlichen „Objektivität" paßt, 23 führt zu einem radikalen Unbehagen angesichts dieses Ansatzes und dazu, daß man Trost sucht in dieser pittoresken „Objektivität", die auf mysteriöse Weise erzeugt wird im Laufe eines geistreichen Dialogs, der in der Lage ist, dem Nichtexistenten eine reale Grundlage zu verschaffen. Das Dilemma gewinnt beträchtliche Bedeutung, wenn man feststellt, daß das Gleichheitsprinzip nicht etwa eine präzise Lösung bietet, sondern daß es „letztlich die Rolle einer Art Generalklausel der Vernünftigkeit spielt". 24 Können die Gleichheitsforderungen auf eine reale Grundlage bauen? Ist „Gleichheit" nur ein Zauberwort, mit dessen Hilfe man sich darauf einigen kann, etwas „für gerecht zu halten", daß nicht mehr und nicht weniger gerecht ist als sein Gegenteil? Wenn die zweite Antwort richtig wäre, dann wäre man gezwungen zuzugeben, daß das Recht nichts weiter ist als eine spielerische

22

Ich beziehe mich auf die von Dworkin vorgeschlagene Unterscheidung zwischen „principles" und „policies"; für eine Kritik an dem dabei möglichen individualistischen Spiel vgl. mein „Para una teoria 'juridica' . . . " , zit. Anm. 7, 115 f. 23 A. Kaufmann zeigt die gleiche Folge auf, wenn man eine substantielle Ontologie auf das Recht projiziert; vgl. sein „Über den ,Wesensgehalt' der Grund- und Menschenrechte", in: ARSP LXX/3 (1984), 384 - 399. 24 Plädoyer des Rechtsvertreters des Staates, aufgenommen in Schriftsatz 9. b) des in Anm. 10 zit. Urteils.

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Konvention, um die Einigung derer zu erreichen, die (angeblich) entschlossen oder (praktisch) verdammt sind zur gegenseitigen Verständigung. Die in der ,,Begründung"(!) des Urteils vorgebrachte Argumentation geht genau vom Gegenteil aus, nämlich davon, daß das Recht eine „vernünftige" Lösung des Problems bietet, weil es reale und objektive Grundlagen gibt, auf die sich diese Lösung stützen läßt, und Argumente, mit denen man ihre rationale Erkenntnis vermitteln kann. Es gibt also „Gründe", auf die man sich stützen, und folglich „Gründe", mit denen man überzeugen kann. Dieses doppelte rationale Bemühen (um Erkenntnis und um Vermittlung) ist aufgrund eines doppelten Imperativs, der für die „konzentrierte" Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit charakteristisch ist, von ganz besonderer Art: Einerseits ist der Spielraum der verschiedenen Gewalten zu beachten (ohne daß eine Einmischung stattfindet in das Vorrecht der Legislative, die „Rechtstheorie" historisch abzugrenzen, die den Rahmen für die Verfassung darstellt, und ohne daß der den Richtern überlassene Bereich der praktischen Argumentation ausgedehnt würde) ; andererseits sind die Normen solange wie möglich zu „erhalten", vorausgesetzt, sie gestatten zumindest eine verfassungsgemäße Interpretation. Der erste Aspekt ist mit dem Entwurf des Diskurses als bloßer prozedural stilisierter Entscheidung vereinbar. Das Gericht nimmt danach nicht an einem Dialog über etwas teil, für das es keine Kompetenz besitzt. Der zweite Aspekt ist von diesem ersten aus unverständlich. Warum sollte man das Verfahren durch Multiplizierung der Instanzen noch komplizierter machen, wenn man nur auf prozedural kanalisierte Willkür abzielt? Allein die Notwendigkeit, einen „Wesensgehalt" zu schützen, der in seiner „Grundlage" so real und objektiv ist wie fragwürdig und historisch in seiner praktischen Reichweite, zwingt das Gericht dazu, eine „vernünftige" Lösung sogar jenseits der von den Parteien vorgebrachten Argumente zu suchen. Und dies ist genau das, was in der unerwarteten Koda des hier kommentierten Urteils geschieht. Hier wird die Zwangspensionierung (mit der sich daraus ergebenden Ungleichbehandlung von Jungen und Alten) zwar für gerechtfertigt gehalten, sie gilt aber nicht als durch das Gesetz schon wirklich eingeführt, sondern als abhängig von ihrer wirksamen Durchsetzung durch die Regierung, womit ein Aspekt angesprochen ist, über dessen Vereinbarkeit mit der Verfassung nicht geurteilt wird. Dies ist bemerkenswert, denn keiner der an der eingehenden Diskussion Beteiligten scheint diese Interpretation ins Auge gefaßt zu haben. Alle hielten die Zwangspensionierung ohne weiteres auf gesetzlichem Wege für eingeführt. Dies wurde zugrundegelegt von den Änderungsanträgen zum Gesetzestext,25 vom Berichterstatter vor der Kammer, 26 vom 25

Diese sind im Gutachten des Berichterstatters aufgelistet. So etwa der kommunistische Änderungsantrag Nr. 598, der unterschiedliche Grenzen für „freiwillige und

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Staatsanwalt bei seinem Widerstand gegen den Versuch, die Frage der Verfassungswidrigkeit aufzuwerfen, 27 vom Rechtsvertreter des Staates in seinen Plädoyers, 28 vom Generalstaatsanwalt in den seinigen29 und sogar von einem der Richter. 30 Für das Gericht bedeutet dies jedoch eine „isolierte Interpretation des Absatzes", die sich von der unterscheidet, zu der man kommt, wenn man „Sinn und Zweck des Paragraphen, zu dem er gehört" sowie „Natur und Zweck der Vorschrift" und „eine systematische, teleologische Interpretation" zugrundelegt. 31 Bemerkenswert ist, daß das Urteil, obwohl es nur ein Jahr nach Erlaß des Gesetzes ergeht, in seiner Begründung keinerlei Hinweis auf die parlamentarische Diskussion enthält, auf die sich eine „historische" Interpretation des umstrittenen Paragraphen stützen könnte. Man ist offenbar mehr daran interessiert, eine „vernünftige", „erhaltenswerte" Lösung zu finden, als an der Tatsache, daß der Gesetzgeber über eine solche tatsächlich schon nachgedacht hat. I V . Praktische Dimension der Rechtsgleichheit Vom theoretischen Standpunkt ist die Gleichheit nur eines der Elemente jener Gerechtigkeit, die den zentralen Kern der rechtlichen Forderungen ausmacht. Während die Freiheit die affirmative Dimension der Würde der Person ausdrückt, bezieht sich die Gleichheit auf die Forderungen der ontologischen Gleichartigkeit 32 aller Menschen und damit auf die einer solidarischen Alterität eigene kreative Dimension. Das praktische Spiel geht über diese begriffliche Unterscheidung hinaus, da Freiheit und Gleichheit zwei „Prinzipien" sind, die nur dann „Gerechtigkeit erzwungene Pensionierung" vorschlägt, oder der andalusische Änderungsvorschlag Nr. 802, in dem „die Festsetzung eines Pflichtalters für den Ruhestand" abgelehnt und stattdessen für „freiwilligen Ruhestand" votiert wird; vgl. „Estatuto de los Trabajadores. Trabajos Parlamentarios", Madrid 1980, Bd. 1, 359, 265 und 325; Bd. 2, 973. 26 Er gibt zu, daß man über eine Altersgrenze für einen „Zwangsruhestand" diskutiert, die die Regierung „herabsetzen" könnte; vgl. „Estatuto de los Trabaj adores", zit. Anm. 25, Bd. 2, 975. 27 „Es bedeutet keinerlei Verfassungswidrigkeit, wenn die Cortes diese für die Beamten schon existierende obligatorische Regel einführen"; vgl. Schriftsatz 6 des in Anm. 10 zit. Urteils. 28 Er sieht eine „Obergrenze für den Verbleib am Arbeitsplatz" festgelegt, wobei die Regierung eine niedrigere Grenze bestimmen kann; vgl. Schriftsatz 9. a) des genannten Urteils. 29 Die Aussage des Gesetzes scheint ihm eindeutig: „auch wenn die Regierung von der ihr übertragenen Ermächtigung keinen Gebrauch macht, wird diese Altersgrenze imperativ festgelegt"; vgl. Schriftsatz 10. a) des Urteils. 30 „Die besagte Bestimmung führt in unser Arbeitsrecht ganz allgemein die Zwangspensionierung ein"; Sondervotum Nr. 4 zum genannten Urteil. 31 STV 2. Juli 1981, zit. Anm. 10, Begründung 10. 32 Vgl. dazu S. Cotta, La coesistenza come fondamento ontologico del diritto, im Anhang von „Giustificazione e obbligatorietà delle norme", Mailand 1981, 125 - 128.

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schaffen" können, wenn sie Hand in Hand gehen und jeweils als Gegengewicht zum anderen wirken. Gerechtigkeit kann niemals die theoretische Summe endgültiger Freiheits- und Gleichheitsforderungen sein, die im konkreten Einzelfall meistens einander entgegenstehen, sondern besteht in deren praktischer Abstimmung. 33 Die Notwendigkeit, Berufungen auf die Gleichheit zu „rechtfertigen", bringt schon Freiheitsforderungen in die Diskussion ein, die eine im richtigen Verhältnis stehende Ungleichbehandlung begründen können. Die Rechtstätigkeit - die Aufgabe, „Gerechtigkeit zu schaffen" - wird also zur konkreten Entfaltung einer „praktischen Philosophie", die dazu beiträgt, die Wirklichkeit im Einklang mit einigen Prinzipien existentiell zu gestalten, während sie gleichzeitig ihren Wesensgehalt erkennt. Gerechtigkeit zu schaffen - Freiheit und Gleichheit ausgewogen zu dosieren - bedeutet, zur Verwirklichung objektiver Forderungen beizutragen, deren konkrete Reichweite man nur durch eine kluge Praxis erkennen kann. Die Klugheit des Juristen muß Forderungen mit realer und objektiver Grundlage, die aber vielleicht angesichts der Freiheit menschlicher Praxis bloße Möglichkeit bleiben könnten, zu existentieller Wirklichkeit verhelfen. Er entwirft so allmählich praktisch eine bestimmte Vorstellung vom Menschen und von der Gesellschaft, die unvermeidlich eine ethische und eine politische Dimension hat. So hat eine Wirklichkeit Existenz erlangt, deren Grundlage sich schon abgezeichnet hatte. Objektivität und Historizität stehen sich nicht mehr konfliktiv gegenüber, da man nun schon - mit mehr oder weniger großem Erfolg - dabei ist, eine Existentialobjektivität zu beleuchten, die eine nichtrelativistische Historizität mit sich bringt. Das Recht als „vernünftige" Lösung - eine der fruchtbarsten Notlösungen dazu ist die Berufung auf die Gleichheit - ist nicht bloß ein prozedurales Spiel, sondern das Bemühen, in einem interpretativen Spiel, das zugleich Erfassung und Ausdruck, Geben und Nehmen von Sinn ist, eine Wirklichkeit zu gestalten. Diese Interpretation darf nicht zu willkürlicher Vorgehensweise verkommen, da aus eben der Wirklichkeit, deren Entwicklung angestrebt wird (Freiheit und Gleichheit, Würde der Person und Parität) prozedurale Forderungen entstehen. Es ist nicht gleichgültig, wie diese historische Dimension gestaltet wird, da es ja gerade ein objektives Was 34 mit einem Wesensgehalt gibt, der ihre Entfaltung völlig bestimmen muß.

33 G. Peces-Barba weist darauf hin, daß die Gerechtigkeit „die Begriffe der Freiheit und Gleichheit als materiellen Gehalt" besitzt; vgl. „Los valores superiores", zit. Anm. 5, 27. Auch F. Laporta faßt Gerechtigkeit auf als „generische Vokabel", die sowohl Gleichheit als auch Freiheit umfaßt; vgl. „ E l principio de igualdad . . . " , zit. Anm. 2, 26. 34 Vgl. dazu A. Kaufmann, Teoria de la justicia: un ensayo histórico-problematico, in: Anales Câtedra Francisco Suârez Nr. 25 (1985), 62, sowie meine Arbeit „Consenso: ^racionalidad ο legitimation?", in: ebd., 163 - 182, bes. den Schlußabsatz.

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Dieses „interpretative Urteil" zeigt mit besonderer Klarheit den instrumenteilen Charakter des Buchstabens des Gesetzes, wenn es darum geht, das Recht zu verwirklichen. Es kommt darauf an, Gerechtigkeit zu schaffen. Da dies nicht angesehen werden kann als eine Aufgabe, die von angeblichen Sehern der Rechtswirklichkeit monopolisiert werden darf, muß man angemessene Verfahrenswege („sekundäre Normen") schaffen, um die Entscheidungen von Gesetzgebern und Richtern („primäre Normen") zu beleuchten. Aber dieses Wie, mit dem die Enthaltung des Verfassungsgericht angesichts der Vielfalt möglicher gesetzgeberischer Entwicklungslinien bzw. angesichts unterschiedlicher richterlicher Tatsachenbewertungen gerechtfertigt wird, bleibt einem Was untergeordnet, dessen Wesensgehalt von eben diesem Gericht garantiert werden muß - nötigenfalls auch über die ausdrücklichen Absichten des gesetzgeberischen oder rechtsprechenden Organs hinweg.

Die Grundpflichten Von Gregorio Peces-Barba Martinez I. Historischer Ursprung a) Der Begriff der Pflicht taucht in der Geschichte in ethischen und in religiösen Kontexten auf. Wie bei vielen anderen Rechtsbegriffen auch ist sein Ursprung von der religiösen Dimension ebensowenig zu trennen wie anfänglich überhaupt das gesamte Recht (Numa Denis Fustel de Coulanges). Der entscheidende Einfluß des Pflichtgedankens auf das Recht ergab sich im Anschluß an den Übergang zur Moderne durch den Beitrag des Stoizismus zunächst zum Rechtshumanismus und später zum rationalistischen Rechtsnaturalismus (Michel Villey). Schon bei den Römern hatte der Stoizismus Cicero beeinflußt, über den dann moralische Begriffe in den Bereich des Rechts eingingen. Seine Abhandlung über die Pflichten (De Officiis) sollte zum Schlüssel für die Aufnahme des Begriffs der Pflicht in das moderne Recht werden. Das gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und kulturelle Umfeld ab dem 17. Jhd. begünstigte ein Überborden von der moralischen auf die rechtliche Ebene. Der Individualismus, der auf einer grundlegend anthropozentrischen Haltung beruhte, führte zu einer Umorientierung des Rechts weg von der Suche nach objektiven Beziehungen, nach dem, was jeweils richtig ist (mittelalterliche Vorstellung), hin zur Haltung des Individuums gegenüber den Normen. Die Pflichten waren eine Folge dieser neuen Sichtweise. Schon die protestantische Reformation führte zu einer strengen Moral, bei der die Vorschriften des jüdischen Gesetzes, die sich auf gesellschaftliches Verhalten bezogen, zu Normen wurden, beispielsweise die Pflicht zu arbeiten, die Respektierung und Einhaltung von Verträgen und die Pflicht zum Respekt vor dem Eigentum (Calvin). Mit dem Rechtshumanismus sollte dann der Einfluß Ciceros zur Thematisierung der Pflichten im Recht führen. Der Gehalt des Richtigen fiel von diesem Zeitpunkt an mit der Erfüllung der Pflicht durch das Individuum zusammen (Cicero, De Republica). Zu den Neigungen des Menschen, die ihm allein eigen sind, gehören die zentralen Pflichten, niemanden zu schädigen, niemanden daran zu hindern, am Leben zu bleiben, sich zu kleiden, sich zu bereichern, anderen zu Diensten zu sein sowie nicht zu stehlen und sein Wort nicht zu brechen. In einem komplizierten Prozeß, der mit dem Interesse des Bürgertums an der Steuerung des Rechts zusammenhing,

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erfolgte der Schritt von der Pflicht nicht zu stehlen zum Recht auf Eigentum und von der Pflicht zur Erfüllung von Versprechen zur modernen Vertragstheorie. Diese Sichtweise hatte Auswirkungen auf den Rechtshumanismus und den Rechtsnaturalismus. Man sprach von der Pflicht zur Geselligkeit und von den Pflichten, andere nicht zu schädigen, fremdes Eigentum zurückzugeben, sein Wort zu halten, Schaden wiedergutzumachen, und man fügte hinzu, daß die Verletzung dieser Regeln Strafe verdient, und zwar auch von den Menschen (Hugo Grotius). Die Pflicht geht von der Moral ins Recht über, und es findet sich schon damals das Element der Strafe als Erkennungszeichen. So nannte man schon in der Naturrechtslehre eine Pflicht eine menschliche Handlung, die genau den Gesetzen entsprach, die eine Verpflichtung festlegen (Samuel Pufendorf), und man entwickelte die Aspekte, die eine solche Verbindlichkeit des Tuns oder Nichttuns erzeugen. Aus diesen Pflichten der Menschen (niemanden zu schädigen, verursachten Schaden wiedergutzumachen, alle als von Natur aus gleich zu betrachten, zum Nutzen der anderen beizutragen, das gegebene Wort zu halten, niemanden zu ärgern, Verträge zu halten, das Eigentum zu achten usw.) entstand dann das System des Naturrechts und der Begriff des subjektiven Rechts. Schon bei Hobbes, dem ein ähnliches System vorschwebte, war die erste Pflicht jedes Untertanen der Gehorsam gegenüber dem positiven Recht. Pflicht war die Erfüllung der Gebote desjenigen, der einen Befehl an eine vorher zum Gehorsam verpflichtete Person richtet. Die einzige Funktion des Naturrechts war eigentlich die Legitimierung des Gehorsams gegenüber dem positiven Recht, und dieses war die Quelle der Verpflichtung (Norberto Bobbio). Mit Kant kam es schließlich zu einer Ethik der Pflichten und zu ihrer Unterscheidung von den Rechtspflichten. So ist die Gesetzgebung, die eine Handlung zur Pflicht macht und die aus dieser Pflicht wiederum das Motiv zum Handeln macht, eine ethische. Andernfalls aber, wenn die Pflicht ein Handlungsmotiv zuläßt, das nicht der Verpflichtung selbst entspringt, haben wir es mit einer Rechtspflicht zu tun. So können die aus der rechtlichen Gesetzgebung abgeleiteten Pflichten nur externe Pflichten sein, während die aus der ethischen Gesetzgebung abgeleiteten durch interne Handlungen entstehen. Die Behauptung, daß sich die Rechtspflichten aus der Existenz einer Rechtsnorm ableiten, die sie festlegt, nahm zu Beginn der Krise der Naturrechtslehre Ende des 18. Jhds. Formen an und konsolidierte sich im Laufe des 19. Jhds. b) Die Aufnahme von Pflichten ins positive Recht, insbesondere auf höherer Ebene, parallel zu den Grundrechten, erfolgte aus gemäßigten Positionen,

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die damit die Wirkung der Rechte als revolutionäre Hefe zu begrenzen suchten. Schon unter dem Stichwort „Untertanen" in der Encyclopédie wurden allgemeine von besonderen Pflichten unterschieden, die sich aus dem Stand und der Situation des Untertanen ergeben. Da allen Untertanen gemein ist, daß sie ein und demselben Souverän bzw. ein und derselben Regierung unterworfen sind, ergeben sich aus diesen Beziehungen die allgemeinen Pflichten. In dieser Gleichsetzung liegt möglicherweise die Wurzel des Begriffs der Grundpflichten als diejenigen Pflichten, die sich aus der Beziehung des Untertans zur souveränen Macht ergeben. Später dann wurden die Grundpflichten nicht mehr nur dem Untertan auferlegt, sondern man kann mit der Unterstellung des Regierenden unter das Gesetz und mit dem Aufkommen des Sozialstaats auch von Grundpflichten der öffentlichen Gewalten sprechen. Die Enzyklopädie unterteilte die allgemeinen Pflichten in solche, die die Untertanen mit den Regierenden, solche, die sie mit dem politischen Körper im allgemeinen, und solche, die sie mit den Individuen verbinden, die Bürger sind. Andererseits leiten sich die besonderen Pflichten aus den verschiedenen Stellungen und Positionen ab, die diese innerhalb des Staates einnehmen, und aus den verschiedenen Berufen, die sie ausüben. Diese Beziehung zwischen Rechten und Pflichten findet sich auch in Werken wie dem von Gabriel Bonnot de Mably (Des droits et des devoirs du citoyen , 1758), obwohl es dann doch keine wirkliche Theorie der Rechte enthält. In den Anfängen der Französischen Revolution beziehen sich die Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und 1793 - letztere unter dem Einfluß der Jakobiner und vor allem Robespierres - nicht auf Pflichten. Die Verfassung aus dem Jahr I I I (1795) hingegen enthält eine Erklärung von Pflichten. Dies erklärt sich aus einer gemäßigteren Haltung nach dem Sturz Robespierres im Zuge der Machtübernahme der Thermidorianer. Diese hatten schwerwiegende Einwände gegen die Verfassung von 1793, die jedoch nie in Kraft trat, und vor allem gegen ihre sozialen Rechte. Die Verfassung, die viel mehr von Montesquieu beeinflußt war und sich dem Einfluß Rousseaus entzog, nahm vom allgemeinen Wahlrecht Abstand. Einige Mitglieder der Nationalversammlung diskutierten sogar die Notwendigkeit einer Erklärung von Rechten, die als Bezugspunkt für die demokratisch-revolutionären Hoffnungen dienen könnte. Einige Wendungen von 1789 wurden entfernt, so etwa daß „die Menschen frei und mit gleichen Rechten geboren" werden. In diesem Kontext ist auch die Erklärung der Pflichten

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(neun Artikel) angesiedelt, in der es heißt „die Erklärung der Rechte enthält die Pflichten des Gesetzgebers; der Erhalt der Gesellschaft erfordert, daß diejenigen, die sie aufstellen, gleichfalls ihre Pflichten kennen und erfüllen" (Art. 1). Es handelt sich allein um Pflichten der Bürger, nicht der Regierenden. Die Pflichten gehen aus von den Prinzipien, daß man anderen nicht zufügen soll, was man selbst nicht zugefügt bekommen will, und daß man das Gute tun soll, das man empfangen möchte (Art. 2). So soll man der Gesellschaft dienen, sich den Gesetzen unterwerfen und ihre Organe achten, das Eigentum bewahren und respektieren und das Vaterland und seine Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und des Eigentums verteidigen, wann immer man dazu aufgerufen wird. Diese erste Positivierung der Pflichten geschah im Dienste einer Gesellschaft, die der Freiheit und Souveränität des Volkes mißtraute und die Interessen der Besitzenden verteidigte, und erfolgte als Gegengewicht zu einer Erklärung von Rechten, die im Vergleich mit derjenigen von 1789 schon abgeschwächt war. Dieser Zug des Mißtrauens in die Rechte und die fortschrittlichen Komponenten der Freiheit manifestierte sich in der politischen Organisation autoritärer Staaten (Italien, Deutschland, Portugal und Spanien), in denen ebenfalls mehr die Pflichten als die Rechte der Bürger gegenüber der Macht betont wurden. Die Grundpflichten fanden jedoch auch über progressivere Verfassungstexte Aufnahme in die Rechtskultur, wenn auch, wie im Fall der französischen Verfassung von 1848, nur durch eine Präambel, die keinen normativen Charakter besaß. Wichtig ist, daß die Pflichten als Pflichten auf Gegenseitigkeit, nämlich der Bürger gegenüber der Republik und der Republik gegenüber den Bürgern dargestellt werden (V). Unter den ersten werden die Liebe zum Vaterland, der Dienst an und die Verteidigung der Republik, die Beteiligung an den öffentlichen Lasten je nach Vermögen, die Pflicht zur Arbeit und zum Gehorsam gegenüber den moralischen und rechtlichen Normen genannt (VI). Die Republik ihrerseits muß den Bürger, seine Person, seine Familie, seine Religion, sein Eigentum, seine Arbeit schützen, die für alle Menschen unverzichtbare Bildung zur Verfügung stellen und entweder durch Arbeit den Lebensunterhalt möglich machen oder diejenigen, die keine Arbeit haben, in Ermangelung einer Familie beschützen (VII). Die Verfassung wird erlassen, um diese Pflichten zu erfüllen und diese Rechte zu gewährleisten. In späteren Verfassungen werden unabhängig davon, ob es sich um einen gemäßigten oder einen fortschrittlichen Text handelt, die Grundpflichten der Bürger festgelegt, vor allem solche, die sich auf die Übernahme der öffentli-

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chen Lasten (Pflicht zur Zahlung von Steuern) und der nationalen Verteidigung (Pflicht zum Militärdienst) beziehen. Dies gilt etwa für die Weimarer Verfassung (Art. 120, 132, 133, 134, 163) und für die spanische Verfassung von 1931 (Art. 37, 43, 46, 48, 115). Heutzutage findet man solche Grundpflichten u. a. in der italienischen (Art. 2, 4, 30, 34, 48, 52, 53, 54), in der deutschen ( Art. 6.2,12 a, 33.1), in der portugiesischen (Teil I) und in der spanischen Verfassung (Art. 3, 27.4, 30, 31, 32.2, 35.1, 39.3, 118, 139). Die Grundpflichten sind auch solche der öffentlichen Gewalten, ihrer Organe und Beamten, seitdem zwei Kriterien auf den Plan getreten sind. 1. Erstens hat der Rechtsstaat, die Unterstellung der Regierenden unter das Gesetz, mit der Überwindung des Prinzips „princeps a legibus solutus", das den absolutistischen Staat kennzeichnete, und der ursprünglichen Auffassung der Souveränität bei Jean Bodin, zur Voraussetzung, daß die Rechtsnormen auch Ursprung, Organisation und Funktionieren der Macht regeln. Aus diesem allgemeinen Prinzip leitet sich die Möglichkeit ab, daß die öffentlichen Gewalten Rechtspflichten und speziell rechtliche Grundpflichten besitzen. 2. Zweitens wurden mit dem Übergang vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat der öffentlichen Gewalt positive Aufgaben zur gleichmäßigen Befriedigung menschlicher Grundbedürfnisse zugewiesen. Dieser Prozeß ist bekannt, und es ist hier nur daran zu erinnern, daß eine Reihe von Dienstleistungspflichten aus diesen Aufgaben folgt, die von den Institutionen wahrgenommen werden, und daß diese Pflichten manchmal die Folge von Anspruchsrechten der Bürger sind, deren Ausübung die Dienstleistungspflicht auslöst. Es handelt sich nun nicht mehr nur um die negative Pflicht, nicht in die Sphäre der Autonomie einzugreifen, die durch die individuellen Rechte gewährleistet ist, und auch nicht nur um die Pflicht, die Partizipation der Bürger an der politischen Willensbildung zuzulassen, sondern um eine positive Pflicht, die die Durchführung von Handlungen verlangt. Die aktuellen Verfassungstexte (deren Vorläufer im Anschluß an 1848 entstanden) enthalten diese Grundpflichten der öffentlichen Gewalten, so etwa die italienische (Art. 2, 3, 9, 30, 31, 32, 34, 35 usw.) und die spanische Verfassung (Art. 9.2, 27, 3, 5 und 9, 39, 40, 41, 42.2, 44 usw.). Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß es auch zeitgenössische Verfassungen gibt, die die beiderseitige Unterstellung von Regierenden und Regierten unter das Gesetz - also die Gehorsamspflicht gegenüber den Rechtsnormen festlegt, woraus sich vieldiskutierte Probleme ergeben, auf die ich weiter unten noch eingehen werde. Dies gilt etwa für die spanische Verfassung, in der es heißt, daß Bürger und öffentliche Gewalten der Verfassung und der übrigen Rechtsordnung unterliegen (Art. 9 - 11). In anderen Verfassungen ist lediglich die allgemeine Gehorsamspflicht der Bürger festgelegt (ζ. B. in der italienischen Verfassung in Art. 54), während wieder andere die Verbindlich-

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keit von Teilen der Rechtsordnung auch für die öffentlichen Gewalten festschreiben (Bonner Grundgesetz, Art. 1.3). I I . Begriff der Grundpflichten a) Wie man dem historischen Überblick entnehmen kann, war der Begriff der Pflicht zusammen mit der Gleichsetzung von Recht und Gesetz für die Gestaltung des modernen Rechts von entscheidender Bedeutung. Er ist dies überdies auch in wichtigen zeitgenössischen Rechtslehren (Hans Kelsen, Uberto Scarpelli). Die Identifizierung der Rechtspflicht und ihre Unterscheidung von der moralischen Pflicht ist unerläßlich für eine Klärung der Bedeutung des Ausdrucks „Grundpflicht". Es soll hier von solchen Positionen wie denen des skandinavischen Realismus abgesehen werden, die den Begriff der Rechtspflicht geringschätzen, indem sie ihm eine ideologische Funktion (Alf Ross), einen idealen Sinn, eine auf seine übernatürliche Kraft bezogene Idee (Axel Hagerström) zuweisen, mit ihm einfach die Vorstellung von einer Chimäre verbinden, die aus dem wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen ist (A. Vilhelm Lundstedt), oder der Meinung sind, er habe keinen faktischen Bezug und bedeute überhaupt gar nichts (Karl Olivecrona). Im Laufe der jüngeren Geschichte der Rechtskultur sind wichtige Beiträge zu einer Abgrenzung des Begriffs der Rechtspflicht geleistet worden. In einem dieser Beiträge wurde sogar versucht, eine Typologie der bedeutendsten Theorien der Rechtspflicht danach aufzustellen, wie der Begriff der Pflicht zu definieren versucht wurde, sowie nach der Stellung, die dem Begriff der Pflicht im System der Rechtsbegriffe zugewiesen wurde (Bobbio). Der hier von mir gebrauchte Begriff der Rechtspflicht ist derjenige, den Rechtstheoretiker und -philosophen vorgeschlagen haben, d. h. der einen Gebrauch des Begriffs stipuliert, der für jede Ordnung gültig ist und konkret auch für eine nachfolgende Annäherung an den Begriff der Grundpflichten. Es soll hier nicht der Gebrauch des Begriffs beschrieben werden, wie er im positiven Recht verschiedentlich erfolgt, noch auch sein Gebrauch in der Rechtswissenschaft im Hinblick auf die Sprache eines konkreten Rechtssystems. Jeremy Bentham benutzte eine prädiktive Definition, indem er sagte, daß eine Pflicht haben bedeutet, daß die Person, die in dieser Lage ist, ein Übel (einen Schmerz, einen Mangel an Genuß) erleiden wird, wenn sie sich nicht dementsprechend verhält. Diese Möglichkeit, ein Übel zu erleiden, wenn eine Pflicht (etwas zu tun oder etwas nicht zu tun) nicht erfüllt wird, ist eine recht-

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liehe, wenn das Leid durch einen Beamten in Übereinstimmung mit der Rechtsordnung zugefügt wird. Eine ähnliche Position vertritt O. W. Holmes, für den Verpflichtung und Rechtspflicht nichts anderes ist als die Vorhersage, daß eine Person, die bestimmte Handlungen vornimmt oder unterläßt, die Verhängung der entsprechenden Sanktion durch ein Gericht erleiden wird. Dies ist jedoch kein hilfreicher Ansatz, da man oftmals eine Pflicht besitzt, aber kein Übel erleidet, wenn man sie nicht erfüllt (weil es nicht entdeckt, nicht verurteilt oder nicht bestraft wird), und da man sich manchmal unter Androhung eines Übels genötigt sieht, etwas zu tun, ohne daß man eine Rechtspflicht dazu hätte (ζ. B. im Fall des Diebes, der einen bedroht). Der Unterschied zwischen „sich genötigt sehen, etwas zu tun" (to be obliged) und „verpflichtet sein, etwas zu tun" (to have an obligation) (H. L. Α . Hart) zeigt deutlich die Unzweckmäßigkeit dieses prädiktiven Zugangs zur Rechtspflicht, der für den Utilitarismus typisch ist und der in der angelsächsischen Kultur großen Einfluß besitzt. Ein zweites beachtenswertes Modell ist das von Kelsen, das seinerseits großen Einfluß auf die kontinentale Kultur besitzt. In Übereinstimmung mit seiner gesamten Lehre knüpft er Pflichten an Sanktionen, da ein Verhalten nur dann objektiv und in einer jemandem zuzuschreibenden Pflicht rechtlich geboten werden kann, wenn eine Rechtsnorm für gegenteiliges Verhalten eine Zwangshandlung als Sanktion verhängt. Ein Individuum hat eine Pflicht und ist rechtlich verpflichtet, wenn es mit seinem Verhalten eine verbotene Tat verüben kann, durch die die Sanktion ausgelöst wird, und wenn es gleichzeitig die Sanktion verhindern kann, indem es das entgegengesetzte Verhalten an den Tag legt, das dann den Inhalt seiner Pflicht ausmacht (Reine Rechtslehre). Dieser Zugang zum Begriff der Rechtspflicht erschwert den Aufbau einer Theorie der Grundpflichten für öffentliche Organe und Institutionen der höchsten Ebene, da dem Verhalten, das dem der Grundpflicht entgegengesetzt wäre, in diesen Fällen keine Sanktion zugerechnet wird. Zwischen den Modellen von Bentham, John Austin und Holmes (prädiktiv) und dem Modell Kelsens (normativ) gibt es Unterschiede, aber ihnen allen gemein ist der Gedanke der Sanktion und des Zwangscharakters des Rechts (Genaro Carrió). Die innere Stichhaltigkeit und die logische Stimmigkeit des Kelsenschen Systems entfernen es zuweilen von der Realität und fördern die Konsistenz auf Kosten der Nützlichkeit. Es erleuchtet nicht, sondern blendet. Die Auffassung von Hart ist das dritte Modell, das nun betrachtet werden soll. Es geht von einer Kritik an den prädiktiven Positionen aus, nämlich davon, daß die Existenz einer Rechtspflicht nicht unbedingt mit der Existenz einer Sanktion infolge von Ungehorsam zusammenfallen muß. Andererseits beruht die Rechtspflicht auf vorgegebenen Normen, und in diesem Fall dient 12 Garzón Valdés

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der Ungehorsam ihnen gegenüber nicht nur zur Vorhersage des Eintretens von Sanktionen, sondern ist auch der legitime Grund für diese. Um eine Rechtspflicht zu identifizieren, geht Hart von der Existenz von Normen aus, die es erlauben, eine Verpflichtung zu begründen und folglich das Verhalten des Verpflichteten zu beurteilen: 1. Damit eine Norm Verpflichtungen auferlegt, muß eine allgemeine Forderung nach ihrer Einhaltung bestehen, die nachdrücklich sein muß, wobei der soziale Druck gegenüber abweichenden Verhaltensweisen groß sein muß. Aber dies allein reicht noch nicht aus, um die Existenz einer Rechtspflicht zu behaupten (es kann sich um Moral, Etikette oder Höflichkeit handeln). 2. Die Norm muß außerdem für wichtig und nötig für die Aufrechterhaltung des sozialen Lebens gehalten werden. 3. Außerdem ist es normal, daß das durch die Pflicht verlangte Verhalten für andere nutzenbringend sein mag, daß es aber für den Adressaten der Pflicht Opfer und Verzicht bedeuten kann. 4. Die Norm muß den öffentlichen Gewalten die Kompetenz verleihen, die Erfüllung der Pflicht einzufordern (Strafrecht), oder es dem Einzelnen überlassen, ob er die Erfüllung verlangt oder nicht (Zivilrecht). Hart betont in diesem Fall auch den Unterschied zwischen dem internen und dem externen Aspekt der Normen. Vom internen Standpunkt aus versteht man die Art und Weise, in der die Normen als solche im Leben derer funktionieren, die die betreffende Gesellschaft bilden und die Normen anwenden. Die Rechtsorgane und die Bürger bedienen sich dieser Normen als Maßstäbe für die Organisation des gesellschaftlichen Lebens. Die Verletzung einer Norm, die eine Pflicht festsetzt, ist nicht nur Grundlage für die Vorhersage einer Sanktion, sondern auch Grund für deren Rechtfertigung. Dazu ist die tatsächliche Anerkennung im Sinne einer normativen Haltung derjenigen, die die Normen benutzen, erforderlich. 5. In einem modernen Rechtssystem brauchen die Rechtspflichten außer den Normen, in denen sie enthalten sind (primäre Normen) noch eine andere Art von Normen, die die Zuständigkeit für die Feststellung, ob eine primäre Norm übertreten wurde, und für die eventuelle Verhängung einer Sanktion regeln (es geht hier um die dritte Art der sekundären Normen, die Hart Zuerkennungsregeln [rules of adjudication] nennt). b) Unter diesen Voraussetzungen läßt sich ein Begriff der Rechtspflicht stipulieren, notwendige Bedingung dafür, daß man von rechtlichen Grundpflichten sprechen kann: 1. Eine Rechtspflicht existiert unabhängig davon, ob die entsprechende Pflicht einmal eine moralische Dimension besessen hat (die Pflicht zur Unterlassung von Beleidigungen und Verleumdungen und die Pflicht, auf der rech-

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ten Straßenseite zu fahren, sind Rechtspflichten ganz unterschiedlicher Herkunft). Für das Recht ist nur die rechtliche Pflicht als solche relevant, ebenso wie beim subjektiven Recht, bei der Freiheit, der Befugnis oder der Immunität - unabhängig von dem Einfluß bzw. dem Druck, den moralische Aspekte ausüben können, die auf ihrer Ebene Pflichten erzeugen, und unabhängig von der Möglichkeit, daß diese zu rechtlichen Pflichten werden können. Dies gilt unbeschadet der Tatsache, daß der Einfluß der Moral die Entscheidungen der Rechtsorgane lenken kann. 2. Die Rechtspflicht muß von einer der Rechtsordnung angehörenden Norm anerkannt sein. Dies setzt voraus, daß sie gemäß der Norm zur Normanerkennung erzeugt wurde, in der die zur Normerzeugung befugten Organe und die angemessenen Verfahrensweisen festgelegt sind, und daß sie vom herrschenden System unterstützt wird - ein grundlegender Aspekt - , wobei darunter die Gesamtheit der Institutionen, Gewalten, Rechtsorgane und Bürger zu verstehen ist, die an die Werte glauben, welche der betreffenden Ordnung zugrundeliegen, und die sich an der Gestaltung dieser Ordnung beteiligen, ihre Normanerkennungsnorm unterstützen und anerkennen und die Normen anwenden, die sie enthält - darunter auch diejenigen, die Rechtspflichten festlegen. Diese Voraussetzung umfaßt alles, was Hart für unerläßlich hält. 3. Normalerweise geht mit den Rechtspflichten eine Sanktion für den Fall der Nichterfüllung einher, die in einer Strafe besteht, in Zwangsvollstreckung gegen den, der die Pflicht besitzt (sofern dies möglich ist), oder andernfalls in einer Schadenersatzforderung. Positive Pflichten werden gelegentlich auch mit einem Anreiz in Form einer positiven Sanktion bzw. einer Prämie versehen. Es kann jedoch auch Pflichten geben, deren Adressaten nicht im klassischen Sinne des Wortes einer Sanktion unterworfen werden können (etwa die Staatsgewalten; so ist die Exekutive in Spanien verpflichtet, jeweils vor dem 1. Oktober dem Parlament den Haushaltsentwurf vorzulegen, es gibt aber keine Sanktion für den Fall, daß dies nicht geschieht). Betrachtet man das Problem unter dem Gesichtspunkt der Rechtsordnung in ihrer Gesamtheit, dann gibt es rechtliche Vorgehensweisen, die in solchen Fällen als Ersatz für eine Sanktion im strengen Sinne dienen können (also etwa die politische Kontrolle im Parlament: Mißtrauensvotum gegen die Regierung, die nicht ihre Pflicht erfüllt, den Haushaltsantrag innerhalb des vorgesehenen Zeitraums vorzulegen, oder Stimmenverlust für die Regierungspartei bei den nächsten Wahlen als ablehnende Reaktion der Wählerschaft auf die Nichterfüllung dieser Pflicht zur rechtzeitigen Vorlage des Haushaltsplanes). 4. Seit W. N. Hohfeld entspricht in der Rechtstheorie eine Rechtspflicht einem subjektiven Recht und ist das Gegenteil einer Freiheit. Die einem subjektiven Recht entsprechenden Pflichten können positive Pflichten sein, wenn sie in einem Tun, oder negative, wenn sie in einem Nicht12*

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tun oder Unterlassen bestehen. Man hat eine Pflicht, wenn jemand das Recht hat, ein Verhalten bzw. die Unterlassung eines Verhaltens zu fordern. Man hat ebenfalls eine Pflicht, wenn man eine Freiheit nicht besitzt, d. h. wenn man nicht verhindern kann, daß ein anderer ein Verhalten bzw. die Unterlassung eines Verhaltens fordert. Wenn jemand nicht die Freiheit besitzt, etwas zu tun, dann deswegen, weil er die Pflicht hat, es nicht zu tun. Man muß jedoch auch feststellen, daß es Rechtspflichten gibt, denen kein subjektives Recht entspricht (Pflichten gegenüber Tieren und viele Grundpflichten, z. B. die Bildungspflicht). c) Die Rechtspflichten lassen sich nach sehr verschiedenen Kriterien unterteilen: 1. Sie können spezifische Pflichten sein, wenn ihre Entsprechung das subjektive Recht einer bestimmten Person ist (der Rechtsträger eines Darlehens, das ein Schuldner zurückzahlen muß), und generische, wenn ihnen nicht das subjektive Recht einer bestimmten Person entspricht, sondern das subjektive Recht jeder Person, die in einer bestimmten Lage ist (Pflicht zur Hilfeleistung für eine verletzte bzw. verunglückte Person). 2. Sie können positive Pflichten sein, wenn sie in einem Tun, und negative, wenn sie in einem Nichttun bzw. in einem Erdulden bestimmter Verhaltensweisen bestehen. 3. Je nach ihrer normativen Entstehung können sie Erzeugnis des gesetzlichen Rechts (dies ist gewöhnlich der Fall) oder des richterlichen Rechts sein (etwa in dem von Ronald Dworkin aufgegriffenen Fall der Pflicht, keinen Nutzen aus eigenen Vergehen zu ziehen, wie im Fall Riggs vs. Palmer). 4. Je nach ihrem Rechtsträger können sie Pflichten von Individuen, von substaatlichen Gemeinschaften (Familie, Parteien, Gewerkschaften) oder von Staaten (im innerstaatlichen oder im internationalen Bereich) sein. d) Nach all diesen Präzisierungen läßt sich der Begriff der Grundpflichten dahingehend definieren, daß es sich um solche Rechtspflichten handelt, die sich auf grundlegende Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens der Menschen, auf Güter von überragender Bedeutung, auf die Befriedigung von Grundbedürfnissen oder von solchen Bedürfnissen, die für die Organisation und das Funktionieren der öffentlichen Institutionen besonders wichtige Sektoren betreffen, oder auf die Ausübung von Grundrechten beziehen, und zwar im allgemeinen auf Verfassungsebene. Die Ausübung einer Grundpflicht bringt nicht nur dem Träger des entsprechenden subjektiven Rechts - sofern ein solches existiert - einen Nutzen, sondern besitzt auch eine Dimension allgemeiner Nützlichkeit, so daß sie der Gesamtheit der Bürger und ihrer rechtlichen Vertretung, dem Staat, nützt. Anders als bei den Grundrechten, deren vorgängige ethische Wurzel (die Sittlichkeit der Grundrechte) offenkundig ist, sind die Grundpflichten zuwei-

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len die Folge einer Konvention oder der Ausübung der souveränen Macht, der die Normenerzeugung obliegt. Es ließe sich nur schwerlich eine moralische Wurzel für die Pflicht finden, zum Dienst an seinem Land durch persönliche Ableistung des Militärdienstes beizutragen. Für die modernen Richtungen in Verteidigung der Verweigerung aus Gewissensgründen lassen sich sogar moralische Argumente gegen diese Pflicht finden. I I I . Inhalt der Grundpflichten a) Die Wurzel einiger aktueller Grundpflichten läßt sich im Ursprung der modernen politischen Systeme selbst finden. Die klassische kontraktualistische Rechtfertigung, die auf einer rationalen Fiktion aufbaut (Pufendorf, Hobbes, Locke, Rousseau, Kant), erlaubte trotz der Unterschiede zwischen diesen Autoren die Aufstellung einer Theorie der Grundpflichten, die bis in unsere Tage überdauert hat. Dem ist die heutige Renaissance der Vertragstheorien hinzuzufügen, die ebenfalls von so unterschiedlichen Positionen ausgeht (John Rawls, Robert Nozick, James Buchanan, Jürgen Habermas), daß man nicht von einem einzigen Neokontraktualismus sprechen kann (F. Vallespin). Eine rationale Konstruktion erlaubt, ausgehend von diesen vertragstheoretischen Strömungen, die Rechtfertigung der Existenz eines Modells gegenseitiger Pflichten im Ursprung der politischen Gesellschaft und des Staates selbst, in einer idealen Kommunikationsgemeinschaft. Pflichten besitzen dann Bürger und Regierende, was sich erklärt, indem man den Ursprung der Macht, ihre Funktion und die Rolle miteinander verknüpft, die die Bürger spielen. Die Macht, der Staat wird von den Menschen akzeptiert und gutgeheißen zur Sicherheit aller, zur Erhaltung und Entwicklung der Gemeinschaft und zum Schutz der Rechte von Individuen. Mit dieser Absicht schließen sich die Menschen in Gesellschaft zusammen und stellen sich unter den Schutz des Staates. Es ist dann die Pflicht der politischen Gewalt, der Institutionen, der Rechtsorgane, die Sicherheit, Freiheit und Gleichheit zu wahren, und die Pflicht der Bürger einer so konstituierten Gesellschaft, sofern sie an der Ausarbeitung dieser Zwecke teilnehmen können, dem Recht zu gehorchen, das Folge des Handelns der politischen Gewalt ist. Von seinem Standpunkt aus rechtfertigt auch Rawls (Λ Theory of Justice) Regierungspflicht und Gehorsamspflicht mit Hilfe der ersten der von ihm angeführten natürlichen Pflichten, nämlich mit Hilfe der positiven Pflicht zur Gerechtigkeit, denn „if the basic structure of society is just, or as just as it is reasonable to expect in the circumstances, everyone has a natural duty to do what is required of him". Mit Hilfe der Regierungspflicht wird eine gerechte

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Gesellschaft angestrebt, und dies erzeugt die Gehorsamspflicht gegenüber den Normen dieser gerechten Gesellschaft. Die Erfüllung der Regierungspflicht, so wie sie hier charakterisiert wurde, bringt die Legitimität des Systems mit sich und bedingt, daß der Anspruch einer politischen Ordnung auf Anerkennung als richtig und gerecht nicht ohne gute Argumente daherkommt. Legitimität bedeutet die Tatsache, daß die Erfüllung der Regierungspflicht als richtig und gerecht anerkannt zu werden verdient. Für Hart leitet sich die Rechtfertigung der Gehorsamspflicht aus dem Minimalgehalt des Naturrechts ab: „Reflection on some very obvious generalizations . . . concerning human nature and the world in which men live . . . ; as long as these hold good, there are certain rules of conduct which any social organization must contain if it is to be viable." Diese beziehen sich auf die Beschränkung der Gewaltanwendung, die zur Tötung oder zur Zufügung körperlicher Schäden führt, auf eine ungefähre Gleichheit, die ein System von gegenseitigen Verzichtleistungen und Zugeständnissen erfordert (Grundlage für moralische und rechtliche Verpflichtungen), auf einen begrenzten Altruismus, der ebenfalls ein System gegenseitigen Verzichts verlangt, auf begrenzte Ressourcen, die eine Mindestform von Eigentum unerläßlich machen (wenn auch nicht unbedingt von Privateigentum), und auf die Gewährleistung mit Hilfe zentral organisierter Sanktionen, daß diejenigen, die freiwillig gehorchen, nicht denen zum Opfer fallen, die dies nicht tun. Nur mit diesem Gehalt läßt sich die Gehorsamspflicht rechtfertigen, da es andernfalls nicht möglich wäre, den Minimalzweck des Überlebens zu erreichen, für den sich die Menschen miteinander zusammenschließen. Auch die Regierungspflicht läßt sich mit dem Standpunkt Harts rechtfertigen als Pflicht der Machthaber, die Ziele zu realisieren, die eine Gesellschaft erst lebensfähig machen, so wie es die Menschen erwarten, wenn sie sich zusammenschließen. Die Regierungspflicht und die Pflicht zum Rechtsgehorsam lassen sich als Grundpflichten auffassen, da sie zum Ursprung, zur Rechtfertigung und zum möglichen Funktionieren einer politischen Gesellschaft gehören. Ohne Zweifel haben sie eine rationale Dimension, obwohl auch die Geschichte ihren Sinn und ihr Profil je nach der geschichtlichen Epoche geprägt hat. In den Ursprüngen des liberalen Staates konkretisierte sich die Regierungspflicht auf dem Wege des Gesetzes in der Ausübung der Funktionen der Garantie des individuellen Handelns und der Unterbindung von Verletzungen dieser Garantieordnung. Im Sozialstaat kommt zu diesen Funktionen noch diejenige des fördernden Eingreifens (Bobbio) als positives Handeln der politischen Gewalten zur Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse hinzu. Dies setzt voraus, daß die einheitlichere, konzentriertere und grundlegend als

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negative Pflicht aufgefaßte Regierungspflicht sich in eine Reihe von positiven Pflichten aufgliedert, die mit der Befriedigung von (hauptsächlich ökonomischen, sozialen und kulturellen) Anspruchsrechten zusammenhängen, die sich aus dem Wert der Gleichheit ableiten. In den Ursprüngen des liberalen Staaten war das Gegengewicht zur Gehorsamspflicht, solange es keine entsprechende Regierungspflicht gab, das Widerstandsrecht. Nach und nach verlor das Widerstandsrecht durch den Kantischen Einfluß des unbedingten Gehorsams, durch die systemimmanente Institutionalisierung des Widerstandes (Prozeßgarantien, Meinungs-, Presse-, Demonstrationsfreiheit usw.) und durch das Aufkommen des Positivismus seine Bedeutung und Rechtfertigung. Heute, nach dem Zweiten Weltkrieg, hat das Thema des Rechtsgehorsams neue Bedeutung erlangt (Gustav Radbruch, Joseph Raz, Alessandro Passerin d'Entreves, Felipe Gonzalez Vicen, Elias Diaz). Es wurden Theorien erarbeitet, die den zivilen Ungehorsam oder die Verweigerung aus Gewissensgründen gegenüber einer Unrechtsgesetzgebung rechtfertigen. Trotzdem erlauben die Gründe, die in einer demokratischen Gesellschaft mit der Fähigkeit zur Integration des zivilen Ungehorsams und der gewissensbedingten Verweigerung die Gehorsamspflicht rechtfertigen, die Aufrechterhaltung ihrer Geltung (Carlos S. Nino). Die Grundpflichten des Regierens und des Rechtsgehorsams werden zu Rechtspflichten, wenn sie - wie schon erläutert - in die Rechtsordnung aufgenommen werden. Trotz ihres radikalen, grundlegenden bzw. die politische Gesellschaft als solche festigenden Charakters können sie ins positive Recht aufgenommen werden, in einem System mit einem fundamentalen Gründungsakt, mit Gewalten, die an den demokratischen Werten teilhaben, die wie gezeigt - diese Pflichten rechtfertigen. Die Pflicht, im hier aufgezeigten Sinne zu regieren, findet sich in Texten wie in der Erklärung der Grundrechte von Virginia (1776), in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten (1776) und in den französischen Erklärungen (1789, 1793). Die Pflicht zum Rechtsgehorsam wird im klassischen Kontraktualismus formuliert, wo sie von der Erfüllung der Regierungspflicht durch die Gewalten abhängt, und ist in den Texten in ihrer entgegengesetzten Dimension als Recht zum Widerstand gegen Unterdrückung verankert (Virginia-Erklärung, französische Erklärung von 1793). Auch moderne Verfassungen wie die italienische oder die spanische enthalten die Pflicht zum Rechtsgehorsam (im letzteren Fall auch die Pflicht der Regierenden, was zweifellos einen weiteren guten Grund für die Gleichsetzung von Regierenden und Regierten zur Rechtfertigung des Gehorsams der Bürger darstellt).

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Die Regierungspflicht spaltet sich auf in die zahllosen Pflichten der öffentlichen Gewalten, die in manchen Fällen, wie wir gesehen haben, subjektiven Rechten der Bürger entsprechen. b) Außer diesen Grundpflichten kann man auch noch jene nennen, die auf der Organisation des Staates zur Unterstützung der Bedürfnisbefriedigung oder zur Erfüllung der öffentlichen Aufgaben beruhen und die aufgrund ihrer Bedeutung in die Verfassung oder in Gesetze aufgenommen sind, die ihre Grundlage in einer Erzeugungsnorm finden, die in die Verfassung aufgenommen ist (die Norm, die dem Gesetzgeber vorschreibt, ein Gesetz zu erlassen, in dem die Pflicht festgeschrieben wird, sich als Geschworener zur Verfügung zu stellen, wenn man dazu ausgewählt wird und die in demselben Gesetz aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind). Solche Pflichten können von zweierlei Art sein. Sie können die Übernahme öffentlicher Aufgaben bedeuten. Dies wären die Funktionspflichten (Paolo Biscaretti di Ruffìa). Und sie können zweitens Leistungspflichten sein, die für alle Bürger oder für eine bestimmte Klasse von Bürgern (für Beamte oder andere Klassen von Rechtsorganen) Handlungsverpflichtungen darstellen. Die Funktionspflichten können die Funktion des Geschworenen oder die Wahlpflicht betreffen (z. B. Belgien, mehrere Kantone der Schweiz, Ungarn, Dänemark). In Italien bestand Wahlpflicht bei den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung von 1946. Art. 48 der Verfassung sagt, daß die Ausübung des Wahlrechts eine Bürgerpflicht ist - eine mehrdeutige Formulierung, obwohl man ableiten kann, daß es sich um eine Rechtspflicht handelt, da sie in die Verfassung aufgenommen ist und da für den Fall der Nichterfüllung der Pflicht Sanktionen festgelegt sind. Allgemeine Leistungspflichten (die für alle Bürger gelten) gibt es vor allem zwei: die Pflicht zur Ableistung des Wehrdienstes und die Pflicht, durch Zahlung von Steuern einen Beitrag zu den öffentlichen Ausgaben zu leisten. Besondere Leistungspflichten sind Pflichten bestimmter Klassen von Bürgern wie Beamte, Richter und andere Rechtsorgane (z. B. die Pflicht zur Unparteilichkeit; die Pflicht, alle an sie herangetragenen Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden; die Pflicht, die öffentlichen Aufgaben diszipliniert und ehrenvoll zu erfüllen; die Pflicht, gegebenfalls einen Eid zu leisten; Art. 54 der italienischen Verfassung). Die üblichsten Grundpflichten, wie sie in Verfassungen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg enthalten sind, sind diejenigen, die hier allgemeine Leistungspflichten genannt wurden. Die Pflicht, zur nationalen Verteidigung beizutragen, ist festgeschrieben in Art. 52 der italienischen, in Art. 30 der spanischen Verfassung und in Art. 12a des Bonner Grundgesetzes. Wir haben es hier mit einer Grundpflicht zu tun, der kein subjektives Grundrecht entspricht. Es handelt sich um eine person-

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liehe Ableistung des Militärdienstes, die die zeitweilige Aufnahme des betreffenden Individuums in die Streitkräfte zum Zweck hat. Während der Ableistung des Militärdienstes befindet sich der Bürger in einer besonderen Situation der Unterordnung, die einige Grundrechte einschränkt (Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Petitionsrecht, Prozeßgarantien, da einige aus der Militärdisziplin abgeleitete Sanktionen eine Einschränkung des Rechts auf Anhörung, auf einen Verteidiger oder auf die Unschuldsvermutung einschränken sowie das Recht auf den vom Gesetz vorgesehenen Richter, da einige Angelegenheiten der Militärgerichtsbarkeit unterstehen). Diese Pflicht wird eingeschränkt durch das Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen, was die Möglichkeit bedeutet, die Ableistung des Militärdienstes aufgrund des Gewissens oder aufgrund religiöser, moralischer, philosophischer Überzeugungen usw. abzulehnen. (Dieses Recht wurde erstmals während der Französischen Revolution durch einen Erlaß anerkannt, der Anabaptisten vom Militärdienst befreite). Es wird seit einiger Zeit auch in unserer Rechtskultur anerkannt (Frankreich 1963, Italien 1972, Deutschland 1949, Spanien 1978). Der Europarat erkennt aufgrund eines Beschlusses der Parlamentarischen Versammlung von 1967 an, daß die Verweigerung aus Gewissensgründen ein subjektives Recht ist, das sich aus dem Recht auf Freiheit der Meinung, des Gewissens und der Religion ableitet (Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention) . Die Pflicht, auf dem Weg über das Steuersystem einen Anteil an den öffentlichen Ausgaben zu übernehmen, ist in der italienischen Verfassung in Art. 53, in der spanischen in Art. 31 festgelegt. Im Bonner Grundgesetz taucht diese Pflicht nicht auf, ebensowenig wie im Text der französischen Verfassung von 1958, wohl aber in Art. 13 der Erklärung von 1789, die durch die Präambel zur Verfassung der IV. Republik in Kraft ist, welche ihrerseits nach der Präambel zur Verfassung der V. Republik gültig ist. Die Erfüllung dieser Pflicht richtet sich nach den jeweiligen ökonomischen Möglichkeiten, so daß der Wert der Gleichheit auf differenzierte Weise konkretisiert wird (durch die Berücksichtigung des Reichtums als relevanter Faktor bei der Festsetzung des von jedem geschuldeten Anteils). Die Pflicht wird normalerweise mit der Vorbehaltsgarantie des Steuerfestsetzungsgesetzes erfüllt. c) Schließlich sind diejenigen Grundpflichten der Bürger oder der öffentlichen Gewalten zu betrachten, die mit der Existenz subjektiver Rechte einhergehen. In dieser Situation befinden sich die negativen Pflichten der Bürger bzw. der öffentlichen Gewalten, die verpflichtet sind, die Grundrechte zu achten, deren Rechtsträger andere Bürger sind oder Gruppen, die von Bürgern gebildet

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werden (Recht auf Leben, Versammlungsrecht, Recht auf Pressefreiheit, Streikrecht usw.). Technisch gesehen entsprechen diese Pflichten, wenn man die auf Hohfeld beruhende Unterscheidung ganz konsequent vornimmt, manchmal gar keinem Recht, nämlich dann wenn sie einer Freiheit entsprechen. Dies zeigt deutlich die Nuancen, deretwegen man eine Klassifizierung zulassen muß, die zu strengen Schlußfolgerungen führen kann. Man kann hier gleichfalls die schon genannten positiven Pflichten der öffentlichen Gewalten anführen, die bedingen, daß Leistungen erfüllt wurden, die von den Trägern von Anspruchsrechten gegenüber diesen öffentlichen Gewalten eingefordert werden können (Recht auf Gesundheit, auf soziale Sicherheit, auf Bildung usw.). In manchen Fällen kann man von positiven Pflichten von Einzelpersonen sprechen (z. B. in Bezug auf die Gewerkschaftsfreiheit von den Pflichten der Arbeitgeber, Räume für Versammlungen zur Verfügung zu stellen oder Gewerkschaftsvertreter von der Arbeit freizustellen).

Rechtstheorie Von Gregorio Robles Morchón I. Notwendigkeit der Überwindung ontologisch-deskriptiver Positionen Trotz der erheblichen Gegensätzlichkeit, die im Bereich der Rechtsphilosophie hinsichtlich naturrechtlicher und positivistischer Ansätze postuliert wird, kann man sagen, daß die beiden Positionen doch nach einer Lösung für das gleiche Problem (das ontologische Problem: Was ist Recht?) suchen, indem sie von der gleichen grundlegenden Hypothese ausgehen (daß, was auch immer Recht sein mag, es jedenfalls etwas ist, das sich beschreiben läßt). Man kann sogar sagen, daß der Deskriptivismus in beiden epistemologischen Ansätzen dominiert, wobei er schon an der Wurzel des ontologischen Problems zum Tragen kommt, das er zu lösen sucht. Beide gehen von der Hypothese aus, daß etwas vorgegeben ist, und zwar entweder die Idee - im Fall der metaphysischen Auffassung - oder das Faktum - im Fall des Positivismus. Anhänger der Idee und Anhänger des Faktums streiten miteinander ohne Aussicht auf Verständigung, denn von der Idee aus betrachtet man das Faktum mit Verachtung, als etwas, das des eigenen „Seins" entbehrt, und vom Faktum aus sieht man die Idee als eine ideologische Verdrehung der Wirklichkeit an. Der Fehlschlag der Naturrechtslehre beruht darauf, daß sie nicht in der Lage ist, sich mit den Fakten und den empirischen Rechtswissenschaften auseinanderzusetzen. Die Krise des Rechtspositivismus hängt damit zusammen, daß es im strengen Sinne gar keine Fakten, sondern nur Interpretationen gibt. Die beiden Positionen zielen auf die Beschreibung verschiedener Dinge ab, wobei das, worauf sie sich beziehen, im Dunkeln bleibt. Man könnte sagen, daß sich mit den beiden Lichtbündeln des Jusnaturalismus und des Rechtspositivismus die ganze, oder doch wenigstens fast die ganze Wirklichkeit des Rechts beleuchten läßt, daß sie aber, weil sie sich aneinander brechen, die Augen des Betrachters blenden. Das Drama dieses Streites ist, daß er zu einem Dialog unter Tauben geworden ist, bei dem die Positionen unverrückbar bestehen bleiben, ohne sich am gegenseitigen Austausch zu bereichern. Das Thema unserer Zeit in der Rechtsphilosophie ist die Überwindung dieses Streites, indem man sich die Beiträge beider Positionen gleichermaßen zu eigen macht. Es wäre jedoch unangemessen, die Überwindung in einem eklektischen Ausweg zu suchen (wie es etwa jede Art des ontologischen Dreidimensionalismus darstellt, der in Spanien so en vogue ist, oder auch die Position von Bobbio) oder mit Hilfe des Rückgriffs auf die Trivialisierung bzw.

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Verdrehung der gegnerischen Vorstellungen (wie es Dworkin mit dem Rechtspositivismus tut, den er einseitig mit einem sehr eigenwillig interpretierten Hartschen Standpunkt gleichsetzt) oder auch dadurch, daß man ganz einfach weite Bereiche des Rechtsdenkens gar nicht erst zur Kenntnis nimmt (dies wäre der Fall der angelsächsischen Rechtsphilosophie, die aus ihrer eigenen Unkenntnis der „kontinentalen Rechtstheorie" die Tugend ableitet, „nur Freunde zu zitieren"). Die wirkliche Überwindung des Streits zwischen Naturrechtslehre und Rechtspositivismus muß meines Erachtens die beiden folgenden Bedingungen erfüllen: a) Es muß gelingen, einen neuen epistemologischen Ansatz zu finden, mit dem man den Problemen und Nachteilen des ontologischen Deskriptivismus und damit auch der unbewiesenen Hypothese von der vorgegebenen Wirklichkeit entgehen kann; und b) es muß gelingen, in den neuen Ansatz die Probleme einzubeziehen, die in der Naturrechtslehre oder im Rechtspositivismus schon aufgekommen waren und die aufgrund ihrer Natur zur Kategorie der rechtstheoretischen Probleme gehören, was bedeutet, daß der Rückgriff auf „Scheinprobleme" zu verwerfen ist, dessen sich der logische Positivismus bedient, wenn er keine Antwort zu geben weiß. Ich will auf diesen zweiten Gedanken etwas näher eingehen. Die Naturrechtslehre hat sich in ihren Bemühungen auf die Reflexion über die Gerechtigkeit und, damit verbunden, auf das Problem der praktischen Rationalität - bzw., wie ich es zu nennen vorziehe, der richtigen Entscheidung - konzentriert. Mit der Krise des Jusnaturalismus verlagert sich diese ganze Problematik ins Reich der Ideologie, ein Etikett, mit dem der Positivismus alles das versehen hat, was nicht in sein epistemologisches Konzept paßt. Der Marxismus hat dazu in nicht geringer Weise beigetragen, wobei er allerdings nicht jede Art der Welt- und Lebensanschauung verurteilen wollte, sondern allein die der Bourgeoisie als herrschender Klasse. Trotz dieses Stigmas sind das axiologische Problem und das Problem der richtigen Entscheidung, wie es auch gar nicht anders sein konnte, immer lebendig geblieben. Die rechtsphilosophischen Richtungen, die im Umfeld des vom Positivismus hervorgerufenen Streites entstanden sind, wie der Neukantianismus, der Neuhegelianismus und die Phänomenologie, haben das Problem auf ihre Weise zu beantworten versucht, aber auch sie scheinen dabei gescheitert zu sein. Der Jusnaturalismus ist tot, aber sein Problem besteht noch immer. Sein Problem ist die Reflexion über die Gerechtigkeit und die richtige Entscheidung. Eine Lösung für seine Überwindung zu finden, bedeutet, einen Weg für die Untersuchung dieser Problematik zu finden, ohne dabei in die epistemologischen Fallstricke der Naturrechtslehre zu geraten. Demgegenüber beruht die Krise des Positivismus auf der methodischen Enge des Begriffs der ratio, mit dem er arbeitet, aber gerade dies hat es ihm

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erlaubt, sich mit großer Strenge dem Problem der internen Struktur des positiven Rechts und dem der Beziehungen zwischen Recht und Gesellschaft (dem Problem der Positivität des Rechts als dessen existentielle Qualität im Leben der Menschen) anzunähern. Das Aufblühen der Rechtswissenschaften im Rahmen des Positivismus ist nur möglich gewesen dank der strikten Anwendung seiner epistemologischen Postulate, die zwar sehr eng waren, die aber die Forschung so weit wie nur irgend möglich geführt haben und in eine Richtung, die den naturrechtlichen Positionen nicht zugänglich war. Die Entwicklung der empirischen Rechtswissenschaften, wie Rechtssoziologie, Rechtspsychologie, Rechtsanthropologie und sogar Rechtsgeschichte, verdankt der positivistischen Einstellung wenn nicht alles, so doch sehr viel. Eine Theorie, die den genannten Streit „überwinden" will, muß auch diese im Positivismus aufgekommene und behandelte Problematik einzubeziehen wissen und ihr einen angemessenen Platz in dem von ihr zu errichtenden System einräumen. Während der Positivismus das Problem der richtigen Entscheidung und damit auch das der Begründung des Rechts vernachlässigt, zeigt der Jusnaturalismus wenig Interesse für das positive Recht. Und beide gemeinsam leiden an einer großen Mißachtung des hermeneutischen Problems, wobei dieses nicht nur im allgemeinen Sinne der philosophischen Hermeneutik zu verstehen ist, sondern sogar auch hinsichtlich der eigentlichen und besonderen Aufgabe des Juristen, der sich einem bestimmten Zweig der Rechtsdogmatik widmet. Wenn einem am Jusnaturalismus und am Rechtspositivismus etwas auffällt, so ist es die Tatsache, daß sie nicht oder zumindest nicht an erster Stelle Theorien für Juristen sind. Bestenfalls sind es von Juristen erarbeitete Theorien, man kann aber sagen, daß der „Fehlschlag" der Rechtsphilosophie darin bestand und besteht, daß sie - zumindest weitgehend - die intellektuellen Bedürfnisse der Juristen nicht berücksichtigt hat. Die Naturrechtslehre wurde von Metaphysikern und Theologen aufgestellt, um die Welt besser zu verstehen; der Rechtspositivismus kann seinen physizistischen bzw. - was dem sehr ähnlich ist - soziologistischen Ursprung nicht verleugnen. Erstere ist die metaphysische, letztere die naturalistische Form der Rechtsphilosophie. Die Bemühungen der ersten gehen in Richtung Himmel (und vielleicht in Richtung Wolken), die der zweiten so sehr in Richtung Erde, daß dabei der Sinn vergessen wird. Zwischen Idee und Faktum steht die Sprache, die beide umfaßt, einschließt und humanisiert. Weder die Idee noch das Faktum, sondern die Sprache des Rechts bildet den Weg für die Überwindung und Zusammenführung von Naturrechtslehre und Rechtspositivismus. Der Rechtspositivismus bedeutete den Bruch mit der metaphysischen Form der Rechtsphilosophie, also mit dem Naturrecht, gab aber dessen deskriptivontologische Sichtweise nicht auf. Beide wollten eine Beschreibung des Rechts finden und auf der Grundlage dieses ontisch-begrifflichen Fundes die Eigenarten seiner verschiedenen Komponenten festlegen. Beide gingen von

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dem Gedanken aus, daß uns die Wirklichkeit vorgegeben ist, wenngleich sie sich in der Art und Weise der Annäherung an besagte Wirklichkeit sowie in der Charakterisierung der Wirklichkeit selbst unterschieden. Der Mythos des „Vorgegebenen" fand problemlosen Eingang gleichermaßen ins naturrechtliche wie ins rechtspositivistische Denken. Schließlich fassen auch beide die Sprache als bloßes Werkzeug im Dienste des Denkens bei seiner Annäherung an die Wirklichkeit auf, die uns gegeben ist, oder stellen sich sogar das Problem der Sprache einfach gar nicht auf philosophischer Ebene. Die Krise des Wissenschaftsbegriffs des Positivismus - ein Produkt der Kritik an der methodischen Theorie der Geisteswissenschaften - von Seiten der philosophischen Hermeneutik, des kritischen Rationalismus und in geringerem Maße der Frankfurter Schule, führte zu einer intellektuellen Situation der „epistemologischen Zersplitterung", innerhalb derer sich als leuchtender Weg eine Denkrichtung eröffnete, die - mit einigen Nuancierungen und unterschiedlichen Ansätzen - einer anderen philosophischen Tradition gleicht bzw. mit ihr zusammenpaßt, nämlich derjenigen, die von der mathematischen Analyse, der Logik und der Linguistik herkommt. Der linguistic turn des zeitgenössischen Denkens ermöglicht, daß die Philosophie nicht mehr Wissenschaftstheorie (nach positivistischer Art) ist, sondern zu epistemologisch-analytischer Reflexion der Sprache wird. Die Sprache ist nun aber eine „Wirklichkeit", die viele Ebenen und Bereiche besitzt. Wenn hier der Ausdruck „Sprachanalyse" benutzt wird, dann ist darunter nicht nur die Analyse beispielsweise der syntaktischen Formen oder des Sprachgebrauchs zu verstehen, sondern damit ist gemeint, daß eine umfassende Untersuchung der verschiedenen Ebenen beabsichtigt ist, ohne irgendeine von ihnen gering zu schätzen. Die Vereinigung der sogenannten linguistischen Philosophie mit den Beiträgen der philosophischen Hermeneutik kann zu einem umfassenden Verständnis von Sprache führen. Diese Herangehensweise ist besonders dann angebracht, wenn es um die Untersuchung der Rechtssprache geht. I I . Die „Rechtstheorie" Die Rechtsphilosophie, die im Anschluß an die epistemologische Krise des Rechtspositivismus im Entstehen begriffen ist, soll hier „Rechtstheorie" genannt werden. Auf diese Weise läßt sich die Geschichte des Rechtsdenkens in drei Phasen einteilen: die erste, von der Metaphysik beherrschte, ist die Phase der Naturrechtslehre; die zweite, die durch die Vorherrschaft der Physik als Erkenntnismodell charakterisiert ist, ist die Phase des Rechtspositivismus, und ihr entspricht die Rechtsphilosophie [deutsch im Original, d. Ü.]; und schließlich die Phase, die mit der Krise des Positivismus entsteht, die sich durch epistemologische Zersplitterung auszeichnet - von einigen auch „methodologischer Plu-

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ralismus" genannt - und die einen Weg finden kann, um Rechtspositivismus und Naturrechtslehre mit Hilfe der Sprach- oder semiotischen Analyse - im weitesten Sinne, wie gleich noch zu sehen sein wird - zu überwinden. Ich schlage vor, diese neue Form der Rechtsphilosophie als Rechtstheorie zu bezeichnen, um sie sowohl von der Naturrechtslehre als auch von der Rechtsphilosophie, wie ich sie hier verstanden habe, zu unterscheiden. Diese drei Begriffe - „Naturrechtslehre", „Rechtsphilosophie" und „Rechtstheorie" sind also historische Begriffe, da alle drei in ihrer Entstehung bedingt sind durch unterschiedliche epistemologische Modelle aus unterschiedlichen Epochen. Rechtstheorie ist die Analyse der Juristensprache. Dies ist eine Formel, die ich schon früher vorgeschlagen habe, aber damals in Bezug auf die Rechtsphilosophie. Da der neue Ansatz einen Wechsel des epistemologischen Modells bedeutet, ist es angebracht, auch eine eigene Bezeichnung zu benutzen. Der Ausdruck „Rechtsphilosophie" entsteht, wie schon bemerkt, in Zusammenhang mit ganz bestimmten epistemologischen Standpunkten - nämlich mit denen des Positivismus und des Historizismus. Er genießt zwar noch immer weitgehende Anerkennung, wird aber in letzter Zeit doch allmählich durch „Rechtstheorie" ersetzt, obwohl in der Regel nicht klar ist, was den Gehalt der letzteren im Unterschied zu ersterer ausmacht. Dieser Ausdruck wird sowohl im angelsächsischen als auch im deutschen Sprachraum ziemlich undifferenziert eingesetzt. Im angelsächsischen Sprachraum hat legal theory zunehmend sowohl jurisprudence (was der Allgemeinen Rechtslehre, so wie dieser Ausdruck auf dem Kontinent gebraucht wird, entspricht) als auch philosophy of law ersetzt. Im deutschen Sprachraum hat ein ähnlicher Wandel stattgefunden, denn heute werden die Bezeichnungen Allgemeine Rechtslehre und Rechtsphilosophie weniger häufig gebraucht, und man spricht zunehmend von Rechtstheorie. Dieser Wandel entspringt zum Teil einer Mode, die unter anderem daher rührt, daß der Terminus „Philosophie" in Mißkredit geraten ist. Unser terminologischer Wandel spiegelt natürlich das intellektuelle Umfeld wider, das uns umgibt, aber er begründet sich nicht darauf, denn die Mode ist ein schlechter Ratgeber im Wettstreit der Theorien. Die Begründung ist darin zu suchen, daß ein neuer Name für eine neue Form des rechtsphilosophischen Denkens erforderlich war, welches sowohl auf die Aporien, die sich aus dem Streit zwischen Positivisten und Naturrechtlern ergeben hatten, als auch auf die Fragen, die im Rahmen der Aufgaben des Juristen entstehen, eine Antwort zu geben versucht. So läßt sich die Rechtstheorie weder mit der Rechtsphilosophie im engeren Sinne noch mit der Naturrechtslehre gleichsetzen. Sie kann aber sehr wohl aufgefaßt werden als eine Form der Rechtsphilosophie im weiteren Sinne, und zwar als diejenige Form, die sich am epistemologischen Modell der Sprachanalyse orientiert. Sie ist auch nicht mit der „Allgemeinen Rechtslehre" zu

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verwechseln, die eine Disziplin mit ganz spezifischen Merkmalen darstellt (es ist der allgemeinste der allgemeinen Teile der Rechtsdogmatik) und die im Rahmen des Rechtspositivismus entstanden und daher auch mit den Fehlern bzw. „Irrtümern" behaftet ist, die man diesem zur Last legen kann. Das bisher Gesagte läßt sich mit dem folgenden Schema darstellen: Naturrechtslehre (Iuris naturalis scientia)

Rechtsphilosophie im weiteren Sinne

Metaphysik

Rechtsphilosophie im engeren Sinne (Rechtsphilosophie)

Physik

Rechtstheorie {Rechtstheorie,

Semiotik, Hermeneutik (oder Sprachanalyse)

Legal Theory)

I I I . Rechtstheorie als Analyse der Juristensprache Es stellt sich vor allem die Frage: Warum Analyse der Juristensprache und nicht Analyse der Sprache des Rechts oder einfach der Rechtssprache? Und damit verbunden eine zweite Frage: Warum soll sich die Analyse gerade auf die Sprache von Spezialisten beziehen und nicht auf die „normale" bzw. Umgangssprache über das Recht? Ich will mit der letzten Frage beginnen und dann die erste behandeln. Es ist offenkundig, daß man ständig und überall vom Recht und über das Recht spricht, denn es gehört zum täglichen Leben der Menschen. Die Umgangssprache hat aber den Nachteil, daß sie nicht exakt und daß sie begrifflich irreführend ist. Man braucht sich nur ein paar Unterhaltungen von Personen anzuhören, die aufgrund ihres Berufes, ihrer kulturellen Interessen oder einfach aus Unkenntnis der Welt des Rechts sehr fern stehen, um sich des Unsinns bewußt zu werden, der dabei meist geäußert wird. Selbstverständlich kann man nichts dagegen einwenden, wenn jemand diesen „Unsinn" untersuchen, seinen Sinn erforschen und ihn mit dem in Verbindung bringen will, was man das Rechtsverständnis des Volkes bzw. des Laien nennen könnte. Dies wäre das gleiche, als wenn jemand in einer Gesellschaft den umgangssprachlichen Gebrauch hinsichtlich der physischen Natur oder der klimatischen Veränderungen untersuchen wollte. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn die Forschung kann sich ihren Gegenstand ja frei wählen. Es wäre jedoch absurd, wenn diejenigen, die eine solche Arbeit machen, der Erforschung der Sprache der Physiker, der Biologen oder der Klimatologen ihre Geltung absprechen wollten. Ich kann mir keine bessere Philosophie der Physik vorstellen als diejenige über die Sprache der Physiker, also über das,

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was Physiker sagen. Eine echte Rechtstheorie hat sich auf die Sprache der Spezialisten zu konzentrieren, nicht, weil die Umgangssprache für die Forschung uninteressant wäre (man denke etwa an das große Interesse, das die Rechtssoziologie an dieser Art von Arbeit haben könnte), sondern weil es, wenn man zu einem möglichst genauen Verständnis des Rechts - von innen betrachtet - gelangen will, keinen anderen Weg gibt als den, als Jurist „das Recht zu beherrschen" und über diese Sprache zu diskutieren, deren Kenntnis man zuerst im Rahmen der Aufgaben des Juristen zu erwerben hat. Um also echte Rechtstheorie betreiben zu können, muß man Jurist sein wenn nicht berufsmäßig, dann doch aus Berufung oder zumindest aus Neigung. Die Beimischungen von Moralinsäure, von billiger Metaphysik oder bestenfalls von kulturellem Dilettantismus, die man häufig bei dem findet, was unter dem Titel „Rechtsphilosophie" firmiert, sind lächerlich. Diese Entfernung von der juristischen Wirklichkeit und von der Sprache der Juristen hat dazu geführt, daß diese (weitgehend mit gutem Grund) mit Verachtung auf eine sogenannte Rechtsphilosophie herabblicken, die vielleicht „gut klingt", die sie aber in ihrer Arbeit nicht verwenden können. Wahr ist aber auch, daß man viele Juristen nur schwer von der engstirnigen Einstellung kurieren kann, daß, „was nicht im Gesetzbuch steht, in der Welt nicht existiert", und daß die Verachtung in nicht geringem Maße aus Unwissenheit und Bequemlichkeit herrührt. Eine Rechtstheorie, die so ausgerichtet ist, wie es hier vorgeschlagen wird, erfordert vom Theoretiker das ständige Bemühen um eine Verbindung zum Recht, sowohl in seiner dogmatischen Ausarbeitung als auch in seiner praktischen Anwendung, und vom juristischen Praktiker die nicht weniger wichtige Bemühung, sich auf die Ebene zu erheben, auf der sich die Intelligenz selbst verzehrt, das heißt, auf die Ebene der Theorie. Die praktischen Juristen müssen wissen, daß es nichts praktischeres gibt als eine gute Theorie, und die Theoretiker müssen diesen Spruch verwirklichen. Abgesehen davon ist zu berücksichtigen, daß die Unterscheidung von Umgangssprache und Fachsprache im Bereich des Rechts von dem Augenblick an wenig überzeugend ist, in dem die Leute sich des terminologischen Schemas der Juristen bedienen müssen, um juristische Transaktionen oder Handlungen vornehmen zu können. Wenn beispielsweise jemand zu einer Bank geht, um ein Hypothekendarlehen aufzunehmen, dann kann er vielleicht eine andere Formulierung benutzen, also etwa sagen, er bitte die Bank um eine bestimmte Summe Geld und biete sein Haus als Sicherheit für das Darlehen. Wenn aber der Rechtsberater der Bank ihm dann sagt, daß das, was er möchte, ein Hypothekendarlehen ist, und ihm erklärt, wie der Darlehensvertrag aussieht und was eine Hypothek ist, dann wird wahrscheinlich von diesem Augenblick an die Formulierung „Hypothekendarlehen" zum Wortschatz dieser Person gehören. Obwohl er kein Fachmann ist, wird er dann den „richtigen" Ausdruck, nämlich den von den Fachleuten geprägten, benutzen. 13 Garzón Valdés

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Man kann also sagen, daß im Recht die normale Sprache die Sprache der Juristen ist. Wir kommen nun zur ersten Frage, die zu Beginn dieses Abschnitts gestellt wurde: Warum Analyse der Sprache der Juristen und nicht Analyse der Sprache des Rechts oder der Rechtssprache? Wenn man „Sprache der Juristen" sagt, dann bedeutet dies, daß man das Subjekt der Sprache benennt: Es sind die Juristen, die eine bestimmte Sprache geprägt haben und benutzen; in diesem Sinne ist es ihre Sprache, obwohl dieses „ihre" keinen alleinigen Besitz impliziert, denn diese Sprache ist tendenziell - wenngleich nicht vollständig auch Teil der Sprache des Laien, wenn dieser sich in der juristischen Welt verständlich machen will. Mit dem Ausdruck „Sprache des Rechts" wird nicht das Subjekt der Sprache bezeichnet, denn es ist offenkundig, daß das Recht nicht spricht; Recht ist immer Ergebnis von Gesprochenem oder Geschriebenem, also von Mitgeteiltem. Es ist ein Kommunikationsmittel (nicht nur, wie Kelsen sagte, eine Zwangstechnik), und als solches ist es Sprache, denn Kommunikation ist nur durch Sprache möglich. Darüber hinaus kann „Sprache des Rechts" oder „Rechtssprache" nichts anderes bedeuten als die Sprache, die von den Juristen geschaffen und benutzt wird, denn sie sind es, die das Recht (also die Rechtssprache) erzeugen und anwenden. Wie man sieht, wird hier der Terminus „Juristen" in einem sehr weiten Sinne benutzt, mit dem nicht nur die Rechtswissenschaftler identifiziert werden, sondern auch die Organe der Rechtserzeugung und -anwendung. Dieser umfassende Gebrauch des Ausdrucks ist gerechtfertigt, weil in unseren Tagen alle Prozesse der Rechtserzeugung und -anwendung durch die technische Qualifikation von Berufsjuristen vermittelt werden. Dies ist selbstverständlich in den Fällen der rechtsprechenden Funktion und des Anwalts, in denen die direkt beteiligten Akteure wissenschaftlich ausgebildete Juristen sind, es gilt aber auch im Rahmen der gesetzerzeugenden Funktion, wo die Parlamentarier zwar Personen sein können und größtenteils auch sind, die keine rechtswissenschaftliche Ausbildung genossen haben, diese aber in ihrer Funktion von Juristen unterstützt werden, die auf die verschiedenen Gebiete der Rechtswissenschaft spezialisiert sind. So wird zumindest weitgehend gewährleistet, daß die in der Gesetzgebung benutzte Sprache technisch korrekt ist, wenn auch logischerweise der Inhalt dieser Sprache direkt Gegenstand des Parlamentarierwillens ist. Andererseits entbehrt auch der Ausdruck „Sprache des Rechts" nicht der Mehrdeutigkeit und Unschärfe. Man kann ihn gleichsetzen mit „Sprache des Gesetzes", aber dann sind alle anderen Rechtsregeln ausgeschlossen. Identifiziert man ihn mit der „normativen Sprache", dann bleiben, obwohl dieser Ausdruck umfassender ist als der vorige, große, wichtige Bereiche ausgeschlossen, wie etwa die Sprache der Teilnehmer des Entscheidungsprozesses, die keine Normen erzeugen (beispielsweise Anwälte), oder die Sprache der

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Rechtswissenschaftler, die offensichtlich auch keine Organe der Rechtserzeugung sind. Dagegen sind alle diese sprachlichen Gegebenheiten in den Ausdruck „Juristensprache" einbezogen: die Gesetzessprache ist die der Gesetzgeber, die normative Sprache ist die aller Rechtserzeuger (und -anwender), und die Sprache der an rechtlichen Entscheidungen Mitwirkenden (dies wäre der Fall des Anwalts) und der Rechtsdogmatiker würde offenbar unzweifelhaft unter den Ausdruck „Juristensprache" fallen. Es handelt sich dabei also nicht um einen willkürlichen Ausdruck, sondern um einen solchen, der gänzlich darauf ausgerichtet ist, der Vielschichtigkeit der Rechtssprache und ihrer jeweiligen Subjekte Rechnung zu tragen. Es ist auch nicht zu vergessen, daß Sprache immer Sprache von jemandem ist. Der Terminus „Analyse" ist ebenfalls im weitesten Sinne zu verstehen, als annähernd synonym mit „Zerlegung" oder „Untersuchung". Es geht nämlich nicht allein darum, die Sprache der Juristen in ihre Einzelteile zu zerlegen, um ihre formale Struktur oder ihre pragmatische Zusammensetzung zu betrachten; man muß sich auch die Frage stellen, was Sprache als Kommunikationsmittel ist und was durch die Rechtssprache mitgeteilt wird. Ohne näher darauf einzugehen, kann man hier die Einteilung der Semiotik von Ch. Morris in drei verschiedene Ebenen bzw. Disziplinen - Pragmatik, Semantik und Syntax - übernehmen als einen Weg, um die Bedeutung des Ausdrucks „Analyse der Juristensprache" zu verstehen. Morris faßt die Semiotik als „Theorie von den Zeichen" auf, wobei letztere aus drei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden können: aus der Perspektive der Pragmatik, wenn die Sprache (Zeichen) im Bezug auf den Sprechenden untersucht wird; aus der Perspektive der Semantik, wenn sprachliche Ausdrücke mit den von ihnen bezeichneten Objekten, den Referenzobjekten, in Beziehung gesetzt werden, und schließlich aus der syntaktischen Perspektive, wenn sprachliche Ausdrücke nach ihrer Form untersucht werden, das heißt nach der Art und Weise, in der die Zeichen - rein formal gesehen - untereinander in Beziehung stehen. Etwas vereinfachend könnte man sagen, daß die Pragmatik sich auf die Untersuchung des Gebrauchs von Sprache konzentriert, während die Semantik ihre Bedeutung und die Syntax ihre Form studiert. Nun muß man aber zustimmen, daß insofern, als der Gebrauch weitgehend die Bedeutung bestimmt und sich die Form anhand der Bedeutung untersuchen läßt, die drei Aspekte nicht zu trennen sind, sondern daß sie wie eine Kette zusammenhängen, die mit der Pragmatik beginnt, mit der Semantik fortfährt und in der Syntax endet. Schon Austin und Searle haben den vorrangigen, grundlegenden Charakter der Pragmatik aufgezeigt; man muß jedoch auch den Gedanken betonen, daß eine formale Analyse der Sprache nicht möglich ist, wenn nicht vorher die Konstruktion der Bedeutung erfolgt. Bei alledem ist außerdem nicht zu vergessen, daß den drei semiotischen Teilbereichen immer die interpretativ-konstruktive Aufgabe der Hermeneutik zugrundeliegt. 13*

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Pragmatik (Sprachgebrauch) Hermeneutik