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German Pages 119 [120] Year 1980
BERND Rt1THERS
Rechtsprobleme der Aussperrung
Berliner Abhandlungen zum Presserecht herausgegeben von Karl August Bettermano, Ernst E. Hirsch und Peter Lerche
Heft 25
Rechtsprobleme der Aussperrung unter besonderer Berücksichtigung des Pressewesens
Ein Rechtsgutachten von
Dr. iur. Bernd Rüthers o~
Profeeaor df"r Rechte
an der UDiveraität Koaetaaz
DUNCKER &
BUMBLOT I
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1980 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
© 1980 Duncker
ISBN 3 428 04623 4
Vorwort Arbeitskampf ist in freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnungen in erster Linie Preiskampf am Arbeitsmarkt. Er hat über den je· weiligen konkreten Tarifkonflikt hinaus eine unverzichtbare volkswirtschaftliche Steuerungsfunktion. Sie betrifft nicht nur die beteiligten Tarifparteien (Gewerkschaft und Arbeitgeberverband), sondern das gesamte Gemeinwesen. Ausgewogene Tarifabschlüsse sind eine Lebensfrage freiheitlicller Industriegesellschaften. Vor diesem Hintergrund sind die Rechtsprobleme der Aussperrung zu sehen. Sie werden in den letzten Jahren zunehmend von organisierten Emotionen überlagert und mit gezielter Propaganda eingenebelt. Es geht um die Funktionsbedingungen der Tarifautonomie: Soll das bisher praktizierte staatsfreie Tarif- und Arbeitskampfmittelsystem durcll hoheitlichen Eingriff - sei es der Gesetzgebung, sei es der Gerichte- verändert werden? Gibt es nachweisbare Veränderungen der sozialen Faktenlage, die einen solchen staatlichen Eingriff in die geltende Rechtsordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens rechtfertigen können? Es handelt sich bei der hier vorgelegten Schrift um ein Rechtsgutachten, um das der Verfasser von der Arbeitsgemeinschaft der Verlegerverbände (BU:ndesverband Deutscher Zeitungsverleger und Verband Deutscher Zeitschrif.tenverleger) gebeten worden ist. Bottighofen TG, im Januar 1980.
Bernd Rüthers
Inhaltsverzeichnis A. Das Problem
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B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 I. Völkerrechtliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die Europäische Sozialcharta (ESC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
2. Andere völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 a) Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950 (MRK) . . . . . . . . . . . . . . 19 b) Sonstige Verträge 20 II. Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Die Rechtslage vor der "Notstandsverfassung" . . . . . . . . .
20
2. Der Gewährleistungsinhalt des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG a) Der Meinungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Normzweck und systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Inhalt der Kernbereichsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Schutz nur für Verbandsarbeitskämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gleichbehandlung der Koalitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Differenzierungsmöglichkeiten zwischen Streik und Aussperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28 29 30 33 35 36 36 38 39
III. Rechtsgrundlagen in Bundesgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Arbeitskampfbezogene bundesgesetzliche Vorschriften . . . . . . . .
42
2. Die Bedeutung des § 25 KSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3. Die Gegenmeinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 IV. Das Bundesrichterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 V. Ergebnis zu B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
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Inhaltsverzeichnis
C. Das Aussperrungsverbot in Art. 29 Abs. 5 der Bessischen Verfassung (BessVerf.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 I. Das Verhältnis zur Europäischen Sozialcharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 II. Das Verhältnis zu Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 III. Das Verhältnis zu einzelnen Bundesgesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 IV. Das Verhältnis zum Bundesrichterrecht
53
D. Rechtmäßigkeltskriterien der Aussperrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 I. Geltende Grundsätze des Arbeitskampfrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 II. Besonderheiten der Aussperrungsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Polemik gegen die Eigentums- und Wirtschaftsordnung . . 2. Das geltende Recht als Beurteilungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Polemik gegen das Bundesarbeitsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65 65 66 67 68
III. Das Paritätsgebot im Tarif- und Arbeitskampfrecht . . . . . . . . . . . . 70 1. Die Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2. Die verschiedenen Definitionen der "Parität" . . . . . . . . . . . . . . . . a) Parität als Gegengewichtsprinzip - Der abstrakt-materielle Paritätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der historische Paritätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der formelle Paritätsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Parität als Parteinahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Der Paritätsbegriff in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . f) Ergebnis
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3. Der normative Gehalt für die Aussperrungsproblematik . . . . . . a) Die Weite des Inhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das abstrakt-materielle Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Untersuchungen zur Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Einzelaspekte der Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Ergebnisse der Tarifpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beispielhafte Tarifkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Existenzgefährdung der Gewerkschaften? . . . . . . . . . . . . dd) Gesamtwürdigung zu c) und d) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e} Der Einfluß des Mitbestimmungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . f) "Solidarität contra Wettbewerb" am Beispiel der Druckindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Ergebnis zu 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77 77 78 79 80 81 82 84 87 87
72 74 74 75 75 76
88 93
4. Abwehraussperrung und Betriebsrisikolehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Inhaltsverzeichnis
9
IV. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
97
1. Entwicklung und normativer Inhalt
97
2. Unsicherheiten der Konkretisierung für das Verhältnis zwischen Schwerpunkt-Angriffsstreik und Abwehraussperrung . . 99 3. Der Vorschlag von festen Zahlenschlüsseln zwischen Streikenden und Ausgesperrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a} Der Mangel verläßlicher Zahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die verschiedenen Wirkungsweisen von Schwerpunktstreiks und Abwehraussperrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Notwendigkeit variabler Zahlen und Relationen der Kampfbeteiligten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d} Starre Zahlenschlüssel, Kampfparität und Übermaßverbot 4. Die Zulässigkeit bundesweiter Abwehraussperrungen in der Druckindustrie ............. . ........... . ... . ........... .. ... a) Die Kampfpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Kampfrahmen nach dem Bundesarbeitsgericht . . .... .. c) Schwerpunktstreiks um Firmentarife . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das zulässige Ausmaß von Abwehraussperrungen . . . . . . . . e} Verhältnismäßigkeit und§ 116 Abs. 3 AFG .. ....... .. . .. .. f) Bundesweite Aussperrung und Art. 5 GG . ... . ....... .. . . g) Die Erfor derlichkeit bundesweiter Streikabwehr durch Aussperrung in der Druckindustrie .... ........... . ........ .. h) Die technisch-ökonomische Unteilbarkeit der Produktion in der Druckindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101 103 104 106 107 109 109 110 110 111 111 112 114 115
Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
A. Das Problem Seit im Frühjahr 1963 die Metallarbeitgeber von NordwürttembergNordbaden einen Schwerpunktstreik der IG Metall in einer Abwehraussperrung für das gesamte Tarifgebiet beantworteten, ist das Thema Waffengleichheit im Arbeitskampf und Zulässigkeit der (Abwehr-) Aussperrung in immer neuen Schüben vom juristischen Schrifttum behandelt worden. In der ersten Diskussionsphase stand im Vordergrund die Zulässigkeit von Aussperrungen mit Lösungswirkung für die Arbeitsverträge und von Sympathiearbeitskämpfen (= aussperrungen) mit einer entsprechenden Verschärfung der Kampfwirkungen und einer erheblichen Ausweitung der Kampfgebiete über den Geltungsbereich des umkämpften Tarifabschlusses hinaus. Es ging vor allem um die Rechtmäßigkeit einer kollektiven Beendigung von Arbeitsverhältnissen durch vertragslösende Arbeitskampfmaßnahmen. Für eine mögliche, wenn auch modifizierte Lösungswirkung der Aussperrung haben sich damals besonders Nipperdey und Säcker eingesetzt1 • Der Große Senat des BAG hat in seiner (zweiten) Grundsatzentscheidung zum Arbeitskampfrecht2 an seinem ursprünglichen Konzept einer Arbeitskampfrechtsordnung3 festgehalten und die prinzipielle Zulässigkeit der Aussperrung als Kampfmittel der Arbeitgeberseite unter Einschluß möglicher lösender Aussperrungen eingehend begründet4 • Für lösende Aussperrungen wurde nach dem Ende des Arbeitskampfes ein Wiedereinstellungsanspruch der ausgesperrten Arbeitnehmer nach billigem Ermessen angenommen5 • Diese Entscheidung wurde vom Deutschen Gewerkschaftsbund zunächst positiv aufgenommen. Er begrüßte die Einschränkung der lösenden Wirkung der Aussperrung als einen Rechtsfortschritt und bedauerte nur, daß sich das BAG über vorgetragene verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Zulässigkeit der Aussperrung hinweggesetzt habe6 • 1 Nipperdey I Säcker, BB 1969, 321 ff.; Säcker, DB 1969, 1890 ff. und 1940 ff.; vgl. dagegen Rüthers, DB 1969, 967 ff. jeweils mit Nachweisen. 2 BAG (GS), AP Nr. 43 zu Art. 9 Abs. 3 GG Arbeitskampf. 3 Vgl. BAG (GS), AP Nr. 1 zu Art. 9 GG Arbeitskampf. 4 BAG, a.a.O., Bl. 310 R. s BAGE 23, 292. e Vgl. DGB-Nachrichtendienst v om 21. 4. 1971 und R. Kalbitz, Aussperrungen in der Bundesrepublik, 1979, S. 91 f.
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A. Das Problem
In der Folgezeit haben der DGB und seine Einzelgewerkschaften (insbesondere IG Metall und IG Druck) eine neue rechtspolitische Diskussion in Gang gebracht. Diese Bemühungen dienen zwei gewerkschaftlichen Forderungen: -
Der Gesetzgeber solle die Aussperrung verbieten.
-
Die Gerichte sollen in Abkehr von der ständigen Rechtsprechung des BAG dahin gebracht werden, die Abwehraussperrung bereits nach geltendem Recht für verboten zu erklären.
Rechtspolitische Wunschvorstellungen und geltendes Recht werden bei den Autoren, die diese gewerkschaftlichen Forderungen unterstützen, nicht immer klar unterschieden. Diese beiden Forderungen wurden auf zahlreichen Bundeskongressen des DGB und seiner Gewerkschaften als verbindliche gewerkschaftliche Programmpunkte festgelegt. Erstmals auf dem 9. Bundeskongreß des DGB in Berlin 1972 wurde nach dem Antrag Nr. 180 ein Beschluß gefaßt, in dem die Aufhebung der "durch das Bundesarbeitsgericht vorgenommenen Einschränkungen der Arbeitskampffreiheit der Gewerkschaften" und ein gesetzliches Verbot der Aussperrung gefordert wurden7 • 1973 veranstaltete die IG Metall vom 13. bis 15. September in München einen Kongreß zum Thema "Streik und Aussperrung", auf dem ausgewählte Referenten die programmatischen Zielvorgaben der Vorsitzenden Vetter und Loderer argumentativ unterstützten8 • Während und nach den Arbeitskämpfen in der Chemie, im Metallund Druckgewerbe 1971, 1973, 1976 und 1978 ist in der Öffentlichkeit von Gewerkschaftsführern, aber auch von einzelnen SPD-Politikern, jeweils heftig für ein generelles Aussperrungsverbot plädiert worden. Eine entsprechende Forderung nahm die SPD 1979 in ihr EuropaWahlprogramm auf, während in der nationalen Politik Regierungsmitglieder der SPD-FDP-Koalition ausdrücklich eine gesetzgeberische Initiative für ein Aussperrungsverbot ablehnten. In den Arbeitskämpfen von 1978 hatte die IG Metall mit etwa 80 000 Streikenden einen Schwerpunktstreik in 63 Unternehmen (75 Betriebe) organisiert. Der Verband der Metallindustrie hat daraufhin zusätzlich weitere ca. 120 000 Arbeitnehmer ausgesperrt, so daß insgesamt ca. 200 000 Arbeitnehmer in den Arbeitskampf verwickelt waren. In der Druckindustrie streikten im Frühjahr 1978 11 000 Arbeitnehmer in unbefristeten Schwerpunktstreiks, die von der IG Druck und Papier ausgerufen waren. Der Arbeitgeberverband der Druckindustrie 7 Vgl. Leminsky I Otto, Politik und Programmatik des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Köln 1974, S. 196, zitiert nach R. Kalbitz, a.a.O., S. 91. 8 Vgl. Kittner (Hrsg.), Streik und Aussperrung, 1974.
A. Das Problem
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sperrte weitere 21 000 Arbeitnehmer aus. Der Arbeitskampferfaßte das gesamte Bundesgebiet; die Tarifverträge werden in diesem Industriezweig jeweils bundeseinheitlich vereinbart. Beide Gewerkschaften ließen sich nach der Beendigung der Arbeitskämpfe von ausgesperrten Arbeitnehmern in großer Zahl Lohnansprüche für die Zeit der Aussperrung abtreten, welche die Gewerkschaften für gegeben hielten. Beide Gewerkschaften haben solche Lohnklagen massenhaft organisiert oder selbst als Zessionare geltend gemacht. Einzelne dieser Klagen aus beiden Tarifbereichen, auch solche, die im Geltungsbereich der Verfassung des Landes Hessen eingeklagt wurden, liegen dem BAG zur Entscheidung vor. Die eingeklagten Lohnzahlungsansprüche sind begründet, wenn die Aussperrung der Arbeitnehmer rechtswidrig war. Die Arbeitgeber der Metallindustrie in Nordwürttemberg-Nordbaden und die der Druckindustrie im Bundesgebiet haben im Frühjahr 1978 suspendierende Abwehraussperrungen erklärt. Suspendierende Abwehraussperrungen bewirken, wenn sie rechtmäßig sind, daß die Arbeitsverhältnisse der ausgesperrten Arbeitnehmer "ruhen", also die Hauptpflichten (Arbeitspflicht des Arbeitnehmers, Lohnzahlungspflicht des Arbeitgebers) entfallen. Damit hat das BAG erneut über die Frage der Rechtmäßigkeit der Aussperrung zu entscheiden. Diese Frage läßt sich in zwei Teilfragen untergliedern: -
Ist die Aussperrung nach geltendem Recht ein im Grundsatz rechtmäßiges Kampfmittel im Arbeitskampf?
-
Nach welchen einzelnen Merkmalen bestimmt sich die Zulässigkeit, insbesondere die Verhältnismäßigkeit von Aussperrungen?
B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung I. Völkerrechtliche Grundlagen• Eine rechtliche Anerkennung oder Gewährleistung der Aussperrung könnte sich aus völkerrechtlichen Verträgen ergeben, wenn diese die Bundesrepublik Deutschland insoweit binden. In Frage kämen hier vor allem Art. 6 Ziff. 4 (Teil II) der Europäischen Sozialcharta, ferner Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950, das Übereinkommen Nr. 87 der Internationalen Arbeitsorganisation von 1948 sowie der Pakt über politische und bürgerliche Rechte der Vereinten Nationen (1976). Diese Vereinbarungen mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen sind darauf zu prüfen, ob und mit welcher Wirkung sie durch Bundesgesetze in innerstaatliches Recht umgesetzt worden sind. Für die Umsetzung von Völkervertragsrecht in innerstaatliches Recht ist zunächst die Vorrangklausel des Art. 25 GG zu beachten. Sie erfaßt aber nur die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, die danach den innerstaatlichen Gesetzen vorgehen. Für das übrige Völkervertragsrecht gilt, daß innerstaatliches Recht im Zweifel völkerrechtskonform ausgelegt werden muß, so daß ein Konflikt mit dem Völkerrecht nicht entsteht oder besteht10• Diese Bindung gilt nicht nur für die Auslegung, sondern auch für die Fortbildung innerstaatlichen Rechts. Sie erfaßt alle staatlichen Instanzen, also Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung und Rechtsprechung11 • 1. Die Europäische Sozialcharta (ESC)
Nach Art. 6 Ziff. 4 (Teil II) ESC anerkennen die Vertragsparteien das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streiks im Falle von Interessenkonflikten vorbehaltlich etwaiger Verpflichtungen aus geltenden Gesamtarbeitsverträgen12. 9
Vgl. dazu Gitter, ZfA 1971, 127 ff.
Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 25, Rdn. 30. Vgl. auch Frowein, Zur völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Aussperrung, 1976, S. 18. 12 Zutreffend BGBl. II 1964, S. 1262 ff. (1266); vgl. das Fehlzitat bei Mitscherlich, Das Arbeitskampfrecht der Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Sozialcharta, 1977, S. 29. Der Text dort ist mit einem Druckfehler ("anzuerkennen") abgedruckt. 10
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I. Völkerrechtliche Grundlagen
15
Die Bundesrepublik hat die ESC am 27. 1. 1965 ratifiziert. Sie ist am 26. 2. 1965 in Kraft getreten13. Von Anfang an ist über die innerstaatliche Verbindlichkeit und über den Inhalt von Art. 6 Ziff. 4 ESC gestritten worden. Es geht zunächst darum, ob Art. 6 Ziff. 4 ESC inner-
staatlich unmittelbar geltendes Recht oder nur vertragliche Verpflichtungen der Unterzeichnerstaaten enthält. Der Streit um die innerstaatliche Geltung wird dadurch genährt, daß bei Ziff. 4 die Vertragsparteien das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen "anerkennen". Die Auslegungskontroverse14 über Art. 6 Ziff. 4 ESC wird engagiert geführt, weil das jeweilige Auslegungsergebnis bestimmte Grundsatzfragen des innerdeutschen Arbeitskampfrechts beeinflussen kann und soll. Aus der These der unmittelbaren innerstaatlichen Geltung des Art. 6 Ziff. 4 ESC wird die Zulässigkeit des nicht gewerkschaftlich organisierten Streiks16 und des Beamtenstreiks18 hergeleitet. Die Gegenthese von der Unanwendbarkeit der ESC im Staat dient dazu, die Geltung des Aussperrungsverbotes in Art. 29 Abs. 5 Hess. Verfassung zu stützen17. Dieser Meinungsstreit kann hier dahinstehen. Das ergibt sich aus dem materiellen Gewährleistungsgehalt des Art. 6 Ziff. 4 ESC. Dort wird "das Recht der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber auf kollektive Maßnahmen einschließlich des Streikrechts" anerkannt. Das Streikrecht wird als ein Unterfall der "kollektiven Maßnahmen" besonders erwähnt. Daraus ergibt sich, daß zu den kollektiven Maßnahmen auch und besonders Kampfmittel des Arbeitskampfes gehören. Die ESC will hier ausdrücklich kollektive Maßnahmen beider Parteien gewährleisten. Neben dem Streik der Arbeitnehmer sind daher auch Kampfmaßnahmen der Arbeitgeber anerkannt. Die wichtigste kollektive Maßnahme der Arbeitgeber ist die Aussperrung18. Sie gehört daher zum Gewährleistungsinhalt des Art. 6 Ziff. 4 ESC10. Vgl. näher Mitscherlich, a.a.O., S. 18 ff., 22. Vgl. etwa Ramm, AuR 1967, 97 ff. und AuR 1971, 65, 69 ff.; Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, 2. Aufl., 1971, S. 177 ff.; Wengler, Die Unanwendbarkeit der Sozialcharta im Staat, 1969; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes - zum hessischen Aussperrungsverbot, 1968, S. 82 ff.; Fabricius, ZAS 1968, 65, 74 ff.; ders., Gleitze-Festschrift 1978, S. 463, 499 ff.; Rüthers, Der Staat 1972, 550 ff., 557; Übersichten bei Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 130 ff. ; Gitter, ZfA 1971, 127, 135 ff.; Mitscherlich, a.a.O., S. 29 ff. 15 z. B. Ramm, AuR 1967, 97, 108 ff. 18 Däubler, Der Streik im öffentlichen Dienst, 2. Aufl., 1971, S. 177 ff.; Ramm, Das Koalitions- und Streikrecht der Beamten, 1970, S. 26 ff. 17 Wengler, Die Unanwendbarkeit der Europäischen Sozialcharta im Staat, 1969, S. 5 ff.; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 82 ff. 18 Ganz h. M., statt aller Hueck I Nipperdey, Lehrbuch II 2, 7. Aufl., S. 873, 924; Frowein, Zur völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gewährlei13
14
16
B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung
Nach den Verfahrensregeln der ESC kontrolliert ein "Sachverständigenausschuß" die Übereinstimmung der nationalen Rechtsordnungen mit der ESC und die Erfüllung ihrer Verpflichtungen durch die Unterzeichnerstaaten. Dieser Ausschuß hat in ständiger Auslegung die Auffassung vertreten, daß Art. 6 Ziff. 4 ESC sich gleichermaßen auf Streik und Aussperrung beziehe; das folge daraus, daß die Aussperrung die hauptsächliche, wenn nicht einzige kollektive Maßnahme sei, mit der die Arbeitgeber ihre Interessen verteidigen könnten20• Die Entstehungsgeschichte der Norm ergibt keine klaren Hilfen für die Auslegung21 • Die Gegner einer Aussperrungsgarantie verweisen auf den Wortlaut, der das Wort Aussperrung nicht enthält, auf die vergleichsweise geringe Aussperrungspraxis und auf die unterschiedliche Interessenlage beider Arbeitsmarktparteien22• Diese Argumente gehen daran vorbei, daß Art. 6 Ziff. 4 ESC kollektive Maßnahmen beider Seiten garantiert und den Streik nur als Unterfall solcher Maßnahmen hervorhebt. Bedeutsam für die Auslegung durch die Unterzeichner ist auch die Stellungnahme der Bundesregierung in ihrer Denkschrift zur ESC. Dort heißt es: "Nach Abs. 4 ist außerdem das Recht der Sozialpartner auf kollektive Maßnahmen bei Interessenkonflikten anzuerkennen. Dieses Recht ist in der Bundesrepublik bereits anerkannt. Die Rechtsprechung hat es für das Streikrecht und die Aussperrung gleichermaßen bestätigt23." Die gleichwertige Anerkennung von Streik und Aussperrung durch die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte wurde also von der Bundesregierung als Unterzeichnerin der ESC als Erfüllung dieser Verpflichtung angesehen. Dieser Auffassung ist im Bundestag nicht widersprochen worden. Sie wird indirekt bestätigt durch das Abstimmungsverhalten des Landes Hessen im Bundesrat. Der Bundesrat mußte der ESC zustimmen. Der Vertreter Hessens begründete die Stimmenthaltung seines Landes wie folgt: "Die hessische Landesregierung begrüße zwar grundsätzlich die Charta. Sie müsse jedoch wegen des Aussperrungsverbotes in Art. 29 Abs. 5 HessVerf. einen Vorbehalt machen, weil stung der Aussperrung, 1976, S. 10 ff.; a. A. Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen, 1968, S. 83; Mengoni, La Carta Sociale Europea e la Serrata: Riveda di Diritto del Cavaro, 1969, 20 ff., 27. 19 Gitter, ZfA 1971, 140 f. 2° Council of Europe, Committee of Independent Experts of the European Social Charta, Conclusions I (1969170), 38. 21 Vgl. Mitscherlich, Das Arbeitskampfrecht der Bundesrepublik und die Europäische Sozialcharta, 1977, S. 63 ff. 22 Zachert I Metzke I Hamer, Die Aussperrung, 1978, S. 182 ff. 23 BT-Drucksache, IV 2117, S. 31.
I. Völkerrechtliche Grundlagen
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nach Ansicht der Bundesregierung die Charta auch die Aussperrung als Kampfmittel gewährleiste24." Schließlich ist der internationale Geltungsbereich der Charta für die Auslegung zu bedenken. Sie erfaßt in der Vielfalt ihrer Unterzeichnerstaaten sehr unterschiedliche nationale Rechts- und Sozialsysteme. Die nationalen Gesetzgeber sollen einen breiten Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung ihres Arbeits- und Wirtschaftslebens haben25. Andererseits schreibt die Charta in Art. 6 Ziff. 4 als Rahmenordnung für die Austragung von Interessenkonflikten der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein Gegengewichtsmodell im Sinne paritätischer Gestaltungsmöglichkeiten fest. Beide Seiten sollen kollektive Maßnahmen gegeneinander ergreifen können. An diese paritätisch konzipierte Rahmenordnung des Art. 6 Ziff. 4 ESC ist die Bundesrepublik bei der Fortentwicklung ihres Arbeitskampfrechts gebunden. Nimmt man alle einzelnen Auslegungskriterien zusammen, so will Art. 6 Ziff. 4 ESC die Aussperrung als ein im Grundsatz zulässiges Kampfmittel der Arbeitgeber gewährleisten. Im Rahmen einer solchen Einrichtungsgarantie bleibt dem jeweiligen nationalen Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum für die Regelung des Arbeitskampfrechts. Ein generelles Aussperrungsverbot (Art. 29 Abs. 5 HessVerf.) ist mit Art. 6 Ziff. 4 ESC unvereinbar26. Dieser normativ verbindliche Inhalt der ESC bindet primär den Gesetzgeber. In der Bundesrepublik ist das Parlament gegenüber arbeitskampfrechtlichen Regelungen von jeher äußerst zurückhaltend. Es hat dadurch seine verfassungsgemäße Normsetzungsaufgabe auf diesem Gebiet weitgehend auf das zuständige oberste Bundesgericht, das Bundesarbeitsgericht, überwälzt. Das Bundesarbeitsgericht hat durch seine einschlägigen Entscheidungen, insbesondere durch die beiden Grundsatzbeschlüsse des Großen Senats zum Arbeitskampfrecht, gesetzesvertretendes Richterrecht geschaffen und diese Aufgabe auch selbst so gesehen27. Die Untätigkeit des Gesetzgebers zwingt in solchen Fällen das zuständige oberste Bundesgericht in die Rolle des Ersatzgesetzgebers, da dieses sonst gegen das Rechtsverweigerungsverbot verstoßen würde. Bei dieser Ersatzgesetzgebung ist das Gericht weniger frei als der einfache Gesetzgeber. Es hat die vorhandenen einfachgesetzlichen evtl. fernwirkenden Wertmaßstäbe zu beachten, die für den zu regelnden Lebenssachverhalt in der Rechtsordnung vorhanden 24 Vgl. den genauen Wortlaut bei Isele, Die Europäische Sozialcharta, 1967, S. 66; ferner Bericht, RdA 1964, 170. 25 Zutreffend Seiter, JA 1979, 337, 340. 2e Ausführlich dazu mit zahlreichen Hinweisen Mitscherlich, Das Arbeitskampfrecht und die Europäische Sozialcharta, 1977, S. 59 ff., 94 f. 27 BAGE 23, 292 (319 f.).
2 Rüthers
18
B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung
sind. Erst recht ist das Gericht an solche Pflichten aus internationalen Abkommen gebunden, denen der parlamentarische Gesetzgeber unterworfen wäre, wenn er das fragliche Rechtsgebiet selbst regeln würde. Diese Bindung der rechtsfortbildenden Gerichte an die Verpflichtungen aus völkerrechtlichen Verträgen ist zuerst und eingehend von Seiter28 dargelegt worden. Sie hat in der Rechtslehre zunehmend Anerkennung gefunden29• Diese Bindung ist vom LAG Frankfurt30 nicht erkannt worden. Es begnügt sich (vgl. IV der Gründe) mit der vertretbaren, der Mehrheitsmeinung entsprechenden Feststellung, die Sozialcharta enthalte kein innerstaatliches Recht. Übersehen wird dabei, daß Art. 6 Ziffer 4 ESC eine Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur Gestaltung ihres Arbeitskampfrechts enthält31• Diese Verpflichtung kann bei einem auf diesem Gebiet dauerhaft untätigen Gesetzgeber wie bisher - nur von den Arbeitsgerichten wahrgenommen werden. Sie haben daher bei der Fortentwicklung der Arbeitskampfrechtsordnung die zentrale Normsetzungsfunktion für die Bundesrepublik. Unter diesen Umständen erschöpft die Feststellung, die ESC enthalte kein innerstaatlich geltendes Recht, das angesprochene Problem nicht. Der normsetzenden Rolle der Arbeitsgerichte im Arbeitskampfrecht entspricht die Verpflichtung, im Hinblick auf Art. 6 Ziff. 4 ESC das innerstaatliche Recht so auszulegen und fortzubilden, daß es mit der völkerrechtlichen Gewährleistung der Arbeitskampfmittel Streik und Aussperrung übereinstimmts2. Auch wenn man mit der Mehrheitsmeinung Art. 6 Ziff. 4 ESC nicht für innerstaatliches unmittelbar geltendes Recht hält, hat diese Bestimmung für das Arbeitskampfrecht der Bundesrepublik normative Bedeutung. Sie bindet die normsetzenden Instanzen bei der Fortbildung der Arbeitskampfrechtsordnung an die dort festgelegten Grundsätze. Wenn also die Gerichte an Stelle des untätigen Gesetzgebers das Arbeitskampfrecht fortbilden, sind sie an die Verpflichtungen aus der Sozialcharta gebunden, wie der Parlamentarische Gesetzgeber. Die ESC sieht in Art. 6 Ziff. 4 "kollektive Maßnahmen" der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber vor. Das bedeutet im Zusammenhang des damit zs Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 137 ff.; vgl. auch Gitter, ZfA 1971, 135 ff., der allerdings Art. 6 Ziff. 4 ESC als self-executing-Norm ansieht. 29 z. B. Zöllner, Aussperrung und arbeitskampfrechtliche Parität, 1974, S. 10 f., der sich ausdrücklich (Fn. 14) auf Seiter stützt. Frowein, Zur völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Aussperrung, 1976, S. 18; Konzen, AcP 177 (1977), S. 473, 504 (Fn. 191), vgl. auch S. 541 f.; ferner G. Müller, RdA 1973, 137, 138 (" Wertmaßstab und Auslegungshilfe"). so Urteil vom 17. 4. 1979 - 415 Sa 1033/78. at Frowein, a.a.O., S. 18. 32 So im Ergebnis vor allem Seiter, a.a.O., 1975, S. 129 ff., 317 f.; Frowein, a.a.O., S. 18; Zöllner, a.a.O., S. 10 f.
I. Völkerrechtliche Grundlagen
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anerkannten Paritätskonzeptes gegenseitiger kollektiver Maßnahmen, daß die Aussperrung als wesentliches Kampfmittel der Arbeitgeberseite im Grundsatz zulässig sein muß. Ein totales Aussperrungsverbot ist mit der ESC unvereinbar. Andererseits ist damit über die nationale Ausgestaltung des Aussperrungsrechts nichts gesagt. Es ist also kein Verstoß gegen Art. 6 Ziff. 4 ESC, wenn eine nationale Rechtsordnung den Streik gegenüber der Aussperrung privilegiert33• Die Vertragsstaaten haben jedoch bei der Fortentwicklung ihrer Rechtsordnungen die Grundsätze des Art. 6 Ziff. 4 ESC zu beachten34• Die genaue Grenze zwischen zulässiger Privilegierung des Streiks und unzulässiger Beseitigung der Aussperrung nach der ESC mag zweifelhaft sein. Der geltende Rechtszustand in der Bundesrepublik gibt zu ihrer Präzisierung keinen notwendigen Anlaß. 2. Andere völkerrechtliche Vertrige a) Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950 (MRJK)
Sie gewährleistet in Art. 11 Abs. 1 MRK allen Menschen das Recht, sich friedlich zu versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen einschließlich des Rechts, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten. Nach Abs. 2 der Vorschrift unterliegen die durch Abs. 1 garantierten Rechte nur solchen gesetzlichen Einschränkungen, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse u. a. der Aufrechterhaltung der Ordnung oder des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer notwendig sind. Die Konvention ist innerstaatlich anwendbares Recht35• Im Österreichischen Schrifttum36 ist daraus zuerst eine institutionelle Garantie der kollektiven Koalitionsfreiheit einschließlich des Arbeitskampfes abgeleitet worden37• Eine zweckgerechte Auslegung führt auch hier dazu, eine Gewährleistung rechtmäßiger arbeitsrechtlicher Arbeitskämpfe anzunehmen. Bedenkt man die notwendige Offenheit eines multilateralen völkerrechtlichen Abkommens für die Eigenart nationaler Rechts33 Mitscherlich, Das Arbeitskampfrecht der Bundesrepublik und die Europäische Sozialcharta, 1977, S. 93. Das trifft für eine Reihe von Unterzeichnerstaaten der ESC zu; vgl. für Italien und Frankreich sowie die Benelux-Staaten die Hinweise bei Mitschertich, a.a.O., S. 78 ff. M Ob der geltende Rechtszustand in Italien und Frankreich diesen Erfordernissen entspricht, wird der Sachverständigenausschuß zu prüfen haben. 35 Hueck I Nipperdey, Lehrbuch II 2, 7. Aufl., S. 920 m. w. N. sa Floretta, Arbeitsrecht und Europäische Menschenrechtskommission, 1967,
S. 17; Pernthale1·, ÖZfÖR 1967,45, SOff. 37 Ebenso Nipperdey, in Hueck I Nipperdey, Lehrbuch II 2, 7. Aufl., S. 920 f.
m.w.N.
B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung
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ordnungen (vgl. auch Art. 60 MRK), so erscheint es problematisch, den Garantieinhalt des Art. 11 MRK über den Rechtszustand hinaus zu interpretieren, der für die Bundesrepublik ohnehin durch Art. 9 Abs. 3 GG gegeben ist3B. b) Sonstige Verträge Andere mögliche inter- oder supranationale Rechtsgrundlagen des kollektiven Arbeitsrechts, die das Recht der Aussperrung beeinflussen könnten, sind noch der Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966, der 1976 in Kraft trat, Art. 23 Abs. 4 der UN-Menschenrechtsdeklaration sowie die Übereinkommen Nr. 11, 87 und 98 der Internationalen Arbeitsorganisation. Der normative Gehalt dieser Bestimmungen, die durchweg nur das Koalitionsrecht betreffen, für eine Gewährleistung der Aussperrung als Kampfmittel ist gering39. Der Pakt der Vereinten Nationen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966 gewährleistet in Art. 9 das Streikrecht als eine völkerrechtliche Verpflichtung der Unterzeichnerstaaten in Übereinstimmung mit der jeweiligen nationalen Rechtsordnung. Damit ist jedoch über eine Rechtsgrundlage für die Aussperrung weniger ausgesagt als nach Art. 6 Ziff. 4 (Teil II) ESC40 oder durch Art. 9 Abs. 3 GG. II. Art. 9 Abs. 3 GG 1. Die Rechtslage vor der "Notstandsverfassung"
Das Grundgesetz enthielt in seiner ursprünglichen Fassung keine Aussage zum Streik, zur Aussperrung oder allgemein zum Arbeitskampf. Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG ist erst durch die Verfassungsänderung vom 24. 6. 1968, welche die Notstandsbestimmungen in das Grundgesetz einfügte, in den Verfassungstext aufgenommen worden. Schon vor der Verabschiedung der Notstandsbestimmungen des Grundgesetzes ist von der ganz überwiegenden Meinung Art. 9 Abs. 3 (Satz 1 und 2) GG als zentrale innerstaatliche Rechtsgrundlage des Arbeitskampfrechts angesehen worden. Die Tatsache, daß der Arbeitskampf ursprünglich im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt war, hat in der älteren Literatur zur Ansicht geführt, er sei im Grundgesetz weder verboten noch gewährleistet41 • Diese Auffassung wurde oft mit 38 Raiser, Die Aussperrung nach dem Grundgesetz, 1975, S. 95 f.; Tomandl, Streik und Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes, 1965, S. 98; vgl. auch Hueck I Nipperdey, a.a.O., S. 920 m. Fn. 37 g; Gitter, ZfA 1971, 127, 133 ff.
Gitter, ZfA 1971, 127, 132 f. Vgl. Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1965, S. 129, Fn. 1 und S. 319, Fn. 21 a. 39
40
II. Art. 9 Abs. 3 GG
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der Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG belegt42. Anders als die Weimarer Nationalversammlung hat jedoch der Parlamentarische Rat in seiner großen Mehrheit gemeinsame Arbeitseinstellungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen grundsätzlich bejaht43. In einem besonderen Absatz 4 des späteren Art. 9 GG sollte ein Streikrecht im Rahmen der Gesetze anerkannt werden. Einig war man in der Ablehnung des politischen Streiks und des Beamtenstreiks44. Zu Beginn der Beratungen des späteren Art. 9 GG galt die Aufnahme einer grundsätzlichen Anerkennung von arbeitsrechtlichen Streiks als sicher. Die Abgrenzung von den als unzulässig angesehenen politischen Streiks und Beamtenstreiks erwies sich jedoch als so schwierig, daß aus diesem Grund der Abg. Dr. Eberhard (SPD) in der 18. Sitzung des Hauptausschusses beantragte, die Bestimmung über das Streikrecht zu streichen, weil man mit dem Einbau einer Reihe von Beschränkungen in eine zu große Kasuistik gerate45. Der Antrag wurde angenommen. Die Anregung des Antragstellers, die Frage in der 2. Lesung nochmals zu erörtern, wurde nicht befolgt. In den Beratungen des Parlamentarischen Rates ist auch über das Thema Aussperrung geredet worden. Ein Antrag des Abg. Renner (KPD) im Grundsatzausschuß, nach dem die Aussperrung verboten werden sollte, wurde abgelehnt48. Eine weitere Diskussion zum Thema Aussperrungn ergab sich, als der Abg. Kaufmann (CDU) im Hauptausschuß vorschlug, in dem geplanten Abs. 4 des späteren Art. 9 GG den Begriff "Streik" statt "Arbeitseinstellung" zu verwenden. Dem widersprach der Abg. Renner (KPD), weil es auch andere Kampfmethoden der Arbeitnehmer gebe. Kaufmann begründete seinen Vorschlag damit, mit "Arbeitseinstellung" könne auch die Aussperrung gemeint sein, die für die öffentliche Ordnung gefährlich werden könne. Eine Garantie der Aussperrung wurde im übrigen nicht beantragt. Ihr Verbot war bereits im Grundsatzausschuß abgelehnt worden. 41 z. B. v. Mangoldt I Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl., 1955, Art. 9 GG Anm. VII 2. Dementsprechend wurde damals Art. 2 Abs. 1 GG als Rechtsgrundlage der Arbeitskampffreiheit angesehen. 42 z. B. Bulla in Nipperdey-Festschrift, 1955, S. 163 ff., 166. •a Zur Entstehungsgeschichte des Art. 9 GG, die bisweilen zweckgerichtet lückenhaft und verzerrt dargestellt wird, vgl. ausführlich Rüthers, Streik und Verfassung, 1966, S. 22 ff.; Raiser, Die Aussperrung nach dem Grundgesetz, 1975, S. 22 f.; Seiter, Streikrecht und Aussperrungsrecht, 1975, S. 63. u Genaue Nachweise bei Rüthers, a.a.O., S. 22- 26. 4& HA-Stenoprot., 17. Sitzung vom 3.12.1948, S. 215; Rüthers, Streik und Verfassung, 1966, S. 24. 48 Vgl. HA-Stenoprot., a.a.O., S. 214; ferner Raiser, Die Aussperrung nach dem Grundgesetz, 1975, S. 24; auch Kempen bei Bieback, Streikfreiheit und Aussperrungsverbot, 1979, S. 185. 47 HA-Stenoprot., a.a.O., S. 214.
22
B. Rechitsgrundlagen der Aussperrung
Die Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 GG in seiner ursprünglichen Fassung allein gibt für die Annahme einer verfassungsgesetzlichen Streik- und/oder Aussperrungsgarantie keine hinreichenden Anhaltspunkte. Die Väter der Verfassung wollten mehrheitlich den Streik verfassungsrechtlich besonders anerkennen, die Aussperrung aber nicht verbieten48• Die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 (a. F.) GG ist nicht bei der Wortlautinterpretation stehengeblieben. Wissenschaft und Rechtsprechung haben aus dem individualliberalen Freiheitsrecht, das dort im Text niedergelegt ist, eine Reihe zusätzlicher Garantiegehalte abgeleitet. Dieser Vorgang ist bei Art. 9 Abs. 3 (a. F.) GG besonders ausgeprägt. Er wurde bereits im Parlamentarischen Rat vorausgesehen. Alle Diskussionen über das Koalitionsgrundrecht standen dort unter dem Eindruck von dessen außerordentlicher gesellschaftspolitischer und sozialordnungsrechtlicher Bedeutung. In dem "Schriftlichen Bericht" des Abg. von Mangoldt49 heißt es dazu: "Die bei seiner Aufstellung beteiligten Ausschüsse waren sich wohl bewußt, daß damit ein Schritt in die Sozialordnung getan wurde. Man hat gleichwohl auf eine solche Regelung nicht verzichten wollen. Denn hier handelt es sich um eine weiteste Kreise des Volkes stark beschäftigende Frage ...50." Der "Schritt in die Sozialordnung" erwies sich im Verlaufe der interpretatorischen Ausfüllung der Norm als verfassungsgesetzliche Organisationsnorm für bestimmte, die Arbeits- und Sozialordnung prägende Einrichtungen. Man kann Art. 9 Abs. 3 (a. F.) GG als fundamentale Organisationsnorm für die Sozialordnung bezeichnen51• Im einzelnen werden im Schrifttum und in der Rechtsprechung über das individuelle (positive und negative) Koalitionsrecht hinaus vielfältige zusätzliche verfassungsgesetzliche Gewährleistungsinhalte ("Konnexgarantien") aus Art. 9 Abs. 3 GG abgeleitet, so ein kollektives Grundrecht der Koalitionen selbst, eine Koalitionsbestandsgarantie, eine Koalitionszweckgarantie, eine Koalitionswohlgarantie (Autonomie und materielle wie ideelle Selbstbehauptung) sowie eine Koalitionsmittelgarantie (Tarifautonomie, Verbot der Zwangsschlichtung, Arbeitskampf)52. Ebenso Seiter, JA 1979, 337, 341. Parlamentarischer Rat, Drucksache Nr. 850/54, S. 11. so Vgl. ähnlich Wernicke, in Bonner Kommentar, Erl. 3 a vor Art. 9 "... denn diese Regelung führt in das Gebiet der Sozialordnung"; vgl. auch Bonner Kommentar, Zweitbearbeitung von Milnch, 1966, Art. 9, Rdnr. 113. 51 Brox I Rilthers, Arbeitskampfrecht, 1965, S. 43. 52 Vgl. zur Übersicht, Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 33 ff.; Scholz, Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, 1972, es 49
II. Art. 9 Abs. 3 GG
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Diese sehr starke institutionelle Ausformung der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG i. S. von verfassungsgesetzlichen "Kernbereichs-" und Einrichtungsgarantien hat sich unter maßgeblicher Beteiligung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts vollzogen53• Zum Garantiegehalt gehört neben dem Individualgrundrecht auch der Schutz der Koalition selbst und ihr Recht, durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung die in Art. 9 Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen54 • Bereits in der Tariffähigkeitsentscheidung von 1954ss hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß in Art. 9 Abs. 3 GG auch ein verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich in der Richtung liege, daß vom Staat ein Tarifvertragssystem bereitzustellen sei und daß Partner der Tarifverträge notwendig frei gebildete Koalitionen seien56• Der Abschluß von Tarifverträgen gehört also zur spezifisch koalitionsgemäßen Betätigung, die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützt wird. Insoweit dient die Koalitionsfreiheit über das Individualgrundrecht hinaus einer sinnvollen Ordnung des Arbeitslebens57• Die Garantie gilt nur für einen Kernbereich der Tarifautonomie. Es ist Sache des Gesetzgebers, die Befugnisse der Koalitionen in der Tarifautonomie im einzelnen zu regeln. Die Gewährleistung der Tarifautonomie umfaßt also nicht die konkrete Ausprägung derselben nach dem Tarifvertragsgesetz. Sie läßt vielmehr dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum58 und schafft damit z. B. die Möglichkeit, die Voraussetzungen der Tariffähigkeit der jeweiligen gesellschaftlichen Wirklichkeit so anzupassen, daß die Koalitionen ihre Aufgabe erfüllen könnens9. Generell dürfen dem Betätigungsrecht der Koalitionen vom Gesetzgeber nur solche Schranken gesetzt werden, die zum Schutze anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind60• Art. 9 Abs. 3 GG überläßt den Koalitionen bei spezifisch koalitionsgemäßer Betätigung grundsätzlich auch die Wahl der Mittel, die sie zur Erreichung ihrer S. 29 ff.; Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 9, Rdnr. 106 ff.; Hueck I Nipperdey, Lehrbuch II 1, 7. Aufl., S. 134 ff., II 2, 7. Aufl., S. 912 ff. (speziell zum Arbeitskampf). 53 Zu der Rechtsprechungsentwicklung (bis 1972) vgl. Scholz, Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit, 1972, S. 30 ff.; BVerfGE 4, 96; 17, 319; 18, 18; 19, 303; 20, 312; 28, 295; 38,281; 38, 386;44, 322. 54 BVerfGE 19, 303 (312) m. N.; 28, 295 (304). s5 BVerfGE 4, 96 (108 ff.). ss Vgl. auch BVerfGE 38, 281 (305 f.). 57 BVerfGE 4, 96 (107); 18, 18 (27). 58 BVerfGE 20, 312 (317). 59 BVerfGE 20, 318. so BVerfGE 19, 303 (321 f.); 28, 295 (306).
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B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung
Zwecke (Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen) für geeignet halten61• Tarifkonflikte können in einem freiheitlichen, d. h. von staatlicher Bevormundung freien Tarifsystem nur auf zwei Wegen gelöst werden, nämlich entweder im Verfahren einer freiwilligen Schlichtung oder durch Arbeitskampf. Auch das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, daß mindestens in der Erwerbswirtschaft der Arbeitskampf oder wenigstens seine Möglichkeit von entscheidender Bedeutung dafür sein könne, daß überhaupt ein Tarifvertrag zustande komme62• Ohne diese beiden HUfsinstrumente (Konnexgarantien) ist die Funktionsfähigkeit eines staatsfreien Tarifsystems i. S. der Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 GG nicht denkbar. Der frei ausgehandelte Tarifvertrag kann seine Ordnungs- und Befriedungsfunktion nur ausüben, wenn eine systemgerechte Lösungsmöglichkeit für Konfliktsituationen besteht. Die Gewährleistung des Tarifsystems durch Art. 9 Abs. 3 GG muß sich daher auf diejenigen kollektivrechtlichen Institute erstrecken, die seine Funktionsfähigkeit erst ermöglichen. Verfassungsgesetzliche Konnexgarantien gelten daher für die freiwillige Schlichtung(= Verbot der staatlichen Zwangsschlichtung) und für den Arbeitskampf63• Wenn die Tarifverhandlungen scheitern und die Tarifparteien auch im Verfahren der freiwilligen Schlichtung nicht zu einer Einigung kommen, ist der Arbeitskampf das einzige und letzte systemgemäße Lösungsinstrument anders nicht lösbarer Tarifkonflikte. Das Tarifsystem kann ohne ein solches Konfliktlösungsinstrument seine im öffentlichen Interesse liegende Ordnungs- und Befriedungsaufgabe im Arbeitsleben nicht erfüllen. Das Bundesarbeitsgericht hat daher in frühen Entscheidungen die Arbeitskampfbereitschaft einer Koalition als eine notwendige, verfassungsmäßige Voraussetzung ihrer Tariffähigkeit bezeichnet64• Andererseits hat das Gericht die Frage, ob der Arbeitskampf durch Art. 9 Abs. 3 (a. F.) GG verfassungsgesetzli ch gewährleistet sei, trotz einer breiten Anerkennung dieser Garantie in der Literaturss später offen gelassenes. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte diese Frage bisher nicht zu entscheiden67• o1 BVerfGE 18, 18 (29 ff., 32).
BVerfGE 18, 18 (30). es Brox I Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1965, S. 44 m. N.; ebenso Säcker, Grundprobleme der Koalitionsfreiheit, 1969, S. 80 ff. m. w. N.; Hueck I Nipperdey, Lehrbuch li 1, 7. Aufl., S. 139 ff., 733, li 2, 7. Aufl., S. 912 ff.; W. Weber, Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie als Verfassungsproblem, 1965, S. 34 ff.; vgl. schon Rüthers, Streik und Verfassung, 1960, S. 66 ff.; Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 9, Rdnr. 112 ff. und 129 f.; die Unzulässigkeit einer staatlichen Zwangsschlichtung ist auch vom Bundesverfassungsgericht festgestellt worden, BVerfGE 18, 18 (30). 84 BAGE 4, 351 (352); 12, 184; a. A. BVerfGE 18, 18. 62
li. Art. 9 Abs. 3 GG
25
Der Versuch, die Rechtslage des Arbeitskampfes nach Art. 9 Abs. 3 (a. F.) GG zusammenzufassen, hat auf einen Auslegungsgesichtspunkt Rücksicht zu nehmen, der die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Grundrecht maßgeblich bestimmt hat. Das Koalitionsrecht gehört nicht zu den klassischen individuellen Freiheitsrechten. Die Koalitionsfreiheit, die im hohen und späten Mittelalter eine maßgebliche, gesellschaftsgestaltende Rolle gespielt hatte68, wurde erst unter den Bedingungen der modernen Industriearbeit mit ihren großen Zahlen weisungsabhängiger Arbeitnehmer belebt und fortentwickelt. Bei der Auslegung dieses Grundrechts kann daher nicht auf die traditionellen dogmatischen Inhalte typischer liberaler Freiheitsrechte zurückgegriffen werden. Anhaltspunkte für eine Konkretisierung der Gewährleistungsinhalte des Art. 9 Abs. 3 GG bietet deshalb vor allem die geschichtliche Entwicklung, die in der Weimarer Zeit durch den fast textgleichen Art. 159 WRV bestimmt wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat bei der Bestimmung des normativen Inhalts von Art. 9 Abs. 3 GG stets betont, daß seine historische Entwicklung zu berücksichtigen seiee. Mit dieser entwicklungsgeschichtlichen Begründung70 hat das Gericht die Kernbereichsgarantie der Tarifautonomie anerkannt. Wenn aber die Verfassung das Tarifsystem gewährleistet, dann muß diese Gewährleistung sich auch auf das funktionsnotwendige Instrumentarium der Tarifautonomie beziehen, also auf den tarifbezogenen Arbeitskampf. Art. 9 Abs. 3 GG verpflichtet daher den Gesetzgeber, einen Kernbereich rechtlich geordneter Arbeitskampffreiheit als Hilfsmittel der Tarifautonomie bereitzustellen71 • Ein generelles Arbeitskampfverbot oder Beschränkungen tarifbezogener Arbeitskämpfe, die nicht durch den Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind, würden den geschützten Kernbereich der Koalitionsmittelgarantie verletzen72 • Bei der Ausgestaltung des Arbeitskampfsystems hat der Gesetzgeber wiederum jenen weiten Gestaltungsspielraum, den das Bundesverfas8' Nachweise bei Säcker, Grundprobleme der Koalitionsfreiheit, 1969, S. 82, Fn. 158. es BAG, AP Nr. 32 iZU Art. 9 GG Arbeitskampf. 87 Vgl. BVerfGE 38, 386 (393 f.). 88 Vgl. Rüthers, Streik und Verfassung, 1960, S. 5 ff. m. N. 89 BVerfGE 4, 96 (101, 106, 107); 18, 18 (27, 28 f.); 19, 303 (313 f.); 38, 386 (394); 44, 322 (347 f.); Mitbestimmungs-Urteil vom 1. 3. 1979 unter C. IV. 70 "Soll die Koalitionsfreiheit nicht ihres historisch gewordenen Sinnes beraubt werden ... " BVerfGE 4, 96 (106). 71 Ebenso Maunz I Dürig I Herzog I Scholz, GG, Art. 9, Rdnr. 129; Säcker, Grundprobleme der Koalitionsfreiheit, 1969, S. 81 ff. 72 Vgl. zum Schrankenproblem bei der Betätigungsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG allgemein BVerfGE 19, 303 (321 f.); 28, 295 (306).
26
B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung
sungsgericht schon für die gesetzliche Ausformung des Tarifsystems in ständiger Rechtsprechung angenommen hat73• Das ergibt sich daraus, daß Art. 9 Abs. 3 GG die kollektive Koalitionsfreiheit als Konnex- oder Komplementärinstitut des individuellen Koalitionsrechts, das in Art. 9 Abs. 3 (a. F.) GG ausdrücklich geschützt ist, nur in einigen Kernbereichen schützt74. Das Grundrecht räumt den Koalitionen nicht etwa mit Verfassungsrang einen inhaltlich unbegrenzten und gesetzlich unbegrenzbaren Handlungsspielraum ein75. Das gilt auch für die durch Art. 9 Abs. 3 GG in einem Kernbereich geschützte Arbeitskampffreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade in dieser Entscheidung76 offengelassen, ob dem Grundgesetz etwas darüber entnommen werden könne, welche Auswirkungen eine Aussperrung auf die Arbeitsverhältnisse habe. Es verstoße jedenfalls nicht gegen Art. 9 Abs. 3 GG, wenn Betriebsratsmitglieder nur suspendierend ausgesperrt werden könnten. Diese Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts trage der historischen Entwicklung (!) Rechnung und beeinträchtige die Fähigkeit des Arbeitgebers, einen wirkungsvollen Arbeitskampf zu führen, nicht in einem Ausmaß, das für die verfassungsrechtliche Beurteilung entscheidend sei. Soweit Art. 9 Abs. 3 GG die Aussperrung garantieren sollte, sei der geschützte Bereich unter Berücksichtigung der geschichtlichen Entwicklung abzugrenzen77. Immerhin geht das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung davon aus, daß zu den Garantiegehalten des Art. 9 Abs. 3 GG die Fähigkeit des Arbeitgebers gehört, einen wirkungsvollen Arbeitskampf führen zu können78. Es bejaht immanent nicht nur die rechtliche Unbedenklichkeit suspendierender Aussperrungen von Betriebsratsmitgliedern, sondern es verneint zugleich eine verfassungsrechtlich erhebliche Beeinträchtigung der Fähigkeit des Arbeitgebers, einen wirkungsvollen Arbeitskampf zu führen. Die Fähigkeit zu einem wirkungsvollen Arbeitskampf, d. h. notwendig zu einem Kampf mit eigener Kampfaktivität und eigenen Kampfmitteln der Arbeitgeberseite, gehört demnach aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts zu dem geschützten Normgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG. Lediglich die genaue Bestimmung dieses Schutzbereiches für den Arbeitskampf bleibt offen. Im MitbestimmungsurteiF9 geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, daß BVerfGE 4, 96 (107 ff.); 18, 18 (26 f.); 20, 312 (317 f.). BVerfGE 4, 96 (106); 19, 303 (321 f.); 28, 295 (304); 38, 281 (305); 38, 386 (393). 75 BVerfGE 38, 386 (393). 76 BVerfGE 38, 386 (393 f.). 77 BVerfGE 38, 386 (393 f.) unter Hinweis auf BVerfGE 19, 303 (314). 1s BVerfGE 38, 394. 79 NJW 1979, 699 (708 ff.). 73
74
Il. Art. 9 Abs. 3 GG
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das Tarifsystem durch die Grundelemente der Gegensätzlichkeit der Interessen, des Konflikts und des Kampfes bestimmt werde. Es folgert aus Art. 9 Abs. 3 GG, daß die Koalitionen gegnerfrei und unabhängig genug sein müssen, um die Interessen ihrer Mitglieder "nachhaltig zu vertreten" und daß ihnen grundsätzlich die Wahl der Koalitionsmittel gewährleistet ist, die sie zur Erreichung ihres Zweckes für geeignet halten. Der geschützte Kernbereicll i. S. einer verfassungsgesetzlichen Einrichtungsgarantie des Arbeitskampfes wird bestimmt und begrenzt durch die ebenfalls in ihrem Kernbereich geschützte Rolle der Koalitionen im Tarifsystem. Den Garantiegehalt des Art. 9 Abs. 3 GG hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, seine bisherige Rechtsprechung zusammenfassend, auf eine knappe Formel gebracht80• "Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet eine Ordnung des Arbeits- und Wirtschaftslebens, bei der der Staat seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung weit zurückgenommen und die Bestimmung über die regelungsbedürftigen Einzelheiten des Arbeitsvertrages grundsätzlich den Koalitionen überlassen hat (vgl. BVerfGE 34, 307 (316 f.). Den frei gebildeten Koalitionen ist durch Art. 9 Abs. 3 GG die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe zugewiesen und in einem Kernbereich garantiert, insbesondere Löhne und sonstige materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung und im wesentlichen ohne staatliche Einflußnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen (vgl. BVerfGE 4, 96 (106 f.); 18, 18 (26, 28); 20, 312 (317); 28, 295 (304); 38, 281 (306). Der Gesetzgeber hat den Koalitionen auf der Grundlage dieser historisch gewachsenen Bedeutung des Grundrechts der Koalitionsfreiheit im Tarifvertragsgesetz das Mittel des Tarifvertrages an die Hand gegeben, damit sie die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens verwirklichen können (vgl. BVerfGE 4, 96 (106); 18, 18 (26); 28, 295 (305)." Dieses staatsfreie Tarifsystem braucht, wenn es funktionieren und seine Aufgabe erfüllen soll, die Möglichkeit von Arbeitskämpfen beider Tarifparteien. Das Bundesarbeitsgericht81 und der überwiegende Teil der Lehre82 haben aus dem in Art. 9 Abs. 3 GG angelegten Grundsatz der Waffengleichheit schon vor der Einfügung von Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG den Schluß gezogen, das Arbeitskampfsystem müsse Streik und Aussperrung umfassen. Die Möglichkeit rechtmäßiger Aussperrungen war vor der Verabschiedung der Notstandsverfassung unbestritten, BVerfGE 44, 322 (340 f.). BAGE 1, 291 = AP Nr. 1 und 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf, st. Rechtsprechung. 82 Vgl. statt aller Hueck I Nipperdey, Lehrbuch, II 2, 7. Aufl., S. 914 ff. m. N.; Brox I Rüthers, Arbeitskampfrecht, 1965, S. 42 ff. 80
8t
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B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung
auch wenn hinsichtlich der Rechtsgrundlagen des Arbeitskampfes im einzelnen juristische Konstruktionskontroversen bestanden. Dieser Gesichtspunkt, daß nämlich die Aussperrung als zulässiges Kampfmittel des Arbeitskampfes vor 1968 prinzipiell außer Streit war und von einem erheblichen Teil der Lehre als verfassungsgesetzlich garantiert angesehen wurde, kam in den Beratungen zu Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG83 deutlich zum Ausdruck. Der Verfassungsgeber der Notstandsverfassung ging von einer Rechtslage aus, in der die Aussperrung unbestritten ein zulässiges Kampfmittel war. Er wollte diese Rechtslage, unbeschadet der Konstruktionskontroverse im einzelnen, erklärtermaßen nicht verändern84• Über die Arbeitskampffreiheit bestand also im Grundsatz kein Meinungsstreit. Lediglich über Rang und Tragweite der Gewährleistung von Streik einerseits und Aussperrung andererseits bestanden unterschiedliche rechtsdogmatische und rechtspolitische Auffassungen. Diese grundsätzliche, von der Verfassung geschützte Arbeitskampffreiheit bedarf der gesetzlichen - und wo der Gesetzgeber sich durch Untätigkeit verweigert - der richterrechtlichen Regelung. Die Normsetzung zum Arbeitskampfrecht durch den Gesetzgeber und die Gerichte hat, wenn man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Tarifautonomie entsprechend heranzieht, die historische Entwicklung der Koalitionen, der Tarifautonomie und auch sich wandelnder sozialer Rahmenbedingungen zu berücksichtigen85• Die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte freie Entwicklung der Koalitionen, ihre freie Wahl der Koalitions- und Kampfmittel darf jedoch nicht sachwidrig beeinträchtigt oder in ihrem Kernbereich verletzt werden86• 2. Der Gewährleistungsinhalt des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG
Die bisherige Erörterung einer Arbeitskampfgarantie aus Art. 9 Abs. 3 GG hat sich auf den Wortlaut der alten Fassung beschränkt, also ohne den Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG. Dieser Satz wurde durch das 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes ("Notstandsverfassung") vom 24. 6. 196887 in das Grundgesetz eingefügt. Er lautet: "Maßnahmen nach den Artikeln 12 a, 35 Abs. 2 und 3, Artikel 87 a Abs. 4 und Artikel 91 dürfen sich nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen im Sinne des Satzes 1 geführt werden." Vgl. unten 2. Vgl. unten 2. ss BVerfG (Mitbestimmungs-Urteil), NJW 1979, 699 (708 ff.). ss BVerfG (Mitbestimmungs-Urteil), NJW 1979, 699 (709). a1 BGBl. I., S. 709.
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I!. Art. 9 Abs. 3 GG
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a) Der Meinungsstreit Damit wird der Arbeitskampf als eine im Notstandsfall besonders geschützte Einrichtung erstmals im Grundgesetz genannt. Die Verfassung enthält damit erstmals eine ausdrückliche Aussage zum Schutz des Arbeitskampfes, die mit unterschiedlichen Begründungen und Intentionen sowohl in der Weimarer Verfassung als auch im Parlamentarischen Rat vermieden worden war. Daran knüpft sich eine lebhafte Diskussion an. Eine Ansicht geht dahin, daß die neue Vorschrift eine generelle verfassungsgesetzliche Einrichtungsgarantie für die dort genannten Arbeitskämpfe auch in der Normallage, also außerhalb des Notstandsfalles, enthalte bzw. bestätige88• Die Gegenansicht meint, es handele sich bei Satz 3 des Art. 9 Abs. 3 GG um eine ausschließlich notstandsrechtliche Regelung89, welche die verfassungsrechtliche Lage, die sich aus Satz 1 und 2 der Vorschrift ergebe, nicht verändern sollte90• Diese Auffassung wird ganz überwiegend mit der Entstehungsgeschichte des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG begründet: Der Verfassungsgeber habe nur den Notstandsfall regeln, die grundlegende verfassungsrechtliche Frage einer Arbeitskampfgarantie (Streik und Aussperrung) aber ausklammern wollen91 • Eine sorgfältige Analyse zeigt indessen, daß die 88 So etwa A. Hueck, RdA 1968, 430 (432); Hueck I Nipperdey, Lehrbuch II 2, 7. Aufl., S. 916; Rii.thers, DB 1968, 1948 (1949); G. Mii.Her, JurJahrb. 10 (1969), S. 125 (151 ff.); H. D. Schmid, Arbeitskampf und Notstand aus der Sicht des Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG, 1972, S. 82 ff., 90 ff.; Maunz I Dii.rig I Herzog I Scholz, GG, Art. 9, Rdnr. 112 f., 115, 130; Bötticher, RdA 1969, 367 (368); Scheuner, RdA 1971, 327 (330); ders., in: Die Rolle der Sozialpartner in Staat und Gesellschaft, Walberger Gespräche, 1973, S. 35 f.; Badura, RdA 1974, 129 (135); Frowein, Zur völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Gewährleistung der Aussperrung, 1976, S. 24 ff. (34). Es ist unzutreffend, wenn dieser Auffassung generell unterstellt wird (so Raiser, Die Aussperrung nach dem Grundgesetz, 1975, S. 28), sie stütze sich auf das Argument, der Verfassungsgeber der Notstandsverfassung des Jahres 1968 habe die Judikatur des Bundesarbeitsgerichts rezipiert und mit Verfassungsrang ausgestattet. Die differenzierten Begründungen der Auffassung einer Einrichtungsgarantie des Arbeitskampfes lassen sich nicht auf eine so grobe Weise simplifizieren. 89 Säcker, Grundprobleme der Koalitionsfreiheit, 1969, S. 82. 90 Raiser, Die Aussperrung nach dem Grundgesetz, 1975, S. 28; Glii.ckert, DB 1968, 2279; ders., Die Arbeitskampfschutzklausel des Art. 9 Abs. 3 GG, 1973, S. 131 ff. ; Lerche, Verfassungsrechtliche Zentralfragen des Arbeitskampfes, 1968, S. 89 ff; Zöllner, Aussperrung und arbeitskampfrechtliche Parität, 1974, S. 14f.; Seiter, JZ 1978,413 (415); Konzen, AcP 177 (1977), 473ff. (525); v. Barby, AuR 1968, 267 (269); R. Hoffmann, in: Kittner (Hrsg.), Streik und Aussperrung, 1974, S. 47 ff. (70); Kittner, Verbot der Aussperrung, Heft 80Schriftenreihe der IG Metall o. J. (1978), S. 18 f.; Wohlgemuth, in: Streikfreiheit und Aussperrungsverbot, Schriftenreihe "Demokratie und Rechtsstaat", Bd. 42, 1979, S. 200 ff (207 f.); vgl. auch J. H. Kaiser, Die Parität der Sozialpartner, 1973, S. 45. 91 Vgl. etwa Raiser, Die Aussperrung nach dem Grundgesetz, 1975, S. 25 f.; Seiter, JZ 1978, 413 (415); Konzen, AcP 177 (1977), 473 (525); Zöllner, Aussperrung und arbeitskampfrechtliche Parität, 1974, S. 14 f. Zutreffend weist Mayer-Maly (DB 1979, 95 [98], Fn. 45) auf die methodische Kuriosität dieses
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B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung
Entstehungsgeschichte sich nicht als tragendes Argument gegen eine generelle Einrichtungsgarantie des Arbeitskampfes aus Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG verwenden läßt.
b) Die Entstehungsgeschichte Ein entscheidendes gesetzgeberisches Motiv für die Einfügung von Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG in das Grundgesetz war die damals bereits verbreitete Auffassung, daß Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG eine Einrichtungsgarantie des Arbeitskampfes enthalte. Diese Ansicht ist während des Gesetzgebungsverfahrens der Notstandsverfassung mehrfach im Parlament, auch von der Regierung geäußert und von keiner Seite bestritten worden. So hat z. B. der Rechtsausschuß des Bundestages in seinem Bericht gesagt: "Der Ausschuß verfolgt mit der Änderung nicht die Absicht, hinsichtlich der allgemeinen verfassungsrechtlichen Beurteilung der Zulässigkelt von Arbeitskämpfen an dem geltenden Rechtszustand irgend etwas zu ändern. Der Ausschuß hat auch geprüft, ob im Rahmen der Garantie des Artikels 9 Abs. 3 Satz 3 nur Streiks oder Arbeitskämpfe allgemein gewährleistet werden sollten. Er hat eine Anregung abgelehnt, statt des Wortes ,Arbeitskampf' das Wort ,Streik' aufzunehmen. Zweck der neu eingefügten Bestimmung des Artikels 9 Abs. 3 Satz 3 ist die Gewährleistung des bisherigen Rechtszustandes auch im Rahmen der Notstandsverfassung. Dieses Ziel kann nur erreicht werden durch eine gleichmäßige Behandlung beider Tarifparteien im Rahmen der Gewährleistungsvorschrift92 • Der Abg. Schmidt, damals Fraktionsvorsitzender der SPD, hat in der 3. Beratung der Notstandsverfassung im Bundestag am 30. Mai 1968 u. a. ausgeführt93 : "Wenn wir alleine eine Zweidrittelmehrheit besäßen, so wäre ohne jeden Zweifel die Neufassung des Art. 9 Abs. 3 so erfolgt, daß die Anwendung aller für Notfälle geschaffenen Artikel gegen Streiks derart ausgeschlossen worden wäre, daß wir vom ,Streikrecht' gesprochen hätten und nicht wie das geschieht, von ,Arbeitskämpfen'. Aber auch die jetzt gefundene Fassung verbietet ohne jeden Zweifel, daß das Notstandsrecht gegen einen Auslegungsstreites über den normativen Gehalt des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG hin: Große Teile der Arbeitsrechtswissenschaft leiten aus Art. 9 Abs. 3 GG viele Rechtssätze ab, für die sich im Text der Bestimmung keine oder allenfalls höchst bescheidene Anhaltspunkte finden lassen. Aus der ausdrücklichen Arbeitskampfgarantie im Notstandsfall wollen dagegen dieselben Interpreten nicht einmal jene Folgerungen ziehen, die als objektive Wortlautinterpretation in jedem Lehrbuch der juristischen Methodenlehre die erste, problemlose Auslegungsstufe bilden. Dieser Widerspruch ist unübersehbar. 92 BT-Drucksache V 2873, S. 3; ebenso Abg. Lenz, BT-Protokoll V Bd. 67, 174. Sitzung vom 15. 5. 1968, S. 9316; vgl. ferner den Gesetzentwurf der Bundesregierung mit Begründung, BT-Drucksache V 1879, S. 24 und die Beratungen im Bundestag, 5. Wahlperiode, Stenogr. Berichte, S. 9314 ff. und 9632 ff. Ebenso Säcker, Grundprobleme der Koalitionsfreiheit, 1969, S. 82. 93 Stenogr. Berichte, S. 9644.
Il. Art. 9 Abs. 3 GG
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Streik angewendet wird, der von einer Gewerkschaft zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen geführt wird. Dies kann von niemandem anders ausgelegt werden, es sei denn, er wolle lügen. Wir hätten gern darauf verzichtet, durch die Benutzung des Begriffes ,Arbeitskampf' auch der Aussperrung den gleichen Schutz vor Notstandsmaßnahmen zu ermöglichen. Dieses Bedenken scheint mir jedoch faktisch ohne große Bedeutung, denn eine Notstandsmaßnahme gegen aussperrende Arbeitgeber ist ohnehin schwer vorstellbar. Der Haupteinwand mancher meiner Kollegen an dieser Stelle richtet sich denn auch dagegen, daß die Benutzung des Begriffes ,Arbeitskampf' ein gewisses Maß an Anerkennung der Aussperrung zu enthalten scheint. Hier bedarf es einer Klarstellung. Die jetzt gefundene Fassung des Art. 9 Abs. 3, der wir zustimmen wollen, verändert oder verschiebt die Bewertung nicht, die das Grundgesetz bisher gegenüber Streik und Aussperrung zu erkennen gegeben hat. Bisher ist ja das Recht des Arbeitskampfes im wesentlichen durch die Rechtsprechung unserer Gerichte entwickelt worden. Das Wort ,Streik' oder ,Streikrecht' kam im Grundgesetz auch bisher nicht vor. Die Gewerkschaften waren darüber keineswegs glücklich. Auch das Wort ,Arbeitskampf' kam bisher nicht vor. Aber ich habe keinen Zweifel, daß nunmehr die bisherige Arbeitsrechtsprechung im Lichte der heutigen Verfassungsergänzung überprüft werden muß. Denn schließlich kann kein Gericht daran vorbeigehen, daß der Verfassungsgeber ab heute ausdrücklich auch für ganz normale Zeiten verbietet, daß etwa das Wehrpflichtgesetz zu Maßnahmen gegen Streikende verwendet werden kann. Wenn wir Sozialdemokraten allein über eine Zweidrittelmehrheit verfügten, würden wir auch an manch anderer Stelle andere Regelungen vorziehen. Wir wissen aber, daß die Texte der heutigen Vorlage die besten sind, die jemals seit acht Jahren hier in diesem Bundestag und im Bundesrat eine Zweidrittelmehrheit hätten finden können."
Der hier vom Fraktionsführer der SPD empfohlene Kompromiß enthielt auch nach seiner Deutung den Nachteil, "daß die Benutzung des Begriffes ,Arbeitskampf' ein gewisses Maß an Anerkennung der Aussperrung zu enthalten scheint". Er verweist dann darauf, daß sich die Bewertung des Grundgesetzes gegenüber Streik und Aussperrung durch den neuen Satz 3 nicht verschiebe. Die Ausführungen des Abg. Schmidt besagen, daß seine Fraktion das Wort Arbeitskampf, weil es als Oberbegriff Streik und Aussperrung umfassen konnte, in Satz 3 gern vermieden hätte, aber nicht vermeiden konnte, weil anders die erforderliche und gewollte Zweidrittelmehrheit nicht zu erlangen war. Der verbindliche Gewährleistungsinhalt des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG ergibt sich in erster Linie aus dem Wortlaut und der Systematik der Bestimmung. Insoweit muß sich der Verfassungsgeber von 1968 tatsächlich beim Wort "Arbeitskampf" nehmen lassen. Die Interpretation kann sich nicht darauf berufen, eine Fraktion habe zwar "Arbeitskampf" gesagt, aber nur "Streik" gewollt. Das wäre eine unbeachtliche Mentalreservation. Die von allen Befürwortern der Notstandsverfassung im Bundestag gewollte Arbeitskampfschutzklausel war mit der erfor-
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B. Rechtsgrundlagen der Aussperrung
derliehen Zweidrittelmehrheit nur zu verabschieden, wenn sie sich nicht auf den Streik beschränkte, sondern den Arbeitskampf insgesamt erfaßte. Dieser Zielkonflikt war allen Parteien des Bundestages bekannt. Die damalige große Koalition hat sich auf den jetzigen Wortlaut des Satzes 3 als Kompromiß geeinigt. Der Verfassungsgeber war sich klar darüber, daß mit der Verwendung des Wortes "Arbeitskämpfe" eine Gleichstellung beider Kampfparteien von der Verfassung gewährleistet wurde. Damit ist der Schutz der dort umschriebenen Arbeitskämpfe gegen Notstandsmaßnahmen für beide Seiten verfassungsgesetzlich verankert worden. Die Beratungen der Verfassungsnovelle im Bundesrat bestätigen dieses Ergebnis. Dabei ist zu bedenken, daß der Bundesrat entsprechend dem bundesstaatliehen Aufbau der Bundesrepublik bei der Verfassungsänderung notwendig und gleichberechtigt mitwirkte (Art. 79 Abs. 2 GG). Das Land Hessen beantragte im Bundesrat, den Vermittlungsausschuß anzurufen. Der hessische Justizminister Strelitz begründete das im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG damit, "daß nicht nur das Streikrecht, sondern auch die Aussperrung geschützt werden soll" 94• Diese Regelung könne dahin "mißverstanden" werden, daß Streik und Aussperrung als Mittel des Arbeitskampfes auf der gleichen Stufe stünden. Um diese Rechtslage auch im Hinblick auf Art. 29 Abs. 5 HessVerf. klarzustellen, halte es die hessische Regierung für geboten, die Schutzvorschrift des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG auf Streiks zu beschränken. Der Antrag des Landes Hessen wurde abgelehnt. Gleichwohl stimmte Hessen schließlich, trotz der dargelegten Bedenken, der Verfassungsänderung zuos. Die Deutung dieser Entstehungsgeschichte läßt keinen anderen Schluß zu, daß auch im Bundesrat und gerade bei den Ländern, welche eine generelle Arbeitskampfgarantie nicht wünschten, die objektive Bedeutung der Verwendung des Wortes "Arbeitskampf" als Oberbegriff für die Kampfmittel beider Seiten in der neuen Verfassungsvorschrift klar erkannt war. Wenn selbst das Land Hessen trotz dieser Bedenken der Verfassungsnovelle zustimmte, so nahm es damit- im Wege eines Kompromisses - das Gültigwerden dieser Vorschrift in Kauf. Jedenfalls kann aus dieser Entstehungsgeschichte der Vorschrift sowohl im Bundestag (Votum des Abg. Schmidt für die SPD-Fraktion) als auch im Bundesrat (Votum des Landes Hessen) nicht geschlossen werden, die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG müsse sich primär an dem Unbehagen einiger seiner Befürworter gegenüber dem Wort Arbeitskampf orientieren. Das Unbehagen einzelner politischer GrupBundesrat, 326. Sitzung vom 14. Juni 1968, Stenogr. Berichte, S. 141 D. Vgl. die Begründung des Ministerpräsidenten Dr. Zinn, Bundesrat, a.a.O., S. 148 f. 94
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II. Art. 9 Abs. 3 GG
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pen, die einem Kompromiß bei der Verabschiedung zustimmen, wird nicht zum Inhalt des Gesetzes. Die Auslegung muß sich auch hier der für Verfassungsvorschriften üblichen Interpretationsmittel bedienen. Es ist also zunächst einmal vom Wortlaut des Satzes 3 auszugehen. Die methodische Streitfrage über den interpretationstheoretischen Stellenwert der Entstehungsgeschichte einer Verfassungsvorschrift für ihre Auslegung kann hier dahinstehen96• Auch wenn man die Entstehungsgeschichte als ein maßgebliches Kriterium für die Verfassungsinterpretation ansieht, kann daraus jedenfalls nicht auf einen Willen des Verfassungsgebers gegen eine Einrichtungsgarantie des Arbeitskampfes geschlossen werden. Der Wortlaut legt nach dem gängigen Sprachgebrauch in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft ohnehin das Gegenteil nahe. Der Verfassungsgeber wußte das, wie die Beratungen zeigen. Er hat trotzdem das Wort "Arbeitskämpfe" in die Schutzklausel des Satzes 3 aufgenommen97• Der normative Gehalt der Bestimmung ist daher näher zu untersuchen.
c) Normenzweck und systematische Auslegung Art. 9 Abs. 3 Satz 3 GG ist eine notstandsrechtliche Verfassungsbestimmung. Sie soll gewährleisten, daß die in ihr genannten notstandsrechtlichen Befugnisse und Maßnahmen nicht dazu benützt werden dürfen, die Arbeitskampffreiheit einzuschränken. Es handelt sich also um eine verfassungsgesetzliche Schranke für notstandsrechtliche Ausnahmebefugnisse, die primär die Arbeitskampffreiheit im Notstandsfall si