Verhaltensbeschrankungen Marktbeherrschender Unternehmen Durch 19 Gwb Unter Berucksichtigung Von Besonderheiten Gasversorgender Unternehmen (Schriften Zum Wirtschaftsrecht, 168) (German Edition) 3428111923, 9783428111923


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German Pages 307 [308] Year 2004

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Verhaltensbeschrankungen Marktbeherrschender Unternehmen Durch 19 Gwb Unter Berucksichtigung Von Besonderheiten Gasversorgender Unternehmen (Schriften Zum Wirtschaftsrecht, 168) (German Edition)
 3428111923, 9783428111923

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MICHAEL KUBICIEL

Verhaltensbeschränkungen marktbeherrschender Unternehmen durch § 19 GWB unter Berücksichtigung von Besonderheiten gasversorgender Unternehmen

Schriften zum Wirtschaftsrecht Band 168

Verhaltensbeschränkungen marktbeherrschender Unternehmen durch § 19 GWB unter Berücksichtigung von Besonderheiten gasversorgender Unternehmen

Von Michael Kubiciel

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D25 Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: WB-Druck GmbH & Co., Rieden im Allgäu Printed in Germany ISSN 0582-026X ISBN 3-428-11192-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern und Christoph

"Freiheit, die nur gewährt wird, wenn im voraus bekannt ist, daß ihre Folgen günstig sein werden, ist nicht Freiheit. Wir werden die Vorteile der Freiheit nie genießen, nie jene unvorhersehbaren Entwicklungen erreichen, für die sie die Gelegenheit bietet, wenn sie nicht auch dort gewährleistet ist, wo der Gebrauch den manche von ihr machen, nicht wünschenswert erscheint. Es ist daher kein Argument gegen die individuelle Freiheit, daß sie oft mißbraucht wird. Unser Vertrauen in die Freiheit beruht nicht auf den voraussehbaren Ergebnissen in bestimmten Umständen, sondern auf den Glauben, daß sie im Ganzen mehr Kräfte zum Guten als zum Schlechten auslösen wird." Friedrich August von Hayek (Die Verfassung der Freiheit)

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2002 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Inaugural-Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung konnten Literatur und Rechtsprechung bis Januar 2003 berücksichtigt werden. Herzlich danken möchte meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Uwe Blaurock für die wohlwollende Betreuung der Arbeit. Dank schulde ich außerdem Herrn Prof. Dr. Christoph Ann für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Ein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Albin Eser, MCJ für die lehrreiche und erfüllende Zeit als sein wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht. Stellvertretend für die Kollegen, die dort ein angenehmes und von einem offenen Geist geprägtes Klima geschaffen haben, möchte ich Herrn Wiss. Referenten Helmut Gropengießer erwähnen. Dank schulde ich ferner der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, welche die Entstehung dieser Arbeit durch ein Stipendium gefördert hat. Für ihre Hilfe, insbesondere bei der Last des Korrekturlesens, danke ich meinen Freunden Herrn Assessor Dr. Bernd Köster, Herrn Assessor Jürgen Weigt, LL.M. (London) sowie Herrn Rechtsreferendar Christo! Häfner. Doch wäre alles dies nichts ohne meine Eltern, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite standen. Ihnen und meinem Bruder Christoph ist die Arbeit daher in Dankbarkeit gewidmet. Berlin, im Februar 2003

Michael Kubiciel

Inhaltsverzeichnis Erster Teil

Einführung in das Problem und in die gesellschaftspolitischen Bedingtheilen der Lösungsversuche

17

§ 1 Problemaufriß und Gang der Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17 I. Generalklauseln als Kristallisationspunkte systemendogener und systemexogener Spannungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Gegenstand der Abhandlung . .. . . . . . .. . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . . . . . . . 19 III. Einordnung der Thematik in den rechtlichen und gesamtgesellschaftlichen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 IV. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

§ 2 Die tradierte Bewertung wirtschaftlicher Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

I. Die gesellschaftspolitische Dimension und Funktion des Kartellrechts nach dem ordoliberalen Ansatz der "Freiburger Schule". . . . . . 28 II. Die zeitlosen Folgen des Mißtrauens gegenüber wirtschaftlicher Macht...... . ................................................. 31 Zweiter Teil

Die Grundlagen des Mißbrauchsverbots § 3 Das Schutzobjekt des Mißbrauchsverbots und der kartellrechtliche

Regelrahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Schutzobjekt des Mißbrauchsverbots..... . .......... . ....... . I. Diffusion der Schutzobjekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Institutionenökonomische Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der kartellrechtliche Regelrahmen und seine Auswirkungen auf die weitere Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der außerkartellrechtliche Regelrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigenständige kartellrechtliche Wertsetzungen für den Mißbrauchsbegriff?.. .. . . . .. .. .. . .. ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 4 Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Auslegung des Mißbrauchs-

37 37 37 37 40 43 44 45 47

verbots . . . ... ......... . .. . ....... ...... . ... . . . ...... . . ... ...... . .. 48 I. Zum materiellen Gehalt des Art. 74 Nr. 16 GG.... . . . . . ...... ... . 48 II. Die "wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes als das Fehlen positiver wirtschaftstheoretischer Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . 49

12

Inhaltsverzeichnis III. Die Grundrechte als Spiegelbild einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung..... . ........................ . . . ......... . .... . .. . . ... 51 IV. Inhaltsneutrale Freiheitsgewährleistung als verfassungsrechtliches Leitbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 V. Schlußfolgerungen...... . .................... . .. .. .... . ... . . .. . 56

§ 5 Das privatrechtliche Ordnungssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

I. Das formal-prozedurale Vertragskonzept als Ausdruck einer ordnungspolitischen und ethischen Konzeption. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die prozedurale Rationalität des privatrechtliehen Vertragssystems 2. Der normative und ordnungspolitische Gehalt des Ordnungssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Individualschutz als Eingriffslegitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Individueller Rationalismus als Antriebskraft des Ordnungssystems. . III. Ursprüngliche Funktion und nachträgliche Funktionsvoraussetzungen l. Das richtige Verständnis von der "Richtigkeitsgewähr" privatautonomer Vereinbarungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kräfteäquivalenz als Voraussetzung eines "gerechten" Vertragsschlusses? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57 57 60 62 64 66 66 69

§ 6 Neue Grenzen oder ,,materieUe Aufladung" des Privatrechts? . . . . . . . . 72 I. Nachträgliche ,,Materialisierung" des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

II. Vereinbarkeit materialer Erwägungen mit der Privatrechts- und Verfassungsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

§ 7 Verfassungsrechtliche Notwendigkeiten zur Beschränkung der Privat-

autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatautonomie bei inäquivalenten Vertragspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. lnäquivalente Vertragsinhalte als Verletzung der Freiheitsrechte . . 2. Egalisierung des Vertragsinhaltes durch das Sozialstaatsprinzip?. . a) Soziale Gerechtigkeit als Chancengerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . b) Egalitäres Verständnis des Sozialstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . II. Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatautonomie bei der Zugangsverweigerung zu wesentlichen Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kollidierende Grundrechte als verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt. . .. ....... ... .. ... . ............. . .. .......... . ...... 2. Chancengleichheit und sozialstaatliches Ordnungsbedürfnis bei Infrastrukturmonopolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 3 Abs. l GG als Legitimationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Sozialstaatsprinzip als Legitimationsgrundlage .. .... . . . . aa) Die Zugangsverweigerung als legitimierendes Element?. . bb) Soziale Ordnungsfunktion und staatliche Infrastrukturverantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

§ 8 Der Einßuß wettbewerbstheoretischer Modelle auf die Auslegung des

79 80 80 84 85 86 90 90 92 92 92 93 93

Mißbrauchsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I. Die Freiburger Schule und die "vollkommene Konkurrenz" . . . . . . . . 97

Inhaltsverzeichnis

13

Il. Die Theorie vom "funktionsfähigen Wettbewerb" . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das neoklassische Konzept der Wettbewerbsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . IV. Bewertung ... . ....... . .. . . .. . ... . .... . .. ... . .. . .. . . .. .. .. . ... . . I. Konzeptionelle Grundunterschiede. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit als Absage an das funktional-kollektivistische Wettbewerbsverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I 00 I 02 105 105 I 08

§ 9 Zusammenfassung der Vorgaben des kartellrechtlichen Regelrahmens 110 Dritter Teil

Energierechtliche Grundlagen und Anwendungsleitlinien des Mißbrauchsverbots für marktbeherrschende Gasversorgungsunternehmen

113

§ 10 Die Regulierung der Energiewirtschaft als Paradigma des funktionalen Wettbewerbsverständnisses ..... . ...... . .......... . ....... .. .... 114 I. Überblick über die Regulierungsentwicklung der Energiewirtschaft . . II. Begründung des Wettbewerbsausschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die "technisch-wirtschaftlichen Besonderheiten" der Energieversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktionelles Wettbewerbsverständnis als wahrer Grund von Wettbewerbsausschluß und Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Folgen des Wettbewerbsausschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

114 118

I 18 121 123

§ 11 Der Preisniveaumißbrauch im alten Energiekartellrecht . . . . . . . . . . . . . 125 I. Von der allgemeinen Mißbrauchsregelung des§ 104 GWB a. F. zum Monopolpreisvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Konzept und die Anwendung des § I 03 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a.F.. ...... . ......... . . . ......... . ....... . . . ......... .. .. .. .. I . Der normative Vergleichsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigenständigkeil des Mißbrauchsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die praktische Umsetzung des Monopolpreisvergleichs .. . ...... 4. Die Rechtfertigung von Preisunterschieden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126 128 128 129 130 131

§ 12 DieDurchleitungsverweigerungnach§ 103Abs.5S.2Nr.4GWBa.F. 133 I. Zum Begriff der Durchleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Absage an eine wettbewerbsbegründende Durchleitung durch die 4. GWB-Novelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das energiepolitische Vorpreschen des Bundesrates in der 4. GWBNovelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Einwände gegen Wettbewerb mittels Durchleitung . . . . . . . . . . ßl. Der fehlgeschlagene justizielle Versuch der Durchsetzung einer "wettbewerbsbegründenden" Durchleitung nach der 5. GWB-Novelle I. Die Entscheidung des Bundeskartellamtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gemeinsamkeiten in den Entscheidungen des KG und des BGH 3. Leistungswettbewerb vs. Energiepolitisches Saldo . .. . .. . ... . . . . 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

134 134 134 135 140 141 142 143 145

14

Inhaltsverzeichnis

Vierter Teil

Der Mißbrauch im Sinne des§ 19 GWB am Beispiel der Gasversorgungsunternehmen § 13 Allgemeine Vorgaben des MißbrauchsbegritTs im§ 19 GWB ...... ... I. Die Notwendigkeit nonnativer Maßstäbe .................... .. ... II. Die Grundlagen eines nonnativen Mißbrauchskonzepts . . . . . . . . . . . . I. Verhaltens- und Erfolgsunrecht des Machtmißbrauchs. . . . . . . . . . . 2. Das GWB als normativer Bezugspunkt für die Bestimmung des Mißbrauchsunrechts . . ... . ..... . ... . ... .. . . ......... .. ...... a) Verfehlung eines normativen Zieles ..... . . .. ....... . . . ..... b) Verfehlung positiver Wertungen des GWB ........... .. . .. .. aa) Die Wettbewerbsfreiheit ..... . .. ... ............. .. ... bb) Die Ordnungsprinzipien der Wettbewerbswirtschaft. .... . cc) Der Leistungswettbewerb ....... . . . ... ..... . ..... .. . . . 3. Der kartellrechtliche Regelrahmen als normübergreifender Bezugspunkt .. . ..... . ... .. . ... . .... .. ... . ....... . ........ .... III. Der Vergleich als Mittel zur Bestimmung des Mißbrauchsunrechts . . I. Der Vergleich als Grundlage des § 19 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Vergleichsmaßstab als Voraussetzung eines zweckmäßigen Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der für§ 19 GWB relevante Vergleichsmaßstab .. ...... . ... ... § 14 Der Ausbeutungsmißbrauch am Beispiel des Preishöhenmißbrauchs .. I. Die Entwicklung der Preishöhenkontrolle und die fortdauernde Kritik I. Legislative Entwicklung der Preishöhenkontrolle ....... ... ..... 2. Die Preishöhenkontrolle in der ökonomischen und rechtlichen Kritik .. .... . .. ... .. . .. ...... ... .. ..... . . . . . . ..... ..... .... a) Geeignetheit der Preishöhenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Erforderlichkeit der Preishöhenkontrolle .. ......... . .. . c) Die Verhältnismäßigkeit der Preishöhenkontrolle .. .. . . .... . d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Verfahren zur Feststellung eines mißbräuchlichen Preises ....... I. Das Als-ob-Konzept als fiktiver Wettbewerbspreis . ... .. .. . .. .. . 2. Die Vergleichsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Gewinnbegrenzungskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Preishöhenmißbrauch im System des Art. 82 EGV . . . . . . . . . 5. Der Monopolpreisvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Übertragbarkeit der Anwendungsleitlinien zu § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a. F. in das Regime des § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB . . . . . . . I. Die einheitliche normative Grundlage des Mißbrauchsbegriffs . . . 2. Feststellung einer marktbeherrschenden Stellung .. .. . .. ..... ... 3. Die Breite der Vergleichsgrundlage . . ... . . .... . . . .. . .... ..... . 4. Die Vergleichbarkeit der Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147 147 148 150 150 152 152 153 153 155 155 156 158 159 159 160 163 163 163 164 164 166 167 167 168 168 170 173 174 177 181 181 182 183 183

Inhaltsverzeichnis 5. Die Rechtfertigung von Preisüberhöhungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtfertigung durch Unterschiede im Abnehmerkreis . . . . . . . b) Die Kostensituation als Rechtfertigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Betriebsindividuelle und strukturelle Besonderheiten im Vergleich ......... . . . ................ ... ................ ... 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 185 185 186 187 191

§ 15 Der Behinderungsmißbrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

I. II. III. IV.

Die Schutzrichtung des Verbots mißbräuchlicher Behinderung . . . . . . Marktstrukturverantwortung vs. Verhaltensunrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . Die positive Beschreibung des Verhaltensunrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Betrachtung der Handlungsmotivation ... .. ................ ...

192 193 195 196

§ 16 Der "Third-Party-Access" gern. § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB .......... . . . I. Öffnung des "bottlenecks" als Voraussetzung von Wettbewerb auf abhängigen Märkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Wettbewerb auf von "wesentlichen Einrichtungen" abhängigen Märkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Liberalisierung der leitungsgebundenen Energieversorgung durch Regulierung des Netzzugangs . . . .. . ... . . . .......... . .. . .. . . .. II. Der Zugang zu wesentlichen Einrichtungen ("essential facilities") in der amerikanischen und europäischen Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die "essential-facilites-doctrine" im System des amerikanischen Sherman Act. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das amerikanische Monopolisierungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die "essential facilities"-Doktrin im Antitrustrecht ...... .. .. 2. Die "essential facilities"-Doktrin in der Systematik des europäischen Mißbrauchsverbots. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Mißbrauchsbegriff des Art. 82 EGV ................... b) Die "essential facilities"-Doktrin innerhalb des Art. 82 EGV . aa) Refusal to deal. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Marktöffnung durch die "essential facilities"-Doktrin .... cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Zugang zu fremder Infrastruktur nach § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB . I. Einordnung des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB in die Mißbrauchssystematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zivilrechtliche Erfassung der Zugangsgewährung. . . . . . . . . . . . b) Bisherige kartellrechtliche Erfassung der Zugangsverweigerung . . . . ... . ..... . . .................................... c) Der eigenständige Normgehalt des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB .. d) Einordnung dieses Normgehalts in die Mißbrauchssystematik . 2. Folgen des Regelungszwecks für die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . a) Wettbewerbsbegründende Durchleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der (Netz-)Nutzungsmarkt ............. . .................. c) Normatives Durchleitungs- bzw. Nutzungsverständnis ........ d) Das Nutzungsobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Kartellrechtliche Karenzzeit der Marktöffnung ..... . ........ f) Unabhängigkeit des Tatbestandsmerkmals der Marktbeherrschung ....... ... ........ .. .. ... . ... ................ .. .

199 200 200 201 202 203 203 206 211 211 213 213 215 218 222 222 222 223 225 228 229 230 230 231 232 234 236

16

Inhaltsverzeichnis g) Die Beherrschung des abhängigen Marktes .......... . ...... h) Die nicht-wettbewerbsbegründende Durchleitung ............ i) Die Rechtfertigung der Nutzungsverweigerung. . . . . . . . . . . . . . aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Der energiewirtschaftliche Saldo als Rechtfertigung? . . . . cc) Fehlende Einrichtungskapazitäten .... ................. dd) "Take-or-pay" ................. .. ................ .. .

§ 17 Berücksichtigungsfahigkeit außerwettbewerblieber Gesichtspunkte bei

der Auslegung des MißbrauchsbegritTs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Friktionen beim Einbruch systemfremder Erwägungen in ein Ordnungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l. Reiz und Gefahr der Berücksichtigung systemfremder Erwägungen 2. Der Auflösungsversuch des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ordnungsfunktion und Ordnungsvoraussetzungen des Privatrechts als übergreifender Lösungsansatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Normativität außerwettbewerblieber Ziele vs. Funktionsbezug des Mißbrauchsbegriffs ..... ... .. . . ....... . ........ . ....... .. .. . 2. Privatrechtsdogmatischer Erklärungsansatz: Ordnungsfunktion und öffentliche Interessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Privatrechtsdogmatische Notwendigkeit der Relevanz außerwettbewerblieber Ziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Voraussetzungen für die Begründung eines Mißbrauchs aufgrund außerwettbewerblieber Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Außerwettbewerbliehe Ziele als Rechtfertigung eines Mißbrauchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Relevanz des Energiewirtschaftsrechts im Rahmen des § 19 GWB ................................................... I. Mögliche Einbrüche energierechtlicher Aspekte in das Mißbrauchsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Normkonkurrenz zwischen kartellrechtlichen Normen des EnWG und des GWB . .. .. . .... ..... . . . . ....... . . . .. ... . .... . ..... . a) Normatives Nebeneinander von Energierecht- und Kartellrecht . ........ .... ................... . ........... . ...... b) Einfluß des§ I EnWG bei der Auslegung des§ 19 GWB .... 3. Der Einfluß energierechtlicher Netzzugangsregelungen auf § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wettbewerblieber Normgehalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Außerwettbewerblieber Normgehalt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) § I EnWG als Verweigerungsgrund ........ ... ........ bb) § I EnWG als Begründung für eine Durchleitungsverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237 239 240 240 241 242 247 248 249 249 251 252 252 255 256 257 258 260 261 263 263 264 267 267 268 268 269 270

§ 18 Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Sachwortverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305

Erster Teil

Einführung in das Problem und in die gesellschaftspolitischen BedingtheUen der Lösungsversuche § 1 Problemaufriß und Gang der Untersuchung

I. Generalklauseln als Kristallisationspunkte systemendogener und systemexogener Spannungen Recht und Wirtschaft, ethische Gebote und rationales Handeln markieren die Spannungsfelder zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Systemen und divergierenden Ordnungsprinzipien. Gleichwohl existiert eine wechselbezügliche Beeinflussung und Abhängigkeit beider Systeme und der sie kennzeichnenden Axiome und Systemlogiken: Weder vermögen Wirtschaft und Wettbewerb allein die Voraussetzungen zu garantieren, auf welchen sie ihre Existenz gründen, noch können Regeln und normative Vorgaben die Produktion und Verteilung gesellschaftlich relevanter Güter übernehmen. Aber auch die tieferliegenden Ordnungskräfte beider Sphären - ethische Gebote hier und rationaler Eigensinn dort - können nicht je für sich stehen. Denn ethisch wünschenswerte Ergebnisse lassen sich optimal nur dann erreichen, wenn sie nicht der Oktroyierung durch eine Zentralinstanz entspringen, sondern der Erkenntnis und der rationalen Motivation der handelnden Individuen, was zugleich die Notwendigkeit hervorhebt, die Durchsetzung eigener Interessen ethisch zu fundieren und für den Interaktionspartner sozialverträglich abzufedern 1• Die Aufgabe eines beide Systeme tangierenden Objekts, wie das Kartellrecht, kann also nicht in der puristischen Trennung und systemtheoretischen Sonderung liegen, sondern hat die "strukturelle Koppelung" 2 der Sphären 1 Vgl. dazu aus ordnungsökonomischer Sicht Vanberg, Zur Interessenbegründung von Moral, S. 579 ff., der darlegt, daß die Setzung und Befolgung ethischer Maximen durchaus der Rationalität des homo oeconomicus entspricht; sowie aus philosophischer Sicht Obermeier, der blaue reiter 1996, S. 8 ff., der vor einer Separierung der jeweiligen Systemlogiken - Trieb und Rationalität hier, Ethik da - warnt und den einzelnen Sphären nur bei der Zusammenführung ihrer Maximen eine Überlebenschance einräumt. 2 Roelleke, Rechtstheorie Bd. 31 (2000), S. 7. 2 Kubicicl

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zu beachten und auf einen Ausgleich hinzuwirken, ohne die jeweiligen Funktionen und ihre Funktionsmechanismen zu übergehen oder zu verwischen. Erscheint die Austarierung der Spannungen zwischen verschiedenen Systemen schon schwierig, so erhöht sich die Komplexität dieses Verhältnisses noch durch die Ambiguität der einzelnen Elemente. So geben das Recht, die Regeln und die Ethik nicht immer konsistente Antworten, sondern scheinen sich bisweilen zu widersprechen, etwa wenn Leistungsgerechtigkeit und egalitäre Ergebnisgerechtigkeit widerstreiten oder die rechtsfehlerfreie Anwendung abstrakter Regeln zu Ergebnissen führt, die im Einzelfall dem Billigkeitsempfinden, möglicherweise der Ethik, zuwiderlaufen. Auf der anderen Seite erhöhen auch Wirtschaft und Wettbewerb nicht immer die gesellschaftliche Wohlfahrt und erweitern die Freiheit, sondern führen in einem zyklischen Lauf gleichfalls zu gesellschaftlich als untragbar empfundenen Phänomenen wie Marktmacht und Wettbewerbsbeschränkungen. Spannungen ergeben sich also nicht nur aus exogenen Einflüssen divergierender Systeme, sondern auch systemendogen. Gegenüber diesen gesellschaftskonditionierten Spannungen nehmen sich die Wertungswidersprüche, die von modernen Gesetzeswerken in die Rechtsordnung getragen werden, vergleichsweise trivial aus, sind sie doch nicht dem Menschen und seiner Sozialisation gleichsam unabänderlich in die Wiege gelegt, sondern kennzeichnen vielmehr die Ergebnisse demokratisch institutionalisierter Willensbildung. Dennoch sind auch sie systemendogene Spannungen des Rechts, die von der Rechtswissenschaft aufzulösen sind. Kristallisationspunkte der skizzierten Spannungen finden sich namentlich im Bereich solcher Normen, die nicht nur einen Ausgleich zwischen wirtschaftlicher Rationalität und rechtsethischen Prinzipien schaffen sollen, sondern zudem auch die Individualinteressen und die- von politischen Partikularinteressen verzerrten - Allgemeinwohlbelange zusammenzuführen haben. Handelt es sich bei der in Rede stehenden Norm zudem um eine höchst auslegungsbedürftige Generalklausel, die hoheitliche Eingriffe in den Rechtsverkehr der Privaten zuläßt, ist damit dem Rechtsanwender ein verführerisches Instrument an die Hand gegeben. Das Normpotential versetzt den Interpreten grundsätzlich in die Lage, die Ergebnisse eines formalen Prozesses nachträglich anhand seiner Billigkeitsempfindungen zu messen, ein Vorgehen, das nicht ohne Rückwirkungen auf die der prozeduralen Rationalität zugrunde liegende Regelordnung bleiben kann.

II. Gegenstand der Abhandlung

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II. Gegenstand der Abhandlung

Gegenstand dieser Abhandlung ist ein solcher Kristallisationspunkt, eine Norm, die in nachgerade klassischer Weise die skizzierten Spannungen und Wechselwirkungen in sich aufnimmt: Die Rede ist von § 19 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), dessen Verbot marktbeherrschenden Unternehmen im allgemeinen und damit auch der gasversorgenden Industrie im besonderen gewisse Verhaltensbeschränkungen auferlegt. Wenn hier von der Beschränkung der Spielräume der Marktbeherrscher die Rede ist, so soll dies zwar nicht verschleiern, daß ratio legis eigentlich die Verhinderung der Freiheitsbeschränkungen durch solche Unternehmen ist, dennoch dient dies der Nuancierung des gewählten Blickwinkels: Ziel der Untersuchung ist die Offenlegung solcher Fälle, in denen der intendierte Freiheitsschutz zum Ausgangspunkt unverhältnismäßiger und ungerechtfertigter Freiheitsverkürzung wird. Ziel der Untersuchung ist zugleich aber auch die Offenlegung wettbewerblieber Situationen, in welchen ein schneidiger Einsatz des Kartellrechts zwar Verhaltensspielräume marktbeherrschender Unternehmen einschränkt, durch den Einsatz hoheitlicher Macht aber zugleich dem staatsfreien Ordnungsprinzip "Wettbewerb" eine neue oder eine erste Chance verschafft wird. Aktueller Anlaß der Arbeit sind die Änderungen des GWB und des Energiewirtschaftsgesetzes, mit welchen der Ausnahmebereich für Energieversarger aufgehoben, das Energierecht grundlegend liberalisiert und die besondere Mißbrauchsaufsicht des§ 103 Abs. 5 GWB a.F. eliminiert wurden 3 . Darüber hinaus wurde die aus dem amerikanischen Antitrust-Recht stammende und von der europäischen Rechtspraxis rezipierte "essential facilities"-Doktrin in § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB gesetzlich fixiert, eine in dieser Reichweite und praktischen Relevanz neuartige und viel diskutierte Nonn4 , die auch bei der Frage des Zugangs Dritter zu Erdgasversorgungsnetzen Bedeutung erlangen wird5 . Das am 1.1.1999 in Kraft getretene Mißbrauchsverbot des § 19 GWB, welches aus dem Aufsichtsrecht der Kartellbehörden (§ 22 GWB a.F.) her3 Gesetz zur Neuregelung der Energiewirtschaft vom 29.4.1998 (BGBI. I S. 730), vor allem das darin enthaltene Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) und das Sechste Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26.6.1998 (BGBI. I S. 2521 ), verbunden mit einer nachfolgenden Neubekanntgabe des GWB v. 26.8.1998 (BGBI. I S. 2546). 4 Einführend dazu Schwintowski, WuW 1999, 842 ff. 5 Daß Gedanke, Begründung und Form auch im deutschen Energie- bzw. Kartellrecht nicht völlig neu sind, sondern bereits 1980 Gegenstand rechtspolitischer Vorschläge war, ist leider im Laufe der Debatte völlig untergegangen, soll aber hier (siehe unten § 12 I 2) die erforderliche Aufmerksamkeit bekommen. 2*

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vorgegangen ist, gilt somit für marktbeherrschende Unternehmen sämtlicher Branchen, die energieversorgende Industrie eingeschlossen. Angesichts dieser Entwicklung fragt sich nunmehr, ob für marktbeherrschende Gasversorgungsunternehmen im Rahmen des Mißbrauchsverbotes gewisse Besonderheiten gelten sollen und, in concreto, welche der von Rechtspraxis und Lehre entwickelten Ansätze zur (entfallenen) Mißbrauchsaufsicht des § 103 Abs. 5 GWB a.F. in das (nunmehr allgemeingültige) Mißbrauchsverbot des § 19 GWB zu übernehmen sind6 . Es erscheint insoweit nicht unwahrscheinlich, daß mit der Implementierung der Energieversorgungswirtschaft in das Regime des § 19 GWB das Verbot der mißbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung als klassische "dritte Säule" des GWB 7 eine seiner wirtschaftspolitischen Dimension8 angemessene praktische Relevanz erlangt. Diese Tendenz könnte durch die Umwandlung der Mißbrauchsaufsicht in ein unmittelbares Verbot noch verstärkt werden, setzt dies doch nunmehr auch Private in die Lage, sich direkt in einem Zivilverfahren entweder auf die Nichtigkeit (§ 134 BGB) eines Vertrages oder gar auf Schadensersatz wegen einer mißbräuchlichen Ausnutzung zu berufen (vgl. § 33 GWB)9 . Die gasversorgende Industrie bietet insofern den Anlaß und die Projektionsfläche der Betrachtungen. Gleichwohl sollen die gewonnenen Erkenntnisse den Blick auf die nach wie vor bestehenden Anwendungsunsicherheiten, Meinungsstreitigkeiten und Systembrüche lenken, die vom lokrafttreten des GWB bis zum heutigen Tag kennzeichnend für die (alte) Mißbrauchsaufsicht waren und auch für das neue Mißbrauchsverbot sein werden 10• Dabei offenbaren gerade die Probleme der Energieversarger mit dem nunmehr 6 Diese Fragen werden in der einschlägigen Literatur als "ungeklärt" und "offen" (Weyer, AG 1999, 260) bzw. als "nicht eindeutig geklärt" (Hamacher, RdE 1998, 228), bewertet. Tatsächlich handelt es sich um "eine der wichtigsten Fragen" (Emmerich, Kartellrecht, 8. Auflage, S. 275). In den Gesetzesmaterialien finden sich diesbezügliche Andeutungen, die Frage wird jedoch offengelassen und somit Wissenschaft und Praxis zur Klärung überantwortet (Bundestag-Drucksache 13/9720 s. 80). 7 Immenga/Mestmäcker-Mösche/, § 19 Rn. I. 8 Wiedemann-Wiedemann, § 19 Rn. 5; siehe auch FK-Baur/Weyer, § 22 Rn. 510. 9 Vgl. die Regierungsbegründung zur 6. GWB-Novelle, BT-Drs. 13/9720, S. 55, nach welcher § 19 GWB eine schadensersatzauslösende Norm im Sinne des § 33 GWB darstellt. 10 Rittner, Festschr. f. Hartmann, S. 251, 267, spricht von einem "Trümmerfeld"; Gabriel, Festschr. f. Günther, S. 279, sieht den gesamten Tatbestand zur Diskussion gestellt. Soweit ersichtlich haben Lehre und Praxis viele der beklagten Mißstände bislang nicht entschärfen können; siehe nur Immenga/Mestmäcker-Möschel, § 19 Rn. 3: ,,Zweck und Grenzen des Mißbrauchstatbestandes nach § 19 unverändert im Streit"; auch Scholz, in: Müller/Gießler/Scholz, GWB § 22 Rn. 70a ("bisher nicht praktikabel definiert").

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geltenden Kartellrecht, daß Auslegungsschwierigkeiten, etwa im Bereich der Netznutzungsentgelte nicht Folge einer zurückzudrängenden Liberalisierung sind, sondern ihren Ursprung in dogmatischen Unklarheiten des § 19 GWB haben 11 • Insoweit schöpft die Untersuchung ihre Berechtigung vornehmlich aus den nach wie vor bestehenden und durch die Umwandlung in eine Verbotsnorm verschärften Unklarheiten über die Bedeutung und Reichweite des Mißbrauchsterminus 12, der Bestandteil der wohl "schillerndsten" Norm des GWB ist. Die Unklarheiten über das spezifische Mißbrauchsunrecht illustriert die Arbeit an einem "alten" und einem "neuen" Problemfeld: So ist seit jeher streitig, ob und wie die Feststellung eines Preisüberhöhungsmißbrauches zu geschehen hat. Die gegenwärtige Praxis erreicht spätestens bei der Schätzung und der Addition von Korrekturzuschlägen eine kritische Dimension, in der die Ergebnisse weder vorhersehbar noch nachprüfbar sind, so daß Entscheidungen auf dieser Grundlage bisweilen Willkürcharakter attestiert wird 13 • Aber auch der neugeschaffene Mißbrauchstatbestand der Zugangsverweigerung zu wesentlichen Einrichtungen (§ 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB) befindet sich noch am Anfang seiner dogmatischen Beleuchtung und ist demzufolge auch von eindeutigen Anwendungsregeln noch weit entfernt. Hier besteht insbesondere für die Gaswirtschaft ein besonderes Klärungsinteresse. Insgesamt soll anband der Normgrundlagen versucht werde, ein Mißbrauchskonzept zu entwerfen, welches dort, wo es notwendig ist, den Wettbewerbsprozeß in Gang bringt, Zielkonflikte grundsätzlich der Lösung durch das wettbewerbliehe "Entdeckungsverfahren" überantwortet 14 und im Falle verfassungsrechtlicher Notwendigkeiten in die Autonomie der Marktakteure eingreift, ohne Wirtschafts- oder energiepolitisch lenken zu wollen. Dieser Ansatz soll insbesondere den im Bereich der Energiewirtschaft zu vernehmenden Ruf nach einer teilweisen Reregulierung als Antwort auf die Anwendungsschwierigkeiten 15 entgegen gehalten werden. 11 Zu den Schwierigkeiten einer kartellrechtlichen Kontrolle des Netznutzungsentgeltes Klaue, ZNER 2000, 273 f., ohne allerdings auf die konstitutionellen Schwächen des Mißbrauchsverbotes hinzuweisen; näher dazu auch Schwintowski, ZNER 2000, 98 f., der das "Konzept der effizienten Leistungsbereitstellung" aus dem § 24 Telekommunikationsgesetz in das Energiekartellrecht übernehmen will. 12 Siehe Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, S. 173, spricht von einer Vorschrift, die eine in der gegenwärtigen Fassung rechtstaatlich kaum mehr erträgliche Verbotsnorm darstelle und deren Grundübel in der Unbestimmtheit des Mißbrauchstatbestands liege. 13 In diesem Sinne: Gabriel, Festschr. f. Günther, S. 275. 14 Zu wettbewerbspolitisch zweifelhaften Re-Regulierungsvorgängen vgl. Heilemann/Hillebrand, Liberalisierung der Strom- und Gasmärkte - Erwartungen und erste Ergebnisse, S. 26, 28.

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§ I Problemaufriß und Gang der Untersuchung

111. Einordnung der Thematik in den rechtlichen und gesamtgesellschaftlichen Kontext

Auch die Liberalisierung der Energiemärkte ist Ausdruck eines bestimmten Staatsverständnis: Der Staat garantiert nicht die Erfüllung bestimmter Aufgaben, er will vielmehr zunehmend die Privaten und ihre Interaktionen zur Erreichung bestimmter Gemeinwohlziele einsetzen 16• Insoweit kann von einer Renaissance des ordnungspolitischen Mittels der Privatautonomie gesprochen werden, in deren Verlauf auch die neuerdings wieder stärker diskutierte Hinwendung zu einem "materiellen" Verständnis der Vertragsfreiheit ein besonderes Gewicht zukommt 17• Freilich läßt sich in den Bereichen hoheitlichen Rückzuges ein Verhältnis komplementärer Angewiesenheil zwischen Staat und Privaten konstatieren: Wo der Staat zurücktritt, müssen die wirtschaftenden Individuen für eine zweckmäßige Ordnung ihrer Verhältnisse sorgen. Dort aber, wo sie dazu nicht in der Lage sind, muß der Staat helfend eingreifen, die Ordnungstindung anstoßen oder letztlich selbst eine Regelung setzen. Diese Wechselwirkung hat aber auch eine verfassungsrechtliche Dimension: Auch dem steuernden Staat wohnt die Tendenz inne, die private lnteressenkoordination zu instrumentalisieren und Verhaltensspielräume in einem sonst privatautonomen Ordnungssystem unverhältnismäßig zu beschränken. Normen wie § 19 GWB weisen somit einen ambivalenten Charakter auf: Zum einen sollen sie den Wettbewerb und seine Akteure schützen, also Freiheit sichern und nötigenfalls erweitern. Zum anderen liegt in dieser Einbruchstelle hoheitlicher Gewalt stets die Gefahr, die Freiheitskreise der Normadressaten unverhältnismäßig einzuschränken, ja den Wettbewerb insgesamt als "staatliche Veranstaltung" instrumentalisieren zu wollen. Insbesondere die Regulierungsgeschichte der Energiemärkte spiegelt den (oft anzutreffenden) Widerspruch zwischen beabsichtigten Zielen und den erreichten Folgen hoheitlicher Eingriffe in den Wettbewerb wider und eignet sich daher in besonderem Maße für die Skizzierung eines Wettbewerbsverständnisses, welches hier "kollektivistisch-funktional" genannt und einem freiheitlichen Wettbewerbsverständnis gegenübergestellt werden soll. Vor diesem Hintergrund läßt sich dem Titel der Abhandlung ein weiteres Anliegen entnehmen: Wenn nämlich von "Verhaltensbeschränkungen" die Rede ist, so soll der Blick des Betrachters nicht nur auf das freiheitsbeschränkende Potential des § 19 GWB gelenkt, sondern auch ein besonderer So etwa Theobald, FAZ v. 10.3.2001 , S. 15; auch Klaue, ZNER 2000, 274. Schwintowski, ZNER 2000, 94 mwN. 17 Siehe nur Ritger, JZ 2002, 114 ff.; Canaris, AcP 200 (2000), 273 ff., jeweils mit weiteren Nachweisen; eingehend dazu §§ 5, 6. 15

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III. Rechtlicher und gesamtgesellschaftlicher Kontext

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Blickwinkel vorgeschlagen werden: Entgegen dem Eindruck, der (bewußt oder unbewußt) durch Termini wie "Wirtschaft", "Wettbewerb" oder "Unternehmen" vermittelt wird, belastet die Norm nicht apersonale Entitäten, sondern verkürzt Freiheits- und Verhaltenskreise unmittelbar von lndividuen18, mittelbar aber auch von Grundrechtsträgern wie den Unternehmen als juristischen Personen 19. Auch eine weitere Kollektivbezeichnung wird zur Begründung und Rechtfertigung von Normen und ihren Funktionen oft verwendet, ist gerade aber im Zusammenhang von Wettbewerbspolitik und Kartellrecht ein besonders beliebtes Mittel der Argumentation: das Allgemeinwoht20. Jede unvoreingenommene Untersuchung des Mißbrauchsverbots des § 19 GWB wird aber das Phänomen "Wettbewerb" entkollektivieren müssen, um sich seines normativen Wertgehaltes bewußt zu werden, die mancher Auslegung des § 19 GWB im Wege steht. Diese Betrachtungsweise lenkt den Blick auf ein Kemproblem, welches sich bei der Einschränkung der Privatautonomie marktbeherrschender Unternehmen stellt und letztlich aus unserem freiheitlichen Gemeinwesen resultiert und durch das Rekurrieren auf das Allgemeinwohl nur unzureichend verborgen wird: Es ist dies die Frage, wie heterogene wirtschaftliche Machtstrukturen die privatautonome Interessenkoordinierung beeinflussen und ob diese Auswirkungen zur hoheitlichen Kompensation und Ergebniskorrektur anhalten. Auf einer höheren Abstraktionsebene ist somit das seit jeher debattierte Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit tangiert, welches in der neuzeitlichen Diktion unter dem Schlagwort der "sozialen Gerechtigkeit" diskutiert wird und das im Rahmen dieser Arbeit nur angedeutet werden kann. Antworten sind nur schwer zu finden: Mögliche ethische Handlungsvorgaben reichen von der Ergebnisgleichheit21 bis hin zu der schon von Homer vorgeschlagenen Leistungsgerechtigkeit22. Doch gerade die Antworten einer freiheitlichen und sozialen Demokratie sind ungleich komplexer, 18 Da das GWB einem "funktionalen Unternehmensbegriff' (siehe nur BGH v. 6.11.1972, WuW/E 1246 f.) folgt, wird auch der am geschäftlichen Verkehr teilnehmende Einzelne unabhängig von der Rechtsform erfaßt, siehe Immenga/Mestmäcker-Zimmer, § I Rn. 35 mwN. 19 Vgl. zur Unternehmensfreiheit und Unternehmerfreiheit Breuer, HStR, § 147 Rn. 23, 30. 20 Dabei verschleiert dieser Terminus freilich das sich jeder Gesellschaft stellende Verteilungsproblem von Macht, Geld und Gütern, da es vom Standpunkt des Wohls Aller doch keine Verteilungsprobleme geben kann, weil erst eine Individualisierung Verteilung gedanklich impliziert und nötig macht, dazu Roelleke, Rechtstheorie Bd. 31 (2000), S. 3. 21 Siehe dazu die das Weinberggleichnis im Evangelium nach Matthäus, 20. Kapitel, Vers 1-16, dort entrichtet der Herr an seine im Weinberg arbeitenden Tagelöhner den gleichen Lohn, obwohl sie unterschiedliche Leistungen erbracht haben.

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§ l Problemaufriß und Gang der Untersuchung

als diejenigen der göttlichen Gnade, welche keine Verteilungsprobleme kennt, oder die Vorschläge solcher Gesellschaftsformen, welche die Lösung in dem Einschlagen eines monistischen Weges suchten und den Sozialismus oder Urformen des Kapitalismus fanden 23 . Selbstredend wird sich im Rahmen dieser Arbeit keine Antwort auf diese Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen finden lassen. Gleichwohl lassen sich Auflösungsmöglichkeiten für das kartellrechtliche Spannungsverhältnis zwischen Unternehmen ungleicher Größe und mit ungleichen Verhaltenspielräumen nur dann finden, wenn offengelegt wird, wann die Privatrechts- und Verfassungsordnung Eingriffe in die Freiheit um der Gerechtigkeit willen gestattet und erfordert. Wenn man damit an den Ausgangspunkt der Überlegungen, dem Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Rationalität und rechtlich-ethischen Geboten, zurückkehrt, wird man schon nach den ersten kurzen Problemskizzen eine Ahnung davon bekommen haben, daß die Antwort nicht in einem schematischen "entweder-oder", sondern in der richtigen Gewichtung zu finden sein wird: Ökonomischer Rationalität kann die Normauslegung genauso wenig allein überlassen werden wie der Wettbewerb allein der staatlichen Gestaltung. Daher bleibt die eingangs postulierte Maxime der Zusammenführung beider Ebenen Mahnung und Verpflichtung, denn: "Der Wettbewerb braucht Moral"24, aber nur die Regel und die Moral wird sich auf Dauer behaupten, die aus dem gesellschaftlichen Wettbewerb emergiert wird. IV. Gang der Untersuchung In stärkerem Maße als andere Generalklauseln ist der § 19 Abs. I GWB bzw. der frühere § 22 Abs. 4 S. 1 GWB eine "Kapitulation des Gesetzgebers vor der Vielfalt der zu regelnden Sachverhalte"25, hat der Tatbestand doch die denkbar weiteste aller Formulierungsalternativen erlangt: Verboten ist schlicht eine mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung. 22 Siehe Homer, Ilias, XXDI. Gesang, Leichenspiele zu Ehren des gefallenen Patroklos, Nachweis bei Roelleke, Gleichheit in der lndustriegesellschaft, S. 18 ff. 23 Dabei läßt sich für die Verteilung wirtschaftlicher Macht, die Relation von Freiheit und Gleichheit, schon im Modell kaum eine "gerechte" Lösung finden, da nicht nur jede konkrete Verteilung und Zuweisung von Gütern kritisierbar ist, sondern sogar jede, einem gewissen Verteilungszustand zugrunde liegende Gerechtigkeitsvorstellung unter ethischen Gesichtspunkten angreifbar ist: Wer für eine Verteilung nach Leistung eintritt, wird sich auf die austeilende bzw. die Leistungsgerechtigkeit berufen, derjenige hingegen, der nach einer stärker egalistischen Verteilung verlangt, wird die ausgleichende oder soziale Gerechtigkeit ins Felde führen. Hier betritt man eines der letzten ungeklärten Felder der Philosophie. 24 Roelleke, Gleichheit in der Industriegesellschaft, S. 19. 25 K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 133.

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IV. Gang der Untersuchung

Freilich entbindet auch ein "leerformelartiger" Charakter den Norminterpreten nicht davon, handhabbare und justiziable Anwendungskriterien zu entwickeln26. Ziel der Arbeit ist die Erarbeitung solcher Anwendungsleitlinien durch die Annäherung an das dem Mißbrauchsbegriff zugrunde liegenden Unrecht. Die Arbeit will sich zunächst deduktiv dem Mißbrauchsbegriff nähern, bis dieser im vierten Teil beschrieben und anhand zweier Beispiele illustriert wird. Dazu müssen zunächst die - selbst im Streit befindlichen27 lagen aufgearbeitet werden.

-

Normgrund-

Die Betrachtung der zeitgeschichtlichen Umstände bei Schaffung des GWB im folgenden § 2 soll die gesellschaftliche Einstellung gegenüber dem Phänomen wirtschaftlicher Macht wie auch die gesellschaftspolitischen Dimensionen offenlegen, die bis zum heutigen Tag die Auslegung des § 19 GWB beeinflussen. Im zweiten Teil wird zunächst der Regelrahmen aufgearbeitet, in welchen sich das Kartellrecht und damit auch das Mißbrauchsverbot hineingestellt sieht (§ 3). Dabei wird der Wettbewerb ordnungsökonomisch analysiert, um den normativen Gehalt des Wettbewerbs aufzuzeigen. Es gilt zu verdeutlichen, daß das Kartellrecht in eine gesellschaftliche Institution interveniert, die maßgeblich durch das privatrechtliche Ordnungssystem und die Vorgaben der Verfassung geprägt wird. Um nicht nur eine sinnvolle, sich in unsere Rechtsordnung fügende Grundlage der Normauslegung zu schaffen, sondern vor allem, um Grenzlinien der Interpretation des § 19 GWB zu finden, widmen sich die folgenden Abschnitte der genaueren Konturierung dieses "kartellrechtlichen Regelrahmens". Nach einem Überblick über die expliziten wie allgemeineren Vorgaben der Verfassung zu dem Umgang mit wirtschaftlicher Macht (§ 4 I-Ill), gilt es auf die - für die weitere Normauslegung grundlegende - Weichenstellung unserer Verfassung hinzuweisen, die hier mit dem Begriff der "inhaltsneutralen Freiheitsvennutung" bezeichnet werden soll (§ 4 IV). 26 So im Hinblick auf die privatrechtliche Funktion K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 133; Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 244 zur Notwendigkeit der Berücksichtigung der Justitiabilität bei der Auslegung des Mißbrauchsbegriffes. 27 Man lese nur den Aufruf Gabriels, in: Festschr. f. Günther, S. 279: "Was jetzt zur Diskussion gestellt wird, ist nichts geringeres als der Mißbrauchstatbestand schlechthin, der Maßstab an dem sich mißbräuchliche Verhaltensweisen ablesen Jassen, eine authentische Interpretation der Generalklausel, die insofern dem Erfordernis der Justiziabilität Rechnung trägt, als sie Entscheidungen ermöglicht, denen jenes Mindestmaß an Vorhersehbarkeit eigen ist, das die Rechtsprechung überhaupt erst möglich macht." Soweit ersichtlich haben sich seither die von Gabriet beklagten Maßstäbe des BKartA und der Rspr. nicht verändert.

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§ I Problemaufriß und Gang der Untersuchung

Im Anschluß (§ 5) wendet sich die Arbeit dem privatrechtliehen Ordnungssystem zu, in dessen Formen sich der Wettbewerb vollzieht und in das § 19 GWB interveniert. Es wird zunächst seine Wirkungsweise sowie die rechtliche und ordnungspolitische Legitimierung vorgestellt und die von diesem System gezogenen Grenzen der Privatautonomie aufgezeigt. Danach werden die Funktionsgrundlagen des privatrechtliehen Ordnungssystems verdeutlicht. Dadurch sollen Anhaltspunkte gewonnen werden, welche Rolle § 19 GWB bei der Funktionssicherung übernehmen kann, ohne sich außerhalb des Systems zu stellen, dessen Existenz die Norm selbst voraussetzt. Schließlich wird in § 6 untersucht, ob das privatrechtliche Ordnungssystem "materialisiert" worden ist, so daß Normen wie § 19 GWB zu einer Lenkung auf Ziele wie die soziale Gerechtigkeit im Einzelfall oder das Allgemeinwohl instrumentalisiert werden können. § 7 nähert sich den Grenzen der Privatautonomie von der verfassungsrechtlichen Seite. Im Hinblick auf die hier näher zu untersuchenden Mißbrauchsvarianten der Preisüberhöhung und der Zugangsverweigerung zu wesentlichen Einrichtungen gilt es auszumessen, wann das GG zu Preiskorrekturen anhält bzw. ob und wann ein kartellrechtlicher Mitbenutzungszwang verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.

Eine Untersuchung des Mißbrauchsverbots kann nicht ohne einen Blick auf die wettbewerbstheoretischen Grundlagen auskommen. Besonders relevante und beispielgebende Wettbewerbsmodelle sollen in § 8 vorgestellt und unter dem Blickwinkel diskutiert werden, welche sich in den kartellrechtlichen Regelrahmen einfügen lassen. Im dritten Teil der Arbeit wird die Entwicklung des Ausnahmebereichs "Energieversorgung" aufgezeigt und sowohl die gemeinhin benannten als auch die tieferliegenden Gründe für die Schaffung der gesetzlichen Monopole herausgestellt (§ I 0). Insbesondere die Regulierungsgeschichte offenbart die praktischen Folgen eines Wettbewerbsverständnis, welches bereits in § 8 in seinen theoretischen Grundlagen diskutiert worden ist. Insbesondere aber sollen in § 11 und § 12 die von der Rechtspraxis entwickelten Anwendungsleitlinien der energiekartellrechtlichen Preishöhenkontrolle und der Netzzugangsregelung herausgearbeitet werden, damit sie im vierten Teil der Arbeit unter dem Aspekt gewürdigt werden können, welche Lösungsansätze für die Anwendung des § 19 GWB zu übernehmen sind und welche dort systemfremd wirken28 . Im vierten und letzten Teil soll schließlich das Mißbrauchsunrecht zunächst unter Bezugnahme auf den im zweiten Teil offengelegten kartell28 Die daraus resultierenden Fragen gelten in der Literatur als "vordringlich", "nicht hinreichend geklärt", z. T. sogar "völlig ungeklärt", vgl. nur Weyer AG 1999, 259 f.; Hamacher RdE 1998, 228.

IV. Gang der Untersuchung

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rechtlichen Regelrahmen abgesteckt und der Mißbrauchsbegriff in einer Weise konkretisiert werden, wie es seine Normgrundlagen erfordern (§ 13). Angestrebt wird eine Neuausrichtung der Norminterpretation, der zu Folge (wieder) entscheidend auf den mißbräuchlichen Charakter abzustellen ist, der mehr an mißbilligenswertem Verhalten erfordert, als die bloße Ausnutzung der Marktstellung, wie die eindeutige Formulierung des § 19 Abs. 1 GWB zeigt. Die Folgerungen aus dem skizzierten Mißbrauchsunrecht sollen dann an den Beispielen des Preisüberhöhungsmißbrauchs (§ 14) und dem Behinderungswettbewerb (dazu § 15) in Gestalt der Zugangsverweigerung zu wesentlichen Einrichtungen (§ 16) dargelegt werden. Besonderes Gewicht wird dabei auf die Frage gelegt, welche der zum alten Energiekartellrecht entwickelten Anwendungsregeln in den neuen rechtlichen Rahmen übertragen werde können. Zudem gilt es, die neugeschaffene Norm des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB in die Mißbrauchssystematik einzuordnen und einige der praktisch relevanten Einzelfragen zu beantworten. Schließlich wird sich die Arbeit in § 17 noch dem problematischen und für die Gasversarger wichtigen Aspekt zuwenden, ob und wie im Rahmen der Mißbrauchsprüfung außerwettbewerbliehe Aspekte, namentlich die energierechtlichen Zielvorgaben des § 1 Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) 29 in die Auslegung des § 19 GWB einfließen dürfen30.

§ 2 Die tradierte Bewertung wirtschaftlicher Macht Die Entstehungsgeschichte des GWB und die kartellrechtspolitische Diskussion zu Beginn der 50er Jahre wirft ein Schlaglicht auf die ökonomische und gesellschaftspolitische Beurteilung wirtschaftlicher Macht, das von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Auslegung kartellrechtlicher Normen, namentlich § 19 GWB, ist. Demzufolge muß sich auch und gerade eine Arbeit zu den Verhaltensbeschränkungen die historischen Wurzeln jedenfalls insoweit vergegenwärtigen, als sie bis zum heutigen Tag "rechtspraktische Früchte" tragen.

Nachweis Fn. 3. Laut Weyer AG 99, 258 ein "offenes Problem"; Büdenbender, JZ 1999, 70, ist der Ansicht, daß es für die Auflösung der materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Konkurrenz bisher noch keine Regeln gebe. 29

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§ 2 Die tradierte Bewertung wirtschaftlicher Macht

I. Die gesellschaftspolitische Dimension und Funktion des Kartellrechts nach dem ordoliberalen Ansatz der "Freiburger Schule" Die zu Beginn der deutschen Entwicklung des Kartellrechts tonangebenden Freiburger ordoliberalen Nationalökonomen wollten von jeher mehr als nur die bloße Ordnung der Wirtschaft mit den Mitteln des Kartellrechts. Vielmehr betrachteten sie Marktwirtschaft und Sozialpolitik als strukturpolitische Einheit, die zum tragenden Fundament einer freiheitlichen, demokratischen und sozialen Gesellschaft ausgebaut werden sollte31 • Hintergrund dieses "ganzheitlichen" Ansatzes war die konzeptionelle Annahme der Interdependenz gesellschaftlicher Ordnungssysteme32, derzufolge eine soziale, rechtsstaatliche und demokratische Gesellschaft immer nur in dem Maße verwirklicht ist, in dem sich die Wettbewerbsordnung dem Idealbild eines machtfreien Zustands annähert33 . Damit wurde dem Kartellrecht eine schwere Bürde auferlegt, die auch nach dem Verlust der ökonomischen Meinungsführerschaft der Freiburger Schule fortdauernde Auswirkungen auf die Rechtsanwendung haben sollte: Das GWB war nicht nur dazu bestimmt, eine Wettbewerbsordnung vor den Beschränkungen Privater zu schützen, sondern avancierte weit über diese wirtschaftsrechtliche Problemstellung hinaus zu einem gesellschaftsgestaltenden, gesellschaftsplanenden Recht. Wie Böhm nach lokrafttreten des GWB feststellte, stand nicht die Schaffung eines ökonomischen Nutz- und Lenkungseffektes des Wettbewerbs im Vordergrund, sondern nicht weniger als "die soziale Gerechtigkeit und die bürgerliche Freiheit"34 . Nicht zuletzt, weil die Freiburger der Verhinderung des Einfluß privater Macht auf die Wirtschaftspolitik für die Etablierung der Demokratie große Bedeutung zumaßen, erhob man eine Art "machtfreien Wettbewerb" zum Leitbild der Wirtschaftspolitik. Dieses Leitbild wendete sich gegen jede 31 Vgl. Kartte/Holtschneider, Konzeptionelle Ansätze und Anwendungsprinzipien im GWB, S. 204. 32 Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 14 ff., 332 ff.; Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 13, der fordert, die Abläufe in Staat und Gesellschaft als eine umfassende funktionale Einheit zu begreifen; siehe auch Roelleke, Rechtstheorie Bd. 31 (2000), S. 7: ,,Alle Systeme sind miteinander verkoppelt. Sie setzen einander so existentiell voraus wie Kommunikation ein Bewußtsein und Bewußtsein einen Leib." 33 Vgl. statt vieler Eucken, ORDO Bd. 2 (1949), S. 1 ff., insbes. 64 ff.; siehe auch Greisbach, BB 1962, 1012. Ausführlich zum Einfluß der "vollkommenen Konkurrenz" auf das ordoliberale Denken unten § 8. 34 Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 6; dieser Ansatz ist unter dem Stichwort "Verbraucherschutz durch § 22" virulent geblieben, siehe auch Stern, Band 1, S. 899 (GWB als "sozialstaatliche Imprägnierung der Wirtschaft"); auch Reich, ZRP 1975, 159 ff.

I. Dimension und Funktion des Kartellrechts

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Konzentration des Eigentums in Händen Privater und sollte mit dem Kampf gegen wirtschaftliche Machtüberlegenheit auch der Sicherung der Freiheit dienen (näher dazu § 8)35 . Im Kampf gegen den Einfluß von Privilegieninteressen durch wirtschaftliche Macht vernachlässigte man freilich die Frage, ob nicht, statt bei den Unternehmen, bei den staatlichen Institutionen als der "anderen Seite der Medaille" anzusetzen sei und wie ein gegen den Einfluß partikularer Interessen gefeiter Staat verfaßt sein sollte. Darüber hinaus unterschätzte die Freiburger Schule die Gefahr, daß auch ein in ihrem Sinne demokratisch verfaßter Staat die Tendenz hat, individuelle Freiheitsräume einzuengen und die von ihm eigentlich zu schützende Marktwirtschaft zu unterminieren36. Neben dieses demokratische Anliegen trat bei vielen die Hoffnung, das GWB könne einen gerechten sozialen Ausgleich zwischen den Marktakteuren herbeiführen, der allein mit den Mitteln des Marktes und der Privatautonomie nicht zu erreichen sei 37. Daher sollte das Kartellrecht den Aufbau von Machtpositionen und ihre Verfestigung verhindem und "ererbte" Residualgewinne durch die Unterstützung des Wettbewerbs erodieren. Diese "machtzerstörende" Wirkung sollte Machtpositionen abbauen, da wirtschaftliche Stärke die gleiche Freiheit aller bedrohe, indem diese die interessenausgleichende Privatautonomie in ein Mittel der Fremdbeherrschung verkehre38 . Es ist kennzeichnend für diesen über das Kartellrecht hinausgreifenden Ansatz, daß sich die Freiburger einen historizistischen Glauben an die Fähigkeit von Sozialtechnik zu eigen machen: Man sieht die Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen auf ein determinierten Endzustand - beispielsweise das Monopol - zulaufen und erblickt in diesem "Urteil der Geschichte" ein "moralisches Urteil"39, demzufolge jene Marktkonstellation als sozial und ökonomisch gut, diese als schlecht erachtet wird. Daher glaubt 35 Siehe Eucken, ORDO Bd. 2 ( 1949), S. 68 f. sowie ders., Grundlagen der Wirtschaftspolitik, S. 246, auch Kartte/Holtschneider, Konzeptionelle Ansätze und Anwendungsprinzipien im GWB, S. 197. 36 Siehe Cassel/Rauhut, Soziale Marktwirtschaf auf dem Prüfstand, S. 21 . 37 Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 6: "Das ändert aber nichts daran, daß die wahren Beweggründe, die für den Erlaß der Antitrustgesetze maßgebend waren, eine ganz andere, ich möchte sagen: populäre Beschaffenheit hatten. Nicht der ökonomische Nutz- und Lenkungseffekt war es, den man durch die Monopole für bedroht hielt, sondern die soziale Gerechtigkeit und die bürgerliche Freiheit."; siehe auch Raiser, JZ 1958, I ff. 38 Instruktiv für die ihr zuerkannte gesellschaftspolitische Funktion des Kartellrechts und den befürchteten Folgen wirtschaftlicher Macht Emmerich, Kartellrecht, s. 2 f. 39 Ablehnend zu diesem historizistischen Gesellschaftsverständnis namentlich Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, S. 16 ff., 22.

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§ 2 Die tradierte Bewertung wirtschaftlicher Macht

man sich auch berechtigt und in der Lage, diesen Lauf beeinflussen und den Wettbewerb gleichsam auf ein "goldenes Zeitalter" steuern zu können. Ausgehend von dieser Erwartungshaltung droht der Ordnungsfunktion des Kartellrecht Unbill aus zwei Richtungen: Zum einen wird das Kartellrecht in ein gesellschaftspolitisches Instrument zur Erreichung außerwettbewerblieber Zielsetzungen transformiert. War das Kartellrecht - wie gesehen - schon von Beginn an zu einem demokratisch-sozialen Allheilmittel verklärt worden, kann es nicht verwundern, daß in den folgenden Jahren des öfteren versucht worden ist, das GWB für weitere gesellschaftspolitische Zwecke fruchtbar zu machen, welche zwar in keinem direkten Zusammenhang zur Marktmacht stehen, für welche aber der Wettbewerb wegen seiner allumfaßenden Wirkung theoretisch eingesetzt, um nicht zu sagen mißbraucht, werden kann40• Doch soll dieser Entwicklung später (siehe unten § 17) nachgegangen werden. Die weitere Gefahrenlage aus der umfassenden gesellschaftspolitischen Dimension und Funktion des GWB ist für die Beschränkung von Verhaltensspielräumen von noch einschneidenderer Bedeutung: Die Diskussion um ökonomische Macht und ihre Behandlung durch die Mißbrauchsnorm des GWB leidet bis zum heutigen Tag unter einem historisch bedingten Mißtrauen gegenüber wirtschaftlicher Stärke. Eine Vermengung ökonomischer Fragen mit dem aus der Marktstellung angeblich resultierendem gesellschaftspolitischen Einfluß der Unternehmen befördert diese Tendenz noch41 • Dieses Mißtrauen scheint gegenüber einer rechtlichen und ökonomischen Legitimierung wirtschaftlicher Größe allzu oft taub zu sein. Dieser gefährlichen und vereinfachenden Tabuisierung von Marktmacht muß entgegengehalten werden, daß politische Einflußnahme von Unternehmen, aber auch anderer Interessengruppen, zu den gesellschaftlichen Realitäten einer mittelbaren Demokratie gehört, diese jedoch weder notwendigerweise an die Marktsstärke gekoppelt ist42, noch grundsätzlich ein Problem darstellt, welches sich adäquat und systemkonform mit den Mitteln des Kartellrechts, gar dem Mißbrauchsverbot, regeln ließe43 • Vor allem aber wird näher zu 40 Kritisch dazu: Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 52 f.; vgl. auch lmmenga, Politische Instrumentalisierung des Kartellrechts, passim. 41 Vgl. Eucken, ORDO Bd. 2 (1949), S. I, 6, zu dem .,circulus vitiosus" zwischen wirtschaftlichen Machtgruppen und dem Eintluß auf die staatliche Willensbildung; typisch auch Lenel, Über private wirtschaftliche Macht, S. 304 f.; 308 f., der von dem kartellrechtlichen Begriff der Marktmacht den Bogen zu gesellschaftlicher Macht (.,Macht der Banken", .,Forschungssubventionierung") schlägt. 42 Ein Jungunternehmer der IT-Branche, der durch seine Innovationskraft ein neuartiges Produkt geschaffen hat und somit eine Monopolstellung inne hat, wird wohl kaum über einen vergleichbaren Einfluß verfügen, wie arrivierte, aber nicht marktbeherrschende Unternehmer.

II. Folgen des Mißtrauens gegenüber wirtschaftlicher Macht

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beleuchten sein, ob wirtschaftliche Macht tatsächlich zu den befürchteten Schäden für den Wettbewerb führt (dazu § 8). II. Die zeitlosen Folgen des Mißtrauens gegenüber wirtschaftlicher Macht Nach den Erfahrungen der durch das Reichsgericht mit Urteil vom 4.2.1897 legitimierten Kartellfreiheit44, der Weimarer Zeit mit ihren großen Trusts und dem von ihnen ausgeübten politischen Einfluß sowie der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der Zwangskorporierung der Wirtschaft war es verständlich, daß die Gesellschaft, Politik und Wissenschaft der Nachkriegszeit danach trachteten, wirtschaftliche Macht Privater, wenn nicht aufzulösen, so doch soweit zu bändigen, daß sie nicht - jenseits demokratischer Regeln - zur Gestalter der Politik avancierte45 . Zu nah vor Augen stand noch die Vermengung von wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Macht und der schwächelnden Politik der Weimarer Republik, zu groß waren die Verstrickung der Industrie in die Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft, als daß man es nicht als vordringlich ansah, für den demokratischen Neuanfang neben der politischen auch die wirtschaftliche Macht zu "demokratisieren" und idealiter abzubauen. Das Unbehagen auf der Seite deutscher Rechtswissenschaftler, Nationalökonomen und Politiker gegenüber wirtschaftlicher Macht korrelierte mit der Zielsetzung der alliierten Besatzungsmächte, die Kartelle, Monopole und Trusts in Deutschland zu zerschlagen. Dieses Ziel zog sich wie ein roter Faden durch die Politik der Besatzungsmächte, angefangen bei den Plänen Morgenthaus, Deutschland in ein Agrarland zu verwandeln, über die Dekartellierungsbeschlüsse in Potsdam und die alliierten Militärverordnungen46 bis hin zu den Entwürfen zum GWB. Hintergrund dieser Politik war 43 Vgl. zu der Forderung nach einem "starken Staat", der taub ist gegenüber Partikularinteressen, Günther, Die geistigen Grundlagen des sog. Josten-Entwurfs, s. 197. 44 RG v. 4.2.1897, RGZ 38, 155. 45 Ausführlich dazu Günther, Die geistigen Grundlagen des sogenannten JostenEntwurfes, S. 183, 184 ff.; zu den aus historischen Erfahrungen herrührenden Befürchtungen dieser Art vgl. Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 14 f., mit der plakativen Formulierung von der "Refeudalisierung der Gesellschaft". 46 Hinsichtlich der Entflechtung auf Grundlage von Teil III Art. B Ziffer 12 des Potsdamer Abkommens vom 2.8.1945 sind neben dem KRG Nr. 9 über die IG-Farben-Industrie die Dekartellierungsgesetze Nr. 56 (amerikanische Zone), Nr. 78 (britische Zone), Nr. 96 (französische Zone) sowie Einzelmaßnahmen wie das Gesetz Nr. 75 der Vereinigten Wirtschaftsgebiete über die Umgestaltung des deutschen Steinkohlebergbaus und der Stahl- und Eisenindustrie erlassen worden, siehe dazu Model, Bonner Grundgesetz und Besatzungsstatut, S. 21 .

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§ 2 Die tradierte Bewertung wirtschaftlicher Macht

zuvorderst die Schwächung des wirtschaftlichen Kriegspotentials Deutschlands47, daneben aber -jedenfalls ausweislich der Präambeln der alliierten Verordnungen - auch der Aufbau einer "gesunden und demokratischen" Wirtschaft48 . Die auf die Potsdamer Konferenz zurückgehende alliierte Aufsichtsfunktion über die Dekonzentration wurde sogar noch nach der weitgehenden Selbständigkeit der Bundesrepublik gewahrt: So behielten sich die westlichen Siegermächte in Punkt 2 b des Besatzungsstatuts die Zuständigkeit für das Gebiet der Dekonzentration vor49 und demzufolge sah sich Bundeskanzler Adenauer in einem Schreiben an die Alliierten Hohen Kommissare vom 23.10.1954 noch kurz vor dem Ende der Besatzungszeit zuzusichern genötigt, ein den alliierten Dekartellierungsregeln entsprechendes Gesetz zu schaffen50. Dieses gesellschaftliche Klima, verbunden mit dem Geist des amerikanischen Sherman-Acts, der grundsätzlich die Marktmacht selbst zum Interventionsziel erhebt (näher dazu unten § 16 II 1)51 , sowie den wirtschaftsund gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Freiburger Schule, fand seinen kartellrechtlichen Niedersch1ag52 in dem sog. Josten-Entwurf vom 5.7.194953 . Dieser hatte die Auflösung wirtschaftlicher Macht zum Ziel54 47 Zum Ganzen Günther, Die geistigen Grundlagen des sog. Josten-Entwurfs, S. 186 f.; Kante!Holtschneider, Konzeptionelle Ansätze und Anwendungsprinzipien im GWB, S. 200 ff. 48 Günther, Die geistigen Grundlagen des sog. Josten-Entwurfs, S. 187. 49 Siehe Model, Bonner Grundgesetz und Besatzungsstatut: Nr. 2 des Besatzungsstatuts lautet: "Um die Verwirklichung der grundlegenden Ziele der Besatzung gewährleisten zu können, sind Machtbefugnisse auf den folgenden Gebieten besonders vorbehalten .. . (b) ... die Entflechtung (Dekartellisierung), die Verhinderung der Zusammenballung wirtschaftlicher Machtmittel (Dekonzentrierung) . . .". 5o In: BGBI. TI, 1954, S. 482. 51 Insgesamt nähert sich dieses Verständnis der Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen der Konzeption des Sect. 2 Sherman Act an, der nicht nur die mißbräuchliche Ausnutzung von Marktmacht untersagt, sondern direkt an die - als schädlich empfundene und daher als eigentliches Objekt des Verbots fungierende - Marktposition anknüpft und das "Monopolisieren" von Märkten untersagt. Vgl. dazu Areeda!Tumer, S. 36 ff.; auch Griesbach, BB 1962, 1013. 52 Dem Entwurf zu dem Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik v. 24.6.1948 (Gesetz- und Verordnungsblatt des Wirtschaftsrates, S. 59) läßt sich das selbe Mißtrauen gegenüber wirtschaftlicher Macht entnehmen: ,,Bilden sich wirtschaftliche Monopole, so sind sie zu beseitigen und bis dahin staatlicher Aufsicht zu unterstellen". 53 "Entwurf zu einem Gesetz zur Sicherung des Leistungswettbewerbs und zu einem Gesetz über das Monopolamt". 54 Siehe zum Inhalt Müller, Wettbewerbspolitik, Sp. 1535 f. ; auch Günther, Die geistigen Grundlagen des sogenannten Josten-Entwurfs, S. 183, 188 f., der allerdings darauf hinweist, daß gern § 3 Abs. 3 des Josten-Entwurfs eine zu entflechtende wirtschaftliche Macht dann nicht vorlag, wenn der Marktvorsprung auf "Pionierleistung", "auf Leistungsvorspriingen" oder auf ,,Liebhaberleistung" beruhte. Da-

II. Folgen des Mißtrauens gegenüber wirtschaftlicher Macht

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und wollte dort, wo dies als nicht möglich erschien, die wirtschaftlich Mächtigen zu einem Verhalten zwingen, als ob wirksamer Wettbewerb bestünde (sogenanntes "Als-ob"-Konzept)55 . Damit entsprach er zwar den Vorstellungen der ordoliberalen Schule, doch wegen des immensen Widerstandes des BDI56 und der geringen Chancen, von den Alliierten genehmigt zu werden~i7, verschwand der Entwurf aus der rechtspolitischen Diskussion. Gleichwohl blieb im Laufe der Beratungen des GWB das grundsätzliche Mißtrauen gegenüber wirtschaftlicher Größe erhalten5 8 , wenngleich man auf radikale Lösungen, wie die Entflechtung von Großunternehmen, verzichtete, wohl auch unter dem Eindruck des inzwischen entstandenen Grundgesetzes und der Entwicklung der Europäischen Verträge, welche zwar eine Mißbrauchsregelung, aber keine Zerschlagung, vorsahen59 . Statt dessen wollte man nunmehr mit dem Mittel der Mißbrauchsaufsicht einen "funktionierenden Wettbewerb" simulieren und durch die hoheitliche Durchsetzung "wettbewerbskonformer" Verhaltensweisen wirtschaftliche Macht möglichst zur Auflösung durch die wettbewerbspolitisch unterstützten Kräfte des Marktes bringen60• Damit hatte man sich nur augenscheinmit wurden zwar gewisse Formen der wirtschaftlichen Macht vor ihrer Zerschlagung bewahrt, nicht aber von dem Idealbild des machtfreien Wettbewerbs abgerückt, sondern an einer strengen Beschneidung der Verhaltensspielräume festgehalten. 55 Dazu Eucken, Grundlagen der Wettbewerbspolitik, S. 294 f.: ,,Ziel der Monopolgesetzgebung und der Monopolaufsicht ist es, die Träger wirtschaftlicher Macht zu einem Verhalten zu veranlassen, als ob vollständige Konkurrenz bestünde. Das Verhalten der Monopolisten hat wettbewerbsanalog zu sein". 56 Dazu Müller, Wettbewerbspolitik, Sp. 1535 f. 57 Insbesondere, weil er sich im Bereich der Dekonzentration alliierte Befugnisse anmaßte und mit einem absoluten Kartellverbot der Konzeption der Havanna Charta zuwiderlief, vgl. Günther, Die geistigen Grundlagen des sog. Josten-Entwurfs, s. 197 ff. 58 Nach dem Regierungsentwurf zum GWB vom 22.1.1955, BT-Drs. 2/1158, S. 22, ist das Ziel die Erhaltung des vollkommenen Wettbewerbs in möglichst großem Umfang. Griesbach, BB 1962, 1011, 1013, resümiert, das Angriffsobjekt des GWB wie auch des Sherman Act sei die wirtschaftliche Macht selbst. 59 Namentlich der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (BGBI. Il 1952, S. 445, in Kraft seit dem 23.7.1952) und der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (BGBI. Il 1957, S. 753, in Kraft seit dem 1.1.1958). Die Entwicklung des EWGV wird vom BT- Ausschuß, in: Müller-Henneberg!Schwartz, S. 1167 f., in einem Kapitel über "die Verpflichtungen der Bundesrepublik in zwischenstaatlichen Verträgen" dezidiert dargelegt. Der Gesetzgeber richtete also seinen Blick nicht nur auf die Alliierten, sondern verstärkt auch auf das europäische Gemeinschaftsrecht. 60 Vgl. BT-Ausschuß, in: Müller-Henneberg/Schwartz, S. 1166: ,,Ziel aller wettbewerbspolitischen Maßnahmen gegenüber Oligopolistischen oder zum Oligopol neigenden Marktformen muß stets die Erhaltung oder Herstellung eines Mindestmaß an Wettbewerb sein .. ."; zur Begründung der Mißbrauchsaufsicht über die Leitungsmo3 Kubiciel

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§ 2 Die tradierte Bewertung wirtschaftlicher Macht

lieh der naturrechtliehen Wertlehre von Grotius angenähert, der zufolge ein Monopol nicht gegen das Naturrecht verstößt, wenn es auf einer iusta causa beruht und die Preise des Monopolisten an sich nicht unbillig sind61 • Denn wenn auch der Marktbeherrscher nunmehr nolens volens geduldet werden sollte, stand die Akzeptanz unter der Auflage, daß er sich bei der Preisbildung so zu verhalten habe, "als ob" (vollkommener oder wirksamer) Wettbewerb bestünde62. Dieser Ansatz verdeutlicht, daß Marktmacht zwar einerseits als ein nicht zu verhinderndes Phänomen begriffen wurde63 , das aber andererseits beinahe zwangsläufig zu Mißbräuchen der Macht führe. Insgesamt betrachtete man wirtschaftliche Macht nicht als gewöhnliches Resultat des Wettbewerbssystems, sondern als eine negative Begleiterscheinung, die es zu bekämpfen gelte64•

nopole ist dort (ebendaS. 1165) von der "Unabänderlichkeit der Monopolsituation" die Rede, was beweist, daß das wettbewerbspolitische Ziel in den übrigen Wirtschaftsbereichen die Änderung der Monopolsituation, also der Abbau der Marktmacht, war. Ausdrücklich Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 5, 22 ("Monopolzerstörung durch Förderung des Wettbewerbs"); Scheuner, VVDStRL II, 68 f.: "Da sie (= Eingriffe des Staates gegen marktbeherrschende Unternehmen) auf die Herstellung eines Wirtschaftsbildes abzielen [.. .] handelt es sich nicht um die Beseitigung von Störungen eines natürlichen "marktkonformen" Verhaltens, sondern um die staatliche Gestaltung der wirtschaftlichen Ordnung."; so noch jüngst Schwintowski, ZVgiRWiss 92 (1993), 40. 61 Vgl. zum ganzen Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 296, der darauf hinweist, daß Grotius für die "Billigkeit" in Anlehnung an die aristotelischthomistische Wertlehre die Herstellung von "aequalitas", also eine objektiven vertraglichen Gleichgewichts, verlangte. 62 Regierungsentwurf zum GWB vom 22.1.1955, BT-Drs. 2/1158, S. 22: "Bei diesem Ausnahmen [von der Marktform des vollkommenen Wettbewerbs] erscheint es vor allem wichtig, darauf Bedacht zu nehmen, daß die staatliche Aufsicht in der Richtung des vollständigen Wettbewerbs wirkt [.. .)" . 63 Soweit das Fehlen einer präventiven Fusionskontrolle Schmidt (Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 171) zu der These führt, die Väter des GWB hätten wirtschaftliche Macht nicht als per se schlecht betrachtet, ist dem entgegen zu halten, daß die Nichtnormierung weniger auf einem Vertrauen in die machtbegrenzenden Kräfte des Wettbewerbs beruhen, als auf die erfolgreiche Lobbyarbeit der deutschen Wirtschaft, vgl. zum Einfluß des BOI bei der Verhinderung der Fusionskontrolle in einem der 18 (!) Entwürfe des GWB Lenel, Über private wirtschaftliche Macht, s. 307 f. 64 Klaue, BB 1992, 1937 f., nennt die Mißbrauchsaufsicht über marktbeherrschende Unternehmen ein Zeichen von "Pragmatismus", weil die eigentlich wünschenswerte Auflösung von Monopolen "wohl nicht durchführbar" sei. Dabei vernachlässigt er aber nicht nur die Frage nach den Ursachen von Monopolen (natürliches oder künstliches Monopol, vgl. § 10 IV), sondern verkennt überdies, daß von der Mißbrauchsaufsicht längst nicht nur die Fälle eindeutiger Monopole erfaßt werden, sondern weite Teile nicht-polypolistischer Märkte; zum letzteren Einwand auch Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, S. 299.

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Auch wenn sich darüber diskutieren läßt, in welchem Maße die ursprünglichen Vorstellungen vom Als-ob-Wettbewerb in der Mißbrauchsaufsicht übernommen worden sind65 , hat das grundsätzliche Mißtrauen gegenüber wirtschaftlicher Macht den Wegfall seiner ökonomischen Fundierung durch die Theorie der "vollkommenen Konkurrenz" überdauert66 und findet zumindest in der Anwendung des Ausbeutungsmißbrauchs seine konzeptionelle Umsetzung. Auch Jahre nach lokrafttreten des GWB finden sich denn auch noch Anklänge an das Idealbild des vollkommenen, machtfreien Wettbewerbs und die daraus abgeleitete gesellschafts- und sozialpolitische Aufgabe des Staates, etwa durch Einsatz des Kartellrechts Machtunterschiede tunliehst zu verhindern oder gar zu egalisieren67 bzw. die Unternehmen dazu zu veranlassen, sich so zu verhalten, als ob wirksamer Wettbewerb bestünde68 . Und auch die einem staatlichen Interventionismus kritisch gegenüber stehende Monopolkommission scheint es nachgerade zu bedauern, daß es weder gelungen sei, durch verstärkte Maßnahmen zur "Verbesserung der Marktstruktur" alle marktbeherrschenden Stellungen zu beseitigen69, noch das GWB insgesamt in die Lage versetzt sei, die Planungen der Unternehmen zur Ausrichtung an die Erfordernisse eines wirksamen Wettbewerbs zu zwingen70 •

65 Dazu lmmenga/Mestmäcker-Mösche/, § 19 Rn. 3 mwN, dessen Hinweis auf die Abkehr von der weiter gehenden Ursprungskonzeption durch § 22 GWB zwar zutrifft, jedoch aber die Parallelen dieses Ansatzes zu der praktischen Feststellung eines Preismißbrauches unerwähnt läßt. 66 Paradigmatisch Niederleithinger, Die Verfahren von Mißbräuchen, S. 68 f., der bedauert, daß nicht schon gegen das Erreichen einer marktbeherrschenden Stellung vorgegangen werden kann. 67 Siehe etwa die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht über das Ergebnis einer Untersuchung der Konzentration in der Wirtschaft, BT-Drs. IV/2320, vom 29.12.1964: "Indessen wird ein Konzentrationsvorgang wirtschaftspolitisch in jeden Fall bedenklich, wenn er zu einer marktbeherrschenden Stellung führt. Ein funktionsfähiger Leistungswettbewerb gehört zu den Grundelementen der Sozialen Marktwirtschaft, weil nur dadurch die Preise Steuerungsfunktion in ökonomisch und sozial befriedigender Weise erfüllen können. Die Einschränkung des Wettbewerbs durch Konzentration bedeutet aber nicht nur Einbuße an volkswirtschaftlicher Produktivität, sie gefährdet auch die Erhaltung einer freiheitlichen und sozial befriedigenden Sozial- und Gesellschaftsordnung. Auch gesellschaftspolitisch ist es daher unerwünscht, wenn wirtschaftliche Verfügungsgewalt von einem immer kleiner werdenden Personenkreis ausgeübt wird". 68 Typisch die Sentenz Burckhards (Kartellrecht, S. 110) aus dem Jahre 1995: "Eine besonders wichtige Rolle innerhalb des GWB spielt § 22 GWB. Ziel des Gesetzgebers ist die weitestmögliche Regulierung der Märkte durch den Wettbewerb, möglichst bis zum Zustand der vollkommenen Konkurrenz."; siehe zur Fruchtbarmachung des Verbraucherschutzgedankens auch Reich, ZRP 1975, 159 ff. 69 Monopolkommission, Sondergutachten I, Rn. 18; S. 17. 70 Monopolkommission, Sondergutachten I, Rn. 70, S. 58. 3*

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§ 2 Die tradierte Bewertung wirtschaftlicher Macht

Dies alles zeigt, daß der Umgang mit und die Diskussion über marktbeherrschende Unternehmen bis heute geprägt ist von auf historischen Erfahrungen basierenden negativen Konnotationen. Eine an der Systematik und der Dogmatik der Rechtsmaterie orientierte Auslegung hat dieses Mißtrauen gegenüber wirtschaftlicher Macht und seine Folgen abzulegen, wenn insoweit keine normativen Zwänge bestehen. Diesen soll im Folgenden nachgespürt werden.

Zweiter Teil

Die Grundlagen des Mißbrauchsverbots § 3 Das Schutzobjekt des Mißbrauchsverbots

und der kartellrechtliche Regelrahmen

Wer belastbare Anwendungsleitlinien für das Mißbrauchsverbot des § 19 GWB entwickeln will, muß damit beginnen, die normativen Grundlagen offenzulegen71 . Ein solcher Blick wird sich aber nicht auf die Systematik des § 19 GWB oder des Kartellrechts beschränken können. Vielmehr ist das kartellrechtliche Mißbrauchsverbot selbst in einen Regelrahmen gestellt, über dessen Voraussetzungen und Systemlogiken es sich nicht hinweg setzen kann. Dieser Befund erschließt sich jedoch vollständig nur dann, wenn zuvor Klarheit gewonnen worden ist über das von der Norm geschützte Objekt72 .

I. Das Schutzobjekt des Mißbrauchsverbots Zu Beginn der Suche nach den normativen Grundlagen muß daher eine Antwort gegeben werden auf die Frage nach dem geschützten Rechtsgut, dem Schutzobjekt des GWB und des Mißbrauchsverbots. 1. Diffusion der Schutzobjekte

Als kartellrechtliche Schutzobjekte werden in unterschiedlichen Nuancierungen der Wettbewerb, die Freiheit der Marktakteure und privatrechtliche Institutionen wie die Privatautonomie genannt. Ausgangspunkt ist zumeist die Feststellung, das GWB schütze den Wettbewerb bzw. die Freiheit des Wettbewerbs73 • Auch für das Verbot des § 19 Vgl. Raisch, Zum Begriff des Mißbrauchs, S. 378; Rittner, DB 1970, 718. Auf den Zusammenhang zwischen der Bestimmung des Schutzobjekts des GWB und einer Maßstabsbildung für die Auslegung weist auch K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 65, hin. 73 Bechtold, Einführung Rn. 41 ; Büdenbender, Kartellaufsicht über Energiewirtschaft, S. I f.; Wiedemann-Wiedemann, § I Rn.l; Emmerich, Kartellrecht, S. I f.; Immenga/Mestmäcker-Immenga/Mestmäcker, Ein!. Rn. 3 "Wettbewerb als Entdek71

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§ 3 Mißbrauchsverbot und Regelrahmen

GWB wird die "Sicherung des Wettbewerbs als Institution durch die Gewährleistung der Handlungs- und Wahlfreiheit der Marktteilnehmer" abgehoben74. Davon ausgehend werden in der Literatur unterschiedliche Antworten zur Weite des Schutzes gegeben, die davon abhängig sind, welche Funktionen dem Wettbewerb im einzelnen zugewiesen werden. Durch diese Verknüpfung des Schutzobjekts mit den ihm abverlangten Aufgaben verliert sich die Klarheit im Ausgangspunkt in unterschiedlichen Gewichtungen der Funktionszusammenhänge. Den wohl weitesten Aufgabenbezug stellt Raiser her, nach dessen Auffassung die Mißbrauchsregelung des GWB die auf dem Wettbewerbsprinzip beruhende marktwirtschaftliche Verfassung schütze, welche Freiheit und Gleichheit in Einklang zu bringen versuche75 . Den privatrechtliehen Zusammenhang des GWB apostrophieren Ballersted?6 , der den Schutz der Funktionsfähigkeit privatrechtlicher Institutionen nennt, und Bartholomeyczik77 , der Vertragsgerechtigkeit durch die Herstellung von Waffengleichheit mittels des Kartellrechts herbeizuführen gedenkt. Weniger dogmatischer, als vielmehr "praktischer" Natur sind die Erwägungen in der Gesetzesbegründung, die hervorheben, daß der Wettbewerb nicht per se, sondern wegen seiner wohlfahrtsökonomischen Funktionen (Leistungssteigerung, Güterverteilung) zum geschützten Rechtsgut avanciert78 . Typisch für eine vermittelnde und alle Topoi umschließende Auffassung ist die Ansicht Emmerichs, der zunächst davon ausgeht, das Kartellrecht habe primär die Aufgabe, "den Wettbewerb als Rechtsinstitut, d. h. als Institution der Privatrechtsordnung zu schützen"79. Der Funktionsschutz privatrechtlicher Institutionen solle die Freiheit des einzelnen Marktteilnehmers schützen, was eine "annähernde kungsverfahren"; Langen/Bunte-Bunte, GWB Einführung Rn. 48: Wettbewerbsfreiheit als Folge und zugleich Ziel von Wettbewerb; siehe auch BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128, 17, 34; BGH v. 14.1.1997, WuW/E BGH 3115, 3118; BGH v. 14.l.l997 WuW/E BGH 3121, 3125. Vgl. auch FK-Paschke/Kersten, § 22 Rn. 33, die ergänzend den "Verbraucherschutz" nennen, was aber bereits deswegen zurückzuweisen ist, weil damit die Grenzen zum UWG verwischt würden. 74 FK-Paschke/Kersten, § 22 Rn. 33; ähnlich auch Mestmäcker, AcP 168 (1968), 235, 245; Immenga/Mestmäcker-Möschei, § 22 Rn. II; Monopolkommission, Sondergutachten I, Rn. 19. 75 Raiser, Festschr. f. DJT, S. 101, 132 f. 76 Ballerstedt, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte Band III/1, s. 67. 77 Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 67 ff. 78 BT-Drs. 2/1158, S. 21 ("Tendenz zur Leistungssteigerung", "bestmögliche Versorgung der Verbraucher"); im gleichen Sinne viele Stimmen der Lehre, siehe nur Emmerich, Kartellrecht, S. 2 f., der zwischen "wirtschaftspolitischen" und "gesellschaftspolitischen" Funktionen unterscheidet. 79 Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 1337 f.; ebenso Mestmäcker, AcP 168 (1968), S. 235 ff.

I. Das Schutzobjekt des Mißbrauchsverbots

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Machtgleichheit" zur Voraussetzung habe80• Der ausgreifende und die dogmatische Klarheit verlierende Funktionsbezug zeigt sich jedoch, wenn zudem verlangt wird, "die gesamtgesellschaftliche Funktion des Wettbewerbs" und die Voraussetzungen einer "gerechten Sozialordnung" zu sichem81 • Als Endpunkt der funktionalen Verknüpfung des Rechtsguts kann schließlich die wohlfahrtsökonomische Einschränkung des Schutzversprechens gelten, nach welchem der Wettbewerb nur dort vor Beschränkungen Privater zu schützen sei, wo er "Garant für Leistungsfähigkeit und allgemeine Wohlstandsförderung" sei82 . Diese teils diffuse, teils überbordende Diskussion offenbart bereits eines der Grundübel, an dem die Auslegung der verhaltensbeschränkenden Normen des GWB krankt: Der Schutz des Wettbewerbs ist zwar einhelliger Ausgangspunkt der Gesetzesinterpretation. Da aber offenbar über Zweck und Charakter der Institution "Wettbewerb" keine hinreichende Klarheit herrscht, werden sämtliche Funktionen ineinander verwoben und daraus weitflächige Aufgabenzuweisungen deduziert, die dann zum Maßstab des Schutzversprechens werden. Dies restringiert aber nicht nur den Schutz des Wettbewerbs auf einzelne Funktionszusammenhänge. Vor allem wird der Zweck jeder Rechtsgutbestimmung verfehlt: Die Beschränkung hoheitlicher Eingriffe durch Normen auf die Erreichung eines bestimmten - man möchte angesichts der genannten Topoi hinzufügen: realistischen - Schutzziels. Eine noch schwerwiegendere Auswirkung deutet sich in der gezeigten Verbindung von Wettbewerb mit den ihm unterstellten Folgen schon an: Den genannten Auffassungen vom Schutz des Wettbewerbs liegt ein utilitaristisches Verständnis des (Kartell)Rechts zugrunde83 , von dem aus die Hinwendung zu einer über den Wettbewerb hinausgreifenden, wohlfahrtsökonomischen lnstrumentalisierung des Kartellrechts nicht fern liegt und in der Tat auch vollzogen wird84 . Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, S. 312. Welche die Tauschgerechtigkeit statt einer bloß formal verstandenen Privatautonomie vorsehe, so Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 134 ff. 82 Bechtold, GWB, Einführung Rn. 41; siehe auch Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 125 f., der zwar dem GWB den Schutz der Wettbewerbsfreiheit unterstellt, jedoch nicht als Wert an sich, sondern wegen seiner Anpassungs- und Fortschrittsfunktion. 83 Dazu Mestmäcker, Festschr. f. Böhm, S. 416. 84 Siehe dazu Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 126; kritisch lmmenga, Politische Instrumentalisierung des Kartellrechts?, passim; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 52 f. 80

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Schon hier sollte deutlich geworden sein, daß die Zuweisung diffuser Funktionen und die diffuse Beschreibung des Schutzobjektes die Auslegung funktionsbezogen auflädt und damit ordnungspolitische Gefahren heraufbeschwört. Diesen wird am besten dadurch Einhalt geboten, daß wir uns Klarheit über das Phänomen "Wettbewerb" verschaffen. 2. Institutionenökonomische Analyse

Dazu soll sich dem Wettbewerb institutionenökonomisch genähert werden, das heißt, es wird zu analysieren sein, wie diese gesellschaftliche Institution entsteht und welche Möglichkeiten und Grenzen ihrer Instrumentalisierung existieren. Demgegenüber soll hier nicht der Versuch gewagt werden, mit einer Definition des Wettbewerbs aufzuwarten85 , ist doch dieses Unterfangen nicht nur von vielen als unmöglich bezeichnet worden 86, sondern birgt vor allem die Gefahr, den Schutzumfang und damit Freiheitsgewährleistungen ohne Not "per definitionem" zu verkürzen. Denn nur wenn Klarheit über die phänomenologischen Grundlagen dieses gesellschaftlichen "Ereignisses" herrscht, läßt sich daran anschließend die Frage knüpfen, ob und wie der Wettbewerb normativ definiert werden kann und ob normativ erwünschte Wettbewerbsfunktionen herbeigeführt werden können87 . In der Wirtschaftswissenschaft ist von ordoliberaler Seite die Sichtweise vertreten worden, der Wettbewerb sei eine "staatliche Veranstaltung" bzw. eine "staatliche Aufgabe"88 . Wenn auch die Anhänger dieser Auffassung keineswegs die Marktwirtschaft zugunsten einer staatlich gesteuerten Planwirtschaft abschaffen wollen, so ist doch der hoheitliche Einfluß auf den Wettbewerb insoweit ganz erheblich, als der Staat nach dieser Auffassung als Initiator und Moderator des Wettbewerbs aufzutreten scheint. Die Terminologie spiegelt dabei eine gefährliche Wahrnehmung des Wettbewerbs wider: Danach kann man den Wettbewerb als ein von den 85 Überblick bei Langen/Bunte-Bunte, Einf. Rn. 63 ff.; Baur, ZHR 134 (1970), 97 ff. 86 Vgl. Emmerich, Kartellrecht, S. 10; Gassner, Kartellrecht, S. 3. 87 Auch der erwähnte Streit über die Definition des "Wettbewerbs" offenbart den Versuch, ein gesellschaftliches Faktum in eine begriffsjuristische Form zu gießen, welche möglicherweise dem materiellen Gehalt des Phänomens gar nicht gerecht wird. 88 So namentlich Miksch, Wettbewerb als Aufgabe, S. II f., der den Wettbewerb "als staatliche Veranstaltung" bezeichnet; siehe auch Böhm, Monopolkampf, S. 189. Diese Auffassung ist auch von der Kartellrechtswissenschaft übernommen worden, so etwa Emmerich, Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, S. 136, der betont, Wettbewerb sei nichts zufälliges, sondern eine "rechtliche Veranstaltung", eine Institution eigener Art; siehe auch Raiser, Rechtsschutz und Institutionenschutz, S. 157; vgl. dazu Cassel/Rauhhut, S. 8.

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Individuen abstrahiertes und gleichsam überpersönliches Wesen ansehen, das als "Lenkungsinstrument" in erster Linie deshalb existiert, weil es für das Gemeinwohl, den Staat oder die Volkswirtschaft vorteilhafte Ergebnisse generiert. Es liegt daher in der Konsequenz dieser Sichtweise, daß der Wettbewerb nicht als Wert an sich geschützt wird89, sondern vielmehr als Instrument zur Erreichung optimaler wirtschaftlicher Ergebnisse eingesetzt wird. Freilich suggeriert die Sentenz vom "Wettbewerb als staatliche Veranstaltung" ein hoheitliches Einflußpotential, das sich realiter viel geringer und bescheidener ausnimmt. Man muß sich zunächst über die Tatsache im klaren sein, daß Wettbewerb "unvermeidbar" ist. In einer Welt der Knappheit und des Vorauseilens der Wünsche vor den Mitteln der Befriedigung können sich die Menschen gar nicht entscheiden, ob sie mit oder ohne Zuteilungsmechanismus leben wollen 90. Vielmehr verbleibt ihnen nur die Wahl entsprechender Regeln. Ist somit jede Gesellschaft auf irgendeine Form von Rationierungsverfahren angewiesen, kann sie sich natürlich auch de iure für eine wettbewerbsfeindliche Planwirtschaft entscheiden, doch vermag dies den Wettbewerb nur zu verlagern, nicht zu verhindern. Da nämlich alle gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme nicht nur einen internen Wettbewerb generieren, den man ausschalten zu können glaubt, sondern auch selbst einem externen Wettbewerb der verschiedenen Ordnungssysteme ausgesetzt sind, kann sich de facto weder ein einzelnes Unternehmen noch eine Volkswirtschaftlich dem Systemwettbewerb der Umgebung verschließen, der notwendigerweise auch Einfluß auf die Verhältnisse innerhalb der eigenen Ordnung ausübt91 • Der fundamentalste und kategorischste Einwand gegenüber einem apersonalen Verständnis, nach welchem der Wettbewerb als "staatliche Veranstaltung" von diesem nicht nur moderiert, sondern initiiert und gelenkt wird, ergibt sich jedoch aus der überzeitlichen Dimension des transgenerational tradierten menschlichen Antriebs zum Wettbewerb92 . Namentlich v. Hayek hat nachgewiesen, daß gesellschaftliche Institutionen im weitesten Sinne, namentlich der Wettbewerb, als unbeabsichtigte Ergebnisse individuellen Handeins generiert werden, also einem spontanen und kollektiven "trial and So deutlich Langen/Bunte-Bunte, Einführung zum GWB Rn. 48. So Vanberg, Unvermeidbarkeil des Wettbewerbs, S. 187 f.; bereits Smith, Wohlstand der Nationen, S. 371, hat am Beispiel des Merkantilismus erkannt, daß der Ausschluß des Wettbewerbs nicht etwa die eigene Volkswirtschaft schützt, sondern ihr vielmehr Schaden zufügt. 91 Dazu Vanberg, Unvermeidbarkeil des Wettbewerbs, S. 191 ff. 92 Zum menschlichen Urtrieb "Wettbewerb" vgl. Hoppmann, Zum Problem einer wettbewerbspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, S. 14; Fikentscher, BB 1956, 796 sowie Rittner, AcP 188 ( 1988), 117. 89 90

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error"-Prozeß entspringen, welcher seinerseits von individuellen Handlungen und Motivationen angetrieben wird93 . Die gesellschaftliche Evolution kreiert also Ordnungen und stellt sie im Fortgang zugleich wieder in Frage. Ordnung und Evolution sind also "Zwillingsideen"94• In einem solchen evolutorischen Systems existieren demnach - abgesehen von den humanen Grundbedingtheilen der Menschheit, wie die Art der Wahrnehmung der Außenwelt und die Verarbeitung dieser Informationen durch unsere Spezies keine Determinanten, welche den Menschen durch überindividuelle Instanzen oktroyiert werden und die Art ihres Zusammenlebens unausweichlich vorbestimmen95. Dieser Erklärungsansatz von Institutionen deckt sich mit dem "methodologischen Individualismus" Schumpeters96, der für die Untersuchung sozialer Erscheinungen den Blick auf das Handeln Einzelner in ihrem Verhältnis und in ihrer Abhängigkeit von den Nebenmenschen richtete und gesellschaftliche Entwicklungen nicht etwa mit - unterstellten überindividuellen Interessen und Allgemeinwohlerwägungen erklärte. Auch entscheidungspsychologisch entpuppen sich volkswirtschaftliche Denkkategorien wie der Wettbewerb nicht als abstraktes Wesen, sondern als Ausfluß individuellen Verhaltens. All dies zeigt, daß es nicht etwa gesellschaftliche Institutionen sind, die vom Staat initiiert werden müßten und sich dann selbstständig "verhalten", sondern Menschen. Hinter ökonomischen Begrifflichkeiten verbirgt sich somit aggregiertes individuelles Verhalten97 • Daß sich solche auf individuellen, psychologischen Entscheidungen beruhende Phänomene durch exogene Beeinflussung staatlicher Instanzen nur unzureichend determinieren lassen98, ist eine zwar ernüchternde, keineswegs aber 93 So namentlich v. Hayek, ORDO Bd. 14 (1963), S. 3 ff.; Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, S. 30; Radnitzky, HJbWiGeP, Bd. 29, 1984, S. 9 ff., auch Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S. 5 ff.; Hoppmann, Preiskontrolle und Als-Ob-Wettbewerb, S. 6, ähnlich bereits auch Smith, Wohlstand der Nationen, s. 16. 94 Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 336. 95 Siehe Radnitzky. aaO. % Schumpeter, Wesen und Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, s. 88 ff. 97 Vgl. Kirchler, Wirtschaftspsychologie, S. 12. 98 Vgl. zum ökonomischen Prozeß auch Hesse/Koch, in: Weber, Wirtschaftswissenschaften, S. 503 f., wonach Entscheidungen gern. dem Prinzip der kognitiven Kreativität auf Selektion und Variation von individuellen Handlungsmöglichkeiten beruhten, so daß normative Vorgaben die Handlungsgrundlagen zwar beeinflussen, aber in diesem Verfahren verwässert und relativiert werden (vgl. aaO, S. 506); siehe auch Kirchler, Wirtschaftspsychologie, S. 13: "Ein deterministisches Modell, das die Rolle der handelnden Person ignoriert, entspricht auch dem Weltbild dem die Praktiker der Wirtschaftspolitik nur zu gern anhängen . .. Tatsächlich ist jedoch der Mensch in der Mitte zwischen seiner Umwelt und dem ökonomischen Ergebnis seines Verhaltens voll von Eigensinn. Er ist beherrscht von Vorurteilen, launisch, impulsiv, und schlecht informiert". Somit stehen Erkenntnisse der Soziologie und Psy-

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fatalistische Erkenntnis. Vielmehr öffnet sie die Augen für die Grenzen und Möglichkeiten staatlicher Interventionen in gesellschaftliche Institutionen. Demnach unterliegt der Wettbewerb dem Gesetz der Veränderung. Er entspringt nicht einer staatlicher Entscheidung oder einem wirtschaftstheoretischen Modell, sondern ist ein schlichter Reflex individueller Handlungen in einem bestimmten sozialen Kontext99 . Wer also in ihn eingreifen will, muß sich daher vergegenwärtigen, daß er kein makroökonomisches Steuerungsinstrument verwendet, sondern Verhaltensspielräume von Individuen beschneidet, aus deren gesellschaftlicher Gesamtwirkung eine Ordnung der Privatrechtsverhältnisse und der Wirtschaft ensteht. Wettbewerb hat somit bei Betrachtung des Phänomens die Struktur aggregierter Freiheitsbetätigungen unzähliger Einzelner 100• Durch diese Rückführung des Phänomens "Wettbewerb" auf seine institutionelle Bedeutung als Prozeß wird zugleich deutlich, daß die Feststellung eines freien wettbewerbliehen Entdeckungsverfahren nicht ihrerseits nur auf einer normativen Setzung beruht 101 , sondern sich auf der faktisch-soziologischen Erkenntnis der Unvermeidbarkeit, Spontanität und Ergebnisoffenheit des Wettbewerbs gründet. Ob man - umgekehrt- dieses Wettbewerbsverständnis auch normativ begründen kann, ist eine andere Frage und soll später unter § 8 untersucht werden. Zurückgestellt werden muß auch die Betrachtung des .,Iogos", des Geistes und der gestaltenden Kraft, des dahinfließenden, sich und die Umwelt verändernden Wettbewerbs (dazu § 5 III). Schutzobjekt des Mißbrauchsverbots und des GWB ist somit der Wettbewerb als von Individuen geschaffene, gesellschaftliche Institution. II. Der kartellrechtliche Regelrahmen und seine Auswirkungen auf die weitere Untersuchung

Freilich soll mit dem Verweis auf den spontanen und dezentralen Charakter des Wettbewerbs keineswegs in Abrede gestellt werden, daß der Wettbechologie der Auffassung von einem auf ein Ziel ausgerichteten, staatlich initiierten und beeintlußten Wettbewerb entgegen. 99 Siehe auch Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 347: "Das Marktssystem ist ein Phänomen organisierter Komplexität."; Möschel, JZ 1975, 394, jeweils mit weiteren Nachweisen. 100 Mit dieser Sichtweise auf das Schutzobjekt "Wettbewerb" erledigt sich auch der alte Streit um den "Individual- oder Institutionenschutz" des GWB durch die Zusammenführung beider Sphären; vgl. dazu K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 63 ff.; Immenga/Mestmäcker-Zimmer, § I Rn. 8 mwN; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 75 f. Zudem verkennt die Trennung, daß es sich bei beiden Schutzrichtungen um die sprichwörtlichen Seiten derselben Medaille handelt, die beide aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig bedingen. 101 So aber wohl der Vorwurf Möschels, ORDO 32 ( 1981 ), S. 89.

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werb eines rechtlichen Regelrahmens bedarf, ja daß die Teilnehmer dieses Entdeckungsverfahrens auf solche Regeln angewiesen sind. Tatsächlich stellt sich der Wettbewerb in unserer Gesellschaft als "Transaktionen in einem konkreten rechtlich-institutionellen Umfeld" dar 102• Auch das GWB ist Bestandteil eines solchen rechtlichen Umfeldes, sieht sich aber zugleich auch in eine bestehende Rechtsordnung hineingestellt, deren Grundprinzipien es zu respektieren hat. Im Folgenden wird es nun darum zu tun sein, die für die Verhaltensspielräume im Wettbewerb relevanten Regelordnungen abzuschichten und danach zu fragen, ob und welchen eigenständigen normativen Wertgehalt das Regelungssystem des GWB aufweisen könnte. 1. Der außerkartellrechtliche Regelrahmen

Klar ist zunächst, daß die Wettbewerbsakteure - schon zur Senkung von Transaktionskosten - einen Regelrahmen benötigen, auf dessen Grundlage sie ihren täglichen Handel durchführen können und der auch durch eine staatliche Durchsetzungsinstanz bewährt ist. Dies ist in erster Linie das Ordnungssystem des Privatrechts, stellt es doch mit den Instituten "Vertrag" und "Eigentum" die wichtigsten Voraussetzungen für einen marktwirtschaftliehen Entdeckungsprozeß bereit 103• Der Wettbewerb setzt sich somit aus einer Vielzahl einzelner Transaktionen auf Grundlage dieses privatrechtliehen Ordnungssystems zusammen. Wenn das GWB die Freiheit des Wettbewerbs schützen soll, gilt es die Funktionsvoraussetzungen dieser individuellen Transaktionen zu sichern, insbesondere die Vertragsfreiheit der Einzelnen 104• § 19 GWB hat somit zuvorderst an diese privatrechtliche Dimension anzuknüpfen und muß die Fähigkeit der Privatrechtsinstitutionen zur Ausfüllung individueller Freiheit und zur Schaffung einer dezentralen Ordnung sichern. Diese Norm findet somit einerseits ihre Aufgabe in der Sicherung dieser Funktionen. Sie ist andererseits aber in den privatrechtliehen Regelrahmen hineingestellt. Im Gegenzug erlangt damit das Ordnungssystem des Zivilrechts normative Bedeutung auch und gerade für das zu seinem Schutz bestellte Mißbrauchsverbot des § 19 GWB. Aus diesem Kirchner, Festschr. f. Schmidt, S. 33. Das Ordnungssystem des Privatrechts erschließt sich zwar einerseits durch eine Betrachtung seiner grundlegenden Wertsetzungen und seiner Rationalität, zugleich gilt es aber auch jüngere Entwicklungen - außerhalb und innerhalb des BGB - wie den Verbraucherschutz entsprechend einzuordnen (dazu ausführlich §§ 5, 6). 104 Bereits Mestmiicker ist zu der Überzeugung gekommen, es sei unerläßlich, die Ordnungsgedanken des Privatrechts im Rahmen der Auslegung des GWB zu entfalten, wobei von einem institutionellen Gehalt der privatrechtlicher Normen zwar gesprochen werden könne, doch weder die Privatautonomie noch andere subjektive Rechte auf gesellschaftliche Funktionen reduziert werden sollten, siehe Mestmiicker, AcP 168 (1968), S. 238 f.; ihm folgend Ballerstedt, Festschr. f. Hefermehl, S. 52. 102 103

II. Der kartellrechtliche Regelrahmen

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Grund sind das Privatrecht und die Nonnen und Verbote des Kartellrechts wahrhaft komplementäre Größen 105 . Zum zivilrechtliehen Ordnungsrahmen treten die Wertungen unserer Verfassung, welche den gesellschaftlichen Vertrag nachzeichnen, auf dessen Grundlage sich der skizzierte evolutorische Prozeß vollzieht 106• Daher muß sich das Kartellrecht, wenn es die Privatautonomie des Einzelnen und das zivilrechtliche Ordnungssystem insgesamt schützen möchte, an die Nonnativität der Verfassung halten und insbesondere die Wertvorstellungen der Grundrechte inkorporieren 107• Dabei wirken die Grundrechte nicht nur als Abwägungstopoi bei der Auslegung des § 19 GWB. Es gilt viel grundsätzlicher die Wertvorstellungen unserer Verfassung, namentlich die "Kompetenzverteilung zwischen Staat und Individuum", für die Auslegung des § 19 GWB fruchtbar zu machen, der als staatliche Interventionsnorm in den dezentralen Ordnungsmechanismus eingreift. Bei aller zugestandenen Einwirkung des Verfassungsrechts auf das Privatrecht sei aber schon hier darauf hingewiesen, daß dem Privatrecht, insbesondere dem BGB, ein eigenes Wert- und Ordnungssystem zugrunde liegt, in welches das Verfassungsrecht zwar bisweilen korrigierend eingreifen muß, das aber einen "ungeschichtlichen Neuanfang'" 08 bzw. großangelegte Uminterpretationen tradierter Institute verhindert (dazu unten § 6). Einer genaueren Überprüfung harrt noch die Frage, ob hinsichtlich der Besonderheiten der gasversorgenden Unternehmen auf den Regelrahmen des Energierechts zurückgegriffen werden kann. Der Einfluß dieser "außerwettbewerblichen Ziele" bedarf einer besonderen Prüfung (unten § 17). 2. Eigenständige kartellrechtliche Wertsetzungen für den Mißbrauchsbegriff?

Schließlich könnte für das hier in Rede stehende Mißbrauchsverbot das Kartellrecht selbst einen relevanten Ordnungsrahmen enthalten. Zutreffend ist nämlich die Erkenntnis, der Wettbewerb lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne 109• Die Sicherung des Wettbewerbs ist somit nicht nur eine Notwendigkeit des privatrechtliehen und verfassungsrechtlichen Regelrahmens, sondern hat einen eigenen Ausdruck in den NorVgl. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, S. 129. Auch Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 13, betont den Zusammenhang zwischen der Privatrechts- und der Verfassungsordnung, die für die Abläufe in der Gesellschaft eine "funktionale Einheit" bildeten. 107 Siehe nur Hoffmann-Riem, S. 13 ff., der von der "Rahmenordnung" des Privatrechts spricht. 108 Mestmäcker, AcP 168 (1968), S. 240. 109 Gassner, Kartellrecht, S. I. 105

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men des GWB gefunden. Da sich aber der Wettbewerb in dem vom Privatrecht und dem Grundgesetz bereitgestellten Formen und Verhaltensspielräumen vollzieht, gilt es hier zu untersuchen, ob das Kartellrecht das Schutzobjekt "Wettbewerb" mit einem eigenständigen normativen Gehalt ausstattet und nur eine besondere Form des Wettbewerbs schützt 110• Die institutionenökonomische Analyse hat zwar zu einer nachdrücklichen Warnung vor einer normativen Aufladung im Zusammenhang mit Wettbewerbsfunktionen geführt (I 2). Dennoch lassen sich Versuche aufzeigen, im GWB und dem Mißbrauchsverbot ein bestimmtes Modell des Wettbewerbs zu implementieren. Wenn das dem GWB zugrunde liegende Ordnungssystem mit dem Begriff der "Wettbewerbswirtschaft" 111 bezeichnet wird, werden auf diese Weise zunächst die wettbewerbliehen Vorgänge beschrieben, die sich der Mittel des Privatrechts - ergänzt um die Wertungen der Verfassung - bedienen. Für einen gesonderten kartellrechtlichen Wertrahmen und einen daraus folgenden engeren Ordnungsrahmen bliebe aber dann Raum, wenn durch solche Begrifflichkeiten eine a priori-Verengung des Wettbewerbsverständnisses auf eine bestimmte Art und Weise des Verhaltens erfolgt. · Namentlich im Begriff des "Leistungswettbewerbs" könnte eine solche Verengung gesehen werden 112• Ausgehend vom Diskriminierungsverbot des § 26 GWB a. F. gibt es Bestrebungen, generalisierende wettbewerbspolitische Maßstäbe gegenüber nachteiligen Auswirkungen des Verhaltens marktmächtiger Unternehmen auf die Wettbewerbsmöglichkeiten ihrer Konkurrenz zu entwickeln, um den Restwettbewerb vor der "machtbedingten Verschlechterung" zu schützen 113• Besondere Bedeutung hat der Terminus des "Leistungswettbewerbs" zwar für den Behinderungswettbewerb gewonnen (dazu § 15 1), doch erfährt er seine übergeordnete Bedeutung dadurch, das mit seiner Hilfe letztlich Verhaltensweisen im Wettbewerb festgeschrieben werden, von deren Einhaltung man sich den "Schutz des Wettbewerbsbestandes" verspricht 114• Diese Tendenz zur positiven Beschreibung wettbewerbliehen Verhaltens wird dabei durch die Unklarheit über den normativen 110 Daran zweifeln lassen Aussagen, nach denen ein weitreichender Schutz gegen die vom GWB erfaßten Verhaltensweisen auch auf Grundlage der Generalklauseln des BGB hätte erfolgen können, siehe K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. I03 f. 111 Tätigkeitsbericht 1958 BKartA, BT-Drs. 3/1000, S. 7; darauf Bezug nehmend Langen/Bunte-Bunte, Einführung zum GWB Rn. 46. 112 Grundlegend Ulmer, GRUR 1977, 565 ff.; siehe auch Langen/Bunte-Bunte, Einführung zum GWB Rn. 70 f., wonach dem Begriff auch für das GWB eine "sachlich begrenzte Bedeutung" zukommt. 11 3 Insbesondere Ulmer, GRUR 1977, 565 ff.; kritisch dazu Immenga/Mestmäcker-Mösche/, § 19 Rn. 103. 114 So Ulmer, GRUR 1977, 566.

11. Der kartellrechtliche Regelrahmen

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Inhalt des eigentlich verbotenen Nichtleistungswettbewerbs 115 und insbesondere des übergeordneten Mißbrauchsbegriffs 116 noch verstärkt. Damit ist letztlich eine Umkehrung der Normfunktion herbeigeführt worden: Statt mißbräuchliche Handlungen zu identifizieren und zu verbieten, werden zulässige Wettbewerbshandlungen und damit der Schutzgegenstand an sich determiniert. Diese normative Fixierung zulässiger Verhaltensweisen im Wettbewerb bricht sich aber an dem konzedierten spontanen und ergebnisoffenen Charakter des Wettbewerbs. Resultat eines solchen Vorgehens ist, daß bei einer Verengung des Wettbewerbsverständnis das GWB zu einem Gesetz zum Schutz vor Wettbewerb avanciert 117 und Verhaltensspielräume auch dort beschnitten werden, wo dies weder von der Verfassung noch vom Ordnungssystem des Privatrechts geboten ist. Diesen Gefahren wird am effektivsten dadurch begegnet, daß man den Rahmen der relevanten Bezugspunkte, anband derer dann die Mißbrauchsprüfung erfolgt, weit faßt und demzufolge den Mißbrauch im Sinne des § 19 GWB nicht an einer positiven Vorstellung zulässiger Wettbewerbshandlungen mißt. Vielmehr ist davon auszugehen, daß das GWB ein Phänomen schützt, welches aus dem freiheitlichen und spontanen Handeln der Privaten auf Grundlage und innerhalb der Grenzen der Verfassungs- und Privatrechtsordnung resultiert. Eine besondere normative Aufladung des Wettbewerbsverständnisses durch das GWB ist somit zu verwerfen. 3. Zusammenfassung

Die Untersuchung der kartellrechtlichen Grundlagen muß uns folglich weitgehend mit einem Verweis auf das Privat- und Verfassungsrecht sowie auf ökonomische Modelle trösten. Damit soll zwar nicht der eigenständige normative Gehalt des GWB geleugnet werden. Dieser normative Gehalt ist der Schutz des Wettbewerbs und führt die Untersuchung zwangsläufig zurück zu den "Spielregeln", nach denen sich die einzelnen Wettbewerbshandlungen - und damit auch der Wettbewerb - vollziehen. Diese Spielregeln des "kartellrechtlichen Regelrahmen" sollen im Folgenden aufgearbeitet werden.

Dies gesteht auch Ulmer, GRUR 1977, 567, ein. Vielsagend Eucken, Grundlagen der Wirtschaftspolitik, S. 247 ff., der denn auch für die weitere Bedeutung des Begriffes auf das ökonomische Modell der vollkommenen Konkurrenz verweist 117 So auch Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 330. 115

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§ 4 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Mißbrauchsverbot

§ 4 Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Auslegung des Mißbrauchsverbots Aus normhierarchischen Gründen beginnt die Untersuchung der rechtswissenschaftlichen Grundlagen des § 19 GWB mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Mißbrauchsverbot. Dabei soll zunächst der Frage nachgegangen werden, ob sich das Grundgesetz explizit zu dem Phänomen wirtschaftlicher Macht äußert (1), bevor wir uns dem Schlagwort der "wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetz" nähern (II) und aus den Grundrechten Vorgaben für die Behandlung der Marktbeherrschung durch § 19 GWB filtrieren werden (III). Schließlich soll auch die für das Verhalten im Wettbewerb wichtige grundgesetzliche "Kompetenzverteilung" von Staat und Einzelnem dargelegt werden (IV).

I. Zum materiellen Gehalt des Art. 74 Nr. 16 GG Ein dem § 19 Abs. 1 GWB vergleichbarer Wortlaut findet sich auch in der Verfassung. Art. 74 Nr. 16 GG weist die Aufgabe der "Verhütung des Mißbrauchs einer wirtschaftlichen Machtstellung" der konkurrierenden Gesetzgebung zu. Diese Norm ist die verfassungsrechtliche Kompetenzvorschrift, auf die das Kartellrecht und auch das Mißbrauchsverbot des § 19 GWB gestellt werden kann 118 . Einige Stimmen entnehmen Art. 74 Nr. 16 GG aber auch die Kompetenz zur Auflösung wirtschaftlicher Machtpositionen und verweisen darauf, daß die "Verfassung nicht das eine bekämpfen, das andere aber tolerieren könne" 119. Man mag dieser Auffassung für die Auflösung eines vom BKartA untersagten Zusammenschlusses (§ 41 Abs. 3 GWB) noch zustimmen. Hinsichtlich der zulässiger Weise entstandenen Marktmacht und ihrer Aufsicht durch § 19 GWB verwischt diese Interpretation aber bereits den Unterschied zwischen Mißbrauch und bloßem Gebrauch von Marktmacht120. Schon aus der Systematik der Vorschrift läßt sich also ableiten, daß eine verfassungsrechtliche Kompetenz zur Auflösung einer marktbeherrschenden Stellung dem Art. 74 Nr. 16 GG nur dann entnommen werden könnte, wenn dies der verhältnismäßige Weg zur Prävention eines zu erwartenden Mißbrauchs wäre 121 oder aber der endgültigen Abstellung ei118 Stettner, in: Dreier, GO, Art. 74 Rn. 75; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GO, Art. 74 Rn. 35. 119 Stettner, in: Dreier, GO, Art. 74 Rn. 76; so auch Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GO, Art. 74 Rn. 35. Anderer Ansicht hingegen Maunz, in: Maunz/Dürig, GO, Art. 74 Rn. I 92. 120 Maunz, in: Maunz/Dürig, GO, Art. 74 Rn. 192; ebenso: v. Münch, in: v. Münch/Kunig; GO, Art. 73 Rn. 68.

II. Die "wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes

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nes bereits erfolgten Mißbrauchs (etwa der Umgehung einer Zusammenschlußuntersagung) diente 122• Der Blick auf den Art. 74 Nr. 16 GG führt somit nicht viel weiter, als zu der Erkenntnis, daß auch die Verfassung für die Gefahren des Mißbrauchs von Marktmacht sensibilisiert ist und die Kompetenz zur Vorbeugung und Gefahrenabwehr bereitstellt 123 . Hilft mithin die explizite Erwähnung von Marktmacht im Grundgesetz nicht weiter, sind im Folgenden abstraktere Wertungen der Verfassung auf ihre Aussagekraft für das kartellrechtliche Mißbrauchsverbot zu durchleuchten.

II. Die "wirtschaftspolitische Neutralität" des Grundgesetzes als das Fehlen positiver wirtschaftstheoretischer Vorgaben Der janusköpfige Charakter des Art. 74 Nr. 16 GG - Anerkennung von Marktmacht, Verhinderung des Mißbrauchs - ist weder geeignet, grundsätzliche Aussagen zur wirtschaftspolitischen Couleur des Grundgesetz zu machen, noch kann er bei der Suche nach Interpretationshilfen für § 19 GWB fruchtbar gemacht werden. Es hieße daher die Kompetenznorm überzuinterpretieren, wenn man aus ihr eine materielle Wertung für eine im Grundgesetz angelegte Wirtschaftsverfassung entnehmen wollte 124• Es ist vielmehr nahezu unbestrittenen, daß sich der Verfassung explizit kein Wirtschafts- oder Wettbewerbskonzept entnehmen läßt und die Verfassung den Gesetzgeber auch nicht zur Einhaltung einer systemkonformen bzw. ordnungspolitisch sinnvollen Wirtschaftspolitik verpflichtet 125 • Für das 121 Auf die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips explizit hinweisend v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG. Art. 74 Rn. 68. 122 In diese Richtung, wenngleich immer noch zu weitgehend Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 74 Rn. 59. 123 Zu den von Art. 74 Nr. 16 GG umfaßten rechtlichen Mitteln Oeter, in: v. Mangold/Klein/Starck, GG, Band 2, Art. 74 Rn. 144 mit weiteren Nachweisen. 124 Demgegenüber erliegt Tsiliotis, Der verfassungsrechtliche Schutz der Wettbewerbsfreiheit, S. 46, der Versuchung, aus der Kompetenznorm Rückschlüsse auf die wirtschaftsverfassungsrechtliche Wertentscheidung des GG zu ziehen. Dabei verkennt er, daß die zweifelhafte Umdeutung der Kompetenznorm in eine Vorschrift mit materiellem Gehalt nicht zu weitreichenden Erkenntnissen führt und die eigentliche interessante Frage, was man unter einem Mißbrauch zu verstehen hat, offenbleibt. 125 Statt vieler Manssen, in: v. Mangoldt/Klein/Stark-, Art. 12 Rn. 29; Scholz. in: Maunz/Dürig, Art. 12 Rn. 77 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen; ebenso die stdg. Rspr. des BVerfG v. 20.7.1954, BVerfGE 4, 7, 17 f.; Urteil v. 11.6. 1958, BVerfGE 7, 377, 400; Urteil v. 21.2.1962, BVerfGE 14, 19, 23; Urteil v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290, 336. Anderer Ansicht noch Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, S. 64, der davon ausging, daß dem freiheitlichen sozialen Rechtsstaat notwendig und allein die soziale Marktwirtschaft entspreche und diese institutionell garantiert sei. 4 Kubiciel

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§ 4 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Mißbrauchsverbot

kartellrechtliche Mißbrauchsverbot ist damit immerhin schon soviel gewonnen, als deutlich wird, daß die Verfassung kein bestimmtes wettbewerbstheoretisches Leitbild, etwa in Gestalt einer bestimmten Marktform, vorgibt126. Damit verpflichtet das Grundgesetz explizit weder zu der staatlichen Durchsetzung eines möglichst machtfreien, andererseits aber auch nicht zu einem weitgehend staatsfreien Wettbewerb. Von diesem Ausgangspunkt hat das BVerfG den mißverständlichen und oft mißverstandenen Satz geprägt, das Grundgesetz sei wirtschaftspolitisch offen bzw. neutral 127• Doch darf Neutralität nicht im Sinne einer Wertfreiheit oder Offenheit in alle Richtungen verstanden werden. Denn eine Betrachtung der Grundrechtsgewährleistungen zeigt, daß jedes Verhalten von Grundrechtsträgern- und damit grundsätzlich auch das unternehmerische 128 - vom Grundgesetz als schutzwürdige Freiheitsgewährleistung angesehen wird, deren gesetzliche Beschränkung ihrerseits vor der Verfassung gerechtfertigt sein muß 129. Diese umfassende Freiheitsgewährung durch das Grundgesetz reflektiert - bewußt oder unbewußt - die Erkenntnis, daß gesellschaftliche Institutionen nicht der planenden und gestaltenden Hand einer zentralen Instanz entspringen, sondern vielmehr eine ungeplante und unbeabsichtigte Folge menschlicher Handlungen sind und daß demzufolge ein weitreichender Schutz der individuellen Freiheit auch die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt befördert (§ 3 I 2) 130. Damit relativiert sich das Schlagwort von der "wirtschaftspolitischen Neutralität" auf die Feststellung, daß die rechtliche Zulässigkeil der Wirtschaftspolitik nicht an der Durchsetzung wettbewerbstheoretischer Leitbilder gemessen werden kann. Mit dem Zwischenergebnis, daß die Verfassung insoweit neutral ist, als daß sie keine positiven Vorgaben für eine Wirtschaftsordnung enthält, ist die Diskussion an den Ausgangspunkt der Überlegungen zurückkehrt. Bliebe man an dieser Stelle stehen, so wäre die Diskussion um die "wirt126 Ausdrücklich auf die Unabhängigkeit volkswirtschaftlicher Erkenntnisse abstellend BVerfG, Urteil v. 20.7.1954, BVerfGE 4, 7, 17 f.; Urteil v. 11.6.1958, BVerfGE 7, 377, 400. 127 Stdg. Rspr. seit BVerfG v. 20.7.1954, BVerfGE 4, 7, 17 f.; BVerfG v. 7.4.1964, BVerfGE 17, 306, 313 f.; auch BVerfG v. 1.3.1979, NJW 1979, 699, 702; für die insoweit folgende Literatur etwa Erichsen, in: HdBStR § 152 Rn. 9. 128 Zur Frage der Grundrechtsfähigkeit rechtsfähiger und teilrechtsfähiger Organisationseinheiten nach Art. 19 III GG, vgl. Krebs, in: v. Münch/Kunig, Art. 19, Rn. 27 ff. 129 Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 17. Auflage, Heidelberg 1990, Rn. 288: Grundrechte gewähren "positive Freiheit" der Bürger, frei und selbstverantwortlich ihr Leben zu gestalten. IJO Zu dieser Erkenntnis v. Hayek, ORDO Bd. 14, S. 3 ff.; Radnitzky, in: HamJbWGPo 1984, S. 9 ff.

lll. Grundrechte und freiheitliche Wirtschaftsverfassung

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schaftspolitische Neutralität" in der Tat wenig ergiebig und böte kaum Erkenntnisse für die Auslegung wirtschaftsrechtlicher Normen. 111. Die Grundrechte als Spiegelbild einer freiheitlichen Wirtschaftsverfassung

Wenn aber der Verfassung explizit nicht mehr zu entnehmen ist, als daß der Staat im Umgang mit wirtschaftlicher Macht nicht positiv verpflichtet ist, bestimmten wirtschaftspolitischen Leitbildern zu folgen, delegiert diese Enthaltsamkeit die Gesamtproblematik damit in den Bereich der Grundrechte, welche statt positiver Vorgaben zunächst nur negativ den Rahmen umreißen, in welchem sich das Kartellrecht im aUgemeinen und das Mißbrauchsverbot des § 19 GWB im besonderen zu halten haben. Mit dem verfassungsrechtlichen Paradigma, daß alle gesetzgebefischen Entscheidungen ihre Grenzen in den Freiheits- und Gleichheitsrechten der Grundrechtsberechtigten finden, ist den Verfassungsorganen die Befugnis, jede ihnen sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik zu verfolgen, nur unter der Prämisse gewährt, Freiheitsbeschränkungen verfassungsrechtlich zu legitimieren und auf das verhältnismäßige Maß zu begrenzen 131 • Doch reflektiert diese negative Dimension einen positiven Kern: So werden mit dem Verweis auf die Freiheitsgewährleistungen des Grundgesetz staatliche Interventionen in die Verhaltensmöglichkeiten von Unternehmen nicht nur an die Verfolgung verfassungsrechtlich legitimer Ziele und das Gebot der Verhältnismäßigkeit gekoppelt. Vielmehr formieren sich die einschlägigen Freiheitsrechte - namentlich die Artt. 12, 14, 2 Abs. I GG - zu einem Wirtschafts- und ordnungspolitischen Ganzen. Aus diesen Freiheitsgewährleistungen folgt, daß bei staatlicher Intervention in den Wirtschaftskreislauf zwar nicht die Durchbrechung eines bestimmten wettbewerbstheoretischen Leitbildes zu rechtfertigen ist, wohl aber die Eingriffe in Freiheits- und Gleichheitsrechte. Die Einzelgrundrechte in ihrer subjektiven Abwehrfunktion dienen nach Auffassung des BVerfG somit als Maßstab zur Bewertung der Zulässigkeit von Eingriffen in die "bestehende Wirtschaftsverfassung", als deren Grundlage sich ein freier Wettbewerb, eine grundsätzliche freie Wirtschaft, exponiere 132• Die verfassungsrechtlichen Weichen sind also zugunsten der Freiheit wettbewerblieber Betätigung gestellt 133 . 131 BVeifG v. 20.7.1954, BVerfGE 4, 7, 17 f.; aus der kartellrechtlichen Literatur etwa Langen/Bunte-Bunte, Einführung zum GWB Rn. 42 f. 132 BVeifG v. 27.1.1965, BVerfGE 18, 315, 327; BVeifG v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290, 336. 133 Herzog, in Maunz/Dürig/Scholz, Art. 20 (VIII), Rn. 60; ebenso Badura, JuS 1976, 208; Canaris, Festschr. f. Lerche, S. 879 f.; Klein/Schmidt-Bleibtreu, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Ein!. Rn. 60 ff.; Schmidt, in: HStR, § 83 Rn. 24 f., der

4•

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§ 4 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Mißbrauchsverbot

Daraus folgt andererseits nicht die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Schaffung eines "Optimum des Wettbewerbszustandes". Das BVerfG führt vielmehr aus, der Gesetzgeber könne eine "weitgehende Gestaltungsfreiheit" für sich beanspruchen, bei der die grundsätzliche Freiheit zur wirtschafts- und sozialpolitischer Gestaltung aber mit dem Freiheitsschutz zu vereinen sei, auf den der Bürger gerade gegenüber dem Gesetzgeber einen verfassungsrechtlichen Anspruch habe 134• Über den "Umweg" der Grundrechte relativiert sich somit insgesamt die vom BVerfG selbst geprägte Sentenz von der "wirtschaftspolitischen Neutralität" und attestiert dem Grundgesetz eine "auf dem Prinzip des freien Unternehmertums beruhende Wirtschaftsordnung" 135 • Festzuhalten bleibt somit für die Auslegung des § 19 GWB, daß das Grundgesetz von einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung ausgeht. Daraus folgt für das Kartellrecht aber, daß die Erreichung von Marktmacht als Ausfluß der Betätigung von Freiheitsrechten anzusehen ist und das Phänomen einer marktbeherrschenden Stellung von der Verfassung nicht nur "wertneutral" toleriert, sondern ihrem Schutz unterstellt wird. Eine davon zu trennende Frage ist dann die nach dem Verbot einer mißbräuchlichen Handlung zum Schutz kollidierender Verfassungsgüter. Für die insoweit notwendige Austarierung grundrechtlicher Kollisionen bedarf es freilich noch einer entscheidenden Weichenstellung, die im folgenden vorzunehmen sein wird. IV. Inhaltsneutrale Freiheitsgewährleistung als verfassungsrechtliches Leitbild Bisweilen wird der Versuch unternommen, die freiheitliche Ausrichtung des Grundgesetz zugunsten einer gesellschaftspolitisch motivierten Deutung zu relativieren. Als Paradebeispiel kann insoweit die Auffassung E. Schmidts dienen, nach welcher die "Antinomie zwischen Bestands- und Entfaltungsinteresse im Lichte eines sozialstaatlich begriffenen Art. 2 Abs. I GG kompromißhaft" abzubauen sei 136• Da aber das Recht insgesamt nach allerdings darauf hinweist, daß der Vorrang für die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung nicht in eine "Systemgarantie" für einen "freien Markt" uminterpretiert werden dürfe; zum ganzen auch Tsiliotis, Der verfassungsrechtliche Schutz der Wettbewerbsfreiheit, S. 41 ff. mit weiteren Nachweisen. Aus der kartellrechtlichen Literatur Langen/Bunte-Bunte, Einführung zum GWB Rn. 42; aus der nationalökonomischen Literatur Cassel/Rauhut, Soziale Marktwirtschaft auf dem Prüfstand, S.l3, mit dem Hinweis, das GG lasse "bei sachgerechter Auslegung" nur eine marktwirtschaftliche Ordnung zu. 134 BVerfG v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290, 338. 135 Urteil v. 16.3.1971, BVerfGE 30, 292, 311. 136 E. Schmidt, in: Esser/Schmidt, Schuldrecht Bd. I , Teilband I S. 6; E. Schmidt redet in der 7. Auflage (1995), S. 10, einer "inhaltlichen Neubestimmung der Privatautonomie" das Wort (in recht freier Interpretation des BVerfG v. 12. ll.l958,

IV. Inhaltsneutrale Freiheitsgewährleistung

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konsistenten Wertungen verlangt und es schlechterdings undenkbar wäre, ein "unfreies" Wirtschaftsrecht neben einem freiheitlichen Staatsrecht zu kreieren 137, fordern derartige Interpretationsversuche auch in der vorliegenden Arbeit eine klare Stellungnahme zum Freiheitsverständnis des Grundgesetz heraus. Auch für die Auslegung des § 19 GWB ist daher eine grundsätzliche Weichenstellung vorzunehmen. Die Freiheitsgewährleistungen des Grundgesetz sind im gleichen Maße das Leitbild der Nachkriegsverfassung wie die Privatautonomie das Paradigma des Privatrechts ist. Auch das BVerfG hat hervorgehoben, daß trotz des Zugewinns an objektiver Bedeutung 138 an der Funktion als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe nicht zu rütteln ist 139. Mit der Interpretation des Art. 2 Abs. 1 GG als "allgemeine Handlungsfreiheit" hat das BVerfG 140 nicht nur für einen flächendeckenden Grundrechtsschutz gesorgt141. Vielmehr hat das Gericht auf diese Weise einer grundlegenden Wertentscheidung Ausdruck verliehen und eine "Auslegungsregel für das verfassungsrechtlich angestrebte Verhältnis" 142 von Staat und Individuum aufgestellt: In Anlehnung an das Freiheitsverständnis von Locke und Kant garantiert der Staat dem Einzelnen die Möglichkeit, zu tun und zu lassen, was er will, ohne daß dieser über den Sinn und Zweck qualitativ-wertend Rechnung abzulegen hätte 143. Für die inhaltsneutrale Garantie von Verhaltensspielräume streitet - in den Worten des BVerfG und des BGH - eine "allgemeine Freiheitsvermutung" 144. BVerfGE 8, 274, 329). Der von Schmidt, aaO, S. 12 vorgeschlagenen Begrenzung des Art. 2 Abs. I GG durch die "Teilhabebefugnis (Freiheit i. w. S.)" wird man nur zustimmen können, wenn damit nicht eine positiv-egalitäre "Faktengleichheit" gemeint ist, sondern "Chancengleichheit" im Sinne des Sozialstaatsprinzips (dazu § 7 I 2); siehe auch ders., JZ 1980, 153 ff.; ähnlich auch Derleder, Festschr. f. Wassermann, S. 644 ff.; vgl. auch Schwab, Einführung in das Zivilrecht, Rn. 82. 137 Rüfner, Gedächtnisschr. f. Martens, S. 215, 216. 138 Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 97, erkennen darin eine Tendenz von einem "liberalen zu einem sozialen Staat". 139 BVerfG v. 15.1.1958, BVerfGE 7, 198, LS I; BVerfG v. 1.3. 1979, BVerfGE 50, 290, 337; zustimmend /sensee, HStR, S. 156 ff.; Schlink" EuGRZ 1984, 457. 140 BVerfG v. 16.1.1957, BVerfGE 6, 32 ff. 141 Starck, in: v. Mangold/Klein/Starck, Art. I Abs. 3 Rn. 108, spricht von "flächendeckenden Grundrechtsgewährleistungen"; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 300 ff., spricht hingegen nur von punktuellen Erwägungen, da sich die Grundrechte nicht zu einem einheitlichen System zusammenfassen ließen. Jenseits dieser systematischen Frage erkennt Hesse aber an, daß das BVerfG die Grundrechte zu einem lückenlosen Wert- und Anspruchssystem ausgebaut hat, um einen möglichst umfassenden Grundrechtsschutz sicherzustellen. 142 So Erichsen, HStR, § 152 Rn. 9; auch Dreier, Art. 2 I Rn. 20 ff.; SachsMurswiek, Art. 2 Rn. I0 f. 143 Dreier, Art. 2 I Rn. 20 ff.

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§ 4 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Mißbrauchsverbot

Wenn von einer solchen Gewährleistung von Freiheitsbetätigungen gesprochen wird, soll damit keineswegs einer grenzenlosen Individualfreiheit das Wort geredet werden, denn in der Tat ist die Freiheit des Menschen unweigerlich gekoppelt an seine soziale Integration 145• Daher kann Freiheit nicht nur Aus- und Abgrenzung vom Staat bedeuten, sondern muß als Handeln in einem von der Verfassung geordneten Gemeinwesen verstanden werden. Freiheit ist daher rechtlich ausgestaltet und begrenzt 146• Aus dieser sozialen Verflochtenheit des Einzelnen ist zum Teil geschlossen worden, Freiheit könne nicht nur im rein negatorischen Sinne als Abwesenheit von staatlichen Interventionen zu verstehen sein. Vielmehr halte die soziale Bedingtheit jedes Verhaltens zu einem Verständnis an, nach welchem die Freiheit stets in der Gesamtschau mit ihren Funktionen und den durch das Recht gesetzten Grenzen zu sehen sei 147• Sowohl die rein negatorische als auch die "rechtlich geordnete" Freiheit, die oftmals antipodisch gegenübergestellt werden 148, lassen sich aber dogmatisch zwanglos miteinander verbinden. Erkennt man als Ausgangspunkt der Überlegung grundsätzlich an, daß Freiheit Abwesenheit von Willkür anderer ist 149, so wird doch sogleich offenbar, daß diese Freiheit zu ihrem Erhalt und ihrer Durchsetzung einer gesellschaftlich anerkannten Instanz bedarf, welche sich ihrerseits - um vor Willkür durch sie sicher zu sein - an eine Regelordnung zu halten hat: das Recht. Doch steht das Recht der Freiheit nur dann nicht entgegen, wenn es zur Sicherung der Freiheit und seiner Voraussetzungen in dem zu regelnden Normbereich eingesetzt wird 150• Eine allein freiheitserweiternde oder freiheitssichemde Normgesetzgebung, die nicht mit dem Freiheitsraum der Individuen kollidiert, sondern sich zu einem homogenen Ganzen fügt, ist zwar erstrebenswert, aber gleichwohl eine Schimäre. 144 BVerfG v. 7.4.1964, BVerfGE 17, 306, 313 f.; BGH v. 3.7.1976, BGHZ 67, 104, 107. 145 Vgl. dazu BVerfG v. 12.11.1958, BVerfGE 8, 274, 329: "Dabei ist zu berücksichtigten, daß das GG die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden hat, ohne dabei den Eigenwert in Frage zu stellen." 146 Erichsen, HdB StR VI, § 152 Rn. 9. 147 So offenbar Roscher, Vertragsfreiheit als Verfassungsproblem, S. 49, unter Berufung auf Dürig, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Rn. 12. 148 Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, S. 150 f. 149 Zu diesem Freiheitsverständnis Kants vgl. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 239 ff. 150 Aus diesem Blickwinkel heraus wir auch verständlich, weshalb Starck, in: v. Mangold/Kiein/Starck, Art. I Abs. 3 Rn. 127 ff., der Rspr. des BVerfG (z.B. BVerfG v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290, 337 mwN) einen Vorrang der subjektiven, abwehrenden Grundrechtsposition gegenüber der objektiven Dimension entnehmen kann; ebenso Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. I Abs. I Rn. 98; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2104 f. jeweils mit weiteren Nachweisen.

IV. Inhaltsneutrale Freiheitsgewährleistung

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Somit sind auch kartellrechtliche Normen, die einen Markt öffnen und damit Unternehmen Verhaltensspielräume eröffnen immer auch um den Preis der Freiheitsverkürzung der Normadressaten erkauft. Es entsteht somit ein Spannungsverhältnis widerstreitender Dimensionen des Kartellrechts: Die freiheitssichernden Gestaltungskraft des Rechts bricht sich an der strukturellen Gegensätzlichkeit von Freiheit und staatlicher Reglementierung. Vor diesem Hintergrund sind die Schlagwörter von der "allgemeinen Freiheitsvermutung" und einem "in dubio pro libertate" 151 zu beurteilen. Sie bezeichnen die fundamentale Kompetenzverteilung, nach welcher der Mensch nicht um des Staates willen, sondern der Staat um des Menschen willen existiert 152• Der Staat gewährt Verhaltensspielräume nicht als Privileg derer, die "seines guten Willens" sind, vielmehr trägt der Staat die Argumentationslast für die Einschränkung der Freiheit. Die Eigenschaft der Privatrechtsgesellschaft, den Bürgern keine Ziele vorzuschreiben, sondern diese und die dazu einzusetzenden Mitteln autonom zu wählen, kann daher mit Canaris als eine "staatspolitische Grundentscheidung von kaum zu überschätzender Tragweite" bezeichnet werden 153• In ihr verdeutlicht sich nicht nur der Hauptunterschied zwischen totalitären und freiheitlichen Rechtsordnungen 154• Vielmehr wird mit diesem Verständnis auch den Notwendigkeilen einer sich dynamisch und spontan entwickelnden Gesellschaft Rechnung getragen. Insoweit dient die Gewährleistung individueller Freiheit auch dem überindividuellen Allgemeinwohl, ohne daß sich eine einzelne Instanz anmaßen müßte, dieses zu definieren 155• Dies bedeutet, daß auch die Verhaltensspielräume von Unternehmen nicht deswegen gewährt werden, weil und soweit ihre Ausnutzung bestimmten wettbewerbstheoretischen Funktionen oder Leitbildern entspricht, sondern Vgl. Hochhut, Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, S. 191. Diese Einsicht führt dazu, jede Freiheitsbetätigung grundsätzlich vom Schutzbereich eines Freiheitsrechts erfaßt zu sehen und damit einen inhaltsneutralen Schutz zu gewährleisten, wenn auch Eingriffe aufgrund eines (verhältnismäßigen) Gesetzes gerechtfertigt sein können, um anderen Verfassungsgütern den notwendigen Raum zu geben. Folgerichtig weist Murswiek, in: Sachs, Art. 2 Rn. 53, darauf hin, daß auch sozialschädliches Verhalten, wie sogar die Begehung eines Mordes, vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. I GG erfaßt wird, aber selbstredend von § 211 StGB beschränkt werden kann. 153 Canaris, Festschr. f. Lerche, S. 875. 154 Zu diesem grundsätzlichen Unterschied zwischen freiheitlichen und totalitären Rechtsordnungen Rüthers, Rechtstheorie, 1999, Rn. 68. 155 Vgl. v. Hayek, ORDO Bd. 18 (1967), 15: "Denn da sie [die spontane Ordnung der Gesellschaft] nicht zweckgebunden ist, kann sie zur Erreichung sehr vieler verschiedener, von einander abweichender, ja widerstreitender Ziele genutzt werden [kann]. Speziell die marktwirtschaftliche Ordnung beruht nicht auf irgendwelchen gemeinsamen Zielsetzungen, sondern auf Reziprozität, d.h. auf den Ausgleich verschiedener Interessen zum wechselseitigen Vorteil der Teilnehmer". 151

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§ 4 Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Mißbrauchsverbot

weil die Freiheit als Wert an sich geschützt wird. Daraus folgt für die Auslegung des § 19 GWB, daß die Feststellung eines Mißbrauchs bei der Ausübung von Freiheitsrechten nicht von der Konformität mit normativen oder ökonomischen Leitbildern abhängig gemacht werden kann. Mit dem Mittel des § 19 GWB darf also der ergebnisoffene Charakter des Wettbewerbs nicht auf soziale Endzustände gelenkt werden. V. Schlußfolgerungen Wie gesehen findet sich im Grundgesetz keine negative Wertsetzung gegenüber dem Phänomen wirtschaftlicher Macht. Vielmehr enthält sich die Verfassung konkreter Vorgaben für eine zu verfolgende Wirtschaftspolitik. Gleichwohl ergibt die Betrachtung der Grundrechte ein Versprechen zugunsten einer freiheitlichen, auf der Selbstverantwortung des einzelnen aufbauenden Wirtschaftsordnung. Darüber hinaus folgt aus dem Grundgesetz eine allgemeine inhaltsneutrale Freiheitsgewährleistung. Die so verstandene wirtschaftspolitische Offenheit bedeutet für das Mißbrauchsverbot des Kartellrechts dreierlei: Auf der einen Seite ist das Entstehen von Marktmacht die notwendige Folge der Entscheidung zugunsten eines verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Systems der Marktwirtschaft 156• Daher verbietet die Verfassung nicht das Bestehen einer marktbeherrschenden Stellung. Vielmehr ist das Erreichen unterschiedlicher Marktstärken in einer freiheitlichen Rechts- und Wirtschaftsordnung systemangelegt 157 . Ein Handeln aus solchen Positionen heraus stellt prima facie eine legitime Freiheitsbetätigung dar, wie auch die aus dieser Marktposition resultierenden Rechte vom Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG erfaßt werden, der die "Machtausübung in gewissem Umfang selbst grundrechtlich absichert" 158 . Es entsteht somit ein auf den ersten Blick widersprüchliches Bild: Sowohl der Wettbewerb als auch sein vorgebliches Gegenteil, die wirtschaftliche Macht, stellen sich aus dem Blickwinkel der Freiheitsgewährleistungen der Verfassungen als gleichgewichtige und - positiven wie negativen 156 Schwintowski, ZVgiRWiss 92 (1993), 40, erkennt diesen Ausgangspunkt zwar an, gelangt aber dennoch zu einem "de-facto-Verbot" von Marktmacht, wenn er die Marktstellung statt eines mißbräuchlichen Verhaltens als wahren Anknüpfungspunkt für staatliche Marktinterventionen benennt (aaO, S. 64). 157 Vgl. auch Leo, in: Müller-Henneberg/Schwartz/Hootz, § 19 Rn. 80 ff. 158 Pieroth/Schlink, Staatsrecht Il, Rn. 183; vgl. zum Schutz der Unternehmerischen Willensbildung und Funktionsfahigkeit Papier, in: Maunz/Dürig, Art. 14 Rn. 194. Demgegenüber offenbaren sich bei Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. II ff., Zweifel an der Vereinbarkeit von privater Macht mit dem Grundgesetz, was aus einem grundlegenden Mißtrauen gegenüber Marktmacht resultiert (dazu oben § 2).

I. Das fonnal-prozedurale Vertragskonzept

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Konnotationen entkleidete Folgen freiheitlichen und inhaltsneutral geschützten Handeins dar 159 • Andererseits ist dem Staat interventionistisches Handeln im Markt nicht per se untersagt. Dabei müssen wirtschaftspolitische Maßnahmen keiner bestimmten Marktkonzeption entsprechen, es ist sogar zulässig, daß sie der tradierten Wirtschaftspolitik widersprechen 160• Wegen des inhaltsneutralen Freiheitsversprechens des Grundgesetz ist es aber nicht möglich, die Gewährleistung wirtschaftlicher Freiheit anfänglich an die Einhaltung bestimmter wettbewerbspolitischer Leitbilder zu binden. Der Staat hat- drittens- bei Eingriffen in die Wirtschaftsordnung selbstredend die Grundrechte zu beachten, Interventionen um zulässiger Ziele willen zu legitimieren und auf ein verhältnismäßiges Niveau zu begrenzen. Bei der Auslegung des § 19 GWB ist also darauf hinzuwirken, daß die verfassungsrechtlich verbürgte Wettbewerbsfreiheit in möglichst weit gehendem Maß erhalten bleibt 161 •

§ 5 Das privatrechtliche Ordnungssystem Will sich § 19 GWB nicht als Fremdkörper in der Privatrechtsordnung ausnehmen, auf deren Mittel er zurückgreift und deren Funktionsweise er sichern will, so ist die Norm stets vor dem Hintergrund der tradierten Institute und Rationalitäten des privatrechtliehen Ordnungssystems zu sehen. Eine Betrachtung der Grenzen der Privatautonomie, wie sie von § 19 GWB für den Bereich des wirtschaftlichen Verkehrs marktbeherrschender Unternehmen gezogen wird, erfordert daher eine Vergegenwärtigung der Grundlagen, Aufgaben und Funktionsziele des privatrechtliehen Ordnungssystems und der Privatautonomie als seines konstituierenden Prinzips.

I. Das formal-prozedurale Vertragskonzept als Ausdruck einer ordnungspolitischen und ethischen Konzeption 1. Die prozedurale Rationalität des privatrechtliehen Vertragssystems

Das Freiheitspostulat des politischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts wie auch die Wertverwirklichungsideale der Gesetzgebungslehre Savignys und die Pandektenwissenschaft stimmten in dem Ausgangspunkt überein, 159 Jenseits des Mißbrauchs stehen sich Wettbewerb und Macht somit neutral gegenüber, vgl. Scholz, Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, S. 61. 160 BVerfG v. 1.3.1979, BVerfGE 50, 290, 336. 161 Leo, in: Müller-Henneberg/Schwartz/Hootz, § 19 Rn. 34.

§ 5 Das privatrechtliche Ordnungssystem

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daß der Mensch "als isoliertes, seiner geschichtlichen Besonderheiten und Bedingtheilen entkleidetes Individuum" 162 im Mittelpunkt jeder staatlichen Regulierung zu stehen habe. Geprägt von diesem "ethischen Personalismus"163 und dem Freiheitsverständnis Kants 164 bestimmte ein individualethischer Blickwinkel die Philosophie, Rechtswissenschaft und Politik, demzufolge allein das absolute und autonome Ich maßgeblicher Schöpfer der privaten Lebensentwürfe sein sollte und es mithin vorrangig die Freiheit vor den Eingriffen, insbesondere des Staates, zu schützen gelte. Von diesem Grundverständnis aus liegt es nahe, daß die Schöpfer des BGB die Ordnung der privaten und geschäftlichen Verhältnisse in erster Linie den Normadressaten als selbstbestimmungsfahige Individuen überlassen wollten. Somit wurde die Privatautonomie- neben dem subjektiven Recht 165 -zum Paradigma des deutschen Zivilrechtssystems 166. Angesichts der individualethischen Betrachtungsweise kann es nicht verwundem, daß das Vertragsrecht des BGB von der Überzeugung seiner Schöpfer geprägt wurde, es bedürfe lediglich der Sicherung volitiv-intellektuell ungestörter Vertragsverhandlungen, etwa durch die Anfechtungsmöglichkeit bei Willensmängeln 167, um rechtspolitisch erwünschte, jedenfalls von der Rechtsordnung tolerierbare, Ergebnisse zu generieren. Demzufolge glaubten die Gesetzesväter vom Erfordernis inhaltlicher Gerechtigkeit solange absehen zu können, als nur bestimmte Verfahrensregeln und äußerste Grenzen eingehalten werden. Dieses individualisitisch-voluntaristische Vertragssystem168 auf der Grundlage einer "prozeduralen Rationalität" 169 entlastet das Privatrecht gleichsam vom Erfordernis der Einzelfallgerechtigkeit170. Raiser, Festschr. DJT, S. 102. Larenz/Wolf, BGB AT, § 2 Rn. 2. 164 Dazu Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 239 ff.; Kants Einfluß auf die deutsche Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts verdeutlicht Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 349 ff., 521. Dabei verstand Kant Freiheit nicht in einem indeterministischen Sinne, als losgelöste, willkürliche Möglichkeit zu jedwedem Verhalten, sondern als die in Naturgesetz und Vernunft eingebettete Autonomie (Kaufmann aaO). 165 Zum subjektiven Recht und seiner Auswirkungen auf die Wirtschaftsordnung vgl. Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, S. 5 I ff. 166 Raiser, Festschr. DJT, S. 102. 167 MünchKomm-Mayer-Maly, Rn. 2 vor§ 145. 168 Zu den Ausnahmefällen, in welchen das Vertragsrecht objektiven Ordnungsgesichtspunkten (wie dem Verkehrsschutz) Vorrang vor der voluntaristischen Komponente einräumt, vgl. Reinhardt, Festschr. f. Schmidt-Rimpler, S. 122. 169 Luhmann, Rechtssoziologie, S. 327. 170 ,,Nach alle dem war der rechtsgeschäftliche Wille freier Wille und der Vertrag die Übereinstimmung freier Willen. Soweit nicht die Grenzen des privatautonomen Bereiches überschritten waren, braucht sich die Rechtsordnung weder für die Moda162

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I. Das fonnal-prozedurale Vertragskonzept

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Konsequenterweise wurde auch das Phänomen "wirtschaftliche Macht" und sein Einfluß auf Vertrag und Privatautonomie grundsätzlich aus dem Tatbestand der Vertragslehre ausgeklammert 171 • Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, daß die Einführung der "laesio enormis" im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zwar diskutiert, in den Beratungen dann aber verworfen wurde, was das Vertrauen in eine grundsätzlich staatsfreie, privatautonome Interessenkoordination noch unterstreicht 172• Eine Durchbrechung der Privatautonomie für Verträge mit unausgeglichenen Leistungsversprechen wurde auch deshalb weitgehend ausgespart, weil die pandektistische Rechtsschule die Beschäftigung mit der inhaltlichen Äquivalenz von Verträgen oder einem "iustum pretium" den Wirtschaftswissenschaften überließ 173, so daß man das Fehlen entsprechender Regelungen mit der ökonomischen Unerforschtheit dieses Gebietes erklären kann. Viel mehr als die Suche nach einem iustum pretium entspricht es dem formal-prozeduralen Vertragskonzept, daß - im Gegensatz zu den detaillierten Anforderungen an einen wirksamen Vertragsschluß - das BGB nur wenige inhaltliche Grenzen der Privatautonomie aufweist, namentlich die §§ I 34, 138, 315, 343 BGB a.F. (vor dem SchuldRModG) 174 • Innerhalb dieser Grenzen sollten sich die Privaten frei bewegen 175 • Durch das Abstecken eines Ordnungsrahmens haben die Gesetzesväter, statt objektive inhaltliche Äquivalenz zu einer gesetzlichen Vorgabe zu erheben, Inhalts- und Preisbildungsfreiheit innerhalb äußerer Grenzen gegeben. Zusammenfassen läßt sich diese Konzeption mit dem Satz: "Gegenstand dieser Regelungen ist also nicht der gerechte, sondern der ungerechte Preis. Der Abstand zwischen beiden ist groß'" 76. litäten des Zustandekommens noch für den Inhalt des Vertrages näher zu interessieren", so: Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, S. II. 171 Kritisch dazu Biedenkopf, Festschr. f. Böhm, S. 118. 172 Siehe Motive II, S. 321, wo vor einer Gefahr für die Rechtssicherheit gewarnt wird. Vgl. zum geschichtlichen Hintergrund der Normierung der laesio enonnis in Österreich und Frankreich sowie kritisch zu entsprechenden Ansätzen der deutschen Praxis im Rahmen des § 138 Abs. I BGB Mayer-Maly, Festschr. f. Larenz, S. 395 ff., diese Tendenzen begrüßend hingegen Singer JZ 2001, 195. 173 Blomeyer, Der gerechte Preis im Privatrecht, S. 77, 79 ff. 174 Vgl. Canaris, ScP 200 (2000), 287 f.: "klare Absage" an iustum pretium bzw. der laesio enonnis; auch Ritgen, JZ 2002, 114 f. 175 Daher beschränkt - zumindest in ihrer ursprünglichen Dimension - die "Verhaltensanweisung" des § 242 BGB nicht die Verhaltensspielräume durch Versagung der rechtlichen Anerkennung, sondern reguliert die Rechtsausübung nach Maßgabe von Treu und Glauben, siehe dazu Paulus/Zenker, JuS 2001, 4. Vgl. aber auch Larenz/Wolf, § 41 Rn. 4, wonach im weiteren Verlauf die Rechtsprechung den § 242 BGB zum Schutz des schwächeren Vertragspartners eingesetzt hat und er deshalb nunmehr als Schranke der rechtsgeschäftliehen Privatautonomie anzusehen sei. Gegen diese Schlußfolgerung Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 19. 176 Blomeyer, Der gerechte Preis im Privatrecht, S. 80.

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§ 5 Das privatrechtliche Ordnungssystem

2. Der normative und ordnungspolitische Gehalt des Ordnungssystems

Wenn gesagt wird, das BGB sei mit "keinem Tropfen sozialistischen Öls gesalbt" 177, so wäre es dennoch verfehlt, von einer sozial- oder ordnungspolitischen Neutralität zu sprechen 178 • Vielmehr liegt in der Überlassung weiter, staatsfreier Verhaltensspielräume zur Gestaltung einer privatrechtliehen und wirtschaftlichen Ordnung eine konsistente ethische Wertsetzung des BGB 179• Die Legitimation der Vertragsfreiheit als Ordnungsprinzip gründet sich auch heute noch auf den Gedanken der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung180. Insofern stellt die Privatautonomie, insbesondere die Vertragsfreiheit, "das Bleibende und zu Bewahrende des überkommenen bürgerlichen Rechts" dar, das "für die Erhaltung und die Sicherung der Personalität des Menschen, seine Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, also diejenigen Elemente, die das Privatrecht zum Hort der Freiheit haben werden lassen", konstituierend ist 181 . Dieser Liberalismus und Individualismus findet seine verfassungsrechtliche Entsprechung in der inhaltsneutralen Freiheitsgewährleistung des Grundgesetzes (dazu § 4 IV) 182. Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG erfaßt die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. I GG auch die privatautonome Gestaltung der Rechtsverhältnisse und schützt diese "als Selbstbestimmung des Einzelnen im RechtsIeben'"83. Die Bedeutung der Privatautonomie für die Wertordnung der Verfassung verdeutlicht die grundrechtliche Aufwertung, welche die Privatautonomie nach der Rspr. des BVerfG erfährt: Soweit eine umfassende Einschränkung der Privatautonomie in Rede stehe, wie dies bei der Einschränkung der individuellen Selbstbestimmung minderjähriger Kinder durch das Vertretungsrecht der Eltern der Fall sei, müsse dieser Eingriff nicht nur unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen Handlungsfreiheit sondern des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gewürdigt werden 184. Dies läßt 177 Zum Ursprung der bekannten Sentenz Otto von Gierke siehe Larenz/Wolf, AT, S. 36. 178 So aber E. Schmidt, in: Esser/Schmidt, Schuldrecht AT, S. 2. 179 Vgl. Rittner, AcP 188 (1988), 129. 180 Bydlinski, AcP 180, 30; Coester-Waltjen, AcP 190, 14; Flume, Festschr. DJT, Bd. I, 101 ff. 181 Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, S. 34 f. 182 Der unmittelbare Zusammenhang der zivilrechtliehen Gewährleistung der Vertragsfreiheil zu den Freiheitsrechten des GG wird deutlich, wenn gesagt wird, das Bekenntnis des Zivilrechts zum Prinzip der Privatautonomie stelle gewissermaßen das notwendige Extrakt der Anerkennung der menschlichen Freiheit um ihrer selbst willen dar, so: Staudinger-Dilcher, Einl. zu §§ 104-185 Rn. 5. 183 Erichsen, HStR, § 152 Rn. 58. 184 BVerfG v. 13.5.1986, BVerfGE 72, 155, 170.

I. Das formal-prozedurale Vertragskonzept

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den Bezug zur Menschenwürde deutlich hervortreten, welche den zentralen Fixpunkt des Grundgesetz und der Gesamtrechtsordnung darstellt. Ordnungspolitisch vertraut die auf die Entscheidungsfreiheit der Einzelnen abhebende Konzeption darauf, daß die private Interessenkoordinierung neben der Befriedigung der individuellen Wünsche reflexartig eine funktionsfähige Ordnung generiert, ohne daß es der staatlichen Intervention bedarf, solange sich die Teilnehmer innerhalb der - weit gespannten - Grenzen des Systems bewegen. Das Absehen von einer inhaltlichen Gerechtigkeitskontrolle ist also der Überzeugung geschuldet, daß die Gewährung von Privatautonomie ganz automatisch zu einer sinnvollen und funktionsfähigen Ordnung für die Einzelnen und für die Gesamtheit führen wird, solange diese der freien Willensentscheidung der Vertragspartner entspringt ("Lehre von der prästabilierten Harmonie") 185 • Der Gedanke der "unsichtbaren Hand des Marktes", der von Smith auch eine Tendenz zum "gerechten Preis" attestiert wurde 186, hat also dieses zivilrechtliche System maßgeblich beeinflußt 187• Ohne es zu wissen, entschieden sich die Gesetzesväter damit für eine Wettbewerbskonzeption, die der Nationalökonom v. Hayek später als "spontane Ordnung" bezeichnet hat (dazu oben § 3 1). Mit dieser ethischen und ordnungspolitischen Wertsetzung wird also der Eindruck widerlegt, die Schöpfer des BGB hätten einseitig die individuelle Dimension der Privatrechtsordnung beachtet, die gesamtgesellschaftlichen Folgen aber fahrlässig außer Acht gelassen. Wer heute einer "Ethisierung" des Privatrechts das Wort redet 188, sollte sich dieses ethischen Gehalts zumindest bewußt sein.

Mayer-Maly, Festschr. f. Merkt, S. 249 f. Smith, Wohlstand der Nationen, S. 51 ff. 187 Die These von der "invisible hand", nach welcher die Schaffung eines staatlichen Ordnungsrahmens zu einer optimalen Bedarfsbefriedigung führt, findet sich zuerst bei Adam Smith, Wohlstand der Nationen, etwa S. 371, wo es heißt: "Tatsächlich fördert er (= der Investor von Kapital) in der Regel nicht bewusst das Allgemeinwohl ... Und er wird in diesem wie auch in anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat". Mit der Forderung Smiths nach der Schaffung eines rechtlichen Rahmens (vgl. etwa aaO S. 582) kann dem verbreiteten Vorurteil entgegengetreten werden, er habe einen ungezügelten Kapitalismus das Wort reden wollen. Auch Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 42 f., weist darauf hin, daß gerade Smith die Herrschaft des Rechts vorausgesetzt hat, also auch eine funktionierende Privatrechtsordnung voraussetzte und keineswegs staatlicher Iaissez faire oder privater Willkür den Weg ebnen wollte. 188 Vgl. Derleder, Festschr. f. Wassermann, S. 650 ff., namentlich S. 656 (,,Ethisierung des Privatrechts", "ethisch fundierten und restringierten Autonomie"); auch Limbach, JuS 1985, 10 ff.; E. Schmidt, JZ 1980, 153 ff. 185 186

62

§ 5 Das privatrechtliche Ordnungssystem

3. Individualschutz als Eingriffslegitimation

In der Gesamtschau der die Privatautonomie beschneidenden Normen wird deutlich, daß der Gesetzgeber neben dem Individualschutz nur an wenigen Stellen überindividuellen Erwägungen Vorrang gegenüber dem privatautonom Vereinbarten zugestanden hat 189. Zumeist handelt es sich dann um solche Normen, die zum Schutz des privatrechtliehen Ordnungssystems und des sich auf dieser Grundlage ergebenden Rechtsverkehrs bestellt sind 190. Die auffallige Reserviertheil des BGB gegenüber überindividuellen Erwägungen war zuvorderst Ausdruck ordnungspolitischer und rechtsphilosophischer Überzeugungen. Im Schutz der "sittliche Bestimmung der menschlichen Natur" 191 als Aufgabe des Privatrechts würden andere Zielgrößen wie das öffentliche Wohl oder staatswirtschaftliche Interessen in der individualistischen Funktion des Privatrechts vollständig aufgehen 192• Es fügt sich in diese Sichtweise ein, daß die Ergänzung der Sittenwidrigkeit als Nichtigkeitsgrund durch die "öffentliche Ordnung", womit letztlich also auch gesamtwirtschaftliche Gründe gemeint sind 193, aus der Fassung des I. Entwurfes wieder entfernt wurde 194. Von diesem Ansatz ausgehend ist es konsequent und folgerichtig, wenn Windscheid 195 lakonisch feststellt: .,Ethische, politische oder volkswirtschaftliche Wertungen und Erwägungen sind nicht Sache des Juristen als solchen". Konsequenterweise haben sozialpolitische Aspekte nur in einem vergleichsweise geringen Umfang Eingang in das Bürgerliche Gesetzbuch gefunden, wobei namentlich auf § 138 BGB und dessen Aufgabe hinzuweisen ist, gewisse gesellschaftliche Standards einzuhalten196. Auch die "Verhaltensanweisung" des § 242 BGB beschränkt 189 Beispiele für die Verwirklichung dieser Schutzzwecke findet sich bei Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, S. 95 ff.; jüngst auch Paulus/Zenker, JuS 2001, I ff. 190 Paulus/Zenker, JuS 2001, 4 f. nennen etwa den sachen- und gesellschaftsrechtlichen Typenzwang und die Formvorschriften. Das Primat des Individualschutzes wird aber auch innerhalb des privatrechtliehen Ordnungssystems insoweit durchgehalten, als der Schutz der dem Einzelnen zugewiesenen Befugnisse sogar Vorrang vor dem Schutz der privatrechtliehen Institutionen soll beanspruchen können, siehe Biedenkopf, Festschr. f. Böhm, S. 115. 191 Zum Einfluß Kants Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 431. 192 Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, S. 53 f. 193 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 481 194 Motive Band I S. 211 f. 195 Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, in: Oertmann, Gesammelte Reden und Abhandlungen, S. 10 l. 196 Zusammenstellung der sozialpolitisch motivierten Durchbrechungen der Privatautonomie bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 480 f.; Paulus/ Zenker, JuS 2001, 4, verweisen im Zusammenhang mit § 138 BGB auch auf die Wahrung von "handfesten öffentlichen Interessen", wie den Schutz vor strafbaren

I. Das fonnal-prozedurale Vertragskonzept

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zumindest in ihrer ursprünglichen Dimension - nicht die staatsfreien Verhaltensspielräume durch Versagung der rechtlichen Anerkennung, sondern reguliert die Rechtsausübung nach Maßgabe von Treu und Glauben 197• Vorrangig sollte somit das Privatrechtssystem und dessen soziale Aufgabe geschützt werden, dem Rechtsverkehr einen Rahmen zu geben, in welchem die Privaten staatsfrei eine Ordnung ihrer Verhältnisse schaffen können 198. Diese Grenzziehungen entsprechen somit exakt dem fonnal-prozeduralen Charakter der Privatrechtskonzeption (dazu 1). Zudem gilt es sich auch heute noch einer ,justizpolitischen" Erwägung zu vergegenwärtigen, die ebenfalls zu der Zurückhaltung der Gesetzgebung bei der Integration sozialer und überindividueller Aspekte in das Privatrecht geführt hat: Die strikte Bindung des Richters an die Institute des Zivilrechts und die Erkenntnisse der Jurisprudenz sowie das Fernhalten systemfremder Erwägungen aus dem Privatrechtsverkehr beschnitt die Macht der Richter und sollte zugleich die Rechtssicherheit befördern. Der Richter war somit "blinder Anwender" eines fonnal-prozeduralen Verfahrens, dessen strikte Bindung an privatrechtliche Lehren und Institute ihm insoweit einen Machtverzicht auferlegte, als er die antinomischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse lediglich in dem von der Privatrechtslehre vorgezeichneten Rahmen auflösen sollte. Diese Entscheidung stellt somit nicht weniger dar, als die justizielle Durchsetzbarkeit von prozedual abgesicherten Ergebnissen zum "Surrogat" der Billigkeit zu erklären. Auch § 19 GWB läßt sich somit als eine Grenze der privatautonomen Verhaltensspielräume ansehen. Wegen des funktionellen Bezugs des § 19 GWB zu seinem Regelrahmen (dazu § 3 li) führen die Erkenntnisse hinsichtlich der Eingriffsmöglichkeiten in das privatrechtliche Ordnungssystem zu der Annahme, daß als Eingriffslegitimation grundsätzlich der Individualschutz zu gelten hat und überindividuelle Wirtschafts- und sozialpolitische Ziele dahinter zurücktreten. Dieser Ansatz entspricht der institutionenökonomischen Erkenntnis, daß Wettbewerb aus einer Vielzahl einzelner Transaktionen besteht, also aggregierte Freiheitsbetätigung ist (dazu § 3 I). Vor Handlungen und deren Folgen sowie auf den Schutz der Sozialkassen vor Unterhaltsverzieht und Schwarzarbeit. 197 Paulus/Zenker, JuS 2001, 4. Vgl. aber auch Larenz/Wolf, § 41 Rn. 4, wonach im weiteren Verlauf die Rechtsprechung den § 242 BGB zum Schutz des schwächeren Vertragspartners eingesetzt hat und er deshalb nunmehr als Schranke der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie anzusehen sei. Gegen diese Schlußfolgerung Palandt-Heinrichs, § 242 Rn. 19. 198 Demgegenüber ist die Förderung des Gemeinschaftsinteresses als sozialer Aufgabe, wie etwa die Lösung der Probleme der unselbstständigen Lohnarbeit, als Aufgabe des Staates und nicht der Privaten angesehen und somit konsequenterweise der Sozialgesetzgebung überantwortet worden, siehe Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, S. 91; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 481 .

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§ 5 Das privatrechtliche Ordnungssystem

diesem (Norm)Hintergrund muß § 19 GWB somit dem Schutz der Freiheit des Wettbewerbsakteurs in dem Vertrauen dienen, daß damit auch das Allgemeinwohl befördert wird. II. Individueller Rationalismus als Antriebskraft des Ordnungssystems Ist somit der privatautonome Ordnungsmechanismus als verfassungsrechtlich abgesichertes Prinzip anerkannt, bleibt zu fragen, weshalb es ausgerechnet dieses willensgelenkte, fast ausschließlich an formale Regeln geknüpfte Verfahren ist, das sich für die Schaffung einer Ordnung im privaten Bereich eignet. Anders als in vielen Bereichen des Öffentlichen Rechts oder gar des Strafrechts betreffen die im Wege des Vertragsschlusses getroffenen Rechtsbeziehungen einen grundsätzlich privaten und abgrenzbaren Bereich, etwa einen Werkvertrag oder den Abschluß eines Energielieferungsvertrages. Diese Sphären und ihre rechtliche Gestaltung sind in derart hohem Maße von dezentral verteilten und situationsabhängigen Interessen und Präferenzen der Beteiligten abhängig, daß sich eine zentrale Regelung ohne Transaktionskostenerhöhung und Fremdbestimmung kaum leisten ließe. Demgegenüber sind die am Vertrag Beteiligten nicht nur Träger dieser notwendigen Informationen und Präferenzen, sie haben im Gegensatz zu unbeteiligen Instanzen auch ein Interesse an ihrer Durchsetzung: Entsprechend dem ökonomischen Rationalitätsaxiom 199 ist nämlich davon auszugehen, daß die Vertragsbeteiligten nicht altruistisch handeln, sondern - jedenfalls in aller Regel - Verträge abschließen, weil sie sich von der so geschaffenen rechtlichen Ordnung einen Vorteil versprechen. Auch in der Wirtschaftspsychologie, welche die Ursachen und Änderungen menschlichen Verhaltens im wirtschaftlichen Kontext untersucht, ist anerkannt, daß der wirtschaftende Mensch aus einem Set von Alternativen die von ihm am meisten präferierte Alternative wählt und danach strebt, seinen individuell bestimmten Nutzen zu maximieren 200. Dagegen wird zwar ins Feld geführt, bei einem solchen homo oeconomicus handele es sich um eine "entromantisierte Karikatur", die den Menschen seiner sozialen Verflochtenheit enthebe und verkenne, daß der Handelnde wegen der Uninformiertheit über Alternativen bzw. der Informationsflut und des Zeitdrucks nicht optimal entscheiden könne, sondern vereinfachende Entscheidungsmethoden anwende oder einfach eingeübtes l99 Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, S. 88 ff. 200 Hesse/Koch, in: Weber, Wirtschaftswissenschaften, S. 503; Kirchler, Wirtschaftspsychologie, S. 10.

II. Individueller Rationalismus

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Verhalten wiederhole201 . Diese Kritik verkennt aber, bei aller Berechtigung im Detail, das Anliegen des ökonomischen Rationalitäts- und Nutzenaxioms: Es soll nicht beurteilt werden, ob eine Entscheidung objektiv "richtig" oder "sinnvoll" ist, sondern eine Hypothese für die Zielrichtung subjektiver Willensbildung gesetzt werden, mit deren Hilfe die Komplexität solcher massenweise auftretenden Phänomene reduziert werden kann. Unter dieser Prämisse kann aber - bei aller objektiven Irrationalität im konkreten Fall - daran festgehalten werden, daß sich der wirtschaftende Einzelne grundsätzlich von den Prinzipien der Rationalität und Nutzenmaximierung leiten läßt202 . Da dies jedenfalls in gesellschaftlichen Bereich gilt, in welchen der Wettbewerb bzw. Systemwettbewerb irrationales Verhalten mit negativen Folgen belegt, kann für den hier relevanten Bereich davon ausgegangen werden, daß das Rationalitätsprinzip die ordnende Kraft des Systems ist203 • So trägt auch der objektiv sinnlos scheinende Vertrag die Vennutung der Rationalität: Wer handelt, wer sich rechtsgeschäftlich betätigt, wer einen Vertrag schließt, tut dies aus einem Antrieb heraus, dem man einen subjektiven Sinn unterstellen muß, will man nicht zur Entmündigung aller schreiten. Dieses rational-eigennützige Vorteilsstreben beschränkt gleichzeitig aber die Funktionsfähigkeit des privatrechtliehen Ordnungssystems: Denn einmal muß es dort versagen, wo eine bestimmte objektiv wünschenswerte Ordnung außerhalb der am Vertrag beteiligten Interessen liegt. Zum anderen kann aber unter besonderen Umständen auch ein Mord "rational" sein. Daher ergibt sich für das Recht die Aufgabe, bestimmte Werte und Ordnungsrahmen zu setzen, also zu "nonnieren", um unerwünschte Konsequenzen dieser Antriebskraft zu unterbinden. Gleichwohl hat das Recht bei der Einwirkung auf das wirtschaftliche Handeln die Rationalität als Antriebsmechanismus zu beachten, denn bei aller Bezogenheit der Systeme aufeinander beanspruchen ihre Leitmaximen - Gerechtigkeit hier, Rationalität dort je für sich universelle Geltung204• Trotz der Notwendigkeit der strukturellen Vgl. zur Kritik ausführlich Kirchler, Wirtschaftspsychologie, S. 20 ff. mwN. Im Ergebnis auch Kirchler, Wirtschaftspsychologie, S. 79 f., der individuelle oder kollektive Abweichungen von diesen Axiomen als "Anomalien" bezeichnet. 203 Eng mit diesen Prinzipien verbunden ist die Institution Eigentum, die in einer Gesellschaft sowohl den Nutzen aus wie auch die Sorge um bestimmte Güter Privaten in der Erwartung zuweist, diese würden sachgerechter Verwendung zugeführt, ohne daß es einer staatlichen Entscheidung bedarf. Diese Eigentumszuweisung verbindet die menschliche Rationalität und den Eigennutz mit rechtlich faßbaren und zuweisungsfähigen Dingen und gibt dem rational-egoistisch handelnden Menschen gleichsam ein Objekt seines Strebens und Trachtens. Vgl. zu dieser Funktion des Eigentums Möschel ORDO Bd. 32 ( 1981 ), 100. 204 Roelleke, Rechtstheorie Bd. 31 (2000), S. 6 f. 201

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§ 5 Das privatrechtliche Ordnungssystem

Verkopplung der Systeme "Wirtschaft" und "Recht" lassen sich die Systemgrenzen nicht verwischen 205 . § 19 GWB ist eine Grenze derjenigen Ordnung, die zwar für die Beteiligten rational erscheint, von der Rechtsordnung aber bei der Verletzung höherwertiger Ziele nicht toleriert werden darf. Freilich muß sich ein Interpret solcher "Grenznormen" aber stets des rationalen Eigennutzstrebens als der entscheidenden Voraussetzungen des Gesamtsystems bewußt sein. Dieser Funktionszusammenhang hat weitreichende Folgen für die Preiskontrolle, insbesondere aber auch für die Frage nach der Berücksichtigungsfahigkeit außerwettbewerblieber Zielsetzungen (dazu § 17).

111. Ursprüngliche Funktion und nachträgliche Funktionsvoraussetzungen 1. Das richtige Verständnis von der "Richtigkeitsgewähr" privatautonomer Vereinbarungen

Das liberale Ordnungsprinzip fand in der These Schmidt-Rimpleri06 von der Richtigkeilsgewähr zugleich eine Bestätigung wie auch einen Angriffspunkt zu seiner Unterminierung. Der pri valautonome Vertrag ist nach seiner Ansicht "ein Mechanismus, um ohne hoheitliche Gestaltung in begrenztem Rahmen eine richtige Regelung auch gegen unrichtigen Willen herbeizuführen, weil immer der durch die Unrichtigkeit Betroffene zustimmen muß"207. Der individuelle Rationalismus ist gewissermaßen die Gewähr dafür, daß die derart geschaffene, dezentrale Ordnung die für die Beteiligten zweckmäßigste ist. Es liegt in der Konsequenz dieser Delegation der Ordnungsfunktion an die Privaten, daß sich die Vorstellungen der Vertragspartner von einer für sie zweckmäßigen Ordnungssetzung von den Wertungen Dritter, gar der Rechtsgemeinschaft als ganzer, abheben können. Die Privaten wollen nämlich eine zweckmäßige Regelung ihrer Verhältnisse finden und kein Recht oder gar Gerechtigkeit schaffen. Spannungen dieser Art sind von der Rechtsordnung grundsätzlich hinzunehmen, jedenfalls solange, wie nicht "Grundforderungen der Gerechtigkeit" verletzt werden 208 . 205 "Die strukturelle Koppelung von Recht und Wirtschaft bedeutet also, daß das Recht die Wirtschaft zwar beeinflussen, aber nicht steuern, sondern höchstens ruinieren kann. Beide Systeme orientieren sich an ihren Funktionen, gleichgültig was das jeweils andere tut.", so: Roelleke, Rechtstheorie Bd. 31 (2000), S. 8. 206 Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 130 ff. 2m Schmidt-Rimpler, AcP 147 (1941), 156. 208 So Raiser, Festschr. f. DJT, S. 119.

III. Ursprüngliche Funktion und nachträgliche Voraussetzungen

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Freilich trifft der Terminus "Richtigkeitsgewähr" nicht das von SchmidtRimpler Gemeinte. Zunächst muß man sich der Unzulänglichkeit des Ob-

jektivität gerierenden Topos der "Richtigkeit" bewußt sein: Ein rein subjektiv und von den Vertragspartner dezentral bewerteter Vertragsinhalt entzieht sich einer objektiven Bewertung anhand der Kriterien "richtig" oder "falsch"209 • Vielmehr trägt auch ein objektiv unsinniger, oder inäquivalenter Vertrag die Vermutung der "Richtigkeit" in sich, da sich beide Vertragspartner diesem Inhalt freiwillig unterworfen haben (oben II). Entscheidend für das Verständnis des privatrechtliche Ordnungssystem ist aber nicht der Blick auf das horizontale Verhältnis zwischen "objektiver" und "subjektiver" Richtigkeit, sondern das (vertikale) Tiefenverhältnis von Systemgerechtigkeit und Einzelfallbilligkeit Genau in diesem Punkt ist der Begriff der "Richtigkeitsgewähr" mißverständlich. Die Gerechtigkeit kann nämlich einerseits anhand der Spielregeln und der ihnen innewohnenden Chance gerechter Ergebnisse beurteilt werden, andererseits aber auch anhand der Betrachtung der Gerechtigkeit der tatsächlich generierten Ergebnisse. Beide Ansatzpunkte bilden das Spannungsverhältnis zwischen iustitia und aequitas, welches nicht zuletzt aus dem notwendig abstrakten Charakter der Spielregeln entsteht210. Die Auflösung dieses Spannungsverhältnisses ist kaum möglich: Während die Systemgerechtigkeit den Anspruch haben muß, in der Vielzahl der Fälle zu gerechten und zweckmäßigen Lösungen zu führen, muß es versagen, wenn es gilt, in jedem einzelnen Fall eine billige, die besonderen Gegebenheiten der Situation integrierende Ordnung zu schaffen. Vor allem aber gilt es zu bedenken, daß auch der Wunsch nach Billigkeit unserem rationalen Vorteilsstreben entspringt, so daß die beteiligten Parteien jeweils eigene Vorstellungen von der zu schaffenden "billigen" Ordnung haben. Das gilt im Großen (Art und Weise der Regulierung der Energiewirtschaft) wie im Kleinen (Ausgestaltung eines Netznutzungsvertrages). Die Auflösung solcher widerstreitenden, egoistischen Billigkeitsvorstellungen kann nur durch ein Verfahren geschehen, welches gerechten Regeln folgt. Wenn aber solche abstrakten Regeln an der Aufgabe der Billigkeit scheitern, kann die Lösung nur noch in einem dem Richter freie Hand lassenden Einzelfallrecht gesucht werden 211 • Dies geschieht freilich um den 209 Vgl. die Kritik von Flume; Festschr. DJT, S. 141, wonach sich eine auf Selbstbestimmung gründende Ordnung einer rechtlichen Beurteilung der Richtigkeit entziehe; ders., Rechtsgeschäft, S. 8; v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit,

s. 105.

210 Zu dem Unterschied in der Blickrichtung von iustitia (deduktiv) und aequitas (induktiv), vgl. A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 158 f. 211 Dies wurde wohl am weitgehendsten von der Freirechtsschule gefordert. Kritisch zu der Tendenz der Verfassungsbeschwerde, an die Stelle der Ergebnisse des positiven Rechts die Billigkeit zu setzen neuerdings Roelleke, JZ 200 I, 114 ff. Er vergleicht diese Entwicklung mit der ursprünglichen Unterscheidung des englischen

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Preis der Rechtssicherheit und - was schlimmer wiegt - um den Preis der Gleichheit vor dem Gesetz. Zudem ist zu bedenken, daß auch der Richter (kraft seiner konstitutionellen Unwissenheit, gepaart mit seinem die Gesetzesauslegung beeinflussenden Vorverständnis) kaum die jedem singulären Ereignis zukommende Billigkeit zusprechen kann, denn "das kann nur die Willkür und - paradoxerweise - die Gnade, bei der die Gerechtigkeit tatsächlich aufgehoben wird"212. Folglich ging es Schmidt-Rimpler weniger um die Frage der Richtigkeit des konkreten Einzelvertrags. Vielmehr wollte er mit dem Terminus der "Richtigkeitsgewähr" die Funktionsfähigkeit des privatautonomen Systems beschreiben. Dieses gewährt die Chance zur Schaffung einer für die Beteiligten zweckmäßigen Ordnungen, die reflexartig dann auch das Allgemeinwohl fördert (siehe § 5 I 2). Die Richtigkeilsgewähr ist somit als ein Versprechen zu verstehen, nach welchem die Regeln eine für jeden Einzelnen tolerierbare Ordnung seiner Verhältnisse generieren können, ohne aber stets alle zufrieden stellen zu können213 . Für die Auslegung des § 19 GWB folgt aus dieser Erkenntnis, daß eine Intervention in die Verhaltensspielräume der Unternehmen nicht schon bei jedem Verstoß gegen die Billigkeit eines einzelnen Vertrags erfolgen muß. Die Rufe nach richterlicher Inhaltskontrolle setzten sonst das Gesamtprozedere, das wesentlich auf die freiwillige Zustimmung zu einem Vertrag basiert, unter den Vorbehalt, daß eine Partei die Vereinbarung wegen "einer gewandelten Motivationslage"214 richterlich überprüfen läßt. Die Herstellung äquivalenter Vertragsinhalte, etwa die Suche nach dem iustum pretium, kann demnach nicht das primäre Ziel der Norm sein. Vielmehr ist immer dann mit Hilfe des § 19 GWB einzuschreiten, wenn durch das privatrechtliche Ordnungssystem typischerweise keine tolerierbare Ordnung geschaffen, wenn also das Richtigkeilsversprechen von vomherein nicht eingelöst werden kann. Anhaltspunkte für eine tolerierbare Ordnung sind insoweit nicht diffusen Gerechtigkeitsvorstellungen zu entnehmen, sondern der Verfassung (näher dazu § 7).

Rechts zwischen dem Common Law der königlichen Richter und der Equity, dem Billigkeitsrecht, mit welchem der König Härten des Common Law milderte (Roelleke, aaO, S. 118). 212 A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 160, Hervorhebungen im Original. 2 13 So Schmidt-Rimpler richtig interpretierend Brox, JZ 1966, 762. 214 Vgl. Ritger, JZ 2002, 120.

III. Ursprüngliche Funktion und nachträgliche Voraussetzungen

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2. Kräfteäquivalenz als Voraussetzung eines "gerechten" Vertragsschlusses?

Bekräftig die These von der Richtigkeilsgewähr insoweit das Ordnungssystem des BGB, sorgt Schmidt-Rimpler zugleich selbst für einen Angriffspunkt, der im Fortgang der Debatte immer stärker zu einer Gefcihrdung der Privatautonomie avancieren sollte. Die Rede ist von den Funktionsgrenzen des Systems. Diese sind zwar bereits von den Schöpfern des Gesetzes erkannt, aber im wesentlichen auf prozedurale Funktionsvoraussetzungen beschränkt worden, doch hat Schmidt-Rimpler allgemeiner formuliert, der Vertrag sei ungeeignet, wenn die Freiheit der Entscheidung typischerweise, insbesondere wegen Abhängigkeit einer Partei von der anderen, fehle" 215 • Namentlich die im Anschluß an die Untersuchungen Schmidt-Rimplers aufgestellte These, von einer Richtigkeilsgewähr privatautonomer Verträge könne nur bei annäherndem Kräftegleichgewicht gesprochen werden, hat sich großer und andauernder Beliebtheit erfreut216• Da einer ungleichen Machtverteilung die Tendenz zu "unrichtigen", gar "ungerechten" Ergebnissen attestiert wird217, ist auf diesem Wege die Marktmacht in der Privatrechtsdogmatik diskreditiert und gleichzeitig als Vorwand benutzt worden, das tradierte Vertragsdenken zugunsten einer weitgehenden richterlichen Inhaltskontrolle aufzugeben 218 • Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes, zum Schutz des schwächeren Vertragspartners die Herstellung von "Waf215 In: AcP 147 (1941), in der Fußnote 34 auf S. 157 f., in welcher SchmidtRimpler eine eingehendere Untersuchung in Aussicht stellt. 216 Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 8; Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, S. 37 f.; Köhler, BGB AT, S. 106, scheint gar bei jedem Ungleichgewicht der Vertragsparteien ein Eingreifen des Gesetzgebers, der Gerichte oder der Verwaltung zur Herstellung von Chancengleichheit oder zur Kontrolle des Vertragsinhalts zu fordern; Larenz/Wolf, AT, S. 37 f.; Paulus/Zenker, JuS 2001 , 2; Zweigert, Festschr. f. Rheinstein, S. 502 ff., der sogar fordert, man müsse die Vertragsfreiheit als Prinzip fallen Jassen, da sie nur unter gleich starken Partner funktioniere und diese sozialen Gegebenheiten nirgends zu finden seien; auch BAG v. I 0.3.1972, BB 1972, 1005, 1007; skeptisch zu der "allzu vagen Formel" vom Machtgefälle Umbach, JuS 1985, 15. 217 Limbach, JuS 1985, 10; Schmidt, JZ 1980, 155; Wieacker, Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 16; Zöllner, JuS 1988, 331, jeweils mit weiteren Nachweisen. 218 Stellvertretend Rebe, Privatrecht und Wirtschaftsordnung, S. 92 f.: "Die wirtschaftliche Entwicklung unter der Geltung des BGB hat gezeigt, daß insbesondere die Vertragsfreiheit in ihrer stillschweigenden Ausrichtung an der Fiktion gleichstarker Vertragspartner die permanente Reproduktion ökonomischer Ungleichheit in einem Maße ermöglicht hat, das die Grundlage seiner Funktionsfähigkeit heute in weiten Bereichen beseitigt . . . hat. Die vom Gesetzgeber gewollte Neutralität wird in der Realität zur (ungewollten) Parteinahme und Begünstigung des wirtschaftlich Handlungsfähigeren."

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fengleichheit" zu fordern 219 und die Kompensation gestörter Vertragsparität gar zu den Prinzipien des geltenden Rechts zu erheben220. Zugleich ist gefordert worden, materielle Einzelfallbilligkeit durch staatliche Intervention zu garantieren, da das Ziel der Ökonomie und des Wirtschaftsrechts nicht nur Preis- sondern allgemein Vertragsgerechtigkeit sei221 • Leistung und Gegenleistung müßten zwar nicht in meßbarer Gleichheit gebracht werden, sich aber immerhin in "schätzbarer Äquivalenz" gegenüberstehen222• Gleichwohl basiert das Postulat annähernder Kräfteäquivalenz in dem weit überwiegenden Teil der Fälle von Vertragsschlüssen auf einer phänomenologischen Schimäre. Vor allem ist bisher nicht überzeugend dargetan worden, wie sich dieses Prinzip in der Vergangenheit hat bewähren können: Daß sich Vertragspartner von unterschiedlicher Stärke gegenüberstehen, ist in unserer kompetitiven Ordnung nämlich der RegelfalL Keineswegs wird aber regelmäßig der weit weniger "mächtige" Konsument beim Abschluß eines Energielieferungsvertrages zwangsläufig einen für ihn mißbräuchlichungünstigen Energiepreis zu zahlen haben223 • Vielmehr wird ein gegenseitiger Vertrag auch zwischen erheblich heterogenen Vertragspartnern in aBer Regel im Bereich des rechtlich tolerierbaren liegen. Der Grund dafür, daß sich Unternehmen, ob marktbeherrschend oder nicht, ihr gegenüber dem einzelnen Verbraucher gewaltig erscheinendes Verhandlungspotential nicht in Anschlag bringen, ist vergleichsweise banal. Wenn für den Vergleich der Verhandlungsstärke ein einzelner Verbraucher einem Unternehmen gegenübergestellt wird und dann auf eine Unterlegenheit des Konsumenten geschlossen wird224, so ist schon dieser Vergleichsmaßstab unrichtig. Unternehmen betrachten die Konsumenten nicht als Individuen, sondern als Gesamtheit. Diese "Marktgegenseite" als der Kreis aBer potentieBen Kunden hat auch ohne geseBschaftsrechtliche Verfestigung eine 219 Vgl. zu dem Terminus und daraus abgeleiteten weitreichenden Interventionsforderungen Bartholomeyczik, AcP 166 ( 1966), 30 ff. 22o Hönn, JZ 1983, 680. 221 Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 31. 222 Dazu sei "eine Annäherungstendenz zu objektiver Gleichwertigkeit" nachzuweisen, Bartholomeyczik, AcP 166 (1966), 33. 223 Für den Bereich der sonstigen Konditionen ist allerdings Hilfe durch die Regelung der AGB für notwendig erachtet worden. Dies liegt aber zu einem großen Anteil auch daran, daß die Konsumenten Preise meist eingehender vergleichen als Geschäftsbedingungen und sich die Marktmacht an dieser SteHer leichter durchsetzen läßt als bei der offensichtlichen Preisgegenleistung. 224 So Reich, Markt und Recht, 1977, 181 ff., der daraus schließt, mit der Konsumentensouveränität fehle der Marktwirtschaft "die entscheidende ideologische Legitimationsbasis" (aaO, S. 183). Die ,,Legitimationsbasis" der Marktwirtschaft ist aber die Verfassung, derzufolge Freiheitssphären verhältnismäßig und konkordant abzugrenzen sind und es demzufolge keinen "Souverän unter Privaten" gibt.

III. Ursprüngliche Funktion und nachträgliche Voraussetzungen

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hinreichende Marktstärke, so daß von einer annähernden "Waffengleichheit" gesprochen werden kann. Sollte nämlich eine Leistung zu überhöhten Konditionen angeboten werden, dann wird sich nicht nur ein einzelner Abnehmer vom Vertragsschluß abschrecken lassen, sondern möglicherweise die ganze Marktgegenseite. Insoweit bedarf es keines abgestimmten, koordinierten Verhaltens der Konsumenten, sondern nur der rationalen Verfolgung ihrer Interessen. Insbesondere dort, wo kein Monopol vorliegt, also ein Minimum an Wettbewerb besteht, verwischt dieser ein bei individualisierender Betrachtungsweise bestehendes Machtungleichgewicht225 . Aber auch dort, wo nach herrschender Betrachtungsweise kein wirksamer Wettbewerb mehr vorliegt, ist der einzelne Verbraucher nicht der Willkür des Unternehmers ausgesetzt, ja liegt oftmals keine ausnutzbare Marktbeherrschung vor. Schließlich sind viele Produkte wesentlich substituierbarer als dies gemeinhin von dem Bedarfsmarktkonzept226 dargestellt werden kann, mit der Folge, daß auch dort notwendiger Wettbewerbsdruck herrscht, wo für das eigentlich relevante Produkt gern. § 19 Abs. 2 GWB eine marktbeherrschende Stellung eines Unternehmens anzunehmen ist. Da Interessen, Wissen und Präferenzen dezentral verteilt sind, vermag niemand zu sagen, ob sich Verbraucher nicht in Hochzeiten von Autopreisen eher zu einer teureren Reise entschließen und den Autokauf zurückstellen. Insoweit stellt auch das Bedarfsmarktkonzept nur eine leidlich justitiable Anmaßung von Wissen dar227 . Anders kann sich die Situation freilich dort darstellen, wo dem Verbraucher durch langfristig ausgerichtete Investitionen die Substitutionsmöglichkeiten genommen sind: Wer etwa durch die Anschaffung einer Gasheizung oder gar durch den Anschluß an eine Gasleitung in Form größerer Ausgaben in Vorleistung gegangen ist, wird nicht allzu leicht zu anderen Energieträgern wechseln wollen, wären doch sonst die Investitionen "sunk costs". Freilich wird hier der Wettbewerb um die Akquisition von Neukunden einen gewissen Ausgleich auch für die bereits an einen Energieträger gebundenen Abnehmer schaffen. Für § 19 GWB bedeutet dies, daß grundsätzlich nicht die Marktmacht das Interventionsziel ist. Das privatrechtliche Ordnungssystem erfordert in der Regel keine Kräfteäquivalenz. Freilich existieren typisierbare Fallgruppen, in denen die Ungleichheit der Verhandlungsstärke die mißbräuchliche Canaris, Festschr. f. Lerche, S. 882; Rittner, AcP 188, 126 ff. Dieses Konzept fragt nach der funktionellen Austauschbarkeif von Produkten und stellt dabei auf die Sichtweise des verständigen Durchschnittsverbrauchers ab, statt vieler Gassner, Kartellrecht, S. 30 f. 227 Noch weitergehend Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 337 u. 347, der wegen der Bedingtheit sämtlicher Preise von einem einheitlichen Markt und einem einheitlichen Wettbewerb ausgeht. 225

226

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§ 6 Neue Grenzen oder .,materielle Aufladung" des Privatrechts?

Ausnutzung derselben auch tatsächlich auslöst. Dies sind insbesondere Situationen, in denen die Marktmacht sich derart verdichtet, daß ein Ausweichen der Gegenseite nicht - jedenfalls nicht zeitnah - möglich ist und zudem eine große Abhängigkeit von dem Produkt oder der Dienstleitung besteht. Namentlich bei einer dauerhaften Monopolstellung oder einer solchen im Bereich lebenswichtiger oder elementarer Güter ist der Marktgegenseite ein Ausweichen oder langes und ungewisses Abwarten auf den Zutritt potentieller Konkurrenz nicht zuzumuten. In diesem Fall muß dann entweder die Marktmacht selbst zum Interventionsziel werden oder das Ergebnis selbst korrigiert werden, soweit nicht nur die Billigkeit in Rede steht, sondern die Richtigkeilsgewähr dauerhaft ausgeschaltet wird oder keine von der Rechtsordnung tolerierbare Ordnung geschaffen werden kann.

§ 6 Neue Grenzen oder "materielle Aufladung"

des Privatrechts?

Gegen die Relevanz des privatrechtliehen Ordnungssystems in der dargestellten Form ließe sich einwenden, es beschriebe einen inzwischen überholten Zustand. Insbesondere die Diskussion um eine "Materialisierung" des Privatrechts228 wirft die Frage auf, wieviel von dem formal-prozeduralen System übrig geblieben ist. Eine Antwort darauf muß hier nur in einem begrenzten Umfang gefunden werden. Es gilt nur die Tendenzen aufzuzeigen (I) und zu überprüfen, ob und wie sich diese in das tradierte Gefüge einfügen lassen bzw. ob Normen wie § 19 GWB eine neuartige Funktion zukommt (II).

I. Nachträgliche ,,Materialisierung" des Privatrechts Es waren zunächst die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen im Gefolge des 1. Weltkrieges229, aber auch die in Zeiten des wirtschaftlichen Wohlstands angestiegenen sozial- und wohlfahrtstaatlichen Erwartungen230, die zu einer Fokussierung des materiellen Kerns privatautonomer Regelungen führten 231 . Nicht zuletzt die Bedeutung des Grundgesetz für die privat228 Dazu zuletzt Canaris, AcP 200 (2000), 273 ff.; Ritger, JZ 2002, 114 ff. jeweils mit weiteren Nachweisen. 229 Larenz/Wolf, AT, S. 37. 230 Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnung, S. 265 ff., zu der öffentlichen Erwartung auf .,staatliche Erfüllungsverantwortung" gerade auch auf Feldern privater Problembewältigung. 231 Dieser Erwartungshaltung an einen weniger liberalen, als vielmehr sozialen Rechtsstaat wurde von einer sich zunehmend emanzipierenden und selbstbewußteren Rechtsprechung, namentlich des Reichsgerichts, entsprochen, dazu Wieacker,

I. Nachträgliche "Materialisierung" des Privatrechts

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rechtliche Ordnung öffnete dem "blinden Richter" bei der Subsumtionsarbeit die Augen für die gesellschaftspolitischen Grundlagen des Zivilrechts. Als Initialzündung kann insoweit die "zivilrechtliche Inkraftsetzung" der Normativität der Grundrechte durch das Elfes-Urteil des BVerfG232 gewertet werden233 • Diese Entwicklung ist im Hinblick auf die Vertragsfreiheit von vielen spätestens seit der - den Streit über die Sittenwidrigkeit von Verwandtenbürgschaften beilegenden -Entscheidung des BVerfG vom Oktober 1993 234 als Hinwendung zu einem "materiellen Privatautonomieverständnis" aufgefaßt worden235 . Demgegenüber waren die Eingriffe des Gesetzgebers in das liberale Ordnungssystem des BGB bis zur Zeit des Nationalsozialismus noch von Zurückhaltung geprägt. Aber auch hier läßt sich mit Implementierung des "sozialen Rechtsstaats" durch das Grundgesetz eine erhöhte Dynamik konstatieren 236• Regelungen des Arbeits- und Verbraucherschutzrechts, möglicherweise auch des Kartellrechts 237 , fügen sich jedenfalls in diese, von der Rechtsprechung vorgezeichneten Entwicklungslinie ein, neuere Ansätze im Urheberrecht schreiben sie gar fort238 •

Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 520, der die Rspr. des Reichsgerichts zur Geschäftsgrundlage als "Rückkehr zum materiellen Äquivalenzprinzip" deutet. 232 BVerfG v. 16.1.1957, BVerfGE 6, 32 ff. 233 Dieses verweist aber beinahe entschuldigend darauf, daß schon das Reichsgericht das Modell formal gleicher Teilnehmer am Privatrechtsverkehr zugunsten einer materialen Ethik sozialer Verantwortung aufgegeben habe (BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214, 233). 234 BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214 ff. Die vorangegangenen Entscheidungen verhielten sich nicht eindeutig zu dieser Frage, da sie überwiegend den Bereich des Nichtvertragsrecht behandelten (vgl. Spieß, DVBI. 1994, 1222, 1225). Eine Ausnahme stellt die Entscheidung des BVerfG v. 7.2.1990, BVerfGE 81, 242 ff., zu der Wirksamkeit einer wettbewerbsuntersagenden Klausel dar. 235 Zur Begrifflichkeil statt vieler Canaris, AcP 200 (2000), 273 ff., vgl. auch die zustimmende Urteilsanmerkung von Grün, WM 1994, 713 ff. Aber auch ohne eine allgemeine Tendenz zu einer ,,Ethisierung des Privatrechts" konstatieren zu wollen, wird man dem Bürgschaftsurteil des BVerfG zustimmen müssen: Die Gegenmeinung konnte mit ihrem kurzschlüssigen Verweis auf die Privatautonomie und dem Dreisatz "volljährig-geschäftsfähig-wirksam" nicht überzeugen, sondern hätte ihre Ansicht auf eine verfassungsrechtlich gesicherte Abwägung der Freiheitsinteressen stützen müssen. Dabei hätte auffallen müssen, daß die konkreten Bürgschaftsverträge dem Einzelnen auf Dauer die tatsächlichen Grundlagen privatautonomen Wirtschaftens entzogen hätten und damit in die Nähe der Schutzvorschrift des § 310 BGB gelangten; vgl. dazu Paulus/Zenker, JuS 200 I, 2 f. 236 Zu den Anfangen dieser Entwicklung Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 532 ff., 545 ff. 237 Insbesondere dann, wenn man dem GWB einen verbraucherschützenden Charakter attestiert, so: FK-Paschke/Kersten, § 22 Rn. 33; Reich, ZRP 1975, 159; distanzierter von einem "mittelbaren Verbraucherschutz" sprechend Monopolkommission, Sondergutachten I, Rn. 34.

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Eine endgültige Beurteilung dieser Entwicklung und seiner Auswirkungen auf das privatrechtliche Ordnungssystems und seines Grundgedankens der formal-prozeduralen Richtigkeitsgewähr steht noch aus. Während teilweise die Privatautonomie als Institut zur Disposition gestellt wird239, flüchten sich andere in die Kompromißformel der "richtig verstandenen Privatautonomie"240. Ob allerdings Parolen, die von einer "Schrumpfung"241 , gar einem "Funktionsverlust"242 oder einer "Krise des Vertragsrechtes"243 , jedenfalls aber von einer "ethischen Materialisierung"244, künden, tatsächlich zutreffen und wie diese Entwicklung zu bewerten ist, ist hier nicht detailliert zu beantworten. Für unsere Zwecke entscheidend ist es aber, zu erfahren, ob das oben skizzierte Ordnungssystem des Privatrechts im Grundsatz weiterhin Bestand hat und wie sich neugeschaffene Durchbrechungen der Privatautonomie, etwa durch § 19 GWB, darin einfügen lassen. Es geht also darum zu erfahren, ob sich das Ordnungssystem des Privatrechts in einer Weise verändert hat, daß auch einer Einbruchstelle hoheitlicher Gewalt wie § 19 GWB neue Aufgaben zukommt. Falls dem so ist, könnten der hier zu untersuchenden Verbotsnorm andersartige Aufgaben zukommen, als den Rahmen freiheitlichen Handeins gegenüber Mißbräuchen abzustecken. Auch hier ist somit eine grundsätzliche Weichenstellung vorzunehmen. II. Vereinbarkeil materialer Erwägungen mit der Privatrechts- und Verfassungsordnung

Wer die Privatautonomie zugunsten einer näher zu spezifizierenden Sozialautonomie aufgibt245 , verlangt nicht nur negativ die Verhinderung des Mißbrauchs, sondern positiv die Schaffung von Waffengleichheit im geschäftlichen Verkehr246. Eine entsprechende Auslegung des § 19 GWB wäre diesem Ziel genauso dienlich, wie es dieser Neuausrichtung ent238 Als ein weiterer Markstein könnte sich die geplante Einführung eines gesetzlichen Anspruchs auf eine "angemessene Vergütung" im Urheberrecht erweisen, vgl. dazu krit. Ritger, JZ 2002, 114 ff. 239 E. Schmidt, JZ 1980, 153 ff.; Zweigert, Festschr. f. Rheinstein, S. 502 ff. 240 Siehe dazu Medicus, BGB AT, Rn. 176 ff., der sich selbst einer eindeutigen Stellungnahme enthält. 241 Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, S. 10. 242 Raiser, aaO. 243 Hanau, AcP 165 (1965), 220; MünchKomm-Kramer, Rn. 4 vor§ 145; Reinhardt, Festschr. f. Schmidt-Rimpler, S. 115. 244 Hönn, JZ 1983, 680 mit weiteren Nachweisen. 245 E. Schmidt, JZ 1980, 153 ff.; ähnlich auch Derleder, Festschr. f. Wassermann, S. 643, 650 ff.; Zweigert, Festschr. f. Rheinstein, S. 502 ff. 246 In diese Richtung Bartholomicyk, AcP 166 ( 1966), 30 ff.

II. Vereinbarkeit materialer Erwägungen

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spricht, § 138 Abs. I BGB in einer Weise auszulegen, nach der "Sittenwidrigkeit" schlicht "soziale Ungerechtigkeit" bedeute247. Dies ersetzt die Freiheit der inhaltlichen Gestaltung von Verträgen durch das Erfordernis gesellschaftspolitischer und sozialer Zielkonformität und stellt die Rechtswirksamkeit privater Verträge grundsätzlich unter den Vorbehalt, daß sie - von wem auch immer definierte - supraindividuelle und supravertragliche Zielsetzungen wie die soziale Gerechtigkeit abbilden. Die handelnden Einzelnen werden letztlich zu Funktionären der Gesamtrechtsordnung degradiert248 . Mit dieser "ethischen Aufladung" des Privatrechts ist eine deutliche Abkehr vom wissenschaftlichen Formalismus des 19. Jahrhunderts und eine Hinwendung zu einer materialen Vertragsethik zu konstatieren, die der "altnaturrechtlichen Rechtsauffassung" enger verbunden ist als den Pandektenwissenschaftlern249. Freilich läßt sich die Systemkonformität des Konzepts der Sozialautonomie mit der herrschenden Rechts- und Wirtschaftsordnung, vor allem aber mit der Verfassung in Zweifel ziehen. Wenn der Gedanke Euckens von der Interdependenz der Ordnungen richtig ist250, dann kann es ein grundsätzlich freiheitliches Wirtschaftssystem und vor allem ein grundsätzlich freiheitliches Verfassungssystem nicht ohne privatrechtliche Entsprechung geben. Selbst wenn die Vertragsfreiheit nicht verfassungsrechtlich sakrosant ist251 , kann sich der Interpret des Zivilrechts in einer für die Gesamtrechtsordnung 247 E. Schmidt, in: Esser/Schmidt, Schuldrecht AT I, S. 6; siehe auch StaudingerSack, § 138 Rn. 26; Damm, JZ 1986, 913, 918. 248 Die Nähe solcher Ansichten zu undemokratischen und totalitären Systemen zeigt sich plastisch daran, daß insbesondere zur Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Stimmen laut wurden, nach welchen der Vertrag nur noch als Vehikel zur Erreichung einer "völkischen Ordnung" diene und der Einzelne nur noch insoweit Bedeutung erlange, als er und seine Präferenzen sich "positiv in die völkische Ordnung" einkleiden, so mit bezeichnendem Duktus Larenz. Vertrag und Unrecht, s. 31 ff. 249 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 540 f. Diese Tendenz führt seiner Ansicht nach nicht nur zu der "Mißachtung der Unantastbarkeit sittlich tadelfrei begründeter Vertragsrechte", sondern auch zu einer "Aufweichung des Sinnes für die gewissenhafte Erfüllung übernommener Verpflichtungen". 250 Eucken, Grundlagen der Nationalökonomie, S. 52 f. 25 1 Anders wohl Mestmäcker, AcP 168 (1968), 240, der die Privatrechtsordnung Vorrang vor dem ,jüngeren" GG einzuräumen scheint. Zum Streit, ob die Vertragsfreiheit ein verfassungsrechtliches Institut darstellt, vgl. Krause, JZ 1984, 716 mit zahlreichen Nachweisen. Ohne daß dieser Frage hier en detail nachgegangen werden kann, so scheint dieser Streit doch seiner Substanz insoweit zu entbehren, daß selbst das Konstatieren eines solchen Instituts die Vertragsfreiheit nicht verfassungsrechtlich unangreifbar stellte, wären doch auch in diesem Fall gesetzliche Inhaltsund Schrankenbestimmungen möglich. Insoweit stellten sich auch in diesem Fall die alten Abwägungsfragen zwischen den Freiheitsrechten der Beteiligten sowie dem Gebot der Sozialstaatlichkeit.

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§ 6 Neue Grenzen oder "materielle Aufladung" des Privatrechts?

wesentlichen Frage wie der Entscheidung zwischen Privat- und Sozialautonomie nicht den unübersehbaren Zeichen der Freiheit verschließen, die aus dem marktwirtschaftliehen Wirtschaftssystem und der Tradition unseres Privatrechts in unsere Zeit hineinwirken (dazu §§ 4, 5). Insbesondere die inhaltsneutrale Freiheitsgewährleistung der Grundrechte (§ 4 IV) zeigt, daß das Grundgesetz die Ausübung der Privatautonomie nicht unter einen "Sozialverträglichkeitsvorbehalt"252 stellt. Aber auch innerhalb des Systems des Privatrechts erheben sich schwerwiegende Zweifel daran, ob sich ein materiales Verständnis der Privatautonomie hinreichend begründen läßt. Soweit die Hinwendung zu einer objektiven Äquivalenz als "Meßlatte" von Verträgen damit begründet wird, die Institution der Privatautonomie werde vom "Gedanken der ausgleichenden Vertragsgerechtigkeit" ergänzt, wie er sich in den Normen des dispositiven Gesetzesrecht spiegele253 , ist dem eben dieser dispositive Charakter entgegen zu halten: Indem das privatrechtliche Ordnungssystem die Abweichung von den Vorschlägen des Gesetzes zuläßt, zeigt es gerade Vertrauen in die Ordnungskraft von außen unbeeinflußter Vertragsschlüsse, mögen sie auch dem Ideal "ausgleichender Vertragsgerechtigkeit" nicht entsprechen. Auch die Lehre von der Richtigkeilsgewähr bestätigt - in ihrem wohlverstandenen Sinne - das System formal-prozeduraler Rationalität, verwirft den Gedanken der Einzelfallbilligkeit und kann keineswegs zur Aufstellung einer generellen Funktionsvoraussetzung "Kräfteäquivalenz" uminterpretiert werden (siehe § 5 III). Aus wirtschaftspsychologischer und ordnungsökonomischer Sicht kann zudem bezweifelt werden, daß die staatliche Verpflichtung der Privaten zur Beachtung und Erreichung exogener Vorgaben hinreichende Ergebnisse zeitigt, werden die Folgen auf der Ergebnisebene doch durch findige menschliche Individuen vermittelt, die stets danach trachten, ihre Interessen vor denen einer Fremd- oder Zentralinstanz durchzusetzen254. Letztlich stehen sich exogene Zielvorgaben und ein auf rational-eigennützigem Handeln basierendes privatrechtliches Ordnungssystem wesensfremd gegenüber (siehe § 5 II). Zutreffend Ritger, JZ 2002, 117. wrenz/Wolf, BGB AT, § 2 Rn. 24. 254 Siehe dazu schon oben § 3, sowie Kirchler, Wirtschaftspsychologie, S. 12 f.; vgl. auch Kirchner, Festschr. f. Schmidt, S. 41; zur Ungeeignetheil normativer Handlungsvorgaben zum Determinismus individuellen Handeins Hesse/Koch, in: Weber, Wirtschaftswissenschaften, S. 506; zu der grundlegenden ordnungstheoretischen Unterscheidung zwischen Regelordnung und Handelnsordnung, aus der etwa auch bei regelkonformen Spiel Folgen erwachsen können, die von einigen als "ungerecht" empfunden werden vgl. etwa Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, s. 102 ff. 252 253

li. Vereinbarkeil materialer Erwägungen

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Schließlich wendet sich auch die im Begriff der Sozialautonomie zum Ausdruck kommende Nuancierung des Allgemeinwohls und der materiellen Ordnung gegen das Postulat selbst: Erreicht die gesetzliche Bindung der "unsichtbaren Hand" der Akteure nämlich ein kritisches Ausmaß, geht damit eine starke Verlagerung wirtschaftlicher Kompetenz von den Privaten zum Staat einher. Der Austausch privater Macht durch die Macht einer hoheitlichen Zentralinstanz setzt an die Stelle der Fremdbestimmung durch einen (sachnahen) Privaten diejenige durch den (sachferneren) Staat255 und führt auf diesem Weg zu Fehlallokation von Ressourcen256. Bei dieser Folgenabschätzung kann es daher nicht verwundern, daß auch die Rechtsprechung des BGH, die sonst in vielfältiger Form den Gedanken des Verbraucherschutzes gegen die Vertragsfreiheit in Stellung gebracht und diesem oftmals rechtspolitisch zum Durchbruch verholfen hat257 , gegensteuert, wenn es gilt, den Ausgangspunkt und die Grundlagen des Systems zu verteidigen. So weigerte sich der BGH, seine Rechtsprechung zu § 138 BGB an die "laesio enormis" anzunähern, indem es die sogenannte "Sandhaufen-Theorie"258 verwarf. Festgehalten wurde vielmehr an dem Grundsatz, daß ein auffälliges Mißverhältnis zwischen den auszutauschenden Leistungen für sich allein nicht den Vorwurf der Sittenwidrigkeit oder des Wuchers erfüllen kann, es vielmehr weiterer Tatbestandsmerkmale, namentlich einer (subjektiv) verwerflichen Gesinnung, bedarf259 . Dies deutet auf eine dezidierte Wertsetzung hin, die der BGH jüngst dadurch bekräftigt hat, daß die freie inhaltliche Bestimmung der Hauptpflichten eines Vertrages als der "Kernbereich privatautonomer Vertragsgestaltung" gewürdigt wird 260 . 255 Die Durchsetzung einer staatlich gesetzten Ordnung hat zudem negative Folgen für die Gesamtrechtsordnung: Raiser (Festschr. f. DJT, S. 119) hat zutreffend darauf hingewiesen, daß auch die Gesamtrechtsordnung aus vertraglichen Kleinordnungen positive Einflüsse empfangen kann, ja die positive Rechtsordnung oder das Richterrecht durch sie weiter entwickelt werden. 256 Dies ist eine Erkenntnis, die inzwischen auch von der Wirtschaftswissenschaft in die Rechtswissenschaft getragen worden ist. So verweist Reuter, AcP 189 ( 1989), 189 ff., auf die Fehlallokationen durch staatliche Eingriffe in das Miet- und Arbeitsrecht. 257 Die Beispiele hierfür sind vielfältig, wobei die Rspr. zu den Allgemeinen Geschäftsbedingungen sicher am augenfälligsten ist und bekanntlich ihren Niederschlag im AGBG fand. Dazu und zu weiteren Beispielen s. Medicus, NJW 2000, 2926. 258 Diese - noch im gleichen Verfahren von der Berufungsinstanz (OLG Stuttgart v. 24.4.1979, NJW 1979, 2409) angewendete - Theorie, bejahte einen Wucher schon dann, wenn ein Tatbestandsmerkmal des § 138 Abs. 2 BGB "übererfüllt" wird (hier ein besonders krasses Mißverhältnis der ausgetauschten Leistungen), ein darüber hinaus ebenso verlangtes Tatbestandsmerkmal hingegen nur "in geringem Maße" erfüllt ist. Kritisch dazu schon Canaris, ZIP 1980, 717; sehr deutlich jüngst noch Medius, NJW 2000, 2926. 259 BGH v. 12.3.1981, BGHZ 80, 153, 156.

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§ 6 Neue Grenzen oder "materielle Aufladung" des Privatrechts?

All dies zeigt, daß ein zielgerichtetes "social engineering"261 mit den Mitteln des Privatrechts oder einer privatrechtsrelevanten Norm wie § 19 GWB nicht zugelassen werden darf. Trotz anderslautender Zwischenrufe262 ist und bleibt damit die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit das Paradigma des deutschen Privatrechts263. Die Funktion der privatrechtsrelevanten Normen mit verhaltensbeschränkender Wirkung hat sich also auch in der jüngeren Vergangenheit nicht geändert: Es geht um die Verhinderung von Mißbräuchen, keineswegs aber um die zielabhängige Vergabe von Freiheitsräumen. Die Rufe nach einer Materialisierung des Privatrechts finden zwar einen gewissen Widerhall in Normen wie § 19 GWB. Doch auch diese wollen Grenzen ziehen und nicht lenken. Diese Normen sind teils materiell andersartig und möglicherweise auch enger als die tradierten Grenzlinien des allgemeinen Privatrechts. Aber innerhalb dieser Grenzen verbleibt den Vertragspartnern ein weitreichender inhaltlicher Spielraum, der durchaus auch zu Ergebnissen führen darf, die eine Seite überproportional benachteiligen und damit von inhaltlicher Äquivalenz weit entfernt sind. Das inhaltsneutrale Freiheitsversprechen des Privatrechts hat somit nach wie vor Gültigkeit.

260

BGH v. 16.11.1999, BGHZ 143, 128, 140.

Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 54. Vgl. E. Schmidt, JZ 1980, S. 153 ff.; Zweigert, Festschr. f. Rheinstein, s. 502 ff. 263 Canaris, Festschr. f. Lerche, S. 880 f.; siehe auch Ritger, JZ 2002, 114 ff. Ausgehend von diesem Befund lassen sich auch neuartige inhaltliche Vorgaben für einen Vertrag - etwa die Regelung der AGB, aber auch das kartellrechtliche Verbot des § 19 GWB - als eine gegenüber dem tradierten Zivilrecht schärfere Konturierung der Mißbrauchsgrenzen deuten. Selbst wenn man damit den Rechtsanwendern einen größeren Einfluß auf die Gestaltungsfreiheit von Massen- und Konsumentenverträgen einräumt, erfolgt aber keine inhaltliche Lenkung, sondern lediglich eine Zurückdrängung mißbräuchlicher Ausuferungen der Vertragsfreiheit Der Gesetzgeber hat auch durch die Regelung des § 8 AGBG sichergestellt, daß das Äquivalenzverhältnis in gegenseitigen Verträgen nicht kontrolliert wird und hat damit der Marktgerechtigkeit den Vorzug vor den - gewiß verlockenden und verheißungsvoll klingenden - Rufen nach einer objektiven Gerechtigkeit, gar einer Ergebnisgerechtigkeit, gegeben; dazu Staudinger-Coester, § 8 AGBG Rn. 2 mit zahlreichen weiteren Nachweisen, auch zu den gelegentlichen Interventionen der Rspr. in betriebswirtschaftliche Kostenkalkulationen. 261

262

§ 7 Verfassungsrechtliche Notwendigkeiten und Privatautonomie

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§ 7 Verfassungsrechtliche Notwendigkeiten zur Beschränkung der Privatautonomie Wenn soeben die freiheitliche Ausrichtung der Verfassung und die (prozedurale) Richtigkeilsgewähr des privatrechtliehen Ordnungssystems betont worden sind, so ist dies doch unter dem Vorbehalt geschehen, daß diese Grundsätze durchbrochen werden müssen, wenn dies ein verhältnismäßiges Mittel ist, um gleich- oder höherwertige Interessen Dritter zu schützen. Auch die Privatautonomie als ein tragendes Prinzip der Zivilrechtsordnung kann in unserer Verfassungsordnung schon deshalb keinen absoluten Vorrang vor allen übrigen Rechts- oder Verfassungsgütern beanspruchen264, da es sich bei der Freiheitsbetätigung im Wege der Privatautonomie nicht um die Geltendmachung eines streng individualistischen Rechtsgutes handelt, sondern um eine Freiheitsbetätigung, die aufgrund ihrer Sozialverflochtenheit gar nicht anders als mit Außenwirkung auf Dritte aktualisiert werden kann. Doch ergibt sich die Notwendigkeit der verfassungsrechtlichen Einschränkung der Privatautonomie noch aus einer weiteren Erwägung: Die Privatautonomie soll zur Selbstorganisation der Lebensbereiche durch private Vereinbarungen "richtige" Ordnungen und damit Rechtsfrieden schaffen. Dafür ist sie nicht nur auf eine staatliche Rahmenordnung angewiesen, welche die Durchsetzung des Gewollten ermöglicht und die dafür notwendigen Rechtinstitute vorhält, sondern bedarf ihrerseits verfassungsrechtlich gebundenen Instanzen, will man nicht das staatliche Gewaltmonopol zugunsten eines anarchischen Faustrechts ablösen265 • Aus diesen Gründen ergibt sich die Notwendigkeit die grundrechtlich geschützte Privatautonomie in Einklang mit den Grundrechten Dritter und anderen Verfassungsprinzipien zu bringen. Im Folgenden sollen daher die hier besonders interessierenden kartellrechtlichen Fälle der inäquivalenten Vertragsinhalte (dazu I) und der Zugangsverweigerung zu wesentlichen Einrichtungen (dazu II) beleuchtet werden.

264 Eine solche Alleinstellung absoluter Gültigkeit und Vorrangigkeit kommt im System des Grundgesetzes nur der Menschenwürde zu. Ein Bezug zur Menschenwürde erfahrt die Privatautonomie zwar in den Fällen, in welchen der Eingriff eine Qualität erreicht, ab der das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. I, I Abs. I GG) berührt wird, wie dies vom BVerfG in einem Fall zur Stellvertretung des Mindeijährigen durch die Eltern (§ 1629 BGB) entschieden worden ist, siehe BVerfG v. 13.5.1986, BVerfGE 72, 155, 170. 265 Zum Vorstehenden vgl. Erichsen, in: HdStR, § 152, Rn. 57; Flume, Rechtsgeschäft, S. 17 f.

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§ 7 Verfassungsrechtliche Notwendigkeiten und Privatautonomie

I. Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatautonomie bei inäquivalenten Vertragspflichten 1. Inäquivalente Vertragsinhalte als Verletzung der Freiheitsrechte

Im Bereich des Vertragsrechts stellt sich die Herstellung praktischer Konkordanz im Sinne einer ausgeglichenen, gleichgewichtigen Gewährleistung der zumeist gegenläufigen Interessen als ein schwieriges, wenn nicht unmögliches, Unterfangen dar. Privatautonome Vereinbarungen enthalten per definitionem Verpflichtungen, also Freiheitsbeschränkungen, die zumeist nicht aus altruistischen Gründen eingegangen werden, sondern wegen der Verpflichtung des Vertragspartners zur Gegenleistung. Es ist evident, daß sich nur bei vollständiger inhaltlicher Äquivalenz dieser Verträge, also bei der Vereinbarung eines "iustum pretium", beide Freiheitsrechte im Zustand der praktischen Konkordanz befinden. Demgegenüber läßt jede Abweichung von dem Idealzustand inhaltlicher Äquivalenz nur den Schluß zu, daß die Interessen eines der Vertragspartner nicht angemessen zur Entfaltung gekommen sind. Fraglich ist somit, ob die Verfassung zu einer Optimierung in dem Sinne anhält, daß nur ein inhaltlich vollständig gerechter Vertrag Bestand haben kann266. Bei dieser Annahme müßte immer dann von einem Ausbeutungsmißbrauch wegen überhöhter Preise im Sinne des § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB ausgegangen werden, wenn das iustum pretium bzw. der wettbewerbsanaloge Preis verfehlt worden ist. Nicht nur die rechtspraktische Unmöglichkeit der Definition inhaltlicher Äquivalenz in jedem Einzelfall, sondern auch die Frage, ob ein solches Postulat mit der im Grundgesetz verankerten freiheitlichen und marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung überhaupt vereinbar ist, lassen dies als zweifelhaft erscheinen. Diese Auffassung stellt nicht nur ein zu paternalistisches Staatsverständnis dar, sondern verstieße gegen die Grundvorstellung der Freiheitsrechte, welche in ihrem Urverständnis der Abwehr staatlicher Intervention in die Freiheitskreise Privater dienen, und ließe auf diesem Wege ein Grundrechtsverständnis zur Reife gelangen, welches sogar die Ansicht der unmittelbaren Drittwirkung an Durchschlagskraft überschritte. 266 In diese Richtung bedenklich weitgehend Spieß, DVBI. 1994, 1226, der davon ausgeht, daß in dem Maße ausgleichend einzugreifen ist, in welchem das Vertragsgleichgewicht tatsächlich gestört ist, wobei das GG dazu anhält, gleiche Verhandlungsvoraussetzungen zu sichern, damit die Wechselbeziehung zwischen Freiheitsbeschränkung und Freiheitsgewährung im Sinne einer praktische Konkordanz gelöst werden kann. Die Frage, ob ein solcher vertraglicher Gleichgewichtszustand, also eine äquivalente Macht- und Vertragspflichtenverteilung überhaupt von der Verfassung angestrebt wird und wie sie rechtspraktische erreicht werden kann, wird freilich nicht gestellt.

I. Grenzen bei inäquivalenten Vertragspflichten

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Insbesondere im Zivilrecht kann es nur Aufgabe der Grundrechte sein, einen Mindeststandard an Freiheit zu gewährleisten, nicht aber im Gegenteil Freiheitsbetätigungen bei der Schließung von Verträgen auf ein objektives Mindestmaß zu reduzieren267 . Die verfassungsrechtlich begründete Pflicht zur Schaffung einer praktischen Konkordanz der in den Vertragspflichten verkörperten Freiheitsrechte käme einer Aufgabe des Prinzip der privatautonomen Vertragsfreiheit gleich, ja ist "mit den Grundanforderungen an eine Gesellschaft von Freien und Gleichen" unvereinbar268 . Zudem widerspräche es dem Sinn privatautonom vereinbarter Verträge, wenn man vom Staat forderte, die Verhaltensspielräume der Einzelnen im privaten Rechtsverkehr in gleichem Maße zu schützen und zu erhalten, wie dies der Private im Subordinationsverhältnis gegenüber dem Staat verlangen kann 269 . Das BVerfG hat die verfassungsrechtlichen und praktischen Folgerungen nicht verkannt und schränkt daher die Wirkungskraft der Grundrechte in seiner "Bürgschaft"-Entscheidung dahin gehend ein, daß dem einzelnen im Rechtsleben ein "angemessener Betätigungsraum" eröffnet werden müsse270. Weiter heißt es: "Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden. "271 Bei der Aufgabe, den konkurrierenden Grundrechtspositionen in ausgewogener Weise Rechnung zu tragen, habe der Gesetzgeber eine weite Gestaltungsfreiheit272 • Damit wird evident, daß auch das Verfassungsgericht selbst nicht von einem richtigen Ergebnis im Sinne einer äquivalenten Vertragsgestaltung ausgeht. Statt des Postulats einer gleichgewichtigen Pflichtenverteilung bzw. eines 267 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 356; Rüfner, Gedächtnisschr. f. Martens, S. 223; Spieß, DVBI. 1994, 1226; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, s. 320. 268 BGH v. 16.5.1991, NJW 1991, 2015, 2017. Ebenso Wiedemann, JZ 1990, 696; vgl. auch Hager, Grundrechte im Privatrecht, S. 13; Medicus, ZIP 1989, 819. Diese unerwünschte Schlußfolgerung läßt sich auch nicht durch die Einschränkung vermeiden, nicht jede Kollision von Verfassungsrecht und Rechtsgeschäft habe zivilrechtliche Folgen, etwa die Feststellung der Sittenwidrigkeit nach § 138 BGB, so aber MünchKomm-Mayer-Maly, § 138 Rn. 16. Eine solche Auffassung stellt nicht nur den Vorrang des Verfassungsrechtes und die Bindung aller staatlichen Gewalt an das Grundgesetz (Art. I Abs. 3 GG) in Frage, sondern ist ein direkter Affront gegen die Normativität der Grundrechte. 269 Rüfner, Gedächtnisschr. f. Martens, S. 215, 221 f.; vgl. auch Hager, Grundrechte im Privatrecht, S. 4: "(. .. ) die Privatautonomie geriete in Gefahr, wenn die handelnden Subjekte denselben Schranken unterliegen sollten wie der eingreifende Staat." 270 BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214, 231; siehe auch BVerfG v. 15.7.1998, BVerfGE 98, 365, 395. 271 BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214, 232 (Hervorhebung vom Verf.). 272 BVerfG v. 7.2.1990, BVerfGE 81, 242, 255. 6 Kubicicl

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iustum pretium könnte man vielmehr von einer Schwankungsbreite sprechen, in dessen Grenzen sich eine Vielzahl verfassungsrechtlich tolerierter Inhalte finden lassen, unter ihnen auch solche, die keine homogene Verteilung von Rechten und Pflichten aufweisen, also nicht "gerecht" in einem egalitären Sinne sind. Eingedenk des eigenen Postulats, die Gewährleistung der Privatautonomie dürfe nicht leerlaufen273, verlangt das BVerfG mehr als das Verlassen der Äquivalenz und stellt dementsprechend höhere Eingriffsschwellen für die inhaltliche Überprüfung zivilrechtlicher Verträge: Ausgangspunkt und gleichsam negatives Leitbild einer korrekturbedürftigen Ordnung ist die Feststellung, daß "Verträge nicht als Mittel der Fremdbestimmung dienen" dürften274. Ein solches Gegenteil einer privatautonomen Vereinbarung sei anzunehmen, wenn der Inhalt des Vertrages für eine Seite "ungewöhnlich belastend" und als Interessenausgleich "offensichtlich unangemessen" ist. Somit werden - ganz ähnlich wie bei der Nichtigkeit sonst Vertrauen beanspruchender Verwaltungsakte275 - die Anforderungen einer besonderen Schwere und der Evidenz aufgestellt276• Doch bedeutet auch das Verlassen der oben genannte Schwankungsbreite keineswegs zwingend, daß die durch Art. l Abs. 3 GG Grundrechtsverpflichteten stets zur Korrektur des Vertrages angehalten sind. Das Verfassungsgericht hebt den Ausnahmecharakter staatlicher Intervention in private Vereinbarungen heraus, wenn es ausführt: "Allerdings kann die Rechtsordnung nicht für alle Situationen Vorsorge treffen, in denen das Verhandlungsgleichgewicht mehr oder weniger beeinträchtigt ist. Schon aus Gründen der Rechtssicherheit darf ein Vertrag nicht bei jeder Störung des Verhandlungsungleichgewichts nachträglich in Frage gestellt oder korrigiert werden"277 • Daher muß die ungewöhnliche und evidente Belastung Ausdruck einer "strukturell ungleichgewichtigen Verhandlungsstärke"278 sein und typischerweise bei den in Rede stehenden Konstellationen auftreten. BVerfG v. 7.2.1990, BVerfGE 81, 242, 254 BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214, 234. 275 Siehe dazu § 44 Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes. 276 Das Kriterium der Evidenz wird in dem Kammerbeschluß vom 5.8.1994 (BB 1994, 2296) nicht mehr ausdrücklich erwähnt, obwohl die Begründungspassagen im übrigen fast wörtlich mit denen der Grundsatzentscheidung übereinstimmen. Vielmehr wird hervorgehoben, es müsse eine typisierbare Fallgestaltung sein, die eine strukturelle Unterlegenheit erkennen lasse. Gleichwohl dürfte im Rahmen des § 138 BGB daran festzuhalten sein, da dieser nach hM verlangt, daß der Handelnde die die Sittenwidrigkeit begründenden Tatsachen gekannt hat bzw. sich deren Kenntnis bewußt verschlossen oder entzogen hat, vgl. BGH v. 12.3.1981, BGHZ 80, 153, 160 f. und zur Gegenmeinung Staudinger-Sack, § 138 Rn. 61 ff. mit weiteren Nachweisen zum Für und Wider. 277 BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214, 232. 273

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Zusammenfassend bedeutet dies, daß nicht jeder Einzelvertrag beim Verdacht eines Verhandlungsungleichgewichts einer Inhaltskontrolle unterworfen werden soll. Vielmehr besteht eine solche Berechtigung nur dann, wenn der in Rede stehende Vertrag (a) zu einer Gruppe von Verträgen gehört, von denen in der Regel erwartet wird, daß sie heterogene Machtverteilungen widerspiegeln und (b) auch tatsächlich eine ungewöhnlich belastende und offensichtlich unangemessene Vertragsbelastung eingetreten ist. Diese Verknüpfung trägt unausgesprochen dem oben zur Richtigkeitsgewähr dargelegten Umstand Rechnung, daß nicht aus jedem (angeblichen) Machtunterschied eine mißbräuchliche Ausnutzung durch Preisüberhöhung folgt, wie auch ein objektiv unangemessen hoher Preis andere in der Sphäre der Parteien liegende Gründe haben kann, als die Ausnutzung einer Abhängigkeit (siehe oben § 5 III). Damit sind der inhaltlichen Kontrolle von Preisen durch § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB hohe Hürden gesetzt. Für die Auslegung des Ausbeutungsmißbrauchs gern. § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB ist die Erkenntnis prägend, daß die Verfassung keinen pareto-optimalen Verteilungszustand verlangen kann, sondern auch bloß annähernd verteilungsgerechte Vertragsinhalte toleriert. Zwar wird sich der Einschätzungsprärogative des Gesetzgeber zugestehen lassen, daß das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung im Sinne des § 19 Abs. 2 GWB eine "strukturell ungleichgewichtige Verhandlungsstärke" im Sinne des BVerfG darstellt. Insbesondere wenn die Marktbeherrschung dauerhaft oder ein Ausweichen der Marktgegenseite wegen lebensnotwendiger Angewiesenheil nicht möglich ist, kann ein Preis trotz der Zustimmung zum Vertrag Ausdruck von Fremdbestimmung sein. Selbst wenn' hier- wegen der Angewiesenheit auf den Vertragsschluß - noch von einer zweckmäßigen Ordnung gesprochen werden kann, so erscheint aber bereits die reflexhafte Allgemeinwohlförderung zweifelhaft279 • Jedenfalls aber stößt der Inhalt an verfassungsrechtliche Toleranzgrenzen, die auch im Denken der Richtigkeitsgewähr eine erhebliche Rolle spielen (siehe § 5 Ill). Eine ungewöhnlich belastende und offensichtlich unangemessene Vertragsbelastung erfordert aber mehr als das Abweichen von der pareto-optimalen Äquivalenz der Vertragspflichten280. Die Rechtsprechung des BVerfG 278 BVerfG v. 19.10.1993, BVerfGE 89, 214, 234; auch Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 217 f. läßt ein Ungleichgewicht im Einzelfall nicht genügen, da ein Gleichgewicht der individuellen Vertragspartner eine Utopie darstelle, so daß dies zu postulieren, hieße, die Vertragsfreiheit selbst in Frage zu stellen. 279 Dies deshalb, weil ein Vertragsschluß zu einem mißbräuchlich überhöhten Preis zwar das Bedürfnis nach einem Gut befriedigte, gleichzeitig aber zu einer Fehlallokation der entsprechenden Ressourcen führte. 28 Für die Fallgruppe der Bürgschaftsversprechen naher Angehöriger entnimmt Grün, WM 1994, 722, den Aussagen des BVerfG wohl ein engeres Verständnis,

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erhebt somit nicht die Schaffung von vertraglicher Einzelfallbilligkeit zum Ziel der Intervention. Da somit auch Preise jenseits des iustum pretium verfassungsrechtlich tolerabel sind, darf ein solcher folglich nicht zum entscheidenden Maßstab des Preismißbrauchs nach § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB erhoben werden. Abgesehen von diesen Grundsätzen enthält sich das BVerfG aber technischer Vorgaben und delegiert die Lösung an den Interpreten des GWB. Es wird also darauf ankommen, diese verfassungsrechtlichen Voraussetzungen in das Regime des § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB zu integrieren (dazu ausführlich § 15). 2. Egalisierung des Vertragsinhaltes durch das Sozialstaatsprinzip?

Die Direktivnorm281 des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 Abs. I GG) umfaßt neben einem Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber eine Interpretationshilfe für Verwaltung und Rechtsprechung bei der Auslegung des einfachen Rechts282 • Insbesondere bei gesetzgebensehen Eingriffsakten oder solchen der durch konkretisierungsbedürftige Normen ermächtigten Eingriffsverwaltung vermag das Sozialstaatsprinzip aber auch eingriffslegitimierend zu wirken, jedenfalls soweit es nicht als undifferenzierte Billigkeitsklausel, sondern als näher zu präzisierender Begriff herangezogen wird283 . Es ist somit nicht verwunderlich, daß auch im Bereich des Kartellrechts dem Soziaistaatsprinzip Bedeutung beigemessen wird und seine Funktion als "sozialstaatliche Imprägnierung der Wirtschaft" gedeutet wird284.

ohne die Schwierigkeiten einer gerichtlichen Fixierung eines paretooptimalen Vertragsinhalts zu sehen. Die dortige Aussage, daß weder Übermaß noch Untermaß, sondern allein das "rechte Maß" in vollem Umfang der Bedeutung der Grundrechte entspreche, läßt jedenfalls die Notwenigkeit einer Schwankungsbreite im Raum zwischen "ungerecht" und "verfassungswidrig" außer Acht. 281 Stern, Band l, S. 887; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 20 Rn.l02, spricht vorsichtiger von einem "Grundprinzip"; weiter hingegen Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 354, von einer "Staatszielbestimmung". 282 Siehe nur Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 20 Rn. 44a, 50 mwN. Die kurz nach lokrafttreten des GG aufkommende Meinung, das Sozialstaatsprinzip sei ein "substanzloser Blank:ettbegriff' oder eine "programmatische Forderung", läßt sich mit dem Normcharakter des GG nicht in Einklang bringen und hat heute keine Bedeutung mehr; vgl. Stern, Staatsrecht, Band I, S. 886. - Eine andere restriktive Auslegung versuchte Forsthoff, VVDStRL 12 (1954), S. 8, der dem Sozialstaatsprinzip wegen seiner intentionalen Gegenläufigkeit zum Rechtsstaatsprinzip den normativen Charakter absprach. Auch diese Auffassung steht im Widerspruch zum Normcharakter des GG (vgl. Artt. I Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) und fand dementsprechend wenig Gefolgschaft. 283 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 363. 284 Stern, Band I, S. 899.

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Als für das Mißbrauchsverbot relevanter Topos des Sozialstaatsprinzips läßt sich der des "sozialen Ausgleich" konturieren 285 . Das BVerfG spricht in diesem Zusammenhang davon, die Sozialstaatsklausel fordere einen "Ausgleich der sozialen Gegensätze"286 und daher sei "eine gerechte Sozialordnung"287 als Leitbild zu verfolgen. Für die hier zu untersuchende Frage der Auswirkung ungleicher Durchsetzungsstärke auf die Privatautonomie ist die Auslegung und Reichweite der Begriffe "soziale Gerechtigkeit" bzw. "sozialer Ausgleich" insoweit von Bedeutung, als sich zwei Ansichten diametral gegenüberstehen, welche den Einfluß des Sozialstaatsprinzips auf die privatautonome Vertragsgestaltung unterschiedlich beantworten müßten. a) Soziale Gerechtigkeit als Chancengerechtigkeit

Einer Ansicht zufolge ist der vom Sozialstaatsprinzip erfaßte soziale Ausgleich nicht als Kompetenznorm für gesellschaftsplanerisches "social engineering" zu verstehen, mit deren Hilfe Eingriffe in Freiheitsrechte zum Zwecke des Ausgleichs bestehender wirtschaftlicher Ungleichgewichtslagen per se gerechtfertigt werden könnten288 . Es liefe vielmehr dem Charakter unseres Gemeinwesens und unserer Verfassungswirklichkeit zuwider, verstünde man das Sozialstaatsprinzip als Legitimationsnorm, um unter Mißachtung freiheitlich-rechtsstaatlicher Vorgaben des Grundgesetz sozialstaatliehe und gesellschaftspolitische Vorstellungen zu verwirklichen289 oder den Sozialstaat in einen "Groß- oder Gesamtplanungsstaat" umzudeuten290. Statt dessen gelte es, für das Verhältnis von Rechtsstaatlichkeil und Sozialstaatlichkeit denjenigen Einklang zu finden, welcher sich am treffendsten mit dem Begriff des "freiheitlichen Sozialstaates" beschreiben lasse291 . Dieses Konzept muß sich naturgemäß ablehnend gegenüber Ergebniskorrekturen durch Umverteilung und staatliche Intervention in Marktprozesse Gröschner, in: Dreier, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 36. BVerfG v. 18.7.1967, BVerfGE 22, 180, 204. 287 BVerfG v. 12.3.1996, BVerfGE 94, 241, 263. 288 Gröschner, in: Dreier, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 37 ff.; Kirchhoff, HdStR, § 124, Rn. 199; Zacher, HdStR, § 25 Rn. 37; ähnlich: H erzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 (VIII), Rn. 35 ff., insbesondere Rn. 46. 289 Zu den Bestrebungen, die Sozialstaatsklausel in eine "Allkompetenz" zu deuten, vgl. Stern, Band I, S. 890 f., der warnt, Auslegungen dieser Provenienz verliehen dem Staat "den Charakter des neuzeitlichen Leviathans". 290 Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 (VIII) Rn. 62, der davon ausgeht, daß ,,Planung im freiheitlichen Sozialstaat eine Planung zur Freiheit sein muß oder (... ) daß sie zu einem Mehr an Freiheit führen muß". Es dürfe nicht geplant werden, "was mit Aussicht auf Erfolg den Selbststeuerungskräften der Gesellschaft überlassen werden kann". 291 H erzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 (VIII), Rn. 34. 285

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verhalten und statt dessen in erster Linie auf die Gewährung von Chancengleichheit abzielen. Freilich fordert Herzog mit Recht über eine bloß formale Chancengleichheit hinaus eine "faktische Chancengerechtigkeit" ein292. Verneint wird hingegen die Notwendigkeit staatlicher Umverteilung und Eingriffe in die Ergebnisse des Wettbewerbs unter Verweis auf die historische Wandlung der "sozialen Frage"293 . Auch der politische Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft Erhardt erkannte, daß eine freiheitlich organisierte Wirtschaftspolitik wegen ihrer Dynamik die Tendenz habe, funktionslose Residualgewinne abzubauen, so daß Vermögens- und Machtunterschiede aus der frühkapitalistischen Phase erodierten. Damit sei bereits ein Großteil an sozialer Gerechtigkeit gewonnen 294. Konsequenz dieses Verständnisses ist, daß Art. 20 Abs. 1 GG keine weitergehende Eingriffbefugnisse in die Privatautonomie verleiht als kollidierende Freiheitsrechte. Konsequenterweise hat das BVerfG auch in den erwähnten Urteilen zum Wettbewerbsverbot und zur Angehörigenbürgschaft aus dem Sozialstaatsprinzip keine weitergehenden Schlußfolgerungen aufgestellt, als die bereits aus der Abwägung der kollidierenden Grundrechte generierten Ergebnisse. Diese Zurückhaltung bei der konkreten Anwendung des Sozialstaatsprinzips auf den Einzelfall wird auch an einer symptomatischen Aussage des Verfassungsgerichts deutlich: "Art. 20 Abs. I GG bestimmt nur das , Was', das Ziel, die gerechte Sozialordnung; er läßt aber für das ,Wie', d.h. für die Erreichung des Zieles, alle Wege offen"295 . b) Egalitäres Verständnis des Sozialstaatsprinzips

Die Gegenansicht will freilich den entscheidenden Schritt weitergehen und aus dem Sozialstaatsprinzip nicht nur eine Verpflichtung zur Verwirklichung der Chancengleichheit herleiten, sondern auch die Verwirklichung von Ergebnisgleichheit verlangen 296. Dieser Meinung zufolge läßt sich der Soziaistaatsklausel die Berechtigung der staatlichen Intervention in die Wirtschaft und in die Gesellschaft zur Abmilderung oder gar Aufhebung tradierter Ungleichheiten entnehmen, gleichviel, ob diese aus gleichen Startbedingungen AaO, Rn.40. Kirchhojf. HdStR, § 124, Rn. 121 ff. Da heute die Gleichheit im Zugang zum Eigentum und Erwerb intensiver denn je sei und die Dynamik in der Einkommenszuteilung dazu führe, daß der Teilnehmer an diesem wettbewerbliehen System der Einkommenszuteilung zunehmend bessere Partizipationsmöglichkeiten habe als der untätige Sacheigentümer, könnten alle an der Einkommensverteilung partizipieren und stünde der frühindustrielle Gegensatz zwischen Eigentum an Produktionsmitteln und sich verdingender Arbeiterschaft nicht mehr im Vordergrund. 294 Erhardt, Wohlstand für alle, S. 8. 295 BVerfG v. 18.7.1976, BVerfGE 22, 180, 204. 296 AK-Kittner, Art. 20 Abs. 1-3 (IV), Rn. 33 ff. 292 293

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erwachsen sind oder nicht297 • Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet diese Interpretation für § 19 GWB, daß nicht nur die Herstellung von Chancengleichheit und die Verhinderung von Mißbrauch anzustreben, sondern auf einen Ausgleich der Machtunterschiede, jedenfalls aber auf äquivalente Vertragsinhalte, hinzuwirken ist. In der Rechtsprechung des BVerfG finden sich zwar Aussagen, nach welchen die Sozialstaatsklausel zu einem "Ausgleich der sozialen Gegensätze" anhalte298 und der Staat für eine "gerechte Sozialordnung"299 zu sorgen habe. Doch verhält sich das BVerfG äußerst reserviert gegenüber der Konkretisierung solcher Schlagworte. In jüngerer Zeit wird das Sozialstaatsprinzip vom B VerfG denn auch hauptsächlich "garnierend"300 zur Abstützung bereits anderweitig gefundener Ergebnisse herangezogen. Von dem Erfordernis einer Umverteilung auf Grundlage des Art. 20 Abs. I GG spricht das Gericht jedenfalls- soweit ersichtlich- niche01 . Fragt man nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeil eines egalisierenden Sozialstaatsverständnis, so trifft man im Grundgesetz auf einen gewichtige Anhaltspunkte, mit deren Hilfe auch einem Problemfeld dieser Komplexität Lösungen für den Einzelfall abgerungen werden können. So läßt sich - wie schon unter § 4 III näher dargetan - schlußfolgern, daß eine Ausgangsvermutung zugunsten einer inhaltsneutralen Freiheitsgewährung besteht und im Zweifel der rechtsstaatlich verstandenen Freiheitlichkeil der Vorzug zu geben ist302 . Grundlage dieses Befundes ist ein auf Selbstbestimmung gründendes Menschenbild. Als Folgerung deduziert Herzog ein Sozialstaatsverständnis, welches "Gleichheit in Freiheit" im Unterschied zur "Gleichheit statt Freiheit" zu verwirklichen habe 303 . Ein weiterer Ansatz liefert Art. 3 GG. Soweit das BVerfG tatsächlich, wenn auch vereinzelt, zu einer Egalisierung von Ungleichheiten aufgrund des Sozialstaatsprinzips angesetzt hat, dann betraf dies eine rechtliche Un297 AK-Kittner, Art. 20 IV Rn. 23, der vorsichtigere Interpretationen als "ordoliberales oder neoklassisches Anrennen contra constititionem" diskreditiert. 298 BVerfG v. 18.7.1976, BVerfGE 22, 180, 204. 299 BVerfG v. 12.3.1996, BVerfGE 94, 241, 263. 300 Dies muß auch AK-Kittner, Art. 20 IV Rn. 21 , zugeben, der im übrigen bemüht ist, dem BVerfG eine extensivere Auslegung zu entnehmen. 301 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GO, Art. 20 Rn. 107, kann diese Behauptung mit den angeführten Entscheidungen nicht belegen. 302 Benda, Gedanken zum Sozialstaat, ZIP 1981, 221 , 225; Gröschner, in: Dreier, Art. 20 (Sozialstaat), Rn. 17. AA: AK-Kittner, Art. 20 IV Rn. 41. Zur Begrenzung des Sozialstaatsprinzips durch Art. 6 V GO: BVerfG v. 3.6.1969, BVerfGE 26, 44, 61 f.; Begrenzung durch das Gebot der Gleichheit: BVerfG v. 17.5.1961, BVerfGE 12, 354, 367. 303 Herzog, Maunz/Dürig, Art. 20 (VIII), Rn. 48.

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gleichbehandlung304, die sich für die Benachteiligten im Ergebnis auch faktisch auswirkte. Solche rechtlichen Ungleichbehandlungen sind zweifelsfrei eine Berührung des Postulats Kants, nach welchen Menschen gleiches Recht ohne Ansehen der Person zu gewähren sei305 • Damit sind sie auch vor Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigungsbedürftig. Bei den im Rahmen von § 19 GWB in Rede stehenden Fälle handelt es sich aber nicht um rechtliche, sondern um faktische Ungleichheiten. Ein Ausgleich für rein materielle Unterschiede im Vermögen, Einfluß oder anderen Ressourcen ist demgegenüber vom BVerfG nicht verlangt worden 306• Der innere Grund für diese Zurückhaltung liegt im schon unter § 5 IIl gekennzeichneten Unterschied zwischen (System-)Gerechtigkeit und Einzelfallbilligkeit: Der Eingriff in die prozedurale Rationalität des privatrechtliehen Ordnungssystems zu Gunsten einer egalisierenden Einzelfallbilligkeit avancierte selbst zu einem Verstoß gegen die Gleichheit, gegen den das BVerfG ja üblicherweise interveniert307 . Damit entwickelt sich die justiziell angeordnete Ungleichbehandlung zur Herbeiführung einer Ergebnisgleichheit selbst zu einem Verstoß gegen das Gerechtigkeitspostulat der Gleichheit vor dem Gesetz308 • Ein anderer Ansatz für die Begründung eines egalistischen Verständnisses ist die Erweiterung des Freiheitsbegriff um die "positive Freiheit". Diese Auffassung stellt darauf ab, daß jede Inanspruchnahme von Verhaltensspielräumen gewisse materielle und immaterielle Voraussetzungen habe, ohne die ein Freiheitsrecht zur bloßen Leerformel ohne praktische Nutzanwendung werde309 . Demzufolge wird dem Sozialstaatsprinzip insoweit ein "freiheitsschaffender Zweck" attestiert, als den Menschen die materiellen Grundlagen für die Eröffnung "wirklicher Chancen" auf eine Freiheitsbetätigung verschafft werden müßten310•

BVerfG v. 17.12.1953, BVerfGE 3, 58, 158. Vgl. dazu Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 156 f. mit Hinweis auf Kant. 306 AK-Stein, Art. 3 Rn. 71, erkennt diesen Unterschied auch, versucht dem Unterschied zwischen rechtlicher und materieller Ungleichheit aber zu begegnen, indem er darauf verweist, jede materiell ungleiche Verteilung korreliere mit einer unterschiedlichen Verteilung von dinglichen Rechten. Dieser kurzschlüssige Erklärungsversuch zeichnet jedoch nur eine blanke Selbstverständlichkeit nach und vermag den Unterscheid zwischen einer rechtlichen Diskriminierung und einer ungleichen Verteilung von Eigentum nicht zu nivellieren. 307 Vgl. Cassel/Rauhut, Soziale Marktwirtschaft auf dem Prüfstand, S. II. 308 Auch droht die Umverteilung den Zusammenhang zwischen Leistung und Belohnung zu durchtrennen und die Gerechtigkeitskomponente des iustitia commutativa aufzuweichen, so Radnitzky, ORDO 47, 159. 309 In diese Richtung Stein, AK, Art. 3 Rn. 71 und wohl auch Jarass, in: Jarass/ Pieroth, GG, Art. 20 Rn. 106. 31o Vgl. AK-Kittner, Art. 20 IV, Rn. 60. 304 305

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Aber auch die positive Freiheit wird durch die Forderung nach staatlicher Intervention zu Gunsten des schwächeren Konsumenten oder Wettbewerber nur vordergründig vergrößert, tritt doch an die Stelle der Abhängigkeit von privater Macht die Abhängigkeit vom Staat und seinen Zuteilungen, so daß im Ergebnis nur die eine Unfreiheit und Unsicherheit durch eine andere abgelöst wird 311 • Daß darüber hinaus die Erweiterung des Freiheitsverständnis das Ergebnis einer Begriffskonfusion sein könnte, hat Radnitzky312 überzeugend dargelegt, und zwischen der zwischen Verfügungsgewalt und Freiheit unterschieden: Während er den Topos der "positiven Freiheit" im Sinne eines Budgets des Individuums an bestimmten Ressourcen (Fähigkeiten, Vermögen etc.) verwirft und das damit Gemeinte unter den Begriff der "Verfügungsgewalt" zusammenfaßt, konturiert er Freiheit als die Abwesenheit von Zwang und Schädigung313 • In der Tat kann man Freiheit immer nur in Relation zu den gegebenen sozialen Bedingungen und Tatsachen sehen, denn es dürfte jedem Menschen klar sein, daß er an gewisse natürliche, politische und soziale Gegebenheiten gebunden ist, ohne die Fähigkeit oder die Befugnis zu haben, sie von sich abzuwenden 314 • Eine gleich weite, positive Freiheit auf Erden ist daher eine Utopie, kein rechtlicher Maßstab. Dies gilt für das Individuum genauso wie für Unternehmen im Wettbewerb. Das Sozialstaatsprinzip kann also bei der Auslegung des Mißbrauchsterminus nicht dazu führen, daß Verträge so zu schließen sind, als träten sich zwei gleichgewichtige Partner gegenüber; dies wäre Egalitarismus in seiner düstersten Schattierung. Auszugleichen ist dagegen die wegen der Marktmacht auftauchende und im Vergleich zum Normalfall des Vertragsschlusses untypische Risikolage: der Mißbrauch. Diese Herangehensweise bei der Einschränkung der Privatautonomie durch das Sozialstaatsprinzips soll also nicht jegliche Ungleichbehandlung, Härte und vertragliche Last verhindern. Daß dazu auch keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit besteht, hat auch das BVerfG festgestelle 15• 311 Vgl. dazu schon Eucken, Grundlagen der Nationalökonomie, S. 198 f.; zu den Gefahren einer an die Stelle privater Macht tretende staatliche Kontrolle auch Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 23 f. 312 ORDO Bd. 47 (1996), S. 151 ff., dessen Sarkasmus und Polemik seinen Argumenten nicht die Überzeugungskraft nimmt. 313 Nicht jedoch die Überlegung: "Wenn ich diverse Ressourcen hätte, dann wäre ich ,frei', so zu leben, wie es mir gefällt.", so Radnitzky. ORDO Bd. 47 (1996), S. 151; zu den Grundlagen dieses Freiheitsverständnis in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts vgl. Kirchhof, HBStR, § 124 Rn. 61. 314 Böhm, Demokratie und wirtschaftliche Macht, S. 3, 7. 315 "Dieser Verfassungsgrundsatz (=das Sozialstaatsprinzip) darf nicht dahin ausgelegt werden, daß mit seiner Hilfe jede Einzelregelung, deren Anwendung in bestimmten Fällen zu Härten oder Unbilligkeilen führt, modifiziert werden könnte",

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Freilich läßt sich der Gedanke der "Freiheitserweiterung" auch auf eine andere Seite des Mißbrauchsverbots übertragen: Er könnte dort Platz greifen, wo solche residualen Machtvorsprünge im Verhältnis zu den schwächeren Konkurrenten auszugleichen sind, die nicht Ausfluß ihrer überlegenen Leistung sind. Diesen Gedanken gilt es im Zusammenhang mit dem Zugang zu fremden Infrastruktureinrichtungen weiterzuverfolgen.

II. Verfassungsrechtliche Grenzen der Privatautonomie bei der Zugangsverweigerung zu wesentlichen Einrichtungen 1. KoUidierende Grundrechte als verfassungsrechtlicher Ausgangspunkt

Die Grundsätze der Rechtsprechung des BVerfG lassen sich auch auf die Fälle der Zugangsverweigerung zu wesentlichen Infrastruktureinrichtungen übertragen, die durch § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB in das Verbot mißbräuchlicher Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung aufgenommen worden sind. Die Verweigerung der Mitbenutzung einer solchen Einrichtung, etwa eines Gasnetzes, bewirkt hier den Ausschluß des Zugangspetenten von dem abhängigen (vor- oder nachgelagerten) Markt (näher dazu § 16 I). Hier ließe sich argumentieren, die Freiheitsrechte des Petenten würden schon dadurch verletzt, daß der marktbeherrschende Netzbelreiber mittels der Nutzungsverweigerung dem Petenten die Freiheit nimmt, als Wettbewerber auf der abhängigen Marktstufe tätig zu werden. Darin ließe sich gar ein "Mehr" an Fremdbestimmung sehen als ein Abschluß zu unangemessenen, inäquivalenten Bedingungen. In der für die Netzindustrien typischen Situation liegt auch ein vom BVerfG für die Durchbrechung der Privatautonomie zur Voraussetzung gemachtes unausgewogenes Kräfteverhältnis vor, welches es dem Inhaber des Leitungsnetzes ermöglicht, ohne Rücksicht auf den Petenten den Abschluß eines entsprechenden Durchleitungsvertrages zu verweigern. Träfen diese Überlegungen zu, dann wäre in der Tat die oben unter I 1 dargelegte Rechtsprechung auf den Fall der Zugangsverweigerung zu übertragen. Demzufolge müßte das privatautonom gefundene "Ergebnis", welches materiell ja eigentlich ein "Nicht-Ergebnis" ist, hoheitlich korrigiert und aufgrund kollidierender Freiheitsrechte der Zugang zu der "wesentlichen Einrichtung" gewährt werden. Doch droht eine solche Argumentation das Freiheitsverständnis in sein Gegenteil zu verkehren und damit den Fall der Zugangsverweigerung auf eine verfassungsrechtlich unpassende Ebene zu verlagern: Im Unterschied etwa BVerfG v. 3.6.1969, BVerfGE 26, 44, 61 f.; BVerfG v. 16.7.1985, BVerfGE 69, 272, 315.

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zu den Fällen reiner Abwehr staatlicher Freiheitsbeschränkungen greift der Staat bei der Gewährung von Teilhabemöglichkeiten an Infrastruktureinrichtungen unweigerlich in Grundrechte Dritter ein, gewährt also einer Gruppe von Grundrechtsträgem mit der einen Hand dasjenige an Freiheit, was er anderen Grundrechtträgem mit der anderen Hand nimmt. Im Grunde geht es also nicht um die Verteidigung von Freiheitsräumen Privater gegenüber dem Staat oder Dritten, sondern um die Enveiterung von Verhaltensspielräumen und damit letztlich um eine Nivellierung der in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft unweigerlich entstehenden Ungleichheiten316. In Rede steht somit nicht die Abwehr von Zwang, sondern die (oben verworfene) "positive Freiheit"317. Um gefährlichen Begriffsverwirrungen aus dem Wege zu gehen, sollte man daher den Zugang zu fremden Infrastruktureinrechtungen nicht als staatliche Kompensation einer Freiheitsverletzung einfordern, sondern unter dem Aspekt der staatlichen Herstellung von Chancengleichheit diskutieren 318 . Somit bieten jedenfalls die Freiheitsrechte keine Notwendigkeit zur hoheitlichen Durchbrechung der Privatautonomie zum Zwecke des Zugangs zu fremden Netzen. Gleichwohl schärft die Verortung der Interessen des Nutzungspetenten in den Grundrechten der Artt. 12, 2 I, 14 GG den Blick für die Kollisionslage zwischen den Freiheitsinteressen des Netzeigentümers und des potentiellen Wettbewerbers und ruft den Staat auf den Plan, wegen der übermäßigen Marktmacht des Netzmonopolisten nach einer Austarierung der kollidierenden Wettbewerbsinteressen mit dem Ziel der Chancengleichheit zu suchen319.

316 Zum Unterschied zwischen Freiheit ("freedom") und positiver Verhaltensspielräume ("power") siehe Kirzner, ORDO 30, S. 247 ff. 317 Selbst wenn man im "vertikalen" Verhältnis Staat-Bürger von einem insoweit gewandelten Freiheitsverständnis ausgeht, nach welchem über die Freiheit vom Staat auch eine Ermöglichung von Freiheit durch den Staat zur Teilhabe am Gemeinwesen umfaßt sein soll, so läßt sich dies nicht ohne weiteres auf das "horizontale" Verhältnis der Bürger untereinander übertragen, vgl. Erichsen, HStR § 129 Rn. 7 f. 3 18 So offenbar auch Arndt, RIW 1989, Beilage 7 zu Heft 10, S. 23; vgl. auch Scholz, Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, S. 48. 319 Vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig, Art. 12 Rn. 385. Auch Papier, BB 1997, 1213 ff., der zwar das Interesse des Zugangspetenten unter die grundrechtlich garantierte Wettbewerbsfreiheit faßt, sieht offenbar keine die Abwehrdimension der Artt. 12, 2 I GG auslösende Freiheitsverletzung durch das Fehlen einer Zugangsregelung, sondern ein Gebot verfassungskonformer Grundrechtkonkretisierung hinsichtlich der Sozialbindung des Eigentums an den Leitungsnetzen.

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§ 7 Verfassungsrechtliche Notwendigkeiten und Privatautonomie

2. Chancengleichheit und sozialstaatliches Ordnungsbedürfnis bei Infrastrukturmonopolen

a) Art. 3 Abs. 1 GG als Legitimationsgrundlage Wenn der Staat zur Schaffung von Chancengleichheit und Gerechtigkeit aufgerufen wird, läßt sich dafür grundsätzlich auch das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. l GG ins Felde führen. Ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot durch die Verwehrung nonnativer Hilfe beim Zugang zu nachgelagerten Märkten setzt aber eine Ungleichbehandlung voraus, die sich im Falle der Nutzungsverweigerung nirgends ausmachen läßt: Da der Bau von weiteren Infrastruktureinrichtungen rechtIich nach wie vor möglich, wenngleich auch ökonomisch sinnlos, ist, behandelt der Staat den auf den nachgelagerten Markt Zugang Begehrenden sowohl im Verhältnis zum Inhaber der Infrastruktureinrichtung wie auch gegenüber anderen Wettbewerbern gleich. Er lindert lediglich nicht die bestehenden faktischen Unterschiede. Doch ist die erlangte Monopolstellung etwa an den Energienetzen nicht staatlicher Bevorzugung geschuldet, sondern Ausfluß historischer Gegebenheiten (näher dazu unter § II 1). Die uDausgewogenen Chancen auf dem Markt sind mithin Folge einer für die nachrückenden Wettbewerber ungünstigen Marktsituation und nicht einer im Hinblick auf Art. 3 Abs. l GG relevanten Ungleichbehandlung.

b) Das Sozialstaatsprinzip als Legitimationsgrundlage Es bleibt zu prüfen, ob das vom BVerfG als Rechtfertigungsgrund staatlicher Eingriffe in die Privatautonomie benannte Sozialstaatsprinzip für den Ausgleich faktischer Ungleichheiten im Wettbewerb fruchtbar gemacht werden kann. Die partielle Außerkraftsetzung der von der Privatautonomie erfaßten Abschlußfreiheit durch den in § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB mittelbar normierten Kontrahierungszwang dient zweifelsohne der hoheitlichen Kompensation einer durch das natürliche Monopol begründeten Kräfteinäquivalenz. Wie sich aber aus der "Bürgschaft"-Rechtsprechung des BVerfG weiter entnehmen läßt, reicht diese Unausgewogenheit für sich alleine nicht aus. Auch das Sozialstaatsprinzip vermag als pauschal ins Feld geführter Topos nicht, Eingriffe in die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Netzinhaber zu legitimieren. Anderenfalls avancierte das Sozialstaatsprinzip zu einer Blankettermächtigung für egalisierende Eingriffe in die pluralistische und kompetetive Gesellschaftsordnung (I 2). Vielmehr bedarf es eines über das bloße Kräfteungleichgewicht hinausgehenden, zusätzlichen Elements, ähnlich der in den Fällen inäquivalenter Vertragspflichten erforderlichen

11. Grenzen bei der Zugangsverweigerung zu Einrichtungen

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Feststellung eines "offensichtlich unangemessenen" Ergebnisses des Vertragsschlusses. aa) Die Zugangsverweigerung als legitimierendes Element? Insoweit ließe sich daran denken, daß die Zugangsverweigerung selbst "offensichtlich unangemessen" im Sinne des BVerfG und damit als willkürliche Ausnutzung der Privatautonomie mißbräuchlich ist und allein deswegen einer hoheitlichen Korrektur - gestützt auf das Sozialstaatsprinzip zugänglich wird. Diese Begründung stieße allerdings auf das der Privatautonomie innewohnende Recht der Abschlußfreiheit, welches es - gemäß dem Paradigma einer inhaltsneutralen Freiheitsgewährleistung und einer dezentral geschaffenen Ordnung - gestattet, auch ohne Angabe besonderer Gründe nicht zu kontrahieren320. Auch zur Durchbrechung der grundrechtlieh garantierten Abschlußfreiheit bedarf es stets einer Rechtfertigung und eines ,,Mehr" als das bloße Ungleichgewicht der Verhandlungspartner321 . bb) Soziale Ordnungsfunktion und staatliche Infrastrukturverantwortung Die Legitimation für den Ausgleich von Ungleichgewichtslagen durch die partielle Erweiterung der Freiheit läßt sich aber auf die soziale Funktion rechtlicher Ordnungen stützen. Diese soziale Ordnungsfunktion kann grundsätzlich von den Privaten und ihren Vereinbarungen wie auch durch staatliches Recht wahrgenommen werden. Wie Scholz dargelegt hae 22, ist das Ziel der auf Art. 20 Abs. I GG rekurrierenden Rechtsprechung des BVerfG eben nicht die pauschale Vergrößerungen von Verhaltensspielräumen durch gruppenbegünstigende Lenkungsmaßnahmen, sondern ein solches "sozialstaatliches Ordnungsbedürfnis"323 . Bei der Suche nach einem solchen sozialstaatliehen Ordnungsbedürfnis sollte man sich jedoch nicht voreilig mit der wettbewerbspolitischen Zielsetzung der Öffnung von abhängigen Märkten begnügen324 • Mag dies auch Vgl. Larenz/Wolf, BGB AT, S. 647 ff. Siehe dazu Bydlinski, AcP 180 (1980), S. 39 ff.; Larenz/Wolf, BGB AT, S. 648; weiter wohl Flume, AT, 613; näher dazu unten§ 16 III. 322 Scholz, Konzentrationskontrolle und Grundgesetz, S. 49. 323 Beispiele aus der Rechtsprechung sind etwa BVerfG v. 20.7.1954, BVerfGE 4, 7, 19 (zum "öffentlichen Interesse" an der Bevorzugung durch ein Investitionshilfegesetz); BVerfG v. 12.11.1958, BVerfGE 8, 274, 329 f. ("gesamtwirtschaftliche Gründe" für die Einschränkung der Privatautonomie durch ein Preisgesetz); BVerfG v. 17.5.1961, BVerfGE 12, 354, 366 f. ("vernünftige Gründe orientiert am Gerechtigkeitsgedanken" notwendig für eine rabattmäßige Bevorzugung bestimmter Gruppen bei der Volkswagen-Privatisierung). 32o 321

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§ 7 Verfassungsrechtliche Notwendigkeiten und Privatautonomie

ein ökonomisch sinnvolles Ziel darstellen, so öffnete der alleinige Verweis auf wirtschaftspolitische Gründe jedenfalls dann Tür und Tor für einen staatlichen Interventionismus, wenn dabei gänzlich auf eine nonnative Fundierung verzichtet würde. Auf die Problematik einer allein auf ökonomische Modelle rekurrierenden funktionalen Kartellrechtsanwendung, die auf eine nonnative Absicherung in der kartellrechtlichen Rahmenordnung verzichtet, wird noch unter § 8 näher einzugehen sein. Aber schon hier sollte der Verweis auf ökonomische Ziele nicht dazu verleiten, voreilig auf eine nonnative Verortung des sozialen Ordnungsbedürfnisses zu verzichten325 . Freilich öffnet der Blick auf die leitungsgebundene Energieversorgung den Blick für ein übergeordnetes soziales Ordnungsbedürfnis: die staatliche lnfrastrukturverantwortung326• Infrastruktureinrichtungen haben als "gesellschaftliche Integrationsmedien" die wichtige Aufgabe, Interaktionen räumlich und zeitlich zu ennöglichen, die Aktionsradien der Bürger zu erweitem und die Ausübung individueller Freiheitsräume zu erleichtern327 . Somit erlangen gerade überregional und überbetrieblich wichtige Infrastruktureinrichtungen unabhängig von ihren Eigentumsverhältnissen eine soziale Bedeutung, welche die Einräumung von Mitbenutzungsrechten lediglich als "Verlagerung einer bereits zuvor bestehenden Gemeinwohlbindung" erscheinen läßt328 . Tatsächlich erleidet diese soziale Bedeutung der Infrastruktur eine gewichtige Einbuße, wenn ihre Benutzung und alle darauf aufbauenden Tätigkeiten aus rational-eigennützigen Motiven von den Verfügungsberechtigten verweigert werden. Auch wenn die staatliche Sorge um Straßen, Eisenbahnwege und dergleichen auf eine gewachsene historische Tradition zurückblicken kann 329, so tritt doch mit der gewachsenen Bedeutung der Netzindustrien330 und im Zuge ihrer Liberalisierung die Erkenntnis ins Bewußtsein, daß eine privatautonome Ordnungssetzung auf abhängigen Märk324 So aber im Anschluß an die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 13/9720, S. 36, 51) Immenga/Mestmäcker-Möschel, § 19 Rn. 186; auch LG Dortmund v. 1.9.2000, ZNER 2000, 208 f. 325 Zu den Systembrüchen bei der Verfolgung für richtig erkannter mikrosozialer Ziele mittels makrosozialer Steuerung, bei der der Einzelne in einem makrosozialen Plan eingeordnet wird auch Zacher, HStR § 25 Rn. 70. 326 Vgl. dazu Fehling, AöR 121 (1996), 80 ff.; diese staatliche Verantwortung ist bereits von Smith, Wohlstand der Nationen, S. 612, erkannt worden; siehe auch Schwintowski, ZNER 2000, 94. 321 Der Ausdruck "Infrastruktur" stammt aus der französischen Sprache, wo er erstmalig 1865 im Zusammenhang mit dem Eisenbahnverkehr Erwähnung findet; vgl. zum ganzen v. Laak, Geschichte und Gesellschaft 2001, S. 368 ff. 328 Vgl. Fehling, AöR 121 (1996), 81. 329 Ausführlich v. Laak, Geschichte und Gesellschaft 2001, S. 367 ff.; vgl. dazu auch Basedow, Jahrbuch f. neue politische Ökonomie 1996, 121 f. 330 So ausdrücklich die Regierungsbegründung zur 6. GWH-Novelle BT-Drs. 13/ 9720, s. 36.

II. Grenzen bei der Zugangsverweigerung zu Einrichtungen

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ten nur dann erfolgen kann, wenn der Einrichtungsmonopolist zur Mitbenutzung durch Dritte angehalten werden kann331 . Nachdem der Staat insbesondere in der Energiewirtschaft inzwischen davon ausgeht, daß grundsätzlich die Privaten besser geeignet sind, für einen effizienten und preiswerten Betrieb der deregulierten Branchen zu sorgen (dazu ausführlich § 11 ), kommt dem Staat durch seinen partiellen Rückzug die Verantwortung für die Schaffung der Voraussetzungen eines funktionierenden Wettbewerbs dort zu, wo Monopole an der Infrastruktur die private Ordnungssetzung verhindem332 . Aber auch dort, wo der Staat die Geschäftstätigkeiten nie reguliert hat, greift der Verweis auf die Infrastrukturverantwortung, ist doch die staatliche Zurückhaltung bei der Regulierung auch dort nur solange vertretbar, wie die Voraussetzungen für die private Schaffung einer "richtigen" Ordnung bestehen. Soweit nämlich die lnfrastrukturmonopole in der Hand solcher sind, die ein wirtschaftliches Interesse an der Nutzungsverweigerung haben, wird das privatrechtliche Ordnungssystem seine unter § 5 lli vorgestellte Richtigkeilsgewähr nicht einlösen und vor allem auch das Allgemeinwohl nicht reflexhaft fördern können (vgl. § 5 I 2)333 . Der Wettbewerb auf den abhängigen Märkten wird statt dessen durch die vom Monopolisten geschaffene Regulierung ersetzt und die Privatautonomie zur Heteronomie. Da somit alle Legitimationsgründe für die Privatautonomie entfallen, kommt dem Staat die Verantwortung für die Schaffung einer zweckmäßigen und gerechten Ordnung zu 334 • Die Zurückhaltung des Staates bei der Regulierung bestimmter Wirtschaftszweige verhält sich folglich komplementär zu seiner Pflicht, mittels der Vorhaltung eines Regelrahmens die Gewähr einer (potentiell) richtigen Ordnung zu schaffen. Es gilt also festzuhalten, daß aus dem Zusammenspiel von staatlicher Infrastrukturverantwortung und der Verantwortung für eine richtige Ordnungssetzung ein hinreichendes soziales Ordnungsbedürfnis zur partiellen Erweiterung von Freiheitsräumen der Zugangspetenten unter Zurückdrängung der Privatautonomie des Netzinhabers entstehe 35 • 33 1 Siehe zum Zusammenhang zwischen Wettbewerb und Regulierung des Zugangs zu Einrichtungen Owen, 58 Antitrust Law Journal 1990, S. 897 ff.; siehe auch Schwintowski, ZNER 2000, 94: "Der Staat dankt partiell ab, er garantiert nicht die Erfüllung bestimmter Aufgaben in bestimmter Weise, aber er steuert die Möglichkeit der Verfolgung und Erreichung bestimmter gemeinwohlorientierter Ziele." 332 Vollmer, Jahrbuch f. neue politische Ökonomie 1996, S. 148, spricht von einer "Umregulierung mit einer im Vergleich zu früher niedrigeren Regulierungsdichte". 333 Letzteres übersieht Fehling, AöR 121 (1996), S. 81 , der ganz generell davon ausgeht, daß Private das Gemeinwohl fördern, ohne die Fälle einer machtbedingt gestörten Interessenkoordination auszunehmen. 334 Vgl. BVeifG v. 15.7.1998, BVerfGE 365, 395.

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§ 8 Der Einfluß wettbewerbstheoretischer Modelle

§ 8 Der Einfluß wettbewerbstheoretischer Modelle

auf die Auslegung des Mißbrauchsverbots

Eine Untersuchung, welche die Anwendungsregeln des § 19 GWB kritisch beleuchten und auf ihre Geltungskraft hin analysieren möchte, kommt nicht umhin, die wettbewerbstheoretischen Modelle zu benennen, auf welche die Gesetzesbegründung336 sowie die Rechtspraxis und Jurisprudenz 337 Bezug nehmen. Gerade wegen der vielfältigen Funktionszusammenhänge zwischen rechtlichen Regeln und der Ordnung der Wirtschaft und des Wettbewerbs, darf auch eine kartellrechtswissenschaftliche Untersuchung nicht gänzlich auf dem "ökonomischen Auge blind" sein338• Freilich muß aus mehreren Gründen vor zu hohen Erwartungen an die Zuhilfenahme wettbewerbstheoretischer Theorien gewarnt werden: Zu komplex sind die Auswirkungen durch staatliche Interventionen auf den Wirtschaftskreislauf und die Ordnungssysteme, als daß sie im Rahmen einer zuvorderst rechtswissenschaftliehen Untersuchung mit Anspruch auf Vollständigkeit benannt werden könnten. Zu zahlreich sind auch die wettbewerbstheoretischen Modelle, als daß sie hier abschließend vorgestellt werden könnten. Daher soll dem Anspruch des Notwendigen im Rahmen des Machbaren durch eine Beschränkung der Darstellungsweise genügt werden: Einmal werden nur Wettbewerbstheorien dargestellt, die insoweit exemplarisch sind, als sie ihrer Grundtendenz nach stellvertretend für eine Mehrzahl weiterer Varianten stehen können. Darüber hinaus werden nur diejenigen Mo335 Diese Erkenntnis hat in den USA - aus einer durchaus wettbewerbsorientierten Motivation heraus - sogar schon die Forderung nach einer staatlichen Behörde für industrielle Infrastruktur aufkommen lassen, siehe dazu Owen, 58 Antitrust Law Journal 1990, 894. 336 Siehe dazu nur den Regierungsentwurf zum GWB v. 22.l.l955, BT-Drs. 2/ 1158, mit den paradigmatischen Aussagen zur Marktmacht auf S. 21 ; zur wettbewerbspolitischen Zielsetzung der 6. GWB-Novelle Regierungsentwurf v. 29.l.l998, BT-Drs. 13/9720 S. 30; zu den ökonomischen Zielen der Energierechtsreform vgl. den Überblick bei Büdenbender, JZ 1999, 64 f. mit entsprechenden Nachweisen. 337 Vgl. statt vieler die Zusammenstellungen ökonomischer Theorien in den Lehrbüchern von Emmerich, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 4 ff. und Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 41 ff.; sowie Tätigkeitsbericht des BKartA, BT-Drs. 51530 S. 8; beispielhaft auch das 12. Hauptgutachten der Monopolkommission 199611997, in BT-Drs. 13/5309 mit seinen vielfältigen ökonomischen Implikationen bezüglich der Praxis der Preisaufsicht über Energieversorgungsunternehmen (S. 296 f.). 338 Allgemein zur Notwendigkeit der Berücksichtigung wettbewerbstheoretischer Erkenntnisse Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 41 f.

I. Die Freiburger Schule und die "vollkommene Konkurrenz"

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delle vorgestellt, die mit einigem Gewicht für die deutsche Kartellrechtswissenschaft und die Rechtspraxis rezipiert worden sind (dazu I-III) 339. Eine weitere Beschränkung resultiert aus dem Anliegen der Untersuchung, die ihr rechtswissenschaftliches Ziel nicht aus dem Blick verlieren soll und aus diesem Grund zwar ökonomische Konsequenzen benennt, das Hauptgewicht aber auf der Vereinbarkeil mit der "Rechtswirklichkeit", namentlich mit der Verfassung, legt (dazu IV). I. Die Freiburger Schule und die "vollkommene Konkurrenz"

Mit den Vorstellungen der Freiburger Ordoliberalen gelangte das in der deutschen Nationalökonomie virulente klassische Preisbildungsmodell in das legislative Fundament des GWB 340 . Dieses Modell, das zumeist mit dem Begriff der "vollkommenen Konkurrenz" 341 bezeichnet wird, meint einen "Zustand grundsätzlicher Machtlosigkeit"342 der Privaten, also eine äquivalente Machtverteilung zwischen den Wettbewerbern und zwischen der Angebots- und Nachfrageseite343 • Bei praktisch machtlosen Marktteilnehmern, homogenen Gütern, vollkommener Markttransparenz und polypolistischer Angebots- und Nachfragestruktur soll sich ein Gleichgewicht der Kräfte einpendeln344• In diesem pareto-optimalen Zustand lassen sich die Marktgegebenheiten und die Verhältnisse der einzelnen Akteure nicht mehr verändern, ohne daß der Vorteil des einen auf den Nachteil eines anderen zurückgeführt werden kann345 . Diese Marktsituation soll sich dann in einem Wettbewerbspreis niederschlagen, den die Marktakteure - gleich welcher 339 Verzichtet wird auf die Darstellung der sog. Chicago-School, da sie in ihrer interventionskritischen und auf die Freiheit des einzelnen Wettbewerbers gerichteten Zielsetzung mit dem unter III dargelegten Konzept der Wettbewerbsfreiheit übereinstimmt. Zu Unterschieden in den Folgerungen, wie etwa der überragenden Bedeutung der Effizienz einzelner Unternehmen s. Emmerich, Kartellrecht, S. 9 f. (mwN), zur Kritik an dem Effizienzparadigma aus Sicht der Neuen Institutionenökonomik Kirchner, Festschr. f. Schmidt, S. 33 ff. (mwN). 340 Dies lag z. T. auch an dem weitgehenden Ausschluß Deutschlands aus der internationalen ökonomischen Diskussion, der den beherrschenden Einfluß der "vollkommenen Konkurrenz" beförderte; statt vieler Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 194 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 341 Zum damaligen Leitbildcharakter und zur Notwendigkeit staatlicher Intervention bei Abweichungen von diesem gedachten Idealzustand vgl. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, S. 246: "Diejenige Marktform, die in der Wettbewerbsordnung dominiert, ist die Marktform der "vollständigen Konkurrenz". Sie ist es, welche die Pläne und Entscheidungen der einzelnen Betriebe und Haushalte miteinander koordinieren soll. Wo dies nicht möglich ist, sind besondere wirtschaftspolitische Maßnahmen erforderlich" (Hervorhebung vom Verf.). 342 Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 20. 343 Siehe zum Ganzen Eucken, ORDO Bd. 2 ( 1949), S. 64 ff. 344 Siehe Schmidtchen, ORDO Bd. 30 (1979), 281 f. mwN. 7 Kubiciel

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§ 8 Der Einfluß wettbewerbstheoretischer Modelle

Seite - nicht verändern können und welcher daher dem "iustum pretium" des Einzelvertrags nahekommt Der modellhafte Blick der vollkommenen Konkurrenz war somit auf die möglichst gleiche und gerechte Verteilung eines gegebenen gesamtwirtschaftlichen Saldos gerichtet. Der Staat habe die vorrangige wirtschaftspolitische Aufgabe, ein funktionsflihiges Preissystem der vollständigen Konkurrenz zu schaffen346, gar die "rücksichtslose Entmachtung der Privatwirtschaft, die Entprivatisierung der dann noch verbleibenden Marktmacht"347 zu betreiben und insgesamt für ein Rahmenwerk zu sorgen, dessen Regeln die Entmachtungsfunktion des Wettbewerbs sichern sollten348 • Aus diesergewiß auch historisch bedingten (siehe § 2) - Skepsis in Bezug auf wirtschaftliche Stärke gibt es nur einen folgerichtigen Ausweg: Ziel müsse die "Erhaltung der vollständigen Konkurrenz in einem möglichst großem Umfang" sein349• Da jedoch die im Josten-Entwurf enthaltene Entflechtung wirtschaftlicher Macht nicht Gesetz geworden ist, sollte folglich die Mißbrauchsaufsicht des § 22 GWB a.F. die "temporär nicht wirksame ,invisible band' des Wettbewerbs durch die , visible band' der Staatsaufsicht" ersetzen350 und das Kartellrecht den Marktbeherrscher veranlassen, sich zu verhalten, "als ob" Wettbewerb bestünde351 • Der Mißbrauchsaufsicht kam nach diesem Konzept somit die Aufgabe zu, durch die Steuerung des Gesamtverhaltens352 den Gleichgewichtszustand der vollkommenen Konkurrenz nachzuahmen und zur Erosion der Marktmacht beizutragen353 . Am augenfälligsten wer345 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 43 mit Nachweisen zu diesen Ansätzen der Wohlfahrtsökonomie. Zu den theoretischen Grundlagen des Gleichgewichtsmodell siehe Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 5 ff. 346 Eucken, ORDO Bd. 2 (1949), S. 33. 347 Böhm, SDJZ 1947, S. 503. 348 Müller, Wettbewerbspolitik, Sp. 1525. 349 Regierungsentwurf zum GWB vom 22.1.1955, BT-Drs. 2/1158, S. 22. 350 So Müller, Wettbewerbspolitik, Sp. 1546. 351 So Eucken, Grundlagen der Wettbewerbspolitik, S. 294 f.: "Das Monopolamt hat die Aufgabe, Monopole soweit wie möglich aufzulösen und diejenigen, die sich nicht auflösen lassen, zu beaufsichtigen ... Ziel der Monopolgesetzgebung und der Monopolaufsicht ist es, die Träger wirtschaftlicher Macht zu einem Verhalten zu veranlassen, als ob vollständige Konkurrenz bestünde. Das Verhalten der Monopolisten hat wettbewerbsanalog zu sein". 352 Miksch, Wettbewerb als Aufgabe, S. 98 f.: "In Wirklichkeit ist daraus zu folgern, daß auf diesem Gebiete [dem Verhalten marktbeherrschender Unternehmen, der Verf.] die staatliche Lenkung das einzige Ordnungsprinzip darstellt, sofern die Monopolstellungen selbst nicht durch wirtschaftspolitische Maßnahmen beseitigt werden können."; siehe auch Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, S. 61 ff. 353 Vgl. Miksch, Jahrbuch für die gesamte Staatswissenschaft, 1949, S. 333; ders., Wettbewerb als Aufgabe, S. 75.

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den die Konsequenzen bei der Preisbildung: Marktbeherrscher in einem Oligopol wären danach zu einem Preisverhalten gezwungen, als ob sie sich in einem Polypol befänden354 . Auch dieser Ansatz ist nicht in seiner vollen Schärfe Gesetz geworden, . insbesondere ist im GWB keine Steuerung des Gesamtverhaltens in Richtung auf einen "Als-ob"-Zustand vorgesehen 355 . Aber das fortdauernde Mißtrauen gegenüber wirtschaftlicher Größe (§ 2) läßt den immer noch latenten Wusch nach einem möglichst machtfreien Wettbewerb durchscheinen. Am deutlichsten wird dies beim Preisüberhöhungsmißbrauch des § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB, wo noch weitgehend am Leitbild des machtfreien Wettbewerbs festgehalten wird (dazu unten § 14)356. Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht spricht vieles gegen das Leitbild der "vollkommenen Konkurrenz" bzw. gegen den Glauben, Marktmacht wirke sich in allen Fällen negativ auf den Wettbewerb und die Konsumentenwohlfahrt aus 357. Zunächst ist das Modell der vollkommenen Konkurrenz ein statisches Gebilde, welches blind ist für die dynamische Entwicklung des Marktes und dessen spontane Ordnung, die sich nicht in ein starres Korsett zwängen läßt (§ 3 I 2). Es ist daher unfähig zu erkennen, daß der Markt unterschiedliche Phasen durchläuft - von der Markteinführung eines Produktes bis hin zur Imitation durch Wettbewerber358 . Im Verlauf dieses Prozesses kommt es zwangsläufig zu Wettbewerbsvorsprüngen und zur Bildung von Marktmacht, die aber in der Regel im weiteren Verlauf wieder abgebaut wird359. Wenn aber das Modell des vollkommenen Wettbewerbs zum Leitbild der Wettbewerbspolitik erhoben wird, heißt das im Ergebnis nicht weniger, als auf den prozeßhaften Charakter und damit auf wirtschaftlichen Fortschritt zu verzichten, so daß nur ein auf die historischen Gegebenheiten beschränktes, "eingefrorenes", Optimum erreicht werden kann360. 354

Raisch, in: Biedenkopf/Mestmäcker/Hoppmann, Wettbewerb als Aufgabe,

s. 381.

355 Siehe zu dem Unterschied Mestmäcker, DB 1968, 1801 ff.; so auch Knöpftel Leo, in: Müller-Henneberg/Schwartz/Hootz, § 19 Rn. 1965. 356 Vgl. etwa für die Mißbrauchsaufsicht über EVU BGH v. 31.5.1972, BGHZ 59, 42, 46, der den "vollständigen Wettbewerb" ausdrücklich als Leitbild heranzieht; auch K. E. Schmidt, Festschr. f. Günther, S. 311 f.; vgl. auch Singer, JZ 2001, 195. Kritisch dazu schon Gabriel, Festschr. f. Günter, S. 269, er spricht davon, daß diese Maxime den Sturz ihres "alten Idols" der vollkommenen Konkurrenz überlebt habe. 357 Ausführlich dazu Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 6 ff. 358 Hopmann, Preiskontrolle und "Ais-Ob"-Konzept, S. 22. 359 Zu dieser Differenzierung nach Marktphasen vgl. Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 45. 360 Vgl. zu Schumpeters "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung" Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 190 f.; zur Beschränkung der Wohlfahrt

7•

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§ 8 Der Einfluß wettbewerbstheoretischer Modelle

Dieser fundamentale Einwand korreliert in Teilen mit der schon früh erkannten Notwendigkeit überdurchschnittlicher Unternehmensgrößen als Voraussetzung rentabler Unternehmenstätigkeit und Entwicklung361 • Insgesamt leidet das Konzept der vollkommenen Konkurrenz somit an einer Verkennung der wettbewerbliehen Realität und einer undifferenzierten Pauschalablehnung wirtschaftlicher Größe. Zwar hat die Wirtschaftswissenschaft zwischenzeitlich überwiegend diesen Erkenntnissen Rechnung getragen, doch steht die vollständige Rezeption dieser "ökonomischen Aufklärung" für das Mißbrauchsverbot in weitem Maße noch aus 362 . II. Die Theorie vom "funktionsfähigen Wettbewerb"

In den sechziger Jahren drang, insbesondere durch die Arbeit Kantzenbachs, die Kunde von der "workable competition"363 in das volkswirtschaftliche Denken und die kartellrechtliche Praxis Deutschlands364• Das amerikanische Vorbild dieser Lehre hielt noch an der vollkommenen Konkurrenz als zwar phänomenologisch unbedeutendem, aber gleichwohl erstrebenswertem Ideal fest. Daher entwickelte Clark die sog. "Gegengiftthese", derzufolge Marktergebnisse bei dem Vorliegen eines Unvollkommenheitselements im Markt durch das künstliche Hinzufügen eines weiteren verbessert werden könnten und damit die Wettbewerbspolitik nicht unbedingt nach dem Ausgleich der Marktverhältnisse in Richtung auf das Modell des vollkommenen Wettbewerbs zu trachten habe365 . Spätestens mit durch die vollkommene Konkurrenz auch Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 7. 361 Dazu Kantzenbach/Kallfass, Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, S. 105 f. mit weiteren Nachweisen. 362 Dies wird deutlich wenn man sich exemplarische Stellungnahmen vergegenwärtigt, die von einem pauschalen Mißtrauen gegenüber allen Formen wirtschaftlicher Macht künden und in diesem Sinne auch die Mißbrauchsregelung des GWB anwenden möchten, siehe Schwintowski, ZVglRWiss 92 (1993), 64, der als Zielsetzung des GWB die "Aufhebung wirtschaftlicher Macht" ausmacht, und meint, das Kartellrecht diene dem Abbau von Ungleichgewichtslagen, um mittels der Herstellung eines Kräftegleichgewichts zwischen Anbieter und Nachfrager Vertragsgerechtigkeit zu erzielen. 363 Schöpfer dieser Lehre ist lohn Maurice Clark, dessen Untersuchung "Towards an workable Competition" aus dem Jahre 1939 stammt und deren deutsche Übersetzung zu finden ist in: Bamikel, Wettbewerb und Monopol, S. 148 ff. 364 Wegweisend und viel beachtet die Dissertation von Kantzenbach, Die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs; zusammenfassend dazu Kantzenbach/Kallfass, Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, S. 105 ff. Vgl. dazu Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 196 f. mit entsprechenden Nachweisen; siehe aus der Rechtsprechung das Abstellen des BGH v. 16.12.1976, BGHZ 68, 23, 30 ff., auf die Preise, welche sich bei "funktionsfähigem Wettbewerb" ergäben.

II. Die Theorie vom "funktionsfähigen Wettbewerb"

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der Erkenntnis, daß wegen der Pioniertätigkeit von Unternehmen und den daraus resultierenden Innovationsvorsprüngen366, die Bildung von Marktmacht unvermeidbarer Bestandteil einer wettbewerbliehen Ordnung ist, mußten auch die Anhänger der workable competition eingestehen, daß Marktmacht nicht per se bekämpfenswert ist, sondern durchaus das Ergebnis funktionierenden Wettbewerbs sein kann367 • Befreit von dem Leitbild der ausgeglichenen, homogenen Märkte erhob dann die deutsche Rezeption durch Kamzenbach die Marktform des weiten Oligopols zum erstrebenswerten Leitbild der Wettbewerbspolitik368 . Diese Auffassung ist zwar in der Lehre teils heftig kritisiert worden 369, hatte aber nachhaltigen Einfluß auf die Grundausrichtung der Wettbewerbspolitik in Deutschland und demzufolge auch auf die Bewertung wirtschaftlicher Macht durch das BKartA370, so daß bisweilen von einem "neuen Leitbild für die Wettbewerbspolitik" gesprochen wurde 371 . Doch in einem entscheidenden Punkt ähnelt dieses neue Leitbild dem alten: Die tatsächlichen Marktgegebenheiten sollen einem leitbildartigen Marktmodell durch hoheitlich Intervention angepaßt bzw. deren Ergebnisse simuliert werden. Diese wirtschaftspolitische Vorgabe stützt sich auf die Annahmen, daß anhand differenzierter Testreihen aus der Betrachtung der Marktstruktur, des Marktverhaltens und der Marktergebnisse Rückschlüsse auf die jeweils anderen Kriterien gezogen werden könnten. Kantzenbach selbst favorisiert insoweit den Marktstrukturansatz, nach welchem mittels der Betrachtung der Struktur auf Marktverhalten und Marktergebnisse ge365 Siehe die zusammenfassende Darstellung bei Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 190 f. mit weiteren Nachweisen. 366 Zu diesen Erkenntnissen Clarks, die auf Schumpeters Bild vom Unternehmer als Pionier zurückgehen, Kantzenbach/Kallfass, Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, S. 106 ff. 367 Zu der Entwicklung der Lehre von der workable competition und der Meinungsänderung hinsichtlich dem Ideal des vollkommenen Wettbewerbs siehe Hoppmann, Wirtschaftsordnung und Wettbewerb, S. 188 ff.; Kantzenbach/Kallfass, Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, S. I 07. 368 Kantzenbach!Kallfass, Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, S. I 10. 369 Neben anderen vor allem Hoppmann, JNSt Bd. 179 (1966); S. 286; ders., JNSt Bd. 181 (1967), S. 251. 370 Siehe etwa den Tätigkeitsbericht des BKartA, BT-Drs. 5/530, S. 8 sowie aaO, S. 18, wo der Verweis auf BGH v. 17.3.1965, WuW/BGH 667, nach welcher Preisbegrenzung auf die Grenze des "wirksamen Wettbewerbs" zu beschränken seien, mit dem kantzenbachschen Verständnis in Verbindung gebracht wird. Zum Wandel der Wettbewerbspolitik in Richtung auf den "funktionsfähigen Wettbewerb" auch Kartte/Holtschneider, Konzeptionelle Ansätze und Anwendungsprinzipien im GWB, S. 210 f.; Müller, Wettbewerbspolitik, Sp. 1537; vgl. auch Möschel, JZ 1975, 394 mwN. 371 Karrte, Ein neues Leitbild für die Wettbewerbspolitik, passim.

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§ 8 Der Einfluß wettbewerbstheoretischer Modelle

schlossen werden könne372 . Dabei stehe die Frage im Vordergrund, welche marktstrukturellen Gegebenheiten für die Realisierung einzelner Wettbewerbsergebnisse notwendig seien, insbesondere welcher Grad an Dezentralisierung in einer hochtechnisierten Volkswirtschaft aufrechterhalten werden müsse373 • Zwar brachte die Lehre vom funktionsfähigen Wettbewerb den nicht gering einzuschätzenden Erkenntnisfortschritt, daß der Wettbewerb als dynamischer Prozeß nicht wie ein statisches Modell behandelt werden kann. Dennoch bleibt die Lehre vom funktionsfähigen Wettbewerb insoweit bei der ökonomischen Erwägung stehen, daß der Wettbewerb kein Selbstzweck ist, sondern als Mittel zur Erreichung übergeordneter, wirtschaftspolitischer Ziele diene74, die anband differenzierter ökonomischer Leitbilder und Modelle angestrebt werden sollen. Ohne auf die spezifisch ökonomischen Kritikpunkte an der Theorie der workable competition und der kantzenbachschen Variante an dieser Stelle en detail eingehen zu können375 , soll die auch für § 19 GWB wichtige Frage beantwortet werden, ob man Modellen die normative Verbindlichkeit entnehmen kann, den Wettbewerb in Richtung auf zentral und exogen gesetzte Zielvorgaben steuern zu können. Diese entscheidende Weichenstellung läßt sich jedoch besser vornehmen, wenn zunächst noch eine weitere wettbewerbspolitische Lehre in Antipode zu den vorangegangenen Marktformentheorien gesetzt wird. 111. Das neoklassische Konzept der Wettbewerbsfreiheit Das neoklassische Konzept der Wettbewerbsfreiheit, welches auf den Erkenntnissen von Hayeks aufbauend in Deutschland namentlich von Rappmann vertreten worden ist, setzt sich als Gegenentwurf von denjenigen Ausprägungen der "workable competition" ab, die den funktionsfähigen Wettbewerb als Norm der Wettbewerbspolitik positiv beschreiben wollen. Darüber hinaus kann es aber auch als generelle Absage an sämtliche Theorien verstanden werden, welche aus dem (unterstellten) Zusammenspiel der 372 Kantzenbach/Kallfass, Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, S. l 13 ff. ; bezeichnend auch die breiten Ausführungen zur Marktstruktur bei der Beurteilung, ob ein Pharrnauntemehmen seine Marktstellung mißbräuchlich ausgenutzt hat, s. BGH v. 16.12.1976, BGHZ 68, 68, 23, 32 ff. 373 Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 37, auch zu den Zielkonflikten die aus den unterschiedlichen Marktstrukturen resultieren. 374 So ausdrücklich Kantzenbach/Kallfass, Das Konzept des funktionsfähigen Wettbewerbs, S. 110; zum ganzen Herdzina, Wettbewerbspolitik, S. 33 ff. 375 Vgl. die Zusammenstellung der Kritikpunkte bei Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 13 f. mit weiteren Nachweisen.

III. Das neoklassische Konzept der Wettbewerbsfreiheit

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Marktfaktoren (wie der Struktur, dem Verhalten und den Ergebnissen) Vorgaben für die Wettbewerbspolitik deduzieren wollen. Einer solchen Vorgehensweise steht nach Ansicht von Hayeks entgegen, daß die gesellschaftliche Institution des Marktes einer "kulturellen Evolution" entspringt und sich als eine "spontane Ordnung" präsentiert, deren Endzustände sich mangels Kenntnis des zukünftigen und überdies dezentral verstreuten Wissens nicht vorhersagen lassen, was auch dem hier vertretenen institutionenökonomischen Ansatz entspricht (§ 3 1) 376. Daher lassen sich die unterstellten Kausalbeziehungen zwischen Marktstruktur, Marktverhalten und Marktergebnis, auf welche Kantzenbachs Theorie zurückgreift, als "Anmaßung von Wissen"377 bezeichnen, sprengt doch die komplexe Realität des Massenphänomens Wettbewerb jedes Modell378. Als Kontrapunkt zu positiven Vorgaben von Marktformen und wünschenswerten Verhaltensweisen nennt Hoppmann die "Wettbewerbsfreiheit" an sich als entscheidende wettbewerbspolitische Wertsetzung379. Grundsätzlich soll es jedem Marktteilnehmer überlassen bleiben, seine Fähigkeiten und Mittel für eigene, autonom gewählte Zwecke einzusetzen, ohne daß eine Übereinstimmung mit zentralen und übergeordneten Vorgaben erreicht werden müßte 380. Es liegt in der Konsequenz dieses Ansatzes, daß zwar die "ökonomische Vorteilhaftigkeit" als zweiter Zielkomplex der Wettbewerbspolitik hervorgehoben wird. Die~e wird aber - im Gegensatz zu der Auffassung Kantzenbachs - nicht am Allgemeinwohl gemessen381 . Statt dessen wird auf die individuellen ökonomischen Vorteile jedes Marktteilnehmers durch den Wettbewerb auf der jeweils gegenüberliegenden Marktseite abgestelle82. Hoppmann glaubt durch eine individualistische Betrachtungsweise 376 Vgl. dazu namentlich v. Hayek, ORDO Bd. 14 (1963), S. 3 ff.; Smith, Wohlstand der Nationen, S. 16; auch Radnitzky, HamJbWiGP, Bd. 29 (1984), S. 9 ff. 377 Terminus nach Hayek, Die Anmaßung von Wissen, Ordo Bd. 26 (1975), s. 12 ff. 378 Nach Streit, Wirtschaftspolitische Blätter 1992, 55, 56 f., liegt in der leitbildhaften Definition eines wettbewerbliehen Optimums eine Anmaßung von Wissen und zugleich eine Gefahr, denn "verglichen mit der Utopie eines Optimums sieht die Realität immer schlecht aus". Siehe auch /. Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 15 mit weiteren Nachweisen. 379 Hoppmann, Das Problem einer wettbewerbspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, S. 14 ff. 38 Clapham, Das wettbewerbspolitische Konzept der Wettbewerbsfreiheit, S. 134; Hoppmann, Das Problem einer wettbewerbspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, S. 15 f.; in grundlegender Weise v. Hayek, ORDO Bd. 18 (1967), S. 14 ff. 381 Kritisch zu der Meßbarkeit der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt auch Hesse/ Koch, in: Walter, Wirtschaftswissenschaften, S. 501. 382 Hoppmann, Das Problem einer wirtschaftspolitisch praktischen Definition des Wettbewerbs, S. 17 ff.

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die Ziele Wettbewerbsfreiheit und ökonomische Vorteilhaftigkeil miteinander vereinen zu können, die von den Anhängern eines statischen Modells des Wettbewerbsgleichgewichts (vgl. oben I) noch als grundsätzlich unvereinbar angesehen wurden (sog. Dilemma-Hypothesei 83 . Mit dieser Apostrophierung gelingt eine scharfe Abgrenzung zu der Ansicht Kantzenbachs, der auf die überindividuellen Vorteile abstellen möchte, damit aber die im Wettbewerb Tätigen zu heteronomen Zwecken instrumentalisiert384 . Wenn sich mit Hoppmann sagen läßt, "das Ziel der Wettbewerbsfreiheit sind Marktprozesse, die aus der Wettbewerbsfreiheit der Marktteilnehmer herauswachsen und in denen ihre Freiheiten zugleich erhalten bleiben"385 , dann stellt sich die Frage, wie das Kartellrecht und § 19 GWB die Wettbewerbsfreiheil vor Einschränkungen durch den Staat und durch Private sichern soll. Im Gegensatz zu den unter I und II vorgestellten wettbewerbstheoretischen Marktmodellen will die Neoklassik für diesen Zweck nicht positive Zielvorgaben definieren, sondern setzt umgekehrt bei den Wettbewerbsbeschränkungen an386. Dabei gerät aber gerade nicht jede marktbeherrschende Stellung zwangsläufig in das Visier wettbewerbspolitischer Maßnahmen: Da auch Monopolisten Preissignale in den Wettbewerb abgäben, blieben sie insgesamt Bestandteil des wettbewerbliehen Systems387 . Hoppmann differenziert vielmehr zwischen "künstlichen", auf unternehmerischen oder staatlichen Entscheidungen beruhenden, Wettbewerbsbeschränkungen und "natürlichen" Wettbewerbshemmnissen, die sich zwar nicht durch die Rückgängigmachung staatlicher oder privater Beschränkungen aufheben lassen, in einem dynamischen Wettbewerbsprozeß grundsätzlich aber temporärer Natur seien388 . Gegenüber künstlichen, also willkürlichen, Wettbewerbsbeschränkungen durch Private sei eine "Antimonopolpolitik" 383 Siehe Hoppmann, Problem einer wettbewerbspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, S. 21: "Wettbewerbsfreiheit und ökonomische Vorteilhaftigkeil sind zwei Aspekte desselben wettbewerbliehen Prozesses, sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Deshalb kann es keine Alternative, keinen Konflikt und keine Probleme der Vorrangigkeil zwischen beiden Zielen geben.". Zur Dilemma-Hypothese Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 16 f. sowie Clapham, Das wettbewerbspolitische Konzept der Wettbewerbsfreiheit, S. 135 f. jeweils mit weiteren Nachweisen. 384 Kritisch dazu auch Streit, Wirtschaftspolitische Blätter 1992, 64. 385 Hoppmann, Das Problem einer wettbewerbspolitisch praktikablen Definition des Wettbewerbs, S. 16. 386 Hoppmann, Problem einer wirtschaftspolitisch praktischen Definition des Wettbewerbs, S. 27 ff. 387 Vgl. dazu Möschel, ORDO Bd. 32 (1981), S. 96 mwN. 388 Hoppmann, Problem einer wirtschaftspolitisch praktischen Definition des Wettbewerbs, S. 31 ff. ; Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 16. Eine sehr ähnlich Unterscheidung zwischen natürlichen und wirtschaftspolitischen Ursachen findet sich schon bei Smith, Wohlstand der Nationen, S. 52 f.

IV. Bewertung

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ebenso indiziert wie gegenüber staatlichen Wettbewerbshemmnissen389. Hinsichtlich natürlicher Monopole ernpfählen sich hingegen Maßnahmen dann, wenn sich Wettbewerbsbeschränkungen zu zementieren drohten und gar irreversibel seien. Auf den Bereich der Energieversorgungsunternehmen gespiegelt, stellen demnach die alten Ausnahmebereiche nach § 103 GWB a. F. künstliche Beschränkungen dar, welche kraft legislativer Entscheidung aufhebbar sind. Damit wird deutlich, daß nicht der gesamte Bereich der Energieversorgung ein "natürliches Monopol" darstellt, sondern vielmehr natürliche Monopole, welche zu Reaktion der Wettbewerbspolitik anhalten, nur in Gestalt der Leitungsnetze vorliegen390. Die Leitungsmonopole in der Energiewirtschaft wären also auch nach dieser Auffassung einer Mißbrauchsaufsicht zu unterstellen391. Insoweit läge hier ein geeigneter Einsatzort für § 19 GWB, namentlich für das neugeschaffene RegelbeispieL

IV. Bewertung 1. Konzeptionelle Grundunterschiede

In ökonomischer Hinsicht läßt sich konstatieren, daß die beiden erstgenannten Meinungen noch von einem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber wirtschaftlicher Stärke geprägt sind und dieses Phänomen entweder als bekämpfenswert erachten oder als in bestimmten Konstellationen zu duldende Ausnahme. Dabei verkennen sie die ökonomische Notwendigkeit, in einem dynamischen Prozeß wirtschaftliche Größe als Voraussetzung und Gegenleistung für Innovation und Investition zu fördern. Demgegenüber verhält sich das neoklassische Konzept gegenüber wirtschaftlicher Macht grundsätzlich neutral und differenziert statt dessen nach den Ursachen. Die beiden erstgenannten Meinungen legen zudem zur Bestimmung der Verhaltensspielräume bestimmte ökonomische Leitbilder an und knüpfen im Ergebnis auch die Wirksamkeit von Rechtsgeschäften an die Übereinstimmung mit ökonomischen Zielvorgaben und Marktkonzepten. Demgegenüber betonen Hayek und Hoppmann, daß es in diesem spontanen und dezentralen Prozeß den Teilnehmern selbst überlassen bleiben soll, die zu erreichenden Ziele zu definieren. 389 Hoppmann, Problem einer wirtschaftspolitisch praktischen Definition des Wettbewerbs, S. 32 f. 390 Damit wird auch der "Tautologievorwurf', der dem hoppmannschen Konzept der Ausnahmebereiche vorgehalten wurde, entkräftet, zeigt sich doch die tatsächliche und nicht bloß normativ gesetzte Natur solcher Wettbewerbsausschlüsse; vgl. zu der Tautologie-Kontroverse eingehend Möschel, ORDO 32 (1981), S. 88 ff. 391 Dazu Schmidt, Wettbewerbspolitik und Kartellrecht, S. 16.

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§ 8 Der Einfluß wettbewerbstheoretischer Modelle

Die Diskrepanz zwischen den Modellen funktionierender Marktzustände und dem Modell der Wettbewerbsfreiheit erklären sich durch den grundsätzlichen Unterschied hinsichtlich der Beurteilung der Existenzberechtigung des Wettbewerb: Für das "funktional-kollektivistische Wettbewerbsverständnis" der Ordoliberalen und der Anhänger Kantzenbachs ist der Wettbewerb ein apersonales Instrument und wird zur Erreichung bestimmter kollektiver Ziele benötigt, für das neoklassische Wettbewerbsverständnis ist der .,Wettbewerb" die Zusammenfassung dezentraler und autonomer Interessenkoordinierung und als Selbstweck zu schützen. Die diametral unterschiedliche Auffassung von Aufgaben und Existenzberechtigung des Wettbewerbs weist auf die grundsätzliche Frage nach der normativen Absicherung aller genannten wettbewerbspolitischen Theorien hin. Auch hier besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen .,Funktionalisten" und .,Neoklassikern": Die erstgenannten Wettbewerbsmodelle stützen die jeweilige kartellrechtliche Entscheidung "Verbot/Verhaltensfreigabe" vornehmlich auf die Tragfähigkeit ihrer modelltheoretischen Annahmen. Damit erheben sie rein ökonomische Vorhersagen zur entscheidenden Anwendungsleitlinie des Rechts. Will aber das Kartellrecht .,Recht" und damit mehr sein als eine bloße .,Reglementierung"392 , dann wird sich die Beschränkung von Handlungsfreiheiten nicht allein auf zweckrationale und wertindifferente Modelle stützen lassen, sondern eine normativ-wertsetzende Absicherung erfordern. Wertsetzend ließe sich das funktional-kollektivistische Wettbewerbsverständnis mit dem Utilitarismus begründen, der die Bestimmung des Wertes staatlichen Handeins daran mißt, ob eine Entscheidung das Glück bzw. die Vorteile der größtmöglichen Zahl von Menschen steigert393 . Bei dieser Entscheidung müssen sich die Utilitaristen aber einer Wissensanmaßung bedienen394 : Nach der individuellen Vorstellung von Glück und Vorteil wird nicht gefragt, sie wird nicht einmal im Modell individuell-distributiv gemessen, sondern abstrakt-kollektiv gesetzt. Bei diesem dekretierten Abstellen auf einen gesamtgesellschaftlichen Saldo kommt es allein auf das maximale Allgemeinwohl an, während nach der Verteilung des Gesamtwohls auf die einzelnen Mitglieder nicht gefragt wird395 • Eine konkrete rechtspolitische Entscheidung, wie sich das individuelle Glück in einer Gemeinschaft verteilen läßt, mutiert damit zur bloßen Funktion, ein zentral 392 Vgl. dazu Ballerstedt, Festschr. f. Schmidt-Rimpler, S. 369, 394 ff. sowie ders., Festschr. f. Böhm, S. 180. 393 Zur utilitaristischen Theorie Jeremy Benthams und lohn Stuart Mills siehe Coing, Rechtsphilosophie, S. 48 ff. 394 Vgl. dazu die Kritik von Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 175 f. 395 So Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 75.

IV. Bewertung

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definiertes "Allgemeinwohl" zu maximieren. Wer aber die Wettbewerbsfreiheit nur wegen ihrer positiven Auswirkungen für das Gemeinwesen gewährleisten will, sieht sich mit unüberbrückbaren theoretischen und praktischen Schwierigkeiten konfrontiert, denn für die Definition eines für die Mehrzahl verträglichen Zieles ist die Informiertheit über das Wissen und die Präferenzen der regelunterworfenen Individuen erforderlich. Da dies, wie namentlich von Hayek dargelegt wurde, ein schlicht unmögliches Unterfangen ist396, muß man sich einer Wissensanmaßung insoweit bedienen, als gewisse Zielvorgaben zentral gesetzt und normativ als "Allgemeinwohl" deklariert werden. Entscheidend ist insoweit, ob eine Entscheidung am Maßstab des dekretierten Allgemeinwohls für die Mehrheit vorteilhaft ist. Da insbesondere die von der Kosten/Nutzen-Abwägung Benachteiligten nicht gefragt werden oder gar zustimmen müssen, handelt es sich in Wahrheit um ein "Mehrheitswahl", das mit dem Terminus des "Allgemeinwohls" verklärt wird397. Somit stellen sich auch die Ziele, die nach Vorstellung des funktional-kollektivistischen Wettbewerbsverständnisses erreicht werden sollen, als Dekret und Anmaßung dezentral verteilter und subjektiv divergierender Ziele dar. Eine weitere Wissensanmaßung wird in Bezug auf die Folgenabschätzung im Zeitpunkt der Regelsetzung notwendig. Schließlich vermag die Gesetzgebung nicht ohne weiteres, auch die Erreichung von Allgemeinwohlzielen zu dekretieren. Da Resultate durch das Handeln von Individuen vermittelt werden, welche aus ihrer subjektiven Sicht und anband individuellrationaler Präferenzen agieren (§ 5 II), streben sie die Zielvorgaben nur entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse an und modifizieren damit die tatsächlich erreichten Ergebnisse398 . Auf die Wettbewerbstheorie übertragen heißt das, daß auch eine Anwendung des § 19 GWB jedenfalls dann nicht die im 396 v. Hayek, ORDO Bd. 14 (1963), S. 14; vgl. Roelleke, Rechtstheorie Bd. 31 (2000), S. 2; siehe auch Streit, Wirtschaftspolitische Blätter 1992, 58, der darlegt, daß wegen der Beschränktheit des Wissens jede zentrale Planung nicht objektiv rational sein kann, sondern nur subjektiv rational ist, da sie sich auf den Wissensstand des Entscheidenden beschränken muß. 397 Dies ist um so bedenklicher, als das Prinzip der Nutzenmaximierung keinen "Nutzenverteilungsschltissel" anbietet und daher eine Minderheit nicht nur in der Abwägung unberücksichtigt bleibt, sondern auch die praktische Verteilung der diskretionären Entscheidung einer Zentralinstanz unterliegt, vgl. dazu Zoglauer, der blaue reiter 1996, 33; auch Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 76. 398 Schon Raisch warnte davor, wirtschaftliche Regelungen ausschließlich an der volkwirtschaftlichen Nützlichkeit zu orientieren, da die zugrunde liegenden wirtschaftswissenschaftlichen Modelle nicht einfach als objektiv Feststehendes angesehen werden könnten und es überdies bei der Schaffung wie Auslegung dieser Normen nicht darum gehen könne, den "Wettbewerb um jeden Preis" und einzig zur Maximierung der volkswirtschaftlichen Wohlfahrt durchzusetzen, siehe Raisch, JZ 1965, 625; ders., BB 1971, 229.

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§ 8 Der Einfluß wettbewerbstheoretischer Modelle

Modell vorhergesagten Ergebnisse zeitigt, wenn die Zielsetzungen - eingedenk des Rationalitätsaxiom (§ 5 II) - jenseits des ordnungsökonomisch sinnvoll Erreichbaren liegen. Die Schwächen des utilitaristischen Denkens sind also auch die Schwächen des funktional-kollektivistischen Wettbewerbsverständnisses. Somit läßt sich für die Relevanz ökonomischer Modelle und Leitbilder im Rahmen der Auslegung des§ 19 GWB keine tragfähige normative Grundlage finden. 2. Das Konzept der Wettbewerbsfreiheit als Absage an das funktional-kollektivistische Wettbewerbsverständnis

Wenn man die von Eucken postulierte Interdependenz der Ordnungen ernst nimme99, dann müssen auch Wettbewerbstheorien im Rahmen der Normauslegung darauf überprüft werden, ob sie sich in das rechtliche Gesamtgefüge einordnen lassen. Somit erhebt sich - schon aus normhierarchischen Gründen - die Frage, welche Wettbewerbstheorien sich mit den Vorstellungen unserer Verfassung vereinbaren lassen. Die Sichtweise vom Wettbewerb als abstraktes Wesen400 offenbart sich bereits in einer Ontologisierung, die weg von den Individuen hin zu einem überpersönlichen Gebilde führt und in der Wahl dieses Abstraktums zum Ausdruck kommt. Diese, vom Einzelnen abstrahierende Betrachtungsweise verschleiert aber, daß jede staatliche Intervention in den Wettbewerb verfassungsrechtlich ein Eingriff in die Freiheitskreise von Grundrechtsträgem darstellt401 . Dies gilt insbesondere für die Verknüpfung von Funktionszielen mit dem Schutz des Wettbewerbs: Da sich unser Wissen über die Zeit verändert und wir heute nicht wissen können, was wir morgen wissen werden, beschränken exogene Zielvorgaben das "Entdeckungsverfahren" Wettbewerb auf bereits Entdecktes. Den Schutz des Wettbewerbs von der Einhaltung bestimmter Funktionen abhängig zu machen, heißt somit den Menschen selbst und sein Verhalten zu funktionalisieren und ihn seiner Findigkeit und Freiheit zu berauben. Damit wird aber das an den einzelnen Wettbewerbsakteur gerichtete - von der Verfassungs- und PrivatrechtsordSiehe dazu Eucken, Grundlagen der Wirtschaftspolitik, S. 52 f. Vgl. Hoppmann, Problem einer wirtschaftspolitisch praktischen Definition des Wettbewerbs, S. 19: "Volkswirtschaft als anthropomorphistisches Gebilde". 401 Vgl. zu dieser Vernachlässigung und Reduzierung des individuellen Schutzes Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 76 f. Schlimmstenfalls ließen sich mit dem Allgemeinwohl auch die völlige Degradierung des Einzelnen zum Objekt staatlichen Handeins legitimeren, denn auch die Leibeigenschaft und Sklaverei schafft Bedingungen, unter denen es einer Mehrheit und dem damit gleichgesetzten Allgemeinheit besser geht als den Benachteiligten. 399

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IV. Bewertung

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nung normierte - inhaltsneutrale Freiheitsversprechen umgangen (§ 4 lll). Diese Kollektivierung und Abstrahierung führt somit in letzter Konsequenz zu einer Negierung der Nonnativität des "Wettbewerb". Die Betonung dieser Werthaltigkeit ist umgekehrt der Vorzug des freiheitlichen Wettbewerbsverständnisses. Auch wenn dem Wettbewerb zweifellos eine gesamtwirtschaftliche Bedeutung zukommt, resultiert er doch phänomenologisch aus den spontanen und dezentralen Interaktionen von Individuen (§ 3), die entsprechend der inhaltsneutralen Freiheitsgewährleistung (§ 4 III) und dem Paradigma der Privatautonomie selbstständig und entsprechend ihrer subjektiven Handlungsrationalität (§ 5 II) ihre Ziele wählen können402 . Ein weiterer Widerspruch ergibt sich in Bezug auf das grundsätzliche Mißtrauen der "Funktionalisten" gegenüber wirtschaftlicher Größe: Die normativen Vorgabe des kartellrechtlichen Regelrahmens dulden nicht nur wirtschaftliche Macht oder machen ihre Gestattung abhängig von der Erreichung bestimmter Ziele, sondern stellt die Markstellung unter (verfassungs)rechtlichen Schutz (§ 4). Bleibt daher jedes ökonomische Modell im Vergleich zum tatsächlichen Wissen lediglich eine Vermutung403 und sperrt sich unser Verfassungs- und Gesellschaftsverständnis gegen ein funktional-kollektivistisches Wettbewerbs- und Rechtsverständnis404, so konzentrieren sich die ökonomischen Erkenntnisse für die Normauslegung des § 19 GWB auf die Feststellung der Nonnativität des freiheitlichen Wettbewerbsverständnisses. Die Freiheit des Wettbewerbs ist Selbstzweck. Die oben (§ 3 I) aufgeworfene Frage, ob sich das institutionenökonomische Wettbewerbsverständnis auch auf eine normative Basis stützen läßt, kann somit bejaht werden. Es gilt daher festzuhalten, daß es weder eine ökonomische Notwendigkeit noch eine rechtliche Rechtfertigung dafür gibt, gegen jede Form der 402 Dieser Verweis auf die Verfassungs- und Gesellschaftsordnung entkräftet den Vorwurf, daß auch eine solche "nomokratisch" ausgerichtete Wettbewerbspolitik, die sich auf die Setzung eines Rahmens für einen ergebnisoffenen Prozeß beschränkt, ihrerseits nicht ohne normative Begründung auskomme und sich daher in den rechte Iichen Rahmen einzufügen habe (siehe Möschel, ORDO Bd. 32 [1981], S. 85, 89). Die einzig insoweit notwendige und determinierende normative Setzung ist die Verfassung selbst, aus der sich zwar das Konzept der Wettbewerbsfreiheit ableitet, die aber ergebnisoffen und entwicklungsfähig ist und die Akteure nicht auf konkrete Ziele ihrer Handlungen verpflichtet. 403 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 81. 404 Siehe auch Rittner, Wettbewerbs- und Kartell recht, S. 161: "Eine freiheitliche Ordnung wie die des Grundgesetzes und der EG erlaubt lediglich einen indeterminierten Wettwerbsbegriff, der einem offenen Handlungssystem entspricht. Für sie bleibt der Mensch das Wesen, das auf Unendlichkeit, also auf Freiheit zur Gestaltung der Zukunft, angelegt ist".

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§ 9 Vorgaben des kartellrechtlichen Regelrahmens

Marktbeherrschung vorzugehen. Vielmehr hat sich die Politik auf die Abschaffung künstlicher Wettbewerbsbeschränkungen und das Kartellrecht auf die Regulierung von Wettbewerbsbeschränkungen, vor allem von natürlichen Monopolen, zu konzentrieren. Für den weiteren Fortgang der Untersuchung des Mißbrauchsbegriffs ist somit deutlich geworden, daß ökonomische Leitbilder keine Rolle bei der Normauslegung spielen dürfen. Jedes Rekurrieren auf wettbewerbstheoretische Modellvorgaben ist nicht nur mit dem Stigma der Wissensanmaßung behaftet, sondern lenkt von der Aufgabe des normanwendenden Juristen ab: dem Werten.

§ 9 Zusammenfassung der Vorgaben des kartellrechtlichen Regelrahmens I. Das Schutzobjekt des GWB und des Mißbrauchsverbots ist der Wettbewerb als das gesellschaftliche Phänomen eines dezentralen, spontanen und ergebnisoffenen Prozesses. Die den Wettbewerb ausmachenden Transaktionen vollziehen sich innerhalb eines bestimmten Regelrahmens, namentlich den Regeln des privatrechtliehen Ordnungssystems und der Verfassung. In diesen Regelrahmen ist § 19 GWB einerseits hineingestellt, andererseits hat diese Norm die Funktionsfähigkeit dieses Ordnungssystems zu schützen. Dies bedeutet, daß § 19 GWB auch bei der Durchführung seines Schutzauftrages die Wertsetzungen dieses "kartellrechtlichen Regelrahmens" tolerieren muß.

2. Das Grundgesetz enthält keine negative Wertsetzung gegenüber dem Phänomen wirtschaftlicher Macht. Im Gegenteil resultiert aus den Grundrechtsgewährleistungen das Bild einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung. Auch marktbeherrschende Stellungen sind Ausfluß der Inanspruchnahme von Grundrechten und der freiheitlichen Wirtschaftsordnung. Die Handlung aus dieser Stellung heraus ist gemäß dem Paradigma der inhaltsneutralen Freiheitsgewährleistung prima facie zulässig. Die Feststellung eines Mißbrauchs bei der Ausübung von Freiheitsrechten darf nicht von der Konformität mit zentral gesetzten Leitbildern abhängig gemacht werden kann. Mit dem Mittel des § 19 GWB darf somit der Wettbewerb nicht auf soziale Endzustände gelenkt werden. 3. Das tradierte Privatrechtssystem gründet sich entscheidend auf eine Vertragskonzeption, die lediglich die formal-prozeduralen Voraussetzungen einer autonomen Regelung der Rechtsverhältnisse vorgibt und sich in Bezug auf den materiellen Inhalt weitgehend neutral verhält. Entsprechend seinem prozeduralen Charakter wird auch nicht die Durchsetzung eines materiell "gerechten" Vertrages mit äquivalenten Pflichten versprochen. Neben dieser Gewährung einer privatautonomen Ordnungsschaffung werden dem

§ 9 Vorgaben des kartellrechtlichen Regelrahmens

111

Privatrecht keine spezifischen überindividuellen oder sozialen Ziele zugewiesen. Vielmehr vertraut man insoweit einer reflexhaften Allgemeinwohlförderung. Dieses formal-prozedurale Vertragskonzept darf auch durch § 19 GWB nicht durchbrachen werden. 4. Das Funktionieren dieses privatrechtliehen Ordnungssystems ist wirtschaftspsychologisch und ordnungsökonomisch mit dem individuellen Rationalismus, also dem Eigennutzstreben, zu erklären. Dieser Erklärungsansatz deutet aber zugleich die Grenzen des Systems an: Interessen, die außerhalb derjenigen der am Vertrag beteiligten Privaten stehen, können in der autonom gesetzten Ordnung nicht abgebildet werden. 5. Das privatrechtliche Ordnungssystem ist nach richtigem Verständnis der Lehre von der Richtigkeilsgewähr auf die Schaffung einer für die Beteiligten zweckmäßigen Ordnung im Rahmen der Wertvorstellungen der Verfassung gerichtet. Es vermag aber lediglich die Gerechtigkeit des Prozesses zu versprechen, nicht aber die Billigkeit jedes Einzelfalls. § 19 GWB darf somit ebenfalls nicht zum Zwecke der Billigkeitsdurchsetzung eingesetzt werden, sondern muß sich auf die prozedurale Rationalität des Systems verlassen. Immer dann aber, wenn die Privatautonomie nicht zur Schaffung einer vor der Verfassung tolerierbaren Ordnung des Rechtsverhältnisses in der Lage ist und damit das Allgemeinwohl nicht gefördert wird, ist auch mit Hilfe des § 19 GWB zu intervenieren. 6. Bei der Konturierung der hier zu untersuchenden Grenzen für den Preisüberhöhungsmißbrauch und des Mißbrauchs wegen einer Zugangsverweigerung ist auf die Wertungen der Verfassung zu rekurrieren. a) Hinsichtlich inäquivalenter Vertragsinhalte sind die kollidierenden Grundrechte des Vertragspartners zu beachten. Korrekturen der Vertragspflichten sind auf dieser Grundlage möglich, wenn typischerweise eine heterogene Machtverteilung vorliegt und diese zu einem offensichtlich unangemessenen Ergebnis führt und damit die Privatautonomie in Heteronomie umschlägt. Wichtig für § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB ist, daß das Grundgesetz keine "praktische Konkordanz" im Sinne vollkommen ausgeglichener Vertragspflichten verlangt, sondern eine Schwankungsbreite tolerierbarer Preise existiert. Damit bietet die Verfassung keine Handhabe zur Schaffung von Billigkeit in Form eines "iustum pretium". Aus dem Sozialstaatsprinzip resultieren keine engeren Grenzen, insbesondere keine Ermächtigung zu einem egalisierenden Vorgehen. b) Bei Zugangsverweigerungen erfolgt eine Beschränkung der Verhaltensspielräume des Inhabers und die Erweiterung derjenigen des Zugangspetenten nicht wegen kollidierender Freiheitsrechte oder wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. I GG. Vielmehr folgt aus dem Sozialstaatsprinzip und der "sozialen Ordnungsbedürfigkeit" der Infrastruktur eine Regulie-

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§ 9 Vorgaben des kartellrechtlichen Regelrahmens

rungspflicht des Staates, da sich aufgrund der Monopolstellung an den Infrastruktureinrichtungen keine zweckmäßige und tolerierbare Ordnung auf den abhängigen Märkten einstellen kann. 7. Im Rahmen unseres Rechts- und Gesellschaftsverständnisses können funktional-kollektivistische Wettbewerbsmodelle bei der Auslegung von Normen wie dem § 19 GWB keine Rolle spielen, sperren sich doch ihre Grundlagen gegen die Normativität des Phänomens "Wettbewerb". Vielmehr ist der Wettbewerbsfreiheit selbst normatives Gewicht beizumessen. Die Freiheit im Wettbewerb ist Selbstzweck und wird unabhängig von den kollektiven Folgen gewährleistet. Dies verdeutlicht, daß das hiesige Wettbewerbsverständnis zwar einerseits ein soziales Faktum nachzeichnet (siehe oben § 3 1), sich aber normativ durch unsere Verfassungsordnung abgesichert sieht. Demgegenüber stützen sich andere Wettbewerbsverständnisse auf sozial nicht belegbare und normativ mit der Rechtsordnung nicht vereinbare Annahmen und Setzungen. Die zentrale Aufgabe der Ordnungspolitik besteht in der Sicherung der Wettbewerbsordnung vor Wettbewerbsbeschränkungen. Aus diesen Erkenntnissen schöpft § 19 GWB sowohl seine Aufgabe wie auch Verpflichtung: Er soll den Prozeß vor privaten "rent seeking"-Interessen schützen und nötigenfalls für staatliche Interventionen öffnen. Gleichzeitig gebietet es das Konzept der Wettbewerbsfreiheit aber, staatliche Interventionen in den Wettbewerb nur als "ultima ratio" zu begreifen, da diese ihrerseits zu Beschränkungen der Verhaltensspielräume führen. 8. Will man den Normadressaten des § 19 GWB und der Rechtspraxis einigermaßen verläßliche und justitiable Maßstäbe mit an die Hand geben, muß auf die grobe - und wegen der Unsicherheiten auch stumpfe - Klinge ökonomischer Lehren verzichtet werden. Es ist weder empirisch zu messen noch entlang von Modellen zu prognostizieren, sondern zu werten. Die Grundlagen dieser Wertungen stellen die oben dargelegten verfassungsrechtlichen und die privatrechtsdogmatischen Fundamente dar, aus denen sich ein bestimmtes Ordnungssystem deduzieren läßt, welches die Freiheitsbetätigungen der Individuen im wirtschaftlichen Bereich koordinieren soll. Aus der Gesamtschau der normativen Vorgaben des kartellrechtlichen Regelrahmens wird deutlich, daß im Unterschied zu den historizistischen Auffassungen von Gesellschaft und Wettbewerb nicht im Ergebnis dynamischer Entwicklungen ein "moralisches Urteil"405 liegt, sondern im prozessualen Verlauf derselben: das der Freiheit und Selbstbestimmung der Akteure.

405

Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, S. 23.

Dritter Teil

Energierechtliche Grundlagen und Anwendungsleitlinien des Mißbrauchsverbots für marktbeherrschende Gasversorgungsunternehmen Bevor wir uns im vierten Teil der Konkretisierung eines normativen Mißbrauchsverständnisses zuwenden, wollen wir uns dem zweiten Anliegen der Arbeit widmen: der Frage, welche Ansätze in dem (abgeschafften) Energiekartellrecht des § 103 GWB a.F. für die Preisüberhöhung und die Zugangsverweigerung entwickelt worden sind. Wenn auch der Art. 2 des Gesetz zur Neureglung des Energiewirtschaftsrechts vom 29.4.1998406 den § 103 GWB a. F. für die Energieversorgungsunternehmen außer Kraft setzte und dieser schließlich mit der 6. Novelle407 zum 1.1.1999 gänzlich aus dem Kartellgesetz entfernt wurde, wäre die Behauptung doch etwas voreilig und simplifizierend, daß nunmehr auch die zur besonderen Mißbrauchsaufsicht des § 103 Abs. 5 GWB a. F. entwickelten Anwendungsleitlinien mit dem berühmten Federstrich des Gesetzgebers obsolet geworden seien408 . Freilich ist es Ziel der Energierechtsreform, das sektorale Energiekartellrecht abzuschaffen und die Branche den allgemeinen Kartellrechtsregeln zu überantworten409 • Es ist jedoch eine andere Frage, ob innerhalb dieser wettbewerbsbezogenen Auslegung der Norm nicht auf Leitlinien zurückgegriffen werden kann, die ursprünglich zu § 103 Abs. 5 GWB a.F. bzw. § 104 GWB a.F. entwickelt worden sind410. Überdies bietet die Beleuchtung der sektoralen Anwendungsleitlinien möglicherweise allgemeine Anhaltspunkte für eine sachgerechte Auslegung des branchenübergreifenden § 19 GWB.

BGBI. 1998 I, 730. Vom 26.6.1998 BGBI. I S. 2521. 408 So aber Emmerich, Kartellrecht, S. 358. 409 Begründung des Reg. Entw. zum EnWG, BT-Drs. 1317274, S. 115; sowie Gegenäußerung Bundesregierung zur 6. GWH-Novelle, BT-Drs, 13/9720, S. 80. 410 Nicht differenzierend etwa Tüngler, JUS 2001, 745. 406

407

8 Kubiciel

114

§ I0 Energiewirtschaft und Wettbewerbsverständnis

§ 10 Die Regulierung der Energiewirtschaft als Paradigma des funktionalen Wettbewerbsverständnisses Vor der Einordnung "alter Lösungen" in das "neue Recht" muß man sich aber auf die Suche nach den Gründen der besonderen energiekartellrechtlichen Regelungen machen. Diese waren durch eine ordnungspolitische Besonderheit notwendig geworden: Die Ausschaltung des Wettbewerbs als Steuerungs- und Ordnungsinstrument im Bereich der Energiewirtschaft hat den Staat auf den Plan gerufen, der sich dieser Aufgaben anstelle der Privaten annehmen mußte. Ausschluß des Wettbewerbs innerhalb der Energiebranche und Regulierung derselben sind somit nicht dasselbe, gehen aber Hand in Hand.

I. Überblick über die Regulierungsentwicklung der Energiewirtschaft

Der Terminus "Energierecht"411 läßt ein noch junges Rechtsgebiet vermuten, welches normativ die technische Entwicklung der vergangeneo Jahrzehnte nachzeichnet, doch reichen die Anfänge weit in das 19. Jahrhundert zurück. Mit der Einführung der leitungsgebundenen Gasbeleuchtung, zuerst wohl in Hannover im Jahre 1824412 , wurde zugleich der faktische Grundstein für rechtlich abgesicherte Wettbewerbsbedingungen der Energieversorgung gelegt, die für andere Wirtschaftszweige nachgerade traumhaft erscheinen mußten: Die Gasversorgungsunternehmen konnten durch den Abschluß von Konzessionsverträgen mit den Gemeinden Gebietsmonopole erwerben, welche den etablierten Energieanbietern ein festes Absatzgebiet garantierten und den Wettbewerbsdruck innerhalb definierter Gebiete - zumeist entlang der Gemeindegrenzen - faktisch ausschloß. So stand die leitungsgebundene Energiewirtschaft von Beginn ihrer Entwicklung unter hoheitlichem Einfluß413. Insbesondere die Gebietskörperschaften konnten durch ihr Straßenund Wegerecht die Marktstruktur bestimmen und mittels des Konzessions411 Ob das "Energierecht" ein eigenständiges Rechtsgebiet bzw. eine selbständige rechtsdogmatische Kategorie ist, wird bisweilen bestritten (vgl. dazu etwa Kühne, Der Netzzugang und seine Verweigerung, S. 52 mwN). Eine eingehende Untersuchung dieser Fragestellung ist in diesem Rahmen nicht notwendig, doch legt die Eigenständigkeit der Normadressaten und vor allem der Zielsetzungen (§ I EnWG) nahe, daß es sich um mehr handelt, als "die den Lebenssachverhalt ,Energiewirtschaft' betreffende Gesamtheit von Rechtsnormen" (so Kühne aaO). Siehe auch Tüngler, JuS 2001, 740, der die Wurzeln im Gewerberecht sieht. 412 Dazu Pfaffenberger/Scheele/Salge, Energieversorgung nach der Deregulierung, S. 13; Büdenbender, Energierechtsreform, S. 5, spricht hingegen etwas ungenau vom "letzten Viertel des 19. Jahrhunderts".

I. Regulierungsentwicklung der Energiewirtschaft

115

rechts Wettbewerb in ihren Gebieten steuern oder gar ausschließen, wenn sie oder von ihnen kontrollierte Unternehmen nicht ohnehin als Anbieter von Energie auftraten414. Dort, wo die Aufteilung des Absatzmarktes und die Zuweisung eines Gebiets an einen Monopolisten wegen der Größe des Versorgungsgebiets durch die Gemeinden und Kreise allein nicht möglich war, bedienten sich die Energieversorgungsunternehmen eines privatrechtliehen Vertrags, um ihre monopolistischen Stellungen gegenseitig abzusichern: Durch sogenannten Demarkationsverträge grenzten die Energieversorgungsunternehmen privatrechtlich ihre Versorgungsgebiete ab und sicherten einander zu, sich des Wettbewerbs in fremden Versorgungsgebieten zu enthalten415. Dieses Vorgehen fügt sich zwar durchaus in die allgemeine Kartellierungsbewegung um die Jahrhundertwende ein, nach heutigem Verständnis zählen solche Vereinbarungen aber zu den "schwarzen Klauseln", also zu den per se verbotenen Kartellvereinbarungen. Als ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts Kokereigas in großen Mengen anfiel, sah sich der Bergbau veranlaßt, das Nebenprodukt "Gas" über neugegründete Ferngasunternehmen (den Vorläufern von Thyssengas und Ruhrgas) überregional abzusetzen. Mit diesem Schritt entstand nicht nur die mehrgliedrige vertikale Struktur der Gaswirtschaft, sondern vor allem die überregionalen Verbundnetze416. Die zunehmende und vernetzte Gasversorgung in Deutschland brachte einen flächendeckenden, kautelarjuristisch begründeten Wettbewerbsausschluß in der leitungsgebundenen Gasversorgung mit sich, der Deutschland zu einem Land der "geschlossenen Versorgungsgebiete" machte. Wenn denn auch bis zum Ende der Weimarer Republik - außer einigen Staatsverträgen zwischen Ländern und Energieversorgungsunternehmen417 - keine öffentlich-rechtliche Kodifikation auf dem Gebiet des Energierechts bestand, so kann angesichts dieser Kautelarpraxis zwischen den Gebietskörperschaften und Energieversorgungsunternehmen sowie den Monopolisten untereinander durchaus von einem Energierecht gesprochen werden, das von den Gebietsmonopolen bis zum An413 Hingegen stellt Basedow, Jahrbuch f. neue politische Ökonomie 1996, 125 f., einseitig auf das private Handeln der Unternehmen ab, ohne die staatliche Duldung und sogar Förderung durch die Gebietskörperschaften herauszustellen. 414 Zur Geschichte der Energieversorgung und dem Einfluß der Gemeinden und des Staates auf die monopolistische Struktur Danner, in: Obernolte/Danner, EnWG S. I ff.; Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, S. 35 ff., insbes. S. 72 ff. 415 Siehe Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, S. 74, zum "Norddeutschen Elektrofrieden" aus dem Jahre 1927, einem Demarkationsvertrag, in welchem RWE und Preußen-Eiektra ihre Versorgungsgebiete gegeneinander abgrenzten. 416 Eckert, Die Struktur der Versorgungswirtschaft gestern und morgen, S. 42 f. 417 Dazu Danner, in: Obernolte/Danner, EnWG, S. 2.

s•

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§ I 0 Energiewirtschaft und Wettbewerbsverständnis

schlußzwang schon sämtliche, das bis 1998 geltende Energie- und Kartellrecht prägenden Elemente enthielt418• Daß der Ausschluß des Wettbewerbs als ordnungsschaffende Kraft in der Regel von einer staatlichen Regulierung begleitet wird, gilt - mit einiger Verzögerung - auch für die Energieversorgungsindustrie. Mit dem "Gesetz zur Förderung der Energiewirtschaft - Energiewirtschaftsgesetz" vom 13.12.1935419 trat der Staat als prägende Kraft auf den Plan und unterstellte die Energiewirtschaft der Staatsaufsicht mit dem Ziel, den öffentlichen Einfluß zu sichern und eine billige und sichere Energieversorgung durch den Ausschluß des Wettbewerbs zu sichem420. Daher wurden die bisherige wettbewerbsfeindliche Kautelarpraxis nicht angetastet, sondern erfuhr sogar eine "gesetzliche Flankierung"421 , betont doch die Präambel, "volkswirtschaftlich schädliche Auswirkungen des Wettbewerbs" verhindem zu wollen. Auch in der Bundesrepublik beanspruchte das EnWG im wesentlichen weiter Geltung422 . Ernstzunehmende Schwierigkeiten drohten der monopolistischen Energiewirtschaft aber durch die Schaffung des GWB. Dieses enthielt ein Kartellverbot, dem Demarkationsabsprachen, Konzessions- und Verbundverträge genauso zum Opfer fallen mußten wie Preisbindungen den Verboten der §§ 15, 18 GWB a.F. Da sich aber an der ordnungspolitischen Grundüberzeugung des Gesetzgebers, den Wettbewerb aus dem Bereich der Energieversorgung femzuhalten, nichts geändert hatte423 , beschloß man, die Geltung der §§ 1, 15, 18 GWB a. F. für den "Ausnahmebereich" der leitungsgebundenen Industrie auszuschließen. Diese Bestrebung schlug sich legislativ in der Ausnahmebereichsregelung des § 103 GWB a. F. nieder. Läßt sich insoweit eine rechtliche Kontinuität konstatieren, ist etwa ab dem Beginn der sechziger Jahre mit dem Marktauftritt des Erdgases die Vertriebsstruktur von einer "Revolution" erschüttert, an deren Ende eine Zweiteilung insoweit stand, als daß neben die traditionellen Ferngasgesellschaften - insbesondere im süddeutschen Raum - die Kommunen als Wettbewerber auf dem Ferngasmarkt auftraten424, womit der Einfluß politischer 418 In diesem Sinne wwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, S. 76. 419 RGBI. I 1935, S. 1451. 420 So die Präambel des Energiewirtschaftsgesetzes (vorige Fußnote). 421 Wiedemann-Zinow, § 34 Rn. I. 422 Es war zwar auf Grundlage des Ermächtigungsgesetzes zustande gekommen, enthielt aber kein nationalsozialistisches Gedankengut, vgl. Büdenbender, Energierechtsreform, S. 6. 423 Siehe die Begr. des Regierungsentwurfes BT-Drs. 211158, S. 57; Stellungnahme des BT-Ausschuß für Wirtschaft, BT-Drs. 2/3644. 424 Eckert, Die Struktur der Versorgungswirtschaft gestern und morgen, S. 46.

I. Regulierungsentwicklung der Energiewirtschaft

117

Interessen auf den Energiesektor und die damit verbundenen Wettbewerbsbedingungen und ihre rechtliche Ausformung weiter zunahm. Dem Energie- und Kartellrecht blieb eine vergleichbare Revolution dank des hartnäckigen Widerstands der am status quo interessierten Kreise425 lange Zeit erspart. Die beträchtliche Kritik der Wissenschaft426 an dem Ausnahmebereich der Wettbewerbsordnung und zaghafte Liberalisierungsvorschläge ab Ende der sechziger Jahre427 zeitigten immerhin in der 4. und 5. GWB-Novelle (1980 bzw. 1989) insoweit Wirkung, als -etwa mit der Laufzeitbegrenzung von Demarkations- und Konzessionsverträgen - gewisse Wettbewerbselemente implementiert wurden (siehe § I 03 a GWB a. F.)428 . Freilich sollte auch weiterhin der Wettbewerb als Ordnungskraft aus der Versorgungswirtschaft ausgeschlossen bleiben429 . Auch von den europäischen Wettbewerbsregeln (namentlich den heutigen Art. 81, 82 EGV) gingen infolge einer restriktiven Rechtsprechung des EuGH, welche die Energieversorgung faktisch zu einem Ausnahmebereich deklarierte, anfangs keine Impulse aus430. So blieb der Energiewirtschaft die "einmalige Privilegierung"431 ebenso erhalten wie dem Staat der (energiepolitische und fiskalische) Eintluß auf die Energiepolitik mittels der Regulierung und den Kapitalbeteiligungen an den Energieversorgungsuntemehmen432. Die Kapitalverflechtung vieler Gebietskörperschaften mit Energieversorgungsunternehmen war ebenfalls angetan, Änderungen in der ordnungspolitischen Grundhaltung des Gesetzgebers zu verzögern bzw. aufzuhalten. Die Diskussion um die Deregulierung433 bekam erst von der Kommission der Europäischen Gemeinschaft neuen Schwung verliehen, deren Wächteramt über einen auf wirtschaftliche Integration ausgerichteten Binnenmarkt 425 Siehe etwa Grawe, Festschr. f. Fabricius, S. 219, 224 ff.; sowie die Nachweise bei Emmerich, Festschr. f. v. Gamm, S. 581. 426 Etwa Emmerich, Wirtschaftspolitische Rechtfertigung der Ausnahmenbereiche, S. 49 ff. 427 Siehe Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage BT-Drs. 5/3978, S. I ("Auflockerung der Monopolstellung"), BT-Drs. 7/3206, Tz. 125 ff. 428 Emmerich, Festschr. f. v. Gamm, S. 582 f.; insbesondere zur 5. Novelle Möschel, JZ 1989, 715. 429 Siehe Regierungsbegründung BT-Drs. 8/2136, S. 17. 430 Schwintowski, ZNER 2000, 93 mit entsprechenden Nachweisen. 43 1 Emmerich, Festschr. f. Gamm, S. 581. 432 Zusammenfassend zu den Interessen der öffentlichen Hand, wie namentlich dem Schutz bestimmter Energien durch subventionsähnliche Maßnahmen sowie handfesten fiskalischen Interessen durch die Kapitalbeteiligungen an den Energieversorgungsunternehmens, Kuxenko, DÖV 2001 , 143 mwN. 433 Krit. gegenüber dem Terminus der "Deregulierung" Keamy/Merril, Columbia Law Review 1998, 1225, die statt dessen von "new paradigma of regulation sprechen".

118

§ I 0 Energiewirtschaft und Wettbewerbsverständnis

sich naturgemäß an national regulierten Märkten stoßen mußte434. Unter Förderung durch die - inzwischen an Deregulierung und Wettbewerb als Motor eines größeren Wachstums glaubende- Bundesregierung435 gipfelten die Aktivitäten auf europäischer Ebene in den Binnenmarktrichtlinien für Elektrizität und Gas436. Insgesamt entpuppte sich der gemeinschaftsrechtliche Druck somit als notwendiger Impuls für eine Liberalisierung der Energiemärkte437, welche auf nationaler Ebene gegen die dortigen Interessengruppen kaum durchsetzbar gewesen wäre438 . Mit dem Gesetz zur Neuregelung der Energiewirtschaft vom 29.4.1998439 wurde die Geltung der §§ 103, 103a GWB für die Elektrizitäts- und Gasversorgung - in Umsetzung der EU-Richtlinien - schließlich aufgehoben, und das darin enthaltene "Gesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung - Energiewirtschaftsgesetz" (EnWG) verkündet. Mit dem Sechsten Gesetz zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 26.6.1998440 verschwand der Ausnahmebereich der Energieversorgung endgültig aus dem GWB. Es handelt sich insoweit nicht um bloße Gesetzesänderungen, sondern um einen Paradigmenwandel: Ein neues Energierecht ist geschaffen worden441 .

II. Begründung des Wettbewerbsausschlusses 1. Die "technisch-wirtschaftlichen Besonderheiten" der Energieversorgung

Sowohl in der Gesetzesbegründung zu § l 03 GWB a. F. 442 wie auch in einem Teil der Literatur finden sich die immer gleichen Hinweise auf die 434

s. 66.

Schröter, in: Blaurock, Grenzen des Wettbewerb auf deregulierten Märkten,

435 Büdenbender, Energierechtsrefonn, S. 8, bezeichnet die Bundesrepublik Deutschland als eine der ,,Promotoren einer wettbewerbliehen Ausrichtung der Elektrizitäts- und Gaswirtschaft". 436 Richtlinie 96/29/EG v. 19.12.1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABI. L 27/20 v. 30.1.1997 sowie Richtlinie 98/30/EG v. 11.5.1998, ABI. L 204/1 v. 21.7.1998. Zu dem Streit über die ausreichende Ermächtigungsgrundlage dieser Richtlinien vgl. Tüngler, JUS 2001, 740. 437 Diesen Einfluß der deutschen Regierung übersieht Kluxenko, DÖV 2001, 146 mwN. 438 Besonders hartnäckiger Widerstand kam vom Verband der kommunalen Unternehmen (VKU), dessen in ihm zusammengeschlossenen kommunalen Energieversorgungsunternehmen ein Viertel des Strommarktes beherrschen. Siehe zu den Argumenten des VKU und der diesbezüglichen Kritik Kumkar, ZNER 1998, 32 ff. 439 BGBI. I S. 730. 440 BGBI. I S. 2521. 441 Siehe Kühne/Scholtka, NJW 1998, 1902. 442 Reg. Begr. BT-Drs. 2/1158, S. 22 f.

II. Begründung des Wettbewerbsausschlusses

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technisch-wirtschaftlichen Besonderheiten der leitungsgebundenen Energieversorgung, die nicht nur die Befreiung vom Wettbewerb legitimieren sollten, sondern auch Anlaß zu der Befürchtung gaben, Wettbewerb in diesem Markt sei "schädlich" für die Sicherheit und Preisgünstigkeil der Versorgung und könne daher nicht "um eines Prinzips willen" eingeführt werden443. Als technisch-wirtschaftliche Besonderheiten werden zum einen die Leitungsgebundenheit der Netzwirtschaft genannt sowie die damit zusammenhängenden hohen Investitionskosten für den Bau der Leitungen444 . Zum anderen soll die bei der Elektrizität mit der fehlenden Speichermöglichkeit einhergehende Gleichzeitigkeit von Erzeugung und Abnahme dem Wettbewerbsprinzip entgegenstehen445 und die fixen Absatzgebiete der Monopolisten eine angeblich energiepolitisch sinnvolle, weil homogene Durchmischung des Abnehmerkreises garantieren446. Die hohen Kosten des Leitungsbaus einerseits und das rentabilitätsorientierte Verhalten der Unternehmen andererseits stand zwar anfangs in der Tat einer sofortigen flächendeckenden Erschließung Deutschlands mit leitungsgebundener Energie im Wege447 . Doch war schon lange vor der Liberalisierung der Energiemärkte ein landesweites Leitungsnetz installiert, so daß es eigentlich der Gebietskartellabsprachen und der darauf beruhenden Garantie des Abnehmerkreises und einer wettbewerbsunabhängigen Preispolitik nicht mehr bedurfte. Daher kann es nicht überraschen, daß sich hinsichtlich der Notwendigkeit und Bedeutung des Wettbewerbsausschlusses zuletzt ein Sinneswandel vollzogen hat. Waren die Gesetzgeber des EnWG und des GWB noch von der Kontraproduktivität des Wettbewerbs und der Notwendigkeit einer Regulierung ausgegangen, mehrten sich im Laufe der Jahrzehnte die Stimmen, wonach es sich bei der Energieversorgung schon lange um eine "reife Industrie" handele, die vor Wettbewerb nicht mehr ge443 So namentlich Büdenbender, Energierecht, S. 212 f. (neuerdings als Verfechter des Wettbewerbsprinzip ders., Energierechtsreform, S. 37, 40); kritisch bis ablehnend gegenüber dem Wettbewerb in der Energieversorgung auch Baur, Festschr. f. Lukes, S. 263 ff.; Grawe, Festschr. f. Fabricius, S. 224 ff.; Lukes, Kartellrecht als Instrument zur Angleichung des Energiepreisniveaus, S. 417 ff.; sowie aus der Rspr. BGH v. 31.5.1972, BGHZ 59, 42, 45 f.; zur Ablehnung im EU-Binnenmarkt auch Schwark, Festschr. f. Fabricius, S. 203. 444 Büdenbender, Kartellaufsicht über die Energiewirtschaft, S. 43; dagegen Deregulierungskommission, S. 69, mit Verweis auf die Kostenintensität anderer Branchen. 445 So etwa die Reg. Begr. BT-Drs. 2/1158, S. 57; auch Büdenbender, Kartellaufsicht über die Energiewirtschaft, S. 43; auch insoweit anders Deregulierungskommission, S. 69. 446 Vgl. dazu Emmerich, in: Börner (Hrsg.), Materialien zu §§ 103, 103 a GWB, s. 57 f. 447 Siehe etwa die Beispiele bei Pfaffenberger/Scheele/Salge, Energieversorgung nach der Deregulierung, S. 14.

120

§ I0 Energiewirtschaft und Wettbewerbsverständnis

schützt werden müsse, um die Verbraucher kostengünstig und effizient versorgen zu können448 • Auch die Rechtsprechung zu § 103 Abs. 5 GWB a.F. hat zuletzt klar ausgesprochen, daß die wettbewerbsbeschränkenden Verträge im Sinne des § 103 Abs. 1 GWB a. F. nicht Teil einer im öffentlichen Interesse liegenden Marktordnung seien, sondern eine Privilegierung, die grundsätzlich zur Disposition der sich darauf berufenden Unternehmen stehe449• In einer verbreiteten Auffassung der Rechtswissenschaft und Rechtspolitik waren die energierechtlichen Wettbewerbsbeschränkungen somit von einer im volkswirtschaftlichen Interesse liegenden nonnativen Verbürgung zu einer bloßen Option betriebswirtschaftlicher Entscheidungsmöglichkeiten degradiert worden. Spätestens mit der Liberalisierung haben sich die "Besonderheiten" der leitungsgebundenen Versorgungswirtschaft als Unternehmerische Risiken und Herausforderungen entpuppt, wie sie sich in ähnlicher Fonn auch Unternehmen anderer Branchen stellen, ohne daß dies den Ruf nach staatlicher Monopolisierung nach sich zöge450, so daß in der Tat die bisherige Argumentationslinie der Energiewirtschaft als "lnteressenideologie"451 bezeichnet werden kann452•

448 So auch die Einschätzung der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission, siehe dazu Schwintowski, ZNER 2000, 93 mwN. Trotz einiger Besonderheiten gilt dies grundsätzlich auch für das Gebiet der neuen Länder (siehe zu den Besonderheiten, wie dem hohen Anteil der Braunkohleverstromung, und dem energie- und wirtschaftspolitischen Vorgehen nach der Einheit Monopolkommission, 10. Hauptgutachten, S. 326). 449 Siehe BGH v. 21.2.1995, BGHZ 129, 37, 52, sowie Mestmiicker, JZ 1995, 966. 450 Auch die zweifellos gegebene besondere gemeinwirtschaftliche Bedeutung der Energieversorgung mag zwar gern. BVerfG v. 16.3.1971, BVerfGE 30, 292, 311, 323, eine Rechtfertigung für staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte gewähren, begründet aber nicht ohne weiteres einen pauschalen Wettbewerbsausschluß als denkbar schwerwiegendste Intervention. Schließlich gilt es, die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs strikt zu wahren und insbesondere hinsichtlich der Erforderlichkeit eines totalen Wettbewerbsausschlusses zu bedenken, daß auch die Versorgung mit Lebensmitteln, Kraftfahrzeugbrennstoffe etc. zumindest von ebenso großer Wichtigkeit ist, ohne daß die staatliche Regulierung hier über eine Qualitätsüberwachung hinausginge oder gar einem Wettbewerbsausschluß mit anschließender Regulierung unterwürfe. 451 Emmerich, Kartellrecht, 8. Auflage, S. 368. 452 Ausführlich dazu Emmerich, Wirtschaftspolitische Rechtfertigung der Ausnahmebereiche, S. 49 ff.; auch Eickhoj. ORDO Bd. 37 (1986), S. 201 ff.; HoffmannRiem!Schneider, S. 28 ff.; Möschel, JZ 1989, 716 f.; Salge, Deregulierung der Elektrizitätswirtschaft, S. 102 ff.; Schwintowski, ZNER 2000, 91.

II. Begründung des Wettbewerbsausschlusses

121

2. Funktionelles Wettbewerbsverständnis als wahrer Grund von Wettbewerbsausschluß und Regulierung

Da die Betrachtung der technisch-wirtschaftlichen Seite der Energieversorgung somit für die grundsätzliche kartellrechtliche Beurteilung des vormaligen Ausnahmebereichs nicht weiterführt, soll die Aufmerksamkeit vielmehr auf die tieferliegenden Gründe der Regulierung gelenkt werden, die ihrerseits ein Schlaglicht auf große Teile der herrschenden Wettbewerbstheorie und Kartellrechtspraxis werfen. Von den Befürwortern der Regulierung wurde seit Beginn der Regulierung ein Zielkonflikt zwischen dem Schutzobjekt "Wettbewerb" des GWB und den energierechtlichen Zielsetzungen "Preisgünstigkeit und Versorgungssicherheit"453 konstruiert454, welcher mittels einer kartellrechtlichen Freistellung gewisser wettbewerbsbeschränkender Verträge (§ I 03 Abs. I GWB a.F.) im Verein mit der kartellbehördlichen "Simulation" von Wettbewerb durch eine besondere energiekartellrechtliche Mißbrauchsaufsicht (§ 103 Abs. 5 GWB a.F.) aufgelöst werden sollte455 . Wirtschaftspolitisch und wettbewerbstheoretisch liegt dieser Betrachtungsweise aber eine "Anmaßung von Wissen" zugrunde: Im Anschluß an die Freiburger Schule bzw. der Auffassung vom "funktionsfähigen Wettbewerb" (siehe § 8) wird der Wettbewerb offenbar nicht als Wert an sich geschätzt und geschützt456, sondern nur weil und soweit er bestimmte, ihm exogen und zentral vorgegebene Funktionen erfüllt. Aus dem normativ aufgeladenen, funktionellen Wettbewerbsverständnis heraus kann es aber nur als konsequent bezeichnet werden, wenn der Wettbewerb dann dort ausgeschlossen wird, wo man glaubt, daß die ihm abverlangten Aufgaben sich nur im Wege anderer ordnungspolitischer Vorgaben erfüllen ließen. Diese diskretionäre Entscheidung zugunsten der modellhaft kaum belegbaren Hypothese stellt die (konsequente) zweite Wissensanmaßung dar. Als normative Folge eines solchen wettbewerbspolitischen Verständnisses kann es gelten, wenn an die Stelle einer prozeßorientierten Setzung eines wirtschaftsrechtlichen Regelrahmens die ergebnisorientierte staatliche Interven453 Vgl. zu diesen Zielsetzungen der Präambel des (alten) EnWG und der (alten) BTO Elektrizität/BTO Gas Büdenbender, Energierecht, S. 28 f. 454 Siehe nur BGH v. 31.5.1972, BGHZ 59, 42, 46, der sogar den "vollständigen Wettbewerb", also wohl das oben geschilderte Gleichgewichtsmodell als eigentlichen Maßstab anlegt und konzediert, dies führe im Bereich der leitungsgebundenen Energieversorgungsunternehmen zu "für den Verbraucher nachteiligen Folgen". Daß in allen Branchen Nachteile aus einem solchen Wettbewerbsmodells resultieren, ist bereits unter § 8 I, IV dargelegt worden. 455 Wiedemann-Zinow, § 34 Rn. 17. 456 So weiland ausdrücklich Büdenbender, Kartellaufsicht über Energiewirtschaft, S. I f.

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§ 10 Energiewirtschaft und Wettbewerbsverständnis

tionspolitik tritt457 und schlußendlich das Kartellrecht nicht der Sicherung von Freiheitsräumen vor Wettbewerbsbeschränkungen dienen soll, sondern der Zielerreichung durch Wettbewerbsbeschränkungen. 458 Die derartige Möglichkeit, das unbestechliche Entdeckungsverfahren des Wettbewerbs ein- und auszuschalten459, schuf nicht nur die Gefahr von wirtschaftspolitischen Fehleinschätzungen. Vielmehr ermöglichte sie zudem die politisch motivierte Privilegienvergabe. Entsprechend der "positiven Theorie der Regulierung" existiert nämlich ein Markt, auf dem Regulierung von privilegiensuchenden Unternehmen und Branchen nachgefragt wird und Regulierungsinstanzen solche Leistungen anbieten, um Wahlen zu gewinnen oder politisch motivierte Zielvorstellungen mit Hilfe der gebundenen Unternehmen durchzusetzen460. Dieser Nexus zeigt sich besonders plastisch in der Instrumentalisierung der Energiewirtschaft, mit deren Hilfe auch Partikularinteressen durchgesetzt worden sind, die in der Tat mittels einer marktwirtschaftliehen Steuerung kaum zu erreichen gewesen wären461 : Zu erwähnen sind insoweit namentlich die subventionsähnliche Protektion der Kohleverstromung462, die Sicherung kommunaler Einkünfte durch die Konzessionsabgaben463, das fiskalische Interesse der an den Energieversargem Vollmer, Festschr. f. Schmidt, S. 291. Daß die einzelnen Wirtschaftsteilnehmer damit wie Funktionsträger im Dienste einer imaginären überpersönlichen Gesamtheit behandelt werden, wobei dieser (tatsächlich aus Individuen bestehenden) Gesamtheit eine einheitliche Zielsetzung und Bewertungsskala unterstellt wird, verdeutlichen Aussagen aus dem nationalsozialistischen Umfeld der Entstehung des Energiewirtschaftsgesetzes: Wenn davon gesprochen wird, daß der "Wirtschaftsgenosse" voll und ganz in der "totalen politischen Sphäre" stehe und die Individuen daher "ihre Zielsetzungen in jedem Fall durch die wirtschaftspolitische Entscheidung der Staatsführung" erhielten, so stellt dies nur die totalitäre Überspitzung des funktional-kollektivistischen Wettbewerbsverständnisses dar, siehe das Zitat von Victor Wrede bei Löwer, Energieversorgung zwischen Staat, Gemeinde und Wirtschaft, S.88; bezeichnend auch die Polemik von Gütebier, JW 1934, 1091, gegen die dezentrale Interessenkoordinierung, deren "böser Traum ausgeträumt" sei. 459 Büdenbender, Energierechtsreform, S. 33, nimmt dies scheinbar fatalistisch und unkommentiert hin. 460 Vgl. dazu Vollmer, Festschr. f. Schmidt, S. 292 f. 461 Siehe Möschel, JZ 1989, 716, der von "wettbewerbstranszendente Gründen" mancher energiepolitischer Entscheidung spricht; sowie Monopolkommission, 10. Hauptgutachten, S. 329, die darauf hinweist, daß ein wettbewerbliebes System insbesondere die politische Einflußnahme auf die Energiewirtschaft auszuschalten vermag. 462 Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation, S. 77; Monopolkommission, 10. Hauptgutachten, S. 330. 463 Schneider, aaO. Die Einnahmen aus den Konzessionsverträgen sind den Gemeinden auch nach der Energierechtsreform erhalten geblieben; sie müssen allerdings die Vergabe diskriminierungsfrei vollziehen (s. § 13 Abs. 1 EnWG). 457

458

li. Begründung des Wettbewerbsausschlusses

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beteiligten öffentlichen Körperschaften464 sowie die Verfolgung umweltpolitischer Aufgaben mittels des Zwangs zur Stromeinspeisung. Mag sich bei dem Leser nach dem bisher Gesagten der Eindruck einstellen, die Energieversorgungsunternehmen seien im alten Energierecht zu "Objekten staatlicher Lenkung"465 degradiert worden, so ist aus Gründen der Redlichkeit zu betonen, daß sie diese Funktion nur allzu bereitwillig übernahmen, ermöglichte ihnen doch die gewährte Monopolstellung, ihre Funktionskosten an die Verbraucher weiterzuleiten466• Es lag daher im rationalen Interesse der Energieversorgungsunternehmen, bis 1998 an der rechtlichen Rahmenordnung festzuhalten, die eine monopolisitische Struktur der Energieversorgung förderte. Die "synallagmatische" Verknüpfung dieses Zusammenwirkens von Regulierung und Wettbewerbsausschluß lautet also: Erfüllung von - auf Wissensanmaßung beruhender - wirtschaftspolitischer Funktionen gegen Tolerierung einer Monopolstellung467• 3. Die Folgen des Wettbewerbsausschlusses

Trotz dieses Nehmens und Gebens handelt es sich bei dieser Abmachung keineswegs um ein volkswirtschaftliches NullsummenspieL Vielmehr blieben die wahren Folgekosten des Wettbewerbsausschlusses und der Regulierung solange verborgen, wie der Wettbewerb ausgeschlossen war. Der Gesellschaft wurde damit das wichtigste Indikationsinstrument für suboptimale Ressourcenallokationen, fehlgeleitete Investitionen und überhöhte Preise vorenthalten. Mit der Deregulierung in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern wurde aber zunehmend deutlich, daß der Wettbewerbsausschluß und die Regulierung zu einer überteuerten Energieversorgung in Deutschland geführt haben statt zu einer preisgünstigen, wie es der Staat offenbar glaubte per Gesetz bestimmen zu können468 • Somit kann das funktionale Wettbewerbsverständnis als grandios und in der Paradoxie kaum 464 Hoffmann-Riem/Schneider, Re-Regulierung im Strommarkt, S. 23; auch Monopolkommission, 10. Hauptgutachten, S. 329: " .. . die Gefahr gleichgerichteter Interessen von Kontrolleuren und Kontrollierten ... "; zusammenfassend Kuxenko, DÖV 2001, 143. 465 Wochner, DB 1982, 998. 466 Vgl. Vollmer, Festschr. f. Schmidt, S. 291. 467 Dies verringert zudem das Investitionsrisiko im Vergleich zu anderem Branchen dadurch, daß die durch Fehlinvestitionen induzierten Kosten auf die Verbraucher abgewälzt werden konnten, ohne eine "Abstrafung" durch den Wettbewerb fürchten zu müssen. So ausdrücklich Monopolkommission, 10. Hauptgutachten, S. 329. 468 Zu den im Verhältnis zu anderen Ländern hohen Stromkosten siehe die Preisvergleiche bei Salge, Deregulierung der Elektrizitätswirtschaft, S. 104 f., mit z. T. mehr als doppelt so hohen Preisen; vgl. auch Schwarck, Festschr. f. Fabricius, S. 203; auch BKartA TB 1993/1994, BT-Drs. 13/1660, S. 25.; BKartA TB 1995/ 1996, BT-Drs. 13/7900, S. 23. Daß es sich dabei nicht um ein auf die Elektrizitäts-

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§ I0 Energiewirtschaft und Wettbewerbsverständnis

übertreffbar gescheitert gelten: Nicht der Wettbewerb hat in der Energiewirtschaft zu Wohlstandsverlusten geführt, sondern gerade sein dekretierter Ausschluß469 . Diesbezügliche Warnungen sind indessen bereits seit der grundlegenden ökonomischen Arbeit Adam Smiths bekannt470. Gegenüber diesen auf bestimmte Gruppen beschränkten Vorteilen der Regulierung zeigen die Erfahrungen aus anderen Wirtschafts- und Rechtskreisen deutlich positive und freiheitssichemde Entwicklungen für die Gesamtvolkswirtschaft, angestoßen von der Deregulierung vormals gesetzlich geschaffener Ausnahmebereiche471 • So wird in der amerikanischen Wirtschaftspolitik die Auffassung vertreten, daß die große Vitalität, die technische Überlegenheit und die Beschäftigungsdynamik der amerikanischen Wirtschaft auf das Engste mit der Deregulierung in den zurückliegenden zwanzig Jahren zusammenhängen472 . So führt die Liberalisierung nicht nur zur Reduktion der Ineffizienzen in der Versorgungswirtschaft473, sondern bewirkt positive Effekte auch auf anderen Märkten, da ordnungspolitische Maßnamen dieser Art kein isoliertes Ereignis eines Industriezweiges sind, sondern als ein Transmissionsriemen für Innovationen auch in benachbarte Branchen hinein wirken474. Die gegenwärtig betriebene Deregulierung des Energiemarktes zeigt jedenfalls, daß diese Einsicht mittlerweile nach Europa vorgedrungen ist, wenn auch bereits vor Re-Regulierungstendenzen zum Zwecke interventionistischer Industriepolitik gewarnt wird475 , die weit preise beschränktes Phänomen handelt, zeigt die Gesetzesbegründung des EnWG (BT-Drs. 1317274, 1). 469 Bundesregierung, Bericht zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland, BR-Drs. 626/93, S. II, 60. Deutlich Schwintowski, ZNER 2000, 93: "Die Verbraucher in der Europäischen Union haben gegenüber den amerikanischen Nachfragern ganz erhebliche Wettbewerbsnachteile in Kauf nehmen und bezahlen müssen. Wohlstandsverluste waren und sind die Folge einer solch verfehlten (gemeint: regulierten) nationalstaatliehen Energiepolitik in Europa."; ebenso Emmerich, Festschr. f. v. Gamm, S. 583; Hoffmann-Riem/Schneider, Re-Regulierung im Strommarkt, S. 31; dem folgend Kluxenko, DÖV 2001, 144. 470 Siehe zum Zusammenhang zwischen dem staatlich legitimierten, monopolistischen Zunftwesen und Monopolpreisen Smith, Wohlstand der Nationen, S. 54. 471 Zu den positiven Erfahrungen aus dem britischen Gas- und Strommarkt siehe Wood, ET 2000, 503 ff.; zu ebensolchen aus dem amerikanischen Markt Rügge, Oeregulierung des europäischen Erdgasmarktes, S. 225 ff. 472 Vgl. die Aussagen des amerikanischen Ökonomen Alan Meltzer, in: FAZ v. 03.01.2000 S.l8. 473 Eickhoff/Kreikenbaum, WuW 1998, 674. 474 Keamey/Merril, Columbia Law Review 1998, 1390 ff., sind der Auffassung, daß sich die Deregulierung in den USA wie eine Kettenreaktion über die Branchengrenzen ausgedehnt habe. 475 Jmmenga, in: Blaurock, Grenzen des Wettbewerbs auf deregulierten Märkten, S. 94, der die Gefahr sieht, "daß Deregulierung über eine erforderliche Restregulierung zu einer Überregulierung führen kann"; Vollmer, Festschr. f. Schmidt, S. 289 ff.

II. Begrundung des Wettbewerbsausschlusses

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über das Maß derjenigen regulativen Absicherung hinausgeht, die zur Sicherung der Wettbewerbstransformation notwendig ist476. Dabei können sich die Befürworter einer umfassenden und dauerhaften Deregulierung auf die ersten Erfahrungen auf den offenen deutschen Energiemärkten berufen, die von positiven Folgerungen für Wachstum und Arbeitsplätze und im Strombereich und bei Großabnehmern von Erdgas auch von sinkenden Preisen künden477 • Die Regulierungsgeschichte und ihre Begründung bleibt Mahnung auch für hoheitlichen Eingriffe in den Wettbewerb auf Grundlage des § 19 GWB: Sobald zentrale Annahmen an die Stelle des wettbewerbliehen Entdeckungsverfahrens gesetzt werden, werden nicht nur Verhaltensspielräume Einzelner beschränkt, sondern besteht auch die Gefahr unabsehbarer Folgen für das AllgemeinwohL Jede tatsächlich notwendige Intervention wird sich mithin soweit wie möglich an dem Leitbild des Wettbewerbs orientieren müssen.

§ 11 Der Preisniveaumißbrauch

im alten Energiekartellrecht

Ansatzpunkt der kartellrechtlichen Preiskontrolle kann sowohl das Preisniveau wie auch die Preisstruktur sein. Während im erstgenannten Fall eine Ausbeutung durch die generelle Forderung überhöhter Preise von der Gesamtheit der Kunden oder von einzelnen Abnehmern vorliegt, spaltet das Untenehrneo im zweiten Fall die Preishöhen, indem es eine Gruppe von Abnehmern zugunsten anderer Abnehmer preislich benachteiligt, also gewisse niedrige Abgabepreise durch höhere quersubventioniert478 . Während der Preisstrukturmißbrauch in § 103 GWB a. F. nicht speziell normiert war und somit von der Generalklausel erfaßt wurde, fand sich mit § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a. F. eine besondere Form der Preishöhenkontrolle. Wegen der besonderen Probleme bei der Überführung des I 03 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a. F. in den § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB und der grundsätzlichen Bedeutung des Ausbeutungsmißbrauchs und seiner Prüfungsmethodik beschränkt sich die Untersuchung somit auf diesen Gegenstand. 476 In der von natürlichen Monopolen geprägten Netzindustrie ist dies namentlich die Sicherung des "Third Party Access"; wegen dieser Notwendigkeiten sprechen Keamey!Merrill, Columbia·Law Review 1998, 1325, von "new paradigma of regulation" statt pauschal von "deregulation". 477 Der Bericht des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Winschaftsforschung vom Dezember 2001 hat eine Zunahme von 20000 Arbeitsplätzen und einer Steigerung des Bruttoinlandsprodukts von 0,14% auf die Liberalisierung des Strom- und Gasmarktes zurückgeführt, siehe Heilemann!Hillebrand, Liberalisierung der Stromund Gasmärkte - Erwartungen und erste Ergebnisse, S. 24 ff. 478 Dazu Büdenbender, Energierechtsreform, S. 257 f.

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§ II Der Preisniveaumißbrauch im alten Energiekartellrecht

I. Von der allgemeinen Mißbrauchsregelung des§ 104 GWB a.F. zum Monopolpreisvergleich Ausgangspunkte der kartellbehördlichen Preiskontrolle waren zunächst behördliche und richterliche Entscheidungen zur Generalklausel des § l 04 Abs. l Nr. 1 GWB a. F. Bis zur 4. GWB-Novelle479 gestattete diese Norm kartellbehördliche Maßnahmen gegen einen "Mißbrauch der durch die Freistellung von den Vorschriften dieses Gesetzes erlangten Stellung im Markt"480. Dementsprechend verwendete der BGH in seiner ersten . Entscheidung zu § 104 GWB a. F. einen an energierechtlichen Zielsetzungen ausgerichteten Maßstab und deduzierte den Mißbrauch aus dem Sinn und Zweck der Freistellung eines Demarkationsvertrags vom Kartellverbot481 . Ähnlich wie die Ausnahme für Rationalisierungskartelle müßten inkriminierte Handlungen darauf geprüft werden, ob sie dem energiepolitischen "Rationalisierungszweck", also der sicheren und preisgünstigen Energieversorgung, entsprächen482 . Im konkreten Fall -es ging um die Verweigerung einer für den Abnehmer günstigen und von anderen Energieversorgungsunternehmen angebotenen Strommeßmethode - sah der BGH kein an der Zweckrichtung der Freistellung ausgerichtetes Handeln sondern einen Mißbrauch. Dieser liege darin, daß das Unternehmen "auf Grund dieser Marktstellung einen weiteren Vorteil zu Lasten des Abnehmers" durchsetze und "dieser Vorteil, wie jeder Preisaufschlag, nur durch die eigene Leistung für die Versorgung der Abnehmer gerechtfertigt" sein könne483 . Im Ergebnis verfolgte der BGH somit das Prinzip des leistungsgerechten Preises484, nach welchem Preisunterschiede nur durch eigene Leistungen oder Kosten des Energieversorgungsunternehmen gerechtfertigt werden können, wobei das BKartA insoweit alle notwendigen Erzeugungs- und Verteilungskosten sowie alle unvermeidbaren Umstände anerkannte485 • Dogmatisch sauber trennte das Gericht also zwischen der Monopolstellung und ihrer mißbräuchlichen Ausnutzung. Vom 26.4.1980, BGBI. I, 458. Überblick über die Entscheidungen zu § I04 GWB bei Kuhnt, Möglichkeit und Grenzen einer kartellrechtlichen Mißbrauchsaufsicht, S. 81 ff.; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 665 ff. 4 8 1 BGH v. 27.11.1964, WuW/E BGH 655,656. 482 BGH v. 27.11.1964, WuW/E BGH 655, 657. 483 BGH v. 27.11.1964, WuW /E BGH 655, 657 f. 484 So Lukes, Festschr. f. Kummer, S.412., der selbst ein kostenorientiertes Modell des leistungsgerechten Preises präferiert (aaO, S. 418 f.), das aber ebenfalls die praktischen Schwierigkeiten der Kostenermittlung teilt, wie auch den grundsätzlichen Einwand, statt der Untersagung eines Mißbrauch lediglich die Begrenzung des Gewinns zu ermöglichen (dazu unten § 14 II 3). 485 BKartA Tätigkeitsbericht 1962, BT-Drs. 4/1220, S. 68 f. 479

480

I. Von der Mißbrauchsregelung zum Monopolpreisvergleich

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Erst zwei Kartellreferentenentschließungen aus den Jahren 1965 und 1967486 führten - äußerlich am Tenor der "Summenmessungsentscheidung" des BGH anknüpfend - das Vergleichsmarktdenken in das Energiekartellrecht ein und sorgten gleichzeitig für eine deutliche Vereinfachung der Anwendung. Ein Mißbrauch lag danach vor, wenn ein anderes vertikal vorgeschaltetes oder benachbartes Energieversorgungsunternehmen in der Lage wäre, die Versorgung zu niedrigeren Preisen durchzuführen. Im Rahmen dieses Vorgehens war eine Rechtfertigung von Preisunterschieden nur ansatzweise anerkannt, so daß ein Preismißbrauch lediglich dann ausschied, wenn auch ein anderes Energieversorgungsunternehmen nicht in der Lage war, in dem in Rede stehenden Gebiet günstigere Preise anzubieten, weil die Struktur des Versorgungsgebietes niedrigere Preise schlichtweg ausschloß. Damit wurde das Leistungsprinzip zugunsten eines vereinfachenden Vergleichskonzeptes aufgegeben487. Indem sich die Kartellbehörden auf den Standpunkt stellten, Energieversorgungsunternehmen hätten keinen Anspruch auf Gewinn oder Kostendeckung und damit Kosten- und Strukturunterschiede als Rechtfertigungsmöglichkeit ausschlossen488, hatten sie eine vergleichsweise leicht handhabbare und scharfe Waffe in die Hand genommen, von der sie bis in die sechziger Jahre auch regen Gebrauch machten489. Erst eine weitere Grundsatzentscheidung des BGH aus dem Jahre 1972 beendete die kostenunabhängige und daher extrem anwenderfreundliche Normauslegung. Argumentativ das zu § 22 GWB a. F. entwickelte "Alsob"-Prinzip heranziehend490 stellte der BGH fest, es seien solche Kosten rechtfertigend in den Vergleich einzubeziehen, die sich auch einem fiktiven Wettbewerber stellen würden491 . Indem das Gericht auf die Einbeziehung von - dem Energieversorgungsunternehmen nicht zurechenbaren - Strukturunterschieden in die Kostenermittlung bestand, nahm es dem Vergleichsverfahren die Schärfe, aber auch die Anwenderfreundlichkeit492 . Abdruck bei Büdenbender, Kartellaufsicht über die Energiewirtschaft, S. 170 f. So Lukes, Das Kartellrecht als Instrument zur Angleichung des Energiepreisniveaus, S. 413. 488 Siehe BKartA, Tätigkeitsbericht 1971, BT-Drs. 6/3570, S. 94; siehe auch Büdenbender, Kartellaufsicht über Energieversorgungsuntemehmen, S. 17 I, wonach jedenfalls im Vertikalverhältnis strukturbedingte Kosten "praktisch nicht anerkannt" wurden. 489 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 666; Lukes, Festschr. f. Kummer, S. 414, berichtet von über 400 Verfahren gegen Energieversorgungsunternehmen. 490 Siehe dazu oben § 2. 491 BGH v. 31.5. 1972, BGHZ 59, 42, 46 f.; ein Preisvergleich mit einem Energieversorgungsunternehmen als fiktiven Wettbewerber findet sich auch bereits in einem vorangegangenen Verfahren des BKartA, Tätigkeitsbericht 1964, BT-Drs. 4/ 3752, s. 50. 492 BGH v. 31.5.1972, BGHZ 59, 42, 47. 486 487

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§ II Der Preisniveaumißbrauch im alten Energiekartellrecht

Diese höchstrichterlichen Vorgaben erforderten die Einstellung der bisherigen Preisvergleichspraxis und führten wegen der Schwierigkeiten bei der Ermittlung relevanter Kosten zu einem faktischen Erliegen der Mißbrauchsaufsicht über Energiepreise493 . II. Das Konzept und die Anwendung des § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a.F. Ähnlich wie zuvor der§ 104 GWB a.F. sollte auch die durch die 4. Novelle in das Kartellgesetz eingeführte Norm des § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a. F. den Mißbrauch anband des nonnativen Zwecks der Freistellungsgründe bestimmen. Andererseits sollte die Norm aber auch als "Korrektiv für die im Wettbewerb nicht kontrollierte Marktstellung" dienen 494. Damit wurde ein bislang schon in der Interpretation durch die Rechtsprechung angelegter Zielkonflikt auch ausdrücklich in das Energiekartellrecht des GWB implementiert: Einmal soll gemäß dem funktionalen Verständnis der Wettbewerb ausgeschlossen werden, da er zur Erreichung der energiewirtschaftliehen Ziele ,,Sicherheit" und "Preisgünstigkeit" (§ 103 Abs. 5 S. 1 GWB a.F.) als ungeeignet erachtet wird. Andererseits sieht man sich aber genötigt, kartellbehördliche Maßnahmen zu gestatten, um die den Energieversorgungsunternehmen zugestandene Marktmacht daraufhin zu überprüfen, ob Verhaltensweisen an den Tag gelegt werden, die sich bei einem wirksamen Wettbewerb nicht einstellen würden (§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. I GWB a. F.). Die sich aus solchen wettbewerbspolitischen und normativen Widersprüchen ergebenden Interpretationsprobleme waren der Norm somit gleichsam in die Wiege gelegt. 1. Der normative Vergleichsmaßstab

In Anlehnung an die Auslegung des § 104 GWB a.F. 495 galt es zur Feststellung eines Preishöhenmißbrauch nunmehr festzustellen, ob ein freigestelltes Unternehmen sein Versorgungsgebiet zu ungünstigeren Preisen versorgt, als dies bei gleichen strukturellen Verhältnissen einem anderen freigestellten Versorgungsunternehmen möglich ist496• So Lukes, Festschr. f. Kummer, S. 414. Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 872136, S. 33. Vom 26.4.1980, BGBI. I, S. 458; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 668, bezeichnete als "wenig klar", ob der Rechtsanwendungszustand im wesentlichen nur fortgeschrieben oder fortentwickelt wurde. 496 So zusammenfassend BGH v. 6.5.1997, BGHZ 135, 323, 330. 493

494 495

II. Konzept und Anwendung des§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a.F.

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Hier ergibt sich ein scheinbarer Widerspruch zu § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 GWB a. F., der auf einen fiktiven wirksamen Wettbewerb abstellt, während es beim Preishöhenvergleich gerade nicht darauf ankommen sollte, ob die tatsächlich geforderten Preise auch im Wettbewerb verlangt werden könnten497. Dieser Widerspruch wurde durch ein Austauschen der Vergleichsobjekte aufgelöst: Das Rekurrieren der Nr. 1 auf das Marktverhalten eines Energieversorgungsunternehmen bei wirksamen Wettbewerb sollte nämlich nicht bedeuten, daß ein Mißbrauch durch eine gedankliche Simulation von Wettbewerbsverhältnissen und dem Vergleich mit einem fiktiven Wettbewerbspreis festgestellt wird. Statt dessen sollte geprüft werden, ob sich Unternehmen im Wettbewerb im allgemeinen von denselben Grundsätzen leiten lassen können wie das inkriminierten Unternehmen498 . Vergleichsmaßstab ist somit weder in § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 1 GWB a. F. noch in Nr. 2 der "wettbewerbsadäquate" Preis, zumal ein solcher Vergleichsmaßstab schon praktisch daran scheiterte, daß alle Energieversorgungsunternehmen durch die Freistellung des § 103 Abs. 1 GWB a. F. vom Wettbewerb ausgenommen waren499. Anders als dies zu § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB angeordnet wird, ist also nicht das Verhalten von Unternehmen in einem wie auch immer gearteten "wirksamen Wettbewerb" maßgebend, sondern das mißbräuchliche Ausnutzen von Verhaltensspielräumen im Monopol. 2. Eigenständigkeil des Mißbrauchsbegriffs

Wenn mithin auch für die Beurteilung eines Preishöhenmißbrauchs kein Wettbewerbsvergleich durchzuführen war, bestand gleichwohl ein konzeptioneller Widerspruch zwischen dem Ausschluß des Wettbewerbs und dem in § 103 Abs. 5 GWB a. F. eingeflossenen Bemühen, wettbewerbsähnliche Marktergebnisse sicherzustellen. In der Gesetzesbegründung wird denn auch auf diesen Widerspruch hingewiesen, der sich darin zeige, daß bei der Auslegung des Mißbrauchsbegriffes einerseits die energiepolitischen Zwecke der Freistellung vom Wettbewerb zu beachten seien, andererseits aber die Norm davon ausgehe, daß auch im monopolistisch strukturierten Bereich der Versorgungswirtschaft Wettbewerbsgesichtspunkte "nach Möglichkeit zum Tragen kommen sollen"500. Diese Vermischung des allgemeinen, auf die Sicherung des Wettbewerbs gerichteten Normzwecks des GWB 497 So aber wohl OLG München v. 4.3.1996, WuW/E OLG 5713, 5720; auch Landeskartellbehörde Bayern v. 11.1.1994, WuW/E LKartB 345, 363: ,.. .. Blick ist auf Märkte mit wirksamen Wettbewerb zu richten". 498 So deutlich BGH v. 21.2.1995, BGHZ 129, 37, 45. 499 So BGH v. 6.5.1997, BGHZ 135, 323, 330. soo Reg. Begr. BT-Drs. 8/2136, S. 33. 9 Kubiciel

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§ II Der Preisniveaumißbrauch im alten Energiekartellrecht

mit den energierechtlichen Zielsetzungen zwang den BGH dazu, in § 103 Abs. 5 GWB a. F. einen gegenüber § 22 GWB a. F. eigenständigen Mißbrauchsbegriff normiert zu sehen501 . 3. Die praktische Umsetzung des Monopolpreisvergleichs

Wenn trotz der in § 103 Abs. 5 GWB a. F. angelegten systematischen Verwerfungen und praktischen Schwierigkeiten502 in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ein "Boom von Kartellverwaltungsverfahren" zu Energiepreishöhen, insbesondere Gaspreisen, konstatiert werden konnte503 , so ist dies auf die zunehmend anwendeTfreundliche und zielorientierte Rechtsprechung zurückzuführen. Die Grundsatzentscheidungen "Schwäbisch-Hall" und "Gaspreis" entkoppelten durch die Festschreibung der Eigenständigkeil des Mißbrauchsbegriffs die Energiepreiskontrolle dogmatisch und tatbestandlieh von § 22 GWB 504, legten die Vergleichbarkeit der Energieversorgungsunternehmen weit aus505, erleichterten damit die Darlegungslast der Kartellbehörden und verzichteten auf ein Spürbarkeitserfordernis der Preisabweichung506• Wich501 BGH v. 6.5.1997, BGHZ 135, 323, 328; im gleichen Sinne die Literatur, siehe nur Beater, JZ 1998, 254; Immenga/Mestmäcker-Mösche/, § 22 Rn. 6; Klaue, Festschr. f. Lieberknecht, S. 370 f.; Baur, Festschr. f. Lieberknecht, S. 242 f. Daß die konzedierte Eigenständigkeit nicht nur eine zweckfrei rechtsdogmatische Erkenntnis ist, zeigt sich insbesondere darin, daß die Mißbrauchsaufsicht durch die Rechtsprechung nicht an das Vorliegen einer marktbeherrschenden Stellung i. S. d. § 22 GWB a. F. sondern an die Freistellung des § I 03 Abs. I GWB a.F geknüpft wird, und damit das Energiekartellrecht tatbestandlieh von der allgemeinen Mißbrauchsaufsicht entkoppelt wurde, so OLG München v. 4.3.1996, WuW/E OLG 5713, 5718 f.; BGH v. 6.5.1997; BGHZ 135, 323, 327; zustimmend Beater, JZ 1998, 254; auch Wiedemann-Zinow, § 34 Rn. 72; anders noch Monopolkommission, Sondergutachten 21 , Rn. 21 . 502 Euphemistisch als "Dualität der Zielsetzung" bezeichnet von der Reg. Begr. BT-Drs. 8/2136, S. 33. 503 Wiedemann-Zinow, § 34 Rn. 69; ähnlich Emmerich, Kartellrecht, 8. Auflage, s. 381. 504 Dies insbesondere dadurch, daß es nur noch auf die Freistellung ankam, so daß eine marktbeherrschende Stellung nicht mehr festgestellt werden mußte, was das Rekurrieren auf den Wettbewerbsdruck durch andere Energieträger ausschloß; so BGH v. 6.5.1997, BGHZ 135, 323, 329; ebenso KG v. 15.1.1997, WuW/E 5926, 5930; Landeskartellbehörde Bayern v. 11.1.1994, WuW/E LKartB 345, 362 f.; auch Wiedemann-Zinow, § 34 Rn. 72. Kritisch aber Baur, Festschr. f. Lieberknecht, S. 246 f.; für die Berücksichtigung des Substitutionswettbewerbs auch Monopolkommission, Sondergutachten 21, Rn. 86. 505 Dieses Kriterium diene nur der "groben Sichtung", so daß auch Energieversorgungsunternehmen vergleichbar seien, die in einem Vertikalverhältnis zueinander stünden, BGH v. 21.2.1995, BGHZ 129, 37,47; offenbar enger Büdenbender, Kartellaufsicht, S. 151.

II. Konzept und Anwendung des§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a.F.

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tig für die Praktikabilität des Verfahrens war es auch, daß in der "Gaspreis"-Entscheidung der Vergleich einzelner Tarife für ausreichend erachtet worden war und die Kartellbehörden damit von der Bürde eines Gesamtpreisvergleichs entlastet wurden 507 . Als Endpunkt der Entwicklung kann der Hinweis in der "Gaspreis"-Entscheidung empfunden werden, es komme nicht darauf an, ob eine Kausalität zwischen Freistellung und Mißbrauch bestehe508 . 4. Die Rechtfertigung von Preisunterschieden

War schon damit der Weg für eine strenge und justitiable Preishöhenkontrolle geebnet, nahm die Rechtsprechung den Energieversorgungsunternehmen auch noch die letzte "Verteidigungslinie", mit deren Hilfe man bislang versuchte, die Einbrüche der Kartellbehörden an Erkenntnisschwierigkeiten leer laufen zu lassen. Wie schon in der Rechtsprechung zu § 104 GWB a.F. angelegt (oben 1), so waren auch nach dem eindeutigen Wortlaut des § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a. F. rechtfertigende strukturelle Abweichungen zwischen den Vergleichsunternehmen einerseits von zurechenbaren betriebsindividuellen Kostenunterschieden andererseits zu trennen. Wie eine Entscheidung des KG zeigt509, beriefen sich die Energieversorgungsunternehmen stets auf einen ganzen Strauß von Rechtfertigungsgründen, um möglichst viele Kostenstellen als strukturell bedingt und nicht zurechenbar darzustellen. In concreto wurden genannt: die geringere Zahl von Einwohnern und Haushalten im Versorgungsgebiet, die Anzahl der tatsächlich mit Gas versorgten Haushalte, der "wirtschaftlich vergleichsweise schlechte Stand als aus dem Energiekombinat erwachsenes, von der Treuhandanstalt ins Leben gerufenes, durch die Gründung von Stadtwerken ausgezehrtes, verlustbeladenes Einspartenunternehmen" sowie - ganz pauschal - die schlechte Ertragslage, derzufolge die beanstandeten Preise nicht einmal kostendeckend seien. Doch hat die Rechtsprechung, namentlich das KG in dem erwähnten Verfahren, auch insoweit eine "ganz restriktive Haltung" eingenommen510• An eine insoweit gefestigte Rechtsprechung und den Gesetzesmaterialien an506 BGH v. 21.2.1995, BGHZ 129, 37, 49 f.; auch insoweit "monopolfreundlicher" Büdenbender, Kartellaufsicht, S. 153 f. 507 BGH v. 21.2.1995, BGHZ 129, 37, 48; BGH v. 6.5.1997, BGHZ 135, 323, 332. Anders noch namentlich Büdenbender, Kartellaufsicht, S.l48; siehe auch Baur, Festschr. f. Lieberknecht, S. 245; 508 BGH v. 6.5.1997, BGHZ 135, 323, 333. 509 KG v. 15.1.1997, WuW/E OLG 5926, 5929 ff.; vgl. auch FK-Baur!Weyer, § 22 Rn. 628; Langen/Bunte-Schultz, 8. Auflage, 1997, § 22 Rn. 83. 510 Emmerich, Kartellrecht, 8. Auflage, S. 381 .

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§ II Der Preisniveaumißbrauch im alten Energiekartellrecht

knüpfend511 gab es den berücksichtigungsfahigen "strukturellen Umständen" eine eng gefaßte Kontur. Das Gericht verstand darunter nämlich nur Kosten zur Überwindung objektiver Strukturnachteile und sonderte damit sämtliche Umstände aus, die dem Unternehmen als betriebsindividuell subjektiv zurechenbar waren 512 . Die Zahl der Haushalte im Versorgungsgebiet sei schon deshalb kein struktureller Rechtfertigungstatbestand, weil sie wenig aussagekräftig sei für die Anzahl detjenigen, die diesen Energieträger auch wirklich nutzen wollen. Denn anders als die weithin unersetzbare Elektrizität hänge die Ausdehnung des Kundenstammes gegenüber anderen Energieträgem von der Geschäftstüchtigkeit des Unternehmens ab und sei mithin ein typischer subjektiv-individueller Umstand513 • Gleiches gelte für den erheblichen Unterschied in der Zahl der tatsächlichen Gasabnehmer zwischen den Unternehmen. Denn weder gäbe es Anhaltspunkte dafür, daß eine größere Abnehmerzahl auch zwangsläufig eine größere Wirtschaftlichkeit bedeute, noch sei dies ein unabänderliches objektives Datum, lasse sich der Kundenkreis doch durch unternehmefische Maßnahmen erhöhen514 • Anerkennenswert sei lediglich eine Mindesteinwohnerzahl für eine wirtschaftlich sinnvolle Gasversorgung, von der aber hier auszugehen sei515 • Auch die historisch bedingte schlechte wirtschaftliche Situation sowie die Gesellschafterzusammensetzung wurden vom KG als "Unterschiede unternehmensspezifischer Natur" zurückgewiesen516• Schließlich begegnete man dem Einwand, auch die inkriminierten Preise vermochten die Kosten nicht zu decken, mit einem - an den Freistellungsgründeo und dem darauf basierenden, normativen Mißbrauchsbegriff orientierten - Argument: Das von § I 03 Abs. I GWB a. F. geschützte System geschlossener Versorgungsbedingungen beruhe auf der gesetzlichen Annahme, damit eine preisgünstige und sichere Versorgung zu garantieren. Wenn sich ein Unternehmen auf die gesetzliche Gestattung des Wettbewerbsausschluß berufe, müsse es auch die Mißbrauchskontrolle als Korrelat hinnehmen, welche die normative energiepolitische Zielvorgabe "Preisgünstigkeit" dadurch zu erreichen sucht, daß die Sanierung einer ungünstigen individuellen Kostensituation zu Lasten der an den Monopolanbieter geketteten Abnehmer verhindert wird517 • 511 BGH v. 31.5.1972, BGHZ 59, 42, 47; BGH v. 21.10.1986, WuW/E 2309, 2311 f.; Reg. Begr. BT-Drs. 8/2136, S. 34. 512 KG v. 15.1.1997, WuW/E OLG 5926, 5929; auch Brandenburgisches OLG v. 27.1.1998, GRUR 1999, 98. 5l3 KG v. 15.1.1997, WuW/E OLG 5926, 5929. 51 4 KG v. 15.1.1997, WuW/E OLG 5926, 5930. 515 KG v. 15.1.1997, WuW/E OLG 5926, 5930. 516 KG v. 15.1.1997, WuW/E OLG 5926, 5931. 517 KG v. 15.1.1997, WuW/E OLG 5926, 5931.

II. Konzept und Anwendung des§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 GWB a.F.

133

Neben den soeben erwähnten sind die topographische Beschaffenheit des Versorgungsgebietes und die Zusammensetzung der Kundschaft als weitere Rechtsfertigungsgründe genannt worden518 . In der Berücksichtigungsfahigkeit von Preisunterschieden durch solche vom Unternehmen (vorgeblich) nicht beeinflußbaren Umstände liege ordnungspolitisch gar "eine leistungsorientierte Ausrichtung des Kartellrechts" 519 . Auch diesen Erwägungen tritt das KG im Ergebnis zu Recht entgegen, indem es für geologische Besonderheiten einen genauen Nachweis der Kostenstellen verlangt, an denen sich die behaupteten Unterschiede nachteilig auswirken sollen520. Im übrigen wird die Überzeugungskraft dieses Einwands der Energieversorgungsunternehmen durch ihr eigenes, prozeßtaktisches Verhalten nicht eben gesteigert: Berufen sich die Energieversorgungsunternehmen mal auf die angeblichen Nachteile eines "ländlichen" Versorgungsgebiet, so ist man gelinde gesagt - verwundert, wenn ein anderes Energieversorgungsunternehmen den Nachteil einer dicht bebauten Stadtlage beklagt521 .

§ 12 Die Durchleitungsverweigerung nach§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a.F. Der Mangel an einer eindeutigen rechts- und ordnungspolitischen Linie im Energiekartellrecht exponiert sich am deutlichsten in der Mißbrauchstypisierung einer Durchleitungsverweigerung, die im Zuge der 4. GWB-Novelle522 als § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a. F. in das GWB aufgenommen worden ist. War schon die soeben dargelegte Gesetzgebung und Rechtspraxis zum Preisüberhöhungsmißbrauch von der Antinomie zwischen der wettbewerbspolitischen Ablehnung des Wettbewerbs einerseits und dem kartellbehördlichen Bemühen um wettbewerbsadäquate Ergebnisse andererseits gekennzeichnet, mußte dieser Gegensatz durch eine Netzzugangsregelung zur Durchleitung fremder Energie in die demarkierten Versorgungsgebiete der Monopolisten einen Höhepunkt erreichen.

Lukes, Festschr. f. Kummer, S. 404; auch Büdenbender, Kartellaufsicht, 158. 519 So tatsächlich Büdenbender, Kartellaufsicht, S. 160. 52 KG v. 15.1.1997, WuW/E OLG 5926, 5930. 521 Siehe die Beispiele bei Markert, RdE 1996, 209, der den Energieversorgungsuntemehmen nahe legt, sich "im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit bald einmal auf eine einheitliche Linie" zu verständigen. 522 Vom 26.4.1980, BGBI. I, 458.

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134 § 12 Durchleitungsverweigerung nach§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a.F.

I. Zum BegritT der Durchleitung Bevor wir uns in die rechtlich-systematische Untersuchung begeben, gilt es zunächst zu verdeutlichen, welcher technische Vorgang mit dem normativen Begriff der "Durchleitung" bezeichnet wird. Es ist zunächst einer durch diesen Terminus beförderten falschen Vorstellung entgegenzutreten, nach welcher von einem Anbieter Gas bzw. Strom durch das Netz eines anderen Energieversorgungsunternehmen zielgenau zu dem adressierten Kunden geleitet wird. Eine solche Vorstellung entspricht freilich nicht der physikalisch-technischen Realität der Energieversorgung. Statt einer exakten Widergabe des tatsächlichen Geschehens wird mit der Durchleitung eine "Fiktion"523 normativ gekennzeichnet. Realiter umfaßt der Begriff einen vertraglich geregelten Vorgang, durch den ein Unternehmen - der "Petent" - die Berechtigung erlangt, Strom oder Gas in das Netz eines anderen einzuspeisen und im Gegenzug die Zusage des Netzinhabers erhält, daß ein Abnehmer eine entsprechende Menge Energie aus dem Leitungsnetz zu denjenigen Konditionen entnehmen darf, die zwischen dem Petenten und dem Endabnehmer ausgehandelt worden sind. Statt einer Durchleitung handelt es sich somit technisch um einen Vorgang, den man treffender als "Einspeisung mit Zweckbestimmung"524 bzw. "Energieaustausch" bezeichnen könnte und der in dem allgemeineren Terminus des "ThirdParty-Access" eine, den Kern verdeutlichende Wiedergabe gefunden hat. II. Die Absage an eine wettbewerbsbegründende Durchleitung durch die 4. GWB-Novelle 1. Das energiepolitische Vorpreschen des Bundesrates in der 4. GWH-Novelle

Die Diskussion um die Durchleitungsverweigerung als Konkretisierung des Mißbrauchstatbestands begann in der deutschen Debatte mit einem Paukenschlag, der allerdings sein endgültiges normatives Echo erst im Zuge der Implementierung der "essential facilities"-Doktrin in das GWB und dem neuen § 6 EnWG im Jahre 1998 fand. In den Beratungen der 4. GWB-Novelle, durch welche die energiekarteilrechtliche Mißbrauchsaufsicht zwar eine Präzisierung, jedoch keine substan523 Büdenbender, Handbuch Energierecht, S. 265; Kuhnt, Festschr. f. Lukes, S. 412 ff.; siehe auch Wirtschaftsausschuß BT-Drs, 8/3690, S. 33; BKartA v. 29.6.1992, RdE 1992, 197, 198; BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128, 17, 27; nicht unmißverständlich das den Fallgruppen zugrundeliegende Verständnis bei Immenga/ Mestmäcker-Klaue, 2. Auflage, § 103 Rn. 76. 524 So der Wirtschaftsausschuß BT-Drs, 8/3690, S. 33.

II. Absage an eine wettbewerbsbegründende Durchleitung

135

tielle Änderung erfahren sollte, ist von Seiten des Bundesrates scheinbar beiläufig vorgeschlagen worden, jede Weigerung einer wirtschaftlich zumutbaren Durchleitung als mißbräuchliches Verhalten i. S. d. § I 03 Abs. 5 S. I GWB zu qualifizieren. Ausweislich der Begründung sollte auf diese Weise ein Hindernis für den "anstrebenswerten Wettbewerb in der Versorgungswirtschaft" aus dem Weg geschafft werden525 . Formulierungsvorschlag wie Gesetzesbegründung kommen einer energierechtlichen Palastrevolution gleich, wird doch Abschied genommen von der ritualisiert wiedergegebenen Behauptung, der Wettbewerb führe in der Energiebranche zu schwerwiegenden Nachteilen. Im Gegenteil wurde der Wettbewerb nunmehr als "anstrebenswert" bezeichnet. Von diesem Denkansatz aus ist es nur konsequent, daß durch die Gesetzesänderung eine wettbewerbsbegründende Durchleitung in fremde, demarkierte Versorgungsgebiete gestattete und damit die kartellrechtliche Legitimierung des Wettbewerbsausschlusses auf "kaltem Wege" ausgeschaltet werden sollte526. Es ist in der Diskussion und Nachbetrachtung der 6. GWB-Novelle und der Aufregung um die als revolutionär erachtete "essential facilities"-Lehre leider völlig untergegangen, daß die Rechtspolitik somit bereits 1980 dem beinahe zwei Jahrzehnte später erreichten rechtlichen und wettbewerbspolitischen Zustand zumindest im Energierecht sehr nahe gekommen war. 2. Die Einwände gegen Wettbewerb mittels Durchleitung

Angesichts der energiepolitischen Tragweite dieses Vorpreschens kann es nicht überraschen, daß die Bundesregierung diesen Vorschlag zurückwies und sich zur Stützung ihrer Position auf das "ausschließliche Benutzungsrecht" verwies, das jedem Eigentümer - "auch von Versorgungsleitungen" zukomme, und das einer Qualifizierung jeder Zugangsverweigerung als mißbräuchlich entgegen stehe527 . Damit war eine Verteidigungslinie eröffnet worden, die - verständlicherweise - bis zuletzt von den Gegnern der Liberalisierung und des "Third-Party-Access" zu halten versucht worden ist: die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. I GG 528 . Auf die verfassungsrechtStellungnahme Bundesrat, BT-Drs. 8/2136, S. 36. Aus diesem Grunde trifft es auch zu, daß einer solchen wettbewerbsbegründenden Durchleitung der Sache nach - unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit - die gleichen Einwände entgegengehalten werden können, wie der Forderung nach dem Ende des gesamten Wettbewerbsausschlusses; insoweit zutreffend daher Büdenbender, Handbuch Energierecht, S. 266. 527 Stellungnahme Bundesregierung BT-Drs. 8/2136, S. 39. 528 Darauf abstellend auch Büdenbender, Handbuch-Energierecht, S. 316 f., 328 ff.; Kühne/Pohlmann, JZ 1995, 725; Schmidt-Preuß, RdE 1996, I ff.; dezidiert anders hingegen Papier, BB 1997, 1213 ff. mit zahlreichen Nachweisen aus der Rspr. des BVerfG; siehe auch Vollmer, Jahrbuch f. neue politische Ökonomie 1996, 525

526

136 § 12 Durchleitungsverweigerung nach § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a. F.

Iichen Fragen des zwangsweisen Zugangs zu fremden Netzen ist hier nicht mehr detailliert einzugehen, gleichwohl sollen aber einige grundlegende Erwägungen nochmals benannt werden, da sie auch Folgerungen für die Auslegung des§ 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB zeitigen (siehe§ 16). Einmal stellt eine Netzzugangsregelung - sei es im Rahmen des kartellrechtlichen Mißbrauchsverbots, sei es in Gestalt einer energierechtlichen Spezialregelung -eine Schrankenbestimmung gern. Art. 14 Abs. I GG dar und nicht etwa eine Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG529. Dies hält gleichwohl zur Beachtung des Übermaßverbotes an, nach welchem gewichtige Gründe einen derartigen Eingriff legitimieren und Ausgleichsmaßnahmen die Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) sicherzustellen haben 530. Die verfassungsrechtliche· Legitimierung des Eingriffs in die Grundrechte des Leitungsinhabers und die Erweiterung der Verhaltensspielräume des Zugangspetenten ist bereits in § 7 ll festgestellt worden. Insoweit verdeutlicht gerade das Beispiel der Nutzung fremden Eigentums und der Ausgestaltung des Rechts aus Art. 14 Abs. l GG, daß das Kartellrecht neben der Modifizierung der Vertragsfreiheit auch eine "Spezifizierung von Eigentumsrechten" enthält531 . Ergänzend sei darauf verwiesen, daß wesentliche Teile der Leitungsnetze aufgrund der jahrzehntelang staatlich protegierten Gebietsmonopole abgeschrieben sind und zudem ein "angemessenes Benutzungsentgelt" als Ausgleich der Sozialbindung fungiert532. Zweitens sind die Interessen des Netzeigentümers ·bei der Durchleitungsverweigerung weniger auf das ihm unbenommene Recht der eigenen LeiS. 148 f.; enger auch der- im übrigen "durchleitungsunfreundliche"- Beschluß des

BGH v. 17.11.1994, BGHZ 128, 17, 37, nach welchem Eigentumsfreiheit (und Be-

tätigungsfreiheit) von marktbeherrschenden Unternehmen engeren Schranken unterliegen sollen; vgl. aus der zivilrechtliehen Literatur Münchener Kommentar-Mertens, § 826 Rn. 161 ("Wer über soziale - insbesondere wirtschaftliche, rechtliche oder kommunikative - Macht verfügt, trägt für die Mittel, die er anwendet, und die Ziele, die er anstrebt, eine gesteigerte soziale Verantwortung"). 529 Die Rspr. des BVerfG fordert insoweit eine "vollständige oder teilweise Entziehung konkreter subjektiver Rechtspositionen", während die bloß "generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten" als Inhalts- und Schrankenbestimmung zu sehen ist (BVerfG v. 12.6.1979, BVerfGE 52, I, 27). Somit stellt sich die abstrakte Belastung des Netzeigentums mit einer Durchleitungsverpflichtung als eine solche Ausgestaltungsregelung dar. Wie hier auch BKartA v. 29.6.1992, RdE 1992, 197, 200; Arndt, RIW 1989, Beilage 7 zu Heft 10, S. 23; Immenga/Mestmäcker-Möschel, § 19 Rn. 187. 530 Vgl. dazu Wieland, in: Dreier, Art. 14 Rn. 123. 531 Allgemein dazu Kirchner, Festschr. f. Schmidt, S. 39. 532 Fehling, VerwArch 86 (1995), 607; Papier, BB 1997, 1215 f. Zur Angemessenheil des Netznutzungsentgelt unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten jüngst Schlack, ZNER 2001, 133 f.

II. Absage an eine wettbewerbsbegründende Durchleitung

137

tungsnutzung gerichtet, als vielmehr auf den Schutz vor Konkurrenz auf der nachgelagerten Versorgungsebene. Da aber das Grundgesetz aus Art. 12 Abs. l GG keinen Schutz vor Wettbewerb und Konkurrenz gewährt533 , Art. 14 Abs. 1 GG bloße Erwerbserwartungen auf der nachgelagerten Marktebene nicht erfaßt534 und schließlich die eigentumsfremde Motivation, nämlich das Erwerbsinteresse auf dem nachgelagerten Absatzmarkt für Gas, aus dem Schutzbereich des Art. 14 Abs. l GG ausscheidet535 , ist den verfassungsrechtlichen Einwänden gegen den Netzzugang weitgehend der Boden entzogen536. Neben diesem - angesichts der in Rede stehenden politischen und ökonomischen Interessen - sophistisch anmutenden Verweis auf das Eigentumsrecht ist im Gesetzgebungsverfahrens vor allem die traditionelle wirtschaftspolitische Haltung im Hinblick auf die Versorgungswirtschaft bekräftigt und den wettbewerbsfreundlichen Auffassungen des Bundesrats eine deutliche Absage erteilt worden 537 . Somit sollte an der negativen Haltung gegenüber dem Wettbewerb in der Energieversorgung nicht gerüttelt werden. Die Unverträglichkeit von geschlossenen, dem Wettbewerb entzogenen Versorgungsgebieten und einer wettbewerbsfördernden Durchleitung ist insbesondere immer wieder anband des Problem des "Rosinenpickens", also dem Herausbrechen einzelner lukrativer Großabnehmer aus dem Kundenkreis des Gebietsversorgers, illustriert worden538 . Bei geschlossenen Versorgungsgebieten und gleichzeitig großzügiger Zugangsmöglichkeit zu fremden Netzen bestand nach Auffassung der Gesetzesbegründung Anlaß zur Statt aller Manssen, in: v. Mangold/Kiein/Starck, Art. 12 Rn. 67 mwN. Wieland, in: Dreier, Art. 14 Rn. 44; Depenheuer, in: v. Mangold/Klein/ Starck, Art. 14 Rn. 137. 535 Papier, BB 1997, 1216. 536 Vollmer, Jahrbuch f. neue politische Ökonomie 1996, S. 148 f., will die Zulässigkeil offenbar davon abhängig machen, daß "der Netzinhaber bei der Nutzung seiner Leitungen für die Durchleitung von Strom und Gas aus eigenen Erzeugungsund/oder Beschaffungsquellen immer noch einen bestimmten Vorrang gegenüber Dritten genießt", was aber angesichts der diffizilen Abwägung von staatlicher Strukturverantwortung, Chancengerechtigkeit und Wettbewerbsfreiheit (dazu oben § 7 II) etwas apodiktisch sein dürfte und zudem den Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers hinsichtlich der Austarierung von Freiheitsinteressen und Grundrechte übersieht, den dieser bei der Schaffung Normen wie den § 19 Abs. 4 Nr. 4 in Anspruch nehmen darf. 537 Stellungnahme Wirtschaftsausschuß BT-Drs. 8/3690, S. 32: "Nach sorgfältiger Abwägung aller Argumente ist der Ausschuß zu dem einhelligen Ergebnis gekommen, daß angesichts der unbestreitbaren technischen und .ökonomischen Besonderheiten im Bereich der leitungsgebundenen Energiewirtschaft eine grundsätzliche Abkehr von dem geltenden System der geschlossenen Versorgungsgebiete mit Risiken für eine sichere und preisgünstige Energieversorgung verbunden sein könnten". Welches die wahren Risiken für eine sachgerechte Energiepolitik sind, ist bereits oben § II herausgestellt worden. 533

534

138 § 12 Durchleitungsverweigerung nach§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a.F.

Sorge um die ordnungsgemäße Erfüllung des Versorgungsauftrags durch den Gebietsversorger, da nunmehr die (vorgeblich) gesunde Durchmischung seines Absatzgebietes als gefährdet angesehen wurde. Daher habe die Versorgungspflicht des Leitungsinhabers grundsätzlichen Vorrang vor den individuellen Interessen des Durchleitungspetenten539 . Grundsätzlich läßt sich der Auffassung beitreten, daß die Monopolstruktur der Versorgungsgebiete den Kreis der Abnehmer der betriebsindividuellen Beeinflußbarkeit enthob, so daß für das Herausbrechen eines lukrativen Abnehmers durch einen durchleitenden Konkurrenten nicht ohne weiteres Ersatz gefunden werden konnte540. Gleichwohl hätte sich bei einer funktionierenden Aufsicht über Durchleitungsverweigerungen durchaus die Möglichkeit zu einer Verbesserung der eigenen Abnehmerstruktur durch die reziproke Inanspruchnahme fremder Netze und damit zur Versorgung von in fremden Gebieten gelegenen Abnehmern einstellen können, wenn der Gesetzgeber den Mut aufgebracht hätte, den Wettbewerb vermittels der Durchleitung sukzessive zu fördern und eine "ausstiegsorientierte"541 Anwendung der Kartellaufsicht zu ermöglichen. Doch hat der Gesetzgeber den vermeintlichen Widerspruch zwischen einer wettbewerbsbegründenden Durchleitung und dem Wettbewerbsausschluß zu Lasten der Durchleitung aufgelöst. Ausdrücklich normiert wurde nur ein Behinderungsverbot wegen Netzzugangsverweigerung in § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a. F., das zudem eine Vermutung enthielt, nach welcher eine Zugangsverweigerung regelmäßig als nicht unbillig galt, wenn die Durchleitung zur Versorgung eines Dritten im Gebiet des Versorgungsunternehmens führte.

538 Ausdrücklich die Begründung des Wirtschaftsausschusses BT-Drs. 8/3690, S. 34, ebenso Langen!Bunte-Jaestaedt, 8. Auflage 1997, § I03 Rn. 52; lmmenga/ Mestmäcker-Klaue, 2. Auflage, § 103 Rn. 76. 539 Begründung Wirtschaftsausschuß BT-Drs. 8/3690, S. 34; zurückhaltender und relativierend hingegen Stewing, Europarecht 1993, 50; Hoffmann-Riem!Schneider, Re-Regulierung im Strommarkt, S. 42, weisen darauf hin, daß diese Gefahr in erster Linie von den 900 kommunalen Energieversorgungsunternehmen geltend gemacht wird, die aber ihrerseits Vorteile durch die aus ihrer Dezentralität resultierenden Einspeisemöglichkeiten hätte; darüber hinaus bleibt es aber auch den kommunalen Energieversorgungsunternehmen unbenommen, ihre Preise wettbewerbsadäquater zu gestalten und ihren Kundenstamm mittels des "Rosinenpickens" zu verbessern. 540 Dies gilt auch dann, wenn man in Zweifel zieht, daß es sich bei den Versorgungsgebieten um mehr handelt als historisch zufällig und entlang von politischen Grenzen gezogene Territorien, s. dazu Emmerich, in: Börner (Hrsg.), Materialien zu §§ 103, 103 a GWB, S. 57 f; Deregulierungskommission, S. 70. 5 41 Terminus nach Kühne/Pohlmann, JZ 1995, 726, die damit das Vorgehen des BKartA gegen das deutsche System der Gebietsmonopole kennzeichnen.

II. Absage an eine wettbewerbsbegründende Durchleitung

139

Verbleibende Anwendungsfälle waren insbesondere die Durchleitung von Energie zu einer eigenen Betriebsstätte bzw. zu der eines Tochterunternehmens sowie die Durchleitung zu einer Stichleitung des Zugangspetenten, die einen Abnehmer im Versorgungsgebiet eines dritten Energieversorgungsunternehmen anbindet542 . Da also immerhin die Durchleitung zu Stichleitungen in die Gebiete anderer Energieversorgungsunternehmen von dem Leitungsinhaber nicht verwehrt werden durfte, mußte sich das leitungsbetreibende Gasversorgungsuntemehmen zwar nicht gefallen lassen, daß mit seiner Hilfe Wettbewerb gegen die eigene Marktstellung betrieben und das eigene Versorgungsgebiet unterminiert wird. Es durfte aber an der Förderung entsprechender Handlungen gegen das Gebiet eines anderen Versorgers teilnehmen. Da aber auch diesem anderen Energieversorgungsunternehmen infolge der geschlossenen Versorgungsgebiete eine ebenso große Gefährdung der Zusammensetzung des Abnehmerkreisesdrohte und die daraus abgeleiteten Befürchtungen hinsichtlich der Erreichung der normierten energiewirtschaftliehen Zielsetzungen galten, kann es für die Zulässigkeit einer wettbewerbsbegründenden Durchleitung dem Sinn nach nicht darauf ankommen, in wessen Versorgungsgebiet Wettbewerbsdruck qua Durchleitung entfacht wird. Letztlich hätte sich bei Berücksichtigung dieser Prämissen die in der 4. Novelle gefundene Regelung mit der Gefahr des Rosinenpicken und der daraus resultierenden Aufweichung und Infragestellung der Monopolstruktur nicht konsistent begründen lassen. Die gesetzliche Unterscheidung zwischen dem eigenen Versorgungsgebiet des Leitungsinhabers und den Gebieten dritter Energieversorgungsunternehmen schärft jedoch den Blick auf den tiefer liegenden Grund für die restriktive Umsetzung des Durchleitungsverweigerungsmißbrauchs. Indem man die Energieversorgung als einheitlichen Markt betrachtete543 und demzufolge nicht nach Produktion, Durchleitung und Vertrieb unterschied544, er542 Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 674; vgl. auch die Fallgruppen bei Immenga/Mestmäcker-Klaue, 2. Auflage, § 103 Rn. 76. Andere hingegen sahen die Regelvermutung als Beleg dafür, daß jegliche "wettbewerbsfördemde Durchleitung" aus dem Tatbestand ausscheide, so Büdenbender, Handbuch Energierecht, S. 267. 543 Büdenbender, Handbuch Energierecht, S. 293 f., spricht von einer "umfassenden Gesamtleistung" bzw. von einem "Bündel von Leistungen, die zu einer kompletten Versorgungsleistung zusammengefaSt und nicht isoliert auf dem Markt abrufbar sind"; siehe auch Kuhnt, Festschr. f. Lukes, S. 423. Aus wettbewerbstheoretischer Sicht anderer Ansicht Gröner, Wettbewerbliehe Ausnahmebereiche im GWB, S. 423 ff.; auch lmmenga, in: Blaurock, Grenzen des Wettbewerbs in deregulierten Märkten, S. 86, nennt das faktische Bestehen eines einheitlichen Marktes Ergebnis einer politischen Entscheidung; aus normativer Sicht anderer Ansicht BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128, 17, 27 ff.; KG v. 9.6.1993, RdE 1995, 20, 24.

140 § 12 Durchleitungsverweigerung nach§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a.F.

öffnete man das Feld für die Argumentation, der Leitungsinhaber könne nicht per Verfügung dazu gezwungen werden, Wettbewerb gegen sich selbst zu fördern, also ein für ihn im Saldo des Gesamtenergiegeschäfts nachteiliges Durchleitungsgeschäft vorzunehmen545 • Neben wirtschaftspolitischen, verfassungsrechtlichen und energiepolitischen Einwänden war es somit ein eher intuitives Argument, das die wettbewerbsfördernde Durchleitung verhinderte: Das Unbehagen gegen die Förderung fremden Wettbewerbs, welches aus der wettbewerbstheoretischen Einbeziehung der Durchleitung in den (Gesamt)Markt für Energieabsatz folgte. Gesetzlichen Niederschlag fand diese Auffassung des Gesetzgebers in§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4. GWB a.F., welcher eine gerichtsfeste Durchsetzung des Netzzugangs, wenn nicht verhinderte, so doch auf rare Ausnahmefälle beschränkte546. 111. Der fehlgeschlagene justizielle Versuch der Durchsetzung einer "wettbewerbsbegründenden" Durchleitung nach der 5. GWB-Novelle

Auch dem Gesetzgeber der 5. GWB-Novelle ist nicht verborgen geblieben, daß in § 103 Abs. 5 Nr. 4 GWB ein systematischer Widerspruch zwischen Mißbrauchskonkretisierung und wettbewerbsfeindlicher Regelvermutung bestand547 . Es sollte mit der Streichung der Regelvermutung aber lediglich der - tatsächlich nicht vorhandene - Wille zur praktischen Aktualisierung dieser Mißbauchsvariante bekundet werden, nicht aber "eine Neuausrichtung in der Sache" erfolgen548 . Die Abschaffung der Regelvermutung gegen eine wettbewerbsbegründende Durchleitung einerseits und das Festhalten an der energiepolitischen Absage an den Wettbewerb andererseits ließ erhebliche Interpretationsspiel544 Schwintowski, ZNER 2000, 96 f., unterscheidet sogar 5 Ebenen, Erzeugung, Netzbetrieb, Netzdienstleistung, Stromhandel und Endkundengeschäft, auf denen je für sich eine eigene Wertschöpfung stattfinde. 545 Siehe BGH v. 12.11.1991, WuW/E BGH 2755, 2759. Auch in der Besprechung des "VNG"-Beschlusses (BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128, 17 ff.) zur Durchleitungsverweigerung, fordern Kühne!Pohlmann, JZ 1995, 727, eine "besonders hohe Legitimationsschwelle" für den Durchleitungszwang, da niemand dazu verpflichtet sei, Wettbewerb zum eigenen Schaden zu fördern. Vgl. dazu auch BGH. v. 12.11.1991, WuW/E BGH 2755, 2759; BGH v. 25.10.1983, WuW/E BGH 2535, 2539 f. 546 Wie die Stellungnahme des Wirtschaftsausschusses, BT-Drs. 8/3690, S. 34, zeigt, war dem Gesetzgeber durchaus bewußt, daß er mit § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB eine praktisch beinahe unerhebliche Norm aus der Tauf gehoben hatte. 547 Siehe die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs, 11/4610, S. 31. 548 Begr. RegE. BT-Drs. 11/4610, S. 36.

III. Fehlgeschlagener Versuch der Durchleitung

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räume. Es kann daher nicht verwundern, daß die Gewichtungen in dem einzigen, durch die Instanzen gegangenen Durchleitungsbegehren unterschiedlich vorgenommen worden sind. 1. Die Entscheidung des Bundeskartellamtes

In diesem Verfahren hatte zunächst das BKartA versucht, die Leitungsinhaberiß VNG zu einer Durchleitung von Importerdgas der WIEH zu einem Großabnehmer, einer Foto- und Spezialpapierfabrik, zu zwingen549 . Da im konkreten Fall von einer Freistellung nach § 103 Abs. I GWB a.F. nicht Gebrauch gemacht worden war, mußte das Kartellamt die Verfügung auf die allgemeinkartellrechtlichen Befugnisnormen der §§ 22, 26 Abs. 2 GWB a. F. stützen, rekurrierte aber bei der Ausfüllung dieser Tatbestände auf die Wertungen des § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a. F. Auf diese Weise sah sich das BKartA im Stande, dem Einwand der Verfahrensgegnerin, sie habe bislang noch keine Durchleitung vorgenommen, also existiere auch kein entsprechender Markt, mit dem schlichten Verweis auf die energiekartellrechtliche Netzzugangsregelung zu begegnen. Damit schuf es einen "normativen Markt", der allerdings noch mit der Begründung abgesichert wurde, die Gebietsversorger verfügten nun einmal über die Leitungsnetze zur Erfüllung ihrer Versorgungsaufgaben, also erscheine es kartellrechtlich gerechtfertigt, sie wie Anbieter solcher Leistungen zu behandeln550. Auch die ergänzende Überlegung trifft im Kern zu, wenn man sie mit dem aus dem Bedarfsmarktkonzept geläufigen Sichtweise der Abnehmer verknüpft hätte: Von der Marktgegenseite werden entsprechende Durchleitungsleistungen nachgefragt, so daß aus der im Wettbewerb insoweit maßgeblichen Sichtweise der Abnehmer auch ein entsprechender Markt besteht, dessen Existenz durch das GWB lediglich normativ nachvollzogen wird551 • Ein mißbräuchliches bzw. unbilliges Verhalten erblickte das BKartA in der Verweigerung der VNG, mittels ihres Leitungsnetzes einen früheren Abnehmer zu versorgen, der zwischenzeitlich zu der preisgünstigeren WIEH gewechselt war. Dieses lasse sich auch nicht mit dem Hinweis rechtfertiBKartA v. 29.6.1992, RdE 1992, 197 ff. BKartA v. 29.6.1992, RdE 1992, 197, 198. 551 Damit werden aber keineswegs Anbieter in jedem Fall gezwungen, ihnen nicht genehme Leistungen erbringen zu müssen, wie sich aus der Betrachtung der Tatbestandsvoraussetzungen des allgemeinen (§ 22, 26 Abs. 2 GWB a. F., § 826 BGB) wie besonderen (103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a.F.) Kontrahierungszwanges ergibt, denn erst wenn die Vertragsabschlußverweigerung eine mißbräuchliche Ausnutzung der Marktstellung, eine unbillige Behinderung oder eine sittenwidrige Schädigung ist, besteht eine gesetzlicher Zwang zum Vertragsschluß. 549

550

142 § 12 Durchleitungsverweigerung nach § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a.F.

gen, die gewünschte Durchleitung hätte zum Wettbewerb auf dem Versorgungsmarkt geführt (und der Netzinhaber sei faktisch zum Handeln gegen die eigenen Interessen gezwungen). Mit der Abschaffung der dies ausschließenden Regelvermutung könne "nicht mehr zweifelhaft" sein, daß die Frage der Rechtfertigung nunmehr einzelfallbezogen und im Hinblick auf die Wettbewerbsfreiheit beantwortet werden müsse; die Verhinderung von Wettbewerb sei jedenfalls kein tragfähiger Rechtfertigungsgrund mehr552. Ebenso wenig könne sich die VNG auf die Gefährdung der energierechtlichen Zielgrößen (vgl. § 103 Abs. 5 S. 1 GWB a. F.) Versorgungssicherheit und Preisgünstigkeit berufen. Zum einen werde lediglich der Versarger des Endabnehmers ausgewechselt, so daß sich mithin an dem Umfang des Gasfluß nichts ändere und es somit bei der Belieferung anderer Abnehmer nicht zu Engpässen kommen werde553 . Zum anderen würde die Preisgünstigkeil für die übrigen Abnehmer nur dann gefährdet, wenn die VNG für die Durchleitung einen Entgelt erhielte, welches unter der Differenz zwischen eigenem Einkaufspreis und dem Weiterverkaufspreis an den Endabnehmer liege. Schließlich habe die VNG nicht dargetan, daß ihr durch den Verlust des Kunden Deckungsbeiträge zu ihren Fixkosten entgehen könnten, welche sie zu Preiserhöhungen gegenüber anderen Kunden zwingen würde554. 2. Die Gemeinsamkeiten in den Entscheidungen des KG und des BGH

Dem wettbewerbsorientierten Vorgehen des BKartA war vor den Gerichten kein Erfolg beschieden. Die Entscheidungen des KG und des BGH folgen zwar dem Ansatz, bei Ausfüllung der allgemein-kartellrechtlichen Tatbestände der §§ 22, 26 Abs. 2 GWB a. F. auf den normativen Gehalt des § 103 GWB a. F. zu rekurrieren555. Auch teilen sie die Ansicht des Kartellamts, es existiere ein Markt für Durchleitungen, gleichgültig, ob der Netzinhaber bisher bereits Durchleitungsdienstleistungen erbracht habe556. Damit ist zwar die Existenz eines Durchleitungsmarkt zugestanden worden. Dies heißt aber nicht, daß damit auch die praktische Trennung der Ebenen "Durchleitung" und "Endversorgung" vorgenommen worden ist (siehe unten 3). 552 553 554 555

BKartA v. 29.6.1992, RdE 1992, 197, 200. BKartA v. 29.6.1992, RdE 1992, 197, 200. Zum ganzen BKartA v. 29.6.1992, RdE 1992, 197, 201. KG v. 9.6.1993, RdE 1994, 20, 25; ebenso BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128,

17, 33.

556 KG v. 9.6.1993, RdE 1994, 20, 24; zustimmend BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128, 17, 26 ff.

III. Fehlgeschlagener Versuch der Durchleitung

143

Dem Einwand, jedem Unternehmen müsse es grundsätzlich freistehen, über die Art seiner wirtschaftlichen Betätigung selbst zu bestimmen, so daß vor allem nicht verlangt werden könne, Wettbewerb gegen sich selbst zu fördern, hält das KG und der BGH den zutreffenden Verweis auf den die Wettbewerber einschließenden Schutzzweck der §§ 22, 26 Abs. 2 GWB a. F. entgegen und führt aus, daß dieser normative Eingriff nur zur Korrektur jener Wettbewerbsbeschränkung verpflichte, die durch den negativen Einsatz des Wettbewerbsmittels Leitungsnetz entstanden sei557 • Auf diese Weise wird einer voreiligen Weichenstellung bei der Austarierung der Interessen die verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit entgegen gesetzt, daß auch die Berufsausübungsfreiheit und das Eigentumsrecht des Leitungseigentümers Einschränkungen bzw. Ausgestaltungen unterliegen müssen. Eine einseitige und schrankenlose Freiheitsbetätigung - sei es vom Netzeigentümer, sei es vom Durchleitungspetenten - stellt jedenfalls keine verfassungsmäßige Austarierung der Grundrechte dar (siehe § 7 II). Aus der Streichung der Regelvermutung wird keine grundsätzliche Entscheidung für oder gegen eine Seite deduziert, sondern der Mißbrauchstatbestand vielmehr als offen in dem Sinne angesehen, daß weder der Durchleitung noch den Eigentümerinteressen ein tendenzieller Vorrang zukomme558. 3. Leistungswettbewerb vs. Energiepolitisches Saldo

Diese gemeinsamen Wege der Entscheidungsgründe von KG und BGH trennen sich aber sowohl hinsichtlich des dogmatischen Ansatzes zur Unbilligkeilsprüfung wie auch in Bezug auf die entsprechende Konkretisierung. Das KG rekurriert auf eine von ihm angestoßene Rechtsprechung zum Behinderungswettbewerb und führt aus, es sei maßgeblich für die als Unbilligkeil bezeichnete Rechtswidrigkeit einer Durchleitungsverweigerung, ob diese dem "Leistungswettbewerb" entspreche, das inkriminierte Unternehmen also leistungsbezogene oder leistungsfremde Mittel eingesetzt habe559. Entscheidend in der abwägenden Ausfüllung dieses Begriffes ist für das erkennende Gericht, daß das die Durchleitung begehrende Unternehmen zugleich der Vorlieferant des Netzeigentümers ist und mittels der Durchleitung den Zugang zu den Endabnehmermärkten sucht. Zwar verbiete §§ 22, 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a. F. nicht ein konkurrierendes Verhalten von in Vertragsbeziehung stehenden Wettbewerbern. Indem der Vorlieferant aber 557 KG v. 9.6.1993, RdE 1994, 20 26; in diesem Sinne auch BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128, 17, 36 f. 558 KG v. 9.6.1993, RdE 1994, 20, 25; vgl. auch BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128, 17, 34. 559 Siehe etwa KG v. 12.10.1980, WuW/E OLG 2403, 2410; zum ganzen auch Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 328 ff.; sie auch § 15 II.

144 § 12 Durchleitungsverweigerung nach § 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a. F.

als Wettbewerber um die Kunden seines Abnehmers auftreten wolle, verändere er einseitig seine Lieferverpflichtungen zur Deckung des vom Leitungsinhaber gemeldeten Bedarfs und verhalte sich leistungsfremd560. Diese Begründung erscheint insoweit nicht ganz stichhaltig, als sich die Auswirkungen der Direktversorgung auf den Gaslieferungsvertrag zwischen Netzinhaber und Zugangspetenten auch lediglich innerhalb dieses relativen Schuldverhältnisses klären ließen, etwa durch die Gewährung eines Kündigungsrechts, einer Vertragsanpassung oder Schadensersatz. Die wahre Zielrichtung dieser Argumentation des KG zeigt sich aber in den nachfolgenden Passagen des Urteils, in welchen darauf hingewiesen wird, daß sich das Durchleitungsbegehren nicht auf diesen Einzelfall beschränke, sondern als Musterverfahren für die weitere Tätigkeit des Vorlieferanten auf dem Markt der Endabnehmer dienen soll. Dies könne im Ergebnis dazu führen, mit Hilfe des Kartellrechts die VNG "zu einer anderen Tätigkeit als dem Weitervertrieb der gelieferten Ware Erdgas zu veranlassen" und dieser die Entscheidungsfreiheit zu nehmen, wie viel Gas sie abnehme und weiterveräußere561. Zur Abwehr einer solchen Gefahr stelle die Zugangsverweigerung zu dem Leitungsnetz, welches ein durch "tüchtige" Leistung erworbener Wettbewerbsvorteil sei, ein billiges Mittel dar562 . Offenbar schwingt hier die Sorge mit, ein die Durchleitung gestattendes Urteil könnte zu einer Existenzgefährdung des Zwischenhändler VNG, gar zu einem Ausscheiden dieses Wettbewerbers aus dem Markt führen. Auch hier zeigt sich erneut die Zurückhaltung gegenüber dem Zwang zur Förderung fremden Wettbewerbs auf dem "Gesamtmarkt" für den Gasabsatz. Trotz der Annahme eines Durchleitungsmarktes hat das Gericht also die Märkte betriebswirtschaftlich nicht getrennt. Vor allem aber will das Gericht den Spagat schaffen, Wettbewerb zuzulassen, die (oftmals zwangsläufige) negative Folge einer Verdrängung aber auszuschließen. Der BGH wiederholt hingegen in seiner Auslegung des Mißbrauchsbegriffs zwar zunächst sein standarisiertes Bekenntnis zur "lnteressenabwägung unter Berücksichtigung der auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des GWB" und weist damit den Maßstab des Leistungswettbewerbs zurück. Es nimmt aber umgehend mit der Betonung der im Rahmen des § 103 Abs. 5 GWB a. F. zu beachtenden "energierechtlichen Zielsetzung" die für die Lösung des Falles entscheidende Weichenstellung vor563. Mit der daraus folgenden Betonung der "grundsätzlichen Möglichkeit geschlossener Versorgungsgebiete, die durch die Freistellung nach § 103 Abs. I GWB eröffnet wird"564, umgeht es die selbst betonte Offen560 561 562 563

KG v. 9.6.1993, RdE 1994, 20, 27. KG aaO. KG v. 9.6.1993, RdE 1994, 20, 28. BGH v. 15.11.1994, BGHZ 128, 17, 34.

III. Fehlgeschlagener Versuch der Durchleitung

145

heit der Einzelfallabwägung bei der Beurteilung der Durchleitungsverweigerung565. Nach dieser "energiepolitischen Aufladung" des § 22 GWB a. F. kann es nicht mehr überraschen, daß im Rahmen der Abwägung dann auch die energiewirtschaftliche Betrachtungsweise ausschlaggebend ist und die auf die Freiheit des Wettbewerbs gerichtete Zielsetzung des GWB völlig überlagert wird. Da der Netzbetreiber VNG inzwischen in die von dem Durchleitungspetenten offerierten Preise eingestiegen sei, entfielen nicht nur die schutzwürdigen Interessen der gasabnehmenden Fabrik an einer preisgünstigen Versorgung, mit eine dem Durchleitungsbegehren stattgebende Entscheidung wäre auch "im übrigen" kein "energiewirtschaftlicher Gewinn" zu erzielen566. Mit der Nuancierung des spezifischen energierechtlichen Einschlags hat das Gericht zugleich seine dogmatische Feststellung der Eigenständigkeil des Mißbrauchsbegriffs des § 103 Abs. 5 GWB a.F. 567 systemwidrig auch in die allgemeine Mißbrauchsaufsicht getragen. 4. Bewertung

Soweit der BGH eine ausschließlich am "energiepolitischen Saldo" orientiertes Urteil fallen wollte, hat er eine zumindest vordergründig konsequente Linie eingeschlagen. Soll nämlich Maßstab des Verbots unbilliger Durchleitungsverweigerungen die Sicherung einer preisgünstigen und sicheren Versorgung sein, dann kommt man zunächst nicht an der vom BGH betonten Erkenntnis vorbei, daß auch ohne die geforderte Durchleitung die Preise auf das durch den Wettbewerber angebotene Niveau gefallen ist. Freilich erhebt sich der Verdacht, der BGH habe den Netzbetreibern ein einfaches Mittel an die Hand gegeben, Wettbewerb um bestimmte Kundengruppen zu verhindern. Doch stellt sich die gesamte Argumentation des BGH letztlich als ein "energierechtlicher Kurzschluß" dar. Denn § I 03 Abs. 1 GWB a. F. eröffnete den Energieversorgungsunternehmen lediglich die - hier nicht einmal wahrgenommene - Möglichkeit, sich mittels bestimmter Vertragstypen vom energieträgerinternen Wettbewerbsdruck zu befreien, enthält selbst aber keine zwingende normative Wertsetzung gegen einen liberalisierten Wettbewerb in der Energiewirtschaft. Die den Freistellungsgründen zugrunde liegende wirtschaftspolitische Auffassung findet ihren expliziten Niederschlag lediglich in der Präambel des EnWG von 1937, so daß die Rechtsprechung des BGH die allgemeine Mißbrauchsaufsicht nicht nur mit den Wertungen 564 565

566 567

BGH v. BGH v. BGHv. Siehe §

10 Kubicie:l

15.11.1994, BGHZ 128, 17, 35. 15.11.1994, BGHZ 128, 17, 34 f. 15.11.1994,BGHZ 128, 17,39.

II II 2.

146 § 12 Durchleitungsverweigerung nach§ 103 Abs. 5 S. 2 Nr. 4 GWB a.F.

des § 103 GWB a. F., sondern auch mit den außerwettbewerbliehen Zielen des Energierechts aufgeladen hat. Doch hätte der BGH die dogmatische Paradoxie zwischen der freiheitlichen Schutzrichtung des GWB und der wettbewerbsfeindlichen Ausrichtung des Energierechts innerhalb des Kartellrechts auflösen können: Es hätte lediglich der Übertragung seiner an anderer Stelle gefundenen Einsicht, daß die Wettbewerbsfreistellung rein fakultativer Natur ist, auf den Fall der Durchleitung bedurft568 . Die Mißbrauchsaufsicht auch über Fragen der Durchleitung stellt sich somit als Konsequenz der freiwilligen Inanspruchnahme des Wettbewerbsausschlusses dar. Dem Beherrscher der Gasnetze war es somit freigestellt, sich mittels entsprechender Verträge vom Wettbewerb zu befreien. Er mußte aber im Gegenzug die - auch auf Wettbewerb zielende - Durchleitung in Kauf nehmen oder aber sich dieser dadurch entziehen, daß er sich von vomherein dem Wettbewerb durch andere Energieversorgungsuntemehmen aussetzt. Über diese energiekartellrechtliche Seite des Falles hinaus, sind weitere grundsätzliche kartellrechtsdogmatische und ordnungspolitische Zweifel an dem Urteil anzumelden. Trotz wiederbalter Bekenntnisse zur auf die Sicherung der Wettbewerbsfreiheit gerichteten Zielsetzung des GWB ist dieser verfassungsrechtlich durch die Grundrechte abgesicherte Gesetzeszweck tatsächlich völlig vernachlässigt worden. Im Ergebnis ist die Einschränkung der Unternehmerischen Freiheit (Art. 12 GG) nicht etwa mit entgegen stehenden Grundrechten des Netzbelreibers gerechtfertigt worden. Ausschlaggebend war einzig die (zudem zweifelhafte) Erreichung eines sogenannten Allgemeinwohlinteresses, namentlich die nonnative Verpflichtung auf eine preisgünstige Energieversorgung. Hier zeigt sich erneut das Festhalten der Rechtsprechung an einem funktional-kollektivistischen Wettbewerbsverständnis. Es kommt hinzu, daß die Gerichte zwar die Existenz eines Durchleitungsmarktes angenommen haben, daraus aber nicht die verfassungsrechtlich begründbare (§ 7 II) Pflicht für den Kartellrechtsinterpreten abgeleitet haben, die Privaten bei der Schaffung einer zweck- und rechtmäßigen Ordnung auf den Märkten zu unterstützen. Somit hat das Kartellverfahren zwar für einen günstigeren Preis gesorgt. Es ist aber verkannt worden, daß der günstige "energiepolitische Saldo" nicht einer funktionierenden Ordnungssetzung auf dem Gasmarkt geschuldet war, sondern einen ungenügend verschleierten "Gnadenakt" darstellt. Statt die Privatautonomie durchzusetzen, legitimierte der BGH die Heteronomie.

568

966.

Siehe BGH v. 21.2.1995, BGHZ 129, 37, 52, sowie Mestmäcker, JZ 1995,

Vierter Teil

Der Mißbrauch im Sinne des§ 19 GWB am Beispiel der Gasversorgungsunternehmen Eine Verpflichtung zur Herleitung justiziabler Leitlinien ergibt sich aus dem Charakter des Wettbewerbs: Als evolutorischer und ergebnisoffener Prozeß lassen sich bei Vornahme bestimmter unternehmenscher Entscheidungen sicher nicht die Ergebnisse und Folgen in ihrer Gesamtheit überblicken. Handeln im Wettbewerb - und dazu gehört auch der hoheitliche und rechtliche Eingriff in denselben - wird also zu einem gewissen Grad stets eine "Reise ins Unbekannte" sein. Um so mehr besteht die Verpflichtung, die Interventionen auf solide Auslegungsgrundsätze zu stützen und auf ein verhältnismäßiges Maß zu begrenzen. Dies ist Ziel und Verpflichtung der nun folgenden Annäherung an den Kern des Mißbrauchsunrechts. Vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen, rechtlichen und ökonomischen Normgrundlagen sollen justiziable Anwendungsleitlinien für den Preisüberhöhungsmißbrauch und den Behinderungswettbewerb, insbesondere in Form des § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB, entwickelt werden. Zugleich gilt es die im dritten Teil dargelegten energiekartellrechtlichen Auslegungsansätze auf ihre weitere Gültigkeit im Rahmen des § 19 GWB zu überprüfen.

§ 13 Allgemeine Vorgaben des Mißbrauchsbegriffs

im§ 19 GWB

Bevor wir uns eingehender der Deduktion von Anwendungsleitlinien zum Preishöhenmißbrauch und dem § 19 Abs. 4 Nr. 4 GWB zuwenden, gilt es in einem ersten Schritt die Grenzen zu skizzieren, innerhalb welcher sich die Auslegung des Mißbrauchsverbots zu bewegen hat. Solche Grenzen können sich einmal aus der Art und Weite der Normermächtigung des § 19 GWB ergeben (dazu I), vor allem aber auch aus dem Mißbrauchskonzept, das sich von der Vorstellung eines bestimmten normativen Unrechts leiten läßt (ll), und schließlich auch aus den Grundlagen eines Vergleichs von marktbeherrschenden und nicht-marktbeherrschenden Unternehmen (dazu lll). 10*

148

§ 13 Allgemeine Vorgaben des Mißbrauchsbegriffs im § 19 GWB

I. Die Notwendigkeit nonnativer Maßstäbe Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Auslegung des Mißbrauchsbegriffes ist die Einordnung des § 19 GWB nach dem Grad und der Art seiner Machtzuweisung. Hinsichtlich der Ermächtigungswirkung des § 19 GWB lassen sich dogmatisch zwei Grundpositionen kontrastieren: Entweder ist die Norm Ausdruck einer maßstabsfreien Wirtschaftsaufsicht und in jedem Einzelfall im Rahmen einer Ermessensausübung auszulegen, ohne daß sich generalisierungsfähige Entscheidungskriterien entwickeln ließen569. Oder aber sie ist Bestandteil einer gebundenen Rechtsaufsicht über marktbeherrschende Untemehmen570, die nach vorab feststehende, normativen Maßstäben verlangt571. Wer zu § 22 GWB a. F. aus der Unbestimmtheit des Mißbrauchsbegriffs auf die Konzeption einer Staatsaufsicht zur Wirtschaftslenkung schloß572, entledigte sich nicht nur en passant der eigentlichen dogmatischen Aufgabe, justitiable Anwendungskriterien zu deduzieren, sondern ermächtigte die Kartellbehörden und Gerichte, ihre Normauslegung und Ermessensentscheidungen an sämtlichen öffentlichen Interessen auszurichten573 . Eine maßstabslose, auf den Einzelfall bezogene Normanwendung müßte ihre Sinnhaftigkeit aus einer Folgenabschätzung leiten lassen, welche aber von wettbewerbstheoretischen Modellen kaum Hilfe zu erwarten hätte (siehe oben § 8 IV). Mithin liefe eine solche Rechtsanwendung Gefahr, sich vollends auf eine Reise ins Unbekannte zu begeben, ohne ihren Ausgangspunkt normativ bestimmen oder ihr Ziel ökonomisch vorhersehen zu 569 Vgl. zu § 22 GWB a.F. Bullinger, VVDStrL 22, 264, 295, der die Aufsicht des BKartA in diese Kategorie einordnet, da Maßstabsbestimmung und Maßstabsdurchsetzung so ununterscheidbar ineinander übergingen, daß es sich im ganzen um Wirtschaftslenkung handele. 570 V~~· zu der Unterscheidung etwa Ballerstedt, Festschr. f. Hefermehl, S. 48. Stober, Offentliches Wirtschaftsrecht, S. 339, hebt demgegenüber hervor, daß sich jede Wirtschaftsaufsicht an rechtlichen Maßstäben messen lassen müßte. Er gibt aber zu, daß die Unterschiede "in Randbereichen verwischen". 571 Dazu Rittner, DB 1970, 717, 718, der (zutreffend) eine maßstabsgebundene Rechtsaufsicht befürwortet. 572 So Bullinger, VVDStRL 22, 293 ff., was der Konzeption des Josten-Entwurfs (siehe oben § 2) entsprach, derzufolge das Monopolamt nicht Recht zu sprechen habe, sondern wirtschaftspolitische Entscheidungen fällen sollte. Ähnlich Schmidt, WuW 1967, 798, der für eine Verzicht auf Rechtsstaatlichkeit zugunsten wirtschaftspolitischer Intervention optiert; siehe zu einem "public interest"-Test auch Gabriel, WuW 1968, 581 ff., vgl. dazu (ablehnend) Mestmäcker, DB 1968, 1800, 1804. 573 So in der Tat Müller-Henneberg, BB 1959, 139, der von der "Gefährdung der Gesamtwirtschaft und des Gemeinwohls" spricht; auch Bullinger, VVDStRL 22, 293 ff.; Scheuner, VVDStRL 11, 24 f. mit weiteren Nachweisen.

I. Notwendigkeit nonnativer Maßstäbe

149

können. Will man zudem eine ungleiche Behandlung von Unternehmen verhindern, dann sind normative Maßstäbe unabdingbar. Folgerichtig ist die Ansicht, die Mißbrauchsregelungen sei eine maßstabsfreie Wirtschaftsaufsicht, bereits zum alten § 22 GWB überzeugend widerlegt worden 574 und widerspräche auch dem durch Einzeltatbestände vorgesteuerten, justizähnlichen Verfahren vor den Kartellbehörden575 . Das Bedürfnis nach einem normativen Korsett für die Normauslegung ist in Folge der 6. GWB-Novelle noch gewachsen: Durch die Transformation der Mißbrauchsaufsicht in ein unmittelbar wirkendes Verbot576 kann nun nicht mehr in jedem Fall einer behördlichen Untersagungsverfügung die Konkretisierung der Verhaltensbeschränkung entnommen werden, bevor es zu den teils drastischen Rechtsfolgen kommt. Aus rechtsstaatlicher Sicht gilt es daher verstärkt zu bedenken, daß das Gebot des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit ein Mindestmaß an Vorhersehbarkeit der Normanwendung erfordert577 und es verbietet, Verbote durch unbeschränktes Ermessen auszuüben 578. Vielmehr muß der Gesetzgeber seine Voraussetzungen so bestimmt fassen, wie das nach Eigenart des zu ordnenden Lebenssachverhalts möglich ist579 . Auch wenn man zugesteht, daß wegen des Charakters des Wettbewerbs als spontaner Ordnung und der Vielfältigkeit der Mißbrauchsmöglichkeiten ein Verzicht auf Generalklauseln kaum möglich scheint, ist die Grenze der Verfassungsmäßigkeit dort zu ziehen, wo der Gesetzgeber mittels einer vagen Generalklausel der Exekutive im Einzelfall überläßt, die Grenzen der Freiheit zu bestimmen. Die Ablehnung einer maßstablosen Rechtsanwendung und das Erfordernis normativer Maßstäbe hat auch Folgen für den Einfluß ökonomischer Modelle auf die Auslegung des § 19 GWB: Soweit diese sich nicht normativ absichern lassen oder gar die Narrnativität des Wettbewerb leugnen (siehe § 8 IV), sind sie aus der Normauslegung ausgeschlossen. Marktbeherrschende Unternehmen somit anband eines ökonomisch auszufüllenden "Als-ob"-Maßstabs zu einem zentral bestimmten Handeln zu bewegen und damit § 19 GWB als Mittel zur wirtschaftspolitischen Gesamtsteuerung zu 574 Baur, Mißbrauch im deutschen Kartellrecht, S. 50 ff.; siehe auch K. Schmidt, Kartellverfahrensrecht, S. 94 f., 134; Vollmer, Festschr. f. Lukes, S. 221 ; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 294, geht davon, daß die Normeigenschaft als maßstabsgebundene Rechtsaufsicht feststehe; siehe auch Belke, ZHR 138, 233; lmmenga, Politische Instrumentalisierung des Kartellrechts?, S. 20. 575 Siehe dazu Möschel, ORDO 1997, S. 241 ff.; vgl. auch Markert, in: Blaurock (Hrsg.), Institutionen und Grundfragen des Wettbewerbsrechts, S. 9 ff. 576 Zu den privatrechtliehen Wirkungen vgl. Knöpfle/Leo, in: Müller-Henneberg/ Schwartz/Hootz, § 19 Rn. 171 ff. mwN. 577 Ausführlich dazu Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 116 ff. 578 BVerfG v. 6.6.1989, BVerfGE 80, 137, 161. 579 BVerfG v. 9.8.1995, BVerfGE 93, 213, 238.

150

§ 13 Allgemeine Vorgaben des Mißbrauchsbegriffs im§ 19 GWB

verwenden, mag demnach zwar ein konsistentes ökonomisches Modell sein (siehe dazu §§ 2, 8 1), sähe sich aber nicht normativ abgesichert. Denn zum einen hat sich das ordoliberale "Als-ob"-Denken im GWB allenfalls im Preishöhenmißbrauch niedergeschlagen580 • Zum anderen würde mit der Lenkung der Unternehmen auf einen "Als-ob"-Zustand ein funktionales und direktistisches Wettbewerbsverständnis Platz greifen, das den inhaltsneutralen Freiheitsgewährleistungen des Grundgesetzes und dem prozeduralen, nicht-lenkenden Ordnungsmechanismus des Privatrechts widerspräche (dazu §§ 4 IV, 5 I, 6 II). Schließlich schärft die Notwendigkeit einer vorhersehbaren Normauslegung den Blick für ein weiteres Problem: Eine maßstablose Rechtsanwendung öffnete den Mißbrauchstatbestandbestand für alle nur denkbaren nicht unbedingt vorhersehbaren - außerwettbewerbliehen Zielsetzungen und gewährte den Kartellbehörden und Gerichten Zugang zu einer (ihnen nicht zustehenden) wirtschaftspolitischen Gestaltung (siehe unten § 17)581 •

n. Die Grundlagen eines normativen Mißbrauchskonzepts Ist mit einer maßstablosen Rechtsanwendung auch eine ausschließlich ökonomische Auslegung des § 19 GWB ausgeschlossen, gilt es eine normative Bewertung des inkriminierten Verhaltens vorzunehmen. Da sich das Rekurrieren auf strukturell anders gelagerte Normen wie § 138 BGB als untauglich und unzureichend erwiesen hat582, ist nach einem eigenständigen Mißbrauchsunrecht zu suchen, ohne die Bezüge des § 19 GWB zu seinem Regelrahmen (siehe § 3 II) aus dem Auge zu verlieren. l. Verhaltens- und Erfolgsunrecht des Machtmißbrauchs

Die Bestimmung eines als "mißbräuchlich" deklarierten Verhaltens erfordert somit die Fällung eines normativen Unwerturteils583 , wenngleich dies freilich keine "moralische Wertung" enthalten muß584 . Als Maßstab dieses Unwerturteils können grundsätzlich neben dem Verhalten auch die Folgen eines Verhaltens in die Wertung einbezogen werden.

Gleichwohl entzieht sich die Vernachlässigung der Verhaltenskomponente und der konsequentialistische Blick allein auf die Ergebnisse der eigent580 Im Ergebnis besteht insoweit beinahe Einigkeit vgl. Mestmäcker, DB 1968, 1801 ff.; Knöpjle/Leo, in: Müller-Henneberg/Schwartz/Hootz, § 19 Rn. 1965 mwN. 58! Stober, Öffentliches Wirtschaftsrecht, S. 340. 582 Siehe nur Scholz, in: Müller/Gießler/Scholz, GWB § 22 Rn. 69c. 583 Goette, Festschr. f. Geiss, S. 594. 584 Bechtold, § 19 Rn. 60.

II. Grundlagen eines nonnativen Mißbrauchskonzepts

151

liehen Aufgabe der Rechtsanwendung: der Wertung. Denn für die Fällung eines Unwerturteils kann die rein naturalistische Betrachtung der Kausalität kaum ausreichen. Vielmehr muß gefragt werden, ob bestimmte Folgen dem Marktbeherrscher als Unrecht normativ zugerechnet werden können. Tatsächlich könnte - im Gegensatz zu einer normativen Bewertung des Verhaltens - das bloße Abstellen auf die Kausalität zwischen Marktbeherrschung und (wie auch immer definierten) wettbewerbsschädlichen Ergebnissen dazu Anlaß geben, das Unwerturteil aus der bloßen Existenz des Marktbeherrschers und der daraus zwangsläufig resultierenden Wettbewerbsbeschränkung zu filtrieren 585 . Damit rückte die Marktstruktur in den Verantwortungsbereich des Normadressaten, ohne daß geprüft würde, ob die Beschränkung des Wettbewerbs durch den Marktbeherrscher das Ergebnis normativ zurechenbaren Mißbrauchs ist oder aber das Resultat überlegener Leistung, historischen Zufalls oder einer wettbewerbstheoretischen Sondersituation586. Einem Marktbeherrscher aber undifferenziert die Verantwortung für die Folgen seiner Existenz in dieser Größe zuzuweisen, hieße aber, Mißbrauch mit der Mißbrauchsaufsicht zu treiben: Denn nicht nur der Wortlaut des § 19 Abs. 1 GWB, der zwischen der marktbeherrschenden Stellung und dem "mißbräuchlichen Ausnutzen" derselben trennt, deutet auf ein Verhaltenserfordernis hin. Vielmehr belegt auch der kartellrechtliche Regelrahmen die rechtliche Unbedenklichkeit der Marktbeherrschung als solcher (siehe oben § 4 II, III). Auch wirtschaftspsychologisch ist das Abstellen auf das Verhalten angezeigt, wird doch ein direkter Bezug dorthin vermittelt, wo die Steuerungsfunktion des Rechts ansetzt, während ein Endzustand und der Eintritt eines mißbilligten Erfolgesangesichts der Komplexität des Wettbewerbs nicht - oder jedenfalls nicht immer - vorhersehbar ist. Somit ist mit Ballerstedt ein spezifisches Handlungsunrecht zu fordem587, welches freilich im Wirtschaftsrecht nicht als individualethischer Vorwurf ausgestaltet werden kann, aber auch mehr sein muß, als die bloße Verfehlung gesamtwirtschaftlicher Zielgrößen oder wettbewerbstheoretischer Vorstellungen. Gleichwohl soll hier zunächst offen bleiben, ob man bei der Auslegung des Mißbrauchsverbots gänzlich auf eine subjektive Vorwertbarkeil verzichien sol15811 . Eine vom zurechenbaren Verhalten gelöste Verantwortung des Marktbeherrschers für die Marktstruktur ist jedenfalls abzulehnen589. 585 Wenngleich dies von der Rspr. stets bestritten wird, vgl. KG v. 30.5.1979, WuW/E OLG 2148, 2149. 586 Vgl. zu der Kritik an einer solchen Marktstrukturverantwortung Möschel, ORDO 30 (1979), 309. 587 Ballerstedt, Festschr. f. Böhm, S. 180; ebenso Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, S. 172. 588 So FK-Baur/Weyer, § 22 Rn. 502.

152

§ 13 Allgemeine Vorgaben des Mißbrauchsbegriffs im § 19 GWB

2. Das GWB als normativer Bezugspunkt fair die Bestimmung des Mißbrauchsunrechts

Wenn mithin also ein Verhaltensunrecht von dem marktbeherrschenden Unternehmen zu fordern ist, so impliziert bereits der Terminus "Unrecht", daß es einen normativen Bezugspunkt zu finden gilt, anband dessen eine Abgrenzung zwischen wettbewerbsadäquatem und mißbräuchlichem Verhalten vorzunehmen ist. Die Suche nach einem Bezugspunkt, an welchem sich die Bestimmung des Verhaltensunrechts knüpfen ließe, ist denn auch bereits verschiedentlich versucht worden, ohne daß freilich Einigkeit oder gar Klarheit gewonnen worden wäre 590•

a) Veifehlung eines normativen Zieles Als gescheitert kann der Versuch gelten, sämtliche Fälle des kartellrechtlichen Mißbrauchs als Verfehlung eines gesetzlichen Zwecks zu beschreiben und als Verhalten zu definieren, "welches eine mit dem Gesetzeszweck nicht zu vereinbarende Ausnutzung einer tatsächlichen wirtschaftlichen Macht oder eines durch die Kartellbehörde gestatteten kartellrechtlichen Vertrages"591 darstellt. Gegen diesen Zweckverfehlungsansatz ist eingewandt worden, eine solche Definition orientiere sich zu sehr an den Gründen für die diversen Freistellungstatbestände, könne aber den - vor allem in den Behinderungs- und Diskriminierungsverboten zum Ausdruck kommenden - Individualschutz nicht erklären592 . Andere wehren sich gegen die ausschließliche Orientierung an einem normativen Ziel, weil sie befürchten, damit würde der Mißbrauchsbegriff zum Einfallstor für schwankende Wirtschaft- und ordnungspolitische Wertungen und den Kartellbehörden ein interventionistisches Gestaltungsermessen eröffnet593 • Vor allem aber geriete eine derart zweckrationale Auslegung der Mißbrauchsregelung von Marktbeherrschern wieder in die Nähe 589 Möschel, ORDO Band 30 (1979), 295, 308 ff. ; vgl. Immenga/MestmäckerMöschel, § 19 Rn. 13 mit weiteren Nachweisen; im Ausgangspunkt ähnlich, freilich aber mit einer im Ergebnis sehr weitgehenden Verantwortungszuweisung KG v. 30.5.1979, WuW/E OLG 2148, 2149; KG v. 12.11.1980, WuW/E OLG 2403, 2407. 590 Vgl. zur Kritik an der nach wie vor bestehenden Ungewissheit und Unbestimmtheit Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, S. 69. 591 KG v. 10.7.1961, WuW/E OLG 478, 481; ähnlich BGH v. 24.10.1963, BGHZ 41, 42, 48; BGH v. 27.11.1964, WuW/E BGH 655, 656; vgl. aus der Literatur etwa Raisch, in: Biedenkopf/Hoppmann/Mestmäcker, Wettbewerb als Aufgabe, S. 378; siehe auch den einheitlichen Mißbrauchsbegriff von Ballerstedt, Festschr. f. Hefermehl, S. 46 (dazu sogleich). 592 So Baur, Mißbrauch, S. 83. 593 So Ballerstedt, Festschr. f. Hefermehl, S. 39; auch Baur, Mißbrauch, S. 85.

II. Grundlagen eines normativen Mißbrauchskonzepts

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einer inhalts- und ergebnisgebundenen Freiheitsgewährleistung, welche die Freigabe von Verhaltensspielräumen abhängig macht von ihrer Kompatibilität mit der volkswirtschaftlichen Wohlfahrt. Eine Gewährleistung von Freiheitsrechten unter dem Vorbehalt "guter Ergebnisse" widerspricht aber dem Paradigma der inhaltsneutralen Freiheitsgewährleistung, ist also kein wirkliches Freiheitsversprechen und stößt demzufolge auch auf die genannten verfassungsrechtlichen und privatrechtsdogmatischen Bedenken gegen ein kollektivistisch-funktionales Wettbewerbsverständnis (siehe oben § 8 V). b) Veifehlung positiver Wertungen des GWB

Auch wer statt einer zielorientierten Auslegung versucht, am Maßstab der "im Gesetz positivierten Wertungen" zu einer einheitlichen Mißbrauchsbestimmung zu gelangen594, verkennt einmal die durchaus ambivalenten Wertungen des GWB, insbesondere die zwar reduzierten, aber immer noch vorhandenen Freistellungen und Ausnahmen vom Wettbewerb595 . Vor allem aber setzt er sich ohne Not unter den Zwang, einen einheitlichen Oberbegriff für durchaus unterschiedliche und vom Gesetz daher auch getrennte Fallgruppen zu finden, die sich erst auf einer sehr großen Abstraktionshöhe zusammenfassen lassen596 . Daher wird man Baur zunächst insoweit folgen müssen, als im Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen zwischen Rechtsformenmißbrauch und Machtmißbrauch zu trennen ist597 . aa) Die Wettbewerbsfreiheit Angesichts der fehlenden ausdrücklichen Zweckbindung, mit welcher wie im Fall der Energiemonopole - die Existenz marktbeherrschender Unternehmen normativ in Verbindung zu bringen wäre598, kann es nicht überraschen, daß der Maßstab zur Feststellung des Unrechtsgehalts des MachtSo Ballerstedt, Festschr. f. Hefermehl, S. 46. Eben wegen dieser Ambivalenz kann auch nicht das aus dem europäischen Wettbewerbsrecht geläufige Modell eines "unverfälschten Wettbewerbs" (s. Art. 3 lit. G EGV) fruchtbar gemacht werden (siehe dazu schon Mestmäcker, Festschr. f. Hallstein, S. 322 ff.), welches jedoch durch die Implementierung industriepolitischer Zielsetzungen (s. Art. 3 lit. L EGV) zumindest relativiert wird. 596 Vgl. Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, S. 172. 597 Baur, Mißbrauch, S. 104 ff.; siehe aber auch die Kritik von Ballerstedt, Festschr. f. Hefermehl, S. 43 f. Für die Bestimmung des Unrechts eines Machtmißbrauches schlägt Baur. Mißbrauch, S. I04, das Mittel einer einzelfallbezogenen Interessenabwägung vor. Doch zunächst sollte es das dogmatische Ziel sein, die Auslegung im einzelnen Fall durch die Benennung von zwar abstrakten, aber gleichwohl konkretisierungsfähigen Maßstäben für die Feststellung des normativen Unrechts zu erleichtern. 594

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mißbrauches auf einer abstrakteren Ebene gesucht wurde. Häufig findet sich als Bezugspunkt die Orientierung des GWB an dem Prinzip der Wettbewerbsfreiheit599. Schon die Rechtsprechung zu den Energieversorgungsunternehmen, welche - wie in § 12 III gesehen - ihre einzig an energiepolitischen Gründen ausgerichteten Entscheidungen hinter dem "Feigenblatt" der Wettbewerbsfreiheit versteckte, aber auch andere Beispiele600, warnen davor, dem Rekurrieren auf die wettbewerbliehen Zielsetzung des GWB allzu große Bedeutung beizumessen. Ohne exakte Benennung des normativen Inhalts ist der Begriff derart offen, daß er sich zu einer ergebnisorientierten oder an einem funktional-kollektivistischen Wettbewerbsverständnis ausgerichteten Aufladung eignet, wie die genannten Beispiele zeigen. Dies wird noch dadurch erleichtert, daß sich das GWB in seiner wettbewerbspolitischen Ausrichtung als keineswegs stringent ausweist, so daß die Bezugnahme auf die Zielsetzung des Kartellgesetzes kein stabiles Anwendungskorsett garantiert, sondern vielmehr eine dehnbare Kategorie für die Normauslegung bemüht601 . Vor allem aber verführt der Terminus "Wettbewerb" dazu, diesen nicht als aggregierte Freiheitsbetätigungen zu verstehen, sondern als abstraktes, überpersönliches Wesen. Im Sinne eines funktionalen Wettbewerbsverständnisses könnte die "Wettbewerbsfreiheit" dann mit a priori festgelegten inhaltlichen Vorgaben aufgeladen und damit in ihr Gegenteil verkehrt werden (vgl. dazu schon oben § 3 I).

598 Möschel, Oligopolmißbrauch, S.l52; nicht eindeutig hingegen Breuer, HStR, § 147 Rn. 31. 599 Langen/Bunte-Schultz, § 19 Rn. 87; vgl. auch Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 294; ders., Oligopolmißbrauch, S 184 (". .. Ordnungsbild des GWB, das auf den Schutz der Freiheit der Wettbewerbsprozesse, auf die Aufrechterhaltung der Funktionsbedingungen wirtschaftlicher Handlungsfreiheit zielt."). Siehe auch Wiedemann-Wiedemann, § 23 Rn. 31; KG v. 26.1.1977, WuW/E OLG 1767, 1772; im Ansatz ähnlich auch BGH v. 9.11.1982, WuW/E BGH 1965, 1966. 600 Vgl. zu der vom Rekurrieren auf die Wettbewerbsfreiheit ummantelten, aber an außerwettbewerbliehen Kriterien ausgerichteten Normauslegung § 17 I 2 sowie BVerfG v. 9.10.2000, GRUR 2001, 266 ff. 601 Es mag als zusätzliches Indiz für den geringen dogmatischen Wert dieses Orientierungspunktes dienen, daß die Rechtsprechung bei der Feststellung namentlich von Behinderungsmißbräuchen zuerst alle Umstände des Einzelfalls - ohne Sortierung nach ihrer wettbewerbliehen Relevanz - gegenüberstellt und erst bei einem weitgehenden Interessengleichgewicht eine Entscheidung anband der Zielsetzung des GWB trifft (siehe dazu Ulmer, Feststr. f. Kummer, S. 570). Dies nähert den Verdacht einer mehr am Ergebnis, denn an der Dogmatik ausgerichteten Entscheidung.

li. Grundlagen eines nonnativen Mißbrauchskonzepts

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bb) Die Ordnungsprinzipien der Wettbewerbswirtschaft Die Gefahr einer inhaltlichen Determinierung der wettbewerbliehen Freiheitsgewährung stellt sich auch, wenn von den "Ordnungsprinzipien der Wettbewerbswirtschaft" gesprochen wird602. Die Wahl dieser Begrifflichkeil erlaubt nämlich die Verbindung mit bestimmten Marktformen, von deren Vorliegen sich ablesen ließe, ob eine solche "Wettbewerbswirtschaft" gegeben ist oder nicht. So liegt von einem funktional-kollektivistischen Wettbewerbsverständnis die Annahme durchaus nahe, daß vom GWB nur ein solcher Markt geschützt werde, auf welchem Wettbewerb im Sinne einer möglichst vollkommenen oder funktionsfähigen Konkurrenz tatsächlich herrscht, so daß jegliche Marktbeherrschung als "Systemfehler" zu bekämpfen wäre. Doch kann sich diese Auffassung lediglich auf wettbewerbstheoretische Modelle stützen603 , findet aber im GWB selbst keinen unmittelbaren normativen Niederschlag604 . cc) Der Leistungswettbewerb Als weiterer Bezugspunkt für die Unrechtbestimmung könnte der sogenannte "Leistungswettbewerb" gelten. Ziel dieser Begrifflichkeil ist es, über das GWB auch solche Wettbewerbshandlungen von marktstarken Unternehmen zu verbieten, die noch nicht die Schwelle der Verbote des UWG erreicht haben, und damit dessen Schutzwirkung vorzuverlagem605 . Eine normative Orientierung des Schutzzwecks des § 19 GWB an diesem Begriff ist bereits verworfen worden (§ 3 II). Die dort vorgebrachten Kritikpunkte gelten auch für die Konkretisierung des Mißbrauchsunrechts: Folge des Rekurrierens auf den Leistungswettbewerb ist die Koppelung des Onwerturteils an die Einhaltung bestimmter, positiv beschriebener Verhaltensweisen. Bei der Suche nach dem Unrechtsgehalt des Machtmißbrauches im 602 So das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium, BT-Drs. 4/617, S. 96; auch FK-Baur/Weyer, § 22 Rn. 502; Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 294. 603 Tatsächlich ist von /. Schmidt vertreten worden, daß die Mißbrauchsaufsicht als Substitut des Wettbewerbs sich an dem von der Freiburger Schule entwickelten "Ais-ob"-Maßstab der vollkommenen Konkurrenz zu orientieren habe, siehe I. Schmidt, WuW 1965, 453; ders., WuW 1967, 635. 604 Möschel, Oligopolmißbrauch, S. 154; Mestmäcker, DB 1968, 1803 f. 605 So namentlich das von Ulmer (GRUR 1977, 565 ff.) stammende Konzept. Einen im Ausgangspunkt ähnlichen Weg hat der EuGH bei der Definierung des Mißbrauchsbegriffs des europäischen Wettbewerbsrechts (s. Art. 82 EGV bzw. Art. 86 EGV a. F.) beschritten, als er eine Abweichung vom ,.normalen Produkt- und Dienstleistungswettbewerb" verlangt hat; siehe EuGH v. 13.2.1979, Slg. 1979, 461, 541, Tz. 91.

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Rahmen des GWB würde sich somit eine andere Gefahr des funktionalen Wettbewerbsverständnisses verwirklichen: der Schritt von einer Bestimmung mißbräuchlicher Verhaltensweisen zu einer inhaltlichen Fixierung zulässiger Wettbewerbshandlungen. Dieser Ansatz beschreibt nicht nur einen argumentativen Zirkel, sondern führt - viel schlimmer - zu einer normativen Festschreibung des (phänomenologisch) spontanen und ergebnisoffenen Wettbewerbs auf gewisse, zu einem bestimmten Zeitpunkt geläufige und diskretionär von den Gerichten für gut befundene Verhaltensweisen606. 3. Der kartellrechtliche Regelrahmen als normübergreifender Bezugspunkt

Angesichts der Schwächen der am GWB orientierten Bestimmung des Mißbrauchsunrechts erscheint es sinnvoll, eine umfassendere Betrachtungsweise einzuschlagen. Tatsächlich ist vorgeschlagen worden, den Unwertgehalt des Mißbrauches anband der "allgemeinen Prinzipien der Marktverfassung"607 bzw. an den "Funktionsbedingungen und Funktionsweisen eines Systems hinreichend freien und fairen Wettbewerbs"608 zu bestimmen. Die Wahl dieser umfassenden und abstrakten Paradigmen verhindert zum einen, daß in das GWB eine bestimmte, fixierte Vorstellung von Wettbewerb positiv hineininterpretiert wird. Gleichwohl teilen aber auch diese Auffassungen die strukturelle Schwäche der Verweise auf die mit bestimmten Konnotationen behafteten Topoi der "Wettbewerbswirtschaft" oder des "Leistungswettbewerbs". Offene Termini wie die "allgemeinen Prinzipien der Marktverfassung" oder das "System eines hinreichend freien und fairen Wettbewerbs" beschwören sowohl die Versuchung einer ergebnisorientierten oder ordnungspolitisch motivierten Gesetzesinterpretation609 wie auch die Gefahr einer wirtschaftspolitischen Lenkung des Wettbewerbs610 • 606 Siehe die an Deutlichkeit nicht zu überbietende Kritik von Möschel, Recht der Wettbewerbsbeschränkungen, S. 330, der darin "die Grenze des Komischen erreicht sieht". 61J? Bal/erstedt, Festschr. f. Hefermehl, S. 44 f. 608 Emmerich, Kartellrecht, S. 166 f. 609 Vgl. die diesbezügliche Kritik von Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, s. 5. 610 Diese Tendenz fände sicherlich ihren Höhepunkt, wenn man zudem noch "allgemeine Gerechtigkeitsvorstellungen" im Mißbrauchstatbestand Raum geben würde, etwa einem letztlich auf Egalisierung hinauslaufenden "materialen" Konzept des Privatrechts. Auch der BGH v. 6.11.1984, WuW/E BGH 2103, 2107, hat sich zu der Berücksichtigung solcher Topoi nicht durchringen können; vgl. auch Wiedemann- Wiedemann, § 23 Rn. 31 .

II. Grundlagen eines normativen Mißbrauchskonzepts

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Somit ist auch eine über das GWB hinausgreifende Bestimmung des Mißbrauchsunrechts nicht vor der Gefahr gefeit, das Kartellrecht mit der Folge weitreichender Freiheitsbeschränkungen zu instrumentalisieren. Eine "a priori-Aufladung" des Mißbrauchsunrechts durch systemfremde ordnungspolitische Erwägung läßt sich nur dadurch verhindern, daß eine über die Wertungen des GWB hinausgreifende Normauslegung nicht auf halben Wege stehen bleibt, sondern die "Funktionsbedingungen eines hinreichend freien und fairen Wettbewerbs" bzw. die "Prinzipien der Marktverfassung" auch konkret benennt. Im Rahmen dieser Arbeit sind mit dem Verweis auf den kartellrechtlichen Regelrahmen im 2. Teil der Arbeit bereits die für § 19 GWB relevanten Systemlogiken und normativen Vorgaben benannt worden. Dabei begründet sich der Bezug auf diese Rahmenordnung aus dem wechselbezüglichen Verhältnis von Kartellrecht und Mißbrauchsverbot einerseits und der Verfassungs- und Privatrechtsordnung andererseits (§ 3 II). Wie die anderen Ansätze, so verheißt auch dieser Bezugspunkt freilich keine Auslegungsschemata, anband derer sich im Einzelfall exakt ablesen ließe, ob in einem bestimmten Vertrag die mißbräuchliche Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung liegt. Wohl aber definiert er einige wichtige Eckpunkte, mit deren Hilfe man sich dem Unrecht des Mißbrauchs im Einzelfall weiter nähern kann: So ist es unzulässig, die Wettbewerbsfreiheit von der Einhaltung bestimmter Leitbilder abhängig zu machen. Vor allem nuanciert er den verfassungs- und privatrechtliehen Ansatz, nach welchem es auch einem marktbeherrschenden Unternehmen gestattet ist, alle ihm zu Gebote stehenden Aktionsparameter einzusetzen611 und der die kartellrechtliche Intervention in den Ordnungsrahmen der Privaten zu einer rechtfertigungsbedürftigen Ausnahme macht. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis von Privatautonomie und hoheitlicher Intervention verlangt nach einer gewissen normativen Darlegungslast für den kartellrechtlichen Eingriff und - wenn man so will - nach einer grundsätzlichen Vermutung gegen die Mißbräuchlichkeit der Wettbewerbshandlung612. Aus dem kartellrechtlichen Regelrahmen folgt zudem, daß ein Machtmißbrauch nicht stets dann vorliegt, wenn ein Vertragsinhalt von einem "Pareto-Optimum", der Billigkeit oder der verfassungsrechtlichen prak611 Im Ergebnis so auch Emmerich, Kartellrecht, 8. Auflage, S. 197; deutlicher ders., in Dauses, Handbuch EU-Wirtschaftsrecht, HIRn. 352. 612 Anders für den Behinderungsmißbrauch Immenga/Mestmäcker-Mösche/, § 19 Rn. 114, der ohne auf den privatrechtliehen und verfassungsrechtlichen Ordnungsrahmen einzugehen, aus der Ambivalenz wettbewerblieheT Handlungen schließt, es ließe sich bezüglich der Annahme eines Mißbrauchs nicht einmal ein Regel-Ausnahme-Verhältnis begründen.

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§ 13 Allgemeine Vorgaben des Mißbrauchsbegriffs im § 19 GWB

tischen Konkordanz abweicht (§§ 5 I, 6, 7 1). Selbst in diesem Fällen ist es nämlich möglich, daß der Marktbeherrscher letztlich nur die Freiheit seiner Marktstellung nutzt, ohne dabei die Ordnungskraft des Privatrechts außer Kraft zu setzen oder Vorgaben der Verfassung zu verletzen. Eine Ermächtigung zur hoheitlichen Intervention in den Wettbewerb gewährt § 19 GWB somit nur dann, wenn der Marktbeherrscher durch die Inanspruchnahme von Sonderfreiheiten den Regelrahmen überschreitet613 . Diese Fällen sind dadurch gekennzeichnet, daß die Richtigkeitschance der Privatautonomie verfehlt wird. Die dezentral gefundene Ordnung ist durch das Umschlagen der Privatautonomie in Fremdbestimmung keine zweckmäßige mehr, so daß nicht nur die Selbstbestimmung eines Akteurs verfehlt wird, sondern auch keine reflexhafte Allgemeinwohlförderung eintritt und damit - unabhängig von der Einzelfallbilligkeit - kein vor der Verfassung tolerierbares Ergebnis dieses prozeduralen Verfahrens erreicht wird. Füllt man somit das Mißbrauchsunrecht mit den Wertungen dieses Bezugspunkts auf, läßt sich eine Definition wagen: Mißbrauch ist das Außerkraftsetzen der privatautonomen Ordnungskräfte durch das Hinwegsetzen über die vom Privat- und Verfassungsrecht gezogenen Spielregeln zu Lasten eines Marktakteurs. Mißbrauch ist Inanspruchnahme von Sonderfreiheit614. 111. Der Vergleich als Mittel zur Bestimmung des Mißbrauchsunrechts Die konkrete Ausfüllung des "Übermaßes" und der Sonderfreiheit verlangt freilich nach einem Scheitelpunkt, in dem ein "maßvolles" in ein "übermäßiges" Ausnutzen der Verhaltensspielräume umschlägt. Grundsätzlich bieten sich zwei verschiedene Ansatzpunkte zu der Bestimmung der Grenzlinie zwischen Freiheit und übermäßiger Sonderfreiheit an: Einmal könnte man quantitativ auf die unterschiedlich großen Verhaltensspielräume von Unternehmen abstellen, die wirksamem, funktionsfähigem oder gar vollkommenem Wettbewerb ausgesetzt sind. Auf der anderen Seite ist es möglich, auf die qualitativ unterschiedliche Inanspruchnahme von Verhaltensspielräumen durch Marktbeherrscher zu rekurrieren, um sich auf 613 Vgl. zu der Abgrenzung Freiheit-Sonderfreiheit schon Ballerstedt, Festschr. f. Böhm, S. 180. 6 14 Auf eine "übermäßige" Ausnutzung abstellend Rittner, Wettbewerbs- und Kartellrecht, S. 299 f.; wohl auch auf die - wie auch immer zu bestimmende - Übermaßgrenze abstellend auch der BGH v. 9.11.1982, WuW/E BGH 1965, 1966, welcher ein "Unwerturteil im Sinne eines unangemessenen oder ungerechtfertigten Verhaltens" verlangt.

III. Vergleich als Mittel zur Bestimmung des Mißbrauchsunrechts

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diese Weise dem Unrecht eines mißbräuchlichen Verhaltens von solchen Unternehmen zu nähern. 1. Der Vergleich als Grundlage des§ 19 GWB

Wenn § 19 GWB die Funktion attestiert wird, wettbewerbsentsprechendes Verhalten zu erzwingen und wettbewerbsbeschränkendes Verhalten verhindern615, zeigt dies, daß der Gesamttatbestand auf einem Vergleich basiert. Auch die zusammenfassende Beschreibung des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundeswirtschaftsministerium bestätigt dies, wenn zur Zweckrichtung festgestellt wird, die Mißbrauchsaufsicht beschränke sich darauf, "dem marktbeherrschenden Unternehmen solche Verhaltensweisen zu untersagen, die ihm allein aufgrund seiner Marktmacht offen stehen und die einem einzelnen Unternehmen bei Vorherrschen von Wettbewerb unmöglich wären"616. Da das Heranziehen der Vergleichsmethode im Sinne der Gegenüberstellung von "Normalfall" und "pathologischem Fall" in der Rechtswissenschaft durchaus geläufig ist617, war es also auch ohne die vollständige Implementierung des "Als-ob"-Denken rechtstheoretisch naheliegend, einen unbestimmten Rechtsterminus wie den des "Mißbrauch" im Wege des Vergleichs ausfüllen zu wollen. 2. Der Vergleichsmaßstab als Voraussetzung eines zweckmäßigen Vergleichs

Soll ein normatives Mißbrauchskonzept anband dieser Grenzziehung wettbewerbsbeschränkendes und wettbewerbsadäquates Verhalten voneinander separieren, so setzt dieser Vergleich einen normativen Bezugspunkt voraus. Ohne einen solchen Ansatzpunkt stünden die verglichenen Handlungen unzusammenhängend nebeneinander und wären damit "unvergleichlich" und einzigartig. Schon Aristoteles sieht Gleichheit daher als proportionale, analogische Größe, welche nach einem Maß oder Bezugspunkt, nach einem tertium comparationis, verlangt618 . 615 Zur alten Mißbrauchsaufsicht Langen/Bunte-Ruppelt, 8. Auflage, § 22 Rn. 2. Doch kann dies auch nach der 6. GWB-Novelle weitergehen, da von ihr "Auswirkungen auf die kartellbehördliche Tätigkeit nicht zwingend erkennbar sind", so Langen/Bunte-Ruppelt, § 19 Rn. 2. 616 BT-Drs. 4/617, S. 96. 617 So etwa das Normalfalldenken bei Haft, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. I f., 317, welches durch den Vergleich des "Normalfalls" mit "pathologischen" Fällen rechtliche Probleme faßbarer gestalten will. 618 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1130 b bis 1133 a.

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§ 13 Allgemeine Vorgaben des Mißbrauchsbegriffs im§ 19 GWB

Will man, wie im Fall des § 19 GWB, an den Vergleich und an das auf diesem Wege gefundene Ergebnis eine Rechtsfolge anknüpfen, muß aber nicht nur a priori definiert werden, welches der Bezugspunkt sein soll, vermittels dessen sich der Eintritt der Rechtsfolge entscheiden soll. Vielmehr gilt es die zu vergleichenden Unternehmen auf ein solches tertium comparationis hin zu untersuchen, das ein im Hinblick auf die ratio Jegis zielführendes Vergleichsergebnis gestattet619 • 3. Der rlir § 19 GWB relevante Vergleichsmaßstab

Für die Auslegung des Mißbrauchsverbots bedeutet dies, daß ein Bezugspunkt zu wählen ist, von dem aus die Freiheit zur Sonderfreiheit wird und der mit dem Urteil "Mißbrauch" die Auslösung der Rechtsfolgen des § 19 bewirkt. Wer sich dem historisch gewachsenen Mißtrauen gegenüber wirtschaftlicher Macht hingibt und den Ansätzen der Freiburger Schule (§ 2) bzw. dem Konzept der "vollständigen Konkurrenz" (§ 8 I) oder der "workable competition" (§ 8 II) folgt, der wird sein Hauptaugenmerk auf die Größe der Unternehmen legen. Dies mag überraschen, da die marktbeherrschende Stellung grundrechtliehen Schutz genießt (§ 4) und das interne Wachstum von Unternehmen - im Gegensatz zum Externen - vom GWB ohne weiteres zugelassen wird. Dennoch sind die Folgen des Idealbild eines machtfreien Wettbewerbs im GWB noch spürbar. Am deutlichsten wird dies jedoch im Rahmen des Ausbeutungsmißbrauchs des § 19 Abs. 4 Nr. 2 GWB: Hier wird für die Mißbrauchsbestimmung die Vorgabe gemacht, es sei ein Vergleichsunternehmen zu wählen, welches intensiverem - gar wesentlichem - Wettbewerb ausgesetzt sei620• Denkt man diese Konzeption zu Ende, dann müßte ein ideales Vergleichsunternehmen auf einem solchen Markt gesucht werden, auf welchem vollkommene Konkurrenz besteht. Ein solcher Maßstab gleich großer Unternehmen erhebt aber nicht nur ein egalitäres Verständnis eines Sozialstaats zum Leitbild (§ 7 I 2). Dieser Vergleich verfehlt vor allem die Vorgaben der Gerechtigkeit: Die austeilende Gerechtigkeit, die auf die Angemessenheil der Zuteilung von materiellen und immateriellen Dingen (wie Ämtern, Ansehen, Gütern, Steuerlasten und dergleichen) abstellt, folgt nämlich nicht der arithmetischen Gleichheit (wie die ausgleichende Gerechtigkeit), sondern dem Grundsatz des "suum cuique tribuere"621 . Freilich liegt die Schwierigkeit dieses Be6!9 Der Bezugspunkt ist demnach so zu wählen, so daß eine Gegenüberstellung der Vergleichsgruppen den im Hinblick auf die Rechtsfolgen relevanten Unterschied herauszustellen in der Lage ist, so Kirchhof, HStR, § 124, Rn. 3 und 9. 620 Siehe nur Immenga/Mestmäcker-Mösche/, 8. Auflage § 22 Rn. 161; im Grundsatz ebenso Langen/Bunte-Schu/tz, § 19 Rn. 98.

III. Vergleich als Mittel zur Bestimmung des Mißbrauchsunrechts

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griffes in seiner Abstraktheit, wird doch im Unklaren gelassen, "was es eigentlich ist, das jedermann als das Seine betrachten dürfe"622. lohn Rawls hat vorgeschlagen, das als gerechtes Ergebnis zu akzeptieren, was auf der Grundlage solcher Regeln zustande gekommen sei, die freie und vernünftige Menschen aufstellen würden, wenn sie hinter einem "Schleier der Unkenntnis" entscheiden müßten, also nicht wüßten, welche Stellung sie in der Gesellschaft einnähmen623 . Dieses, jüngst auch vom BVeifG624 ausdrücklich als Interpretationshilfe herangezogene Konzept schöpft seine Gerechtigkeitsgewähr also daraus, daß die Beteiligten bei Aufstellung der Spielregeln nicht wissen, welche Karten ihnen das Leben austeilt625 • Die Menschen akzeptierten, so glaubt Rawls, auch ungleiche Ergebnisse, wenn diese entsprechend der Regeln zustande gekommen sind und gewährleistet wird, daß das Ergebnis zu jedermanns Vorteil gereicht, insbesondere die vereinbarten Regeln für den am schlechten Gestelltesten ein besseres Resultat herbeiführen als bei der Gleichstellung aller626. Aber auch der Kommunitarist Walzer621 , in dessen Arbeit die "Gegenreformation" zu Rawls vermutet worden ist628 , lehnt eine regulierte Verteilung sozialer Güter und eine Ausweitung der Rechtsansprüche im Sinne der "positiven Freiheit" ab, sondern versucht mittels der Abgrenzung verschiedener Verteilungssphären zu verhindern, daß die ungleiche Verteilung von Geldmitteln zur Verschiebung der Gleichheit in andere Bereiche wie insbesondere der politischen Macht verwendet werden können629 .

Dazu etwa Zippelius, Rechtsphilosophie, S. 108 ff. mwN. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?, S. 23 623 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 159 ff.; sehr kritisch zu dieser Konzeption Radnit