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German Pages 168 Year 2000
R A I N E R SCHRÖDER
Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers
Schriften zur Rechtstheorie Heft 191
Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers Kritik eines institutionalistischen Rechtspositivismus
Von Rainer Schröder
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schröder, Rainer: Rechtsfrage und Tatfrage in der normativistischen Institutionentheorie Ota Weinbergers : Kritik eines institutionalistischen Rechtspositivismus / von Rainer Schröder. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 191) Zugl.: Münster (Westfalen), Univ., Diss., 1998/99 ISBN 3-428-09850-1
D 6 Alle Rechte vorbehalten © 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-09850-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Meinen Eltern
Vorwort Im Rechtssystem der modernen Gesellschaft ist das Problem, wie in Rechtspraxis und praktischer Rechtswissenschaft - aus rechtstheoretischer Perspektive gesehen - Rechtsfragen und Tatfragen miteinander korrelieren, bis auf den heutigen Tag höchst umstritten. Zwar ist durch Informations- und Kommunikationswissenschaften die Rationalisierung im Umgang mit Rechtstexten weit vorangetrieben worden, wie das Recht auf der Ebene der Verfassungs- und Gesetzgebung bis hin zur individuellen Entscheidung im Einzelfall gewonnen und fortentwickelt wird, harrt jedoch noch immer einer rechts- und staatstheoretischen Aufklärung. Auch bedarf der Klärung, welche sozialen Faktoren bei der Normtextbehandlung eine Rolle spielen und in welcher Weise sie dies tun. Hierbei feiern alte und neue Institutionentheorien seit geraumer Zeit fröhliche Urständ. Die vorliegende Untersuchung unternimmt den Versuch, eine ganz bestimmte Institutionentheorie des Rechts, nämlich diejenige des Grazer Rechtstheoretikers und Philosophen Ota Weinberger, die in den letzten Jahrzehnten in einer Vielzahl weit verstreuter Aufsätze und Monographien vorgetragen wurde, zu rekonstruieren, um die einzelnen Teile ins Mosaik zu rücken und sie sodann kritisch zu durchleuchten. Bekanntlich ist Weinbergers Institutionentheorie des Rechts gekennzeichnet dadurch, daß sie (i) in der Tradition des Normativismus der Wiener bzw. Brünner rechtstheoretischen Schulen von Hans Kelsen und Frantisek Weyr steht und deren Lehren auf eigenständige Weise auszuweiten und zu integrieren sucht sowie (ii) durch den für diese Schulrichtung der modernen Rechtstheorie charakteristischen Gesetzes- und Rechtspositivismus. Genau hier setzt die Kritik der vorliegenden Untersuchung an. Diese verfolgt das Ziel, (i) einen eigenen, nicht bloß normativistischen, rechtstheoretischen Standpunkt einzunehmen und dabei (ii) ein Fundament fur eine Überwindung des Rechtspositivismus zu erarbeiten. Daß letzterer - zumindest latent - noch immer das deutsche Rechtsdenken bestimmt, ist heute ganz überwiegend wohl keine Frage mehr, sondern im wesentlichen unbestritten. Die weitere Frage, was an seine Stelle zu treten hätte, steht freilich auf einem ganz anderen Blatt. Durch diese Vorgaben bedingt, untergliedert sich die Untersuchung in drei Abschnitte: Im ersten Abschnitt werden normen-, staats- und gesellschaftstheoretische Grundlagen fur die Gewinnung eines eigenständigen Standpunkts erarbeitet. Dabei wird zunächst die überkommene Dichotomie von Sein und Sollen zurückgewiesen, die - wenn auch in eine syntaktisch-semantische Kategorial-
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Vorwort
Unterscheidung umgebaut - für die Rechtstheorie Ota Weinbergers von zentraler Bedeutung bleibt: Für eine rechtsrealistische Betrachtungsweise ist eine solche, vermeintlich abschließende Dichotomie von Sein und Sollen schon deshalb inadäquat, weil sie den praktischen Erzeugungszusammenhang, unter dem in der modernen Gesellschaft die Produktion und Reproduktion von Recht abläuft, ausblendet und zu einer unzulänglichen Spaltung der Rechtswelt führt. Demgegenüber wird daran festgehalten, daß das Recht der modernen Gesellschaft in empirisch beobachtbaren sozialen Aktivitäten produziert und reproduziert wird. Hieraus ergibt sich die Frage, ob es sich bei derartigen Aktivitäten stets um sogenannte Staatsakte handelt, die eine Suche nach einem realistischen Staatsbegriff einleitet und in den Bereich der von Max Weber geprägten, modernen Organisationstheorie fuhrt. Um die soziale Umwelt der Organisationen des Staates zu erfassen, geht die Untersuchung zum Ausklang dieses Abschnitts zur Freilegung der Grundlagen einer evolutionstheoretisch fundierten Theorie des Rechts der Gesellschaft im Werk Theodor Geigers über. Nachdem so auch ein gewandelter Begriff der Rechtsgeltung erarbeitet worden ist, widmet sich der zweite Abschnitt der Untersuchung der Eigenart und den Strukturelementen der sozialen Institutionen, insbesondere derjenigen von Rechtsordnung und Recht bis hin zum institutionell vorgeformten Rechtshandeln. Hier wird zunächst evaluiert, auf welche Art und Weise die sprachanalytisch geprägte Institutionentheorie Weinbergers diesen Gegenstandsbereich abhandelt. Dabei zeigt sich, daß der Weinbergersche Umbau der Sein-SollensDichotomie in eine syntaktisch-semantische Kategorialunterscheidung an Prämissen aufgehängt ist, die dem logischen Positivismus entlehnt sind. Die folgenden Darstellungen dienen der Aufdeckung der Schwierigkeiten, in welche die Weinbergersche Rechtstheorie durch diese Vorgehensweise auf Ebene der Selbstreflexion ihrer Sprachverwendung bis hin zu einer sinnverstehenden (hermeneutischen) Theorie des Rechts gerät. Ihnen folgt eine Auseinandersetzung mit der formalistischen Handlungstheorie Weinbergers, die - bei aller sprachanalytischen Grundlegung - erhebliche subjektphilosophische Erblasten in sich trägt. Die Untersuchung schlägt dieses Erbe durch die Umstellung auf eine Theorie sozialer Kommunikation im Sinne der modernen Systemtheorie Niklas Luhmanns aus. Dies bedingt die Reformulierung einer intentionalen Handlungslehre, die den Begriff der Person zu ihrem Zentralbegriff erhebt. Damit eröffnet sich die Möglichkeit zu einer Ablösung der normativistischen Institutionentheorie Weinbergers durch einen realistischen Ansatz, der sich am Werk Helmut Schelskys orientiert. Hier wird nachgewiesen, daß mit einer solchen Institutionentheorie des Rechts der Übergang zu einer „nachpositivistischen" Sichtweise erreicht ist, und - gegen „konservative" Tendenzen im überkommenen Institutionalismus - auch und gerade der temporale Charakter der normativen Strukturbildung in allen sozialen Institutionen hervorgehoben. Den Abschluß des zweiten Abschnitts bilden die notwendigen Folgerungen, die sich
Vorwort für ein realistisches Verständnis von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft im Hinblick auf die institutionell-organisatorische Rationalität des Rechts ergeben. Die kritische Auseinandersetzung mit der Normen- und Institutionentheorie Weinbergers wirft die Frage auf, ob es jenseits des tradierten Gesetzes- und Rechtspositivismus eine nicht mehr positivistische Normen- und Handlungstheorie gibt, die unser praktisches Erleben und Handeln sowie die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem geltenden Recht anzuleiten vermag. Der Erörterung dieser bis auf den heutigen Tag ungelösten Problematik dient der dritte und letzte Abschnitt der Untersuchung. Da auch die Vorläufertheorie des Rechtspositivismus, das sogen. Natur- und Vernunftsrechtsdenken, noch nicht gänzlich überwunden ist und im zeitgenössischen Rechtsdenken immer wieder Verwirrung stiftet, stellt sich die Frage, wie jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus über die Positivität des Rechts geforscht werden kann. In der Konsequenz richten sich die folgenden Darlegungen auf den für das Werk Kelsens typischen volitiven Setzungspositivismus, der ebenso zurückgewiesen wird wie das Weinbergersche Nachfolgeprogramm eines kognitiven Logizismus. Demgegenüber wird die Positivität des Rechts durchgängig im Sinne systemischer Selbstreferenz verstanden. Zugleich wird die Autonomie des Rechtssystems in einer systemischen Eigen\og\k ausgewiesen, die sich in der wechselseitigen Konditionierung der rechtlichen Kommunikationen manifestiert. Damit wird es möglich, kritisch-emanzipatorischen Überlegungen einer reflexiven Jurisprudenz im Sinne von Habermas, Teubner u. a. entgegenzutreten. Diesen wird entgegengehalten, daß sich fur ihre Leitbedingung einer universellen und gesellschaftsweiten Ratio unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft kein Standort mehr ausfindig machen läßt. Gesellschaftliche Rationalität erweist sich unter den Bedingungen der Moderne als partikularisiert; sie verteilt sich über die gesellschaftlichen Funktionssysteme, die jeweils als Vollzieher spezifischer Eigenrationalitäten anzusehen sind. Da sich dieser Prozeß der Systemdifferenzierung innerhalb der Funktionssysteme wiederholt, ist es möglich, die spezifischen Rationalitätsbedingungen der staatlichen Entscheidungspraxis von anderen Teilsystemrationalitäten innerhalb des Rechtssystems der modernen Gesellschaft zu unterscheiden. Zugleich können dem überkommenen Rechts- und Gesetzespositivismus Grenzen gezogen werden: So besteht das Recht der modernen Gesellschaft aus einem Netzwerk unterschiedlicher Sozialsysteme, die jeweils nicht isoliert tätig werden, sondern durch mehr oder weniger festgelegte Kommunikationspraktiken miteinander verbunden sind. Hierzu gehören etwa Gesetzgebungs- und Verwaltungsinstanzen, Gerichte, Beschwerdeführer, Interessengemeinschaften, Verbände und Vereine sowie eine Vielzahl von Interaktionssystemen bzw. nicht organisierten Institutionen. Da sich hierbei keine Vorherrschaft eines Teilsystems über die anderen rechtlichen Teilsysteme feststellen läßt, bleibt ein etatistischer Rechtspositivismus abschließend endgültig in seine Schranken zu verweisen.
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Vorwort
Die Untersuchung wurde im Wintersemester 1998/99 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen. Zu großem Dank verpflichtet bin ich meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. Dr. h. c. mult. Werner Krawietz, der den Prozeß der Entstehung der Arbeit durch eine Vielzahl von Hinweisen und Hilfestellungen mustergültig gefördert hat. Danken möchte ich auch dafür, daß ich durch die Teilnahme an dem von Professor Krawietz geleiteten Doktorandenseminar die Möglichkeit hatte, diverse Probleme vorzutragen und zu diskutieren. Mein besonderer Dank gilt ferner Herrn Professor Dr. Dr. Ota Weinberger selbst, der mir während eines Forschungsaufenthalts in Münster unmittelbar zu Beginn meiner Untersuchungen in langen Gesprächen Gelegenheit gab, mich mit seinem Rechtsdenken vertraut zu machen. Für eine Reihe von Anregungen danke ich Herrn Professor Dr. Hans Lenk, Karlsruhe, Herrn Professor Dr. Robert S. Summers, Cornell University, Ithaca, sowie Herrn Professor Roberto J. Vernengo, Buenos Aires. Darüber hinaus gebührt mein Dank dem Institut für Begabtenförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., das die Entstehung der Untersuchung durch ein mehrjähriges Graduiertenstipendium unterstützt hat. Herrn Dr. Michael Müller spreche ich in diesem Zusammenhang für vielfältige Anregungen, die ich in den von ihm geleiteten Seminaren des Instituts erfahren habe, meinen besonderen Dank aus; entsprechendes gilt auch für meine Mitangehörigen des aus diesen Seminaren hervorgegangenen Wildunger Kreises e. V. Herrn Professor Dr. jur. h. c. Norbert Simon, dem Geschäftsführenden Gesellschafter des Verlags Duncker & Humblot, danke ich dafür, daß er meine Untersuchung durch die Aufnahme in die Schriftenreihe zur Rechtstheorie großzügig gefördert hat. Schließlich, aber gewiß nicht zuletzt, möchte ich Yvonne Schütze ganz herzlich für ihre tatkräftige Unterstützung und auch dafür danken, daß sie großmütig die Stimmungswechsel ausgehalten hat, denen ich während der Entstehung der Untersuchung ausgesetzt war. Ebenso herzlich bedanke ich mich bei meinen Eltern, die mir das Studium der Rechtswissenschaften ermöglicht und auch die Entstehung dieser Untersuchung durch eine Vielzahl von Unterstützungen verschiedenster Art gefördert haben. Ihnen widme ich dieses Buch. Berlin, im Herbst 1999
Rainer Schröder
Inhaltsverzeichnis
Erster Abschnitt Soziale Evolution des Rechts § 1 Identifikation der Rechtsnorm 1. Normsatz und Norm
15 15
a) Subsumtion als Modell juristischer Argumentation
15
b) Neuer Institutionalismus - diesseits oder jenseits von Sollen und Sein?.
17
2. Imperativische Struktur von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit
21
a) Aktabhängigkeit der Rechtsnorm
25
b) Programmierendes Entscheiden und programmiertes Entscheiden
26
3. Norm und Sanktion
28
a) Begriff normativer Erwartung
28
b) Temporaler Bezug normativen Erwartens
30
§ 2 Grundzüge einer Theorie des modernen Staates bei Karl Olivecrona, Rudolf von Ihering und Max Weber
33
1. Ablösung des rechtspositivistischen Begriffs der Rechtsregei
33
a) Recht als normatives soziales Faktum
34
b) Recht ohne Staat
35
2. Staat als bürokratische Organisation
38
a) Bürokratie und Herrschaft
39
b) Rechtssatz, Rechtsnorm, Rechtsregel
47
§ 3 Rekonstruktion und Reformulierung einer funktionalistischen Theorie des Rechts bei Theodor Geiger
50
1. Soziale Ordnung
50
2. Rechtsordnung als normative Struktur von Gesellschaft
54
a) Dynamik und Statik von Gesellschaft
54
12
Inhaltsverzeichnis b) Strukturelle Rahmenbedingungen der Evolution des Rechts 3. Geltung, Verbindlichkeit und Wirksamkeit des Rechts
56 59
a) Staatsorganisation und gesellschaftliche Machtstruktur
61
b) Geltung, Verbindlichkeit und Wirksamkeit der Rechtsordnung
62
c) Geltung, Verbindlichkeit und Wirksamkeit der Rechtsnorm
66
Zweiter Abschnitt Soziale Institutionen in sprachanalytischer oder rechtsrealistischer Perspektive? § 4 Begriff der Institution bei Ota Weinberger 1. Ablösung eines normativistischen Systembegriffs
69 69
a) „Idealentität" und institutionelles Faktum
70
b) Selbstreflexionen der Weinbergerschen Rechtstheorie
74
c) Analytischer Logizismus oder Sinnverstehende Theorie des Rechts? ....
77
2. Reduktionismus der normativistischen Handlungstheorie
80
a) Subjektphilosophische Anleihen der Weinbergerschen Normentheorie .
80
b) Reformulierung einer intentionalistischen Handlungstheorie
82
3. Normativismus und Real Institutionen
86
a) Kritik einer Dichotomisierung des Institutionsbegriffs
87
b) Sinnhaftigkeit des institutionellen „Sachsubstrats"
88
c) Spontane Institutionsbildungen
90
§ 5 Objektivierter Sinn und Rechtshandeln in der nachpositivistischen Institutionentheorie von Helmut Schelsky
91
1. Genese und Geltungsgrundlagen sozialer Institutionen
91
a) Juristische Institutionentheorien
92
b) Institution und Organisation
95
2. Soziale Institutionen in ereignis- und strukturtheoretischer Perspektive a) Temporal strukturen institutionellen Handelns
97 98
b) Struktur und Ereignis
100
c) Stabilität und sozialer Wandel in den Institutionen
101
3. Juridische Rationalität als institutionell-organisatorische Rationalität
106
Inhaltsverzeichnis
13
a) Rationalität eines universellen Diskurses?
106
b) Rationalität der Rechtspraxis und Rationalität der dogmatischen Rechtswissenschaft
108
Dritter Abschnitt Jenseits von Naturrecht und Rechtspositivismus § 6 Positivität als Selbstreferenz des Rechts der modernen Gesellschaft
111
1. Selbstproduktion des Rechtssystems
111
a) Volitiver Setzungspositivismus
112
b) Kognitiver Logizismus
114
c) Basale Selbstreferenz
115
2. Systemische Reflexivität des Rechts oder reflexives Recht?
118
a) Autonomie und normativ strukturelle Kopplungen
118
b) Reflexives Recht?
123
3. Rationalität staatlich organisierter Rechtssysteme
125
a) Der Begriff der Systemrationalität in der älteren Systemtheorie
125
b) Neuere Konturen des Begriffs der Systemrationalität
126
§ 7 Grenzen des Rechtspositivismus
129
1. Identität von Staat und Recht?
129
a) Normative Identität von Staat und Recht?
129
b) Funktionale Identität von Staat und Recht?
131
c) Partikularistisches Recht d) Gerichte als Zentrum des Rechtssystems? 2. Rückblick und Ausblick
:
135 139 140
Schrifttumsverzeichnis
146
Sachregister
160
Erster Abschnitt
Soziale Evolution des Rechts § 1 Identifikation der Rechtsnorm 1. Normsatz und Norm Das Phänomen der Rechtsnorm wird in den Bereichen der Rechtspraxis und der dogmatischen Rechtswissenschaft üblicherweise mit den Vorschriften staatlicher Gesetzestexte gleichgesetzt. Damit ist die Vorstellung verbunden, daß sich die genannten Bereiche bei ihren Bemühungen um eine Identifikation der Rechtsnormen allein mit Normsätzen auseinanderzusetzen haben, in denen das Recht des Einzelfalls als Fertigprodukt griffbereit „at hand" liegt, oder zumindest: aus denen es vermittels gesicherter juristischer Interpretationsmethodik zu extrahieren ist.
a) Subsumtion als Modell juristischer
Argumentation
Ganz in diesem Sinne geht zumindest die Strafrechtswissenschaft vor dem Hintergrund des Grundsatzes „nullum crimen sine lege scripta" wohl zentral von der Vorstellung aus, daß man in der strafrechtlichen Einzelfallentscheidung ein „Musterbeispiel ... nackter Gesetzesanwendung" habe.1 Der rechtsprechende Strafrichter orientiert danach seine ganze Tätigkeit an den durch gesetzgeberische Akte in die Welt gesetzten Rechtssätzen; er kann „nur eine solche Entscheidung verantworten ..., die er aus dem Gesetz begründen und d.h. ableiten kann". 2 Nach dieser Vorstellung schält der Strafrichter bei der Urteilsfindung gedankliche Sollenselemente aus den generell gefaßten gesetzlichen Vorschriften heraus und gelangt so zu einer individuellen Regelung, welche die Rechtsfolge für den konkreten Fall zum Ausdruck bringt. Dieser Prozeß stellt im wesentlichen ein begriffliches Deduzieren, eine strenge logische Ableitung, dar: „Einem Forderungssatz läßt sich ein Aussagesatz subsumieren
1 Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/ Mainz 1983, S. 45. 2 Ebd., S. 49.
16
1. Abschnitt: Soziale Evolution des Rechts
und dadurch wieder ein Forderungssatz gewinnen."3 Das damit zum Ausdruck gebrachte Schema der Rechtsgewinnung im Einzelfall läßt sich durch folgendes Beispiel illustrieren: Jeder Mörder soll mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden (Obersatz); X ist ein Mörder (Untersatz); also soll X mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden (Schlußsatz). Es ist hier nicht der Ort, das soeben dargestellte Modell eines juristischen Syllogismus durch die Aufzählung seiner immanenten Problematiken zu kritisieren. 4 Statt dessen bietet es sich an, darauf einzugehen, daß die hier vorausgesetzte Identität von Gesetzestext und Recht schon durch die - gewöhnlich eher zivilrechtlich orientierten - Vertreter einer „dialektischen Hermeneutik" heftigen Widerspruch erfahren hat.5 Während die Konstitution von Sachverhalten durch die Erhebung rechtsrelevanter Tatsachen im Modell des Syllogismus allein bei der Begründung von Untersätzen eine Rolle spielt, ohne die Implikation der logisch-deduktiven Art und Weise der Einzelfallentscheidung zu durchbrechen, wird sie von den Vertretern dieser Lehre zu eben diesem Zwecke genutzt. Die Produktion einer konkreten Rechtsentscheidung stellt sich demzufolge als ein gleichermaßen deduktiver wie induktiver Prozeß dar: Zwischen Gesetzestexten und Sachverhalten besteht insofern eine ständige Wechselwirkung, als der rechtsprechende Jurist zur Gewinnung der konkreten Entscheidung seinen Blick beständig zwischen Rechtstext und Sachverhalt „hin und her wandern" lassen muß.6 Darüber hinaus sieht man hier auch den Text gesetzlicher Normsätze mit Grund als in der Regel so stark abstrahiert an, daß er keinesfalls von Anfang an und für alle Zeiten feststehend bestimmen kann, welche zukünftigen Informationen die im Text vorgesehene Rechtsfolge auslösen sollen. Da in der Rechtswirklichkeit niemals zwei völlig identische Sachverhalte auftreten, sehen sich die Einzelfallentscheider stets vor die Frage gestellt, ob eine immer vorliegende Abweichung des von ihnen zu begutachtenden Sachverhalts von den schon vermittels des gesetzlichen Entscheidungsprogramms gelösten Sachverhalten unerheblich ist oder dessen Nichtanwendung zur Folge haben muß. Auf diese Weise entsteht eine reiche Kasuistik, die sich um die entsprechenden Rechtstexte rankt und die Bestimmung des normativen Entscheidungsprogramms
3
Ebd., S. 48. Vgl. insoweit ebd., S. 63 ff. 5 Hierzu und zum folgenden siehe Karl Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6., neu bearbeitete Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 1991, S. 204-214. A u f den philosophischen Hintergrund der dialektischen Hermeneutik, den Larenz, ebd., S. 458 f., in der Hegeischen Lehre von konkreten oder konkret-allgemeinen Begriffen benennt, kann hier nicht weiter eingegangen werden. 6 Dieses von Karl Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3., ergänzte Aufl., Heidelberg 1963, S. 15, stammende Bild wird von Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Fn. 5), S. 207, übernommen. 4
§ 1 Identifikation der Rechtsnorm
17
immer weiter fortführt. 7 Die Produktion konkreter Rechtsentscheidungen erscheint damit als ein Prozeß, an dessen Anfang der nur scheinbar eindeutige und leicht anzuwendende Gesetzestext steht. Dieser Text erfährt aber erst in der Anwendung seine Konkretisierung, und am Ende dieser Anwendung (sofern ein solches Ende überhaupt einmal eintritt) steht ein um ihn herum entstandenes „Netzwerk von Auslegungen, Einschränkungen und Ergänzungen, das seine Anwendung im einzelnen reguliert und seinen Inhalt, so wie er nunmehr als maßgeblich angesehen wird, weitgehend, in extremen Fällen fast bis zur Unkenntlichkeit, verändert hat". So bedingen sich Anwendung und Auslegung gegenseitig, „die zum Zwecke der Anwendung vorgenommene Auslegung der Norm setzt, bei fortgeschrittenem Prozeß, nicht bei der Norm, so wie sie ,da steht4, an, sondern nimmt die bisherigen Auslegungen mit in den Blick".
b) Neuer Institutionalismus
- diesseits oder jenseits von Sollen und Sein?
Bei aller Kritik an dem geläufigen Subsumtionsmodell dogmatischer Rechtswissenschaft setzt damit im Ergebnis auch seine dialektisch-hermeneutische Variante zunächst eine Trennung von Recht und Lebenssachverhalt voraus, die sie erst bei der konkreten Rechtsentscheidung im Einzelfall überwinden will. Beide Modelle reihen sich damit in eine Tradition ein, welche die beiden Aktionsbereiche erst bei dieser Entscheidung aufeinander bezieht, durch die das gesetzgeberische Normprogramm in eine individuelle Perspektive verlängert wird. Der Grundlage nach setzt die hier aufbrechende Vorstellung voraus, daß der Bereich des Rechts, als allein mit normativer Dignität ausgestattet, dem Bereich der Sachverhalte, die als bloß seiend angesehen werden, gegenüberzustellen ist. Im Ergebnis eng mit dieser Vorstellung verwandt ist nun das Modell einer echten Dichotomie zwischen Normativität und Faktizität, das im Bereich aktueller rechtstheoretischer Ansätze in prominenter Weise von Ota Weinberger vertreten wird. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier sogleich notiert, daß sich eine derartige Dichotomisierung gegenüber den voranstehend präsentierten Modellen auf wiederum anderphilosophische Positionen beruft, deren Herkunft Weinberger im Hinblick auf Hume, Kant oder Poincaré benennt.8 Ohne daß hier auf derartige Positionen näher eingegangen werden kann, muß doch auffallen, daß diese strikte Trennung offensichtlich in der Tradition der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens steht, welche der Rechtstheorie über die Einführung einer methodologischen Kategorialdifferenz von Sollen und Sein
7
Hierzu und zum folgenden siehe Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (Fn. 5), S.211 ff. 8 Ota Weinberger, Institutionentheorie und Institutionalistischer Rechtspositivismus, in: ders., Recht, Institution und Rechtspolitik. Grundprobleme der Rechtstheorie und Sozialphilosophie, Stuttgart 1987, S. 143-181, 175. 2 Schrödcr
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1. Abschnitt: Soziale Evolution des Rechts
eine strikte Unterscheidung zwischen dem von Rechts wegen gesollten und dem tatsächlich seienden Verhalten aufnötigen wollte, 9 um sie so auf den Irrweg einer Spaltung der Rechtswelt in eine Sollens- und eine Seinsordnung zu fuhren. 10 Wir grenzen den sich hier auftuenden Abgrund zunächst aus und verweisen darauf, daß Weinberger den Anspruch eines radikalen Verzichts auf derartige Implikationen erhebt. So legt er der Rechtstheorie in einer linguistischen Wende nahe, die Dichotomie von Sollen und Sein als kategoriale semantische Unterscheidung anzusehen, welche ausschließlich auf zwei „disjunktive Bedeutungsbereiche" verweise, 11 und so will er es auf diesem Wege ferner durchgängig vermeiden, das Recht als eine „Sonderwelt" oder ein „Reich" des Sollens zu betrachten. 12 Ob Weinberger diesen Anspruch erfüllen kann, wird im Fortgang der vorliegenden Untersuchung noch eingehend zu überprüfen sein. Zunächst stellt sich die Frage, ob sich hinter dem Umbau der Sein-SollensDichotomie in eine semantische Kategorialunterscheidung nicht andere, nicht minder wesentliche Problembelastungen des Kelsenschen Theoriekonzepts wiederholen. Eine solche Fragestellung erscheint um so angebrachter, als Weinberger in seinen rechtstheoretischen Ausführungen in voller Übereinstimmung mit dem überkommenen Rechtspositivismus Kelsens nach wie vor von der Auffassung ausgeht, der Staat sei als „Willensträger des rechtlichen Sollens" 13 zu betrachten. Ohne daß schon bei dieser Gelegenheit zur Kritik einer derart anthropomorphisierenden Metaphorik 14 überzugehen wäre, ist zunächst auf die damit verbun9 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl., Wien 1960, S. 1 ff. 10 Siehe hierzu Georges Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts. Vom Verfasser autorisierte deutsche Ausgabe mit einer internationalen Bibliographie zur Rechtssoziologie von Paul Trappe, Neuwied 1960, S. 15; Werner Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis. Eine Untersuchung zum Verhältnis von dogmatischer Rechtswissenschaft und rechtswissenschaftlicher Grundlagenforschung, Wien/New York 1978, S. 233 ff.; Petra Werner, Die Normentheorie Helmut Schelskys als Form eines Neuen Institutionalismus, Berlin 1995, S. 17. 11 Ota Weinberger, Grundprobleme des Institutionalistischen Rechtspositivismus und der Gerechtigkeitstheorie, in: Peter Koller/Werner Krawietz/Peter Strasser (Hrsg.), Institution und Recht. Grazer Internationales Symposion zu Ehren von Ota Weinberger, Berlin 1994 (RECHTSTHEORIE Beiheft 14), S. 173-284, 231. Vgl. in diesem Zusammenhang auch ders., Norm und Institution. Eine Einführung in die Theorie des Rechts, Wien 1988, S. 49, 54. Zum philosophiegeschichtlichen Hintergrund siehe Ludwig Wittgenstein,, Tractatus logico-philosophicus, hier zitiert nach der Werkausgabe in 8 Bänden, Band 1, Frankfurt a.M. 1984. 12 Weinberger, Grundprobleme des Institutionalistischen Rechtspositivismus und der Gerechtigkeitstheorie (Fn. 11), S. 229 ff. 13 Ders., Norm und Institution (Fn. 11), S. 34, 39. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen Kelsens, in: Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (Fn. 9), S. 143, 307, 336 et passim. 14 Zur Kritik eines solchen Staatsmodelles siehe unten § 4 2. b) und § 4 3.
§ 1 Identifikation der Rechtsnorm
19
dene Grundannahme, alles Recht stelle die Summe staatlicher „Anordnungen" dar, 15 einzugehen. Ganz im Fahrwasser des klassischen Rechtspositivismus verbleibend, und in diesem Punkt wohl noch strenger als Kelsen, sieht Weinberger hier die Legislative als Schöpfer und Urheber allen Rechts an.16 Führt man diesen Gedankengang konsequent weiter, so ist man gehalten anzunehmen, daß bei einer solchen Betrachtungsweise jegliche Rechtsentwicklung eigentlich nur durch eine Veränderung von Gesetzestexten vor sich gehen kann. In eben diese Richtung weist ferner der Umstand, daß sich Weinberger nach wie vor zentral zum Normativismus bekennt, für den üblicherweise alles Recht in einem System von Normsätzen besteht.17 Er kommt daher nicht umhin, den Tatbestandsmerkmalen von Gesetzen einen genuin normativen Gehalt zuzuweisen, den er in einem sprachlich-gedanklichen Hintergrund markiert, 18 gegenüber welchem die durch die Feststellung relevanter Tatsachen konstituierten Sachverhalte eine Art amorphe Tatsachensammlung für Juristen darstellen müssen. Auch wenn Weinberger - seinem Programm einer analytischen Hermeneutik folgend - bei der Ausarbeitung einer normativen Argumentationstheorie gewisse Konzessionen an ein topisches oder juristisch-rhetorisches Argumentieren macht 19 und er den Normbegriff zusätzlich durch in der Tradition teleologischer Handlungslehren stehende Überlegungen fundiert, 20 bleibt dieser so zentral durch die strikte Abgrenzung zu demjenigen des profanen Seins konturiert. Gleichwohl sieht Weinberger die Rechtsordnung nicht als geschlossenes, sondern als offenes System an, letzteres hier verstanden als System von Normsätzen.21 Das provoziert die Frage, wie von ihm die Erzeugung individueller Rechtsnormen vor der verbliebenen Folie einer dichotomen Semantik gedacht wird. Hier weist Weinberger der Rechtsprechung die Aufgabe zu, durch die Schaffung akzeptierter Deutungen normativer Tatbestandsmerkmale die unab15
Weinberger, Norm und Institution (Fn. 11), S. 34, 39. Ebd., S. 40; vgl. insoweit auch John Austin, Rechtsnormen als Befehle des politischen Machthabers, zusammengestellt und übersetzt von Norbert Hoerster, in: Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie, 3. Aufl., Stuttgart 1990, S. 1519, passim. 17 Weinberger, Institutionentheorie und Institutionalistischer Rechtspositivismus (Fn. 8), S. 145, 155. 18 Ders., Norm und Institution (Fn. 11), S. 187; dersGrundprobleme des Institutionalistischen Rechtspositivismus und der Gerechtigkeitstheorie (Fn. 11), S. 231 f. 19 Ders., Norm und Institution (Fn. 11), S. 202-208. Hier zeigen sich interessante Parallelen zu dem Ansatz von Aulis Aarnio, The Rationable as Reasonable. A Treatise on Legal Justification, Dordrecht 1987, der im Rahmen seiner Version einer analytischen Hermeneutik in Grenzen gleichfalls für ein rhetorisches oder topisches Argumentieren im Sinne Perelmans plädiert. 20 Weinberger, Norm und Institution (Fn. 11), S. 21 f.; dersEin teleologisches Modell der Lehre von der goldenen Mitte, in: ders., Moral und Vernunft. Beiträge zur Ethik, Gerechtigkeitstheorie und Normenlogik, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 40-53, 47. 21 Ders., Norm und Institution (Fn. 11), S. 194. 16
2'
1. Abschnitt: Soziale Evolution des Rechts
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wendbare Offenheit von Rechtsvorschriften zu beseitigen und auf diesem Wege zur „Weiterentwicklung des Rechts" beizutragen. 22 Scheint er sich auf diese Weise zunächst mit Grund von der - erfahrungsgemäß gänzlich unzutreffenden - These einer Totalabhängigkeit der „nachgeordneten" Entscheidungsinstanzen von der Gesetzgebung abzuwenden,23 so fällt Weinberger dann jedoch sehr schnell in die Annahme zurück, daß das Gesetzesrecht die „Aufgabe" habe, die „Judikatur zu bestimmen", weshalb diese „nach dem geltenden Recht zu entscheiden" habe, nicht aber ihrerseits als „Kriterium" dafür anzusehen sei, was rechtens gelte. 24 Er gelangt so zu dem Schluß, daß die rechtsprechende Tätigkeit der Judikative und Exekutive Staatsakte darstelle, die in der „Anwendung des Rechts ... auf konkrete Rechtsfälle" bestünden.25 Aus den Augen einer nachpositivistischen Theorie des Rechts bietet es sich an, diese Einschätzung mitsamt der dazugehörigen Behauptung Weinbergers, daß in diesem Zusammenhang dem „normativen Subsumtionsschluß" exklusive Bedeutsamkeit zuzusprechen sei,26 zunächst mit der Feststellung anzuschneiden, daß ihr, behutsam formuliert, ein viel zu starres, kristallines Bild von Sprache zugrunde liegt. 27 Zugleich wird damit gegen Weinberger bestritten, daß dem Phänomen der Rechtsnorm Unabhängigkeit von den es produzierenden und reproduzierenden Aktivitäten zukommt. 28 Gegen eine solche Betrachtungs22
Ebd., S. 191 f., 200 f. Siehe hierzu Helmut Schelsky, Die juridische Rationalität, in: ders., Die Soziologen und das Recht. Abhandlungen und Vorträge zur Soziologie von Recht, Institution und Planung, Opladen 1980, S. 34-76, 48; Theodor Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, 4. Aufl., durchgesehen und hrsg. von Manfred Rehbinder, Berlin 1987, S. 202-221, 226 ff. et passim; Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3., gegenüber der 2. unveränderte Aufl., Darmstadt/Neuwied 1978, S. 116, 127, 141 ff. et passim. 24 Ota Weinberger , Ontologie, Hermeneutik und der Begriff des geltenden Rechts, in: ders., Recht, Institution und Rechtspolitik (Fn. 8), S. 109-128, 125. 25 Ders., Norm und Institution (Fn. 11 ), S. 107 (Hervorhebung im Original). 26 Ebd., S. 37 ff.; ders., Rechtslogik, 2., umgearbeitete und verbesserte Aufl., Berlin 1989, S. 262. 27 Auch für das hier vertretene Sprach Verständnis wird - freilich unter Verweis auf die „pragmatische Wende" seiner Spätphilosophie - Wittgenstein zitiert. Siehe hierzu Werner Krawietz, What Does It Mean "To Follow an Institutionalized Legal Rule"? On Rereading Wittgenstein and Max Weber, in: Eugene E. Dais/Stig Jorgensen/Alice ErhSoon Tay (Hrsg.), Konstitutionalismus versus Legalismus? Geltungsgrundlagen des Rechts im demokratischen Verfassungsstaat, Stuttgart 1991 (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 40), S. 7-14; Manfred Frank, Wittgensteins Gang in die Dichtung, in: ders./Gianfranco Soldati, Wittgenstein als Literat und Philosoph, Pfullingen 1989, S. 9-72, 24 ff. Im Ergebnis ähnlich Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, 5. Aufl., Wiesbaden 1986, S. 10, sowie Niklas Luhmann, Die Funktion des Rechts: Erwartungssicherung oder Verhaltenssteuerung? In: ders., Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a.M. 1981, S. 73-91, 75. 23
28 Ota Weinberger, Die Norm als Gedanke und Realität, in: ders./Donald Neil MacCormick, Grundlagen des Institutionalistischen Rechtspositivismus, Berlin 1985, S. 60-75, 68.
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weise ist vielmehr vorzubringen, daß die in den Rechtsvorschriften verwendeten Worte und Begriffe, die mit den Normsetzungsakten des Gesetzgebers auf Dauer gestellt und mit formeller Rechtsgeltung ausgestattet worden sind, wiederum in ihrer normativen Bedeutung und in ihrem rechtlichen Sinne nur zureichend verstanden werden können, wenn man sie nicht rein positivistisch, sondern rechtsrealistisch betrachtet. 29 Diese Erwägungen bedürfen im folgenden weiterer Ausführung.
2. Imperativische Struktur von Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit Eine realistische Analyse des Zustands, in dem sich das soziale Phänomen Recht einem wissenschaftlichen Beobachter darstellt, wird schnell erkennen, daß unter den Bedingungen der Moderne jeder Einzelne unter der Voraussetzung des Bestehens einer wirksamen Rechtsordnung geboren und von dieser Voraussetzung durch sein Leben begleitet wird. Aus dieser einfachen Tatsache ergeben sich gewichtige Folgen, die vom Rechtspositivismus nach wie vor ausgeblendet werden. 30 Um zu diesen Folgen vorzudringen, bietet es sich an, zunächst einen kurzen Blick auf die Aktivitäten zu werfen, in denen sich in den Systemen parlamentarischer Demokratie der Gesetzgebungsprozeß vollzieht. Dazu ist auf verschiedene Schritte abzustellen, die der Proklamation eines konkreten Gesetzes zeitlich vorangehen: Ganz am Anfang des Gesetzgebungsprozesses steht die Beobachtung eines Geschehensablaufs, der als regulierungsbedürftig empfunden wird, aber mit dem verfügbaren rechtlichen Regelwerk nicht bewältigt werden kann. In der Folge werden Strategien zur Lösung dieses Problems ausgearbeitet und in die Form von Gesetzesentwürfen gebracht. Die konkreten Aktivitäten, in denen dies geschieht, setzen jedoch niemals bei einem echten rechtlichen Vakuum an, sondern nehmen regelmäßig ihren Anfang bei alten Vorläufern neuen Rechts. Selbst die neuartigste Gesetzesmaterie oder die radikale Abwendung vom bisherigen Zustand geltenden Rechts stehen unter der Bedingung des Vorhandenseins einer Vielzahl rechtlicher Vorschriften, in die sie sorgfaltig einzupassen sind. Auf den Punkt gebracht heißt dies, daß auch im Bereich des Gesetzesrechts gänzlich originäre Neuschöpfungen kaum auffindbar sein dürften; das Recht ist hier immer schon formuliert und
29
Hierzu und zum folgenden siehe Werner Krawietz, Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsanwendung. Strukturprobleme im Theoriedesign einer möglichen Rechtsprechungslehre, in: Norbert Achterberg (Hrsg.), Rechtsprechungslehre, Köln/Berlin/Bonn/München 1986, S. 517-550, 526 ff. 30 Eine umfassende Darstellung der verschiedenen rechtspositivistischen Lehren bietet: Walter Ott, Der Rechtspositivismus. Kritische Würdigung auf der Grundlage eines juristischen Positivismus, Berlin 1976.
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1. Abschnitt: Soziale Evolution des Rechts
kann infolgedessen stets nur geändert werden. 31 Mit dieser Einsicht, die zugleich das Erfordernis der Rücksichtnahme auf die vorhandene Rechtsmaterie in den Blickwinkel rückt und so die Vorstellung, daß auf der Ebene der Gesetzesproduktion beliebig entschieden werden könne, als illusorisch decouvriert, liegt es zugleich auf der Hand, daß sich der Prozeß der Gesetzgebung, realistisch betrachtet, auch intern niemals als Ausdruck eines solitären Willens des jeweiligen Gesetzgebers verstehen läßt. 32 Letzteres gilt um so mehr, wenn man weiter berücksichtigt, daß bei der Produktion von Gesetzen durchaus auch auf außerstaatliche Normprojektionen zurückgegriffen wird, die auf diesem Wege in den neuen Texten Berücksichtigung finden. Daß dies notwendigerweise so ist, ist in der rechtssoziologischen Literatur mittlerweile gesicherter Wissensbestand: So beschreibt René König die soziale Wirklichkeit des Rechts, die den „sozialen »Unterbau4 von Regelungen44 bezielt, „aus denen nach mannigfaltigen Umwegen auch die Rechtsnormen erwachsen, bis sie sich zum Kultursystem des Rechts verdichten 44,33 und Niklas Luhmann notiert: „Das Recht stammt nicht aus der Feder des Gesetzgebers. Er findet eine Fülle normativer Erwartungen - man könnte sagen: Rechtszumutungen - vor und könnte ohne diese Basis kaum Gesetze machen, vor allem nicht ohne die Normativität solcher Zumutungen und ohne ihre Explikation in akzeptierbaren »Werten 4 . 4434 Die Auswertung dieses Wissensbestands ermöglicht es, gegen Weinberger festzuhalten, daß der Prozeß der staatlichen Gesetzesproduktion in enger Verbindung mit einem weiter gefaßten, nicht als Staat ansehbaren, Bezugssystem steht. Dieses System wird im folgenden, vorerst ohne den gewählten Begriff definitorisch einzuengen, als Gesellschaft bezeichnet. Es bleibt nur zu konstatieren, daß die Gesellschaft den Staat als eine Organisationsform seit seinem Entstehen integriert hat und auch heute mitumfaßt. Recht ist demnach primär kein staatliches, sondern ein geschichtliches und ein gesellschaftliches Phänomen. Damit ist bereits angedeutet, daß es auch nicht die weiteren dem Staate zuzuordnenden Gewalten, also Judikative oder Exekutive sind, die als „Schöpfer 44 der rechtlichen Anordnungen anzusehen sind. Zwar erschiene eine solche Vorstellung durchaus kompatibel zu den oben näher dargelegten Einschätzungen einer dialektischen Hermeneutik, die sich im Ergebnis mit der Annahme Weinbergers treffen, daß die Weiterentwicklung des Rechts durch die Rechtspraxis
31 Vgl. Niklas Luhmann, Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? 3. Aufl., Opladen 1990, S. 131 f. 32 DersDas Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 39. 33 René König, Artikel Recht, in: ders. (Hrsg.), Soziologie, Frankfurt a.M. 1958, S. 232-239, S. 235. 34 Niklas Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts (Fn. 27), S. 113-153, 123.
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mitbedingt wird: In dieser Variante des staatlichen Willensdogmas wird mit der Judikative zumindest einer zweiten Staatsgewalt rechtsgestaltende Kraft zugesprochen. Problematisch an einer solchen Auffassung erscheint allerdings, daß auch sie voraussetzt, daß die Veränderung des Rechts auf originären Leistungen des Staates beruht. Es ist insoweit zwar durchaus zutreffend, daß die Ebene der Einzelfallentscheidung, bedingt durch das Auftreten neuer, von einem historischen Gesetzgeber weder vorhergesehener noch fur ihn vorhersehbarer Verhaltensweisen, oft genug in die Situation versetzt wird, darüber zu entscheiden, ob ein konkretes menschliches Verhalten unter einen schon bekannten Typus rechtlicher Regulierung fällt oder nicht. Dennoch wird auch hier die Entscheidungstätigkeit ebensowenig in einem normativen Vakuum begonnen wie auf der Ebene der Gesetzgebung. Auch bei der Produktion von Einzelfallentscheidungen wird vielmehr immer schon auf Informationen zurückgegriffen, die sich einem Kontakt mit der sozialen Umwelt des Staates verdanken, und deshalb besteht auch in diesem Bereich kein Raum für echte staatliche Eigenschöpfungen. Keinesfalls wird hiermit behauptet, daß dem Staat unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft eine nur rudimentäre Bedeutsamkeit für die fortlaufende Produktion und Reproduktion von Recht zuzusprechen wäre. Vielmehr bleibt mit Werner Krawietz sogleich zu unterstreichen, daß das Rechtsgeschehen gerade unter den heutigen Bedingungen „sehr weitgehend vom Staat organisiert und kontrolliert oder doch zumindest begleitet, gestützt und geschützt wird". 35 Die Art und das reale Ausmaß einer Beteiligung des Staates an der Produktion von Recht werden daher im folgenden noch eingehend zu analysieren sein.36 An dieser Stelle gilt es allein, eine verabsolutierende Verbindung des Rechtsbegriffs mit dem Staate in eine pluralistische Begriffsbildung umzuschreiben, die der bereits angedeuteten Tatsache Beachtung schenkt, daß auch unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft rechtliche Regelungen sehr wohl auf der Grundlage außerstaatlicher Normprojektionen erwachsen, die dann ihrerseits von der Staatsorganisation zu berücksichtigen sind. Aus diesem Grunde soll die Bezugnahme auf die rechtliche Einzelfallentscheidung hier genutzt werden, um einen realistischen Blick auf die von kleineren Untersystemen der Gesellschaft ausgehende Rechtsentwicklung zu werfen. Setzt man dazu erneut bei der Staatsorganisation an, so zeigt sich sehr schnell, daß alle an der Gestaltung des staatlichen Rechts beteiligten Personen in Kontakt zu der sie umgebenden sozialen Wirklichkeit stehen: Sie wachsen in Familien oder anderen sozialen Kreisen auf, erfahren frühzeitig durch soziale Kontakte mit Eltern oder anderen Sozialisationsagenturen, die in der Regel kaum in der Lage sein dürften, den Wortlaut
35 Werner Krawietz, Recht ohne Staat? Spielregeln des Rechts und Rechtssystem in normen- und institutionentheoretischer Perspektive, in: RECHTSTHEORIE 24 (1993), S. 81-133, 120. 36
Siehe unten, § 2 2.
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1. Abschnitt: Soziale Evolution des Rechts
gesetzlicher Rechtsvorschriften wiederzugeben, wie man sich als Kind, Käufer, Ehepartner usw. zu verhalten hat, und werden zeitlebens nicht aus Verflechtungen solcher oder ähnlicher Art entlassen. Es wäre unrealistisch, anzunehmen, daß die derart gewonnenen Erfahrungen und Erlebnisse, denen sich in der alltäglichen Interaktion wohl niemand entziehen kann, an den Türen von Parlaments·, Gerichts- oder Verwaltungsgebäuden ausgeschaltet bzw. vollständig verdrängt werden könnten. Und es läßt sich daher kaum widerlegen, daß die hier gewonnenen Erfahrungen Eingang in die Rechtsentscheidungen finden. Auf dieser Ebene liegt also die eigentliche Wurzel der Genese des Rechts: Dieses entsteht und entwickelt sich, gegen die rechtspositivistische Grundannahme, nicht allein aufgrund der Aktivitäten eines Staates oder seiner Organe, sondern ganz konkret auch in diversen Rechtsgemeinschaften, wie beispielsweise in Interaktionsbeziehungen zwischen verschiedenen Personen, die in KaufVerhandlungen eintreten, Kaufverträge abschließen oder Geschäftsbeziehungen begründen, und in Institutionen wie Familie, Ehe, Eigentümerschaft usw. 37 Während das tatsächliche menschliche Gemeinschaftshandeln und jegliche soziale Kommunikation rechtspositivistischen Lehren stets nur als Ausführung oder Verletzung abstrakter Rechtssätze erscheinen, sind es bei einer realistischen Betrachtung mithin gerade auch diese Phänomene, denen rechtsgestaltende Qualität zukommt. Eine Theorie des Rechts, die diesen Umstand beachtet, kann sich daher nicht mit dem Verweis auf Rechtstexte und deren Interpretation durch die Rechtspraxis begnügen, sondern muß sich darüber hinaus auch auf die real gelebte, gesellschaftliche Ordnung erstrecken. Sie stellt damit zugleich Verbindung zu einem Kontext her, der für den Positivismus allein auf der sorgfältig vom Bereich des geltenden Rechts abgespaltenen Ebene der Sachverhalte liegt, um so zu sinnhaften Handlungsformen vorzudringen, die sich in der sozialen Wirklichkeit etablieren. 38 Hier erscheint das Phänomen der Rechtsnorm als soziales Artefakt, das, indem es auf das Verhalten des Einzelnen durchaus Einfluß auszuüben vermag, sehr wohl imperative Strukturen trägt. Diese Normativität oder Imperativstruktur der Rechtsnorm äußert sich in concreto darin, daß hiervon betroffenen Akteuren in typisierten Sozialsituationen von Rechts wegen gewisse Verhaltensweisen abgefordert werden. Da diese von Rechts wegen geforderten Verhaltensweisen, wie sich in den anschließenden Untersuchungen zeigen wird, auf der anderen Seite gerade in den auf sie referierenden konkreten Aktivitäten auch variiert werden, tritt die Dynamik des Rechts in Widerspruch zu seiner Normativität. Der Umstand, daß die sozialen Aktivitäten sogenannter „Rechtsunterworfener" rechtsändernd wirken, stellt also, obwohl formal-logisch ein Paradoxon, zugleich doch ein empirisch vorhandenes Faktum dar. Und das deutet bereits daraufhin, daß sich die soziale Wirklichkeit im Fluß befindet!
37 38
Krawietz, Recht ohne Staat? (Fn. 35), S. 121. Darauf wird unter § 3 noch eingehend zurückzukommen sein.
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a) Aktabhängigkeit der Rechtsnorm Recht entsteht also, wie geschildert, stets als Produkt einer Gesellschaft, nicht dagegen allein als dasjenige eines Staates. Das Verhältnis zwischen Recht und Staat läßt sich vielmehr vorläufig so charakterisieren, daß das primär gesellschaftliche Recht durch sekundäre Codierungen zu staatlichem Recht werden kann, aber nicht muß. 39 Auch insoweit ist jedoch sehr viel strenger, als dies von der Rechtstsheorie Weinbergers angenommen wird, zwischen den von der Gesetzgebung oder den rechtsanwendenden Instanzen ausgesprochenen Rechtssätzen und den in Gestalt sozialer Phänomene bestehenden Rechtsnormen zu unterscheiden. 40 Die Rechtsnorm selbst läßt sich niemals auf den abgeschlossenen Sinn eines vereinzelten staatlichen Setzungsakts verkürzen, sondern sie bleibt stets Produkt und Struktur sozialer Kommunikation und Interaktion. In der Konsequenz lassen sich die in den Gesetzestexten verwendeten schriftlichen Symbole in ihrer Bedeutung auch nach der Kodifizierung nicht von dem sozialen Kontext abkoppeln, auf welchen sie sich beziehen. Sie bleiben vielmehr dergestalt von ihm abhängig, daß Veränderungen in diesem Bereich sehr wohl auch Verschiebungen in der Zeichenbedeutung mit sich bringen. 41 Da nun derartige Veränderungen in der sozialen Wirklichkeit stets von sozialen Aktivitäten ausgehen, macht es gegen Weinberger keinen Sinn, die mit ihnen interdependierenden Normen des Rechts unter Berufung auf ihre unterschiedlichen Zeitstrukturen von jenen Aktivitäten abzutrennen. 42 Indem ein solches Denken die Normen des Rechts wiederum viel zu weitgehend mit dem gesetzlichen Normtext identifiziert, greift es zwangsläufig an der Tatsache vorbei, daß dieser Text ohne die permanente Aufnahme durch soziale Kommunikationen und Interaktionen innerhalb wie außerhalb der Staatsorganisation ebenso bedeutungslos bleibt, wie es das sich im leeren musealen Raum befindliche Kunstobjekt ist auch wenn für das Recht in der modernen Gesellschaft gegenüber der Kunst
39
Krawietz,
Recht ohne Staat? (Fn. 35), S. 112.
40
Siehe nur Weinberger, Rechtslogik (Fn. 26), S. 55. Vgl. bereits Otto Brusiin, Der Mensch und sein Recht. Ausgewählte rechtstheoretische Schriften, herausgegeben und eingeleitet von Urpo Kangas, Berlin 1990, S. 185 f. et passim, der sich durchgängig für eine Unterscheidung zwischen rechtssprachlichen Normsätzen und dahinterstehenden Rechtsnormen ausspricht. Allgemein zur Rechtstheorie Brussiins: Werner Krawietz, Theorie und Forschungsprogramm menschlicher Rechtserfahrung - Allgemeine Rechtslehre Otto Brusiins, in: RECHTSTHEORIE 22 (1991), S. 1-37; ders., Theory and Research Programme o f Legal Experience Otto Brusiin's General Legal Theory, in: Aulis Aarnio, Theorie der Rechtsgemeinschaften und der Rechtserfahrung in Otto Brusiins Allgemeiner Rechtslehre, Münster/Hamburg/London 1999. 41
Diese Einschätzung läßt sich beispielsweise an dem Umstand belegen, daß die Rezeption des kontinentaleuropäischen Bürgerlichen Rechts durch Japan keinesfalls eine Identität der Zivilrechtsordnungen bewirkte. Siehe hierzu Werner Krawietz, Identität oder Einheit des Rechtssystems, in: RECHTSTHEORIE 16 (1985), S. 233-277, 236. 42 Weinberger, Die Norm als Gedanke und Realität (Fn. 28), S. 68.
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1. Abschnitt: Soziale Evolution des Rechts
vielleicht die Besonderheit besteht, daß sich der Einzelne seiner Kommunikation kaum entziehen kann. Damit ist nun zweierlei gesagt: Zum einen macht dieser Umstand die Konstitution von Akteuren, denen entsprechende Kommunikationsakte zugerechnet werden können, zu einer unverzichtbaren Bedingung allen Rechts.43 Zum anderen muß aus diesem Grunde schließlich auch die an die Rechtssoziologie herangetragene Forderung Weinbergers wenig befolgenswert erscheinen, ihre Untersuchungen an der Vorgabe einer strikten Unterscheidung des Sollverhaltens von dem tatsächlichen Verhalten zu orientieren. 44 Gegen die damit verbundene Vorgabe einer semantischen Spaltung der Rechtswelt bleibt hier nochmals festzuhalten, daß die Normen des Rechts keinesfalls mit dem sie symbolisch zum Ausdruck bringenden Normtext gleichzusetzen sind, sondern ihren Bedeutungsgehalt in den sozialen Kontexten beziehen, in denen sie Verwendung finden. Damit erweist sich die Trennung von Normen und Fakten - und sei es auch „nur" im Sinne einer semantischen Dichotomie realistisch betrachtet als brüchig, die reine Norm ist ebenso eine Chimäre, wie das Faktum brutum. 45 Bedeutung erlangen die Gesetze allein in der sozialen Wirklichkeit, ihren normativen Sinn beziehen sie, wie noch im Detail darzulegen sein wird, zentral in sozialen Organisationen und Institutionen.
b) Programmierendes
Entscheiden und programmiertes
Entscheiden
Mit den bisherigen Erkenntnissen ist nun keinesfalls gesagt, daß in der juristischen Einzelfallentscheidung, die unbestritten über weite Bereiche im Umgang mit derartigen „Wortnormen" besteht, von der Berücksichtigung der Rechtstexte Abstand zu nehmen sei. Bei aller Erforderlichkeit einer sprachlichen Interpretation dieser Texte ist aber auch hier der von Weinberger propagierten, sprachanalytischen Rechtsauffassung, die davon ausgeht, sich insofern auf „an und fur sich sinnvolle sprachliche Entitäten" zu richten,46 mit äußerster Skepsis zu begegnen. Blickt man von der bisher gewonnenen Position noch einmal auf das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und rechtlicher Einzelfallentscheidung
43
Siehe unten, § 4 2. Weinberger, Rechtslogik (Fn. 26), S. 25 f. (Hervorhebungen R. S.): „Für rechtssoziologische Betrachtungen ist eine klare begriffliche Trennung des tatsächlichen Verhaltens und des Sollverhaltens, wie sie von der logischen Analyse hervorgehoben wird, wesentlich." Vgl. auch ders., Entwurf einer neo-institutionalistischen Soziologie gleichzeitig Betrachtungen über die philosophischen und soziologischen Grundlagen der Normentheorie, in: Urs Fazis/Jachen C. Nett (Hrsg.) Gesellschaftstheorie und Normentheorie. Symposium zum Gedenken an Theodor Geiger, Basel 1993, S. 45-60, 57. 45 Krawietz, Zur Korrelation von Rechtsfrage und Tatfrage in der Rechtsanwendung (Fn. 29), S. 528. 46 Ota Weinberger, Der normenlogische Skeptizismus, in: ders., Moral und Vernunft (Fn. 20), S. 431-499, 454. 44
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zurück, so stellt sich deren Kommunikation eben nicht als das dabei vorausgesetzte Übertragungsverhältnis, das eine vollständige Identität des normativen Sinns rechts setzender und rechts anwendender Akte behauptet,47 sondern vielmehr folgendermaßen dar: Durch den Erlaß eines Gesetzes wird aus den gesellschaftlichen Möglichkeiten, ein als regelungsbedürftig empfundenes Geschehen abzuarbeiten, eine Möglichkeit ausgewählt, die den Selektionshorizont zeitlich nachfolgender Entscheidungsaktivitäten reduziert. Unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen bleibt einem Richter oder einem Verwaltungsjuristen, aber auch einem Notar, einem Staats- oder Rechtsanwalt, StrafVerteidiger usw. gar nichts anderes übrig, als sich bei seinen Bemühungen um das Recht auf die mit den Normsetzungsakten des Gesetzgebers auf Dauer gestellten und mit formeller Rechtsgeltung ausgestatteten Gesetzestexte zu beziehen. Da nun diese Texte in der fortlaufenden Entscheidungspraxis selbstverständlich nicht beliebig interpretierbar sind, sondern eine, wenn auch in ständiger Bagatellvariation befindliche, Bedeutungsumgrenzung erfahren, bietet es sich an, mit Bezug auf die sie konstituierenden Aktivitäten von einem programmierenden Entscheiden zu sprechen. 48 Im staatlich organisierten Rechtssystem reduziert programmierendes Entscheiden die Möglichkeiten rechtlicher Einzelfallentscheidung, indem es eine Textgrundlage für kommunikative Anschlußaktivitäten schafft und diese dadurch zugleich einschränkt. Da die Produktion einer individuellen Rechtsentscheidung durch ein Gericht oder eine Verwaltungsbehörde dergestalt unter dem Zwang steht, sich auf die generellen Normsätze der Gesetze zu beziehen, werden wir diesbezüglich von einem programmierten Entscheiden sprechen. Auch hier wird mit dem Terminus „Entscheiden" insofern ein schon mehrfach angedeutetes Phänomen nochmals aufgegriffen: Die programmierende Wirkung eines Gesetzes darf nicht so verstanden werden, daß dieses ein für alle Male eindeutig festzulegen vermöchte, welches Verständnis sein normatives Programm auslöst. Obwohl die programmierende Entscheidung den Möglichkeitshorizont rechtlicher Anschlußaktivitäten reduziert, vermag sie diese nicht vollständig zu determinieren. Vielmehr verbleiben für die programmierte Ebene schon aus sprachlichen Gründen immer verschiedene Anschlußmöglichkeiten, zwischen denen auf eben dieser Ebene immer noch auszuwählen ist.
47 Ders., Die Norm als Gedanke und Realität (Fn. 28), S. 63 (Hervorhebungen R. S.): „Der Normgedanke im Geiste des Befehlenden, im Geiste des Normadressaten, des Pflicht- oder Rechtssubjektes und des bloßen Normbetrachters (z.B. Rechtsgelehrten) muß als derselbe Gedanke mit denselben logischen Beziehungen angesehen werden. Verwirrend und die logische Analyse störend ist jede Unterscheidung zwischen dem Normgedanken (und Normsatz) auf verschiedenen Seiten des Kommunikationskanals ..." 48 Zur Terminologie des programmierenden und programmierten Entscheidens siehe Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modernen Gesellschaft (Fn. 34), S. 134 f. unter Verweis auf Herbert A. Simon.
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1. Abschnitt: Soziale Evolution des Rechts
3. Norm und Sanktion Die Vorstellung, daß die Bereitstellung staatlicher Sanktionen für den Fall des Normbruchs ein konstitutives Element der Rechtsnorm sei, hat in rechtspositivistischen Normentheorien weite Verbreitung gefunden. Der damit propagierte Zusammenhang zwischen Recht und Zwang ist in der entsprechenden Literatur am nachhaltigsten wohl wiederum von Kelsen vertreten worden. 49 Gegen eine derartige Version einer Zwangs- und Sanktionstheorie des Rechts hat Weinberger vom Standpunkt der Normenlogik und Normentheorie Kritik angemeldet und sich eindeutig gegen die Bewertung der Sanktion als Strukturelement der Rechtsnorm ausgesprochen.50 Im Ergebnis trifft sich seine Argumentation dabei ganz mit den Einschätzungen einer rechtsrealistischen und schon nachpositivistischen Normentheorie, wie sie hier vertreten wird. Indem eine solche - anders als der Rechtspositivismus - davon ausgeht, daß auch das staatliche Recht nicht allein der Feder des Gesetzgebers entspringt, sondern wie alles Recht gesellschaftlichen Ursprungs ist, versteht es sich für sie von selbst, daß die Bereitstellung staatlich organisierten Zwangs für den Begriff der Rechtsnorm nicht konstitutiv sein kann: Da Recht als gesellschaftliches Phänomen sehr weitgehend ohne staatliche Sanktionen funktioniert, ist es seiner Genese und Geltung nach nicht primär an solche gebunden.51 Dies hat jedenfalls die unabwendbare Konsequenz, daß für eine Definition des Rechts wie der Rechtsnorm auf die Verhängung staatlich organisierten Zwangs verzichtet werden muß.
a) Begriff normativer Erwartung Über diese Erkenntnis hinaus ist nun zu berücksichtigen, daß für einen realistischen Normbegriff auch die Verhängung außerstaatlichen Zwangs nicht konstitutiv sein kann. Zunächst nämlich finden sich, was die Reaktion auf einen Normbruch angeht, in der sozialen Realität, in die das staatliche Recht auch nach seiner Kodifikation eingebunden bleibt, eine Unmenge von Möglichkeiten, gegen einen solchen vorzugehen, die sich nicht als Sanktion ansehen lassen:
49 Kelsen, Reine Rechtslehre (Fn. 9), S. 34 ff.: „In diesem Sinne sind die als Recht bezeichneten Gesellschaftsordnungen Zwangsordnungen menschlichen Verhaltens. Sie gebieten ein bestimmtes Verhalten, indem sie an das entgegengesetzte Verhalten einen Zwangsakt knüpfen, der gegen den sich so verhaltenden Menschen (oder seinen Angehörigen) gerichtet ist. ... Daß das Recht eine Zwangsordnung ist, besagt, daß seine Normen der Rechtsgemeinschaft zuschreibbare Zwangsakte statuieren." 50 Ota Weinberger, Der Begriff der Sanktion und seine Rolle in der Normenlogik und Rechtstheorie, in: Hans Lenk (Hrsg.), Normenlogik, Pullach bei München 1974, S. 89-111. 51 Ebenso: Gurvitch, Grundzüge der Soziologie des Rechts (Fn. 10), S. 90.
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Man kann den Normbruch ignorieren und so an der Norm festhalten; man kann ihn gegenüber anderen Personen publik machen, um diese sich selbst gegenüber als Bestätiger der verletzten Norm zu instrumentalisieren, ohne daß der Normbrecher davon überhaupt Kenntnis erlangen muß. Man kann den durch einen Normbruch entstehenden Schaden durch Unterlassen jeglicher Gegenwehr intensivieren, um durch die Größe seines Opfers die Bedeutung der Norm zu symbolisieren, und schließlich kann man den Normbrecher als eine Person darstellen, die aufgrund persönlicher Defizite - einer geringen sozialen Stellung, mangelnder Ehre oder ähnlichem - der Bedeutung der Norm nichts anhaben kann. 52 Ist aus diesem Grunde die Frage, ob die tatsächliche Verhängung irgendwelcher, wie auch immer gearteter Sanktionen konstitutives Element der Rechtsnorm ist, abschließend insgesamt zu verneinen, so bleibt zur Klärung der danach verbleibenden Frage, ob dies auch fur die Androhung entsprechender Sanktionen gilt, zu belegen, daß menschliches Handeln auf der Sozialebene keinesfalls nur durch Sanktionierung beeinflußt werden kann und beeinflußt wird. Hierzu ist, bevor insoweit ein Beispiel aus dem Bereich des organisierten Zwangs aufgegriffen wird, zunächst hervorzuheben, daß Rechtsnormen als sozial konstituierte Verhaltensmaximen, schon weil sie oftmals keine unmittelbare Bewußtseinsbeteiligung voraussetzen, keinesfalls psychologistisch mißzuverstehen sind: An der roten Ampel wechselt der Fuß des Autofahrers „instinktiv" vom Gas- auf das Bremspedal. Daß der Grund derartiger Reaktionen nicht die angedrohte Sanktion - also die Verhängung eines Bußgelds - sein kann, läßt sich nachts an Ampelanlagen in wenig befahrenen Straßen und in verkehrsberuhigten Zonen mit schöner Regelmäßigkeit beobachten. Wenn sich Fahrzeugführer dann über rote Ampeln und 30-km/h-Schilder mokieren und deren Sinnlosigkeit beklagen, so verweist dieses Verhalten darauf, daß kollidierende Aktivitäten anderer Verkehrsteilnehmer und spielender Kinder zu solcher Stunde nicht zu erwarten sind. In der Folge nehmen der Druck auf das Gaspedal und die Mißachtung von Ampelsignalen wie angeordneten Höchstgeschwindigkeiten nachts zahlenmäßig zu. Dies läßt sich kaum anders beurteilen, als daß der Polizeibeamte mit den Strafzetteln - der sich erfahrungsgemäß auch zu dieser Stunde überall verbergen kann - nicht der Grund für die Einhaltung derartiger Normen sein kann. Die Initialwirkungen des Rechts liegen also nicht auf der Ebene der Androhung von Sanktionen, sondern sehr viel tiefer begründet: An roten Ampeln erwartet man als anhaltender Autofahrer, daß andere Verkehrsteilnehmer das Signal „Grün" empfangen und daher ihrerseits davon ausgehen, daß sie unbehelligt in den Kreuzungsbereich einfahren können. In der benannten Situation erwartet man damit, daß diese Verkehrsteilnehmer ein entsprechendes Verhalten realisieren werden (