Aufklärung, Band 33: ›Katholische Aufklärung‹? – Möglichkeiten, Grenzen und Kritik eines Konzepts der Aufklärungsforschung 9783787342082, 9783787342075

Was ist und zu welchem Ende studiert man ›Katholische Aufklärung‹? Die in den letzten Jahrzehnten etablierte Erforschung

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Aufklärung, Band 33: ›Katholische Aufklärung‹? – Möglichkeiten, Grenzen und Kritik eines Konzepts der Aufklärungsforschung
 9783787342082, 9783787342075

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AUFKL ÄRUNG   Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des BAND 33 ·JAHRGANG 2021

18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

›Katholische Aufklärung‹? Möglichkeiten, Grenzen und Kritik eines Konzepts der Aufklärungsforschung

abhandlungen  von Harm Klueting, Werner Michler, Philipp Schaller, Wilhelm Schmidt-Biggemann, Christoph Schmitt-Maaß, Michael Schwingen­ schlögl, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt kurzbiogr aphie  Franz Xaver Bronner (1758–1850) diskussion  über Michael Hampes Buch Die Dritte Aufklärung: Beiträge von Frank Grunert, Gerald Hartung, Josef Hlade, Isabel Karremann, Rudolf Meer, Martin Mulsow, Udo Roth, Gideon Stiening und Christine Weckwerth. Mit einer Antwort von Michael Hampe

AUFKLÄRUNG Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte

Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt Redaktion: Udo Roth

Band 33 · Jg. 2021

Thema: ,Katholische Aufkl-rungR ? Mçglichkeiten, Grenzen und Kritik eines Konzepts der Aufkl-rungsforschung k Herausgegeben von Christoph Schmitt-Maaß, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt

FELIX MEINER VERLAG

ISSN 0178 – 7128 Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch für die Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte. – Herausgegeben von Martin Mulsow, Gideon Stiening und Friedrich Vollhardt. – Redaktion: Dr. Udo Roth, Ludwig-Maximilians-Universität München. V Felix Meiner Verlag 2021. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck und Bindung: Stückle, Ettenheim. Printed in Germany. www.meiner.de/aufklaerung

I N HA LT

SCHWERPUNKT

Christoph Schmitt-Maaß/Gideon Stiening/Friedrich Vollhardt: Einleitung: ,Katholische AufklärungR? – Möglichkeiten, Grenzen und Kritik eines Konzepts der Aufklärungsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Philipp Schaller: Die Vernunftreligion unterliegt der Königin der Nacht. Die frühe österreichische Kant-Rezeption und das Scheitern einer katholischen Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Christoph Schmitt-Maaß: Miß Sara Sampson auf der ländlichen Schmierenbühne. Lessing, die Wiener Aufklärung und die österreichische Theaterpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Johann Michael Sailer als Aufklärer . . . . . . 81 Harm Klueting: Über die Vereinbarkeit von Aufklärung und Katholizismus. Standortbestimmung zur katholischen Aufklärung im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Werner Michler: Michael Denis und die ,katholische AufklärungR . . . . . . . 145 Michael Schwingenschlögl: „Oh nimm mir ia Verstand und Glauben nicht“. Probleme der ,katholischen AufklärungR in Aloys Blumauers und Franz Xaver Hubers lyrischen Glaubensbekenntnissen . . . . . . . . . . . 173 Gideon Stiening: „Katholische Idioten“. Johann Pezzls Faustin-Roman als Beispiel einer Selbstaufklärung der Aufklärung im katholischen Raum . 223

KURZBIOGRAPHIE

Elisabeth Mayrhofer: Franz Xaver Bronner (1758–1850). Vom Benediktiner-Mönch zum aufgeklärten Wissenschaftler und Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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Inhalt DISKUSSION

Udo Roth/Gideon Stiening: Brauchen wir eine ,Dritte AufklärungR? Eine Diskussion über Michael Hampes Plädoyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Rudolf Meer/Josef Hlade: Auf der Suche nach dem besten aller möglichen Weltverbesserungsvorschläge. Michael Hampes Plädoyer für eine Dritte Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Gerald Hartung: Michael Hampe: Die Dritte Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . 269 Isabel Karremann: Aufklärungsfeminismus heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Martin Mulsow: Sorge um die Wahrheitspraktiken: Michael Hampes dritte Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Christine Weckwerth: Aufklärung als Antwort auf die Probleme der Gegenwart? Bemerkungen zu Michael Hampes Plädoyer für eine „Dritte Aufklärung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Frank Grunert: Aufklärung, die dritte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Michael Hampe: Abschied von großen Worten: Zur Kritik am negativistischen Konzept zukünftiger Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

REZENSIONEN

Ptienne Bonnot de Condillac, Trait8 des animaux/Abhandlung über die Lebewesen. Französisch/Deutsch (Dieter Hgning) . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Stefan Schick, Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi (Stefan Klingner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Björn Spiekermann, Der Gottlose. Geschichte eines Feindbilds in der frühen Neuzeit (Dietrich Schotte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

Inhalt

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NACHRUF

In Memoriam Werner Schneiders (1932 – 2021) (Frank . . . . . .Grunert) . . . . . . . . . . . . . . . 365 49

SC HWE RP U NK T

Christoph Schmitt-Maaß/Gideon Stiening/ Friedrich Vollhardt Einleitung: ,Katholische AufklärungR? – Möglichkeiten, Grenzen und Kritik eines Konzepts der Aufklärungsforschung

1. Aufklärung und Katholizismus: Skizze einer Forschungslandschaft Schon die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts betrachteten das Verhältnis von Aufklärung und Katholizismus in höchst unterschiedlicher Weise: „Man sieht […] nur allzu deutlich, daß keine wahre Aufklärung in der katholischen Kirche stattfinden kann“, hält der Berliner Aufklärer, Publizist und Verleger Friedrich Nicolai 1785 in seiner Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz anlässlich eines Besuchs in Wien im Vorjahr fest.1 Bei solchen Vorstellungen handele es sich allenfalls um „süße Träume von der Aufklärung in der katholischen Kirche“,2 die allein von Protestanten geträumt würden. Nicolais wuchtiger, letztlich konfessionspolitisch motivierter Anti-Katholizismus blieb allerdings nicht unwidersprochen, und das nicht etwa von katholischer Seite: Es ist vielmehr Christian Garve, der sich in die von Friedrich Nicolai angezettelte Debatte über geheime Machenschaften der Jesuiten und des Katholizismus im Allgemeinen3 einmischen wird, und zwar mit Aufsätzen und einer umfangreichen Monographie, weil Nicolai ihn direkt angegriffen hatte.4 Garve – selbst einem moderaten Protestantismus auch im Hinblick auf seine politische Theorie durchaus zugetan5 – weist

Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781, Bd. 5, Berlin, Stettin 1785, 101. 2 Ebd., 102. Zu Nicolais Auseinandersetzung mit dem Katholizismus und der lebhaften Debatte, die sich an seiner Reisebeschreibung entzündete, vgl. Sigrid Habersaat, Verteidigung der Aufklärung. Friedrich Nicolai in religiösen und politischen Debatten, Bd. 1, Würzburg 2001, 59 – 78. 3 Vgl. hierzu u. a. Horst Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974, 111 ff. u. ö. 4 Vgl. hierzu Christian Garve, Schreiben an den Herrn Friedrich Nicolai von Christian Garve, über einige Äußerungen des erstern, in seiner Schrift, betitelt: Untersuchungen der Beschuldigungen des P[rof]. G[arve]. gegen meine Reisebeschreibung, Breslau 1786. 5 Siehe hierzu Gideon Stiening, Der Souverän als „Werkzeug der Vorsehung“. Christian Grave 1

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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dabei vor allem Nicolais anti-jesuitische Verschwörungstheorien als affektiven Anti-Katholizismus zurück. Dennoch ist Nicolais anti-katholische Haltung in den Reihen namhafter Aufklärer durchaus nicht unüblich: Von Lockes expliziter Katholiken-Verbannung6 über Wolff7 und Reimarus8 bis hin zu Kant9 sind die zumeist in der Erziehung eingeübten oder bewusst kontroverstheologischen Vorurteile gegen den Katholizismus festzustellen. Gleichwohl trifft sich beispielsweise Wolffs Kritik am Ordenswesen der katholischen Kirche mit der Cesare Beccarias, der wie Wolff das – zwar nicht mehr zu strafende, gleichwohl als Sünde zu verhindernde – Phänomen der „attische Liebe“, mithin der Homosexualität, auf diese Institutionen zurückführt.10 Überhaupt beschränkt sich die inhaltliche wie institutionelle Kritik am Katholizismus und seiner Kirche von Seiten der Aufklärer durchaus nicht auf protestantische Vertreter; auch der jesuitisch erzogene Theist Voltaire (Pcrasez lQinf.me!) oder der Atheist und Materialist Paul Henry Thiry dQHolbach, der die christliche Religion ausschließlich als betrügerisches Herrschaftsinstrument interpretierte, übten als Aufklärer massive Kritik an katholischer Theologie und Kirche. Für die genannten Aufklärer, für Locke, Wolff, Reimarus, Voltaire, dQHolbach, Beccaria oder noch für Robespierre11 gelten Aufklärung und Katholizismus als unüberwindliche Kontradiktionen. Auf der anderen Seite ist ebenso evident, dass es für bekennende ,katholische AufklärerR wie den Konstanzer Bistumsadministrator Ignaz Heinrich von Wesüber Politik zwischen Naturrecht und Moral, in: Udo Roth, Gideon Stiening (Hg.), Christian Grave (1742 – 1798). Philosoph und Philologe der Aufklärung, Berlin, Boston 2021, 182 – 205. 6 Vgl. hierzu auch Dirk Brantl, John Locke über die Gründe und Grenzen der Toleranz, in: ders., Rolf Geiger, Stephan Herzberg (Hg.), Philosophie, Politik und Religion. Klassische Modelle von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2013, 145 – 162. 7 Siehe hierzu Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. „Deutsche Politik“, bearbeitet, eingeleitet und hg. von Hasso Hofmann, München 2004, 77 (§ 25). 8 Siehe hierzu Gideon Stiening, „Die besonderen Absichten Gottes im Thierreiche“. Theologie und Metaphysik in ReimarusQ Allgemeinen Betrachtungen über die Triebe der Thiere, in: Stefan Klingner, Dieter Hüning (Hg.), Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768). Natürliche Religion und Popularphilosophie, Berlin, Boston 2022, 243 – 267. 9 Siehe hierzu u. a. Frank Bader, Untergräbt die Transzendentalphilosophie Kants Grundpositionen der katholischen Glaubenslehre?, in: Norbert Fischer (Hg.), Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg 2005, 160 – 187. 10 Vgl. hierzu Gideon Stiening, „Chi teme il dolore ubbidisce alle leggi“. Suizid und attische Liebe in den Strafrechtstheorien Christian Wolffs, Cesare Beccarias und Johann Adam Bergks, in: Chiara Conterno, Astrid Dröse (Hg.), Deutsch-italienischer Kulturtransfer im 18. Jahrhundert: Konstellationen, Medien, Kontexte, Bologna 2020, 81 – 110. 11 Siehe hierzu Jonathan Israel, Die Französische Revolution. Ideen machen Geschichte, Stuttgart 2017, 545 ff.

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senberg, den Bischof und Erzbischof Karl Theodor von Dalberg12 oder den Theologen und Publizisten Lorenz von Westenrieder Aufklärung nur auf der Grundlage des katholischen Glaubens denk- und durchsetzbar war.13 Darüber hinaus gab es Aufklärer, die sich einerseits als Katholiken verstanden, diesen Katholizismus jedoch nicht a priori als aufgeklärt interpretierten, sondern als Institution, durch die die Aufklärung noch hindurchzugehen habe und dies auch könne und müsse. Analog zu Mendelssohn, der eine Aufklärung der jüdischen Religion für möglich und notwendig erachtete, ging es diesen Aufklärern um eine Anwendung aufklärerischer Prinzipien auf den Katholizismus.14 Zu solchen Aufklärern des Katholizismus zählen u. a. der Universitätsgründer Franz von Fürstenberg15 ebenso wie der Bildungsreformer Benedikt Strauch.16 Darüber hinaus ist im Rahmen einer europäischen Perspektive auf die Aufklärung stärker als bisher zu berücksichtigen, dass es auch im erzkatholischen Spanien seit 1759, also dem Amtsantritt König Karls III.,17 umfangreiche Unternehmungen gab, verwaltungspolitische sowie politökonomische Prinzipien im Regierungshandeln umzusetzen, die sich als genuin aufklärerisch verstanden.18 Viele spanische Aufklärer waren zwar außerordentlich kritisch gegenüber der ab 1761 vorläufig geschwächten Inquisition, sie lehnten auch einen zu großen Einfluss der Kirche oder einzelner Orden auf den Souverän oder seinen Hof ab, waren aber keineswegs anti-katholisch gesinnt.19 Waren also Leopoldo de Gregorio, Pablo de Olavide und Pedro Pablo Abarca kaHarm Klueting, „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht“. Zum Thema „Katholische Aufklärung“ – Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts, in: ders., Norbert Hinske, Karl Hengst (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, 1 – 35. 13 Wilhelm Haefs, „Praktisches Christentum“. Reformkatholizismus in den Schriften des altbayerischen Aufklärers Lorenz Westenrieder, in: Klueting, Hinske, Hengst, Katholische Aufklärung (wie Anm. 12), 271 – 301, hier 299. 14 Begrifflich ist es daher unpräzise, bei dieser Aufklärung des Katholizismus von einer katholischen Aufklärung zu sprechen. 15 Vgl. hierzu Jürgen Overhoff, Franz von Fürstenberg und die Gründung der Universität Münster im Jahr 1773 als ein „katholisches Göttingen“, in: ders., Andreas Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika, Göttingen 2019, 97 – 111. 16 Siehe hierzu Werner Simon, Benedikt Strauch (1724 – 1803) – Reform der Schule und Reform der Katechese in Schlesien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Rainer Bendel, Norbert Spannenberg (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ostmittelund Südeuropa, Köln, Weimar, Wien 2015, 249 – 266. 17 Siehe hierzu Alexandra Gittermann, Die Ökonomisierung des politischen Denkens. Neapel und Spanien im Zeichen der Reformbewegungen des 18. Jahrhunderts unter der Herrschaft Karls III., Stuttgart 2008. 18 Vgl. hierzu die exzellente Arbeit von Nicola Veith, Spanische Aufklärung und südwestdeutsche Migration. Auswandererkolonien des 18. Jahrhunderts in Andalusien, Kaiserslautern 2020. 19 Siehe hierzu u. a. Christian von Tschilschke, Identität der Aufklärung / Aufklärung der Identität: Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009. 12

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tholische Aufklärer? Oder waren sie Aufklärer des Katholizismus, oder gar Aufklärer im katholischen Raum?20 Die Frage danach gestellt zu haben, was eine ,katholische AufklärungR sein könnte, und welche historischen Erscheinungsformen sie hatte, aber auch welche systematischen Argumente sie ausbildete, ist zweifellos eines der Verdienste von Harm Klueting. Mit Herausgabe der Tagungsakten der Trierer DGEJ-Tagung von 1988 war offenbar eine „Katholische Aufklärung“ als „ernstzunehmender Gegenstand der Forschung anerkannt und gewürdigt“.21 Klueting unterschied 1993 zwischen einer systemsprengen Aufklärung „gegen Theologie und Kirche“ und einer systemimmanenten „Aufklärung mit und durch Theologie und Kirche“.22 Die erstere verstand Klueting als „Aufklärung im katholischen Deutschland“, die dem Wesen des Katholizismus letztlich fremd geblieben sei; die letztere verstand er als eigentliche „katholische Aufklärung“, die bereits im 17. Jahrhundert Tendenzen der Aufklärung vorbereitet und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weiterentwickelt worden sei.23 Auf dieser gewichtigen Grundlage hat die Erforschung der Katholischen Aufklärung seither eine erkennbare Bedeutung erlangt, die sich in einer Vielzahl von Tagungsbänden und Monographien niederschlägt. Die Fülle neuerer Forschungsüberblicke und Perspektivierungen der letzten Jahrzehnte entlastet unsere Darstellung erheblich, da wir die Positionen zunächst referieren können, um anschließend eine eigene Forschungsperspektive zu entwickeln, und zwar insbesondere hinsichtlich der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Konzepts ,Katholische AufklärungR. Vor kurzem skizzierte Harm Klueting erneut „Aporemata der Forschung zur katholischen Aufklärung von 1969 bis 2017“ und damit die Forschungslandschaft für ein halbes Jahrhundert.24 Stand Kluetings Auffassung nach zu Beginn dieses Zeitraums die Wahrnehmung, dass „Aufklärung kein katholisches Phänomen“ sei,25 so habe die breite geisteswissenschaftliche Forschung der vergangenen Jahrzehnte dieses Urteil inzwischen revidiert. So heißt es auch in Andreas Holzems

Siehe hierzu u. a. Gernot Kamecke, Die Prosa der spanischen Aufklärung. Beiträge zur Philosophie der Literatur im 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2015. 21 Jürgen Overhoff, Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika. Zur Einleitung, in: Overhoff, Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 15), 9 – 19, hier 9. Zu den Hintergründen dieser Tagung vgl. Harm Klueting, „LQAufklärung catholique“ contre „les lumiHres“. Aporemata der Forschung zur katholischen Aufklärung von 1969 bis 2017, in: Overhoff, Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 15), 23 – 51. 22 Klueting, Genius (wie Anm. 12), 5. 23 Ebd., 15. 24 Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21). 25 Ebd., 25. 20

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ebenso umfangreichen wie umfassenden Werk zum Christentum in Deutschland 1550 – 1850: Aber es ist ein eigentümlicher Anachronismus, […] einer grundsätzlichen Unvereinbarkeit von Katholizismus und Aufklärung das Wort zu reden oder Phänomene der Aufklärung im katholischen Deutschland als prinzipiell aus dem Protestantismus abgeleitet, fremdbestimmt und importiert einzuschätzen.26

Demnach sind Katholizismus und Aufklärung nicht unvereinbar oder einzig ein „Bündnis auf Zeit“, sondern vielmehr eine „Verbindung von gegensätzlichen Elementen – [nämlich] tridentinischem Katholizismus als geistig-sozialem Gefäß der im Tridentinum dogmatisch fixierten katholischen Gestalt des christlichen Glaubens […] und der Aufklärung als einem im Kern auf Säkularisierung angelegten geistig-sozialen Prozess“.27 Dieses katholizismusimmanente Aufklärungsmoment sieht Klueting etwa im Jansenismus und dem Josephinismus gegeben, ebenso im Reformkatholizismus des Aufklärungszeitalters.28 Doch schon hier lassen sich vor dem Hintergrund neuerer Forschungen erneut Fragen stellen: Mögen Jansenismus29 und Reformkatholizismus noch als Formen innerkonfessioneller Aufklärungsarbeit zu verstehen sein, so ist das Verhältnis zum Josephinismus schwieriger zu bestimmen. Helmut Reinalter hat in den letzten Jahrzehnten mehrfach darauf hingewiesen, dass Joseph II. sich und seine Regierung zwar als Bollwerk gegen Protestantismus und Atheismus verstand, gleichwohl das Verhältnis zwischen Staat und Kirche grundlegend neu ordnen wollte, und zwar im Sinne der Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses auf Staat und Gesellschaft.30 Darüber hinaus muss sich die Forschung – ebenfalls nach den Forschung Reinalters – die Frage stellen, welches Aufklärungsverständnis genau sich im Handeln Josephs II. ausdrückte. Sicher ist, dass er ein eminenter Gegner des Prinzips der Volkssouveränität war, das Rousseau 1761 erstmals präzise formuliert und begründet hatte.31 Für Joseph II. war aber stets klar: „Alles für das Volks, nichts durch das Volk“.32 Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550 – 1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, 2 Bde., Paderborn u. a. 2015, Bd. 2, 849. 27 Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21), 47 f.; Klueting zitiert hier seinen Aufsatz „Aufklärung, katholische“, der im Lexikon zum aufgeklärten Absolutismus (hg. von Helmut Reinalter, Wien, Köln, Weimar 2005, 127 – 131) erschienen war. 28 Klueting, „LQAufklärung catholique (wie Anm. 21), 47. 29 Siehe hierzu u. a. Christoph Schmitt-Maas, Simul Jansenismo et Pietismo? Zur literarischen Kostümierung orthodoxer Kritik an innerkirchlichen Reformbestrebungen. Am Beispiel von L. A. V. Gottscheds Pietisterey im Fischbein-Rocke (1736), in: Overhoff, Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 15), 423 – 438. 30 Helmut Reinalter, Einleitung, in: ders. (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus, Wien 2008, 9 – 16; ders., Joseph II. Reformer auf dem Kaiserthron, München 2009, 30 ff. 31 Jean-Jacques Rousseau, Du contrat social / Vom Gesellschaftvertrag. Französisch / Deutsch, hg. von Hans Brockard, Stuttgart 2010, 36 ff. / 37 ff. 32 Siehe hierzu Reinalter: Joseph II. (wie Anm. 30), 23 ff. 26

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Sein wie Friedrichs II. ,aufgeklärter AbsolutismusR war im Hinblick auf die Legitimation ihrer Herrschaft also mehr absolutistisch als aufgeklärt. Nicht nur das Verhältnis von Katholizismus und Josephinismus ist also erneut zu überdenken, sondern vor dem Hintergrund der eben auch aufklärungskritischen Momente des Josephinismus das Verhältnis von Katholizismus, Josephinismus und Aufklärung.33 Doch auch nach Klueting lässt sich die Frage, was das Katholische an der katholischen Aufklärung sei, aus katholischen Strömungen, Praktiken und theologischen Reflektionen des 18. Jahrhunderts heraus beantworten, ohne die antiaufklärerischen Elemente des Katholizismus (Ultramontanismus, Antimodernismus) zu negieren. Gerade im Hinblick auf eine globale Konturierung von ,katholischer AufklärungR verspricht sich Klueting daher neuerliche Impulse für die Erforschung der beiden unvollendeten Projekte ,AufklärungR und ,KatholizmusR. Die Historiker Wolfgang Göderle und Thomas Wallnig hingegen gelangen bei ihrer Bewertung von Nutzen und Grenzen des Forschungsparadigmas „Katholische Aufklärung“ zu anderen Antworten.34 Demnach lässt sich der Begriff der ,katholischen AufklärungR zwar aus der bundesrepublikanischen Geschichtsforschung der Nachkriegsjahre herleiten, eignet sich jedoch nur bedingt, um ein naheliegendes Phänomen wie den Josephinismus der Habsburgermonarchie zu beschreiben.35 Ein mit dem Aufklärungsbegriff verbundener emphatischer Modernebegriff sortiere die historischen Phänomene bezüglich ihres Reaktionsverhaltens (Adaption, Ablehnung etc.), um „Innovationsschübe“ (als Merkmal von Aufklärung) auszumachen.36 „Katholische Aufklärung“ sei daher nur als „Verständigungsbegriff“ sinnvoll zu verwenden, wenn die eingeschriebenen Wertungsvorgänge mitreflektiert würden; zumal es nur Prozesse bezeichnen könne, die im spezifisch „religiösen Kontext“ begegneten, nicht jedoch in Bezug auf politische und gesellschaftliche Prozesse. 2. Zur Kritik der Identitätsthese Diesem relativierenden Befund widerspricht eine neuere Tendenz, die die von Klueting angemahnte und von Jürgen Overhoff weiterentwickelte37 Erforschung Siehe hierzu auch den Band von Bendel, Spannenberger (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus (wie Anm. 16). 34 Wolfgang Göderle, Thomas Wallnig, Nutzen und Grenzen des Forschungsparadigmas „Katholische Aufklärung“. Herrschaftslogik und sozialer Wandel im Habsburgerreich am Vorabend der Moderne, in: Overhoff, Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 15), 52 – 76. 35 Ebd., 71. 36 Ebd. 37 Jürgen Overhoff, Die Katholische Aufklärung als bleibende Forschungsaufgabe: Grundlagen, 33

Einleitung

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einer ,katholischer AufklärungR als nicht nur gesamteuropäisches, sondern globales Phänomen begreift. Das Konzept ,katholische AufklärungR wird also nicht – wie Wallnig und Göderle mit guten Gründen argumentieren – auf einen bestimmten Bereich eingegrenzt, sondern vielmehr historisch, geographisch und systematisch ausgeweitet. Ulrich L. Lehner hat im vergangenen Jahrzehnt entscheidend zur Konturierung dieser Forschungsrichtung beigetragen. In seiner Monographie The Catholic Enlightenment stellt er folglich eine Forgotten History of a Global Movement dar.38 Nach Lehner kommt dem Katholizismus im 18. Jahrhundert eine führende Rolle für Fortschritt und Moderne zu, da die katholische Kirche sich in einen Dialog begab mit den modernen wissenschaftlichen und philosophischen Ideen, und dabei ihre Reformversuche mit den Innovationen des Aufklärungszeitalters in Einklang zu bringen suchte. Erst infolge der Französischen Revolution sei es innerhalb des Katholizismus zu einer konservativen Gegenentwicklung gekommen, die seither einseitig als Aufklärungsfeindlichkeit der katholischen Kirche die historische Wahrnehmung dominiere. Das gelte besonders für die nach 1789 sich festigende Rolle des Papstes und die Marginalisierung unabhängiger katholischer Denker.39 Lehner appelliert für die Gegenwart an die Einsicht, dass der Dialog zwischen Glaube und Moderne harmonisch und fruchtbar sein könne und fortgesetzt werden müsse. Diese Vereinnahmung der Aufklärung als Epoche und Projekt für den Katholizismus ist nicht unwidersprochen geblieben.40 Nicht nur werden von Lehnert die dezidiert anti-katholischen Strömungen der Aufklärung – seien sie nun protestantischer, säkularer oder gar atheistischer Couleur41 – marginalisiert, überhaupt werneue Fragestellungen, globale Perspektiven, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 41.1 (2017), 11 – 27 sowie Overhoff, Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 15). 38 Ulrich L. Lehner, The Catholic Enlightenment. The Forgotten History of a Global Movement, New York 2016 [dt. Paderborn 2017]. Vgl. auch Ulrich L. Lehner: The Many Faces of the Catholic Enlightenment, in: ders., Michael Printy (Hg.), A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe, Leiden, Boston 2010, 1 – 48. 39 An die von Lehner konstatierte Negativwertung von ,katholischer AufklärungR durch die katholische Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts schließt Hubert Wolfs 2019 erschienene, auf älteren Beiträgen basierende Monographie Verdammtes Licht. Der Katholizismus und die Aufklärung (München 2019) mit der bereits 2016 publizierten Einleitung (Hubert Wolf, Katholische Aufklärung, in: Albrechte Beutel, Martha Nooke [Hg.], Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie [Münster, 30. März bis 2. April 2014], Tübingen 2016, 81 – 95) an. Zu Wolf vgl. kritisch Harm Klueting, LQAufklärung catholique – possible et n8cessaire. In: Rechtsgeschichte 28 (2020), 329 – 331. 40 Vgl. hierzu Steffen Martus, Feminismus, Freiheit, Frömmigkeit. Ulrich R. Lehner erzählt die Geschichte reformfreudiger Katholiken – und das zu Lasten der säkularen Aufklärung. In: Süddeutsche Zeitung vom 15. November 2017, 11. 41 Zur systematischen Notwendigkeit zwischen einer säkularen und einer atheistischen Aufklärung zu unterscheiden vgl. Gideon Stiening, Gott und der gerechte Krieg. Kants kritische Auseinandersetzung mit Achenwalls Ius naturae, in: Stefan Klingner, Dieter Hüning (Hg.), Auf dem Weg

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den die in den letzten Jahrzehnten herausgearbeiteten, stets kontrovers debattierten Differenzierungen der unterschiedlichen Formen von Aufklärung unberücksichtigt gelassen.42 Letztlich aber – und dies gilt auch für die von Klueting ausgehenden Forschungen zur sogenannten katholischen Aufklärung – wird in diesem Forschungsfeld, das sich mittlerweile durch Selbsthistorisierung kanonisiert hat,43 zu wenig berücksichtigt, dass der Aufklärung in ihren unterschiedlichen Facetten eine Säkularisierungstendenz innewohnte und innewohnt, die jede Form religiös begründeter Erleuchtung – sei sie protestantisch, sei sie katholisch oder gar islamisch44 – problematisch werden lassen muss. Harm Klueting hat 1993 diesen Sachverhalt durch Differenzierung – wie zitiert – deutlich gemacht; 2019 aber macht er Joseph Ratzinger zum Erzaufklärer,45 was nicht nur für die Forschung zu einer ,katholischen AufklärungR, sondern für die zur Aufklärung überhaupt in neue, womöglich trübe Gewässer führt. Vor dem Hintergrund dieser Forschungsentwicklung muss die Frage erneut und mit größerer Dringlichkeit gestellt werden: Was ist und gibt es überhaupt eine ,katholische AufklärungR?

3. ,KatholizismenR und / oder ,AufklärungenR? Der überaus vorläufige, immerhin aber kritische forschungsgeschichtliche Aufriss zeigt, dass drei Tendenzen der Forschung auffällig sind: einer globalgeschichtlichen Makroperspektive tritt eine mikrohistorische Fokussierung des Begriffs ,katholische AufklärungR (genauer: seiner Operationalisierbarkeit) gegenüber. Das lässt sich einerseits erklären aus dem Umstand, dass der Kompositbegriff ,katholische AufklärungR zwei Universalismen zusammenbindet, die rational nur schwer oder gar unvereinbar sind. So sind weder Katholizismus noch Aufklärung sprach- oder kulturgebunden, sondern dem Anspruch nach universell, d. h. die Fokussierung einer ,deutschenR katholischen Aufklärung – oder auf ,Aufklärer im katholischen DeutschlandR – griffe angesichts des begrifflichen Univerzur kritischen Rechtslehre? Naturrecht, Moralphilosophie und Eigentumstheorie in Kants „Naturrecht-Feyerabend“, Leiden, Boston 2021, 19 – 47. 42 Siehe hierzu u. a. Ian Hunter, Rival Enlightenments. Civil and Metaphysical Philosophy in Early Modern Germany, Cambridge 2009; Martin Muslow, Jonathan Israel (Hg.), Radikalaufklärung, Frankfurt am Main 2014. 43 Siehe hierzu u. a. Jürgen Overhoff, Katholische Aufklärung als bleibende Forschungsaufgabe: Grundlagen, Neuerungen, globale Perspektiven, in: Das Achtzehnte Jahrhundert 42.1 (2017), 11 – 27 sowie Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21). 44 Siehe zu letzterem u. a. Christopher de Bellaigue, Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft, Frankfurt am Main 2018. 45 Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21), 37 ff.

Einleitung

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salismus und der globalgeschichtlichen Perspektive zu kurz. Dem korrespondiert das gegenläufige Phänomen, dass die (religions-)geschichtlichen Forschungen häufig einen mikrohistorischen Fokus einnehmen, sich also im Umgang mit den beiden widerstreitenden Universalismen ,AufklärungR und ,KatholizismusR in Historismen flüchten. Ähnlich wie die Aufklärungsforschung angesichts der mehrfachen Diversifikation von ,AufklärungR (etwa als ,westlichesR Konzept, als Epochenbeschreibung mit moderaten und radikalen Ausprägungen oder als Beschreibung eines unvollendeten Projekts) inzwischen dazu tendiert, von ,AufklärungenR zu sprechen,46 so könnte auch die Disparatheit von ,KatholizismusR ihren Ausdruck in der Wendung von den ,KatholizismenR47 finden. Das könnte für eine kritische Korrelation von Aufklärung und Katholizismus hilfreich sein. Unberührt davon bleibt aber die Frage nach dem Verhältnis von Aufklärung und Säkularität, die als systematische auch wissenssoziologische Relativierungen – und damit jede Erforschung von protestantischer, katholischer oder islamischer Aufklärung – verunmöglichte.48 Eine Lösungsmöglichkeit für den Umgang mit den genannten Problemlagen besteht – wie von Wallnig und Gödeler angeregt – in methodologischen Reflektionen, die auch die nachfolgenden Beiträge auszeichnen. Unter methodologischen und systematischen Gesichtspunkten bieten sich unseres Erachtens fünf Fokussierungsmöglichkeiten an, nämlich der Praktiken der Aufklärung, der Akteure und Netzwerke, der Histoire crois8e bzw. Entangled History (etwa Rezeption der katholischen Aufklärer durch protestantische Aufklärer), der Konfessionalisierungsthese und die Stellung des Begriffs und der Idee der Säkularisierung. Als mögliche Folie und arbeitspragmatischer Entwurf kann Leslie Bodis Studie Tauwetter in Wien (1977) dienen. Als Literaturwissenschaftler schlagen wir vor, unter Rückgriff auf Bodis Studie vier Aspekte von ,katholischer AufklärungR einer kritischen Reflexion zu unterziehen: – historisch (indem wir das recht schmale Zeitfenster von 1760 bis 1790 zugrunde legen), – methodologisch (indem wir die universalistischen Begriffe ,AufklärungR und ,KatholischR zurückstellen zugunsten eines reduktionistischen Patikularismus, der in Fallstudien erläutert, wie ,AufklärungR und ,KatholizismusR konkret und praktisch aufeinander bezogen wurden); Daniel Fulda, Frauke Berndt, Die Erzählung der Aufklärung. Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Erzählung der Aufklärung, Hamburg 2018, XIII–XXVIII. 47 Vgl. Wolf, Katholische Aufklärung (wie Anm. 39), 90 f. 48 Siehe hierzu nach wie vor aktuell Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 21988. 46

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– rezeptionsgeschichtlich (indem wir die Erforschung von Aufklärung und Aufklärern im katholischen Bereich und die damit verbundene Aneignung bzw. Kritik ins Zentrum rücken) und – systematisch (im Hinblick auf das systematische oder nur historisch-kontingente Verhältnis von Aufklärung und Säkularität.

Philipp Schaller Die Vernunftreligion unterliegt der Königin der Nacht Die frühe österreichische Kant-Rezeption und das Scheitern einer katholischen Aufklärung IQm a Roman Catholic, And have been since before I was born, And the one thing they say about Catholics is: TheyQll take you as soon as youQre warm. Monty PythonQs The Meaning of Life

Die frühesten Wirkungen der Philosophie Immanuel Kants erreichten Österreich wie durch eine sich schließende Türe. Geöffnet und eine Weile lang offen gehalten hatte sie der Geist jener Epoche, die oft, wenn auch nicht mit einheitlicher Zustimmung, als ,aufgeklärter AbsolutismusR bezeichnet wird und die bereits unter der Herrschaft Maria Theresias zwischen 1740 und 1780 begann, um ihren Höhepunkt und ihr Ende mit der ihres Sohnes Joseph II. zwischen 1780 und 1790 zu erreichen. Der Zeitgeist, der sie schloss, regte sich schon im Vorfeld der Französischen Revolution als Reaktion auf die Unstimmigkeiten zwischen politischer Herrschaft und Aufklärung, um nach diesem Ereignis, das ganz Europa in seinen Bann schlug, vollends bestimmend zu werden. Nach der kurzen Zeitspanne von 1790 bis 1792, in welcher Josephs Bruder Leopold II. regierte, begann sich unter dessen Sohn Franz II./I., dessen Regierungszeit bis 1835 dauern sollte, eine restaurative Politik zu etablieren. Dieser fiel auch jene aufgeschlossene Bildungspolitik zum Opfer, die der öffentlichen Erwägung und Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts in den katholischen Erblanden der Donaumonarchie vormals einen gewissen Spielraum geboten hatte. Im Folgenden wird das rasch erwachende, aber bald unterdrückte Interesse, das in Österreich an der taufrischen kritischen Philosophie Kants bestand, geschichtlich betrachtet und zwar im Lichte des problematischen Versuches, den katholischen Glauben mit der geistigen Bewegung der Aufklärung zu verbinden. Zu diesem Zweck werden zuerst (I) ein paar einleitende Überlegungen zum fraglichen Zeitraum der 1780er Jahre sowie zu dem problematischen Konzept einer katholischen Aufklärung und zu dem Verhältnis entwickelt, in welchem Kants kritisches Denken zur römisch-katholischen Kirche und ihrem Glauben steht. AnAufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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schließend (II) erfolgt eine kurze Charakterisierung jener Zeit, in welche die frühe Rezeption von Kants Philosophie in Österreich fiel, als die Verbindung von Aufklärung und Katholizismus ein Anliegen war, das sowohl von der staatlichen Politik als auch von Strömungen innerhalb der Kirche verfolgt wurde. Dann (III) wird anhand der bekanntesten Fälle das Interesse skizziert, das die österreichischen Anhänger der Aufklärung schon bald an Kants Denken zeigten, sowie die kurz darauf einsetzende Unterdrückung der Kant-Rezeption in Österreich. Den Schluss (IV) macht, nebst einem kurzen Resümee dazu, worin eine katholische Aufklärung bestünde, die Beobachtung, dass sich das Scheitern der Aufklärung daran, die Politik monarchischer Staaten und ihr eigenes Emanzipationsanliegen durch das Konzept einer Vernunftreligion miteinander zu vereinbaren, nicht auf das katholische Österreich beschränkte.

I. Der Weg der Reform zwischen Revolution und Restauration Im von den Habsburgern regierten Österreich und seiner Residenzstadt Wien sind die 1780er Jahre vielleicht diejenigen, die wissentlich oder unwissentlich im Sinne hat, wer an das Land im Zusammenhang der goldenen Zeiten seines Kulturschaffens denkt. Bis heute werden sie als lokales Aushängeschild genützt: Es handelt sich schließlich um die Zeit des Wirkens von Wolfgang Amadeus Mozart, das hier deshalb Erwähnung verdient, weil es Zeugnis von der geistigen Situation der damaligen Zeit ablegt, sofern sie vom Ringen der Aufklärung mit den Kräften der Reaktion geprägt ist. Mozarts Oper Die Zauberflöte, 1791 im Wiener Freihaustheater uraufgeführt, handelt von dem Bestreben einer gewissen Königin der Nacht, sich an ihrem Widersacher Sarastro zu rächen, der es gewagt hatte, ihr Teuerstes zu rauben. Der Bezug zum Zeitgeschehen findet sich an den Anklängen an die Freimaurerei, die Mozarts Werk erkennen lässt. Innerhalb dieser antiklerikalen Vereinigung, dem damals modischen Geheimbundwesen, hatte man sich dem Ziel verschrieben, das Anliegen der Aufklärung voranzubringen, und der Großmeister der bedeutendsten unter den damals in Wien existierenden Logen dürfte Vorbild für die Figur des Sarastro gestanden haben.1 Die Gemeinsamkeiten zwischen Mozart und Kant beschränken sich also nicht auf die Vorliebe für gepuderte weiße Perücken. Wie Kant es als Denker tut, bezieht sich auch Mozart als Künstler auf die große geistige Bewegung in und außerhalb Europas, die zwar kein Ende kennt, aber doch zur Zeit des Wirkens beider einen in ihren Werken sich manifestierenden Höhepunkt erreichte. Schließlich hatte sich Vgl. Ernst Wangermann, Aufklärung und Josephinismus. in: ders., Aufklärung und Josephinismus. Studien zu Ursprung und Nachwirkungen der Reformen Josephs II., Bochum 2016 (Das Achtzehnte Jahrhundert und Österreich, Beihefte 7), 112. 1

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selbst die hohe Politik der Sache der Aufklärung angenommen. Der Preußenkönig Friedrich II. und die russische Zarin Katharina die Große tauschten sich mit Voltaire, dem Philosophen und Kirchenkritiker, über eine vernünftige Politik aus, während in Österreich Joseph II. die Privilegien der katholischen Kirche beschränkte, ihr Monopol als staatlich anerkannter Form der Religionsausübung aufhob und Teile ihres Besitzes im Namen des allgemeinen Volkswohls und -nutzens verstaatlichte. Die modernen Herrscher wollten sich nicht mehr unbedingt als von Gott in ihre Rechte eingesetzte verstehen. Sie neigten Naturrechtslehren zu, die ihnen die Aufgabe, über ihre Völker zu regieren, als den benötigten Vertretern einer vernünftig eingerichteten Gesellschaftsordnung übertrugen. Das Ereignis der Französischen Revolution markiert den entscheidenden Bruch in dieser ungewöhnlichen Liaison zwischen Monarchie und Aufklärung, den christlichen Regenten des Abendlandes und den Vordenkern seiner anstehenden Umgestaltung. Der einmal in die Welt getretene Präzedenzfall der Entmachtung und Enthauptung eines Königs im Zuge einer bürgerlichen Revolution erweiterte das Bewusstsein, welches Potenzial im aufklärerischen Denken schlummerte. Der Weg der Reform, der vormals das äußerst Denkbare progressiver Bestrebungen gewesen war, erschien nun nur noch als ein schwer oder gar nicht zu haltender Mittelweg zwischen den neuetablierten Extremen progressiver und konservativer politischer Gesinnung. Als Mittleres zwischen der Revolution, zu welcher die moderne soziale Entwicklung fähig ist, und einer Restauration, welche die reaktionäre Gesinnung anstrebt, war die Reform der nunmehr unpopuläre Weg, auf dem man sich bloß beiden Seiten verdächtig machte und zu einer definitiven Entscheidung genötigt wurde. In dieser Lage teilen sich zwei geschichtliche Strömungen, eine religiöse und eine philosophische, die sich in Österreich hätten vereinigen können und wollen, ein gemeinsames Schicksal. Bei der einen handelt es sich um eine weitere Verbindung, in welche die Aufklärung eintrat, nämlich die mit dem katholischen Glauben: Wenn es so etwas wie eine katholische Aufklärung überhaupt geben kann, hätte man darunter wohl den Reformkatholizismus zu verstehen oder dessen Vorläufer. Die andere ist die erste affirmative Rezeption von Kants Philosophie, der Frühkantianismus. Die reaktionäre Entwicklung in Wien und Österreich ab den 1790er Jahren hemmte reformatorische Bestrebungen innerhalb der katholischen Kirche ebenso sehr wie die Aneignung und Fortführung kantischen Denkens an den Universitäten und im Geistesleben Österreichs. Vor der Wende zur Restauration schien es, als hätten die schon länger bestehenden Bestrebungen, die katholische Kirche und den offiziellen Glauben mit der Aufklärung und ihren Anliegen in Einklang zu bringen, an Kants Lehre von einer Vernunftreligion ein wertvolles Werkzeug erhalten. Die Aussichten der Reformisten, sich gegen den innerkatholischen Widerstand durchzusetzen, schienen sich zu verbessern. Ein LexikonEintrag zum Stichwort „Reformkatholizismus“ versteht darunter eine

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Kollektivbezeichnung für die weitverzweigte fortschrittliche Bewegung innerhalb der römisch-katholischen Kirche, die als innerkirchliche Opposition die zunehmende Romanisierung des Katholizismus durch die kulturfeindlichen Einflüsse des die Leitung der Kirche beherrschenden Jesuitenordens bekämpft. Der R. ist hervorgerufen teils durch vorvatikanische liberale Traditionen, teils durch die Ergebnisse der modernen protestantischen Theologie, teils durch die immer mehr sich aufdrängende Überzeugung von der Inferiorität der Katholiken auf allen Gebieten des öffentlichen und wissenschaftlichen Lebens. Um den Katholizismus zu einem lebenskräftigen Kulturfaktor in der modernen Welt zu machen, verlangt der R. einerseits rückhaltlosen Verzicht auf das mittelalterliche Weltbild und die daraus stammenden Prinzipien und Methoden der scholastischen Philosophie und der kirchlich approbierten Wissenschaft, Revision des Index und des Syllabus, Aufgabe oder doch Zurückstellung der kirchenpolitischen Ansprüche gegenüber dem modernen Staat, Eindämmung des durch die Orden geförderten Aberglaubens in Kultus und Frömmigkeit (Lourdes, Verehrung des heil. Antonius von Padua, des heil. Herzens Jesus etc.), andererseits positive Mitarbeit auf allen Gebieten des modernen Lebens durch ehrliche Teilnahme an den politischen und sozialen Aufgaben des Staates, Orientierung der philosophischen Methoden an Kant statt an Thomas von Aquino, Freigabe der Bibel für die historisch-kritische Untersuchung und des Dogmas für die entwicklungsgeschichtliche Erklärung, Beteiligung an den modernen Bestrebungen in Kunst und Literatur.2

Reformkatholische Bestrebungen nähren sich sichtlich aus dem Wunsch, in jenem Rennen, worin sich Katholiken und Katholikinnen in der nachmittelalterlichen Welt wiederfanden, nicht auf der Strecke zu bleiben. Sogar die Anknüpfung an einen Philosophen, der nicht einmal katholisch war, kann hier ein Mittel der Wahl sein: Kant wird dem Heiligen Thomas vorgezogen. Die Philosophie Kants bietet sich reformatorischen Absichten in der Tat schon insofern an, als er, wenigstens im Politischen, der erklärte Denker der Veränderung durch Reform ist.3 In praktischen Belangen zieht er sie, als eine von oben betriebene, der Revolution vor, dem von unten betriebenen Umsturz, und bemüht sich, die mögliche Selbstadaption bereits etablierter Herrschaftssysteme zu denken. Darin war Kant der Denker der Epoche aufklärerisch gesonnener Herrscher schlechthin. Seine Philosophie empfiehlt sich einer Politik, wie sie Friedrich II. in Preußen und Joseph II. in Österreich in der Absicht verfolgten, ihr Land durch Reformen in Wirtschaft und Verwaltung, in Religions-, Rechts- und Bildungswesen voranzubringen. In der berühmten Beantwortung der Frage: Was ist AufkläMeyers Konversations-Lexikon, Bd. 16, Leipzig 1908, 692 f. Iring Fetscher zufolge „erweist sich der politische Denker Kant als ein höchst listiger bürgerlicher Reformist, der durchaus auf der Höhe des Bewußtseins seiner Zeit stand. Den Terminus ,bürgerlicher ReformismusR“, so erläutert Fetscher, „führe ich hier ein, um damit eine politische Haltung zu kennzeichnen, die – ähnlich wie der sozialdemokratische Reformismus seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts – durch allmähliche Reformen – nicht durch plötzliche und gewaltsame Revolution – das für richtig und notwendig gehaltene (politische Ziel) herbeiführen möchte.“ Iring Fetscher, Immanuel Kants Bürgerlicher Reformismus, in: Klaus von Beyme (Hg.), Theorie und Politik, Den Haag 1971, 70 – 95, hier 70. 2 3

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rung?, die er in der Berlinischen Monatsschrift des Jahres 1784 vorlegt, beteuert Kant: Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zu Stande kommen; sondern neue Vorurtheile werden eben sowohl als die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.4

Nicht die Revolution, sondern die Reform ist die der Aufklärung entsprechende Art, dauerhafte politische Veränderung zu erreichen. Dem Anschein entgegen erzeugen Revolutionen einen weniger gründlichen sozialen Wandel, weil in ihnen nicht jene systematische Umbildung erfolgt, in welcher aus der Menge der Einzelnen ein Volk wird, das vernünftig denkt und handelt – im Sinne des politischen Ganzen. Stattdessen vollzieht sich bloß eine Auswechslung jener Anführer, die es fremdbestimmen. In diesem Sinne bezieht sich Kant lobend auf Friedrich II., der insbesondere durch seine religiöse Toleranz hervorstach: Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d. i. des Ausganges der Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Unterthanen zu spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist. Aber die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt, geht noch weiter, und sieht ein: daß selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Unterthanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben sogar mit einer freimüthigen Kritik der schon gegebenen der Welt öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.5

Die Haltung des aufgeklärten Monarchen fasst Kant in ein Zugeständnis, das unter der Forderung steht: „[R]äsonnirt so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht!“6 In seiner Interpretation von Kants Zeitschriftenaufsatz gibt Michel Foucault dessen Gedanken wie folgt wieder: Gefragt ist danach, wie der Gebrauch der Vernunft die ihm notwendige öffentliche Form annehmen kann, wie die Kühnheit zu wissen in hellem Tageslicht ausgeübt werden kann, während die Individuen so genau wie möglich gehorchen. Und schließlich schlägt Kant Friedrich II. in kaum verhüllten Worten eine Art Vertrag vor, der ein Vertrag zwischen rationalem Despotismus und freier Vernunft genannt werden könnte: Der öffentliche und freie Gebrauch der autonomen Vernunft wird die beste Garantie

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: KantQs gesammelte Werke, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff., Bd. 8, 36. 5 Ebd., 41. 6 Ebd. 4

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des Gehorsams sein, jedoch unter der Bedingung, daß das politische Prinzip, dem gehorcht werden muß, selbst mit der universalen Vernunft übereinstimmt.7

Die Bevorzugung des Reformweges kann, ähnlich wie die Lehre von der Vernunftreligion als Bestandteil von Kants praktischer Philosophie, in der Tat den Eindruck eines freundlichen Entgegenkommens vonseiten der Aufklärung erwecken, zumal wenn man bedenkt, dass Kant in theoretischen Belangen nicht von Reform, sondern durchaus von Revolution spricht. In Behandlung der Fragen der Metaphysik beziehungsweise der übersinnlichen Grundlagen des religiösen Weltbildes, welches die längste Zeit auch Grundlage der noch bestehenden weltlichen Herrschaft und Ordnung gewesen war, spricht Kant von der „Revolution der Denkart“.8 Gewiss klingt die Rede von der Revolution innerhalb des Vergleichs, den Kant in der „Vorrede“ zur Kritik der reinen Vernunft zieht, zunächst harmlos, wenn er bemerkt: „In jenem Versuche, das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern, und dadurch, daß wir nach dem Beispiele der Geometer und der Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen, besteht nun das Geschäfte dieser Kritik der reinen speculativen Vernunft.“9 Wie die Durchführung der hier angekündigten Kritik deutlich zeigt, ist Kant sich jedoch des wesentlichen Unterschiedes sehr wohl bewusst, der zwischen Mathematik und Naturwissenschaften auf der einen und der Metaphysik auf der anderen Seite besteht: Die Regelung der gemeinschaftlichen öffentlichen Ordnung und des individuellen Handelns pflegte man weder auf das Wissen über Dreiecke, noch auf das Wissen über die Beschaffenheit der sinnlichen Welt zu gründen, sondern auf das vorgebliche Wissen von der übersinnlichen Welt. Wenn die Revolution in der Metaphysik durch eine Kritik der reinen spekulativen Vernunft dieses Wissen nicht bestätigen sollte, dann stellte sich folglich die Frage, ob und wie man den Gehorsam gegenüber Geboten und göttlichen oder menschlichen Herrschern begründet. Tatsächlich führt das von Kant erwähnte „Geschäft“ zu einer gründlichen Veränderung der Metaphysik. Sie hört auf, wie bislang eine vorgebliche Wissenschaft von übersinnlichen Dingen zu sein, um zu einer Wissenschaft von einem Vermögen und seinen Grenzen zu werden: von der menschlichen Vernunft, die es in ihrer theoretischen und praktischen Ausübung zu untersuchen gilt. Da Kant in der Durchführung dieser Vernunftkritik darlegt, dass eine Erkenntnis Gottes und der Unsterblichkeit der Seele, wie sie das Anliegen der dogmatischen Metaphysik gewesen war, unmöglich ist, versteht sich auch, warum der Titel eines aufgeklärMichel Foucault, Was ist Aufklärung?, in: Eva Erdmann u. a. (Hg.): Ethos der Moderne, Frankfurt am Main 1990, 35 – 53. 8 Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: KantQs gesammelte Werke (wie Anm. 4), Bd. 3, Vorrede, 9. 9 Ebd., 15. 7

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ten Herrschers (oder einer ebensolchen Herrscherin) demjenigen gebührt, der völlige Denk- und Gewissensfreiheit in Religionsfragen erlaubt. Das Revolutionäre am neuen, vernunftkritischen Denken zeigt sich darin, dass es die Erwartung zurückweist, die bislang an die Philosophie gerichtet worden war und darin bestanden hatte, die Wahrheit der Religion zu beweisen. Unter dem Hinweis, dass diese Aufgabe das Vermögen der menschlichen Vernunft grundsätzlich übersteigt, sichert sich das Denken die Freiheit und das Anrecht, zu anderen Ergebnissen zu gelangen als zu jenen, welche ihm so lange von der Obrigkeit in Gestalt der Inhalte der christlichen Heilsgeschichte vorgeschrieben worden waren. Es versteht sich daher gar nicht so ohne weiteres, wieso die praktisch-politischen Folgen nicht ebenfalls von revolutionärer Art sein und warum die Kritik nicht zur Absetzung der von Gottes Gnaden regierenden Herrscher führen sollte. Kant vermeidet diese Folgerung, indem er die Untersuchung des praktischen Vermögens der Vernunft zu dem Ergebnis gelangen lässt, dass ein persönlicher Gott und ein künftiges Leben nach dem Tode zwar kein Inhalt einer objektiven Gewissheit sind, wohl aber einer subjektiven, eines praktischen Glaubens und Bedürfnisses. Es bleibt also dabei, dass das eigentliche Ziel alles menschlichen Strebens außerhalb dieses Lebens in einem anderen liegt, um dessentwillen man sich damit abfinden kann, einiges zu erdulden. Anstatt die politische Revolution zu fordern, kann die Vernunft die bestehende gesellschaftliche Ordnung auf der Grundlage einer reinen Vernunftreligion anerkennen und Reformen von oben verlangen, wenn ihr im Gegenzug nicht zugemutet wird, zu anderen als zu ihren eigenen Urteilen zu gelangen. Der von Kant propagierte Vernunftglaube unterscheidet sich gründlich von den bekannten Auslegungen des christlichen Offenbarungsglaubens, ganz besonders von der katholischen. In derselben Schrift, in welcher er auch die Forderung, „die Metaphysik“ als „eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft“10 zu betreiben, zum ersten Mal ausspricht, den Träumen eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik des Jahres 1766, heißt es im „Vorbericht“ in äußerst ironischen Wendungen: Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier finden sie ein unbegränztes Land, wo sie sich nach Belieben anbauen können. Hypochondrische Dünste, Ammenmärchen und Klosterwunder lassen es ihnen an Bauzeug nicht ermangeln. Die Philosophen zeichnen den Grundriß und ändern ihn wiederum, oder verwerfen ihn, wie ihre Gewohnheit ist. Nur das heilige Rom hat daselbst einträgliche Provinzen; die zwei Kronen des unsichtbaren Reichs stützen die dritte, als das hinfällige Diadem seiner irdischen Hoheit, und die Schlüssel, welche die beiden Pforten der andern Welt aufthun, öffnen zugleich sympathetisch die Kasten der gegenwärtigen. Dergleichen Rechtsame des Geisterreichs, in so fern es durch die Gründe der Staatsklugheit bewiesen ist, erheImmanuel Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, in: KantQs gesammelte Werke (wie Anm. 4), Bd. 2, 368. 10

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ben sich weit über alle ohnmächtige Einwürfe der Schulweisen, und ihr Gebrauch oder Mißbrauch ist schon zu ehrwürdig, als daß er sich einer so verworfenen Prüfung auszusetzen nöthig hätte.11

Es zeichnet sich ab, dass es dem Jenseitsglauben an den Kragen geht, wenn die Vernunft ihren eigenen Gesichtspunkt geltend macht. Kants Verweis auf die Ewige Stadt lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich seiner Auffassung nach die katholische Kirche am besten darauf versteht, ihn zu kultivieren, um daraus Kapital zu schlagen. Wer sich mit ihm schwer tut, sind „[d]ie Philosophen“, also Kants Fachkollegen, denen vergebens zugemutet wird, den „Grundriß“ des übersinnlichen Jenseits mit den Mitteln der Vernunft zu entwerfen. Solange die Metaphysik als der Versuch betrieben wird, Erkenntnis eines spirituellen Jenseits zu sein, ist sie ein eitles und vergebliches Unterfangen. Einen wirklichen Nutzen daraus zieht weniger die Menschheit als die römisch-katholische Kirche, die sich ihrer bemächtigen will. Denn sie unterhält in der übersinnlichen Welt „einträgliche Provinzen“. Die antikatholische Ausrichtung von Kants kritischem Denken könnte nur dann noch unverhohlener zur Geltung kommen, wenn er dieselben Überlegungen nicht im subversiven Ton der Ironie vortrüge, sondern in dem einer direkten Anklage. Der Sache nach ist sie unmissverständlich: Zu dem deutlichen Verweis auf Rom gesellt sich der Gebrauch spezifisch katholischer Symboliken und die Anspielung auf jenen Teil der katholischen Geschichte, der zur Reformation und zur Kirchenspaltung geführt hatte. Die Rede von den ,Drei KronenR ist eine Anspielung auf den Kopfschmuck des Papstes, die Tiara oder römische Krone, die dreistöckig ist. In der katholischen Bildersprache repräsentieren die ,Drei KronenR sowohl die göttliche Dreifaltigkeit als auch die drei kirchlichen Reiche, von denen zwei dem Jenseits angehören, eines aber diejenige Kirche meint, die im Diesseits, auf Erden, für die Sache Gottes streitet. Das katholische Kirchenrecht hält klar fest: „Die Kirche ist eine Monarchie“ und bestimmt sie als „das unveränderliche Reich Christi auf Erden“, von dem es heißt: In diesem Reiche ist nun Christus der Einige unsichtbare König; Er hat an seiner Statt ein sichtbares Oberhaupt eingesetzt und somit ist nach der Anordnung Christi der wesentliche Charakter dieses Reiches der monarchische. Auch in den Reichen der Menschen hat sich die Monarchie, um ihrer Einheit willen, stets als die heilsamste, am Meisten die Ordnung fördernde Verfassung bewährt, und selbst in der weltlichen Monarchie tritt noch das Bild der göttlichen Ordnung hervor. Ja diese zeigt sich schon darin, daß Gott das ganze Menschengeschlecht aus Einem hervorgehen ließ. Um so mehr ist der Kirche um der Einheit willen der Primat gegeben, denn soll sie nicht einem in Stücke geschnittenen Wurme gleichen, dessen Theile sich, so lange noch Leben in ihnen ist, krümmen und winden, soll sie nicht einem Heere unter verschieden gesinnten Anführern ähnlich sehen, welches sich im Angesichte des Feindes auflöst, so muß Ein 11

Ebd., 317.

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Haupt, Ein Herrscher da seyn – Ezr wo_qamor erty – der Alle zu Einem Reiche vereint. Diese Bestimmung ist dem Primate Petri und seines Nachfolgers gegeben. In ihm ist die Einheit aller drei Gewalten des Priesterthums, Lehramtes und des Königthums; er herrscht im Namen des dreieinigen Gottes über die drei kirchlichen Reiche, über die streitende Kirche, die er heiligt, lehrt und leitet, über die leidende Kirche, für die er opfernd bittet, über die triumphirende Kirche, deren Pforten er schließt und öffnet. Darum trägt er die dreifache Krone.12

Nach dem Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche ist jede weltliche Monarchie nur darum legitim, weil diese Form der Herrschaft eines Königs oder Kaisers über seine Untertanen jener Ordnung entspricht, welche durch Christus, den unsichtbaren König, dessen Reich von einer anderen Welt ist, in die unsrige gekommen sei. Kants ironische Antwort hierauf ist aus strenggläubiger Sicht zweifellos häretisch. Er kehrt, ganz im Sinne der Aufklärung und ihres Generalverdachts gegen die Religion, das Verhältnis von Diesseits und Jenseits um: Es ist nicht die irdische Krone, welche um der himmlischen willen da ist, wie das Christentum lehrte, wenn es behauptete, dass man sich während des zeitlichen Daseins vor Gottes Augen für das Ewige Leben nach dem Tode zu qualifizieren hätte. Im Gegenteil stützen die jenseitigen Kronen „das hinfällige Diadem“ jener „irdischen Hoheit“, welche ihre Vertreter im Namen der Kirche unter Berufung auf die Geisterwelt ausüben. Das Ammenmärchen vom besseren Jenseits ist der sehr zweifelhafte Grund, aus dem heraus sich Menschen eine katholische Geistlichkeit leisten und ihre Zeit in Kirche und Beichtstuhl zubringen. Die Offenbarungsreligion, diese Königin der Nacht und ihrer Schatten, hatte einst behauptet, dass der römische Kaiser, der Mann an der Spitze der höchsten Macht auf Erden, nur darum rechtmäßig der Kaiser sei, weil Christus beziehungsweise ein allmächtiger dreifaltiger Gott das so will. Nüchtern betrachtet ist das ein Schwindel, der aus der Not eine Tugend macht. Die Kirche hat ein unsichtbares Königreich bloß erfunden, um in Rom neben dem weltlichen Kaiser einen Gegenkaiser als Stellvertreter des außerweltlichen Gottes zu installieren. Sie kann zwar kein Königreich vernichten und keines errichten, aber jedes infiltrieren. Seither verführt sie die unmündigen Schäfchen, die dieses Märchen glauben, auf eine recht erfolgreiche Weise: Immerhin hat die Kirche den Sturz verschiedener Weltreiche überlebt. An die Stelle des Imperium Romanum trat das Heilige römische Reich deutscher Nation, die Residenz des Kaisers wechselte von Rom nach Wien, die deutsche und andere Sprachen verdrängten allmählich das Lateinische, der römische Stellvertreter Gottes auf Erden aber blieb. Selbst der Untergang des Heiligen römischen Reiches sollte, den redlichen Bemühungen von Napoleons Soldaten zum Trotz, aus den katholischen Kirchen auf Dauer keine Pferdeställe machen. 12

Georg Phillips, Kirchenrecht, Bd. 1, Regensburg 21845, 234 ff.

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Die entlarvende Aufklärungsrhetorik setzt sich auch in Kants Anspielung auf die beiden Schlüssel fort, die Christus, einen silbernen und einen goldenen, der katholischen Vorstellungsweise zufolge dereinst dem Heiligen Petrus soll übergeben haben, weshalb der Papst sie bis heute in seinem Wappen trägt – Weiß und Gelb (Silber und Gold) sind auch die Farben des Vatikan –: Der ,GlaubeR lehrt, dass der Papst all jenen, die ihm und seiner Kirche mit ihren echten Schlüsseln die Kästchen öffnen, in denen sie ihr Erspartes verbergen, mit seinen unsichtbaren Schlüsseln den Zugang zur ewigen Glückseligkeit öffnet. In Wahrheit geht es bei dieser phantastischen Erzählung von den „Pforten der andern Welt“ lediglich darum, der Kirche das Ersparte der Menschen zuzuführen. Im Grunde stellt Kant die katholische Kirche hier als raffinierten Parasiten dar. Sie bedient sich der menschlichen Einbildungskraft und Leichtgläubigkeit, um sich im Tausch für Leistungen, die sie gar nicht wirklich erbringen muss, die Früchte der echten Leistungen hartarbeitender Menschen anzueignen. Der mittelalterliche Ablasshandel, an den man denken darf, lag damals zwar bereits eine Weile zurück, der Skandal von Limburg stand aber noch bevor. Offenkundig redet Kant, wenn er den Jenseitsglauben als Werkzeug der Bereicherung attackiert, seinen Landsleuten auch in ihr protestantisches Gewissen. Die ebenfalls ironische Bemerkung, die Rechtsansprüche („Rechtsame“), die sich auf die Geisterwelt stützen, seien schon zu ehrwürdig, um sich einer Prüfung auszusetzen, scheint anzudeuten, dass die Unwahrheit des Offenbarungsglaubens in dem weniger leichtgläubigen Zeitalter, in welchem Kant und seine Zeitgenossen leben, bereits ein offenes Geheimnis darstellt. Das bedeutet freilich nicht, dass man damals ungestraft öffentlich an Gott und Jenseits zweifeln durfte. Bloß verbat die Obrigkeit diese Zweifel kaum noch unter Aufbietung unfehlbarer Beweise für das Dasein von Himmel und Hölle. Beliebter war der Hinweis, dass es ohne die innige Überzeugung von einer strafenden göttlichen Gerechtigkeit nicht mehr möglich wäre, die unbedingte Notwendigkeit des Befolgens moralischer Gebote zu verkünden, wie die Bibel deren zehn verlautbart hatte. In Bezug auf diese Begründung dafür, dass die Philosophie das Dasein einer Geisterwelt zu erweisen hätte, nimmt der Schluss der Träume eines Geistersehers die aufklärerische Pointe von Kants späterer praktischer Philosophie bereits vorweg: „Wie?“ fragt er im „Praktische[n] Schluß aus der gesamten Abhandlung“, ist es denn nur darum gut tugendhaft zu sein, weil es eine andre Welt giebt, oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugendhaft waren? Enthält das Herz des Menschen nicht unmittelbare sittliche Vorschriften, und muß man, um ihn allhier seiner Bestimmung gemäß zu bewegen, durchaus die Maschinen an eine andere Welt ansetzen? Kann derjenige wohl redlich, kann er wohl tugendhaft heißen, welcher sich gern seinen Lieblingslastern ergeben würde, wenn ihn nur keine künftige Strafe schreckte, und wird man nicht vielmehr sagen müssen, daß er zwar die Ausübung der Bosheit scheue, die lasterhafte Gesinnung aber in

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seiner Seele nähre, daß er den Vortheil der tugendähnlichen Handlungen liebe, die Tugend selbst aber hasse?13

Dieses Argument kehrt den von ihnen geführten Spieß gegen alle religiösen Reaktionäre. Deren Argument, dass nur diejenigen von wohlwollender und guter Gesinnung wären, welche die Lehren der Kirche anerkennen und sich ihrer bevormundenden Macht unterwerfen, fällt auf sie selbst zurück, zeigt es doch, dass sie es mit der Liebe zur Tugend gar nicht ernst meinen. Indem Kant die unmittelbaren sittlichen Vorschriften aufbietet, welche die Vernunft als solche erkennt, die dem menschlichen Herzen eingeschrieben sind, schließt er von der Moral all das aus, was die Religion, die Kirche und ihre Priester zur Begründung ihrer Geltung zu gebrauchen pflegen: die Verheißung, dass Gott im Jenseits an den Übeltätern, die seine Gebote brechen, schreckliche Rache nehmen würde. Den Vernunftglauben, der an die Stelle des offenbarungsreligiösen Wahnes treten soll, hat Kant im Jahre 1766, mehr als zwanzig Jahre vor der Kritik der praktischen Vernunft, auch schon im Blick, wenn er beteuert, es hätte wohl niemals eine rechtschaffene Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, daß mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben hätte. Daher scheint es der menschlichen Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer zu sein: die Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele, als umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der andern Welt zu gründen. So ist auch der moralische Glaube bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünftelns überhoben sein kann.14

In Mozarts und Schikaneders Oper singt Sarastro: „In diesen heilQgen Hallen / kennt man die Rache nicht! / Und ist ein Mensch gefallen, / Führt Liebe ihn zur Pflicht. / Dann wandelt er an Freundes Hand / vergnügt und froh ins bessQre Land“, was einerseits eine Erwiderung auf die Arie der Königin der Nacht ist, die ihrer Tochter offenbart hatte: „Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“, andererseits aber wohl auch als Zurückweisung des Glaubens verstanden werden kann, der Mensch lasse sich nur durch die Furcht vor der Rache Gottes zur Tugend führen. Sarastro unterstreicht seine Botschaft, indem er an das erinnert, worum es Christus eigentlich ging – im Gegensatz zu dem, was die Kirche daraus gemacht hat –: „In diesen heilQgen Mauern, / wo Mensch den Menschen liebt, / kann kein Verräter lauern, / weil man dem Feind vergibt.“15 Wie Sarastro trennt Kant den Begriff der Pflicht von der Rache und der Furcht vor dieser. Seine kirchenkritische Gesinnung entspricht dem Regierungsstil jenes Kant, Träume eines Geistersehers (wie Anm. 10), 372. Ebd., 373. 15 Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart (Musik) und Emanuel Schikaneder (Libretto), zitiert nach: www.murashev.com/opera/Die_Zauberflöte_libretto_German_Act_2, zuletzt aufgerufen 14. 4. 2021. 13 14

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Herrschers, der ein Jahr vor der Veröffentlichung der Träume eines Geistersehers zum römisch-deutschen Kaiser gekrönt worden war. Kant lässt seine Schrift mit einer Bezugnahme auf Voltaires Candide enden: Anstatt über die Existenz einer Geisterwelt nachzugrübeln, sollte man besser in den Garten gehen und etwas Nützliches tun. Die Politik Josephs II. bemühte sich darum, die katholische Kirche in Österreich unter einem diesseitigen Gesichtspunkt zu reformieren: Bestehen bleiben sollte alles, womit sie sich auf nützliche Weise in ein vernünftig eingerichtetes Gemeinwesen einzubringen vermochte. Jedes Kloster mit einem fruchtbaren Garten war willkommen. Verschwinden musste, was sich nur dem übersinnlichen Jenseits widmete. Darum ist es nicht überraschend, dass die zehn Jahre seiner Regentschaft der Aufnahme der neuen kritischen Philosophie günstig waren.

II. Der rational reformierte Katholizismus und die Ära Josephs II. Wenn es Kant zufolge vorrangig der freisinnige Umgang mit Religionsangelegenheiten ist, worin ein Herrscher oder eine Herrscherin aufgeklärte Gesinnung unter Beweis stellt, kann Joseph II. sich gut ausweisen. An erster Stelle ist hier ein Erlass zu nennen, durch den er, bezeichnenderweise erst nach dem Tod seiner Mutter zur Zeit seiner Alleinherrschaft, eine gewisse Gleichstellung der katholischen mit den anderen im Lande vertretenen Religionen betrieb: Am 10. Oktober 1781 erließ Joseph II. das „Toleranzedikt“, das Protestanten, Lutheranern und Calvinisten sowie Griechisch-Orthodoxen Religionsfreiheit und ihre staatsbürgerliche Gleichstellung mit den Katholiken zusicherte. Auch die Juden wurden von ihrem Gettodasein befreit. Der Kaiser hob die im Lauf der Jahrhunderte ihnen auferlegten menschenunwürdigen Beschränkungen auf und verkündete zugleich: „Ohne weitere Modalität soll der Jude als Staatsbürger zu allem verwendet werden, was anderen obliegt.“16

Die Einschränkung der Vormachtstellung, welche die katholische Kirche in Österreich innehatte, erfolgte aber nicht nur in Form dieser Gleichstellung, sondern auch durch die Schaffung säkularer Pendants zu kirchlichen Institutionen: Mit der Einführung der sogenannten „Civil-Ehe“ („Ehepatent“ vom 16. Januar 1783) stand der Gründung einer Familie nicht mehr ausschließlich die Kirche als Vertreter des Himmels, sondern auch der Staat als oberster Wohltäter auf Erden gesetzlich Pate. Eine Scheidung beziehungsweise die Wiederverheiratung geschiedener Eheleute war dadurch – zwar eher theoretisch als praktisch – möglich geworden. Es war nicht der erste schwere Eingriff des Kaisers in den bis dahin unumstrittenen Machtbereich der katholischen Kirche. Am 29. November 1781 verfügte Joseph II. die Aufhebung von Orden 16

Stephan Vajda, Felix Austria. Eine Geschichte Österreichs, Wien 1980, 398.

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beziehungsweise Klöstern, die sich nicht einer für die Gesellschaft nützlichen Tätigkeit, wie Krankenpflege oder Jugenderziehung, widmeten. Kartäuser, Kamaldulenser, Eremiten, Pauliner, Klarissen, Kapuzinerinnen, Franziskanerinnen, Dominikanerinnen, Benediktinerinnen und Coelestinnen mußten ihre Häuser räumen. Aber von den insgesamt 2136 Klöstern in Österreich wurden nur 359, also nicht ganz 17 Prozent, säkularisiert, in den Besitz des Staates übernommen, und fortan als Kasernen, Militärdepots, Spitäler, Irrenhäuser und auch als Wohnblöcke für Fabriksarbeiter verwendet. Das eingezogene Vermögen der aufgehobenen Orden floß in einen Religionsfonds, aus dem neue Kirchenbauten finanziert und die staatlich festgesetzten Gehälter der Priester bezahlt wurden.17

Was unter Maria Theresia an zu erfüllenden Anforderungen bei der Ausbildung guter Staatsbürger und künftiger Beamter noch ausreichend schien, erachtet ihr Sohn Joseph für ungenügend. Seine Bemerkung hierüber ist unmissverständlich: Die guten Herren glauben, alles erreicht und einen guten Staatsmann herangebildet zu haben, wenn ihr Sohn in der Messe ministriert, seinen Rosenkranz betet, alle vierzehn Tage beichtet und nichts anderes liest, als was der beschränkte Geist des Beichtvaters gestattet. Wer würde kühn genug sein, nicht zu sagen: das ist ein netter Junge, sehr gut erzogen! Allerdings würde ich antworten: Ja, wenn unser Staat ein Kloster und unsere Nachbarn Kartäuser wären!18

Gleichwohl zeichnet die Geschichtsschreibung von Joseph II. ein anderes Bild als das eines regelrechten Feindes der Kirche, mag die Art seiner Wertschätzung auch vielsagend sein: Joseph II. war keineswegs, wie oft fälschlich behauptet wird, ein heimlicher Atheist, und er war auch kein Gegner der katholischen Religion. Doch die gewaltigen und seiner Ansicht nach veralteten Machtstrukturen der Kirche reizten seinen Reformeifer, er wollte die weltlichen Funktionen der allgegenwärtigen Organisation verbessern, sie in den Dienst der gesellschaftlichen Entwicklung stellen. So wurden auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin die Pfarrer angewiesen, in ihre Sonntagspredigten auch nützliche Hinweise für die Erhaltung der Gesundheit, für die Bekämpfung von Tierseuchen und für die Förderung der landwirtschaftlichen Produktion einzuflechten. […] Wallfahrten zu den Gnadenorten, für Joseph II. unnütze Überbleibsel heidnischen Aberglaubens, wurden drastisch eingeschränkt.19

Die vom Denken der Aufklärung und vom Gesichtspunkt der Nützlichkeit angeleitete Politik bedient sich der Kirche und ihrer Strukturen als einer Art Vorgängerin des staatlichen Rundfunks. Allerdings ist das schon insofern kein Hinweis auf eine mögliche Stabilität der Verbindung von Aufklärung und Katholizismus, als sich mit Nachdruck die Frage stellt, was langfristig von letzterem übrigbliebe, wenn die ihr entgegengebrachte Wertschätzung vonseiten der Vernunft und des 17 18 19

Ebd. Zitiert nach Hans Magenschab, Josef II. Österreichs Weg in die Moderne, Wien 2006, 72. Stephan Vajda, Felix Austriae (wie Anm. 16), 398 f.

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Staates desto größer ist, je nützlicher sie sich in der Verbreitung dessen erweist, was Kant „Regeln der Geschicklichkeit“20 nennt – also eines diesseitigen, praktisch verwertbaren Erfahrungswissens anstelle einer asketischen Moral und des Glaubens ans Jenseits und die Heilsgeschichte. Fast alles, was Kant am herkömmlichen Glauben mit solcher Ironie behandelt hatte, spielt für Joseph II. und sein Religionsverständnis gar keine bedeutende Rolle mehr.21 So gesehen kommt es wohl in Frage, das zu repräsentieren, was man allenfalls unter einer katholischen Aufklärung verstehen könnte: die Bemühungen, den kirchlich praktizierten katholischen Glauben mit einem Denken und Handeln zu verbinden, das über sämtliche soziale Belange neu zu urteilen wagt und das Räsonnement der Berufung auf die Tradition überordnet. Es wäre jedoch falsch, in diesem Religionsverständnis eine Entdeckung des Aufklärers unter den römisch-deutschen Kaisern zu sehen. Vielmehr gab es, wie Ernst Wangermann aufzeigt, auch innerkirchliche Bestrebungen zu Reformen in ebendiesem Sinne, welche zwar bei Maria Theresia, die geistig noch in der Zeit des Barock und der Gegenreformation verhaftet war, auf keine offenen Ohren stießen, wohl aber bei ihrem Sohn Joseph. Über den Anspruch der Reformkatholiken des 18. Jahrhunderts, den katholischen Glauben als vernünftig zu rechtfertigen, bemerkt Wangermann: In future, the rational content of Christian moral precepts would be demonstrated, and the Catholic dogmas would be ,provedR by relevant quotations from the Scriptures, the true meaning of which would be elucidated by reference to the original text and the historical context. The closeness of the Reform Catholics to the basis assumptions of the Enlightenment is evident here. Yet it must be emphasized that theirs was a Catholic Enlightenment. They opposed intolerance and persecution of non Catholics, because they considered Christian benevolence and rational persuasion to be more effective and appropriate means for maintaining and spreading the Catholic faith. They failed ultimately to persuade Maria Theresa of this view, and she ended her reign by renewing the sanction of transportation to Transylvania for the recalcitrant Protestants of Moravia. Joseph II was much closer to the Reform Catholics on this question. He ended transportation for Lutherans and Calvinists (though he prescribed flogging for the so-called Bohemian Deists), and – very much in the spirit of Reform Catholicism

Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: KantQs gesammelte Werke (wie Anm. 4), Bd. 4, 416. 21 Der im Volk vorherrschende Glaube oder Aberglaube war in gewissen Belangen tatsächlich auch noch zu eingefleischt, als dass seine Pragmatisierung durch Joseph II. überall auf Zustimmung gestoßen wäre. Eine hierüber sehr aussagekräftige Episode ist das Misslingen des Versuchs, auch das Bestattungswesen zu reformieren. Das rationale Argument, dadurch eine schnellere Verwesung zu ermöglichen, konnte der sparsamen Idee nicht zum Erfolg verhelfen, bei der Beerdigung der Toten die Särge durch mit Kalk bestreute Leichensäcke zu ersetzen. Vgl. Vajda, Felix Austria (wie Anm. 16), 399 f. 20

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– he reserved special clerical preferments for the most enthusiastic and successful converters of heretics by the methods of Christian charity and rational persuasion.22

Über die geschichtliche Rolle der innerkirchlichen Reformbewegung bemerkt Wangermann: „[T]he Reform Catholics became a major channel of communication between the Enlightenment and the population of the Habsburg lands. The specifically Catholic and Austrian characteristics of the Enlightenment in the Habsburg lands are in great measure due to the mediating role of the Reform Catholics.“23 Das Zeitalter, in welchem der „Geist der Freiheit“24 hoffen konnte, sich mit der Politik eines monarchisch verfassten Staates einträchtig zu verbinden, ging mit einem Paukenschlag zu Ende, als im Jahre 1789 die französische Revolution ausbrach, die Monarchie in Frankreich gestürzt und die Republik ausgerufen wurde, deren Anführer bald erst Ludwig XVI. und dann, im Oktober 1793, seine Gattin Marie Antoinette, die Schwester Josephs II., unter das Fallbeil der Guillotine legten. Ihr Bruder musste diese Nachricht nicht mehr ertragen. Ob man nun glauben möchte, dass jener Gott, der den Aufklärungskaiser gnadenhalber eingesetzt hatte, ihn abberief, oder schlicht, dass die Natur sich zurücknahm, was sie Menschen nur für eine endliche Zeit zu leihen pflegt: Joseph II. starb bereits zu Beginn des Jahres 1790. Darum aber war es der Welt auch nicht vergönnt zu wissen, welchen Einfluss das Ereignis der Revolution auf seine Politik gehabt hätte. Bekannt ist, dass sein Neffe, nach der kurzen Regierungszeit seines Bruders, endgültig einen Kurswechsel in Richtung Restauration vollzog.

III. Zarte Anfänge und harte Unterdrückung. Die frühe österreichische Kant-Rezeption Die Werke, die Immanuel Kant zum berühmtesten Denker des Zeitalters der Aufklärung machen sollten, erschienen während jenen Jahren, als sich deren Anhänger in Österreich durch die nicht unbegründete Überzeugung ermutigt fühlten, einen der ihren auf dem Thron zu wissen. Zwar mögen ihre Hoffnungen teils auch schon in Bezug auf Joseph II. zu hoch gesteckt gewesen sein, ihre gründliche Enttäuschung erfuhren sie aber erst unter Franz II. Die Regentschaft Josephs erwies sich alles in allem als günstige Fügung für eine erste kurze Phase der Kant-Rezeption in Österreich. An seiner Untersuchung Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration. Beiträge zur Geschichte des Frühkantianismus in Wangermann, Reform Catholicism and Political Radicalism, in: ders., Aufklärung und Josephinismus (wie Anm. 1), 104. 23 Ebd., 102. 24 Kant, Was ist Aufklärung? (wie Anm. 4), 41. 22

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der Donaumonarchie hat Werner Sauer eine Darstellung des letzteren vorgelegt, die nichts zu wünschen übrig lässt, was in die glückliche Lage versetzt, seine Züge in Form einer Zusammenfassung von Sauers Ergebnissen wiedergeben zu können. Der Titel seiner Arbeit zeigt schon an, dass Sauer den Umschwung in Österreichs Politik in den 1790er Jahren als entscheidend für das Schicksal der dortigen Rezeption von Kants Philosophie einstuft. Das relativiert auch das Gewicht, welches man dem Umstand, dass die kantische Philosophie hier auf ein katholisches Land stieß, tatsächlich beizumessen hat, wenn es zu erklären gilt, dass in Österreich keine solche auf Kant zurückgehende ,idealistischeR philosophische Tradition entstand wie im protestantischen Deutschland. Der Institutionenpolitik misst Sauer nämlich genug Bedeutung bei, um den aus seiner Sicht allzu simplen „Erklärungsansatz“ für diesen Sonderweg zurückzuweisen, wonach „im katholischen Süddeutschland und in Österreich ein zähes Festhalten an typisch katholischen Denkschemata […] ein breiteres Wirksamwerden der Kantischen Philosophie und dadurch eine Kantianisch-idealistische Traditionsbildung verhindert habe.“25 Die Auswertung der geschichtlichen Quellen zeigt, dass sich das Ausbleiben einer sich an Kant abarbeitenden philosophischen Tradition eher der Unterdrückung durch die Politik der Restauration verdankt. Gestützt auf die zahlreichen von ihm zusammengetragenen Belege für eine oftmals affirmative Auseinandersetzung mit Kant, die in Österreich, zum Teil auch innerhalb des Klerus, vor und zu Beginn der Zeit der anbrechenden Restauration stattgefunden hat, verwirft Sauer die Annahme als „Fiktion“, „das Rezeptionsschicksal einer in revolutionärer Zeit als geistige Revolution auftretenden Philosophie hätte sich in dieser Zeit in Isolation von externen Faktoren gleichsam in einem geistigen Freiraum vollziehen können.“26 Er behauptet demgegenüber von der „österreichischen Kantrezeption“, dass sie zeitlich mit einer Nahtstelle in der Entwicklung des Habsburgerreiches zusammenfällt, an der im Schatten des Jahrhundertereignisses der französischen Revolution der aufgeklärte Absolutismus an seinen inneren Widersprüchen zerbrach, die Aufklärung sich politisch zum Frühliberalismus, sogar zu radikal-demokratischem Denken weiterentwickelte und an der staatlich-kirchlichen Restauration scheiterte, die sich zum ,franziszeischen SystemR konsolidierte.27 Werner Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Reformation. Beiträge zur Geschichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie, Amsterdam 1982, 14 f. 26 Ebd. 27 Bei der Bestimmung des zeitlichen Rahmens, der sich durch den Begriff des Frühkantianismus im habsburgisch regierten Österreich abstecken lässt, kann Sauer sich als Philosophiehistoriker auf den bereits erwähnten Historiker Wangermann sowie den auf Literaturhistoriker Leslie Bodi berufen. Beide hätten in ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit dem fraglichen Zeitraum bereits „die 25

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Diesem einleitenden Ausblick auf die Zeit nach dem Frühkantianismus, die von der Unterdrückung der kantischen Philosophie gekennzeichnet sein wird, gesellt Sauer, als ersten Teil seiner Untersuchung, einen ausführlichen Rückblick auf jene Zeit bei, die ihm vorausging. Die Philosophie der Aufklärung hatte, wenn auch etwas später, an den Hochschulen sowie in der Geisteswelt Österreichs und seiner Kronländer bereits Fuß gefasst, ehe Kant in ihr bestimmend wurde, und zwar in Gestalt der leibniz-wolffschen Schulphilosophie, die im Deutschland des 18. Jahrhunderts tonangebend war. Sauers philosophiegeschichtlicher Aufarbeitung zufolge durchläuft das Denken in Österreich eine ungemein rasche „Entwicklung vom Barockkatholizismus über die weltanschaulich gemäßigte jansenistisch-reformkatholische zur eigentlichen Aufklärung mit ihrem religiösen Rationalismus“.28 Zunächst tritt um die 1750er Jahre im Gefolge der ersten theresianischen Studienreform und ihrer forcierten staatlichen Indienstnahme der Universitäten die im nördlichen Deutschland bereits länger etablierte Philosophie Christian Wolffs allmählich an die Stelle der barocken Scholastik. Diese Wende zum Denken der Aufklärung geht nicht zufällig Hand in Hand mit der Schwächung des Feudaladels und der Kirche, die der monarchische Staat betreibt, sich an ein Staatsvolk wendend, welches sich ihm selbst anstelle der anderen Autoritäten verpflichten soll. Sie schlägt sich auch, wie bereits erwähnt, in einem Staatsrechtsdenken nieder, das sich auf Naturrechtstheorien stützt. Allerdings bleibt die erste Aufnahme einer Philosophie, welche die Berufung auf traditionelle Autoritäten, auf die Heilige Schrift und die Philosophen der Antike suspendiert, um die allgemeine Vernunft an deren Stelle zu setzen, noch auf den theoretischen Bereich beschränkt. In der praktischen Philosophie oder der Morallehre verblieb man vorerst in den alten Geleisen. Obwohl, wie Sauer bemerkt, der Jesuitenorden, der sich sehr stark in die Gestaltung des Erziehungsund Bildungswesens einbrachte, „die entschiedenste Kraft der Beharrung in Religions- und Kirchenfragen“ war, sind es größtenteils noch seine Mitglieder, die ansatzweise diesen ersten Wandel vollziehen. Die Jesuiten bemühen sich dabei, das Denken Wolffs und seines Lehrers Leibniz mit den naturphilosophischen Lehren ihres Ordensbruders Roger J. Boskovich zu verbinden.

im Gefolge des aufgeklärten Absolutismus josephinischer Prägung entstandene und im Zusammenhang mit der Verfolgung der österreichischen Jakobiner 1794–95 systematisch unterdrückte kritische Öffentlichkeit“ thematisiert, der eine allgemein-, der andere literaturgeschichtlich. Zudem verweist er auf schon länger zurückliegende Vorarbeiten von Max Ortner, worin dieser die „entscheidende Bedeutung der mit der franziszeischen Restauration Platz greifenden politischen und kulturellen Reglementierung für das Nichtzustandekommen einer stabilen Kanttradition in Österreich“ (ebd., 16) herausgestrichen hat. 28 Ebd., 48.

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Erst nach der Aufhebung des Ordens im Jahre 1773, zu welcher sich der Heilige Stuhl in Rom in der Person von Papst Clemens XIV. unter dem Druck mehrerer der zusehends zentralistisch regierten europäischen Großmächte durchrang, kam es zu einer Umstellung auch des Unterrichts der praktischen Philosophie. Dies geschah im Zuge einer zweiten theresianischen Reform, unter welcher die Jesuiten von den Lehrkanzeln entfernt wurden. Sauer zufolge stand diese zweite Reform „auch bereits im Zeichen der sogenannten Popularphilosophie, der auf Wolff folgenden, etwa 1750 – 60 einsetzenden Phase der deutschen Aufklärungsphilosophie“, welche allerdings, „wie schon die Weiterverwendung der Bezeichnung ,Leibniz-WolffQscheR Philosophie zeigt, kein wirklicher Bruch“ von der vorangegangenen „trennte“,29 sondern lediglich die Aufwertung der Psychologie, die in der Popularphilosophie eine grundlegende Funktion erhält. Als die bedeutendste treibende Kraft der Veränderung und der Reformen innerhalb des Katholizismus der damaligen Zeit hebt Sauer den Jansenismus hervor. Mit dieser Bewegung verbindet er auch den – sicherlich problematisch bleibenden und von ihm unter Anführungszeichen gesetzten – Begriff einer katholischen Aufklärung: Die staatlichen Reformen gingen einher mit Entwicklungen im kirchlich-religiösen Bereich. Das monolithische Gefüge der gegenreformatorischen Kirche zeigte um die Jahrhundertmitte bereits Auflösungserscheinungen. Die jansenistische Reformbewegung fand im Habsburgerreich starken Widerhall und hatte dadurch maßgeblichen Anteil an der Entfaltung der ,reformkatholischen AufklärungR in der Monarchie. Mit seiner ausgeprägt absolutistisch-staatskirchlichen Einstellung und seiner entschiedenen Gegnerschaft gegen die Barockfrömmigkeit wurde der jansenistische Reformkatholizismus in Österreich religiös-ideologisch wie personell zum überwiegenden Träger der aufgeklärt-absolutistischen Kirchenreformen, zumindest in der theresianischen Zeit.30

Obgleich es also vor allem ihre Erzfeinde, die Jansenisten waren, die der katholischen Aufklärung zuarbeiteten und die päpstliche Aufhebung des Ordens der Jesuiten, von denen sie früher bekämpft worden waren, kaum bedauert haben dürften, will Sauer den Beitrag, den letztere zur vorsichtigen Annäherung der österreichischen Philosophie an das deutsche Denken der Aufklärung geleistet haben, nicht unter den Teppich gekehrt wissen – ungeachtet dessen, dass das vorläufige Ende der Jesuiten und ihre Entfernung aus dem Bildungswesen der Sache dann den nächsten Schub verlieh. In der beschleunigten Weise, mit welcher sich im von der Aufklärung mit Verspätung erreichten Österreich der Übergang von einer philosophiegeschichtlichen Epoche zur nächsten vollzieht, erblickt Sauer einen Grund dafür, dass die 29 30

Ebd., 27. Ebd., 28.

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kantische Philosophie schon bald nach ihrem großen Auftritt, ehe ihre institutionelle Unterdrückung begann, auf einen solchen Anklang treffen konnte. Sie wurde wie die Kadenz erfahren, die eine sich aufgebaut habende Spannung löste: Durch die rasante Entwicklung vom Barockkatholizismus zur antiklerikalen Aufklärung mit ihrem religiösen Rationalismus wurde die der Aufklärung allgemein inhärente Spannung zwischen ,GlaubenR und ,WissenR von den österreichischen Aufklärern in besonderer Schärfe erlebt. So konnte die Kantische Philosophie, einmal als Ausweg aus diesem Dilemma erkannt, von Österreichern mit besonderer Intensität rezipiert werden.31

Für diese Diagnose bürgen die Werdegänge gewisser Intellektueller, die sich in der fraglichen Zeit von einer Gedankenwelt in die andere versetzt fanden. Ein besonders deutliches Beispiel gibt ein Mann ab, dem sich Sauer in einem eigenen Kapitel widmet und der eine ausführliche Betrachtung im Zusammenhang der österreichischen Kant-Rezeption verdient. Denn obgleich Karl Leonhard Reinholds äußerst wirkmächtige Auseinandersetzung mit Kant erst nach seiner Übersiedelung oder vielmehr Flucht ins deutsche protestantische Ausland erfolgte, ist sie in doppelter Weise in Bezug auf seine alte Heimat aussagekräftig: erstens in Bezug darauf, wie ein im katholischen Österreich dieser Zeit herangereifter Intellektueller diese Philosophie auffasste, und zweitens durch die Rückwirkung, die Reinhold durch seinen großen Erfolg als Kant-Interpret in Deutschland auf Österreich und die dortige Kant-Rezeption hatte. Der in Wien geborene Karl Leonhard Reinhold avancierte, nachdem er seinen Geburtsort im Jahre 1784 in Richtung des protestantischen Deutschland verlassen hatte, zu demjenigen unter Kants frühesten Interpreten, der dessen kritisches Werk erstmals einem breiten Publikum bekannt und zugänglich machte. Dieses Engagement für die kantische Sache begründete der Auswanderer ausdrücklich damit, dass Kants kritische Neuausrichtung der Philosophie den inneren Zwiespalt behoben hätte, der ihn bis zu seiner Bekanntschaft mit ihr geplagt hatte: Der religiöse Glaube an einen höheren Sinn des menschlichen Daseins schien Reinhold schwer vereinbar mit der von der Aufklärung erhobenen Forderung, sich von allen Autoritäten und Vorgaben zu lösen, deren Geltung die Vernunft allein nicht darlegen lann. Sein ganzes Denken kreiste um das Problem, wie man der Alternative zwischen Unglauben auf der einen Seite und Aberglauben auf der anderen erfolgreich entrinnen könne.32 Reinhold war wie viele, die später der bedeutendsten der Wiener FreimaurerLogen mit Namen ,Zur Wahren EintrachtR beitraten, zuerst Mitglied im JesuitenEbd., 17. Zu Reinholds Werdegang siehe Philipp Schaller, Wiener Ouvertüren zur Kantisch-Reinholdischen Philosophie, in: Violetta Waibel (Hg.), Umwege. Annäherungen an Immanuel Kant in Wien, in Österreich und in Osteuropa, Göttingen 2015, 120 – 128. 31 32

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orden gewesen. In diesem hatte er sich als Schüler auf ein weltabgewandtes klerikales Leben vorbereitet. Nach der Aufhebung des Jesuiten- trat er in den Barnabitenorden ein, welcher der Beschäftigung mit der Philosophie und den weltlichen Naturwissenschaften recht aufgeschlossen gegenüberstand und dadurch jene Talente zu entdecken und zu fördern half, die Reinhold dem angestrebten geistlichen Beruf und dem traditionellen katholischen Glauben entfremden sollten. Er machte mit der Philosophie der Aufklärung Bekanntschaft, insbesondere mit den Schriften LeibnizQ und Lockes, in die ihn sein geistlicher Mentor einführte. Offenbar ließ die Lektüre der großen Denker der Europäischen Aufklärung in Reinholds Augen die traditionellen Begründungen des Glaubens als ungenügend erscheinen, ohne dass deren eigene, kontrovers diskutierte metaphysische Lehren – ihre Versuche, diesem Glauben eine neue rationale Grundlage zu verschaffen – den von ihnen selbst gesäten Zweifel wirklich zu bezähmen halfen. An dem entstehenden Bildungsbürgertum bot das Zeitalter der Aufklärung intellektuell befähigten Männern reizvolle weltliche Alternativen zu einer kirchlichen Karriere. In Wien führte Reinhold spätestens ab 1782, als er der von Ignaz von Born geleiteten Freimaurer-Loge beitrat, ein regelrechtes Doppelleben, stellte doch die gleichzeitige Mitgliedschaft sowohl in ihr als auch in einem katholischen Orden einen Widerspruch und eine existenzielle Unvereinbarkeit dar. In der intellektuellen und publizistischen Tätigkeit, die er im Rahmen seiner Mitgliedschaft in der Loge entfaltete, wandte er sich zum Teil mit dem Vorwurf des Aberglaubens gegen die Grundsätze, denen er als Geistlicher selbst verpflichtet war. Um diesen Pflichten beziehungsweise der Ahndung ihrer Verletzung vonseiten der Kirche zu entrinnen, flüchtete Reinhold, die weitverzweigten Verbindungen der Freimaurerei nützend, nach Deutschland, wo er auf Umwegen schließlich mit dem Dichter Christoph Martin Wieland in Weimar Bekanntschaft schloss, zum Protestantismus konvertierte und sogar der Schwiegersohn des deutschen Dichters wurde. In dessen Zeitschrift Teutscher Merkur brachte er ab 1786 unter dem Titel Briefe über die kantische Philosophie die letztere einer breiten Öffentlichkeit näher. Die Philosophie Kants bot sich Reinhold als der ersehnte Ausweg aus seinem geistigen Konflikt dar. Einerseits fand er an ihr eine gründliche kritische Erledigung der dogmatischen Metaphysik als vorgeblicher Wissenschaft vom Übersinnlichen, die wenig oder nichts zu wünschen übrig ließ in der Ausschöpfung aller Gründe eines möglichen Zweifels, welchen die Vernunft gegen grundlose Wissensansprüche geltend zu machen vermochte. Das Wissen war von Kant auf die Erfahrung beschränkt und dem Aberglauben ein Riegel vorgeschoben worden. Andererseits aber entwickelte Kant den notwendigen Glauben an Gott und Unsterblichkeit dergestalt als notwendige Postulate aus der praktischen Vernunft, dass es solch scheinbarer Beweise, die einem gründlichen Zweifel nicht standhalten, gar nicht weiter bedurfte.

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In Reinholds Augen leistete Kant also zur Genüge, was Leibniz und die sich auf ihn und auf Wolff zurückbeziehende Popularphilosophie nicht vermocht hatte. Daraus, dass die letztere nicht nur die im protestantischen Deutschland vorherrschende, sondern mittlerweile auch die im katholischen Österreich verbreitete Philosophie war, versteht sich sein Erfolg dabei, die eigene Begeisterung über die Entdeckung von Kants Vernunftkritik auch einem nichtösterreichischen Publikum zu vermitteln. Zudem bot sich Reinhold eine Gelegenheit dar, das Potenzial von Kants Philosophie, die in Deutschland noch kaum beachtet wurde, für die Schlichtung der Streitfragen aufzuzeigen, denen er hier begegnete, diskutierte man doch soeben eifrig und heftig die Behauptung, die Friedrich Heinrich Jacobi in seinem öffentlichen Streit mit dem Berliner Aufklärer Moses Mendelssohn vertreten hatte: Eine Philosophie, die nur Vernunftgründe gelten lässt, führe, so Jacobi, zu Baruch de Spinozas pantheistischer und, aus christlicher Sicht, atheistischer Lehre, vor deren Anerkennung einen nur ein unvermittelter Sprung in den Glauben retten könne. Während Mendelssohn, der als Jude keinen leichten Stand in öffentlichen Religionsdebatten hatte, die Verteidigung der rationalen Beweisbarkeit vom Dasein eines persönlichen Gottes übernehmen musste, sprang Jacobi ein protestantischer Theologe namens Thomas Wizenmann bei, nachdrücklich betonend, dass man sich entweder zu einer bestimmten positiven Religion bekennen und sich der Autorität eines Gottes unterwerfen müsse, der sich der Menschheit offenbart hat, oder aber so konsequent sein müsse, Religion und Moral überhaupt zu verwerfen. Reinhold argumentierte, dass die hier verhandelte Angelegenheit durch Kant im Grunde bereits erledigt worden wäre, und tatsächlich sah Kant sich genötigt, in diesem Jahre 1786 durch eine kleine Schrift mit Namen Was heißt: sich im Denken orientieren? seine Lehre vom Vernunftglauben als praktischem Bedürfnis insbesondere gegen Jacobi ins Treffen zu führen. Der sogenannte Spinoza- oder Atheismus-Streit, auf den Reinhold Bezug nimmt, um den Deutschen einen gewissen Immanuel Kant als denjenigen ihrer Denker vorzustellen, der das entscheidende kritische Wort gesprochen hatte, zeugt davon, dass eine protestantische Aufklärung nicht unbedingt sehr viel weniger problematisch ist als eine katholische. Die strenggläubigen und aufklärungsskeptischen unter den protestantischen Theologen stellten so sehr wie die katholischen in Frage, dass die Religion die intellektuelle Emanzipation von jeder unerweislichen Autorität überstehen könne, und der erwähnte Wizenmann verfasste denn auch eine kritische Entgegnung auf Kants praktische Philosophie. Der Erfolg, den Reinhold durch seine Kant-Darstellungen erzielte, beziehungsweise das öffentliche Interesse, das er durch sie an der neuartigen Philosophie weckte, verhalf ihm schließlich, im Jahre 1788, zu einer außerordentlichen Professor an der Universität des nahe bei Weimar gelegenen Jena, das sich in der Folge zu einem Magneten und Tummelplatz für all jene Geister entwickelte, die

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sich mit den Lehren des neuen, aber im weit entfernten Königsberg schaffenden Meisters der Vernunftaufklärung vertraut machen wollten. Für die Rückwirkung, welche Reinholds Auftreten als Verkünder von Kants Weisheit auf die vergleichsweise junge Aufklärungsbewegung in seiner alten Heimat hatte, sind vor allem die Beziehungen bedeutsam, in denen er von der neuen Wirkungsstätte aus mit den dort zurückgelassenen Freunden weiterhin stand, sowie diejenigen, die er durch seine in der Heimat bekannt werdende Jenaer Tätigkeit dazugewann. Denn unter den Untertanen Josefs II., unter denen sich, ermutigt von seiner aufklärerischen Politik, eine kritische Öffentlichkeit zu bilden begann, erschien es vielen, Bürgerlichen wie Adligen, reizvoll, sich von dem Emigranten in Jena mit jener neuartigen Philosophie bekannt machen zu lassen, in der das Denken der Aufklärung zu seiner bislang wohl mächtigsten Ausformulierung gelangt war. Unter Reinholds Hörern, Studenten und Besuchern in Jena fand sich alsbald eine beträchtliche Anzahl von Männern aus verschiedenen habsburgischen Kronländern wie Kärnten, der Steiermark und Ungarn. Umgekehrt besuchten einige deutsche Anhänger der neuen Lehre, die in Jena mit den österreichischen Bekanntschaft geschlossen hatten, bald Wien und Klagenfurt und suchten den Austausch mit den dortigen Intellektuellen und Literaten. Zu den Österreichern, die nach Jena reisten, gehörten etwa der Fabrikant Franz de Paula Herbert, der, als eine Art Mäzen fungierend, das universitäre Studium einiger Kant-Interessierter förderte sowie ihren Austausch untereinander und damit die Verbreitung der kantischen Philosophie in und außerhalb Österreichs, sowie der Graf Wenzel von Purgstall, der den Meister selbst in Königsberg aufsuchte. Zu den von Reinhold unterrichteten deutschen Kantianern zählten unter anderen Johann Benjamin Erhard, der eine Schrift über das Recht eines Volkes auf Revolution verfasste, und Friedrich Karl Forberg, der Fichte, Reinholds Nachfolger in Jena, mit einer in dessen Journal veröffentlichten religionsphilosophischen Schrift in einen weiteren der für diese Zeit offenbar typischen Atheismus-Streite verwickelte – einen, der diesmal eher institutionell als publizistisch ausgetragen wurde. Beide, Erhard und Forberg, besuchten Herbert, nachdem sie in Jena Bekanntschaft mit ihm geschlossen hatten, in dessen Haus in Klagenfurt und hielten sich dort eine Weile lang auf. Unterdessen kam es, wie Sauer darlegt, innerhalb des von Reinhold verlassenen Österreich beziehungsweise in den Erbländern der Habsburger-Monarchie nachweislich bereits im Jahre 1784 zu einer von Aneignung und Zustimmung zeugenden Rezeption von Kants Philosophie. Den Briefen von Reinholds früherem Lehrer an den ehemaligem Schüler in Jena lässt sich entnehmen, dass Kants Kritik der reinen Vernunft in Wien gegen Ende der 1780er Jahre bereits erhältlich war, und dass die groben Züge der kantischen Philosophie, wie sie mittlerweile in ver-

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schiedenen deutschen Zeitschriften dargestellt wurde, ungefähr bekannt waren. 33 Als Beispiel der frühen Kant-Rezeption führt Sauer das Wirken Anton Kreils an, eines bayrischen Philosophen, der, wie Reinhold, Born und der bekannte höfische Aufklärer Joseph von Sonnenfels, Illuminat und Mitglied in der Wiener Loge ,Zur wahren EintrachtR war. Neben Johann Delling wurde Kreil in Ungarn – er selbst in Pest, Delling in Fünfkirchen – der erste Professor in der Donaumonarchie, der nicht nur klar dem Lager der Aufklärung angehörte, sondern auch dezidiert kantische Positionen vertrat.34 Als Kreil, der im Jahre 1785 eine Philosophie-Professur in Pest erhielt, noch in Wien weilte, vertrat er im Journal der dortigen Freimaurer bereits deutlich den Standpunkt Kants, wonach sich alle Wissensansprüche innerhalb dessen halten müssten, was Inhalt einer möglichen Erfahrung werden kann. Die Besetzung von philosophischen Professuren mit Anhängern der Aufklärung und ihrer jüngsten Frucht, der kritischen Philosophie, war desto mehr ein politisches Signal, als die Universitäten im Zuge von Maria Theresias Reformen verstärkt den Zwecken des Staates untergeordnet worden waren. Möglich war sie wohl nur unter einem Monarchen, der, zusammen mit seinen höchsten Beamten, die Überzeugung hegte, dass aufklärerisches Denken mit der Verfassung des gegenwärtig bestehenden Staates vereinbar wäre. So reichten eine revolutionäre Philosophie und eine reformistische Politik einander vorübergehend die Hände. Sich auf Gottfried von Swieten beziehend, den Sohn von Maria Theresias Leibarzt und den Präsidenten der Studienhofkommission unter Joseph II., kommentiert Sauer: „Neben der Ausstrahlung Jenas ist auch die Personalpolitik van Swietens ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Geschichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie.“35 Die scheinbar guten Aussichten für ein Bündnis der hohen Politik mit der Aufklärung als einer geistigen Bewegung, die von fortschreitender Volksbildung getragen sein sollte, erwiesen sich aber bald als trügerisch. Deutlich zeigt sich das an der Entwicklung, welche die Dinge für die Wiener Freimaurerei nahm, in welcher ihre Anhänger der Sache der Aufklärung die Form einer organisierten Institution zu geben strebten. Man ließ sich vonseiten der Ordensobersten auf ein Bündnis mit dem Kaiser ein, dem man als Propagandawerkzeug zur Durchsetzung seiner Reformen zu dienen bereit war, musste aber bald feststellen, dass die Gunst und der Schutz des Herrschers um den Preis der verlorenen Autonomie erworben worVgl. Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration (wie Anm. 25), 107 ff. 34 Zu Kreils und Dellings schwierigem Stand in Ungarn siehe Bela Pukanszky, Die Aufnahme deutscher Denker in Ungarn – von Kant bis Nietzsche, in: ders., Deutsch-Ungarische Begegnungen, Leipzig 1943, 193 – 206, hier 195. 35 Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration (wie Anm. 25), 131. 33

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den waren.36 Wer auch immer vom Kaiser irgendwo im Reich eingesetzt wurde, um im Sinne seiner Politik zu arbeiten, musste nicht nur sogleich in eine Loge aufgenommen, sondern im Eiltempo ordensintern befördert und mit entsprechender Macht ausgestattet werden. Durch das Freimaurerpatent, das Joseph II. im Jahre 1785 erließ, wurden die davor florierenden Logen wohl aus dem Argwohn, dass sie von staatsfeindlichen Kräften unterwandert werden könnten, unter staatliche und polizeiliche Aufsicht gestellt, was ihren Niedergang herbeiführte. Vereinigungen, welche sich der Unterstützung der progressiven Politik des Kaisers verschrieben hatten, standen plötzlich unter dem Schatten des Verdachtes. Die nicht mehr geheime Mitgliedschaft verlor nun, wo sie nicht nur nützlich, sondern auch schädlich sein konnte, stark an Attraktivität. Es zeichnete sich insgesamt ab, dass der Versuch der staatlichen monarchischen Politik, sich die Aufklärung zu eigen zu machen, um eigene Interessen durchzusetzen und unliebsamen Entwicklungen vorzubeugen, die daraus hervorgehen könnten, zum Scheitern verurteilt war. Die Vertreter der Aufklärung, deren Kritik sich bislang vorwiegend gegen die Kirche und deren Unterdrückung der Gedankenfreiheit gerichtet hatte, wandten selbige nun vermehrt auch gegen den Monarchen, der sie enttäuscht hatte.37 Obgleich die ursprüngliche Begeisterung der Josephiner der Ernüchterung wich, sollten sie angesichts der nach der Französischen Revolution und nach Josephs Tod einsetzenden Restauration den Zuständen der 1780er Jahre noch nachtrauern.38 Für die zarten Anfänge einer öffentlichen Kant-Rezeption in Österreich bedeuteten die Entwicklungen der 1790er Jahre nichts Gutes. Sie kündeten von der wachsenden Ahnung, dass sich das aufklärerische Denken für den zentralistisch organisierten und monarchisch verfassten modernen Staat als nur bedingt nützlich erweisen würde. Anstatt nur der Überwindung innerer Widerstände im Zuge seiner Konsolidierung zu dienen, drohte es, ihn selbst in Frage zu stellen. Die Position reaktionärer Geistlicher wie Christoph Anton Migazzi, des Erzfeindes der Wiener Aufklärer und der josephinischen Reformisten, verbesserte sich erheblich. Was unter dem Aufklärungskaiser Joseph II. noch bloß ein unheilverkündender Anfang blieb, wurde unter Franz II., dem Kaiser der Restauration, rasch zu einer handfesten Unterdrückung in Gestalt eines politischen Gebildes, das sich vom Rechtsstaat wieder deutlich wegentwickelte, um mehr und mehr einem Polizeistaat zu gleichen. Vgl. Wangermann, Die Freimaurerei Österreichs im 18. Jahrhundert, in: ders., Aufklärung und Josephinismus (wie Anm. 1), 153 – 162. 37 Vgl. Wangermann, Die Sonne der Aufklärung, in: ders., Aufklärung und Josephinismus (wie Anm. 1), 205 – 214. 38 Vgl. Wangermann, Josephiner, Leopoldiner und Jakobiner, in: ders., Aufklärung und Josephinismus (wie Anm. 1), 61 – 76, besonders 64. 36

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Der neue Geist, welcher nun hinter das Steuerrad der politischen Geschicke trat, manifestierte sich auf denkwürdige Weise in den sogenannten Jakobinerprozessen, dem staatlichen Vorgehen gegen eine „von der Polizei mehr konstruierte als aufgedeckte ,JakobinerverschwörungR“,39 welche sie unter ihrem Leiter Anton von Pergen im Jahre 1794 aufgedeckt haben wollte. Die Affäre kostete einigen Männern in Wien und in Ungarn das Leben oder die Freiheit, obwohl die meisten wohl kaum sehr viel mehr getan haben dürften als das, was von der Regierung bis vor kurzem teils geduldet, teils sogar – in ihrem Kampf mit dem privilegierten Adel und der Kirche – gefördert worden war: Sie hatten über die Freiheitsrechte der Untertanen räsoniert.40 Die rechtsstaatlichen Strukturen, welche von seinen Vorgängern und deren Mitarbeitern geschaffen worden waren, griffen unter Franz II. nur sehr bedingt: Immerhin erreichte der Rechtsphilosoph und Richter Karl Anton Martini, dass die Prozesse unter einigermaßen ordentlichen Bedingungen geführt wurden. Da Martini unter die Reformkatholiken gezählt werden kann und schon zu Maria Theresias Zeiten seine Rechtsauffassung unter Anknüpfung an Christian Wolffs Philosophie entwickelt hatte, lässt sich das wohl als Beleg dafür werten, dass sich die etablierten Errungenschaften der katholischen Aufklärung zumindest nicht völlig würden rückgängig machen lassen. In Wien kam es, so Sauers Darstellung der Entwicklung, zur Spaltung der vormals noch geeinten Gesellschaft der „josephinischen Aufklärer“, wobei der eine Teil unter dem sich nun abzeichnenden „Auseinandertreten von Aufklärung und Absolutismus den Weg der Konformität“ einschlug und „schließlich im Lager der Apologeten des franziszeischen Systems“ landete, während sich der andere Teil „radikalisierte“, „aus der Aufklärung politische Konsequenzen“ zog und im Hinausschreiten über den Absolutismus zum „Frühliberalismus“41 gelangte. Unter diesen neue Fronten und in dem veränderten geistigen Klima der „frühfranziszeischen Reaktion“ mit ihrem „immer offener reaktionären Kurs“ konnte die Begeisterung für die kantische Philosophie und die Auseinandersetzung mit ihr nicht mehr unter dem Bekenntnis zu und in der Übereinstimmung mit der offiziellen Staatsdoktrin betrieben werden. Diese verlangte nun verstärkt die Entscheidung zwischen Patriotismus und Kosmopolitismus und besiegelte das Schicksal der Bemühungen, kantisches Gedankengut zu verbreiten, wie der Fabrikant Herbert sie von Kärnten und der Philosophieprofessor Kreil von Ungarn aus verfolgten.

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112.

Vajda, Felix Austria (wie Anm. 16), 411. Vgl. Wangermann, Josephiner, Leopoldiner und Jakobiner (wie Anm. 38), 64 ff., besonders Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration (wie Anm. 25),

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Ein abschließender Blick auf diese Einzelfälle kann einen Eindruck von dem Umschwung in Österreich vermitteln.42 Die ganze Schärfe des Kontrastes, der sich zwischen jenen beiden politischen Epochen einstellt, welche das Ereignis der Französischen Revolution voneinander trennt, lässt Guido Naschert in seiner Schilderung der persönlichen Beziehungen deutlich hervortreten, in denen der Kärntner Unternehmer Herbert nach seinem Aufenthalt in Jena stand. Neben Forberg und Erhard, die ihn in Klagenfurt besuchten, erwähnt er den Bibliothekar Carl Ludwig Fernow, der ebenfalls aus dem deutschen Norden angereist kam, und unter seinen ortsansässigen Kärntner Bekannten einen gewissen Ignatz Ritter von Dreer zu Thurnhub sowie zwei philosophisch begabte junge Damen. Er zeichnet dabei ein aussagekräftiges Bild von der geistigen Aufbruchsstimmung, unter welcher sich die frühe Kant-Rezeption in Österreich vollzog. Über Dreer bemerkt er: Die überlieferten Zeugnisse geben zu erkennen, dass dieser „Demokrat“ und „Kantianer“ vielleicht die bedeutendste Persönlichkeit im Herbert-Kreis gewesen sein mag. Über seine philosophischen Anschauungen wissen wir jedoch viel zu wenig, um seinen Beitrag zur Geschichte angemessen würdigen zu können. Ein Wiener Polizeiagent beschreibt ihn als „der gefährlichste Mensch der Doctor Juris Dreer“, der „das Freyheits Sistem bey jeder Gelegenheit zu verbreiten suchet“. Forberg erinnert sich seiner als eines „offenen Kopfes“, der „über philosophische und kirchliche Dinge nur scherzte“.

Über dessen Verwandtschaft heißt es dann: Von seinen Schwestern Ursula und Babette sprachen die deutschen Gäste hingegen nur in den höchsten Tönen: „Da nun sogar die Damen hier Selbstdenkerinnen sind,“ schrieb Fernow einmal an Reinhold, „so wird den ganzen Tag philosophirt und polemisirt, und die Unterhaltungen werden nie matt und fade; darum hat das Leben hier einen so himmlischen Reiz für mich“. Forberg berichtet, dass die Eltern der beiden Philosophinnen so fromm waren, dass die Frauen zum Diskutieren ins herbertsche Haus ausweichen und ihre Kant-Ausgaben schwarz einbinden mussten, um sie „gelegentlich statt der Andachtsbücher mit in die Messe zu nehmen“.43

Der Unbeschwertheit, von der dieser Austausch unter Frei- und Gleichgesinnten der nördlichen und südlichen Gefilde des deutschen Sprachraums zeugt, rückte das Zensur- und Spitzelwesen, das sich unter dem reaktionären Regierungsstil der Restauration bildete, alsbald zu Leibe. Herbert wurde der Wiener Regierung verdächtig: Neben den im Folgenden behandelten Beispielen würden sich auch andere anbieten, etwa der Fall des jüdischen Intellektuellen Lazarus Bendavid, der von Berlin im Jahre 1791 nach Wien kam, um Kants Philosophie zu lehren und, nachdem er großen Zuspruch erfuhr, schließlich vom Staatsapparat der Stadt verwiesen wurde. Vgl. dazu Olga Ring, Lazarus Bendavid – ein Autodidakt lehrt Kant in Wien, in: Waibel (Hg.), Umwege (wie Anm. 32), 47–50. 43 Guido Naschert, Reinhold und die Kant-Rezeption im Klagenfurter Herbert-Kreis, in: Waibel, Umwege (wie Anm. 32), 161 – 168, hier 162 f. 42

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Nach 1789 wurde sein Haus von der Wiener Staatspolizei als eine Art Jakobinerklub wahrgenommen. Zu den Verdacht erregenden Momenten zählten nicht nur die freigeistigen Gäste aus Jena, sondern auch der Bezug ausländischer Zeitschriften wie etwa der (zeitweise verbotene) Straßburger Courier. Um das Netzwerk des Barons ausheben zu können, wurde Mitte der 1790er Jahre, auf dem Höhepunkt der Österreichischen Jakobinerverfolgung, das Klagenfurter Haus durchsucht und ein Teil der europaweiten Korrespondenzen beschlagnahmt. In dieser Zeit versuchte von Herbert zusammen mit dem Nürnberger Arzt, Kantianer und Revolutionstheoretiker Johann Benjamin Erhard an einem Zusammenschluss antiaristokratischer Zirkel in Österreich und im Reich mitzuwirken. Diese Bestrebungen wurden jedoch von den Wiener Polizeibehörden vereitelt.44

Der Kant-Rezeption in Ungarn erging es nicht besser. Die Tätigkeit des Kantianers Anton Kreil war den reaktionären Kräften, die dort traditioneller Weise sehr stark waren, von Anfang an ein Dorn im Auge. Adel und Klerus, deren Privilegien Maria Theresias und Josephs Politik im ganzen Reich zugunsten eines das Volk unmittelbar regierenden Zentralstaates nach und nach zu mindern strebten, hatten in Ungarn besonders starken Rückhalt. Das rührte daher, dass diese Frage hier mit nationalistischen Befindlichkeiten verbunden war: Weitgehende Befugnisse lokaler Autoritäten wurden als Gewährleistungen einer relativen Unabhängigkeit und Selbstbestimmung des Landes innerhalb der Monarchie gewertet. Besagte Autoritäten verstanden sich darauf, diese Karte beim Werben um die Gunst des Volkes auszuspielen. Die Berufungen Kreils und Dellings waren ein klares Zeichen wertschätzender Anerkennung in Richtung der progressiven und aufklärerischen Kräfte innerhalb Ungarns gewesen, auf welche die zentralistische Politik unter Maria Theresia und Joseph setzte, und hatten denn auch umgehend deren Widersacher auf den Plan gerufen. Erfolgreich in ihren Bestrebungen, die unerwünschten Philosophen wieder loszuwerden, waren die Kräfte der Reaktion jedoch erst, nachdem das Spektrum progressiver Politik, welches bislang nur eine Veränderung durch staatliche Reformen von oben hatte erkennen lassen, plötzlich um das aufsehenerregende Beispiel einer Revolution von unten erweitert worden war. Eszter De#k schildert die Repressionen, denen der bayrische Denker seiner Lehren wegen nun ausgesetzt war, wie folgt: Kreil bezweifelte in seinen Vorträgen und Schriften die religiösen Dogmen, weshalb gegen ihn von den Behörden zuerst im Jahre 1790 die Anklage der Verbreitung von pantheistischen Lehren, Skeptizismus und Freidenkerei erhoben wurde. Die behördliche Untersuchung endete mit der Enthebung des Angeklagten. […] Anknüpfend an den Prozess gegen die ungarischen Jakobiner hat die Statthalterei Untersuchungen gegen die mit der demokratischen Bewegung sympathisierenden Universitätslehrer veran-

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Ebd., 164 f.

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lasst, da diese mit ihren radikalen politischen sowie antiklerikalen Ansichten gefährlich für die Jugend seien.45

In Ungarn wurde im Jahre 1795, dem Jahre der Hinrichtung jener Männer, die als jakobinische Verschwörer verurteilt worden waren, der Unterricht der kantischen Philosophie an allen katholischen Schulen und Einrichtungen verboten. Immerhin war sie noch Gegenstand von Angriffen. Der abgesetzte Professor, der nach Wien zurückgezogen war, verfolgte von dort aus die Versuche seiner reaktionären ungarischen Widersacher, die von ihm vertretene Philosophie Kants und sein Handbuch der Logik von 1789 zu diskreditieren. In seinen Korrespondenzen mit Freunden kommentierte Kreil, was er als die Irrtümer und Verfehlungen jener Kritiker ansah, die sich nun öffentlich gegen ihn und gegen Kants Lehre wandten. Unterdessen sah er sich auch in Wien genötigt, seine Überzeugung von deren Vorzüglichkeit und seine eigene Schrift gegen Angriffe zu verteidigen. De#k fasst die Kontroverse zusammen, die sich in Form von aufeinander bezogenen Streitschriften zwischen Kreil und dem erzreaktionären Philosophen Peter Miotti zutrug, von dem sie bemerkt: Der Professor der Logik und Metaphysik war ein heftiger Gegner der kantischen Philosophie. Er ließ 1798 in Wien seine Schrift gegen Kant und Kreil erscheinen: Über die Nichtigkeit der Kantischen Grundsätze in der Philosophie nebst einer kurzen Rezension, der nach Kant geschriebenen Logik von Prof. Kreil. Im nächsten Jahr erschien Kreils Antwort auf Miottis Werk: Bemerkungen über die jüngste Schrift des Herrn Miotti, nebst einer Vergleichung der Lockischen, Leibnitzischen und Kantischen Philosophie (Wien 1799). Im Jahre 1801 erschien in Wien Kreils Verteidigung des kantischen Systems Vindicae systematis Kantiani (Die Verteidigung des kantischen Systems). Miotti veröffentlichte darauf sein umfangreiches Buch Über die Falschheit und Gottlosigkeit des kantischen Systems, nebst einer Antwort auf A. KreilQs Bemerkungen über die jüngste Schrift des Herrn Miotti (Wien 1801). Der Exjesuit Miotti, der Kant ausführlich studierte und seine Thesen auch argumentativ begründete, sieht in der kantischen Philosophie eine Gefahr für die Kirche. „Aufklärer“, „Kantianer“ und „Jakobiner“ bedeutet ein und dasselbe, behauptet er, nämlich einen Angriff gegen Religion und Thron. Miotti kann als der eigentliche Initiator des vatikanischen Antikantianismus gesehen werden. Das Urteil, dass Kants Philosophie „unverständlich“, „dunkel“, „gottlos“ und „Gift für jeden guten Katholiken“ sei, wurde auch von dem Wiener Hof angenommen.46

Aus den Titeln dieser Schriften und den überdeutlich feindseligen Worten, mit welchen Miotti die Fronten abzustecken trachtet, lässt sich bereits ersehen, dass sich die vormals großen Hoffnungen der josephinischen Aufklärer der 1780er Jahre gegen Ende des 18. Jahrhunderts als trügerisch erwiesen. Es zeichnete sich ab, dass sich der Anspruch auf intellektuelle Selbstbestimmung, die unEszter De#k, Kant-Rezeption und Kant-Kritik in Ungarn am Ende des 18. Jahrhunderts – Die Lehrtätigkeit Anton Kreils, in: Waibel, Umwege (wie Anm. 32), 51 – 56, hier 52 f. 46 Ebd., 55. 45

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abhängig von allen Autoritäten erfolgt, und auf sozialreformatorische Fortschritte nicht in dem erhofften Einvernehmen mit der Obrigkeit würde durchsetzen lassen. Eine katholische Aufklärung innerhalb eines Staates, in dem ein Alleinherrscher von Gottes Gnaden regiert, stellte sich nun für beide Seiten, für die Aufklärung und für den katholischen Glauben, als unwahrscheinlich dar. IV. Katholische Aufklärung und Vernunftreligion – widersprüchliche Konzepte? Auf die Frage, ob das nicht ein Oxymoron sei, wird sich gefasst machen müssen, wer von einem aufgeklärten Katholizismus oder gar von einer katholischen Aufklärung spricht. Wenn überhaupt, dann kann man sich eine Vorstellung davon wohl an einer Kirche machen, die, um für ihren Fortbestand zu sorgen, ihren Daseinszweck innerhalb des sich entwickelnden modernen Rechtsstaates zu bestimmen sucht. Das entspricht wohl auch in etwa der Agenda, welcher die reformfreudigen Akteure im Österreich des 18. Jahrhunderts folgten, und der Bedeutung, die sie ihrem Glauben beigemessen hätten, so sie sich denn als gläubige Katholiken verstanden. Das Selbstverständnis einer solchen Kirche wäre nicht mehr so sehr das einer Institution, die sich als souveräne Macht und Organisation versteht, welche die über die Erde verstreute Menschheit zum christlichen Glauben bekehrt, um sie ihrer Moral und Führung zu unterwerfen, dabei beteuernd, dass sie ihnen die Teilhabe an dem von Christus verheißenen Ewige Leben eröffnet und ihre Seelen vor der Verdammnis rettet. Der vormalige stolze Anspruch, die weltliche Macht von Gottes Gnaden einzusetzen, d. h. den Fürsten, Königen und Kaisern ihre Macht und Befugnisse aus den von ihnen verwalteten Quellen des übersinnlichen Jenseits zu verleihen, würde der bescheidenen Bereitschaft weichen, einem Staat zu dienen, dessen Bürger sich aus vernünftigen Gründen einer Regierung unterwerfen, genauer gesagt: weil dieser Regierung, infolge eines ideellen Gesellschaftsvertrages, die Aufgabe zukäme, das allgemeine Wohl der Bürger zu besorgen, weshalb sie sowohl gewisse Rechte als auch bestimmte Pflichten gegen diese hat. Damit wäre aus dem schon im Mittelalter ausgebrochenen Streit zwischen weltlicher und geistlicher Macht im Kampf um die Vormachtstellung der einen vor der anderen die weltliche endgültig als Siegerin hervorgegangen. Durch den Begriff der Vernunftreligion wird, wie es schon mit dem Herrscher innerhalb moderner Rechtstheorien geschehen war, auch noch der Kirche ihre Daseinsberechtigung von der Vernunft als höchster Autorität zugesprochen. Sie rechtfertigt deren Bestehen im Grunde durch einen diesseitigen Zweck: Sie darf den Menschen vom besseren Jenseits, vom Himmel und dem übersinnlichen Königreich Christi solange erzählen, als sie dadurch das gelingende Zusammen-

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leben auf Erden, im sinnlichen Königreich, fördert. Diese emanzipatorische Strategie der Aufklärer des 18. Jahrhunderts hatte die Geschichte gegen dessen Ende jedoch schon überholt und der Grund dafür lag im Wesen der Aufklärung selbst. Denn so sehr nach den Lehren ihrer Vertreter, der Verfassung der modernen Monarchien entsprechend, der von der Vernunft verlangte Souverän ein König oder eine Königin sein sollte, die Bürger die Landeskinder von Landesvater oder Landesmutter, lag doch eben darin, dass sich diese Folgerung nicht zwingender aus vernünftigen Erwägungen ergeben will als der Gedanke einer Republik, schon die erlösende Nachricht für alle religiösen Reaktionäre. Es bleibt zu bemerken, dass sich die Kluft, die sich zwischen Philosophie und Religion aufzutun begann und angesichts derer alle Überbrückungsversuche immer aussichtsloser erschienen, nicht auf die katholische Ausübung des Christentums beschränkte. Die Lehre von der Vernunftreligion, der zufolge die christliche Heilsgeschichte wie von ungefähr mit Folgerungen zusammentrifft, die sich angeblich notwendig aus reiner Vernunft ergäben, ist wohl derjenige Teil von Kants Philosophie, der trotz oder gerade wegen der beschränkten Bedeutung, die ihm zukommt, begründete Zweifel auf sich zieht. Der Versuch, den Offenbarungsglauben und den Bekenntniszwang durch ein unschädliches Substitut zu ersetzen, wurde denn auch nicht angenommen. Wie bald danach in Österreich hatte in Preußen bereits im Jahre 1786 ein Monarch den Thron bestiegen, der sich von seinem Vorgänger gründlich unterschied. Der von Kant gepriesene Friedrich II. hatte seinen designierten Nachfolger, den protestantisch-frommen Friedrich Wilhelm II., wohl nicht grundlos verachtet: Der abergläubische Regent ließ sich von Spiritisten zum Narren halten, die ihm vorgaukelten, ihn mit den Geistern seiner verstorbenen Ahnen sprechen zu lassen. Als Kant in den Jahren 1793 und 1794 seine Schrift Über die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft veröffentlicht hatte, erreichte ihn eine „Cabinetsordre“, in welcher der bigotte König seinen intellektuell überlegenen Untertanen mit der Feststellung anherrschte, er hätte seine „Philosophie zu Entstellung, Herabwürdigung und Entehrung mancher Haupt- und Grundlehren der heil. Schrift mißbrauchet“. Der König drohte Kant, sich gefälligst keinen weiteren Verstoß gegen „sehr wohl bekannte LandesVäterliche Absichten“ mehr zu erlauben, „widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu gewärtigen habt.“47 Der Königsberger Philosoph versprach, das Thema künftig nicht mehr zu behandeln – was sich auch leicht versprechen ließ, nachdem er dem „Afterglauben“,48 dem sein jetziger Monarch anhing, das gebührende Denkmal bereits geKant, Briefwechsel 1794, in: KantQs gesammelte Werke (wie Anm. 4), Bd. 11, Cabinetsordre König Friedrich WilhelmQs II., 1. Oct. 1794, 524. 48 Ebd., 525. 47

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setzt hatte. Ansonsten war es, dem Schicksal sei Dank, in Deutschland anders als in Österreich bereits völlig unmöglich, die breite öffentliche Auseinandersetzung mit Kants Schriften erfolgreich zu unterbinden – trotz aller Borniertheit der kleinen Geister, die selbiges Schicksal bisweilen an einflussreiche Positionen zu setzen pflegt. Die ernstzunehmenden Feinde der Aufklärung sind zuletzt aber wohl auch von anderem Kaliber als die reaktionären Sonntagsschreiber und die Lückenbüßer der monarchischen Erbfolge. Ob in den protestantischen Teilen Deutschlands oder im katholischen Österreich: Die Szene nach der Französischen Revolution und in den letzten Jahren des Jahrhunderts der Aufklärung war überall dieselbe. Kaum dass die Vernunft ihre Botschaft offen verkündet hatte, wurde das Licht im Konzertsaal erst einmal gedämpft. Die Königin der Nacht betrat die Bühne, umgeben von den Zauberklängen der heraufdämmernden Romantik. Sie hob zu ihrem schaurig schönen Gesang an, um ihre die Dunkelheit liebenden Untertanen auf die Rache einzuschwören, die in ihrem Herzen brannte.

Christoph Schmitt-Maaß Miß Sara Sampson auf der ländlichen Schmierenbühne Lessing, die Wiener Aufklärung und die österreichische Theaterpraxis Und das alles lassen sich die Wiener so gefallen? Lessing anlässlich der Wiener Aufführung seiner Emilia Galotti 1771

In seinem Komischen Roman von 1786 liefert der Wiener Literat und Freimaurer Friedrich Hegrad – so Leslie Bodi in seiner inzwischen klassischen Studie Tauwetter in Berlin – eine „parodistische Burleske“ der österreichischen Theaterverhältnisse, die in der „Beschreibung einer geplanten Lessing-Aufführung auf einer ländlichen Schmierenbühne“1 gipfelt. Das ist richtig, greift aber zu kurz. Hegrad agiert nämlich – wie ich zeigen werde – in seinem Roman das Insuffizienzverhältnis von (norddeutsch-„unösterreichischen“) Aufklärungsansprüchen und „österreichischen“2 Publikumserwartungen und Theaterpraxen in seinem Komischen Roman aus, und zwar anhand des bürgerlichen Trauerspiels Miß Sara Sampson (1755) von Gotthold Ephraim Lessing. Ich werde zunächst (I.) die österreichische Lessing-Rezeption knapp konturieren, (II.) die Aufklärungskonzeption Hegrads umreißen sowie (III.) die Kontexte von Hegrads Theaterkritik im Komischen Roman erhellen. I. Lessing in Österreich

I.1. Stücke Lessings in Österreich Lessing war im Habsburgerreich v. a. als Theaterschriftsteller präsent, weniger als Publizist, Theoretiker und Gelehrter.3 Dargeboten wurden seine Stücke (gesi-

Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781 – 1795, Wien, Köln, Weimar 21995, 211. 2 Begrifflichkeit nach ebd., 179–183. 3 Franz M. Eybl, Die Lessing-Rezeption im Wien des 18. Jahrhunderts, in: Lessing Year1

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chert) seit 17634 vornehmlich von wandernden Schauspieltruppen und nicht von stehenden Ensembles.5 Das Publikum in den Provinzen setzte sich vornehmlich aus der „deutschsprachige[n] Elite der Verwaltung und des Heerwesens“ zusammen, die „als Klammer eines aus vielen Sprachgemeinschaften bestehenden Vielvölkerreiches“6 fungierte. Zumindest in der Hauptstadt wurden alle Stücke Lessings dargeboten.7 Die österreichische Zensur nahm jedoch Anstoß an zahlreichen Stücken Lessings.8 Die sechsbändige Ausgabe von Lessings Schriften (Berlin: Voss, 1753–1755) – deren sechster Band von 1755 auch Miß Sara Sampson enthielt – wurde 1754 im Catalogus librorum rejectorum per concessum censurae aufgenommen und damit zensiert,9 und zwar auf Betreiben des der Aufklärung zuzurechnenden Vorsitzenden der Bücherzensur-Hofkommission Gerard van Swieten.10 In Wien wurde zudem 1770 eine eigene Theaterzensur eingerichtet,11 die – nach einem kurzen Intermezzo Joseph von SonnenfelsQ12 – bis 1804 durch book 32/1 (2000), 141–153. Zu Lessings Aufenthalten in Wien vgl. Friedrich Vollhardt, Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk, Göttingen 2018, 267. 4 Ursula Schulz, Lessing auf der Bühne. Chronik der Theateraufführungen 1748–1789, Bremen, Wolfenbüttel 1977 (Repertorien zur Erforschung der frühen Neuzeit 2), 10. Es handelt sich um die Kärntnertor-Theater-Aufführung von Hubers Missara. Ungesicherte Aufführungen sollen 1754 in Wien (Der Schatz), 1760 in Wien (Miß Sara Samspon) und 1762 in Wien (Der Misogyne) stattgefunden haben (ebd., 3, 8, 10). 5 Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 141. 6 Ebd. 7 Ebd., 142. 8 Norbert Bachleitner, Die literarische Zensur in Österreich von 1751 bis 1848, Wien, Köln, Weimar 2017 (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 28), 296–300; Norbert Bachleitner, Die Theaterzensur in der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert, in: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie 3/5 (2010), 71–105, hier 74 (https://unipub.uni-graz.at/lithes/periodical/ pageview/786068 [zuletzt aufgerufen 22. 5. 2021]), 76; Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 142. 9 Bachleitner, Literarische Zensur (wie Anm. 8), 298; Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 142. 10 August Fournier, Gerhard van Swieten als Censor. Nach archivalischen Quellen, Wien 1877 (Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Classe 84), 424 (zit. nach Bachleitner, Literarische Zensur [wie Anm. 8], 298). Die damnatur bezog sich auf einzelne Gedichte und die religionskritischen Schriften, nicht auf die Theaterstücke (die gleichwohl mit verboten waren). Vgl. auch Grete Klingenstein, Van Swieten und die Zensur, in: Erna Lesky, Adam Wandruszka (Hg.), Gerard van Swieten und seine Zeit, Wien, Köln, Graz 1973 (Studien zur Geschichte der Universität Wien 8), 93–106. 11 Für die Provinzen waren eigene Zensoren abgeordnet, die zwar zumeist der aufgeklärten Beamtenelite entstammen, dennoch massive Texteingriffe fordern oder Stücke (wie etwa jene von August von Kotzebue) gleich gar nicht zur Aufführung zulassen. Vgl. für das Prager Theater Oscar Teuber, Geschichte des Prager Theaters. Von den Anfängen des Schauspielwesens bis auf die neueste Zeit, Zweiter Theil: Von der Brunian-BergopzoomQschen Bühnen-Reform bis zum Tode LiebichQs, des größten Prager Bühnenleiters (1771–1817), Prag 1885, 316 f. (zit. nach Bachleitner, Theaterzensur [wie Anm. 8], 76). 12 Hilde Haider-Pregler, Die Schaubühne als ,SittenschuleR der Nation. Joseph von Sonnenfels

Miß Sara Sampson auf der ländlichen Schmierenbühne

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Franz Carl Hägelin „praktisch im Alleingang“13 bewältigt wurde. Die Theaterzensur betraf nicht nur die Texte, sondern auch die Aufführung. So hatte Hägelin dafür Sorge zu tragen, dass nicht „extemporiert“ (also improvisiert) wurde, keine Bühnenprügeleien stattfanden und keine Possen gespielt und anzügliche Bemerkungen gemacht wurden. Besonders verpönt war das Extemporieren, „weil es dazu diente, anstößige Passagen an der Zensur vorbei zu schwindeln, es wurde aber auch [da häufig durch eine komische Figur wie den Kasperl verkörpert] zunehmend als geschmacklos und charakteristisch für ein minderwertiges Theater erachtet.“14 Diese Elemente des Volkstheaters versuchten die Wiener Aufklärer um Sonnenfels um 1760 zu verdrängen. Zur Durchsetzung eines ,aufgeklärtenR Theaters rekurrierten sie auf die Bühnenreformen, die Johann Christoph Gottsched bereits 20 Jahre zuvor in Sachsen angestoßen und durchgesetzt hatte; statt sich auf die jungen ,ProphetenR der Berliner Aufklärung zu beziehen, lieferten also die älteren ,PriesterR der Leipziger Aufklärung das Argumentationsarsenal,15 mit dem die Wiener Gottschedianer den Hanswurst 1769 endgültig von den Wiener Bühnen vertrieben, ohne dass diese Bemühungen um aufgeklärte Bühnenreformen bei den norddeutschen Aufklärern gewürdigt worden wäre.16 Dass ausgerechnet Lessing die Harlekin-Figur im 18. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie verteidigte,17 widerspricht aus Sicht der Wiener Theaterreformer einerseits den Bemühungen Gottscheds, andererseits jener Polemik, die der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai 1762 gegenüber Franz Christoph von Scheyb in seinen Briefen, die neueste Literatur betreffend geäußert und dabei eine nationalliterarisch-preußische Position vertreten hat, die Aufklärung mit Protestantismus identifiziert: „der gute Geschmack ist, (wenigstens was das Deutsche betrift) daselbst [in Wien] kaum noch in seiner ersten Kindheit, kaum noch da, wo Sachsen und Brandenburg schon um das Jahr 1730 waren.“18

und das Theater, in: Helmut Reinalter (Hg.), Joseph von Sonnenfels, Wien 1988 (Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 13), 191–244. 13 Bachleitner, Theaterzensur (wie Anm. 8), 74. 14 Ebd., 73. 15 Norbert Christian Wolf, Polemische Konstellationen. Berliner Aufklärung, Leipziger Aufklärung und der Beginn der Aufklärung in Wien (1760–1770), in: Ursula Goldenbaum, Alexander Kosˇenina (Hg.), Berliner Aufklärung. Kulturwissenschaftliche Studien, Bd. 2, Hannover 2003, 34–64, hier 40, 58 (dort die auf Bourdieu zurückgeführte Unterscheidung von Priester und Prophet). 16 Ebd. 17 Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 18. St. v. 30. 7. 1767, in: Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Wilfried Barner u. a., Frankfurt am Main 1985–2003, hier Bd. 6, 270. Künftig zitiert mit der Sigle LWB und Angabe von Bandnummer und Seitenzahl. Lessing zielt hier gegen die Neuberin. 18 Friedrich Nicolai (Hg.), Briefe, die neueste Litteratur betreffend, XIIter Theil, Berlin 1762,

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Lessing selbst urteilt differenziert: „Wien mag sein, wie es will“, schreibt er 1769 an Nicolai, der deutschen Literatur verspreche ich doch immer noch mehr Glück, als in Eurem französierten Berlin. Wenn der Phädon [von Moses Mendelssohns, 1767] in Wien confisciert ist: so muß es bloß geschehen sein, weil er in Berlin gedruckt worden […]. Lassen Sie es aber doch einmal einen in Berlin versuchen, […] so frei zu schreiben als Sonnenfels in Wien geschrieben; […] und Sie werden bald die Erfahrung haben, welches Land bis auf den heutigen Tag das sklavischste Land von Europa ist.19

Ungeachtet der Zensurbedingungen wird Lessing 1775 in Wien mit allen Ehren empfangen, Kaiserin Maria Theresia und Kronprinz Joseph gewähren ihm eine Audienz und am Burgtheater wird die Emilia Galotti gegeben.20 Lessings Bühnentexte zirkulierten – trotz der Zensurbestimmungen – relativ unbehindert im Habsburgerreich.21 V. a. die geistige Elite setzte sich mit dem Dramatiker und Dramentheoretiker Lessing auseinander. Das Verhältnis bleibt aber zwiespältig, da sich die Wiener Aufklärer einerseits auf Gottscheds Bühnenreformen berufen (die Lessing und die Berliner Aufklärung bekämpft), andererseits die Berliner die Aufklärung als protestantisches Projekt fassen (und damit den doppelten Widerstand, gegen den die Wiener Aufklärung anarbeitet – Kirche und Obrigkeit – negiert).22 So zitiert etwa Sonnenfels in seinen Briefen über die wienerische Schaubühne (1767–1769) zustimmend den 37. bzw. 39. bis 40. Brief von Lessings Hamburgischer Dramaturgie,23 die auch von anderen Autoren (Paul Weidmann in der Vorrede seiner Merope, 1772, oder Cornelius Hermann von Ayrenhoff in der Vorrede seiner Antiope, 1772) aufgegriffen wird,24 bleibt jedoch ins324 (203. Brief v. 17. 12. 1761). Vgl. zu dieser nationalliterarischen Diskussion Wolf, Polemische Konstellationen (wie Anm. 15). 19 Brief an Nicolai vom 25. 8. 1769 (LWB 11/2, 622 f.), zit. nach Vollhardt, Lessing (wie Anm. 3), 221. Lessings Hoffnung auf eine Berufung nach Wien und die Etablierung eines deutschen Nationaltheaters ebd. bildet den Hintergrund dieser Aussage. 20 Vollhardt, Lessing (wie Anm. 3), 305. Karl Gotthelf Lessing hatte – das kann hier nicht weiterverfolgt werden – Emilias Keuschheitstugend aus ihrem katholischen Glauben erklärt, vgl. dazu Gerlinde Anna Wosgien, Literarische Frauenbilder von Lessing bis zum Sturm und Drang. Ihre Entwicklung unter dem Einfluß Rousseaus, Frankfurt am Main u. a. 1999, 162 f. sowie Judith Frömmer, Vom politischen Körper zur Körperpolitik: Männliche Rede und weibliche Keuschheit in Lessings Emilia Galotti, in: DVJs 79/2 (2005), 169–195. 21 Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 142. 22 Wolf, Polemische Konstellationen (wie Anm. 15), 40. 23 Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 142. Vgl. auch Johann Dvor ˇ#k, Joseph von Sonnenfels und Gotthold Ephraim Lessing. Aufklärung und Zensur in der Habsburger-Monarchie, in: Gerd Biegel (Hg.), „Liebhaber der Theologie“. Gotthold Ephraim Lessing – Philosoph – Historiker der Religion, Frankfurt am Main u. a. 2012 (Braunschweiger Beiträge zur Kulturgeschichte 3), 227–235. 24 Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 142 f. Vgl. auch Wulf Rüskamp, Dramaturgie ohne Publikum. Lessings Dramentheorie und die zeitgenössische Rezeption von Minna von Barnhelm

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gesamt ablehnend gegenüber dem ,protestantischenR Projekt der Berliner Aufklärung.25 Als Propagandist der lessingschen Theaterreformen in Wien ist v. a. der aus dem mitteldeutschen Raum stammende österreichische Politiker und Dramatiker Tobias Philipp von Gebler tätig: er steht in direktem Kontakt zu Lessing, Nicolai und Lessings Frau Eva König und widmet sein Trauerspiel Adelheid von Siegmar (1774) dem „Dichter der Emilia Galotti“.26 Weitere von Lessing inspirierte (um nicht zu sagen: ausgeschriebene) Trauerspiele von Johann Gottlieb Stephanie (Die Werber, 1769; Die abgedankten Officiere, 1770) und Karl Franz Guolfinger von Steinsberg (Miss Nelli Randolph, 1781) zeugen vom Versuch, die Theaterreformen der Berliner Aufklärung ins Habsburgerreich zu transponieren, um dadurch Anschluss an zeitgenössische Aufklärung zu ermöglichen.27 Die Wiener Zensurmaßnahmen, Bearbeitungen und Adaptionen sowie Nachahmungen lassen sich als „Versuche der Überwindung von kultureller Differenz durch Umcodierung“28 deuten.

I.2. Lessing über das Österreichische Theater Gerade aber Geblers Bemühungen um einen Anschluss an das Niveau von Lessings Trauerspielen stoßen bei Lessing selbst auf Skepsis. Nach dem Scheitern des Hamburger Nationaltheaters versuchte man in Wien Lessing für eine ständige deutsche Bühne am Kärntnertor-Theater zu gewinnen, was Lessing aber ablehnte.29 Es dürften nicht zuletzt die Wiener Zensurmaßnahmen und die daraus resultierende Aufführungspraxis gewesen sein, die Lessing skeptisch machte.30 Im Briefwechsel mit Eva König kommentiert Lessing die „ästhetische Unbildung des Wiener Theaterpublikums“,31 die angesichts von Geblers Dramen offenkundig sei: Geblers neues Lustspiel Die Versöhnung (1772) sei „elender als alles, was er [Gebler] noch geschrieben. Und solch Zeug findet in Wien Beifall?“ Lessing habe gehofft, „daß seine [Geblers] Stücke besser werden sollten, aber sie werden und Emilia Galotti. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Theaters und seines Publikums, Köln, Wien 1984 (Kölner germanistische Studien 18), 242–245. 25 Wolf, Polemische Konstellationen (wie Anm. 15), 39. 26 Matthias Mansky, Tobias Philipp von Gebler. Ein Staatsmann als Dramatiker, in: Nestroyana 29 (2009), 8–22. 27 Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 143. Vgl. auch Wolf, Polemische Konstellationen (wie Anm. 15), 40. 28 Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 146. 29 Richard Daunicht, Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen, München 1971, 276. 30 Vgl. auch die Herausarbeitung der Wiener Position bei Wolf, Polemisch Konstellationen (wie Anm. 15). 31 Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 144.

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immer schlechter und kälter.“32 Dass Gebler bei der Abfassung seiner Stücke eine Selbstzensur vornimmt, die auf die Qualität durchschlägt, hätte Lessing eigentlich bewusst werden müssen angesichts der österreichischen Zensur von Lessings eigenen Stücken. Eine verstümmelte Inszenierung der Emilia Galotti kommentiert er im Vorjahr mit den Worten: „Und das alles lassen sich die Wiener so gefallen? […] die Wiener Zuschauer sind mir schon längst eben so verdächtig, als die Akteurs.“33 Dass man in Wien Lessing als Erben von Gottscheds Bühnenreformen betrachtete, stand einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit seinen Stücken erschwerend im Weg. Diese rezeptionsintentionale Perspektive auf das Wiener (und damit: das Habsburger) Publikum prägt auch eine polemische Einschätzung Lessings, die konfessionelles Bekenntnis (bzw. Glaubenspraxis) und Theaterrezeption (bzw. Theaterpraxis) gleichsetzt: „Auch das, meine liebe Freundin,“ schreibt er 1770 an seine Verlobte Eva König, lobe ich recht sehr, daß Sie in Wien fleißiger in die Kirche gehen, als in das Theater. Denn ich glaube in allem Ernste, daß es freilich für jeden guten Menschen, der nicht ganz undenkend ist, in den Wiener Kirchen mehr zu lachen geben muß, als in dem Wiener Theater. Gott verzeihe mir die Sünde, wenn es nicht wahr ist, und wenn ich Unrecht tue, daß ich mir die Österreichschen Prediger noch elender vorstelle, als die Österreichschen Poeten und Komödianten.34

Vorausgegangen war Eva Königs Beschreibung der Aufführung der Emilia Galotti, die 1772 am Kärntnertor-Theater stattgefunden hatte. Zwar sei das Stück „mit außerordentlichem und allgemeinen Beifall“ aufgeführt worden und sogar „[d]er Kaiser hat es zweimal gesehen und es gegen G.[ebler] sehr gelobt.“ Doch relativiert König dieses Positivurteil mit Blick auf das Publikum: „ich [habe] in meinem Leben in keiner Tragödie so viel […] lachen hören; zuweilen bei Stellen, wo, meiner Meinung nach, eher hätte sollen geweinet, als gelacht werden.“ Besonderen Anstoß erweckt Christian Gottlob Stephanie, der den Prinzen Hettore Gonzaga verkörpert: Stephanie wird täglich affektierter und unerträglicher […]. Was tut er zuletzt in Ihrem Stücke? Er reißt sein ohnedem großes Maul bis an die Ohren auf, streckt die Zunge lang mächtig aus dem Halse, und leckt das Blut von dem Dolche, womit Emilia erstochen ist. Was mag er damit wollen? Ekel erregen? Wenn das ist, so hat er seinen Endzweck erreicht.35 Lessing an Eva König, Briefe vom 8. 1. 1773 und 17. 9. 1773 (LWB 11/2, 496, 582), zit. nach Eybl, Lessing-Rezeption (wie Anm. 3), 144. 33 Lessing an Eva König, Brief vom 29. 7. 1772 (LWB 11/2, 447), zit. nach Eybl, LessingRezeption (wie Anm. 3), 144. 34 Lessing an Eva König, Brief vom 29. 11. 1770 (LWB 11/2, 97), zit. nach Eybl, LessingRezeption (wie Anm. 3), 144. 35 Eva König an Lessing, Brief vom 15. 7. 1772 (LWB 11/2, 442 f.). 32

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Festzuhalten gilt, dass sowohl die Zensurpraxis (Texteingriffe) als auch die Theaterpraxis (Posseneinlagen und Chargieren) als Rezeptionshemmnisse der Aufnahme von Lessings Theaterstücken im Habsburgerreich nicht nur im Weg standen, sondern – über die Gleichsetzung von katholischer Glaubenspraxis und Wiener Theaterpraxis – von Lessing als antiaufklärerisch wahrgenommen wurden. Dennoch ist die österreichische und spezieller die Wiener Lessing-Tradition mächtig. Das zeigt ein tabellarischer Überblick (vgl. Anhang), auch wenn man gewärtigen muss, dass die Spielbücher teilweise erhebliche Änderungen durch die Prinzipale (Friedrich Wilhelm Weiskern, Christian Gottlob Stephanie etc.) aufwiesen.36 Demnach war zwischen 1763 und 1785 (dem Jahr, in dem Hegrad die Arbeit an seinem Komischen Roman beendet) die Minna von Barnhelm das erfolgreichste Stück auf den Bühnen des Habsburgerreichs (29 Spielzeiten), gefolgt von Emilia Galotti (24 Spielzeiten) und Miß Sara Sampson (13 Spielzeiten). Im selben Jahr 1772, als Eva König Lessing von der Darbietung Stephanies in Emilia Galotti berichtet, wird am Kärntnertor-Theater auch Miß Sara Sampson gegeben, und für deren Grazer Aufführung zeichnet die Theatertruppe um Carl Ludwig Reuling und Ludwig Wenzig (s. Abschitt III.4.) verantwortlich.37 Dass also im fraglichen Zeitraum in der Habsburger ,ProvinzR (damit dürften alle Spielstätten außerhalb von Wien gemeint sein, also Graz, Preßburg, Salzburg und Prag) die Miß Sara Sampson zur Aufführung gelangte und das diese Aufführungen tatsächlich durch Wandertruppen realisiert wurden – wie Hegrad in seinem Komischen Roman darstellt – lässt sich damit bestätigen. II. Hegrad als Aufklärer Der aus Niederösterreich stammende Friedrich Hegrad38 war seit 1779 mit Beiträgen im Wienerischen Musenalmanach vertreten und gab 1782 seinen Einstand als „josephinischer Pamphletist“39 mit drei anti-klerikalen bzw. anti-päpstlichen Im Anschluss an Schulz, Lessing auf der Bühne (wie Anm. 4). Ich gebe die Fundstellen aus Gründen der Übersichtlichkeit nicht an, sie können aber aufgrund der chronologischen Anordnung bei Schulz leicht ausfindig gemacht werden. 37 Schulz, Lessing auf der Bühne (wie Anm. 4), 45. Dieselbe Truppe brachte im gleichen Jahr auch die Emilia Galotti und die Minna von Barnhelm auf die Grazer Bühne. 38 Mir nicht zugänglich war: Gertrud Brechelmacher, Friedrich Hegrad (1757–1809). Persönlichkeit und literarisches Wirken, Diss. Wien 1952. Diese Dissertationsschrift wurde aber im Artikel zu Hegrad von Heinz Schuler (Die Mozart-Loge Zur Wohltätigkeit im Orient von Wien 1783 bis 1785. Entwicklung und Mitgliederbestand, in: Genealogisches Jahrbuch 32 [1992], 5–52, hier 26) ausgewertet. Demnach hat Hegrad in Wien Philosophie und Jus studiert, jedoch nicht abgeschlossen, ist 1784 in den Staatsdienst eingetreten als Rechnungskanzlist der Cameralhauptbuchhalterei und wechselt 1788 zur Tabak- und Siegelgefällen-Hofbuchhalterei nach Prag. 39 Bodi, Tauwetter (wie Anm. 1), 211. 36

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Broschüren: der Epistel vom Thurnknopf zu St. Stephan an den Thurnknopf zu Mariästiegen und dem Blatt ohne Titel40 sowie dem Gedicht auf die Ankunft seiner päbstlichen Heiligkeit Pius des Sechsten.41 In beiden Schriften bezog Hegrad Stellung gegen die ultramontane Wiener Partei um Fürstbischof Christoph Anton von Migazzi (v. a. durch Angriffe auf den Kooperator an St. Stephan, Joseph Pochlin), bestritt den Machtanspruch des Papstes und propagierte das Staatskirchentum und die josephinischen Kirchenreformen.42 Als Freimaurer (er hält 1785 die Rede auf die Aufnahme Wolfgang Amadeus Mozarts) vertritt er zudem deistische Positionen.43 Zwei Prosasatiren (mit umfangreichen Dialogeinlagen) schlossen sich 1783 an, die die herrschenden Zustände des josephinischen Zeitalters kritisieren: O Zeiten! O Sitten! und Die Affen (letzere beruft sich auf Jonathan Swifts GulliverQs Travels, 1726).44 Im selben Jahr erschien auch der Roman Peter und Paul, in dem die Folgen der guten und der schlechten Erziehung (ohne dialektische Aufhebung) erzählt werden, unter Bezugnahme auf Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle H8lo"se (1761).45 1784 erscheint ein „kleine[r] Staatsroman in orientalischer Verkleidung“,46 Der Hofnarr,47 der entfernt an Christoph Martin Wielands Goldnen Spiegel (1771) erinnert, sowie die ,GeschichteR Otto von Holdenburg48 und die Miszellen-Sammlung Wiener Plunder.49 1785 versammeln die Vermischten Schriften50 die älteren und verstreut publizierten Schriften Hegrads Epistel vom Thurnknopf zu St. Stephan an den Thurnknopf zu Mariästiegen. Aus dem Altdeutschen inQs Hochdeutsche überschleppt, Wien 1782; Ein Blatt ohne Titel, Wien 1782. 41 Gedicht auf die Ankunft seiner päbstlichen Heiligkeit Pius des Sechsten, Wien 1782. 42 Vgl. dazu Elisabeth Kov#cs, Der Besuch Papst PiusQ VI. in Wien im Spiegel josephinischer Broschüren, in: Archivum Historiae Pontificiae 20 (1982), 163–217, hier 178. Vgl. auch Ernst Wangermann, Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der politischen Literatur unter Joseph II., Wien, München 2004, 82. 43 Vgl. Wilgert te Lindert, Friedrich Hegrad. Ein Logenbruder Mozarts, in: Österreichische Musikzeitung 48/1 (1993), 3–11. 44 O Zeiten! O Sitten! Von Mir, Wien 1783 (Autor ermittelt nach Heinrich Wolfgang Behrisch, Die Wiener Autoren. Ein Beytrag zum gelehrten Deutschland, [Wien] 1784, 94 f.); Die Affen, [Wien] 1783 (der Swift-Bezug ebd., 4). 45 Peter und Paul. Eine Geschichte in zwey Bändchen, Frankfurt am Main, Leipzig [i. e. Wien] 1783 (der Rousseau-Bezug ebd., 149). 46 Bodi, Tauwetter (wie Anm. 1), 211. 47 Der Hofnarr, Berlin 1784 (21785). 48 Otto von Holdenburg. Eine Geschichte, Preßburg 1784 (Autorschaft ermittelt nach dem Teilabdruck in: Vermischte Schriften, Bd. 2, Frankfurt am Main, Leipzig 1785, 118–122). Hegrads Otto von Holdenburg war mir nicht zugänglich; ein Exemplar befindet sich in der Universitätsbibliothek von Bratislava; ein weiteres in der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften Budapest. 49 Wiener Plunder, Wien 1784. 50 Hegrads vermischte Schriften, Frankfurt am Main, Leipzig 1785 (21793). 40

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(auch die anti-päpstlichen), außerdem erscheint Der gute Martin.51 Im Folgejahr übernimmt Hegrad die Redaktion des letzten Jahrgangs der Wiener Realzeitung (1770 – 1786)52 und publiziert seinen Komischen Roman.53 Seine Positionierung im Kirchenkampf, seine Mitgliedschaft in der Wiener Freimaurerloge und nicht zuletzt seine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen internationalen Literatur konturieren Hegrad nachdrücklich als Aufklärer, genauer – und zwar aufgrund seines Eintretens für das josephinische Staatskirchentum54 – für eine Aufklärung, die den Katholizismus nicht verwirft, sondern der Kontrolle Roms entziehen möchte, da die kirchlichen Institutionen als öffentliche Angelegenheiten des Staates gelten. „Was die Prister thun, die einen König am Bande führen, ist bekannt“, heißt es daher in Hegrads Hofnarr; und ich glaube, es macht einen geringen Unterschied, von welcher Religion, oder wessen Volkes selbe sind: so wie die Geyer in allen Ländern, gleicher Natur sind, die, wenn sie schon in Asien nicht eben die Federn haben, wie in Europa, darum sich nicht wenig auf List, Raub und Mord verstehn.55

Hegrads Kritik an den kirchlichen Institutionen (Papst, Orden etc.) führt nicht dazu, dass er den katholischen Glauben an sich verwirft. Vielmehr habe er – wie andere auch – nach dem Urteil des seinerzeit noch als Radikalaufklärer geltenden Leopold Alois Hoffmann „die katholischen Mißbräuche angegriffen, und den Schmutz der Mönchsmoral von der reinen [katholischen] Lehre abgewischt“, und zwar „mit mehr Härte, als mancher Protestant“.56 Damit erweist sich Hegrad Der gute Martin, eine Geschichte, vom Verfasser des Hofnarren, Leipzig [i. e. Wien] 1785. Kein Exemplar ermittelbar. 52 „Das Periodikum war im Grunde eines der Organe der Wiener Freimaurerszene und vereinigte in den Reihen seiner Redakteure bedeutende österreichische Schriftsteller wie Alois Blumauer, Ignaz de Luca, Friedrich Hegrad, Joseph von Sonnenfels“ (Andreas Seidler, Die Entwicklung des Wiener Zeitschriftenwesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Matthias Karmasin, Christian Oggolder [Hg.], Österreichische Mediengeschichte, Bd. 1: Von den frühen Drucken zur Ausdifferenzierung des Mediensystems [1500 bis 1918], Wiesbaden 2016, 139–166, hier 152). 53 Nach 1786 publiziert Hegrad noch Neue Erzählungen (Zittau 1787; 21799), Der Hausfreund. Ein Lesebuch für Frauenzimmer (Wien 1787), sein Johann Baptist Alxinger gewidmetes Lustspiel Die Braut aus Wien, oder der Bräutigam in Verlegenheit (Prag 1789), Felix mit der Liebesgeige (Prag, Leipzig 1791; 21794) und seinen historiographischen Versuch einer kurzen Lebensgeschichte Kaiser Leopolds II. bis zu dessen Absterben (Prag 1792). 1797 gibt Hegrad die Wochenschrift Der Theatralische Eulenspiegel (nur ein Jahrgang erschienen) heraus. Außerdem wirkte er ab 1787 an Wielands Teutschem Merkur mit (Schuler, Mozart-Loge [wie Anm. 38], 26). Die ebd. angegebene und auch in Meusels Gelehrtem Deutschland verzeichnete Schrift „Mathilde, Kaiser Otto des Zweiten Schwester, oder das Schachspiel. Eine Geschichte. Wien 1793“ lässt sich nicht nachweisen. 54 Heribert Raab, Staatskirchentum und Aufklärung in den weltlichen Territorien des Reiches – Theresianismus und Josephinismus, in: Hubert Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. 5: Die Kirche im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, Freiburg 1970, 508–530. 55 Hegrad, Hofnarr 1784 (wie Anm. 47), 2. 56 [Leopold Alois Hoffmann,] Achtzehn Paragraphen über Katholizismus, Protestantismus, Je51

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als „wahrer“ Aufklärer, der gegen die Überheblichkeit des protestantischen Deutschland angeschrieben und sich „zu [den] orthodoxen Glaubenssätzen über Hölle und Erbsünde“ bekannt habe.57 Das ,GlaubensbekenntnisR der norddeutsch-protestantischen Kritiker – „Katholizismus tödtet den Verstand“ (8) und „ist einfältig und unvernünftig“ (11) – habe Hegrad nicht gesprochen. III. Hegrads „Komischer Roman“ im Kontext von Katholischer Aufklärung Wie verhält es sich nun mit dem Komischen Roman Hegrads, welche Position nimmt er im Kontext von ,Katholischer AufklärungR ein?58 In der Vorrede formuliert Hegrad sein Anliegen: Er wolle keine „Religions- und Staats-Sachen“ erzählen, sondern eine „theatralische Geschichte“,59 um die „Thorheit lächerlich zu machen, die in unsern Zeiten eine Art von Epidemie zu seyn scheint“, womit die zahlreichen „elende[n] Autoren“ und „schlechte[n] Schauspieler“ gemeint sind ()(2r). Die didaktische-volkserzieherische Funktion der Theateraufführungen sei dadurch gefährdet; daher bedürfe es zur „Kritik“ eine „Satyre“ ()(2r). Als „Helden und Heldinnen“ präsentiert Hegrad die Kinder des Landjunkers Blasius von Sommer, Karl und Jakobine. Deren verwickelte „Abentheuer“ ()(2r) resultieren aus der gutgemeinten, aber schlecht gemachten Erziehung durch den Hofmeister Silberbach, dessen empfindsam-ästhetischen pädagogischen Grundsätze wirklichkeitsfern sind. Karl wird in die Stadt geschickt, um auch praktische Menschenkenntnis zu erwerben; er verliert sich aber im städtischen Theatermilieu, verliebt sich in eine Schauspielerin („Mamsell Unschuld“) und beschließt, sein Leben fortan dem Theater zu widmen (I, 91 ff.). Da sein Bühnendebüt als Romeo durchfällt, durchwandert er Österreich auf der Suche nach einem Auskommen, studiert nebenher Bühnenrollen ein60 und trifft schließlich seine geliebte Mamsell Unschuld bei einer Wandertruppe wieder, die mitten im Januar in einer Provinzstadt ihre Zelte aufgeschlagen hat (I, 190). Ein Ausrufer suitismus, geheime Orden und moderne Aufklärung in Deutschland. […], [Wien] 1787, 38. Hoffmann setzt sich v. a. mit Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und der darin erhobenen Kritik am Katholizismus auseinander. Mit Seitenzahlen im Text zitiert, 57 Zu dieser Argumentation Hoffmanns, die ich auf Hegrad ausweite, vgl. Bodi, Tauwetter (wie Anm. 1), 238. 58 Für einen Vorschlag zur Eingrenzung von ,katholischer AufklärungsliteraturR Roger Bauer, Katholisches in der josephinischen Literatur, in: Harm Klueting, Norbert Hinske, Karl Hengst (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 15), 260–270. 59 Friedrich Hegrads komischer Roman, [2 Tle.], Leipzig, Wien 1786, 1. Tl., Vorrede, Bl. )(2v. Mit Paginierung bzw. Seitenzahl (unter Angabe der Bandnummer) im Text zitiert. 60 Wörtlich zitiert (I, 188 ff.) wird Olint und Sophronia. Ein christliches Trauerspiel in Versen und 5 Aufzügen von Johann Friedrich von Cronegk aus dem Jahr 1764.

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macht beim (kleinstädtischen, wenn nicht gar dörflichen)61 Publikum Werbung für das Stück, das die wandernde Theatertruppe präsentieren will: Die Komödie, welche ein Trauerspiel ist, ist betitelt: Miß Sara Samson,* [!] und ist aus dem Engländischen des Herrn von Lessing übersezt, und von dem Herrn Direkteur bearbeitet und verbessert. Die Geschicht[e] ist, wie bekannt, aus der h. Schrift genommen, von der listigen Sara nemlich, wie sie dem starken Samson die Haare abgeschnitten hat. Die Hauptrolle darinnen ist aber die gottlose Königin Mardoch,* welche S, v. [!] eine abscheuliche Hure ist, und heute zur Beurlaubung von der so weit und breit berühmten Aktrisin, Mamsell Unschuld agiret wird. (I, 225 f.)62

Die Aufführung findet in einem düsteren Keller statt und die Beschreibung der Theaterbauten – bei Lessing: „Saal im Gasthofe“63 – mutet abenteuerlich an; unter anderem wird die den Bühnen- vom Zuschauerraum trennende „Kortine“64 analog zur sakralen Chorschranke bzw. Chorgitter imaginiert.65 Obwohl sich nach und nach ein spärliches Publikum einfindet, hebt sich der Vorhang erst aufgrund des vemehementen Protests des Stadtschreibers (als Verkörperung der Beamtenelite),66 der tumultartige Unterstützung durch das restliche Publikum erfährt. Doch kommt bereits im dritten Auftritt der ersten Szene „das Stück inQs Stecken, denn es gieng ein Schauspieler ab, der die Rolle des Mellefont spielen sollte“ (I, 233). Der Schauspieldirektor muss vortreten und den Fehlenden entschuldigen, der jedoch bereits „von zwey andern Komödianten mit äusserster Mühe dahergeschleppet [wird], er sträubte sich gewaltig und konnte weder gehen noch stehen, so betrunken war er“ (I, 233). Die Darstellung muss abgebrochen werden, der Impresario kündigt eine Planänderung an. Statt Lessings ,biblischer KomödieR wird nun gegeben: Bestehend aus einem „Bauern, der eben mit Mist über den Plaz fuhr; zwey Schulbuben; einer Magd die beym grossen Brunnen Wasser geholet hatte; einem lahmen Bettler, der nicht fern vom Pranger unter einem verfallenen Gebäude seinen ordentlichen Aufenthalt hatte, und aus […] dem Barbiergesellen“ (I, 223). 62 In den Asterisken löst Hegrad den Titel nach „Miß Sara Sampson“ auf und korrigiert ,MardochR zu ,MarwoodR. 63 Lessing, Miß Sara Sampson (LWB 3, 433). Lessing rekurriert hier auf Richardsons Clarissa in der Handlungssituierung im „elenden Wirtshause“ (ebd., 1264). 64 „Die Kurtine, welche im Gefahrenfall die Bühnenöffnung gegen den Zuschauerraum brandhemmend und rauchdicht abzuschließen hat, darf keine Türen oder sonstigen Öffnungen haben und muss außerhalb der Zeit der Vorstellungen, der Proben und der zugehörigen Auf- und Umbauarbeiten geschlossen gehalten werden“ (Österreichische Bundestheatersicherheitsverordnung von 1992, § 1). 65 Ausgestattet mit „den neun Musen in einer Reihe nach einander, als ob sie wallfahrten giengen, jedoch nur bis auf den Nabel, zu sehen; an diese grade an, mit den Füssen aufwärts, kamen einige römische Päbste auf Thronen, wovon einige Scheine auf den Köpfen hatten“ (I, 230). 66 „Alle Wetter! – schrie der Herr Stadtschreiber, […] warum fängt man denn nicht an? Sind das Mores Uns so lange warten zu lassen?“ (I, 232). 61

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Ein ganz neues Lustspiel von Bernardon, mit Arien und einem Divertissement von Kindern. Betitult: Die Insul der gesunden Vernunft. Wobey Fiametta und Bernardon das Wunderwerk der ungekünstelten Natur vorstellen. Mit Hanswurst dem sich dreymal verstellenden Grafen von Gerstenschleim. Verfasset und zusammengetragen von Joseph Kurz. (I, 236)

Doch das Publikum nahm durchaus nicht vorlieb damit; es hatte nun einmal im Kopf ein Trauerspiel zu sehen, darum schrie es einmüthig: Ein Trauerspiel, ein Trauerspiel! sonst gehen wir davon! Der Herr Stadtschreiber ärgerte sich über den Hanswursten, der schon so lange her abgeschaffet worden, und lies es dem Herrn Impressarius bedeuten, daß kein Stück mit einem Hanswursten könnte aufgeführet werden. (I, 236)

Also setzte der Theaterdirektor „ein sehr schönes und recht rührendes Trauerspiel, genannt: Das Vorbild weibliches Heldenmuthes, oder die erste Martyrinn Thekla“ (I, 237) auf den Plan. Diese Schilderung von Tumulten auf den Habsburger Theaterbühnen ist durchaus nicht unrealistisch,67 sondern zeugt von einer pragmatischen Theaterpraxis und der Verwurzelung von Volkstheater und religiösem Drama beim Publikum. Es geht aber um mehr: Hegrad ruft nämlich – und das ist von der Forschung bislang weitgehend übersehen worden – durchgehend Titel von Theaterstücken auf, die tatsächlich nachgewiesen werden können, als Intertexte in den Komischen Roman hineinspielen und das Insuffizienzverhältnis von (norddeutsch-„unösterreichischen“) Aufklärungsansprüchen und „österreichischen“ Publikumserwartungen und Theaterpraxen bestimmbar machen. Alle von Hegrad zitierten Titel datieren aus der Zeit um 1765 – darauf werde ich abschließend noch eingehen.

III.1. Hegrads Titelwahl: Scarrons Roman comique (1651) und Fieldings Joseph Andrews (1741/1765) Zunächst jedoch einige Bemerkungen zu Hegrads Titelwahl. Der Komische Roman verweist – darin ist sich die schmale Hegrad-Forschung einig68 – auf den Roman comique von Paul Scarron (1610–1660) aus dem Jahr 1651 bzw. (für den zweiten Teil) 1657: Auch hier werden in pikaresker Manier die Erlebnisse einer fahrenden Theatergesellschaft geschildert. Die erste deutschsprachige Ausgabe des Roman comique erschien 1752 und erlebte 1764 seine dritte Auflage.69 AllerBeatrix Müller-Kampel, Hanswurst, Bernardon, Kasperl. Spaßtheater im 18. Jahrhundert, München 2003, 46. 68 Bodi, Tauwetter (wie Anm. 1), 212; Rolf Selbmann, Der deutsche Bildungsroman, Stuttgart, Weimar 21994, 41. 69 Des Herrn Scarron Comischer Roman. Dritter Druck, [Aus dem Frz. von Friedrich Immanuel 67

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dings: was bei Scarron völlig fehlt, ist die von Hegrad intendierte psychologische Entwicklung seiner Charaktere, die am Ende seines Romans (II, 222 ff.) noch einmal rückblickend reflektieren wird. Der Theaterroman funktioniert bei Hegrad als Bildungsroman nur ex negativo: die hehren Ideale der Protagonistinnen und Protagonisten – die Theaterbesuche „erregen Leidenschaften! […] lehren Tugend, machen das Laster verabscheuungswürdig, erhellen den Verstand, ergötzen die Einbildungskraft und bilden das Herz aus!“ (II, 224) – werden nämlich durch die Theaterpraxis widerlegt, so dass der Zustand des gegenwärtigen österreichischen Theaters „undiskutabel“70 erscheint. Ausschlaggebend für die Titelwahl Hegrads könnte daher – über die Schilderung pikaresker Szenerien hinaus – ein anderer Roman sein, nämlich The History of the Adventures of Joseph Andrews and of his Friend Mr. Abraham Adams von Henry Fielding aus dem Jahr 1742. Auf der Grundlage der französischen Übertragungen erscheint bereits 1745 die erste anonyme Übersetzung unter dem Titel Begebenheiten des Joseph Andrews und seines Freundes Abraham Adams, 1761 eine (gleichfalls anonyme)71 Neuübersetzung unter dem Titel Geschichte des Joseph Andrews Bruders der Pamela,72 die schließlich 1765 unter dem Titel Komischer Roman nachgedruckt wird.73 Die Neuübersetzung und deren Nachdruck entbehren zwar – anders als die Erstübertragung – der poetologisch so wichtigen Vorrede Fieldings; es ist aber nicht auszuschließen, dass Hegrad sich dennoch auf die gattungserneuernden Preface Fieldings bezog und den um 1765 populäreren Titel Komischer Roman zitiert. Bekanntlich legitimiert Fielding in der Preface Bierling], Hamburg 1764. Vgl. Charles D8d8yan, Le Roman comique de Scarron, Paris 1983, 359. Vgl. die Rezension in den Hamburger Gemeinnützigen Anzeigen von gründlichen und angenehmen Schriften 1763, 92. 70 Rolf Selbmann, Theater im Roman. Studien zum Strukturwandel des deutschen Bildungsromans, München 1981 (Münchener Universitätsschriften, Reihe der Philosophischen Fakultät 23), 42. 71 Mit derselben Imprese („Berlin, Stettin u. Leipzig bey Johann Heinrich Rüdiger“) erscheint 1757 die Übersetzung von Laurent Angliviel de La Beaumelles Nachrichten, die zum Leben der Frau von Maintenon und des vorigen Jahrhunderts gehörig sind. Übersetzerinnen sind Dorothea Henriette von Runckel und Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Da es sich bei der Fielding-Übersetzung von 1761 um eine Winkelübersetzung aus dem Französischen handelt, ist die Urheberschaft der Gottschedin wahrscheinlich. In den zeitgenössischen Journalen Gottscheds wird der Joseph Andrews positiv beurteilt, vgl. z. B. Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Wintermond (November) 1757, 599. Ob die Gottschedin die Autorin dieser Artikel ist, müsste erst noch eruiert werden. 72 Henry Fielding, Geschichte des Joseph Andrews Bruders der Pamela, Berlin, Stettin 1761. 73 Fieldings Komischer Roman in vier Theilen, Berlin 1765. Zu den Übersetzungen vgl. Wilhelm Graeber, Englische Übersetzer aus dem Französischen: Eine Forschungsbilanz der Übersetzungen aus zweiter Hand, in: Armin Paul Frank, Horst Turk (Hg.), Die literarische Übersetzung in Deutschland. Studien zu ihrer Kulturgeschichte in der Neuzeit, Berlin 2004 (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 18), 93–108, hier 102.

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den komischen Roman (Cervantes Don Quijote und Scarrons Roman comique), der ja in Konkurrenz zu den ernsten Epen seit Homers Odyssee und F8nelons T8l8maque steht.74 Während die Epen Angehörige der oberen Stände zu Protagonisten haben und deren „zärtliche Empfindungen“ und Heldentaten im Modus des „Erhabenen“ darstellen, schildert der komische Roman die „Entwicklungen der Verwirrungen“ und die „Charactere“ der unteren Stände ()(5v) durch „Einfältigkeiten und kurzweilige Possen“ ([)(6r]). Lächerlichkeit [the Ridiculous] – und diese gelte es zu vermeiden – entstehe aus der „gezwungene[n] Nachahmung“ [affectation] ([)(9v]), die auf eine unnatürliche Darstellung zurückzuführen sei. „Die grossen Gebrechen [moralischer Art] sollen die Gegenstände unsers Abscheues, und die geringern unsers Mitleidens seyn. Also scheinet mir die gezwungene Nachahmung [affectation] allein a[u]slachens würdig zu sein“ ()()(v). Die Handlungsführung von Fieldings Komischem Roman wird wiederholt als Tragödie oder Komödie bezeichnet, und die Unterbrechungen dienen der Unterhaltung des Lesers ebenso wie zur Verhandlung der Frage, was hohe und niedere Literatur ist. Im zehnten Kapitel des dritten Buchs titels „Gespräch zwischen dem Poeten und dem Comödianten“ wird die Kluft von poetischem Anspruch und schauspielerischer Realisierung verhandelt. „Die Musen haben eben so wohl, als die Weinstöcke der Wartung nöthig“, bemerkt der Poet, und weiter: „Der Hof und die Stadt wissen nicht, was sie wollen; man liebet daselbst den Harlekin mehr, als den Radamistus, und die lächerliche Opera behält über die ernsthaften Schaubühnen die Oberhand.“75 Schuld daran seien die Schauspieler („Comödianten“), die weder über „Stimme, noch Stellung, noch Verstand“ verfügten, sondern einzig die „Kühnheit“ besitzen, „daß sie gefallen wollen“ (349). Die Übertragung montiert – im Rückgang auf die französische Übersetzung – einen Bezug auf Harlekin sowie auf die obrigkeitliche Zuschauerlenkung zur allgemeinen Hebung des Geschmacks in den Text hinein, die bei Fielding nicht gegeben ist, sich jedoch vorzüglich auf die deutschen (und mehr noch: auf die österreichischen) Verhältnisse beziehen lässt.76 Henry Fielding, Begebenheiten des Joseph Andrews und seines Freundes Abraham Adams, Danzig 1745, Vorrede des Verfassers, Bl. )(5v. Mit Paginierung im Text zitiert. 75 Fielding, Komischer Roman 1765 (wie Anm. 73), 348 f. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 76 Der englische Originaltext lautet: „The Muses, like Vines, may be pruned, but not with a Hatchet. The Town, like a peevish Child, knows not what it desires, and is always best pleased with a Rattle. A Farce-Writer hath indeed some Chance for Success; but they have lost all Taste for the Sublime“ (Henry Fielding, The History of the Adventures of Joseph Andrews […], Vol. 2, London 1764, 101). Die französische Übersetzung lautet: „Les Muses, ainsi que les vignes, ont besoin dQÞtre cultiv8es. La Cour & la Ville ne sÅavent ce quQils veulent; on y aime mieux Arlqeuin que Radamiste, & lQOpera Comique lQemporte sur les Th8atres s8rieux. On a perdue absolument le discernement du noble & du sublime“ (Henry Fielding, Les Aventures de Joseph Andrews […], Vol. II, [Aus dem Engl. von Pierre-FranÅois Guyot Desfontaines], London 1743, 150). 74

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Zwar begann Fielding seinen Joseph Andrews als Parodie und stolperte in einen Roman (so der Konsens der Fielding-Forschung),77 doch schildert der Roman mit seinen zahlreichen Abschweifungen konsequent die Schicksale des Bruders der Pamela (1740) von Samuel Richardson, der ja auch für Lessings Miß Sara Sampson die Vorlage für die Gestaltung der Titelprotagonistin lieferte.78 Der Rezensent der Greifswalder Urtheile über Gelehrte Sachen konturiert bezüglich der Fielding-Neuauflage von 1765 apodiktisch – aber zutreffend – die Unterschiede: „Richardson wollte den Menschen bessern, und wies ihm wie er seyn und nicht seyn müßte. Fielding wollte ihn bessern, und schilderte ihn, wie er war.“79 Durch Fieldings Preface poetologisch legitimiert, konnte Hegrad in seinem Komischen Roman das Scheitern seines Helden Karl gestalten – auch und gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um ein aufgeklärtes Theater im Josephinismus.80

III.2. Lessings Miß Sara Sampson und Hubers Missara und Sirsampson Der elfte Abschnitt des vierten Bandes von Friedrich Nicolais Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781 (1784) handelt „Von den öffentlichen Schauspielen in Wien“.81 Die Darstellung der Wiener Verhältnisse durch den Berliner Aufklärer sind bedrückend: der Wiener sei vergnügungssüchtig und wolle nicht im Theater belehrt werden, des jesuitische Erbe sei immer noch präsent, im „katholische[n] Deutschland“ (565) seien die Zustände gegenwärtig [1781] zwar „nicht allenthalben ganz so arg mehr“ wie noch vor 60 Jahren, was „der gesunden Vernunft und der Freiheit zu denken zu verdanken“ sei. Doch habe Sheridan Baker, Fielding and the Irony of Form, in: Eighteenth-Century Studies 2/2 (1968), 138–154, hier 138. 78 Monika Fick, [Art.] Miß Sara Sampson, in: dies. (Hg.), Lessing-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 42016, 133–147, hier 134 f. 79 [Anonym, Rezension von Fieldings Komischem Roman], in: [Greifswalder] Urtheile über Gelehrte Sachen, Bl. LXXIII vom 22. 12. 1764, 583 f., hier 583. 80 Fieldings Komödie The Wedding-Day (1729/1743) wurde 1762 im Habsburgerreich indiziert und kam nur in einer verstümmelten Fassung (Der Hochzeittag, oder der Feind des Ehestandes. Ein Lustspiel in fünf Aufzügen, nach dem Englischen des Henry Fielding, Wien 1764) auf die Bühnen, vgl. dazu Bachleitner, Literarische Zensur (wie Anm. 8), 401. 1776 wurde zudem die zwölfbändige Ausgabe der Works of Henry Fielding (London 1766) indiziert, die (im VI. Bd.) auch den Joseph Andrews enthielt (vgl. Catalogus Librorum a commissione Cæs. Reg. Aulica prohibitorum. Editio nova. Wien 1776, Bd. 1, 12; zit. nach https://www.univie.ac.at/zensur/ [zuletzt eingesehen 24. 5. 2021]). 81 Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Vierter Band, Berlin, Stettin 1784, 560–641. Mit Seitenzahl im Text zitiert. 77

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das Possenspiel des Hanswurst-,ErfindersR Joseph Anton Stranitzky (den Nicolai irrtümlich als Protestanten verbucht, 567) den Jesuitendramen erst die notwendigen Zuschauer zugeführt – und diese Tendenz wirke noch in der Gegenwart nach: „Man mischte das narrenhafte unter das ernsthafte, und spielte Miß Sara Sampson mit Hanswurst, welcher die Rolle des Nortons machte“ (571); kurz: diese Adaption sei „dumm und unsittlich“ (572).82 Die von Nicolai inkriminierte Adaption wurde unter dem Titel Neues bürgerliches Trauerspiel von fünf Handlungen. Aus dem Englischen gezogen, betitelt: Missara und Sirsampson. Mit Hannswurst des Mellefonts getreuen Bedienten am 1. Oktober 1763 am Kärntnertor-Theater aufgeführt.83 Es handelt sich dabei um die erste gesicherte Lessing-Aufführung im Habsburgerreich. Zu vergegenwärtigen gilt es zunächst die grundlegenden Linien von Lessings ,bürgerlichen TrauerspielR und deren Zusammenhang zur Aufklärung. Basierend auf einer Reihe von englischen Komödien,84 begründet Miß Sara Sampson das bürgerliche Trauerspiel im deutschsprachigen Raum.85 Lessing führt durch eine „ausgeklügelte Affektregie“ planmäßig den empfindsamen Gefühlskult und aktuelle religiöse Themen zusammen: Die „zahlreichen religiösen Anspielungen“ (das Liebes-Konzept Saras zwischen amor dei und amor fati; imitatio Christi in Saras Sterbeszene; Marwood als ,SchlangeR) stehen im Komplementärverhältnis zum Konzept der moralischen Empfindungen.86 „Durch die religiöse Dimension bekommen die Figuren die Fallhöhe, die sie als tragische Figuren qualifiziert, hier steht die Existenz ,an sichR auf dem Spiel, geht es doch um Heil und

Die Wiener Überarbeitung ist seit Nicolai – über die bloße bibliographische Erwähnung hinaus – kolportiert worden von Karl Gotthelf Lessing (Gotthold Ephraim Lessings Leben, nebst seinem noch übrigen litterarischen Nachlasse, Bd. 1, Berlin 1793, 174 f.), Theodor Wilhelm Danzel, Gottschalk Eduard Guhrauer (Gotthold Ephraim Lessing. Sein Leben und seine Werke, Erster Band, Berlin 1880, 324) sowie Erich Schmidt (Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, Bd. 1, Berlin 1884, 264). 83 Schulz, Lessing auf der Bühne (wie Anm. 4), 10. Vgl. Neues Bürgerliches Trauerspiel von fünf Handlungen, aus dem Englischen gezogen, betitelt: Missara und Sirsampson. Mit Hannswurst des Mellefonts getreuen Bedienten. Dargegeben von Christiana Friderica Huberin, gebornen Lorenzin, [Wien 1763]. Nach Gustav Zechmeister (Die Wiener Theater nächst der Burg und nächst dem Kärntnerthor von 1747 bis 1776, Wien 1971 [Theatergeschichte Österreichs 3/2], 487) stammt die Bearbeitung von „J. C. Huber“ (Joseph Carl Huber), der aber bereits 1760 verstorben ist. Zechmeisters Quelle ist Johann Heinrich Friedrich Müller, Genaue Nachrichten von beyden kaiserlichköniglichen Schaubühnen und andern öffentlichen Ergötzlichkeiten in Wien, Zweyter Theil, Wien 1773, 29. 84 Vollhardt, Lessing (wie Anm. 3), 120; Fick, Miß Sara Sampson (wie Anm. 78), 134. 85 Auf eine Handlungszusammenfassung wird verzichtet, vgl. bündig Vollhardt, Lessing (wie Anm. 3), 123. 86 Fick, Miß Sara Sampson (wie Anm. 78), 133. 82

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ewige Verdammung“, zumal „das theologische Problem in Miß Sara Sampson von einer philosophisch-aufklärerischen Perspektive her […] beleuchtet“ werde.87 Als ,bürgerlichesR bringt Lessings Trauerspiel zudem den „privaten, ,häuslichenR Bereich“ zur Darstellung, „dessen Ethos […] das der Tugend [ist], die als ,allgemein-menschlichR begriffen wird“.88 Durch Verlagerung des Dramas in den innerfamiliären bürgerlich-landadligen Bereich ist die Ständeklausel aufgehoben, so dass Staatsrepräsentanten keine dramatische Funktion mehr haben.89 An deren Stelle rücken konfessionelle Fragen, die in der „Dramatisierung der Vergebungsbitte aus dem Vaterunser“ gipfeln, um die der Schluss des Stückes kreist.90 Lessings Mitleidsdramaturgie hebelt die „lutherische Vorstellung von der Strafgerichtsbarkeit Gottes“ und das damit verbundene „Lohn-Strafe-Schema samt Tugend-Laster-Opposition“ aus.91 Lessing Trauerspiel hatte einen ungeheuren Erfolg,92 der seit der Erstaufführung 1755 in Frankfurt an der Oder etwa 20 Jahre währte.93 Seit der ersten österreichischen Aufführung am Wiener Kärntnertor-Theater im Jahr 1763 sind bis 1785 13 Aufführungen nachweisbar;94 1795 wird Miß Sara Sampson in den 60. Band der Wiener Theaterbibliothek aufgenommen.95 Die Aufführung am Wiener Kärntnertor-Theater 1771 (mit Christiane Friederike Huber in der Rolle der Marwood, Maria Antonia Teutscher als Sara, Stephanie d. Ä. als Mellefonte) erfährt eine positive Kritik: „Dieses bürgerliche Trauerspiel ist seit langer Zeit auf allen Bühnen Deutschlandes mit dem größten Beyfalle gespielet worden. Es gefällt auch hier.“96 Einzig die Längen im fünften Akt – Lessing gibt sie selbst (im 13./14. Stück der Hamburgischen Dramaturgie)97 zu – ermüdeten. Auch der aus Magdeburg stammende, aber ab 1782 in Graz wirkende Librettist, Theaterdichter und Dramaturg Johann Friedrich Schink rühmt in seinen Dramaturgischen Fragmenten: Ebd., 135. Ebd. 89 Ebd. 90 Ebd., 138. 91 Ebd. 92 Nicht jedoch in Berlin, wo Hanswurstiaden (von Franz Schuch) einer anspruchsvollen deutschsprachigen Sprechbühne (von Conrad Ernst Ackermann) vorgezogen wurde, vgl. Ruth Freydank, Theater in Berlin. Von den Anfängen bis 1945, Berlin 1988, 82. 93 Fick, Miß Sara Sampson (wie Anm. 78), 146. 94 Schulz, Lessing auf der Bühne (wie Anm. 4). 95 Reinhart Meyer, Bibliographia dramatica et dramaticorum […], Bd. II.18, Tübingen 2003, 137. 96 [Anonym,] Verzeichniß der aufgeführten Stücke im Jahr 1771, nebst einer kurzen Beurtheilung, und einer Anzeige ihrer Aufnahme, in: Christian Gottlob Klemm (Hg.), Theatralkalender von Wien, für das Jahr 1772, Wien 1772, 38–77, hier 65 f. 97 Hamburgische Dramaturgie, 13. St. v. 12. 6. 1767, 14. St. v. 16. 6. 1767 (LWB 6, 249 f.). 87 88

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Miß Sara Samson [!] allein war die erste wahre Tragödie im ächten Sinn des Aristoteles; Furcht und Mitleiden erregend; voll des Geistes wahrer Karakteristik; war die erste teutsche Tragödie, in der auf unserer Büne Warheit zu Warheit, und Menschheit zu Menschheit sprach. […] Hier sahe Teutschland […] zum erstenmal Darstellung nach dem Leben; […] fülte zum erstenmal Geist der Filosofie, Studium der menschlichen Seele und ihrer mannigfaltigen Bewegungen […].98

Doch wie wurde Lessings Trauerspiel tatsächlich auf den österreichischen Bühnen aufgeführt? Ein biblisches Drama, das der Impresario in Hegrads Komischen Roman ankündigt – „Miß Sara Samson“ [!] mit der „gottlose[n] Königin Mardoch“99 in der Hauptrolle – lässt sich nicht ermitteln. Hingegen wurde 1763 die Adaption100 Missara und Sirsampson aus der Feder von der HofburgtheaterSchauspielerin Christiane Friederike Huber (geb. Lorenz, verh. Huber bzw. Weidner) am Kärntnertor-Theater aufgeführt.101 Die gedruckte Bühnenbearbeitung behält Lessings Stammpersonal weitgehend bei, ebenso die Situierung („in einem Gasthof ohnweit der Stadt London“)102 und stellt auf die bühnenpraktische Umsetzung von Lessings Trauerspiel ab.103 Einzig der Diener Mellefonts, Norton, wird durch Hanswurst ersetzt, während der treue Diener Sir William Sampsons, Johann Friederich Schink, Dramaturgische Fragmente, Vierter Band, Graz 1782, 1094–1160, hier 1095 f. Schinks Einlassungen kreisen um die Rolle der Marwood, die er als Zentrum des Trauerspiels identifiziert und deren Darstellung durch Maria Rosalia Nouseul am Hoftheater Schink als einzig gelungene Darstellung bezeichnet, da sie die Rolle nicht vereinseitigend als „weibliche[s] Ungeheuer“ anlege. Die „Wiener Ausgabe dieses Trauerspiels“ reduziere durch „ausgelassen[e]“ (sprich: zensierte und gekürzte) Stellen jedoch die – v. a. emotionale – Wirkung erheblich (ebd., 1123). Um welche Darbietung es sich genau handelte, konnte nicht ermittelt werden, vgl. Schulz, Lessing auf der Bühne (wie Anm. 4), 243 f. Schink veröffentlicht 1787 einen Theaterroman (Das Theater zu Abdera, 2 Bde., Berlin, Liebau 1787), der auf Wielands Abderiten rekurriert und seine Satire (mit Schlüsselroman-Charakter) fiktionalisiert, vgl. Selbmann, Theater im Roman (wie Anm. 70), 33 f. 99 Hegrad, Komischer Roman (wie Anm. 59), Bd. I, 225 f. 100 Eybl hat vorgeschlagen, den Kontrast zwischen den Trauerspielen Lessings und ihren österreichischen Adaptionen nicht als Frage von Hoch- und Gebrauchsliteratur zu verhandeln, sondern die integrative Leistung der Wiener Adaption anzuerkennen als „Versuche der Überwindung von kultureller Differenz durch Umcodierung“ und als „Anerkennung kultureller Identität“ (Eybl, Lessing-Rezeption [wie Anm. 3], 146, 148). 101 Meyer, Bibliographia dramatica (wie Anm. 95), Bd. II.20, 444. Lessing bewunderte als Leipziger Student die ,LorenzinR, die dort als Mitglied von Caroline Neubers Truppe wirkte, später nach Wien ging, wo sie 1757 den Schauspieler Joseph Karl Huber heiratete, vgl. Schmidt, Lessing (wie Anm. 82), Bd. 1, 72 f., 88. 102 „Die Bühnenbearbeitungen, literarhistorisch gemeinhin als Entstellung und Verflachung registriert und belächelt, sind infolge ihrer breiten Wirkungsintention im Theaterbetrieb die handgreiflichsten Objekte kultureller Umcodierung“ (Eybl, Lessing-Rezeption [wie Anm. 3], 146). 103 „Dem in der Wiener Theatertradition noch gültigen Nachrang des Dramentextes gegenüber dem Schauspieler trägt die Tatsache Rechnung, daß das Lessingsche Personal den Rollenfächern angepaßt und entsprechend umgeschrieben wurde“ (Eybl, Lessing-Rezeption [wie Anm. 3], 146 f.). 98

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Waitwell, beibehalten wird.104 Hubers Texteingriffe105 sind moderat und vereinfachen häufig Lessings gehobenen Sprachgebrauch, passen das Bühnendeutsch der gesprochenen Umgangssprache an (wobei v. a. Hanswurst – seiner Rolle gemäß – derbes und auch mundartliches Vokabular benutzt) und nehmen Kürzungen an den Monologen vor (schätzungsweise im Umfang von einem Drittel des Ausgangstextes).106 Die Rolle Nortons wird auf den Hanswurst appliziert durch Übertreibungen, die den komischen Charakter des Dieners verdeutlichen. So reicht ein Diener Hanswurst den Brief der Marwood „mit einer so höflichen Art […], daß ich bald zum Haus hinein gefallen wäre“ (Huber I, 6); die daran anschließenden Schimpftiraden Mellefonts auf die angebliche Brief-Fehllektüre Hanswursts greifen die üblichen Prügelszenen auf und werden mit Spott vergolten (Mellefont werde „wie ein Polloneser Hündel“ zu Füßen der Marwood liegen, Huber I, 6). An anderen Stellen werden Szenenanweisungen verbalisiert, um einen komischen Effekt zu erzielen, der der klassischen Hanswurstiade entspringt.107 Ausgeklammert ist in Hubers Bearbeitung hingegen die Gleichsetzung Mellefonts mit dem Teufel durch die Marwood108 und der damit verbundene SündenDiskurs109 – möglicherweise eine Tribut an die katholische Sündenlehre, über deren Einhaltung die Theaterzensur gewacht haben dürfte. Eine entscheidende Akzentuierung erfährt die Erörterung der Schuldfrage durch Hanswurst (Norton) und Mellefont: Hanswurst beurteilt die Taten seines Herren Mellefont durchgehend negativ, und nicht – wie bei Lessing – nur zu Beginn des Stückes, ehe Mellefont Norton klargemacht hat, dass auch er Tatbeteiligter ist: „Hannswurst. […] wann [S]ie [Mellefont] wollen zum Teufel fahren, ich mich soll mit verdammen lassen, das wird man in keinem Abschied finden“ (Huber IV, 2). Die schon bei Lessing anzutreffende Standeskritik (Lessing verwendet ebenso wie Huber das Schlagwort des Pöbels) wird bei Huber noch einmal zugespitzt: Auf den Vorwurf Mellefonts, sich aus Gewinnsucht an den Machenschaften beteiligt zu haben, entgegnet Norton: „weil der Pöbel noch sein Gefühl hat“ (Lessing IV, 3); bei Huber „Die Dienerfigur ist im Wiener Theater lange Zeit nur als Hanswurstrolle zu denken“ (Eybl, Lessing-Rezeption [wie Anm. 3], 146). 105 Im Folgenden werden Lessings Miß Sara Sampson und Hubers Bearbeitung unter der Sigle ,LessingR bzw. ,HuberR mit Angabe von Akt- und Szenennummer zitiert. 106 Kürzungen finden sich etwa im Dialog über die Tugenden zwischen Mellefont und Sara (Lessing I, 7; Huber I, 5) oder in der Briefszene zwischen Waitwell und Sara (Lessing III, 3; Huber III, 3). 107 „Mellefont (zu Hanswurst.) Du stöhrest mich jetzo. / Hannswurst. So geh ich halt wider meiner Wege. (will fortgehen.) / Mellefont. Nein, nein, bleib da […]“ (Huber IV, 2; vgl. Lessing IV, 3: „Mellefont Du störst mich, Norton – / Norton Verzeihen Sie also, mein Herr – indem er wieder zurück gehen will. / Mellefont Nein, nein, bleib da“). 108 Umkehrt wird die Marwood vom Hanswurst als „ein rechtes Hinterfirtel vom Teufel“ identifiziert, dem nicht beizukommen sei (Huber IV, 2). 109 Lessing II, 7; vgl. Huber II, 5. 104

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transformiert zu „weil der Pöbel noch seine gesunde Vernunft hat“ (Huber IV, 2), und diese ,gesunde VernunftR wird mit dem „närrische[n] Zeug“ der „Vornehmen“ („Kaltsinn, Widerwillen, Unentschlossenheit“, Huber IV, 2, auch bei Lessing) verrechnet. Dass sich Hanswurst als Diener während dieses Disputs keinen Stuhl nehmen darf („Mellefont. Du wirst stehen, und dich erinnern, wer du bist“), unterstreicht noch einmal die diskutierte Fallhöhe. Die Hanswurst-Figur hat aber noch eine weitere Funktion, nämlich die eines Kommentators, der launische Bemerkungen beisteuert, die das Geschehen moralisch einordnen oder – im finalen Dialog (der Sterbeszene zwischen Sara und Mellefont, Huber V, 3–4) – echtes und unechtes Mitleid beurteilen. Anders als Lessings Norton hat Hubers Hanswurst aber in der letzten Szene keinen Auftritt mehr (Huber V, 7; Lessing V, 11). Stattdessen fasst „Sirsampson“ in einem abschließenden Epilog – nach Art des Schul- oder Jesuitendramas – die Morallehre des Trauerspiels noch einmal zusammen: O Welt! siehe die Früchte des Ungehorsams einer ausschweifenden Liebe, und die Gewalt des Satans über einen lasterhaften, und in Sünden verharrenden Menschen; Marwood entgehet ihrem Geschicke, und der rächenden Hand des Himmels gewißlich nicht, und vielleicht entsetzet sich die Erde ihre Behältnuß zu seyn, da sich ihre beyden Schlachtopfern [!] in derselben vereinigen.

III.3. Kurz-Bernardons Die Insul der gesunden Vernunft (1764) Beim zweiten Text, auf den Hegrad direkt rekurriert, handelt es sich um eine Hanswurstiade aus der Feder von Joseph Felix von Kurz-Bernardon, Die Insul der gesunden Vernunft,110 die 1764 erstmals zur Aufführung gelangte.111 KurzBernardon führte die Tradition des Wiener Stegreiftheaters fort und widersetzte sich mit phantastischem Bühnenzauber, revueartigen Szenenreihungen, Einschub von (Kinder-)Balletten, Gesangseinlagen, Pantominik und Jonglage den Postulaten aufgeklärter Dramenpoetik: „Die logisch-kohärente Verknüpfung des Geschehens zu[] einer schlüssigen Geschichte galt den Autoren, Prinzipalen und Spielern wie auch dem Publikum als zweitrangig, ja geradezu als notwendiges Übel“.112 Darauf reagierte die Obrigkeit im Habsburgerreich – sekundiert von Ein ganz neues Lustspiel von unserem Bernardon, mit Arien, und einem Divertissement von Kindern. Betitult: Die Insul der gesunden Vernunft. Wobey Fiametta und Bernardon das Wunderwerk einer ungekünstelten Natur vorstellen. Mit Hannswurst dem sich dreymal verstellenden Grafen von Gerstenschleim. Verfasset, und zusammengetragen von Joseph Kurz, [s.l. 1763]. Mit Seitenzahl bzw. Paginierung im Text zitiert. 111 Meyer, Bibliographia dramatica (wie Anm. 95), Bd. II.21, 139. Weitere Aufführung in Nürnberg (1766), Mainz (1767) und Danzig (1771). 112 Müller-Kampel, Hanswurst (wie Anm. 67), 29. Vgl. auch Matthias Mansky, Der ,edle WildeR 110

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namhaften Wiener Gottschedianern wie Joseph von Sonnenfels und Joseph Heinrich von Engelschall – mit zahlreichen Versuchen, den Hanswurst von der Bühne zu verbannen (sog. Hanswurst-Streits, 1747–1769).113 Kurz-Bernardons Insul der Vernunft reagiert daher auch auf das Verbot des Stegreifstils 1752 (das jedoch erst 1769 durchgesetzt wird)114 und den damit einhergehenden obrigkeitlichen Modulierungsversuchen, indem er Zugeständnisse an ein regelmäßiges Lustspiel macht, an der Hanswurstfigur aber festhält.115 Das Lustspiel – eine Adaption des Arlequin sauvage (1731) von Louis-FranÅois Delisle de La DrevetiHre116 – präsentiert, nach Kurz-Bernardons Theaterzettel von 1771 – zwei ,WildeR (Fiametta und Bernardon) als wahre Philosophen der Natur, [die] ihre Insel, die Insel der gesunden Vernunft, […] nennen. Aber wie possierlich ist ihr erster Auftrit, und Bekanntschaft mit den Sitten unserer Welt! Sie haben keine Kenntnis von Respect, Complimenten, Ceremonien, und den Zierlichkeiten des menschlichen Umgangs. Sie staunen alles an, und machen sich von dem, was Sie sehen, die abentheuerlichsten und possierlichsten Auslegungen. […] Da unser Wilde sich bey einer ansehnlichen Hof-Staat aufhält, so bekömt er auch Kenntnis von der grossen Welt, geisselt mit seiner Zunge jedermann, und nach seinem Anspruch sind wir nicht so weise, wie wir uns einbilden, doch vergiebt man ihm alles weil er uns unaufhörlich zu lachen macht.117

Die Handlung entwickelt sich um eine doppelte Liebesintrige: der junge Graf Heinrich ist in die ,wildeR Fiametta verliebt, die sich aber schon dem ,wildenR Bernardon versprochen hat. Daher soll – unter Wahrung der Ständeklausel – eine (letztlich erfolgreiche) Liebesintrige Bernardon der Untreue mit der Hofdame Violetta überführen und Graf Heinrich die entführte Fiametta für sich gewinnen (angelegt als Doppelrollen).118 Treibender Intrigant ist der Freund des Grafen, als lustige Figur? Funktionalisierung und Transformation bei Franz von Heufeld und Joseph Felix von Kurz-Bernardon, in: Franz M. Eybl (Hg.), Nebenschauplätze. Ränder und Übergänge in Geschichte und Kultur des Aufklärungsjahrhunderts, Bochum 2014 (Jahrbuch der österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhundert 28), 193–207, hier 200 f. 113 Müller-Kampel, Hanswurst (wie Anm. 67), 152 ff. 114 Mansky, Gebler (wie Anm. 26), 13. 115 Mansky, Der ,edle WildeR (wie Anm. 112), 201. 116 Jürgen von Stackelberg, Metamorphosen des Harlekin. Zur Geschichte einer Bühnenfigur, München 1996, 67–85. Das Stück wurde 22. Oktober 1750 in Berlin – möglicherweise in Anwesenheit Lessings – aufgeführt, vgl. Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters, 1. St., 1750, 125 (Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustand des Theaters in Berlin; mit falscher Autorangabe). Vgl. auch Hugo Humbert, Delisle de La Dr8vetiHre, sein Leben und seine Werke. Ein Beitrag zur Geschichte des Nouveau Th8.tre Italien in Paris, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 27 (1904), 1–68, hier 39. 117 Zit. nach Ferdinand Raab, Johann Joseph Felix von Kurz genannt Bernardon. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Theaters im XVIII. Jahrhundert, hg. von Fritz Raab, Frankfurt am Main 1899, 180. 118 Mansky, Der ,edle WildeR (wie Anm. 112), 202.

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Odoardo [!] („ein Mann, der durch Vernunft vieles machen kan“ [(A7)r]), der zugleich als ,VernünftlerR gezeichnet wird. Einerseits besitzen die ,WildenR „eine Vernunft, die ihnen von der Natur eingebreget ist, welche auch zu Zeiten unsern Verstand übersteiget“ ([A6]r). Die höfischen Intrigen werden andererseits als „Narrenpossen“ ([A6]v) ausgewiesen, die Vorzeichen von Aufklärung und Aufklärungsmangel sind also ins Gegenteil verkehrt: die ,WildenR sind einer aufgeklärten Vernunft teilhaftig; die höfische Gesellschaft ist ,närrischR. Der Vernunftsdiskurs durchzieht die gesamte Komödie und gewinnt seine Dynamik aus der ständigen Rollenvertauschung von ,NarrR und ,AufklärerR, von Hanswurst und Bernardon im durch Verwechslungen, Gesangseinlagen und Hanswurstiaden geprägten Handlungsgefüge. So belehrt Hofmann Odoardo den ,WildenR Bernardon, dass Gesetze ehrlich und Gebräuche vernünftig machen, worauf dieser erwidert: „Nun, wann euch eure Gesätze ehrlich, und eure Gebräuche erst vernünftig machen, so ist es ja ganz klar, daß ihr von der Natur aus, lauter Schelm und Narren seyd“ (C[1]v). Fiametta und Bernardon werden als ,edle WildeR präsentiert, die noch nicht ,verbildetR sind, deren „Komik einem ,verschriftlichtenR und im weiteren Sinne ,regelmäßigenR Theatertext“119 interpoliert wird und damit die „lustfeindlichen, akademisch-trockenen Postulate der GottschedAnhänger in Wien“ bloßstellt.120 Hanswurst und Bernardon müssen sich jedoch nicht – wie üblicherweise in Hanswurstiaden – auf der Bühne verkleiden, sondern erscheinen als Bürger bzw. Adlige verkleidet und legen während des Stücks immer mehr ihrer ,VerkleidungR ab; damit kippt die „Handlung von Anfang an in eine Art Parodie“.121 Den libertinen Verhältnissen zwischen dem (haus-)väterlichen Adligen Graf Adolph von Gerstenschleim (der verkleidete Hanswurst) und seiner ,wildenR Geliebten Fiametta korrespondiert die Verbandelung der adligen Partnerin Lavinia mit dem ,wildenR Bernardon. Statt eine Liberalisisierung der Standesgrenzen zu fordern, wie sie der Josephinismus propagiert, nutzt Kurz-Bernardons Bühnen-Adel den Libertinismus zum Angriff auf die „bürgerliche[n] Tugend- und Machtimaginationen“.122 Das Stück entzieht sich der aufgeklärten Moral, indem es anstelle einer „vernunftgeleitete[n] Satire“ ein „komödiantisches Theaterspiel mit bürgerlichen Wertevorstellungen“ bietet123 – und eben keine bürgerliche Tugendschule bietet.

Ebd., 194. Eva-Maria Ernst, Zwischen Lustigmacher und Spielmacher. Die komische Zentralfigur auf dem Wiener Volkstheater im 18. Jahrhundert, Münster 2003 (Literatur – Kultur – Medien 3), 140. 121 Mansky, Der ,edle WildeR (wie Anm. 112), 203. 122 Ebd., 204. 123 Ebd., 207. 119 120

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III.4. Reulings Die erste Märtyrinn Thecla (1760) Beim dritten und letzten Text, den Hegrad aufruft, handelt es sich um ein Märtyrerinnen-Drama aus der Feder des Schauspielers, Schriftstellers und Übersetzers Carl Ludwig Reuling (um 1730 – 1787):124 Das Vorbild weibliches Heldenmuthes, oder die erste Märtyrinn Thecla, in einem Trauerspiele vorgestellet. Es erschien 1760 in einem selbstständigen Nürnberger Druck,125 der 1762 im zehnten Teil der Deutschen Schaubühne zu Wienn126 nachgedruckt wurde. Ludwig Wenzig spielt seit 1755 alljährlich in Graz und führt regelpoetische Stücke, etwa die Alzire (1736) von Voltaire in der Übersetzung von Luise Adelgunde Victorie Gottsched oder dessen Za"re (1732) in der Übersetzung Johann Joachim Schwabes auf.127 Reuling gastierte zunächst mit Johann Joseph Brunians Truppe in Brünn und Prag,128 kommt 1757 mit Mathias Wittmann und dessen Truppe deutscher Schauspieler nach Graz129 und stößt 1758 zu Wenzigs Truppe,130 die aber 1760 aufgrund des Siebenjährigen Krieges Konkurs macht.131 Reuling geht mit Wenzig zunächst nach Baden-Durlach, wo sie als Prinzipale die „Markgräflich Badensche Truppe“ in Rastatt unterhalten132 und Reuling zum Hofschauspieler ernannt wurde,133 zieht mit der Truppe aber auch durch die Lande. 1771 heiratet Reuling Wenzigs Tochter Anna Maria,134 1772 wird Reuling mit Wenzig Geburtsjahr unbekannt. Im Deutschen Geschlechterbuch (Görlitz 1930, Bd. 69, 568) wird ein 1723 geborener „Baudirektor bei dem Markgrafen zu Baden-Baden“ geführt (Sterbedatum unbekannt), der möglicherweise mit C. L. Reuling identisch ist. Ob der ab 1824 auf den Wiener Bühnen wirkende Wilhelm Ludwig Reuling (1802–1877) mit ihm verwandt ist, konnte nicht ermittelt werden. 125 [Carl Ludwig Reuling,] Das Vorbild weibliches[!] Heldenmuthes, oder die erste Märtyrinn Thecla, Nürnberg 1760. 126 [Carl Ludwig Reuling,] Das Vorbild weibliches[!] Heldenmuthes, oder die erste Märtyrinn Thecla, in: Die Deutsche Schaubühne zu Wienn, nach Alten und Neuen Mustern, Theil 10, 1762, III. Schauspiel. 127 Krista Fleischmann, Das Steirische Berufstheater im 18. Jahrhundert, Wien 1974 (Theatergeschichte Österreichs 5/1), 69, 79. 128 Ebd., 66, 76. 129 Ebd., 69. 130 Ebd. 131 Ursula Simek, Das Berufstheater in Innsbruck im 18. Jahrhundert. Theater im Zeichen der Aufklärung in Tirol, Wien 1992 (Theatergeschichte Österreichs 2/4), 132. 132 Anonym, [Art.] Wenzig, Ludwig, in: Ingrid Bigler-Marschall (Hg.), Deutsches Theater-Lexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch, Bd. 6: Weisbrod–Wolansky, München, Zürich 2015, 3230 (kein Eintrag zu Reuling im Bd. 3). 133 Fleischmann, Das Steirische Berufstheater (wie Anm. 127), 82; Simek, Berufstheater in Innsbruck (wie Anm. 131), 131. 134 Fleischmann, Das Steirische Berufstheater (wie Anm. 127), 84. 1761 heiratete Reuling die Schauspieler-Witwe Rosalia Hirschberger (ebd., 68). 124

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– wohl auf Betreiben der Grazer Obrigkeit – vom kaiserlichen Hof zum Direktor der deutschen Schauspiele am Grazer Tummelplatztheater ernannt mit der Auflage, auch weiterhin regelpoetische Stücke zur Aufführung zu bringen.135 Reuling schließt an die Wiener Reformbestrebungen an, vornehmlich durch Übersetzungen aus dem Französischen (zum gleichen Zeitpunkt verdrängt Sonnenfels den Hanswurstdarsteller Gottfried Prehauser von der Wiener Bühne).136 In einem Brief an den Burgschauspieler Johann Heinrich Friedrich Müller von 1772 umreißt Reuling sein Programm, das auf die Hamburger und Wiener Theaterreformen der späten 1750er Jahre rekurriert, u. a. durch Aufnahme von LessingStücken in den Spielplan (Miß Sara Sampson, Minna von Barnhelm, Emilia Galotti), aber auch von Stücken der Gottschedianer.137 Nicht aufgeführt werden hingegen Burlesken, Possen und extemporierte Komödien (und zwar aufgrund der Zensurbeschränkungen der Grazer Obrigkeit),138 was die Truppe – wohl aufgrund ausbleibender Zuschauer – an den Rand des Ruins bringt. Reuling muss daher 1774 die Leitung abgeben139 und agiert bis 1779 lediglich als Schauspieler in Graz,140 bildet aber ein Regiekollegium mit weiteren Schauspielern, um weiterhin deutsche regelmäßige Schauspiele geben zu können.141 Spätestens 1784 hat sich Reuling von Bühne zurückgezogen und stirbt wohl 1787.142 Diese lückenhafte Biographie erklärt die literarische Produktion Reulings. Sie ist gleichsam flankiert durch zwei Huldigungsschriften von 1757 und 1771,143 in Ebd., 139. Ebd., 78. 137 Carl Ludwig Reuling, Nachrichten die deutsche Schaubühne in Grätz betreffend [1772], in: Müller, Genaue Nachrichten (wie Anm. 83), Zweiter Theil, 184–205; zit. nach Fleischmann, Das Steirische Berufstheater (wie Anm. 128), 83. 138 Ebd., 88. 139 Ebd., 83 f. Das ist zeittypisch für die mariatheresianinisch-josephinischen Bühnenrefomen durch Joseph von Sonnenfels: die in den Bankrott getriebenen Theaterpächter erhofften sich kontinuierliche Subventionen durch adlige Gönner oder den Wiener Hof, vgl. Mansky, Gebler (wie Anm. 26), 12. Die Lösung dieses Problems sah Gebler in der Schaffung eines (Wiener) Nationaltheaters, das von Lessing geleitet werden und den allgemeinen Geschmack heben sollte (ebd., 12 f.). 140 Fleischmann, Das Steirische Berufstheater (wie Anm. 128), 105. 141 Ebd., 108. 142 Otto G. Schindler, Wandertruppen in Niederösterreich, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Wiener Theaterforschung 17 (1970), 1–60, hier 37 f. (juristische Auseinandersetzung um die Erbangelegenheiten der Maria Anna Reuling nach dem Tod ihres Gatten). Die These, dass Reuling vor 1799 gestorben sein muss (Fleischmann, Das Steirische Berufstheater [wie Anm. 128], 84), ist damit widerlegt. 143 Beym Grab Amaliae der Kayserin, München 1757 (auf den Tod von Wilhelmine Amalie von Braunschweig-Lüneburg, Gemahlin Kaiser Josephs I.); Caroline Naumann [mit unbekanntem Anteil Reulings], Pflichten der Ehrfurcht am Augustus-Tage, Rastatt 1771 (auf den Namenstag von Karl August von Baden-Durlach). Naumann (geb. Caroline Friderici) war später verheiratet mit Peter Amor und wirkte unter Goethe in Weimar. 135 136

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denen Reuling Anschluss an den Hof bzw. eine höfische Patronage suchte. Seine produktivsten Jahre hat Reuling nach dem Bankrott des Grazer Theaterunternehmens 1760, als er sieben regelmäßige Trauerspiele vorlegt, allesamt nach französischen Vorlagen, wobei die älteste Vorlage, Jean FranÅois Regnards Le distrait, von 1697 datiert,144 also fast zwei Generation zuvor entstanden ist, während die Adaption von Jean-Jacques Rousseaus Pygmalion von 1770 ein recht aktuelles Stück aufgreift.145 Alle sieben Adaptionen146 orientieren sich an Gottscheds Gattungsvorgabe147 und übertragen den Ausgangstext in (heroische) Alexandriner. Reulings Thecla nimmt demgegenüber eine Sonderstellung ein, ist sie doch das einzige seiner Trauerspiele,148 das nicht direkt auf einer literarischen Vorlage baDer Zerstreute ein Lustspiel des Herrn Regnard, Frankfurt am Main, Leipzig 1761 (vgl. Meyer, Bibliographia dramatica [wie Anm. 95], Bd. II.20, 138). 145 Pigmalion. Ein Lustspiel in Versen und einem Aufzuge. Von Herrn Carl Ludwig Reuling, Prag 1772 (Meyer, Bibliographia dramatica [wie Anm. 95], Bd. II.25, 157 f.). 146 Es handelt sich dabei um: - Das Orackel. Ein Lustspiel in Versen, und von fünf Aufzügen, auf der Wittmannischen Schaubühne zum erstenmal aufgeführt in Salzburg den 27. Julii, [Salzburg] 1759 (1772 wieder aufgenommen in Graz, vgl. Meyer, Bibliographia dramatica [wie Anm. 95], Bd. II.19, 272) (nach Germain FranÅois Poullain de Saint-FoixQ LQOracle [1740] und Christian Fürchtegott Gellerts Das Orakel [1755]); Johann Adolph Schlegel legte bereits 1745 eine Übersetzung vor, die 1750 in der Ausgabe von SaintFoixQ Theatralischen Schriften erschien, vgl. Richard Daunicht, Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, Berlin 21965 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 132), 76; - Absalon ein Trauerspiel. Aus dem Französischen des Herrn Duch8, übersetzt von C. L. R., Frankfurt am Main, Leipzig 1761 (21761) (Meyer, Bibliographia dramatica [wie Anm. 95], Bd. II.20, 137 f.) (nach Joseph-FranÅois Duch8 de Vancys Absalon, 1712); - Le caprice amoureux ou Ninette a la cour. Der verliebte Eigensinn oder Nanerl bei Hofe. Eine Opera comique in 2 Aufzügen für das deutsche Theater, Graz 1767 (Meyer, Bibliographia dramatica [wie Anm. 95], Bd. II.22, 367) (nach Charles Simon Favarts Le Caprice amoreux ou Ninette / la cour, 1763; 21769, 31778; vgl. dazu Alfred Iacuzzi, The European Vogue of Favart. The Diffusion of the Op8ra-Comique, New York 1932, 223); - Der Teufel in allen Ecken oder die zweyfache Verwandlung. Eine Opera comique in dreyen Aufzügen, Prag 1768 (Meyer, Bibliographia dramatica [wie Anm. 95], Bd. II.23, 130 f.) (21769 [Salzburg], 31770 [Prag], 41776 [Nürnberg], 51778 [Preßburg]) (nach Michel-Jean Sedaines Le diable / quatre oF la double m8tamorphose, 1756; das Stück enthält Passagen in Salzburger Mundart und wurde von Johann Baptist Savio vertont); - Das Gespenst mit der Trommel. Oder der wahrsagende Ehemann. Ein Lustspiel, Prag 1769 (21777 [Wien]) (Meyer, Bibliographia dramatica [wie Anm. 95], Bd. II.23, 336) (nach Philippe N8ricault DestouchesQ Le Tambour nocturne, ou Le mari devin, 1761, bzw. nach Joseph Addisons The Drummer, or The Haunted House, 1716, von L. A. V. Gottsched übertragen); vgl. Jürgen von Stackelberg, Übersetzungen aus zweiter Hand. Rezeptionsvorgänge in der europäischen Literatur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, Berlin u. a. 1984, 125–143. 147 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Vierte, sehr vermehrte Auflage, Leipzig 1751, 603–630. 148 Meyer, Bibliographia dramatica (wie Anm. 95), Bd. II.19, 478. Für 1782 ist eine weitere 144

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siert, sondern seinen Stoff den apokryphen Paulusakten entnimmt,149 spezieller: den De probatis vitis Sanctorum des Kartäusermönchs Laurentius Surius.150 Das Stück könnte seinen Entstehungsanlass in der Weihe der Wiener Piaristenkirche St. Thekla 1756151 oder von St. Thekla in Welden 1758152 haben bzw. anlässlich des Patrozinium (Patronatsfest) am 23. September 1760 aufgeführt worden sein. Der inhaltliche und formale Aufbau der fünfaktigen (also regelmäßigen) „Trauerspiel[s]“ – Reuling wählt die Gattungsbezeichnung mutmaßlich, um den Gepflogenheiten der Wiener Aufklärer entgegenzukommen – rekurriert nur vordergründig auf das Jesuitendrama (es gibt zwar ein Argumentum, es fehlen aber Prolog und Epilog),153 doch ist der antithetische Aufbau (inhaltlich von guten und bösen Protagonisten, formal durch den Alexandrinervers) gegeben. Erzählt Aufführung von Reulings Thecla (zusammen mit Jesuitendramen, etwa von Anton Claus oder Franz Reisen) in München „beym Faberbräu von einer Gesellschaft bürgerlicher Stadtmusikanten zur Fastenzeit“ nachweisbar, vgl. Lorenz von Westenrieder, Von dem Zustand des Theaterwesens in München, in: Jahrbuch der Menschengeschichte in Bayern, Ersten Bandes zweyter Theil, München 1783, 192–203, hier 193. 149 Acta Theclae 27–41, nach Wilhelm Schneemelcher, Paulusakten, in: ders. (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 61999, 193–243, hier 221–223. 150 Carl Ludwig Reuling, Das Vorbild weibliches Heldenmuthes, oder die erste Märtyrinn Thecla, in einem Trauerspiele vorgestellet, Nürnberg 1760. Mit Paginierung bzw. Seitenzahl im Text zitiert. Reuling verweist im „Inhalt“ (A2v) auf Laurentius Surius, De probatis vitis Sanctorum, Köln 1570–1576, hier Vol. 9 (September), 239–265 (23. Sept.). Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sich Reuling auf die Darstellung von Louis-S8bastien Le Nain de Tillemont (M8moires pour servir / lQhistoire eccl8siastique des six premiers siHcles, 16 Bde., Paris 1693–1712, hier Bd. 2, 65–70) bezieht. 151 Otto Biba, Der Piaristenorden in Österreich. Seine Bedeutung für bildende Kunst, Musik und Theater im 17. und 18. Jahrhundert, Eisenstadt 1975 (Jahrbuch für österreichische Kulturgeschichte 5), 35. Auszuschließen ist wohl, dass Reulings Text anlässlich der Weihe eines Thekla-Altarbildes in der Prager St. Joseph-Kirche entstand, vgl. Johann Joseph Schumann, S. Thecla, eine in ihrer ob dem Berg Petrzin, durch Böheim, […] aufgerichten H. Altar-Bildnuß, Prag [ca. 1750]. Vgl. auch die anonyme Predigt Kurze Andacht zu der heiligen Jungfrau und ersten Christi Martyrin Thecla, Steyr 1750 sowie das – im Jahr 1760 gedruckte – Erbauungs- und Gesangbuch für das Wiener Klarissinnenkloster: Trostreiche Erquick-Stunden, oder Kleine Tag-Zeiten nebst Litaney […] zu der Heiligen Jungfrauen […] Thecla, Wien 1760. 152 Karl Heinrich Koepf, Joseph Dossenberger (1721–1785). Ein schwäbischer Baumeister des Rokoko, Weißenhorn 1973, 24. 153 Von 1761 datiert ein „Trauer-Spihl“ Thecla am Brigittenkloster Altomünster (vgl. die Perioche: Thecla. Trauer-Spihl. Mit Genehmhaltung und Erlaubnuß der Obern aufgeführet in dem Churfürstl. Marckt Altomünster. den 21–24. und 28sten Junii 1761. Bey Catharina Pächlerin, Bierbräuin daselbst [Altomünster] 1761), das sich am (volkssprachlichen) Jesuitendrama orientiert, vgl. Klaus Haller, Wilhelm Liebhart, Geistliche Spiele der Barockzeit aus Oberbayern, Regensburg 2017 (Editio Bavarica 4), 38 f. Für die Jesuitenbühnen ist der Thekla-Stoff wohl nie adoptiert worden, vgl. Elida Maria Szarota, Das Jesuitendrama im deutschen Sprachgebiet, 4 Bde., München 1979–1987, Indizes.

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wird die Geschichte der Märtyrerin Thekla, die im ersten Jahrhundert von Paulus bekehrt wird, der (heidnischen) Standesehe die (christliche) Enthaltsamkeit vorzieht und daraufhin den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen wird, jedoch von einer Löwin beschützt wird und überlebt. Bereits die apokryphe Überlieferung ist stark narrativiert.154 Reuling schildert, wie sich die ,HeidinR Falconilla zunächst in Thecla verliebt, die sich als Soldat verkleidet hat, nachdem sie ihrer Mutter und einem zudringlichen Freier entkommen ist und in ihre Heimatstadt Ikonium zurückkehrt, begleitet von ihrem Ziehvater Sadoc (23 f., eine Stellvertreterfigur des Apostels Paulus). Das Trauerspiel stellt die amourösen Verwirrungen durch eine Reihe von Verwechslungen und Rollenwechseln dar, um Theclas Sendung – „durch Gefahr den Weg zur Tugend“ (64) zu erlangen – zu demonstrieren. Auch wenn es sich um ein Märtyrerinnendrama handelt, so sind doch der gewissermaßen bürgerliche Gefühlshaushalt und die (Zieh-)Vater-Tochter-Bindungen zentral. Das Tränen-gesättigte Stück affiziert durch Rührszenen das Publikum: „Ach Schmerz! Es kann man Herz die Trübsal nicht mehr fassen: / Ich muß das Uebermaaß den Thränen überlassen“ (84). In der abschließende Peripetie wird Thecla den wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen, daran schließt die Apotheose des ,Christseeligen SterbensR an: Ich sehne mich darnach [nach dem Tod], weil ich versichert bin, Die Thiere reißen mich zu ächten Freuden hin. Der kurze Schmerz, womit die Marter mich soll drücken, Wird bald mein siegend Haupt mit reichster Krone schmücken: Der harte Todesstoß bricht mir den Eingang auf, Der mich zum Leben führt; zum Leben, dessen Lauf Noch Ungemach, noch Schmerz, noch Sterblichkeit kann quälen. (113)

Reulings Titelprotagonistin Thecla changiert als ,Märtyrerin des EmpfindensR155 zwischen Abschreckung und Mitleiden156 und verbindet die ,barockeR Moral- mit der ,empfindsamenR Tugend-Lehre. Die ursprünglich Absetzungsbewegung des bürgerlichen Trauerspiels – Emanzipation vom klassizistisch-heroischen Tragödientypus, das Märtyrerdrama eingeschlossen – wird in Reulings „Trauerspiel“ Thecla zwar nicht aufgebrochen (schon gar nicht überwunden), aber es versucht wenigstens, die neueren dramaturgischen Entwicklungen (Familienkonflikt statt Veronika Niederhofer, Konversion in den Paulus- und Theklaakten. Eine narrative Form der Paulusrezeption, Tübingen 2017 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 459). 155 Hartmut Reinhardt, Märtyrerinnen des Empfindens. Lessings Miß Sara Sampson als Fall von Richardson-Rezeption, in: Hans Edwin Friedrich, Fotis Jannidis, Marianne Willems (Hg.), Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert, Tübingen 2006 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 105), 343–375. 156 Cornelia Mönch, Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18. Jahrhundert. Versuch einer Typologie, Tübingen 1993 (Studia Augustana 5). 154

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Staatsapparat, Mitleidserweckung statt Abschreckung, 100, 102, 104) zu integrieren und auf das ,überholteR Genre anzuwenden, zumal die Protagonistin Thecla – gänzlich untypisch für das Märtyrerdrama, aber der apokryphen Überlieferung nach korrekt – im Stück überlebt, während ihr Pendant Sara Sampson stirbt. Natürlich ist Reulings Thecla durch die christliche constantia-Vorstellung geprägt: „Allein, du siehest doch noch keine Thränen rinnen, / Warum? Ich weiß, daß einst das himmlische Beginnen / Des Traurens ungeacht, doch seinen Zweck erreicht“ (47). Diese Vorstellung prägt jedoch auch noch die Titelprotagonistin von Lessings Miß Sara Sampson, zeichnet die Märtyrerinnenfigur als moralisch unwandelbar gut aus, eine „Heilige“, „über alles Menschliche“ erhaben (V, 10), die auf die ,amor deiR eher baut als auf die Menschenliebe.157 Indem Hegrad in seinem Komischen Roman das Konkurrenzverhältnis von konfessionellem und bürgerlichem ,TrauerspielR thematisiert, erweist er die Fundierung der (protestantischaufgeklärten) Mitleidspoetik im katholischen Märtyrerdramen.158 IV. Resümee Hegrads Komischer Roman, 1785 vollendet und im Folgejahr gedruckt, zitiert eine Reihe von Texten, die mit Lessings Miß Sara Sampson konkurrieren: eine Lessing-Adaption für die österreichischen Bühnen, eine Hanswurstiade und ein Märtyrerinnendrama. Hubers Adaption integriert die Hanswurst-Figur in das Trauerspiel und verdeutlicht dadurch das Fortbestehen der Standesgrenzen im Habsburgerreich; außerdem dominiert ein moralisch-theologischer Sündenund Tugenddiskurs, der im Epilog noch einmal didaktisch zusammengefasst wird. Kurz-Bernardons Hanswurstiade invertiert das Verhältnis von Vernunft und Narrheit im Diskurs des ,Edlen WildenR und widerlegt damit die auf Aufklärung zielenden Theaterreformen der Wiener Gottschedianer ebenso wie es komödiantisch Forderungen nach einer bürgerlichen Tugendschule unterläuft. Reuling Georg-Michael Schulz, Tugend, Gewalt und Tod. Das Trauerspiel der Aufklärung und die Dramaturgie des Pathetischen und des Erhabenen, Tübingen 1988 (Theatron 1), 197. Vgl. auch Reinhardt, Märtyrerinnen (wie Anm. 155), 346 f. sowie – zum Fortwirken der constantia-Lehre in Miß Sara Sampson – Karl Eibl, Gotthold Ephraim Lessing: Miss Sara Sampson. Ein bürgerliches Trauerspiel, Frankfurt am Main 1971, 111. 158 ,Lessing und die katholische KonfessionR ist zumeist nur randständiges Thema der NathanForschung (vgl. Klaus Ley, Die Ringparabel und der ,katholischeR Lessing. Zur Deutungsgeschichte von Decameron I, 3 in Italien vor der Abfassung von Nathan der Weise, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 56 [2006], 381–403). Doch bereits in Miß Sara Sampson sind die konfessionellen Signale nicht eindeutig: Mellefont etwa trägt eine französisch klingenden Namen (fonds of mel = ,HonigfreundR) und will sich mit Sara in Frankreich verehelichen, wo sie „neue Freunde“ finden werde (I/7, LWB 3, 445). Als „friends“ bezeichneten sich die Quäker, die von der Marwood verspottet werden (II/3, LWB 3, 454). Damit wäre Mellefont ein hugenottischer R8fugi8. 157

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schließlich führt die empfindsame Gestaltung der Sara Sampson (inklusive VaterTochter-Konflikt) auf das katholische Märtyrerinnen-Drama zurück (amor dei, Constantia-Lehre), das damit zum Trauerspiel avant la lettre avanciert. Die drei von Hegrad in seinem Komischen Roman zitierten Theaterstücke sind also nicht willkürlich gewählt. Der inhaltliche Bezug verdeutlicht vielmehr das Konkurrenz- und Traditionsverhältnis, in dem Lessings Miß Sara Sampson sich behaupten muss: Publikumserwartung (Land- und Stadtpublikum), Gattungstradition (Trauerspiel, Hanswurstiade und Märtyrerdrama), Aufführungspraxis (Provinz- und Hauptstadtbühne) sowie Zensurbestimmungen. Die zitierten Titel verhandeln darüber hinaus als exemplarische Gattungsbeispiele die Frage, wie sich ,AufklärungR in der österreichischen Theaterpraxis (angesichts von Zensurbestimmungen und Publikumserwartungen) durchsetzen lässt. Zudem datieren alle von Hegrad erwähnten Stücke – Lessings Trauerspiel und dessen Adaption eingeschlossen – etwa 20 Jahre vor dem Entstehungsdatum des Komischen Romans. 1772 findet eine Aufführung der Miß Sara Sampson am Grazer Tummelplatz-Theater durch die Truppe Reulings statt;159 weitere Aufführungen auf „ländlichen Schmierenbühnen“160 sind historisch nachgewiesen, so in Preßburg 1768 und 1773, Salzburg 1776 und Linz 1782.161 Weitaus häufiger kam das Stück jedoch an den ,HohenR Bühnen zur Aufführung.162 1769 wurden zudem das Extemporieren und die Hanswurstiade auf den Bühnen des Habsburgerreichs verboten. Hegrad stellt in seinem Theaterroman eine Situation dar, die zum Entstehungszeitpunkt des Romans 1785 nicht mehr der Realität entsprochen haben dürfte und sich dennoch genauso abgespielt haben könnte; er kritisiert josephinische Verhältnissen, meint aber die mariatheresianischen. Durch seine Kritik betont Hegrad die Unabgeschlossenheit des Projekts der (katholischen) Aufklärung, die eben nicht mit der Alleinherrschaft Josephs II. zur Realisierung oder gar zum Abschluss gelangt. Das Interdependenzverhältnis von Theater und Roman ermöglicht Hegrad die Ausbuchstabierung einer Kritik an der Fortschrittsgläubigkeit der josephinischen Aufklärung. Unter Rückgriff auf das bündige Urteil des Greifswalder Rezensenten kann man sagen, dass Lessing sein Trauerspiel Miß Sara Sampson an Richardsons Pamela orientiert, Hegrad seinen Komischen Roman jedoch an Fieldings Joseph Andrews. Eine durch Darstellung von Empfindungen auf die Besserung des Menschen („wie sie sein sollten“) zielende Darstellung bei Lessing und RichardSchulz, Lessing auf der Bühne (wie Anm. 4), 45. Bodi, Tauwetter (wie Anm. 1), 211. 161 Schulz, Lessing auf der Bühne (wie Anm. 4), 22, 57, 69, 126. 162 Am Kärntnertor-Theater 1763, 1771, 1772 und 1773, am Hoftheater und am Burgtheater 1777, in Prag 1781, am Hoftheater 1782 und nochmals in Prag 1781 (ebd., 8, 41, 44, 55, 81, 86, 118, 126, 134). 159 160

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son steht also eine satirische Darstellung bei Fielding und Hegrad gegenüber, die die Menschen realistisch schildert, „wie sie sind“.163 Es handelt sich also um zwei Spielarten der Aufklärungsliteratur, die jedoch an zwei völlig unterschiedlichen Punkten ansetzen: Erziehung zum Guten einerseits und Anerkennung der Realität andererseits zeichnen sie aus.

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Anonym, Rezension von Fieldings Komischem Roman (wie Anm. 79), 583.

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Wilhelm Schmidt-Biggemann Johann Michael Sailer als Aufklärer

Katholische Aufklärung? Aufklärung hat ein vielfältiges Gesicht. So, wie der Begriff verwendet wird, bedeutet er mindestens zweierlei: Ein ideenpolitisches Projekt und eine historische Epoche. Ob die Zusammenstellung „katholisch“ und „Aufklärung“ ein Oxymoron ist, hängt davon ab, wie man Aufklärung fasst. Wenn es sich um protestantische oder atheistische Aufklärung in katholischen Ländern im 18. Jahrhundert handelt, bleibt die Behandlung an der Oberfläche, dann sind die Kriterien von vornherein festgesetzt und die Sache ist einfach. Dasselbe gilt, wenn Religionskritik Kriterium der Aufklärung ist. Wenn aber „katholisch“ und „Aufklärung“ in der Verbindung „katholische Aufklärung“ kein Oxymoron bilden, gelten, denke ich, drei unaufhebbare Essentials: 1. Aufklärung darf nicht zum Atheismus führen. Genau diese Konsequenz, dass jeder Rationalismus zum Atheismus führe, hatte Friedrich Heinrich Jacobi 1786 im berühmten Spinozismus-Streit gleichermaßen aus Lessings Spinoza-Interpretation und aus Kants Kritik der reinen Vernunft gezogen. Glaube und Vernunft müssen mithin in der katholischen Aufklärung konvenieren, wenn man das „katholisch“ nicht aufgeben will. 2. Es darf die biblische Offenbarung nicht in Frage gestellt werden. Genau dies hatte Lessing mit der Veröffentlichung der Reimarus-Fragmente seit 1777 getan und einen gewaltigen Streit um die Rolle der Bibel ausgelöst. 3. Es darf die katholische Kirchlichkeit im Prinzip nicht in Frage gestellt werden. Man kann die Kirche intern kritisieren, außerhalb der Kirche darf man nicht stehen. Katholizismus meint die römische Episkopalkirche. Das impliziert auch, dass die kirchliche Verkündigung und der kirchliche Kult ein unaufhebbares Moment der Katholizität sind. Sofern diese Kriterien gelten, ist der Begriff einigermaßen definiert: er ist gleichermaßen kritisch und apologetisch, er versucht, die Aufklärung für die Religion bekömmlich zu machen und wendet so die Aufklärung ins Erbauliche. Aber er ist im katholischen Sinn vor allem praktisch – Volksaufklärung. Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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1. Sailer als Schüler und Novize bei den Jesuiten (1762–1772) Unter diesen Voraussetzungen ist Johann Michael Sailer ein katholischer Aufklärer. Es lohnt sich, seine Biographie kurz zu erzählen.1 1751 wurde er in dem bayrischen Dorf Aresing in ärmliche, katholisch-fromme Verhältnisse geboren. Es gab, muss man sich klarmachen, auf dem Lande außerhalb des kirchlichen Katholizismus keinerlei intellektuelle Anregungen. Trotz der Hesitanz des Vaters, er war Schuster, wurde Hansmichel Sailer, wie er als Junge genannt wurde, vom Vikar des Dorfes in Latein unterrichtet. 1762 kam er dann aufs Jesuitengymnasium in München, das er bis 1770 mit großem Erfolg besuchte. Hier war Latein Unterrichtssprache, wurde sozusagen zur zweiten Muttersprache, die lateinischen Klassiker waren Hauptlektüre. Religion wurde nach dem lateinischen Katechismus von Petrus Canisus gelehrt, Kirchengeschichte war vornehmlich Exempelgeschichte bedeutender Kirchenmänner. Lektüre von neueren Autoren war möglich, so lernte Sailer auf dem Jesuitengymnasium auch Klopstocks Messias kennen. Die äußeren Bedingungen des kindlichen Gymnasiasten waren zunächst höchst bescheiden: Er wohnte mit einem Mitschüler auf einem Zimmer, teilte mit ihm das Bett und vor allem auch den irdenen Topf, in dem die beiden ihr Essen täglich zusammenbettelten. Allerdings bekam Hansmichel, der ein vorzüglicher Schüler war, bald eine Anstellung als Famulus – d. i. Nachhilfelehrer und Begleiter – des Sohnes eines Hofbeamten. Dieses Amt ernährte den Gymnasiasten. 1770, jetzt war er 19, trat er als Novize bei den Jesuiten in Landsberg am Lech ein.2 Es ist vielleicht interessant, das jesuitische Noviziat kurz zu schildern. Richtlinie waren die 14-tägigen ignazianischen Exerzitien, die in den ersten Tagen eine Generalbeichte vorsahen; am nächsten Morgen folgte dann der Empfang der hl. Kommunion. Das waren die Voraussetzungen für die Einkleidung. In den folgenden Tagen waren die Novizen in ihren jeweiligen Zellen allein, die Speisen wurden ihnen gebracht. Die nächste Station waren Meditationsübungen zu zweit mit einem älteren Novizen in abgetrennten Betkojen. Dabei wurde streng auf die Körperhaltung geachtet. Alle Übungen wurden nach einem strikten Zeitplan durchgeführt, keine dauerte länger als eine Stunde. Die Übungen begannen um vier Uhr morgens, es folgte ein Messbesuch, danach begannen die Lektionen, die das geistliche Leben und den Zweck des Ordens Ich richte mich nach der vorzüglichen biographischen Quellenedition von Hubert Schiel, Johann Michael Sailer in Selbstzeugnissen, Gesprächen und Erinnerungen der Zeitgenossen, Regensburg 1948. Aus dieser Sammlung hat Georg Schwaiger seine hagiographische Biographie zusammengestellt: Johann Michael Sailer. Der bayerische Kirchenvater, Zürich 1982. 2 Bernhard Duhr, Geschichte der Jesuiten in den Ländern deutscher Zunge, IV,1: 18. Jahrhundert, München, Regensburg 1928, 254–256. 1

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behandelten. Diese wurden gleich danach eine Viertelstunde lang in gemischten Gruppen zu je drei Novizen repetiert. In der folgenden Stunde wurde das Dormitorium aufgeräumt, die Nachtgeschirre ausgeleert, gefegt, die Armenküche organisiert und die Handarbeiten für die Essensvorbereitung verteilt. Vor dem bald folgenden Essen wurden Gebete gesprochen und das Gewissen erforscht. Das Essen dauerte genau eine dreiviertel Stunde; je nach Einteilung wurde anschließend die Küchenarbeit ausgeführt. Es gab Bußübungen während des Essens, die auch von den Patres und selbst vom P. Rektor ausgeführt wurden: stehend essen, auf dem Boden sitzen, Fußküssen oder – immer mit Erlaubnis – in abgerissener Kleidung in der Küche Essen erbetteln. Nach Tisch gab es eine Stunde Kolloquium: zu Zweit oder Dritt wurden die gehörten und gelesenen Lehren diskutiert. Dabei achteten die Novizenmeister streng darauf, dass sich keine stabilen Gruppen bildeten. Der Nachmittag war dann der Lehre gewidmet: es gab – wieder in Zweiergruppen – Predigtübungen nach vorgeschriebenen biblischen Texten, Rezitation des Kleinen Katechismus von Petrus Canisius, anschließend je einzeln ein viertelstündiges Kolloquium mit dem Pater Magister, dann eine Meditation von einer halben Stunde. Dem gemeinsamen Gebet im Chor des Exerzitienhauses folgte das Abendessen, zu dem die Novizen einzeln kommen konnten; es gab Bier, Brot und getrocknete Zwetschgen. Nach dem Dankgebet, das jeder einzeln für sich sprach, wurde im Noviziat mit einer Meditation der folgende Tag vorbereitet. Um neun Uhr wurde das Licht gelöscht. Daneben gab es private Bußübungen (Bußgürtel und Geißelung – allerdings nur moderat, nach Anweisung des Magisters). Sonntags wurden die Novizen als Katecheten in die umliegenden Dörfer geschickt, wo sie Christenlehre für Kinder und Erwachsene hielten und die Marienverehrung pflegten.3 Das jesuitische Noviziat dauerte zwei Jahre. Diese geistliche Disziplinierung prägte sich tief in die Seele der zukünftigen Ordensgeistlichen ein – das gilt auch für Sailer. 2. Sailer an der theologischen Fakultät in Ingolstadt (1772 – 1781) Nach diesen zwei Jahren schickten die Oberen den begabten Novizen zum Wintersemester 1772 zum Studium auf die Universität Ingolstadt.4 Hier hörte er im Schiel, Sailer (wie Anm. 1), Nr. 41, 37–42 druckt den Bericht von Anton Daetzl ab, der mit Sailer im Jesuitennoviziat war. 4 Seit 1772 war Adam Weishaupt Professor an der Rechtsfakultät in Ingolstadt, 1776 gründete er den Illuminatenorden, dem Adolph Frh. von Knigge 1780 beitrat. Zunächst hatte dieser Orden einen großen Erfolg auch unter den deutschen Adeligen. 1782 spielte er eine wichtige Rolle auf dem Wilhelmsbader Freimaurerkongress. 1784, beim Regierungsantritt Carl Theodors von Bayern, 3

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philosophischen Kurs auch Physik und Mathematik und schloss das philosophische Studium 1772 mit einem philosophischen Doktorexamen bei Prof. Matthias Gabler ab. In der Theologie beeinflusste ihn vor allem Benedikt Stattler SJ.5 Im Jahr 1773 wurde der Jesuitenorden aufgehoben – Sailer war noch nicht offiziell in den Orden aufgenommen worden, er war noch Novize. 1775 wurde er zum Priester geweiht. Er blieb als kurfürstlicher Alumnus zwar an der Universität, aber seine Lebensverhältnisse gestalteten sich höchst ärmlich. An der theologischen Fakultät in Ingolstadt6 war seit 1770 Benedikt Stattler SJ Professor für Dogmatik, er war als Theologe Anhänger der systematischen wolffschen Methode.7 Allerdings hatte der Jesuit Stattler Gegner, Benediktiner, und die vertraten die enzyklopädisch-historische Variante der Aufklärung: Hermann Scholliner (OSB)8 und Wolfgang Fröhlich (OSB).9 Sie beriefen sich auf die Loci-Methode von Melchior Cano und wollten die Theologie als historisch-philologische reformieren.

wurde er in Bayern verboten; 1785 wurde die Ordenstätigkeit eingestellt. Weishaupt floh nach Gotha, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. 5 Zu beiden u. a. Hans Graßl, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765–1785, München 1968, passim. 6 Ich beziehe mich auf Siegfried Hofmann, Die Jesuiten und die theologische Fakultät. Ein Beitrag zur Ausstellung: Die Jesuiten in Ingolstadt 1991, www.ingolstadt.de. 7 Demonstratio Evangelica Sive Religionis A Jesu Christo Revelatae Certitudo Accurata Methodo Demonstrata Adversus Theistas Et Omnes Antiqui Et Nostri Aevi Philosophos Antichristianos, Quin Et Contra Judaeos, Et Mahumetanos, Augsburg 1770; Demonstratio Catholica Sive Ecclesiae Catholicae Sub Ratione Societatis Legalis Inaequalis A Jesu Christo Deo Homine Institutae Genuinum Systema Secundum Iuris Naturae Socialis Principia Accurata Methodo Explicatum, Pappenheim 1775. 8 Nach Wikipedia 15. 05. 2021: Hermann Scholliner (1722–1795), als Sebastian Anton Scholliner geboren, seit 1738 Benediktiner. Zunächst Hausstudium im Benediktinerkloster Oberalteich. 1745 Priesterweihe. Danach Studium der Philosophie, Geschichte, Mathematik und Theologie an den Univ. Salzburg und Erfurt. 1752 Leitung des gemeinsamen Studiums der Bayerischen Benediktinerkongregation. Seit 1759 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, bis zu seinem Tode Arbeit an den Monumenta Boica. 1760 Professur für Dogmatik an der Benediktineruniversität Salzburg, die er 1766 niederlegt. 1773 bekommt er in Ingolstadt eine der beiden Dogmatik-Professuren, die durch die Auflösung des Jesuitenordens vakant waren. 1776 wird er Rektor der Universität Ingolstadt. 1780 gibt er diese Professur auf und wird Leiter der zu den Benediktinern gehörigen Propstei Welchenberg. Hier stirbt er 1795. Zahlreiche Arbeiten vor allem zur Bayrischen Geschichte und Kirchengeschichte. 9 Fröhlich, Wolfgang (1748–1810), Geburtsname Johann Nepomuk F., Profess bei den Benediktinern 10. 11. 1765, Priesterweihe 29. 05. 1771. 1773–1781 Professor für Philosophie und Theologie am Stift St. Emeran in Würzburg. 1781–1790 Professor für Dogmatik an der Universität Ingolstadt. Danach Aufenthalt in verschiedenen Benediktinerklöstern; nach: Hans Schlemmer, Professbuch der Benediktinerabtei St. Emeran unter Fürstabt Frobenius Forster, www.heimatforschung-regensburg.de (August 2016).

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Gegen Stattlers wolffianische Theologie setzte die historisch-enzyklopädische Fraktion 1774 und 1777 ihren Lehrplan in Ingolstadt durch – wohl auch aufgrund des Drucks der Münchner Akademie der Wissenschaften.10 Der Richtungsstreit der katholischen Fakultät in Ingolstadt war damit keineswegs beendet. Zunächst behauptete sich Stattler mit seiner systematischen Methode erneut; der zweite Dogmatiker, der historisch-enzyklopädische Benediktiner Scholliner, resignierte und der noch nicht dreißigjährige Sailer bekam 1780 die erledigte Professur. Zugleich wurde er zum Dr. theol promoviert. Sailer war als Stattler-Schüler kein historisch-kritischer Enzyklopädiker, aber er war auch kein strikter Wolffianer, sondern er versuchte, seinen Katholizismus mit der Philosophie Kants zu verbinden, sofern diese mit seinem Katholizismus konvenierte.11 Und das bedeutete, dass wesentliche Gedanken Kants – vorweg die Idee der Transzendentalphilosophie und der ethischen Autonomie nicht übernommen werden konnten. Deshalb entsprachen Sailers philosophische und theologische Lehren trotz seines Interesses an Kant weitgehend der Kant-kritischen Partei. Er hielt es mit Johann Capar Lavater, Matthias Claudius, Johann Friedrich Kleuker und Friedrich Heinrich Jacobi.

3. Aufgeklärte Frömmigkeit?

3.1 Sailers Vollständiges Lese- und Betbuch (1783) Als der Jesuitenfonds, aus dem die ehemals jesuitischen Professoren bezahlt worden waren, 1781 aufgelöst wurde, mussten Sailer und Stattler die Universität verlassen.12Sailer stand weitgehend mittellos da. Er zog nach Augsburg, wo er 1784 als Seelsorger und Schriftsteller arbeitete. Noch 1781 war seine Theorie des weisen Spotts in München erschienen, eine zugleich empfindsam-meditative und vernünftige Erbauungsschrift, die die Trinitätstheologie verteidigt. Sie wurde schon 1782 in Augsburg neu aufgelegt.13 Mit dieser Schrift begann Sailers Karriere als Erbauungsschriftsteller. Sein erster großer Erfolg war ein Vollständiges Lese- und Betbuch zum Gebrauche der Katholiken in zwei Bänden, das er zunächst im EiGraßl, Aufbruch (wie Anm. 5), 30–38 beschreibt die Gegnerschaft der bayrischen Akademie gegen die Jesuiten ausführlich. 11 Vgl. Margit Wasmaier-Sailer, Das Verhältnis von Moral und Religion bei Johann Michael Sailer und Immanuel Kant, Regensburg 2018. 12 Stattler bekam zunächst eine Pfarre in der Oberpfalz und ging bald nach München, wo er seinen Anti-Kant schrieb und 1797 starb; vgl. Benedikt Stattler, Anti-Kant, 2 Bde., München 1788. 13 Theorie des weisen Spottes. Neujahrsgeschenk eines Ungenannten an alle Spötter und Spötterinnen über Dreyeinigkeit, [München 1781], Augsburg 21782; Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 19. 10

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genverlag veröffentlichte.14 Es machte Sailer auch bei den fromm-empfindsamen Protestanten bekannt und beliebt: Lavater und Jung-Stilling lobten es, mit der Gräfin Eleonore Auguste von Stolberg-Wernigerode entwickelte sich ein Briefwechsel.15 1785 erschien ein Auszug aus dem großen Werk, Vollständiges Gebetbuch für katholische Christen, das in zahllosen Auflagen bis weit ins 19. Jahrhundert neu gedruckt wurde.16 Das Lese- und Betbuch wurde denn auch zum Anlass der Polemik, die Friedrich Nicolai in seinen Reisen durch Deutschland und die Schweiz mit Sailer begann und auf die Sailer 1787 ausführlich reagierte: Das einzige Märchen seiner Art. … Gegen eine sonderbare Anklage des Herrn Fr. Nicolai.17 Der Streit mit Nicolai machte Sailer im katholischen und protestantischen Deutschland berühmt. Das Vollständige Lese- und Betbuch ist eine Zusammenstellung von theologischen Lehrstücken, von Gebeten und von geistlichen Dichtungen, die teils von Sailer selbst, teils aus der christlichen Literatur stammen. Von den sieben Abschnitten ist der erste Abschnitt der interessanteste. Er „enthält das Allgemeine, das Wichtigste, aus dem der Saft in alle Gebete und Betrachtungen abgeleitet wird“, also die Haupttopoi der Christlichkeit, wie sie Sailer verstand. Er ist so ökumenisch gefasst, dass er auch für protestantische Christen akzeptabel war. Dieser Abschnitt ist wohl der Grund, weshalb Friedrich Nicolai, der Sailers ökumenische Interessen gründlich missverstand, indem er sie als katholische Proselytenmacherei deutete, zu seinen polemischen Ausführungen in den Reisen durch Deutschland veranlasste.18 Sailer beginnt das Vollständige Lese- und Betbuch mit einem „Unterricht vom Gebet“, das er definiert als „Gespräch des Herzens mit dem besten Vater im Himmel“ (17). Der offenbarte Glaube ist nach Sailer „eine herrliche Gabe Gottes, eine würdige Übung des Menschen, und unser Glück auf Erden“ (22). Die BetrachtunVollständiges Lese- und Betbuch zum Gebrauche der Katholiken, 2 Bde., München, Ingolstadt 1783; Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 23. Sailer hat später über die Entstehung des Lese- und Betbuchs berichtet, der bayrische Kurfürst Karl Theodor habe 1780 verfügt, dass alle alten Gebetbücher vor einem neuen Druck der theologischen Fakultät in Ingolstadt vorgelegt werden müssten. Er, Sailer, sei als jüngster Professor mit der Zensur dieser Bücher beauftragt worden. Da er die vorgelegten Gebetbücher nicht habe goutieren können, habe sein Freund Winkelhofer ihn überredet, ein besseres Gebetbuch zu verfassen. Er habe sich in einer eigenen Schrift gerechtfertigt: „Über Zweck, Einrichtung und Gebrauch eines vollständigen Lese- und Betbuchs, das bereits unter der Presse ist“ (München, Ingolstadt 1783). 15 Schwaiger, Sailer (wie Anm. 1), 31. 16 Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 25. 17 Das einzige Märchen seiner Art: eine Denkschrift an Freunde der Wahrheit für das Jahr 1786. Gegen eine sonderbare Anklage des Herrn Fried. Nicolai. Von J. M. Sailer, München 1787. Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 40. 18 Ausgerechnet dieser Abschnitt fehlt in der Bearbeitung des kleinen Vollständigen Gebetbuchs für katholische Christen. 14

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gen über die Hoffnung betonen, „Wo Hoffnung ist, da ist Freude“ (42), weil Gott die Liebe ist und die Hoffnung auf die ewige Seligkeit in uns grundgelegt hat. Die „Liebe gegen Gott“ (52) führt zu Seligkeit, Freude und Seelenstärke. Die „Gute Meynung“ enthält ein optimistisches Gebet, dass Gott meine Seligkeit will und ich diese Seligkeit „ganz gewiß“ (60) erlangen werde, wenn ich mein Tun nach dem Beispiel Jesu Christi richte. Die Anbetung erfreut sich an der Anerkennung der göttlichen Güte und seiner eminenten Prädikate. Diese Akzeptanz der göttlichen Größe führt zu Demut: „Ich habe von ihm empfangen, was ich Gutes habe“ (74). Im Abschnitt über das Gebet des Herrn werden die einzelnen Vaterunser-Bitten erbaulich ausgelegt. Die Psalmen, die als christliche Gebete verstanden werden, preisen die göttlichen Prädikate: Allmacht, Königtum, Allwissenheit, Liebe zu uns, und kulminieren mit dem 136. Psalm: Danket dem Herrn, denn er ist gut. Von besonderer Bedeutung ist Sailers Darstellung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Hier wird die kanonische Formel: „abgestiegen zu der Hölle“ so erläutert: Christus sei zur Hölle hinabgestiegen, „um den Kindern Gottes, die schon im Herrn entschlafen, und seiner sehnsuchtsvoll warteten, Trost und Heil zu bringen. Du zeigtest die Wahrheit als Ueberwinder des Todes und des Satans. Du offenbartest Dich als Erlöser aller Sterblichen“. Bemerkenswerterweise findet sich hier von den Streitpunkten über den Status der ungetauft verstorbenen Kinder, der alttestamentlichen Propheten und Väter, auch von der Lehre „extra ecclesiam nulla salus“ keine Spur. Die Formel: „Ich glaube an die eine, heilige, katholische Kirche“ taucht auf als „eine heilige, allgemeine Kirche“. „Diese heilige Kirche ist auch eine allgemeine Kirche, ausgebreitet in alle Welt. Jesus Christus wollte, daß seine Kirche eine allgemeine Kirche sein sollte, und sein Wille gieng in Erfüllung“ (182). Das ist eine weitgehende Angleichung der katholischen Kirchenauffassung an die protestantische, sei sie lutherisch, sei sie calvinistisch. Die folgenden Abschnitte orientieren sich nicht an der Lehre, sondern an der frommen Praxis: Sie enthalten Tages-, Wochen- und Monatsgebete. Dazu gehören Morgenandacht, Abendandacht, die „einzig wahre Weise, der Hlg. Messe beizuwohnen“, die Tischgebete und das tägliche Gebet bei der Arbeit, ein Unterricht, wie man den Sonntag heiligen soll, eine Einführung in das Hochamt – hier wird der Messtext in Deutsch abgedruckt (243–263) –, Ermahnungen, der Predigt aufmerksam zuzuhören, die Psalmen der Vesper sowie eine Abendandacht. Die Monatsgebete sind der geistlichen Rechenschaft gewidmet: Betrachtungen über die eigene religiöse Situation und den Entschluss zum geistlichen Leben. Hier finden sich auch die Gebete zur Erstkommunion sowie für die monatlichen Beicht- und Kommuniontage. Eine eigene Gruppe bilden die Gebete nach der Verschiedenheit der Stände, zu besonderen Anlässen, zu Krankheit und Tod. Bemerkenswert sind die Gebete für den schwer arbeitenden Landmann, der Sailer besonders am Herzen liegt, für Weisheitssuchende aller Stände und um Toleranz für Andersgläubige: Gott hat

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alle Menschen erschaffen, wir müssen „unser Herz und unsern Mund sorgfältig bewahren, daß wir keine Andersgläubigen richten oder gar verdammen“ (474). Der zweite Teil von Sailers Lese- und Betbuch umfasst das „Festtägliche“. Hier geht es vor allem um die Gebete zu den Festtagen des Kirchenjahrs (57–380). Advent, Weihnachten, Neujahr, Dreikönige, Aschermittwoch, ausführlich die Karwoche – Christi „Leidens-und Kreuzweg“ (152–227), Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Dreifaltigkeitssonntag, Fronleichnam. Das Fronleichnamsfest bietet den Anlass zu dogmatischer Belehrung darüber (337), was „die katholische Kirche von den heiligen Altarssakramenten glaubt, und zu glauben vorhält“. In der Messe verwandle die Konsekration, die der Priester vollzieht, Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi. Dieses sei Erneuerung, Fortsetzung und Anwendung des Opfers Jesu Christi am Kreuz zur Erlösung der Menschheit. Jesus Christus bleibe bis zum Verzehr in den Gestalten von Brot und Wein zugegen. „Das Sakrament des Altars darf also aufbewahrt, zur Anbetung ausgesetzt, in Bittgängen herum und zu Kranken getragen werden.“ Zu den Festen des Kirchenjahres gehören die Heiligenfeste. Sailer kürzt in seinem Lese- und Betbuch die Liste der Heiligen auf biblisch belegte Zeugen und Zeitgenossen Jesu sowie auf die jeweiligen Diözesanheiligen. Er stellt eine Belehrung „Von der wahren und falschen Andacht zu den Heiligen“ (382–390) voran und weist vor allen bei den marianischen Festen19 schon im Titel darauf hin, dass an allen Festtagen allein Jesus Christus gefeiert werde. Der letzte Abschnitt ist noch einmal besonders bemerkenswert: Er umfasst Psalmen und Gebete aus dem Alten Testament. Man kann dieses Stück auch als Annäherung an die zwinglianisch-calvinistisch reformierte Frömmigkeit lesen, die das Alte Testament stärker in ihre Theologie einbezogen hat.

Zum Vergleich 1. Die Hauspostille von Goffin8 Um die Besonderheit von Sailers Betbuch zu verstehen, muss man es mit den gängigen Gebetbüchen vergleichen, die 1780 benutzt wurden. Besonders verbreitete Gebetbücher waren die Hauspostille von Leonard Goffin8,20 die 1690 zuerst geZ. B. Dritter Abschnitt (381–460): „Jesus Christus, oder die Festtage Mariae, der Mutter Jesu, zur Ehre Jesu Christi“. 20 Zuerst erschienen in Mainz 1690 (kein Exemplar überliefert). Die kirchliche Druckerlaubnis stammt von 1687. Schon 1710 sechster Druck in Köln. Nach 1746 wurde die Handpostille umgearbeitet und dem neuen Missale Romanum angepasst. Benutztes Exemplar: Christkatholisches neu eingerichtetes, verbessertes, nach dem römischen Meßbuche berichtigtes, und merklich vermehrtes Unterrichtungsbuch oder kurze Auslegung aller Sonn- und Festtäglichen Episteln und Evangelien, sammt daraus gezogenen Glaubens- und Sittenlehren, worinn alles dasjenige erkläret wird, was 19

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druckt und danach bis ins 20. Jahrhundert immer wieder neuaufgelegt wurde sowie die verschiedenen Gebetbücher von Martin von Cochem, von denen der „Große Baumgarten“ das wohl wichtigste war. Goffin8s Sonn- und Feiertagspostille war nach protestantischen Mustern der Hauspostille gearbeitet und wohl die am weitesten verbreitete Sonn- und Feiertagspostille im katholischen deutschsprachigen Bereich. Es umfasst zwei ausführliche Teile; einen Sonntagszyklus über das ganze Jahr sowie einen festtäglichen Teil. Hier werden die beweglichen Kirchenfeste und vor allem die Heiligenfeste ausführlich behandelt.21 Goffin8s Sonn- und Feiertagspostille ist ein vorzügliches Kompendium katholischer Frömmigkeit, am Wortgottesdienst und an der liturgischen Praxis orientiert. Die beiden Bände behandeln die Marien- und die wichtigen Heiligenfeste; es finden sich Lehrstücke über die 7 Sakramente, die Sakramentalien, die Hochfeste und die zentralen Dogmen.

2. Martin von Cochem:22 Der große Baum-Garten Martins von Cochem Großer Baum-Garten23 ist wahrscheinlich das verbreitetste katholische Gebetbuch des Barock. Es wurde zuerst 1687 gedruckt und danach bis einem rechtschaffenen Christen zur Seligkeit zu wissen und zu thun notwendig ist. Nebst einer deutlichen Erklärung der Kirchenceremonien, und beygefügter Leidensgeschichte Jesu, Bd. 1: Sonntäglicher Theil, Bd. 2: Festtäglicher Theil, Augsburg 1784. 21 Marienfeste, die Feste der Apostel und ausgewählter weiterer Heiliger. Maria ist die vornehmste Heilige, und die Heiligenhierarchie hat 12 Stufen: 1. Engel, 2. Patriarchen. 3. Propheten. 4. Apostel. 5. Evangelisten, 6. Märtyrer, 7. Bischöfe und Priester, 8. Mönche und Einsiedler, 9. „Beichtiger oder Bekenner“ (XII), 10. „Jungfrauen, männlichen und weiblichen Geschlechts“ (XII), 11. Witwen 12. Büßer. 22 Nach Karl August Beck, Geschichte des katholischen Kirchenlieds, Köln 1878, 205–210. Martin von Cochem ist der vielleicht wichtigste, mindestens aber der meistgedruckte katholische Erbauungsschriftsteller des Barock. Kapuziner. Einkleidung in Aschaffenburg 1653, 1657 Priesterweihe. 1663 Abschluss des Theologiestudiums im Kapuzinerkloster Aschaffenburg. 1664 Lesemeister der „Weltwissenschaft“, d. h. der nicht-theologischen Fächer im Kapuzinerkonvent Mainz. 1668 in Bensheim. 1670 im Wallfahrtskloster Nothgottes bei Rüdesheim. 1675–1680 im Konvent in Königstein im Taunus, wo er die Soldaten der kurmainzischen Festung betreut. Dort verfasst er das Leben Christi. 1682 Visitator des Aschaffenburger Kommissariats – eines Verwaltungsbezirks des Bistums Mainz. 1687/88 lebt er im Kapuzinerkonvent in Koblenz. Dort verfasst er das Erste und das Andere Historienbuch (1687/88 und 1690). Während der Pfälzer Kriege Ludwigs XIV. geht er auf Geheiß seines Oberen nach Österreich, 1689 Kloster Günzburg in Tirol, 1693 im Loretokloster in Prag. Ab 1696/97 Rückkehr ins Rheinland. Er betreut in Walldürn die HeiligBlut-Wallfahrt. Danach Bevollmächtigter und Visitator des Bistums Trier; ab 1700 im Kloster Waghäusel bei Speyer. Dort stirbt er 1712 infolge eines Sturzes auf der Treppe zur Bibliothek. Werke (in Auswahl): Katechismus für Kinder, Köln 1666; Das Große Leben Christi oder Ausführliche, andächtige und bewegliche, ganz Vollkommene Beschreibung Des allerheiligsten Lebens und bit-

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ins 19. Jahrhundert immer wieder neu aufgelegt. Es ist ein Gebetbuch für alle Tage, beginnt mit einem Mutter-Gottes-Officium und Tagzeitgebeten. Es folgen Gebete zum sonn- und festtäglichen Gottesdienst. Eine Übersetzung der unveränderlichen Messtexte fehlt. Von den Sakramenten sind vor allem die Beichte und die Eucharistie behandelt; hier finden sich auch Gebete um Ablass und zum „hochwürdigen Sakrament, sonderlich wanns ausgesetzt ist“. Nach Gebeten zur Heiligen Dreifaltigkeit wird das Leiden Jesu als Opfer für die Christgläubigen in 14 Kreuzwegstationen vergegenwärtigt. Vor allem enthält es Gebete zu den Heiligen: Vielfältige Mariengebete: ein „Sternen-Krönlein“, das aus drei Vaterunsern und zwölf Ave Marias besteht, ein Gebet über die sieben Freuden Marias, ein Pestgebet, ein Gebet um ein seliges Ende, die Lauretanische Litanei sowie Betrachtungen zu den „sieben Herzstich Mariae“, ein achttägiges Gebet und eine „Litaney zu der schmerzhafften Mutter GOttes“ (349–359). Der Teil, der den Heiligen gewidmet ist, enthält eine Litanei zu den heiligen Engeln, eine neuntägige Andacht sowie eine Litanei zum Heiligen Josef, Gebete zu den 14 Nothelfern, einen langen Abschnitt mit Bitten und einer Litanei zum Heiligen Antonius, der für Verlust oder Diebstahl zuständig ist, Gebete zur heiligen Anna samt einer Litanei, außerdem zu Magdalena, Barbara (mit Litanei), Apollonia (wider das Zahnweh), Katharina, Margareta, Gertrud (mit Litanei), Mechthild. Der 10. Teil enthält die „Gebether auf die vornehmsten Feste des Jahres“ und Wallfahrtsgebete. Martins Großer Baum-Garten schließt mit Gebeten in allgemeinen Anliegen sowie Kranken- und Sterbegebeten.

tern Leidens Unseres Herrn Jesu Christi Und seiner glorwürdigsten Lieben Mutter Mariae, Frankfurt am Main 1677 (40 Auflagen zu Lebzeiten); Der große Baum-Garten, Frankurt am Main 1687; Außerlesenes gar anmuthiges, und sehr nutzliches History-Buch, Dillingen 1688; Anderes HistoryBuch, Dillingen 1690; Meeßerklärung über Höhnig süß. Köln 1700; Der wohlriechende Myrrhengarten, Köln 1701; Legenden der Heiligen, Augsburg 1705. 23 Zitierte Ausgabe: Der verbesserte große Baum-Garten im großen Druck: Darin überauß kräfftund anmüthige Morgens- und abends-Meß-und Vesper- Beicht- und Communion Gebetter: wie auch zu dem Hochwürdigsten Sacrament deß Altars/ Und der Allerheiligsten Dreyfaltigkeit Zu der Mutter Gottes und den Heiligen/ Zu dem H. Joseph/ der H. Anna/ und H. Antonio von Padua in den NeunDienstägen zu sprechen: Zu allen Groß-Festen und Wallfahrten/ Bey dem Miserere in den Fasten/ und Rorate-Meß in dem Advent/ und andern sonderlichen Fest-Tägen in großen und schweren Ungewittern/ wie auch in allgemeinen und besonderen Nöthen und Anliegen: Für schwangere Weiber, für Lebendige, Krancke Sterbende/ und abgestorbenen Seelen in dem Fegfeuer/ mit den sieben Buß-Psalmen, zwanzig Litaneyen und andern nothwendigen Gebettern/ auch mit neuen Kupferstichen gezieret/ samt einem trostreichen Krancken-Buch begriffen seynd. Mit Hülf der Gnad GOttes also gesetzt/ daß sie hoffentlich manches Hertz zur Andacht bewegen werden; Zu sonderlichem Dienst deß andächtigen Weiblichen Geschlechts, Mercklich verbessert und verfertiget durch P. Martin von Cochem Capuc. Ordens, Mainz, Frankfurt am Main 1730. Das Ordens-Imprimatur stammt von 1709, die kaiserlichen Privilegien von 1721 und 1730, das Mainzer kurfürstliche Privilegium von 1719.

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Vergleicht man Sailers ausführliches Lese- und Betbuch mit den Schriften Goffin8s und Martins von Cochem, so fällt zunächst auf, dass die Grundstruktur identisch geblieben ist: Es gibt auch bei Sailer einen Tages-, Sonn- und Feiertagszyklus nach der Vorgabe des Kirchenjahres, Gebete zur Messe, eine Einführung in die Sakramente, Gebete zu Heiligen, zu besonderen Anlässen sowie Kranken- und Sterbegebete. Allerdings hat Sailer die barocke Frömmigkeitsfülle sehr reduziert. Die Marienfrömmigkeit hat allen barocken Überschwang verloren; von den Heiligen bleiben nur neutestamentliche Personen übrig. Die zentralen unveränderlichen Messgebete sind übersetzt und abgedruckt, so dass die Beter dem liturgischen Geschehen genauer folgen können. Vor allem aber hat Sailer vorweg eine Einführung in die Religion und ihre Liturgie gesetzt, die das Gebetbuch als aufgeklärt und fromm allen Konfessionen gleichermaßen empfiehlt.

3.2 Der Streit zwischen Nicolai und Sailer um das Vollständige Lese- und Betbuch Genau diese Ausrichtung des Lese- und Betbuchs hat bei dem Berliner Aufklärer und Verleger Friedrich Nicolai Verdacht erregt. Er war ohnehin ein besessener Gegner des Katholizismus insgesamt und der Jesuiten insbesondere. Im Bd. 7 seiner famosen Reisen durch Deutschland und die Schweiz24 unterstellte er, es handle sich bei Sailers Lese- und Betbuch um hinterlistige Proselytenmacherei, mit der der Exjesuit, wie die Jesuiten schon immer, den Protestantismus unterwandern wolle; prominente Opfer seien die Schweizer reformierten Theologen Pfenninger und Lavater. Pfenninger, berichtet Nicolai, habe Zirkelbriefe verfasst, in denen Sailers Betbuch empfohlen worden sei. Er, Nicolai, habe seinen Augen nicht getraut, als er diese Empfehlung gelesen habe. Nicolai kann diesen Sachverhalt nur als geheimen Plan kryptojesuitischer Proselytenmacherei verstehen: „Man siehet sehr wohl“, schreibt er, wie gut P. Sailer, und er nur allein, ein Lese- und Gebetbuch, dem Titel nach für Katholiken, drucken läßt, welches ein so ganz unkatholisches äußerliches Ansehen hat, worin die katholischen Dogmen zwar sämtlich vorhanden, aber doch unter ganz andern Worten maskiert sind. P. Sailer hat dieses von allen andern katholischen Büchern so Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im Jahre 1781, 12 Bde., Berlin, Stettin 1783–1796, Bd. 7, 1786, 124; Schiel, Sailer (wie Anm. 1), I, Nr. 120; Anhang zum 7. Band: Wider die Beschuldigungen, die Herr Prof. Garve wider diese Reisebeschreibung vorgebracht hat, 89–96, Schiel, Sailer (wie Anm. 1), I, Nr. 122; Bd. 8, 1787, IIIff., Schiel, Sailer (wie Anm. 1), I, Nr. 152. Zu den Reisen vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann, Vom Altern der Wahrheit. Friedrich Nicolai und das Ende der deutschen Popularphilosophie, in: ders., Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deutschen Aufklärung, Frankfurt am Main 1988, 223–288. 24

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verschiedene Buch nicht so sehr für Katholiken, sondern für Protestanten geschrieben, die dem Katholizismus sollen geneigt gemacht werden. Dies ist der große Plan der Obern des P. Sailers.25

Sailer nahm den Ball auf und wehrte sich mit einer Streitschrift Das einzige Märchen in seiner Art: Eine Denkschrift an die Freunde der Wahrheit für das Jahr 1786. Gegen eine sonderbare Anklage des Herrn Fried. Nicolai (München 1787). Hier druckte er die Vorwürfe Nicolais ab und stellte im Einzelnen dar, dass Nicolai weder das Zustandekommen des Betbuchs noch seine Distribution recherchiert habe, sondern lediglich seine antijesuitischen Vorurteile bestätigt sehen wollte. Im zweiten Teil ist er grundsätzlicher: Er beschreibt zunächst die Entstehung von Lügenmärchen – sozusagen Fake News –, die man aus Neid, Vorurteil und Renommiersucht „Ansehen machen“ sowie aus mangelnder Sachkenntnis in die Welt setzt. Die dahinterliegende „falsche Philosophie“ vertrete ein literarisches Faustrecht, bediene sich in „aufgelauerter Bemerkungen“ und parteiischer Anekdoten. Nicolai und seine protestantischen Parteigänger säten den Geist des Misstrauens, der den Katholiken Schurkerei (175), philosophische Barbarei, Abneigung gegen Wissenschaft und Menschwürde unterstelle (181). Dieser Charakteristik Nicolais setzt er seine „ächte Philosophie“ entgegen: sie verbinde gesunden Menschenverstand mit Weisheitsliebe, Wahrhaftigkeit, Erfahrung, Spekulation und Metaphysik, habe ein offenes Ohr für die Stimme des Herzens, lerne aus Erfahrung, liebe das Selbstdenken, maßvolle Subtilität, prüfe die Gesetze durch Handeln eher als durch Räsonieren, warne vor Vorurteil, verbinde Menschenliebe und Moral, lebe beispielhaft, fürchte Gott, ehre den König – und am Ende ist der christliche Philosoph der, der das Paulinische Hohe Lied der Liebe (1 Kor 13,1–3) verwirklicht. Diese Charakteristik des christlichen Philosophen lässt er sich durch einen Brief Lavaters bestätigen, den er mitabdruckt. Der Streit war damit nicht zu Ende. Nicolai replizierte im 8. Band seiner Reisen und wiederholte seine Verdächtigungen. „Der Exjesuit P. Sailer in Dillingen“ habe „dasjenige was nur allzu wahr ist, für ein Märchen“ ausgegeben. Geschrieben sei es in dem „süßlichen Tone, welcher den Jesuiten so eigen ist.“ Dabei handle es sich in Wirklichkeit um „die hämischsten Insinuationen“.26 Sailer hat darauf nicht mehr reagiert.

Schiel, Sailer (wie Anm. 1), I, 135. Er habe deshalb dem Band 8 der Reisebeschreibung eine „Anmerkung über Lavaters Rechenschaft und über P. Sailers ,MärchenR als einen Anhang beigegeben“ (Nicolai, Reise [wie Anm. 24], Bd. 8, III; Schiel, Sailer [wie Anm. 1], I, Nr. 152). 25 26

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4. Sailer als Aufklärer: Dillingen 1784–1794

4.1 Sailers Karriere und Absturz Als der Streit um das Lese- und Betbuch tobte, war Sailer schon seit drei Jahren Professor an der Universität Dillingen. Der Augsburger Bischof Clemens Wenzeslaus (von Sachsen), der zugleich Erzbischof und Kurfürst von Trier war, musste nach der Auflösung des Jesuitenordens seine Universität Dillingen, die ganz von der Gesellschaft Jesu geprägt gewesen war, neu strukturieren. Die Kirchenverwaltung in Augsburg war wohl durch den Erfolg des Lese- und Betbuchs auf Sailer aufmerksam geworden und beauftragte ihn im Herbst 1783, dem Kurfürsten und Bischof einen Hirtenbrief zu konzipieren.27 Möglicherweise war dieser Hirtenbrief der Anlass, Sailer 1784 als Professor für Ethik und Moraltheologie an die augsburgische Universität Dillingen zu berufen.28 In den folgenden zehn Jahren lehrte er mit großem Erfolg an dieser Hochschule. Seine Schüler erhielten bedeutende Kirchenämter – der bekannteste war der spätere Konstanzer Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg.29 Sailer war gleichzeitig Erbauungsschriftsteller und Philosoph. Seine Betrachtungen über das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesu Christi, zur Erbauung für nachdenkende Christen erschienen zuerst 1787, wurden bis 1843 vielfach neugedruckt, bearbeitet und übersetzt.30 Gleichermaßen erfolgreich war das Büchlein Das Gebet unseres Herrn für Kinder, in ihrer Sprache und aus ihren Begriffen, das ebenfalls zuerst 1787 erschien. Ein Jahr später, 1788, wurden seine Vorlesungen aus der Pastoraltheologie31 gedruckt, auf deren Veröffentlichung der Kurfürst Clemens Wenzeslaus besonderen Wert gelegt hatte. Auch diese Vorlesungen wurden ein großer Publikumserfolg und ins Französische, Polnische und Italienische übersetzt. In der Dillinger Zeit verfasste Sailer seine wichtigsten philosophischen Werke: 1785 die Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind – seine Auseinandersetzung mit

Schwaiger, Sailer (wie Anm. 1), 32. Schiel, Sailer (wie Anm. 1), I, Nr. 76, wahrscheinlich hatte der stellvertretende Generalvikar in Augsburg, Provikar Josef Thomas de Haiden, Sailer dem Kurfürsten empfohlen. 29 Geboren 1774 in Dresden. Von Fürstbischof Carl Theodor von Dalberg 1802 zum Generalvikar des Bistums Konstanz erhoben, Priesterweihe erst 1812. Auf dem Wiener Kongress bemühte er sich im Auftrag Dalbergs um die Herstellung einer deutsch-katholischen Nationalkirche mit einem deutschen Primas – und das brachte ihn um allen Kredit in Rom. Die römische Kurie akzeptierte seine Wahl zum Bischof von Freiburg im Jahre 1822 nicht; 1837 wurde er Ehrenbürger von Konstanz. Gestorben 1860 in Konstanz. Vgl. Die deutsche Kirche. Ein Vorschlag zu ihrer neuen Begründung und Errichtung, s.l. 1815. 30 Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 35. 31 Ebd., II, Nr. 52. 27

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Kants theoretischer Philosophie32 – und 1787/91 die Glückseligkeitslehre aus Vernunftgründen, mit Rücksicht auf das Christenthum, seine praktische Philosophie.33 An der Universität und auf dem Lande stand die Pastoraltheologie unter politischem Druck. Die Obrigkeit beauftragte die Professoren und Pastoren damit, ökonomisch-pragmatisch, eben volksaufklärend zu wirken: Obstbaumschnitt, Stallfütterung, Impfen. Volksfrömmigkeit – Wallfahrten, Heiligenfeiertage – sollten drastisch reduziert werden. Diese sanfte fürstliche Aufklärung von oben war mit der Französischen Revolution, die 1794 ihre terreur-Phase erreichte, vorbei. Der Trierer Kurfürst und Fürstbischof von Augsburg Clemens Wenzeslaus von Sachsen,34 hatte 1792 sein Kurfürstentum an die Französische Republik verloren und musste sich nach Augsburg zurückziehen. Jetzt wandte er sich von seinen aufgeklärten Ideen ab und entließ seinen aufgeklärten Provikar De Haiden, Sailers Hauptstütze im Ordinariat.35 Sailer selbst hatte vor allem durch seine Vorlesungen zur Pastoraltheologie, deren Veröffentlichung der Fürstbischof im Jahr 1787 ausdrücklich gefordert und gefördert hatte, die konservativen Kollegen der theologischen Fakultät gegen sich aufgebracht.36 In der Tat hatte er mit seiner Pastoraltheologie den gesamten Nach ebd., II, Nr. 30 zuerst in zwei Bänden München 1785, 2., neubearbeitete Auflage in drei Bänden München 1795. 33 Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 37. 34 Clemens Wenzeslaus von Sachsen, * 1739 Schloss Hubertusburg (Sachsen), † 1812 Marktoberndorf im Allgäu, albertinischer Wettiner, letzter Kurfürst von Trier. Zuerst war er im österreichischen Kriegsdienst (1760 Feldmarschall-Lieutenant), aber weil er kränklich war und unter Gicht litt, schwenkte er zum geistlichen Amt um. 1763 wurde er Bischof von Freising und Regensburg, empfing 1764 die Priesterweihe, 1766 die Bischofsweihe, 1768 verzichtet er auf diese Bistümer zugunsten des Kurfürstentums und Erzbistums Trier. Aber er war anschließend auch Fürstbischof von Augsburg und Fürstprobst von Ellwangen. Er residierte in Koblenz, wo er das neue Schloss baute. In seiner Amtszeit hielt er sich nur dreimal in Trier auf. Er war ein aufgeklärter Fürst, kritisierte zwar die josephinsichen Reformen, stützte aber Hontheim (Febronius), den Verfasser der Streitschrift De statu ecclesiae et legitima potestate Romani Pontificis (1763–1773). Er unterzeichnete 1786 die ,Emser PunktationR mit, die eine größere Unabhängigkeit der kath. Kirche im Reich von Rom anstrebte und die römische Jurisdiktion zugunsten der bischöflichen beschneiden wollte. 1784 befahl er Einschränkung des Wallfahrtswesens – nur Prozessionen von einer Stunde Länge waren erlaubt –, und er reduzierte die Zahl der Heiligenfeste.1786 führte er die Schulpflicht im Bistum Augsburg ein. Er verordnete den Riesling als bevorzugte Rebe an Rhein und Mosel und verbot die sauren alten Trauben. Die Französische Revolution veranlasste ihn zur Rücknahme ,fortschrittlicherR Reformen. Koblenz wurde zum Hauptfluchtort der französischen royalistischen Flüchtlinge. Im Frieden von Lun8ville verlor er 1801 seinen linksrheinischen Kurstaat und 1803 mit dem Reichdeputationshauptschluss auch sein Fürstbistum Augsburg. Er zog sich nach Marktoberndorf zurück, wo er 1812 auf seinem Schloss starb (Wikipedia 14. 06. 2021). 35 Schiel, Sailer (wie Anm. 1), I, 187. 36 Ebd., I, 185. Es handelte sich um die Professoren Josef X. Hosemann, der durch die Studienreform 1786/87 von der Dogmatik auf die Kirchengeschichte beschränkt worden war, den Moral32

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überkommenen theologischen Kursus neu gefasst und die überkommenen theologischen Lehrinhalte umjustiert. Damit hatte er die theologische Fakultät gespalten, mindestens die Hälfte der Kollegen waren gegen ihn. Dagegen unterstützten ihn die Studenten, um die er sich ausführlich, gerade auch in Abendseminaren und in persönlichen Gesprächen sehr gekümmert hatte. In dieser Situation versuchten Sailers Gegner, ihn loszuwerden. Ludwig Roeßle, Regens des Priesterseminars in Pfaffenhausen und Stimmführer der Kritiker, beklagte Anfang 1793 in einem Brief an den Fürstbischof Klemens Wenzeslaus, dass die Studenten in Dillingen „die Dogmatik schlecht, noch schlechter aber die Moral studieren.“ Dadurch werde „das Beichtgebot vernachlässiget“ – dies sei vielleicht „ein heimmlicher Griff, die Katholiken mit den Protestanten zu vereinigen“. Das Kanonische Recht kennten Sailers Schüler gerade dem Namen nach. Alle Lehrstoffe würden Sailers Pastoraltheologie zugeordnet, die doch keineswegs unumstritten sei. Außerdem zitiere Sailer in dieser Schrift zahlreiche Protestanten, unter anderem Lavater. Man vermisse vor allem die Mariengebete in der Kranken- und Sterbendenhilfe, die Taufzeremonien würden so gedeutet, dass sie die protestantische Kritik berücksichtigten. Die Studenten seien „äußerst für protestantische Bücher eingenommen, selbst für ihre Bibelausgaben, die man ihnen anrühmet“. Die Predigtlehre sei gekünstelt. Von den Kirchengebräuchen, die der Prof. Sailer höhnisch genug Handgriffe nennet, zeigen sie eine geringe Achtung, und die meisten sind fast gar nicht mehr dazu zu bringen, daß sie die Rubricas missae et sacramentorum, wie es sein soll, beobachten. Im Beichtstuhle sind sie die allerlockersten Probabilisten, fahren überall durch, eben darum, weil sie die ernsthaften Studien nicht lieben und in der Theologie nicht gegründet sind.37

Die Anti-Sailer-Fraktion erreichte, dass im Sommer 1793 eine Untersuchungskommission eingesetzt wurde, die Sailers Lehre in Dillingen überprüfen sollte. Als Ergebnis erließ der Fürstbischof am 16. September ein neues Studienregulativ, in dem Sailers Lehrtätigkeit beschnitten wurde. Die Pastoraltheologie, vorher als Drei-Jahres-Kurs gehalten, wurde auf ein Jahr gekürzt, die Ethik musste in Latein gelesen werden, die abendlichen Seminare, die Sailer mit großem Erfolg bei seinen Studenten veranstaltet hatte, mussten einzeln schriftlich genehmigt werden.38 professor Joseph Ignaz Lumpert, den Alttestamentler Josef Schneller und den Kanonisten Joseph Wanner. Dazu kamen wichtige Personen aus dem engeren Bereich der Priesterausbildung und Professoren des Gymnasiums. Das war mehr als die Hälfte der Professoren des Dillinger theologischen Studiums. Stimmführer gegen Sailer war der Geistliche Rat Ludwig Roeßle, Regens des Priesterseminars in Pfaffenhausen. Zur Rolle der Pastoraltheologie siehe den Brief von Ludwig Roeßle an Klemens Wenzeslaus vom März 1793. Vgl. ebd., I, 192 f. 37 Brief von Ludwig Roeßle an Klemens Wenzeslaus vom März 1793, ebd., I, 192 f. 38 Ebd., I, 187.

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Sailers Gegner hatten wohl gehofft, Sailer werde aufgrund dieser Restriktionen sein Professorenamt niederlegen. Aber er lehrte weiter. Dann wurde Sailer 1794 doch als Professor in Dillingen entlassen. Die Entlassung ist ein Paradestück höfischer Intrigen: Einer der Gegner Sailers war der Ex-Jesuit Michael Alois von Oberwexer (1746–1824), ein Angehöriger der Augsburger Bankiersfamilie Oberwexer. Als der fürstbischöfliche Hof in einer aktuellen finanziellen Klemme war, wurde die Kreditvergabe an den Fürstbischof von der Entlassung Sailers und seiner reformistischen Mitstreiter in Dillingen abhängig gemacht.39 Die kirchenoffiziellen Vorwürfe gegen Sailer waren teils absurd, teils fadenscheinig, führten aber dazu, dass Sailer fortan als Aufklärer galt – dass er Mitglied des Geheimbundes der Illuminaten sei, entbehrte jeden Belegs.40 Dass er mit der Pastoraltheologie eine grundlegende Reform des Theologiestudiums erstrebt habe, ist sicher richtig; dass er das Lesen verbotener Bücher empfohlen habe, stimmt insofern, als er durchaus kantianische Gedanken vertrat – und Kantlektüre war verboten.41 Allerdings hat sich Sailer vor der Untersuchungskommission am 30. April 1793 ausführlich zu seinen Leseempfehlungen geäußert und dabei betont, dass sich diese im Rahmen des kirchlich Erlaubten bewegten.42 Außerdem wurden die väterlich-freundschaftlichen Beziehungen zu seinen Studenten und sein Einfluss bei Stellenbesetzungen kritisiert; Sailers Studenten hatten gerade seine guten geistlichen Beziehungen zu ihnen lobend herausgestellt. Wie immer es um die Orthodoxie von Sailers Lehrinhalten stand, sie galten für aufgeklärt und waren für die Vertreter einer konservativen Theologenausbildung inakzeptabel. Er verlor deshalb 1794 sein Amt als Professor für Ethik uns Moraltheologie an der augsburgischen Universität Dillingen.

4.2 Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind43 In seiner Dillinger Zeit hat Sailer die Werke geschrieben, die ihm das Etikett Aufklärer verschafft haben. Wenn dieses Etikett stimmt, dann handelt es sich um fromme, eben katholische Aufklärung. Ebd., I, 230–235. Mit Sailer wurden die Professoren Zimmer und Weber, Hörmann, Feneberg und Keller entlassen. 40 Ebd., I, 247. 41 Ebd., I, 248. 42 Ebd., I, 209. 43 Vernunftlehre für Menschen, wie sie sind. Nach den Bedürfnissen unserer Zeit. Von J. M. Sailer, Erster (zweiter) Band, München 1785; Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 30. Zitiert nach Vernunftlehre für Menschen wie sie sind, d. i. Anleitung zur Erkenntniß und Liebe der Wahrheit, Zweyte, neubearbeitete Ausgabe, München 1795. Die Ausgabe ist noch in Dillingen bearbeitet worden; das Imprimatur ist von Jan. 1794 (diese Auflage ist zitiert). Die Vernunftlehre hat 39

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Die Vernunftlehre hat terminologisch eine kantianische Anmutung, aber diesem Kantianismus sind die kritischen Zähne gezogen. Alle transzendentalphilosophisch-idealistischen Implikationen sind vermieden, es handelt sich um einen Kantianismus, der christlich-empirisch interpretiert ist, gewissermaßen um einen aristotelisch-thomistischen Kantianismus. Sailer geht deshalb von dem „undemonstrierbaren Anfangsparadoxon“ aus, dass die Dinge außer uns wahrhaftig sind (19).44 Die Sinneserfahrungen würden sich ihrer selbst im Prozess der Apperzeption bewusst. Diese Erfahrung werde in Begriffe und Worte gefasst (5 f.). Wie dieses geschehe, wie Urteile im Einzelnen gebildet werden und wie das Verhältnis der Urteile zu den Kategorien zu verstehen ist, behandelt Sailer nicht. Er wäre nicht der Pädagoge, der er immer ist, wenn er nicht schon bei der Sinnenerkenntnis „Ratschläge der Erfahrungskunst“ gäbe: „Sieh das, was du mit eigenem Auge sehen kannst: werde das, was du mit deiner Empfindungskraft werden kannst: beobachte das, was du beobachten kannst: brauch das, was du hast: sieh nicht, was andere sind, sondern das, was du seyn kannst: wuchere mit deinem Talente: sey, was du seyn kannst und sollst“ (37). Das heißt: Konzentration auf die Seelenbildung: Spracherwerb und Befolgen der natürlichen Wissbegierde, Assoziation45 und Erinnerung (56), Pflege von Einbildungskraft und Gedächtnis (61), gute Lektüre, begleitet von ruhigem Nachdenken und Heiterkeit der Seele (63). Wichtig ist ihm der Begriff der Apperzeption. Diese wird nicht erkenntnistheoretisch, sondern psychologisch und theologisch als Selbstbeobachtung gedeutet (83). Sie ist immer auch Mittel zur Reinigung des Herzens und zur Erkenntnis der Gottebenbildlichkeit (87). „Es gibt keine Demonstration wider das Selbstgefühl. Jeder redliche Blick in sich hinein ist Frage an ein unbestechliches Tribunal, und jedes Selbstgefühl ist Antwort auf diese Frage“ (88). Es ist eine pietistische Selbstbeobachtung, wie Johann Caspar Lavater sie im Geheimen Tagebuch eines Beobachters seiner selbst46 beschrieben hat, und auch bei Sailer mündet die Selbstbeobachtung im „Gefühl des inneren Friedens“ und gründet einen „lebendigen Glauben an Jesum Christum“ (96). Sailers Kantianismus – wenn es denn einer ist – ist offensichtlich an Friedrich Heinrich Jacobi orientiert, der in seinem Buch über David Hume über den Glauvier Hauptstücke: 1. Von den menschlichen Kräften, die Wahrheit zu erkennen; 2. Hindernisse im Erkennen der Wahrheit; 3.Von der Erkenntnis des Wahren, nach den gegebenen Kräften und Hindernissen; 4. Nähere Winke für die möglich beste Anwendung unserer Erkenntnißkräfte zur wirklichen Erfindung, Prüfung und Mittheilung des Wahren. 44 Dabei bezieht er sich S. 22 auf Friedrich Heinrich Jacobi, David Hume über den Glauben, Breslau 1787. 45 Bei den Gesetzen der Assoziation bezieht er sich S. 67–72 auf Stattlers Psychologie. 46 Johann Caspar Lavater, Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner selbst, 2 Bde., Leipzig 1771–1773.

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ben die Frage nach dem „Glauben“ an die Existenz der Außenwelt mit dem deistischen Glauben an Gott kurzgeschlossen hatte. Das war schon bei Jacobi ein antikantianisches Programm. Sailer verschiebt diese Thematik von der natürlichen zur offenbarten Religion und bemüht sich nun zusätzlich darum, die Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Offenbarung mit juristischen Glaubwürdigkeitskriterien plausibel zu machen.47 Glaube beruhe auf Zeugenschaft und vernünftigem Beifall (112 ff.), und das gilt auch fürs Christentum, das sich aufs Neue Testament stützt. Wenn die Zeugen glaubwürdig und unabhängig voneinander dasselbe sagten, und wenn diese Zeugnisse lange für wahr gehalten worden seien, dann sei es vernünftig, sie für wahr zu halten. Die neutestamentliche Lehre entspreche darüber hinaus den natürlichen Moralvorstellungen und dem „Bedürfnis zu glauben“ (147).48 Sailer situiert die Vernunft zwischen Erfahrung und Glaube. Er bezieht sich auf den gesunden Menschenverstand (169), wohl wissend, dass es sich dabei um einen sehr wandelbaren Maßstab handelt. Deshalb postuliert er Axiome: Die Außenwelt existiert. Die Erfahrungswelt zeichnet sich durch Kontinuität aus. Zeugnisse werden nach dem Wahrheitsgefühl zunächst für wahr gehalten. Es gibt Schönheitssinn und Geschmack. Es existiert ein Entstehungsgrund von allem. Es gibt ein allgemeines Gottesbewusstsein.49 Diese Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes sind ein intellektuelles Volksvermögen: Alles, was alle Menschen zu allen Zeiten nach der Eingebung ihrer Vernunft für wirklich, für wahr, für sittlich gut, für schön gehalten haben, und halten, und halten werden, das ist wirklich, wahr, sittlich gut, und schön.

Sein Beleg sind die Sprichwörter: Unsere deutsche Nation hat einen überaus köstlichen Schatz von Sprüchwörter, der mich, bey fleißigem Nachsuchen und Sammeln, so oft in frohes Erstaunen gesetzt, und mich von der Kraft der gesunden Menschenvernunft auf unmittelbare Weise überzeugt hat. (189)50

„Von den Glaubens-Vermögen“ (107). Sein Gegner ist Reimarus, dessen Religionskritik Lessing 1777 und 1778 gerade veröffentlicht hatte. 48 Er bezieht sich auf Kleuker, der die „Authenticität und Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Schriften“ erwiesen habe (157). Vgl. Johann Friedrich Kleuker, Einige Belehrungen über Toleranz, Vernunft, Offenbarung, Theologie, Wandrung der Israeliten durchs rothe Meer, und Auferstehung Christi von den Todten; veranlaßt durch einige Fragmente in den Lessingschen Beyträgen zur Geschichte und Litteratur, Frankfurt am Main 1773. 49 S. 175 zitiert Sailer Ciceros berühmte Stelle aus den Tusculaneen (I, 13), „quod nulla gens tam fera, nemo omnium tam sit immanis, cujus mentem non imbuerit deorum opinio“. 50 Sailer hat seine Sammlung von Sprichwörtern 1810 veröffentlicht: Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter. Ein Lehrbuch für uns Deutsche, mitunter auch eine 47

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Diese Sprichwörterweisheit sieht er als Resultat einer formalen logischen Urteilsbildung, die sich sprachlich vollzieht: Die Sprache schaffe Bequemlichkeit im Erfahren, im Nachdenken, in der Reflexion. Theoretisches Spekulieren hält Sailer für ein eitles Geschäft; er zitiert hier (wie öfter) Bacons Neues Organon: „Subtilitas naturae subtilitatem sensus et intellectus infinitis partibus superat, ut pulcrae illae meditationes et speculationes humanae, et caussationes (Erklärung der geheimen Ursache) res male sana sint. Bac. Verul. Org. Lib. I. Aph. X“ (237). Die Konsequenz: Metaphysikverzicht zugunsten des gesunden, in loci communes – eben topisch – sich ausdrückenden Menschenverstandes. Das Resultat: Rechte Philosophie ist Erfahrungsphilosophie; das menschliche Räsonnement ist Torheit (319), das gilt a fortiori für die „Systemebauer“ (320). Vernunft und Glaube sind wie die beiden menschlichen Hände, sie ergänzen sich beide. Für den christlichen Kantianer Sailer resultiert seine Vernunftlehre deshalb in einem usus religiosus, der die Philosophie theonom deutet: I. Von gewissen Vorurtheilen, Thorheiten, Lächerlichkeiten, Irrthümern, Unwissenheiten kann uns nur die Demuth befreyen, oder bewahren, von denen auch die kunstreichste Logik nicht befreyen, nicht bewahren kann. (348) II. Logik kanns im Erforschen des Wahren ohne Gebet, das heißt, ohne vertrauten Umgang mit der Quelle alles Guten, Edlen, Schönen, Wahren – nicht viel weiter bringen, als es der Vorsatz, rechtschaffen zu handeln, ohne Gebet bringen kann. (ebd.) III. Die Furcht Gottes ist und bleibt Anfang aller Weisheit. (ebd.)

Diese Erkenntnisse werden nun als pädagogische Ziele einer psychologischen Praxis verstanden.51 Es geht darum die „Hindernisse im Erkennen der Wahrheit“ zu identifizieren und zu überwinden. Als engagierter Pastoraltheologe ist Sailer an der geistlichen Seelenhygiene seiner Studenten hochinteressiert. In seiner Grundüberzeugung ist er christlicher Stoiker, es geht ihm mit Cicero52 vor allem um die Selbstbeherrschung des Leibes der Vernunft und des Gemüts. Er kennt die Amplitude zwischen intellektuellen Glaubensproblemen und seelischen Verwerfungen: Zweifelsucht und Pyrrhonismus hätten ihren Ursprung in dem „überspannten Drange gewisser Licht- und Spitzköpfe nach geometrischen Beweisen in allen Fächern des menschlichen Erkennens“ (II, 33 f.). Wenn man erst mit dem Zweifeln anfange, dann zweifele man zunächst an Christus und dem Evangelium, dann an den göttlichen Eigenschaften, und schließlich an der Existenz Gottes selbst: „Abgrund der Abgründe“ (II, 39). Dagegen helfe Gottesfurcht, denn „die Menschennatur ist nicht zum Speculiren ohne Maß und Ziel gemacht“ (II, 41). Wildes SpeRuhebank für Gelehrte, die von ihren Forschungen ausruhen möchten, Augsburg 1810; Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 130. 51 Zweiter Band, zweites Hauptstück: „Hindernisse im Erkennen der Wahrheit“. 52 Tusc. Quaest. L. II ; Vernunftlehre, Bd. 2, 16.

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kulieren führe zu voreiligen Urteilen und „Vernunftschwärmerey“ (II, 70), die casus ficti und facti verwechsele (II, 61). Vernunftschwärmerei mache blind für Erfahrung und Geschichte. Überhaupt ist Schwärmerei eine Gefahr intellektueller und spiritueller Imagination. Das gilt gerade auch für geistliche Schwärmerei.53 Er beschreibt geistliche Schwärmerei als „lebhafte Einbildungskraft, die schnell glühend wird, und glühend der Ueberlegung vorspringt, Erfahrungen erschleicht, Gränzsteine verrückt; ein weiches Herz, das sich zu romanhaften Empfindungen stimmen, und in der Hitze der Empfindungen zur Bestehung neuer Ebentheuer reizen läßt; […] Bedrückungen, die uns nach Erlösung lüstern, und an falsche Propheten glauben machen“ (II, 83 f.). Sailer hat vor allem religiöse (und psychologisch-ästhetische) Überspanntheit im Auge, Herzens-, Gewissens- und Höllenangst (II, 85 f.). Seine Rezepte sind gleichermaßen konventionell wie hilflos: Tätigkeit, Demut, Schriftlesung und schließlich freundschaftliche Konversation. Die Kehrseite dieser Überspanntheit sind Resignation und Melancholie, Gleichgültigkeit gegen Wahrheit und Irrtum. Sailer kann auch hier nur auf göttlichen Beistand hoffen. Der Hinweis auf das Wahre und Schöne helfe hier nicht wirklich. Lebenssinn könne durch alles Ackern, alle Vernunftlehren, alle Philosophie und Theologie nicht vermittelt werden, „wenn die heilige Fürsehung nicht die Decke der Verblendung von den Augen nimmt, und den trägen Willen anstößt, daß er sich rege, und nach der Wahrheit frage“ (II, 101). Die Lehre von den Leidenschaften der Seele ist in eine Anthropologie eingebettet, und nach Herders Sprachursprungsschrift impliziert das auch eine Sprachphilosophie.54 Sailer versteht darunter nicht Sprachlogik, sondern Psychologie: Sprache sei eine Verbindung von Wörtern und Vorstellungen, die „von den Jahren der ersten Entwickelung der Seele an, miteinander in ihr fortarbeiten, sich fortbilden, und den Fundus des menschlichen Erkennens legen“ (II, 228). Sprache sei ein gefährliches Medium, sie sei von Gewohnheiten und Leidenschaften abhängig, man könne mit ihr spielen und lügen. Zumal aber schädige die philosophische Fachsprache der Systembauer55 die selbstverständliche Sprache des gesunden Menschenverstandes. Sailer klagt über Sprachverfall56 und fordert für die Sprache Wahrheit, Klarheit, gemäßigte Metaphorik. Zum Schluss dieses Abschnitts zitiert er aus Herders Geist der Hebräischen Poesie: Hier kennt sich Sailer aus eigener Erfahrung aus, denn in der ,Allgäuer ErweckungsbewegungR war er in dieses Phänomen involviert; vgl. das Schlusskapitel dieses Aufsatzes. 54 „Von dem Zusammenhange der Leidenschaften und Vorurtheile mit dem Leibe, und mit der Sprache“ (Bd. 2, 205). 55 „Einfluß des Genies, der Laune, des Schwindelgeistes, der Vorurtheile auf die Sprache“ (Bd. 2, 238). 56 „Die feine Sprache einer Nation, die bisher in allen gebildeten Nationen gesprochen wurde, wird itzt die Epoche ihrer Herrschaft, wie es scheint, verlieren“ (Bd. 2, 239). 53

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Heil dir! unsichtbar Kind des Menschenhauchs, der Engel Schwester, süsse Sprache, Du! ohnQ deren treuen Dienst das volle Herz erläge unter der Empfindung Last.

Philosophisch hat Sailer in den ersten beiden Hauptstücken sein Pulver weitgehend verschossen. Im dritten Hauptstück, das über Wahrheit, Überzeugung, Weisheit und Wissenschaft handelt, überhöht er seine Einsichten noch einmal theologisch. Freilich handelt es sich eher um theologische Rhetorik, zumal wenn Gott als Quelle des Seins, der Erkenntnis und der Wahrheit gepriesen wird.57 Für den Menschen gilt unterhalb dieser Erbaulichkeiten: Keine theoretische Wahrheit kann die praktische Weisheit substituieren. Voraussetzung der Weisheit sind eigene Erfahrung und „erzählte Erfahrungen anderer“ (III, 72), und darunter fallen für Sailer natürlich „Die Offenbarungen Gottes, die Wunder, die Weissagungen“ als Berichte von „Thatsachen“ (III, 72). Diese Frage nach der praktischen Wahrheit wird im vierten Hauptstück58 weiterverhandelt. Sailer beginnt mit der Klarstellung: Das Wahre wird gefunden, entdeckt, bemerkt, nicht aber ersonnen oder erkünstelt (III, 85 f.), und die Wahrheit ist verschlungen mit dem Tugend- und Seligkeitsbedürfnis (III, 104). Weder Aristoteles noch Sokrates, noch Leibniz seien in der Lage, all diese legitimen Bedürfnisse zu befriedigen. Das gelte auch für die neuerliche „Religions- und Sittlichkeitsverwüstende“ […] „allüberschwemmende Sündflut von Schriften“(III, 158), zumal die „sogenannte Philosophie, die der Religion nicht bedarf“ (III, 159). Hier bleibt dem Theologen nur die Hoffnung auf das offenbarte Christentum, und deshalb gibt Sailer, durchaus in der Tradition der Aufklärungslogiken, hermeneutische Anweisungen zur Bibelexegese. Grundfrage für den Exegeten: „Was ist der Sinn des Buches, was ist der Sinn dieser Schriftstelle“ (III, 161). Zunächst muss der Wortverstand der einzelnen Schriftstellen im Sinne des gesunden Menschenverstandes gesucht werden. In einem zweiten Schritt müsse der Exeget die Allegorien und Figuren im rhetorischen Orientalismus der Bibel identifizieren, bspw. die Bezeichnung Jesu als Christus, Gotteskraft, Gottessohn im Neuen Testament (III, 167). „Der Sinnforscher nimmt die bildlichen Ausdrücke scharf ins Auge, um den Sinn des Bildes zu treffen. Gleichniß, Parabel, Metapher, Allegorie, Fabel – kommen darinn überein, daß sie Wahrheit darstellen, und im Bilde darstellen – wenn sie anders ihres Namens werth sind“ (III, 170 f.). Diese Wahrheit zeige sich als Geist des ganzen Buches, nur im Ganzen bekämen die Einzelheiten Sinn (III,174). Er definiert die „Treue des Auslegers. Sie läßt das Buch sich selbst auslegen, und wo das Buch sich nicht Bd. 3, 3–6. Viertes Hauptstück: „Nähere Winke zur möglichbesten Anwendung der Erkenntniskräfte“, Erster Abschnitt: „Von der Erfindung des Wahren“. 57 58

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selbst auslegt, da legt er den Finger auf den Mund, und horcht auf die Tradition“ (III, 177). Deshalb solle der gewissenhafte Exeget sein Urteil so lange suspendieren, bis er als „Wahrheitsfreund“ alle Gründe durchschaut (III, 194). Als Specimen seiner Bibellektüre setzt sich Sailer mit den Wolfenbütteler Fragmenten aus der Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes von Hermann Samuel Reimarus auseinander, die Lessing 1778 veröffentlicht hatte. Deren Hauptthese: Die Evangelisten hätten berichtet, Jesus habe seine unmittelbar bevorstehende Königsherrschaft vorhergesagt, und die Jünger hätten an diese Naherwartung der messianischen Herrschaft geglaubt. Nach dem Kreuzestod Jesu hätten die Jünger den Leichnam Jesu gestohlen und dann – weil sie außerstande gewesen seien, den Tod Jesu zu akzeptieren, seine Auferstehung behauptet. Sailers Gegenargumente setzen die Geltung der christlichen Interpretation voraus: „Die Evangelien reden offenbar nur von überirdischen Absichten Jesu, und der Fragmentist redet offenbar nur von den irdischen“ (III, 156). Der Fragmentist behaupte, die Jünger hätten die Worte und Handlungen Jesu umgedreht und sie zu irdischen Absichten verkehrt. Sehet, liebe Leser, das ist das proton pseudos des Fragmentisten, das, deutlich verstanden, alle fernere Widerlegung unnöthig macht. – Er will beweisen, daß Jesus ein weltlicher König werden wollte – und damit er es wahrscheinlich machen kann, behauptet er, die Jünger Jesu haben die Worte Jesu im Niederschreiben umgedreht. Wer so mit einem Geschichtsschreiber umgehen kann, der kann aus dem Helden der Geschichte freylich machen, was er will. (III, 157)

– Unter seiner Voraussetzung, dass die nur neutestamentlich überlieferten Worte Jesu selbst nicht Teil genau dieser eschatologischen Tradition sind, mag Sailers Argument schlüssig sein. Aber genau das lässt sich nicht beweisen. Jesu Worte stehen nicht jenseits ihrer Überlieferung, und die einzige Überlieferung sind die Evangelien, von deren Entstehung Reimarus redet. Eine christliche Perspektive jenseits der Evangelien ist nicht zu haben. Darin besteht die Pointe von ReimarusQ Bibelkritik. Sailer ist in allen seinen Schriften Pädagoge, und als Pädagoge ist er Aufklärer. Deshalb gibt er abschließend Ratschläge für den Lehrer. Er müsse in der Seele licht werden und dann stufenweise die Zöglinge lehren. Die Lehre müsse ihm Freude machen, und er müsse Vertrauen in die Kräfte des Zöglings setzen. Der gute Lehrer (III, 227) kennt die Fähigkeiten seiner Hörer, ist offenherzig, hat unendliche Geduld, ist uneigennützig und untadelig im Lebenswandel. Offensichtlich ist Sailer der Volkslehrer wichtig. Der Volkslehrer ist zugleich auch ein guter Prediger. Der lehrt die Seele des Volks um des Volkes willen, muss in der Lage sein, den Vortrag 1) gemeinnützlicher Wahrheiten 2) für die Erkenntnißkraft des Volkes faßlich und leichtbehältlich, 3) für die Empfindungskraft des Volkes treffend und rührend

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zu machen, und 4)diese Gabe nur in der schönen Absicht anwenden, um das Volk zu bilden, zu bessern, zu beruhigen, zu beseligen. (III, 234)

Diese Rhetorik zielt auf den gesunden Menschenverstand, der Sinnsprüche und Volksweisheiten versteht. Der Volklehrer „baut auf Geschichte, unterrichtet durch Geschichte, rührt durch Geschichte, bildet durch Geschichte“ (III, 248). Der Volkslehrer klärt Vorurteile auf, „paßt das Neue an das Alte an“ (III, 250). Er redet im Volkston, vermeidet unnötige Lehren, beschränkt sich aufs Wesentliche, redet beispielgesättigt (III, 253). Er vereinigt „in Bildung des Volkes, was die Natur vereint, und vereint es, um auf die ganze Seele wirken zu können“ (III, 255). Bei „Überzeugern“ ist Sailer zwar skeptisch und mahnt zur Vorsicht; aber im Prinzip akzeptiert er den vorsichtigen Enthusiasten, zu denen er wohl selbst gehört: „Die Stunde der Begeisterung, den Gottesruf zum Schreiben, präoccupirt er nicht, wartet, bis sie da ist, und greift nicht nach ihr, wenn sie verschwindet“ (II, 300).

4.3 Glückseligkeitslehre59 Der Titel ist Programm: Glückseligkeitslehre aus Vernunftgründen, mit Rücksicht auf das Christenthum. Es handelt sich mithin um eine betont christliche Ethik, also keine innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Die Bibel, zumal die jesuanische Ethik und Moral des Neuen Testaments, dient stets als Arsenal für Beispiele und Doktrinen. Sailer will keine spekulative oder kritische Ethik schreiben, sondern eine Anleitung aus „Erfahrung, Selbstbewußtseyn, Geschichte, Ansprüchen des gesunden Verstandes“, und zwar mit „Rücksicht auf das Christenthum (auf die Urkunden der göttlichen Offenbarung) für Schüler und andere denkende Tugendfreunde“.60 Sailer vertritt einen optimistischen Katholizismus, augustinischer Gnadenpessimismus liegt ihm ebenso fern wie kantischer Pflichtenrigorismus. Seine Ethik handelt vom Glück des Menschen in dieser und in der kommenden Welt. Der erste, eher theoretische Band beschreibt das Konzept des Glücks, der zweite, praktische Teil behandelt die Frage, wie das Glück denn zu erreichen sei.61 Glückseligkeitslehre aus Vernunftgründen, mit Rücksicht auf das Christenthum. Zunächst für seine Schüler, und denn auch für andere Tugendfreunde. Von J. M. Sailer, Lehrer der Moralphilosophie und Volkstheologie an der hohen Schule zu Dillingen, Erster (zweiter) Theil, München 1787 (1791), Bd. 1: Erster Theil, worin die wahre Glückseligkeit des Menschen bestehe, Bd. 2: Zweyter Theil: wie man glückselig werden könne; Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 34. 60 Vorbericht, unpag. 61 Wie alle größeren Schriften Sailers war das Buch sehr erfolgreich (Schiel, Sailer [wie Anm. 1], II, Nr. 34). 59

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Sailer will nicht originell sein, er bedient die konventionellen Topoi. Die „Freudefähigkeit des Menschen“62 führt er auf einen natürlichen Glückseligkeitstrieb zurück, der durch naturrechtliche Pflichten gegen Gott, den Nächsten und sich selbst ethisch kanalisiert wird. Daraus erwächst ein Katalog von Grundrechten und Tugenden: Erhaltung des Lebens, Sicherheit des Eigentums, freier Gebrauch körperlicher Kräfte zum Erwerb und Genuss, Übung der Denkkraft und Mitteilung des Denkens, Liebe, Wohlwollen des Herzens, Gewissensruhe, Gottesliebe (§ 26, 34 f.). Diese Grundrechte und Elementartugenden, die die „Würde des Menschen“ (4) bedingen, ermöglichen die Verwirklichung des Glückstriebes als Seelenruhe und Heiterkeit des Geistes (§ 34, 43). Sailers Ethik ist in seiner christlichen Anthropologie gegründet, und die orientiert sich an Herder. Stärker noch als Herder verbindet Sailer philosophische, natürliche und christlich-dogmatische Topoi; seine 18 anthropologischen Kriterien bilden deshalb ein bemerkenswertes Potpourri.63 Ich ordne sie nach Gruppen: Philosophische Kriterien: Verstandes- und Vernunftkraft (1), Freiheit (2), Vollkommenheit (4), Unsterblichkeit seines Geistes (5), Humanität/Menschlichkeit (9), Organisation zur Kunst (12), Organisation zur Sprachfähigkeit (13). Natürliche Fähigkeiten: Mannigfaltigkeit seiner Fähigkeit (3), Aufrechte Gestalt (10) sowie die Bedeutung der aufrechten Gestalt: Spiegel der Seele (11), mindere körperliche Fähigkeiten als viele Tiere (14), gemischte Sinnlichkeit (15), relativ lange Lebensdauer (16). Theologische Kriterien: Ebenbildlichkeit mit der Gottheit (6), Gottesfurcht (7), Religion (8), Krone der Schöpfung (17), Verhältnis zu Jesus Christus (18). Diese Anthropologie ist irdisch gegründet und auf die Transzendenz ausgerichtet: Deshalb spricht Sailer dem Menschen eine gottgewollte Bestimmung zur Seligkeit und Vollkommenheit zu (§ 85, 87). In diese Anthropologie wird nun eine kantianische Ethik implantiert, die ihre Leitbegriffe aus der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gewinnt. Sailer variiert Kants Lehre vom guten Willen als höchstem Gut (§ 138, 118): „Es gibt sittliche Handlungen, die eine innere, eigene Güte haben“ (§ 123, 102) und er unterscheidet „Güte aus Pflicht“ (§ 125, 110) von Güte als Zweck und Mittel. Diese Pflichtenlehre bindet er an das biblische Hauptgebot (Lk 10,27): „Gott über alles lieben, und den Nächsten wie dich selbst“ Überschrift erstes Hauptstück. Sailers Reihenfolge: 1. Verstandes- und Vernunftkraft, 2. Freiheit, 3. Mannigfaltigkeit seiner Fähigkeit, 4. Vollkommenheit, 5. Unsterblichkeit seines Geistes, 6. Ebenbildlichkeit mit der Gottheit, 7. Gottesfurcht, 8. Religion, 9. Humanität / Menschlichkeit, 10. Aufrechte Gestalt, 11. Bedeutung der aufrechten Gestalt: Spiegel der Seele, 12. Organisation zur Kunst, 13. Organisation zur Sprachfähigkeit, 14. Mindere körperliche Fähigkeiten als viele Tiere, 15. gemischte Sinnlichkeit [gemeinsamer Gebrauch von Auge, Ohr, Geruch = Triebspezifikationsmangel – Herders Sprachursprungsschrift], 16. relativ lange Lebensdauer, 17. Krone der Schöpfung, 18. Verhältnis zu Jesus Christus. 62

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(§ 136, 116) und summiert: „Dieser gute Wille muß bey allem Verlangen nach Glückseligkeit die oberste Bedingung sein“ (§ 140, 119). Kants Ethik, die auf der Theorie des guten Willens und der Autonomie aufruhte, ist mit Sailers christlich theonomer Glückseligkeiteslehre aufgegeben. Damit entfällt auch die kantische Konfrontation von Pflichten und Neigungen, von Autonomie und Heteronomie. Unter diesen Bedingungen ist der ethische Eudämonismus, die Lehre von den Menschenfreuden, wieder legitim: Menschenfreuden sind: Vergnügungen der Sinne, des Geistes, des Herzens, der Religion (§ 142, 120). Sie widerstreiten nicht der Würde des Menschen, seiner Bestimmung, seinen Pflichten. Sie zu erreichen entspricht dem göttlichen Plan für das menschliche Leben. Folglich gehören die Fragen nach individuellem und gesellschaftlichem Glück zu den Definitionsaufgaben der Ethik, wie Sailer sie versteht. So wird Sailers Ethik eine politische Theorie des öffentlichen Lebens. Er behandelt deshalb auch die Bedingungen, die „Einfluß auf Menschenwohl und Menschenwehe haben, oder zu einem von beyden gerechnet werden“ (§ 4). Heraus kommt ein christlich politischer Aristotelismus, wie er auch in Pufendorfs De officio hominis et civis zu finden ist. Sailers Liste ethisch-politischer Kernbegriffe ist durchaus konventionell und immer wieder mit pädagogischen und theologischen Topoi durchsetzt: Maßvolles Leben,64 Legitimität und Illegitimität von Reichtum und Luxus,65 die Doppeldeutigkeit der Kategorie Ehre, insbesondere im Bezug auf den Adel,66 Gefahren der Lektüre und der Empfindsamkeit67 und deren geistlicher Remedur durch Andacht, die als ein „vertrauter Gedanke an Gott“ bestimmt wird (§ 255, 218), und die Verpflichtung zu Gottes- und Menschenliebe (§ 276, 242).

Ein mäßiges Leben fördert die Gesundheit (§§ 163–170, 136–144). Reichtum ist legitim unter der Bedingung von „Wohlerworbenheit mit wohlthätigen Folgen“ (§§ 171 f., 145). Bei der Frage nach dem Luxus ist Sailer gespalten; zwar wiederholt er die üblichen kritischen Topoi, Luxus sei eine Pest für Tugend und Weisheit, Familien, Staaten, Nationen, Nachwelt, Menschheit (§ 183, 157); aber er muss widerwillig die Theorie Humes (§§ 184–186) akzeptieren, dass der Luxus 1. Haupttriebfeder der Industrie ist und 2. Künste und Wissenschaften sowie den Handel befördert und zur kulturellen Verfeinerung der Völker beiträgt (§ 182, 155). 66 Im Bezug auf die Ehre kann Sailer viele seiner Vorbehalte gegen den Adel bedienen: Wie Reichtum sei Ehre gut, wenn sie rechtmäßig erworben, edelmütig behauptet, wohltätig angewendet werde (§ 919, 162), andernfalls gefährlich, denn sie führe zu Ehrgeiz, Hochmut, Stolz und Eitelkeit. Zumal der Stolz führe in den Abgrund aller Irrtümer, nämlich in die „Atheisterey“ (171). 67 Natürlich warnt er vor falscher Lektüre, vor Pornographie ohnehin, aber auch vor empfindsamer Lektüre (ob er Goethes Werther meint?), und auch vor kritisch-destruktiver Gelehrsamkeit. Überhaupt sei Empfindsamkeit (198–206) Quelle von Freuden und Freundschaften, aber auch von Fehltritten, Torheiten und Leiden (§ 239, 205). Wohlwollen, Freundschaft (diese Teile sind offensichtlich aus ClaudiusQ Wandsbecker Boten übernommen, den Sailer S. 217 anführt). 64 65

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An den Beginn der Abschnitte über das gesellige Leben hat er eine Betrachtung über die Einsamkeit gesetzt: sie sei „Entfernung von dem Schauplatze der Welt“ (§ 283, 251). Dieser Schauplatz besteht im Stadt- und Landleben. Das Stadtleben scheint für Sailer nicht besonders wichtig zu sein, es ist ihm ein vermischtes Mittel zum Menschenwohl (§ 290, 256). Das Landleben ist ihm wichtiger. Es mag zur Offenbarung Gottes in der Natur führen (§ 291, 256), aber es zeigt vor allem die Bestimmung des Menschen zur Arbeit. Das ist ein Zustand voller Elendserfahrung, die zwar die Hoffnung des Menschen auf einen besseren Zustand jenseits des Grabes steigert – auch Glück in stillem, sanftem und frohem Sinn (§ 291, 260). Aber das Landleben ist vor allem gekennzeichnet durch Nahrungssorgen, Hunger, die Geistlosigkeit bäurischer Existenz. Ackerbau sei kunstlose Kultur, die Bauern seien unwissend und roh, hätten „mechanische und krasse Religionsbegriffe“, die nicht zur „Zufriedenheit des Herzens“ führten (§ 327, 291). Sailer ist Naturrechtler, er geht von der Familie als dem Kern der Gesellschaft aus. Im Positiven vereinigt die Familie Geselligkeit, Freundschaft, Geschäftsleben, Andacht und Tugend (§§ 301–303, 269); aber Sailer kennt auch die Not: Nahrungssorgen, Eifersucht und den ungeordneten Geschlechtstrieb – gemeint sind wohl vor allem die Männer –, der das häusliche Glück zerstört. Sailers Politikkonzeption ist ganz an Pufendorfs Vorstellungen orientiert: Die Regierung garantiert bürgerliche Verfassung, Sicherheit des Eigentums, Justizpflege, Ämterverteilung, Milderung der Sitten („Polizey“), Vergnügen, Patriotismus und bürgerliche Freiheit. Anders als Pufendorf und Thomasius wehrt sich Sailer aber vehement gegen die Trennung von Staat und Religion und gegen die Säkularisierung des Staates: Es sei „das giftigste Vorurtheil, aus Achtung für die Wohlthätigkeit der Regierung auf Entbehrlichkeit der Religion (des praktischen Glaubens an Gott, Unsterblichkeit, Allvergeltung) zu schließen“ (§ 310, 274 f.). Das Lehramt im religiös normierten Staat dient deshalb vor allem zur religiösen „Bildung der heranwachsenden Generation“ (§ 312, 281); es muss die zumal „Verwebung allerley widersinniger Ideen in das schöne, reguläre Korpus der Religion“ (§ 313, 283) verhindern. Bei aller optimistischen Naturrechtlichkeit bleibt der theologische Vorbehalt: alle politischen Institutionen sind außerstande, das Leid in der Welt abzuschaffen – das ist das resignative Fazit auch seiner Glückseligkeitsphilosophie. Für diese Welt hat Sailer auch keine Antwort auf die Theodizeefrage, warum ein guter Gott das Böse in der Welt zulasse. So präsentiert er einen eher traurig müden JenseitsKompensations-Trost: Leiden machten auf den wahren Wert (= Unwert) irdischer Dinge aufmerksam (§ 334, 295), weckten das Gewissen und die Tugenden, spannten die Geisteskräfte an, förderten „den Gedanken an die Unsterblichkeit, bessere Zukunft und Allvergeltung“ (§ 345, 301).

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Unter diesen Bedingungen fragt sich, worin denn die „hienieden erreichbare Glückseligkeit des Menschen“ bestehe? Für Sailer besteht sie in der stoischen Beruhigung des irdischen Lebens und der Ausrichtung aufs Himmlische: Ausgleich der Leidenschaften, Erkennen der angeborenen Menschenwürde, Andacht, Tugend und Wohlwollen, „frohe Aussichten jenseits des Grabes“ (§ 374, 316), Liebe zu Gott als dem Urquell aller Güte und Glückseligkeit.68 Die Glückseligkeitslehre ist für Leser geschrieben, die an Gott und an das Evangelium sowie an die Korrespondenz zwischen hiesigem Wohlverhalten und Glückseligkeit in einer anderen, besseren Welt glauben. In diesem umfassenden Sinn ist der Zweck des Buchs, gut und froh zu werden. Die praktische Abzweckung der Glückseligkeitslehre, die Sailer im zweiten Teil, „Wie man glückselig werden könne“, behandelt, bezieht sich mithin nicht nur auf die hiesige, sondern auch auf die kommende Welt.69 Sailer geht sein Thema existentialistisch an: Im Angesicht des Todes verlieren die weltlichen Güter ihren Wert. Todesbetrachtungen lenken den Blick auf die Innerlichkeit, sind Vorbereitungen auf das ewige Leben, der Tod lehrt die „Unbehülflichkeit des Menschen in der wichtigsten Angelegenheit“ (38). Im Angesicht des Todes spricht der Mensch in seiner Seele aus: „Ich will gut werden“ (42). Gut werden heißt dem Gewissen folgen. Das Gewissen, die Hauptinstanz von Sailers praktischer Ethik, ist das Gesetz im Herzen, gottgestiftet und universal. Wir erkennen als gut, was von Natur aus gut ist. „Es ist im Menschen ein Sinn des Guten und des Bösen“ (62). Diese These ist communis opinio aufgeklärter Philosophie und Theologie: Sailer zitiert Moses Mendelssohn, Stattler, Kant, Lavater, Platos sokratischen Genius, Cicero und Paulus. Die Begründung für die Gewissenstreue, die wichtigste aller Pflichten, ist theologisch und metaphysisch: Als Abbild des höchsten, auf sich selbst bezogenen Gutes lieben wir das Göttliche in uns. Darin besteht die vernünftige Gottesliebe des Menschen und daraus folgen die Pflichten Gott, die Schöpfung und den Menschen zu lieben (72). Der Trieb zum Gutsein ist die Bedingung des Triebes nach Wohlsein (344); und der Trieb nach Wohlsein ist die Sehnsucht nach Gott, „Freude in Gott“ (351). Frohe, heitere Laune entsteht in Erwartung des Besseren, sie wird nicht mit Reisen und Luftveränderung, nicht durch Lektüre, Musik, bürgerlichen Wohlstand herSailers Liste göttlicher Prädikate (§ 393, 337): 1. Urquell aller Geistes- und Köperwelt, 2. Urbild aller Güte und Weisheit, 3. Ideal aller Glückseligkeit, 4. Gegenstand besten Nachdenkens, 5. Objekt reinsten Wohlgefallens, 6. Muster der Menschenliebe, 7. Mittelpunkt aller Verehrung, 8. Lenker des Schicksals, 9. Höchster Gesetzgeber, 10. Zeuge unserer Entschlüsse, 11. Allvergelter, 12. Menschenfreundliches Wesen. 69 Sailer konzentriert sich auf folgende Fragen: 1. Wie kann ich gut werden? (25–202), 2. Wie kann ich besser werden? (203–332), 3. Wie kann ich dauerhaft froh werden? (333–378, 379–428; S. 379 wird die Überschrift von Kap. 3 noch einmal wiederholt, offensichtlich eine Nachlässigkeit in der ersten Ausgabe), 4. Wie kann ich auf fremdes Gut- und Wohlsein Einfluß haben (429–518). 68

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beigeführt, sondern durch „Selbstverläugnung“ (370) und Gottvertrauen. Die Selbstverleugnung ist sowohl eine christliche aszetische als auch eine stoische Tugend. Sie lässt mich „die Leiden, die da sind, auf eine menschenwürdige Weise tragen, und mir recht viele ersparen“ (379). Diese Seelenfestigkeit erreiche ich durch Übung im geraden Anblick der Dinge, durch Übung im Bemerken von wirklichem, nicht eingebildetem Leid, durch Übung im Leiden selbst (381). Sailers Ratschläge sind stoischer Natur. Die Kraft, Leiden zu ertragen wird durch den Entschluss erleichtert: „Ich will leiden wie ein Mann, weil Leiden meine Pflicht ist“ (385), kein Klagen, kein Gewinsel, sondern Vertrauen in Gottes Güte. So könne auch Leiden bei politischen Ungerechtigkeiten (396) ertragen werden. Es bleibt als innerer Trost das Bewusstsein der eigenen Unschuld und die stoische Einsicht, so sei der Gang der Welt. Das größte Hindernis für das Erreichen des Gut- und Wohlseins ist der Mensch selbst (432). Seine Leidenschaften betreffen Herz und Verstand. Hier entstehen Geiz, Hochmut, Wollust, Rachgier. Die Hauptleidenschaft ist die Sexualität. Hier schlägt Sailer – sehr aufklärerisch – Sexualitätskontrolle im Umgang der Geschlechter vor. Für die Selbstkontrolle ist der Widerstand gegen alle Formen affektiver Sinnlichkeit entscheidend. Als Theologe hat Sailer eine klare Vorstellung verderblicher Philosophien. Seine Negativtopoi: Atheismus, Pantheismus, Unerkennbarkeit Gottes, Materialismus, Sterblichkeit der Seele, Religion als Pfaffenbetrug, politische Anarchie. Er kennt – auch aus eigener Anschauung – die Laster der akademischen Welt. Der „Handwerksneid der Gelehrten“ führe zu „Consequenzenmacherey“ (455), zu gelehrtem Sektenwesen, zu „voltärscher Witzeley über alte Geschichten“ (458). Am Ende sei das Resultat solcher akademischen Laster die Vertreibung des Aberglaubens durch den Unglauben. Fazit: Die Bedingungen des Gut- und Wohlseins sind persönliche Untadeligkeit, Dienst am Guten, Beibehaltung des guten Alten, Angleichung des Neuen an das Gute, Ertragen von Widerspruch und Undank, Langmut. Das Wichtigste für das eigene und das Glück der Anderen ist die Arbeit an sich selbst und das Wirken im engeren Kreise, bei den Kindern, in der Familie, im Haus. Jammern über die Schlechtigkeit der Welt ist lächerlich, denn der Gute wirkt durch Person und Beispiel mehr als durch Worte. Tue dies alles im Geiste Jesu, im Bewusstsein der Gnade Gottes und in der Hoffnung auf die Wiederherstellung der eschatologisch-paradiesischen Harmonie zwischen Gott und den Menschen. (484)

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4.4. Vorlesungen aus der Pastoraltheologie Sailers Pastoraltheologie ist das Kernstück seiner katholischen Aufklärung. Während die Vernunftlehre und die Glückseligkeitslehre durchaus den Charakter einer Komposittheorie haben – die Vernunftlehre ist eine Art frommer Kantianismus und die Glückseligkeitslehre eine Mischung aus christlicher Pflichten- und Eudämonietheorie –, ist Sailer mit der Pastoraltheologie bei seinem eigenen Gegenstand. Hier zeigt sich sein Konzept praktischer und religiöser Aufklärung. Sailer stellt die Aufgaben des Landpastors paradigmatisch dar: Sein Pastor kennt die Nöte der Landleute, ihre Beschränktheit, er sieht die Notwendigkeit, sie über ihre Religion aufzuklären. Sailer liefert keine politisch abgezweckte praktische Theologie, die den Nutzen der Stallfütterung und den besten Obstund Getreideanbau propagiert, sondern eine spezifisch christliche Frömmigkeit, die die barocken Gebräuche: Heiligenverehrung, Marienkult, Wallfahrten eindämmen, nicht verbieten will, die die ethischen Dimensionen der Lehren Jesu und den geistlichen Optimismus der Religion in den Vordergrund stellt. Sailer hat die Vorlesungen zur Pastoraltheologie seit 1784/85, seit Beginn seiner Tätigkeit in Dillingen gehalten. Sie waren in Dillingen offensichtlich so erfolgreich, dass der Kurfürst von Trier und Bischof von Augsburg Sailer beauftragte, sie im Druck herauszugeben. Sailer schreib seine Pastoraltheologie denn auch als Lehrbuch für Priesteramtskandidaten, und die Priester, die er ausbildet, wurden meistens Pfarrer, Landpfarrer. Man kann die Rolle des Landpfarrers kaum überschätzen. Beinahe 90 % der Bevölkerung des Reiches lebten auf dem Lande, und Sailer kannte das arme, erbärmliche Landleben aus eigener Erfahrung, er kam aus kleinen ländlichen Verhältnissen. Die Bauern waren ungebildet, konnten zum großen Teil nicht lesen und schreiben,70 lebten in Armut und wurden, wie es heißt, „gedrückt“ von Steuern und Abgaben, die von Amtleuten eingetrieben wurden, die im Dienst der Fürsten und der Klöster standen. Der Pfarrer hatte auf dem Land das Kulturmonopol. Es gab keine Zeitungen, so gut wie keine Bücher – vielleicht ein Gebet- oder Erbauungsbuch, evt. eine Bibel. Der Pfarrer ruft seine Gemeinde am Sonntag in die Kirche, zu Messe und Predigt, zur Vesper, einmal im Monat zur Beicht- und Kommunionfeier. Was die Leute sonntags in der Kirche hören, ist das Einzige, was ihnen über ihren tristen Wochentagsablauf hinaus eine gewisse innere Orientierung bietet. Der Pfarrer führt die Kirchenbücher – also Tauf-, Hochzeits- und Sterberegister – und ist mithin die wichtigste demographische Verwaltungsinstanz. Ihm untersteht das Schulwesen, so erbärmlich es auch sein mag, und er hat sich im Krisenfall um Eheprobleme, um die Versorgung von Witwen und Waisen zu kümmern. AußerVgl. Hans Erich Bödecker, Ernst Hinrichs (Hg), Alphabetisierung und Literarisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999. 70

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dem muss seine Kirche repräsentativ ausgestattet sein – und das heißt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: spätbarock-prächtig. Der feierliche Kult bei den zahlreichen Feiertagen und Prozessionen muss organisiert, das Kirchenjahr mit seinen Festen und Segnungen angemessen gestaltet und inszeniert werden. Das ist eine große Aufgabe, eine Herausforderung, wenn sie ernst genommen wird, eine Last, wenn sie nicht mit Hingabe ausgeführt wird; und dieses Amt ist katastrophenträchtig, wenn es nicht kompetent ausgefüllt ist. Wenn also Aufklärung nottut, dann hier. Aus diesem Grund ist die Pastoraltheologie die eigentliche Aufgabe praktischer theologischer Aufklärung. Diese Aufklärung beinhaltet keine Religionskritik, sie ist nicht intellektualistisch, sie ist schon gar nicht revolutionär – sie ist volkspädagogisch. Sailer Pastoraltheologie ist ein theologisches Buch. Es enthält im ersten Teil eine Anleitung zum erbauenden Schriftbetrachten, im zweiten, pädagogischen Teil Anweisungen für angehende Prediger, Kinderlehrer, Privatlehrer, und im dritten Teil für die administrativen Geschäfte des Landpfarrers: „Haushaltung, Gastfreygebigkeit des Seelsorgers etc.“ (§ 11, 6). Die Lektüre der Bibel soll Licht in den Verstand, Wärme in das Herz, Kraft zum Guten in die ganze Menschenseele bringen. Sailer schärft seinen Studenten ein: Es „kann nur der der Mann mit dem edelsten Herzen und mit bezähmtesten Neigungen erster Schriftkenner (Theologe) werden“ (§ 24, 87). Die Bibel soll weder als Arsenal schulischen Sentenzenwissens noch als Quelle geheimer apokalyptischer Spekulationen gelesen werden. Er fordert, dass die Bibelexegese – und hier meint er Altes und Neues Testament – durch die Lektüre der Kirchenväter ergänzt werde (17971), und für diese fortgeschrittene Lektüre gibt er den angehenden Pfarrern hermeneutische und didaktische Ratschläge: Die Exegese soll durch Übungen und Memorieren stabilisiert werden, sie soll insgesamt leichtverständlich und anwendungsorientiert sein (163). Zur Erläuterung führt er eine ausführliche Mustersammlung von Exegesestücken an: Schöpfungsgeschichte, die Darstellung des Paradieses, Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies, Gleichnisreden des Alten und Neuen Testaments. Immer sollen diese Auslegungen sich auf die je aktuellen Liturgien beziehen und die Zeremonien erläutern. Sailer fordert die Mitwirkung des Volkes bei den Zeremonien (381), was in der tridentinischen Theologie keineswegs selbstverständlich war, mahnt mit Paulus bei den Frauenspersonen sittsame Kleidung und frommen Wandel in Ehestand und Hauswesen an, und endet mit einem kurzen Bischofs- und Pfarrerspiegel: von den Geistlichen verlangt er unsträflichen, tadellosen Lebenswandel, Kirchentreue, damit der Klerus Vorbild der Gläubigen sei, denn die Kirche ist das Haus Gottes.

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Er empfiehlt: Origenes, Augustin, Hieronymus, Thomas von Aquin, Bernhard von Clairvaux.

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Die Predigtlehre der Pastoraltheologie ist eine Anleitung für angehende Prediger, keine formale Rhetorik. Das gilt a fortiori bei den Predigten für das Landvolk: Das Ziel ist „Popularität“ (144–222). Leichte Verständlichkeit, besondere Klarheit bei der Darstellung der christlichen Lehren, die der Kenntnis des Volks angepasst werden müssen, einfache Gliederung, die die Memorierbarkeit der Predigt steigert – und Emotionen: Überzeugung und Rührung. So wird die letzte Absicht der Predigt erreicht, die wahre Glückseligkeit des Volkes zu befördern. Untersagt sind theologische Spekulationen, Scholastik, Allegorese, weltliche Literatur und Philosophie, Kometen- und Schreckensvisionen, unfromme Predigtmärlein, Kontroverspredigten gegen andere Konfessionen. Dagegen sind die elementaren Lehren des Christentums Gegenstand der Predigt (§ 12, 9–11): Gott und Christus – Glaube, Vertrauen, Liebe, die Lehre vom Heiligen Geist, dessen Gnade beim guten Handeln mitwirkt, Menschenliebe, Glaubenseifer, Erkenntnis und Verherrlichung Gottes in der Natur, in der Bibel und in der Tradition, sowie die Kraft, die aus diesem Glauben fließt: Selbstverleugnung, Demut, Geduld, Arbeitsamkeit. Für Sailer ist der Glaube ein natürliches Licht, das mit der gesunden Menschenvernunft übereinstimmt. Er betont deshalb, dass Menschenliebe (91–95) und christliche Tugenden mit dem Naturrecht übereinstimmen.72 Die Übereinstimmung von Naturrecht und Christentum ist der Kern von Sailers Dogmatik; und diese Lehre möchte er seinen Landpredigern in ihre Amtsagenda mitgeben. Die Kindererziehung73 ist eine zentrale Aufgabe des Landpfarrers. Naturrechtlich ist der Ort der Kindererziehung das Elternhaus, aber wie die Dinge auf dem Lande stehen, ist der Pfarrer für die schulische und die christliche Erziehung der Kinder zuständig.74 Der einfachste Weg, die Kinder zu lehren, sind Geschichten und Erzählungen; und dieser Zugang beschränkt sich nicht auf biblische Geschichten. Merksprüche können den didaktischen Sinn dieser Geschichten, ,die Moral von der GeschichtR festhalten. Sailer hat von Beginn seiner Karriere an solchen Sprichwörtern, loci communes und Kleinweisheiten große Bedeutung zugemessen, später, 1807 hat er eine Sammlung dieser „Weisheit auf der Gasse“ herausgegeben.75 Schon hier, in der Pastoraltheologie, präsentiert er eine kleine Sammlung76 in didaktischer Absicht: „Esel: wenn der Esel noch so viel Gold „Die Norm, der Maßstab der Menschenliebe ist: I. Die Liebe zu uns selbst: Liebe deinen Nächsten wie dich. II. Die Liebe Gottes gegen alle Menschen: Seyd vollkommen wie euer Vater im Himmel. III. Die Liebe Jesu Christi gegen die Menschen: Liebet einander, wie ich euch geliebt habe“ (§ 71, 93). 73 Zur Kinderlehre vgl. Bd. 2, 213–310. 74 Sailer untertitelt den zweiten Teil seiner Pastoraltheologie deshalb: „Der Seelsorger in seinen Amtsverrichtungen oder II. Anleitung für angehende Kinderlehrer“ (223). 75 Vgl. 18 f. und 36. 76 Bd. 2, 238–244. 72

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trägt, so bleibt er doch ein Esel: so giebt der Reichthum dem Unverständigen keinen Verstand, und dem Lasterhaften keine Tugend“ (II, 240). „Mutter: Das Kind schläft sicher im Schoosse seiner Mutter: so der Mensch, der sich auf Gott verläßt“ (II, 241). Der gute Pädagoge bequemt sich den Kindern an, beherrscht seine Affekte, ist von unerschöpflicher Geduld, lehrt Gottes Wort und Naturkenntnis, liebt seine Kinder. Sailer erweitert hier die pädagogische Perspektive seiner Priesterzöglinge, indem er Beispiele für Kinder, Heranwachsende und Erwachsene anführt, die er in der Erwachsenenschulung „Christenlehre“ zu verwenden vorschlägt. Den Erwachsenen erklärt er vor allem Begräbnisriten als Werke der Barmherzigkeit. Überhaupt ist die pädagogische Aufgabe des Pfarrers mit der Kinderlehre nicht erschöpft.77 Er ist geistlicher Lehrer, Amtsperson, in Kleidung und Habitus muss er seinem Amt entsprechen. Das ist zumal beim Privatunterricht, d. i. bei offiziellen Verlobungen, Krankenbesuchen, Beichten, Schulvisitationen wichtig. Sailer bedenkt und fordert die Anpassung des Pfarrers an die jeweilige Situation und Zuhörer, eiserne Selbstbeherrschung und Geduld. Die sind in den schwierigen Beratungsgesprächen nötig, bei dem Trost für die „Trübsinnigen“ und die Überfrommen, aber offensichtlich vor allem bei den stets anhängigen Familien- und Eheproblemen, und hier ist Sailer durchaus obrigkeitskritisch: „Wenn die Hure im Staatswagen daherfährt, so ist die ein vergiftender Anblick für Unschuld und Tugend im Lande umher“ (340). Ein zentrales Mittel der pastoralen Erziehung und Disziplinierung ist die (Ohren-)Beichte.78 Die Beichte findet in der Spätaufklärung wie im Barock traditionellerweise als Vorbereitung zur Kommunion statt. Sailer nimmt diese Aufgabe sehr ernst. Die Pflichten des Beichtvaters lauten: richte, lehre, heile (399). Ziel der Beichte ist die Restitution der Schäden an Leib und Seele des reuigen Sünders. Sailer legt Wert darauf, dass das Beichtgespräch tatsächlich die Gemüter der Beichtenden berührt und zur verbesserten Lebensführung führt. Und er kennt und nennt auch die Fehler des Beichtvaters (II, 395–402): Habsucht, Hochmut, sinnliche Liebe zu den Beichtenden, besonders den Frauen, Kälte gegen die Beichtenden. Kranken- und Sterbendenhilfe ist eine zentrale Aufgabe der Pastoraltheologie.79 Diese Aufgabe ist alles andere als leicht. Sailer weiß, dass gerade der angehende Seelsorger seinen Abscheu vor dem Krankenzimmer, seine Angst vor Ansteckungen und seinen Ekel vor dem Kranken und Sterbenden überwinden muss. Er verweist seine Studenten deshalb einerseits auf die Pflichten des Seelenhirten und das Leiden und Sterben Christi, andererseits gibt er praktische hygienische 77 78 79

„II. 3 Anleitungen für den Privatunterricht“, Bd. 2, 312–388. „II. 4 Anleitung für angehende Beichtväter“, Bd. 2, 389–457. „II. 5 Anleitung für angehende Krankenfreunde“, Bd. 3, 1–58.

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Ratschläge. Der Pfarrer ist hier Stellvertreter Christi: Er muss lernen, dem Kranken zuzuhören, er muss die Genesung und das Seelenheil des Kranken im Auge haben, aber er darf nicht die Rolle des Arztes usurpieren. Wenn es dann ans Sterben geht, muss er dem Todkranken seine Lage erklären. In die Fragen des Testaments soll sich der Geistliche nicht einmischen, vielmehr ist der letzte Trost, die geistliche Begleitung in den Tod seine eigentliche Aufgabe. Und dieses Amt heiligt auch den Tröster. Der Pfarrer ist auch Repräsentant seiner Kirche in der Ausübung des Kultes.80 Das ist seine repräsentativste Aufgabe. Damit die Gottesdienste in Würde gefeiert werden können, muss die Kirche ein gepflegter und reingehaltener Ort sein. Allerdings lehnt Sailer – auch hier ist er Aufklärer – Kirchenprunk ab. Der Kirchenraum ist der heilige Ort für den regelmäßig besuchten Sonntagsgottesdienst und für die Sakramentenspendung. Sonntagsheiligung und regelmäßiger Kirchenbesuch sind ein zentrales Moment der religiösen Stabilisierung. Der Pfarrer muss durch die würdige Gestaltung des Gottesdienstes und der Predigt diese religiös essentielle Praxis fördern. Sailer stellt deshalb Predigtmaterien für die kirchlichen Hauptfeste biblischen Ursprungs vor: Advents- und Weihnachtszeit, Fastenzeit und besonders die Karwoche, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten, Fronleichnam sowie wenige Marienfeste. Das ist die pastorale Ergänzung seiner Gebetbücher. Der Landpfarrer ist für das Wohl seiner Gemeinde insgesamt zuständig.81 Er führt die Kirchenmatrikel und ist deshalb die alleinige Instanz der Bevölkerungsstatistik. Ihm obliegt die Schulaufsicht, und er hat dafür zu sorgen, dass es ein geeignetes und sauberes Schulgebäude mit kindgerechten Möbeln gibt und dass die Eltern ihre Kinder in die Schule schicken. Vor allem muss er einen fähigen Schullehrer einstellen. Er ist auch für die gesamte säkulare Kulturkontrolle zuständig: er muss seine Gemeinde über den Unsinn von Schatzsuchen, Goldmacherei, Wahrsagen, Hexenglauben (224–228) und Geistererscheinungen (238) aufklären. Er muss die Hausväter an ihre familiären Verpflichtungen erinnern, er darf keine Modehändler und Studenten in den Dörfern dulden, und er muss dafür sorgen, dass gute Bücher beschafft und ausgeliehen werden (260–262). Mit der Fülle caritativer, seelsorgerischer und repräsentativer Aufgaben stehen die Landpfarrer stets im Zentrum der Aufmerksamkeit und folglich der öffentlichen Kritik.82 Sailer gibt praktische Ratschläge in pastoralen Nöten (266–336). Er mahnt die Residenzpflicht für Pastoren an, er bespricht die Kritik der Predigten und den Klatsch in der Gemeinde – zumal bei Haushälterinnenproblemen aller Art. Zum Pfarramt gehört die Last der Ökonomie des Pfarrhauses, das von der ei„II. 6 Anleitung für den Priester Gottes zum Beßten seiner Gemeinde“, Bd. 2, 61–215. „II. 7 Vermischter Unterricht von den noch übrigen Seelsorgerpflichten“, Bd. 3, 215–262. 82 „Dritter Theil der Pastoraltheologie, von den übrigen Verhältnissen des Seelsorgers“ (266–336). 80

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genen Landwirtschaft lebt und Knechte und Mägde beschäftigt, und die stellen an den Pfarrer besondere Ansprüche. Sailer berichtet auch von der Ausnutzung mildtätiger Institutionen durch Betrüger, von Problemen mit Amtskollegen, über die Besonderheiten geistlicher Korrespondenz, über Onanie (348–356). Abschließend (375–378) postuliert er Canones zur „Aufklärung“: Sie solle ein „Mittel zur Bildung des guten edlen reinen Willen der Menschheit“ sein, sie solle sich als „gesunde Vernunft“ gegen Unwissenheit, Pedantismus, Unaufklärung, blinden Eifer, Barbarei wenden (377). Aufklärung sei nicht Unglaube und Irreligion, wie das Wort nun in Umlauf gekommen sei. Vielmehr sei es die Pflicht jedes weisen Mannes und Schriftstellers diesem Begriffsmissbrauch entgegenzuarbeiten und sich „von dem Geschrey für und wider in seinem grossen Tagwerke, gutes zu thun, nie irre machen zu lassen“ (378). 5. Ausblick: Sailers Entwicklung zum romantischen Theologen

5.1 Sailer als Mystiker (1794–1799) Sailer hatte sich mit seiner Pastoraltheologie als katholischer Aufklärer profiliert; er hatte den Streit mit seiner Fakultät provoziert und er hatte ihn institutionell verloren: 1794 war er aus seinem Amt als Professor der Ethik und Moraltheologie in Dillingen entlassen worden. Nun begannen erneut „Brachjahre“ für den mittlerweile renommierten Theologen. Sailer hatte sich neben seinen pastoraltheologischen Interessen schon in Dillingen mit mystischer Theologie beschäftigt, jetzt verstärkte sich dieses Interesse. Man kann diese Phase in Sailers Leben als Wende zur romantischen Theologie verstehen. Seine Augsburger und Dillinger Gegner hatten ihm vor allem vorgeworfen, die traditionelle Theologie zu vernachlässigen und stattdessen eine empfindsame Religionslehre zu vertreten. Dazu passte Sailers einlässliche Pädagogik und seine Pastoraltheologie, die auch die „Herzensbedürfnisse“ der Studenten und der Gemeindemitglieder ernst nahm. Das entsprach auch der empfindsamen Aufklärung, wie sie Lavater und Claudius vertraten; und in der These, dass die Religion zumal eine Frage des Gefühls sei, stimmte Sailer mit F. H. Jacobi überein. Zugleich hatte er schon in der Tradition F8nelons Interesse an den christlichen Mystikern gewonnen; sein Freund und Schüler Feneberg berichtet von einer Sammlung von Mystikern, die er angelegt hatte. Jetzt, in seiner zweiten Brachzeit, entstand die Übersetzung und Kommentierung von Thomas von KempisQ Nachfolge Christi, die 1794, im Jahr seiner Entlassung als Professor in Dillingen erschien und ungemein erfolgreich war. Zugleich arbeitete er an seinem aszetischen Hauptwerk Übungen des Geistes zur Gründung und Förderung eines heiligen Sinnes und Lebens, das 1799 zuerst gedruckt wurde, und er legte den Grundstock zu seiner Sammlung Briefe aus allen Jahrhunderten der

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christlichen Zeitrechnung.83 Offensichtlich entdeckte Sailer also in dieser Zeit die mystische Dimension seines Christentums. Hier spielte die spiritualistische ,Allgäuer ErweckungsbewegungR, deren zentrale Repräsentanten seine ehemaligen Schüler waren, eine Schlüsselrolle.84 Die ekstatische Frömmigkeit ist bei Sailer nicht ohne Eindruck geblieben. Sailer hatte selbst 1797/98 ein Erweckungserlebnis, wie er in seiner Autobiographie von 1821 in einer Art M8morial berichtet.85 Jedenfalls galt Sailer später wegen seiner Beziehungen zur ,Allgäuer ErweckungsbewegungR wohl zu Recht als Parteigänger der Schellingianer und Mystiker.

5.2 Sailer als Romantiker (Ingolstadt und Landshut 1799–1821) 1799 wurde Max IV. Joseph Regierender Fürst in Bayern. Gleich zum Regierungsantritt wurde die Universität Ingolstadt reformiert und mit neuen Professoren – möglichst Aufklärern – besetzt. Und da Sailer seit Dillingen als fortschrittlich und Reformer galt, wurde er nach Ingolstadt berufen. Er bekam, wenn auch nur sehr hesitant, die Erlaubnis, das Bistum Augsburg zu verlassen und nach Bayern zu wechseln. Am 24. November 1799 erfolgte die Ernennung des Geistlichen Das Buch von der Nachfolge Christi. Neu übersetzt und mit einer Einleitung und kurzen Anmerkungen für nachdenkende Christen, München 1794 (ununterbrochen bis heute [Reclam] neu aufgelegt); Briefe aus allen Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung, 6 Bde., München 1800–1804; Übungen des Geistes zur Gründung und Förderung eines heiligen Sinnes und Lebens, Mannheim 1799. 84 Sailer hat 1814 eine Biographie Johann Michael Fenebergs (1751–1812), der zentralen Figur der ,Allgäuer ErweckungsbewegungR, geschrieben, vgl. Aus Fenebergs Leben, München 1814. 85 Vgl. Schiel, Sailer (wie Anm. 1), I, 289–291: „Einmal, da ich von außen stark gedrängt und von den Pfeilen der Lästerung an den zartesten Stellen des Gemütes tief verwundet war, erblickte ich um die Mitternachtsstunde mich von Furien, deren bloßer, höchst gräßlicher Anblick hätte versteinern können, angegriffen und vor Angst und Seelennot zerrissen; mein Leben war wie tot; ich raffte mich, vom ersten Schrecken übermannt, dann wie aus einer Ohnmacht mich erholend, zusammen, kniete im Bette nieder nieder und schrie gewaltig zu Gott.“ Er bleibt danach wie tot im Bett liegend, zitternd, ein „Todeskampf höherer Art“. Dann hat er eine Audition: „Es war, als wenn eine heilige Stimme in mir spräche: ,Nur Christus, oder wie Paulus sich ausdrückte, nur Gott in Christus, die Welt mit sich versöhnend, kann dich retten; ergib dich ihm und lauf ihm nicht aus der Schule; lerne der Sünde vollends absterben und Christo allein leben. Dies vermagst du aber nur durch unablässiges Gebet, mit stetiger Selbstverleugnung verknüpft. Lege nun Hand ans Werk: Ich bin bei dir, fürchte nichts!R Ich wollte dieser Stimme gehorchen, und schon dieses schwächliche Wollen ward mit leiser Ahnung der sicher nachkommenden Ruhe belohnt. Ich wollte; aber indem ich Hand anlegte, dies Wollen geltend zu machen, schien sich in mir die ganze Natur zu empören und die Finsternis, die über meinem Innern lag, zu vermehren. Da wiedertönte dieselbe heilige Stimme: ,Achte nicht des Aufruhrs und nicht der Finsternis. Wiederhole nur die Gelübde, Gott in Christus anzugehören: ich bin bei dir, fürchte nichtsR“. Das Erlebnis ist berichtet in: Der Friede. Eine Geschichte, verfaßt im Jänner 1821. Sailer, Werke 39, S. 293–301. Es ist ein später Bericht, entsprechend terminologisch aufbereitet. 83

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Rats Sailer „zum öffentlichen Lehrer der Moral- und Pastoraltheologie, dann der damit verbundenen Wissenschaften“.86 Die Universität zog schon im nächsten Jahr nach Landshut um.87 Hier blieb Sailer bis 1821 Professor. In Landshut entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft mit Friedrich Karl von Savigny,88 der 1810 an die neugegründete Friedrich Wilhelms-Universität nach Berlin berufen wurde und hier die Rechtsgeschichte als romantische Wissenschaft grundlegte. Sailer knüpfte in Landshut ein Beziehungsnetz zu den Köpfen der katholischen Romantik, zu Clemens und Antonie von Brentano,89 zu Bettina von Arnim, zu Josef Görres,90 zu Amalie Fürstin Gallizin, zu Friedrich Leopold von Stolberg.91 Dieser Verbindung zu den Romantikern entstammt Sailers berühmtestes Werk: Die Weisheit auf der Gasse, oder Sinn und Geist deutscher Sprichwörter (zuerst 1810). Ab 1800 wurde Sailer gemeinsam mit Josef Anton Sambuga92 Erzieher des Kronprinzen Ludwig, des späteren Ludwig I. Sailer und Sambuga legten die Grundlagen für Ludwigs katholische Politik, und Ludwig stützte Sailer in allen universitäts- und kirchenpolitischen Streitigkeiten. Vor allem war Ludwig für die späte Ernennung Sailers zum Bischof von Regensburg verantwortlich, die er gegen erhebliche Widerstände in Rom und im deutschen Episkopat durchsetzte. Als Bischof von Regensburg starb Sailer am 20. Mai 1832. Ob Sailer ein Aufklärer war? Sicher, aber er blieb keiner. Er machte in seiner intellektuellen Biographie die Metamorphosen seiner Zeit mit: Er begann als empfindsamer Aufklärer und endete als Romantiker. Auf diesem Weg brachte er die deutsche katholische Theologie über die Zeit ihrer größten Krise. Er war ein Aufklärer, aber er war deutlich mehr.

Schwaiger, Sailer (wie Anm. 1), 65; Schiel, Sailer (wie Anm. 1), I, 312 f., Nr. 379a. 1472 von Ludwig IX. von Bayern-Landshut gegründet, 1802 nach Kurfürst Max-Joseph in Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) umbenannt und 1826 nach München verlegt. 88 Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 342, 345, 348, 350, 359, 382. 89 Ebd., II, Nr. 391. 90 Ebd., II, Nr. 403. 91 Ebd., II, Nr. 429. 92 Josef Anton Sambuga – wie er war. Parteylosen Kennern nacherzählt von Johann Michael Sailer, München 1816; Bibliographie Schiel, Sailer (wie Anm. 1), II, Nr. 149. 86

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Harm Klueting Über die Vereinbarkeit von Aufklärung und Katholizismus Standortbestimmung zur katholischen Aufklärung im 18. Jahrhundert

I. „Zwischen Aufklärung und Katholizismus keine Verbindung im positiven Sinn“ Der 2014 verstorbene Karl Otmar von Aretin, von 1964 bis 1988 Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte der Technischen Hochschule Darmstadt und zugleich, von 1968 bis 1994, Direktor der Abteilung für Universalgeschichte des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, war trotz seiner Lehrstuhlbeschreibung in erster Linie Frühneuzeithistoriker und einer der herausragenden deutschen Historiker, von deren Arbeiten seit den 1960er Jahren die wissenschaftssystematische Ausbildung der Disziplin „Geschichte der Frühen Neuzeit“ ausging. Seit seiner 1967 veröffentlichten Göttinger Habilitationsschrift von 1962, Heiliges Römisches Reich 1776–1806,1 war Aretin einer der besten Kenner der deutschen Geschichte des 18. Jahrhunderts seiner Generation – und nicht nur der Geschichte des „Aufklärungsjahrhunderts“ in den Grenzen der heutigen Bundesrepublik Deutschland, sondern im Alten Reich und damit auch in der Österreichischen Monarchie, soweit diese mit den österreichischen und böhmischen Ländern dem Reich angehörte, und in Reichsitalien.2 Aretin war als Angehöriger einer traditionsreichen bayerischen Adelsfamilie katholisch, aber kein „katholischer Historiker“ im Sinne einer Bindung an lehramtliche Aussagen der katholischen Kirche oder Kirchenhistoriker im Sinne eines Vertreters dieser Disziplin in einer katholisch-theologischen Fakultät. Er war eher ein liberaler Katholik im Stil des Zweiten Vatikanischen Konzils, bei dessen Beginn 1962 er ein gerade habilitierter Privatdozent war. Aber er war mit zentralen Fragen der katholischen KirchengeKarl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776–1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, 2 Bde., Wiesbaden 1967 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte 38). 2 Dazu hier nur Karl Otmar Freiherr von Aretin, Reichsitalien (Frühe Neuzeit), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 4 (1990), 648–651. 1

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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schichte der Zeiten, denen seine Aufmerksamkeit als forschender Historiker galt, bestens vertraut und widmete ihnen seine Aufmerksamkeit. Dazu gehörte sein Interesse an Jansenismus, Josephinismus und katholischer Aufklärung, denen er wichtige Aufsätze widmete.3 In dem Aufsatz Katholische Aufklärung im Heiligen Römischen Reich merkte Aretin zur Vereinbarkeit von Aufklärung und Katholizismus an: „Katholizismus und Aufklärung konnten nur unter Ausklammerung wesentlicher Probleme eine Wegstrecke zusammen gehen“.4 Eine Wegstrecke hat einen Anfang und ein Ende. Was Aretin meinte, zeigt seine Verortung des Endes der gemeinsamen Wegstrecke: „Ihr Ende war gekommen, als ihr elitärer Charakter die Oberschichten, den stiftischen Adel, isolierte“.5 Von wessen elitärem Charakter war die Rede? Vom elitären Charakter der Aufklärung? Oder vom elitären Charakter der Oberschichten der Reichskirche? Es ging um den Stiftsadel, der die Domkapitel und die Bischofssitze, diese in Konkurrenz mit den großen reichsfürstlichen Häusern, als Versorgungsinstitute seiner nachgeborenen Söhne okkupiert hatte und bis zur Säkularisation von 1803 okkupiert hielt. Dieses Proprium der Reichskirche stand im Widerspruch zum Konzil von Trient und vor allem zum Bischofsideal des Tridentinums und ebenso zu den Reformvorstellungen der katholischen Aufklärung. Es gehört zu den Aporemata der katholischen Aufklärung, dass Angehörige des Stiftsadels, die davon sozial profitierten, unter ihren prominenten Vertretern waren,6 wie es zu den Charakteristika der katholischen Aufklärung gehört, dass sie in mancher Hinsicht die unerledigt gebliebenen tridentinischen Reformen zu verwirklichen suchte,7 und zu den Propria des Tridentinums, dass dieses Konzil „aufKarl Otmar Freiherr von Aretin, Kirche und Staat in der Aufklärung, in: Georg Denzler (Hg.), Kirche und Staat auf Distanz. Historische und aktuelle Perspektiven, München 1977, 74–86; ders., Die Unionsbewegungen des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß von Katholischer Aufklärung, deutschem Protestantismus und Jansenismus, in: Elisabeth Kov#cs (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus, Wien 1979, 197–208; ders., Der Josephinismus und das Problem des katholischen Aufgeklärten Absolutismus, in: Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II., Wien 1985, Bd. 1, 509–524; ders., Katholische Aufklärung im Heiligen Römischen Reich, in: ders., Das Reich. Friedensgarantie und europäisches Gleichgewicht 1648–1806, Stuttgart 1986, 403–433. 4 Aretin, Katholische Aufklärung (wie Anm. 3), 433. 5 Ebd. 6 So Franz Wilhelm von Spiegel, der seit 1776 Domherr in Hildesheim und seit 1780 Domherr in Münster war (Peter Hersche, Die deutschen Domkapitel im 17. und 18. Jahrhundert, Bern 1984, Bd. 1, 102 und 138), seit 1779 Landdrost im kurkölnischen Herzogtum Westfalen und seit 1786 kurkölnischer Hofkammerpräsident in Bonn sowie Kurator der 1786 gegründeten kurfürstlichen Universität Bonn. Zu ihm Max Braubach (Hg.), Die Lebenschronik des Freiherrn Franz Wilhelm von Spiegel zum Desenberg. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in RheinlandWestfalen, Münster 1952; ders., Franz Wilhelm von Spiegel, in: Westfälische Lebensbilder 4, Münster 1957, 61–83. 7 Aretin, Katholische Aufklärung (wie Anm. 3), 423; Heribert Raab, Die „katholische Ideen3

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geklärter“ – z. B. in seiner Magiefeindlichkeit8 – als die konkrete Kirche des 17. und 18. sowie des 19. Jahrhunderts und das, was man „tridentinischen Katholizismus“ nennt, war – und, sieht man sich in der Welt des Katholischen um, teilweise auch noch im 20. und im bisherigen 21. Jahrhundert war und ist. Aretin schrieb in diesem Aufsatz auch: Die katholische Kirche in Deutschland, die sich seit der Reformation eng an Rom angeschlossen hatte und geistig von Jesuiten geführt wurde, stand dem Phänomen der Aufklärung und aufklärerischer Ideen im Grunde mit derselben Ratlosigkeit gegenüber, wie das päpstliche Rom. Sie verschloß sich diesen Ideen nicht, aber sie fand auch kein Konzept, wie sie diesen Vorstellungen begegnen sollte. Sie distanzierte sich von ,abergläubischen EinrichtungenR, aber sie fand keine Linie, mit der sie die Gläubigen für andere Formen der Frömmigkeit gewinnen konnte.9 […] Es gab zwischen Aufklärung und Katholizismus keine Verbindung im positiven Sinn, sondern sie [die Verbindung] lag in der gemeinsamen Gegnerschaft gegen Rom und dem [!] von dort vertretenen festesfreudigen, prunkvollen Barockkatholizismus, dem auch seine kirchlichen Gegner vorwarfen, er begünstige den Aberglauben.10

Wenn es für Aretin zwischen Aufklärung und Katholizismus „keine Verbindung im positiven Sinn“ gab – die Aufklärung stand hier voran und nicht der Katholizismus –, so bezog er sich dabei einerseits darauf, dass „die Auseinandersetzung mit dem Geist der Aufklärung […] die katholische Kirche insofern vor Probleme [stellte], auf die sie in keiner Weise vorbereitet war, als daß die Aufklärer in ihrer radikalen Form den christlichen Glauben insgesamt und ohne Abstriche in Frage stellten“,11 „während man sich in Rom seit der Mitte des [18.] Jahrhunderts jeder Reform [verschloss] und […] an der Erscheinung der Barockkirche fest[hielt], die gegenüber der Aufklärung kaum zu verteidigen war“, andererseits aber auf die „wichtigste Frage“,12 ob „Aufklärung eine Offenbarungsreligion wie das Christentum überhaupt akzeptieren [kann]“.13 Aretin verneinte diese Frage nicht ausdrücklich, aber sinngemäß und kam zu der Schlussfolgerung: „Man begnügte sich damit, Gemeinsamkeiten festzustellen. Dies war umso leichter möglich, als es zurevolution“ des 18. Jahrhunderts. Der Einbruch der Geschichte in die Kanonistik und die Auswirkungen in Kirche und Reich bis zum Emser Kongreß, in: Harm Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 15), 104–118, hier 104 f. 8 Vor allem mit dem Dectretum de invocatione, veneratione et reliquiis Sanctorum et sacris imaginibus vom 3. Dezember 1563, dazu Harm Klueting, Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne. Kirchengeschichte und Allgemeine Geschichte, Bd. 1, Darmstadt 2007, 269 f. 9 Aretin, Katholische Aufklärung (wie Anm. 3), 405. 10 Ebd., 423. 11 Ebd., 403. 12 Ebd., 423. 13 Ebd.

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nächst genügend Gemeinsamkeiten gab“.14 Diese Gemeinsamkeiten von Aufklärung und Katholizismus lagen in der „gemeinsamen Gegnerschaft gegen Rom und [den] […] Barockkatholizismus“.15 „Rom“ und der „Barockkatholizismus“ waren auch Katholizismus, während der Katholizismus, der mit der Aufklärung für „eine Wegstrecke“ zusammen ging, der der katholischen Aufklärer oder der „katholischen Aufklärung“ war, der für Aretin auf dem „Reformkatholizismus“ aufbaute16 und eine von allem barocken Überschwang gereinigte Kirche [erstrebte]. Er wollte die nur sehr zum Teil durchgeführten Reformen des Trienter Konzils verwirklichen. Er erstrebte ein gereinigtes, streng am Ideal des Evangeliums ausgerichtetes Kirchentum. Im über ganz Europa verbreiteten Jansenismus besaß er einen theologisch geschulten Kern. Da die Päpste den Jansenismus verurteilt hatten, war dieser in seinen Reformvorhaben auf den Staat angewiesen. Hier begegnete er sich mit der Lehre vom allmächtigen und für alles zuständigen modernen Staat der Aufklärer.17

Dazu bemerkte Aretin: Die jansenistischen Ideen, die Reform der Kirche innerhalb der Staaten durchzuführen, kamen diesen Bestrebungen [der katholischen Aufklärer] entgegen. Nur wollte der Staat den Staat reformieren und griff nur insofern in das Gefüge der Kirche ein, als er die Kirche dem Staat eingliedern und die Seelsorge durch eine Reorganisation der Bistümer und Pfarrgrenzen besser organisieren wollte. Als Aufklärer war man gleichzeitig bestrebt, die Kirche von ,AberglaubenR, wie Wallfahrten, Wunderglauben und dergleichen zu reinigen. Damit befand man sich in einer Linie mit den Jansenisten, mit deren theologischem Reformprogramm die Herrscher des katholischen Aufgeklärten Absolutismus, wie Maria Theresia, ihre Söhne Joseph II. und Leopold von Toskana oder Karl III. von Spanien nur teilweise übereinstimmten. Die Vertreter der katholischen Aufklärung sahen aber in der von ihnen im jansenistischen Geist propagierten Unterwerfung der Kirche unter den Staat die Chance, zu einer theologischen Reform zu kommen“.18

Er umriss auch die soziale Trägerschaft der katholischen Aufklärung – „[d]ie Anhängerschaft der katholischen Aufklärung war zahlenmäßig gering, wie überhaupt die Aufklärer eine Minderheit darstellten. Es war ein Teil des Adels, ein Teil des gebildeten katholischen Bürgertums und ein Teil des hohen Klerus“19 – und hielt fest: „Der große Verbündete Roms war das gläubige Volk, das [in den Reformversuchen der katholischen Aufklärung und] in den josephinischen Reformen wie im Febronianismus einen Angriff auf den Papst und die Religion 14 15 16 17 18 19

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 404. Ebd., 408.

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sah“.20 Aretin bestimmte mit seiner immer noch überzeugenden Analyse auch das Verhältnis von katholischer Aufklärung und Reformkatholizismus, von katholischer Aufklärung und Tridentinum und von katholischer Aufklärung und Jansenismus. Eines aber tat er nicht: er behauptete nicht, die katholische Aufklärung sei „nicht katholisch“ gewesen.21 II. „Katholische Aufklärung und Aufklärung im katholischen Deutschland“ Ich habe meinem Beitrag in dem von mir herausgegebenen Tagungsband der Trierer Tagung zur katholischen Aufklärung von 1988 Aretins Satz von der „Wegstrecke“, die „Katholizismus und Aufklärung […] unter Ausklammerung wesentlicher Probleme […] zusammen gehen“22 konnten, als Zitat gekennzeichnet, vorangestellt23 und auch seinen Satz „Es gab zwischen Aufklärung und Katholizismus keine Verbindung im positiven Sinn […]“24 zitiert.25 Dabei habe ich den Satz von der „Wegstrecke“ als „Bündnis auf Zeit“26 verstanden – genau so war es gemeint – und die „katholische Aufklärung […] als Übergangserscheinung eines ,Bündnisses auf ZeitR zwischen gegensätzlichen Elementen – tridentinischem Katholizismus und Aufklärung als einem im Kern auf Säkularisierung angelegten geistig-sozialen Prozeß“27 gedeutet – man beachte den Begriff tridentinischer Katholizismus, der schon gefallen ist – und auch das Wort Aretins von der „Illusion“ übernommen: Die Rückständigkeit Roms und der römischen Theologie, die am Barockkatholizismus mit allen seinen Formen festhielt, bildete die Basis der Illusion, von der alle diese Ismen lebten, daß es eine Form gäbe, in der katholische Aufklärung als Versöhnung des Katholizismus mit der Aufklärung möglich wäre.28

Ebd. Dazu Harm Klueting, „LQAufklärung catholique“ contre „les lumiHres“. Aporemata der Forschung zur katholischen Aufklärung von 1969 bis 2017, in: Jürgen Overhoff, Andreas Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika, Göttingen 2019 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa 25), 23–51, hier 45. 22 Aretin, Katholische Aufklärung (wie Anm. 3), 433. Dasselbe oben bei Anm. 4. 23 Harm Klueting, „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht“ – Zum Thema Katholische Aufklärung – Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung, in: Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 7), 1–35, hier 1. 24 Aretin, Katholische Aufklärung (wie Anm. 3), 423. Dasselbe oben Anm. 10. 25 Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 9. 26 Ebd. 27 Ebd., 8 f. 28 Aretin, Katholische Aufklärung (wie Anm. 3), 431. Dasselbe bei Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 9. 20 21

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Daraus gewann meine Feststellung: „Solange diese Illusion einer Versöhnung oder Verbindung von Katholizismus und Aufklärung bestand, solange gab es katholische Aufklärung“29 ihren Sinn – eine Feststellung, die nicht revidiert werden musste, als ich 2015 die Frage nach „Katholischer Aufklärung nach 1803“ stellte und positiv beantwortete.30 Schon in dem Aufsatz von 1993 war davon die Rede, das „Ende der katholischen Aufklärung“ sei „zeitlich schwer zu fixieren“: Die Säkularisation von 1803 brachte einen tiefen Einschnitt. Doch erreichte die katholische Aufklärung mit ihrem Vorgehen gegen barocke Frömmigkeitsformen erst nach 1803 ihre volle Wirksamkeit und Breitenwirkung […]. Das ,natürlicheR Ende der katholischen Aufklärung, ihr Übergang in den ,normalenR kirchen- und religionskritischen Aufklärungsprozeß, fand nicht oder nur marginal statt, weil der ,SonderwegR der katholischen Aufklärung in Deutschland durch das Ende der Reichskirche abgelenkt wurde, [durch] die Säkularisation, mit der sich gleichsam die ,GeschäftsgrundlageR der katholischen Kirche in Deutschland fundamental änderte und ein wesentlicher ,Stein des AnstoßesR der katholischen Aufklärung, die weltliche Herrschaft der katholischen Kirche und ihre Beherrschung durch den Adel, verschwand.31

Mit „Sonderweg“ knüpfte ich an Klaus Scholders Unterscheidung der „Aufklärung gegen Theologie und Kirche“ in Frankreich und der „Aufklärung mit und durch Theologie und Kirche in Deutschland32 – Scholder dachte an die protestantische theologische Aufklärung –, und vor allem an Horst Möllers Herausstellung der „religionsphilosophische[n] Besonderheit der deutschen im Vergleich zur religionskritisch radikaleren französischen Aufklärung“33 an. Darüber hinaus schloss ich mich der Geschichte der abendländischen Aufklärung von Fritz Valjavec34 von 196135 an, der schon Jahre vor Bernard Plongerons Aufsatz von

Ebd. Harm Klueting, Katholische Aufklärung nach 1803? Theologie und Kirche unter dem Eindruck des Umbruchs, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 34 (2015), 23–34. 31 Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 34 f. 32 Klaus Scholder, Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland, in: Franklin Kopitzsch (Hg.), Aufklärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland, München 1976 (Nymphenburger Texte zur Wissenschaft, Modelluniversität 24), 294–318, hier 295. Der Beitrag erschien zuerst in: Festschrift Heinz Rückert, Berlin 1966, 460 – 486. Hvhg. im Original. 33 Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986 (edition suhrkamp, NF 269), 30. 34 Zu ihm jetzt Norbert Spannenberger, Die Josephinismusinterpretation von Friedrich (Fritz) Valjavec, in: Franz Leander Fillafer, Thomas Wallnig (Hg.), Josephinismus zwischen den Regimen. Eduard Winter, Fritz Valjavec und die zentraleuropäischen Historiographien im 20. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2016 (Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 17), 141–155; Petra Svatek, Fritz Valjavec – Aufklärungsbegriff und Südostforschung, in: ebd., 156–170. 35 Fritz Valjavec, Geschichte der abendländischen Aufklärung, Wien, München 1961. 29 30

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196936 den zuvor zwar nicht unbekannten, aber kaum verwandten Begriff „katholische Aufklärung“ – Sebastian Merkle37 gebrauchte ihn 1908 bzw. 1909 nur ein Mal38 – benutzte und Wegweisendes dazu zu sagen hatte. Valjavec nannte für den „Einfluß der Aufklärung auf die Katholiken“39 die Bollandisten und die Mauriner, Ludovico Antonio Muratori und die Brüder Bernard und Hieronymus Pez40 und die katholische Rezeption der Philosophie Christian Wolffs,41 um dann festzustellen: Aber nicht derartige Neuerungen machten das Wesen der katholischen Aufklärung aus. Entscheidend war etwas anderes: das Bemühen einer dritten Richtung, die überlieferten Glaubensformen von Mißbräuchen und Entstellungen zu ,reinigenR und den Katholizismus mit den geistigen, politischen und gesellschaftlichen Forderungen der Zeit in Einklang zu bringen.42

Innerhalb dieser dritten Richtung unterschied er „zwei Gruppen“: Die eine war rechten Glaubens und erstrebte eine Angleichung an die veränderten Zeitumstände vorwiegend in äußerlichen und kulturellen Dingen. Die andere […43] erschloß sich einem allgemeinen Theismus oder Deismus. Zur kirchlich korrekten Gruppe gehörten in Deutschland Männer wie Johann Michael Sailer […].44

Der anderen Gruppe rechnete er u. a. Ignaz Heinrich von Wessenberg und den letzten Kurfürst-Erzbischof von Mainz, Karl Theodor von Dalberg, zu,45 um zu bemerken: Dabei kann man sagen, daß der größere Teil der katholischen Aufklärer, soweit sie dem geistlichen Stande angehörten, auf die Glaubenssätze achteten oder dies zumindest anBernard Plongeron, Recherches sur „lQAufklärung catholique“ en Europe occidentale (1770–1830), in: Revue dQhistoire moderne et contemporaine 16 (1969), 555–605. 37 Harm Klueting, Catholic Enlightenment – Self-Secularization, Strategy Of Defense, or Aggiornamento? Some Reflections One Hundred Years After Sebastian Merkle. New York Lecture in Remembrance of a Change in Understanding, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 121 (2010), 1–10. 38 Sebastian Merkle, Die katholische Beurteilung des Aufklärungszeitalters, Berlin 1909, wieder in: ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze. Anlässlich seines 100. Geburtstags hg. von Theobald Freudenberger, Würzburg 1965, 361–413, hier 364. 39 Valjavec, Geschichte (wie Anm. 35), 174. 40 Zu diesen jetzt Thomas Wallnig, Gasthaus und Gelehrsamkeit. Studien zu Herkunft und Bildungsweg von Bernhard Pez OSB vor 1709, Wien, München 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 48). 41 Valjavec, Geschichte (wie Anm. 35), 174. Zur Wolff-Rezeption Bruno Bianco, Wolffianismus und katholische Aufklärung. Storchenaus Lehre vom Menschen, in: Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 7), 67–103. 42 Valjavec, Geschichte (wie Anm. 35), 175. 43 Valjavec spricht hier von „Richtung“ statt systematisch einwandfrei von „Gruppe“. 44 Ebd. 45 Ebd., 176. 36

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strebten. […] trotz vieler Berührungspunkte sind von dieser [Gruppe46], die sich der kirchlichen Lehre weiterhin unterordnete, jene katholischen Aufklärer streng zu unterscheiden, bei denen ein allgemeiner Theismus oder Deismus überwog.47

Ich folgte und folge Valjavec nicht darin, beide Gruppen als „katholische Aufklärer“ zu bezeichnen, sondern reserviere diese Bezeichnung für die erste Gruppe, diejenigen, die „eine Angleichung an die veränderten Zustände“ erstrebten, wie ich mich ihm auch nicht darin anschloss und anschließe, Franz Wilhelm von Spiegel der zweiten Gruppe zuzurechen;48 Spiegels Kritik am Mendikantentum stellte ihn nicht außerhalb der Glaubenslehre der katholischen Kirche und war weithin Gemeingut der katholischen Aufklärung.49 Im Übrigen schloss ich mich Valjavec an und unterschied in Anlehnung an ihn und unter Verwendung politologischer Termini für den katholischen Bereich einen ,systemsprengendenR und einen ,systemimmanentenR – ja der Intention nach oft ,systemstabilisierendenR Flügel der Aufklärung, von dem nur letzterer mit dem Begriff ,katholische AufklärungR zu belegen ist, während ersterer der ,Aufklärung im katholischen DeutschlandQ zugerechnet werden kann.50

Deckte sich der systemimmanente Flügel mit Valjavecs erster Gruppe – jene, die (lediglich) „eine Angleichung an die veränderten Zustände“ erstrebten –, so trug die Kategorie „Aufklärung im katholischen Deutschland“ der Tatsache Rechnung, dass es im katholischen Deutschland auch systemsprengende Aufklärungsdiskurse gab, deren Träger die Ziele der katholischen Aufklärer nicht teilten. Dabei war der Begriff „katholisches Deutschland“ – wie unter Historikern geläufig51 – geographisch gemeint und bezog sich auf die katholischen geistlichen und weltlichen Territorien im konfessionell zerklüfteten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation des 18. Jahrhunderts im Gegensatz zum protestantischen Deutschland und den protestantischen Territorien. Das Begriffspaar „Katholische Aufklä-

Auch hier sagt Valjavec „Richtung“ statt „Gruppe“. Ebd., 177 f. 48 Valjavec, Geschichte (wie Anm. 35), 177. 49 Auch stimme ich Rudolfine von Oer nicht zu, die die Frage bejahte, ob „Reformen, wie Spiegel sie vorantrieb, hätten Gedanken, wie er sie aussprach und zum Druck gab, nicht ebenso aus protestantischem Hintergrund kommen und von einem Mann evangelischen Glaubens geäußert werden können?“, Rudolfine Freiin von Oer, Franz Wilhelm von Spiegel zum Desenberg und die Aufklärung in den Territorien des Kurfürsten von Köln, in: Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 7), 335–345, hier 345. Dazu Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 7 f. 50 Ebd., 6. 51 Max Braubach, Die kirchliche Aufklärung im katholischen Deutschland im Spiegel des „Journal von und für Deutschland“ 1784–1792, in: Historisches Jahrbuch 54 (1934), 1–63, 178–220. 46

47

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rung – Aufklärung im katholischen Deutschland“ war Ergebnis intensiver Gespräche zwischen dem Trierer Philosophen Norbert Hinske52 und mir.53 Aber was waren die Ziele der katholische Aufklärer in meiner Engführung dieses Begriffs? Dazu blieb der Beitrag von 1993 ziemlich unpräzise – In Deutschland […] behielt auch und gerade im katholischen Bereich die Aufklärung ihren milden Zug gegenüber Kirche und Religion. Sie blieb weithin von Theologen und Kirchenmännern getragene innerkirchliche Aufklärung. Kirchenkritik trat dabei oft nur in Gestalt praktischer Reformvorschläge hervor54 –,

während ein Lexikonartikel von 2005 mehr Auskunft gab: Katholische Aufklärung ist nicht gleichzusetzen mit Aufklärung in katholischen Ländern wie Italien, Spanien oder Frankreich oder mit ,Aufklärung im katholischen DeutschlandR. Katholische Aufklärung war Begegnung von katholischer Theologie und katholischer Frömmigkeit mit der Aufklärung und deren (begrenzte) Aneignung durch katholische Theologie, Teile der kirchlichen Hierarchie und katholischen Glaubenspraxis und somit Aufklärung im Binnenraum der katholischen Kirche. […] Bedingungen und Auswirkungen der katholischen Aufklärung waren in einer konfessionell gespaltenen Kultur (Deutschland, Schweiz) andere als in nahezu homogen katholischen Ländern. Hier konnte – deutlich vor allem in Frankreich – aufklärerische Kritik an Kirche und Religion zu radikaler Ablehnung kirchlicher und dogmatisch gebundener Religiosität, ja des Christentums überhaupt, führen. […] Im katholischen Deutschland (im 18. Jahrhundert noch mit Österreich) behielt die Aufklärung im kirchlichen Zusammenhang ihren milden Zug gegenüber Kirche und Religion. Kirchenkritik trat oft nur in Gestalt praktischer Reformvorschläge hervor. […] Die katholische Aufklärung war (1.) innere Angelegenheit der katholischen Theologie und Kanonistik. Hier ging es u. a. um Zölibat, Ordenswesen und barocke Frömmigkeitsformen sowie Stellung des Papstes und Jurisdiktionsprimat, aber auch um göttliche Inspiration der Heiligen Schrift, Unfehlbarkeit usw., was bis zur Aufgabe des Formalsupranaturalismus der Heiligen Schrift zugunsten von Moralismus gehen konnte. Hinzu kamen liturgische Reformen, wie sie bei Muratori (,Liturgia romana vetusR) angelegt waren und vor allem von Veit Anton Winter (1750 – 1814) vertreten wurden, der Latein als Liturgiesprache aufgab.55 […] Die katholische Aufklärung trat (2.) auch im Episkopalismus hervor, der seit 1763 die Gestalt des Febronianismus annahm. Zu den Erscheinungsformen der katholischen Aufklärung gehörten (3.) die staatskirchlichen Bestrebungen (Staatskirchentum), die an sich kein Proprium der Aufklärung waren […]. Der Eingriff des Staatskirchentums in Formen katholischer Frömmigkeit (Feiertagsreduktion, Verbot oder Einschränkung von Prozessionen, Wallfahrten und Heiligenkult) und in den 52

28.

Zum Anteil von Norbert Hinske siehe Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21),

Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 6, Anm. 22. Ebd., 6. 55 Zu den liturgischen Fragen u. a. Harm Klueting, Vorwehen einer neuen Zeit. Liturgische Reformvorstellungen in der Katholischen Aufklärung und im Josephinismus, in: Stefan Heid (Hg.), Operation am lebenden Objekt. Roms Liturgiereformen von Trient bis zum Vaticanum II, Berlin 2014, 167–181. 53 54

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Besitz der ,Toten HandR war aber nur möglich, weil dergleichen auch jansenistischen oder reformkatholischen Vorstellungen entgegenstand. […] In der Ablehnung der staatlich-kirchlichen Doppelstellung der Bischöfe und ihrer Beschränkung auf geistliche Aufgaben traf sich das Staatskirchentum mit Forderungen der katholischen Aufklärung. Dasselbe gilt für das Ordensreformmandat, das in Bayern Ordensgelübde vor Vollendung des 21. Lebensjahres verbot, Klosterkerker beseitigte und die Disziplinargewalt der Klostervorsteher einschränkte, für die Reduzierung von Prozessionen, Wallfahrten und Feiertagen […]. Die katholische Aufklärung trat (4.) auch als Kritik am Mönchtum und an den geistlichen Staaten hervor […] [und] stand (5.) hinter praktischen Reformen in geistlichen Staaten […].56

Damit war noch nicht gesagt, warum die katholischen Aufklärer diese Reformen, teilweise in Kooperation mit dem Staat, wollten. Zeitgenössische Stimmen dazu sollen am Ende dieses Beitrags zitiert und erörtert werden. Hier bleibt festzuhalten, dass es den „Diözesan- und Weihbischöfen, Domkapitularen, Theologieprofessoren, Welt- und Ordenspriestern“, in denen wir Vertreter der katholischen Aufklärung sehen können, „um Verteidigung des katholischen Glaubens gegen die Kirchenkritik der radikalen Aufklärung“ ging, sozusagen um „lQAufklärung catholique contre les lumiHres“,57 oder: Katholische Aufklärung war der von Theologen und Kanonisten, darunter viele Ordensleute, getragene Versuch der Verteidigung von Kirche und Glauben gegen die kirchenkritische und kirchenfeindliche Aufklärung mit den Mitteln der Aufklärung. Alles andere war Aufklärung in katholischen Ländern, Aufklärung unter Katholiken, Aufklärung im Katholizismus, aber nicht katholische Aufklärung.58

III. „Katholische Aufklärung ist integraler Bestandteil der Aufklärung“ Der Trierer Kirchenhistoriker Bernhard Schneider skizzierte die katholische Aufklärung 199859 im Einklang mit mir als Versuch, die katholische Kirche mit der Moderne zu verbinden, vergleichbar mit dem Aggiornamento Papst Johannes XXIII. von 1961, das am Anfang des Zweiten Vatikanischen Konzils stand, mit dem Ziel, Kirche und Glauben gegen die radikale Aufklärung zu verteidigen.60

Schneider plädiert dafür, Harm Klueting, Aufklärung, katholische, in: Helmut Reinalter (Hg.), Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher – Denker – Sachbegriffe, Wien, Köln, Weimar 2005, 127–131, Zitat 127–129. 57 Alle Zitate bei Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21), 46. 58 Klueting, Katholische Aufklärung nach 1803? (wie Anm. 30), 23. 59 Bernhard Schneider, „Katholische Aufklärung“: Zum Werden und Wert eines Forschungsbegriffs, in: Revue dQhistoire eccl8siastique 93 (1998), 354–397. 60 Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21), 47. 56

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am Begriff ,katholische AufklärungR als einem Begriff festzuhalten, der eine Realität beschreiben will, und zwar die Realität einer uneinheitlichen, offenen Bewegung, die ein Projekt der ,Verheutigung des GlaubensR unternommen hat. Dieser Begriff beschreibt die vielen Entwurfsversuche für einen ,heutigen Katholizismus,R die die Wirklichkeit im Lichte des (vernünftigen) Glaubens und den Glauben im Lichte des gewandelten Verhältnisses zur Wirklichkeit wahrnehmen und konkret ausgestalten wollten. Ziel war eine erneuerte Kirche in einer weiterhin katholisch oder wenigstens christlich durchwebten Gesellschaft“.61

Schneider, der, wie ich, den Begriff „katholische Aufklärung“ dem des „Reformkatholizismus“ vorzieht – u. a. wegen der „Zugehörigkeit der katholischen Reformbemühungen zum allgemeinen Prozeß der Aufklärung“62 – umreißt das Verheutigungs-Ziel der katholischen Aufklärung und deren defensiven und apologetischen Charakter – er spricht von „Verteidigung“ und von „apologetische[r] Funktion“ – noch weiter: Diese Reformbemühungen waren wesentlich von der Absicht getragen, gesprächsfähig zu bleiben in einer sich wissenschaftlich und wirtschaftlich verwandelnden Gegenwart. Was viele katholische Reformer umtrieb, war die Sorge, der katholische Glaube könne ohne eine Reform, die zu den Quellen zurückgeht, hinterherhinken, unzeitgemäß werden und sich so gerade den Kreisen entfremden, die an der Spitze der gesellschaftlichen Entwicklung stehen. Sie wollten dementsprechend den katholischen Glauben gerade vor dem Gespött und der Verachtung derjenigen bewahren, die im Blick auf seinen äußeren Zustand diesen zugleich auch in seinem inneren Gehalt als überholt und rückständig abzulehnen drohten. Nur in dieser Perspektive erschließt sich auch die häufig zu wenig gewürdigte apologetische Funktion der Reformprogrammatik. Der Appell an den ,vernünftigen GlaubenR und an eine klare, reflektierte und auf den wesentlichen Inhalt zentrierte Glaubensverkündigung stand regelmäßig im Dienst der Verteidigung des Glaubens gegenüber Indifferentismus und Unglaube […].63

Hier liegt Schneider auf derselben Linie wie ich. Wo ist der Dissens, falls es ihn gibt? Schneider fasst „katholisches Deutschland“ nicht geographisch im Sinne der katholischen Territorien des Reiches und „Aufklärung im katholischen Deutschland“ nicht zur Unterscheidung von der Aufklärung im protestantischen Deutschland und nicht als Bezeichnung derjenigen Aufklärungsdiskurse in den katholischen Territorien auf, die die von ihm in dem vorstehenden Zitat herausgestellten defensiven und apologetischen Zielsetzungen nicht teilten, sondern im Sinne eines Eindringens von außen, ja eines unerwünschten oder negativ zu bewertenden Eindringens: Unbestreitbar ist der Begriff ,Aufklärung im katholischen DeutschlandR in seinem historiographischen Gebrauch überwiegend durch die Tendenz bestimmt, die Aufklä61 62 63

Schneider, „Katholische Aufklärung“ (wie Anm. 59), 384. Ebd., 385. Ebd.

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rung als etwas von außen Eingedrungenes zu kennzeichnen, das dem Wesen des katholischen Glaubens fremd bleiben muß und letztlich mit ihm unverträglich ist.64

Schneider missversteht meine Wiedergabe der aretinschen „Wegstrecke“, die „Katholizismus und Aufklärung […] unter Ausklammerung wesentlicher Probleme […] zusammen gehen“65 konnten, als „Übergangserscheinung eines ,Bündnisses auf ZeitR zwischen gegensätzlichen Elementen“66 und das von Aretin übernommene Wort von der „Illusion“67 in dem Sinne, als würde ich „die ,Katholische AufklärungR als eine illusionäre Strömung ansehen“68 und als „katholische Illusion“69 abtun.70 Mit seiner Bemerkung, als ,Katholische AufklärungR sei sie [bei Klueting] aber ein ,SonderwegR der Aufklärung gewesen und geblieben, weil sie sich in der begrenzten Zeit ihres Bestehens (bis zur Säkularisation von 1803) nicht oder nur am Rande in den ,normalenR kirchen- und religionskritischen Aufklärungsprozeß integriert habe,71

gibt er meine Aussage über „Das ,natürlicheR Ende der katholischen Aufklärung“72 nicht korrekt wieder und verfehlt dadurch deren Sinn und auch die hinter meiner Feststellung stehende Semantik von „Sonderweg“. Schneider sieht keinen Gegensatz zwischen Aufklärung und Katholizismus – „[e]ine so verstandene ,Katholische AufklärungR ist integraler Bestandteil der Aufklärung. Aufklärung und Katholizismus erscheinen nicht länger als Gegensätze“73 – und betrachtet die katholische Aufklärung als Teil der katholischen Kirche und damit als katholisch: „Damit ist die ,Katholische AufklärungR auch in die Geschichte der katholischen Kirche integriert“.74 Nur sahen das Aretin und ich nie anders: die katholische Aufklärung ist katholisch, nicht häretisch.

Ebd., 381. Oben bei Anm. 4. 66 Oben bei Anm. 27. 67 Oben bei Anm. 28 und 29. 68 Schneider, „Katholische Aufklärung“ (wie Anm. 59), 382. 69 Ebd., 383. 70 Dazu zitiert er in seinen Anm. 137 und 138 außer Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 9 auch Harm Klueting, Deutschland und der Josephinismus. Wirkungen und Ausstrahlungen der theresianisch-josephinischen Reformen auf die außerösterreichischen deutschen Reichsterritorien, in: Helmut Reinalter (Hg.), Der Josephinismus. Bedeutung, Einflüsse und Wirkungen, Frankfurt am Main u. a. 1993 (Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle „Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1770–1850“ 9), 63–102, hier 66 f., wo nicht einmal das Wort „Illusion“ fällt. 71 Schneider, „Katholische Aufklärung“ (wie Anm. 59), 383 mit Verweis auf Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 35. 72 Oben bei Anm. 31. 73 Schneider, „Katholische Aufklärung“ (wie Anm. 59), 387. 74 Ebd., 390. 64 65

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Die Differenz liegt im Aufklärungsbegriff. Schneider stellt die „pluriforme Dimension der europäischen Aufklärung(en)“75 heraus, während Aretin von Aufklärung „in ihrer radikalen Form“,76 Möller von der „religionskritisch radikaleren französischen Aufklärung“77 und ich von „aufklärerische[r] Kritik an Kirche und Religion […] [und] radikaler Ablehnung kirchlicher und dogmatisch gebundener Religiosität“,78 von der „Kirchenkritik der radikalen Aufklärung“79 oder von „radikale[r] Aufklärung“80 sprachen bzw. sprechen, die auch Schneider meint, wenn er von „Verteidigung des Glaubens gegenüber Indifferentismus und Unglaube“81 spricht. Macht man sich das klar, so ist der Konsens wiederhergestellt, zumal auch ich, wie Schneider selbst hervorhebt,82 die katholische Aufklärung als Teil der pluriformen „europäischen Aufklärung(en)“83 sehe: Diese von der Aufklärung beeinflußte und selbst als Teil der vielschichtigen Aufklärungsbewegung zu bewertende, aber systemimmanente Reformbewegung innerhalb des Katholizismus ist das, was man für Deutschland als ,Katholische AufklärungR zu bezeichnen hat, auch wenn radikalere Tendenzen auch im katholischen Bereich [= im katholischen Deutschland im geographischen Sinne] sichtbar werden, die aber nur in geringem Umfang zum Tragen kamen, bevor die Entwicklung mit der Französischen Revolution und mit der Säkularisation von 1803 darüber hinweggingen.84

Dieser Konsens wird verstärkt, wenn Schneider die katholische Aufklärung mit der „breiteren Aufklärung“ in Beziehung setzt: Einend mit der breiteren Aufklärung wirkten fundamentale Gemeinsamkeiten: eine partiell gemeinsame gesellschaftliche Basis (der überwiegend ,bürgerliche CharakterR auch der ,Katholischen AufklärungR), eine gemeinsame Methode (Kritik; Wissenschaft; Bildung) und Sprache (der Übergang zur Muttersprache; die aufklärerische Metaphorik und Symbolik) sowie die teilweise grenz- und schichtübergreifenden Kommunikationsstrukturen (die inflationäre Korrespondenz; Zeitschriftenboom und Lesegesellschaften).85

Schneiders „partiell gemeinsame […] Basis“ berührt sich mit der „gemeinsamen Gegnerschaft“ von Aufklärung und Katholizismus bei Aretin.86

75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86

Ebd., 388. Oben bei Anm. 11. Oben bei Anm. 33. Oben bei Anm. 56. Oben bei Anm. 57. Oben bei Anm. 60. Oben bei Anm. 63. Schneider, „Katholische Aufklärung“ (wie Anm. 59), 387, Anm. 155. Ebd., 388. Klueting, Deutschland (wie Anm. 70), 67. Schneider, „Katholische Aufklärung“ (wie Anm. 59), 386 f. Oben bei Anm. 15.

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IV. „Catholic Enlightenment was truly Catholic“ Keinen Konsens gibt es mit dem amerikanischen Historiker Michael Printy, der den Anschein erweckt, ich würde die katholische Aufklärung als „nicht katholisch“, sondern „häretisch“ bezeichnen, und von Christian Handschuh in seiner Tübinger Dissertation87 so zitiert wird: Charakteristisch für die Katholische Aufklärung […] war bislang eben gerade nicht, dass sie lediglich ,Bündnis auf Zeit zwischen gegensätzlichen ElementenR88 war, sondern ein Versuch, ,eine RealitätR zu beschreiben, ,und zwar die Realität einer uneinheitlichen, offenen BewegungR, deren Absicht eine zeitgenössische ,Verheutigung des GlaubensR darstellte89 […].90

Abgesehen davon, dass Handschuh neben der Urheberschaft Aretins an der Deutung „Bündnis auf Zeit“ – Aretins „Wegstrecke“ – übersieht, dass ich 1993 „Bündnis auf Zeit“ auf das temporäre („Wegstrecke“) Zusammengehen von Katholizismus und Aufklärung und nicht auf „katholische Aufklärung“ bezogen und betont tridentinischen Katholizismus und Aufklärung als „gegensätzliche Elemente“91 bezeichnet habe,92 fügt er hier das Printy-Zitat an: „Hierzu aber auch das deutliche Verdikt von Printy [folgt das nachstehende Printy-Zitat]“.93 Printy bemerkte 2010: I should note that I completely disagree with his [KluetingQs] assertion that reform Catholicism was ,not CatholicR and ,hereticalR, and do not consider it the role of the historian to make such claims.94

Christian Handschuh, Die wahre Aufklärung durch Jesum Christum. Religiöse Welt- und Gegenwartskonstruktion in der Katholischen Spätaufklärung, Stuttgart 2014 (Contubernum. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 81). 88 Dieses Zitat aus Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 8 f. oben bei Anm. 27. Handschuh nennt in seiner Anm. 52 zwei weitere Belegstellen, beide ohne Seitenangaben. 89 Zitat aus Schneider, „Katholische Aufklärung“ (wie Anm. 59), 384 oben bei Anm. 61. 90 Handschuh, Die wahre Aufklärung (wie Anm. 87), 219. 91 Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 8 f. Dasselbe oben bei Anm. 27. 92 Er übersieht auch meine 2010 publizierte Würdigung Sebastian Merkles, Klueting, Catholic Enlightenment (wie Anm. 37). Noch nicht kennen konnte er Klueting, Vorwehen (wie Anm. 55). Darin hätte er die Bewertung finden können: „Die Katholische Aufklärung war […] ,AggiornamentoR im 18. Jahrhundert“, ebd., 181. Siehe auch Klueting, Rezension zu Handschuh, Die wahre Aufklärung durch Jesum Christum, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 81 (2017), 368–370. 93 Handschuh, Die wahre Aufklärung (wie Anm. 87), 219, Anm. 52. 94 Michael Printy, Catholic Enlightenment and Reform Catholicism in the Holy Roman Empire, in: Ulrich L. Lehner, M. P. (Hg.), A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe, Leiden, Boston 2010 (BrillQs Companions to the Christian Tradition 20), 165–213, hier 166, Anm. 4. 87

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Printy bezog sich auf meinen Beitrag über die katholische Aufklärung in der Österreichischen Monarchie von 2010,95 verschwieg die Fundstelle für die von ihm monierte Aussage, meinte aber wohl die Passage: I do not use the term ,Reform Catholicism.R I speak about ,Enlightenment in a Catholic countryR contrary to ,Catholic EnlightenmentR. Catholic Enlightenment was anti-baroque and reform-orientated. Catholic Enlightenment sometimes overshot the mark but it was consistently Catholic. Therefore the Catholic Enlightenment was truly Catholic. Followers of radical anticlericalism and deniers of the dogmas of the church were not Catholic. They could not overshoot this mark because they had others. Therefore what some scholars call ,Reform CatholicismR was not Catholic. It was heretical.96

Die Aussage ist eindeutig: die katholische Aufklärung war wahrhaft („truly“) katholisch. Das, was über das, was einige Historiker („some scholars“) „Reform Catholicism“ nennen, gesagt wird, bezog sich, korrekt zitiert, auf Arbeiten von Carlo Capra,97 der im Zusammenhang mit Kaunitzens Staatskirchenpolitik von „introducing an anticlerical streak of the Enlightenment which was alien to the Austrian tradition“98 spricht, und vor allem von Ernst Wangermann.99 Der britisch sozialisierte österreichische Aufklärungsforscher schrieb: Once again, the closeness of the Reform Catholics to the main assumptions of the Enlightenment is evident. […] This closeness to the mainstream of the Enlightenment facilitated in some cases the transition from Reform Catholicism to the vaguer, more secular ,natural religionR, which excluded systematically anything not considered susceptible to rational comprehension. During the 1780s there were persistent reports and denunciations that students passing through the reformed theological schools were drifting into irreligion. In nearly every case which was actually investigated, it transpired that some of the students could not reconcile the teaching of the benevolent God with the doctrine of hereditary sin. There is no doubt that in the teaching of the Reform Catholics this doctrine was allowed to evaporate in the warm sunshine of their Enlightenment optimism. The role of grace was reduced to that of rendering necessary aid to men in their efforts to restrain their selfish inclinations and passions.100

Printy und Handschuh haben nicht richtig hingeschaut und vorschnell geurteilt. Harm Klueting, The Catholic Enlightenment in Austria or the Habsburg Lands, in: Lehner (Hg.), A Companion (wie Anm. 94), 127–164. 96 Ebd., 143. 97 Carlo Capra, Kaunitz and Austrian Lombardy, in: Grete Klingenstein, Franz A. J. Szabo (Hg.), Staatskanzler Wenzel Anton von Kaunitz-Rietberg 1711–1794. Neue Perspektiven zu Politik und Kultur der europäischen Aufklärung, Graz u. a. 1996, 245–260. 98 Ebd., 252. 99 Ernst Wangermann, Reform Catholicism and political Radicalism in the Austrian Enlightenment, in: Roy Porter, Mikul#sˇ Teich (Hg.), The Enlightenment in national context, Cambridge, UK 1981, 127–140. 100 Ebd., 133. 95

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V. „Aufgeklärte Vernunft und katholischer Glaube müssen sich nicht widersprechen“ Bei Hubert Wolf kommt man zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Der katholische Priester und Professor für Kirchengeschichte der Universität Münster legte 2019 ein Buch vor, in dessen Titel von Katholizismus und Aufklärung die Rede ist.101 Es handelt es sich um eine Sammlung von elf bereits publizierten Einzelaufsätzen zu unterschiedlichsten Themen, u. a. zu den Zentrumspolitikern Ludwig Windhorst und Matthias Erzberger, aus den Jahren 2005 bis 2017. Einschlägig ist der „Prolog: Unmöglich? Katholische Aufklärung“, der auf einen Vortrag von 2014 zurückgeht, aber auch in der Ausgabe von 2019 keine nach 2010 erschienene Literatur102 kennt.103 Wolf stützt sich nur auf Schneiders Aufsatz104 von 1998.105 Er referiert die Tradition der Ablehnung der katholischen Aufklärung im Katholizismus des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, erwähnt aber nur Lexikonartikel von Heinrich Brück von 1882106 und Ludwig Bauer von 1930107 sowie Joseph Kleutgen108 mit seinem Werk von 1853,109 um dann auf das „Rütteln am Tabu“110 durch Merkle 1908 (1909)111 und auf dessen Rezeption bis zum II. Vatikanum112 einzugehen: ,Katholische AufklärungR schien sich seitdem als historische Realität wie als Forschungsbegriff innerhalb der katholischen Kirche und Wissenschaft etabliert zu haben. Ein Großteil der katholischen Historiographie hat diese differenzierte und im WesentHubert Wolf, Verdammtes Licht. Der Katholizismus und die Aufklärung, München 2019. Jüngster Titel ist Hubert Wolf, Bernward Schmidt (Hg.), Benedikt XIV. und die Reform des Buchzensurverfahrens. Zur Geschichte und Rezeption von „Sollicita ac provida“, Paderborn 2010 (Römische Inquisition und Indexkongregation 13). 103 Hubert Wolf, Prolog: Unmöglich? Katholische Aufklärung, in: ebd., 17–34 und 239–243 (Anmerkungen), zuerst erschienen unter dem Titel „Katholische Aufklärung“?, in: Albrecht Beutel, Martha Nooke (Hg.), Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie [30.3.–2. 4. 2014 in Münster], Tübingen 2016 (Colloquia historica et theologica 2), 81–95. 104 Oben Anm. 59. 105 Wolf, Prolog (wie Anm. 103), S. 241, Anm. 38: „Wichtige Anregungen verdanke ich Schneider, Katholische Aufklärung, 383–395“. 106 Heinrich Brück, Art. Aufklärung, wahre und falsche, in: Wetzer und WelteQs Kirchenlexikon 1 (Freiburg 21882), 1605–1615. 107 Ludwig Bauer, Art. Aufklärung, in: Lexikon für Theologie und Kirche 1 (Freiburg 11930), 794–797. 108 Joseph Kleutgen, Theologie der Vorzeit 1, Münster 1853. 109 Wolf, Prolog (wie Anm. 103), 17–20. Andere Schriften Brücks von 1865 und 1874 und Johann Baptist Sägmüller (1906) bei Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21), 33 f. 110 Wolf, Prolog (wie Anm. 103), 20. 111 Oben Anm. 38. 112 Wolf, Prolog (wie Anm. 103), 20–22. 101 102

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lichen positive Beurteilung der ,katholischen AufklärungR aufgenommen. Überdies fungierte hier das Zweite Vatikanische Konzil als Katalysator. Georg Schwaiger konnte 1967 sogar von einer endgültigen Rehabilitation des Begriffs sprechen, nachdem das Konzil ,die Anliegen der katholischen Aufklärung weithin aufgegriffenR113 habe.114

Dieses Bild sieht Wolf durch Aretin, Peter Hersche115 und vor allem durch mich gestört. In Unkenntnis von Valjavec,116 in völligem Missverstehen des Versuchs der Verhältnisbestimmung von Aufklärung und Theologie bzw. Kirche bei Scholder,117 mit mir statt ihren Urhebern zugeschriebenen Zitaten und mit phantasievollen Ergänzungen meiner Aussagen schreibt er: Im Anschluss an den evangelischen Kirchenhistoriker Klaus Scholder unterschied Klueting zwischen einer systemsprengenden Aufklärung ,gegen Theologie und KircheR und einer systemimmanenten ,Aufklärung mit und durch Theologie und Kirche. Die erstere verstand Klueting als ,Aufklärung im katholischen DeutschlandR, die dem Wesen des Katholizismus fremd geblieben und feindlich von außen in die katholische Kirche eingedrungen sei, um sie zu zerstören.118 Die zweite dagegen definierte er als ,katholische AufklärungR.119

Wolf gibt vor, aus meinem Aufsatz von 1993 zu zitieren, und nennt auch eine Seitenzahl.120 Doch steht dort nichts dergleichen. Das wirkt ebenso wie die folgende, in falscher Zuordnung der Formulierungen „Übergangserscheinung“ und „Bündnis auf Zeit“121 zu Papier gebrachte Bemerkung: Ein grundsätzliches ,HeimatrechtR122 innerhalb der katholischen Kirche gestand Klueting der katholischen Aufklärung jedoch nicht zu. Er charakterisierte sie vielmehr als ,ÜbergangserscheinungR und Bündnis auf Zeit zwischen zwei gegensätzlichen Elementen: dem tridentinischen Katholizismus und der Aufklärung als ,im Kern auf Säkularisierung angelegten geistig-sozialen ProzessR. Katholische Aufklärung war für ihn nichts anderes als eine dem Wunschdenken mancher kirchlicher Kreise entsprechende Selbsttäuschung.123

Georg Schwaiger, Die Aufklärung in katholischer Sicht, in: Concilium. Internationale Zeitschrift für Theologie 3 (1967), 559–566, hier 566. 114 Wolf, Prolog (wie Anm. 103), 22. 115 Peter Hersche, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte Österreichs 7). 116 Oben bei Anm. 42, 44 und 47. 117 Oben bei Anm. 32. 118 Wolf, Prolog (wie Anm. 103), 23 zitiert an dieser Stelle (Anm. 33 auf 241) Klueting, Genius der Zeit (wie Anm. 23), 6. 119 Wolf, Prolog (wie Anm. 103), 23. 120 Oben Anm. 118. 121 Oben bei Anm. 91. 122 Das Wort „Heimatrecht“ übernimmt Wolf von Schneider, „Katholische Aufklärung“ (wie Anm. 59), 381. 123 Wolf, Prolog (wie Anm. 103), 24. 113

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Wolf rückt Aretin, Hersche und vor allem mich in die Nähe der „ultramontanen Autoren des 19. Jahrhunderts“: Die ultramontanen Autoren des 19. Jahrhunderts und die hier vorgestellten modernen Historiker sind sich in einem Punkt überraschenderweise weitgehend einig: Beide Gruppen konstatieren, die Aufklärung sei der katholischen Kirche wesensfremd. Es gebe zwar Aufklärung im katholischen Deutschland, aber die ,katholische AufklärungR sei letztlich keine Aufklärung gewesen, weil ihr wesentliche Elemente derselben fehlten.124

Das bedarf keiner Kommentierung mehr,125 sondern nur noch des Hinweises, dass Wolfs Buch auch positive Seiten hat. Dazu gehören die Sätze, dass „aufgeklärte Vernunft und katholischer Glaube […] einander keineswegs widersprechen [müssen]“,126 dass die Kirche das „Licht der historischen Vernunft aushalten“127 müsse und dass es dabei „um immer neue Aufklärung über die katholische Kirche in all ihren geschichtlichen Erscheinungsformen“128 gehe. Doch ist das ein anderer Aufklärungsbegriff. VI. „Gott muss auch dem Verstand zugänglich sein“ Die Frage nach der Vereinbarkeit von Aufklärung und Katholizismus kann nicht ohne einen Blick auf den Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte Joseph Ratzinger beantwortet werden, der 2005 als Benedikt XVI. – mit dem Namen des der Aufklärung nahestehenden Benedikt XIV. – Papst wurde.129 In seinem Rundfunkvortrag Wie wird die Kirche im Jahre 2000 aussehen? von 1969130 ging Ratzinger auf Wessenberg und andere, in der heutigen Forschung der katholischen Aufklärung zugerechnete Personen wie Sailer ein. Den vor 1969 noch wenig gebräuchlichen Begriff „katholische Aufklärung“ verwandte er nicht, sondern sprach von „Kirchen- und Theologiegeschichte der Aufklärung“131 und wies auf Gemeinsamkeiten mit ähnlichen Bestrebungen der Gegenwart – „auf jene eiEbd. Siehe jedoch Klueting, Rezension zu Hubert Wolf, Verdammtes Licht, in: Rechtsgeschichte – Legal History. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 28 (2020), 329–331 [in französischer Sprache]. 126 Wolf, Verdammtes Licht (wie Anm. 101), 12. 127 Ebd. 128 Ebd., 14. 129 Nachfolgendes in Anlehnung an Klueting, „LQAufklärung catholique“ (wie Anm. 21), 29 f. mit Anm. 22 und 36–39. 130 Joseph Ratzinger, Wie wird die Kirche im Jahre 2000 aussehen?, in: ders., Glaube und Zukunft, München 1970, 109–125, wieder in: ders., Kirche – Zeichen unter den Völkern. Schriften zur Ekklesiologie und Ökumene 2, Freiburg 2010 (Gesammelte Schriften 8/2), 1159–1168. 131 Ebd., 1161. 124 125

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gentümliche Mischung aus Einseitigkeiten und positiven Anläufen […], welche die Aufklärer von damals und heute verbindet und das Heute nicht mehr gar so sehr als das gänzliche Neue erscheinen lässt“132 – hin: Die Aufklärung hatte ihre liturgische Bewegung, in der man sich um die Vereinfachung der Liturgie auf ihre ursprünglichen Grundstrukturen mühte, Exzesse des Reliquienund Heiligenkults beseitigt werden sollten und vor allem die Muttersprache, besonders auch der Volksgesang und die Gemeindebeteiligung, in die Liturgie eingeführt wurden. Die Aufklärung hatte ihre episkopale Bewegung, die einem einseitigen Zentralismus Roms entgegen die Bedeutung der Bischöfe herausstellen wollte; sie hatte ihre demokratische Komponente, etwa wenn der Konstanzer Generalvikar Wessenberg demokratische Diözesan- und Provinzialsynoden forderte.133

Ratzinger unterschied drei „charakteristische Typen“ unter den katholischen Aufklärern: die von ihm teils negativ und teils positiv bewerteten „gemäßigten Progressisten“, die von ihm angelehnten „extremen Progressisten“ und einen von ihm uneingeschränkt positiv bewerteten Typus, für den er Sailer nannte: Wer seine [Wessenbergs] Werke liest, glaubt einem Progressisten des Jahres 1969 zu begegnen: Die Aufhebung des Zölibats wird verlangt, nur deutsche Sakramentsformeln geduldet, Mischehen unabhängig von der Kindererziehung eingesegnet usf.134

Ratzinger lehnte Wessenberg aber nicht in toto ab: Dass Wessenberg sich um regelmäßige Predigt und um Hebung des Niveaus im Religionsunterricht bemüht hat, die Bibelbewegung förderte und vieles dergleichen mehr, zeigt nur noch einmal, dass bei jenen Männern keineswegs nur kümmerlicher Rationalismus am Werk war. Dennoch bleibt der Eindruck seiner Gestalt zwiespältig, weil zu guter Letzt doch nur die Gartenschere der konstruierenden Vernunft am Werk ist, die manches Gute vermag, aber als einziges Gartengerät nicht ausreicht.135

Den Typus des „extremen Progressisten“ verdeutlichte er an der traurigen Figur des Pariser Erzbischofs [Jean-Baptiste-Joseph] Gobel, der alle Schritte des Fortschritts seiner Zeit wacker mitging: zuerst zur konstitutionellen Nationalkirche; dann, als auch dies nicht mehr genügte, legte er feierlich den Priesterstand nieder mit der Erklärung, seit dem glücklichen Ausgang der Revolution bestehe für einen anderen Nationalkult als den der Freiheit und Gleichheit kein Bedürfnis mehr. Er beteiligte sich an der Verehrung der Göttin der Vernunft in Notre-Dame, doch zuletzt ging der Fortschritt auch über ihn hinweg. Unter Robespierre galt Atheismus plötzlich wieder als Verbrechen, und so wurde der einstige Erzbischof als Atheist auf die Guillotine geführt und hingerichtet. In Deutschland stellten sich die Dinge ruhiger dar: Hier

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Ebd. Ebd. Ebd., 1161 f. Ebd., 1162.

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wäre etwa der Direktor des Münchener [Priesterseminars] Gregorianum, Matthias Fingerlos, als klassischer Progressist zu erwähnen.136

Danach kam Ratzinger auf Sailer: Es fällt schwer, ihn einzuordnen. Die gängigen Kategorien von Progressismus und Konservativismus versagen vor ihm, wie schon sein äußerer Lebensweg zeigt: 1794 wurde ihm seine Dillinger Professur auf den Vorwurf der Aufklärerei hin entzogen […]. Von diesem Mann und von dem großen Kreis seiner Freunde und Schüler ging eine Bewegung aus, die weit mehr Zukunft in sich trug als die siegreich auftrumpfende Großspurigkeit der bloßen Aufklärer. Sailer war ein Mann, der sich offen allen Fragen seiner Zeit stellte; die verstaubte Jesuitenscholastik von Dillingen, in deren Systemgefüge längst die Wirklichkeit nicht mehr eindringen konnte, musste ihm daher ungenügend erscheinen. Kant, Jacobi, Schelling, Pestalozzi sind seine Gesprächspartner; Glaube ist für ihn nicht an ein System von Sätzen gebunden und nicht durch Flucht ins Irrationale zu halten, sondern in offener Auseinandersetzung mit dem Heute zu bestehen. Aber der gleiche Sailer kannte die große theologische und mystische Tradition des Mittelalters in einer für seine Zeit ungewöhnlichen Tiefe.137

Aus der Zeit nach 1969 gibt es von Ratzinger keine direkte Stellungnahme zur katholischen Aufklärung. Doch gibt es drei Punkte, die für die Frage nach der Vereinbarkeit von Aufklärung und Katholizismus bei dem jungen Professor wie bei dem alten Kardinal bis in die Jahre seines Pontifikats von 2005 bis 2013 hervorzuheben sind: 1. Die Bewertung der kritischen Bibelexegese, 2. die Frage nach der Vernunft des Glaubens und 3. die Religionsfreiheit. Ergebnis des Modernismusstreites zu Beginn des 20. Jahrhunderts war u. a. die Unterstellung der historisch-kritischen Bibelexegese unter lehramtliche Kontrolle, was zur Erstarrung der Exegese in der katholischen Theologie führte, während die evangelische Theologie in diesen Jahrzehnten, u. a. durch Rudolf Bultmann, Aufbrüche der historischen Exegese erfuhr. Obwohl die Bibelenzyklika Divino afflante spiritu Pius XII. von 1943 erste Freiräume schuf, blieben viele Einschränkungen, bis das II. Vatikanum mit der Dogmatischen Konstitution Dei Verbum von 1965 die Exegese im Rahmen der katholischen Glaubenslehre freigab und die historisch-kritische Methode bejahte. Dazu Ratzinger 1967 über Dei Verbum: „Der Text verbindet die Treue zur kirchlichen Überlieferung mit dem Ja zur kritischen Wissenschaft und eröffnet damit neu dem Glauben den Weg ins Heute“.138

Ratzinger, Wie wird die Kirche (wie Anm. 130), 1163. Ebd., 1163 f. 138 Joseph Ratzinger, Kommentar zum Prooemium der dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung „Dei Verbum“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Ergänzungs-Band 2 (21967), 497–502, hier 502, wieder in: ders., Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils. Formulierung – Vermittlung – Deutung 2, Freiburg 2012 (Gesammelte Schriften 7/2), 715–731, hier 729. 136

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Der Frage nach der Vernunft des Glaubens durchzieht Ratzingers Denken seit seiner Habilitationsschrift Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonaventuras139 von 1957 und auch während der Jahre seines Pontifikats. Die Regensburger Vorlesung von 2006140 ist ein Dokument des Fragens nach der Vernunft des Glaubens. „Mit der Vernunft nach Gott zu fragen und es im Zusammenhang der Überlieferung des christlichen Glaubens zu tun“,141 stellte er darin als Aufgabe der Theologie als Wissenschaft heraus. „Nicht vernunftmäßig handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“.142 Diese Erkenntnis sei nicht nur griechischem Denken zu verdanken, vielmehr zeige sich hier „der Einklang zwischen dem, was im besten Sinne griechisch ist, und dem auf der Bibel gründenden Gottesglauben“,143 wobei dieser Einklang im Begriff des k|cor des Johannesprologs liege.144 Die Begegnung „zwischen rechter Aufklärung und Vernunft“ kommt für Ratzinger der Begegnung „zwischen Aufklärung und Religion“ gleich.145 Es gebe aber auch eine falsche Aufklärung und „Pathologien der Religion und der Vernunft“.146 „Eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist und Religion in den Bereich der Subkulturen abdrängt, ist unfähig zum Dialog der Kulturen“.147 Die positive Bewertung der Erklärung Dignitatis humanae. Über die Religionsfreiheit des II. Vatikanums von 1965 durchzieht das Werk des jungen wie des alten Theologen Ratzinger: Das Zweite Vatikanische Konzil hat mit dem Dekret über die Religionsfreiheit einen wesentlichen Grundsatz des modernen Staates anerkannt und übernommen und gleichzeitig ein tief verankertes Erbe der Kirche wieder aufgenommen. Diese darf wissen, dass sie sich damit in völligem Einvernehmen mit der Lehre Jesu befindet“.148

Joseph Ratzinger, Offenbarungsverständnis und Geschichtstheologie Bonventuras. Habilitationsschrift und Bonaventura-Studien, Freiburg 2009 (Gesammelte Schriften 2). 140 Benedikt XVI., Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung, Freiburg 2006 (ursprünglicher Titel: Glaube, Vernunft und Universität. Erinnerungen und Reflexionen). 141 Ebd., 73. 142 Ebd., 74. 143 Ebd., 75. 144 Ebd. 145 Ebd., 76. 146 Ebd., 81. 147 Ebd., 83. 148 Ansprache von Papst Benedikt XVI. an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang. 22. Dezember 2005, Bonn 2006 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 172), 17. Siehe auch Harm Klueting, Das Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit. Die Erklärung Dignitatis humanae. Über die Religionsfreiheit des Zweiten Vatikanischen Konzils vor dem Hintergrund von Profangeschichte und Kirchen- und Theologiegeschichte, in: Nicolaus U. Buhlmann, Peter Styra (Hg.), Signum in Bonum. Festschrift für Wilhelm Imkamp, Regensburg 2011, 375–401. 139

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Ratzingers vielleicht letztes Wort dazu lautet: „Natürlich brauchen wir den Gott, der gesprochen hat, der spricht, den lebendigen Gott. Den Gott, der das Herz anrührt, der mich kennt und liebt. Aber er muss ja irgendwo auch dem Verstand zugänglich sein“.149 Der Historiker Volker Reinhardt schreibt, der christliche Glaube stelle sich Ratzinger „als Vollendung der Aufklärung dar“.150 VII. Schluss: Spiegel und Pezzl 1780 trat Kaiser Joseph II. in der Österreichischen Monarchie die Herrschaft an. Er setzte die unter seiner Mutter Maria Theresia aufgenommenen Reformen, die wir als Josephinismus oder als theresianisch-josephinische Reformen bezeichnen, fort. Dazu gehörten die Toleranzpatente für nichtkatholische Christen und Juden von 1781 und 1782151 und, beginnend 1782, umfassende Klosteraufhebungen.152 Das war der Hintergrund zweier anonym publizierter Bücher, Spiegels Grab der Bettelmönche von 1781153 und Pezzls Faustin oder das philosophische Jahrhundert von 1783.154 Anhand dieser beiden Schriften lässt sich demonstrieren, was katholische Aufklärung und was Aufklärung im katholischen Deutschland war. Der westfälische Domherr von Spiegel, der 1802 äußerte, das, was bey fortschreitendem Verstande weder die Critik der reinen noch practischen Vernunft aushaelt, zerfaellt in sich. Das Mönchthum ist eine aegyptische Pflanze, welche dort, wo sie sich jetzt noch befindet, nicht mehr die Früchte trägt, welche ihre Anpflanzer von ihr erwarteten. Der Genius der Zeit hat sie auch ohnehin unbrauchbar gemacht. Jeder Catholik, der den gelaeuterten Principien seiner Religion folgen wollte, wünschte schon längst die Aufhebung der Kloester, aber auch zugleich, daß die Ein-

Benedikt XVI., Letzte Gespräche mit Peter Seewald, München 2016, 129 f. Volker Reinhardt, Pontifex. Die Geschichte der Päpste. Von Petrus bis Franziskus, München 2017, 867. 151 Harm Klueting (Hg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, Darmstadt 1995 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 12a), Nr. 100, 251, Nr. 101, 251 f., Nr. 102, 252–255, Nr. 103, 255–257, Nr. 106, 261, Nr. 110, 268, Nr. 113, 275–279, Nr. 114, 280, Nr. 135, 308 f., Nr. 166, 383 f., Nr. 169, 391 f. 152 Ebd., Nr. 108, 263–265, Nr. 115, 280–282, Nr. 116, 282–285, Nr. 118, 287 f., Nr. 121, 295, Nr. 122, 295, Nr. 125, 301, Nr. 126, 302, Nr. 131, 305 f. 153 [Franz Wilhelm von Spiegel,] Das Grab der Bettel-Mönche, [Ulm] 1781, 174 S., 128. Hier zitiert nach dem Originaldruck im Eigentum des Verfassers. 154 [Johann Pezzl,] Faustin oder das philosophische Jahrhundert, [Zürich] 1783, 288 S., 128. Originaldruck im Eigentum des Verfassers, beigebunden der zweite Band, [Zürich] 1784, 194 S., 128. 149 150

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künfte derselben, den Bedürfnissen der Zeit nach, auf eine wohlthaetige Art verwendet würden,155

kam auch noch unmittelbar vor der Säkularisation von 1803 zu einem positiven Urteil über die „fundierten“ – grundbesitzenden – Mönche.156 Umso schärfer kritisierte er die Mendikanten und vor allem die Kapuziner: Diese leben nur, um immer stupider zu werden; wer den hoechsten Grad der Verstandesverläugnung unter ihnen erreicht, ist der vollkommenste Capuciner, und auf diesen Zweck sind ihre Studien musterhaft eingerichtet. […] Dieser ungebildeten Classe von geistlichen Vagabonden überläßt man sorglos die Leitung der Gewissen der Unterthanen“.157

Ähnlich lautete Spiegels Kritik 21 Jahre früher, als er von „unserem“ gegenüber der Zeit Luthers und Calvins „weitaufgeklärteren Jahrhunderte“ sprach, in dem man die „Vergötterung“ des hl. Franziskus als des „seraphischen Vatters“158 mit „anderen Augen zu sehen“ beginne und „kein vernünftiger Mensch“ mehr leugne, „daß die Religion durch den Aberglauben äusserst verunstaltet wird“.159 Verbreitung von Aberglauben war 1781 sein Hauptvorwurf gegen die Bettelmönche: Wenn sich dieser [der Aberglaube] einmal der Köpfe des Volkes bemeistert hat, so wird das Wesentliche der Religion vergessen, Falsche Begriffe, thörichte Vorstellungen, kindische Mährchen, beschäftigen den gemeinen Mann; um die Hauptgegenstände des wahren Glaubens bekümmert er sich nicht, oder vielmehr er weiß nichts davon. Anstatt des Wesentlichen, lenket man seine Aufmerksamkeit auf nichtsbedeutende Spielwerke.160 […] Nach allem diesem […] wird wohl niemand läugnen können, daß die Bettelmönche theologisch betrachtet, der Reinheit der Religion schädlich sind, und die Lehre der Kirche durch ihre Mährchen und Quacksalbereyen verunstalten. Der gemeine Mann wird am Glauben und an der Lehre irre, anstatt sein Vertrauen auf Franz Wilhelm von Spiegel, Gedanken ueber die Aufhebung der Kloester und geistlichen Stifter im Herzogthum Westphalen [Manuskript, Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster, Großherzogtum Hessen I A 1, Bll. 52–72], Druck: Harm Klueting, Franz Wilhelm von Spiegel und sein Säkularisationsplan für die Klöster des Herzogtums Westfalen, in: Westfälische Zeitschrift 131/132 (1981/82), 47–68, hier 53–68, Zitat 53. 156 Ebd., 57 (§ 6): „Die Geschichte der Vorwelt spricht diesen Instituten das Lob; ohne sie würden Teutschlands oede Gegenden ungebaut seyn; ohne sie würde das Licht des Christenthums spaeter zu uns gedrungen seyn; ohne sie wäre so manches classische Werk der Alten nicht auf uns gekommen. Es laeßt sich also von ihnen sagen: es war eine Zeit, wo sie nützlich, wo sie nothwendig waren; diese ist nicht mehr, und so dürfen sie sich dann mit dem Schicksal aller Dinge und Wesen troesten, die die Zeit nur solange bestehen läßt, als die Vorsehung sie nothwendig haelt, und sie aufhoeren laeßt, so bald der Zweck ihres Daseyns nicht mehr vorhanden ist“. 157 Ebd., 55 f. (§ 4). 158 Spielt an auf die Verehrung des hl. Franziskus als „Patriarcha seraphicus“ (seraphicus – von heißer Liebe erfüllt). 159 Spiegel, Grab der Bettelmönche (wie Anm. 153), 126 f. und 129. 160 Ebd., 130. 155

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Christum, seine gebenedeyte Mutter und die Fürbitte der Heiligen zu setzen, nimmt er seine Zuflucht zu Seegensprechereyen, glaubt, was ihm der Mönch vorplaudert als Evangelia, und im Grunde des Glaubens bleibt er höchst unwissend.161 […] Das Gehirn des gemeinen Mannes mit allerley aberglaubigen Dingen zu verwirren, stimmt wohl nicht mit der reinen christlichen Moral überein, vermöge welcher ein jeder sich bemühen solte, seinen Nebenmenschen zu bessern, den Unwissenden zu unterrichten, den Irrenden zurecht zu weisen. Man höre einmal einen gemeinen Landmann, der viel mit Bettelmönchen umgehet, mit was für tollen Vorstellungen sein Gehirn erfüllt ist. Teufeleyen, Zaubereyen und Hexereyen in Menge.162

Bei aller Kritik an Bettelmönchen und Aberglauben bleibt Spiegel aber immer kirchlich positiv. Den Zölibat163 sieht er kritisch, will ihn aber nicht beseitigen,164 wie er auch nicht alle Klöster abgeschafft sehen will – Klöster sind nöthig, um denjenigen einen Aufenthalt zu verschaffen, welche aus Liebe zur Einsamkeit und Stille von dem Geräusche der Welt fliehen, um sich entweder aus wahrer Andacht gänzlich einem gottseeligen Leben zu widmen oder auch darneben ungestört sich mit den Wissenschaften zu beschäftigen165 –,

was er sogar für die Mendikanten gelten lässt: Meine Meinung ist gar nicht zu behaupten, daß alle Klöster der Bettelmönche sollten aufgehoben werden. Es giebt Leute, welche weder Talente zum Studiren noch Kräfte zu schwerer Arbeit besitzen, dennoch aber wünschten, von der Welt abgesondert, sich geistlichen Beschäftigungen widmen zu können. Es giebt noch andre, welche aus einem fanatischen Triebe glauben, man könne nicht seelig werden, wenn man nicht dem Umgange mit andern Menschen völlig entsagte. Vor diese weis ich keinen bessern Rath, als sich in ein Mendikantenkloster zu begeben.166

Es geht ihm um Verbesserung der Pfarrseelsorge und Vermehrung des Weltklerus: Pfarrer und Seelsorger müssen wir haben, die dem unwissenden Volke den Weg zur Seeligkeit zeigen, ihm Unterricht und Trost ertheilen und ihm die reine katholische Lehre predigen, nicht aber sein Gehirn mit albernen Mährchen und erdichteten Erzählungen erfüllen, wie die Bettelmönche zu thun pflegen, und die Anzahl dieser Geistlichen ist eher zu klein als zu groß.167

Das macht Spiegel zum katholischen Aufklärer.

Ebd., 132 f. Ebd., 159 f. 163 Paul Picard, Zölibatsdiskussion im katholischen Deutschland der Aufklärungszeit. Auseinandersetzung mit der kanonischen Vorschrift im Namen der Vernunft und der Menschrechte, Düsseldorf 1975 (Moraltheologische Studien, Historische Abteilung 3). 164 Spiegel, Grab der Bettelmönche (wie Anm. 153), 152. 165 Ebd., 153. 166 Ebd., 156. 167 Ebd., 153. 161 162

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Anders Johann Pezzl! Pezzl wurde 1756 als Sohn eines Klosterhandwerkers in Niederbayern geboren, trat 1775 als Novize in das Benediktinerkloster Oberaltaich ein, das er vor dem Abschluss des Noviziats verließ, um in Salzburg die Rechte zu studieren. Der antiklerikale und antimonastische Schriftsteller fand 1785 in Wien eine Anstellung als Privatbibliothekar des Staatskanzlers Kaunitz.168 In seinem an Voltaires Candide von 1759 angelehnten satirischen Roman – „eine[r] Skizze der lezten konvulsivischen Bewegungen des sterbenden Aberglaubens, Fanatismus, Pfaffentrugs […]“169 – von 1783 schildert Pezzl seine Titelgestalt Faustin auf einer Reise durch Europa und kritisiert anhand der Reiseerlebnisse den Aberglauben und die Intoleranz, die er von Klerus und Klöstern ausgehen sieht. Am Ende der Reise lässt er Faustin im Wien des Jahres 1780 eintreffen. Dieses Jahr feiert er als „das Jahr der Erleuchtung […] das Jahr von Josephs Regierungsantritt. Seitdem istQs Sieg der Vernunft und Menschheit, istQs wahres philosophisches Jahrhundert“.170 Er wettert noch schärfer als Spiegel gegen die Mendikanten – „die Betrügerei der Bettelpfaffen“,171 die „seraphischen Banditen“172 – „[d]ie Lehrer des Volks, die Mönche und Pfaffen folgten ihrer allgemeinen schändlichen Maxime, das Publikum dem Teufel zu übergeben, um es für sein Geld wieder davon befreien zu können“173 – und besonders gegen den Vorarlberger, später in Ellwangen auftretenden Exorzisten Johann Joseph Gassner:174

Gustav Gugitz, Johann Pezzl, in: Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft 16 (1906), 164–217; Hans Grassl, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765–1785, München 1968, 242–245; Adelheid Schmid, Im Zeichen der Aufklärung. Johann Pezzl und seine boshaften Polemiken gegen Klerus, Volksreligion und Aberglauben, in: Stefan Hirsch (Hg.), Wunderkammern. Wer glaubt, wird selig … Die Sammlung Gärtner. Ein „Anschauungs- und Lesebuch“ anlässlich der Ausstellung im Freilichtmuseum Jexhof bei Fürstenfeldbruck 2000, St. Ottilien 2000, 41–49; Clarissa Höschel, Wie Johann Pezzl vom Benediktinernovizen zum Freimaurer, Satiriker und Staatsbeamten wurde. Ein biographischer Abriss, in: Literatur in Bayern. Vierteljahresschrift für Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft 85 (2006), 38–48; dies., Candidatus Johannes Pezzl – Auf den Spuren eines konspirativen Salzburger Studentenlebens um 1780, in: SalzburgArchiv 32 (2007), 187–208. 169 Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), III. 170 Ebd., 277. Dasselbe auch bei Klueting (Hg.), Josephinismus (wie Anm. 172), 309. Das Kapitel XVIII: Die Philosophie auf dem Thron, aus Pezzl, Faustin (wie Anm. 175), gekürzt auch bei Klueting (Hg.), Josephinismus (wie Anm. 151), Nr. 136, 309–315. 171 Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), 161. 172 Ebd. Zu „seraphicus“ oben Anm. 158. 173 Ebd., 27. 174 H. C. Erik Midelfort, Exorcism and Enlightenment. Johann Joseph Gassner and the demons of eighteenth-century Germany, New Haven, London 2005; Karl Baier, Mesmer versus Gassner. Eine Kontroverse der 1770er Jahre und ihre Interpretation, in: Maren Sziede, Helmut Zander (Hg.), Von der Dämonologie zum Unbewussten. Die Transformation der Anthropologie um 1800, Berlin 2015 (Okkulte Moderne 1), 47–84. 168

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Harm Klueting

Ein geistlicher Vagabond, der hochwürdige Gaßner, hatte sich in einen Winkel von Schwaben geschlichen, und fieng an Teufel auszutreiben und Wunder zu wirken. Ein Bettelweib, das ehedem auf zwo Krüken gegangen war, kam nun auf Einer aus Ellwang zurük gehunken, rief Mirakel, und die Stadt widerhallte Mirakel. Der Gaßnersche Heiligkeitsgeruch breitete sich mehr und mehr aus. Seine Kollegen, die Geistlichen, fingen an, laut auf ihren Bretterthronen zu jubiliren, über die Freydenker zu triumfiren […] und alles, was sich triefäugig gesoffen, epileptisch getanzt, spasmatisch gefressen und schwächlich geh[ur]t hatte, lief nach Ellwangen, um sich den Teufel aus dem Leibe schwören zu lassen.175

Pezzl polemisierte auch gegen eine der Zeitschriften der katholischen Aufklärung, die von den Benediktinern in Kloster Banz herausgegebene Litteratur des katholischen Deutschlands:176 Als sie in München ankamen, gab man ihnen einige Stüke von der Litteratur des katholischen Deutschlandes zu lesen. Immer schöner! Rief [Faustins Begleiter] Traubach, wenn Gaßner und die Litteratores des katholischen Deutschlandes in ihrer Arbeit noch länger fortfahren, dann werden wir bald ganz aufgeklärt seyn.177 […] Die Leiche des Philosophen [Voltaire] ward ganz in der Stille inkognito aus Paris weggeführt und in einem Mönchnest in Schampagne verscharrt178 […] Aber wie hoch wird die Litteratur des katholischen Deutschlands jauchzen! Das ist ein herrlicher Bissen für sie.179 […] Wie stehts wohl mit der Litteratur des katholischen Deutschlands? … Wie du leicht vermuthen kannst, äusserst elend. Die katholischen Idioten scheinen sich gegen alle Aufklärung zusammen verschworen zu haben. Sie pissen jeden an, der dem, Mönchswesen, dem Aberglauben und dem Pfaffismus zu Leibe geht.180

Von „katholische Idioten“ sprach Pezzl als Wortspiel „katholische Patrioten – katholische Idioten“181 auch an anderer Stelle. Er fand freundliche Worte über Hontheim und dessen Widerruf des Febronius-Werkes von 1763, „mit dem er den Römischen Stul ganz in Stüke zerschmettert hatte“:182 Hontheim dachte wie der Philosoph Helvetius, da er durch Jesuitenkabalen gezwungen ward, sein vortrefliches Werk de lQEsprit zu wiederrufen. […] Auch Hontheim schrieb über seinen Wiederruf an einen Freund: ,Ich habe einigermassen meine Schrift, den Justinus Febronius, wiederrufen, so wie sie ein weit gelehrterer Prälat, Fenelon, wiederrief, um Zänkereien und Wiederwärtigkeiten zu entgehen. – Aber mein Wiederruf ist der Welt und der kristlichen Religion nicht schädlich, und dem römischen Hofe nicht

Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), 26 f. Jochen Krenz, Konturen einer oberdeutschen kirchlichen Kommunikationslandschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts, Bremen 2012 (Presse und Geschichte. Neue Beiträge 66), 125–132. 177 Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), 33. 178 Voltaires Begräbnis 1778 in SelliHres-sur-Seine bei Troyes. 179 Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), 140 f. 180 Ebd., 280. Dasselbe bei Klueting (Hg.), Josephinismus (wie Anm. 151), 311. 181 Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), 34. 182 Ebd., 162. 175 176

Über die Vereinbarkeit von Aufklärung und Katholizismus

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nüzlich, und wirdQs auch niemals seyn. Die Säze meiner Schrift hat die Welt gelesen, geprüft und angenommen.183

Dasselbe gilt für den Salzburger Erzbischof Colloredo und seinen Hirtenbrief von 1782184 – „Salzburg […] ist ein herrliches Stük Lands, das aufgeklärteste im ganzen baierischen Kreise“185 – und für den Hauptvertreter des josephinischen Staatskirchenrechts Joseph Valentin Eybl.186 Dennoch ist Pezzl an keiner Stelle kirchlich positiv. Er ist kein katholischer Aufklärer. Er feierte den Beginn der Herrschaft Josephs II. als „wahre Epoche der deutschen Aufklärung“187 und forderte in der Apotheose dieses Herrschers dazu auf, „stolz [zu] seyn, daß wir Deutsche sind“.188 Pezzl steht für die Aufklärung im katholischen Deutschland.

Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), 163–165. Peter Hersche (Hg.), Der aufgeklärte Reformkatholizismus in Österreich, Bern 1976 (Quellen zur neueren Geschichte 33), 45–101. 185 Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), 273 f. 186 Ebd., 280. Dasselbe bei Klueting (Hg.), Josephinismus (wie Anm. 151), 311. Zu Eybl Manfred Brandl, Der Kanonist Johann Valentin Eybl 1741–1805. Sein Beitrag zur Aufklärung in Österreich. Eine Studie in Ideologie, Steyr 1976 (Forschungen zur Geschichte der katholischen Aufklärung 2). 187 Pezzl, Faustin (wie Anm. 154), 276. 188 Ebd., 248. 183 184

Werner Michler Michael Denis und die ,katholische AufklärungR

I. Konstruktionen der österreichischen Literaturgeschichte sind lange Zeit ohne Aufklärung ausgekommen. Unter der Dominanz der „Barockthese“, der Idee von einer durchgreifenden und dauerhaften kulturellen Prägung des Landes und seiner Kultur durch die katholische Gegenreformation, konnten Aufklärung und Josephinismus nicht mehr als bloße Episoden sein. Jene „Barockthese“, verbunden mit so unterschiedlichen Namen wie Josef Nadler, Hugo von Hofmannsthal, Otto Rommel, aber auch Roger Bauer und Claudio Magris, bildete seit der Jahrhundertwende um 1900 selbst eine komplexe kulturelle Formation und konnte in affirmativer, neutraler oder in kritischer Wendung vertreten werden. In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts etablierte sich dann unter sozialgeschichtlichen Auspizien ein neues Interesse für die Literatur des österreichischen 18. Jahrhunderts und immer deutlicher zeichneten sich die Konturen einer vielleicht ,nachholendenR, aber doch unverwechselbaren aufklärerischen Bewegung ab. Im josephinischen Jahrzehnt, den Jahren der Alleinregierung Josephs II. nach dem Tod Maria Theresias, wurde so eine nach einzelnen Vorläufern sehr rasch entfaltete liberale, kritische und großstädtische Literatur insbesondere in Wien sichtbar, sie reichte von der „Broschürenflut“ einer schnell gebildeten räsonierenden publizistischen Öffentlichkeit bis hin zur Entwicklung urbaner und moderner literarischer Formen, wie sie etwa Leslie Bodi und Edith Rosenstrauch-Königsberg ins Zentrum ihrer Arbeiten rückten.1 Damit verschob sich Vgl. insb. Edith Rosenstrauch-Königsberg, Freimaurerei im josephinischen Wien: Aloys Blumauers Weg vom Jesuiten zum Jakobiner, Wien 1975; Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795, Frankfurt am Main 1977, Wien, Köln, Weimar 21995. – In ,gesamtdeutschenR Literaturgeschichten wird das gesamte österreichische 18. Jahrhundert mit seinen Autoren weitestgehend übergangen, eine Ausnahme bildete die Literaturgeschichte von Viktor Zˇmegacˇ (Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 3 Bde., Königstein im Taunus 1979, 21984), die ein Teilkapitel „Österreich gegen Ende des 18. Jahrhunderts: Josephinische Aufklärung“ enthält. Eine Darstellung der neueren Forschungsgeschichte in 1

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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Werner Michler

der Fokus des literaturgeschichtlichen Interesses vom Alt-Wiener Volkstheater zur Prosa; die wichtige Anthologie von Rosenstrauch-Königsberg von 1988, Literatur der Aufklärung 1765–1800 als Teil der Österreichischen Bibliothek, enthielt Texte von Joseph von Sonnenfels, Joseph Richter, Johann Baptist Alxinger, Aloys Blumauer, Johann Pezzl, Franz Xaver Huber und Joseph Franz Ratschky – allesamt ,JosephinerR, Beamte, Freimaurer, Satiriker, vertreten mit den Gattungen Zeitroman, Satire, Publizistik, ,BroschüreR, Moralische Wochenschrift, Großstadtskizze. Damit war nun zwar die Aufklärung in den Fokus gerückt, aber als Gegenspielerin der katholischen Kirche als der beharrenden Bildungs- und Disziplinierungsmacht, was eine ,katholische AufklärungR zunächst nicht plausibler machte. Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen innerkatholischer Aufklärung einerseits, Reform- und Protestbewegungen im katholisch-kulturellen Kontext andererseits nur schwer zu bestimmen. Neben den innerkirchlichen Differenzen (Ordenskonkurrenzen, Weltklerus vs. Ordensklerus, theologische Diskussionen) stehen immer das Verhältnis zwischen religiöser und weltlicher Macht, säkularem und theologischem Denken sowie Fragen nach der Beharrungskraft des gelebten Alltags und nach der Disziplinierungsdynamik von staatlichen und religiösen Kräften zur Disposition. Beschränkt man den Wirkungskreis ,katholischer AufklärungR auf ,innerkatholischeR Auseinandersetzungen, wo beginnt und endet dann jenes ,KatholischeR und welches Maß an Dissidenz rechtfertigt dann noch die Rede von ,innerkatholischR? Hatte die Aufklärung nicht ohnehin einen nur um den Preis der Willkür aufzuhaltenden Prozess der Kritik der Religionen überhaupt in Gang gesetzt, wie in der Debatte um die „radikale“ Aufklärung diskutiert wurde?2Oder war die Aufklärung insbesondere eine an ,gereinigten ReligionsbegriffenR und nicht an deren Totalkritik interessierte Bewegung?3 Und wenn, galt das nur für den protestantischen Bereich Europas oder auch für den katholischen, den west-, süd- und zentraleuropäischen Raum?

Werner Michler, Austrian Literature of the 18th Century, in: Thomas Wallnig, Johannes Frimmel, Werner Telesko (Hg.), 18th Century Studies in Austria, 1945–2010, Bochum 2011 (The Eighteenth Century and the Habsburg Monarchy, Intern. Series 4), 187–206. 2 Vgl. u. a. Jonathan Israel, Radical Enlightenment. Philosophy and the Making of Modernity, 1650–1750, Oxford 2001; Martin Mulsow, Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720, 2 Bde., Göttingen 2018. 3 Diesen Aspekt betont im Gesamtzusammenhang der europäischen Aufklärung zuletzt Ritchie Robertson, The Enlightenment. The Pursuit of Happiness, 1680–1790, London 2020, 136–198 (Kap. „The Religious Enlightenment“). Beiträge zu zahlreichen Autoren der österreichischen Aufklärung enthält ders., Enlightenment and Religion in German and Austrian Literature, Cambridge 2017 (Selected Essays 2).

Michael Denis und die ,katholische AufklärungR

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Das Forschungsparadigma der „katholischen Aufklärung“ ist zwischen der Initiative von Harm Klueting und den neueren Arbeiten von Ulrich L. Lehner4 immer wieder auch kritisch sondiert worden, seine Berechtigung scheint aber insgesamt nicht mehr grundsätzlich in Frage zu stehen.5 Die Diskussion, die hier abstrakt nicht weiter verfolgt werden kann, teilt mit der um die Aufklärung in Österreich interessanterweise einige gemeinsame Züge. Die eingangs angesprochene ,BarocktheseR war nämlich nicht bloß ein durchsichtiges, selbst aufklärungsfeindliches ideologisches Konstrukt, sondern hätte in den Positionen von Karl Otmar von Aretin, Klueting und Peter Hersche6 auch eine Rechtfertigung finden können; für Hersche etwa ist der Katholizismus des 17. und 18. Jahrhunderts ein Residuum der barocken alteuropäischen Welt von ,Muße und VerschwendungR,7 einer Welt, der die Aufklärung in Gestalt von Gallikanismus, Jansenismus und Josephinismus gerade den Garaus machen wollte; der Protestantismus war hier nur bloß weiter fortgeschritten. Dieser Auffassung steht die „Säkularisierungs“-These von in Summe parallelen Entwicklungsprozessen in der protestantischen und in der katholischen Welt entgegen, Reformation und tridentinische Gegenreformation sowie die Konfessionalisierungen in ihrem Gefolge fungieren hier als Modernisierungsagentur. Die Diagnose der ,RückständigkeitR, die protestantische Aufklärer angesichts zentral- oder südeuropäischer Verhältnisse immer wieder stellten (wie Vgl. Harm Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung: Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 15); ders., „Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht.“ Zum Thema ,Katholische AufklärungR – Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung, in: ebd., 1–35; zur neueren Forschung ders., „LQAufklärung catholique“ contre „les lumiHres“. Aporemata der Forschung zur katholischen Aufklärung von 1969 bis 2017, in: Jürgen Overhoff, Andreas Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika, Göttingen 2019 (Das achtzehnte Jahrhundert, Suppl. 25), 23–51; Ulrich L. Lehner, Die Katholische Aufklärung. Weltgeschichte einer Reformbewegung, Paderborn 2017. Diesen Diskussionsstrang resümiert Hubert Wolf, Katholische Aufklärung?, in: Albrecht Beutel, Martha Nooke (Hg.), Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie (Münster, 30. März bis 2. April 2014), Tübingen 2016 (Colloquia historica et theologica 2), 81–95. 5 Vgl. zuletzt Jeffrey D. Burson, Introduction. Catholicism and Enlightenment, Past, Present, and Future, in: ders., Ulrich L. Lehner (Hg.), Enlightenment and Catholicism in Europe. A Transnational History. Notre Dame, IN 2014, 1–37; Ulrich L. Lehner, Introduction: The Many Faces of the Catholic Enlightenment, in: ders., Michael Printy (Hg.), A Companion to the Catholic Enlightenment in Europe, Leiden, Boston 2013, 1–61; Jürgen Overhoff, Katholische Aufklärung in Europa und Nordamerika. Zur Einleitung, in: Overhoff, Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 4), 9–19. – Aus österreichischer Sicht wird die Diskussion dargestellt bei Franz Leander Fillafer, Aufklärung habsburgisch. Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750–1850, Göttingen 2020, 67–123. 6 Vgl. Peter Hersche, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977 (vgl. insb. 390–405, Kap. „Jansenismus und Aufklärung: die Unmöglichkeit einer ,aufgeklärten ReligionR“). 7 Peter Hersche, Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, 2 Bde., Freiburg, Basel, Wien 2006. 4

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Friedrich Nicolai in seiner Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781, die ihn in eine Reihe von Kontroversen, unter anderem mit dem Wiener Aufklärer Blumauer, verstrickte), besorgt oder hämisch, lässt sich so einmal als Missverständnis einer fremden Welt gegenüber lesen; oder als konstruktiver Hinweis auf bestehende Modernisierungsdefizite. Setzt man andererseits Katholizismus und Aufklärung als einander letztlich ausschließende Zugehörigkeitsoptionen, dann fragt sich, an welchem Punkt sich die Trennschärfe dieser Unterscheidung beweist. Durch ein etwa offenes atheistisches Bekenntnis wurde der katholische Denk- und Lebensrahmen in Zeiten der Aufklärung höchst selten verlassen, selten durch Konversion (nicht wenige Protagonisten der österreichischen Aufklärung waren hingegen, aus welchen Motiven auch immer, Konvertiten zum Katholizismus, wie Tobias Philipp von Gebler und Joseph von Sonnenfels). Im hier interessierenden Kontext wären etwa der (in dieser Reihenfolge:) Kapuziner, Freimaurer, katholische Theologieprofessor und lutherische Generalsuperintendent Ignaz Aurelius Feßler zu nennen; der Weltgeistliche Melchior Blarer, ein wichtiger Funktionär der Kirchenreformen der 1760er und 1770er Jahre, der nach einer Reihe von Konflikten mit dem Wiener Kardinal schließlich der de facto schismatischen jansenistischen Kirche von Utrecht beitrat; oder der Jesuitennovize, Barnabit, Freimaurer und kantianische Philosoph Karl Leonhard Reinhold. Unter anderen Vorzeichen wären allerdings gerade diese Akteure als Beispiele einer ,katholischen AufklärungR anzusprechen. Dass man sich nämlich gerade dann zum ,katholischen AufklärerR qualifizierte, wenn man mit den Hierarchien von Kirche und/oder Staat in ernsthafte Schwierigkeiten geraten war, zeigen dann auch die Biographien etwa des Prager Professors der schönen Wissenschaften und Universitätsrektors Karl Heinrich Seibt oder, später, die des Prager Priesters, Theologen und Mathematikers Bernard Bolzano. Positionierungen sind in der entstandenen dynamischen Situation zeitgenössisch ohnehin versatil. Der prominenteste jansenistisch orientierte Kleriker der Jahrhundertmitte, der Wiener Kardinal Christoph von Migazzi, wurde nach 1767 der entschiedenste Gegner der theresianischen und josephinischen Reformen.8

Hersche, Spätjansenismus (wie Anm. 6), passim; Sylvaine Reb-Gombeaud, Le Cardinal Migazzi, archevÞque de Vienne (1757–183): un pr8lat „eclair8“?, in: Michel Grimberg u. a. (Hg.), Recherches sur le monde germanique. Regards, approches, objets, Paris 2003, 351–364. Dieter Breuer zufolge lief in der ,aufklärerischenR Phase Migazzis staatliche und kirchliche Reform parallel, in der ,reaktionärenR ging es um die staatliche Suprematie über kirchliche Interessen, vgl. Dieter Breuer, Kardinal Migazzi, Förderer und Gegner des kulturellen Wandels im theresianischen Zeitalter, in: Franz M. Eybl (Hg.), Strukturwandel kultureller Praxis. Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Sicht des theresianischen Zeitalters, Wien 2002 (Jahrbuch der österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 17), 219–231. 8

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In den tatsächlichen Entwicklungsprozessen des 18. Jahrhunderts stehen theologische und philosophische Fragen ohnehin nie in Reinform zur Disposition, man hat es mit unübersichtlichen Gemengelagen von politischen, juridischen und kulturellen Problematiken und flexiblen Strategien der Akteure zu tun, innerhalb wie außerhalb der kirchlichen Organisationen oder staatlichen Institutionen. Reformorientierungen innerhalb der religiösen Organisationen und der Hierarchie (Klerus, Ordensgemeinschaften, Lehrer und Theologie) sind zu unterscheiden von ähnlich gerichteten Orientierungen außerhalb dieser Institutionen, sie sind aber im dominant katholischen Kontext immer auch auf die Rolle der katholischen Kirche bezogen – wie ja auch der Josephinismus mit seinen staatskirchlichen Intentionen. (Dass die bürokratische Eigenlogik des Staates nicht von selbst zum Josephinismus tendierte, zeigt das wechselnde Schicksal der Josephiner im Beamtenapparat der franziszeischen Epoche.) Tatsächlich hat die Diskussion mehr mit dem – zeitgenössischen wie nachträglichen – framing zu tun als mit den historischen Konfliktlinien im ,Dunkel des gelebten AugenblicksR (Ernst Bloch). Jedenfalls aber berechtigt die Diskussion, theologische Fragen nur als ein Element in einem Ensemble umfassenderer kultureller Prozesse zu sehen: von Prozessen der Autonomisierung von Handlungsfeldern, Prozessen des Mentalitätswandels und der Sozialdisziplinierung. Dann lässt sich „Aufklärung“ auch insgesamt stärker als Habitusform und auch als Habitusprojekt fassen, als verkörpertes Prinzip der Handlungen der Akteure und nicht als Set von philosophischen oder religiösen Glaubenssätzen; und als ,Bildungs-R oder als politisches Projekt der Formung von Habitus.9 Der wenig durchschlagende Erfolg der josephinischen Reformen und der Widerstand gegen sie zeigt die Persistenz populärer Habitusformen, die mit Institutionen, Werthaltungen, Meinungen und Lebensformen koordiniert sind. Gerade die Kunst arbeitet mit an solchen Habitusmodellierungen, wie Bodi und andere an der Prosa der Aufklärung und ihrem Versuch gezeigt haben, kritische Werthaltungen zu implementieren und insgesamt auf die structures of feeling (Raymond Williams) zu wirken (daher auch die Front zur barocken Kunst). Nachhaltigen und bleibenden Erfolg hatte in und aus dieser Kultur nur Die Zauberflöte von Mozart und Schikaneder (1791), eben weil die Oper selbst auf der Ebene der Habitus einen dritten Weg zwischen Freimaurerelitismus und populärem Theater zu steuern vermochte und dafür als vielleicht einziges Werk der Aufklärung, und nicht nur der österreichischen, dauerhaft Aufklärung und Affektivität in globalem

Zum Habitus als dem spezifischen inkorporierten Generationsprinzip der Handlungen vgl. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Aus dem Frz. von Achim Russer, Frankfurt am Main 2001, 165–209. 9

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Maßstab zu verbinden versteht, was weder Voltaire noch Diderot, Pope oder Lessing beschieden war.10 II. Mit Michael Cosmas Denis11 lässt sich ein Fall untersuchen, der gerade in den unterschiedlichen framings und Filtern der Historiographie der österreichischen Literatur, aber auch der Aufklärungsliteratur insgesamt schwer unterzubringen ist: als (Ex-)Jesuit und katholischer Geistlicher, Lyriker, Übersetzer, Gelehrter in Geschichts- und Naturdingen. Dass Denis weitgehend der Vergessenheit anheimfallen konnte, ist umso bemerkenswerter, da es sich bei ihm wenigstens in den 1760er und 1770er Jahren um einen der sehr gut bekannten Autoren von Aufklärung und Empfindsamkeit handelte, in ,DeutschlandR wie auch darüber hinaus. Denis war zudem ein überzeugter und eifriger Teilnehmer an der Freundschaftskultur des Jahrhunderts und pflegte Korrespondenzen mit Partnern aus mehreren intellektuellen Generationen. Dazu zählten literarische und durchaus persönliche Freundschaften mit protestantischen Dichtern und Literatoren wie Friedrich Gottlieb Klopstock, Karl Wilhelm Ramler, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Anna Luisa Karsch, Friedrich Nicolai und Karl Friedrich Kretschmann; eine Ode von Denis auf eine Reise Josephs II. eröffnete dann aber auch eines der literarischen Foren einer jungen Autorengeneration, den Göttinger Musenalmanach von 1770. In dessen ersten drei Jahrgängen ist Denis immer prominent vertreten12, im „Göttinger Hainbund“ wird Denis zu den „berühmten Freunde[n]“ der Herausgeber Vgl. Werner Michler, Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015, 299–322. Mozart ist ohnehin ein wichtiger Zeuge für eine ,katholische AufklärungR. 11 Zu Michael Denis (1729–1800) vgl. als bislang einzige, aber immer noch wertvolle Monographie Paul von Hofmann-Wellenhof, Michael Denis. Ein Beitrag zur deutsch-österreichischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Innsbruck 1881. Zu einzelnen Aspekten vgl. Ruprecht Wimmer, Michael Denis und seine Ossian-Übersetzung, in: Germanistische Tangenten. Deutschbritische Berührungen in Sprache, Literatur, Theatererziehung und Kunst, Regensburg 1989, 35–47, ders., Der Jesuit Michael Denis. Maria Theresias Hofdichter, Barde und Bibliothekar, in: Pierre B8har u. a. (Hg.), Maria Theresias Kulturwelt. Geschichte, Religiosität, Literatur, Oper, Ballettkultur, Architektur, Malerei, Kunsttischlerei, Porzellan und Zuckerbäckerei im Zeitalter Maria Theresias, Hildesheim u. a. 2011, 45–58. Im Kontext der spätlateinischen Dichtung grundlegend Werner M. Bauer, Latinitas Austriaca. Zur neulateinischen Dichtung der josephinischen Epoche, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 30/2 (1998), 32–115, zu Denis 70–91. 12 „Die Sammlung flüchtiger Poesieen, die ich, nunmehr ins dritte Jahr, unter dem Charakter eines Almanachs herausgebe, hat bisher immer vortreffliche Stücke, unter Ihrem Namen, enthalten. In der ersten liess ich ein paar in unsern Gegenden damals noch wenig bekannte Oden nachdrucken; die zweyte enthielt zwey schöne Gedichte an Sie; die dritte, die ich die Ehre habe Ihnen hier zu überreichen, hat das Glück Sineds Antwort an Rhingulph dem Publiko bekannt zu machen“ (Heinrich Christian Boie an Denis, 28. Dez. 1771, in: Michael Denis, Literarischer Nachlass, hg. von Joseph Friedrich Frh. von Retzer, 2 Bde., Wien 1801/02, Bd. 1, 186 f., hier 186). 10

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gezählt, wie „die Ramlers, die Denis, die Lessings“.13 In der Wiener literarischen Szene fungierte Denis als Mentor durchaus unterschiedlicher Autorencharaktere. Als er sich Anfang der 1780er Jahre zur Ruhe setzten möchte, will er „Horazen folgen. Solve senescentem mature sanus equum &c. Um so viel mehr, da wir in Wien nun einen hübschen Nachwachs an jüngeren Dichtern haben, einen Haschka, Hofstätter, Alxinger, Blumauer […].“14 Daneben hat der „Barde Josephs“15 seine literarische Arbeit immer mit der Regentschaft Maria Theresias verknüpft – und mit ihrem Tod. Zu DenisQ Teilhabe an der größeren europäischen Diskussion zählt nicht nur seine poetische Kommentierung des Siebenjährigen Krieges aus der österreichischen Perspektive,16 übrigens ohne Schaden für die persönlichen Beziehungen zu den preußisch orientierten Autoren wie Gleim und Ramler, sondern vor allem seine erste vollständige Übertragung des Ossian von James Macpherson aus dem Englischen ab 1768. Mit Herders Rezensionen in Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek und dem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker ist Denis auf den Höhenkamm der späteren Literaturgeschichtsschreibung geraten, allerdings wie Pontius ins Credo: Für Herder verfehlt DenisQ Übertragung in den (KlopstockQschen) Hexameter die soeben von Herder selbst entworfene Kulturpoetik der ,alten VölkerR. Denis gehört dann aber auch zu den Protagonisten der vom Ossian inaugurierten ,BardenmodeR, jener altdeutsch-nordischen Sprach- und Dichtungsmaske, die zwischen Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Gedicht eines Skalden (1766) und Klopstocks Gelehrtenrepublik (1774) mit dem ,BardenR ein antiquarisch-autochthones Dichtungsmodell anbot. Ernst Theodor Johann Brückner an Johann Heinrich Voß, 12. Juni 1772, in: Ernst Metelmann, Zur Geschichte des Göttinger Dichterbundes 1772/1774, Stuttgart 1965, 8–10, hier 9. 14 Denis an Nicolai, 18. März 1782, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Nachlass Nicolai, I/14 DE-611-HS-1512056, Nr. 10. In der Staatsbibliothek zu Berlin und der Handschriftenabteilung der Wienbibliothek im Wiener Rathaus sind 17 Briefe von Denis an Nicolai erhalten, der „Literarische Nachlass“ (wie Anm. 12) enthält in Bd. 2, 158–169 zehn Briefe von Nicolai an Denis. Erhalten sind Briefe zwischen 1769 und 1798. Vgl. Friedrich Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, im Jahre 1781. Nebst Bemerkungen über Gelehrsamkeit, Industrie, Religion und Sitten, Bd. 4, Berlin, Stettin 1784, 786. 15 Michael Denis, Die Lieder Sineds des Barden mit Vorbericht und Anmerkungen von M. Denis, aus der G. J., Wien 1772, 153. 16 Zuletzt ist Denis als Kriegsdichter auf der anderen Seite des Siebenjährigen Krieges in das Bewusstsein der Aufklärungsforschung gelangt, vgl. Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, Berlin 2015, 654 f.; Annika Hildebrandt, Von Barde zu Barde. Die Wiener Aufklärung in Michael DenisQ Topographie der deutschen Literatur, in: dies., Charlotte Kurbjuhn, Steffen Martus (Hg.), Topographien der Antike in der literarischen Aufklärung, Bern u. a. 2016 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, NF 30), 201–215, dies., Steffen Martus, „Daß keiner nur durch Macht fällt, stehet, oder steiget“. Konfessionelle und politische Konkurrenzen in der Dichtung des Siebenjährigen Kriegs, in: Overhoff, Oberdorf (Hg.), Katholische Aufklärung (vgl. Anm. 4), 297–316. 13

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Quer zu diesen Formationen wie auch zum Josephinismus im engeren Sinn steht Denis als ein Jesuit, der anders als viele Exjesuiten dem Orden zeitlebens die Treue hält und dessen Aufhebung zu beklagen nicht müde wird, als katholischer Priester, Abb8,17 Lehrer am 1746 gegründeten Wiener Theresianum, einer semiuniversitären Lehranstalt neuen Typs,18 Bibliograph und schließlich Kustos der Wiener Hofbibliothek; Verfasser von deutschsprachigen und lateinischen Oden, Theaterstücken, Übersetzungen, gelehrten Abhandlungen in mehreren Fächern sowie von Kirchenliedern.19 Denis ist „kein Josephiner“20 im engeren und kirchenpolitischen Sinn, kein Freimaurer,21 auch wenn er mit der gesamten maurerisch organisierten intellektuellen Elite Wiens auf bestem Fuß steht. Auch die in der Forschung verbreiteten Kriterien für Zugehörigkeit zur katholischen Reform (Antijesuitismus, Gallikanismus, Jansenismus) treffen auf Denis nicht zu. Der Sympathie für die Jansenisten ist Denis unverdächtig, gibt er ihnen doch – gleich nach den philosophes – die Schuld an der Denunziation der Jesuiten bei den europäischen Herrschern („in Gallia Sophistarum globus, et Jansenianae factionis homines“22 hätten am Untergang des Ordens gearbeitet). Unter den „Bestreitern“ der religiösen „Wahrheit“ bilden die Jansenisten in DenisQ Bücherkunde eine eigene Klasse.23 Doch gehört, andererseits, für Denis der Jansenist Gerard van Swieten, Leibarzt der Kaiserin, Zensor, Jesuitengegner und Reorganisator des österreichischen Bildungswesens, zu den „Männer[n] […], hoher Erkenntnis voll […]; jeglicher Gerhard Schmolze, Michael Denis, Barde und Abb8. Zur 250. Wiederkehr seines Geburtstages, in: Österreich in Geschichte und Literatur 24 (1980), 160–170. 18 Helmut Engelbrecht: Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Bd. 3, Wien 1984, 181–184. 19 DenisQ Werk ist im katholischen Kirchenliedgut noch lebendig, vier der 17 Lieder aus [Denis,] Geistliche Lieder zum Gebrauche der hohen Metropolitankirche bey St. Stephan in Wien und des ganzen wienerischen Erzbistums, Wien 1774 finden sich im aktuellen katholischen Gesangbuch „Gotteslob“ (2013, Österreich-Ausgabe). Vgl. dazu Franz Karl Praßl, Art. „Kirchengesangbuch“, in: Oesterreichisches Musiklexikon online, Zugriff: 20. 09. 2021 (https://www.musiklexikon.ac.at/ ml/musik_K/Kirchengesangbuch.xml) sowie Sonja Ortner, Österreich, in: Dominik Fugger, Andreas Scheidgen (Hg.), Geschichte des katholischen Gesangbuchs, Tübingen 2008 (Mainzer hymnologische Studien 21), 160–219, hier 173–179. 20 Hermann Haberzettl, Die Stellung der Exjesuiten in Politik und Kulturleben Österreichs zu Ende des 18. Jahrhunderts, Wien 1973, 84. 21 Der älteren Literatur galt Denis – neben Alxinger, Blumauer, Born und anderen wichtigen Protagonisten der österreichischen Aufklärung – als Freimaurer und Angehöriger der bedeutenden Wiener Loge „Zur wahren Hoffnung“, was nach den Akten nicht der Fall ist, vgl. Hans-Josef Irmen (Hg.), Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge „Zur wahren Eintracht“ (1781–1785), Frankfurt am Main u. a. 1994. 22 Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 1, 47. 23 Denis, Einleitung in die Bücherkunde, Bd. 2: Literargeschichte, Wien 1778, 33. 17

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Wissenschaft/ Kam und jeder der Künste Glanz und Nutzen durch sie zurück.“24 F8nelon gehört zu DenisQ früher Lektüre. Van Swietens Sohn Gottfried – Freund Mozarts, Librettist Haydns, Mentor Beethovens, Schüler DenisQ am Theresianum – ist die Neuausgabe der Ossian-Übertragung und der eigenen Gedichte zugeeignet,25 die Kustosstelle an der Hofbibliothek verdankt er „der Verwendung des Freyh. v. Swieten meines edlen Gönners“.26 Ähnliches gilt auch für die Beziehungen zu dem Ex-Jesuiten und nunmehr antiklerikalen Naturforscher Ignaz von Born, dem Denis in einer Zeitschrift des Dramatikers, Freimaurers und Illuminaten Otto von Gemmingen einen Gedichtzyklus widmet, neben Beiträgen von Aloys Blumauer, Georg Forster und Johann Georg Schlosser.27 In Borns eigener Zeitschrift publiziert Denis naturgeschichtliche Miszellen.28 Zum Born-Kreis zählt auch der Hofsekretär, Zensor, Freimaurer Joseph Friedrich von Retzer, DenisQ ehemaliger Schüler am Theresianum, sein Freund und der Herausgeber seines literarischen Nachlasses. Auch sonst zeigt Denis durchweg ein aufklärerisches Profil.29 Mit dem Jansenisten Blarer,30 einem der wichtigsten Funktionäre des josephinischen Klerus, Vorsteher des Wiener und des Brünner Priesterseminars, steht er in gutem Einvernehmen: „Ich spreche oft“, so Denis an Nicolai, mit unserm gewesenen H. Legationsprediger Blarrer [sic] von Berlin und den dortigen würdigen Gelehrten, und höre von ihm mit dem größten Vergnügen, daß sie mir recht gut sind. Der Beyfall aufgeklärter Männer der Nation ist zugleich die angenehmste Belohnung, zugleich der wirksamste Antrieb einem fühlbaren Herzen.31

„Aufklärung“ ist, von ihrem „Mißbrauch“32 abgesehen, bei Denis ein gutes Wort: „Aufklären ist ein guter Ausdruck […]. Ein aufgeklärter Verstand ist, der deutliDenis, Lieder Sineds (wie Anm. 15), 127 f. Michael Denis, Ossians und Sineds Lieder, Bd. 1, Wien 1784, unpag. „Zuschrift“. 26 Michael Denis an Friedrich Nicolai, 20. April 1784, Wienbibliothek, HIN 5176. 27 Die Grablieder der alten Schäferdichter übersetzt, in: Magazin für Wissenschaften und Litteratur, Bd. 1/1, Wien1784, 40–59; ebf. in: M. Denis, Nachlese zu Sineds Liedern. Aufgesammelt und hg. von Joseph von Retzer, Wien 1784. In Gemmingens Zeitschrift auch Das Orakel der Deutschen (Kritiken über DenisQ Ossian), Magazin für Wissenschaften und Litteratur, Bd. 1/1, Wien 1784, 135–141. 28 Michael Denis, Seltsame Veränderung einer Weißpapel, von Herrn Abb8 Denis, Custos an der k.k. Bibliothek, in: Physikalische Arbeiten der einträchtigen Freunde in Wien, Bd. 1/3, Wien 1785, 68. 29 In Begriffen der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung hat Denis mit dem Ossian und der Adaption durch die jungen Göttinger teil an einer Bewegung der ,Überwindung der AufklärungR in Richtung der Weimarer Klassik. 30 Vgl. Hersche, Spätjansenismus (wie Anm. 6), 274–291. 31 Michael Denis an Friedrich Nicolai, 30. März 1778, StB Berlin (wie Anm. 14), Nr. 8. 32 Michael Denis, Lesefrüchte, Tl. 2, Wien 1797, 52–55 („Mißbrauch“), hier 52 f. „Allein nun heißt manchen ein aufgeklärter Mensch, der seine Ungebundenheit so weit ausdehnet, als er kann, 24 25

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che Begriffe hat.“33 Die philologischen Urkundenkritiker sind ihm „nützliche Beförderer der Kenntnisse, warme Freunde der Wahrheit und Aufklärung“;34 ein Distichon ist betitelt mit „Die Aufklärung muss fort gehen“.35 Im Disput mit religiösen und philosophischen Gegnern ist „zu wünschen, daß man jedesmal nach dem Geiste Jesu mit Sanftmuth verfahre, und nicht Leidenschaften und menschliche Absichten ins Spiel menge“.36 Dieser irenische Habitus zeigt sich auch in Toleranzfragen, wo Denis deutlich über das bloße ,TolerierenR hinausgeht.37 Für den ersten durch das Toleranzpatent ermöglichten protestantischen Kirchenneubau in Wien entwirft er eine Inschrift.38 Moses Mendelssohn, Nicolais „bester Freund“,39 ist für Denis eine „wahre[ ] Zierde Deutschlandes“.40 Was die theologischen Werthaltungen betrifft, ist Denis nicht nur die Kontroverstheologie fremd, er setzt sich auch – in der Sprache des Bardendiskurses – von der Scholastik ab, die den Gegnern der Jesuiten als typisch für deren Bildungsinstitutionen gegolten hatte: „Müssigbrütender Witz, luftiges Wortgezänk/ Nicht nach Wahrheit bemüht, nicht der Natur getreu,/ Scholl vom lärmenden Saale/ Wahngetäuschter Druiden aus“,41 wobei den ,DruidenR als Priestern neben den ,BardenR als den Sängern in der bardischen Welt die Rolle der Ideologen zukommt. Auch bei den anderen Themenfeldern der Jesuitenkritik zieht Denis schon früh Konsequenzen. So spielen die Realien eine wichtige Rolle: „Ich wünschte Sachen zu hören, nicht Worte“, so Denis von seinem jesuitischen Bildungsgang, und […] ich konnte mich überhaupt nicht mit jenen spizfündigen, scholastischen Fragen, und den Meinungen so verschiedener Systeme aussöhnen, für die man oft, wie für Heerd und Altar kämpfen, und um derentwillen man oft göttliche Dinge nur gar zu menschlich, um nicht zu sagen unmenschlich, behandeln sieht; mochte es mir nun an der dazu erforderlichen Geschiklichkeit fehlen, oder mochte ich schon zu kühl zu solchen Zänkereyen geworden seyn, oder mir endlich der Gedanke zu oft vorschweseine Religionspflichten auf die kleinste Summe reduciret, mit Aberglauben, Dummheit und Pfaffenbetrug um sich wirft.“ 33 Ebd., 52 f. 34 Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 1, 139. 35 „Culturae certas, Populi! desigite metas./ Ultima Culturae est linea Barbaries.“ Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 2, 98. 36 Denis, Bücherkunde (wie Anm. 23), Bd. 2, 30. 37 Zum Toleranzproblem vgl. Lehner, Katholische Aufklärung (wie Anm. 4), 59–85 (Kap. „Die katholische Lernkurve: Tolerierung und Toleranz“). 38 „Auf die Kirche der Reformirten“, 1783; Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 2, 8 (gemeint ist das „Toleranzbethaus“, die Reformierte Stadtkirche der Evangelischen Gemeinde H.B.). 39 Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 2, 161 (Nicolai an Denis, 20. Juni 1770). „Herr Moses Mendelssohn, mein bester Freund, der Sie seiner grossen Hochachtung versichert, arbeitet an einem Werke über die hebräische lyrische Poesie, das interessant werden wird.“ 40 Michael Denis an Friedrich Nicolai, 28. April 1786. StB Berlin (wie Anm. 14), Nr. 11. Vgl. auch Denis, Lesefrüchte (wie Anm. 32), Tl. 1, 209 (Abschnitt „Juden“). 41 Denis, Lieder Sineds (wie Anm. 15), 127 f.

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ben: es heiße seine Zeit nicht am besten anwenden, sich mit Dingen zu beschäftigen, von denen man nie eine sichere Kenntniß erlangen kann, und von denen man sich für das übrige Leben wenig oder beynahe gar keinen Nuzen versprechen darf.42

Im Passauer Gymnasium nahm man sich in den 1740er Jahren, so Denis kritisch im Rückblick, in der ,PhilosophieR „einzig den Aristoteles zum Führer. Gaßendi und Descartes wurden selten erwähnt, der Name Newton nicht einmal gehört.“43 Die „scholastischen Hypothesen“ hingegen waren und sind „fast von gar keinem Nuzen.“44 Mit seinem Freund, dem Jesuiten und Kollegen am Theresianum, dem Theologen und Naturforscher Ignaz Schiffermüller gibt Denis 1776 ein umfassendes Systematisches Verzeichnis der Schmetterlinge der Wienergegend heraus.45 In der Bardenfeyer am Tage Theresiens (1770), einem Gedichtzyklus, den Herder einer scharfen ästhetischen Kritik unterzog, wird das Wirken der Kaiserin mit dem ganzen Repertoire der aufklärerischen Lichtmetaphorik gefeiert: „So schwand trügender Dunst, welcher auf Wissenschaft,/ Und auf jeglicher Kunst menschlicher Hände lag“,46 die Etablierung deutschsprachiger Poesie („der Barde […] spannte die Saiten um“47) gehört zu Theresiens Modernisierungswerk ebenso wie das Erwachen des „schlummernden Fleiß[es]“, die Wissenschaft und die Reform der Schaubühne (durch Sonnenfels). In seiner Jahrhundertbilanz Die Aeonenhalle. Besungen in den letzten Stunden des XVIII. Jahrhundertes zählt Denis die moderne technische Chemie, die Entdeckung Australiens, das Linn8Qsche System, die KlopstockQsche Poesie („Unerreichbar/ Ward er Homer und Virgil des Seinen“), die Pockenimpfung und den FranklinQschen Blitzableiter zu den Errungenschaften des Jahrhunderts,48 ungeachtet ihrer konfessionellen und politischen Verortungen. In der Naturkunde dokumentiert das Lehrgedicht Venatus papilionum des Schmetterlingsforschers die Freude an der Vielfalt des Kosmos49 in der geordneten Welt der Aufklärung; sie zählt, in Parenthese gesagt, auch zu den Bildungsvoraussetzungen des im Benediktinerstift Kremsmünster unterrichMichael Denis, Jugendgeschichte, von ihm selbst beschrieben. Aus dem Lateinischen übersezt [und hg. von Joseph Friedrich Freih. von Retzer], Winterthur 1802, 88 f. 43 Ebd., 34. 44 Ebd., 92. 45 Vgl. Christian Promitzer, Franz Speta, Naturgeschichte im josephinischen Linz. Ignaz Schiffermüller und der „ökonomisch-botanische Garten“ beim Bergschlößl, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 1989, 45–66. 46 Denis, Lieder Sineds (wie Anm. 15), 127. 47 Ebd., 128. 48 Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 2, 100–105. 49 Michael Denis, Venatus papilionum, in: ders., Carmina quaedam, Wien 1794, 135–138, vgl. dazu Bauer, Latinitas (wie Anm. 11), 76–80 („ein spätes Stück der jesuitischen Tradition des für den Schulgebrauch verfaßten Lehrgedichts […], allerdings angereichert um Elemente des zeitgenössischen (deutschsprachigen) Naturgedichts mit seiner Aussage des subjektiven Erlebnisses und dem Zurücktreten der Hochstilebene […]“, 80). 42

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teten Adalbert Stifter. Linn8 ist der Kronzeuge einer solchen Naturauffassung. Schließlich ist auch die „wahre Poesie“ des Bardengesangs eine „Tochter der Natur, die, gleich ihrer Mutter, Schminke und Flitterstaat verwirft. Sie ist die Stimme des Herzens, die wieder Herzen sucht. Sie ist das Product der natürlichen, von Gegenständen erregten Begeisterung, nicht eines erkünstelten Enthusiasmus, oder eines frostigen und tändelnden Witzes.“50 Mit Nützlichkeitsdenken, Antischolastizismus, Toleranz, Natur- und Realienorientierung sind zentrale Charakteristika der ,katholischen AufklärungR51 bei Denis nicht nur repräsentiert, sondern auch habitualisiert: Am Ende einer Darstellung von aufwändigen Insektenbeobachtungen wird gefragt: Und wie konntest du die Zeit so verschwenden? Eine unerwartete Frage! Ich hätte mich dieser anderen versehen: Wie konntest du das bey deinen vielen übrigen Arbeiten? Und dann hätte ich geantwortet: Freund! der Tag ist lang, nicht allein für den Müßiggänger, sondern auch für jeden, […] der die Zeitfinanzen verstehet. Der Schöpfer hat mit seinem Finger ein grosses Buch geschrieben. Der Allweise hätte es nicht geschrieben, wenn er es nicht von vernünftigen Wesen gelesen wissen wollte. Das ist der älteste Classiker.52

Allerdings ist die Wahrnehmung solcher Motive stark kontextabhängig. DenisQ anonym erschienene Geistliche Lieder gelten als zentrales Gesangbuch der katholischen Aufklärung53 und zeigen auffällige Subjektivierungstendenzen, sie sind etwa überwiegend aus der Ich-Perspektive gesprochen.54 In der Allgemeinen deutschen Bibliothek hingegen werden die Geistlichen Lieder kurz und bündig als papistisch und abergläubisch abgefertigt: „So erzkatholisch, als möglich. Das Bittlied um Regen, um ein besseres Wetter, zur Zeit der Theurung[,] in Kriegsnöthen, und in andern öffentlichen Angelegenheiten ausgenommen sind die übrigen Lieder Kirchengesänge zu den Hauptfesten in der katholischen Christenheit. Ein paar

Denis, Lieder Sineds (wie Anm. 15), fv. 51 Lehner, Katholische Aufklärung (wie Anm. 4), 23–57. 52 Denis, Lesefrüchte (wie Anm. 32), Tl. 1, 206 f. 53 DenisQ Geistliche Lieder und die Lieder der Kirche aus den römischen Tagzeiten und Maßbuche übersezt (Wien 1773) des Jesuiten Franz Xaver Riedel, der mit Denis am Theresianum lehrte, „fanden größten Anklang und gehörten fortan zum Basisrepertoire, aus dem eine aufgeklärte Gesangbuchproduktion schöpfen konnte.“ Dominik Fugger, Aufklärung (18. und 19. Jahrhundert), in: ders., Scheidgen (Hg.), Gesangbuch (wie Anm. 19), 20–32, Zit. 23. 54 „Welterlöser! ich erfülle/ Deines treuen Knechtes Rath. […] Komm und bringe mir den Frieden!“ [Michael Denis,] Geistliche Lieder (wie Anm. 19), 5; „Dieß ist der Tag von Gott gemacht./ Ich will mich herzlich freuen!“ (ebd., 6), „Laß mich Deine Leiden singen“ (ebd., 8); „Ich bethe drey Personen/ In einer Gottheit an“ (ebd., 15), „Ein frommes Loblied, o Johann/ Soll Dir mein Mund itzt singen./ Die Seele soll, o Wundermann!/ Zu Dir empor sich schwingen“ (45 f.). In „Wir“-Perspektive sind die Lieder in öffentlichen Angelegenheiten abgefasst. 50

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Pröbchen mögen seyn der Anfang des Bittgesanges vor dem Gnadenbilde Maria von Pötsch“.55 III. Die österreichische Literatur- und Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts ist zu einem Gutteil die Geschichte des Jesuitenordens, die Geschichte seiner Renegaten und seiner vehementen Gegner eingeschlossen; ohne ihn hätten sowohl Aufklärung wie Gegenaufklärung andere Formen angenommen. Die Akteure der österreichischen Aufklärungsliteratur im weitesten Sinn sind ja selbst nicht bloß in katholisch dominierten Bildungsinstitutionen sozialisiert worden, sie hatten auch einen oft engen Bezug zu den Orden, vor 1773 insbesondere zu den Jesuiten. Blumauer, Born und Reinhold waren ebenso Novizen gewesen wie der Kirchenrechtler und radikale Josephiner Joseph Valentin Eybel,56 Ordensangehörige waren der Dichter Mastalier, der Historiker Karl Joseph Michaeler, der Dichter und Publizist Lorenz Leopold Haschka.57 Die Jesuiten dominierten bis 1773 das österreichische Bildungswesen, wenn sie auch zunehmend in die Defensive gerieten; zuerst unter den Angriff konkurrierender (Schul-)Orden wie der Piaristen und der Benediktiner, dann kamen die Orden insgesamt in die Kritik der Protagonisten säkularer (oder eben: josephinischer, staatskirchlicher) Staatlichkeit.58 Zur Jahrhundertmitte, in DenisQ Schuljahren, galt vielen angehenden Intellektuellen die Gesellschaft Jesu aber immer noch als Hauptvertreterin von Wissenschaft und Lehre im attraktiven institutionellen Rahmen einer kosmopolitischen, bildungs- und medienzentrierten Gelehrtengemeinschaft, elitenorientiert, aber sozial inklusiv, machtbewusst, global aktiv und mit den Denkmotiven und -traditionen von Akkommodation und Kasuistik ideologisch flexibel bis an die Grenzen des Relativismus. Für DenisQ Vater, einen Schärdinger bürgerlichen Juristen und Allgemeine deutsche Bibliothek 32/1 (1777), 53 f. – Auch im Fall Ossian und anderer Schriften setzt sich die Freundschaft mit Nicolai nicht in dessen Wahl wohlwollender Rezensenten für die Allgemeine deutsche Bibliothek um; sie wird aber auch nicht gefährdet. 56 Zu Eybel vgl. David Sorkin, The Religious Enlightenment: Protestants, Jews, and Catholics from London to Vienna, Princeton 2008, 215–249. 57 Haberzettl, Exjesuiten (wie Anm. 20), 38. 58 Als das Bildungsmonopol der Jesuiten gebrochen war, folgte eine Phase einer gewissen Großzügigkeit gegenüber den früheren Angehörigen des Ordens, die selbst wieder, nach dem Ende ihrer korporativen Verfasstheit, in wenigstens drei Gruppen zerfielen, mit ebenfalls sehr unterschiedlichen Zielen. Vgl. Winfried Müller, Der Jesuitenorden und die Aufklärung im süddeutschösterreichischen Raum, in: Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 4), 225–245; Richard van Dülmen, Antijesuitismus und katholische Aufklärung in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch 89/1 (1969), 52–80; Haberzettl, Exjesuiten (wie Anm. 20); Peter Horwath, Der Kampf gegen die religiöse Tradition: Die Kulturkampfliteratur Österreichs, 1780–1918, Bern u. a. 1978 (German Studies in America 28); Burson, Introduction (wie Anm. 5), 21 f. 55

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Gutsverwalter, stehen die Jesuiten für Gelehrsamkeit schlechthin. Gegen die auf zeitgenössische Polemiken zurückgehende Vorstellung, der Orden sei ästhetisch und wissenschaftlich ,dem Barock verhaftetR geblieben, ist zuletzt eine genuin jesuitische Aufklärung konstatiert worden,59 gerade auch in (natur-)wissenschaftlicher Hinsicht; Denis gehört dazu. Jesuitisch dominierte Lehranstalten wie DenisQ Wiener Theresianum sind „als Zentren des neuen, aufgeklärten Geistes“ bezeichnet worden.60 DenisQ Bücherkunde – der auch ein bemerkenswert interkonfessioneller Zug eignet61 – kann als ergänzende Leistungsbilanz der nicht-protestantischen Wissenschaftswelt und der Ordensgelehrten, insbesondere der Jesuiten gelesen werden. Wenn Aufklärung auch als „a set of cultural and communicative practices whose ,reasonR was an endeavour to accumulate and systematise useful knowledge about manQs physical and social-moral environment in order to improve that environment“62 zu charakterisieren ist, dann zeigt sich Denis einerseits als Virtuose der Wissensnetzwerke, andererseits als Experte der Wissensspeichermedien, als der er als Bibliothekar und Bücherkundler die Historia literaria zur Bibliothekswissenschaft weiterentwickelt63 und auch zur Geschichte des Buchdrucks wichtige Beiträge leistet. Vgl. z. B. Jeffrey D. Burson: Distinctive Contours of Jesuit Enlightenment in France, in: Robert Aleksander Maryks (Hg.), Exploring Jesuit Distinctiveness. Interdisciplinary Perspectives on Ways of Proceeding within the Society of Jesus, Leiden, Boston 2016 (Jesuit Studies 6), 212–234 sowie die Diskussion zwischen Jeffrey Burson, Maria Teresa Fattori, Harm Klueting, Robert Scully S.J., Mita Choudhury und Dale Van Kley zu Van Kley, Reform Catholicism and the International Suppression of the Jesuits in Enlightenment Europe, in: The Catholic Historical Review 105/4 (2019), 738–757. 60 Michael Schaich, Zwischen Beharrung und Wandel. (Ex-)Jesuitische Strategien im Umgang mit der Öffentlichkeit, in: Franz M. Eybl (Hg.), Strukturwandel kultureller Praxis (wie Anm. 8), 193–217, hier 194. Über den Hofastronomen und (Ex-)Jesuiten Maximilian Hell – und engen Vertrauten DenisQ – liegt jetzt eine ausgezeichnete Monographie zum Komplex Naturwissenschaft – Habsburgermonarchie – katholische/jesuitische Aufklärung vor: Per Pippin Aspaas, L#szll Kontler, Maximilian Hell (1720 – 92) and the Ends of Jesuit Science in Enlightenment Europe, Leiden, Boston 2020 (Jesuit Studies 27). Die einleitenden Kapitel skizzieren den aktuellen Forschungsstand. 61 Insgesamt verlässt Denis in der Bücherkunde den Boden der „konfessionalistische[n] Kontroverstheologie“ und dokumentiert mit der „Häufung bibliographischer Hinweise auf protestantische Literatur in allen Fachgebieten“ sein „Interesse am interkonfessionellen Wissensaustausch“, so Hanspeter Marti, Interkonfessioneller Wissenstransfer in der Zeit der Spätaufklärung. Zur Aufnahme der Historia literaria in deutschsprachigen katholischen Ländern, in: Frank Grunert, Friedrich Vollhardt (Hg.), Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 2007, 161–190, hier 177. 62 L#szll Kontler, What is the (HistoriansQ) Enlightenment Today?, in: European Review of History – Revue europ8enne dQHistoire 13/3 (2006), 357–371, hier 358. 63 Denis fasst Bibliothekstheorie, Buchkunde, Bibliotheksgeschichte und Bibliographie zur Bibliothekswissenschaft zusammen, so Karl-Heinz Weimann, Bibliotheksgeschichte. Lehrbuch zur Entwicklung und Topographie des Bibliothekswesens, München 1975, 86. Vgl. ders., Michael 59

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An DenisQ Netzwerk ist neben der konfessionellen und kulturpolitischen Vorurteilslosigkeit auch bemerkenswert, dass die sich anbahnende Trennung der Poesie (als Beruf) vom Gelehrtentum für Denis keine Rolle spielt. Dichter wie Klopstock, Ramler, Gleim und Hölty,64 Literatoren, Verleger und Publizisten wie Friedrich Nicolai, antiquarische Gelehrte und Philologen wie Bodmer, Klotz, Heyne und Gräter, Naturforscher wie Born und Hell, mit allen unterhält Denis teils ausgedehnte Korrespondenzen; Grußbotschaften zur Aufrechterhaltung von Kontakten werden bestellt, Porträts, Bilder, Schriften und Informationen ausgetauscht. Die Freundschaften vor Ort mit Karl Mastalier, Maximilian Hell und anderen, die Mentorschaften gegenüber den jungen österreichischen Intellektuellen wie dem Exjesuiten und enragierten Josephiner Haschka, Reinhold und Schülern aus dem Theresianum wie van Swieten und Retzer sind hier noch gar nicht berührt.65 Die sich abzeichnende und vielfach überdeterminierte kulturelle und politische Konkurrenz zwischen dem katholischen ,SüdenR und dem protestantischen ,NordenR spielt ausgerechnet für den Jesuiten Denis eine geringe Rolle. Diese Konkurrenz, die sich in Mentalitätsdifferenzen, in den politischen Bruchlinien im Reich, aber auch in der Zweiteilung des Buchmarktes äußert, verfestigt sich unter dem Eindruck der Kritik, die der reisende Berliner Aufklärer Nicolai an den süddeutschen, den österreichischen und insbesondere den Wiener Verhältnissen übt, zu einer immer neu mobilisierbaren Dialektik von Auto- und Heterostereotypen.66 Nicolai, der als Herausgeber des wichtigsten Rezensionsorgans der Aufklärung, der Allgemeinen deutschen Bibliothek, auch über große Diskursmacht verfügt, hat Denis ausdrücklich von der Kritik an katholischem Aberglauben und den von ihm allerorten vermuteten organisierten jesuitischen Umtrieben ausgenommen. „Im Theresianum“, so Nicolai in der Reisebeschreibung,

Denis und die Bibliotheksgeschichte. Ein Kaiserlicher Bibliothekar des 18. Jahrhunderts als Mitbegründer der Bibliothekswissenschaft, in: Reinhard Oberschelp (Hg.), Bibliotheken im Dienste der Wissenschaft, Frankfurt am Main 1986, 219–235. Wolf sieht bei Denis hingegen ,UngleichzeitigkeitenR zwischen der „literaturgeschichtlich vergleichsweise avancierte[n] Bardendichtung“ und der „altehrwürdige[n] historia litteraria aus der Zeit des ,vormodernenR Polyhistorismus“, vgl. Norbert Christian Wolf, Der Raum der Literatur im Feld der Macht. Strukturwandel im theresianischen und josephinischen Zeitalter, in: Eybl (Hg.), Strukturwandel (wie Anm. 8), 45–70, hier 66. 64 Vgl. das Gedicht Höltys an Denis in Denis, Lesefrüchte (wie Anm. 32), Tl. 1, 170–173; vgl. Walter Hettche, „Wir sind also Freunde“. Zwei unbekannte Hölty-Briefe, in: Schiller-Jahrbuch 40 (1996), 5–13. 65 Vgl. [Karl Leonhard Reinhold,] Reinholds Lied, als er Sineds Lieder das erstemal gelesen hatte, in: Litterarische Monate (Wien), März 1777, 131–134. 66 Vgl. Norbert Christian Wolf, Blumauer gegen Nicolai, Wien gegen Berlin. Die polemischen Strategien in der Kontroverse um Nicolais Reisebeschreibung als Funktion unterschiedlicher Öffentlichkeitstypen, in: IASL 21/2 (1996), 27–65.

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war für mich nichts merkwürdiger, als mein vieljähriger würdiger Freund, der berühmte Dichter Michael Denis. Er ist ein Exjesuit, aber von so vielen andern Exjesuiten sehr unterschieden. […] Denis ist beides, ein Schriftsteller von Talenten, und ein Mann von biederm bayerischen Sinne. Ich hatte die dichterischen Talente dieses wackern Mannes schon längst hochgeschätzt und hatte schon seit mehrern Jahren mit ihm in einem gelehrten und freundschaftlichen Briefwechsel gestanden. […] Ich verehre und liebe ihn noch; und er ist ein so edler Mann, daß ich hoffen darf, seine Freundschaft dadurch nicht verwirkt zu haben, daß er und ich, in verschiedenen Sachen, die uns beiden gleich wichtig sind, schon unserm Stande und Lage in der Welt nach, wesentlich verschieden denken müssen.67

Die Beziehung Denis/Nicolai belegt tatsächlich eine bemerkenswerte Flexibilität der Positionen an der Bruchlinie von unterschiedlichen Aufklärungsstilen sowie Kultur- und Konfessionsdifferenzen. Begonnen hatte sie mit Nicolais Interesse an der „vortreffliche[n] Übersetzung des Ossians“, die „auch in unsern Gegenden in den Händen aller Kenner“ sei, er selber habe sie auch „mit grossem Vergnügen gelesen und sie stets für eins der wichtigsten Neuen Werke gehalten“.68 DenisQ literarische und gelehrte überkonfessionelle Vernetzungsarbeit ist zuletzt als Versuch der „Enthierarchisierung der Beziehung zwischen dem literarischen Süden und Norden von Deutschland“ gelesen worden, „die Wien aus dem Status der Peripherie herauslöst.“69 Jedenfalls aber ist bemerkenswert, dass DenisQ gelehrtes und literarisches framing alle ideologischen und religiösen Bedenklichkeiten, alle kulturellen Reibungsflächen umschifft; wo Denis das eine tut, ohne das andere zu lassen, wird eine Reihe von Kompromissen nötig. Solcher ,AusgleichR geht dann mit dem von Denis gepflegten irenischen Habitus zusammen, den man als Charakteristikum gelingender ,katholischer AufklärungR bezeichnen mag.70 In einer mehrsprachig – lateinisch und italienisch – vorliegenden Ode auf den Besuch von Papst Pius VI. bei Joseph II. im Jahr 1782, einer direkten Konfrontation von Kirchen- und Staatsanspruch, wird elegant die Hoffnung geäußert, die beiden mögen sich vertragen.71 In größerer Perspektive stünde ja auch DenisQ ,deutschesR Engagement in Sachen Bardenpoesie und Netzwerkarbeit gegen die universalistische, wo nicht ultramontane Organisation der katholischen Kirche, vom internationalen und globalen Rahmen der Gesellschaft Jesu abgesehen. DenisQ gelehrt-literarische Strategie kann vorläufig als auf maximale Inklusivität gerichtet charakterisiert werden; ihre solide Basis ist das humanistisch-rhetorische Literaturmodell. Es ist zugleich der Garant, dass die Grenzen Nicolai, Beschreibung einer Reise (wie Anm. 14), Bd. 4, 783–786. Ganz ähnlich im Briefwechsel: Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 2, 160, 164, 166. 68 Nicolai an Denis, 14. Nov. 1769, Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 2, 159 f. 69 Hildebrandt, Von Barde zu Barde (wie Anm. 16), 203. 70 Lehner, Katholische Aufklärung (wie Anm. 4), 18. 71 Michael Denis, Pius VI. P. Max. Josephi II. Aug. Hospes sowie: Parafrase italiana dellQ autore, in Denis, Carmina (wie Anm. 49), 164–168. Vgl. Bauer, Latinitas (wie Anm. 11), 88. 67

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der katholischen Aufklärung nicht überschritten werden müssen; und der Garant, dass eine katholische Aufklärung als Fortsetzung humanistischer Wertsetzungen erscheinen kann. Innere Konsistenz und – ideologische oder ästhetische – Konsequenz ist hingegen kein strategisches Ziel.

IV. In der Literaturgeschichtsschreibung ist ,katholische AufklärungR kein gängiges Konzept, und tatsächlich wird sie nur schwer als Autorschaftsprofil greifbar, jedenfalls nicht bei Protagonisten von einiger Tragweite im Feld der Literatur. Ebenso ist noch weitgehend unklar, welche ästhetischen und literarischen Optionen mit einem solchen Profil verbunden wären. Dass die von Prosa und Satire dominierte josephinische Literatur auf den rhetorischen und poetischen, mitunter poetologischen Grundlagen der insbesondere jesuitischen Bildungseinrichtungen aufbaut und auch in ihren formalen Optionen von ihnen geprägt ist, leuchtet ein,72 ihre relative Entfernung zu jenem Pol des literarischen Terrains, an dem ,katholische AufklärerR in einem mehr als formalen und nicht bloß josephinischen Sinn anzusiedeln wären, ebenso. Dass Denis hingegen einen guten Kandidaten für eine ,katholische AufklärungR in der Literatur im emphatischen Sinn abgäbe, sollte nach dem Gesagten deutlich sein. Es soll nun noch nach dem spezifischen literarischen und poetologischen Programm DenisQ gefragt werden: nach Literaturkonzept und Poetik; nach der Auseinandersetzung mit Herder; und schließlich nach der Verortung im Theresianismus. Gewiss ließe sich DenisQ literarisches Profil als anachronistisch beschreiben;73 doch sind gerade die ,altenR, wenn man will, ,konservativenR Züge – rhetorisches Bildungsideal, gelehrte Poesie, alte Sprachen als Dichtungs- und Wissenschafts-, wo nicht sogar Verkehrssprache,74 Nähe von Religion und Kunst, humanistische Stil- und Gattungsoptionen – Voraussetzung für das Funktionieren einer situativ plausiblen fragilen Balance, die gewisse Grundsatzentscheidungen nicht treffen will oder nicht treffen kann. Das ist nicht so sehr der historischen Übergangszeit (welche wäre das nicht?) geschuldet als einer Reihe von Optionen, die sich nicht an den sich abzeichnenden Konfliktlinien im Durchsetzungskonflikt der Aufklärer orientieren, und auch nicht an deren Mitteln. Denis ist Dichter, insbesondere Lyriker und Übersetzer auf der Höhe der Zeit, aber jedenfalls kein Protagonist der Werner M. Bauer, Fiktion und Polemik. Studien zum Roman der österreichischen Aufklärung, Wien 1978; Bodi, Tauwetter (wie Anm. 1); Roger Bauer, Katholisches in der josephinischen Literatur, in: Klueting (Hg.), Katholische Aufklärung (wie Anm. 4), 260–270. 73 Vgl. mit dieser Tendenz Wolf, Raum der Literatur (wie Anm. 63), 65 f. 74 Vgl. Michael Denis, Latein, in: Denis, Lesefrüchte (wie Anm. 32), Tl. 1, 227–229. 72

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Trennung zwischen gelehrter und ,schönerR – oder, unter anderen Auspizien: ,autonomerR Literatur. Seine literarische Tätigkeit macht in humanistischer Kontinuität keinen Unterschied zwischen Lehrbarkeit und Inspiration, zwischen Gelehrtentum und Poesie. Wie im jesuitischen Schulcurriculum Poesie, Rhetorik und Philosophie keine Gegensätze, sondern Teil eines Bildungsplanes sind, sind auch Theorie und Praxis keine Gegensätze. Dieses Literaturkonzept75 hat nicht nur die größte Nähe zwischen Literatur und urbaner Bildung bewahrt, es eignete sich angesichts der historischen Diffusions- und Differenzierungsprozesse am besten für eine Reihe von Kompromissen zur Verminderung der Reibungsfläche (denn „[s]ieht es nicht in unserm Literaturreiche beynahe so, wie in Polen aus? Allenthalben Fehden, Dissidenten, Conföderationen“76). Andererseits ermöglichte es eine Reihe von Innovationen. Denis kann ein robust produktionsästhetisches Modell vertreten, ohne dass er auf die aktuelle Genieästhetik rekurrieren müsste. Gegen den Reim sprechen vor allem produktionsästhetische Parameter: Der Reim ist „ein Joch“, unter welches sich ein Dichter wider die angebohrne Freyheit der Dichtkunst selbst schmieget. Bey dem ersten Satze, den er niederschreiben will, muss er besorget seyn, dass das letzte Wort der Zeile ein solches sey, welches in der Sprache ein gleichlautendes habe. Der folgende Gedanke muss so lange herumgedrehet werden, bis ihm dieses gleichlautende Wort anpasset. […] Bedenken Sie, ob eine regelmäßige poetische Meditation dort Statt finden, wo man schon für Endesylben sorgen muss, ehe der Gedanke im Kopfe noch gänzlich reif ist. Bedenken Sie, wie sehr das dichterische Feuer gedämpfet, im Flug gehemmet, die Gedankenreihe unterbrochen werden müsse, wenn man so zu Werke geht.77

Die Bardenphantasie reiht sich hier ein. Sie kann sich antiker Metren bedienen, weil sie keinen Formkalkül impliziert, sondern mit dem „Barden“ ein Rollenmodell konstituiert. DenisQ ,bardischeR Produktionsästhetik kollidiert dann auch rasch mit Herders Idee von einem Dichten am/vom ,UrsprungR her, wie es dieser fast zur selben Zeit (1763–1765) in seinen Fragmenten zur Ode entwirft. Hier sucht Herder nicht bloß philologisch-historisch einen Anfang der Poesie und einen frühen Stil des Dichtens, sondern er versucht, zur Erneuerung der Literatur an den unterstellten Kräften eines ,wildenR Dichtens teilzunehmen. Für Denis genügt der philologische Nachweis, es habe eine autochthone Art der Poesie gegeben, die Im Sinn der „conceptions of literature“, vgl. Kees van Rees, Gillis J. Dorleijn, The eighteenthcentury literary field in Western Europe: The interdependence of material and symbolic production and consumption, in: Poetics 28 (2002), 331–348. 76 Michael Denis an Friedrich Gottlieb Klopstock, 3. Nov. 1769, in: Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, Abt. Briefe, Bd. 5/1, hg. von Klaus Hurlebusch, Berlin u. a. 1989, 202–204, hier 203. 77 Michael Denis, Gespräch vom Werthe der Reime, in: ders., Ossians und Sineds Lieder, Bd. 6, Wien 1792, [6]. 75

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sich aus historischen Quellen, soweit sie eben reichen, rekonstruieren lasse; nachempfindend kann dann das Repertoire des aktuell Schreibbaren erweitert werden: Junge Leute, die mit Tiefsinn, starker Phantasie und gefühlvollem Herzen einen Hang zum Gesange verbänden, müssten sich aus alten Bibelübersetzungen, aus Ossians, Klopstocks, Kretschmanns und andern Bardenliedern ihre Sprache bilden, und nicht leicht einen auswärtigen Dichter, die englischen ausgenommen, studiren.

„Und dann“, fährt Denis in aufklärerischer Manier fort, „wird der Gesichtskreis der Barden dennoch immer enge bleiben. Natur und Kunst hat seit ihrer Zeit sehr viel gewonnen.“ Es stehe ja jedem frey den Horizon zu verwechseln. Ich habe niemal gewünschet eine Dichtkunst, in welcher wir die unsterblichen Lieder eines Ramlers besitzen, durch die Bardenpoesie verdränget zu sehen. Nur wünschte ich, dass diese mit ihrer jüngeren Schwester in gleiche Rechte eingesetzet würde, und dieses zwar zur Ehre Deutschlandes, welches dadurch den Ausländern eine neue, nicht allein der Sprache, sondern auch dem inneren Gehalte nach von der ihrigen unterschiedene Dichtart entgegenhalten könnte.78

Dieser nicht-exklusive Sprach- und Literaturpatriotismus liegt ganz auf der Linie der humanistischen Nationalitätsvorstellungen, die um einen europäischen Agon der Nationalliteraturen kreisten.79 „Gallus et Ausonius“,80 Franzosen und Italiener mögen den Weg der Fremden gehen, während der bardische Weg für die ,vaterländischen DichterR nun offenstehe. DenisQ Verständnis von Nation steht im humanistischen Paradigma des Wettstreits der Literaturen (mit gewiss fließenden Übergängen), das zeigt auch der Schluss seines Vorberichtes zu Ossian. Hatte er gerade noch die Bardenkunst als ein nationalpädagogisches Modell der Erziehung zum Deutschen herausgestellt, so räumt er bereitwillig ein, wem das Bardenwesen zu naiv sei, dem stünde es ja frei, ,den Horizont zu verwechselnR. Das Spezifische der Bardenkunst sei gerade die Einübung in einen anderen, fremden, ,altenR Habitus: Man muss sich ganz in andere Zeiten übersetzen können. Man muss sich ein reines einfältiges, altes Aug […] verschaffet haben, und ein Gehör besitzen, das auf alle Töne der Natur ganz aufmerksam ist, und dann wird man auf die Ehre des Eichenkranzes Anspruch machen können.81

Damit ist solches „sich übersetzen“ eine Einübung ins Fremde und nicht die Prätension, das Alte zeige, das Eigene sei immer schon das Eigene gewesen. FolgeDenis, Lieder Sineds (wie Anm. 15), [f3]. Vgl. Jörn Garber, Vom universalen zum endogenen Nationalismus. Die Idee der Nation im deutschen Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit; Rudolf Drux, Die Dichtungsreform des Martin Opitz zwischen nationalem Anspruch und territorialer Ausrichtung, in: Helmut Scheuer (Hg.), Dichter und ihre Nation, Frankfurt am Main 1993, 16–37 und 53–67. 80 Denis, Nachlese (wie Anm. 27), 196; Denis, Carmina (wie Anm. 49), 163. 81 Denis, Lieder Sineds (wie Anm. 15), [f3v]. 78 79

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richtig endet Denis seinen Vorbericht mit einer lateinischen Elegie: und damit man nicht meint, das ganze sei unter einer Eiche gesprochen oder im Bardenhain diviniert, gibt er als Lokal an: die garellische Bibliothek des Theresianums. DenisQ Ossian und seine Bardenlyrik beziehen sich letztlich auf eine europäische Koin8 der Gelehrten im Agon der ,NationenR, nicht auf eine Volksnation ,modernenR Zuschnitts. Schon Robert Prutz hat im Vormärz bemerkt, dass die Barden – Gerstenberg, Klopstock, Kretschmann, Denis – alle nicht- oder antipreußisch, jedenfalls anitfriderizianisch orientiert waren, der „Patriotismus des Bardengesangs ist also der inhaltlose, der abstracte, der eben deshalb auch sogleich conventionell und unlebendig wird.“ Deshalb „konnte diese Form auch nach Österreich verpflanzt werden, da sie ohne wirklichen Inhalt war und ein Enthusiasmus für Deutschheit und Freiheit dieser Art selbst für Österreich nichts Bedenkliches hatte.“82 Das gilt auch für alle möglichen religiösen Bedenklichkeiten. Die Bardenpoesie kann angesichts der zunehmend tumultuarischen Modernisierungskonflikte in Österreich und in Europa zwar nicht als eskapistische, doch aber als eine Art Seitwärtsbewegung gesehen werden. Religiöse Themen spielen in DenisQ Œuvre keine große Rolle. Klopstock hatte den Messias vorsichtig überkonfessionell angelegt, der Text wird – insbesondere durch DenisQ Zutun – sehr schnell als klassisches Werk in Österreich auch Schullektüre.83 Warum aber nun die ,BardenR? Denis konstruiert über die Bardenidee den Dichter und das Dichten als öffentliche politische Funktion – mit den Herrschern auf Augenhöhe, Schiedsrichter, Tugendwächter, Propagandisten der guten Sache, Hüter der Memoria: Ihr sollet, so will es das Vaterland, den Gefährten der Könige, den Schiedsrichtern des Friedens und Krieges, den Barden, diesen ehrwürdigen Namen, folgen. Sie lohnten, die Schläfe mit einem wahrsagerischen Eichenkranz umwunden, einst mit ihrem Liede würdig die Tugend. Ihnen stand es zu, die in der Schlacht für die Freyheit streitenden mit ihrem Gesange anzufeuern, tapfre Seelen, und die in dem Kriege gefallenen Helden zu singen, damit der Enkel dadurch die großen Thaten seiner Ahnen lernte.84

Herders genieästhetische und ,primitivistischeR Kritik an Denis will alle genannten Dimensionen zugleich treffen; sie ist so umfassend und je länger, je unduldsamer, weil es ihm um eine weitreichende Kulturkritik an der Moderne geht, für die nicht einfach eine ,Erweiterung der AusdrucksmöglichkeitenR gesucht wird. Herder sucht einen inneren Punkt der Kraft, von dem aus eine neue Poesie entwickelt werden müsse, von den alten Barden ist der ,innereR „Geist des Liedes“ Robert Prutz, Der Göttinger Dichterbund. Zur Geschichte der deutschen Literatur, Leipzig 1841, 164, zu Denis 166 f. 83 Heinrich Moritz von Richter, KlopstockQs Wiener Beziehungen, in: ders., Aus der Messiasund Wertherzeit, Wien 1882, 1–119, 10 und 13–21 (Denis). 84 Denis, Nachlese (wie Anm. 27), 186–199, hier 197–199. 82

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und die „innere Bearbeitung“ des Stoffes zu lernen. DenisQ Kunst, so Herder, ist „süße[s] Geschwätz“, zuzeiten „erhaben“ und „rührend“, aber es ermangelt ihr jener Kraft und „Stärke unsrer Sprache“,85 die nur am ,UrsprungR zu haben ist und die die innere Wahrheit verbürgt. DenisQ Dichtung – hier: Bardenfeyer am Tage Theresiens – ist eine äußerliche Kunst der Schule: die Bardenidee bloß „Mythologie, Lexicon fremder Sprache über ein aufgegebnes Schulthema“, „kalt und nüchtern, mit Zirkel und Schullineal“ visiert, eine „Schulchrie“, oder schlicht: „Schülerhaft“. Die Bardensprache bleibt „als Sprache im weitesten Verstande, als Dichtung, als Gerüst übrig“.86 Es „ist das Gerüst der Sprache und Harmonie in seinen Gedichten so schön, daß es leid thut, nicht immer ein Gebäude dahinter zu sehen“.87 Mit Äußerlichkeit und Schule ist die rhetorische Kunst gemeint, die herkömmliche Form der Literaturproduktion. Herders neues Paradigma ist nicht bloß ,modernerR, es hat vor allem drei Konsequenzen: Es durchbricht den Zusammenhang von philologischer Beschreibung und Textproduktion; es mobilisiert ein vitales ,VolkR gegen den ,HofR (Herders Deniskritik ist Hofkritik: „Ach! ist heut nicht Gallatag?“, fragt er ironisch88) und die fahle ständische Gelehrtenwelt; und es steht quer zu den verbindlichen Sprechformen der Gattungen, die nach Stilhöhe und Dignität des Gegenstandes gewählt werden und die die Sprech- und Denkformen dieser ständischen Gelehrtenwelt ausmachen. DenisQ vermeintlicher Missgriff mit dem Ossian ist Herder immerhin so wichtig, dass er dem Jesuiten vier Rezensionen widmet und dazu eine der wichtigsten Programmschriften des Sturm und Drang, den Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. Denis wird damit Teil von Herders Aufklärungskritik; kalt und kraftlos, klein und schwach sind etwa in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) die aufklärerischen Rationalisten, die „Hume! Voltäre! Robertsons! klassische Gespenster der Dämmerung!“89 (das bestätigt damit indirekt DenisQ Zugehörigkeit zur Aufklärung). Der Erfolg von „Pater Denis Ossian“ – „ich kann ihn aber nicht ausstehen, er ist in Homerisch seyn sollende Hexameter hingeschwemmt – als wenn nicht ein großer Unterschied wäre, zwischen dem sanften süßen Geschwätzeton des Griechen u. der rauhen Kürze des Barden“ – verdankt sich der Cliquenwirtschaft, der „Fama“, „die Club ist, u. sich freut, daß ein Jesuit in Wien Klopstocken seinen Freund Johann Gottfried Herder, Rez. zu Michael Denis, Bardenfeyer am Tage Theresiens, Wien 1770 und ders., Säule des Pflügers, Wien 1770, in: Allgemeine deutsche Bibliothek 17/2 – 3 (1772), 447–452, hier 450, 452. 86 Ebd., 449 f., 452. 87 Ebd., 452. 88 Ebd., 448. „Hier in goldnen Sälen, im kaiserlichen Pallast, ist unter Vortritt des Marschallstabes und allen Ceremonien eines Gallatages auf einmal Bardenversammlung.“ 89 Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, hg. von Martin Bollacher u. a., Bd. 4, Frankfurt am Main 1994, 38. 85

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nennt, u. den Ossian übersetzet.“90 Nicht nur als Aufklärer, auch noch als katholischen Aufklärer klassifiziert der Pastor den Jesuiten. Denis hat Nicolai gegenüber mit einiger Noblesse reagiert: Ehe ich schließe, sollte ich noch von der unfreundlichen Recension in der Bibliothek XVII Band, II St. S. 437. eine Meldung machen. Allein wie könnte ich gegen einen Mann [Nicolai, W.M.], der mir schon so viele Freundstücke erwiesen hat, der, wie ich weiß, vermöge seiner vielen Geschäfte und Arbeiten unmöglich sich Zeit nehmen kann, jede Recension vor dem Abdrucke zu lesen? Ich will Sie vielmehr um die Fortsetzung Ihrer Gewogenheit bitten.91

Der poetologische Aspekt von Herders Aufklärungskritik, ebenfalls an DenisQ Ossian exemplifiziert, ist die Kritik an der klassizistisch-rhetorischen Gattungspraxis. (In der Poetik steht DenisQ humanistische Gattungsauffassung der Linn8Qschen Episteme nahe; für Herder – wie für Goethe – steht Linn8 für ein bloß ,äußerlichR ordnendes Fächerwerk, in der Poetik wie in den Wissenschaften vom Leben.92) DenisQ Vertextungspraktiken beziehen sich sämtlich auf das humanistische Textproduktionsparadigma, dem Rhetorik und Poetik kompatible und verwandte Praktiken sind, wo nicht koextensive. Argumentierendes, persuasives und poetisches Schreiben (und dessen Analysewerkzeuge) stehen in Kontinuität, der Professor der Poesie lehrt Literaturgeschichte und poetisches Schreiben. Die Jugendfrüchte des k.k. Theresianums, in drei Bänden zwischen 1772 und 1774, bringen Erzeugnisse von DenisQ Schülern und ihrem im Alter zwischen 14 und 17 Jahren genossenen Unterrichts in der schönen Literatur, sie enthalten Lieder, Oden, Übersetzungen, kritische Aufsätze, Reden, Parodien, Allegorien, Satiren, Elegien, Epigramme, Verserzählungen.93 Die Disposition von DenisQ lateinischen Carmina quaedam von 1794 lautet: Dramatica – Epica – Lyrica – Elegiaca – Epigraphica, die Dramen umfassen dabei historische und biblische Stoffe.94 Bardenpoesie bildet dabei zwar ein eigenes Register, eine besondere Form, die jedoch das als universell und verbindlich gedachte Gattungssystem hinter sich zu lassen keinen Grund hat, im Gegenteil. Sie zählt in der Poetik erstens zur „lyriJohann Gottfried Herder an Johann Georg Hamann, Mitte März 1769, in: Johann Gottfried Herder, Briefe, Bd. 1, bearb. von Wilhelm Dobbek und Günter Arnold, Weimar 1977, 134. 91 Michael Denis an Friedrich Nicolai, 20. Juli 1773, StB Berlin (wie Anm. 14), Nr. 6. 92 Michler, Kulturen der Gattung (wie Anm. 10), 187–241 („Kulturalisierung: Herders Gattungsdenken“). 93 Vgl. jetzt Thomas Assinger, Kollektive literarische Praxis in Wien um 1770. Michael Denis und die Jugendfrüchte des k.k. Theresianum, in: Daniel Ehrmann, Thomas Traupmann (Hg.), Kollektives Schreiben, Paderborn 2021 (Zur Genealogie des Schreibens 28), 151–174. 94 Vgl. den Abschnitt zur „Poetik“ (§ 48) in der Bücherkunde (wie Anm. 23), Bd. 2, 392–410, wo die Hauptwerke der europäischen Literatur nach Gattungen geordnet genannt werden. Der Roman findet sich in der Nähe der Geschichtsschreibung unter „Biographie (§ 39) („die erdichteten Lebensbeschreibungen oder sogenannten Romane“, 301). 90

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sche[n] Dichtart, so alt als die Freude, und sowohl ernst und erhaben, als fröhlich und leicht“; die „ältesten Odendichter sind Moses, Mirjam, Debbora, David und die andern Verfasser der Psalmen; bey den Griechen der hohe Pindar, die fühlende Sappho“ und andere, „[b]ey uns“ nach vielen anderen Gleim und Klopstock, „[s] either haben wir Ramlers herrliche Oden, Gerstenbergs Skalden-, Kretschmanns und Sineds Bardenlieder, Gellerts geistliche, Gleims und [des böhmischen Jesuiten und Aufklärers Ignaz] Cornovas Kriegslieder“95 und so weiter. Die zweite Verortung der Bardenpoesie liegt im Epos. Sprechen von wichtigen Gegenständen in hohem Ton ist episches Sprechen, die kulturelle Komponente – im Fall Ossians das ,nordischeR Kolorit eine Frage des Stils, nicht der Gattung. Im „Heldengedicht“ kommt Ossian nach Homer, Virgil und anderen, vor den Neulateinern.96 Für die eigenen Bardenlieder wählt Sined bevorzugt die von Klopstock für die deutschsprachige Literatur prosodisch erschlossenen antiken Maße, für das Epos Hexameter, für die Elegie Distichen und für die Oden bevorzugt die alkäische und die asklepiadeische Strophe. Den 19. Psalm überträgt er nach dem hebräischen Original als asklepiadeische Ode; nach der Vulgata hingegen in Vers communs. Hatten die Barden „keine weichen Töne, sondern ein kriegerisch Sylbenmaaß“ („Non molles illis moduli, sed martia metra,/ ut populi ingenium, sic quoque versus erat“97), wird der Appell doch in einer lateinischen Elegia de hodiernis Germaniae poetae (1772) in Distichen vorgetragen. Denis teilt die humanistisch-rhetorischen Denk- und Schreibvoraussetzungen seines Vorbilds Klopstock,98 ein „Moeonides sensu, Moeonides numero“.99 Ein Epos erkennt man, wenn man einem begegnet, ungeachtet der Form, in der es überliefert sein mag: „Kaum hatte ich ein paar Gedichte meines Barden“, MacDenis, Bücherkunde (wie Anm. 23), Bd. 2, 403, 405. Denis kennt Robert Lowths Praelectiones de sacra poesi Hebraeorum (1753), wichtig für den bei Herder aufgenommenen Diskurs über den poetischen Gehalt der Bibel und ihre Gattungen; er nennt das Werk unter den Monographien zur Poesie einzelner Völker (Denis, Bücherkunde [wie Anm. 23], Bd. 2, 394). 96 Ebd., Bd. 2, 400. 97 Denis, Nachlese (wie Anm. 27), 196; Denis, Carmina (wie Anm. 49), 163. 98 Zum rhetorischen Wissenssystem bei Klopstock vgl. Kevin Hilliard, Philosophy, Letters, and the Fine Arts in KlopstockQs Thought, London 1987 (Bithell series of dissertations 12), 25: „There was always something of the humanist in Klopstock. […] Klopstock defined his public role and his place in society in humanist terms.“ Was die Zugehörigkeit Klopstocks zur Aufklärung betrifft, divergieren die Ansichten, vgl. skeptisch Kevin Hilliard, Friedrich Gottlieb Klopstock und die Aufklärung, in: Michael Hofmann (Hg.), Aufklärung. Epoche – Autoren – Werke, Darmstadt 2013, 45–60; anders Hannah Vandegrift Eldridge, Aural Enlightenment: Friedrich Gottlieb KlopstockQs Contributions to a New Enlightenment Aesthetics, in: The Germanic Review 95/3 (2020), 219–233. Vgl. auch Stefan Elit, Im Spannungsfeld von Aufklärung, Religion und Nation – Klopstock literarhistorisch, in: Aufklärung und Religion. Neue Perspektiven, hg. von Michael Hofmann und Carsten Zelle, Hannover 2010 (Bochumer Quellen und Studien zum 18. Jahrhundert 1), 85–97. 99 Denis, Nachlass (wie Anm. 27), 188. 95

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phersons Ossian, „durchgelesen, als ich ihn in meinem Gedanken Homern und Virgiln an die Seite setzte“, das Urteil Klopstocks bestätigt ihn darin.100 Das Silbenmaß des Hexameters ist dem Gegenstand angemessen101 (aptum). Denis verwendet daher gerade nicht ,authentische MetrenR, was immer das um diese Zeit gewesen sein hätte können, um durch die nationale Standardisierung der Form erst einmal eine abstrakte Differenz der ,NationalkulturR zu etablieren, die dann ,multikulturellR bei Bedarf outriert oder eben überwunden werden kann. Wie Ossian übersetzt werden kann, kann auch ein Epos geschrieben werden; bei Denis rückt Ossian jene noch weitgehend leere Systemstelle des sei es ,deutschenR, sei es ,nordischenR Nationalepos ein, eine Wunde der Literaturgeschichtsschreibung. Der Hexameter ist angemessen, „schicklich“, also ,aptumR, weil Ossian ein epischer Dichter ist, „der ausführlich grosse Handlungen vorträgt“, zumal die gälische Wortstellung ohnehin unverständlich wäre, hätte man sie überhaupt. Ebenso geht es bei den Barden um die Eröffnung einer neuen Schreibmöglichkeit, nach dem Vorbild Ossians, Klopstocks, Kretschmanns und anderer. Für Denis ist deshalb von untergeordneter Bedeutung, ob und dass ,OssianR wirklich echt ist: „Er [Verf.] glaubt noch Ossians Aechtheit, obwohl er sich, als ein Zeitgenoss des XVIII. Jahrhundertes freuen müsste, wenn dieses Jahrhundert einen solchen Genius hervorgebracht hätte.“102 Gerade Herder hat, und der Briefwechsel über Ossian ist hier der locus classicus, eine Kulturalisierung der Gattungspoetik inauguriert, hinter dem Gattungssystem der Gegenwart ein primordiales System von Ur-Gattungen postuliert, das vom philosophischen Idealismus und im ,organischen KunstwerkR weiter ausgebaut werden wird.103 Im Rahmen des neuen vorromantischen Paradigmas der Hypostasierung (im Sinn Roland BarthesQ) ,nicht-schreibbarerR Gattungen und des Postulats einer primordialen, nicht der Rhetorik und der Poetik unterworfenen Formenwelt der Ur- oder Volkspoesie lässt sich an ihrer Energie nur teilnehmen, sie sind nicht der lernbaren ,KunstR unterworfen. Denis geht es um eine schreibbare Poesie; als „Barde“ dichtet Denis als literarischer Intellektueller (und nicht als „Druide“, als religiöser Funktionsträger). Wenn andererseits Übersetzung zur Praxis des humanistischen Intellektuellen gehört, einer Praxis, die Texte nicht nur interlingual, sondern auch intralingual: hinsichtlich ihrer Verkettungen in der Zielkultur verortet, behandelt, ordnet, schreibt, lässt sich das Bardenspiel bei Denis, Klopstock, Kretschmann und anderen als eine zeitgenössische Form humanistischer Intellektuellenpolitik versteMichael Denis, Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersetzt, Wien 1768, *2v f. 101 Ebd., *3v f. 102 Michael Denis, Ossians und Sineds Lieder, Bd. 1, Wien 1784, *3v. 103 Vgl. Michler, Kulturen der Gattung (wie Anm. 10), 161–186 sowie 224–233. 100

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hen. Denis scheint nur als Jesuit und Theresianer aus solchen Zusammenhängen zu fallen, weil das Szenario der Vorzeitlichkeit, das die Maskerade der „Barden Theuts“ zu bestimmen scheint, mit dem Umstand konfligiert, dass ein großer Teil von DenisQ Bardengedichten seiner Kaiserin und seinem Kaiser gewidmet ist, also nicht in die Vorzeit gesendet, sondern an die Gegenwart des österreichischen Kaiserstaates adressiert ist. V. Bei aller Genugtuung über österreichischen Schlachtenerfolg in den Oden auf Maria Theresia und Joseph zeigt sich immer wieder eine gegenläufige Akzentuierung. Das Gedicht Die Säule des Pflügers von 1770 feiert den Gedenkstein für Kaiser Josephs berühmten Furchenzug von Slavikovice (für Herder ist DenisQ ,SäuleR „leichten Holzes und nichts drauf“104). Der „Barde Josephs“105 setzt zwar einen heroisch-epischen Eingang, ein arma virumque cano („Ich singe die Säule des Pflügers“), es geht aber gerade um ein Vertauschen des Schwertes mit der Pflugschar (nach Jes 2,4). Joseph gewinnt hier als „pflügende[r] Menschengebiether“ gerade durch „Erniedrung“ (die Ahnen „lächelten/ Der Grösse des Enkels in seiner Erniedrung./ Völker der Welt! hättet auch ihr ihn gesehn!“). In „Josephs hoher Erniedrung“106 liegt seine „Grösse“. Denis bleibt zeitlebens so stark an Maria Theresia orientiert, dass er Anfang und Ende seiner dichterischen Produktion mit ihr identifiziert („Von Ihr beganns. Mit Ihr verstummQ es auch“). Die Kaiserin verkörpert ein maternales Ideal von Herrschaft („wer sich vor der Fürstinn glaubte,/ Sich vor der Mutter fand“), sobald „[d]ie Mutter Aller todt“ liegt, „müssen“ „[w]ir Waisen sein.“107 Das Überschießende der Totenklage („Beglückerinn der Länder“, „Göttermutter“108) verrät ein deutliches Bewusstsein davon, dass mit dem Einsetzen einer neuen Phase der Aufklärung auch andere Habitus und Werthaltungen gefragt sein werden.109

„Die Behandlung ist Oßianisch. Entweder aber war der Gegenstand zu klein, oder er ist zu weit und breit besungen – Die Säule sieht von ferne schön aus: sie ist aber leichten Holzes und nichts drauf“ (Herder, Rez. von Denis, Bardenfeyer [wie Anm. 85], 452). 105 Denis, Lieder Sineds (wie Anm. 15), 153. 106 Ebd., 167, 169. 107 Michael Denis, Auf den Tod M. Theresien. Den 9ten Christmonats, Wien 1780, [12], [8], [3]. 108 Ebd., [6]. 109 Friedrich Heer hat in seinem Versuch einer Psychohistorie der österreichischen Geschichte sehr deutlich dieses maternale Element in der theresianischen Politik und Kultur herausgearbeitet; Josephs männliche Identifikation mit Friedrich II. hat ihr Komplement in der Kirchenfeindlichkeit gerade der Exjesuiten unter den Aufklärern (Blumauer, Haschka, Pezzl, Born); vgl. Friedrich Heer, Der Kampf um die österreichische Identität, Wien, Köln, Graz 1981, 115–158, insb. 153–156. 104

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Denis ist fast eine Generation älter als Blumauer, Alxinger, Pezzl, Huber, Ratschky, Richter, Haschka und Retzer, die das josephinische Projekt in den achtziger Jahren literarisch begleiten werden. Während bei ihnen nicht zuletzt deshalb die Gattungsdominante (Tynjanov/Jakobson) in der Erzähl- und Gebrauchsprosa liegt und im satirisch-polemischen Modus, fehlen diese Gattungen bei Denis fast vollständig. Denis ist nicht Teil einer aktivistischen Fraktion der Aufklärung in Österreich, er benützte das humanistisch-rhetorische Paradigma, in dem Dichten, Lehren und Forschen zusammengehörten und eine kohärente soziale Identität im Sinn des klassischen ständischen Gelehrtentums versprachen – auf die sich Denis zurückziehen konnte, nachdem mit der Auflösung der Gesellschaft Jesu seine soziale Operationsbasis verschwunden war. DenisQ Werk und alle Textpraktiken, die es ausmachen, sind formell in diesem Modell gesichert. Als Jesuit – und auch noch nach der Aufhebung der Gesellschaft – sah sich Denis als Teil einer globalen Elite, die zum einen gerade im Feld der Gelehrsamkeit über gewichtige Leistungen verfügte. Er habe, erzählt er in seiner Autobiographie, den Orden genau deshalb gewählt: „aber ich liebte die Wißenschaften und sahe, daß sie nirgends mehr geehrt wurden, als bey den Jesuiten“.110 Zum anderen verfügte der Orden über sehr hohes kulturelles und soziales (Beziehungs-)Kapital, wenn auch sein symbolisches Kapital einer starken Entwertung unterlag. Die Lehrtätigkeit an einem Eliteinstitut musste für Denis die Verwirklichung nicht nur eines Wunsches sein, sondern auch eines spezifischen Machtanspruches der Kleriker und der Gelehrten, der mit diesem Wunsch schon früh verbunden war: „Aber um mir nichts zu verhehlen, vorzüglich schön und ehrenvoll schien es mir, in Schulen zu herrschen, und Schüler zu haben, die mir gleichsam das Wort aus dem Munde nahmen“.111 Die literarischen, und was im Österreich des 18. Jahrhunderts mitunter dasselbe ist, die klerikalen Intellektuellen wachen im Rahmen des rhetorischen poetologischen Paradigmas über die Sprechformen und die Gattungen, und im Rahmen eines Paradigmas, in dem Stand, Stil und Gattung koordiniert sind, über einen bedeutenden Teil der Regeln der sozialen Repräsentation. Die Aufgabe dieser Funktionen zugunsten der Teilnahme an einem autonomen literarischen Spiel in einem ausdifferenzierten sozialen Handlungsfeld muss von hier aus keine attraktive Option sein. Folgt man dieser Spur, dann wird die Kohärenz der unterschiedlichen literarischen Unternehmungen DenisQ nur größer, hinter denen ungeachtet der irenischen Formen ein nicht geringer Definitions- und Gestaltungswille sichtbar wird. Der Unterricht der adeligen Zöglinge, den Denis mit großem Einsatz und mit Stolz betrieb, schloss an die politische Funktion an, die die Jesuiten traditionell über religiöse Dienste in den europäischen Herrscherhäusern sehr bewusst ausübten. Denis, Jugendgeschichte (wie Anm. 42), 39. Ebd., 40. „Verum ne quid mihi dissimulem, inprimis honestum, pulcrumque videbatur, regnare in scholis, et habere pendentes ab ore discipulos.“ Denis, Nachlass (wie Anm. 12), Bd. 1, 20. 110 111

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Die Tätigkeit als lyrischer Kriegskommentator im Siebenjährigen Krieg und auch die Begleitung der sich vor seinen Augen vollziehenden Geschichte durch Dichtungen gehört mit der Panegyrik zu jenen intellektuellen Herrschaftstechniken der Gelehrten, die nicht immer die Menschen, aber über die literarische und historische Memoria die Fürsten zu regieren unternahmen. In einem Staat wie dem theresianischen und in einer Residenz der kurzen Wege waren das nicht nur illusorische Optionen. So erscheint auch die Funktion der Panegyrik in anderem Licht. Einerseits gehört Herrscherlob zum Pflichten- wie zum Gattungsrepertoire der humanistischen Textproduktion. Zum anderen steht hinter der Panegyrik durchaus auch ein politisches Kalkül und eine Form der politischen Kommunikation. Man muss nicht annehmen, dass „noch in den panegyrischen Lobgesängen auf einen Diktator“ „korrumpiert, verdünnt und verbogen, der Wunsch [steckt], er möge dem Lügengebilde von sich ähnlicher sein als die Wirklichkeit glauben macht“,112 aber doch setzt DenisQ Schüler Haschka die ,BardenkunstR Mitte der 1780er Jahre in Perspektive: „Laß Ramlers, Gleims und Sineds Gesänge dich/ nicht irren! Schmeichler waren die Barden nicht./ Die Guten sangen als gethan, das/ was sie gewünscht, daß die Fürsten thäten.“113

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7 f.

Gert Ueding, Literatur ist Utopie, in: ders. (Hg.), Literatur ist Utopie, Frankfurt am Main 1978,

Lorenz Leopold Haschka, Die Wissenschaften, in: Magazin für Wissenschaften und Litteratur, Bd. 1/2, Wien 1784, 10–14, hier 14. Die aufkeimende Desillusionierung mit dem josephinischen Projekt zeigt die Folgestrophe: „Die thaten aber nichts. Denn daß Oestreichs Hirt/ des Vaterlandes Zunge der Schule gab,/ ist nur Beginn: doch, ganz sein würdig/ will er, und wird er, Heil ihm! bald handeln.“ 113

Michael Schwingenschlçgl „Oh nimm mir ia Verstand und Glauben nicht“ Probleme der ,katholischen AufklärungR in Aloys Blumauers und Franz Xaver Hubers lyrischen Glaubensbekenntnissen

I. Einleitung Im Frühsommer 1784 erschien im Wiener Journal für Freymaurer eine Satire mit dem Titel Gegen das verabscheuungswürdige Institut der Freymaurer zu einem so passenden Zeitpunkt, dass der Verfasser wohl selbst überrascht gewesen sein dürfte. Im selben Sommer, am 22. Juni 1784, hob die kurfürstliche Regierung Bayerns den Illuminatenorden auf.1 Auch darüber sollte das Journal für Freymaurer – allerdings erst in der dritten Ausgabe für das Jahr ,5784R, d. h. 1784 – berichten.2 In der Zwischenzeit scheint die satirische Schrift dank der für das zweite Vierteljahr publizierten Ausgabe die Funktion des frühen Kommentars mit fast schicksalhafter Ironie erfüllt zu haben. In Gegen das verabscheuungswürdige Institut der Freymaurer beruft sich ein klerikaler Erzähler auf diverse mittelalterliche Autoritäten zur Legitimierung herbeigesehnter Freimaurerverfolgungen. Die Wirkintention des Texts ist dabei freilich, die Kritik an der Freimaurerei ad absurdum zu führen. Im folgenden Zitat soll der erste Satz ein Wort des Beda Venerabilis sein, aus dem dann die Folgerungen für den Umgang mit den Logenbrüdern gezogen werden: Wer abweichet, und in der Lehre nicht verharret, erkennet keinen Gott. Die Freymaurer sind also nach diesem Ausspruche nicht nur Ketzer, sie sind auch Atheisten. Der Uebergang vom Irrglauben zu dem Unglauben nnd [sic] Gottesläugnerey konnte mehr nicht als einen Schritt kosten; auch diesen Schritt haben sie gethan. Nirgend in ihren Geprängen, Lehren, Schriften, wird auch nur ein einzigmal von Gott eine Erwähnung gemacht, das gesicherte Zeichen, das sie keinen glauben.3 Vgl. Edith Rosenstrauch-Königsberg, Aloys Blumauer – Jesuit, Freimaurer, Jakobiner, in: Gunnar Hering (Hg.), Zirkel und Zentren. Aufsätze zur Aufklärung in Österreich am Ende des 18. Jahrhunderts, Wien 1992, 11–32, hier 19 f. 2 Vgl. Maurerische Neuigkeiten, in: Journal für Freymaurer 1/3 (5784 [1784]), 241–245. 3 Joseph von Sonnenfels, Gegen das verabscheuungswürdige Institut der Freymaurer, Würzburg 1786, 42 f. [zuerst erschienen in: Journal für Freymaurer 1/2 (5784 [1784]), 175–224]. 1

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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Bei dem Verfasser dieser satirischen Abhandlung handelt es sich um keine geringere Persönlichkeit als das intellektuelle Haupt der Aufklärung in Österreich: Joseph von Sonnenfels.4 Als dessen ursprünglich nur logenintern verbreitete Schrift 1786 außerhalb Österreichs veröffentlicht wurde (aus diesem Druck stammt das obige Zitat), waren der Verfasser und dessen ironisch verpackte Polemik gegen den Antimasonismus leicht zu identifizieren. Jedem Leser der Satire dürfte klar gewesen sein, dass die Freimaurer kaum einen strikten Atheismus vertraten, sondern sich stattdessen durchgehend auf eine supranaturalistische Sanktion ihrer eigenen Bünde sowie ihrer theoretischen Mysterien und praktischen Unternehmungen stützten. Die Kritik des fiktiven Franziskaners bei Sonnenfels bezieht sich allerdings gleichzeitig auf einen keineswegs fingiert erscheinenden Umstand. Eine Eigenheit der Freimaurer nämlich lässt sich als skeptisch-offener Umgang mit institutionalisierten theologischen Prinzipien und Lehren bezeichnen. Nicht so sehr das Dasein, sondern eher die Offenbarung Gottes als eines durch Heilige Schrift und Kirche vermittelten transzendenten Ereignisses erweist sich für die Logenbrüder als unglaubwürdig. Stattdessen identifizieren sie ihre Grundsätze und Riten mit einem angeblichen Frühchristentum,5 vorchristlichen Religionen bzw. Lehren, oder – was meist auf dasselbe hinausläuft – mit der ursprünglichen ,natürlichen ReligionR der Menschheit.6 Auch der heute vergessene, damals aber bedeutendste Dichter Österreichs, Aloys Blumauer, war seit dem 14. Oktober 1782 Mitglied der Loge Zur Wahren Eintracht, einer „Eliteloge mit literarisch-wissenschaftlicher Tendenz“,7 und „[v]ermutlich nahm Blumauer […] eine führende Stellung bei den Illuminaten ein.“8 Blumauer war ein ehemaliger Jesuit, dessen Orden in den 1770er Jahren aufgehoben worden war. Fraglich ist dabei, inwiefern der konfessionelle Hintergrund solcher Logenmitglieder auf Vgl. hierzu die Darstellung bei Simon Karstens, Lehrer, Schriftsteller, Staatsreformer: Die Karriere des Joseph von Sonnenfels (1733–1817), Wien u. a. 2011. 5 Vgl. Ueber Analogie zwischen dem Christenthume der erstern Zeiten und der Freymaurery, in: Journal für Freymaurer 1/2 (5784 [1784]), 5–64. 6 Um beim Journal für Freymaurer als einem exemplarischen Organ der österreichischen Aufklärer zu bleiben, so finden sich allein im ersten Jahrgang mehrere Selbstlegitimierungsversuche seitens der Loge unter Bezugnahme auf ursprüngliche und mithin ,naturnaheR Kulte. So beginnt das Journal mit folgendem Aufsatz: Ueber die Mysterien der Aegypter. In: Journal für Freymaurer 1/1 (5784 [1784]), 17–132. Nach dem oben erwähnten Beitrag über das frühe Christentum spricht ein weiterer Verfasser: Ueber die Magie der alten Perser und die Mithrischen Geheimnisse. In: Journal für Freymaurer 1/3 (5784 [1784]), 6–96. Der Jahrgang schließt mit dieser Ausführung: Ueber die Mysterien der Indier. In: Journal für Freymaurer 1/4 (5784 [1784]) 5–54. Jeder Aufsatz beinhaltet einen Vergleich der Freimaurerei mit den entsprechenden Religionen. Die Freimaurerei kann sich jedesmal auf ihre ,VorgängerR berufen. 7 Rosenstrauch-Königsberg, Aloys Blumauer (wie Anm. 1), 17. Vgl. ebd., 16 f. zu Blumauers Beitritt. 8 Ebd., 19. 4

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deren Denken abfärbte, und welche Legitimität die Rede von einer katholischen Aufklärung mithin für sich beanspruchen dürfe. Vorab zu konstatieren ist: Aufklärer aus und in katholischen Milieus stellten sich wie ihre protestantischen Nachbarn der Frage nach der Glaubwürdigkeit tradierter Offenbarungslehren. In den 1780er Jahren erlebte diese Problematik in Deutschland als ausgeweiteter Konflikt von Wissen und Glauben ihren Höhepunkt. Ob es eine speziell katholische Form der Auseinandersetzung mit jenen philosophisch-theologischen Streitpunkten gibt, soll der vorliegende Aufsatz stichprobenartig erkunden. Es werden hierzu zwei miteinander im Dialog stehende Gedichte erörtert und in ihre diskursiven Kontexte loziert. Dem Ausgangsgedicht des eben erwähnten Aloys Blumauer mit dem Titel Glaubensbekenntniß eines nach Wahrheit Ringenden folgt die Replik des österreichischen Schriftstellers und Aufklärers Franz Xaver Huber, wobei beide Interpretationen mit der Skizzierung der zeitgenössisch aktuellen Diskussionen zu verflechten und die zwei Texte zuletzt auf die Konzeption einer ,katholischen AufklärungR zu perspektivieren sind. Bevor dies geschieht, muss eingangs ein Überblick über die historischen und theoretischen Problemlagen der Aufklärung (und des Begriffs ihrer katholischen bzw. österreichischen Ausprägungen) gegeben werden. II. Allgemeine Kontexte

II.1 Katholische Aufklärung in Österreich? Will man den historischen Zusammenhang der hier im Fokus stehenden Texte erschließen, sind drei verzahnte Begrifflichkeiten zu überdenken. Erstens muss eine hinreichende Bestimmung der ,AufklärungR im allgemeinen Sinne gefunden werden, zweitens sollte eine Annäherung an das ,KatholischeR innerhalb der Aufklärung gelingen, und drittens ist der politische Rahmen jenes ,ÖsterreichischenR abzustecken. All das spielt für die vorliegende Fragestellung eine Rolle, und doch fällt es nicht erst der heutigen Forschung schwer, diese Komplexionen im protestantischen sowie im katholischen Raum korrekt zu beschreiben: Schon die Frage, was Aufklärung eigentlich bedeutet, ist nicht nur unter den Zeitgenossen zweifelhaft gewesen. Diese Erscheinung hat bis heute nichts an ihrer Vieldeutigkeit eingebüßt. Dasselbe gilt für Begriffe wie Barockkatholizismus, Jansenismus, den man in Filojansenismus und Spätjansenismus einteilt, ohne zu einer ganz klaren Definition zu kommen, und für viele andere Begriffe auch, einschließlich des Josephinismus selber.9 Karl Otmar Freiherr von Aretin, Der Josephinismus und das Problem des katholischen aufgeklärten Absolutismus, in: Richard Georg Plaschka (Hg.), Österreich im Europa der Aufklärung. Kontinuität und Zäsur in Europa zur Zeit Maria Theresias und Josephs II., Bd. 1, Wien 1985, 509–524, hier 509 f. 9

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Dieses Urteil Aretins besitzt weiterhin, und über die von ihm erwähnten katholischen Strömungen hinaus, Gültigkeit. Das 18. Jahrhundert reflektiert sich selbst als eine Epoche der ,AufklärungR, als Kritik und Ablösung alter Vorurteile auf metaphysischem und politischem Boden zugunsten einer aus Eigenantrieb sich vervollkommnenden Menschheit, die zugleich einem der Geschichte inhärenten Fortschrittstelos integriert ist. Dabei ist stets zu berücksichtigen, welche Sachzwänge und ideellen Hindernisse diesen Prozess jeweils beschleunigt oder aufgehalten haben. Nach den Konfessionskriegen des 17. Jahrhunderts schien es nötig, ehemalige Zuständigkeiten der Kirche unter staatliche Obhut zu stellen, sofern sie als konfliktträchtig beurteilt wurden: Der absolutistische Staat der Aufklärung war daran interessiert, alle Bereiche, die bisher von der Kirche eingenommen wurden, in den Rahmen der staatlichen Verwaltung zu ziehen, das heißt der Staat forderte das Monopol über alle bisher von der Kirche wahrgenommenen Aufgaben im sozialen, wirtschaftlichen, bildungsmäßigen Bereich, er versuchte aber auch die öffentliche Meinung, die er bisher mit der Kirche geteilt hatte, unter seinen ausschließlichen Einfluß zu bringen.10

Österreich verhielt sich diesbezüglich nicht anders als das protestantische Deutschland. Gerade weil der habsburgische Kaiser keineswegs souverän über das prekär verfugte Heilige Römische Reich herrschte, sah sich die Regierung der österreichischen Erblande gedrängt, auch in kirchenpolitischen Fragen den dominanten Katholizismus selbst zu regulieren. Dies geschah ostentativ nicht in religionsfeindlicher Absicht. Die Aufklärung im deutschsprachigen Raum sollte generell weder in ihrer theoretischen Entfaltung noch in ihrem politischen Vollzug den Gläubigen pauschal als widervernünftig verurteilen, sondern in immer angestrengterem Ringen Glauben und Wissen, Vernunft und Offenbarung zu vermitteln versuchen: Während die Aufklärung in England und Frankreich vor allem von theoretischer Reflexion geprägt war, die in theologischer Hinsicht dazu führte, dass der Deismus – in Frankreich bisweilen zum Atheismus radikalisiert – zur herrschenden Glaubensvorstellung wurde, blieben der deutschen Aufklärung radikale Ideologien sowie die Leugnung jeder Transzendenz fremd.11

Dennoch führte die Spätaufklärung, gerade auf theologischem Feld, in den Oppositionen von ,Vernunft und OffenbarungR bzw. ,Wissen und GlaubenR, die für ihr Selbstverständnis entscheidende Diskussion. Auch die Aufklärung in katholischen Gegenden blieb von den Problemstellungen zwischen Vernunft und OffenKarl Vocelka, Josephinismus – Theresianismus – Kaunitzianismus, in: Der Donauraum 26 (1981), 107–112, hier 109. 11 Norbert Jung, Die Katholische Aufklärung – eine Hinführung, in: Rainer Bendel (Hg.), Katholische Aufklärung und Josephinismus. Rezeptionsformen in Ostmittel- und Südosteuropa, Köln u. a. 2015, 23–51, hier 27. 10

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barung nicht unbeeinflusst. Dies rührt daher, dass zwischen den Aufklärern enge Verflechtungen über konfessionelle Grenzen hinweg bestanden. Um dem jesuitisch dominierten ,BarockkatholizismusR entgegenzutreten, nutzten die Philosophen in Österreich zuerst den Wolffianismus als neuartiges Lehrgebäude: Diese der Form nach fortschrittliche, dem Inhalt nach aber konservative, weil die Metaphysik nicht ausschließende philosophische Richtung ermöglichte den Anschluss des deutschen Katholizismus an die anfänglich protestantisch geprägte Aufklärungsbewegung.12

Wie die Entwicklung aufklärerischen Denkens in der Absage an äußere Autoritäten durch den Protestantismus, so besitzt zudem die Aufgeschlossenheit katholischer Gelehrter gegenüber den neuen Konzeptionen, wie Jung ausführt, in der katholischen Theologie eine eigene Stütze: Andererseits darf nicht vergessen werden, dass die Aufklärung auch genuin katholische Wurzeln besitzt: Während die alte katholische Lehre des lumen naturale sich leicht mit rationalistischem Denken vereinbaren lässt, ermöglichte erst die Missachtung der in Luthers tiefem Misstrauen gegen die menschliche Vernunft zum Ausdruck gekommenen protestantischen Lehre von der generellen Verderbtheit der Natur des Menschen den Durchbruch der Aufklärung im protestantischen Norden. Nicht zuletzt deshalb hatte Christian Wolff Verfolgungen von Seiten der Pietisten zu ertragen, während sein Werk von Katholiken, ja zum Teil sogar von Jesuiten, umfassend rezipiert wurde.13

Dies führt zwar noch nicht zu einer Antwort auf die Frage, ob es eine ,katholischeR (oder ,protestantischeR oder ,jüdischeR) Aufklärung gebe, aber es zeigt sich, dass Personen unterschiedlicher konfessioneller Herkunft an gemeinsamen Entwürfen zu arbeiten vermochten. Die Geschichtsschreibung ist somit weiterhin uneins über die Kompatibilität von Katholizismus und Aufklärung.14 Festzustellen ist, dass die katholisch geprägten aufklärungsnahen Intellektuellen in Österreich, wie gleich genauer auszuführen sein wird, durchaus Voraussetzungen antrafen, um punktuelle Veränderungen in allen religiösen Bereichen zu erwirken: „Den katholischen Reformern der Aufklärungszeit ging es um die Kommunikabilität des Glaubens im Sinne einer Reaktion auf die Zeichen der Zeit, wobei sie aber kein einheitliches Lehrsystem ausbildeten.“15 Um die hier zu untersuchenden GeJung, Die Katholische Aufklärung (wie Anm. 11), 26. Ebd., 28. 14 Vgl. zur These des gelungenen Festhaltens der österreichischen Aufklärer an der katholischen Kirche: Anton Schindling, Theresianismus, Josephinismus, katholische Aufklärung. Zur Problematik und Begriffsgeschichte einer Reform, in: Würzburger Diozösangeschichtsblätter 50 (1988), 215–224. Siehe aber auch zur Unvereinbarkeit von Katholizismus und Aufklärung: Peter Hersche, Der Spätjansenismus in Österreich, Wien 1977. Eine Übersicht der wissenschaftlichen Diskussion präsentiert Jung, Die Katholische Aufklärung (wie Anm. 11), 41. 15 Ebd., 43. 12 13

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dichte zu kontextualisieren, ist mithin der intellektuelle Diskurs von den Realisierungsmöglichkeiten des politischen Bereichs zu unterscheiden, denn es ist, wie Jung konstatiert, stets auch der öffentlich-staatliche Bereich, von dem sich die Intellektuellen, je radikaler sie waren, selbst absondern mussten, um sich in mehr oder minder geheimen Verbindungen auszutauschen. Der klerikale Hintergrund vieler katholischer Aufklärer ist insofern zwar Voraussetzung, aber nicht Ursache ihres Wirkens: Im Gegensatz zum Protestantismus, in dem die Aufklärung meist von Philosophen und Intellektuellen vorangetrieben wurde, trat sie im Katholizismus vor allem bei Klerikern in Erscheinung, was natürlich damit zusammenhängt, dass diesen in den geistlichen Staaten die entscheidenden Stellen vorbehalten waren.16

II.2 Josephinismus und Reformkatholizismus Auffällig ist somit, dass eine Geistlichkeit, die sich mit Laien in Geheimbünden verbrüderte, während der österreichischen Aufklärung nicht nur vom Staat geduldet, sondern wenigstens eine Zeit lang gefördert wurde. Dieses Phänomen ist dem österreichischen Fürsten und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Joseph II., zu verdanken. Nach seiner Regierung erhielt die österreichische Aufklärung überhaupt den Namen des Josephinismus, obwohl Josephs II. Alleinherrschaft sich bloß von 1780 bis 1790 erstreckte. Die Identität des Josephiners und Freimaurers in der Person eines Literaten wie Aloys Blumauer ist mithin geradezu erwartbar: [B]is zur Mitte des josephinischen Jahrzehnts scheinen fast alle sich als ,AufklärerR betrachtenden Autoren zugleich auch der einen oder anderen Freimaurerorganisation angehört zu haben.17

Der Schutz der Freimaurer durch den Josephinismus ist dabei ein spätes Resultat einer längeren Reformgeschichte der Habsburgermonarchie, die bereits in den 1750er Jahren (nach dem Ende des Erbfolgekriegs) begann: „Um […] nicht unwiderruflich ins Hintertreffen zu geraten, mußten die Habsburger ihre Erblande zu einem leistungsfähigen Einheitsstaat zusammenschweißen und die dagegenstehenden Sonderinteressen des Feudaladels und der Kirche beschneiden.“18 Politische Sachzwänge, philosophische Innovationen und das Faktum religiöser Pluralität spielen somit bei der Entstehung des Josephinismus zusammen, wie schon Valjavec festhält: Ebd., 48. Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781–1795, Köln, Weimar 21995, 78. 18 Werner Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration. Beiträge zur Geschichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie, Würzburg, Amsterdam 1982, 23. 16 17

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Der Josephinismus ist das Ergebnis mehrerer geistesgeschichtlicher Entwicklungsreihen, vor allem aber das allmählich in Erscheinung tretende Ergebnis von Bestrebungen, einen Ausgleich herbeizuführen zwischen den Anschauungen der vorausgehenden Zeit auf politischem und kirchlich kulturellem Gebiet auf der einen, und zwischen dem Geist der Aufklärung, den Tendenzen der Säkularisierung und Laisierung auf der anderen Seite.19

Schließlich ist es in Österreich die Politik Josephs II., die den Intellektuellen den Mut zur publizistischen Tätigkeit gibt: „Das Tauwetter in Wien ist ebenso stark durch die Persönlichkeit des Kaisers geprägt wie durch die Tätigkeit der Wiener Schriftsteller.“20 Diejenigen Aufklärer (Josephiner), die sich Joseph II. anschlossen, versuchten dem von Bodi so genannten ,TauwetterR denn auch im kirchlichreligiösen Bereich zum Durchbruch zu verhelfen: Kaiser Joseph II. ging es in erster Linie um eine Unterordnung der kirchlichen unter die staatlichen Einrichtungen aus machtpolitischen Gründen. Die Josephiner aber, deren Motive weniger staatspolitisch als philosophisch waren, strebten eine grundlegende Reform der katholischen Kirche im Sinne des Urchristentums an.21

Was unter Urchristentum zu verstehen sei – schlichtweg das Konzept natürlicher Religion oder vielmehr eine historische, auf Offenbarung fußende Glaubensgemeinschaft –, wird von den ,JosephinernR nicht einheitlich geklärt. Dass derartige Fragen für die Mitglieder jener im Kontext des Josephinismus operierenden Logen keineswegs als gelöst gelten durften, werden Blumauers Glaubensbekenntniß und Hubers Replik nahelegen. Während Joseph II. dabei die katholischen Dogmen an sich größtenteils weiterhin akzeptierte, ist es korrekt, den österreichischen Aufklärern katholischer Provenienz die Tendenz zuzuschreiben, fürstliche Reformen dazu zu nutzen, sich weltanschaulich und publizistisch weiter von der katholischen Orthodoxie oder von der Offenbarungstheologie zu entfernen, als dies von Joseph II. jemals beabsichtigt gewesen war. Der aufklärerisch eingestellte Reformkatholizismus sowie die deistisch geprägten Logen hielten zu Recht die anfängliche Politik Josephs II. für eine Rückendeckung, die den in Deutschland und v. a. in Frankreich aufkommenden Widerstand gegen die absolutistische Herrschaft stark verringerte: „Die grundlegende Differenz zum Liberalismus als einer politischen Bewegung ist die starke Bejahung des Absolutismus, die im Josephinismus steckt.“22 Obwohl der Josephinismus mit dem Reformkatholizismus Überschneidungen aufweist, sind beide nicht identisch. Erneut ist hier die Unterscheidung zwischen den Veränderungen im Verwaltungswesen und den theologischen Innovationen relevant: 19 20 21 22

Fritz Valjavec, Der Josephinismus, München 1945, 8. Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 17), 438. Rosenstrauch-Königsberg, Aloys Blumauer (wie Anm. 1), 22. Vocelka, Josephinismus (wie Anm. 10), 110.

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Im Bereich der römisch-katholischen Kirche sind die Reformen Josephs solche, die sich gegen den barocken Katholizismus des 18. Jahrhunderts wenden, die zu einer nüchternen, rationalistischen Veränderung in dieser Religionsgemeinschaft führen sollten. Zu diesen Reformmaßnahmen zählt die Einschränkung des Wallfahrtswesens, die Aufhebung von barocken Brüderschaften, die Einschränkung des Luxus und des kirchlichen Zeremoniells, das bei verschiedenen Anlässen betrieben wurde, eine nüchterne, einfache Art der Zeremonien wurde eingeführt, zum Teil eine zu schlichte.23

Der Josephinismus, isoliert betrachtet, zielte also darauf ab, religiöse Institutionen erstens unschädlich und zweitens nützlich für den Staat zu machen. In diesen Effekten kommt der Reformkatholizismus mit dem Josephinismus überein; die Gründe für die reformkatholischen Bemühungen sind jedoch ideeller Art und stimmen eher mit den konfessionell ungebundenen Visionen der Freimaurer sowie den Entwicklungen der protestantischen ,NeologieR überein: The conviction of the Reform Catholics that the truths of the faith could be rationally demonstrated and understood […], left little room for the traditional ,fear of GodR, which was part of pre-Enlightenment Christianity in both its Catholic and Protestant varieties. […] As God had endowed men with the faculty of reason, their love of him should not be based on fear but on a rational understanding of his wisdom and benevolence towards his creatures.24

Dies vernunftorientierte und oft utilitaristisch anmutende Religionskonzept darf wohl als ideelles Verbindungsglied zwischen Kirche, Politik und Freimaurerei gelten. Aufgrund dieser multifaktoriellen Produkte der Aufklärung in Österreich fällt es der Forschung bis heute schwer, die exakte Relation zwischen Aufklärung und Josephinismus zu beschreiben. Die wichtigsten gegensätzlichen Thesen hierzu formulierten Eduard Winter25 und Fritz Valjavec.26 Beide weisen die Kontingenzen der Epochenentwicklung auf: der „Josephinismus erscheint bei Winter und Valjavec nicht mehr als kohärentes, schrittweise umgesetztes Programm, das sich auf ,ZentralismusR und ,GermanisierungR festlegen lässt.“27 Beide jedoch beschreiben den Josephinismus als Ausdruck einer ,katholischen AufklärungR, wobei Winter den ,ReformkatholizismusR als deren Triebrad sieht, während ValEbd., 107. Ernst Wangermann, Reform Catholicism and Political Radicalism in the Austrian Enlightenment, in: ders. (Hg.), Aufklärung und Josephinismus. Studien zu Ursprung und Nachwirkungen der Reformen Josephs II., Bochum 2016, 99–113, hier 105. 25 Vgl. Eduard Winter, Barock, Absolutismus und Aufklärung in der Donaumonarchie, Wien 1971. 26 Vgl. nochmals Valjavec, Der Josephinismus (wie Anm. 19). 27 Franz Fillafer, Das Elend der Kategorien. Aufklärung und Josephinismus in der zentraleuropäischen Historiographie 1918–1945, in: ders., Thomas Wallnig (Hg.), Josephinismus zwischen den Regimen (Eduard Winter, Fritz Valjavec und die zentraleuropäischen Historiographen im 20. Jahrhundert), Wien 2016, 51–101, hier 97 f. 23 24

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javec „die Überkreuzung verschiedener Muster“28 für die josephinischen Entwicklungen in Anschlag bringt. Beide Deutungslinien weichen wiederum voneinander in ihren Thesen zu der Frage ab, wie die ,katholische AufklärungR durch den Josephinismus jenseits des 18. Jahrhunderts fortwirkte: Winter argumentiert für „eine ,objektivR fortschrittsoptimistische Entwicklungslinie“29 bis in das 20. Jahrhundert, während bei Valjavec „die Diagnose der Beharrungstendenz des Josephinismus im letzten Schluss negativ“30 ausfällt; Bodi, der wohl bedeutendste Literarhistoriker der österreichischen Aufklärung, schließt sich in seiner Untersuchung österreichischer Literatur des 18. Jahrhunderts Valjavec an.31 Im Folgenden wird zu überlegen sein, ob katholische Aufklärung entweder lediglich eine Aufklärung in oder aus katholischen Milieus oder aber exakter ein konfessionsgebundenes Denken bezeichnen sollte.32 Für letztere Annahme scheint ein Großteil der aufklärerischen Publizistik des Josephinismus zu sprechen. Konfessionalität wird darin nicht prinzipiell abgelehnt, aber doch intensiv verhandelt. Dies geschah durch Theologen, die lediglich eine Reform in Wissenschaft und Praxis anstrebten und weit davon entfernt, die Glaubenslehre in Frage zu stellen, eine gewisse Angleichung an die Zeitumstände gerade in eher kulturellen Fragen anstrebten. Dieser letztgenannten Gruppe gehörten wohl die meisten derjenigen Personen an, die gemeinhin zur Katholischen Aufklärung gezählt werden.33

Für die Absage an jegliche Konfession seitens vieler Josephiner spricht hingegen, dass offenbar im mehrjährigen Konflikt mit Rom gegenüber der katholischen Orthodoxie eine Abwehrhaltung entstand, die Aufklärer und Traditionalisten zunehmend trennte. Der Papstbesuch in Wien scheint ein Auslöser dieser Entwicklung gewesen zu sein: Ebd. Ebd., 101. 30 Ebd. 31 Vgl. Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 17), 395–440. 32 Vocelka hält allem Anschein nach mit Winter den Begriff der katholischen Aufklärung noch für unproblematisch: „Winter erblickt im Josephinismus – und das ist sicher sein grundlegendes Verdienst – eine österreichische Variante des Reformkatholizismus und sieht in dieser Geistesströmung auch eine für die katholische Kirche positive Bewegung“ (Vocelka, Josephinismus [wie Anm. 10], 109). Fillafer hingegen kritisiert zurecht die unscharfen Definitionen, die Valjavecs und Winters Analysen zugrunde liegen: „,AufklärungR fungiert dabei als metaphernrealistische Begriffs-Wünschelrute, wer welches Publikum oder welche Sachverhalte ,aufklärenR wollte, wird dabei nicht so genau genommen, die inhaltliche Definition erfolgt über das Mindestkriterium des Kampfs gegen den ,KonfessionalismusR und ein robustes Säkularisierungs-Lenksystem“ (Fillafer, Das Elend [wie Anm. 27], 99). Darauf, dass dieses Vorgehen die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Aufklärern einebnet und daher auch außerstande ist, die gemeinsame Basis derselben korrekt zu identifizieren, sollen die Interpretationen der Gedichte hinweisen. 33 Jung, Die Katholische Aufklärung (wie Anm. 11), 49. 28 29

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Zweifellos versetzte es den anfangs durchaus siegesbewußten Aufklärern einen unliebsamen Schock, als ihnen der Papstbesuch zeigte, daß der Kaiser zwar nicht willens war, Konzessionen in seiner Kirchenpolitik zu machen, daß aber die ,unaufgeklärteR Bevölkerung der Hauptstadt das Oberhaupt der katholischen Kirche mit ungeheurer Begeisterung in Wien begrüßte.34

Eine Dialektik gegenseitiger Konfrontation hebt einen Teil der Aufklärer dann immer stärker von der katholischen Konfession ab, wozu auch die Polemik seitens der Kirchenleute selbst ihren Beitrag leistet: Durch die allgemeine literarische Betriebsamkeit der Zeit werden auch die Opponenten der josephinischen Reformen und besonders die Vertreter der katholischen Orthodoxie gezwungen, mehr Predigten, klerikale Pamphlete, Traktate und Angriffsschriften gegen allzu gefährlich scheinende Reformer drucken zu lassen und sich so in das rege literarische Leben Wiens einzuschalten.35

In diesem Rahmen haben – unter offenbarem Einfluss ,protestantischerR Debatten – die grundsätzlichen Fragen nach der Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung, oder nach der Trennung von Wissen und Glauben Hochkonjunktur. Diesem Aspekt der österreichischen Aufklärung gehört das Glaubensbekenntniß des Freimaurers Blumauer an. Das ,TauwetterR war indes von kurzer Dauer. Im Zuge der Französischen Revolution, die ungefähr mit dem Tod Josephs II. koinzidierte, wurden von dessen Nachfolgern Leopold II. und Franz II. sukzessive die aufklärerischen Strukturen und Reformen eliminiert: „Alles, was vorher noch als fortschrittlich und reformerisch bezeichnet wurde, wie zum Beispiel im Josephinismus, erhielt nun das Etikett ,jakobinischR oder ,demokratischR und war in den Augen der Regierung und der Polizei staatsgefährlich.“36 Die Aufklärer zogen sich damit wieder nahezu vollständig in die Geheimbünde zurück.37

Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 17), S. 125. Ebd., S. 82. 36 Helmut Reinalter, Aloys Blumauer und die Wiener Jakobiner, in: Franz M. Eybl, Wynfried Kriegleder, Johannes Frimmel (Hg.), Aloys Blumauer und seine Zeit, Bochum 2007, 123–134, hier 124. 37 Dass die Freimaurer über den Tod Josephs II. hinaus aktiv blieben, demonstriert detailliert Günter K. Kodek, Von der Alchemie zur Aufklärung. Chronik der Freimaurerei in Österreich und den Habsburgischen Erblanden (1717 – 1867), Wien 2011. 34

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III. Aloys Blumauers Glaubensbekenntniß eines nach Wahrheit Ringenden

III.1 Zum Umfeld des Verfassers Der Kanon deutschsprachiger Literatur legt keinen Wert auf Aloys Blumauer (dessen Vorname manchmal auch mit i geschrieben wird), den berühmtesten Poeten der Aufklärung in Österreich. Blumauers Schaffen scheint – wenngleich dies freilich schwer zu definieren ist – in Sprachstil und Stimmungsgehalt dem Ton Gellerts näher als dem Goethes zu stehen. Das lyrische Œuvre enthält zahlreiche verspätete Anakreontismen oder ,RokokoR-Dichtungen, was den Aufholbedarf der österreichischen Literatur verdeutlicht. Bodi bestätigt diesen Befund insbesondere, was die Lyrik betrifft: „Auf dem Gebiet der Lyrik gelingt es in Österreich während des ganzen 18. Jahrhunderts nicht, ein Niveau zu erreichen, das auch nur annähernd dem des protestantischen Deutschland entspricht.“38 Da jedoch der vorliegende Beitrag weder die ästhetische Qualität jener Dichtung zu begutachten, noch eine Poetologie des religionstheoretischen Diskurses in der österreichischen Aufklärung zu entwerfen sucht, dürfen die folgenden Bemerkungen – und das ist der Gedankenlyrik jener ausgewählten Texte wiederum angemessen – als stichprobenartige Erkundung eines ideengeschichtlichen Moments der josephinischen Epoche und dessen Verhältnis zu verwandten theologischen Debatten der Aufklärung gelten. Blumauer dafür auszuwählen, ist insofern gerechtfertigt, als seiner Popularität kein anderer der Wiener Autoren jener Zeit gleichkam: Während des josephinischen Jahrzehnts herrscht zweifellos der Ton Alois Blumauers vor, der mit seinen satirischen Gedichten, seiner Freimaurerlyrik und ganz besonders seinen Travestien antiker Epen den vielleicht wichtigsten österreichischen Beitrag zur Entwicklung der deutschsprachigen Lyrik im 18. Jahrhundert liefert.39

Wie bereits erwähnt, schien Blumauer in jungen Jahren zum Kleriker bestimmt zu sein: „Der am 22. Dezember 1755 in Steyr in Oberösterreich geborene Aloys Blumauer besuchte das Jesuitengymnasium seiner Heimatstadt, wo ihm die Patres das allerbeste Zeugnis ausstellten.“40 Nach der päpstlichen Aufhebung des Jesuitenordens 1773 knüpfte er Kontakte mit der Intelligenzia der Hauptstadt und begann eine erfolgreiche Literatenlaufbahn. Über Sonnenfels lernte Blumauer den mit der Einrichtung der Hofbibliothek beauftragten Gottfried van Swieten kennen, der ihn 1782 in die Zensurkommission einband – es war ein Schritt hin zu einer Zensur, die aufklärerische Ideen favorisierte.41 Zur ungefähr gleichen 38 39 40 41

Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 17), 100. Ebd., 101. Rosenstrauch-Königsberg, Aloys Blumauer (wie Anm. 1), 12. Vgl. ebd.

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Zeit erfolgte der Eintritt in die Loge Zur wahren Eintracht, die nicht nur mit den Freimaurern im protestantischen Raum enge Kontakte pflegte, sondern auch den Illuminaten mehrere Mitglieder zuführte. Von der Erwiderung der Sympathie, die Joseph II. anfangs den Freimaurern schenkte, zeugt das 1786 als Einzeldruck herausgegebene Gedicht Blumauers mit dem Titel Joseph der Zweyte, Beschützer des Freymaurerordens. Dort heißt es: „Joseph, der so eben von den Horden / Träger Mönche seinen Staat befreyt, / Schätzt und schützt dafür nun einen Orden, / Der sich ganz dem Wohl der Menschheit weiht.“42 Der Lobpreis des Kaisers geht zuletzt mit dem Aufruf zur intensivierten Tätigkeit einher: „Laßt uns dankbar unsern Schützer preisen, / Und ihm zeigen, daß die Maurerei / Werth der Achtung eines jeden Weisen, / Werth des Schutzes eines Joseph sey!“43 In die Zeit dieser gemeinsamen Front gegen die traditionellen Ansprüche der katholischen Kirche fällt auch das Werk, welches – obgleich unvollendet erhalten – Blumauers Ruhm begründete: Virgils Aeneis travestirt.44 Die Spitze richtet sich weniger gegen die weltliche Macht des Kaisers als gegen das Selbstbild der Kurie: Vergil hatte die weltliche Macht Roms durch die Geschichte ihrer Gründung durch Aeneas verherrlichen und mithin die römische Sendung als gottgewollt veranschaulichen wollen. Den Helden Aeneas komisch darzustellen, ihn lächerlich zu machen, bedeutete, einen wesentlichen Teil der auf ihm basierenden weltlichen Machtansprüche des Vatikans ihres Nimbus und ihrer Rechtfertigung zu entkleiden. Eben dies bezweckte Blumauers Travestie.45

Die privilegierte Stellung blieb den Logen jedoch nicht lange eingeräumt; im selben Zeitraum, da das oben zitierte Gedicht erschien, schränkte das Freimaurerpatent Josephs II. (um die Jahreswende 1785/86) die Freiheit der Geheimbünde ein.46 Nach dem Tode Josephs II. wandte sich Blumauer, der nun die Französische Revolution begrüßte, vollends gegen den bestehenden Staat, und so hält Rosenstrauch-Königsberg fest, „daß Blumauer als einer der führenden Köpfe der österreichischen Jakobinerbewegung anzusehen ist“.47 Der poetischen Produktion taten die Ereignisse der 1790er Jahre Abbruch: „Auch der bekannteste und bedeutendste Lyriker der österreichischen Aufklärung, Alois Blumauer,“48 wurde in den Aloys Blumauer, Joseph der Zweyte, Beschützer des Freymaurerordens, s.l. 1786, 2 [unpaginiert]. 43 Ebd., 4 [unpaginiert]. 44 Die zu diesem satirischen Projekt gehörenden Bände erschienen zwischen 1783 bis 1788. Vgl. hierzu zunächst: Aloys Blumauer, Abentheuer des frommen Helden Aeneas, oder Virgils Aeneis travestirt, Frankfurt am Main 1783. Vgl. ferner: Aloys Blumauer, Virgils Aeneis travestirt, 3 Bde., Wien 1784–1788. 45 Rosenstrauch-Königsberg, Aloys Blumauer (wie Anm. 1), 21. 46 Vgl. Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 17), 230 f. 47 Rosenstrauch-Königsberg, Aloys Blumauer (wie Anm. 1), 32. 48 Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 17), 420. 42

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Jakobinerprozessen 1795 angeklagt. Der Schriftsteller sah sich während der Jakobinerverfolgung der 1790er Jahre überdies gezwungen, die letzten, noch ungedruckten Teile des Aeneas-Epos zu vernichten, um einer Verurteilung zu entgehen.49 Er starb 1798.

III.2 Annäherung an philosophische Horizonte des Glaubensbekenntnisses Um dem Gegenstand des Glaubensbekenntnisses wieder näher zu kommen, sind die philosophischen Orientierungen zu überdenken, die währender 1780er Jahre Wien dominierten. Die Opposition von rationalem Diskurs und emotional vermitteltem Glauben beschäftigt Blumauer offenbar bereits Anfang der 1780er Jahre. In den eben erwähnten „Beobachtungen über Österreichs Aufklärung und Litteratur, die Alois Blumauer Ende 1782 zuerst in der Realzeitung veröffentlichte, die dann aber auch gesondert als Broschüre publiziert wurden“,50 verteidigt der Verfasser die josephinische Zensurpolitik, zu deren Instrument er sich selbst machte, indem er auf die Notwendigkeit der Eindämmung schädlich unaufgeklärter, aber leicht Verbreitung findender Glaubenslehren insistiert. Im Gegensatz zum aufklärerischen ,SchriftstellerR habe der ,abergläubischeR Kleriker einen gefährlichen Direktkontakt zu den Herzen seiner Rezipienten: Das Publikum des Schriftstellers ist die Welt, unendlich manigfaltig an Denkart und Empfindungsvermögen, er kennt seine Leser nur nach dem allgemeinen Begriffe der Menschen, und hat nur entfernte, unbestimmte Mittel, um auf sie wirken zu können. Aus dieser Vergleichung […] wird es einleuchtend klar, daß der Prediger von ungleich grösserem Einfluß seyn müsse, als der Schriftsteller, daß dieser nur nach und nach Proselyten machen, jener aber augenblickliche Empörungen veranlassen, und folglich gefährlicher werden könne, und daher in einem Staate eine noch weit strengere Aufsicht verdiene, als selbst der Schriftsteller.51

Der Text geht dann darauf ein, dass der Glaube einer vernünftigen Prüfung standhalten müsse und dadurch der Status aufgeklärter (d. h. einzig legitimer) Prediger nur steige. Blumauer spricht sich also für die Redefreiheit des Schriftstellers, aber gegen die des Predigers aus. Ihm schwebt mithin Aufklärung als Vermittlung vernünftiger Gehalte, nicht als Prozess unbefangener Kommunikations- und Überzeugungsarbeit vor. Dass entweder der Priester oder der Aufklärer seine Gedanken geheim halten muss, inszenieren die Beobachtungen als unaufhebbare Antinomie. Von Inszenierung ist hier schon deshalb zu sprechen, weil die reale Zensur 49 50 51

19 f.

Vgl. Rosenstrauch-Königsberg, Aloys Blumauer (wie Anm. 1), 22. Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 17), 166. Aloys Blumauer, Beobachtungen über Oesterreichs Aufklärung und Litteratur, Wien 1782,

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keineswegs solche scharfen Trennungen vornahm – und weil Blumauers lyrisches Subjekt im Glaubensbekenntniß bezeichnenderweise eine Sprechsituation entfaltet, in der sich das aufgeklärte Ich allein Gott, nicht dem Klerus, anvertrauen darf – während der Text tatsächlich ohne Weiteres publiziert werden konnte, wenngleich Konflikt und Austausch mit Feinden und Freunden auf den Fuß folgen sollte. Des Weiteren ist Blumauers lyrisches Subjekt über die Fragen der Vernunft und Offenbarung nicht nur pragmatischer oder politischer Gründe wegen beunruhigt; das Gedicht problematisiert die Epistemologie jener beiden Konzepte. Um der Frage nachzugehen, wieso Blumauer eine gedankenlyrische Abhandlung der Frage nach der Beziehung zwischen Glauben und Wissen publiziert, lohnt es sich (aufgrund mangelnder Informationen über die direkte Rezeption philosophisch-theologischer Diskussionen), die philosophische Umgebung, in die das Gedicht gestellt ist, allmählich zu beleuchten. Wie Sauer darlegt,52 gelangten erst in den 1770er Jahren die aktuellen Debatten der norddeutschen Philosophen nicht nur an die Universitäten, sondern auch unter die Literaten und v. a. deren Publikum. Dies lag wohl in hohem Maße auch an der eingangs erwähnten ,PopularphilosophieR, die sich in Auseinandersetzung mit Wolff vornehmlich in Göttingen etablierte, und die dafür eintrat, statt der Metaphysik „die Psychologie an die Stelle der Metaphysik als Grunddisziplin“53 einzusetzen. Korrekt ist insgesamt Sauers Feststellung: Durch die rasante Entwicklung vom Barockkatholizismus zur antiklerikalen Aufklärung mit ihrem religiösen Rationalismus wurde die der Aufklärung allgemein inhärente Spannung zwischen ,GlaubenR und ,WissenR von den österreichischen Aufklärern in besonderer Schärfe erlebt.54

Da, wie zu zeigen sein wird, Immanuel Kant wie überall im deutschsprachigen Raum erst einige Jahre nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft umfassend rezipiert wurde, ist zu mutmaßen, dass das aufgeklärte Wien seine Ideen zu großen Teilen aus Göttingen bezog: In Wien lehrte […] der Exjesuit Joseph Ernst Mayer bis 1786 […]. Neben ihm wirkte 1779 – 83 als außerordentlicher, unbesoldeter Professor für Logik, Metaphysik und Ethik in deutscher Sprache Anton von Scharf […]. Scharf las nach Feder, dessen Popularphilosophie zeitgemäßer erschien als der orthodoxe Wolffianismus […]. Mayers Nachfolger wurde 1786 der Exjesuit Franz Samuel Karpe […]. Auch er las in deutscher Sprache nach Feder.55

Demnach wäre Johann Georg Heinrich Feder derjenige Philosoph, der unter den in Wien lehrenden Akademikern das höchste Ansehen genoss. Ferner ist dann zu 52 53 54 55

Sauer, Österreichische Philosophie (wie Anm. 18), 27. Ebd. Ebd., 17. Ebd., 45.

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vermuten, dass die Entscheidung für Feder eine generelle Tendenz der Josephiner repräsentiert. Die Textgrundlage der Lehre Feders ist der – erstmals schon 1769 erschienene – Grundriß der philosophischen Wissenschaften. Im folgenden Abschnitt sollen einige Hinweise auf die dort entworfene Relation von Vernunft, Offenbarung, Glauben und Wissen gegeben werden, die zum exakteren Verständnis von Blumauers Glaubensbekenntniß dienen könnten. Das bloße Konzept einer Gottesinstanz ist für Feder prinzipiell keine Glaubensangelegenheit, sondern – wie schon für den im Ausgang von Aristoteles argumentierenden Thomas von Aquin – rational zu begründende Metaphysik: Der Grundsatz, der zu dem Denken des Menschen nothwendig gehört und für welchen die ganze menschliche Erkenntniß Zeugnisse ablegt, der Satz, durch nichts wird nichts, nöthigt also die menschliche Vernunft nach einer Ursache zu fragen, von welcher alle Einrichtungen und Veränderungen in der Welt ursprünglich herrühren; und sie wird nicht eher beruhigt, bis sie bekennet: es ist ein GOtt. Dieses leugnen heißt der Vernunft Abschied geben.56

Ein unbewegter Beweger ist allerdings, so Feder, ein nur ungenügend bestimmter Begriff, den zu präzisieren alle Religionen unternehmen. Die Versuche, Gott angemessener zu erfassen, misslingen der Menschheit jedoch zumeist: „Und daher entstunden die vielen Meinungen und Irrthümer, denen die heilige Schrift widerspricht.“57 Gleichwohl führt Feder später keine tiefere Diskussion über die unchristlichen Irrtümer, welche die schriftlich fixierte Offenbarung angeblich behebt. Er trägt kaum klärende Bestimmungen in den Gottesbegriff ein. Vielmehr beruft sich der Philosoph – dies dürfte für Blumauers Opponenten Huber relevant sein – im Folgenden auf ethische (insbesondere eudämonistische) Grundsätze, um dem Offenbarungsglauben Geltung zu verschaffen: Das Gewissen, dieser innerliche Richter unserer Handlungen, fast sage ich dieser GOtt in uns, ist unüberwindlich. Es läßt sich einige Zeit unterdrucken, aber desto grösser ist seine Gewalt alsdenn. Es sey was es will, Naturtrieb, Instruktion, oder Folgerung, oder alles dieses zugleich: so sagt mir meine Vernunft: suche ein ruhiges Gewissen zu haben, suche den GOtt zu versöhnen, vor dem du zittern mußt. […] Er muß ihn [den Menschen] verabscheuen, so lang er Sünder ist. Wird er ihn ewig bleiben lassen, und ewig strafen? Er kann es, vielleicht will es seine Weisheit. Wird er es thun? Meine Vernunft weis es nicht.58

Inwiefern diese Ansichten von der Personalität Gottes keine Glaubenswahrheiten sind, sondern anderen epistemischen Kompetenzen überantwortet werden, ist unklar. Die Formulierung Naturtrieb, Instruktion, Folgerung ließe vermuten, dass Johann Georg Heinrich Feder, Grundriß der philosophischen Wissenschaften, Coburg 1769, 127 f. 57 Ebd., 128. 58 Ebd., 136 f. 56

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Instruktion als Offenbarung zu interpretieren sei. Hier gelangt man also an die Grenzen dessen, was für Feder natürliche Religion heißen dürfte. Dabei ist es keineswegs ein etwaiger Zweifel an Gott oder Gottes Macht, der das schlechte Gewissen und das Bewusstsein der Sündhaftigkeit veranlasst. Ein unruhiges Gewissen entstammt vielmehr evidenten moralischen Vergehen, die der Mensch als Übertretung des einzig gültigen, göttlichen Gesetzes anerkennen muss. Eine Verneinung der Existenz Gottes oder auch nur der Offenbarung scheinen überhaupt nicht in Betracht gezogen zu werden. In Blumauers Glaubensbekenntniß hingegen entspringt der Gewissensbiss dem Unglauben selbst, während in demselben Gedicht geistig-moralische Mängel des Subjekts eher dem Zweifel an Gottes Hinwendung zum Menschen Raum geben, als dass sie Gottes Allmacht wie bei Feder erst kontrastierend vor Augen führten. Bezüglich des Übergangs von der Vernunft zur Offenbarung führt Feder nämlich aus: Es ist also die Vorschrift der Vernunft, daß der Mensch den Willen GOttes zu erfüllen suche, so weit er ihn erkennt; und daß er sich bemühe, ihn so vollkommen zu erkennen, als es ihm möglich ist. Beydes wird der Vernunft aber sehr schwer. Was kann die Vernunft daher mehr wünschen, als daß sich ihr GOtt näher offenbaren möchte? Sollte […] ein Mittel vorhanden seyn, wodurch der Mensch zu den Zustand gelangen könnte, wo er nichts zu fürchten und alles zu hoffen hätte: o wie froh müßten wir ihm zueilen, wie müßten wir den HErrn preisen!59

Feder nennt dieses Bedürfnis nicht nur einen ,WunschR, sondern auch eine „Sehnsucht“60 nach Offenbarung. Die Möglichkeit der Offenbarung gründet nicht in der Schrift, sondern ist als subjektives Bedürfnis des Menschen nach Erkenntnis ein ,vernünftiger WunschR: Dies sey der Entwurf vernünftiger Gedanken von GOtt. Ich habe dabey alle Systeme zu vergessen gesucht. Ich habe mich in Gedanken in jene Zeiten versetzt, wo die menschliche Erkenntniß noch nicht durch das hellere Licht der Offenbarung erleuchtet war.61

Glaube entwächst dem Ungenügen an der theoretischen Vernunft; letzten Endes aber ist dafür ausschlaggebend, dass der Mensch sich nach jenem geborgenen Zustand sehnt, ,wo er nichts zu fürchten und alles zu hoffen hätteR. Die Hauptfrage Kants, die in die Theologie reicht, und die vermittels der praktischen Vernunft aufgelöst werden sollte, nämlich: „Was darf ich hoffen?“62 – wird hier von Feder präEbd., 137. Ebd. 61 Ebd., 141. 62 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, 9 Bde, hier Bd. 3, Berlin 1968, 522. [Die Kritik der reinen Vernunft wird nach der 2. Auflage von 1787 zitiert, da in der Akademie-Ausgabe die unverändert gebliebene Methodenlehre nur im Rahmen dieser Auflage wiedergegeben ist.] 59 60

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figuriert. Blumauers Glaubensbekenntniß dagegen wird den Glauben nicht als praktische Ergänzung des Wissens, sondern als dessen Widerspruch oder indifferentes Anhängsel darstellen. Indessen ist für Feder mit dem über die unsterbliche Seele zu Gericht sitzenden Gott die Grenze des rational vertretbaren Glaubens erreicht: Glaubst du aber einen Gott, der die Welt regiert, das Gute belohnt und das Böse bestraft, und nur dieses heißt einen Gott glauben; glaubst du diesem zufolge auch eine längere Dauer deines Wesens, als die Zeit dieses irdischen Lebens: so wirst du dir auch ganz andere Begriffe von der wahren Glückseligkeit, von dem größten Vortheil deines Lebens, und von der Weisheit machen.63

Feder bekümmern hier keine Widersprüche zwischen Wissen und Glauben. Was nicht gewusst werden kann, ist entweder vernunftkonform oder nicht. Es ist davon auszugehen, dass wenigstens in Wien eine so unproblematische Korrelation beider Bereiche dubios wirken konnte. Für Blumauer, den ehemaligen Jesuiten, scheinen Kontraste eklatant gewesen zu sein: Die ungemein rasch verlaufene Entwicklung […] führte aber auch bei vielen Intellektuellen zu einer Krise zwischen den Polen ihrer existenziellen Bedürfnisse und ihres Denkens, zwischen ,GlaubenR und ,VernunftR. Blumauer brachte diesen Zwiespalt in seinem von der Orthodoxie stark angefeindeten Glaubensbekenntnis […] eindringlich zum Ausdruck.64

III.3 Interpretation von Blumauers Text Blumauers Gedicht erschien erstmals 1784 im logeninternen Journal für Freymaurer (3. Vierteljahr).65 Es wurde dann 1785 und 1786 (der letztere Druck trägt den Titel Glaubens-Bekenntniß eines nach Wahrheit ringenden Catholicken) in jeweils leicht veränderten Fassungen der Öffentlichkeit präsentiert. Diese Varianten unterscheiden sich fast ausschließlich in formaler Hinsicht; meist wird die im Text vorgetragene These des Antagonismus von Glauben und Wissen versuchsweise durch umgestellte Strophen neu akzentuiert, ohne in ihrer diskursiven Struktur oder Konklusion eine Veränderung zu erfahren. Dies ist bemerkenswert, weil Blumauers Gedicht zu exakt der Zeit entsteht, als der Pantheismusstreit zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Moses Mendelssohn anhebt, und weil Blumauer in den weiteren Versionen des Texts trotz der thematischen Nähe zu den Schriften Jacobis, Mendelssohns und Thomas Wizenmanns weder Stellung zum Pantheismusstreit, noch zu dem kurz darauf heranreifenden ,kritischenR LöFeder, Grundriß (wie Anm. 56), 266. Sauer, Österreichische Philosophie (wie Anm. 18), 48. 65 Aloys Blumauer, Glaubensbekenntniß eines nach Wahrheit Ringenden, in: Journal für Freimauer 1/3 (5784 [1784]), 216–232. 63

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sungsvorschlag Reinholds in den Briefen über die Kantische Philosophie bezieht und mithin aus dem sich rasant verschiebenden Diskussionsrahmen schweigend austritt. Stattdessen lässt sich an Blumauers Text sowie an der Replik Franz Xaver Hubers der Grad genauer bestimmen, bis zu dem die ,josephinischeR Zeit als österreichische und somit katholisch modifizierte Expression der Aufklärung mit den philosophischen Fragestellungen der 1780er Jahre Schritt halten konnte. Nach dem Erstdruck des Gedichts erschien 1785 ein eigenständiger, nur leicht veränderter Druck des Texts, dessen Veröffentlichung den Skandal um das Verbotsversuch des Glaubensbekenntnisses auslöste: So setzte Erzbischof Migazzi 1785 alle Hebel in Bewegung, um ein Verbot des Gedichtes „Glaubensbekenntnis eines nach Wahrheit Ringenden“ zu erreichen. Das rationalistische Gedicht stellt in poetischer Form den Widerspruch zwischen Glauben und Verstand dar und ist Ausdruck eines ehrlichen, inneren Kampfes. Hier, wo es darum ging, den Wirkungsbereich des Erzbischofs einzuschränken, ergriff der Kaiser die Partei Blumauers und ließ dem Kardinal eine entsprechende Abfuhr erteilen.66

Wenn Rosenstrauch-Königsberg von Blumauers ,ehrlichem inneren KampfR spricht, so berührt sie die Frage nach der Fiktivität und der Wirkabsicht des Texts. Ob im Glaubensbekenntniß tatsächlich ein Seelengemälde des Autors realisiert worden ist, kann hier in keiner Weise beantwortet werden. Erwägenswert ist hiergegen lediglich die Tatsache, dass Blumauers Lyrik auch ein völlig unproblematisches Verhältnis zu Religionsfragen entwerfen kann. So veröffentlicht das Journal für Freymaurer nur ein halbes Jahr vor dem Glaubensbekenntniß Blumauers Gebet eines Freymaurers, in dem beschränkter oder deistischer Gottesbezug mit einem beglückten Lebenswandel vollständig vermittelt ist: „Nie, o Herr! wird sich mein Geist betrüben, / Wenn er dir auch nie ins Antlitz schaut, / Aber immer werd ich jenen lieben, / Der mir diese schöne Welt gebaut.“67 Der innere Zustand des Autors ist insofern stets nebensächlich, als es dem Kunstwerk um mehr als ein individuelles Psychogramm geht. Für eine Textinterpretation sollte die Ausleuchtung des ideengeschichtlichen Rahmens nützlicher als jede Psychologisierung sein. Man darf daher annehmen, dass es Blumauer um die artistisch ausgeschmückte Diskussion eines philosophisch bedrängenden Themas ging, das zum Erscheinungszeitpunkt des Texts hochaktuell war. 1786 kam es zu einer Neuauflage sowie zur Publikation einer weiteren, nur leicht abweichenden Fassung mit dem Titel Glaubens-Bekenntniß eines nach Wahrheit ringenden Catholicken, die sich teils als Trotzreaktion auf den misslungenen Verbotsversuch, teils als Kompromissangebot an die katholische Kirche sowie an das katholische Fürstenhaus lesen lässt: der nach Wahrheit Ringende erRosenstrauch-Königsberg, Aloys Blumauer (wie Anm. 1), 16. Aloys Blumauer, Gebet eines Freymaurers, in: Journal für Freymaurer 1/1 (5784 [1784]), 227–236, hier 232. 66 67

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scheint nun nicht mehr im Gewand des Nicht-Katholiken bzw. Apostaten, sondern als Katholik, der sich in ernsthafter Erforschung seines Inneren mit der eigenen Religiosität auseinandersetzt. Dieser Druck gleicht trotz der veränderten Überschrift noch immer zu sehr seinen Vorgängern, um als eigenständige Version zu gelten. In Blumauers posthum erschienenen Sämmtlichen Werken schließlich findet sich eine nochmals leicht veränderte Fassung, die den ,CatholickenR wieder aus dem Titel tilgt.68 Bei den Textvarianten handelt es sich um marginale Abweichungen, die den Sinn nicht verändern; meist sind Zeichensetzungen oder einzelne Wörter stilistisch verändert, teilweise werden die Strophen umgestellt. Da es unter den vier auszumachenden Fassungen die zweite war, welche erstens für allgemeines Aufsehen sorgte und zweitens auch Franz Xaver Hubers Replik veranlasste, zitiert die folgende Interpretation vornehmlich die Broschüre aus dem Jahr 1785. Das Gedicht beginnt mit einer Unterscheidung, die noch nicht direkt auf den Konflikt von Wissen und Glauben hinweist, aber bereits das Potenzial des Antinomischen erahnen lässt: „Zwo Kraefte sind es, die den Menschen lenken, / Sie leiten ihn bald Süd- bald Nordenwaerts: / Natur gab ihm Verstand, um recht zu denken, / Um recht zu handeln, gab sie ihm das Herz.“69 Dem theoretischen Vermögen ist der Verstand (das rationale Vermögen), der Praxis als Anwendungsbereich der Ethik ist das ,HerzR, also das Gefühl zugeordnet. Hierbei bewegt sich das Gedicht scheinbar im Rahmen empfindsamer Theoriebildung.70 Gleichzeitig wird die Unterteilung in zweierlei Hinsicht problematisiert. Denn zum einen ist ihre Effizienz ungleichartig beschaffen: „O! der Verstand hienieden weiß so wenig, / Und ach! Das Herz wünscht, ahndet, glaubt so viel.“71 Dem Gefühl wird sogleich der ,GlaubeR zugeordnet. Verstand und Glaube sind in diesen Versen nur scheinbar auf ein einziges gemeinsames Objekt gerichtet, wenngleich der Verstand dasselbe verfehlt. Zum anderen nämlich streben die Herzenswünsche in Bereiche, deren Realität der Verstand nie verifizieren kann. Damit wird die weise Einrichtung der Natur sogleich in Zweifel gezogen, und die Beziehung der Vermögen zu ihren Zuständigkeitsbereichen scheint wieder verunklart. Ist das Herz dem ,GlaubenR zugeordnet, so handelt es sich bei der verstandesungebundenen Tätigkeit des Herzens um keine bloß praktische Angelegenheit, sondern um ein epistemologisches Problem. Tatsächlich zeigt das Gedicht denn auch die inAloys Blumauer, Glaubensbekenntniß eines nach Wahrheit Ringenden, in: A. Kistenfeger (Hg.), A. BlumauerQs sämmtliche Werke, Bd. 1, München 1827, 8–17. 69 Aloys Blumauer, Glaubensbekenntniß eines nach Wahrheit Ringenden, Herrnhuth [Wien] 1785, 3. 70 Siehe zu diesem Komplex die Studie von Friedrich Vollhardt, Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001. 71 Blumauer, Glaubensbekenntniß (1785) (wie Anm. 69), 4. 68

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ternen Antinomien der beiden Vermögen auf, die eben häufig doch keinen gemeinsamen Gegenstand besitzen: „Und sind nicht diese Führer auf den Wegen / Des Glücks, oft mit sich selbst im Widerspruch? / Ist nicht oft das, was die Vernunft als Segen / Erkennt und billigt, der Empfindung Fluch?“72 Dies kommt einem wechselseitigen Ausschluss der Zuständigkeitsbereiche beider Vermögen gleich. Wenn das Herz – hier explizit als ,EmpfindungR bezeichnet – die Urteile des Verstandes – ,VernunftR ist hier offenbar dessen Synonym – negiert und umgekehrt, dann fallen unter die beiden Vermögen wenigstens teilweise unvereinbare Gegenstände. Und tatsächlich wird im weiteren Verlauf des Gedichts aus der ,EmpfindungR der Bereich des Glaubens abgesondert, der dem verstandesbezogenen Bereich des ,WissensR gegenübertritt. Dabei ist der Glaube nicht allein auf ethische, sondern auch auf metaphysische (theoretisch gefasste) Fragen bezogen. Die Strophen, die die beiden Vermögen des Menschen gegeneinander ausspielen, dienen mithin zur Einleitung in den wirklichen epistemischen Antagonismus des Texts: dem zwischen Wissen und Glauben – denn beides macht für das lyrische Subjekt Anspruch auf umfassende Wahrheit. Der Begriff der Wahrheit ist hierbei als Korrespondenz einer Vorstellung mit ihrem Objekt zu begreifen, sei es, dass sich diese Entsprechung in der Form des Wissens oder in der Form des Glaubens zeigt. Allerdings wird der Wahrheitsanspruch diverser Glaubensartikel im Verlauf des Texts hinterfragt. Fast alle beziehen sich auf Gottes Offenbarung. Die Unsterblichkeit der Seele konstituiert einen weiteren problematischen Glaubensaspekt, der allerdings erst von Hubers Replik zum höchstrangigen Problem erhoben wird. Indessen stellt sich das lyrische Subjekt auf die ,aufgeklärteR Seite des Wissens: „Allein ist Glauben sicherer, als Wissen?“73 Dieser rhetorischen Frage folgt die Aussage, der Glaube sei keine Angelegenheit der Vernunft, sondern wachse dem Menschen von außen her zu: Wissen sei besser, als „auf fremden Glauben baun“.74 Glaube komme daher einer „fremden Hilfe“75 gleich. Freilich wird der Ursprung des Glaubens – oder die Natur seiner ,FremdheitR – nicht gänzlich geklärt. Verständlich wird nur, dass es sich bei jenem Glauben um vermeintliche Offenbarungswahrheiten handelt. Ob diese unabhängig von der Schrift in das ,HerzR eingehen, oder ob sie stets biblisch vermittelt sind, expliziert der Text nicht; letztere Möglichkeit ist insofern wahrscheinlicher, als sämtliche folgenden Glaubensartikel sich aus Bibelstellen bzw. deren orthodoxer Interpretation herleiten lassen. Das eigentliche Problem des Glaubens ergibt sich aus einem Ungenügen der Vernunft. Dies kommt daher, dass der Geist nicht nur mit der rationalen Er72 73 74 75

Ebd., 5. Ebd., 7. Ebd., 6. Ebd.

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kenntnis hadert, sondern dass diese Erkenntnis als ,strenge WahrheitR den Hoffnungen des Herzens geradezu widerspricht: Und dennoch ist in manchen Prüfungsstunden Das Herz so gern dem Glauben unterthan, Und oft schlaegt ihm die strenge Wahrheit Wunden, Die nur allein der Glaube heilen kann. Ja auch dem Glauben ist sein Reich beschieden, So gut, wie der Vernunft; allein wer kennt Die Linie, die sein Gebiet hienieden Von dem Gebiete des Verstandes trennt?76

Erneut bekräftigen diese Verse, dass der Glaube nicht der Vernunft, sondern dem Herzen assoziiert ist. Die ,strenge WahrheitR kann daher nur der Ratio zukommen, während Glaubenswahrheiten definitiv dem von ihnen selbst gestellten metaphysischen Wahrheitsanspruch epistemologisch nicht genügen. Die Dringlichkeit des Glaubens entsteht, wo der Mensch Bedürfnisse hat, die von der Vernunft nicht befriedigt werden.77 Im Gegenteil lasse die Ratio ,WundenR zurück, schmerzliche Einsichten, die den ,WünschenR und ,AhndungenR des Herzens Abbruch tun. Trotz dieser prinzipiellen Legitimierung des Glaubens bleibt die Unsicherheit zurück, wie die Zuständigkeitsbereiche von Wissen und Glauben gegeneinander abzugrenzen und miteinander zu versöhnen sind. Diese Problematik illustriert das Gedicht im Folgenden anhand diverser Beispiele. Gleichzeitig – darin liegt die paradoxe Sprechsituation des Subjekts – erscheint die ganze Diskussion im Gewande des intimen Gebets und Glaubensbekenntnisses: „O du! der mir den Geist voll Durst nach Wahrheit, / Und ein so weiches Herz zum Glauben gab, / Dir leg ich hier am Throne deiner Klarheit / Ein frey Bekenntniss meines Glaubens ab.“78 Die Passage, die diese Sprechsituation markiert, ist erstens deshalb aufschlussreich, weil das Dasein Gottes hier anscheinend kein bloßer Glaubensartikel ist, sondern als Erkenntnis vorausgesetzt wird (was die nächsten Strophen bestätigen). Atheismus kommt daher in Blumauers Text nie auf. Zweitens ist dies für den katholischen Aufklärungsgedanken interessant: „nicht der Mensch in Rom“79 soll der Richter des Subjekts sein. „Nur dir“,80 Ebd., 8 f. Abgesehen davon, dass das Gedicht in Glaubensfragen über Kants Vernunftglauben weit hinausgeht, scheint Blumauer Kant nie zur Kenntnis genommen zu haben, weshalb jene Legitimierung des Glaubens durch ein ethisches Erfordernis nicht aus der Kritik der reinen Vernunft stammen kann. Dennoch zeigt sich darin eine gängige Antwort auf die Glaubensfrage, auf die Kant nur eine Antwort von mehreren gibt (siehe unten). 78 Blumauer, Glaubensbekenntniß (1785) (wie Anm. 69), 10. 79 Ebd., 11. 80 Ebd. 76

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d. h. Gott, gilt die Ansprache. Zunächst beraubt die menschliche Fehlbarkeit des Papstes diesen seiner Autorität über das lyrische Subjekt. In der frühen wie in jener späteren Fassung des Gedichts, die den Titel Glaubens-Bekenntniß eines nach Wahrheit ringenden Catholicken trägt, wird dennoch die geheime Furcht vor dem Anathema angesprochen, wenn es heißt: „Ein Strahl von deiner Huld ist meiner Seele / Ein Strahl des Lichtes, und – ein Bannstrahl nicht!“81 In diesem Kontext ist das Ringen des Subjekts nach Wahrheit durchaus innerhalb des Katholizismus anzusiedeln, der dem Ich bei aller Kritik nicht nur als ein abzulehnender Fremdkörper begegnet. In der Ausgabe sämmtlicher Werke Blumauers aus dem Jahr 1827 findet sich stattdessen folgende, gleichsam anti-katholische Formulierung: „So höre denn, und zünde, wenn ich fehle, / Nur einen Strahl von deinem Licht mir an: / Ein Strahl aus deiner Hand in meiner Seele, / Ein Strahl des Heils, kein Strahl vom Vatikan“.82 Hier ist der im Vatikan fundierte Katholizismus dem ,HeilR geradezu entgegengesetzt. Generell scheinen diese Aussagen darauf hinzudeuten, dass es im Glaubensbekenntniß nicht um eine katholische Aufklärung im Sinne eines ,aufgeklärten KatholizismusR geht, sondern vielmehr um die Abkoppelung des katholisch kultivierten Subjekts von der kirchlichen Autorität. Dass deren Resultat noch katholisch genannt werden könnte, ist nicht plausibel. Die Kommunikationssituation des Gedichts ist unabhängig von dieser Frage auf zwei Ebenen angesiedelt. Fiktionsontologisch spricht das lyrische Subjekt mit einem als existent gesetzten, aber auch verborgenen Gott, dessen Responsivität auf das Gebet und Credo des Menschen zweifelhaft bleibt. Im realen Publikumsbezug wendet sich der Text an eine Leserschaft, die sich über den Zusammenhang von Wissen und Glauben verständigen möchte, sich dazu jedoch von der kirchlichen Dogmatik lösen muss und so ein ästhetisch abgesondertes Diskussionsfeld für eine epistemologische Fragestellung – mit möglicherweise ernsten politischen Konsequenzen – findet. Die nächsten Textabschnitte lassen sich grob in drei Teile gliedern: Zuerst entfaltet der Text die Widersprüche zwischen einem theologischen Wissen, das als ,natürliche ReligionR erscheint, auf der einen, und dem Offenbarungsglauben der ,positiven ReligionR auf der anderen Seite. Danach werden entsprechende Antinomien in dem glaubenden und wissenden Gottesbezug des lyrischen Subjekts angesichts seiner eigenen Begrenzungen aufgedeckt. Zuletzt schließt ein radikaler Zweifel an der Validität des Glaubens das Gedicht, ein Zweifel, der den Glauben dem Wahnsinn annähert. Für die ersten beiden Abschnitte sei jeweils ein Beispiel herausgegriffen. Der Dekalog wird als Offenbarungsgeschehen angeführt, das man glauben müsse. Aloys Blumauer, Glaubens-Bekenntniß eines nach Wahrheit ringenden Catholicken, Wien 1786, 7. 82 Aloys Blumauer, Glaubensbekenntniß eines nach Wahrheit Ringenden (wie Anm. 68), 11. 81

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Dem entspricht – nicht im Verstand, sondern im glaubensunabhängigen Teil des Gefühls – das moralische Gesetz im Inneren des Menschen: „Ich glaube, daß du das Gesetz der Liebe / Auf harten Stein einst für die Menschen schriebst; / Allein ich fühlR es, daß es kraftlos blieb, / Wenn duQs nicht auch inQs weiche Herz uns grübst.“83 An dieser Stelle ist der Glaube noch nicht dem Wissen entgegengesetzt. Vielmehr zeigt sich hier, dass das ,HerzR tatsächlich wie der Verstand eine Seite hat, die mit dem Glauben in Berührung kommt, dass aber auch ein autonomes ethisches Vermögen – wohl im Sinne eines moral sense – dem Menschen Orientierung bietet.84 Der Glaube widerspricht zwar an diesem Punkt keineswegs dem ,GefühlR, aber die natürlichen Anlagen des Menschen machen doch den Glauben überflüssig. Ähnlich verhält es sich auch mit demjengen, was weniger ethisch als epistemologisch bedenklich ist, nämlich: „Wunder“85 und „Heilige“86 – auch hier handelt es sich um zwei (im letzteren Fall katholische) Glaubensartikel, die vom Wissen um Gottes Natur nicht widerlegt, aber irrelevant gemacht werden. Drastischer drückt sich die Opposition in der zweifachen Mitteilung des Göttlichen in der Welt aus, die Glauben und Erkenntnis (Wissen) trennt: Ich glaube, daß du uns ein Buch gegeben, Das manche Spur von deiner Hand verraeth; Dass du darinn fuer unser Erdenleben Manch Saamenkorn des Guten ausgesaet; Allein ich kenn ein Buch, von dir geschrieben, Und leserlich für jede Kreatur: Ein Buch, das einzig unverfaelscht geblieben, Das grosse Buch – der heiligen Natur.87

Die Wahrheit der Bibel verfällt einer – nicht sonderlich originellen – aufklärerischen Kritik. Die Heilige Schrift ist keine von menschlicher Hand verfasste, aber dabei akkurate Wiedergabe des göttlichen Worts, sondern ein historisch bedingtes und dabei Veränderungen unterworfenes Dokument, das höchstens ,SpurenR göttlicher Wahrheit enthält. Gott erscheint damit als deistische, kaum oder gar nicht in die Geschichte eingreifende Instanz, die ihre ,OffenbarungenR verderben lässt. Dagegen ist wieder das natürlich Gegebene ein zuverlässigerer Zeuge göttlichen Willens. Das Konzept des ,Buchs der NaturR ist die Grundlage der natürlichen ReBlumauer, Glaubensbekenntniß (1785) (wie Anm. 69), 16. Eine Übersicht der Moral-Sense-Theorien gibt Wolfgang Schrader, Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung: Der Wandel der Moral-Sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume, Hamburg 1984. 85 Blumauer, Glaubensbekenntniß (1785) (wie Anm. 69), 19. 86 Ebd. 87 Ebd., 16 f. 83 84

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ligion,88 die universale Validität besitzt (,leserlich für jede KreaturR) und nicht nur rational begreifbar, sondern ,unverfälschtR ist, da sie eben nicht wie die Schrift durch menschliche Hände entstehen oder getilgt werden kann. Das Wissen aus der Natur kann daher den Glaubensartikeln aus der Bibel widersprechen, und es muss dem Verstand unklar bleiben, welche Züge der positiven Religion akzeptabel sind. Das Subjekt jedenfalls kann gewisse Glaubenssätze weder rational hinnehmen noch emotional ablehnen. Dies wird an Ideen und Institutionen wie dem Zorn Gottes,89 Sakralbauten90 und dem Katholizismus als einer unter mehreren positiven Religionen91 selbst dargelegt. Unter derartigen Oppositionen befindet sich auch der Unsterblichkeitsgedanke, dem das Wissen um die Schwäche jeglichen endlichen Wesens widerspricht: „Ich glaube, Herr! Daß meinen Geisteskraeften / Ein ewQger Wirkungskreis dort oben winkt; / Allein ich weiß, daß er von den Geschaeften / Nur eines Tags schon matt in Schlummer sinkt.“92 Wenn die Geisteskraft, mithin die Seele limitiert ist, so schließt die obige Stelle daraus das Ungenügen derselben für die Ewigkeit. Ein gewisser Naturalismus schreibt also der Seele selbst anstatt dem Körper die Begrenztheit zu. Der Glaube an den ewigen Wirkungskreis lässt sich tatsächlich kaum mit einer solchen Seelenmetaphysik vereinbaren. Dies soll v. a. deshalb eigens Erwähnung finden, weil die Unsterblichkeit in Blumauers Gedicht ein Problem unter vielen konstituiert, dessen Erwähnung im Gegensatz zu den meisten Ich glaube … ich weiß-Oppositionen nicht einmal acht, sondern nur vier Verse einnimmt. Die Unsterblichkeitsskepsis des Texts wird jedoch zum zentralen Angriffsziel in Hubers Replik werden, wo ,UnsterblichkeitR zum Fluchtpunkt jeder religiösen Orientierung avanciert. – Der Fortgang der Argumentation konzentriert sich indes auf die Beschränktheit menschlicher Vermögen, um sie scheinbar gegen den Glauben zu wenden, diese Beschränktheit aber genauso zur Glaubensvoraussetzung zu machen: Ich glaube, daß du Sinnen mir gegeben, Auf die allein mein Geist sein Wissen baut, Ja, daß du diesen Führern selbst mein Leben Und alle mein Erkenntniß anvertraut; Allein ich weiß, daß meine beyden Augen, An deren Hand mein Geist so willig geht,

Vgl. hierzu die Darstellung bei Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1983, insb. 68–107. 89 Vgl. Blumauer, Glaubensbekenntniß (1785) (wie Anm. 69), 17, 20. 90 Vgl. ebd., 18. 91 Vgl. ebd., 14 f. 92 Ebd., 21. 88

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Mir nicht einmal zu unterscheiden taugen, Ob deine Sonne gehet oder steht.93

Selbst die Validität der Sinneswahrnehmung und der Verstandeserkenntnis sind an dieser Stelle Glaubensartikel, wenngleich sie nicht mehr mit der Heiligen Schrift in Verbindung gebracht werden. Wenn all das, was zuvor als Gegensatz des Glaubens – auf den Bereich des Wissens hingeordnet – erschien, nun zur bloßen Glaubensfrage wird, weil in die Geisteskräfte selbst im beschränktesten empirischen Gebiet gewissermaßen ,blindes VertrauenR zu setzen ist, dann steht das Subjekt vor der Gefahr einer totalen Skepsis, die eine Entscheidung entweder für einen rehabilitierten Verstand oder für den Schritt in einen verabsolutierten Glauben verlangt.94 Umgekehrt zur Beschränktheit der eigenen Erkenntnismöglichkeiten wird der Glauben – das gesamte obige Glaubensbekenntnis – durch Wissen immer relativiert oder gänzlich negiert. Das Glaubensbekenntnis ist damit zugleich ein Bekenntnis des Unglaubens: „Und so, o Herr, dem Widerspruch zum Raube, / Giebt sich mein Herz der Ungewißheit preiß; / So stürzt Vernunft das nieder, was ich glaube, / Und so verdammt der Glaube, was ich weiß.“95 Die feindliche Beziehung zwischen Wissen und Glauben erreicht damit ihren Höhepunkt.96 Das „Joch des Glaubens“97 und das Heilmittel des Glaubens sind zuletzt schwer unterscheidbar. Ohne der Religion oder der Gottesinstanz eine Absage zu erteilen, fordert das lyrische Subjekt auf der Grundlage der Disjunktion von Glauben und Wissen (,VerstandR) eine Versöhnung, die ihm selbst zu erringen nicht möglich ist. Die Alternative ist eine einseitige Entscheidung für eine der epistemischen Größen, wie die Schlussstrophen verdeutlichen: Sieh diesen schweren Kampf, den mein Gewissen Mit dem Verstande kämpft, mitleidig an; Und lehre mich ein Mittel, wie mein Wissen Mit meinem Glauben ich vereinen kann. Und hast du denn von dieser meiner Bitte Dein gütig Ohr auf immer weggewandt: So nimm, ich flehQs, o Herr! zu deiner Güte, Nimm mir den Glauben, oder den Verstand.98

Ebd., 22 f. Siehe hierzu den nächsten Unterpunkt zum Pantheismusstreit. 95 Blumauer, Glaubensbekenntniß (1785) (wie Anm. 69), 24. 96 Nebenbei wird hier die Nähe des Glaubens zum ,HerzenR sichtbar: während die Vernunft nur ,niederstürztR, ,verdammtR der Glaube gleich einer moralischen Instanz das, was ihm widerspricht. Der Verweis auf das ,GewissenR unten nimmt ebenfalls die moralischen Aspekte des eigentlich epistemologischen Problems ein, die Hubers Argumentation fundieren werden. 97 Blumauer, Glaubensbekenntniß (1785) (wie Anm. 69), 11. 98 Ebd., 28 f. 93 94

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Der Glaube selbst bleibt dabei in einer prekären Lage. So sieht das Subjekt nur über einen Glaubensakt – ein Gebet – die Möglichkeit der Vereinigung von Wissen und Glauben gewährleistet. Da es aber auch hier nur bei einer Denkmöglichkeit bleibt, ist die Alternative ein glaubensloser (damit aber auch unheilbar wunder) Verstand, oder ein unverständiger Glaube: und dies kommt wiederum einem Angriff auf den Glauben, ja, auf den grausam entzogenen Gott selbst gleich. Denn der um den Verstand gebrachte Gläubige wäre ein Wahnsinniger, der dem ,gütigenR Gott Hohn spräche.

III.4 Jacobi und Mendelssohn im Pantheismusstreit Blumauer ist, wie die oben zitierte Forschung bereits erkannt hat, in Wien mit der Problematik des Konflikts von Glauben und Wissen nicht allein. Was hingegen weniger Beachtung gefunden hat, ist, dass sich die ,katholischeR Aufklärung in Österreich hierbei im Gleichschritt mit der norddeutschen ,protestantischenR Aufklärung befindet. – Bei Feder ergibt sich noch das Bild eines unproblematischen Verhältnisses der Gegensätze: Vernunft und Offenbarung, Wissen und Glauben, natürliche Religion und positive Religion stehen in einem harmonischen Verhältnis. Wie sich an Blumauers Gedicht gezeigt hat, muss dieses Religionsverständnis in den 1780er Jahren bereits epistemologisch problematisiert worden sein. In der Tat war im protestantischen Raum bereits gegen Ende der 1770er Jahre der Fragmentenstreit um Gotthold Ephraim Lessing ausgebrochen, und genau zu der Zeit, als Blumauer seine Dichtung veröffentlichte, war der Pantheismusstreit zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Moses Mendelssohn im Gange. Hier kann nicht belegt werden, dass Blumauer über die Diskussion informiert war, aber die enge Verbindung der Logen legt nahe, dass ihn interessierte, was mit Lessing zusammenhing.99 Blumauer veröffentlichte sein Gedicht erstmals ohnehin vor Jacobis Schrift Über die Lehre des Spinoza; fraglich ist also bloß, ob der Verfasser in den nächsten Jahren von dem Streit Notiz genommen und die Positionen desselben in sein Gedicht einfließen hat lassen. Letzteres scheint nicht der Fall zu sein. Trotzdem sind hier einige Bemerkungen zum Pantheismusstreit sinnvoll, um darauf hinzuweisen, dass die ,katholischeR Aufklärung in Wien ebendie Problemlagen konfrontierten, die auch der ,protestantischenR oder ,jüdischenR Aufklärung in Norddeutschland bekannt waren. Als Mendelssohn nach dem Tod Lessings 1781 an die Sichtung des Nachlasses ging, erwähnte Jacobi in einem Brief, Lessing sei So paraphrasiert Blumauer in einer seiner Geheimbund-Schriften ein Wort Lessings zur Freimaurerei avant la lettre (allerdings ohne Ernst und Falk zu zitieren); vgl. Aloys Blumauer, Erste Spuren der Ritterschaft und festgesetzte Epoche derselben, in: A. Kistenfeger (Hg.), Sämmtliche Werke, München 1827, Bd. 8, 1–22, hier 3. 99

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(wenigstens in seiner letzten Lebensepoche) ein Anhänger des Spinoza geworden.100 Der Briefwechsel zwischen Mendelssohn und Jacobi legte sich bald weniger auf die Frage, was Lessings Position gewesen, und mehr darauf, was unter ,SpinozismusR genau zu verstehen sei.101 1785 veröffentlichte Jacobi die Briefe, in denen er Lessing aus dessen angeblichem Spinozismus einen Vorwurf macht: „Spinozismus ist Atheismus.“102 Jacobi erklärt den Determinismus des spinozistischen Systems zum Fatalismus, der zum Amoralismus führe. Da Gottes Existenz nie unabhängig von seinen determiniert agierenden Attributen besteht, die Modifikationen der Attribute sich aber auch nicht von der göttlichen Substanz unterscheiden können, gebe es keine freie Handlung, die sich vor einer Letztinstanz verantworten müsse. Jacobi sieht diese seine Rekonstruktion des Spinozismus als die einzig konsequente rationale Philosophie an, bei der auch der Wolffianismus (und mit ihm Mendelssohn) enden müsse.103 Zugleich relativiert er die Ansprüche der Vernunft, indem er alle Grundsätze des Wissens als von einer primitiven Evidenz unterlaufen sieht. Auf eine solche Evidenz berufe sich zwangsläufig jedes Denken: Wie können wir nach Gewißheit streben, wenn uns Gewißheit nicht zum voraus schon bekannt ist; und wie kann sie uns bekannt seyn, anders als durch etwas das wir mit Gewißheit schon erkennen? Dieses führt zu dem Begriffe einer unmittelbaren Gewißheit, welche nicht allein keiner Gründe bedarf, sondern schlechterdings alle Gründe ausschließt, und einzig und allein die mit dem vorgestellten Dinge übereinstimmende Vorstellung selbst ist. […] Wenn nun jedes für Wahr halten, welches nicht aus Vernunftgründen entspringt, Glaube ist, so muß die Ueberzeugung aus Vernunftgründen selbst aus dem Glauben kommen, und ihre Kraft von ihm allein empfangen.104

Die Suche nach rationalen Begründungen führt nach Jacobi mit dem letzten Grund auf ein Unbegründbares und mithin Prä-Rationales. Vorstellungen, die keinen weiteren Grund haben, müsse man als Offenbarung hinnehmen, und sie zu validieren, sei Aufgabe des Glaubens, der der Vernunft vorausliege: „wir alle werden im Glauben gebohren, und müssen im Glauben bleiben“.105 Der Spinozismus Zu Lessings Spinozismusgespräch und dessen Nachspielen vgl. Friedrich Vollhardt, Gotthold Ephraim Lessing. Epoche und Werk, Göttingen 2018, 396 ff. 101 Zum Verlauf des Pantheismusstreits (allerdings unter Auslassung Wizenmanns) vgl. die Monographie von Jlzef Pilrczyn´ski, Der Pantheismusstreit. Spinozas Weg zur deutschen Philosophie und Kultur, Würzburg 2019. 102 Friedrich Heinrich Jacobi, Über die Lehre des Spinoza, Breslau 1785, 170. 103 „Die Leibnitz-Wolfische Philosophie, ist nicht minder Fatalistisch, als die Spinozistische, und führt den unabläßigen Forscher, zu den Grundsätzen der letzteren zurück. […] Jeder Weg der Demonstration geht in den Fatalismus aus“ (Jacobi, Über die Lehre des Spinoza [wie Anm. 102], 172). 104 Ebd., 162 f. 105 Ebd., 162. 100

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wäre mit Jacobis Kritik als einseitiger Glauben an die „Offenbarung der Natur“106 zu begreifen, dem der Glaube an den transzendenten Gott, welchen keine Schlussfolgerungen demonstrieren, entgegensteht: Geist meiner Religion ist also das: der Mensch wird, durch ein göttliches Leben, Gottes inne; und es giebt einen Frieden Gottes, welcher höher ist, denn alle Vernunft; in ihm wohnt der Genuß und das Anschauen einer unbegreiflichen Liebe.107

Die Wahrheit, die Jacobi vorschwebt, hat insofern mystische Qualität – sie bestünde genau in der Teilung zwischen der geglaubten Unmittelbarkeit des Göttlichen und dem mittelbaren Wissen des Natürlichen, die für Blumauers lyrisches Glaubensbekenntniß unannehmbar ist. Allerdings ist auch unwahrscheinlich, dass eine Gegenposition zu Jacobi, wie sie Mendelssohns ,geläuterter SpinozismusR (der dem Individuum ein Stück freien Willens lässt) entwickelt, in der Denklinie derjenigen ,VersöhnungR läge, um die gegen Ende des Glaubensbekenntnisses gebeten wird. Mendelssohn antwortet Jacobi, das Individuum besitze ein eigenständiges Streben, das sich der Anschauung und dem Willen Gottes nähere oder entferne, und in dem alle religiös-moralische Verfasstheit des menschlichen Lebens beschlossen sei: Ich Mensch kann ferner alles Gute, was mir werden sall [sic], blos von der Substanz erwarten, deren Gedanke und Modifikation ich seyn soll […]. Nehmet alles dieses an, und ich frage, worin unterscheidet sich nunmehr das von meinem Freunde [Lessing] vertheidigte System von dem unsrigen? Ich Mensch, Gedanke der Gottheit, werde nie aufhören, ein Gedanke der Gottheit zu bleiben, und werde in dieser unendlichen Folge von Zeiten glückseelig oder elend seyn, je nachdem ich mich bestrebe, (denn auch ein Bestreben muß Spinoza diesem Gedanken Gottes zukommen lassen) […], dieser Quelle meines Daseyns ähnlich zu werden, und seine übrigen Gedanken zu lieben, wie mich selbst. Wenn mein Freund [Lessing], der Vertheidiger des geläuterten Spinozismus, alles dieses zugiebt, wie er, vermöge seiner Grundsätze, sicherlich gethan haben würde; so ist Moral und Religion geborgen.108

Die im Rahmen des Gedichts relevante Implikation des obigen Zitats besteht in der Absage an eine positive Religion, die auf Offenbarungswahrheiten beruht. Mendelssohn besteht auf einer rational fassbaren Gottesinstanz, die so konzipiert ist, dass sie dem Menschen keine Glaubensüberzeugung abverlangen soll. Damit würde freilich auch all das ausgeschlossen, was das lyrische Subjekt in Blumauers Gedicht qua Glaubensartikel affirmiert. Als dann 1786 der Pietist Thomas Wizenmann eine anti-rationalistische Reflexion auf die bisherige Auseinandersetzung der Korrespondenten publiziert, wird darin Jacobis Standpunkt radikalisiert. Ebd., 164. Ebd., 165. 108 Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, Bd. 1, Berlin 178, 257 f. 106 107

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Alle Überzeugung beruht nach Wizenmann auf Offenbarung, und sei deshalb Glaube; rationale Erkenntnis wird so gleichsam zum Epiphänomen des Glaubens, das in jedem Schritt von einer Glaubensentscheidung getragen wird: Wenn es demnach gewis ist, daß es nicht nur keinen apodiktischen, sondern überhaupt keinen Beweis irgend eines Daseyns giebt […]: warum sollen wir uns schämen, zu gestehen, daß unsere Ueberzeugung von der Existenz der Dinge ausser uns, Glaube sey? daß also alle Erkenntnis des Daseyns, mithin auch des Daseyns Gottes, von Offenbarung und Glauben ausgehen und darauf ruhen müsse?109

Eine solche Lösung des Problems von Wissen und Glauben käme jenem Glauben nahe, bei welchem dem Menschen der Verstand genommen wird. Dies ist eine Antwort, die der Autor Blumauer seinem ,nach Wahrheit ringenden CatholickenR denn auch 1786 nicht in den Mund legte. Die Kreise, die jene Debatten ziehen, beschränken sich also nicht auf eine Konfession, sondern involvieren Juden, Protestanten und Katholiken. Dabei scheint die Reflexion außerhalb des katholischen Raums auf immer grundlegendere theologische Fragen – letztlich auf die nach der Existenz Gottes selbst – einzugehen. Für Jacobi und Wizenmann ist das Dasein Gottes in Wahrheit nur dem Glauben zugänglich. Diese Abwendung von einer rationalen Theologie ergibt sich in keiner der Fassungen von Blumauers Glaubensbekenntniß. Der schemenhaft persönlich gedachte, liebende Schöpfergott ist dort stets ein Gegenstand der Vernunfterkenntnis, wenn auch alle anderen theologischen Ideen zu Glaubensartikeln erklärt werden. Man darf allerdings daraus nicht schließen, dass die Aufklärung in Wien ,AufholbedarfR habe; schließlich mag es ebenso gut als anti-aufklärerische, irrationale Ausflucht erscheinen, jede vernünftige theoretische Erkenntnis Gottes zu leugnen. Mutmaßlich hätte Blumauer die Einstellung des lyrischen Subjekts als Positionierung gegen eine reine Glaubensphilosophie verteidigt. Glaube als Vernunft zu denken, ist Blumauer verständlicherweise fremd. Es war ein bis zum Ende der 1780er Jahre wenig beachteter Denker, der schon vor dem Beginn des Pantheismusstreits die entscheidende alternative Annäherung von Glauben und Wissen vorschlug: Immanuel Kant. Zwar sollte der Königsberger Philosoph für Blumauer irrelevant bleiben, auf die Kontextgeschichte von Hubers Gedicht jedoch wird Kants ,VernunftglaubenR ein erhellendes Licht werfen. Daher ist vor der Interpretation des huberschen Texts eine Bemerkung zur österreichischen Kant-Rezeption und Kants ,moralischem GlaubenR einzufügen.

Thomas Wizenmann, Die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie kritisch untersucht von einem Freywilligen, Leipzig 1786, 31. 109

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IV. Kant über Wissen und Glauben in der Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants philosophiegeschichtliche Zäsur wird 1781 mit der Veröffentlichung der Kritik der reinen Vernunft eingeläutet. Dass die Wiener Aufklärer in der ersten Hälfte der 1780er Jahre anscheinend keine Notiz davon nehmen, darf nicht überraschen. Die Rezeption Kants erfolgt, wie Sauer ausführt, in Österreich lediglich ebenso schleppend wie in jedem anderen Teil des deutschen Sprachraums: Bei der Rezeption der deutschen Aufklärungsphilosophie stoßen wir […] auf das […] in der Donaumonarchie allgemein vorhandene Phänomen des ,AufholensR: Als Wolff 1754 starb, hatte seine Lehre an den Universitäten im protestantischen Deutschland längst eine dominierende Stellung inne, während sie in Österreich erst ihre ersten offiziellen Erfolge erzielt hatte; zwei, spätestens drei Jahrzehnte danach hatte die österreichische Philosophie zum Entwicklungsgang der norddeutsch-protestantischen bereits aufgeschlossen, so daß sich dann bei der Kantrezeption kaum noch Verspätungen ergaben.110

Sauer mutmaßt in seiner verdienstvollen Studie zur frühen Kant-Rezeption in Österreich aufgrund nicht näher spezifizierter Äußerungen Georg Forsters, „daß Ideengut aus dem Umkreis des Kritizismus schon in der Zeit seines [Forsters] Wiener Aufenthaltes [1784] in Wien Eingang gefunden hatte.“111 Dennoch gibt er zu: „Größere Verbreitung fand die Kantische Philosophie erst, nachdem die Kritik der reinen Vernunft durch die zweite Auflage (1787) leichter zugänglich geworden war.“112 Das oben erwähnte schlagartige Eintreten einer beispiellosen Religionskritik hat zur Folge, dass Kant in Österreich nach der ersten Rezeptionswelle gegen Ende des Jahrzehnts auf merkliche Sympathie stieß: „So konnte die Kantische Philosophie […] von Österreichern mit besonderer Intensität rezipiert werden. Es ist daher kein Zufall, daß […] in Österreich Formen der Kantverehrung entstanden, die ihresgleichen suchen.“113 Allerdings ist die Rezeption in josephinischen Kreisen wiederum schwer nachvollziehbar: „Die für eine organisatorisch kontinuierlichere Kantrezeption prädestinierte Institution, die Loge Zur wahren Eintracht, in der Kreil bereits auf Kant hingewiesen hatte, existierte Sauer, Österreichische Philosophie (wie Anm. 18), 17. Ebd., 107. Es ist unklar, welche Stellen bei Forster gemeint sind. In den Briefen aus Wien werden weder Kant noch die Kritische Philosophie erwähnt. Blumauer dagegen gilt Forster offenbar als Philosoph. So schreibt er an Thomas Soemmerring: „Blumauer ist außer seinen Gedichten ein sehr philosophischer Kopf, dem man aber weder Dichtkunst noch Philosophie ansieht, so nüchtern und lang und trocken sieht er aus“ (an Sömmerring, Wien 26. August 1784; Georg Forster, Briefwechsel, in: Marie Therese Forster, Georg Gottfried Gervinus (Hg.), Georg ForsterQs sämmtliche Schriften, Bd. 7, Leipzig 1843, 266–270, hier 269). Und seinem Schwiegervater in spe teilt er Folgendes über die Wiener Literaten mit: „Blumauer ist ein besserer Philosoph als Dichter, und solche Leute gibt es unter der neuern Generation mehre“ (an Heyne, Wien 1. Sept. 1784; ebd., 273). 112 Sauer, Österreichische Philosophie (wie Anm. 18), 108. 113 Ebd., 17. 110 111

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[ab 1788] nicht mehr.“114 Es begann zudem eine Zeit der Revolution und Gegenrevolution, aus der unter Franz II. ein Bruch mit der Aufklärung, der sich die frühen Kant-Anhänger verpflichtet sahen, hervorging. Was die zur Mitte der 1780er Jahre entbrannte Diskussion um Glauben und Wissen betrifft, ist dennoch bemerkenswert, dass Kants Kritik der reinen Vernunft im 3. Abschnitt des 2. Hauptstücks der Methodenlehre versucht, die Kluft nicht zwischen Glauben und Wissen, sondern zwischen Vernunft und Glauben zu schließen. Dies Konzept nennt Kant „Vernunftglaube“.115 In der Methodenlehre unterscheidet Kant zuerst zwei Formen des Fürwahrhaltens: Erstens gibt es die Überredung, die nur auf zufälligen subjektiven Gründen beruht und arbiträr ist; sie lässt sich nicht objektivieren und rational mitteilen, weshalb sie „ein bloßer Schein“116 bleibt. Zweitens jedoch bringt Kant die Überzeugung ins Spiel, die Gründe für das Fürwahrhalten in einem begrifflich mitteilbaren Objekt vortragen kann. Drei Formen von ,ÜberzeugungR unterscheidet Kant von diesem Punkt aus: Meinen, Glauben und Wissen. Diese drei Formen des Fürwahrhaltens ergeben für Kant „drei Stufen“,117 sind also hierarchisch gestaffelt. Kant differenziert: Meinen ist ein mit Bewußtsein sowohl subjektiv, als objektiv unzureichendes Fürwahrhalten. Ist das letztere nur subjektiv zureichend und wird zugleich für objektiv unzureichend gehalten, so heißt es Glauben. Endlich heißt das sowohl subjektiv als objektiv zureichende Fürwahrhalten das Wissen.118

Entscheidend für unsere Diskussion ist die Beschränkung des Glaubens auf subjektive Beweggründe, die hinreichend sind, diese Stufe des Fürwahrhaltens zu gewährleisten, und über die hinausgehend nur das Wissen liegt, dem eine Übereinstimmung des Begriffs mit dessen Objekt eigen ist. Was aber ist rational betrachtet ,subjektiv zureichendR, um mehr als Meinen zu sein? Erneut differenziert Kant hier seine Begrifflichkeit, indem er einen durch praktische Urteile legitimierten Glauben von einem theoretisch fundierten Glauben unterscheidet.119 Den letzteren nennt Kant „den doctrinalen Glauben“.120 Unter der Annahme, durch empirische Vermittlung eine Ungewissheit beseitigen zu können, lassen sich Begriffe plausibilisieren, die das bisher gesammelte empirische Wissen orientieren (und unter jene Begriffe fallen nicht nur transzendentale Ideen), ohne je ein notwendiEbd., 110. Kant, Akademie-Ausgabe III (wie Anm. 62), 537. [Es handelt sich hier und in den folgenden Zitaten um Stellen aus der Transcendentalen Methodenlehre, 2. Hauptstück, 3. Abschnitt (Vom Meinen, Wissen und Glauben).] 116 Ebd., 632. 117 Ebd., 533. 118 Ebd. 119 Vgl. ebd., 533 f. 120 Ebd., 534. 114 115

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ges Fürwahrhalten zu konstituieren.121 Ein entsprechendes kontingentes Fürwahrhalten gibt es auch im praktischen Urteil.122 Dieser praktische Glaube ist wie der doktrinale Glaube hypothetisch, er gilt unter der Bedingung, dass ein epistemisches Ziel erreicht werden solle; ob aber der zugrundeliegende Zweckbegriff angemessen ist, steht nicht fest. Kant fährt fort: „Ganz anders ist es mit dem moralischen Glauben bewandt.“123 Zwar ist dieser Glaube auch praktischer Natur, doch ist er notwendig – er ist mithin der Vernunftglaube, um den es eigentlich geht. Zentrale Konzeptionen seiner Ethik vorwegnehmend, spricht Kant an dieser Stelle von sittlichen Vorschriften, welche die Vernunft dem Willen auferlegt, ohne hierin optieren zu können. Und um Sittlichkeit überhaupt zu gewährleisten, ist die Vernunft genötigt, theologische Ideen als Leitprinzipien moralischen Handelns aufzustellen: Da aber also die sittliche Vorschrift zugleich meine Maxime ist (wie denn die Vernunft gebietet, daß sie es sein soll), so werde ich unausbleiblich ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben und bin sicher, daß diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch meine sittliche Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen eigenen Augen verabscheuungswürdig zu sein.124

Kernbestand des Vernunftglaubens wird damit, „daß ein Gott und daß ein künftig Leben sei“;125 es handelt sich nach Kant also hier um Überzeugungen, die die Form des Glaubens annehmen, weil sie lediglich einer subjektiven Quelle entspringen, dem Subjekt aber ebenso unausweichlich erscheinen wie die ,sittliche VorschriftR (die später das Sittengesetz heißt) selbst. Wenn sich bei Kant der „Vernunftglaube auf die Voraussetzung moralischer Gesinnungen gründet“,126 dann nimmt die Kritik der reinen Vernunft an dieser Stelle Abschied von denjenigen Prämissen, die dem Pantheismusstreit und auch Blumauers Glaubensbekenntniß ihre Schärfe gegeben hatten. Erstens lehnt Kant den Gedanken ab, dass es eine Verstandeserkenntnis Gottes geben könne. Zweitens weigert er sich, die Möglichkeit einer Offenbarung überhaupt zu diskutieren, womit im Blick auf das Glaubensbekenntniß die ,WundenR des Verstandes nicht durch Offenbarungswahrheiten geheilt werden könnten. Zuletzt jedoch distanziert sich Kant auch von dem Irrationalismus eines Glaubenskonzepts, wie es sich später bei Jacobi findet. Jacobi übernimmt – transzendentalphilosophisch gesprochen – die Vorstellung, dass Glaube nur in theoretischer Hinsicht möglich sei. Kant dagegen verwehrt 121 122 123 124 125 126

Vgl. ebd., 534 ff. Vgl. ebd., 534. Ebd., 536. Ebd. Ebd. Ebd., 537.

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mit der Bezugnahme auf die moralisch notwendigen ,transzendentalen IdeenR dem Glauben an Gott und Unsterblichkeit eine irrationale Fundierung, ohne der Vernunft hierbei eine Erkenntnisfunktion zuschreiben zu müssen: „Nein, die Überzeugung ist nicht logische, sondern moralische Gewißheit“,127 sagt Kant, und damit rekurriert er wie das Ich im Glaubensbekenntniß auf die subjektive Notwendigkeit zu glauben. Die Differenz ist (abgesehen von den jeweiligen Glaubensinhalten), dass bei Blumauer der Glaube noch eine theoretisch basierte Größe ist. Dieser Umweg durch die philosophischen Kontexte der 1780er Jahre war nötig, um nicht bloß die Eigenständigkeit des Glaubensbekenntnisses innerhalb der damals geführten Debatten zu verdeutlichen, sondern auch, um anhand der theologischen Umschichtung durch Kant ein Licht auf das nur scheinbar belanglose Antwort-Gedicht Franz Xaver Hubers zu werfen.

V. Franz Xaver Hubers Glaubensbekenntniß eines Christen Als Schriftsteller der josephinischen Aufklärung erlangte Franz Xaver Huber wie Aloys Blumauer vornehmlich als Satiriker Bekanntheit.128 Sein Antwortgedicht scheint auf den ersten Blick dem Text Blumauers aus orthodoxer Sicht zu widersprechen. Tatsächlich ist es erstaunlich, dass der während der 1780er Jahre größtenteils in Wien, aber auch in Salzburg ansässige Dichter sich überhaupt mit einem theologisch-epistemologischen Problem befasst, da ihn ansonsten fast ausschließlich religionspolitische Angelegenheiten zu kümmern scheinen. Neben seinen Romanen ist der von 1755 bis 1814 lebende Autor nämlich auch für die religionspolitische Aufsatzsammlung Religion und Priester aus dem Jahr 1782 bekannt, die für den vorliegenden Kontext insofern von Interesse ist, als Huber darin für eine interkonfessionelle Einigung eintritt. Die Kirchen sind gegen den Willen der Geistlichkeit in eine Ökumene zu bringen, zu deren Gunsten einzelne Dogmen und Praktiken abgeschafft werden müssen. Huber widmet den größten Teil der Schrift mithin kirchenpolitischen Reformen, um die „Hindernisse“129 auf dem Weg zur Vereinigung der Konfessionen zu beseitigen. Er will zuvörderst die „Mißbräuche“130 der katholischen Kirche als erstes Hindernis ansprechen, worunter die „abgöttische Verehrung der Heiligen“,131 „die allzugroße Aus127 128 129 130 131

Ebd., 536. Vgl. Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm.17), 339–353 zu Hubers Roman Der Blaue Esel. Franz Xaver Huber, Religion und Priester, Bd. 3, Prag u. a. 1782, 118. Ebd., 118. Ebd.

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dehnung und falsche Auslegung des Ablaßes“,132 und schließlich die „Vernachläßigung des Predigtstuhls“133 fallen. Neben der Abschaffung der Heiligenverehrung und des Ablasses plädiert Huber mithin anscheinend für die staatliche Kontrolle der Predigten oder sogar der Priesterausbildung – eine Forderung, die, wie gezeigt, auch Blumauer stellen sollte. Die Kritik am Katholizismus führt Huber mit den nächsten Hindernissen der Religionsvereinigung fort, indem er „die von verschiedenen Päpsten angemaßte allzugroße Gewalt sowohl im Weltlichen als im Geistlichen“134 kritisiert und das „Verbot der Priesterehe“135 aufheben möchte. Schließlich ist als viertes Hindernis der allgemeinen Religion „Hartnäckigkeit und Unbiegsamkeit der Geistlichkeit und Lehrern von allen drey Religionen“136 ein alle positive Religion betreffendes Problem. Wenngleich Huber nie explizit theologisch argumentiert, sondern pragmatisch auftritt, zeigt sich bei ihm ein Interesse an einer möglichst universalen und voraussetzungsarmen Religion. Dass ihm jedoch keine ,natürliche ReligionR im Sinne einer rationalen Theologie vorschwebt, scheint das Gedicht Glaubensbekenntniß eines Christen gegen das Glaubensbekenntniß eines nach Wahrheit Ringenden zu vermitteln. Gewiss muss auch hier nicht davon ausgegangen werden, dass das lyrische Subjekt ein Sprachrohr des Verfassers ist. Aber es ist doch plausibel, dass im Großen und Ganzen die Konklusion des Texts Hubers Ansicht entspricht. Der recht umständliche Weg zu diesem Schluss jedoch hat möglicherweise einen poetologischen und gedanklichen Hintergrund, der analysiert werden muss. Es wirkt nämlich so, als wollte der Text eine ,WahrheitR vermitteln, die dem lyrischen Subjekt und damit auch dem Publikum erst nach dem Durchgang durch eine Reihe von Schein-Wahrheiten einleuchtet. Während Blumauer in keiner Weise die Protagonisten des Pantheismusstreits in seine Dichtung einbezieht, stellt Hubers Kontrafaktur immerhin ein Mendelssohn-Zitat an den Anfang. Dieses Motto stammt allerdings nicht aus den Morgenstunden, sondern aus Phädon. Das Zitat wirkt zunächst wie eine orthodoxe Ermahnung an den Aufklärer: „Wie kann das unverständige Mündel sich schmeicheln, unter seiner eigenen Ausführung besser zu stehen, als unter der Anführung des allerweisesten Vormundes!“137 Dieses Zitat soll für das Verständnis der Replik noch aufschlussreich sein.138 Das Wort von Gottes Vormundschaft über das Leben des Menschen wird bei Mendelssohn im 1. Gespräch von der erzählenden Figur Ebd., 118 f. Ebd., 119. 134 Ebd., 119 f. 135 Ebd., 120. 136 Ebd. 137 Franz Xaver Huber, Glaubensbekenntniß eines Christen gegen das Glaubensbekenntniß eines nach Wahrheit Ringenden, Sinai und Golgatha [Salzburg] 1786, 2 [unpaginiert]. 138 Moses Mendelssohn, Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, Berlin, Stettin 1767, 94. 132 133

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des Phädon dem mit Sokrates streitenden Cebes in den Mund gelegt. Obgleich die Unmündigkeit des Menschen gewiss keine von Mendelssohn beabsichtigte Konklusion des Dialogs ist, bezieht sich Huber ausgerechnet auf einen Autor, der weniger dem Glauben als der rationalen Begründung theologischer Ideen das Wort redet. Es wird demnach zu fragen sein, ob der ,ChristR aus dem Gedichttitel ein orthodoxer Vertreter dogmatischer Glaubensinhalte, oder ein konfessionell ungebundener Aufklärer sei. Das Gedicht versteht sich darauf, diverse Thesen aufzugreifen und kontradiktorisch zu verquicken, um auf erstaunlich originelle Weise den eigenen Standpunkt zu profilieren. Es wird auch nicht die Unmündigkeit des Menschen, sondern die Unsterblichkeit sein, welche das Motto als Vorgriff auf Hubers eigentliches Anliegen enthält. Dies ist jetzt zu erläutern. Der ,ChristR in Hubers Text akzeptiert das Subjekt aus Blumauers Gedicht als Wahrheitssucher, und teilt ihm zu Beginn seiner Rede mit, „[d]aß hier um dich ein Freund der Wahrheit weint.“139 Die Wahrheit, die beide suchen, sei dieselbe: „Wir wandeln beyde nur auf andern Wegen / Dem aufgestellten Ziel der Menschen zu“;140 das ,ZielR der Menschheit ist aus allem, was die beiden Texte preisgeben, anscheinend eine Menschheit, die den ihr zugeeigneten Platz in der Schöpfung vermittels der Erkenntnis göttlicher Wahrheit einnimmt. Und es scheint vorerst so, als wäre der Begriff der Wahrheit dem lyrischen Subjekt der Replik kaum problematisch. Der ,Freund der WahrheitR sieht stattdessen Wissen und Glauben als miteinander vereinbar an – und auch dies geschieht auf vordergründig unoriginelle Weise. Bemerkenswert ist zunächst, dass Hubers Text anfangs auf die Gedankenlyrik Blumauers keineswegs mit einer ähnlich abstrakten Reflexion antwortet, sondern durch „[d]er Musen Mund“141 auf die besagte Thematik zugreift und die eigene Perspektive mit einer parabelartigen Passage eröffnet. Wie oben erwähnt, ist in Blumauers Gedicht der Glaube eine ,fremde HilfeR – und dieses Stichwort macht sich die Replik zu Nutze. Dort gerät ein Mensch, dessen eigenes Licht auf seiner Lebenswanderung nicht ausreicht, den Weg zu erhellen, an einen Abgrund, wo unerwartet ein Fremder ihn zu retten verspricht: Der Wandrer irrt im Dunkeln; die Laterne Besteht nicht vor des raschen Sturmes Wuth. Des Blizes rother Flügel zeigt nicht ferne Den Absturz; nun verläßt ihn Sinn, und Muth. Es kömmt ein Mann: der sieht den Wandrer beben, Und beut ihm seine Hand, als Führer, an;

139 140 141

Huber, Glaubensbekenntniß (wie Anm. 137), 3. Ebd. Ebd.

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Mein Freund! – so sprach er – liebst wohl auch dein Leben; So komm mit mir! ich bin ein sichrer Mann. Denn wär ichQs nicht – ich würde dich nicht retten: Ich nähme dir dein Gut und ließ dich gehn, Und auf dem WegR, den wenige betretten, Läßt sich wohl auch kein kühner Räuber sehQn. Der Wandrer ist ein Thor, der nicht die Rechte Des biedern Mannes mit Entzücken faßt: Und, weil er selbst vielleicht sich retten möchte, Zu stolz auf sich, die fremde Rettung haßt.142

Auf das eigene Licht der Vernunfterkenntnis beschränkt, verfehlt der Mensch den ihm zugedachten Weg. Der ,biedre MannR darf als der Glaube selbst interpretiert werden, ließe sich allerdings auch konkreter als Christus143 oder das lyrische Subjekt des Gedichts auslegen, welches sich schon zu Beginn der Wander-Metaphorik bedient und jetzt dem Ich des Glaubensbekenntnisses die Hand reicht. Der Glaube erscheint auch hier als ein fremdes Eingreifen in die Denk- und Handlungsvollzüge des Menschen. Die Rettung setzt voraus, dem ,sichern MannR blind zu vertrauen – wobei diese Blindheit nicht eine vom Glauben selbst bedingte Einschränkung ist, sondern im Wesen der Vernunft begründet liegt. Zweierlei ist also aus dieser ,ErzählungR zu schließen: Die Vernunft (der Verstand) selbst gerät in Lagen, in denen sie erstens nur aus ,stolzerR Selbstverabsolutierung die Hilfe durch Glaubenswahrheiten ablehnen würde, und in denen zweitens die entscheidende theologische Wahrheit als etwas außerhalb der Verstandeserkenntnis Liegendes hinzunehmen ist. Mit der die Parabel gleichsam einleitenden rhetorischen Frage: „Ist besser keines, als entlehntes Licht?“144 lässt sich die grundsätzliche Kritik an Blumauers Gedicht also bündig fassen. Allerdings ist im Fortgang des Gedichts die merkwürdige Beobachtung zu machen, dass ,BlumauersR einzelne Hinterfragungen von Glaubensinhalten nur zu einem kleinen Teil auf eine Erwiderung stoßen. Selten wird das Oppositionspaar ,Ich glaube … ich weiß …R etwa mit der Zielsetzung einer Versöhnung der Gegensätze parodiert. Insgesamt wirkt die gesamte Argumentation sogar unstrukturiert, Ebd., 4 f. Vgl. Mt 7, 13–14: „der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt; und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und […] der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenige sind ihrer, die ihn finden.“ Darauf bezieht sich offenbar die oben zitierte Rede ,vom Weg, den wenige betretenR, an dessen Rand der Wanderer jedoch strauchelt. Eine Bestätigung dafür findet sich wenige Strophen später, wo es heißt: „Wie würden wir zu unserm Ziel gelangen, […] WärQ Christus uns nicht Blizhell vorgegangen, / Damit auch wir der Wahrheit Wege sehn“ (Huber, Glaubensbekenntniß [wie Anm. 137], 6). 144 Ebd., 4. 142 143

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wofür an dieser Stelle ein Beispiel herangezogen werden soll; das lyrische Subjekt sagt nämlich: „Ich weiß, daß wir durch dichte Finsternisse / Nicht ganz anQs Ziel der ewgen Wahrheit sehn; / Drum folgre ich durch unfehlbare Schlüsse, / Wir müssen an der Hand des Glaubens gehQn.“145 Diese Schlüsse werden an keiner Stelle demonstriert. Die Legitimität des Glaubens selbst wird vielmehr aus einer recht speziellen These entwickelt, deren Gegenstand keine rationale Einsicht darstellt, auf die unten aber noch eingegangen werden muss. Es ist jedoch wahrscheinlich keine bloße Inkonsistenz, wenn das lyrische Subjekt ebenfalls erklärt, dass der Übergang vom Wissen zum Glauben kaum festzustellen sei: „Es liegt des Glaubens Joch so sanft, so süsse / Auf dem Verstande, daß manQs wenig fühlt, / Ob man auf sein Geheiß so denken müsse? / Ob man mit eigner Kraft nach Wahrheit zielt?“146 Dies ist zunächst eine Gegenposition zu der Klage über das ,Joch des GlaubensR in Blumauers Gedicht. Die Aussage steht jedoch im Widerspruch zu der Behauptung, dass der Übergang vom Wissen zum Glauben durch ,unfehlbare SchlüsseR der Vernunft klar markiert sei. Was als Widerspruch des Subjekts erscheint, ist letztlich die Relativierung der so selbstgewiss auftretenden Argumentation. Nur dies erscheint plausibel, wenn zusätzlich behauptet wird, die Lektüre der Bibel wirke die Evidenz ihrer Wahrheit im Bewusstsein – denn damit stünde der Revelationscharakter der Heiligen Schrift in seiner Überzeugungskraft über den ,unfehlbaren SchlüssenR sowie über der Ununterscheidbarkeit von Wissen und Glauben: „Die Linie, die zwischen unserm Wissen, / Und unserm Glauben, Freund, gezogen ist, / Die läßt uns Gott aus seinen Worten schliessen, / Wenn man sie nicht schon vorbefangen liest.“147 Es ist zu vermuten, dass der Text hiermit eine gezielte Verunklarung seiner Aussage betreibt. Nimmt man die zuletzt zitierte Sanktion des Glaubens, so müsste man folgern: eine ,vorurteilsfreieR Lektüre der Bibel soll die Grenze zwischen Glauben und Wissen sichtbar werden lassen. – Diese Markierung lässt sich jedoch erst erkennen, sofern man die Schrift als ,Wort GottesR akzeptiert, womit sich die Fragestellung lediglich verschiebt: wieso ist die Bibel als Wort Gottes zu begreifen? Eine Frage, die in Lessings Fragmentenstreit zentral war, nämlich die der theologischen Validität historischer Offenbarungsberichte, tritt damit in den Vordergrund. Die Antwort auf das Problem des Glaubens als Glauben an die Offenbarung findet der Text zuerst – scheinbar – im historischen Wissen. So gelten die damals von Lessing diskreditierten ,zufälligen GeschichtswahrheitenR als Wissensgrundlage nicht von Vernunft-, sondern von Glaubenssätzen. Die Erwähnung Jesu in Josephus FlaviusQ Werk sticht bei Huber als ein Beispiel hierfür heraus.148 145 146 147 148

Ebd., 15. Ebd., 8. Ebd. Die Thaumaturgie Christi sei kein Glaubensartikel, da Josephus Flavius dieselbe bestätige.

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Äußerst spezielle Elemente der ,geoffenbartenR Religion basieren epistemologisch mithin auf vermeintlichem Wissen anstatt auf Glauben. Die Debatte zwischen Lessing und Johann Melchior Goeze scheint an dieser Stelle für den ,ChristenR des Gedichts nie stattgefunden zu haben. Hatte doch Lessing konstatiert: [Z]ufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden […]. Ich leugne, daß diese Wunder […], seit sie nichts als Nachrichten von Wundern sind […] mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden.149

Dem lyrischen Subjekt, so scheint es, überzeugen angebliche Nachrichten, die dem Berichtenden wiederum aus zweiter Hand zugekommen sein müssen, von der Existenz und der göttlichen Sendung Christi. Es muss noch einmal erwähnt werden, dass dies kaum die ,unfehlbaren SchlüsseR sein können, mittels welcher die Vernunft zum Glauben überleitet. Diese Positionierung wirkt nach dem Fragmentenstreit150 nicht nur ,orthodoxR, sondern auch diskursiv rückständig. Fraglich ist jedoch, ob es sich dabei um den oftmals bemerkten ,AufholbedarfR des katholischen Kulturraums handelt. Wenn dann Offenbarungslehren wiederum zum ,WissenR erklärt werden,151 darf man von dem lyrischen Subjekt auf den Verfasser schließen, der in der Tat kein Verteidiger der kirchlichen Orthodoxie ist: und dies macht es plausibel, dass das Verwirrspiel nicht dazu dient, dem Text Blumauers gegenaufklärerisch zu widersprechen. Denn Hubers Gedicht argumentiert eben keineswegs streng orthodox. Was eben noch offenbarte Wahrheit im Verbund mit historischen Quellen zu sein schien, zeigt sich einige Verse später als zweifelhaftes Dokument zeitbedingter ,VerfälschungenR einer ursprünglichen Lehre, die zu guten Teilen eben doch Das Gedicht führt zuerst aus: „Wir wissen, daß der Herr allein den Blinden / Durch Worte nur den Tag der Augen gab: / Und daß er, seine Sendung zu verkünden, / Unmittelbar bey uns gewirket habQ. // Wir wissen es. Das Zeugniß seiner Feinde / Besteht vor iedem, derQs bezweifeln will. / Er lehrtQ mit Wunderkraft der Wahrheit Freunde, / Und führt auf heller Bahne sie zum Ziel“ (ebd., 11). Nach Feinde wird per Fußnote angemerkt: „Joseph der Jude in seiner Geschichte“ (ebd.). Abgesehen davon, dass das Testimonium Flavianum keine Augenheilung erwähnt, ist die Berufung auf externe historische Quellen zum Behuf der Legitimierung des Evangeliums in den 1780er Jahren bereits anachronistisch. 149 Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: ders., Werke und Briefe, hg. von Wilfried Barner u. a., Bd. 8, Frankfurt am Main 1989, 437–445, hier 440. 150 Vgl. zusammenfassend hierzu die unabhängig von ihrem kulturwissenschaftlichen Blickwinkel historiographisch luzide Darstellung bei Burckhard Dücker, Der Fragmentenstreit als Produktionsform neuen Wissens. Zur kulturellen Funktion und rituellen Struktur von Skandalen, in: Jürgen Stenzel (Hg.), Lessings Skandale, Tübingen 2005, 21–47. 151 So firmieren Erbsündenlehre, Gotteskindschaft und mithin die Erlösungstat Christi ohne weitere Erläuterung als Wissen: „Durch ihn [Christus] verzweifelt nicht der grosse Sünder, / Deß Herz im Laster ganz versunken liegt; / Er weiß durch ihn, wir seyen Gottes Kinder, / Wenn uns auch nicht der Unschuld Frühling schmückt“ (Huber, Glaubensbekenntniß [wie Anm. 137], 7).

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der Vernunft selbst zugänglich ist: Das Priestertum wird kritisiert,152 die ,VerfälschungR der ursprünglichen Offenbarung wird konzediert.153 Die Existenz und Lesbarkeit des Buchs der Natur,154 die göttlichen Gebote im Herzen155 und die Erkenntnis der Sünde156 lassen sich rational und offenbarungsunabhängig verifizieren. Mithin gibt der Text praktisch alle Glaubenswahrheiten einer mindestens so akkuraten und hilfreichen ,natürlichen ReligionR preis. Ein eigentlicher Widerlegungsversuch des blumauerschen Ich findet nur dort statt, wo der ,nach Wahrheit RingendeR den ,unendlichen WirkungskreisR im Jenseits anzweifelt. Hierzu findet der orthodoxe Entwurf eine ebenso einfache wie unbegründete Antwort: „Der Körper nur erschwert den Flug der Seele“;157 folglich könne im körperlosen Jenseits von Ermüdung keine Rede sein. So bleibt von der scheinbar orthodoxen Vermittlung rationaler Einsicht und geoffenbarter Glaubensinhalte zuletzt wenig übrig. Es bleibt nur ein einziger Streitpunkt übrig, dem die Vernunft nie Herr zu werden vermag – die eben schon angesprochene Problematik der Unsterblichkeit. Sie findet zu Beginn des Gedichts Erwähnung, wird in obiger, unbefriedigender Weise scheinbar beantwortet, kann danach aber in einem neuen Anlauf als Fundamentalproblem und Legitimierung des Glaubens zugleich herangezogen werden. Warum das Gedicht diesen Umweg zurück zum ursprünglich adressierten Unsterblichkeitsproblem nimmt, ist grundsätzlich schwer nachvollziehbar. Die scheinbar so konfuse Diskursgestaltung des Texts dient möglicherweise dem Versuch, in aufklärerischer Manier eine innovative Vermittlung von Wissen und Glauben zu erproben, ohne auch nur einen der orthodoxen Glaubensartikel ausdrücklich und gänzlich eliminieren müssen. Ist dieser Ansatz 152

9).

„Was vor der Zeit die bösen Priester thaten, / Das hat ia Christus Glaube nicht gethan“ (ebd.,

„Drum glaubQ ich mit Verstand, was er [Christus] gelehret, / Und halte seine Sendung für gewiß; / Doch hat der Menschen Zung sein Wort vermehret, / VerwerfQ ich ienes auch, und glaube dies“ (ebd., 16). Damit zeichnet sich eine abwägende Haltung zur Kritik der Schrift ab: Wenngleich die ursprüngliche Inspiration verfälschende Zusätze erhalten hat, lassen sich derartige Kontaminationen dennoch von der wahren Lehre unterscheiden; der Verweis auf den ,VerstandR lässt darauf schließen, dass weniger irgendwelche Dogmen als eine historische Textkritik zu diesem Ziel führt. 154 „Drum hat er auch für alle Kreaturen / Zwey Bücher leserlich, und schön gemacht; / Das eine zeigt der Menschenliebe Spuren, / Das andre hat uns dazu angefacht“ (ebd., 10). Hieran zeigt sich ebenfalls, was oben schon deutlich wurde: Die historische Offenbarung weist nicht nur Spuren menschlicher Hinzufügungen auf, sondern bezieht wenigstens einen Teil ihres Gehalts nicht aus direkter göttlicher Inspiration, sondern aus der Rezeption des Buchs der Natur. 155 „Auf harten Steinen schrieb uns Gott Gesetze, / Und grub sie auch inQs Herz der Menschen ein: / Damit sie ia kein Erdesohn verleze, / Er müßte denn vor Beyden sich nicht scheun“ (ebd., 10). 156 „Doch wissen wir (der Geist, trotz seinen Schwächen / VermagQs zu wissen) was die Tugend sey? Er kennet ohne Brille das Verbrechen, / Und hältQs in keinem Fall für einerlei“ (ebd., 13). Auch an dieser Stelle gesteht die Replik dem Gedicht Blumauers vieles zu, was hier nur durch den Zusatz der Kompatibilität mit dem Glauben ergänzt wird. 157 Ebd., 12. 153

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der Grund für das Beharren auf den so seltsam in der Schwebe gehaltenen Offenbarungslehren, dann wird klar, weshalb die ,UnsterblichkeitR bei Blumauer keine exzeptionelle Stellung innehat, bei Huber dagegen die Crux des gesamten Gedichts konstituiert. Denn die Unsterblichkeit ist dem huberschen Text zufolge zwar eine ,GlaubenswahrheitR, aber eine solche, die nicht der göttlichen Offenbarung entnommen werden kann. Vielmehr bedingt und legitimiert sie erst den Glauben an die Offenbarung. Es ist im Folgenden zu betrachten, wie der Unsterblichkeitsgedanke am Schluss des Gedichts begründungstheoretisch gefestigt wird. Das lyrische Subjekt wendet die Blumauer-Stelle über die von der Vernunfterkenntnis verursachten Wunden, die nur der Glaube heilen könne, gegen den kritisierten Text: Sag: heilt Philosophie des Herzens Wunden, Wenn sie nicht ganz Unsterblichkeit beweist? Sie heilt sie nicht; du hast es selbst geklaget, Daß nur der Glaub allein sie heilen kann; Und doch wie fielQs dir ein? – hast duQs gewaget, Und stürmest gegen Christus Glauben an?158

Die Unsterblichkeit ist für das lyrische Subjekt also eine Glaubensfrage. Mehr noch: sie ist die Frage, die allen Glauben erst begründet. Der Glaube ruht der These auf, dass die ,PhilosophieR keine Unsterblichkeit beweisen könne. Unsterblichkeit wiederum erscheint als derjenige notwendige Gedanke, der „des Herzens Wünsche“159 allesamt in sich fasst. Während bisher keine erläuternde Unterscheidung zwischen ,natürlicher ReligionR und ,OffenbarungR getroffen wurde, scheint nun in der Unsterblichkeitsthese das Problem zu liegen, von dem der Glaube an die Offenbarung abhängt. Hierzu muss ein fragender Blick zurückgeworfen werden. Wieso vertritt der ,ChristR den Glauben an eine eigentlich recht spezielle theologische Vorstellung mit solcher Vehemenz? Die erste Antwort ist, dass in Hubers Text alle Glaubenswahrheiten aus der Verzweiflung legitimiert werden. Die Ratio wiederum bringt sich gewissermaßen selbst zur Vernunft, insofern sie ihre inneren Grenzen angesichts potenterer Zugriffe auf die Wahrheit akzeptiert, anstatt sich zur epistemischen Letztinstanz aufzuwerfen. Da dem Bewusstsein durch die Vernunft oder die Philosophie ,WundenR geschlagen werden, welche die Vernunft selbst nicht heilen kann, so ist zu fragen, welche Wunden hier genau gemeint seien. Nach Blumauers Gedicht zu urteilen, müsste es sich dabei unterschiedslos um sämtliche präsentierte und bezweifelte Glaubenssätze handeln; der Text lässt keine Hierarchie dessen erkennen, was das ,GewissenR des lyrischen Subjekts mehr oder minder plagt, 158 159

Ebd., 6. Ebd., 4.

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oder was seine Hoffnungen am meisten enttäuscht. Hubers Replik aber übergeht diese Egalität der Glaubensinhalte und legt stattdessen ein Hauptproblem fest: nämlich das der Unsterblichkeit. Während in Blumauers Glaubensbekenntniß die Unsterblichkeit nur beiläufig Erwähnung findet, gilt sie dem Antwortenden in Hubers Versen als der Punkt, von dem sämtliche Fragen nach der Validität von Wissen und Glauben ausgehen, und worauf die ,HeilungR der philosophischen Wunden abzielt. Dem eingangs betrachteten Motto aus Mendelssohns Phädon kommt daher eine doppelte Funktion zu: neben der göttlichen Autorität impliziert das Zitat aus jener Schrift, dass es Huber vornehmlich um den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit zu tun ist. Das Erstaunliche hierbei ist die Berufung auf ein Bedürfnis dessen, was Kant praktische Vernunft nennt. Die Vernunft kann nach Hubers lyrischem Subjekt Gut und Böse sowie das menschliche Ziel allen Handelns aus eigener Kraft erkennen. Sie sieht sich dazu angehalten, angesichts ihrer Beschränktheit nach dauerhafter und vollkommener Tätigkeit zu streben. Daraus entsteht der Glaube an die Unsterblichkeit, der wiederum als Scharnier zwischen Vernunftwahrheiten und Offenbarungswahrheiten fungiert. Diese Argumentation verläuft im Einzelnen folgendermaßen. Zuerst wird die Überzeugungskraft des Glaubens im Ganzen ein letztes Mal relativiert: „Und hättR ich mich am Ende doch geirret, / Und wärQ der Glaube nicht von Gott herab: / So hätte mich der Schöpfer selbst verführet, / Der mir Verstand zu diesem Glauben gab.“160 Dann jedoch nimmt die endgültige Begründung des Glaubens diejenige Wendung, die sich zuvor schon angekündigt hat, die aber erst jetzt, angesichts der aufgezeigten Zweifel, in ihrer Tragweite ersichtlich wird: „Doch nein! ich irre nicht; ein sanftes Beben / Im Herzen kündet mir die Wahrheit an: / Ich kann, ich will, ich werde ewig leben! / Wohl jedem, derQs so herzlich sagen kann.“161 Letzten Endes geht es nicht um irgendein Dogma der Offenbarungsreligion. Es stellt sich nur das ,ewige LebenR als Essenz des Glaubens heraus. Dieser Glaube wird einerseits als verstandeskompatibel charakterisiert, und ihm wird zweitens die im ,HerzenR liegende ethische Dimension des menschlichen Bewusstseins assoziiert. Die oben skizzierte Position Feders besteht darin, dem Glauben ein subjektives Fundament zu verleihen; die ,SehnsuchtR der Vernunft zu vollständigerer Erkenntnis Gottes treibt die Vernunft selbst dazu, Glaubensinhalte zu akzeptieren. Diese Ansicht steht Kant in gewisser Hinsicht bereits viel näher als Blumauers Antinomien, wenngleich Feder dem Glauben die epistemische Funktion zuschreibt, die Gottesvorstellung zu komplettieren, er den Glauben also der ,theoretischenR anstatt der ,praktischenR Vernunft zuordnet. Diese Konzeption wird von Hubers Text so modifiziert, dass sie Kant stark ähnelt – wenngleich das Gedicht 160 161

Ebd., 16. Ebd.

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den ,VernunftglaubenR gewiss nicht in der strengen Konsequenz Kants vertritt. Während Hubers Text zwar vorgeblich auch Vernunftgründe, sogar empirisch-historische Argumente ins Feld führt, um die Zusammengehörigkeit von ,VerstandR und ,GlaubenR zu demonstrieren, beruft sich die Credo-Replik letzten Endes auf ethische Überlegungen, um die Offenbarung zu legitimieren: „soll der Dulder für die Leiden / sich niemal, niemal des Ersazes freun?“162 Das entspricht, wenn auch nur ungefähr, Kants Argument für die Idee der Unsterblichkeit; da der Mensch seine Sittlichkeit erst in einem göttlich zugewiesenen Leben vollständig entfalten könne, sei die Unsterblichkeitsidee nur ein moralisch konsequenter Gedanke. Es ist bemerkenswert, dass es sich hierbei um das schließende Argument des ,ChristenR in Hubers Gegen-Credo handelt. Denn es ist ein ethisches Argument: ,ein sanftes BebenR im Herzen ist in Hubers Gedicht die letzte Verbürgung des göttlichen Willens, die mit einem praktischen Postulat verbunden ist: ,Ich kann, ich will, ich werde ewig lebenR – diese Formel scheint mit Kants späteren Bemerkungen sowie deren Implikationen für die Unsterblichkeit aus Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/94) und bereits aus der Kritik der praktischen Vernunft (1788) durchaus zu kongruieren.163 Denn auch dort ist es der Wille – die praktische Vernunft selbst –, aus der das Können unendlichen sittlich-guten Handelns und letzten Endes die Leitfunktion der transzendentalen Idee der Unsterblichkeit deduziert werden. Sieht man von den konkreten Offenbarungslehren sowie der omittierten Frage nach dem Dasein Gottes ab, wirkt die Argumentation Hubers bzw. seines lyrischen Subjekts an dieser Stelle beinahe kantianisch. Zwar steht Kant den eudämonistischen Motivationen, die in Hubers Text durchscheinen, fern.164 Doch der Gedanke der Vervollkommnung menschlicher Ebd., 14. „Denn wenn das moralische Gesetz gebietet: wir sollen jetzt bessere Menschen sein, so folgt unumgänglich: wir müssen es auch können“ (Kant, Akademie-Ausgabe VI [wie Anm. 62], 50). Vgl. hierzu: „Er urtheilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“ (Kant, Akademie-Ausgabe V [wie Anm. 62], 30). Dies erlaubt Kant, weiter unten zu schließen: „Dagegen ist ein Bedürfniß der reinen praktischen Vernunft auf einer Pflicht gegründet, etwas (das höchste Gut) zum Gegenstande meines Willens zu machen, um es nach allen meinen Kräften zu befördern; wobei ich aber die Möglichkeit desselben, mithin auch die Bedingungen dazu, nämlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, voraussetzen muß, weil ich diese durch meine speculative Vernunft nicht beweisen, obgleich auch nicht widerlegen kann“ (ebd., 142). 164 Der Eudämonismus innerhalb dessen, ,was sein sollR und insofern wie ein praktisches Postulat wirkt, ergibt sich vornehmlich aus der oben zitierten Stelle: „Was sagst du? soll der Dulder für die Leiden / Sich niemal, niemal des Ersazes freuQn?“ (Huber, Glaubensbekenntniß [wie Anm. 137], 14). Das höchste Gut der moralischen Vollendung als ,ErsatzR für das hienieden unvollkommene Leben wird auch bei Kant mit ,FreudeR, d. h. Glückseligkeit, verknüpft. In Hubers Gedicht scheint es allerdings anstatt der moralischen Vollkommenheit die Glückseligkeit des ,DuldersR zu sein, die den Geltungsgrund der Unsterblichkeit ausmacht. 162 163

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Tätigkeit, die nur in einem jenseitigen Dasein abzuschließen ist, kommt mit dessen moralphilosophischer Herleitung dem kantischen Zugang nahe. Letztlich ist es eine moralische Gewissheit, die Hubers lyrisches Subjekt gegen Blumauers Ich in Stellung bringt. Wo beim letzteren Verstand und Gefühls-Glauben konfligieren, fällt in jenem das ,Beben des HerzensR mit der rational konturierten Vorstellung des Willens zur Unsterblichkeit (d. h. mit einer praktischen Gewissheit) zusammen.165 Mit dieser unerwarteten Wendung erscheint Hubers Antwortpoem ,aktuellerR als Blumauers Überlegungen, ja, sogar aktueller als der Pantheismusstreit. Die Schlussstrophe des huberschen Gedichts erhält vor diesem Hintergrund eine profunde Dimension: „Und du! verändre deine lezte Bitte, / Und sprich vielmehr mit ganzer Zuversicht: / O nimm, ich flehQs, o Herr! zu deiner Güte: / O nimm mir ia Verstand und Glauben nicht.“166 Wo in Blumauers Text als letzte Bitte die Disjunktion von Verstand und Glauben zu verabsolutieren ist, zeigt Hubers Gedicht hier jener vorletzten Bitte um Versöhnung eine Realisierungsmöglichkeit auf. Hubers Gedicht will das Zusammenwirken von Verstand und Glauben erhalten wissen, und mithin gegen deren Trennung anschreiben. Dies wäre sogar mit der oben zitierten Parabel vereinbar, da nur der ,theoretischen VernunftR (dem Licht rationaler Erkenntnis) eine solche Glaubensüberzeugung gleichsam ,ein FremderR wäre, dabei aber notwendigerweise der ,praktischen VernunftR angehört. Es ist bemerkenswert, dass die praktische Begründung eines Vernunftglaubens (eine nach Kant ,moralische GewissheitR) auch im katholischen Milieu bereits diskutiert wird. Dies ließe sich leichter verstehen, wäre die Kritische Philosophie im Wien des Jahres 1786 bereits auf breiter Basis rezipiert worden. Hierfür gibt es aber kaum Zeugnisse, und bei Franz Xaver Huber fehlen sie wohl gänzlich. Wenn zum Schluss des Gedichts eine so deutlich Kant ähnelnde Anzeige der praktischen Gültigkeit des Vernunftglaubens gemacht wird, könnte dies entweder damit erklärt werden, dass Huber die kantische Begründung des Glaubens aus der Kritik der reinen Vernunft bekannt war und der Text diverse Begründungsweisen und Inhalte theologischer Lehren durchläuft, um zuletzt der kantisch anmutenden den Vorzug zu schenken – oder es findet in Hubers Gedicht keine Auseinandersetzung mit Kant statt. Im letzteren (wahrscheinlichen) Fall ist dennoch nicht anzunehmen, dass die Widersprüchlichkeiten des Texts lediglich Zeugnis eines inVgl. die ganz ähnliche Ableitung der Realisierungsmöglichkeit praktischer Vernunft aus deren inhärenter gesetzlicher Verbindlichkeit in der Kritik der reinen Vernunft (Methodenlehre, 2. Hauptstück, 2. Abschnitt): „Die reine Vernunft enthält also zwar nicht in ihrem speculativen, aber doch in einem gewissen praktischen, nämlich dem moralischen, Gebrauche Principien der Möglichkeit der Erfahrung, nämlich solcher Handlungen, die den sittlichen Vorschriften gemäß in der Geschichte des Menschen anzutreffen sein könnten. Denn da sie gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können“ (Kant, Akademie-Ausgabe III [wie Anm. 62], 524). 166 Huber, Glaubensbekenntniß (wie Anm. 137), 16. 165

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tellektuell der Schwierigkeit jener Diskussionen nicht ganz gewachsenen Denkens seien, sondern es ist zu vermuten, dass sie einer kritischen Sondierung unterschiedlicher Glaubensmodelle dienen. In beiden Fällen träfe zu, dass jene Aporetik der Unzulänglichkeit der theoretischen Vernunft in Religionsfragen nicht von Kant allein abgehandelt wurde, sondern auch andernorts das Bewusstsein der Spätaufklärung bedrängte. Der Weg Kants, den Glauben aus seinen theoretischen Ansprüchen zu lösen und in eine ,moralische GewissheitR zu transformieren, wäre dann, wenn die Analyse der obigen Gedichte soweit korrekt ist, ebenfalls eine Lösung, die auch solchen Schriftstellern, die weder auf erkenntnistheoretische Fragen spezialisiert waren, noch Kant je gelesen hatten, vorschweben mochte. Und in der Tat hätte wohl auch Kant selbst genau diese Ansicht geteilt und als Bestätigung der eigenen Thesen betrachtet: Ist das aber alles, wird man sagen, was reine Vernunft ausrichtet, indem sie über die Grenzen der Erfahrung hinaus Aussichten eröffnet? nichts mehr, als zwei Glaubensartikel? So viel hätte auch wohl der gemeine Verstand, ohne darüber die Philosophen zu Rathe zu ziehen, ausrichten können! […] Aber verlangt ihr denn, daß ein Erkenntniß, welches alle Menschen angeht, den gemeinen Verstand übersteigen und euch nur von Philosophen entdeckt werden solle? Eben das, was ihr tadelt, ist die beste Bestätigung von der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen, da es das, was man anfangs nicht vorhersehen konnte, entdeckt, nämlich daß die Natur, in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austheilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstande hat angedeihen lassen.167

Darf daraus geschlossen werden, dass eine Wendung des theologischen Diskurses, die heute wirkungsgeschichtlich bedingt vornehmlich mit Kant verbunden wird, gewissermaßen in der Luft lag und von Schriftstellern ohne Kant-Kenntnis tentativ propagiert wurde? Es ist nach derzeitigem Kenntnisstand schwierig, ein diesbezügliches Urteil über die Aufklärer Wiens zu fällen. Ohnehin sollte die Verhältnisbestimmung der Unsterblichkeit als regulativer Idee von Kant erst 1788 in der Kritik der praktischen Vernunft ausgearbeitet werden. Bemerkenswert ist dennoch, dass genau zu jener Zeit des Pantheismusstreits derartige Gedanken von einem Autor aufs Papier gebracht werden, der sich nie als philosophischer Geist hervorgetan hat. Die Schlussstrophe der Replik auf Blumauers Glaubensbekenntniß darf als ein im Gewand der Orthodoxie auftretendes, innerlich jedoch auf der Höhe der Diskussion stehendes Versöhnungsangebot für Wissen und Glauben interpretiert werden, das zu guter Letzt eine scharfe Kontrafaktur des nach Wahrheit Ringenden pointiert vollendet. Inwiefern lässt sich in dem hier umrissenen Rahmen von einer katholischen Aufklärung sprechen? Was die Fundamente des Denkens betrifft, scheint wenig 167

Kant, Akademie-Ausgabe III (wie Anm. 62), 537 f.

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Katholisches mitzuwirken; höchstens ist zu notieren, dass die Ziele der Argumentation, insofern nicht bloß eine ironische Verabschiedung gewisser Offenbarungslehren vollzogen wird, als eine aufklärende, aber affirmative Verständigung über katholische Dogmen aufzufassen sein könnten. Wie weit der Weg von hier bis zum Idealismus ist, nach dessen sogenanntem Ältesten Systemprogramm „die ganze Metaphysik künftig in die Moral fällt“,168 und in dessen Entwicklungs- und Wirkungsprozess nicht wenige kantisch geschulte Protestanten zum Katholizismus übertraten, ja sogar in Wien wirkten,169 wäre nur eine von mehreren möglichen Anschlussfragen, die von besonderem Reiz sein könnten. Hubers Replik scheint Blumauer indes keiner Erwiderung würdig befunden zu haben. Ein anderer ExJesuit und österreichischer Aufklärer nahm den Faden an just der Stelle nochmals auf, die einen Schlusspunkt der hier behandelten Diskussion darstellt: Karl Leonhard Reinhold. Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie, die einen Übergang aus dem ,katholischenR in den ,protestantischenR Aufklärungsrahmen darstellen, sollen deshalb noch in einem kurzen Exkurs Erwähnung finden. VI. Exkurs: Reinholds Briefe über die Kantische Philosophie Die Resultate der Auseinandersetzung um Wissen und Glauben bestanden vorerst einerseits im radikalen Zweifel an der Rationalität theologischer Erkenntnisansprüche, und andererseits in der Validierung irrationalen Glaubens. Damit aber lief die Debatte auf jene Disjunktion von Glauben und Wissen hinaus, welche die letzte Strophe des blumauerschen Glaubensbekenntnisses expliziert: Es bedurfte nur eines diesen Zwiespalt besonders scharf Erlebenden und ihn systematisch Reflektierenden, daß im Kantischen Vernunftglauben ein Ausweg aus diesem Dilemma zwischen Wissen und Glauben erkannt wurde. Es war ein Jugendfreund Blumauers, der diesen Schritt vollzog: der ehemalige Jesuitennovize und nunmehrige Barnabitermönch, Mitbruder in der Loge Zur wahren Eintracht und Illuminat Karl Leonhard Reinhold.170

Reinhold, ein langjähriger Freund Blumauers, hatte sich bereits zu Beginn der 1780er Jahre innerlich vom Katholizismus distanziert. Zu der Zeit, als Blumauers Glaubensbekenntniß erschien, verfasste Reinhold zwar weiterhin Beiträge für das Journal für Freymaurer, war jedoch inzwischen von Wien über Leipzig nach WeiVgl. Friedrich Hölderlin, Entwurf (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus), in: ders., Sämtliche Werke [Stuttgarter Ausgabe], hg. von Friedrich Beißner, Bd. 4.1, Stuttgart 1961, 297–299, hier 297. 169 Vgl. hierzu den Aufsatz von Edith Saurer, Romantische KonvertitInnen. Religion und Identität in der Wiener Romantik, in: Christian Aspalter (Hg.), Paradoxien der Romantik: Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Wien im frühen 19. Jahrhundert, Wien 2006, 229–255. 170 Sauer, Österreichische Philosophie (wie Anm. 18), 48. 168

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mar ausgewandert, und begann dort 1785 Kants Kritik der reinen Vernunft zu lesen. Als Frucht seiner Studien veröffentlichte er von 1786 bis 1787 in Christoph Martin Wielands Teutschem Merkur die Briefe über die Kantische Philosophie, bei denen es sich um die erste wirkmächtige Rezeption des Kritischen Ansatzes handelte. Die Serie der Beiträge wurde 1790 als Sammlung in zwei Bänden gedruckt. Die Diskussion über ,unvernünftigenR und ,vernünftigenR Glauben findet in den Briefen ausführlich statt. Schon kurz vor seiner Kant-Lektüre hatte Reinhold die religionskritische Herzenserleichterung zweyer Menschenfreunde, in vertraulichen Briefen über Johann Caspar Lavaters Glaubensbekenntnis publiziert, in der um eine neue Begriffsbestimmung des Christlichen171 und des Glaubens überhaupt geworben wird. Schon hier distanziert sich Reinhold von der bisherigen Norm dessen, was Glauben konstituieren solle: Bey jeder Revolution, die in den Begriffen der Menschen vorgeht, ist eine gewisse Veränderung in dem Sinne gewisser Worte unvermeidlich. Die Bedeutungen werden bey einigen enger eingeschränkt, bey andern weiter ausgedehnt, je nachdem ein alter Irrthum wegfällt, oder eine neue Bestimmung der Wahrheit hinzukömmt. Das Wort Glaube bezeichnete vormals beynahe allgemein, und heut zu Tage noch bei den Katholiken, nebst der Annahme der Dogmen, den ganzen Umfang der Offenbarung und der darauf gegründeten Religion, und wird in diesem Sinne der Vernunft, die man mit Unglauben verwechselte, entgegengesetzt.172

Deutlich wird bereits hier, dass Reinhold den Glaubensbegriff nicht ablehnt, sondern vielmehr als integralen Teil der Ratio verstanden wissen möchte. Diese Haltung ist diesmal nachweisbar auch ein Resultat aus der Beobachtung des Pantheismusstreits.173 Die Möglichkeit, eine neuartige Konzeption systematisch abzusichern, bot sich Reinhold in Kants Kritik. Die Lösung, die Reinhold vorschwebt, unternimmt von Kant aus den Versuch, Glauben und Wissen zu versöhnen. Das folgende Zitat lässt sich nicht nur auf den Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn beziehen, sondern gölte zugleich variiert und entschärft für die poetische Konstellation Huber – Blumauer:

„Ich kann Ihnen und Lavatern zugeben, daß die Bedeutung des Worts Christenthum auch nur vor 50 Jahren in unserm Deutschlande viel engere Schranken hatte, und daß man damals, um für einen Christen zu gelten, manches annehmen musste, was man heut zu Tag zu diesem Zwecke für sehr entbehrlich hält […] und daß Lavater vor nicht sehr langer Zeit, selbst vor dem Richterstuhle einer Reformirten Synode, den Namen eines Christen verwirkt haben würde“ (Karl Leonhard Reinhold, Herzenserleichterung zweyer Menschenfreunde, in vertraulichen Briefen über Johann Caspar Lavaters Glaubensbekenntnis, Frankfurt am Main, Leipzig 1785, 121 f.). 172 Ebd., 123. 173 Vgl. die Auflistung der Sekundärliteratur, die sich mit Reinholds Haltung zum Pantheismusstreit befasst, in der Studie von Lutz-Henning Pietsch, Topik der Kritik. Die Auseinandersetzung um die Kantische Philosophie (1781 – 1788) und ihre Metaphern, Berlin, New York 2010, 103 [Fußnote]. 171

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So wird die christliche Welt durch die Sätze: Die Vernunft kann das Daseyn Gottes nur glauben – und: Die Vernunft allein kann wahre Ueberzeugung vom Daseyn Gottes gewähren, in zwey Partheyen getrennt, die sich unter einander über Aberglauben und Unglauben anklagen. Wirklich ist jeder dieser Sätze, in so fern als er von einer der beyden Partheyen für ihren Hauptsatz angenommen wird, nur halb wahr, und steht, so wie er von jeder verstanden wird, mit dem Hauptsatze der Gegenparthey im Gegensatze des geraden Widerspruches; während daß diese beyden Sätze, in wie ferne sie die Merkmale des moralischen Erkenntnißgrundes ausdrücken, durchaus wahr sind, und von jedem, der den Vernunftglauben annimmt, ohne alle Einschränkung unterschrieben werden müssen.174

Die ,wahre Überzeugung vom Dasein GottesR ist sowohl vernünftig als auch eine Glaubensangelegenheit, womit der genuine Glaube zum Moment der Rationalität erklärt wird; diese Position stimmt mit Kants Gedanken in der Kritik der reinen Vernunft überein. Wichtiger noch ist, dass für Reinhold eine nähere Bindung an den Pantheismusstreit als an die österreichischen Glaubensbekenntnisse zu konstatieren ist. Hatten diese das Dasein Gottes nicht bezweifelt, sondern als Vernunfterkenntnis ihren Überlegungen vorausgesetzt, so wendet Reinhold die Frage nach Glauben und Wissen auf dieses Fundament von Theologie und Religion an, wie es schon Mendelssohn und Jacobi getan hatten. Ferner erörtert Reinhold einzig und allein die Frage nach der Relation von Glauben und Wissen. Die lyrischen Texte hingegen befragen die Theologie zusätzlich auf das Verhältnis von natürlicher und positiver Religion sowie auf die Vereinbarkeit von Vernunft und Offenbarung. Diese beiden letzten Antinomien verbannt Reinholds Kantianismus aus der Diskussion.175 Karl Leonhard Reinhold, Briefe über die Kantische Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1790, 167 f. In einem längeren, hier vollständig zitierten Abschnitt aus dem 8. Brief erklärt Reinhold vielmehr die Offenbarung zu einem Hindernis der Religion und des Vernunftglaubens, wobei konsequenterweise die offenbarungsabhängige ,positive ReligionR als Despotismus unaufgeklärter, unmoralischer und unsinniger Lehrmeinungen zurückgewiesen wird: „Ueberall und zu allen Zeiten, wo die Offenbarung für diesen Erkenntnißgrund gegolten hat, war die Religion von der Moral getrennt, oder hat es vielmehr zwey verschiedene Sittengesetze gegeben, ein Natürliches und ein Uebernatürliches; die mit einander in einem unaufhörlichen Streite waren. Eine nothwendige Folge davon war, daß die Religion derjenigen, die sich Christen nannten, mit ihrer Sittlichkeit gemeiniglich im umgekehrten Verhältnisse stand, und daß es Zeiten gab, wo die Lehrer des Christenthums feyerlich erklärten: der unschuldigste und rechtschaffenste Lebenswandel, in so ferne er von der Gelehrigkeit gegen die Aussprüche der natürlichen Vernunft herrühre, könne nicht einmal vom ewigen Feuer retten, viel weniger zur Erwartung einer künftigen Glückseligkeit berechtigen. Die christliche Moral, war wirklich so unbegreiflich geworden, als der Wille der Gottheit, wovon sie hergeleitet wurde, und welchen man entweder durch unmittelbare Erleuchtung von oben herab, oder wenigstens eben so sehr aus den Religionsbüchern der Hebräer als von den vier Evangelisten, nach der Auslegung einer unfehlbaren Kirche, erfahren zu müssen glaubte. Wer vermag die Ungereimtheiten und Abscheulichkeiten aufzuzählen, die der historische Erkenntnißgrund durch diese Kanäle über die vortreffliche Lehre des Evangeliums gebracht hat? Man entsagte dem Gebrauche der Vernunft in der Religion, das heißt, gerade in derjenigen Angelegenheit, wo er am unentbehrlichsten 174

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Eingedenk des zur gleichen Zeit aktuellen poetischen Dialogs der österreichischen Dichter zeigt sich hieran, wo sich tatsächlich die Brüche zwischen der Aufklärung – gleich welcher Konfession – und der Kritischen Philosophie, die die bisherigen Problemlagen oftmals umschichtete, befinden. Während Jacobi noch für eine Offenbarung jenseits der Vernunft eintrat oder Blumauers Gedicht den Glauben dem Wahnsinn gleichzusetzen versuchte, erhielt die Diskussion durch Reinholds Popularisierung des kantischen Ansatzes eine neue Weichenstellung. Ein postchristlicher Vernunftglaube der Moralität erwartet nach Reinhold die Menschheit. Was die beiden Dichter der ,katholischen AufklärungR von dieser Eliminierung eines großen Teils ihrer poetischen Diskussion gehalten haben oder hätten, ist nicht zu klären. Überraschend ist allein die Einsicht, dass die moralisch-metaphysische Schlusspointe in Hubers Text der kantischen Glaubensdiskussion bei Reinhold deutlicher näher steht als die Offenbarungskritik, die Reinholds ehemaliger jesuitischer Ordensbruder Blumauer nur ein gutes Jahr vor den ersten Briefen über die Kantische Philosophie im Journal für Freymaurer veröffentlicht hatte. Ob Kant tatsächlich eine Klärung des Glaubensproblems erreicht hat, darf bis heute diskutiert werden. Auch den Anhängern Kants waren bald schon religionstheoretische Probleme in ein ungewohntes Licht getaucht, das ihnen neue Wege zu weisen schien. Wahrscheinlich aber hätten sie im Rückblick auf die spätaufklärerischen Debatten der Meinung Reinholds zugestimmt, der im 4. Brief von seiner kantischen Warte aus über den Pantheismusstreit urteilte: „Aus dem bisher gesagten ergiebt sich deutlich genug, daß der berühmte Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn […] schon einige Jahre vorher entschieden war, als er wirklich ausbrach.“176 Gleiches träfe dann auf den ,StreitR zwischen Blumauer und Huber zu.

VII. Abschließende Bemerkungen Um 1780 entfalten sich im deutschsprachigen Raum diverse Diskussionen, die allesamt theologischen Ursprungs sind und die Rolle der Religion im menschlichen Leben überdenken. Dabei werden die Zuständigkeitsbereiche und Legitimawar; erhob sinnlose Schulformeln in den Rang der Grundwahrheiten der Religion, und den blinden Glauben an offenbare Widersprüche zur ersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens; verschwor den Ehestand, und mit ihm alle übrigen Pflichten gegen die Gesellschaft; bestrafte die Verschiedenheit der Religionsmeinungen mit Feuer und Schwerd u. s. w. Der Ueberzeugungsgrund, warum man dies alles thun müsse, war der unbegreifliche Wille der Gottheit; und der Beweggrund, warum man es wirklich that, Hoffnung des Himmels und Furcht vor der Hölle; ohne welche man es sehr überflüssig gefunden haben würde, sich nach jenem unbegreiflichen Willen zu richten“ (ebd., 230 f.). 176 Ebd., 141.

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tionsmöglichkeiten verhandelt, die den Überzeugungsformen des Wissens und des Glaubens, sowie den epistemischen Instanzen autonomer Vernunft und subjekttranszendenter Offenbarung zukommen können. Die Diskussion erhält dadurch zunehmend erkenntnistheoretische Valenz. Während Lessing im Fragmentenstreit eine rationale Grundlage für die Wahrheit in der Religion reklamiert und diese vom Offenbarungslauben unterscheidet, schließt Jacobi im Pantheismusstreit einen rationalen Zugang zum Göttlichen aus, fasst das Dasein Gottes aber als Evidenz im Medium unmittelbarer Wahrnehmung, die er als Offenbarung bezeichnet, welche wiederum nur geglaubt werden könne. In der Atmosphäre einer solchen Dissoziierung von Wissen und Glauben bringen die österreichischen Schriftsteller Aloys Blumauer und Franz Xaver Huber zwischen 1784 und 1786 ihre jeweiligen poetischen Diskussionsbeiträge ein. Beide verbinden Zweifel an Glaubenslehren mit einer Kritik an der moralischen Unzulänglichkeit von Vernunftwahrheiten und perspektivieren katholische Dogmen auf den Konflikt von Wissen und Glauben. In Blumauers Glaubensbekenntniß wird das Wissen der Vernunft, der Glaube hingegen der Offenbarung auf problematische Weise zugeordnet. In Hubers Gedicht wird eine Kompatibilität von Glaubensinhalten und Vernunftwahrheiten behauptet; die Legitimierung des Glaubens jedoch erfolgt über den Gedanken der Unsterblichkeit, welcher wiederum kein Erkenntnisgegenstand, sondern ein als rational vorgestelltes moralisches Bedürfnis ist. Damit ergibt sich in Hubers Replik eine typologische Nähe der Glaubenskonzeption zu Kants Vernunftglauben aus der Kritik der reinen Vernunft, obwohl von keiner Kenntnis der Kritischen Philosophie seitens Hubers auszugehen ist. Erst der aus Österreich geflohene Karl Leonhard Reinhold unternimmt zur ungefähr gleichen Zeit – ab 1785 – die religionstheoretische Verknüpfung eines moralisch bedingten Glaubens mit der kantisch konzipierten Vernunft, deren Ansatz er in der Kritik der reinen Vernunft gefunden hatte. Hierbei gehen die offenbarungstheologischen sowie die katholischen Vestigien aus der Glaubensbekenntniß-Lyrik endgültig verloren. Gerade deshalb aber lässt sich anhand der Gedichte ein vorsichtiges Urteil im Hinblick auf die philosophiehistorische Frage nach der Konstitution einer ,katholischen AufklärungR in Österreich bilden. Während des josephinischen Jahrzehnts nahm in Wien die Rezeption der Popularphilosophie insbesondere Johann Georg Heinrich Feders Fahrt auf. Die josephinischen Schriftsteller und Logenmitglieder waren indessen durchaus noch näher am Puls der Zeit. In den beiden Gedichten erkennt man Ansätze der Aufklärung, über die sich die Verfasser zeitnah in eine der deutschlandweit heftigsten philosophischen Problemdebatten einmischen, die zudem im Kontext der josephinischen Reformpolitik für deren Anhänger außergewöhnlich dringend erscheinen mochte, wenngleich die lyrischen Beiträge den damals aktuellen Diskussionsstand nicht immer erreichen. Trotzdem zeigt sich die Tendenz, dass Kants Transformation theoretischer Wahrheiten zu transzendentalen Ideen der praktischen

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Vernunft wohl weniger fremdartig auf die Wiener Aufklärer wirken mochte, als man vermuten könnte. Dass Kants Ideen schließlich nicht nur bei Karl Leonhard Reinhold auf Sympathie stoßen sollten, lässt sich mit der Annahme vereinbaren, dass ähnliches Gedankengut unter den österreichischen Aufklärern bereits angedacht worden sein dürfte. Gerade die synchrone Konvergenz eines philosophisch recht unbedarften Schriftstellers wie Huber mit einem Denker wie Reinhold zeigt die Aufgeschlossenheit und ,RechtzeitigkeitR der Aufklärer aus katholischem Milieu bezüglich der Streitfragen nicht-katholischer Aufklärer. Von katholischer, protestantischer oder jüdischer Aufklärung wäre demnach nicht in dem Sinne zu sprechen, als wollten Denker mit einem entsprechenden konfessionellen Hintergrund bestimmte konfessionsspezifische Überzeugungen von transzendenten Gegenständen durch vernünftiges Wissen anstatt durch dogmatischen Glauben validieren. Vielmehr könnte man z. B. von ,katholischer AufklärungR in dem Sinne sprechen, dass Personen unterschiedlicher Prägung oder diverser Milieus eigene Grundsätze bzw. Ideen ihres Umfelds hinterfragen und einer Antwort zuführen, welche – wenn überhaupt – darin besteht, überkommenen Glaubensgegenständen einen allgemeinen Gehalt beizulegen. Schon dies zielt nicht auf eine Neubegründung tradierter Dogmen, sondern auf die innovative Durchführung einer universalen philosophischen Konzeption ab. Nicht selten führt jene Hinterfragung auch zu unumwunden traditionslösenden Neuanfängen. Nicht die Stärkung des Katholizismus durch Vernunft, sondern die Kritik katholischer Spezifika zugunsten allgemeingültiger ,VernunftwahrheitenR kennzeichnet das, was man katholische Aufklärung nennen könnte. Dergleichen gilt allerdings für Aufklärer gleich welchen konfessionellen Hintergrunds. Und das in diesem Beitrag skizzierte, teils durchaus bewusste, teils so nicht beabsichtigte Schritthalten der österreichischen Aufklärung katholischer Provenienz mit den Debatten im protestantischen Deutschland lässt sich schließlich doch als ein Zeugnis der transkonfessionellen Einheit aufklärerischer Diskurse verstehen.

Gideon Stiening „Katholische Idioten“ Johann Pezzls Faustin-Roman als Beispiel einer Selbstaufklärung der Aufklärung im katholischen Raum Welch unbegreiflicher Widerspruch in unsrer Art zu denken und zu handeln! J. Pezzl, Faustin oder das philosophische Jahrhundert

1. Zur Einführung – ein „Neuer Candide“ Am 5. Juli 1783 erscheint im 107. Stück der Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen die Kurzanzeige eines Romans, der mit dem größtmöglichen Lob für einen Roman des späten 18. Jahrhunderts ausgezeichnet wird: Faustin, oder das philosophische Jahrhundert 1783. 381 S. Octav. Ein neuer Candide, in welchem der V. mit Wohlgefallen die tausend Beweise gesammlet hat, daß unser Jahrhundert noch weit von Aufklärung des Menschengeschlechts entfernt ist. Besäß der V. Voltairens Pinsel, so müßte seine Schrift von größter Wirkung seyn. Nimmermehr hätten wir geglaubt, daß sich aus den Zeiten, in denen wir leben, so viele Beyspiele von unterdrückter, verfinsterter, geblendeter, mißbrauchter Vernunft auftreiben liessen, als hier beysammengestellt sind.1

Ein „neuer Candide“ liegt nach Auffassung des Rezensenten, der im Übrigen niemand anderes als der Herausgeber der GGA selbst, Christian Gottlob Heyne2 ist, mit diesem Roman vor, dessen Autor zwar nicht ganz die Feder Voltaires zu führen vermag, Heyne aber im Hinblick auf die aufgeführten Beispiele aufklärungskritischer bzw. gegenaufklärerischer Erscheinungen im Zeitalter der Aufklärung zu überzeugend vermag. Heynes positives Urteil mag insofern als überraschend gelten, als sich das Göttingen des 1780er Jahre als eines der bedeutenden Zentren der

Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen 107 (1783), 1072. Zu Heyne vgl. Balbina Bäbler, Heinz-Günther Nesselratz (Hg.), Christian Gottlob Heyne. Werk und Leistung nach zweihundert Jahren, Berlin, Boston 2014. 1

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Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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europäischen Aufklärung begriff,3 das durch seine Universität – vor allem durch die Fächer Politik, Geschichte, Jura und Philosophie – nicht nur in der Forschung einen europäischen Spitzenplatz einzunehmen vermeinte, sondern durch die Ausrichtung des Studiums auf die gesellschaftliche, politische und kulturelle Praxis die Aufklärung zu realisieren wähnte4 – und auch dies europaweit, weil sich die Studentenschaft durch einen hohen Grad an Internationalität auszeichnete.5 Gleichwohl lobt Heyne Johann Pezzls Faustin oder das philosophische Jahrhundert, weil dieser Roman – wie sich zeigen soll – die noch mangelhafte Durchsetzung der Aufklärung in den westlichen Gesellschaften aus dem Geist einer bestimmten ,RadikalaufklärungR darstellte und kritisierte.6 Dabei wird sich aufzeigen lassen – so eine der Thesen der nachfolgenden Überlegungen –, dass Pezzl im Modus der literarischen Satire eine Reflexionsfigur ausführte, die Immanuel Kant 112 Jahre später in seinem berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung? wie folgt auf den Begriff bringen sollte: Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen genommen, schon imstande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten, und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs.7

Noch die letzte – durchaus fragwürdige – Volte wird in Pezzls Roman präfiguriert; allerdings gestaltet der Faustin nicht etwa die objektiven Grenzen der Aufklärung Siehe hierzu u. a. Götz von Selle, Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737 – 1937, Göttingen 1937, 129 ff.; Luigi Marino, Praeceptores Germaniae. Göttingen 1770 – 1820, Göttingen 1995 sowie Ulrich Hunger, Die Georgia Augusta als hannoversche Landesuniversität. Von ihrer Gründung bis zum Ende des Königsreichs, in: Ernst Böhme, Rudolf Vierhaus (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Göttingen 2002, Bd. 2, 139 – 213. 4 Siehe hierzu u. a. Hans-Erich Bödeker, Philippe Büttgen, Michel Espagne (Hg.), Die Wissenschaft vom Menschen in Göttingen um 1800, Göttingen 2008. 5 Vgl. hierzu Ilse Costas, Die Sozialstruktur der Studenten der Göttinger Universität im 18. Jahrhundert, in: Hans-Georg Herrlitz, Horst Klein (Hg.), Anfänge Göttinger Sozialwissenschaften. Methoden, Inhalte, soziale Prozesse im 18. Jahrhundert, Göttingen 1987, 127 – 149 sowie Helga Maria Kühn, Studentisches Leben in Göttingen des 18. Jahrhunderts nach zeitgenössischen Berichten, Briefen, Reisebeschreibungen und Akten des Stadtarchivs, in: Hans Georg Schmeling (Hg.), Göttingen im 18. Jahrhundert, Göttingen 1987, 145 – 181 6 Zur Problematik des Begriffs einer sogenannten Radikalaufklärung als historiographischer Kategorie vgl. Martin Mulsow, Jonathan Israel (Hg.), Radikalaufklärung, Frankfurt am Main 2014. 7 Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff. (im Folgenden AA Band, Seitenzahl), hier AA VIII, 40. 3

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oder gar ihre angebliche Dialektik,8 sondern er zeigt vielmehr wie auch Kant, dass das Zeitalter der Aufklärung noch keineswegs aufgeklärt genug war, um als aufgeklärtes Zeitalter gelten zu können. Weil aber nicht allein für den Göttinger Orientalisten und Hochschulpolitiker Heyne der Faustin ein bedeutender Roman in der kritischen Nachfolge des Candide war,9 sondern tatsächlich ein großer Erfolg wurde, der bis 1799 mehrere Auflagen erlebte und eine Fülle von Raubdrucken nach sich zog,10 scheint vieles darauf hinzudeuten, dass auch im katholischen Raum des deutschsprachigen Reiches jene kritische Selbstvergewisserung der Aufklärung stattfand, die die europäischen Spätaufklärung auszeichnete.11 Allerdings bedeutet dieser im Folgenden zu prüfende Befund nicht, das Pezzls Roman einer – wie auch immer zu bestimmenden – ,katholischen AufklärungR zuzurechnen wäre; vielmehr zeigt seine – im Selbstverständnis – sarkastische Tirade12 wider die Unvernunft und Intoleranz nicht nur in Religionssachen der westlichen Welt, dass sowohl der Katholizismus als auch der Protestantismus des 18. Jahrhunderts eine konsequente Aufklärung noch vor sich hatten bzw. diese verhinderten, die bei dem Radikalaufklärer Pezzl nur darin bestehen konnte, sich selbst als positive Religion zu überwinden und – wie bei Voltaire – in eine natürliche Form überführt zu werden. Denn wie Kant schon 1781 für den Gottesbegriff, 1788 für jede theoretische Unsterblichkeitsvorstellung und 1794 auch für alle soteriologischen Hoffnungen gezeigt hatte,13 dass Dass diese Reflexionsfigur, deren historisch bedingte Unklarheiten längst erkannt wurden (vgl. das Gros der Beiträge in Sonja Lavaert, Winfried Schröder [Hg.], Aufklärungs-Kritik und Aufklärungs-Mythen. Horkheimer und Adorno in philosophiehistorischer Perspektive, Berlin, Boston 2018) auch in der Erforschung zum 18. Jahrhundert immer noch Aktualität erfahren kann, lässt sich nachlesen bei Stefan Schick, Die Legitimation der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi, Frankfurt am Main 2019. 9 Siehe hierzu u. a. Roland Krebs, „Schmähschrift wider die weiseste Vorsehung“ oder „Lieblingsbuch aller Leute von Verstand“? Zur Rezeption des Candide in Deutschland, in: Ernst Hinrichs, Roland Krebs, Ute van Runset, „Pardon, mon cher Voltaire …“. Drei Essays zu Voltaire in Deutschland, Göttingen 1996, 87 – 126. 10 Vgl. hierzu Wolfgang Grieb, Nachwort, in: Johann Pezzl, Faustin oder das philosophische Jahrhundert, hg. von Wolfgang Grieb, Hildesheim 1982, 1*–20*. 11 Siehe hierzu Norbert Hinske, Zwanzig Jahre danach. Nachwort zur vierten Auflage, in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der berlinischen Monatsschrift, hg. von Norbert Hinske, Darmstadt 41990, 569 – 589. 12 So heißt es schon in der Vorrede des Autors: „Nicht Satyre auf unser Jahrhundert und dessen schöne Devise; sondern Sarkasm auf jene hartköpfige und schwachköpfige Männer, die sich noch hier und da mit lächerlichen Grimaßirungen entgegen sperren, jenes ehrenvolle Symbol unsers glüklichen Zeitalters allgemein und herrschend werden zu lassen“ (Johann Pezzl, Faustin oder das philosophische Jahrhundert, hg. von Wolfgang Grieb, Hildesheim 1982, IV). 13 Vgl. hierzu u. a. Stefan Klingner, Pneumatologie und Ethikotheologie? Crusius und Kant über die Unsterblichkeit der Seele, in: Aufklärung 29 (2017), 89 – 109; Gideon Stiening, Gott und der gerechte Krieg. Kants kritische Auseinandersetzung mit Achenwalls Ius naturae, in: Stefan Klin8

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nämlich im Rahmen rationaler Argumentation grundsätzlich, und d. h. in Theorie und Praxis, nicht auf Theologumena referiert werden könne, so entwickelt auch Pezzls Romans, dass alle Aufklärung in ihrem Kern säkular sein muss bzw. sich auf Formen einer natürlichen Religion zu bescheiden habe, um Aufklärung zu bleiben. Schon Pezzls Dichtung wie dann auch Kants Philosophie zeigen ebenso deutlich wie drastisch, dass es eine katholische oder protestantische Aufklärung wie auch alle anderen Formen religiöser Aufklärung14 nicht geben kann, sondern ausschließlich eine Aufklärung der Religionen. 2. Candide und Faustin – Gemeinsamkeiten und Unterschiede Der ohne jeden Zweifel sich aufdrängende Eindruck, dass der Protagonist des pezzlschen Romans ein „neuer Candide“ sei,15 ist einerseits darauf zurückzuführen, dass Faustin ebenso wie Candide von einer spezifischen Naivität aufgezeichnet ist, mit der beide bestimmte Postulate der gemeinen Vernunft, des gesunden Menschenverstandes als wirklich bzw. verwirklicht ansehen. Handelte es sich bei Candide um die Überzeugung, in der besten aller möglichen Welten zu leben – wobei Voltaire die metaphysische Dimension des leibnizschen Arguments ignoriert und es schlicht auf die unmittelbare Lebenswelt bezieht16 –, so sind es bei Faustin die praktischen Postulate des 18. Jahrhunderts nach „Aufklärung, Erleuchtung des Menschengeschlechts, Toleranz, politische[r] Thätigkeit, helle[r] philosophische[r] Denkungsart“,17 die von den Protagonisten aufgrund ihrer jeweiligen Erziehung nicht nur als theoretisch gültig, sondern auch als allgemein geltend angenommen werden. Der in beiden Fällen wirksame Humor entsteht aus dem Gefälle zwischen den zunächst ungeteilten aufklärerischen Überzeugungen der Protagnisten und den gesellschaftlichen, staatlichen und politischen Realien der ,WeltR, insbesondere ihres europäischen Teils, dessen intellektuelle Eliten – zumindest zum Teil – die Ideen der Aufklärung entwickelten und auf Feldern – einigen, aber eben nicht auf allen – realisierten.18 In beiden Fällen, mithin bei Cangner, Dieter Hüning (Hg.), Auf dem Weg zur kritischen Rechtslehre? Naturrecht, Moralphilosophie und Eigentumstheorie in Kants „Naturrecht-Feyerabend“, Leiden, Boston 2021, 19 – 47. 14 Siehe hierzu u. a. Christopher de Bellaigue, Die islamische Aufklärung. Der Konflikt zwischen Glaube und Vernunft, Frankfurt am Main 2018. 15 Siehe hierzu auch die ebenso kurzen wie reduktiven Ausführungen bei Hermann August Korff, Voltaire im literarischen Deutschland des XVIII. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geistes von Gottsched bis Goethe, Heidelberg 1997, 240 – 244. 16 Siehe hierzu u. a. Philipp Stewart, Candide, in: The Cambridge Companion to Voltaire, hg. von Nicholas Cronk, Cambridge 2009, 125 – 137. 17 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 13. 18 Das es tatsächlich erhebliche Auswirkungen der Aufklärung beispielsweise auf dem Feld des

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dide und Faustin, führen die Begegnungen mit diesen europäischen Realitäten zu einem merklichen Prozess der Enttäuschung über die Wirksamkeit ihrer aufklärerischen Ideale. Allerdings führt dieser Desillusionierungsprozess bei Candide zu einer – selbst satirisch distanzierten – Feier des Privaten, während Faustin in der Feier jenes aufgeklärten Absolutismus mündet, der in den 1780er Jahren sowohl in Berlin als auch in Wien ausgeübt wurde. Die Skepsis gegenüber den Idealen der Aufklärung fällt daher bei Pezzl merklich geringer aus als bei Candide – ohne völlig auszubleiben. Pezzls Romans endet mithin politisch, während Voltaire in einer skeptisch-individualistischen Volte ausläuft.

3. Faustins Werdegang

3.1. Herkunft und Erziehung Bei allen Differenzen im Hinblick auf das Ende weist der Beginn der Biographien beider Aufklärungsutopisten eine Reihe von Ähnlichkeiten auf: Zunächst sind Candide und Faustin illegitime Nachkommen adeliger Väter, einmal eines westfälischen Barons, einmal eines bayerischen Prälaten; zudem werden sie von überzeugten Aufklärern erzogen. Allerdings schlägt Faustins Herkunft deutlicher in die Frage nach einer ,katholischen AufklärungR als die Erziehung Candids. Denn Faustins Erzeuger nötigt einem Untergebenen die Vaterschaft samt der Mutter als Ehefrau auf, womit schon die ursprüngliche Familiarität des Protagonisten von Illegitimität und Verheimlichung spezifisch katholischer Institutionalität begleitet, ja konstituiert wird. Zugleich ermöglicht Faustin diese Herkunft die Erziehung in einer Abtei, die wie folgt charakterisiert wird: Der Abbtey Wansthausen stand schon seit vielen Jahren im Geruch gewaltiger Gelehrsamkeit; denn sie hatte einen Professor der Physik und zween graduierte Theologen. Da wards Jahr aus Jahr ein viel disputirt vom Socianismus und Arianismus, vom Pelagianismus, Semipelagianismus und Kryptopelagianismus, vom Deismus und Naturalismus: Von der Prädestination und der Scientia media; von der Gratia Sanitatis und der Gratia medizinalis, von der Gratia exterior und der Gratia interior, von der gratis data und sanktifikans, von der aktualis und habitualis, der versatilis und kongrua, der kooperans und konkomitans, von der Gratia effikax die nicht effikax ist, und von der Gratia sufficiens die niemal sufficiens ist. Der Professor der Physik nannte sich einen Ekklektikus; hielt sich an kein System, nahm aus jedem einige Broken um es mit keinem zu verderben, hörte sich gern einen Neoterikus schelten, und kürzte dem Herrn Abbt, oder Strafrechts gab, auch wenn die Grenzen genau zu ziehen sind, zeigt u. a. Arnd Koch, Die Entwicklung des Strafrechts zwischen 1751 und 1813, in: Arnd Koch, Michael Kubiciel, Martin Löhning, Michael Pawlik (Hg.), Feuerbachs Strafgesetzbuch. Die Geburt des liberalen, modernen und rationalen Strafrechts, Tübingen 2014, 39 – 67.

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seinen Mitbrüdern manchen langweiligen Abend, wenn er die grosse Kaze elektrisirte, oder Fledermäusen und Spazen die Luft aus der Lunge pumpte.19

Tatsächlich kann Wansthausen nur als ein ausnehmend ungewöhnliches Kloster bezeichnet werden, weil im Rahmen der dort praktizierten Gelehrsamkeit eine Fülle von häretischen bzw. radikalaufklärerischen Theorie disputiert, mithin besprochen und gelehrt werden. Zwar wird auch in gleichsam scholastischer Manier die Gnadenlehre durchexerziert, doch neben dem Socianismus werden auch Deismus und Naturalismus unterrichtet, ein für das Gros der moderaten Spätaufklärer weithin inakzeptables radikalaufklärerisches Theorietableau.20 Darüber hinaus ist der Naturphilosoph des Klosters ein Eklektiker aus opportunistischen Gründen, sieht sich allerdings zugleich in der Lage, berühmte, jedoch für die Versuchstiere qualvolle Experimente des 18. Jahrhunderts zu reproduzieren – allerdings lediglich aus Gründen des Amüsement seines Vorgesetzten, nicht etwa der Erkenntniserweiterung. Die Mitglieder dieses Klosters sind mithin keineswegs aufgeklärt, sondern schlicht in theoretischer und praktischer Hinsicht korrupt. Allerdings gibt es in dieser Abtei auch einen „Pater Bonifaz“, der Faustin als Lehrer zugeteilt wird. Dieser Pater unterrichtet den Protagonisten in „Geographie, Historie und Naturgeschichte“, vor alle aber in der Philosophie der Aufklärung, die für Bonifaz neben der religiösen Toleranz, die Begründung politischen Handelns sowie „philosophische Denkungsart“, also durchgehende empirische oder rationale Begründung alles Denkens als eines freien, in sich enthält.21 An der Überzeugung der theoretischen Bedeutung und praktischen Wirksamkeit dieser zentralen Forderung der Aufklärung wird Pater Bonifaz sein Leben lang festhalten, selbst nachdem ihn religiöse Fanatiker lebensgefährlich verletzten. Ist Pater Bonifaz also ein katholischer Aufklärer? Sicher ist, dass seine aufklärerischen Lehren nichts spezifisch Katholisches an sich haben, sondern erkennbar Positionen der Spätaufklärung zu Religions- und Politik- sowie zur Popular-Philosophie entfalten; sicher ist auch, dass er seinem Schüler die Postulate der Aufklärung als schon verwirklichte verkauft, weil er das „philosophische Jahrhundert“ nicht als eines der reinen Theorie, sondern als schon gestaltete gesellschaftliche Praxis lehrt. Für den in seinem Kloster von der Welt abgeschlossenen Pater gibt es keinen ,garstig breiten GrabenR zwischen dem Jahrhundert der AufPezzl, Faustin (wie Anm. 12), 11. Zum Socianismus vgl. Sascha Salatowski, Die Philosophie der Socinianer. Transformationen zwischen Renaissance-Aristotelismus und Frühaufklärung, Stuttgart-Bad Cannstatt 2015; zum Deismus vgl. Christopher Voigt, Der englische Deismus in Deutschland. Eine Studie zur Rezeption englisch-deistischer Literatur in deutschen Zeitschriften und Kompendien des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2003; zum Naturalismus Gideon Stiening, „Die Natur macht den Menschen glücklich“. Modelle materialistischer Ethik im 18. Jahrhundert, in: Lothar van Laak, Kristin Eichhorn (Hg.), Kulturen der Moral / Moral Cultures, Hamburg 2021, 17 – 38. 21 Alle Zitate Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 13. 19 20

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klärung und einem aufgeklärten Jahrhundert, und auch diese Ansicht ist nicht als genuin katholisch zu beurteilen, sondern als institutionell induzierte Naivität. Faustin aber wird eben diese Naivität, die im Kern darin besteht, zwischen philosophischen Postulaten und der gesellschaftlichen Realität ihrer Verwirklichung nicht unterscheiden zu können oder zu wollen, übernehmen: Faustin, dem der Kopf nicht vernagelt war, zudem gutherzig und leichtgläubig wie ein echter Baier, war ganz Ohr, ganz Gedanke, wenn Vater Bonifaz die Aufklärung und das philosophische Jahrhundert anpries. Er nahm die Versicherungen seines Mentors alle für vollwichtige Münze, und hatte nun keine höhern Wunsch mehr, als Voltären persönlich zu kennen, dessen Grundsäze sich eigen zu machen, und so auch sein eigenes Scherflein zur Toleranz und Aufklärung beizutragen.22

Der breite und sich durch die nachfolgende Handlung des Romans scheinbar gar verbreiternde Graben zwischen der Aufklärung als Theoriebewegung und der tatsächlichen gesellschaftlichen Praxis wird von Pezzl als objektiver Grund und subjektive Motivation der Ereignis- und Erlebniskette gestaltet. Faustins aufklärerische Naivität wird immer wieder und immer stärker enttäuscht, bis die Handlung gegen ihr Ende eine überraschende Wendung nimmt. Dabei ist von tragender Bedeutung, dass die aufklärerischen Postulate von Toleranz, politischer Aktivität und Rationalisierung der Lebenswirklichkeit keineswegs durch die ihr kaum entsprechende Realität in Frage gestellt werden, wohl aber die Frage sich je und je stellt, warum denn die gut begründbare praktische Vernunft nicht auch tatsächlich praktisch wird. Im Folgenden kann keineswegs die Fülle der aufklärungswidrigen Erlebnisse Faustins – die im Übrigen häufig tatsächlich stattgefunden haben, Pezzl mithin einen durchaus realistischen Roman verfasst – vollständig vorgestellt werden; es muss sich auf paradigmatische Fälle, die die Frage nach einer katholischen Aufklärung kritischen reflektieren, beschränkt werden.

3.2. Katholische Gegenaufklärung Nach einigen Jahren der Erziehung durch Pater Bonifaz wird Faustin des Klosters verwiesen, weil sein Lehrer der Irrlehren durch die Klosterleitung bezichtigt wird, u. a. weil er Bücher von „Voltäre, Helvetius, Bayle und Montesquieu“ besitzt und sie mit seinem Schüler liest. Nach einem „kurzen Prozeß“ wird Bonifaz „bey Wasser und Brod in ein dunkles Loch“ gesteckt.23 Der Protagonist wird des Klosters verwiesen und begibt sich nach München, wo er Gewaltausbrüche der katholischen Bevölkerung gegen Mitglieder der 1759 gegründeten Akademie der Wissenschaften erlebt. Anschließend nimmt 22 23

Ebd., 17. Alle Zitate ebd., 22 f.

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er an den Machenschaften und öffentlichen Spektakeln des Pfarrers, Exorzisten und Wunderheilers Johann Joseph Gaßner Anteil und produziert einen gewaltigen Skandal, weil er die Scharlatanerien Gaßners aufdecken will,24 von dessen Anhängern jedoch mit körperlicher Gewalt daran gehindert wird. Schon gleich zu Beginn der Romanhandlung zeigt sich mithin, dass die Aufklärung den religiösen Fanatismus der unteren Bevölkerungsschichten nicht nur nicht erreicht, sondern von diesem mit körperlicher Gewalt bedroht und an einem ,Wandel durch VernunftR mit allen Mitteln gehindert wird. Schließlich schreibt Faustin ein kleines Buch wider die Todesstrafe „von Rechts wegen“, lässt dabei aber auch Kritik am Dogma der Jungfrauengeburt erkennen. Vor allem letzteres ruft einen derart großen Skandal hervor, dass er aus München, wo es „für Faustin gefährlich ward“, fliehen muss.25 Damit beginnt eine Odyssee, die Faustin durch halb Europa und einige nordamerikanische Gegenden führen wird, bevor er über Hamburg nach Berlin und Wien, damit aber in jene Gegenden zurückgeführt wird, die ihm als relativ aufgeklärt erscheinen. Dabei macht den ersten Teil dieser Reise, deren Fortführung stets durch die Notwendigkeit der Flucht vor religiösem Fanatismus aus dem je erreichten Ort motiviert wird, mit einigen oberitalienischen Städten, Spanien und Frankreich der katholische Teil Europas aus. Auf diesem ersten Teil der Reise begegnet er in den großen italienischen Städten, die er bis nach Neapel durchwandert, vor allem einem volksreligiösen Obskurantismus und sozialen Verwerfungen; so heißt es über Erlebnisse in Venedig: Faustin verlebte nun an der Seite seines Freundes viele Wochen ganz ruhig. Sie besuchten die Opera Buffa und Seria, und kamen allzeit weidlich bespien nach Hause; denn dies ist ein Privilegium der Nobili Pantaloni von Venedig, daß sie ganz / leur aise aus ihren Logen ins Parterre ihren republikanischen Mitbürgern auf die Köpfe und ins Gesicht spuken dürfen.26

Der Sarkasmus der in der Vorrede angekündigten Grundhaltung erübrigt einen Kommentar dieser Passage. In Neapel endlich begegnet Faustin einem Gelehrten, der ihn illusionslos über den Stand der Aufklärung in Italien ins Bild setzt: Aufklärung! Philosophie! sagte der Gelehrte. Wie können Sie diese in einem Lande vermuthen, das noch über 900 Mendikanten Nester hat und darinne so 18000 geweihte Bettler, dieQs ja sorgfältig verhindern, daß die Nazion nicht klug werde. Die Zahl der Zu Gaßner siehe u. a. H. C. Erik Midelfort, Exorcism and Enlightenment: Johann Joseph Gassner and the Demons of Eighteenth-Century Germany, New Haven, London 2005; zum ideengeschichtlichen Kontext dieses Phänomens vgl. Hans-Peter Nowitzki, „… man müste denn schon ein so apocalyptisches Auge haben, wie Bengel“. Christian August CrusiusQ ,finstre PhilosophieR, in: Frank Grunert, Andree Hahmann, Gideon Stiening (Hg.), Christian August Crusius (1715 – 1775). Philosophy between Reason and Revelation, Berlin, Boston 2021, 371 – 391. 25 Alle Zitate Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 48 – 50. 26 Ebd., 56. 24

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Selbstdenker ist unendlich klein […]. Eure kritische, und philosophische Arbeiten! sagte der Gelehrte lachend: Glauben Sie denn, daß man eine von diesen kennt; daß man auch nur die Namen eure helldenkenden GenieQs und Menschenverbesserer weiß?27

Italien ist also, selbst nach Aussage italienischer Aufklärer weder ein aufgeklärtes Land noch schon im Zeitalter der Aufklärung angekommen – und diese für Faustin bestürzende Tatsache wird vor allem auf das Wirken katholischer Orden zurückgeführt, die die Bildung und Aufklärung der Nation aktiv „verhindern“. Auch aus Neapel, wo er „die ganze Tollheit der rasenden Schwärmerei“ erlebte, muss Faustin schließlich fliehen, weil er als Aufklärer erkannt wurde und so in Lebensgefahr gerät. Aufklärung und religiöser oder politischer Katholizismus schließen sich in Italien mithin strikt aus. Faustin erlebt auf seiner Odyssee bzw. Flucht durch die katholischen Länder Europas aber auch ein scheinbar grundlegend anderes Verhältnis zur Aufklärung, und dies nicht nur in der Theorie, sondern gar in der Praxis: Seine Flucht nach Spanien gestaltet sich nämlich schon auf der Reise als eine Flucht in ein „zweites Paradis, das dort grünet“.28 Faustin begibt sich nach Andalusien, wo er Zeuge und Teilnehmer eines Peuplierungs-Experiment wird, das unter Karl III. in der Sierra Morena durchgeführt wurde, und zwar unter maßgeblicher Beteiligung südwestdeutscher Migranten.29 Pezzls literarische Reflexion auf diese realgeschichtlichen Ereignisse ist so ambivalent wie die Vorgänge selber. Tatsächlich hatte nach Regierungstritt Karls III. 1759 eine Phase der Rationalisierung der Regierungsgeschäfte und dabei insbesondere die Neuordnung der politischen Ökonomie nach den Prinzipien des Kameralismus eingesetzt.30 Zu diesen weitreichenden Aktivitäten auf staatsökonomischem Gebiet zählten auch Versuche der Peuplierung jener inländischen Gebiete, die von dem wirtschaftlichen Aufschwung, der seit Anfang des Jahrhunderts die Küstengebiete Spaniens erfasst hatte, nicht profitieren konnten: Die schwer zugängigen und zu bearbeitenden Bergregionen. Zu den prägenden Figuren dieses Versuches zählten neben Pablo de Olavide, der die organisatorische und politische Leitung des Projekts übernahm, auch Pedro Pablo Abarca, Conte de Aranda, der den Versuch vom Madrider Hof aus unterstützte. Beide Adelige verstanden sich als Aufklärer und pflegten Kontakte zu Voltaire, Diderot und weiteren Enzyklopädisten;31 in ihren politischen TheoEbd., 78 f. Ebd., 91 ff. 29 Vgl. hierzu die exzellente Arbeit von Nicola Veith, Spanische Aufklärung und südwestdeutsche Migration. Auswandererkolonien des 18. Jahrhunderts in Andalusien, Kaiserslautern 2020. 30 Siehe hierzu u. a. Beate Möller, Die spanischen Regionen im Zeitalter der Aufklärung. Literarische Darstellungen und politisch-ökonomische Reform, Bern u. a. 2019. 31 Siehe hierzu auch Christian von Tschilschke, Identität der Aufklärung / Aufklärung der Identität: Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2009. 27 28

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rien und Praktiken tendierten beide zu einem aufgeklärten Absolutismus mit physiokratischen Elementen. Pezzl lässt beide in der deutschsprachigen Aufklärung wohlbekannten Figuren32 in seinem Roman auftreten.33 Eine dritte prägenden Gestalt, der als Migrationswerber im Süddeutschland, der Schweiz und dem Elsass fungierte, war der preußische Militär Johann Kaspar Thürriegel,34 den Pezzl als Kriegskameraden und engen Freund der Vaters seines Protagonisten in die Romanhandlung einführt.35 Dabei werden nicht nur die Gründe für den Migrationswunsch der deutschen Kolonisten vor allem auf die Nachwirkungen der „großen Hungersnoth 1771“36 zurückgeführt, sondern deren Aktivitäten zur Kultivierung der Landschaft und der Gesellschaft geschildert. Für Faustin ist nach seiner Ankunft und seinem Entschluss, selbst Kolonist zu werden, ausgemacht, dass er endlich gefunden, wonach er solange gesucht und woran er schon gezweifelt hatte: Das heiß ich mir doch Aufklärung, Philosophie und Sieg der Vernunft! rief Faustin ganz entzükt. Deutsche Kolonien in dem stolzen Spanien, Kolonien von vermischten Sekten, und doch darinn kein Religionshaß, keine katholische Idioten, keine Prälaten und keine Exjesuiten. Und das in Spanien, in dem Lande, über das sich unsre Geographen, Novellisten und Reisebeschreiber so herzlich mokiren; das man uns als den Tempel der Ignoranz, des Aberglaubens, Fanatismus, der Trägheit, Dummheit und Intoleranz schildert! … Pater Bonifaz! könntest du den Schazkasten und das neue Gesezbuch für die Sierra Morena lesen, es würde dir Oel in deine Wunden seyn, würde dir deinen Kerker – wenn du noch darinn schmachten sollst – zum Paradies umschaffen.37

Die Kolonien der Sierra Morena scheinen Faustin folglich der Nachweis für die Verwirklichungsmöglichkeit der Aufklärung darzustellen, dafür also, nicht allein in einem Zeitalter der Aufklärung, sondern in einem aufgeklärten Zeitalter zu leben. Eines der entscheidenden Kriterien für dieses Urteil ist neben der Tatsache, dass verarmten und hungernden Familien eine Existenz geboten wird, die ausdrückliche interkonfessionelle Toleranz, die dazu führt, dass auch „Protestanten“ vom spanischen König zur Teilnahme aufgefordert werden.38 Zudem wird jede Form von „Mönchs- oder Nonnenkloster“ gesetzlich verboten, was für Faustin

Elmar Mittler, Ulrich Mücke (Hg.), Die Spanische Aufklärung in Deutschland, Göttingen 2005. 33 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 95 ff. 34 Siehe hierzu Alois Schmid, Johann Kaspar von Thürriegel (1722 – 1795) und seine Kolonie in der Sierra Morena, in: Alois Schmid, Katharina Weigand (Hg.), Bayern mitten in Europa. Vom Frühmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, München 2005, 228 – 241. 35 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 93 ff. 36 Ebd., 95; zu diesem Phänomen und dessen Bedeutung für die gesellschaftliche, politische und kulturelle Entwicklung Europas im späten 18. Jahrhundert vgl. u. a. Dominik Collet, Die doppelte Katastrophe. Klima und Kultur in der europäischen Hungerkrise 1770 – 1772, Göttingen 2019. 37 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 99 f. 38 Ebd., 92 ff. 32

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– „keine katholischen Idioten!“39 – ebenfalls Ausdruck aufklärerischer Gesellschaftspolitik ist. Allerdings wird sich schnell das Illusionäre des faustinschen Enthusiasmus zeigen. Zwar wird er nach seiner Ankunft durch Vermittlung Thürriegels umgehend zum Sekretär des Gouverneurs Olavide ernannt, darf auch den Briefwechsel seines Vorgesetzten mit Voltaire zur Kenntnis nehmen und rühmt mithin seinen Pater Bonifaz, der hinsichtlich des Sieges der Vernunft und der Philosophie doch recht gehabt habe.40 Schon kurze Zeit später muss er den verehrten Olavide jedoch nach Madrid begleiten und wird dort Zeuge der durch die spanische Inquisition vorgenommenen Entmachtung, Verhaftung und halböffentlichen Bestrafung des Aufklärers im Rahmen eines „Audodaf8s“. Olavide wird nämlich beschuldigt, „ein Kezer, ein Freigeist, ein Indifferentist, ein Naturalist, ein Deist und ein Atheist“ zu sein.41 In einiger Ausführlichkeit werden der Prozess gegen und das Strafgericht über den spanischen Aufklärer geschildert und als Teil der auch in Portugal mit der Entmachtung MarquHs de Pombals 1777 um sich greifenden katholischen Gegenaufklärung in Zusammenhang gebracht.42 Auch Faustin entgeht als Domestik des Grafen der peinlichen Bestrafung nicht, wird zudem des Landes verwiesen und kann seine Lebensangst erst im Angesicht der französischen Küste überwinden. Das anschießende Klagelied des Protagonisten über die Grenzen des aufgeklärten Jahrhunderts ist weniger interessant, weil nicht neu, als die Stellung der gesamten Episode um die physiokratischen Kolonien in der Sierra Morena: Erkennbar geht es Pezzl nämlich darum zu zeigen, dass die Aufklärung auch dort, wo sie sich zu verwirklichen scheint, den offenbar unüberwindlichen Kräften ihrer Gegner ausgesetzt bleibt und immer wieder unterliegt. Die Aufklärung, so Pezzls weitreichende Reflexion, muss sich seit jeher und wird sich auch künftig ihres Gegenteils erwehren müssen.43 Hatte die Aufklärung in Bayern und Italien ob der gegenaufklärerischen Haltung der Bevölkerung kaum Chancen des Überlebens als theoretische Bewegung, so ist sie auch als partiell realisierte Praxis im zeitweilig aufgeklärten Spanien kaum durchsetzungsfähig.44 Dabei wird für alle drei LänDie Formel wird häufiger verwandt, so u. a. ebd., 45, 99, 290 f., 370 u. ö. Ebd., 104. 41 Ebd., 128. Zu den realgeschichtlichen Vorgängen vgl. von Tschilschke, Identität der Aufklärung (wie Anm. 31), 219 ff. 42 Zu diesen Vorgängen siehe u. a. Kenneth R. Maxwell, Pombal. Paradox of the Enlightenment, Cambridge 1995. 43 Siehe hierzu auch Gideon Stiening, Selbstermächtigung falscher Freunde? Zu Formen historiographischer Aufklärungskritik und deren Folgen, in: Daniela G. Camhy (Hg.), Enlightenment Today. Sapere aude! – Have Courage to Use Your Understanding, Baden-Baden 2020, 25 – 41. 44 Siehe hierzu auch Ulrich Mücke, Gegen Aufklärung und Revolution. Die Entstehung konservativen Denkens in der iberischen Welt (1770 – 1840), Wien, Köln, Weimar 2007. 39

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der der Katholizismus als der entscheidende Gegner selbst einer moderaten Aufklärung inszeniert, und zwar zum einen als religiöser Fanatismus der Bevölkerung und zum anderen als politische Machttheologie des Klerus. Dabei reflektiert Pezzl nicht auf die auch zeitgenössisch bekannten autokratischen Allüren Olivades, der den Kolonien eine geradezu militärische Ordnungsstruktur aufzunötigen suchte; überhaupt mangelt es dem bayerischen Aufklärer an kritischer Distanz zu den Antinomien des aufgeklärten Absolutismus. Allerdings macht er mit Nachdruck auf die machiavellistische Willkür höfischer Einflusspolitik aufmerksam, die durch die kontingenten religiösen Vorlieben der Souveräne und ihrer Umgebung aufklärerische Lebenswerke, wie die de Pombals oder Olivades, zerstören können. Der Katholizismus firmiert in diesen ersten Episoden des Romans mithin als Herrschaftsinstrument der Gegenaufklärung.

3.3. Protestantische Gegenaufklärung Es macht die grundlegende Säkularität – nicht etwa einen Atheismus – des pezzlschen Faustin aus, dass er seine religionspolitische Analyse der stets von ihren Gegner umgebenden, durch diese verfolgten Aufklärung aus, dass er seine Kritik des gegenaufklärerischen Katholizismus durch eine Auseinandersetzung mit der protestantischen Gegenaufklärung fortsetzt. Um zu den bedeutendsten Passagen des Romans, die dieser Kritik gewidmet sind, überzugehen, ist ein großer Sprung in der Handlung erforderlich: Sowohl die bedeutende Paris-Episode45 als auch die abenteuerlichen Vorgänge um Faustins Zwangsrekrutierung für die hessische Armee und deren Verkauf nach Nordamerika sowie auch die dortigen Erlebnisse müssen hier zunächst übergangen werden. Erst bei seinem zweiten England-Aufenthalt, den er als reicher Mann antritt, bei dessen Beginn er Pater Bonifaz wiedertrifft und aus einer Gefangenschaft freikaufen kann, begegnet er einem religiösen Fanatismus im anglikanischen London, der den in Madrid erlebten katholischen Exzessen vergleichbar ist. Dabei handelt es sich um eine literarische Reflexion auf die sogenannten Gordon Riots. Zwar war Faustin schon zuvor Formen eines protestantischen Fanatismus begegnet,46 doch erst im London der Gordon Riots kommt dieser gegenaufklärerische Protestantismus zu sich selbst: Diese gewalttätigen Unruhen wüteten im Juni 1780 mehrere Tage in London; knapp 300 Menschen kamen zu Tode, mehrere hundert wurden verletzt, erst der Einsatz der Armee konnte dem Treiben

45 46

Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 151 – 187. Ebd., 226 ff.

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ein Ende bereiten.47 Auslöser dieser Unruhen war die Agitation Lord George Gordons gegen den Roman Catholic Relief Act, der 1778 verabschiedet worden war, und den britischen Katholiken einige Bürgerrechte einräumen sollte, wie das Erbrecht, das Erwerbsrecht auf Land sowie die Möglichkeit, in die Armee einzutreten. Anfang Juni 1780 marschierte Gordon mit einer Menge von mehreren zehntausend Unterstützern zum House of Parliament, um eine Petition wider das Emanzipationsgesetz abzugeben. Dieser Auftritt wuchs sich zu den erwähnten mehrtätigen Unruhen aus, die auch zur Plünderung und zu Zerstörungen katholischer Kirchen und Privathäuser führte. Pezzl lässt nun seinen Faustin und Pater Bonifaz in diesen „Protestantischen Bartholomäustag“ hineingeraten: Faustin und Bonifaz waren vor bangem Zittern so schwach, ihre Knie vor Furcht so schwankend, daß sie nur langsam von Gasse zu Gasse schleichen konnten, und mit jedem Schrei, kein Pabstthum! zu Boden getreten zu werden erwarteten. Sie kamen gegen das Parlamentshaus; und hier sahen sie vollends die größte Szene der Wuth, den vollendeten Ausbruch des Fanatism. Ueber zwanzigtausend Aufrührer mit Lord Gordon an der Spize stürmten auf das Haus los, und waren im Begriff, die Thüre einzusprengen. Eben kam eine ansehnliche Zahl geistlich und weltlicher Lords angefahren, um in das Parlament zu gehen. Die Empörer stürzten auf die Pferde hin, rissen die Parlamentsmänner aus ihren Wagen, zerstiessen, zerprügelten, quetschten und plünderten sie; forderten mit ungestümmen trozigen Gebrüll und den wildesten Drohungen, man sollte die Bille für die Katholiken wieder aufheben, oder sie würden allen den Hunden von Papistenfreunden das Herz aus dem Leibe reissen und um die Baken schmeissen.48

Faustin und Bonifaz entkommen den Gewaltorgien zunächst nur mit Mühe und Not; sie können sich zudem kurz über die Konsequenzen – weniger über die Gründe – dieses „Dämon[s] des Fanatismus“ für das Projekt der Aufklärung verständigen, und dabei bedient sich der Pater vollständig der Position Voltaires: Der leibhafte protestantische Bartholomäustag! versezte Faustin: Aber was nun zu machen? … Nichts anders, als was uns der große Voltäre bei solchen Umständen rathet, erwiederte Bonifaz: Wenn der Fanatism das Gehirn eines Volkes einmal angestekt und verpestet hat, ist die Krankheit unheilbar. Man muß fliehen und ausharren, bis die Luft wieder gereinigt ist. Der Geist der Philosophie ist das einzige Mittel, der nach und nach die Gährung wieder dämpft: Geseze und Religion vermögen nichts gegen die Pest der Seele; die Religion, statt als Panazee zu dienen, verwandelt sich in solch einem angestekten Gehirne zu eitel Gift.49

Diese Ausführungen des Pater entsprechen Voltaires Haltung zum religiösen Fanatismus ohne jede Einschränkung. Diese gründet in seinem ebenso charakteri-

Siehe hierzu u. a. Ian Haywood, John Seed (Hg.), The Gordon Riots: Politics, Culture and Insurrection in Late Eighteenth-Century Britain, Cambridge 2012. 48 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 298 f. 49 Ebd., 301. 47

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stischen wie konsequenten Verständnis von Toleranz,50 das er u. a. in seinem Philosophischen Wörterbuch entfaltet hatte. In den korrelativen Artikeln zum Fanatismus und zur Toleranz wird ersichtlich,51 dass er den Fanatismus als eine Haltung interpretiert, die abweichende Überzeugungen – auch religiöser Natur, Voltaire wählt in anderen Texten ebenfalls häufig das Beispiel der Bartholomäusnacht – nicht nur nicht akzeptiert, sondern mit gleichsam mörderischer Gewalt zu vernichten bestrebt ist: „Wer aber seinen Wahn mit dem Mord verficht, der ist ein Fanatiker“.52 Voltaire hält diesen äußersten Gegensatz zur Toleranz wie auch Pater Bonifaz für eine pathologische Abweichung von der Natur des Menschen, mithin für eine Krankheit: Wenn einmal der Fanatismus ein Hirn zerfressen hat, so ist die Krankheit fast unheilbar. […] Gesetze und Religion sind gegen solche Seelenpest nicht genug; ja die Religion, weit entfernt, eine heilbringende Nahrung zu sein, wandelt sich in den angesteckten Hirnen zu Gift. […] Auch die Gesetze sind vor diesen Wutanfällen machtlos, genauso als würdet ihr einem Tobsüchtigen ein Gerichtsurteil vorlesen. Solchen Leuten ist nicht auszureden, dass der Heilige Geist, welcher sie ganz durchdringt, über den Gesetzen throne und einzig ihr Enthusiasmus das Gesetz sei, dem sie gehorchen müssten.53

Diese psychopathologische Phänomenologie des religiösen Fanatismus lässt Pezzl seinen aufgeklärten Pater offensichtlich teilen; selbst Voltaires Vorschläge zur „Therapie“ dieser mörderischen Krankheit lässt er Bonifaz aufrufen, denn schon der französische Aufklärer hält ausdrücklich fest: Gegen diese ansteckende Krankheit gibt es kein Heilmittel als den philosophischen Geist, der, von einem Nächsten zum andern immer weiter sich ausbreitend, schließlich die Sitten der Menschen glättet und dem Rückfall in das Übel vorbeugt.54

Den entscheidenden Grund für diese These entwickelt Voltaire gegen Ende des Artikels zum Fanatismus: Die Sekten der Philosophen aber waren nicht nur frei von jener Seuche, sie waren ihr Heilmittel. Denn die Philosophie bringt es zuwege, dass die Seele gelassen wird; Gelassenheit aber ist dem Fanatismus unverträglich.55

Schon Lessing wie auch Pezzl waren diese Thesen jedoch einerseits zu naiv, weil sie genügend Philosophen kannten, denen vieles, nur nicht Gelassenheit zur VerSiehe hierzu Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003, 379 – 389. 51 Vgl. hierzu Voltaire: Art. Fanatismus, in: ders.: Kritische und Satirische Schriften, hg. von Fritz Schalk, München 1970, 603 – 606; Art. Toleranz, in: ebd., 724 – 731. 52 Ebd., 604. 53 Ebd., 604 f. 54 Ebd., 605. 55 Ebd., 605 f. 50

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fügung stand; andererseits – und vor allem – erkannten beide Aufklärer hierin einen Übergriff der psychologisierenden – also theoretischen – Vernunft auf das Feld politischer, rechtlicher und moralischer Praxis. Der Appell an die Vernunft – das zeigt nicht nur Lessings Nathan, sondern auch Pezzls Faustin – ist gegenüber religiösen oder politischen Weltanschauungen letztlich hilflos.56 Noch Voltaires Kritik der Gesetze als mangelhaften Instrumenten gegen jeden religiösen Fanatismus wird von Bonifaz zitiert: Gegenüber dem Staat und seinem gewichtigsten Instrument zur innergesellschaftlichen Befriedung, dem Recht, ist auch Voltaire explizit skeptisch eingestellt: „Gesetze […] sind gegen solche Seelenpest nicht genug“.57 Voltaire und Bonifaz setzen vielmehr auf eine innere Haltung, sie setzen auf eine Moral der Vernunft. Das sieht Pezzl aber offenbar anders: Bonifaz-Voltaire wird nämlich in den Gewaltorgien der Gordon Riots von einigen Plünderern so schwer verletzt, dass ihm der Arzt „keine drey Tage“ mehr zu leben gibt. Ausdrücklich interpretiert Faustin diesen Gewaltakt an einem ausländischen Gast in England als Bruch mit dem „Völkerrecht“, das wie alle anderen Gesetzesformen vor der „Religionswuth“ nicht bestehen könnte.58 Tatsächlich galt das ius peregrinans bzw. das Hospitalitätsrecht als hohes Gut völkerrechtlicher Theorie,59 dem allerdings, wie hier anschaulich dokumentiert, kaum Durchsetzungsmacht, und daher weder gesetzlicher noch rechtlicher Charakter zukam. Bonifaz muss also sterben; er geht an eben dem zugrunde, was er mithilfe der Philosophie der Aufklärung einzuhegen hoffte: dem religiösen Fanatismus, vor dem alle Toleranz und Volksaufklärung noch im England der frühen 1780er Jahre zunichte wird. Voltaires und damit das Aufklärungskonzept der Hochaufklärung ist hiermit gescheitert. Der untröstliche Faustin bittet daher seinen sterbenden Mentor um das Eingeständnis dieser Erkenntnis: Der Beweis ist, denk ich, stark genug, Sie zu überzeugen, daß die Intoleranz und der wilde Verfolgungsgeist noch mächtiger sey, als der Geist der Duldung und sittenmildernden Erleuchtung. Lassen Sie also Ihren Saz fahren, gestehen Sie, daß unser Jahrhundert noch nicht das Jahrhundert des siegenden Menschenverstandes sey, und erlauben Sie auch mir, nicht länger den süßen lieblichen Traum fort zu träumen, sondern aufzuwachen, und in der Ueberzeugung, daß es noch nicht allgemeiner Sieg der Vgl. hierzu auch Gideon Stiening, Toleranz zwischen Geist und Macht. Was Lessing von Voltaire lernte, in: Friedrich Vollhardt (Hg.), Toleranz-Diskurse in der Frühen Neuzeit, Berlin, Boston 2015, 331 – 362. 57 Voltaire, Art. Fanatismus (wie Anm. 51), 605. 58 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 304. 59 Siehe hierzu u. a. Oliver Bach, „At nobis contrarium videtur verum“. Das Recht auf freie Einreise als grundlegendes Völkerrecht bei Francisco de Vitoria in der Kritik Luis de Molinas, in: Norbert Brieskorn, Gideon Stiening (Hg.), Francisco de Vitorias De Indis in interdisziplinärer Perspektive, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 191 – 217. 56

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Menschheit und Vernunft sey, mich mit Vorsicht und Geduld gegen alle künftigen Unfälle wappnen.60

Der sterbende Bonifaz bittet seinen Schüler zwar flehentlich darum, nicht von dem Glauben an die Aufklärung abzurücken, und doch ändert er sein Aufklärungskonzept deutlich: Thun Sie mir das Herzeleid nicht an, sprach Bonifaz mit schwacher stotternder Stimme entgegen; lassen Sie mich den Schmerz nicht inQs Grab mitnehmen, daß Sie von meiner Lieblingsidee abtrünnig geworden; sie wird noch realisiert werden, wird bald, noch ehe man 1800 schreibt, realisirt werden, wenigst in unserm deutschen Vaterlande. Im Norden und Süden desselben leben zween Monarchen, die bald zu Stande bringen werden, daß Ihr, denen es noch ein Weilchen zu leben gegönnt ist, mit dankbarem Entzüken singen werdet: Jezt istQs allgemeiner Sieg der Vernunft und Menschheit, istQs wahres philosophisches Jahrhundert! Diese Zeit wird kommen, wird bald kommen, darauf leb ich und sterb ich.61

Nicht mehr die Hoffnung auf Durchsetzung der Vernunft beim Einzelnen, sondern die Zuversicht auf die Durchsetzung von Toleranz und Vernunft durch staatliche Souveränität rettet seine Hoffnung auf ein philosophisches Jahrhundert. Friedrich II. und Joseph II. gelten hier als Garanten jenes ,Wandels durch VernunftR, der an einer unmittelbaren Volksaufklärung zu scheitern droht. Der Pater setzt auf eine staatlich verordnete Aufklärung,62 auf das Konzept des aufgeklärten Absolutismus.63 Welche Stellung dieser Konzeption im Handlungsverlauf des Romans zukommt, soll sich im Folgenden noch zeigen; zuvor muss eine Episode der Odyssee Faustins betrachtet werden, die sich vor seiner Rückkehr nach Europa in Amerika zugetragen hatte. Sie zeigt, dass es neben der katholischen und der protestantischen Gegenaufklärung noch ganz andere Tendenzen gibt, die das aufgeklärte Zeitalter verhindern.

Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 306 f. Ebd., 307 f. 62 Dass diese Entwicklung schon frühzeitig kritisch von einer wuchtigen Gegenaufklärung begleitet wurde, z. B. durch Friedrich Heinrich Jacobi, lässt sich nachlesen bei Gideon Stiening, „Wo für Alle Einer nur Entschlüsse faßt“. Ideengeschichtliche Anmerkungen zu Friedrich Heinrich Jacobis Etwas, das Lessing gesagt hat, in: Maximilian Benz, Gideon Stiening (Hg.), Nach der Kulturgeschichte. Perspektiven einer neuen Ideen- und Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Berlin, Boston 2022, 367–400. 63 Siehe hierzu u. a. Helmut Reinhalter (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus, Wien, Köln, Weimar 2008. 60

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3.4. Sklaverei als ,wahrer AtheismusR Bevor Faustin nämlich nach England zurückkehrt, erlebt er in Übersee die Bedingungen und Erscheinungsformen des Sklavenhandels, die ihn in tiefe Zweifel nicht allein über den Stand der Aufklärung, sondern vielmehr über den Zustand der Menschheit versetzen.64 Nach der Überfahrt von Portsmouth nach New York landet Faustin nach wechselndem Geschick schwer erkrankt auf Jamaika, wo er nach allmählicher Gesundung zum Buchhalter eines „steinreichen“ Sklavenhändlers wird. Um sich ein Bild darüber zu verschaffen, „ob es denn wirklich mit dem Sklavenhandel so gar unbarmherzig hergehe, wie die meisten Reisebeschreiber berichten“,65 nimmt er als Kommissionär seines Vorgesetzten an einer Schiffspassage teil, die aus Guinea neue Sklaven nach Jamaika bringen soll. Auf dieser Reise erlebt Faustin Grausamkeiten, die alles bis dahin Erlebte in den Schatten stellen. So heißt es über die Kinder der vom leitenden Kapitän in Guinea gekauften Sklaven: Der englische Kapitän, Namens Stone-Heart, kaufte den ganzen Trupp. Die Sklavenhändler boten ihm auch die Kinder an; aber er wollte sie nicht, und so wurden die unglüklichen Geschöpfe – abscheuliche Grausamkeit – ohne weiters auf den glühenden Sand hingeworfen, wo sie sich eine Weile wie zertrettne Würmchen krümmten, und bald vor unausstehlicher Sonnenhize verschmachteten. Durch ihr Geschrei wurden ein paar hungrige Tiger herbeigelokt, und diese frassen sie in wenig Minuten vor den Augen ihrer Väter und Mütter auf.66

Faustin, der angesichts solcher „europäischer Bestialitäten“ – so der Titel des Kapitels – die Fassung verliert und den Kapitän zur Rede stellt, erhält schlicht zur Antwort, „die schwarzen Hunde“ verdienten keine andere Behandlung. Pezzl, der seine Informationen zu diesem Thema vor allem aus Raynal und Schlözer bezieht,67 referiert mit dieser Antwort auch auf die mit Rousseaus Discours sur lQorigine et les fondements de lQin8galit8 parmi les hommes anhebende Debatte über die Stellung der Afrikaner auf der Scala Naturae;68 von einigen Anthropologen Zum realgeschichtlichen Kontext des atlantischen Sklavenhandel vgl. u. a. Michael Zeuske, Sklavenhändler, Negreros und Antikkreolen. Eine Weltgeschichte des Sklavenhandels im atlantischen Raum, Berlin, Boston 2015. 65 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 265. 66 Ebd., 267 f. 67 Siehe hierzu u. a. Guillaume Raynal, Denis Diderot, Die Geschichte beider Indien, ausgewählt und erläutert von Hans-Jürgen Lüsebrink, Berlin 2013, spez. 203 ff. sowie August Ludwig Schlözer, Briefwechsel, meist historischen und politischen Inhalts, Fünfter Theil, Heft 27, Göttingen 1779, 196 f. 68 Vgl. hierzu u. a. Susanne Lettow, Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit, in: Liselotte Steinbrügge, Johannes Rohbeck (Hg.), Jean-Jacques Rousseau: Die beiden Diskurse zur Zivilisationskritik, Berlin, Boston 2015, 83 – 102, spez. 94 ff. 64

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wurde ihnen nämlich der Status des Menschen abgesprochen,69 eine für Pezzl offenkundig empörende Haltung. Auch auf der Rückfahrt erlebt sein Protagonist unerhörte Grausamkeiten an den verschifften Sklaven: So werden mitten auf dem Meer 150 von ihnen über Bord geworfen, weil der Proviant für die gesamte Fahrt nicht auszureichen scheint. Auch der Versuch einer Meuterei wird mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Selbst nach der Rückkehr nach Port Royal nehmen die Grausamkeiten an den Sklaven kein Ende, weil dort kurz zuvor ein Aufstand unten diesen ausgebrochen war, der wie folgt behandelt wird: Endlich langte man wieder in Port-Royal an. Es war kurz zuvor eine Meuterei unter dem zahlreichen Heere der dortigen Schwarzen entstanden, davon einige die Plantagen ihrer Herren angezündet, und sich in ein Gehölz geflüchtet hatten. Man machte also mit Soldaten, Jägern, Hunden und andern Negers Jagd auf sie, und zwar nicht als Lust-Partie, wie auf der Insel France, aber dafür mit desto mehr Wuth: Sie wurden wie Wildprett aufgetrieben und gehezt, und die man nicht erhaschen konnte, wurden wie Hasen niedergeschossen. Einer der Anführer, welcher seinen Aufseher erschlagen hatte, ward bei den Armen an einen Baum aufgehangen, um dort zu verhungern, und von Raubvögeln zerfleischt zu werden.70

Solchen Grausamkeiten steht Faustin wehr- und hilflos gegenüber, verfällt in Schweigen und sucht händeringend, sich von seiner Stelle als Buchhalter des Sklavenhändlers zu lösen. Bevor ihm dies gelingt, verfällt er in ein längeres Raisonnement, das als eigenes Kapitel mit dem Titel „Der Monolog“ ausgewiesen wird und seine Erfahrungen mit dem Sklavenhandel resümiert.71 Faustin scheint am Tiefpunkt seiner Hoffnungen auf einen Sieg der Vernunft angelangt. Naturrecht, Politik und Religion werden als Glasperlenspiele europäischer Denker und Institutionen kritisiert, die angesichts der Grausamkeiten des Sklavenhandels, den sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, der Menschenverachtung bezichtigt werden: Das heißt doch wohl mit dem heiligen Namen Menschheit, Naturrecht, Nächstenliebe und Religion, spielen; heißt sie aufs abscheulichste erniedrigen. In Europa lärmt und posaunt man in Einem Athem von Bevölkerung, sezt Preise auf die thätigsten Mittel zur Verminderung des Kindermords, und macht in allen Kabinetten, Antichambern und Studierstuben Projekte, Land und Leute glüklich zıı machen; und hier wirft man die unschuldigen Negerkinder in den Sand und vor die Hayfische ins Meer. Das sogenannte Vgl. hierzu u. a. Frank Dougherty, Christoph Meiners und Johann Friedrich Blumenbach im Streit um den Begriff der Menschenrasse, in: Gunter Mann, Franz Dumont (Hg.), Die Natur des Menschen. Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750 – 1850), Stuttgart, New York 1990, 89 – 111. 70 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 272 f.; zu solchen Aufständen der Sklaven auf Jamaika, die während des 18. Jahrhunderts nicht selten vorkamen, vgl. u. a. Jill Lepore, Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, München 2021, 90 ff. 71 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 274 – 279. 69

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Naturrecht und die gepriesene Menschenliebe ist wohl nur in den europäischen Büchern zu Hause.72

Säkulares Naturrecht und religiöse Menschenliebe, die beide für sich eine uneingeschränkte und uneinschränkbare, d. h. kulturhistorisch indifferente Geltung beanspruchen, müssen angesichts der Realitäten des europäischen Sklavenhandels als wirkungslos beurteilt werden.73 Die Annahme einer humanen Interpersonalität, die durch ursprüngliche, aus der natürlichen Vergemeinschaftung des Menschen erwachsenden Rechte ebenso wie aus einer christlichen Liebesethik generieren und durch die Gottesinstanz uneingeschränkt verbindlich gemacht worden seien, erweist sich durch den Umgang der Europäer mit den schwarzen Sklaven als bedeutungslos. Wer in der geschilderten Weise mit Menschen umgeht, zeigt, dass er sich weder durch Wissen noch durch Glauben, weder durch Vernunft noch durch Religion in seinem Handeln leiten lässt. Wenn solches Handeln aber überhaupt, ja gar in großem Stil möglich ist, dann muss an der Allgemeinheit von Geltung und Verbindlichkeit naturrechtlicher und liebesethischer Normen gezweifelt werden.74 Aber Pezzl geht es nicht nur um die Infragestellung rationaler oder religiöser Normativität, sondern auch und vor allem um das Aufdecken der Scheinheiligkeit des christlichen Europa, das sich zwar komplexen theologischen Problemlagen und spezialisierten Glaubenspraktiken – und das auch noch im Rahmen konfessioneller Kontroversen – befasst, zu der „schändlichen Praxis unserer Sklavenbehandlung, die schon Jahrhunderte lang fortwährt, die recht gräßlich alle Bande der Gesellschaft und Menschheit zertrümmert, und mit Füßen darnieder stampft“,75 würde jedoch allerorten geschwiegen. Im Hinblick auf diesen Vorwurf lässt Faustin keine Konfession unerwähnt: Die Königin von Portugal und die Sorbonne ebenso wie die Synode von Dortrecht oder Dänische Missionare. Selbst die „philosophischen Herren Britten“ werden ob ihrer Sklavenpolitik einer massiven Kritik unterzogen und der kurz zuvor erfolgte Aufstand der Kolonien, die Amerikanische Revolution mithin, als „Rache der Menschheit für all die Hunderttausende von Negers, welche schon unter ihnen erlagen,“ interpretiert.76 Dabei ist allerdings von entscheidender Bedeutung, dass Pezzl seinen Protagonisten vor dem Hintergrund zweifelhafter Geltung und Verbindlichkeit von Naturrecht und christlicher Liebesethik keineswegs zu einem materialistischen Ebd., 274 f. Zu dieser umfangreicheren Debatte vgl. u. a. Bernd Franke, Sklaverei und Unfreiheit im Naturrecht des 17. Jahrhunderts, Hildesheim 2009. 74 Zu deren komplexem Zusammenhang vgl. Werner Schneiders, Naturrecht und Liebesethik. Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Thomasius, Hildesheim, New York 1971. 75 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 278. 76 Ebd., 277. 72 73

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oder naturalistischen Bekenntnis führt; vielmehr zeigt sich in dieser schweren Krise des Aufklärers Faustin seine eigenen Bindung an eine wenigstens natürliche Religion, aber auch der Nachweis der Existenz des Atheismus; gleich zweimal heißt es im Laufe dieses Monologs: Wenn diese Sklavenmäkler und Sklaventyrannen keine Gottesläugner sind, dann giebts wahrlich keine mehr in der Welt. […] Diese Sklavenhändler und Konsorten, diese sind die wahren, die einzigen Atheisten.77

Unabhängig von ihrer subjektiven Selbstwahrnehmung und Überzeugung müssen für Faustin diese Menschenhändler Atheisten sein, weil sie jeden Funken an Menschlichkeit, jede Bindung an irgendeine Normativität im Umgang mit den Sklaven vermissen lassen und so zum einen die Inexistenz religiöser Normen dokumentieren – denen sie sonst nämlich Folge leisten würden – und zudem die Unsterblichkeit der Seele leugnen müssen, weil ihr Verhalten eine postmortale Aburteilung durch die Gottesinstanz sicher machte und diese drastisch ausfallen dürfte. Nur als Atheist – so Faustin – kann man derartige „Bestialitäten“ begehen.78 Neben dem Katholizismus und dem Protestantismus ist dieser menschenverachtende Atheismus die dritte Variante von Gegenaufklärung, der Faustin auf seiner Odyssee begegnet. 4. Ausblick – Josephinismus als Hoffnung auf ein aufgeklärtes Zeitalter Wie schon angedeutet, entwickelt der 1783 erschienene Roman die Möglichkeit einer positiven Alternative zu den unterschiedlichen Varianten von Gegenaufklärung, und zwar in den Formen staatpolitischer Grundlegung eines Wandels durch Vernunft im aufgeklärten Absolutismus.79 Der sterbende Pater Bonifaz hatte ihn auf diese angeblich schon erfolgte Verwirklichung der Aufklärung hingewiesen, und Faustin begibt sich folglich über Hamburg nach Berlin und Wien. Allerdings wird er schon in Hamburg, dieser „sonst sehr aufgeklärten Stadt“80 Zeuge eines protestantische Fanatismus, denn er gerät in eine Predigt des „Hauptpastor Johann Melchior Göz“, mithin des großen Gegenspielers Lessings im sogenannten Fragmentenstreit. Dieser „Petrus der lutherischen Kirche“ predigt zu dem kontrovers-

Ebd., 275 und 279. Dass sich mit dieser impliziten Atheismus-Kritik auch die analytischen Grenzen einer moderaten Aufklärung erweisen, lässt sich nachlesen bei Stiening, „Die Natur macht den Menschen glücklich“ (wie Anm. 20.), 25 ff. 79 Siehe hierzu u. a. Günter Birtsch (Hg.), Reformabsolutismus im Vergleich [Aufklärung 9.1], Hamburg 1996; Dagmar Feist, Absolutismus, Darmstadt 2008, 95 ff. 80 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 311. 77 78

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theologischen Thema „,Daß nur ein Lutheraner Gott gefällig beten könneR“ und redet sich dabei in Rage: Je tiefer der hochwürdige Mann in den Text kam, je derber floß es ihm von seiner orthodoxen Lunge. Er predigte gegen die Katholiken, gegen die Reformirten, gegen das Theater, gegen Leßing, gegen CampeQs Erziehung-Institut, und gegen alles, was nicht Gözisch war.81

Faustin begegnet also auch in dieser der Aufklärung aufgeschlossenen Stadt jenem „Sektengeist“, dem „Dämon der Verfolgung“, dem er schon in Italien, Spanien oder in England ausgesetzt war; Pezzl geht nicht soweit – wie beispielsweise John Locke82 –, diesen Fanatismus als Konsequenz jenes Alleinvertretungsanspruches zu analysieren und zu kritisieren, der jeder christlichen Konfessionen bzw. jeder Religion ebenso notwendig wie begründungslos zukommt, sondern verbleibt bei einer Psychologisierung der Akteure: Melchior Götze ist schlicht ein egomaner Autokrat, der nur ,GözischesR zu akzeptieren bereit ist. Gleichwohl erkennt er solchen Fanatismus sowohl im Katholizismus als auch in Protestantismus und setzt sich von beidem strikt ab. Klar ist dem Protagnisten seines Romans aber spätestens seit London, dass weder der Einzelne noch die Gesellschaft diesem gegenaufklärerischen Treiben der Konfessionen ein Ende setzen kann, sondern ausschließlich ein starker Staat bzw. Souverän. Ebendiesem begegnet er schon im Berlin der frühen 1780er Jahre, was sich zunächst an der intellektuellen und kulturellen Atmosphäre der Stadt abzeichnet: Je länger Faustin in Berlin war, je vergnügter ward er. Allenthalben entdekte er die wohlthätigen Folgen der philosophischen Denkungsart des grossen Monarchen, und den freundschaftlichen Hauch einer uneingeschränkten Toleranz.83

Wichtiger aber noch als dieser gesellschaftlich wirksame Geist der Aufklärung ist ihm der Wille und die Fähigkeit der staatlichen Autorität in Gestalt des aufgeklärten Monarchen, im theologischen oder religionspolitischen Konfliktfall im Sinne der Aufklärung einzugreifen. Zur Veranschaulichung dieser staatspolitischen Aufklärungsdurchsetzung bedient sich Pezzl der polemischen Darstellung des Berliner Gesangbuchstreits von 1781,84 den er wie folgt in die Handlung einführt: Ebd., 310. Vgl. hierzu John Locke, Ein Brief über die Toleranz, englisch-deutsch, übersetzt, eingeleitet und in Anmerkungen erläutert von Julius Ebbinghaus, Hamburg 21966, 46 f.: „There is only one of these wich is the true way to eternal happiness. But, in this great varierty of ways that men follows, it is still doubted wich is this right one.“ 83 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 315. 84 Vgl. hierzu u. a. Malte von Spankeren, Johann Joachim Spalding und der Berliner Gesangbuchstreit (1781), in: Journal for the History of Modern Theology / Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 18 (2011), 191 – 211. 81 82

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Mitten in dieser philosophischen Ruhe erhob sich ein Sturm, der alle Leute, die den Kopf am rechten Fleke sitzen hatten, gewaltig stuzen machte. Man sang schon seit langer Zeit in den Lutherischen Kirchen Berlins in Form eines Abendsegens mit aller gedankenlosen Gravität: Nun ruhen alle Wälder Nun ruhen Küh und Kälber Einige wohldenkende Männer arbeiteten, diese abgeschmakte geistliche Bänkelsängerei ausser Kurs zu sezen, und ein neues Gesangbuch einzuführen, dessen sich ein ehrlicher Protestant unsers Jahrhunderts nicht mehr zu schämen hätte. Dieß gab schreklichen Lärm: Vier altorthodoxe Gemeinden thaten sich zusammen, schrieen über Socianismus, insultirten das neue Gesangbuch, die Herausgeber und die Häußer derselben, und entblödeten sich sogar, ihr nonsensikalisches Gequäke unter Anführung eines fanatischen Krämers vor den Thron selbst zu bringen.85

Friedrich II. reagiert allerdings in einer Weise, die Faustin zu bislang unerhörten Lobeshymnen hinreißt: Das berühmte königliche Reskript, nach dem unter dem preußischen Monarchen „jeder glauben kann, was er will, wenn er nur ehrlich ist“,86 das die moralische Integrität der Gläubigen über die konfessionelle Diversität stellte, führt in Pezzls Roman zu einem Lob der Verbindung von Geist und Macht: Ist doch bei meiner Seele Qn hübsches Ding, wenn Philosophen Könige sind, oder Könige die Philosophie treiben. Welch paradisisches Leben könnten wir hienieden schon geniessen, wenn die sogenannten Väter der Erdvölker dächten wie der grosse Fridrich! Nein, solch einen König giebts gar nicht mehr: Hätten wir nur noch ein paar dergleichen, dann, ja dann würdQ es einmal im Ernste allgemeiner Sieg der Vernunft und Menschheit, wird es aufgeklärtes, tolerantes, wahres philosophisches Jahrhundert werden.87

Faustin bindet also den Sieg der allgemeinen Vernunft an die Durchsetzung des aufgeklärten Absolutismus in den Führungen der Staaten Europas; noch ein paar mehr Philosophenkönige wie Friedrich II., und die allgemeine Aufklärung wäre nicht mehr aufzuhalten. Dass diese Vorstellung nicht weniger naiv ist als die von Pater Bonifaz gelehrte unmittelbare Durchsetzung der Vernunft im ,zwanglosen Zwang des besseren ArgumentsR, dass vor allem dieses Konzept der Verbindung von Geist und Macht schon 1750 im Zusammenhang des desaströs endenden Aufenthalts Voltaires am Berliner Hof von der europäischen Aufklärung als unrealistisch erkennbar geworden war, weil Friedrich II. eben auch als hemmungsloser Willkürherrscher auftrat, wenn es ihm erforderlich erschien – all das wird von Pezzl verschwiegen. Angesichts des katholischen, protestantische oder selbst Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 316. Ebd., 317; vgl. hierzu auch Uta Wiggermann, Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 2010, spez. 68 f. 87 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 318. 85

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atheistischen Fanatismus scheint ihm die Autorität des aufgeklärten Absolutismus die einzig Chance auf ein Überleben der praktischen Vernunft. Das zeigt sich auch und verstärkt an der abschließenden Episode, die Faustin nach Wien führt, wo seine Odyssee endgültig endet. Hier nämlich ist „die Philosophie auf dem Thron“88, was sich weniger an der intellektuellen Atmosphäre der Stadt als an dem Reformtempo dokumentiert, das Joseph II. seit seinem Regierungsantritt 1780 vorgelegt hatte. Hierzu führt Traubach, Faustins Freund, dem er auf der Reise nach Wien erneut begegnete und mit dem er dort gemeinsam seine Leibrente verzehren will, detailliert aus: - Abstellung der geistlichen Possenspiele unter dem Name von Prozeßionen; der lächerlichen Gebetsformel und nächtlichen Andachten, wobei mehr der Aphrodite als sonst einer Heiligen geopfert ward. - Reinigung der Bücherzensur nach den beßten Grundsäzen. Die Bibliotheken der Privatleute müssen unangetastet, undurchsucht in die Monarchie eingehen. - Alle Mönchsorden werden von ihren Generalen in Rom emanzipirt, und ganz den vaterländischen Bischöfen unterworfen. Erster Geldkanal nach Rom verstopft. - Dispensasionen in Ehefachen werden an die Bischöfe gewiesen. Verbot, dieselben aus Ron zu holen. Zweiter Geldkanal an die päbstliche Kammer verstopft. - Aufhebung der päbstlichen Monate, Benefizien-Vergabungen sc. Dritter Geldkanal nach Rom abgegraben. - Plorer wird gegen MigazziQs Kabale geschüzt. Die unsinnigen Bullen In cæna Domini und Unigenitus aus allen Ritualen herausgerissen. - Toleranz-Edikte durch die ganze Monarchie. - Aufhebung des heiligen Müßiggangs der kontemplativen Mönche und Nonnen. - Juden in die Rechte der Menschheit eingesezt. - Aufhebung der Leibeigenschaft durch die ganze Monarchie. - Mönche werden zur Seelsorge angestellt, und tretten dadurch wieder in die Pflichten des Menschen ein. - Vertilgung des empörenden Eides der Bischofe für den Römischen Bischof. - Der phantastische Eid für die Unbeflektheit Maria auf immer untersagt. - Casus reservati und andre dergleichen Römische Geldschneidereien auf immer vertilgt. - Einführung protestantischer Bethäuser als ernstliche Beweise der Toleranz. - Die romantisch-kindischen Eheverlobnisse werden für nichtig erklärt.

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Ebd., 366.

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- Kirchen werden von all dem gewöhnlichen fanatischen, theatralischen, Aberglaube nährenden, unsinnigen, tändelhaften Putze gereinigt. - Vermehrung und Verbesserung der Stadt- und Landschulen. - Anwendung des Kirchenreichthums zur Unterstüzung Armer und Kranker. - Verbot der Kontretänze in Kirchen. Einführung des deutschen Kirchengesanges. - Reinigung und Verbesserung des Justizwesens.89 Tatsächlich hatte Joseph II. in kürzester Zeit eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen erlassen, die in der Tat, wie hier aufgerufen, u. a. die religiöse und kirchliche Praxis Österreichs, vor allem dessen Verhältnis zu Rom nachhaltig verändern sollte. Darüber hinaus handelt es sich um europaweit wahrgenommene Reformprozesse, die Joseph II. im Sinne eines aufgeklärten Absolutismus mit großer Energie und erheblichem Tempo seit 1780 in Gang gesetzt hatte.90 Dabei beziehen sich diese Vorgänge auf Reformen der Felder „Verfassung, Verwaltung, Justiz und Steuer, Wirtschaft, Kirche, Bildung und Schule“.91 Bis Pezzl im Frühjahr 1783 seinen Roman veröffentlicht,92 dessen Gattungswahl allein auf gewichtige kulturelle Vorgänge in Wien referiert,93 hatte der Kaiser nicht nur die Aufhebung der Zensur, die Erteilung der Bürgerrechte an Juden sowie die Unterordnung der Kirche unter den Staat einschließlich der Säkularisation der erbländischen Klöster verordnet,94 sondern auch die Leibeigenschaft abgeschafft und erste Schritte zu einer geordneten Pensionsregelung für Staatsbedienstete und deren Witwen unternommen.95 Dass Joseph II. mit seiner Reformpolitik ein Tempo vorlegte, das seine Untertanen überforderte und deshalb zumindest auch als despotisch wahrgenommen wurde, war im Frühjahr 1783 kaum zu erkennen,96 wohl aber, dass hier die PrinEbd., 371 – 374. Vgl. hierzu u. a. die exzellente Studie von Leslie Bodi, Tauwetter in Wien. Zur Prosa der österreichischen Aufklärung 1781 – 1785, Köln, Weimar, Wien 21995. 91 Helmut Reinhalter, Einleitung: Der Josephinismus als Variante des aufgeklärten Absolutismus und seine Reformkomplexe, in: ders. (Hg.), Josephinismus als Aufgeklärter Absolutismus, Köln, Weimar, Wien 2008, 9 – 16, hier 15. 92 Zu dieser Datierung siehe Grieb, Nachwort (wie Anm. 10), 119*. 93 Zur Romankultur im Wien der 1780er Jahre vgl. Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 90), 117 – 178. 94 Vgl. hierzu insbesondere Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550 – 1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, Paderborn 2015, Bd. 2, 809 – 849. 95 Zu diesen Verordnungen und Gesetzen vgl. die Quellensammlung von Harm Klueting (Hg.), Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen, Darmstadt 1995, 212 – 305. 96 Siehe hierzu Helmut Reinalter, Joseph II. Reformer auf dem Kaiserthron, München 2011, 32 ff. 89 90

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zipien der säkularen Aufklärung der politischen und gesellschaftlichen Praxis von einem Souverän verordnet wurden. Die Aussichten auf eine Verwirklichung aufklärerischer Prinzipien zog viele Anhänger dieser intellektuellen Bewegung nach Wien – so auch Mozart, der von der Aufbruchstimmung angezogen wurde und sicher war, ihr mächtige weitere Impulse geben zu können.97 Die ,weiße RevolutionR Wiens im Geiste einer moderaten Aufklärung wurde aber nicht von allen Aufklärern uneingeschränkt begrüßt,98 vor allem aber Aufklärungskritiker und Gegenaufklärer wie beispielsweise Friedrich Heinrich Jacobi, Karl von Eckartshausen99 oder Leopold Alois Hoffmann100 mussten alarmiert sein. Pezzl feiert 1783 Joseph II., den Aufklärer, jedoch noch ohne irgend Abstriche als mutigen und erfolgreichen Kämpfer wider die „Popanzen Aberglaube und Fanatism“,101 der das Reich der Finsternis endgültig besiegt habe. Dabei zeigt sich an der von Traubach aufgeführten Liste, dass Pezzl durchaus bewusst war, dass Aufklärung das Feld der Religions- und Kirchen-Kritik übersteigen können musste, und zwar in Richtung einer Rechts- und Sozialpolitik, um erfolgreich sein zu können. 5. Katholische Aufklärung – Aufklärung des Katholizismus? Gleichwohl ist der Roman vor allem religionskritisch ausgerichtet, weil sein Protagonist – und zwar gemäß dem Handlungsverlauf zu Recht – alle Formen des religiösen Fanatismus als entscheidende, aber auch gefährlichste Gegner der Aufklärung ausgemacht hatte. Gefährlich sind diese Fanatismen deshalb, weil sie zu bedingungsloser Gewalt gegen Menschen und Sachen bereit sind oder gar tendieren; gefährlich sind sie auch, weil sie sich der Vernunft grundsätzlich verschließen; aufgeklärte Menschen können, wie Voltaire und Pater Bonifaz feststellten, vor ihnen nur die Flucht ergreifen; und gefährlich sind sie letztlich, wie das Beispiel Spaniens und auch die Atmosphäre im Wien Josephs II. zeigen, weil sie selbst scheinbare Siege der praktischen Vernunft stets gefährden:

Vgl. hierzu Laurenz Lütteken, Mozart. Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung, München 2017, 76 ff. 98 Siehe hierzu u. a. Bodi, Tauwetter in Wien (wie Anm. 90), 227 ff. 99 Siehe hierzu Wolfgang Albrecht, Vom Illuminatenorden zur „Lichtgemeinde Gottes“. Karl von Eckartshausen als exponierter Repräsentant der katholisch-theosophischen Gegenaufklärung, in: Christoph Weiß, Wolfgang Albrecht (Hg.), Von ,ObscurantenR und ,EudämonistenR. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997, 127 – 154. 100 Siehe hierzu Helmut Reinalter, Gegen die „Tollwuth der Aufklärungsbarbarei“. Leopold Alois Hoffmann und der frühe Konservativismus in Österreich, in: ebd., 221 – 244. 101 Pezzl, Faustin (wie Anm. 12), 377. 97

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Die katholischen Idioten scheinen sich gegen alle Aufklärung zusammen verschworen zu haben. Sie pissen jeden an, der dem Mönchswesen, dem Aberglauben und dem Pfaffismus zu Leibe geht.102

Pezzls bemerkenswerter Roman, durchaus zu Recht als legitimer Nachfolger des Candide gefeiert, zeigt mit allen Nachdruck, dass Aufklärung gar nicht katholisch sein kann, sondern den Katholizismus ausschließlich als Widersacher oder als Gegenstand behandeln muss.

102

Ebd., 370.

K U R ZB IO GR A PH IE

Franz Xaver Bronner (1758–1850). Vom Benediktiner-Mçnch zum aufgekl-rten Wissenschaftler und Schriftsteller

Die Frage, ob und wie sich von einer Katholischen Aufklärung sprechen lässt, kann die Vita einer vielseitigen Persönlichkeit beantworten: ein Mönch spätbarocker Prägung mit poetischen Ambitionen, der seiner katholischen Herkunft und der klösterlichen Enge entfloh, um sich zu einem aufgeklärten, naturwissenschaftlich, pädagogisch und literarisch erfolgreichen Zeitgenossen zu entwickeln. Als erstes Kind des Ziegelbrenners Johannes Bronner und seiner Frau Anna Barbara wird Franz Xaver im Dezember 1758 in Höchstadt an der Donau geboren, wo er als Kind in ärmlichen Verhältnissen lebt. Seine Musikalität verhilft ihm zu einem Stipendium als Singknabe an der Höchstädter Volksschule, ab Oktober 1769 erhält er bei freier Kost und Kleidung die damals typische Schulbildung am JesuiVgl. Radspieler I, 16 ff. Vgl. Bronner, Leben I, 129 f., 204 ff., 242 f., 247., 184; vgl. Radspieler I, 30–32. 3 Vgl. Bronner Leben I, 183. 1 2

tenseminar in Dillingen.1 Durch Vermittlung eines Präfekten tritt er nach Auflösung des Jesuitenordens 1773 in das Studienseminar in Neuburg ein, das sich durch seine hervorragende Musikpflege auszeichnete. In diese Zeit wird Bronners erste heimliche Lektüre der zeitgenössischen deutschen Literatur von Gellert oder Klopstock zu datieren sein. Bronner selbst berichtet in seiner Autobiographie von der jugendlichen Begeisterung für Friedrich Hagedorn, Michael DenisQ Gedichtanthologie und nicht zuletzt von Geßners Tod des Abel sowie einer Auswahl von Idyllen,2 die ihn wohl zu ersten eigenen poetischen Versuchen angeregt haben.3 Nach einem mit Auszeichnung bestandenen Abschluss des Gymnasiums tritt Bronner im Oktober 1776 zusammen mit seinem Freund, dem späteren Abt und Historiker Cölestin Königsdorfer, in das traditionsreiche Kloster Heilig Kreuz zu Donauwörth ein. 1777 legt er dort die feierliche Profess ab und erhält den Klosternamen Boni-

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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facius.4 Wie seiner Rückschau zu entnehmen ist, hat Bronner das klösterliche Leben von Beginn an als eng und einschränkend empfunden,5 wusste aber die einzigartige Bildungsmöglichkeit zu schätzen. Die Studien im Kloster waren zunächst geprägt durch einen von vielen Jüngeren verehrten Lehrer Pater Beda Mayr (1742– 1794), der nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen und poetischen Veröffentlichungen, sondern auch durch frühe Überlegungen zur Einführung der deutschen Sprache in die Liturgie (1777) und die Union der katholischen und protestantischen Konfessionen (1778) einige Berühmtheit erlangte und dafür erwartungsgemäß harsche Kritik sowie Veröffentlichungs- und Lehrverbot einstecken musste.6 Als Belohnung für seine Studienerfolge wurde Bronner 1782 als Student nach Eichstätt geschickt, wo er dem ungeliebten klösterlichen Tageslauf entfliehen konnte, wissenschaftliVgl. Radspieler I, 37; vgl. Bronner, Leben I, 319. 5 Ebd., 157. 6 Vgl. August Lindner, Die Schriftsteller und die um die Wissenschaft und Kunst verdienten Mitglieder des Benediktiner-Ordens im heutigen Königreich Bayern vom Jahre 1750 bis zur Gegenwart, Bd. 2, Regensburg 1880, 139–141; vgl. P. Beda Mayr, Prüfung der bejahenden Gründe über die Frage: „Soll man sich in der abendländischen Kirche bei dem Gottesdienste der lateinischen Sprache bedienen?“, s.l. 1777; vgl. ders. (anonym), Der erste Schritt zur künftigen Vereinigung der katholischen und der evangelischen Kirche. Gewaget – fast wird man es nicht glauben, gewaget von einem Mönche: P.F.K. in W., s.l. 1778. 4

che und literarische Anregungen erhielt, neue Kontakte knüpfte, sich aber @ allen Warnungen seines Lehrers P. Beda Mayrs zum Trotz @ vom Illuminatenorden einnehmen ließ, der in Eichstätt florierte, ohne dessen parareligiöse Strukturen zu durchschauen. Trotz seiner wachsenden Entfremdung vom Klosterleben ließ sich Bronner 1780 zum Diakon und 1783 zum Priester weihen. Vermutlich war es die materielle Absicherung im geistlichen Stand, die Bronner zu diesem Schritt bewegte, da er so seine literarische und wissenschaftliche Laufbahn fortsetzen konnte. Wegen seiner illuminatistischen Umtriebe wurde Bronner 1783 ins Kloster Hl. Kreuz zurückbeordert, wo er sich die Freundschaft mit Mayr sowie die Gunst des Abtes verscherzte. Die zärtliche Freundschaft zu einem von ihm angebeteten Mädchen („Minchen“) gab den Anstoß zur Flucht aus dem Kloster. Statt in Rom um Dispens nachzusuchen, floh Bronner auf abenteuerliche Weise aus Donauwörth, indem er seinen Tod durch Ertrinken vortäuschte. Als Handwerksbursche verkleidet schlug er sich zu Fuß in die Schweiz durch. Sein Versuch, bei dem als Philantrop bekannten Johann Caspar Lavater materielle Hilfe und Unterstützung zu erbitten, scheiterte. Die Abkehr von Lavater brachte Bronner wohl unbewusst an die Seite der Schweizer Literaturkämpfer Bodmer und Breitinger, womit er seinen späteren schriftstellerischen Erfolg begründete. In Zürich arbeitete Bronner zunächst unter falschem Namen als Notensetzer beim

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anerkannten und zugleich umstrittenen Verlag Orell, Geßner, Füßli & Co.7 Nicht zuletzt durch seine musikalischen Fähigkeiten fand er Zugang zu der Zürcher Gesellschaft. Mit dem berühmten Maler und Idyllendichter Salomon Geßner und seiner Familie konnte er Freundschaft schließen; Geßner erkannte und förderte seine poetischen Fähigkeiten. Die Bemühungen der Diözese Augsburg, Bronner für die katholische Laufbahn zurückzugewinnen, endeten 1793 mit seiner zweiten, nun endgültigen Flucht in die Schweiz, wo er sich eines inspirierenden Freundeskreises, materieller Unterstützung sowie der gesuchten Publikationsfreiheit sicher sein konnte. Salomon Geßner hatte mit Bronners Zustimmung während seiner Abwesenheit als erste poetische Veröffentlichung die Idyllen und Fischergedichte (1787) redigiert und mit einem wohlwollenden Vorwort sowie eigenhändigen Schmuckvignetten versehen.8 Bronner konnte seinen Dank an den verstorbenen Mentor nur noch in einem elegischen Gedicht (Bronners Klagen beym Tode Salomon Geßners) abstatten.9 Schon während des Augsburger Intermezzos fasste Bronner den Entschluss, die katholische Kirche und den Klerikerstand zu verlassen, den er im Anschluss an einen Aufenthalt im Elsass realisierte, nachVgl. Bronner, Leben II, 155 f. Franz Xaver Bronner, Fischergedichte und Erzählungen, Zürich 1787. 9 Franz Xaver Bronners Schriften, Bd. 1, Zürich 1794, 235–246. 7 8

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dem er vor dem Terror der Jakobinerherrschaft erneut in die Schweiz entflohen war. Von einem neuem Selbstbewusstsein zeugen die 1794 erschienen dreibändigen Schriften mit älteren und neuen Fischergedichten sowie Erzählungen. Ein Jahr später erschien sein wichtigstes Werk, eine Autobiographie in drei Bänden, die ihm einerseits eine Rückkehr ins katholische Deutschland unmöglich machte, ihm andererseits aber zunehmendes Ansehen und ein spätes finanzielles Auskommen sicherte. Ab 1794 setzte sich Bronner als erster Redakteur der Zürcher Zeitung für Pressefreiheit und 1798 für die Revolutionsbewegung der Helvetik ein, nach deren endgültiger Niederlage und Bronners Ausweisung aus Zürich er 1802 zunächst eine Anstellung im Berner Jusitizministerium annahm, sich dann aber als Erzieher in der von patriotischen Bürgern gegründeten privaten Kantonsschule auf seine volkspädagogische Aufgabe konzentrierte und den Schülern ein breites Spektrum geistes- und naturwissenschaftlicher sowie musischer Bildung vermittelte. Aufgrund seiner verdienstvollen mathematischen Arbeiten erhielt Bronner den Ruf als Professor an die von Zar Alexander I. (1801–1825) gegründete Universität in Kasan, wo er ein nahezu ausschließlich deutsches Professorenkollegium antraf. Ein Tagebuch, das heute in der Kantonsbibliothek Aarau verwahrt wird, berichtet ähnlich lebendig und stilistisch gewandt wie seine Autobiographie über

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Kurzbiographie

die bewegte Zeit von Bronners ordentlicher Professur.10 Nach sieben Jahren kehrte Bronner, teils wegen klimatischer Unverträglichkeiten, teils wegen widriger Zustände an der russischen Universität, in die ihm nun zur Heimat gewordene Schweiz zurück, wo er an die Kantonsschule Aarau als Professor für Naturgeschichte berufen wurde, bis 1829 als Pädagoge unterrichtete und nur auf Drängen der Schuldirektion den Dienst quittierte.11 Seine Autobiographie, seine späte Heirat 1821 sowie seine eigenwilligen, inzwischen wohl als veraltet empfundenen Lehrmethoden entsprachen nicht mehr dem Ideal eines staatlichen Erziehers. Als Kantonsbibliothekar und Kantonsarchivar erlebte Bronners Arbeit große Anerkennung; er verfasste ein mathematisches Lehrbuch, sammelte eine kaum zu überblickende Fülle von Archivalien und literarischen Materialien der Kantonsbibliothek Aarau und ergänzte diese durch Neuerwerbungen. Daneben blieb er nicht nur seinem dichterischen Schaffen, sondern auch seinem naturwissenschaftlichen Interesse treu: 1833 erschienen die Lustfahrten ins Idyllenland, 1844 @ trotz einer fortschreitenden Augenkrankheit @ die Beschreibung des KanVgl. Radspieler II, 93, Anm. 11. Vgl. Radspieler II, 117. Sein MathematikLehrbuch wurde von einigen Fachkollegen sehr positiv beurteilt. 12 Helmut Schneider (Hg.), Idyllen der Deutschen, Frankfurt am Main 1978; darin das Nachwort: ,Die sanfte UtopieR, 391 f. 13 Vgl. Bronner, Leben III, 64 f. 10 11

tons Aargau, ein topographisches Standardwerk. Nach seiner völligen Erblindung 1846 entstanden noch einige Satiren, ein handschriftlich erhaltenes Gebetbüchlein für wahre Gottesverehrer und weitere Idyllen. Am 12. August 1850 ist Franz Xaver Bronner in Aarau gestorben. Bronners knapp 1600 Seiten umfassende Autobiographie von 1795 – 1797, die 1810 in einer zweiten Auflage erschien und 1902 noch einmal in einer Kurzfassung aufgelegt wurde, stellt ein wichtiges Dokument der Katholischen Aufklärung dar. Sie kann als romanhaft erzähltes Psychogramm eines ursprünglich katholisch geprägten, dann durch empirio-rationalistisches Denken und kritische Selbstreflexion gewandelten Schriftstellers sowie als Zeitdokument der literatur- und kulturhistorischen Entwicklung in Süddeutschland und der Schweiz am Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert gelesen werden. Seine poetischen Texte sind geprägt von einer Mischung aus exakter Naturbeobachtung @ vor allem bei den Fischeridyllen @ und „graziöser Niedlichkeit“12 in der Identifikation von Natur und Vernunft und dem daraus abgeleiteten moralisierenden Anspruch. Der Versuch, die Quintessenz von Kants Kritik der praktischen Vernunft in zwei Idyllen zu veranschaulichen, ist nach Bronners eigenem Urteil nicht überzeugend gelungen.13 In den Idyllen der 1790er Jahre drückt sich – wohl angeregt durch die Ereignisse in Frankreich @ die Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter aus, die sich durch den Rückzug in bürgerliche Pri-

Kurzbiographie

vatheit und eine unpolitische, kaum sozialkritische Haltung erfüllt, was seiner Dichtung später Kritik eingebracht hat. Literatur in Auswahl: Fischergedichte und Erzählungen, Zürich 1787; Schriften, 3 Bde., Zürich 1794 (Bd. 1 u. 2: Neue Fischergedichte und Erzählungen, Bd. 3: Frühere Fischergedichte und Erzählungen); Franz Xaver Bronners Leben, von ihm selbst beschrieben, 3 Bde., Zürich 1795–1797 (zitiert als ,Bronner, Leben I–IIIR); Der erste Krieg in sechzig metrischen Dichtungen, Aarau 1810; Herzog Werners von Urslingen, Anführers eines großen Räuberheeres in Italien um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, nebst einer Uebersicht der Geschichte der Herzoge von Urslingen am Schwarzwalde, Aarau 1828; Ausführliches Rechenbuch, sowohl die Grundlehren mit ihren Beweisen, als deren mannigfache Anwendung in den Geschäften des Lebens umfassend, mit vielen ganz neu bearbeiteten Beispielen und mit vergleichenden Tafeln einheimischer und fremder Maße, Gewichte und Münzen, Aarau 1829; Anleitung, Archive und Registraturen

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nach leicht faßlichen Grundsätzen einzurichten und zu besorgen, Aarau 1832; Lustfahrten ins Idyllenland. Gemüthliche Erzählungen und neue Fischergedichte, 2 Bde., Aarau 1833; Der Kanton Aargau, historisch, geographisch, statistisch geschildert. St. Gallen, Bern 1844. Fr., Ein Jesuitenzögling, in: Die Gartenlaube 1871, Nr. 3, 52–55; Ernst Zschokke, Franz Xaver Bronner; in: Aarauer Neujahrsblätter 1929, 4–16; Hans Radspieler, Franz Xaver Bronner. Leben und Werk bis 1794. Ein Beitrag zur Geschichte der süddeutschen Aufklärung, Günzburg 1963 (Diss. Erlangen; zitiert als ,Radspieler IR); ders., Franz Xaver Bronner. Leben und Werk 1794–1850. Ein Beitrag zur Geschichte der Helvetik und des Kantons Aarau, Aarau 1967 (zitiert als ,Radspieler IIR); ders., Franz Xaver Bronner, Aarau 1965 (Aargauische Bibliographie und Repertorien 1); ders., Franz Xaver Bronner. Leben und Werk 1794–1850, in: Argovia 77/78 (1965/66), 5 – 200. Elisabeth Mayrhofer

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Udo Roth/Gideon Stiening Brauchen wir eine ,Dritte AufklärungR? Eine Diskussion über Michael Hampes Plädoyer

Nach über vier Jahrzehnten poststrukturalistisch induzierter Vernunftkritik scheint das Konzept eines ,Wandels durch VernunftR1 auf den Hund gekommen zu sein. Weniger als historistisch distanzierte Epoche denn vielmehr als ,Projekt der ModerneR genießt die Aufklärung einen schlechten Ruf; als „Selbstermächtigung falscher Freunde“ ist die kritische Verabschiedung der Versuche einer sakulären Rationalität theoretischer und praktischer Couleur topisch geworden.2 Michael Hampe stellt sich mit seinem 2018 erschienenen Plädoyer für eine Dritte Aufklärung ausdrücklich und mit großem Engagement gegen diese Tendenzen. Er hält der Toterklärung oder gar Ridikülisierung eines ,Ausgangs des Menschen aus der selbstverschuldeten UnmündigkeitR in seiner populär gehaltenen Flugschrift eine Fülle von Argumenten für die Notwendigkeit und Erneuerung des Programms einer Rationalisierung und Säkularisierung der Lebenswelten im Zeitalter der Globalisierung entgegen; dabei setzt er u. a. auf Bildung als Bedingung der Möglichkeit der Ausprägung kollektiver Subjektivität: Deshalb ist eine Dritte Aufklärung, die die Möglichkeit durch Steigerung des kollektiven Bewusstseins zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte machen würde, auf eine Steigerung allgemeiner, vor allem interkultureller Bildung angewiesen.3

Hampe bindet dieses Plädoyer für eine Dritte Aufklärung an die Geschichte der Aufklärungsbewegungen in der Antike und der Neuzeit an, unterscheidet aber deren aus seiner Sicht prägende Aspekte, indem er die erste, mit Sokrates zu verbindende Phase als „argumentative Revolution“, die zweite, das 17. und 18. Jahrhundert prägende als „wissenschaftliche Revolution“ und die anzustrebende dritte Vgl. hierzu Georg Schmidt, Wandel durch Vernunft. Deutsche Geschichte im 18. Jahrhundert, München 2009. 2 Vgl. hierzu Gideon Stiening, Selbstermächtigung falscher Freunde? Zu Formen historiographischer Aufklärungskritik und deren Folgen, in: Daniela G. Camhy (Hg.), Enlightenment Today. Sapere aude! – Have Courage to Use Your Understanding, Baden-Baden 2020, 25 – 41. 3 Michael Hampe, Die dritte Aufklärung, Berlin 2018, 20. 1

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Ausprägung, die durch eine kollektive Beteiligung an der Geschichte konstituiert werden sollte, als Aufgabe einer „kollektiven Beteiligung an der Geschichte“ bestimmt.4 Der Autor spart nicht mit Polemik, so gegen den „postmodernen Abgesang auf Wahrheit und Aufklärung“,5 aber auch gegen die Vorstellungen von einem gesetzförmigen Geschichtsverlauf, den er als Mythos abqualifiziert; er sieht auch „Schattenseiten der Aufklärung“, die in der Hoffnung auf unbegrenzte Technisierung neue ,UnmündigkeitenR und Heilserwartungen produziere. Zugleich setzt er ein Aufklärungsverständnis voraus, das er als „Vermeidung von Grausamkeiten“, als Erzeugung von menschlichem Leid durch Menschen bestimmt und damit gegenüber ambitionierteren Konzepten, so dem Kants, deutlich herabstuft. Überhaupt durchzieht eine subkutane Kant-Kritik den Text, wenn u. a. das Projekt eines ,Ewigen FriedensR zum Mythos erklärt wird, ohne zu berücksichtigen, dass das in Kants gleichnamigen Text von 1795 nicht nur schon Realitäten geschaffen, sondern mit dem regulativen Ideal einer globalen Umsetzung von Rechtsstaatlichkeit kaum an Aktualität verloren hat. Michael Hampe hat folglich, so scheint uns, einen bedenkenwerten, diskussionswürdigen Aufruf verfasst, dem allerdings bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde; dies soll die folgende Kontroverse ändern. Die nachfolgenden Stellungnahmen versuchen daher ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung mit Hampes Plädoyer die Frage zu beantworten, ob es tatsächlich einer ,Dritten AufklärungR bedarf und ob die von Hampe vorgeschlagene Konzeption tragfähig ist. Dabei liegt der Fokus auf der systematischen Problemlage der Möglichkeiten, Notwendigkeiten oder gar Wirklichkeiten einer ,Dritten AufklärungR, die anhand einer kritischen Sichtung der hampeschen Argumente auszuführen ist – wobei daran zu erinnern ist, dass „Kritik“ nach Kant ein Verfahren darstellt, dem sich „alles unterwerfen muß“.6

Ebd., 70. Ebd., 68. 6 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe hg. von Raymund Schmidt. Mit einer Bibliographie von Heiner F. Klemme, Hamburg 31990, A XI. 4

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Rudolf Meer/Josef Hlade Auf der Suche nach dem besten aller möglichen Weltverbesserungsvorschläge Michael Hampes Plädoyer für eine Dritte Aufklärung1

I. Michael Hampe entwickelt in seinem 2018 erstmals publizierten Essay ein Plädoyer für eine Erneuerung der Aufklärungsbewegung und formuliert darin einen dringenden Appell: „Alles hängt davon ab, wie wir uns an der Entwicklung der Welt beteiligen, inwieweit wir wagen, aufgeklärte Praktiker und nicht lediglich Diagnostiker und Beobachter zu sein.“2 Den Kristallisationskeim sieht er dabei in der „Bekämpfung der Grausamkeit, um den herum sich die Bewegungen der Aufklärung in vielen Teilen der Welt zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt haben“.3 Hampes Essay reiht sich damit in eine Serie von Flugschriften ein,4 in denen in populärwissenschaftlichem Stil engagiert für eine Verbesserung des Status quo eingetreten wird – getragen von der Hoffnung, damit auf ein aufgeklärtes Publikum zu stoßen. Der eigentliche Held der Abhandlung ist John Dewey.5 Hilary Putnam hat 2001 in seinem Buch Enlightenment and Pragmatism den Begriff der Dritten Aufklärung geprägt und auf Dewey angewandt. Er charakterisiert damit einen StandMichael Hampe, Die Dritte Aufklärung, 2. Auflage, Berlin 2019. Ebd., 81. 3 Ebd., 29, weiterführend siehe Michael Hampe, Grausamkeit, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 43 (2018), 113 – 132. 4 Hier sei exemplarisch nur St8phane Fr8d8ric Hessels, Indignez-vous!, Paris 2010 erwähnt. 5 Vgl. John Dewey, Erfahrung und Natur, Frankfurt am Main 1995, 60, siehe dazu auch Michael Hampe (Hg.), John Dewey, Erfahrung und Natur, Berlin, New York 2017 (Klassiker Auslegen); ders., John Dewey, in: Handbuch Kulturphilosophie, hg. von Ralf Konersmann, Stuttgart 2012, 110 – 114; ders., Philosophie als Therapie. Das Beispiel von Deweys kritischem Pragmatismus, in: Formen und Felder des Philosophierens, hg. von Eva Schürmann, Sebastian Spanknebel und H8ctor Wittwer, Freiburg im Breisgau 2017, 60 – 77. 1

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punkt, den Hampe weiterzuentwickeln versucht. Wie Dewey den Dualismus von Geist und Körper, Erfahrung und Natur als „Produkt einer unakzeptablen, weil undemokratischen hierarchischen sozialen Ordnung, für eine Quelle von Irrtümern und Verwirrungen sieht“,6 argumentiert Hampe für eine soziale Wirklichkeit („Welt“), die eine Mischung aus Gesetzmäßigkeit und Zufall ist und aus der entsteht, was „wir Menschen gemeinsam tun“.7 Die Forderung nach einer Dritten Aufklärung wird dabei im Spannungsfeld von „postmoderne[m] Abgesang von Wahrheit“8 sowie der Vorstellung eines gesetzmäßigen Geschichtsverlaufs positioniert. Denkerinnen und Denker unterschiedlicher Couleur – wie Oswald Spengler, Martin Heidegger, Michel Foucault, Francis Fukuyama und Jean-FranÅois Lyotard, um nur einige im Buch angesprochene zu nennen – haben im 20. Jahrhundert immer wieder der Krise der Moderne das Wort gesprochen und sind dabei nicht müde geworden, die Distanz der Aufklärungsepoche zur Gegenwart deutlich zu machen sowie deren Verfehlungen zu katalogisieren. Was davon geblieben ist, sei lediglich eine pervertierte Form, die andere Seite der Aufklärung, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer schon in den 1940er Jahren festgestellt haben. Beiden Modellen gemeinsam, so Hampe, ist ein „unaufgeklärte[r] Zug in der Geschichtsbetrachtung“.9 Die unhinterfragte Voraussetzung sei dabei eine mögliche Totalität der Geschichte, die es erst erlaube, deren Wendungen im Detail zu beschreiben. Handelt es sich dabei großteils um Verkehrungen alter heilsgeschichtlicher Erzählungen – an die Stelle des Fortschrittsglaubens tritt die Vorstellung vom Ende der Geschichte –, ist diese Verkehrung selbst nicht weniger theologisch: „All diese Erzählungen haben gemeinsam, dass sie einen unwandelbaren Motor der Geschichte, ein Kalkül oder einen Mechanismus, der das politische, soziale und kulturelle Geschehen steuert, voraussetzen und ein Ziel aller Entwicklungen zu kennen glauben, unabhängig davon, wie sich die Menschheit als Kollektiv verhalten wird.“10 Hampes Essay bildet das beste Beispiel dafür, wie trotz bzw. aufgrund dieser Aufklärungskritik mutig für ein Sapere aude und die damit verbundene Forderung nach einer Erneuerung der Aufklärungsbewegung eingetreten werden kann. Zentrale Ausgangsbasis ist dabei, die Aufklärung nicht als abgeschlossene Epochenbezeichnung, sondern als andauernden Prozess zu begreifen: „[D]ie Aufklärung ist eine Bewegung, die immer wieder erneuert werden muss, wenn sie sich erhal6 7 8 9 10

Michael Hampe, Einleitung, in: John Dewey, Erfahrung und Natur (wie Anm. 5), 3. Hampe, Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 79. Ebd., 68. Ebd., 74. Ebd., 76.

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ten oder nach Unterbrechungen fortgesetzt werden soll.“11 In doppeltem Sinne verstehen sich, nach Hampe, Aufgeklärte daher der „Geschichte, auch der Geistesgeschichte, nicht einfach ausgesetzt, sondern betrachten sich als Mitspieler in ihr“.12 Im Gegensatz zu bloßen Theoretikern, die ihre Rolle auf das Zusehen und Diagnostizieren reduzieren, sind sie Pragmatiker, die (mit-)gestalten. Diese Form des Gestaltens hat sich nach Hampe in drei Wellen manifestiert, die er als drei Formen der Aufklärung beschreibt: Die erste, deren wichtigster Protagonist Sokrates war, lässt sich demzufolge als „argumentative Revolution“13 kennzeichnen. Dabei werde in Konfliktsituationen das Argument gegenüber der Gewalt als die bessere Lösungsstrategie erkannt.14 In der zweiten handelt es sich um eine Bewegung, die zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert stattgefunden habe und deren Errungenschaft in einer „wissenschaftlichen Revolution“15 liege. Dieser zufolge sei der Mensch nicht gänzlich natürlichen und sozialen Mächten ausgeliefert, seine Vernunft erlaube ihm vielmehr einen Weg der Emanzipation.16 Die dritte Aufklärung habe nun die Geschichtsmythen der Zeitdiagnostiker, seien sie heilsgeschichtlich oder dialektisch, zu entlarven und durch eine beteiligte Sicht des Subjekts – dem individuellen wie dem kollektiven – zu ersetzen. Dabei sei die Erkenntnis zu realisieren, dass sowohl Zufälle wie Notwendigkeiten, aber auch menschliche Absicht die Wirklichkeit beeinflussen.17 Die Herausforderung einer Dritten Aufklärung liegt Hampe zufolge in der Forderung, „[k]ollektives Subjekt der eigenen Geschichte zu werden“.18 Aufklärung sei demnach eine „konkrete kollektive Bewegung und Anstrengung von Menschen“.19 Dabei könne nur ein gemeinschaftliches bewusstes Handeln „Menschen zu Subjekten der Geschichte machen, anstatt deren Opfer zu sein“.20 Hampe plädiert folglich für einen anthropologischen Konstruktivismus und setzt diesen gegenüber einem anthropologischen Essenzialismus ab.21 Die zentralen Mittel für diesen Kampf um Ankerkennung und Entfaltung des Menschen sind dabei: Erstens Bildung, deren primäres Ziel der Erwerb von Kreativität sein soll, durch den individuelles Leben zu einem sinnvollen wird und Ge11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

Ebd., 66. Ebd., 68. Ebd., 70. Vgl. ebd., 11. Ebd., 70. Vgl. ebd., 11. Vgl. ebd., 12. Ebd., 17. Ebd., 67. Ebd., 17. Vgl. ebd., 21.

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meinschaften eine kulturelle Gestalt gegeben wird.22 Zweitens ein Bewusstsein für die Auswirkung technischen Wandels auf die Normen des Wissens.23 Dies ermögliche drittens eine Kultivierung von Wahrheitspraktiken,24 die viertens ein globales Bewusstsein erlauben, durch das gemeinsame kulturelle Ziele entwickelt werden können.25 Alle vier Bereiche zählen zu den Forschungsschwerpunkten des Autors in den letzten zehn Jahren. Hampes Engagement für die Notwendigkeit einer Erneuerung des Programms einer Rationalisierung und Säkularisierung der Lebenswelten im Zeitalter der Globalisierung ist uneingeschränkt Achtung anzuerkennen: Es braucht tatsächlich eine Bewegung der Aufklärung – eine Erneuerung der Bewegung. So ehrwürdig dieses Ziel aber auch ist, so problematisch ist ihre konkrete Bestimmung, die richtige Weise ihrer Umsetzung und eine Klärung ihrer theoretischen Voraussetzungen – Elemente, die konkreten Einfluss auf das tatsächliche Handeln der Menschen haben. II. Was dem Plädoyer für eine Dritte Aufklärung fehlt, ist eine Antwort auf die Frage nach dem Wie eines solchen von Hampe intendierten Subjekts der Geschichte. Der Autor weist dabei selbst auf eine zentrale Schwierigkeit hin, die in einer Paradoxie besteht: Demzufolge bildet Autonomie ein Ideal der Aufklärung, der Mensch ist aber nicht per se autonom, sondern muss zur Autonomie erzogen werden: „Sich selbst zu erziehen, scheint jedoch bereits Autonomie vorauszusetzen, so dass wir es hier mit einer Paradoxie zu tun zu haben scheinen“.26 Eine andere Formulierung dieser Paradoxie findet sich in der Feststellung, dass man sich bereits Vgl. ebd., 83; siehe auch Lukas Feldhaus, Michael Hampe, Norman Sieroka, Rainer Wallny, Warum lernen wir das eigentlich?, in: Polykum 8 (2015), 10 – 12. 23 Hampe, Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 15; siehe dazu auch ders., Gibt es eine Dialektik der Informationstechnologie? Zum Verhältnis von Wissenschaft und Aufklärung, in: Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift 1 (2018), 149 – 162. 24 Hampe, Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 84; siehe auch ders. (Hg.), Wahrheitspraktiken, in: Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Heiner Hastedt, Bielefeld 2019, 49 – 66; ders., Wahrheitspraktiken. Über das Leiden an Unwahrheit, in: Information Philosophie 47 (2019), 8 – 21. 25 Michael Hampe, Nachdenken über die Welt. Erklären und Erzählen in der Kosmologie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40 (2015), 213 – 229; ders., Philosophy and Evolution, in: Epistemological Dimensions of Evolutionary Psychology, hg. von Thiemo Breyer, Berlin 2015, 1 – 18; ders., Thinking about the World. Explanation and Narration in the Cosmology, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 40 (2015), 213 – 229; ders., Wir Menschen, in: Orientierung am Menschen: anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, hg. von Oliver Müller und Giovanni Maio, Göttingen 2015, 144 – 162. 26 Hampe, Die Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 23. 22

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von der „Gewalt und Grausamkeit als Mittel der Auseinandersetzung distanziert haben [muss], um sich davon überzeugen lassen zu können, dass es besser ist, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen als mit Waffen“.27 Gegenüber Argumenten unzugänglichen Personen kann man sich folglich auch als Freund der Argumente nur mit Gewalt wehren. Hampe benennt damit eine zentrale Schwierigkeit im Selbstverständnis bzw. der Selbstlegitimation kritisch gewandter Formen der Aufklärung bzw. einer Aufklärung der Aufklärung.28 Dieser zufolge versteht sich der Prozess der Aufklärung nicht mehr nur als Vermehrung von Wissen und Fortschritt oder als Forderung nach mehr Toleranz, mehr Emanzipation etc., sondern als prinzipiengeleitete Methodik, das heißt als eine spezifische Form des Wissens. Eine kritisch gewendete Aufklärung richtet sich demnach auch gegen die Aufklärung selbst, wodurch ihr Prozess selbstreflexiv29 wird. Das Fehlen eines gegenständlichen Resultats der Aufklärung überwindet folglich die Historizität ihrer Erscheinung (als Epoche), führt aber gleichzeitig zu einem immanenten Legitimationsproblem. Letzteres besteht in der obig von Hampe benannten Paradoxie, die in einem Begründungszusammenhang zu einem argumentativen Zirkel werden kann und sich noch allgemeiner wie folgt ausdrücken lässt: Aufklärung ist „immer schon verfasstes Denken“30 und als solches nie einer letzten Rechtfertigung unterziehbar. Dies hat zur Folge, dass Aufklärung entweder eine Bewegung darstellt, die auf die Rechtfertigung ihrer Prinzipien verzichten muss und sich damit lediglich an Gleichgesinnte richtet, oder sich selbst bzw. ihre Prinzipien an die Stelle der alten Despoten setzt. Eine vernünftige Rechtfertigung wäre demnach zirkulär, da sie voraussetzt, was erst zu beweisen ist; eine unvernünftige wäre überhaupt keine Rechtfertigung.31 Dabei handelt es sich um einen Argumentationszusammenhang, der im Kontext der Gegenaufklärung zum scheinbar durchsetzungsfähigsten Einwand avanciert.32 Hampe löst diese Paradoxie für eine Dritte Aufklärung durch den metaEbd., 45. Ebd., 33; siehe dazu auch Gunnar Hindrich, Die aufgeklärte Aufklärung, in: Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, hg. von Heiner F. Klemme, Berlin, New York 2009, 51. 29 Axel Hutter, Das Interesse der Vernunft. Kants ursprüngliche Einsicht und ihre Entfaltung in den transzendentalphilosophischen Hauptwerken, Hamburg 2009, 72. 30 Hindrich, Die aufgeklärte Aufklärung (wie Anm. 28), 51. 31 Onora OQNeill, Aufgeklärte Vernunft. Über Kants Anti-Rationalismus, in: Die eine Vernunft und die vielen Rationalitäten, hg. von Karl-Otto Apel und Matthias Kettner, Frankfurt am Main 1996, 207. Hindrich, der diese Argumente in extenso ausbreitet, wendet sie im Gegensatz zu OQNeill zu Unrecht gegen die Philosophie Kants. 32 Zur Geschichte der Gegenaufklärung und Instrumentalisierung dieser Argumente siehe Gideon Stiening, Selbstermächtigung falscher Freunde? Zu den Formen historiographischer Aufklärungskritik und deren Folgen, in: Enlightenment Today. Sapere aude! – Have Courage to Use Your Own Understanding, hg. von Daniela Camhy, Baden-Baden 2019, 129 – 141. 27 28

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physikkritischen Verzicht auf jegliche Rechtfertigung und setzt ganz in pragmatischer Manier bloß auf ein Arbeitswissen ihrer Akteurinnen und Akteure. Er setzt das Projekt der Aufklärung damit aber dem Relativismus aus, der für diese schädlich ist. Es stellt sich daher die Frage, ob mit der zu Recht erhobenen Metaphysikkritik Aufklärung als prinzipiengeleitetes Denken noch möglich ist bzw. ob sich im Rahmen aufklärerischen Denkens ein Prüfstein aller Rechte und Ansprüche formulieren lässt, ohne dem an die alten Vormünder gerichteten Vorwurf des Despotismus ausgesetzt zu sein bzw. in die alte Metaphysik zurückzufallen. Sollte dem nicht so sein, dann bildet die Logik der Pragmatiker, wie Hampe sie propagiert, den besten aller möglichen Weltverbesserungsvorschläge. Der Preis ist allerdings, dass jede Generation und jeder Landstrich seine eigenen Grausamkeitsvermeidungsstrategien auszuarbeiten haben wird. Sollte aber eine Rechtfertigung möglich sein, die sich nicht im Dickicht metaphysischer Scheinschlüsse verliert, dann ist sie der pragmatischen Argumentationsstrategie vorzuziehen, da durch sie ein über Generationen gespanntes Projekt der Aufklärung denkbar wird.

III. Wie lässt sich von Aufklärung als rational begründetem Projekt sprechen, ohne im bloßen Meinungsstreit auf der einen oder anderen Seite eine prägnante Figur zu machen? Ein Blick in die vom Autor als zweite Aufklärung gekennzeichnete Bewegung weist dabei durchaus tragbare Konzepte auf. Deren wichtigster Vertreter, Immanuel Kant, beginnt die Kritik der reinen Vernunft in der ersten Auflage von 1781 mit folgender Feststellung: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal […]: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“33 Kant schließt sich darin erstens an die in der Aufklärung geübte Kritik an Thron und Altar an, indem er die Menschen als Vernunftwesen bestimmt, welches durch Fragen belästigt wird, für die das scheinbare Wissensmonopol und die Machtansprüche von Kirche und Staat zu kurz greifen. Zweitens versteht er den Prozess der Aufklärung allerdings nicht nur als Prozess des Fortschritts, sondern als Kritik an der Vernunft – ihrer Grenzen und Möglichkeiten. Das besondere Schicksal der Vernunft, dass sie von Fragen belästigt wird, auf die sie keine Antwort hat, erlaubt es Kant demnach, ein regulatives Wissen zu etablieren. Dieses ist methodisch von einem mehrstufigen Konzept geprägt: In Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910, A VII. 33

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einem ersten Schritt wird dabei ausgehend von „mehreren besonderen Fälle[n], die insgesamt gewiss sind“,34 anhand des Prinzips der Homogenität auf eine allgemeine Regel geschlossen. Beabsichtigt wird, über die Erfahrung hinaus „Einheit in die besondere Erkenntnis zu bringen“.35 Daran anknüpfend wird in einem zweiten Schritt, ausgehend vom Prinzip der Spezifikation, von dieser erschlossenen allgemeinen Regel wiederum auf die Fälle zurückgeschlossen. Dadurch können diese Einzelfälle von dieser her geprüft und Zusammenhänge sichtbar gemacht werden. Das Prinzip der Kontinuität garantiert dabei einen systematischen Zusammenhang zwischen der allgemeinen Regel und ihren Fällen, wodurch, ausgehend von der allgemeinen Regel, drittens auf jene Fälle, „die auch an sich nicht gegeben sind“,36 geschlossen werden kann. Kant entwickelt damit eine reziproke Beziehung zwischen einer allgemeinen Regel und besonderen Fällen, die in der Kritik der Urteilskraft als transzendentale Struktur der reflektierenden (teleologischen) Urteilskraft beschrieben wird. Das Unbedingte wird dabei als Vernunftidee problematisch aus der Mannigfaltigkeit der Verstandeserkenntnis erschlossen, um für diese wiederum einen „Probierstein der Wahrheit“37 zu bilden. Die Vernunft ist damit nicht als etwas gegeben, sie ist Aufforderung für alle vernunftfähigen Wesen und damit unerlässliche Pflicht. Es gibt folglich kein Unbedingtes ohne Erfahrung, vielmehr wird dieses aus der Erfahrung heraus heuristisch entworfen. Im Zuge dessen ist die Vernunft wiederum „unvermeidlich und nicht viziös“38 und erlaubt eine kritische Alternative gegenüber dem Wissensanspruch der Priester und Monarchen. Gewonnen wird dadurch eine positive Definition einer Aufklärung der Aufklärung, die sich nicht nur gegen etwas richtet wie die Bestimmung als Grausamkeits- bzw. Gewaltvermeidung, sondern mit dem Anspruch eines eigenen Ideals auftritt. Anstatt der bloßen Konstatierung der „Allgegenwart der Grausamkeit in menschlichen Gesellschaften“39 bzw. der Analyse einer Disposition zur Grausamkeit im Menschen eröffnet dies die Möglichkeit einer heuristisch entworfenen Utopie, die als Regulativ das Denken anleitet.

Ebd., A 646/B 674. Ebd., A 647/B 675. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Reinhardt Brandt, Kants Vernunftbegriff, in: Vernunftbegriffe in der Moderne, hg. von Hans Friedrich Fulda und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart 1994, 177 f. 39 Hampe, Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 57. 34

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IV. Hampe selbst hebt die Ungleichzeitigkeit der Aufklärung in verschiedenen Landstrichen und Kulturen hervor. Zudem betont er zu Recht die Aufklärung als epochenübergreifendes Projekt und nicht als zeitlich begrenztes Ereignis.40 Die Chronologie der Aufklärung in drei Etappen ermöglicht der Leserin bzw. dem Leser demnach einen Überblick über die wichtigsten Errungenschaften aufklärerischen Denkens. Sie verstellt aber auch die Einsicht in die räumliche und zeitliche Ungleichheit der Aufklärungsbewegungen. Diese gerät aufgrund einer Reduktion bzw. dem (mehr oder weniger) willkürlichen Zusammentragen von zwei bzw. drei Ereignissen aus dem Blickfeld, insbesondere wenn von einer Globalgeschichte ausgegangen wird – was der Autor intendiert – und nicht einem Eurozentrismus. Welche methodische Orientierung aber bleibt dem Menschen, der sich zum Subjekt seiner Geschichte zu machen versucht, ohne sich selbst wieder im Fatalismus der gesetzlichen Entwicklung zu verlieren? Wieder gibt die zweite Aufklärung dafür brauchbare Hinweise: Aus dem scheinbar ahistorischen Projekt der Kritik der reinen Vernunft gewinnt Kant nämlich Leitideen zu einer Philosophie der Geschichte.41 Dabei gilt sein Interesse nicht der geschichtswissenschaftlichen Methodik oder der Darstellung von Fakten, sondern er generiert einen „Leitfaden a priori“,42 der zwei Aufgaben zu erfüllen habe: Er soll einerseits Auswahlkriterien geben, „um diese Menge des historischen Wissens, die Fracht von hundert Kameelen, durch die Vernunft zweckmäßig zu benutzen“,43 da die Historiographie ansonsten unter der „Last der Geschichte“44 ersticke. Andererseits beabsichtigt Kant mit diesem Leitfaden einen „regelmäßigen Gang“45 zu entdecken, an dem die „stetig fortgehende, obgleich langsame Entwicklung der ursprünglichen Anlage“46 der menschlichen Gattung sichtbar wird. Die Philosophie der Geschichte handelt daher von regulativen Ideen, die uns „zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens im Großen Ebd., 66. Zur werkgeschichtlichen Entwicklung von Kants Philosophie der Geschichte siehe Rudolf Meer, Der transzendentale Grundsatz der Vernunft. Funktion und Struktur des Anhangs zur Transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft, Berlin, New York 2019, 245 – 259. 42 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, hg. von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910, AA 08, 30. 43 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910, AA 07, 227. 44 Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte (wie Anm. 42), AA 08, 30. 45 Ebd., 17. 46 Ebd. 40 41

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als ein System darzustellen“.47 Ihr Ziel ist die Suche nach einer Ordnungsstruktur, nach einer Perspektive, aus der die Geschichte sinnvollerweise betrachtet werden kann. Dabei sei es mit dem „Lauf menschlicher Dinge“48 ebenso bestellt wie mit der Bewegung der Planeten: Werden letztere von der „Erde aus gesehen“,49 scheint deren Bewegung lediglich chaotisch – „bald rückgängig, bald stillstehend, bald fortgängig“.50 Werde dagegen hypothetisch der „Standpunkt […] von der Sonne aus genommen“,51 gehen sie, der kopernikanischen Hypothese folgend, beständig ihren regelmäßigen Gang. Kant wendet sich demnach – und antizipiert damit bereits Hampes Forderung – gegen eine Totalität der Geschichte, aus der heraus der Lauf der Ereignisse in seinen Wendungen deduziert werden könne, ermöglicht aber mit der regulativen Annahme von Leitideen einen Prozess der Reflexion und Standortbestimmung sowie die Möglichkeit, aktiv in den Prozess der Geschichte einzugreifen. Aufgrund seiner undogmatischen Herangehensweise bildet Kants Leitfaden einer Philosophie der Geschichte daher eine Opposition zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels groß angelegtem Projekt der Entfaltung der Vernunft oder Karl MarxQ Historischem Materialismus, die noch zu wenig im Fokus der Forschung steht. V. Bildung war und ist für alle Formen der Aufklärung der zentrale Schlüssel – . Am Bildungsbegriff lässt sich daher noch einmal in concreto die Notwendigkeit einer kritischen Instanz für eine gesetzmäßige Bestimmung der Aufklärung diskutieren. Hampe führt Bildung als das zentrale Mittel ein, um, auf dem technischen Wandel basierend, Wahrheitspraktiken zu kultivieren, die ein globales Bewusstsein ermöglichen. Im Bildungsbegriff selbst verbirgt sich allerdings wieder in enger Verbindung mit dem Autonomiebegriff die obig skizzierte argumentative Struktur des Zirkels, den auch Hampe sieht: Die Kultivierung eines kritischen Subjekts, das Akteur der Geschichte werden will, setzt einen Bildungsprozess voraus. Bildung braucht wiederum Institutionen und Autoritäten, die den Bildungsprozess anleiten und denen anfänglich unbegründetes Vertrauen entgegengebracht werden muss, um ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln. Aufklärung basiert folglich auf der sensiblen „Balance von Vertrauen und Kritik“.52 Oder anEbd., 29. Immanuel Kant, Streit der Fakultäten, hg. von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1910, AA 07, 83. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Hampe, Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 24. 47 48

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ders formuliert: Der Weise ist sich über sein Nichtwissen bewusst, aber schon der Beginn des Bildungsprozess ist untrennbar mit der Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit verbunden. Insofern ist das Resultat des Bildungsprozesses immer schon vorausgesetzt, um in den Bildungsprozess einzutreten. Unbeantwortet bleibt in Hampes Analyse, warum die immer schon vorbestimmten Wege der Erziehung Autonomie und Selbstständigkeit garantieren sollen. Ließe sich nicht mit Blick auf das Bildungswesen mit gleicher Berechtigung davon sprechen, dass Absolventinnen und Absolventen mit zunehmendem Bildungsgrad Teil einer Elite werden, die anhand von Immunisierungsstrategien ihre Machtansprüche bekräftigt und institutionalisiert? Dies gilt insbesondere, weil die Bildungsinstitutionen ebenso von der großen Erzählung des Marktes unterlaufen sind wie alle anderen Unternehmen, die wirtschaftlich geführt werden. Dabei bilden die Schulen genauso wenig eine Ausnahme wie die an Leistungsvereinbarungen gekoppelten und unter Konkurrenzdruck stehenden Universitäten. Es stellt sich daher die Frage, anhand welcher Kriterien sich eine Unterscheidung zwischen der „Steigerung von Karrierechancen, d[er] Suche nach Gewissheit, d[em] Speichern von Informationen oder eine[r] abstrakte[n] Entscheidungskompetenz“53 und dem „Erwerb einer Kreativität, die das individuelle Leben zu einem sinnvollen zu machen und Gemeinschaften eine kulturelle Gestalt zu geben vermag“,54 festmachen lässt? Wie lässt sich begründet zwischen Meinen und Wissen unterscheiden? Das ersteres gleichbedeutend mit einer „hauchdünnen Plastiktüte“55 ist und letzteres einer „sorgfältig gefertigten Rindsleder-Reisetasche“56 gleicht, die ein Leben lang hält, mag ein für Gleichgesinnte treffender Vergleich sein, ist aber im Streit der Meinungen genauso wie die Auslegung des argumentativen Zirkels beliebig einsetzbar. Hampes Essay lässt es schlichtweg offen, welche aufgeklärten Ideale und methodischen Prinzipen eine Bildungslandschaft ermöglichen, die Subjekte zu Akteuren der Geschichte macht. Zudem entsteht der Eindruck, dass der Autor darauf nicht nur keine Antwort gibt, sondern aufgrund seiner metaphysikkritischen und pragmatistischen Grundhaltung auch nicht geben kann.

53 54 55 56

Ebd., 83. Ebd. Ebd., 34. Ebd., 35.

Auf der Suche

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VI. Michael Hampe legt mit seinem Essay Die Dritte Aufklärung ein engagiertes Plädoyer für mehr Emanzipation und Gestaltungswillen vor. Er trifft den richtigen Ton und spricht damit – so bleibt zu hoffen – ein größer werdendes Publikum an. Dies insbesondere, da der Autor die Fragilität dessen begreift, was sich als epochenübergreifender Prozess der Aufklärung bezeichnen lässt und die mannigfaltigen Gefahren erkennt, die im Zusammenspiel von Vertrauen und Kritik gegeben sind. Was dem Essay aber fehlt, ist der Mut, konkrete Kriterien zu formulieren, an denen wir Aufklärung ermessen, erproben, erlernen, diskutieren, kritisieren und verteidigen können. Es gelingt ihm nicht, ein tragbares Konzept zu entwerfen, wie Aufklärung als Methode auch heute noch Relevanz haben kann. Damit ist aber die Rede von der Überwindung der Krise der Demokratie, der Krise der Moderne oder einer Dritten Aufklärung austauschbar und das damit bezweckte Ziel gescheitert, einen fundamentaleren Zugriff auf eine gesellschaftliche Problemstellung zu gewinnen. Die beschwerliche Arbeit am Begriff (der Aufklärung) mag dem Autor ein Unterfangen einer altgewordenen Aufklärungsbewegung sein. Das Fehlen eines solchen Begriffes aber und die damit einhergehende Verdünnung dieser Idee verstellt, trotz Wachrüttelns, den Blick für kronkrete Strategien, die aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit helfen. Das Projekt der Aufklärung bleibt daher an die Frage gebunden, wie Kriterien bzw. Gesetze zu denken sind, die als kritische Instanz fungieren, ohne damit aber in den Despotismus zurückzufallen. Kant hat solche Kriterien am Begriff der Vernunft bzw. der reflektierenden Urteilskraft entwickelt – mögen diese Begriffe heute nicht mehr die gleiche Bedeutung haben wie im 18. Jahrhundert, so ist doch die Arbeit, die sich hinter ihnen verbirgt, der zentrale Antrieb einer epochenübergreifenden Aufklärung. Damit ist allerdings kein passives Zurücklehnen intendiert, sondern sichergestellt, dass wir als Praktiker an einem gemeinsamen Ziel arbeiten.

Gerald Hartung Michael Hampe: Die Dritte Aufklärung

Michael Hampe hat ein wichtiges Buch vorgelegt, das eine schonungslose Diagnose unserer modernen Gesellschaft(en) impliziert und das Therapieprogramm einer dritten Aufklärung skizziert. Zur Diagnose gehört, dass in unseren Gesellschaften die Ressourcen für Autonomie und Mündigkeit, für Handlungsspielräume und Solidarität, für eine reflektierte Unterscheidung von bloßer Meinung und geteilter Wahrheit geschwächt sind. Daran knüpft sich das Argument an, dass uns mit diesen Kompetenzen und Einsichten auch die Fähigkeit abhanden zu kommen droht, uns auf reflektierte Weise in kommunikativen Prozessen eine Vorstellung vom guten Leben als Leitfaden unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu erarbeiten. In beiden Punkten kann ich dem Autor vorbehaltlos zustimmen. Ich möchte meinen Kommentar sowohl auf die Plausibilität der Diagnose als auch auf eine mögliche Wirkkraft der verordneten Therapie beziehen. Vorab möchte ich betonen, dass ich die moralische und politische Integrität des Autors sehr schätze. In aufgeregten Zeiten, in denen es vielen Akteuren an der Distanz zu ihrer Lebenswelt fehlt – wobei die Distanzlosigkeit kurioserweise unter den Bedingungen einer weltweiten Pandemie, die von uns soziale Distanz einfordert, noch prekärer wird –, bleibt Hampe ein Fels in der Brandung. Ich neige dazu, auf seine Urteilskraft zu vertrauen und meine Einschätzung unserer sozialen und politischen Gegenwart an seinem Blick auszurichten. Unserer Gegenwart fehlt es an Aufgeklärtheit über die Bedingungen unseres sozialen Miteinanders. Wir haben nur eine vage Ahnung von den Quellen von Autonomie und Solidarität, von Information und Wissen, von Respekt und Verantwortung – wir sind weit entfernt von einem mündigen Umgang mit den Ressourcen unserer Kultur(en). Gleichwohl möchte ich auch betonen, dass ich Manifesten für eine andere oder bessere Welt wenig abgewinnen kann. In der Umschreibung einer bekannten These behaupte ich, dass von Philosophen schon genügend Manifeste verfasst wurden – es wäre uns allen mehr geholfen, wenn wir gute Analysen liefern würde, und sei es, dass wir uns an interdisziplinären Studien zur Lage der Gegenwart beteiligen. Auch die Philosophie kann meiner Ansicht nach einen gewichtigen Beitrag zu der Frage leisten, wie und warum die soziale Welt, in der wir leben, so geworden ist, Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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wie sie uns gegenwärtig erscheint. Hier hängt es vom interdisziplinären Forschungszusammenhang ab, wie genau dieser Beitrag aussehen könnte. Das wäre tatsächlich Verhandlungssache und schon die Verhandlungen haben einen besonderen Wert. Ich kann meine Überlegungen zu Michael Hampes Manifest in eine paradoxe Formulierung fassen: Auch wenn ich bereit bin, jeden Satz und jede Argumentationsschleife nachzuvollziehen und mir zu eigen zu machen, bin ich dennoch nicht davon überzeugt, dass es zu den dringlichen Aufgaben der gegenwärtigen Philosophie gehört, Manifeste zu verfassen – und seien sie auch gut gemeint. Kommen wir zu den Details: In der These von den drei Aufklärungen steckt eine Abkehr vom Zeitgeist, der vermeintlich die Rede von der „aufgeklärten Kultur“ und der „Demokratie“ verschmelzen lässt. Insofern ist der Hinweis bedeutend, dass es aufgeklärte Kulturen ohne Demokratie geben kann. Das gilt für die Zeiten der Platonischen Akademie wie auch die Preußischen Aufklärungszirkel. Unsere Kulturgeschichte ist ein Wechselspiel von Licht und Dunkel und es verbietet sich aus Gründen intellektueller Redlichkeit, vulgären Fortschrittsoder Verfallsgeschichten auf den Leim zu gehen. Hampe destilliert aus seiner Skizze der Geistes- und Kulturgeschichte (Europas, denn er bleibt eurozentrisch in seiner Darstellung) eine Aufgabe der Philosophie: Philosophierend sollen wir uns gegen Illusionen und Vorurteile richten und uns in die Mehrdeutigkeit der Zeichen- und Symbolordnungen unserer Lebenswirklichkeit einüben. Wir sollten zu Virtuosen der Ambivalenz werden. Konkret heißt das, wir sollen die vermeintlichen Eindeutigkeiten historischer Prozesse hinterfragen und auflösen sowie eine Einsicht in die normativen Strukturen technischer Prozesse bekommen. Aufklärung bedeutet also, die wechselseitige Bedingtheit von Normalität und Normativität zu verstehen. Bildung ist nach Hampes Ansicht der Weg, der uns zum Ziel eines aufgeklärten Bewusstseins führen wird. Ich vernachlässige aus Gründen der Komplexitätsreduktion die anderen Aspekte des Aufklärungsdiskurses, die Hampe anführt: die Eindämmung der Grausamkeit in sozialen Interaktionen und die Erschließung des semantischen Feldes von Wissen, Wahrheit und Geschichte. Meines Erachtens ist hierzu von den Aufklärungstypen in der Antike (ich würde auch Aufklärungstendenzen im 13. und 16.–17. Jahrhundert markieren) des 18. und frühen 20. Jahrhunderts bereits alles gesagt worden. Die aufgelisteten Kriterien einer dritten Aufklärung scheinen eher die Funktion eines Kampfes gegen das Vergessen bereits vorliegender Einsichten zu erfüllen, denn einer echten Neuerung. Das betrifft die Einsicht, dass wir in einer gemischten Welt leben, in der einiges sich notwendig, anderes sich zufällig ereignet (Platon); auch die Abwehr eines anthropologischen Essentialismus ist nicht neu (Montaigne); Forderungen einer neuen Askese kennen wir seit Nietzsche; in den Kampf gegen (oder für) die Hegemonie bestimmter Narrationen befinden wir uns seit den Zeiten Herders; und das Engagement für Bil-

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dungswelten ist, wie Hampe zurecht betont, seit der Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts auf der Tagesordnung. Na klar, weniges davon ist bereits Teil unserer soziokulturellen Realität geworden. Insofern ist eine Erinnerung an uneingelöste Versprechungen durchaus bemerkens- und lesenswert. In diesem Sinne erfüllt ein philosophisches Buch wohl die Funktion eines Remedium. Und der Philosoph ist ein Arzt, der seinen Beitrag zum Heilungsprozess der Menschheit leistet – ein engagierter Intellektueller, der sich nicht darauf ausruht, Bücher für ein fachwissenschaftliches Publikum zu schreiben, sondern an unserer Konzeptionierung eines guten Lebens teilnimmt. An dieser Stelle wiederhole ich mich: Gegen ein solches Buch, auch gegen seinen Manifestcharakter, gegen das Engagement seines Autors, gegen den guten Willen zur Verbesserung unserer soziokulturellen (und moralischen) Lebenssituation ist nichts, aber auch gar nichts einzuwenden. Es bleibt lediglich die Frage, ob dieses Buch sein Ziel erreicht. Und diese Frage führt uns weiter auf den Punkt, ob für ein wirksames Remedium nicht erst einmal die Diagnose umfassender und auch tiefgreifender gestellt werden müsste. Sicherlich liegen die Ursachen für die aktuelle Misere, die Hampe als Verlust der selbstbestimmten Handlungsfähigkeit beschreibt, nicht allein im Feld der Philosophie, und zwar nicht einmal vorrangig in diesem Feld. Die Rahmenbedingungen für den digitalen Wandel unserer Gesellschaft sind in einer Weise komplex, dass viele Wissensdisziplinen zur Analyse einen Beitrag leisten müssen. Die Gründe einer Bildungsmisere sollten in politischer, ökonomischer und sozialpsychologischer Hinsicht untersucht werden. Die Ursachen eines um sich greifenden Vertrauensverlusts in die Institutionen unserer Informations- und Wissensgesellschaft sind noch nicht annähernd erkannt. Dieses Thema scheint mir für die nächsten Jahre von zentraler Bedeutung zu sein. Wir haben dazu Theoriemodelle von Alfred Schütz, Niklas Luhmann und neueren Kulturtheoretikern. In diesem Zusammenhang spielt auch der digitale Wandel eine noch unerforschte Rolle. Von hier aus fällt ein anderes Licht auf die altbekannte Einsicht, dass die Differenz von einerseits Meinungsbildung und andererseits Wahrheitssuche in dia- und synchroner Hinsicht einem stetigen Wandel unterliegt. Ich werde nur einen Punkt herausgreifen: Die Frage, auf welche Weise der digitale Wandel uns vor bildungstheoretische und -politische Herausforderungen stellt, hat eine enorme Dringlichkeit. Einerseits haben wir es mit einer Generation zu tun, die sich aus den traditionellen Bildungswelten erst einen Zugang zur digitalen Informations- und Wissensgesellschaft erarbeiten muss; andererseits sind wir mit einer Generation konfrontiert, die zwar in die digitale Welt hineingeboren wurde, aber dabei den Kontakt zur analogen Welt der Bibliotheken und dem heimischen Buchregal, zur Kulturtechnik des linearen Lesens, zur Unterscheidung von fiktionalen und faktualen Texten, zu textkritischen Verfahren und zur hermeneutischen Einstellung weitgehend verloren hat. Während die einen Gefahr lau-

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fen, abgehängt zu werden, bekommen die anderen möglicherweise keinen Anschluss mehr. Wahrscheinlich werden wir es mit Akteuren zu tun bekommen, die ihre Phobien in digitalen und analogen Welten kultivieren. Das ist schon heute in den verschiedenen Facetten eines sogenannten „Querdenkens“ sichtbar. Für diese Gruppen müssen wir neue Bildungsangebote entwickeln, die vielschichtig und für alle Beteiligten herausfordernd sind. Hampes Manifest für eine Bildungsoffensive zielt genau in diese Problemzone. Jedoch, wir haben von derlei Appellen genug. Parteiprogramme und Parteitage, die üblichen Verdächtigen unter den Bildungsträgern verkünden die schlechte Botschaft seit Jahren und markieren den Bedarf an neuen Handlungsoptionen. Es werden Regierungsämter eingerichtet, die den digitalen Wandel begleiten sollen. Aber die Erfahrungen der letzten Monate lehren uns, dass in einem Ernstfall, wie bspw. in einer Pandemie, die Lücken und Versäumnisse rigoros aufgedeckt werden. Es zeigt sich, dass es im sog. Normalzustand versäumt wurde oder lediglich bei salbungsvollen Worten geblieben ist. Völlig verkürzt wäre es allerdings zu sagen, dass es am guten Willen der handelnden Personen oder am Einsatz finanzieller Mittel fehlt. Wenn dies hier und dort der Fall sein sollte, ist es durchaus bedauerlich. Dramatisch ist aber vielmehr das weitgehende Fehlen von Konzepten, wie der digitale Wandel in unserer Informations- und Wissensgesellschaft gestaltet werden soll. Welche Unterrichtsinhalte und -formen benötigen wir, um nicht eine Generation von digitalen Illiterati zu erziehen, die zwar alle „tools“ in der digitalen Welt beherrschen, aber den „contents“ entweder schlichtweg Vertrauen schenken oder aber ein umfassendes Misstrauen gegen jegliche Information artikulieren. Es wird in der Zukunft nicht nur um die Einübung bestimmter Fähigkeiten und „Kompetenzen“ (von denen es in den Lehrplänen für den Schulbetrieb nur so wimmelt) gehen, sondern vor allem um Entscheidungen zum Aufbau und zur Absicherung von Wissensbeständen. Ein sog. „konnektives Wissen“, der soziokulturelle Kitt, hängt von Entscheidungen ab, die uns bestimmte Grundlagen des Wissens – einen Kanon des Wissens, textkritische und hermeneutische Übungen in analogen und digitalen Medien – als verbindlich vorschlagen. Um eine solche Verbindlichkeit herzustellen, ohne die gesellschaftlicher Zusammenhalt nicht funktioniert, benötigen wir bedeutsame Narrative. An die Stelle der tradierten Narrative von der Einheit des Glaubens, der Nation oder irgendeiner Weltanschauung, die das 20. Jahrhundert zur Verfügung stellte, müssen neue Erzählungen treten. Diesen Punkt erkennt Hampe mit großer Klarheit. Aber das haben auch schon andere erkannt und die verworrene und verwirrende Gegenwart erfordert dringend die Arbeit an Narrativen, die nicht allein auf den Konsum und die Konsummittel sowie die Unterhaltung (Fußballnationalmannschaft, der sonntägliche „Tatort“) setzen. Auch die Pandemie seit 2020 schafft nur eine Einheit in der Furcht – vor der Ansteckung wie vor dem sozialen Abstieg. Was es braucht, das ist

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die Erzählung zum Thema „aufgeklärte Kultur“. Dazu fehlen in Hampes Manifest jegliche Hinweise. Aber das wird die dringliche Aufgabe der nächsten Jahre sein. Zum Abschluss meines Kommentars zu Hampes instruktivem Essay möchte ich zwei Wünsche respektive Aufgaben für die Zukunft formulieren. Zum einen fehlen noch von Seiten der Geistes- und Kulturwissenschaften zureichende Analysen zur Gestaltung des digitalen Wandels. Zum anderen brauchen wir eine Erzählung, die über die Fragmentierung sozialer Gruppen hinwegreicht und diesen ein Angebot des Zusammenkommens in einem Gespräch bietet. Wir müssen über die richtigen Analysen und die angemessenen Erzählungen streiten, um uns wieder näher zu kommen. Wir sollten uns die aufgeklärte Kultur der Zukunft als eine Kultur des Streites, des ausgetragenen Dissenses, aber auch der Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, vorstellen. Insofern ist noch einmal Hampe zuzustimmen: Wir benötigen Bildung als Einübung in einer Haltung, die Ambivalenzen austrägt und erträgt. Ich habe die große Hoffnung, dass Michael Hampe an diesem Projekt in maßgeblicher Position mitarbeiten wird. Sein Essay ist hierzu ein erster Anfang.

Isabel Karremann Aufklärungsfeminismus heute

Wir brauchen zweifelsohne eine dritte Aufklärung. Michael Hampe präsentiert die philosophischen Grundzüge einer „aufgeklärte[n] Kultur“ als ein wichtiges Korrektiv zu einer Welt des globalisierten Kapitalismus, der Illusionsmaschine der sozialen Medien und ihren alternativen Realitäten, des politischen Populismus mit seiner Wissenschaftsleugnung und Wahrheitsverdrehung.1 Es braucht zur (Selbst-)Kritik befähigende Bildungsprozesse statt Ausbildungsprozesse, wir müssen auf Grundlage von Wissenspraktiken, Vernunft und Ethik Entscheidungen treffen anstatt sie an künstliche Intelligenzen auszulagern.2 Der Einsatz für eine Erneuerung der Aufklärung ist gerade dort besonders wichtig, wo ihre Errungenschaften – allen voran die Meinungsfreiheit – auf zynische Weise missbraucht werden, um eine zutiefst anti-aufklärerische Weltsicht zu behaupten. Dabei sieht Hampe die Kritik an der Aufklärung, die seit Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung von poststrukturalistischen, feministischen und postkolonialen Denkern verfolgt wurde, als Teil einer populistischen Meinungsmache: Von den einen wird die Aufklärung als ein von Europa ausgegangenes gescheitertes und glücklicherweise beendetes Kolonialisierungsprogramm angesehen, das letztlich zur Auslöschung anderen, vermeintlich ,bessererR kultureller Lebensformen geführt hat. Oder sie wird als die bald erreichte Selbsterlösung der Menschheit von Aberglauben und Gewalt gedeutet, die uns in paradiesische Zustände führen wird.3

Hampes satirisch überspitzte Darstellung wird allerdings weder dieser Kritik noch der Sache der Aufklärung gerecht. Zwar stimme ich Hampe zu, dass es zu eng greift, wenn man die Aufklärung als bloße Ideologie oder als Utopie fasst. Und ich stimme auch seiner Analyse zu, dass die Aufklärung eine ambivalente Epoche war, die nicht nur Errungenschaften, sondern auch Illusionen gezeitigt hat. Doch wäre es der von ihm geforderten „aufgeklärten Haltung“ angemes-

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Michael Hampe, Die dritte Aufklärung, Berlin 2018, 10 und passim. Ebd., 41. Ebd., 13.

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sen, sich mit der Kritik an der Aufklärung argumentativ auseinanderzusetzen, anstatt sie als unsachgemäße Gegenmeinungen wegzuwischen. Tut man dies, so erkennt man, dass postkoloniale und feministische Kritikerinnen selbst vielfach Versuche unternehmen, die Ideale und Normen der Aufklärung für die heutige Welt zu aktualisieren und so epistemologische und ethische Grundlagen für eine bessere Zukunft zu schaffen. Das Versäumnis, solche Perspektiven zur Kenntnis zu nehmen, macht Die Dritte Aufklärung geschlechterblind und damit frauenausschließend – Frauen werden nur zwei Mal erwähnt, um Formen alltäglicher Gewalt zwischen den Geschlechtern (Eheleben, Vergewaltigung) zu illustrieren – sowie eurozentrisch, trotz des Versuchs, eine aufgeklärte Kultur als kollektive Anstrengung auf globaler Ebene zu entwerfen.4 Aufklärungsphilosophie und globaler Feminismus erscheinen so, wieder einmal, als Antagonisten, die einander nichts zu sagen haben. Dabei bieten Hampes Ausführungen wichtige Argumente für einen heutigen Aufklärungsfeminismus, und umgekehrt bieten aktuelle feministische Debatten vor allem aus der Perspektive des Global South Erkenntnisse, ohne die eine dritte Aufklärung schwerlich von globaler Relevanz werden kann. Auf welche Weise ließe sich also eine strategische Allianz von Aufklärungsphilosophie, Feminismus und postkolonialer Kritik schmieden? Ein erster Schritt besteht darin, die von Hampe konstatierte Ambivalenz der Aufklärung ernst zu nehmen. Illusionen in Gestalt von Vorurteilen und Aberglaube sind ein Gegner der Aufklärung, aber auch ihr eigenes Erbe.5 Kennzeichnend für die Epoche ist, wie der Philosophiehistoriker Siep Stuurman in einer eindrucksvollen Studie zur Geschichte des Gleichheitsgedankens zeigt, eine grundlegende Spannung zwischen Forderungen nach universaler Gleichheit einerseits Ebd., 22. Beide blinde Flecken erscheinen besonders in Hampes Darstellung zum „Streben nach Intensität“ (61–64): Eingebettet in ein Kapitel über die Grausamkeit vor allem in Form von Kriegserfahrungen erscheint die Aussage, „[d]enn Menschen wollen nicht einfach lustvoll leben, sondern sie wollen mit der Wirklichkeit konfrontiert werden und ihre eigene Wirklichkeit in ihnen Wahrnehmen“ (62), gefolgt von Beispielen intensitätssteigernder Aktivitäten wie Bergwanderungen und Segeltörns, als ein Porträt vor allem westlicher Männlichkeitsvorstellungen. Wenn Hampe dann im gleichen Gestus weiter ausführt, „Menschen wollen nicht nur überleben, sondern auch besser leben; sie wollen […] die Intensität ihrer Erfahrung steigern“ (63), dann stellt sich mir die Frage, wie Hampe wohl das Streben nach einem besseren Leben von Millionen Flüchtlingen, die auf der Flucht vor Krieg und Zerstörung in ihren Heimatländern derzeit vor der Festung Europa ausharren, mit einer ,Steigerung an IntensitätserfahrungR in Einklang bringen würde? Sie sehnen sich wohl kaum nach „den Intensitäten der Lebensgefahr, nach ,EntscheidungsschlachtenR“ (82), sondern im Gegenteil genau nach jenen „gewaltfreien intensiven Erfahrungen und Mündigkeit [, wie sie in] Bildungsprozessen“ entstehen, die Hampe – so legt zumindest seine Rhetorik nahe – jedoch vor allem den abgestumpften, lebens-müden Europäern zugedenken will (83). 5 Ebd., 12. Illusionen sind auch zu verstehen als Instrumente der Beherrschung, die Menschen in der Unmündigkeit halten; im Register der postmodernen Kulturkritik spräche man hier von einer Komplizität der Unterdrückten mit der Ideologie des Kolonialismus, des Rassismus, der Misogynie. 4

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und andererseits Strukturen der Politik sowie der Geschichtsschreibung, die eine Ungleichheit zwischen dem modernen Europa und vor-modernen, nicht-Europäischen Gesellschaften einführen.6 Die Aufklärung als Epoche der Gleichheit zeitigte so selbst vier Diskurse moderner Ungleichheit: eine politische Ökonomie, die rationale Begründungen sozioökonomischer Ungleichheit bot; biopsychologische Theorien, die die Differenz zwischen den Geschlechtern erklärten; Rassentheorien, die die Menschheit in eine biologisch-ethnisch begründete Hierarchie reihten; und eine Geschichtswissenschaft, die ein neues Regime von Entwicklung und Fortschritt einführte, das Europa als Höhepunkt dieser Prozesse erfasste.7 Am Beispiel der weiblichen Emanzipation lässt sich die Ambivalenz der Aufklärung besonders gut verdeutlichen. Schon in ihren Anfängen wurden die aufklärerischen Ideale von Gleichberechtigung und Emanzipation für feministische Forderungen genutzt. Der französische Pfarrer FranÅois Poullain de la Barre veröffentlichte bereits 1676 sein Traktat De LQPgalit8 des deux sexes, das zu einem wirkmächtigen Bezugstext für einen europäischen Aufklärungsfeminismus wurde, der in Mary Wollstonecrafts Vindication of the Rights of Women (1791) seinen Höhe- und vorläufigen Endpunkt fand.8 Dass die vollständige Emanzipation der Frau im 18. Jahrhundert nicht erfolgte, vielmehr die Geschlechterordnung in der Folge zurückfiel hinter das Erreichte und die Ungleichheit der Geschlechter durch eine mit dem wissenschaftlichen Denken der Aufklärung entwickelten Sonderanthropologie der Frau naturalisiert wurde, heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass diese Epoche gänzlich misogyn gewesen oder der Feminismus als Projekt der Aufklärung gescheitert war. Statt einer pauschalen Zurückweisung der Aufklärung als frauenfeindlich bedarf es eines tieferen Verständnisses ihrer Ambivalenzen und Paradoxien, um einen Aufklärungsfeminismus zu entwickeln, der in der Komplexität unserer heutigen Welt mit ihren eigenen Ambivalenzen und Paradoxien relevant werden kann. Ohne das Erbe der Aufklärung gibt es keine Zukunft der feministischen Theorie, konstatiert Ellen Pollak: „[Y]ou cannot have feminist theory that is nuanced, intersectional, and able to think beyond heteronormative structures of identity without a deep understanding of its Enlightenment legacies – both positive and negative; without, that is, an understanding of feminismQs own roots in an emerging modernity shaped by a range of class,

Siehe Siep Stuurman, The Invention of Humanity: Equality and Cultural Difference in World History, Yale 2017, 560 f. 7 Ebd., 557 f. 8 Zu de la Barre siehe Siep Stuurman, FranÅois Poulain de la Barre and the Invention of Modern Equality, Cambridge, Mass. 2004; zur Entwicklung des Feminismus in der Aufklärung siehe Karen Offen, European Feminism 1700–1950: A Political History, Standford 2000, Kapitel 2 und 3. 6

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national, and imperial projects and the various emancipatory movements that were bound up with them.“9 In ihren Prinzipien bestand tatsächlich kein Widerspruch zwischen aufklärerischen Positionen und feministischen Forderungen; vielmehr war die Aufklärung dort am aufgeklärtesten, wo sie auch feministisch war. Es ist also falsch, Aufklärung und Feminismus a priori gegeneinander zu setzen. Hier ist Hampes pragmatische Unterscheidung zwischen philosophischen Prinzipien einerseits und empirisch-historischen Szenarien andererseits hilfreich, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen anerkennt sie, obgleich Hampe dies nicht explizit thematisiert, dass aufklärerische Forderungen nach Gleichheit ebenso für die Gleichheit der Geschlechter gelten und auch geltend gemacht wurden, auch wenn die Aufklärung als historische Epoche nicht in einer konkreten Umsetzung dieses Gleichheitspostulats gipfelte, vielleicht sogar an diesem scheiterte. Zum anderen anerkennt sie die Verflechtung von Philosophie und Geschichte, den „gemischten Charakter der Wirklichkeit“,10 der uns davor bewahren sollte, Erfolg nur in einer vollständigen Umsetzung der Theorie in die Praxis zu sehen. Vielmehr sollte uns die Einsicht leiten, dass normative Werte wie Menschenrechte in Spannung stehen mit kontingenten Konfigurationen wie imperialen Reichen, Zivilisationen, Religionen oder Nationen.11 Das vielfach konstatierte historische Scheitern des Aufklärungsfeminismus lässt sich zudem durch eine Erweiterung der Perspektive auf eine longue dur8e relativieren und korrigieren, denn die feministischen Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts berufen sich wieder auf aufgeklärte Normen und Ideale – diesmal mit nachhaltigerem Erfolg, der sich in der Institutionalisierung von Frauenrechten und Geschlechtergerechtigkeit zeigt.12 In diesem Sinne ist auch Hampes revidiertes Aufklärungsverständnis anschlussfähig: für ihn ist die Aufklärung keine historische Epoche, sondern eine „kulturelle Bewegung“ und Einstellung zur Welt, zum Wissen, zur Wahrheit. Ebenso wenig wie der Feminismus auf eine historische Epoche beschränkt und dann vollständig zuende war, ist die Aufklärung als „Gedanke endgültig verschwunden“.13 Beide sind – miteinander verflochtene – andauernde Anstrengungen um eine (geschlechter)gerechte Welt. Wer das Scheitern der Aufklärung oder des Feminismus behauptet, denkt hingeEllen Pollak, The Future of Feminist Theory and Eighteenth-Century Studies, in: The Eighteenth Century 50 (2009), 14. 10 Hampe, Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 76. 11 Stuurman, The Invention of Humanity (wie Anm. 6), 568. 12 Offen, European Feminism (wie Anm. 8), Kapitel 2 und 3, die die Geschichte feminstischer Bewegungen in Europa durch das 19. und 20. Jahrhundert hindurch nachzeichnen. Zu einer aktuellen Debatte über Geschlechtergerechtigkeit in Indien siehe Nivedita Menon, Seeing Like A Feminist, New Delhi 2012. 13 Hampe, Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 68. 9

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gen in der anti-aufklärerischen Logik einer theologischen, deterministischen Geschichtsvorstellung, die auf ein Heilsgeschehen oder eine Singularität hin ausgerichtet ist14 – die vollständige Emanzipation der Frau, die völlige Gleichstellung aller Menschen, die Erlangung von Weltfrieden. In einem solchen Geschichtsverständnis ist das Scheitern des Ideals bereits eingeschrieben, die Utopie kann per definitionem nie eingelöst werden. Aber ist deshalb das utopische Denken für eine aufgeklärte Kultur bereits unbrauchbar, wie Hampes Zurückweisung der Kritik an der Aufklärung suggeriert? An anderer Stelle zeigt Hampe vielmehr einen pragmatischen Realismus, der nicht notwendig im Gegensatz zur Utopie steht: „Wenn Wahrhaftigkeit und Illusionslosigkeit auch Ideale des Wissensverständnisses der Aufklärung waren, so ist nicht gesagt, dass diese Ideale notwendigerweise immer und mit immer größerer Wahrscheinlichkeit realisierbar sein werden.“15 Die aktuelle Tendenz zu totalitären Regimen und populistischen Regierungsstilen zeigt uns dies deutlich. Ein solcher Realismus schließt aber eben nicht aus, dass Ideale weiter verfochten werden können oder sollen. Hier ließe sich Hampes Vision engführen mit feministische Debatten, die nicht nur den Realismus historischer Forschungen, sondern auch die zukunftsbildende Kraft von Utopien als Methoden des Feminismus anerkennen. Wie etwa Alessa Johns in einer Bestandsaufnahme der akademischen womenQs studies um die Jahrtausendwende ausführt, ist die Utopie ein notwendiger Daseinsmodus des Feminismus schon allein deshalb, weil die Gleichheit der Geschlechter nie vollständig existierte und deshalb imaginiert werden muss. Die Utopie ist ein wichtiger Modus der Bildung von Visionen für gemeinsame kulturelle Ziele, für kollektive Bewusstseinsänderungen. Utopische Imaginationen leisten dabei überdies die wichtige Arbeit einer Revision: Gesellschaftspolitische Gleichheit der Geschlechter kann nicht einfach nur eine Übernahme traditioneller männlicher Positionen bedeuten, sondern bietet die Möglichkeit, gesellschaftspolitische Strukturen und geopolitische Allianzen neu auszurichten, anders zu denken.16 Eine solche Rekonfiguration der Aufklärung (statt ihrer einfachen Zurückweisung) steht auch im Zentrum einer „planetaren Ethik“ feministischer und post-kolonialer Prägung, wie sie von Gayatri Chakravorty Spivak gefordert wird.17 Dabei

Vgl. ebd., 74–76. Ebd., 80. 16 Alessa Johns, Thinking Globally, Acting Locally: Enlightenment Utopianism for 21st-Century Feminists?, in: Gender and Utopia in the Eighteenth Century: Essays in English and French Utopian Writing, hg. von Nicole Pohl und Brenda Tooley, Aldershot 2007, 163–178, hier 170. 17 A Critique of Postcolonial Reason: Toward a History of the Vanishing Present, Cambridge, Mass. 1999 und Gayatri Chakravorty Spivak, Death of A Discipline, New York 2003. Spivak prägt den (unübersetzbaren) Begriff der „planetarity“, um eine Welt transnationaler Beziehungen zu 14 15

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sind es gerade die Wahrheitspraktiken ebenso wie die Normen der Aufklärung, welche trotz ihrer historischen Verstrickungen in Kolonialismus und Sklaverei für eine ethische Haltung relevant werden, wie Nikita Dhawan im Anschluss an Spivak darlegt: „In oder to constitute new political subjects, collectives and strategies, it is imperative that the question of Europen (ir)responsibility and EuropeQs (in)ability to respond to the ethical demands by ist other is addressed.“18 Ergebnis dieser historischen Aufarbeitung ist eine Rückgewinnung von Aufklärungsidealen wie Gleichheit, Emanzipation und Mündigkeit für alle Menschen, die in diesem Prozess Subjekte ihrer eigenen Geschichte werden. Ein weiteres Resultat ist eine Rekonfiguration des Beziehungsgefüges zwischen Europa und Nicht-Europa: an Stelle des europäischen Subjekts, das auf nicht-europäische Andere militärische, ökonomische und epistemologische Gewalt ausübt, treten reziproke Beziehungen zwischen sich gegenseitig konstituierenden Subjekten; diese sind (noch) nicht vollständig egalitär, eine Aufgabe des Anspruchs auf Gleichberechtigung käme aber der Kapitulation vor historischen Gemengelagen gleich.19 Die kritische Befähigung zu dieser Subjektwerdung in Auseinandersetzung mit globalen Verflechtungen nennt Spivak „transnational literacy“. Dhawans aus postkolonialer Kritik schöpfendes Vokabular nimmt deutlich erkennbar aufklärerische Züge an, wenn sie Spivaks „transnational literacy“ zur Aufgabe einer kritischen Praxis macht, die zu verstehen versuche, weshalb unterdrückte Individuen und Kollektive ihre Unmündigkeit als unabwendbar oder immanent akzeptierten.20 Die aufklärerischen Methoden dieser kritischen Praxis sind die vernunftgeleitete Aufdeckung von Illusionen, die Ersetzung von Mythen durch Geschichte, sowie kritische Selbst-Befragung und Selbst-Zweifel gegenüber den eigenen Annahmen.21 Das ebenso aufklärerische Ziel ist nicht eine partikulare Befindlichkeitspolitik, sondern strategische Allianzen zur Einforderung universaler beschreiben, die sich nicht in den Kategorien und Resultaten einer ökonomischen Globalisierung erschöpft. 18 Nikita Dhawan, Can Non-Europeans Philosophize? Transnational Literacy and Planetary Ethics in a Global Age, in: Hypatia 32 (2017), 488–505, hier 498. 19 „A critical theory and practice of decolonization necessitates a genealogy of how emancipatory norms like freedom, equality and solidarity have emerged over time. This would counteract the temptation to employ history for self-vindication and self-congratulation. Instead of promoting freestanding norms or normative foundationalism, the effort would be to combine a nonrelativistic, nonuniversal approach to normativity with a focus on the context in which norms are operationalized“ (Dhawan, Can Non-Europeans Philosophize? [wie Anm. 18], 502). Ein wegweisendes Beispiel für eine solche dekolonisierte, planetare Geschichtsschreibung eines Aufklärungsideals bietet Stuurmans The Invention of Humantity (wie Anm. 6). 20 Dhawan, Can Non-Europeans Philosophize? (wie Anm. 18), 502. 21 Tatsächlich ähneln sich die Methoden sowie die Zielsetzung aufklärerischer und postkolonialer Kritik auf frappante Weise, wie die Herausgeber des Bandes The Postcolonial Enlightenment ausführen. The Postcolonial Enlightenment, hg. von Daniel Carey und Lynn Festa, Oxford 2009, 7.

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Werte und Rechte. In diesen Debatten der postkolonialen Kritik findet bereits statt, was Hampe abschließend fordert: „Was es braucht“, um zumindest die aufklärerische Frage danach zu stellen, was ein gutes Leben sei, „ist die Kultivierung von Wahrheitspraktiken, über die wir schon verfügen und die Entwicklung eines klaren globalen Bewusstseins, das in der Lage ist, gemeinsame kulturelle Ziele zu entwickeln, an denen möglichst viele teilhaben können.“22 Dazu bedarf es einer Rekonfiguration von Aufklärungsidealen und postkolonialen bzw. postmodernen Ideen, die der heutige Aufklärungsfeminismus auf besondere Weise leisten kann. Der unproduktive Gegensatz zwischen den verbindlichen und verbindenden Normen der Aufklärung einerseits und einer postmodernen Diversifizierung von pluralen, intersektionalen Identitäten andererseits muss aufgehoben werden durch eine feministische Vision gemeinsamer Prinzipien und Ziele. Dies kann gelingen, so Alessa Johns, durch die Verbindung globaler und lokaler Perspektiven, allgemeiner Prinzipien und partikularer Interessen, universeller Werte und lokaler Gegebenheiten. Die globale Perspektive wirke der Zersplitterung immer weiter differenzierter Positionierungen und Befindlichkeiten entgegen: „[T]he global perspective […] allows us to recognize interdependencies and points of agreement that a constant focus on the local, or even the national makes impossible.“ Dabei soll die lokale Perspektive nicht aufgegeben warden; vielmehr ermöglicht ein doppelter Fokus neue Sichtweisen, die auf Vernetzung, Relationalität und Gegenseitigkeit abzielen: „Keeping a dual focus, seeing what we do locally from a global perspective, enables a renewed feminism, a view of common ground, and at the same time, allows for a difference and negotiation in divergent local circumstances.“23 Um dieses Ziel zu erreichen, muss die starre Opposition zwischen postmodernen und aufgeklärten Ideen aufgegeben werden. Erst ein doppelter Fokus, der partikulares und universales Denken verbindet, ermöglicht es, trotz notwendig begrenzter Wissenshorizonte und politischer Situiertheit gemeinsame Ziele zu formulieren und zu verfolgen. Ein solcher Doppelfokus ist bereits, wie Johns zeigt, in feministischen Utopien des 18. Jahrhunderts angelegt. Die Zukunft des Feminismus liegt daher im Erbe der Aufklärung: nicht nur als normativer Inhalt, sondern als Einstellung zur Welt.24 Eine dritte Aufklärung kann es sich nicht leisten, auf diese Erkenntnisse der womenQs history und die Methoden einer globalen feministischen Kritik zu verzichten. Seeing Like A Feminist, erklärt Nivedita Menon in ihrer gleichnamigen Studie über die GeschlechHampe, Dritte Aufklärung (wie Anm. 1), 84. Johns, Thinking Globally (wie Anm. 16), 172 und 174. Wie oben aufgeführt sind ,globalR und ,lokalR dezidiert nicht gleichzusetzen mit dem Unterschied zwischen europäisch und nicht-europäisch: dies würde der traditionellen eurozentrischen Sicht entsprechen. Vielmehr ist auch Europa als lokale Positionierung zu verstehen im Sinne von Dipesh Chakrabartys Provincializing Europe (Princeton 2000). 24 Johns, Thinking Globally (wie Anm. 16), 177. 22 23

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terpolitik auf dem indischen Subkontinent,25 lehrt uns, die Welt und unsere eigene Position in ihr nicht nur als Frauen zu sehen, und nicht nur als Frauen in Indien, sondern vor allem als aufgeklärte Menschen.

Vgl. Anm. 12. Menons Studie verdeutlicht den Doppelfokus des Globalen und Lokalen wenn sie die Frage, „Is this book about ,IndiaR?“ gleich zu Beginn verneint und die Methode eines globalen Feminismus charakterisiert als „theorizing from their own location to make arguments about women and patriarchy […]. In this book, I draw on feminist scholarship and feminist politics in my part of the world to set up conversations with feminist debates and experiences globally“ (x). 25

Martin Mulsow Sorge um die Wahrheitspraktiken: Michael Hampes dritte Aufklärung

Michael Hampe hat einen Entwurf vorgelegt, mit dem ich in den meisten Punkten sehr sympathisiere, sowohl inhaltlich als auch in der Art und Weise, in der Hampe argumentierend vorgeht; ähnlich sympathetisch habe ich schon sein Buch Die Lehren der Philosophie verfolgt. Ich möchte trotzdem eine Reihe von Anmerkungen anbringen, die kritische Anfragen zur Konzeption enthalten. Einige Anmerkungen sind mehr aus historischer, andere mehr aus philosophischer Sicht geschrieben. Eine grundsätzliche Problematik aber, die ich bei all dem im Hintergrund sehe, betrifft das Verhältnis von Pragmatismus in der Philosophie und Praxeologie in der Geschichtsschreibung. Wie verhalten sich theoretische, normative und deskriptive Aspekte von Praxis und Praktiken zueinander?1 Für die Frage nach dem Verhältnis der historischen Aufklärung in der Antike und in der Frühen Neuzeit und der normativen Forderung nach einer weiteren, dritten Aufklärung ist diese Bestimmung von großer Bedeutung.

I. Die Figur des „Dritten“ Eine neue, „dritte“ Bewegung zu fordern, um die Defizite der Gegenwart auszugleichen, ist nicht neu. Im Sommer 1921, wenige Jahre nach dem Ende der Katastrophe des Ersten Weltkrieges, rief der Berliner Philosoph und Pädagoge Eduard Spranger einen „Dritten Humanismus“ aus. Sein Freund, der Altphilologe Werner Jaeger, nahm diese Anregung seit 1925 auf und propagierte die neue Form von Humanismus, den Spranger so charakterisiert hatte, dass er „in der WeiIch habe diese Doppelung, damals unter den positiven Aspekt der wechselseitigen Anregung, auch schon diskutiert in meinem Aufsatz: Das numismatische Selbst. Epistemische Tugenden eines Münzzeichners, in: Andreas Gelhard, Marc-Ruben Hackler, Sandro Zanetti (Hg.), Epistemische Tugenden. Zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts, Tübingen 2019, 101–119. Zentral thematisiert wird die Doppelung in diesem Band von Oliver Nievergelt, Zum integrativen Potential epistemischer Tugenden in der Epistemologie, dort 11–27. 1

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te des Suchens und des Verstehens, das wir Modernen aufzubringen vermögen“ über die älteren Formen hinausgehe.2 Dabei war die Neuerung explizit auch als Reaktion auf neue Medien wie die Einführung von Kino, Rundfunk und Taschenmikroskop formuliert – Medien, die in Hampes Terminologie mit neuen Wahrheitspraktiken (und Unwahrheitsrisiken) verbunden sind.3 Anders aber als die Forderung nach einer Dritten Aufklärung beruht Sprangers und Jaegers Appell auf einer unterschiedlichen normativen Genealogie.4 Die Genealogie ist hier: Renaissancehumanismus, Neuhumanismus des späten 18. Jahrhunderts, Dritter Humanismus – als Formung des Individuums (paidea) in ständigem Rückbezug auf die Antike. War der „Dritte Humanismus“ damit bildungsbezogen, versteht sich die „Dritte Aufklärung“ Hampes zwar auch als Bildungsoffensive, aber anders: Bildung bedeutet, so Hampe, die Ermöglichung von intensiven Erfahrungen, ohne sie in Grausamkeit suchen zu müssen. Außerdem versteht er die neue Aufklärung nicht konservativ, sondern als Weitermodernisierung, die den beiden Fortschritten in der Abwehr von Grausamkeit, dem Abschied von gewaltsamer Auseinandersetzung zugunsten des Gebrauchs von Argumenten (in der sokratischen Aufklärung) und dem Abschied von Illusionen auf dem Weg zur Mündigkeit (in der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts) einen weiteren Abschied fordert: den von geschichtsphilosophischen Meistererzählungen und Notwendigkeitsvorstellungen. Das würde eine grundlegende Anerkennung von Kontingenz im Verlauf der Menschheitsentwicklung bedeuten. Das Interessante an Hampes Diagnose ist dabei, dass er die heute zu beobachtenden Tendenzen einer „Müdigkeit“ an kritischen und wahrheitsbezogenen Aktivitäten als Erosion der aufgeklärten Kultur selbst, nicht nur der Demokratie, ansieht. Was weckt aus dieser Müdigkeit auf ? II. Leiden an Unwahrheit Ein Weckmittel ist das Leiden an Unwahrheit. Peter Strawson hat 1962 dafür argumentiert, dass man Phänomene wie Willensfreiheit und moralische Verantwortung am besten über alltägliche Empfindungen wie Empörung, Übelnehmen oder

Eduard Spranger, Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule, Leipzig 1925, 7. Vgl. Barbara Stiewe, Der „dritte Humanismus“. Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus, Berlin 2011. 3 Werner Jaeger, Antike und Humanismus, in: Hans Oppermann (Hg.), Humanismus, Darmstadt 1977, 18 – 32, hier 18 – 20 (Erstveröffentlichung 1925). 4 Zur Genealogie vgl. Bernard Williams, Truth and Truthfulness. An Essay in Genealogy, Princeton 2002; Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011. 2

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Dankbarkeit analysieren sollte.5 In ähnlicher Weise betrachtet Hampe das Problem der Wahrheit vom Leiden an Unwahrheit her.6 Das hat den Vorteil, die sehr abstrakte philosophische Diskussion – etwa über Wahrheitstheorien – mit der Alltagsebene zusammenzuschließen; was auch nötig ist, wenn die Beziehung zur Kulturkrtik und zu neuen Medien und ihren Risiken hergestellt werden soll. Dort liegt das Zentrum von Hampes Anliegen. Ich will gar nicht auf den naheliegenden Einwand eingehen, was denn passiert, wenn das Leiden an Unwahrheit abnimmt, weil die ganze Kultur abstumpft und auch gegenüber Wahrheitsansprüchen unempfindlich wird. Das mag nur ein Hinweis darauf sein, dass das Leiden nicht alleiniges Kriterium sein darf. Stattdessen möchte ich etwas näher auf das Konzept der „Wahrheitspraktiken“ eingehen, das für Hampes Beschreibungssprache so charakteristisch ist. Wahrheitspraktiken werden heute von Philosophen (und Sozialwissenschaftlern), aber auch von Historikern untersucht. Wir sollten uns daher bewusst machen, welches dabei die Unterschiede sind. Gibt es einen normativen und einen nichtnormativen Begriff von Wahrheitspraktiken? Und zum anderen sollte uns klar sein, welches die Alternativen wären. Warum nicht statt von den Praktiken von Wahrheitstugenden reden? Auch epistemische Tugenden interessieren ja sowohl die Philosophen als auch die Historiker. Der Pragmatismus, dem Hampe nahesteht, gibt wie der Reliabilismus7 eine Art Legitimation durch Verfahren: Man stelle die idealen Bedingungen für Austausch und Wahrheitssuche, oder die ideal befolgten Praktiken, oder die idealen Tugenden bereit, dann werde das Resultat wahr sein.8 Wahrheitspraktiken, die in unterschiedlichen Bereichen ganz verschieden sein können (für Journalisten etwa die Maxime, auf mindestens zwei unabhängige Quellen zu vertrauen, für Juristen unter anderem die Existenz eines Strafverteidigers), sind allgemeine Bedingungen – und insofern normativ –, um ein wahres Ergebnis zu erzielen. Bei der praxeologischen Geschichtsschreibung hingegen ist ein Erkenntniserfolg bereits gegeben, und rekonstruiert werden die Praktiken und Tugenden (und zwar auch die kontingenten, nichtidealen), die dazu geführt haben, dass er möglich wurde. Die Perspektive ist hier also eine andere, nichtnormative. Man kann nun durchaus dafür Peter F. Strawson, Freedom and Resentment, in: John Martin Fischer, Mark Ravizza (Hg.), Perspectives on Moral Philosophy, Ithaca 1962, 1–25. 6 Michael Hampe, Wahrheitspraktiken, in: Heiner Hastedt (Hg.), Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2019, 49–66. 7 Vgl. etwa Ernest Sosa, Knowing Full Well, Princeton 2010. 8 Einwände bezüglich einer pragmatischen Wahrheitstheorie zielen darauf ab, dass das Ergebnis trotz aller idealer Bedingungen immer noch falsch sein könne. Oder sie kritisieren, wie der späte Putnam, die Dichotomie zwischen formalen Bedingungen und den Inhalten. Vgl. die Auseinandersetzung zwischen Putnam und Habermas in Marie-Luise Raters, Marcus Willaschek (Hg.), Hilary Putnam und die Tradition des Pragmatismus, Frankfurt am Main 2002. 5

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argumentieren, dass beide Thematisierungen von Wahrheitspraktiken nicht sauber voneinander zu trennen sind, so wie sogenannte dichte ethische Begriffe (wie „grausam“) unauflöslich sowohl normative als auch deskriptive Anteile enthalten. Dennoch müssen wir uns im Klaren darüber sein, dass bei einer imaginären Genealogie von drei Aufklärungen, wie Hampe sie gibt, die mit dem Begriff der Wahrheitspraktik arbeitet, beide Stränge zur Anwendung kommen: Für die erste und zweite Aufklärung eine mehr deskriptive Beschreibung von deren Wahrheitspraktiken, für die geforderte Dritte Aufklärung eine mehr normative – denn dort geht es ja darum, wie der schleichenden Wahrheitsmüdigkeit zu entkommen ist. Im Übrigen hört sich der Begriff der Wahrheitspraktik zwar rundweg positiv an, aber er ist es – wie Hampe weiß – keineswegs. Auch die Beichte und die Folter sind ja im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit gebräuchliche Wahrheitspraktiken. Wenn aber Wahrheitspraktiken – normativ – zu kultivieren sind, nach welchen Kriterien kann man dann sagen, welche Wahrheitspraktiken kultiviert werden sollen? Doch wohl solche, die nicht mit den Verzicht auf Grausamkeit und der Förderung von Mündigkeit kollidieren. Dann aber gehen bereits bestimmte Werte in dieses Konzept ein. Wenn Wahrheitspraktiken andererseits, wie Hampe betont, jeweils für sich ihre eigene Evolution durchmachen, nicht gebunden an allgemeine Ideale und Prinzipien, dann kann es (auf dieser mehr deskriptiven Seite) durchaus schwer sein, die genannten Werte an sie zu binden.

III. Kultivierung von Wahrheitspraktiken Diese Überlegungen münden in ein allgemeines Unbehagen, das ich spüre, wenn ich mich als Aufklärungshistoriker mit Hampes Entwurf auseinandersetzen soll. Wie kann ich das machen? Wie kann überhaupt eine (zumal sehr skizzenhafte) Genealogie der Aufklärung, die diese in ihren Stadien auf ganz wenige wesentliche Innovationen reduziert, mit der „realen“ Aufklärung in ihrer historischen Fülle und Differenziertheit zusammengebracht werden? Es kann ja nicht darum gehen, im Ton eines Besserwissers auf die vielfältigen Strömungen und Varianten der Aufklärung hinzuweisen, oder etwa darauf, dass es natürlich auch im Mittelalter und in der Renaissance, oder in anderen Kulturen, relevante Innovationen gegeben hat. Die einzige fruchtbare Weise, die Verbindung herzustellen, die sich mir eröffnet, betrifft nochmals den Kernbegriff der Wahrheitspraktiken. Ließe sich ein historiographisches Projekt des Wandels von Wahrheitspraktiken (statt: von Wahrheitsbegriffen) etwa in der Frühen Neuzeit als Annäherung von der HistorikerSeite an die genealogisch-normative und zugleich gegenwartsdiagnostische Perspektive, die Hampe einnimmt, konzipieren? Ich habe an anderer Stelle einige,

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noch sehr vage, Vorschläge für ein solches Projekt gemacht.9 Dabei wären meiner Ansicht nach unterschiedliche, auch regional verschiedene Wahrheitskulturen zu beschreiben, bei denen jeweils ein unterschiedliches Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen zu konstatieren ist. Das ist gegen die einseitige Privilegierung des Vertrauens-Begriffs gesagt, die bei Stephen Shapin vorliegt; es trifft sich aber auch gut mit Michael Hampes Mahnung zur Balance zwischen Vertrauen und Kritik, die nötig sei.10 Dort etwa, wo besonders extreme normative Veränderungen gefordert wurden (wie in der Radikalaufklärung), mussten verstärkt Praktiken des Misstrauens angewandt werden, um das gefährdete Wissen zu schützen. Von dort aus ließe sich die Beschreibung weiter differenzieren, insbesondere wenn man historisch spezifische Wahrheitsszenen und Wahrheitsfiguren bedenkt.11 Die Aufgabe wäre dann zum einen, Hampes Genealogie historisch anzureichern und zu verfeinern, zum anderen, den Übergang herzustellen zur Gegenwartskritik, also der kritischen Analyse von heutigen Wahrheitsszenen, Wahrheitsfiguren und Unwahrheitsrisiken angeseichts von Fake-News, manipulativen Algorithmen und Information Overload. Drittens wäre dann die normative Utopie einer künftigen Kultivierung von Wahrheitspraktiken unter den von Hampe geforderten Bedingungen einer dritten Aufklärung, die keinerlei Ontologisierungen und Geschichtsnotwendigkeiten mehr anerkennt, auszubuchstabieren, und zwar unter ständiger Bezugnahme auf die historische Anreicherung.12

IV. Zweite Moderne, Dritte Aufklärung oder Krieg der Welten? Doch auch in diesem dritten Punkt muss ich innehalten und zögern. Wie weit soll der Verzicht auf historische Gesetzmäßigkeiten gehen? Soll er nur Fatalisten und Ideologen einen Riegel vorschieben, oder hindert er auch die Diagnose von historischen Verläufen? Würde damit Hampes imaginäre Genealogie sogar selbstwidersprüchlich, weil sie selbst eine Art Dreistadiengesetz aufstellt? Schauen wir kurz auf Hampes Ideengeber. Richard Rorty hat oft davon gesprochen, es sei eine zweite Aufklärung nötig. In seinen Ferrata Mora Lectures von Vgl. Martin Mulsow, Bedrohtes Wissen: Prolegomena zu einer Kulturgeschichte der Wahrheit, in: ders., Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012, 171–196. 10 Stephen Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago 1994. – Hampe, Die Dritte Aufklärung, Berlin 2018, 24. 11 Zu dieser Terminologie vgl. Bernhard Kleeberg, Robert Suter, Doing Truth. Bausteine einer Praxeologie der Wahrheit, in: Wahrheit. Zeitschrift für Kulturphilosophie 8 (2014), 211–226. 12 Im Aufsatz über Wahrheitspraktiken (vgl. Anm. 6) spricht Hampe ganz konkret die quasikantische Maxime aus: Habe Mut, Deine Wahrheitspraktiken zu entwickeln und zu kultivieren. 9

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1996 bezeichnet er seinen Neo-Pragmatismus als legitimen Schritt in Richtung auf die Vervollständigung des Projekts der Aufklärung.13 Hat die Aufklärung des 18. Jahrhunderts sich von Gott und vielen traditionellen, aber nicht kritisch einholbaren Vorstellungen gelöst, so würde die Zweite, pragmatistische Aufklärung sich jetzt auch noch von den säkularen Ontologisierungen dieser Aufklärung (etwa auch von einem absoluten Begriff von Wahrheit) freimachen.14 Robert Brandom interpretiert das als Fortsetzung der Autoritäts-Kritik der Aufklärung, die dort nur für den praktisch-moralischen Bereich gegolten habe, jetzt aber auch im Bereich der Theorie selbst stattfinde. Hilary Putnam hat 2001 in seinen Spinoza-Lectures an Rorty anschließend, aber eigene Akzente setzend, diese Abfolge von Aufklärung und neuer Aufklärung in eine dreistufige Genealogie umgewandelt, die bei Sokrates beginnt und über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts zum Neo-Pragmatismus führt.15 Auch Putnam bezieht sich dabei auf Deweys intrinsische Verbindung von Demokratie und wissenschaftlichem Fallibilismus sowie auf eine Neukonzeption von Ethik als Modell, das es anzustreben gelte. Allerdings ist er vorsichtiger als Rorty, was die Verabschiedung des Wahrheitsgebriffs angeht. Wie geht Hampe nun über Rorty und Putnam hinaus? Hampes Zurückweisung von jeglicher Geschichtsteleologie oder Großer Erzählung atmet den Geist von Rortys Ausweitung der Autoritätskritik auf die theoretische Sphäre, ist aber erkennbar eingeschränkter; Hampe scheint mir, wie auch Putnam, etwas vorsichtiger zu sein, vor allem was den Wahrheitsbegriff angeht. Das kommt mir auch sinnvoll vor, denn dass die Konzeption der Wahrheitspraktiken ganz ohne einen Wahrheitsbegriff auskommt, halte ich für zweifelhaft. Nun ist es aus der Sicht des Philosophen freilich legitim, eine neue Grundeinstellung zu fordern und dementsprechend ein neues Zeitalter einzuläuten; aus der Sicht des Historikers und des Sozialwissenschaftlers muss es notwendigerweise naiv erscheinen. Denn die Forderung nach einer neuen Zeit ist ja etwas ganz anderes als die Diagnose, eine neue Zeit beginne. Letzteres haben seit den 1990er Jahren mehrere Soziologen getan, unter anderem Ulrich Beck, der eine „Zweite Moderne“ seit den 1970er Jahren angebrochen sah, die die Erste Moderne oder Industriemoderne ablöse, indem die Nebenfolgen dieser Ersten Moderne so gravierend geworden seien, dass sie eine Umstrukturierung der gesellschaftlichen Verhältnisse bewirkten. Beck kommt bei seiner Diagnose aber auch in die Richard Rorty, Pragmatism, a Version: Anti-Authoritarianism in Epistemology and Ethics, hg. von Eduardo Mendieta (im Erscheinen). 14 Robert Brandom, Achieving the Enlightenment, in: ebd. 15 Hilary Putnam, The Three Enlightenments, in: ders., Enlightenment and Pragmatism, Amsterdam 2001, 9–28; wiederabgedruckt in ders., Ethics without Ontology, Cambridge, Mass. 2004, 89–108. 13

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Nähe von philosophischen Genealogien und ihren normativen Setzungen, weil er sagt, dass die Beschreibungsmodelle der Ersten Moderne wie die klassische Modernisierungstheorie in der neuen Zeit keine Gültigkeit mehr haben würden, wie auch viele andere klassische Denkweisen. Insofern fordert auch er eine Reformation unseres Begriffsapparates zur adäquaten Auseinandersetzung mit den Gegenwartsproblemen. Auch die soziologische Zweitmoderne-Theorie hat also ihre genealogischen Komponenten, und ich sehe sie vor ähnlichen Schwierigkeiten zwischen Historie, Soziologie und Philosophie, wie ich sie für Hampe beschrieben habe. Ich habe vor längerer Zeit zusammen mit Ulrich Beck versucht, zumindest die implizite Historik dieser Genealogie auszuformulieren und zu überlegen, wie sie mit gegenwärtigen Periodisierungen und Theoretisierungen der Neuzeit (etwa über Pluralisierungsschübe und Autorisierungsbremsen) kompatibel gemacht werden könne.16 Dann überwindet man die in die Soziologie nahezu eingeschriebene Dualität von modernen und „traditionellen“ Gesellschaften und gelangt zu einer Binnendifferenzierung der Moderne selbst. Dabei stellt sich beispielsweise heraus, dass es Sinn machen könnte, auch in einer Genealogie zwischen radikaler und moderater Aufklärung zu differenzieren, weil man dann die Reaktion auf zu schnelle „Einwanderung“ (um mit Jürgen Habermas zu sprechen) von neu gefundenen Basisprinzipien (wie Freiheit und Gleichheit) in die Gesellschaft in die Genealogie mit einbeziehen könne. So reagiert die moderate Aufklärung mit ihrer Physikotheologie und modernen Apologetik bereits auf die radikale Modernisierung der Theorie in den 1670er und 80er Jahren, und viele der Autoritätsschübe des 20. Jahrhunderts lassen sich als bremsende Reaktion auf die frühen Modernisierungen der 1880er und 90er Jahre erklären.17 Auch Michael Hampe kennt in seinem Buch die Beschreibung der Gegenwart über Nebenfolgen: „Die Frage ist“, schreibt er, „ob die Menschen als Opfer ihrer eigenen kollektiven Effekte – wie etwa Kriege und ökologische Katastrophen – die Ideale und Praktiken der Aufklärung aufgeben, zivilisatorisch untergehen und wieder in eine Art ,NaturzustandR eintreten, oder ob sie zu einem handlungsfähigen Subjekt zusammenwachsen.“18 Er bezieht also die Diagnose dessen, was Beck Zweite Moderne genannt hat, auf die genealogisch signifikante Unterscheidung zwischen Naturzustand oder friedlicher, kollektiver Subjektivität. Beck würde hier einerseits von Tendenzen zur Gegenmodernisierung und andererseits von Tendenzen zu neuen, zweitmodernen Vergemeinschaftsformen sprechen. Ulrich Beck, Martin Mulsow, Einleitung, in: dies. (Hg.), Vergangenheit und Zukunft der Moderne, Berlin 2014, 7–43. 17 Vgl. Martin Mulsow, Reflexive Modernisierung, Aufklärung und Frühe Neuzeit, in: ebd., 82–102. 18 Hampe, Die Dritte Aufklärung (wie Anm. 10), 20. 16

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Die Forderung nach einer kollektiven Subjektivität der Menschheit bei Hampe ist natürlich angesichts der ökologischen und atomaren Problemlage völlig verständlich. Wie diese philosophisch zu denken ist – demokratietheoretisch mit den Pragmatisten, im Sinne einer idealen Diskursgemeinschaft zur Verständigung über gemeinsame Ziele19 wie bei Habermas oder in Richtung auf einen transformierten Hegelianismus – scheint mir völlig offen und durchaus problematisch. Ich kann an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass auch Rückbezüge auf die „reale“ Aufklärung dabei nicht ausgeschlossen sind. Im Wolffianismus des 18. Jahrhunderts gab es den Problemtitel „civitas maxima“, unter dem Fragen verhandelt wurden, die die gesamte Menschheit angingen.20 Wo nicht mehr auf Himmel und Hölle als Strafinstitutionen gesetzt wurde, arbeitete man alternative Möglichkeiten zur Normdurchsetzung aus; die aufgeklärte Erdgemeinschaft lebte dann in einem Weltinnenraum der Sanktionen.21 Die „civitas maxima“ in diesem Sinne war dabei letztlich auch diachron als die Abfolge von Menschheitsgenerationen zu verstehen und bekam einen Anstrich dessen, was man „politischen Averroismus“ genannt hat: die Realisierung des einen gesamten Menschheitsintellekts, in der geschichtlichen Abfolge der Menschheitsgenerationen, die auf das Ziel der Gattung zustreben.22 Da dieses Ziel der endgültige Friedenszustand ist, war dieser Averroismus eo ipso politisch. Doch auf diese Dinge will ich hier nicht näher eingehen. Stattdessen will ich zum Schluss noch ein weiteres Modell von gewissermaßen neuer Aufklärung anführen, weil es dabei helfen könnte, den Naivitätsvorwurf auszuräumen, der dann aufkommt, wenn eine neue Bewegung gefordert wird, ohne auf die Bedingungen, wie sie überhaupt durchzusetzen wäre, zu reflektieren. Ich zögere allerdings, denn dieses Modell ist mit dem Namen Bruno Latour verbunden. Latour drückt sich oft verwaschen aus und benutzt seine eigene idiosynkratische Terminologie, ohne sich besonders mit bestehenden philosophischen Debattenlagen und Begrifflichkeiten auseinanderzusetzen. Das macht seinen Entwurf oft schwer nachvollziehbar und auf andere Modelle zu beziehen. Und doch scheint er mir von der Sache her wichtig, zumal er mit Michael Hampe darin übereinkommt, dass es hier nicht Vgl. ebd., 19. Vgl. Francis Cheneval, Auseinandersetzungen um die civitas maxima in der Nachfolge Christian Wolffs, in: Studia Leibnitiana 33 (2001), 125–144. 21 Vgl. Martin Mulsow, Das Planetensystem als Civitas Dei. Jenseitige Strafinstanzen im Wolffianismus, in: Lucian Hölscher (Hg.), Das Jenseits. Facetten eines religiösen Begriffs in der Neuzeit, Göttingen 2007, 40–62. 22 Vgl. Wolfgang Hübener, Unvorgreifliche Überlegungen zum möglichen Sinn des Topos ,politischer AverroismusR, in: Friedrich Niewöhner (Hg.), Averroismus im Mittelalter und in der Renaissance, Zürich 1994, 222–238; Friedrich Niewöhner, Oh hätte Machiavelli doch Averroes gelesen!, in: Wilhelm Kühlmann, Wolf-Dieter Müller-Jahncke (Hg.), Iliaster. Literatur und Naturkunde in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 1999, 211–219. 19 20

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lediglich um eine Theorieperspektive geht, sondern um das aktive und engagierte Eingreifen in den Weltlauf. Latour hat in Existenzweisen und in Kampf und Gaia anhand der Debatte um den Klimawandel die sehr komplexen Schwierigkeiten beschrieben, auf die diejenigen stoßen, die den Ernst der Lage verstanden haben und zugleich in den „Kampf“, wie Latour es nennt, eintreten wollen.23 Sagen wir pauschaler, es gehe um den Kampf um die Dritte Aufklärung. Ich nehme mir die Freiheit, Latours Analyse mit Begriffen von Beck, Rorty und Luhmann zu reformulieren. Es geht zum einen darum, die Kategorien der Beschreibung selbst zu verändern. Nötig sind – mit Beck zu reden – zweitmoderne Begriffe, die die Verflechtung von Natur und Kultur und vielen anderen Dichotomien reflektieren. Latour spricht deshalb gar von einem „Krieg der Welten“ und meint eine Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Beschreibungstypen (die „Erde“ als gegenüber der Kultur separate Natur, oder „Gaia“ als die Ökosphäre, bei der nicht zwischen Natur und Kultur getrennt werden kann). Zum anderen ist es unerlässlich, die eigene Intervention zugunsten einer Dritten Aufklärung als einen Kommunikationsakt unter vielen zu verstehen. Was im Bereich der Philosophie oder Gegenwartssoziologie erkannt ist, muss erst in schwierigen Übergängen in andere gesellschaftliche Teilsysteme übersetzt und hineingetragen werden (und das zumal gegen aktive Widerstände und Desinformationskampagnen); Latour spricht davon, dass für jeden Übergang ein „Pass“ benötigt werde. Jedes dieser Teilsysteme folgt seiner eigenen Logik, und jedes hat auch – darin gibt es eine Überseinstimmung mit Hampe – seine eigenen Formen des „Wahrsprechens“ (Latour benutzt hier einen Ausdruck von Foucault). Latour gefällt sich darin, diesen ganzen Prozess als eine Art Anthropologe zu beschreiben; das gibt ihm die nötige Distanz zur eigenen Kultur. Mit Rorty gesprochen geht es darum, in einem Zeitalter verflüssigter Kategorien, in dem es keinerlei letzte Verabsolutierungen und Ontologisierungen mehr gibt, miteinander ins Gespräch zu kommen: nicht nur mit anderen Menschen und Gesellschaften, sondern vor allem auch unter den verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen. Es gibt nur noch Praktiken, keine festen Theorieparameter mehr. Es reicht aber nicht, in dieser Lage eine neue Epoche auszurufen. Vielmehr wäre die große Kunst der „Dritten Aufklärung“ die Diplomatie, sich in dieser verflüssigten Welt zwischen den Bereichen zu bewegen und in diesem verwickelten Prozess seine aufklärerische Agenda zu verfolgen. So gesehen, so rekonstruiert, beginnt Latour dort, wo Hampe aufhört.

Bruno Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014; ders., Kampf um Gaia. Acht Vorträge über das neue Klimaregime, Berlin 2017. Zu vergleichen wäre hier auch Ulrich Becks letztes großes Projekt Die Metamorphose der Welt (Berlin 2016). 23

Christine Weckwerth Aufklärung als Antwort auf die Probleme der Gegenwart? Bemerkungen zu Michael Hampes Plädoyer für eine „Dritte Aufklärung“

Für den Aufklärer Kant bildeten das Buch, der Seelsorger und der Arzt Institutionen, die das Selbstdenken entbehrlich machten.1 Heute sind es die digitalen Medien, die mit ihren permanent einströmenden Botschaften den einzelnen vom eigenen Urteil abhalten. Noch ohne Kenntnis von Internet oder Big Data konstatierte der Kulturkritiker Günther Anders, dass die Medien die Menschen passivisieren sowie in Unmündige und Hörige verwandeln würden.2 Auch wenn man die Auswirkungen weniger schwarz sehen und anerkennen muss, dass die digitalen Medien heute die Möglichkeiten der Kommunikation, Wissenserschließung und -vermittlung in ungeahnter Weise erweitern, so ist nicht zu übersehen, dass sie zugleich zu einer Fragmentierung und Verselbstständigung des Wissens beitragen – hinter dem Schein der Informiertheit verschwinden die Zusammenhänge des medial Präsentierten. Dieser Entwicklung entspringt im Gegenzuge das Bedürfnis nach Aufklärung, das nicht allein auf eine Erhellung der faktischen Welt, sondern zugleich auf die Sichtbarmachung einer möglichen besseren Welt drängt. Eine solche Intention findet sich bei Aufklärern wie Sokrates, den französischen Enzyklopädisten, Kant, Bruno Bauer im Vormärz, Ernst Cassirer im aufziehenden Nationalsozialismus oder Vertretern der Diskursethik im 20. Jahrhundert, die alle danach strebten, durch rationale Selbstvergewisserung und Wissenschaft das Wohl der Menschheit zu befördern. Beunruhigt von den Auswirkungen des Neoliberalismus hat sich Anfang dieses Jahrhunderts bereits der Soziologe Pierre

Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. VIII, Berlin, Leipzig 1923, 35. 2 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, 7., unveränd. Aufl., München 1985, VIII und 107. – Anders bezieht seine Medienkritik hier auf Rundfunk und Fernsehen. 1

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Bourdieu für eine neue Aufklärungsbewegung ausgesprochen.3 Nunmehr plädiert auch der in der Schweiz lehrende Michael Hampe für eine solche Bewegung. Seinem Manifest für eine „Dritte Aufklärung“ stellt er bezeichnend ein Zitat von John Dewey voran, nach dem eine große wissenschaftliche Revolution erst erfolge, „wenn die Menschen ihr Wissen kollektiv und kooperativ für die Anwendung organisieren, um soziale Werte zu erreichen“.4 Er selbst erkennt der Aufklärung heute die Aufgabe einer „globalen Bewusstseinsbildung“ zu, welche die Menschheit zum „Subjekt ihrer eigenen Geschichte“ machen würde (20, 22). In Abgrenzung gegen Aufklärungskritiker im marxistischen, konservativen oder postmodernen Lager (vgl. 67–76) hält er am Gedanken menschlicher Selbstbestimmung fest, wobei seine am Ende aufgestellte Forderung, aufgeklärter Pragmatiker und nicht nur Diagnostiker und Beobachter zu sein (vgl. 81), an das Praxisangebot in MarxQ elfter Feuerbachthese denken lässt.5 Im Folgenden soll zunächst nach der Spezifik und Tragfähigkeit seines Aufklärungskonzepts gefragt werden, um anschließend einige Stichpunkte hinsichtlich einer erweiterten Aufklärungsperspektive zu geben. Zugunsten systematischer Fragestellungen wird auf eine theoriegeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Konzept einer „Dritten Aufklärung“ verzichtet. I Hinter dem Aufruf zu einer neuen Aufklärungsbewegung steht bei Michael Hampe eine Kriseneinsicht. Auf dem Negativsaldo der Gegenwart stehen nach ihm Konkurrenzdenken, Orientierungslosigkeit, ein Vertrauensverlust gegenüber Eliten, die Inflation von Meinungen oder auch der Glaube an Fake News. In den „Netzwerken von Elektrogehirnen“ verbreiteten sich Unwahrheiten, Aberglauben und verbale Gewalt, wobei etablierte Normen der Kommunikation, des Wissens und Praktiken der Wahrheit keinen Eingang in die digitale Welt fänden. Unter den Bedingungen elektronischer Informationstechnik habe sich eine globale Universalisierung der Wirtschaftssphäre vollzogen, in deren Folge andere gesellschaftliche Teilprozesse dem pekunären Maßstab untergeordnet würden (vgl. 17, 27, 29, 32 f.).6 Zu Recht erkennt er darin eine Aushöhlung gemeinschaftSiehe Pierre Bourdieu, Für eine neue europäische Aufklärung, in: UTOPIE kreativ 139 (Mai 2002), 389–397. 4 Michael Hampe, Die Dritte Aufklärung, Berlin 2018, 3. Die Seitenangaben aus diesem Buch werden im Folgenden eingeklammert in den Text eingefügt. 5 „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretirt, es kömmt drauf an sie zu verändern.“ Karl Marx, 1) ad Feuerbach, in: Notizbuch aus den Jahren 1844 – 1847, in: ders., Friedrich Engels, Gesamtausgabe, Bd. IV/3, Berlin 1998, 21. 6 Die heutige Welt wird Michael Hampe zufolge von einer „irrationalen Konkurrenzreligion“ beherrscht, „nach der alles – Bildungs- wie Gesundheitssysteme, der öffentliche Nahverkehr ebenso 3

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licher Werte, ohne die ein kooperatives, bewusstes Handeln nicht möglich ist (vgl. 17). Die Krisensymptome führt er bestimmter auf eine „Erosion der aufgeklärten Kultur“ zurück. Der Verlust einer solchen Kultur, wie er vermutet, kann gravierender als der Verlust der Demokratie sein (vgl. 9 f.). Eine aufgeklärte politische Kultur zeichne sich demgegenüber durch wohlinformierte und am Gemeinwohl orientierte Bürger, eine auf Wahrhaftigkeit und zwanglosen, kommunikativen Ausstauch abzielende Öffentlichkeit, durch das Vertrauen in politische Institutionen wie auch argumentative statt gewaltsame Konfliktlösungen aus (vgl. 8, 10). Das Bild der Erosion schließt ein, dass vor dem Abtragungsprozess ein kulturelles Gesteinsmassiv bestanden haben muss, das die beschriebenen Interaktionszusammenhänge ermöglicht hat. Wo und wann wird offengelassen, und man muss fragen, ob ein solcher Idealzustand jemals geschichtliche Realität hatte. In seinen weiteren Ausführungen spezifiziert Michael Hampe die Aufgabe der Aufklärung und bestimmt sie als Vermeidung von Grausamkeit (vgl. 47 ff.). Den Gegenspieler des aufgeklärten Denkens sieht er mit Blick auf die erodierte Kultur nicht in der blinden Logik des Kapitals, dem bürokratischen Staat, dem religiösen Fundamentalismus oder einer verselbstständigten künstlichen Intelligenz, sondern eigens im „mythischen Geschichtsdenken“. In seinem „irrationalen Glauben an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts (oder des Untergangs)“ bedrohe dieses Denken die Fortsetzbarkeit der Aufklärung und mache eine neue Aufklärungsbewegung nötig (15).7 Es verwundert, dass er sich hierbei auf den Marxismus und Spenglers lebensphilosophisch geprägte Kulturtheorie bezieht, die den Zenit ihrer Popularität offensichtlich überschritten haben. Ist der Marxismus mit dem Ende des Realsozialismus doch zu einer Marginalie geworden, wie Spenglers Gedanke eines wiederkehrenden Aufstiegs und Abstiegs von Kulturen heute eher der Erwartung einer auf die Menschheit zurollenden Katastrophe gewichen ist. Eine weitere Bedrohung gehe von dem mangelnden „Bewusstsein für die normativen Auswirkungen des technischen Wandels“ aus (15), das ausblende, dass im Zuge der Diwie die Verwaltung, die Gefängnisse oder die Geschlechterbeziehungen – in Konkurrenzverhältnissen analog zu Warenmärkten zu organisieren seien“ (28). 7 Der Gedanke, Aufklärung als Kampf mit dem Mythos zu begreifen, findet sich in Max Horkheimers und Theodor Adornos Dialektik der Aufklärung wie in Ernst Cassirers, kurz vor seinem Tode abgeschlossener Arbeit Der Mythus des Staates, die beide eine unmittelbare Reaktion auf den Nationalsozialismus bildeten. Indem Michael Hampe das mythische Geschichtsdenken als eine Preisgabe des aufgeklärten Denkens interpretiert, folgt er Cassirer, der den Mythos ebenfalls als ein Pendant – und nicht als Produkt – der Aufklärung begriff. Ein rationales Wissen um das eigene Tun war Cassirer zufolge umso mehr gefragt, als er durch den Nationalsozialismus die Einsicht gewonnen hatte, dass die Menschen in verzweifelten Lagen immer Zuflucht zu verzweifelten Mitteln nehmen, wozu er die politischen Mythen seiner Zeit zählte. Er war davon überzeugt, dass in gesellschaftlichen Krisen die den Mythen widerstehenden, rationalen Kräfte ihrer selbst nicht mehr sicher seien (vgl. Ernst Cassirer, Der Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt am Main 1988, 363 f.).

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gitalisierung etablierte Normen der Kommunikation und Wahrheitspraktiken unterlaufen werden. Diesen illusionären Einstellungen hält Michael Hampe die Erkenntnis entgegen, dass wir in einer „gemischten Welt“ lebten, in der es Zufälle und Notwendigkeiten sowie auch menschliche Intentionen als die Wirklichkeit beeinflussende Faktoren gebe (12). Eine solche Einstellung sei nur aus einer „beteiligten Sicht der Geschichte“ zu gewinnen (70). Sein Aufklärungskonzept läuft unter diesen Prämissen auf eine „Bildungsbewegung“ hinaus (83), die auf eine Steigerung der interkulturellen Bildung abziele (20).8 Nur wenn die europäischen, chinesischen, amerikanischen, indischen, russischen usw. Menschen sich gegenseitig kennen und verstehen lernen, könnten sie bewusst gemeinsame Ziele entwickeln und verfolgen (ebd.). An einer Stelle seines Buches vergleicht er die kollektiv handelnde Menschheit mit einer eingespielten Fußball- oder Eishockeymannschaft (18). Denkt man dieses Bild weiter, ließen sich am Spielfeldrand aufgeklärte Philosophen als Trainer denken, die Anhänger eines historischen Determinismus wie die Verkenner von Technikfolgen auf die Auswechselbank schickten. Sie selbst kennen bestens die Spielregeln und sorgen für die Konditionierung sowie ein optimales Zusammenspiel der Spieler. Vor dem Hintergrund einer gegenwärtig zu erlebenden Verselbstständigung gesellschaftlicher Teilprozesse und damit einhergehenden Fragmentierung des Wissens ist Michael Hampes Plädoyer für Aufklärung offensichtlich zu begrüßen, ebenso seine Kritik an einem Denken, das von philosophisch-logischen Zusammenhängen auf die faktische Geschichte schließt. Das gilt umso mehr, als die philosophischen Kategorien der Vergangenheit heute nicht mehr für das Verständnis der gegenwärtigen Welt ausreichen.9 Auch seiner basalen Einsicht, dass die menschliche Geschichte von unberechenbaren, unbeabsichtigten Ereignissen durchzogen ist und dennoch Handlungsspielräume zur Mitgestaltung bietet, möchte man nicht widersprechen. Wie aus dem innerphilosophischen Kampf gegen ein falsches Geschichts- und Technikverständnis allerdings eine globale Bildungsbewegung hervorgeht, in deren Folge die Menschen sich wieder bewusst dem Gemeinwohl zuwenden und zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte werden, bleibt in seinem Manifest ein Postulat. Der zitierte Dewey wies ausdrücklich auf den instrumentellen Charakter der Wissenschaft hin; diese sei gegen ihre äußerliche Anwendung gleichgültig und könne sowohl zum Guten als auch zum Bösen führen.10 Lässt sich interkulturelle Bildung nicht ebenso als eine Akkumulation Auch in dieser Konsequenz folgt Michael Hampe John Dewey, der die Philosophie in seinem 1916 erschienenen Werk Democracy and Education als eine allgemeine Theorie der Erziehung definiert. 9 Zu dieser Auffassung siehe Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität, 4. Aufl., Berlin 2019, 84. 10 John Dewey, Wissenschaft und Gesellschaft (1931), in: ders., Philosophie und Zivilisation. Aus dem Amerikanischen von Martin Suhr, Frankfurt am Main 2003, 312. 8

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von Bildungskapital denken, mit der sich die Aufstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt erhöhen und infolgedessen der Konkurrenzdruck und die Entsolidarisierung unter den Beschäftigten zunehmen? Kann der interkulturelle Austausch nicht auch zu einer Hegemonie der wirtschaftlich und politisch starken über schwächere Länder führen? Lässt sich die Menschheit unter der strukturell bedingten Interessensdivergenz und Ungleichheit überhaupt als ein kollektiv handelndes Subjekt denken? Wie kann sich aufgeklärtes Denken angesichts der Vielzahl in den Medien kursierender Wissens- und Glaubensformen überhaupt Gehör verschaffen und besteht im Fall, dass es sich staatlicher Macht bedient, nicht die Gefahr einer Erziehungsdiktatur? Eine solche Dialektik der Aufklärung spielt bei Michael Hampe eine untergeordnete Rolle, da er Wissenschaft und Bildung primär in den Dienst der Kultur und nicht ökonomischer oder machtpolitischer Interessen stellt. Er sieht die interkulturelle Bildung entsprechend auf ein gegenseitiges Verstehen der Menschen zulaufen, das eine Verständigung über gemeinsame Möglichkeiten und Ziele und damit ein einheitliches kollektives Handeln ermögliche. Voraussetzung dafür sei die Kommunikationsfähigkeit der Menschen (vgl. 19). Dahinter scheint die Idealthese eines unbegrenzten Verstehenszusammenhanges wie einer daraus hervorgehenden Verständigung der Menschen hervor, die pragmatisch-pädagogisch eingelöst werden soll.11 Dass die faktische Geschichte ebenfalls von gesellschaftlichen Prozessen jenseits rational-argumentativer Wissensbildung und Kommunikation bestimmt wird, die unsere Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata prägen, wird von ihm zwar nicht bestritten, im Hinblick auf die Kultivierung der Menschheit jedoch in den Hintergrund gestellt.12 Daran zeigt sich eine Generalisierung rational-wissenschaftlicher Prozesse, mit der die antizipierte Aufklärungsbewegung von ökonomischen, politischen, religiösen, rechtlichen oder auch alltagspraktischen Vermittlungszusammenhängen abgetrennt wird. Dem aufgeklärten Denken wird damit einerseits mehr aufgebürdet, als es leisten kann, andererseits wird es durch seine Abkopplung von reellen gesellschaftlichen Prozessen abstrakt. Michael Hampe entschärft diese Problematik, indem er die Aufklärung auf das Ziel der Grausamkeitsvermeidung festschreibt, was eine deutliche Einschränkung tradierter Aufklärungsziele bedeutet. Es ist zu fragen, ob Aufklärung heute nur um den Preis einer solchen Idealisierung und Selbstbeschränkung zu denken ist. Dazu ein paar Stichpunkte. Zu der These eines unbegrenzten Verstehenszusammenhanges und ihrer Kritik siehe auch Christoph Menke, Zur Kritik der hermeneutischen Utopie. Habermas und Foucault, in: Eva Erdmann, Rainer Forst, Axel Honneth (Hg.), Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankfurt am Main, New York 1990, 101–129. 12 Im aufgeklärten Bewusstsein erkennt Hampe entsprechend den möglichen „Ausgangspunkt für ein anderes Verhalten gegenüber dem eigenen Denken, eine andere Vernetzung, ein anderes kollektives Bewusstsein“ (33). 11

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II Als eine nach der Spezifik und dem Zusammenhang der Erscheinungen fragende Instanz kommt der Philosophie bei der Selbstaufklärung der Gesellschaft eine zentrale Funktion zu, was einschließt, dass sie über sich selbst aufgeklärt ist. Für viele Enzyklopädisten wurde sie dieser Funktion nur gerecht auf Basis eines Sensualismus und Empirismus, für Kant nur durch eine vorausgehende Kritik der Vernunft, mit dem Ziel, systematische Rationalität zum dominierenden Element im kulturellen Selbstverständnis zu erheben.13 Michael Hampe hält allein einen anthropologischen Konstruktivismus, „in dem die Menschen ihre praktischen Gemeinsamkeiten selbst hervorbringen“, mit einer aufgeklärten Lebensweise vereinbar (21). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der von ihm beschriebenen medialen, ökonomischen, technischen oder politischen Verselbstständigungsprozesse greift es meines Erachtens jedoch zu kurz, allein subjektive Dispositionen und Praxen in Betracht zu ziehen; es ist vielmehr zugleich nach deren Einbettung in das Gefüge differenter gegenständlicher Vermittlungsformen zu fragen, in denen die subjektiven Formgebungen und objektiven natürlichen und geschichtlichen Gegebenheiten zusammengeführt sind. Dieses komplexe Gefüge bildet den strukturellen Rahmen menschlicher Aktivitäten und wird nach Pierre Bourdieu von den Menschen in Form von Dispositionsschemata, d. h. objektiven Möglichkeiten in Gestalt von Erwartungen und Vorwegnahmen, einverleibt.14 Eine Ablehnung geschichtsdeterministischer Prämissen bedeutet in dieser Hinsicht nicht, dass man auf eine Analyse der geschichtlichen und sozialen Zusammenhänge generell verzichten kann. Einen Perspektivwechsel zur objektiven Struktur und Dynamik der geschichtlichen Vergesellschaftung der Menschen hat im Anschluss an die Aufklärung Hegel vollzogen. Im Rahmen seiner Geistesphilosophie begriff er die Gesellschaft als ein widersprüchliches Ganzes heterogener gesellschaftlicher Prozesse und darin involvierter Wissensformen, die er in ihren geschichtlichen, strukturellen und auch logischen Zusammenhängen rekonstruierte. Dabei zeigte er die Geschichte als einen Ort permanenter Verkehrungen auf, wo dem Bewusstsein die Folgen seiner Taten nicht seine Taten selbst sind.15 Er stieß hierbei auf die Problematik, in der modernen Gesellschaft eine gelingende soziale Integration bei gleichzeitiger Ermöglichung von Freiheit zu begründen, die bis heute unabgegolSiehe dazu Gerd Irrlitz, Kant-Handbuch. Leben und Werk, Stuttgart, Weimar 2002, XIX. Siehe dazu Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt am Main 2001, 165 ff. 15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 9, Hamburg 1980, 201. 13

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ten ist.16 Ohne Rekurs auf die Natur und geschichtlichen Vermittlungszusammenhänge bleibt eine um Aufklärung bemühte Philosophie, wie ich denke, auf halber Strecke stehen.17 Diese Zusammenhänge sind weder als Realisierungsformen eines logischen Subjekts (Hegel) oder Resultate eines naturgesetzmäßigen Geschehens noch als bloße Konstrukte menschlicher Praxis aufzufassen, sondern als subjekt- und objektvermittelte Gegebenheiten, die in ihren jeweiligen Spezifika und Bezügen die in der Geschichte interagierenden Menschen bestimmen. Am Maßstab darin eingelassener Werte wie Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit oder Solidarität hat sich eine aufgeklärte Philosophie ebenfalls auf diese Gegebenheiten und entsprechende Habitus-Schemata zu beziehen. Sie ist in dieser Hinsicht immer zugleich eine Kritik unseres historischen Seins, wie Foucault die Aufklärung umschrieben hat.18 Eine Aufklärung, die sich heute auf das Ziel der Grausamkeitsvermeidung beschränkt, verliert die Realisierung anderer emanzipatorischer Ziele und damit bestehende Missstände jenseits der Grausamkeit demgegenüber aus den Augen. Angesichts der von Michael Hampe selbst aufgezeigten negativen Tendenzen in der Gegenwart müsste eine auf Selbstbestimmung und Gemeinwohl abzielende Aufklärung gleichfalls gegen politische Herrschafts- und Ausgrenzungsformen, gegen soziale Ungleichheit oder auch gegen den durch das bürgerliche Recht ermächtigten privaten Eigenwillen19 auftreten. Gegenüber Foucault, der das Ethos der Aufklärung als „Grenzhaltung“ bestimmt hat – im Sinne, dass die historische Analyse der gegebenen geschichtlichen Grenzen die Möglichkeit erfasst, diese Grenzen (individuell) zu transzendieren –,20 ist einer aufgeklärten Philosophie heute, wie ich denke, mehr zuzumuten. Sie hat in der geschichtlichen Wirklichkeit selbst objektive soziale Werte und strukturelle Voraussetzungen bzw. Potenziale aufzudecken, die allen Menschen ein gutes Leben, die Entwicklung ihrer Fähigkeiten wie eine gelingende soziale Integration ermöglichen können.21 Solche Potenziale werden in gegenwärtigen Sozialtheorien in dem UneiSiehe auch Jürgen Habermas, Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit. Vortrag an der Universität Frankfurt, 19. Juni 2019, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 67 (2019), 733. 17 Eine Abkoppelung der politischen Philosophie von der Gesellschaftsanalyse kritisierend, beruft sich gleichfalls Axel Honneth in seinem Buch Das Recht der Freiheit auf Hegels objektiven Ansatz und entwirft eine Theorie der Gerechtigkeit spezifisch aus den „Strukturvoraussetzungen der gegenwärtigen Gesellschaft“ (Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Berlin 2013, 17). 18 Siehe Michel Foucault, Was ist Aufklärung?, in: Erdmann, Forst, Honneth (Hg.), Ethos der Moderne (wie Anm. 11), 45. 19 Siehe dazu Christoph Menke, Kritik der Rechte, Berlin 2015, 12. 20 Foucault: Was ist Aufklärung? (wie Anm. 18), 48 f. 21 Siehe auch Martha C. Nussbaum, Gerechtigkeit oder Das gute Leben, hg. von Herlinde PauerStuder, aus dem Amerikanischen von Ilse Utz, Frankfurt am Main 1999, bes. 86 ff. und 176 ff. 16

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gennützigkeit bergenden Feld der Wissenschaft,22 in den einzelnen gesellschaftlichen Sphären innewohnenden kommunikativen und moralischen Potenzen, in einem das Privatrecht überschreitenden, neuen Recht23 oder auch in gemeinschaftlichen Wirtschaftsweisen24 gesehen. Zur Begründung eines gesellschaftlichen Wandels bezieht sich Michael Hampe auf aufgeklärte Philosophen und Wissenschaftler auf der einen und Menschen unterschiedlicher Nationen auf der anderen Seite, die mittels einer interkulturellen Bildungsbewegung zu einem kollektiven Subjekt zusammengeschlossen werden. Die konträren Interessen und Ansprüche der Menschen, wie sie aus ihrer unterschiedlichen sozialökonomischen Position, beruflichen Qualifikation, geschlechtlichen, ethnischen oder religiösen Herkunft resultieren, werden entsprechend hintangestellt. Auf die basale Bedeutung praktischer Interessen und Bedürfnisse waren im Anschluss an den deutschen Idealismus demgegenüber die Vertreter der Vormärzgeneration gestoßen. Gegen das Kritik-Konzept Bruno Bauers hat der damalige Noch-Feuerbachianer Marx polemisch eingewandt, dass die „Idee“ sich immer blamierte, „soweit sie von dem ,InteresseR unterschieden war“.25 Dieser Einwand ist nicht trivial: Wie sollen soziale Werte wie Toleranz, Gemeinwohlorientierung oder Solidarität von Menschen realisiert werden, die am Rande der Gesellschaft um ihre nackte Existenz kämpfen? Im Erfahrungshorizont der einsetzenden Industrialisierung, Technisierung und auch Polarisierung der Gesellschaft wandten sich Vertreter der nachhegelschen Generation sozialen Schichten, Klassen und Bewegungen wie auch dem Phänomen der Masse zu, wobei sie die Dynamik geschichtlicher Prozesse aus sozialen Kämpfen erklärten. In Auseinandersetzung mit Max Stirner erkannte Marx dabei, dass soziale Gruppen bzw. Klassen, um ihre Herrschaft zu begründen und abzusichern, ihre partialen Interessen als allgemeine, universale ausgeben, wofür er den Begriff der Ideologie gebrauchte. Die damals zu erlebende Pauperisierung der Gesellschaft führte ihn und andere Zeitgenossen zu der Einsicht, dass im Besonderen der kollektiven Erfahrung von Not und Unrecht ein Interesse an gesellschaftlichen Veränderungen entspringt, vorausgesetzt, dass es wahrgenommen und artikuliert wird. Auch heute kommt eine nach Aufklärung strebende Philosophie nicht um den Tatbestand konträrer Interessen und Ansprüche umhin, nicht zuletzt um die soziaSiehe etwa Bourdieu, Für eine neue europäische Aufklärung (wie Anm. 3), 395. Siehe Menke, Kritik der Rechte (wie Anm. 19), 369 ff. 24 Der US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin etwa sieht als Folge der Informationstechnologie einen Paradigmenwechsel vom Marktkapitalismus zu den kollaborativen Commons hervorgehen (siehe ders., The Zero Marginal Cost Society: The Internet of Things, the Collaborative Commons, and the Eclipse of Capitalism, New York 2014, 1 ff.). 25 Friedrich Engels, Karl Marx, Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Consorten, in: dies., Werke, Bd. 2, Berlin 1980, 85. Siehe eine ähnliche Auffassung auch bei Max Stirner, Der Einzige und sein Eigenthum, Leipzig 1845, 83. 22 23

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len Akteure und Bewegungen auszumachen, die an einer Realisierung emanzipatorischer Werte interessiert sind. Im Unterschied zu Vertretern der Vormärzgeneration, die von einem Emanzipationssubjekt ausgingen, stellen die Sozialwissenschaften heute die Heterogenität sozialer Akteure und Bewegungen in den Vordergrund, mit der eine starke thematische und politische Differenzierung sowie eine Fragmentierung der Konfliktlinien verbunden ist.26 Im Gegenzuge hätte ein aufgeklärtes Denken nicht nur konträre Interessenslagen aufzudecken, sondern ebenso auf übergreifende kollektive Interessen aufmerksam zu machen. In Anbetracht, dass künftige Mobilisierungen eher im rechten Spektrum des Bewegungssektors vermutet werden,27 fiele ihm zugleich die Aufgabe zu, gegen soziale Akteure und Bewegungen aufzutreten, die einen gesellschaftlichen Wandel in Richtung einer autoritär-ausgrenzenden Ordnung anstreben. Ebenso hätte es auch soziale Notstände sichtbar zu machen, um den Prekarisierten und Ausgegrenzten die Möglichkeit zur Einsicht in eigene Ansprüche und überindividuelle Zusammenhänge zu eröffnen.28 Um die Gesellschaft über sich aufzuklären, fordert Michael Hampe eine beteiligte Sicht der Geschichte ein. Wenn er die Hauptaufgabe der Aufklärung darin sieht, gegen das geschichtsmetaphysische Denken anzukämpfen, scheint er die Aufklärung von der realen Welt allerdings eher abzweigen zu wollen. Der von ihm zitierte Dewey stellte heraus, dass die Philosophie ihr Wissen nicht aus sich beziehen könne, sondern auf die heterogenen, nicht-reflexiven Erfahrungen angewiesen sei, denen er einen primären Charakter einräumte.29 Der professionelle Philosoph neigte dagegen dazu, die Erfahrungen und Gegenstände sich nach der Art seiner eigenen theoretischen Tätigkeit vorzustellen. Dewey betonte in diesem Kontext, dass die Dinge und Qualitäten den meisten Menschen in Situationen der Siehe Dieter Rucht, Gesellschaft als Projekt – Projekte in der Gesellschaft, in: Ansgar Klein, Hans-Josef Legrand, Thomas Leif (Hg.), Neue soziale Bewegungen, Opladen, Wiesbaden 1999, bes. 19 f. sowie auch Ansgar Klein, Hans-Josef Legrand, Thomas Leif, Einleitung, in: ebd., 7 ff. 27 Ebd., 9. 28 Mario Candeias, Von der Anomie zur Organisierung: Die Pariser Banlieue, in: Robert Castel, Klaus Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt am Main, New York 2009, 374. Eigens im Bewusstwerden existierenden Unrechts erkennt Jürgen Habermas ein moralisches Potenzial und bemerkt in diesem Zusammenhang, dass „moralische Empörung über soziale und politische Ungerechtigkeiten als Schrittmacher für die Ausdehnung jener neuen Art politischer Sittlichkeit dienen [kann], die über soziale und kulturelle Abstände hinweg Solidarität zwischen Bürgern stiftet“ (Habermas, Noch einmal: Zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit [wie Anm. 16], 742). 29 Siehe John Dewey, Einleitung zu den „Essays in experimenteller Logik“, in: ders., Erfahrung, Erkenntnis und Wert, Frankfurt am Main 2004, 95 f. Auch der Aufklärer Voltaire hatte neben dem „Kompass der Mathematik“ auf die „Fackel der Erfahrung“ verwiesen, ohne deren Hilfe die bekannten Phänomene nicht zu erschließen seien (zitiert nach Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 1998, S. 15). 26

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Wertschätzung und Abneigung, des sozialen Umgangs, des Vergnügens und Leidens, der Produktion und der Arbeit, der Manipulation und Zerstörung erschienen.30 Auch eine rational operierende Aufklärung kann die Welt nicht aus sich beziehen. Auf diese Problematik war auch Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ gestoßen, der zu deren Auflösung auf die Erfahrungsebene des naiven, unreflektierten Bewusstseins bzw. auf gattungsgeschichtlich relevante Erfahrungen zurückging.31 Unter Erfahrung verstand er dabei den Prozess, in dem eine Diskrepanz zwischen Wissen und Gegenstand wahrgenommen wird – wenn das, was als ein Sein an sich erschien, sich zu einem Sein für uns relativiert, woraus jeweils neue Wissens- und Gegenstandsformen entspringen würden. Das philosophische Wissen generierte er auf diese Weise aus den heterogenen Erfahrungen des naiven, unreflektierten Bewusstseins, wobei erst alle Erfahrungen zusammengenommen nach ihm die Wirklichkeit in ihrem an und für sich Sein zugänglich machten. Im Gegensatz zu Hegel, der eine Identität von Wissen und Welt anstrebte, nähert sich eine phänomenologische Rekonstruktion allenfalls der realen Welt an, im Bewusstsein einer unaufhebbaren Diskrepanz zwischen Wissen und Welt. Eine beteiligte Sicht der Geschichte ist, wie ich denke, nur zu erlangen, wenn man auf individuelle und kollektive Erfahrungen der in die geschichtlichen Vermittlungsprozesse involvierten Menschen rekurriert. Dazu muss die Philosophie nicht selbst alltagspraktisch, spirituell, literarisch, moralisch, pädagogisch oder praktisch-politisch werden, sondern die diesen Erfahrungsebenen innewohnenden reflexiven Momente freilegen. Die gegenwärtige Globalisierung, Digitalisierung, Ökonomisierung und auch Prekarisierung32 der Gesellschaft sowie damit einhergehende Erscheinungen wie ein immer komplexer werdender Weltmarkt, digitale Kommunikation, Migration, Wirtschafts- und ökologische Krisen, soziale Ungleichheit, Entsolidarisierung usw. sind entsprechend nicht allein aus philosophischen, sozial- und naturwissenschaftlichen Texten zu erschließen, sondern ebenso anhand von Erfahrungen, die der unmittelbaren Lebens- und Arbeitswelt der Menschen entspringen. Wenngleich Philosophinnen und Philosophen selbst an differenten gesellschaftlichen Prozessen partizipieren, bleiben sie durch ihr eingeschränktes Erfahrungsfeld auf solche vor-reflexiven Erfahrungen angewiesen. Indem sie darin auftretende Diskrepanzen ins Bewusstsein holen – etwa zwischen medial vermittelten und selbst erlebten Ereignissen oder zwischen konträDewey, Einleitung zu den „Essays in experimenteller Logik“ (wie Anm. 29), 94. Siehe dazu auch Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse. Mit einem neuen Nachwort, 9. Aufl., Frankfurt am Main 1988, 29 und Christine Weckwerth, Zwischen Scheinkritik und Absolutheitsanspruch – zur Eigentümlichkeit der philosophischen Wissensbildung in Hegels Phänomenologie des Geistes, in: Thomas Oehl, Arthur Kok (Hg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel, Leiden, Boston 2018, 98–120. 32 Zur Tendenz der Prekarisierung siehe Robert Castel, Klaus Dörre, Einleitung, in: dies. (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung (wie Anm. 28), 14–18. 30 31

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ren Weltbildern sozialer Akteure, kommt ihnen zugleich eine aufklärerisch-pädagogische Funktion zu: Anhand der Diskrepanzen zwischen der Welt, wie sie dem einzelnen erscheint, und der Welt, wie sie unabhängig von seinen Vorstellungen existiert, tritt die Relativität der jeweils zugrunde gelegten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemen zutage – im Falle, dass diese Schemen unwillkürlich generalisiert werden, auch deren Scheinhaftigkeit. Die Einsicht in die Relativität und Scheinhaftigkeit einzelner Perspektiven kann dann zur Aktivierung des eigenen Reflexionspotenzial und Bewusstwerdung bisher verstellter sozialer und kultureller Ansprüche ebenso wie zur Berücksichtigung der Perspektiven und Ansprüche anderer, einschließlich der Natur, dienen. Eine solche Erweiterung der philosophischen Perspektive stellt nicht die von Michael Hampe eingeforderte Aufklärung infrage; lediglich soll der Blick für die faktische geschichtliche Welt in ihren komplexen Zusammenhängen, konfligierenden sozialen Akteuren und pluralen Erfahrungsweisen geöffnet werden, ohne den die Philosophie in den Grenzen ihrer Theoriewelt verbleibt. Um diese Grenzen zu verlassen, müssen Philosophinnen und Philosophen darüber hinaus ihre Stimme in der Öffentlichkeit erheben, denn ansonsten werden sie in ihrem Bemühen, eine gemeinsame Welt herzustellen,33 überhört. Eine solche Realitätserweiterung zeigt, dass eine kulturelle nicht ohne eine soziale Emanzipation möglich ist. (Selbst-)Bildungsprozesse sind vor diesem Hintergrund immer zugleich im Ausblick auf eine Angleichung der Lebensstandards aller Menschen wie auf eine Bewahrung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen zu denken. Bezogen auf das oben angeführte Bild träte die Philosophie nicht als eine Mannschaftstrainerin, sondern als Mitspielerin auf, allerdings nicht ohne die existierenden Spielregeln in Zweifel zu ziehen, um nach besseren Ausschau zu halten.

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Zu dieser Wendung siehe Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität (wie Anm. 9), 54.

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Es handelt sich um ein vergleichsweise schmales Buch, das der an der Zürcher ETH lehrende Philosoph Michael Hampe in einer Reihe veröffentlicht hat, die sich programmatisch und zeitdiagnostisch mit „Diskursen“ befasst, „die wir führen müssen“, um – wie der Verlag auf seiner Website selbstbewusst mitteilt – „zukünftige Gegebenheiten systematisch vorweg [zu] denken“. Der Verlag versteht sich dabei in der Nachfolge des Aufklärers Friedrich Nicolai, der genau diesen Verlag im 18. Jahrhundert gegründet hatte. Er will nach dem gewählten Motto „dare to know“ im Geiste kritischen Nachdenkens Essays vorlegen, die große Themen aufgreifen und klare Antworten auf komplexe Fragen formulieren. Vom Umfang des 90 Seiten umfassenden Essays sollte man sich also nicht täuschen lassen, allerdings hat das weniger mit den Prätentionen des Verlags, sondern eher mit Hampes Engagement, seiner Klarheit, mit seiner unprätentiösen Sprache und vor allem aber mit den theoretischen Voraussetzungen und der theoretischen Reichweite seiner Überlegungen zu tun – auch wenn sich diese nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen geben. Natürlich kann in einem Essay, der sich als ein zeitdiagnostisches und – in diesem Fall zugleich – als ein ,zeittherapeutischesR Plädoyer versteht, theoretisch nicht alles ausgeführt und begründungstheoretisch validiert werden, was in die Analyse und in die daraus abgeleiteten Vorschläge eingegangen ist; dem stehen die genretypischen Grenzen der Textsorte entgegen. Doch bietet der Essay nicht nur Anhaltspunkte, sondern tatsächlich genügend Material, um grundsätzliche Fragen zu erörtern, die in einer dezidiert politischen Perspektive stehen. Mit Blick auf die durch die Finanzkrise verursachte, möglicherweise auch nur beschleunigte Krise der Demokratie und die damit verbundene Konjunktur autoritärer Regime, auch in Ländern, die für gewöhnlich nicht zu den üblichen Verdächtigen gehör(t)en, stellt Michael Hampe die Frage, ob „wir uns gegenwärtig nicht primär in einer Krise der Demokratie befinden, sondern eine Erosion der aufgeklärten Kultur stattgefunden hat, die sich auf die Art und Weise auswirkt, wie Demokratien ,funktionierenR“ (9). Wenn der Verlust der „aufgeklärten Kultur“ die Funktionstüchtigkeit der liberalen Demokratien nicht nur berührt, sonAufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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dern sogar in Frage stellt, dann könnte sich dieser Verlust, nämlich der Verlust der „aufgeklärten Kultur“, am Ende als gravierender herausstellen als die Bedrohung der Demokratie (vgl. 10). Auch wenn man mit der hier implizierten, zuvor und anschließend sogar expressis verbis behaupteten Trennbarkeit von Aufklärung und Demokratie nicht einverstanden ist, denn Aufklärung ohne eine demokratische Perspektive wird man wohl kaum als eine solche bezeichnen wollen, dann wird man doch zugestehen, dass erst über eine Kultivierung von Aufklärung eine liberale Demokratie realisierbar ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn „wohlinformierte und am Gemeinwohl interessierte Bürger, die Existenz einer Öffentlichkeit, in der sich Menschen ohne Furcht über gemeinsame Ziele austauschen können, und Vertrauen in die politischen Institutionen“ als „Charakteristika einer aufgeklärten politischen Kultur“ (8) angesehen werden, mit deren Hilfe die von Hampe benannten Ziele von Aufklärung – „allgemeine Bildung, Autonomie der Lebensgestaltung, Transparenz von Wissensansprüchen und Vermeidung von Grausamkeiten“ (14) – umgesetzt werden können. Was – so mag man hinzufügen – erst dann möglich ist, wenn über politische Partizipation die „aufgeklärte politische Kultur“ sich in kontrollierbare politische Institutionen und kollektives politisches Handeln niederschlagen – eine Perspektive, die freilich auch Hampe vor Augen hat. Dass er zunächst Aufklärung und Demokratie voneinander abkoppelt, hat den Vorteil, Aufklärung als ein kulturelles Phänomen zu begreifen, dessen Bedrohung auf der gleichen systematischen Ebene mit kulturellen Vorkehrungen begegnet werden kann. Dieser Vorteil könnte freilich insofern einen Preis haben, als die Eingrenzung anderweite, nämlich (macht)politische und materielle, Faktoren der Wahrnehmung entzieht, die bei der diagnostizierten Krise eine zweifellos eminente Rolle spielen. Hampe konzentriert sich indessen auf das kulturelle Phänomen und konstatiert zwei Probleme, die Aufklärung bzw. aufgeklärtes Leben bedrohen: „erstens ein irrationaler Glaube an die Zwangsläufigkeit des Fortschritts (oder des Untergangs) und zweitens ein mangelndes Bewusstsein für die normativen Auswirkungen des technischen Wandels, vor allem auf die Normen des Wissens“ (15). Beide Probleme stellen insofern eine Bedrohung dar, als sie gemeinschaftlichem bewussten Handeln als Voraussetzung für die Realisierung eines „aufgeklärten Lebens“, das auf „allgemeine Bildung, Autonomie der Lebensgestaltung, Transparenz von Wissensansprüchen und Vermeidung von Grausamkeiten“ zielt, den Boden entziehen. Die Behauptung, Geschichte vollziehe sich ohne bewusstes Zutun der Menschen im Positivem oder im Negativem als eine Notwendigkeit, gibt Handlungsspielräume von vornherein auf und überlässt den Menschen einem unverfügbaren, nur vermeintlich durchschauten Geschehen. Weder Wirkmächtigkeit noch Handlungskompetenz haben hier Platz und Anhalt. Dies wird durch das zweite Problem verschärft: Denn die (nicht zuletzt durch die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts) entwickelten und etablierten „Normen des Wissens und die

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Praktiken der Wahrheit“, die Wahrheits- und Entscheidungsfindung auf der Basis von methodisch geleiteten Verfahren der Datenerhebung, Datenverknüpfung und argumentativer Vermittlung von Befunden und definierten Problemen im Hinblick auf eine Problemlösung gewährleisteten, sind durch „die Entwicklung der elektronischen ,WissensmaschinenR eine[m] Wandel“ unterworfen. Dieser macht dasjenige, was Menschen für wahr oder falsch, gut oder schlecht finden, jenseits der diskursiv eingeführten Wissens- und Wahrheitspraktiken zum Produkt elektronischer Generierungs- und Distributionsvorgänge. Die angenommene Wahrheit einer Aussage hängt – so Hampes Beobachtung – heute davon ab, welchen Glaubwürdigkeitsstatus sie bei Facebook, Instagram, Twitter und Youtube hat, und dieser wird nicht nur von Menschen, sondern auch durch selbstständige Computerprogramme aufgebaut (vgl. 16). Indem damit Wahrheit und Wissen von Fakten sowie von den entwickelten „Normen des Wissens und Praktiken der Wahrheit“ abgekoppelt werden, sind sie nicht mehr von Lüge und Gewalt zu unterscheiden, was wiederum unmittelbare Folgen für das gemeinschaftliche bewusste Handeln und damit für die Aufklärung hat. Michael Hampe stellt dazu fest: „Wenn die in der analogen Welt etablierten Normen der Kommunikation, des Wissens und die Praktiken der Wahrheit nicht in die digitale Welt transportiert oder durch neue ersetzt werden können, verlieren Menschen den gemeinschaftlichen Boden ihres Urteilens und Denkens. Und ohne einen solchen Boden“ – so fährt Hampe fort – „wird es nicht möglich sein, die Ziele der Aufklärung in einem gemeinschaftlichen Handeln einer globalen Kultur weiterzuverfolgen“ (17). Die Erosion der aufgeklärten Kultur und die damit verbundenen politischen Folgeprobleme lassen sich also – nach der Wahrnehmung Michael Hampes – auf ein geschichtsphilosophisches und ein epistemisches Problem zurückführen, für deren Lösung er eine „Dritte Aufklärung“ empfiehlt. Diese soll die Aufklärung erneuern und fortsetzen, indem sie durch eine „gründliche Verständigung über gemeinsame Möglichkeiten und Ziele“ zu einem „bewussten kollektiven Handeln“ (19) führt. Die Dritte Aufklärung soll – so der ausgreifende Anspruch – in einer überindividuellen, schließlich globalen Perspektive durch „Steigerung des kollektiven Bewusstseins“ dazu führen, dass sich die „Menschheit“ zum „Subjekt ihrer eigenen Geschichte“ (20) macht, wobei Hampe – das sei nicht verschwiegen – seine Emphase wenig später etwas reduziert, wenn er von einer „globalen Bewusstseinsbildung“ spricht, mit deren Hilfe die „Menschen eine relative Autonomie in ihrer historischen Entwicklung erlangen“ (22) können. Was damit genau gemeint ist, wird noch zu zeigen sein. Klar aber ist, dass das Fundament dieser Dritten Aufklärung – wie bei allen anderen Aufklärungsbewegungen auch – eine allgemeine Bildung ist, die nicht „Selektionsmechanismus für den Eintritt in den Arbeitsmarkt, sondern eine Bedingung für Kultur“ (19) ist. Mit Bildung ist also nicht die strategische, distinktionsbewusste Verfügung über kulturelle Inhalte gemeint,

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sondern – ebenfalls emphatisch – der „Erwerb einer Kreativität, die das individuelle Leben zu einem sinnvollen zu machen und Gemeinschaften eine kulturelle Gestalt zu geben vermag“ (83). Am Ende ermöglicht diese Bildung, gemeinsam die Frage zu stellen, ob dieses Leben ein gutes, oder ein änderungsbedürftiges ist. Und diese Frage gemeinsam „stellen, erwägen und beantworten zu können“, ist – wie Hampe gegen Ende seines kleinen Buches konstatiert – „bereits die Realisierung eines aufgeklärten und guten Lebens“ (ebd.). Die von Michael Hampe vorgestellten Beobachtungen und engagierten Überlegungen verdienen sicher Sympathie, doch stellt sich die Frage, ob sie in allen Stücken hinreichend triftig sind. Die Dringlichkeit seiner Analyse, die theoretische Basis seiner Ausführungen und ihr weitreichender, selbst schon aufklärerischer Anspruch auf sinnvolle Veränderungen, sind geeignet, eine kritische Auseinandersetzung mit seinen Positionen zu einem lohnenden Unterfangen zu machen. Dies soll im Folgenden versucht werden, wobei die Diskussion auf drei Aspekte fokussiert sein wird, die freilich den argumentativen Kern von Hampes Überlegungen ausmachen: 1. wird es um die Problematisierung des Terminus „Dritte Aufklärung“ gehen, 2. soll Hampes geschichtsphilosophischer Aspekt der Problembeschreibung kritisch in den Blick genommen werden, und 3. wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit die von Hampe propagierte „Bildung“ tatsächlich als ein Remedium funktionabel ist. 1. Zur Fragwürdigkeit des Begriffs „Dritte Aufklärung“ Die Rede von der dritten Aufklärung setzt eine erste und eine zweite Aufklärung voraus, zu denen sich die dritte Aufklärung verhalten muss, und zwar nicht irgendwie, sondern im Modus der Überbietung: Die dritte Aufklärung muss leisten können, was die erste und die zweite nicht oder nicht mehr vermögen, wobei sich noch zusätzlich die Frage stellt, ob die dritte Aufklärung die beiden vorausliegenden Aufklärungen ablöst, indem sie sie auflöst, oder aber in einem hegelschen Sinne „aufhebt“. Allein die bloße Nennung von erster, zweiter und dritter Aufklärung macht durch die implizite Chronologie eine historische Perspektive auf. Während sich die erste, von Hampe mit Sokrates identifizierte Aufklärung der Erkenntnis verdanke, dass Argumente als Mittel der Konfliktlösung der Gewalt vorzuziehen seien, realisierte die zweite, „vom 16. bis zum 18. Jahrhundert“ andauernde Aufklärung, „dass Menschen natürlichen und sozialen Mächten nicht vollständig ausgeliefert sein müssen“, sie sich „mithilfe der Vernunft auf den Weg der Emanzipation machen können“ (11). Wenn die dritte Aufklärung nun erkennen und umsetzen muss, dass „wir in einer gemischten Welt leben“, die sowohl durch Notwendigkeiten und Zufälle als auch durch nach wie vor bestehende Handlungsspielräume gekennzeichnet ist, womit die Menschen als handlungsfähige Subjekte ihrer

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eigenen Geschichte auftreten können (vgl. 12), dann ist klar, dass die dritte Aufklärung Einsichten der ersten und zweiten Aufklärung aufgreifen und mit Blick auf eine neue – bei Hampe stark geschichtsphilosophisch bestimmte – Problemlage weiterentwickeln soll. Diese mit der Chronologie von erster, zweiter und dritter Aufklärung gegebene historische Perspektive ist freilich stark unterbelichtet. Eine historisch nachvollziehbare Ableitung und Begründung des historisch generierten Kerns einer aufklärerischen Semantik unterbleibt. Auch wenn Michael Hampe dafür eintritt, „die aufgeklärte Lebensform“ zu erneuern, „indem wir uns vor Augen führen, wie sie ursprünglich gedacht war“ (33), bleiben seine Angaben doch recht summarisch. Das mag der Textsorte seiner Stellungnahme geschuldet sein, doch wird die Triftigkeit seiner Überlegungen in Mitleidenschaft gezogen, wenn er für aufklärerisch ausgibt, was sich vorher, nachher oder beinahe allenthalben findet. Die Verknüpfung von Sokrates mit einer als aufklärerisch apostrophierten „argumentativen Revolution“ ist historisch sicher kaum gedeckt, dafür ließen sich auch andere, frühere Zeugen aufrufen, wobei es gerade Sokrates war, der die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts in verschiedener – theoretischer wie praktischer – Hinsicht stark inspirierte, ebenso übrigens wie andere Autoren der Antike auch. Übernähme man also Hampes Bemühen, Aufklärungen vor der Aufklärung namhaft zu machen, dann könnte man sich aus einer historischen Perspektive fragen, ob die Vorsokratiker nicht schon die wirklich erste Aufklärung darstellten, Sokrates/Platon die zweite, Aristoteles die dritte, mit Epikur und Cicero wären dann schon die vierte und womöglich die fünfte Aufklärung erreicht, oder sollte man mit Cicero nicht besser die tatsächlich erste Aufklärung ansetzen? Weil man schließlich in dieser Weise alle philosophiegeschichtlich erheblichen Unternehmungen in Anschlag bringen kann, die auf theoretische wie praktische Verbesserungen zielen, ist die Durchnummerierung von am Ende doch nur vermeintlichen Aufklärungen nicht ergiebig. Und tatsächlich macht Michael Hampe klar, dass er daran auch gar kein wirkliches Interesse hat. Ungeachtet der eingebrachten historischen Perspektive hält Hampe nämlich fest, dass Aufklärung weder ein „europäisches Phänomen, oder eine europäische Errungenschaft“ noch „eine Epochenbezeichnung für einen Abschnitt der europäischen Geistesgeschichte“ (39 f.) ist. Vielmehr ist Aufklärung – nach Hampes Auffassung – „vor allem der Versuch, Grausamkeiten einzudämmen, ja vielleicht irgendwann ganz zum Verschwinden zu bringen“ (39). Auch wenn er einräumt, dass Aufklärung über diese Anstrengung hinausgreift, sieht er in der Bekämpfung von Grausamkeiten einen „Kern oder Kristallisationspunkt […], um den herum sich Bewegungen der Aufklärung in vielen Teilen der Welt zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt haben“ (ebd.). So gesehen kann – wie er selbst hervorhebt – auch der Buddhismus als eine Aufklärungsbewegung beschrieben werden, die nach einer langen kriegerischen Phase auf dem indischen Subkontinent entstanden ist. Bisher

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hatte Hampe „allgemeine Bildung, Autonomie der Lebensgestaltung, Transparenz von Wissensansprüchen“ neben der „Vermeidung von Grausamkeiten“ als Ziele des „aufgeklärten Lebens“ und damit der Aufklärung insgesamt definiert (14). Auch wenn eine Herleitung dieser Ziele unterbleibt, so zehrt sie doch ganz unübersehbar von dem programmatischen Potenzial der historischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Durch die Zuspitzung des Begriffs ,AufklärungR auf die Vermeidung von Grausamkeiten (vgl. 39 f., 64, 71, 82), eine Gedankenfigur, die Hampe wiederum ohne theoretische Herleitung, d. h. ohne die Diskussion ihrer pragmatistischen Hintergründe, von Richard Rorty und Judith Shklar (vgl. 50, 57) bezieht, werden die programmatischen und mit besonderen Begründungslasten versehenen weitergehenden Ambitionen der Aufklärung wohl nicht wirklich aufgegeben, mindestens aber tendenziell reduziert. Dies hat auf der Hand liegende Vorteile: Denn die Konzentration auf einen kleinen, wenn nicht gar kleinsten, gemeinsamen Nenner, der sich geradezu auf erfahrungsbasierte Evidenz stützen kann, entlastet von aufwändigen Begründungsanstrengungen, die allenthalben zu Komplikationen und theoretischen Frustrationen führen können, und zwar erst recht, wenn diese kulturübergreifend erfolgreich sein sollen. Hampes Reduktion ermöglicht zudem einen zeitlich wie geographisch unbegrenzten Aufklärungsbegriff, der geradezu universal handhabbar und als attraktives Label für ein umfassendes Projekt tauglich sein soll. Insofern scheint es Hampe vor allem um die Positionierung eines Schlagwortes zu gehen, dessen persuasive Kraft Einsicht und Engagement bewirken soll, nämlich Einsicht in ein aktuelles, tiefgreifendes und weltumspannendes Problem und Engagement für dessen Lösung. Man muss sich allerdings fragen, ob die Vorteile der begrifflichen Reduzierung nicht mit einem hohen, tatsächlich zu hohen Preis bezahlt werden müssen: Denn die Reduzierung führt zugleich zu einer semantischen Entspezifizierung, die es fraglich erscheinen lässt, ob in diesem Zusammenhang der Begriff ,AufklärungR überhaupt noch der richtige ist. Was hier als Kern der Aufklärung beschrieben wird, ist sachlich sympathisch, doch semantisch zu unbestimmt, um den selbst einigermaßen problematischen und historisch komplexen Begriff ,AufklärungR zu verdienen. Als persuasives Label für eine gute Sache, dürfte der Begriff vermutlich eher Verwirrung stiften, zumal die unterstellten begrifflichen Evidenzen im Zweifel sehr schnell ihre Selbstverständlichkeit verlieren dürften, denn mit sich steigernder Komplexität wachsen eben auch die Probleme, deren theoretisch wie praktisch wirkungsvolle Reduzierung nur durch eine komplexitätsangemessene Theoriebildung erreicht werden kann, die ihren normativen Hintergrund hinreichend ausweist. Auch wenn die Vermeidung von Grausamkeiten im gegebenen Ernstfall nicht wenig ist, so muss man am Ende doch darauf bestehen, dass Aufklärung in einer theoretisch-epistemologischen wie in einer praktisch-normativen Hinsicht einmal mehr gemeint hat. Dies zu rekonstruieren

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und mit Blick auf die gegebene Situation zu aktualisieren, ist sicher lohnend, historisch wie theoretisch allerdings auch ungemein aufwändig. 2. Zur Fragwürdigkeit der geschichtsphilosophischen Perspektive Hampes Eintreten für eine Dritte Aufklärung hat ungeachtet der oben vorgebrachten Vorbehalte insofern einen gewissen Reiz, als jeder, der drei Aufklärungen ein bestimmtes Problem adressiert und einen Beitrag zu dessen Lösung liefert bzw. liefern soll. Während die erste, die sokratische Aufklärung als „argumentative Revolution“ (70) die Erkenntnis realisieren sollte, dass im Konfliktfall Argumente der Gewalt vorzuziehen seien, und die zweite Aufklärung als „wissenschaftliche Revolution“ (ebd.) durch die Etablierung neuer Erkenntnisverfahren die Emanzipation des Menschen von „natürlichen und sozialen Mächten“ (11) beförderte bzw. befördern wollte, richtet sich die Dritte Aufklärung gegen einen geschichtsphilosophischen Mythos, der den Menschen als ein in geschichtlicher Hinsicht handlungsfähiges Subjekt eliminiert. Durch die behauptete Notwendigkeit eines Fortschritts oder durch die imaginierte Unaufhaltsamkeit eines Niedergangs werde der Mensch zum Objekt der sich über ihn hinweg vollziehenden Geschichte gemacht. Die Dritte Aufklärung soll nun helfen, diese Vorstellung als einen Mythos zu durchschauen und den Menschen durch die Einsicht in die Wirklichkeit als einer „Mischung aus Zufall und Notwendigkeit, freiem Handeln und Zwang“ (wieder?) an der eigenen Geschichte zu beteiligen (vgl. 12, 70). Diese geschichtsphilosophische Perspektive als Ziel und als sachlicher Anhalt für eine spezifische Dritte Aufklärung kommt in Hampes Plädoyer ein hervorgehobener Stellenwert zu, doch fragt sich, ob das geschichtsphilosophische Problem tatsächlich hinreichend virulent ist, und ob es sich bei näherem Zusehen nicht viel eher als ein zweitrangiges Problem darstellt, das sich erst in der Folge eines viel grundlegenderen, noch zu beschreibenden Problems ergibt, welches in der Tat eine aufklärerische Reaktion verlangt. Diese Reaktion muss freilich nicht unbedingt als eine Dritte Aufklärung in Stellung gebracht werden, sondern kann mit denjenigen theoretischen Mitteln erfolgen, die der ,klassischenR Aufklärung – sozusagen trivialerweise – schon immer zu Gebote gestanden haben, nämlich die theoretische Klärung des Undurchschauten in der Perspektive von zu realisierenden kollektiv und egalitär betriebenen praktischen Zielen, die auf den Freiheitsbedarf des Einzelnen Rücksicht nehmen. In Hampes Überlegungen zur Notwendigkeit einer Dritten Aufklärung spielen geschichtsphilosophische Theorien eine entscheidende Rolle, die von ganz links bis ganz rechts – mit einer diffundierenden Postmoderne irgendwo zwischendrin – Geschichte als ein unverfügbares Geschehen beschreiben, das sich als notwendiges oder schicksalhaftes ohne Zutun des Menschen vollzieht und diesem allen-

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falls eine Beobachterposition zugesteht. Die Existenz dieser Theorien, von Varianten des Marxismus, über Spengler und Heidegger bis hin zu Foucault und Lyotard, wird man kaum sinnvoll bestreiten können, und doch stellt sich die Frage, ob die geschichtsphilosophische Dimensionierung hier nicht zu weit greift und die theoretische und praktische Wirkung dieser Theorien schlicht überschätzt wird. Denn ob sich jemand tatsächlich von einer geschichtsphilosophischen Spekulation beeindrucken lässt, die ihm oder ihr aufgrund seiner oder ihrer Handlungen mit Hilfe seltsamer Unterstellungen eine Position in der Geschichte zuweist oder nicht, ist doch sehr fraglich, zumal durch die geschichtsphilosophische Hypostasierung die Dringlichkeit anderer Fragen und Erfahrungen aus dem Blick geraten. Insofern könnte sich die von Michael Hampe vorgenommene geschichtsphilosophische Dimensionierung als ein akademisches Problem erweisen, von dessen Lösung am Ende nicht viel abhängt. Geschichte kann man wohl besser zunächst auf sich beruhen lassen, sie formiert sich schon im Nachhinein, währenddessen ist es sinnvoll, Probleme und Erfahrungen in den Blick zu nehmen, die sich zwar geschichtsphilosophisch verlängern lassen, aber den direkten erfolgreichen Einsatz von Aufklärung dringender erforderlich machen. Dabei kann man Michael Hampe insofern entgegenkommen, indem man seinen Gedanken in gewisser Weise umdreht, d. h. man geht nicht von einem geschichtsphilosophischen Befund aus, der mit der Hilfe einer Dritten Aufklärung als ein Mythos entlarvt werden soll, sondern man beobachtet und analysiert Erfahrungen, die schließlich in die Formierung dieses Mythos münden und sich mit ihm verfestigen. Denn in der Tat: Was Michael Hampe als Mythos beschreibt, der in gewissen Grenzen seine eigene Wirkung entfalten mag, ist in letzter Konsequenz Ausdruck der Erfahrung, dass die (soziale und politische) Wirklichkeit – also nicht zunächst die Geschichte – sich ohne die Wirksamkeit des intentionalen Handelns des Menschen vollzieht. Und genau diese Erfahrung gilt es deswegen zu untersuchen, weil sie sich aus einer Reihe grundlegender Unsicherheiten speist, die – um es noch einmal zu sagen – stärker und unmittelbarer tangieren als jede geschichtsphilosophische Spekulation. Diese Unsicherheiten betreffen im Kern die folgenden drei Fragen, nämlich die Frage nach den pragmatischen Voraussetzungen für kollektives Handeln, die Frage nach der Möglichkeit des Erfolgs von kollektivem Handeln sowie seiner Sicherung und schließlich die Frage nach den epistemischen Voraussetzungen für kollektives Handeln, d. h. die Frage nach den Voraussetzungen für die Formierung von akzeptiertem Wissen – Letzteres betrifft die auch von Hampe thematisierten „Wahrheitspraktiken“. Es sind diese Unsicherheiten, die die Wirksamkeit kollektiven intentionalen Handelns in Frage stellen und, beim Ausbleiben von auch nur annähernd befriedigenden Antworten auf diese Fragen, die Destruktion einer aufgeklärten politischen Kultur mit ihren weitreichenden politischen Implikationen vorantreiben. Denn in dem Maße, wie eine komplexe und sich komplizierende

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Wirklichkeit eine Steigerung der theoretischen und praktischen Bemühungen erforderlich macht, um diese Wirklichkeit bewältigen und gestalten zu können, und sich zugleich aber Kräfte Einfluss verschaffen, die einerseits mit Gewalt und andererseits mit Manipulationen die Wirklichkeitswahrnehmung beeinträchtigen, gerät die „aufgeklärte politische Kultur“ in eine Krise. In dieser Situation ist Aufklärung nötig, doch richtet diese sich nicht als eine Dritte Aufklärung auf die Entlarvung eines geschichtsphilosophischen Mythos, sondern auf die theoretische Durchdringung und praktische Bewertung einer begreifbar und gestaltbar zu machenden gesellschaftlichen Wirklichkeit, wobei dann eben auch diejenigen materiellen und (macht)politischen Faktoren der Wirklichkeit namhaft zu machen sind, die von Gewalt und Manipulation profitieren. Dabei ist die von Hampe im Anschluss an John Dewey formulierte und propagierte Einsicht in den gemischten Charakter der Wirklichkeit, die Wirklichkeit als Mischung von „Zufall, Notwendigkeit und menschlichen Absichten“ (79) beschreibt, insofern nützlich als sie auf bestehende Handlungsspielräume und damit auf die Chance hinweist, als Teilnehmer an der Wirklichkeitsgestaltung Einfluss zu nehmen. Damit ermöglicht sie – was sicher nicht zu unterschätzen ist – eine der Aufklärung günstige Haltung, sie ist daher insofern aufklärerisch, als sie eine Voraussetzung von Aufklärung darstellt, doch die eigentlich erforderliche aufklärerische Arbeit muss dann erst noch beginnen. 3. Die Unverzichtbarkeit und die Ambivalenz von Bildung Ob es nun darum geht, mit Hilfe einer Dritten Aufklärung über die Kritik eines geschichtsphilosophischen Mythos den Menschen zum Teilnehmer seiner eigenen Geschichte zu machen, oder durch eine sachgemäße Analyse einer komplexen Wirklichkeit die Wirksamkeit kollektiven Handelns mindestens zu ermöglichen, im besten Fall sogar her- und sicherzustellen, in beiden Fällen sind Bildungsprozesse die unverzichtbare Voraussetzung für den Erfolg der beschriebenen aufklärerischen Projekte. Aufklärungsbewegungen waren und sind – darin ist Michael Hampe zweifellos Recht zu geben – „mit Aufrufen zur Steigerung der allgemeinen Bildung verbunden“ (83). Bildung als Kenntnis von Fakten und Verständnis für unterschiedliche Perspektiven ist die Prämisse für „eine gründliche Verständigung über gemeinsame Möglichkeiten und Ziele“, die wiederum die Bedingung der Möglichkeit von „bewusstem kollektiven Handeln“ (19) darstellt. Weil ohne eine „Wertschätzung von Wahrheit“ (38) und ohne „geteilte Wahrheiten“ (31) ein „aufgeklärtes Leben“, das immer auch Solidarität impliziert, nicht möglich ist, verfügt der von Hampe ins Spiel gebrachte Bildungsbegriff zunächst und vor allem über eine epistemische Dimension. Dabei kommt der Realisierung von „Wahrheitspraktiken“ (34) insofern die entscheidende Funktion zu, als mit

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ihrer Hilfe Meinungen überprüft und im Verfahren der Überprüfung Wissen als „geteilte Wahrheit“ generiert wird. Mit „Wahrheitspraktiken“ sind bewährte und vereinbarte und daher nicht zuletzt (in historischer Hinsicht) bewegliche Standards für Verfahren gemeint, die zu „geteilten Wahrheiten“ führen, also sowohl Formen der sachlichen Erarbeitung als auch der bekundeten Akzeptanz beinhalten. Weil es sich um hergestellte und je herzustellende Wahrheiten handelt, sind sie – wie Hampe betont – notwendigerweise nur von begrenzter Haltbarkeit. Es ist klar, dass von einer befriedigenden Beschreibung und Begründung dieser „Wahrheitspraktiken“, inklusive einer Antwort auf die Frage, wie genau sie ihre Geltung erzielen und wie sie sich mit der Praxis vermitteln, viel, wenn nicht gar alles abhängt; es ist aber ebenso klar, dass diese philosophische Haupt- und Staatsaktion nicht in einem Essay aufgeführt werden kann. Diese zweifellos wichtige epistemische Dimension des Bildungsbegriffs müsste allerdings – und dies wird, wie es scheint, von Michael Hampe nicht hinreichend berücksichtigt – durch eine normative Dimension ergänzt werden. Denn bei der „Verständigung über gemeinsame Möglichkeiten und Ziele“ wird man nicht umhinkommen, die generierten „geteilten Wahrheiten“ mit Blick auf anstehende Handlungsentscheidungen zu bewerten und zu gewichten. Auch dafür muss es entsprechende Praktiken geben, die von Michael Hampe allerdings nicht eigens thematisiert werden, obwohl er mit der Behauptung, ein „aufgeklärtes Leben“ sei bereits durch die gemeinsame Erörterung der Frage realisiert, ob dies ein gutes Leben sei, oder ob es der Änderung bedürfe, eine normative Perspektive ganz offensichtlich vor Augen hat. Denkbar, dass ein entsprechend weit angelegter Begriff von „Wahrheitspraktiken“ die normative Dimension bereits einschließt, doch spricht vieles dafür, an dieser Stelle genauere Differenzierungen vorzunehmen. Der von Hampe vorgeschlagene Bildungsbegriff geht – und daran ist ihm insbesondere gelegen – über diese epistemische Dimension hinaus. Die Erörterung einer von Menschen gemachten und Menschen angetanen Grausamkeit, die bisweilen als Steigerung des eigenen Lebensgefühls für attraktiv gehalten wird, führt Hampe zu der Vorstellung „intensiver und widerständiger Wirklichkeitserfahrung“ (62), die – wie er im Anschluss an Alfred North Whitehead ausführt – von Menschen offenkundig erstrebt wird. Es geht Menschen nicht um die Prolongierung einer qualitätslosen Existenz auf einem immer gleichen, und zwar niedrigen Niveau, sondern um die Steigerung von Erfahrung: „Leben ist eine Form der Hervorbringung intensiver Erfahrung“ (63). Indem diese erlebte Intensität mit ästhetischem Erleben, mit Kreativität, kultureller Gestaltung und mit Sinn in Verbindung gebracht wird (vgl. 83), ist nachvollziehbar, dass Michael Hampe in Bildung dasjenige Mittel sieht, mit dessen Hilfe intensive Erfahrungen jenseits von Grausamkeit und Gewalt hervorgebracht werden können. Bildung ermöglicht es, zusammen mit anderen die Frage nach dem guten Leben als Realisierung eines

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aufgeklärten Lebens zu stellen. Mit dieser Verbindung von Whitehead und Schiller – Intensität und Bildung – bringt Michael Hampe eine Subjektivierung in die Diskussion, die möglicherweise eine Grenze von Aufklärung markiert. Denn die erlebte Intensität ist eine subjektiv erlebte, die nicht oder nur schwerlich verallgemeinerungsfähig ist. Die Verlängerung von einer, dem Anspruch nach, allgemeinen Bildung in die Inkommensurabilität einer intensiven subjektiven Erfahrung steht zumindest in Gefahr, den Allgemeinheitsanspruch der Aufklärung preiszugeben. An der Entwicklung, ja dem Schicksal der historischen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts lässt sich dies wohl unschwer nachvollziehen. Zweifellos gilt, dass die Allgemeinheit von Aufklärung nur über eine Allgemeinheit von Bildung realisiert werden kann, seit den pädagogischen Schriften der frühen Aufklärung ist dies allenthalben deutlich, insofern lässt sich die Notwendigkeit von Bildung kaum sinnvoll bestreiten. Zugleich aber kann Bildung sehr rasch in bildungsbürgerliche Selbstgenügsamkeit abgleiten, die es bei der Vereinnahmung von kulturell vermittelten und sozial ausgezahlten Distinktionsgewinnen belässt und sich ansonsten dem Gegebenen gegenüber affirmativ verhält. Die von Hampe beschriebenen ästhetischen Dimensionen der von ihm gemeinten Bildung weisen darauf hin, dass Hampe genau dies nicht will, genauere Auskünfte werden allerdings nicht erteilt. Dabei ist bildungsbürgerliche Betulichkeit nur ein Problem, ein anderes – sicher gravierenderes – Problem ist, dass Bildung zunächst begrifflich offen ist, so dass ohne einen ausweisbaren normativen Horizont, im Sinne der oben erwähnten normativen Praktiken, Bildung, nach einer treffenden Formulierung von Martha Nussbaum, eben „no guarantee of good behavior“ ist. In dieser Hinsicht sind sicher weitergehende Vorkehrungen zu treffen. Versucht man nach allem wenigstens ein knappes Resümee, dann dürfte immerhin klar geworden sein, dass der von Hampe vorgelegte schmale Band außerordentlich inhaltsreich und daher voll von Anregungen ist. Was die Wirksamkeit seines Appells anbelangt, so ist sicher Skepsis angebracht, er wird womöglich so gut wie ungehört verhallen. Das liegt einerseits an seiner nicht oder nur schwer vermeidbaren Abstraktheit und andererseits an den bestehenden allgemeinen Kommunikationsstrukturen, die derlei Überlegungen weder wahrnehmen noch verarbeiten können bzw. wollen. Es war trotzdem ein Vergnügen, das Buch zu lesen und seinen Überlegungen hinterherzudenken.

Michael Hampe Abschied von großen Worten: Zur Kritik am negativistischen Konzept zukünftiger Aufklärung

I. Philosophie und Öffentlichkeit: Experten und Intellektuelle Sollen Philosophieprofessoren „Flugschriften“ oder „Pamphlete“ verfassen? Diese Frage, die Rudolf Meer und Josef Hlade implizit thematisieren, Gerald Hartung direkt anspricht, ist mit dem Aufklärungsthema verbunden und betrifft nicht lediglich Formales. Denn als Professoren können sich Philosophieprofessoren als Experten verstehen, die einen bestimmten akademischen Bereich vorantreiben und in der Öffentlichkeit vertreten, jedoch nicht mehr und nicht weniger zur Verbesserung der menschlichen Verhältnisse beizutragen haben als Physikerinnen oder Papyrologen, Soziologen oder Psychologinnen, sofern diese öffentlich als Staatsbürger oder „public intellectuals“ agieren.1 Man kann Philosophie aber auch selbst als ein Unternehmen verstehen, das ursprünglich und vor allem als eine Intervention in den menschlichen Verhältnissen gedacht war, nicht als eine religiöse oder politische, erst recht nicht eine militärische, sondern als eine Intervention sui generis. SokratesQ Befragungen der Überzeugungen seiner Mitmenschen war eine Intervention in die Athener Verhältnisse seiner Zeit. Und seine Aktivitäten waren nicht gelegentliche „reach outs“ eines Akademikers, der Sokrates ja nicht war, sondern seine „eigentliche Tätigkeit“. Dass das menschliche Leben nicht durch Konventionen, religiöse Dogmen oder politische Vorschriften bestimmt sein muss, sondern – so kann man die Absicht der sokratischen Tätigkeit zusammenfassen – vor allem durch ein gemeinschaftliches Nachdenken, ist selbst als eine Initialzündung aufgeklärter Philosophie deutbar, einer Philosophie, der vielleicht sogar eine „Lebensform“ vorVgl. dazu Michael Hampe, Propheten, Richter, Ärzte, Narren: Eine Typologie von Philosophen und Intellektuellen, in: Martin Carrier, Johannes Roggenhofer (Hg.), Wandel oder Niedergang. Die Rolle der Intellektuellen in der Wissensgesellschaft, Bielefeld 2007, 33–54. 1

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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schwebte: die einer Gemeinschaft von frei sich miteinander Verständigenden über das, was man sich im Leben vornehmen solle, wenn es mit der Selbsterhaltung einmal halbwegs geklappt hat, einer Gemeinschaft von nachdenkenden Freundinnen und Freunden, die sich nicht durch eine Kaste von Priestern oder politischen „Führern“ sagen lassen will, was zu tun sei. Man kann das im Anschluss an Dewey, für den Demokratie nicht lediglich eine Regierungsform war, eine aufgeklärt demokratische Lebensform nennen.2 (Und sofern die, die in einer solchen Form leben, sich selbst auch noch Gesetze geben und dazu verpflichten, sie auf alle gleich anzuwenden, ist es auch eine republikanische.) Wenn sich Philosophieprofessoren nicht nur als Professoren, sondern auch als Philosophen in dieser Tradition verstehen, können sie sich von ihrem Fach her dazu verpflichtet fühlen, wie Sokrates die Öffentlichkeit auf- oder heimzusuchen. Sokrates ging auf den Marktplatz. Heute muss man vielleicht eher Flugschriften verfassen, sich in Talkshows setzen oder irgendwie im Internet präsent sein, wenn man die Philosophie eine Rolle im Leben „der Menschen“ spielen lassen will, die bereit sind, freundschaftlich miteinander nachzudenken. Mit meinem Büchlein will ich mich nicht als ein Sokrates aufspielen. Es geht mir hier nur darum, eine Legitimation für diese Hinwendung zur nicht-akademischen Welt zu benennen, die nichts über den Wert und die Folgen dieser spezifischen (meiner) Hinwendung aussagen soll. Mir ist auch klar, dass die meisten der Kommentatoren und Kommentartorinnen, auf die ich hier zu antworten versuche und denen ich sehr dankbar bin für die Aufmerksamkeit, die sie meiner Schrift geschenkt haben, allen voran Hartung, Mulsow und Weckwerth, sich vor allem als Philosophiehistoriker und -historikerinnen verstehen. Auch für mich ist die Philosophiegeschichte wichtig. Ich halte es schlicht für unmöglich, Philosophie zu betreiben, ohne ihre Geschichte zu kennen, weil das nur in Naivitäten enden kann. Das ist ein wesentliches Unterscheidungskriterium unseres Faches von Physik oder Biologie. Doch die Philosophiegeschichte kennen (mehr oder weniger gut) und eine Philosophiehistorikerin sein, ist zweierlei. Ich bin selbst kein „richtiger“ Historiker, habe keine Beiträge zur historischen Forschung geliefert oder nur unbedeutende zur Erkundung von Whitehead und Spinoza und eine sehr grobe Skizze zur Geschichte des Naturgesetzbegriffs. Und dieser Essay zur Dritten Aufklärung ist sicher nicht als ein Beitrag zur historischen Aufklärungsforschung gedacht, die ich Martin Mulsow und seinen Kolleginnen und Kollegen überlasse. Ich habe, wohl aus einer Abstoßungsreaktion gegen eine strenge Religionserziehung und einer Unfähigkeit, die agonalen Spiele der Politik zu ertragen, Philosophie aus dem Motiv heraus betrieben, dass es eine „philosophische Lebensform“ geben müsse, und den Eindruck gehabt (der Vgl. John Dewey, Democracy and Education (The Middle Works: 1899–1916, vol. 9), Carbondale 1976. 2

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bis heute nicht verschwunden ist), dass es bisher keiner Zivilisation gelungen ist, eine solche im größeren Maßstab zu realisieren. (Doch vielleicht irre ich mich da, vor allem was China angeht.) Meine Hinwendung zur Öffentlichkeit ist durch die Wahrnehmung veranlasst, dass gegenwärtig immer weniger Menschen als politische Freunde (im Sinne Hannah Arendts3) mit der Kompetenz zum Perspektivenwechsel wahrhaftig miteinander darüber nachdenken wollen, wie zu leben und was kollektiv zu tun sei. Bedauerlicherweise scheinen gerade weder das Miteinander noch das Denken in der Öffentlichkeit hoch im Kurs zu stehen. Die politische Gemeinschaft ist „im Westen“ durch eine Meritokratie zerstört worden, die alle Menschen in „Gewinner“ und „Verlierer“ einteilt.4 Die politische Öffentlichkeit ist in großen Teilen durch einen Aufmerksamkeitsmarkt für Privates ersetzt worden.5 Doch was können und sollen nun Philosophinnen, die sich in die Öffentlichkeit begeben, gegen solche Entwicklungen tun? Sollen sie „einen fundamentalen Zugriff auf eine gesellschaftliche Problemstellung gewinnen“ und „Kriterien bzw. Gesetze […] denken, die als kritische Instanz fungieren“ können, um freiheitliche und vernünftige Bildungsprozesse zu steuern und von despotischen Manipulationen klar trennen zu können, wie Meer und Hlade mir als „Ziel“ meiner Bemühungen zu unterstellen scheinen? Ich hatte dieses Ziel nicht, und wenn ich es mir hätte setzen wollen, so hätte ich es kaum erreicht, weil mir dazu nicht nur die Motivation, sondern auch die diagnostische und konstruktive Intelligenz fehlen. II. Theorie und Praxis: Beispiele und Prinzipien Sollte es bei Kant solche Kriterien geben, wie mir Meer und Hlade anzudeuten scheinen, zeigt dann nicht die Tatsache, dass sie bei Kant zwar schon seit über 200 Jahren stehen, aber – oder irre ich hier? – öffentlich weitgehend wirkungslos geblieben sind, dass einer Philosophie als Kriterienverkünderin und -begründerin in diesem Sinne öffentlich interventionistisch nicht viel zuzutrauen ist? Um diesen Verdacht zu erhärten, möchte ich auf die mangelnden Effekte kriterialer Bemühungen der Wissenschaftsphilosophie verweisen.

„Das politische Element der Freundschaft liegt darin, dass in einem wahrhaftigen Dialog jeder der Freunde die Wahrheit begreifen kann, die in der Meinung des anderen liegt. Der Freund […] erkennt, auf welche besondere Weise die gemeinsame Welt dem Anderen erscheint, der als Person ihm selbst immer ungleich und verschieden bleibt.“ Hannah Arendt, Sokrates. Apologie der Pluralität, Berlin 2019, 53. 4 Michael J. Sandel, The Tyranny of Merit. WhatQs Become of the Common Good?, New York 2020. 5 Vgl. bereits vor dem Internet dazu Richard Sennett, The Fall of Public Man, New York 1974. 3

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Die philosophische Wissenschaftstheorie hat mit einem beschränkteren Anspruch, als ihn Meer und Hlade formulieren, lange Zeit nach allgemeinen Kriterien für Wissenschaftlichkeit gesucht. In meinen Augen, und hier folge ich Paul Feyerabend, vergeblich: „Eine […] Theorie, die eine allen Wissenschaften zugrunde liegende Struktur und dazu gehörende Regeln aufdeckt […] und zeigt, wie sie mit noch allgemeineren Gesetzen der Vernunft zusammenhängt, ist […] nicht möglich. Man kann Faustregeln aufzählen […,] man kann anhand von Fallstudien zeigen, wie kompliziert und geschichtsbedingt der Weg zu wissenschaftlichen Resultaten ist. […] Eine Theorie, die mehr zu leisten versucht, verliert den Kontakt mit der Wirklichkeit.“6 Dass, was Feyerabend hier über mögliche Kriterien der Vernünftigkeit von Wissenschaft sagt, gilt m. E. erst recht für Kriterien der Vernunft im Diskurs und der Bildung überhaupt, d. h. in einer „aufgeklärten Welt“, sofern sie über die Wissenschaften noch hinausgeht. Dass „uns“ „die Vernunft“ als „Pflicht“, sie „für alle vernunftfähigen Wesen“ als Aufgabe gestellt ist, ist eine, ich möchte sagen: erbauliche kantische Formulierung, die ich selbst oft gehört habe und über die ich als Studierender auch nachdenken sollte (etwa so wie in der Sonntagsschule über die Tatsache, dass wir alle Sünder sind). Aber welche Folgen soll diese Aufgabe konkret in der Erziehung haben? Dass Kant „einen Leitfaden a priori“ entdeckt haben will, der uns nicht nur beim Umgang mit der historischen Überlieferung, sondern auch in unserer eigenen Entwicklung eine Orientierung an „der Vernunft“ geben soll, ist ebenfalls eine sicher richtige hermeneutische Behauptung. Doch auch hier muss ich gestehen: Eine erfolgreiche Anwendung dieses apriorischen Leitfadens habe ich im Umgang mit wissenschaftshistorischem Material, geschweige denn in bildungspolitischen Planungen nie gesehen. Dieser Leitfaden ist für mich, um sich einer weiteren, etwas polemischen Formulierung Feyerabends zu bedienen, Teil des kantischen „Luftschlosses“ einer allgemeinen Vernunft.7 Hinter dem so gebrauchten Vernunftbegriff steht in meinen Augen eine Illusion der Aufklärung, die die Philosophie bis heute in die Irre führt. Sie ist eine Variante einer sehr allgemeinen Illusion, die ich die „Illusion der Grundlegung durch das Wälzen großer Worte“ nennen möchte. Danach hat die Philosophie für ein Geschäft der Grundlegung des Theoretisierens und Handelns überhaupt zu sorgen, indem sie über die Vernunft, die Freiheit, die Wahrheit, das Glück, die Natur und nicht über spezielle vernünftige Verfahren, Wahrheitspraktiken, Glücksverständnisse und die unterschiedlichen Gebiete des Natürlichen nachdenkt. Ich habe den größten Teil meiner schriftstellerischen Arbeit darauf verwandt, Nadeln zu schmieden, mit denen man in die Illusionsblasen solcher Grundlegungsphantasien hineinpieksen kann.8 6 7 8

Paul Feyerabend, Irrwege der Vernunft, Frankfurt am Main 1989, 410; meine Hervorhebung. Ebd., 413. Eine an eine breitere Öffentlichkeit gerichtete Kritik dieser Philosophieauffassung habe ich in

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Und sofern die Zerstörung von Illusionen ein Geschäft der Aufklärung ist, verstehe ich diese kritischen oder negativistischen Bemühungen als aufklärerische. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Wie Feyerabend habe ich grundsätzlich weder etwas gegen den Begriff der Wahrheit noch etwas gegen den der Vernunft. Ich denke jedoch, dass es, so wie es konkrete Wahrheitspraktiken in unterschiedlichen intellektuellen Projekten wie Mathematik, Pathologie, Archäologie, Jurisprudenz usw. gibt,9 in unterschiedlichen Kontexten auch jeweils Unterschiedliches als „vernünftig“ zu kennzeichnen ist. Was eine vernünftige Ernährung, eine vernünftige Geldpolitik, ein vernünftiger Forschungsplan, ein vernünftiges Argument, ein vernünftiger formaler Beweis, eine vernünftige Gedichtauslegung und ein vernünftiger Erziehungsstil sind, kann sich m. E. nicht nach allgemeinen Kriterien der Vernunft richten, die transzendental deduziert werden können (wie immer das geht), sondern muss an Beispielen für Verfahren in den jeweiligen Bereichen, die als erfolgreich eingeschätzt worden sind, studiert werden. Sicherlich gehen in das Studium dieser Beispiele Bewertungen ein, deren Maßstäbe selbst der Veränderung unterliegen und diskutiert werden müssen, wie Mulsow zu Recht betont. Und sicherlich können wir auf Wahrheits- und Vernunftpraktiken zurückblicken, die als gescheitert einzustufen sind. Die Folter ist, wie Mulsow mit Recht sagt, keine gute Wahrheitspraktik in juristischen Prozessen, wie „wir“ eingesehen haben. Der Aderlass hat sich als keine vernünftige medizinische Therapiemethode erwiesen. Die historische Kenntnis dieser gescheiterten Wahrheits- und Vernunftpraktiken, das Studium unserer Irrtumsgeschichte, sind wichtig. Denn eine Irrtumsgeschichte kann uns Vorsicht und Skepsis gegenüber unserer Selbstsicherheit bei der Anwendung gegenwärtiger Wahrheits- und Vernunftpraktiken lehren. In diesem Studium von Beispielen werden aber auch Gründe sichtbar, warum bestimmte Praktiken verändert oder ganz fallengelassen bzw. trotz Kritik fortgeführt werden. Sind dabei Appelle an allgemeine Vernunftkriterien im Spiel? Mir scheint dies angesichts meiner (zugegebenermaßen begrenzten) Kenntnis der Entwicklung von Wahrheitspraktiken (etwa in der Biologie) und der Anwendung des Prädikats „vernünftig“ (bspw. in logischen Schlusspraktiken etwa nach der Einführung mehrwertiger Quantenlogiken) nicht der Fall. Kurz: Etwas Besseres als die historische Erinnerung an die Bewährung und das Scheitern solcher Praktiken, auch an die Geschichte der von uns heute anerkannten und gepflegten Praktiken, haben wir nicht für die öffentliche Auseinandersetzung über das, was wir als wahr und vernünftig ansehen wollen. Es gibt keinen philosophischen Geheimtunnel zu ahistorischen Kontrollkriterien, mit denen sich die einer Rezension von HabermasQ Philosophiegeschichte präsentiert: Jenseits des Glaubens, in: Die Zeit 46/2019. 9 Michael Hampe, Wahrheitspraktiken. Über das Leiden an Unwahrheit, in: Information Philosophie 1/2019, 8–21.

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öffentlichen Aushandlungsprozesse darüber leiten ließen, wie wir Wahrheiten ausfindig machen können und wann wir Praktiken als „vernünftig“ nobilitieren. Philosophen können Wissenschaftlerinnen, Juristen, Journalisten u. a. nicht vorschreiben, wie Wahrheitssuche in ihren Bereichen geht, und sie können Erzieherinnen und Ärzten nicht vorschreiben, was eine vernünftige Erziehungspraktik oder Behandlungsmethode ist. Sie können dieses Geschäft deshalb nicht übernehmen, weil sie von den Inhalten der Wissenschaften, den juristischen Verfahren, den Erziehungs- und Heilpraktiken in der Regel gar keine Kenntnis besitzen, die auf praktischer Erfahrung beruht. Sie kennen meist nur die Ergebnisse dieser Unternehmungen. Die Vorstellung, eine kontemplierende Kaste von philosophischen Intellektuellen verfüge über feste Beurteilungskriterien, was wahr und vernünftig sein könne, und die Praktikerinnen hätten sich nach diesen Kriterien zu richten, ist eine Machtphantasie, die seit Platons Staat durch die philosophischen Köpfe geistert, die aber durch die Transzendentalphilosophie nicht plausibler geworden ist. Praktiken, seien es Wahrheitspraktiken oder andere, die wir mit den Prädikaten „vernünftig“ und „unvernünftig“ versehen, sollten im Sinne Deweys von denen bewertet und weiterentwickelt werden, die sie tatsächlich ausführen, und nicht von denen, die über diese Praktiken zwar reden, sie jedoch selbst gar nicht betreiben können.10 Beobachter von Praktiken können nur nachzuvollziehen versuchen, was „unsere“ Vorfahren oder „uns selbst“ (bzw. die in den Praktiken kundigen Menschen der Vergangenheit und Gegenwart) warum dazu gebracht hat, von der einen Praktik zu einer anderen überzugehen, und wie „wir“ dabei eventuell neue entdeckt haben. Die dabei entstehende Kenntnis der Vielfalt historischer Situationen innerhalb unserer eigenen kulturellen Tradition und mehr noch der Blick in die islamische Welt, nach Indien, China oder Japan und unsere wachsende Kenntnis der Differenziertheit dieser Traditionen lassen die Hoffnung auf abstrakte absolut gewisse universale Maßstäbe der Wahrheitsfindung und des vernünftigen Tuns, die sich niemals ändern und die uns den Blick in die historische und kulturelle Vielfalt ersparen könnten, auch für die Zukunft als illusionär erscheinen. Oder etwas anders und „brutal“ ausgedrückt: Die Kantauslegung scheint mir keine aussichtsreiche Alternative zu diesem evaluativen und interkulturellen Beispielstudium, weil mir auf der Hand zu liegen scheint, dass man aus der Kantexegese, wenn man sich einmal in sie hineinbegibt, nie wieder heraus- und zurückkommt zu „unseren“ konkreten Problemen. Das hat auch Vorteile, weil man dann die konkreten Probleme bis auf weiteres los ist, ohne zu glauben, sie ignoriert zu haben. Man bereitet sich mit Kant eben ein paar Jahrzehnte darauf vor, diese Probleme angemessen zu behandeln, indem man sie auf die allgemeinen Prinzipien der Vernunft zu bezieJohn Dewey, Reconstruction in Philosophy (The Middle Works: 1899–1924, vol. 12: 1920. Essays, Miscellany and Reconstruction in Philosophy), Carbondale 1982. 10

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hen versucht, weil „man“ eben gründlich sein muss als Akademikerin. Doch meist sinkt man dann eben als Kantgelehrte ins Grab, nicht als jemand, der eine gemeinschaftliche philosophische Existenzform befördert hat. Über Beispiele für Verfahren der Wahrheitsfindung und des vernünftigen theoretischen, politischen und privaten Verhaltens sollte man m. E. auch in der Schule diskutieren. Mit ihrer Hilfe sollte aufgeklärt werden, nicht durch Verweise auf die vermeintlichen allgemeinen Gesetze und Prinzipien der Vernunft, deren Bedeutung erstens unter den Kantforschern umstritten ist und aller Voraussicht nach auch bleiben wird und deren Anwendungsmöglichkeiten zweitens unklar sind. Dass man in der Schule den kategorischen Imperativ kennenlernt und danach fragt, wie er sich von der Goldenen Regel unterscheidet, soll damit nicht in Frage gestellt werden. Dass man in der Schule verkündet, Kant habe gezeigt, dass allen Menschen eine allgemeine Vernunftnatur als Aufgabe aufgegeben sei, aber sehr wohl. Man könnte stattdessen die folgenden Fragen stellen: Welche Wahrheitspraktiken hat Darwin betrieben, um seine Theorie einer Entwicklung der Arten zu entwickeln? Warum haben sie sich bis heute bewährt? Wie kann im Gericht die Schuld eines Angeklagten bewiesen werden? Wie beweist man einen Satz in der Geometrie, etwa den des Pythagoras? Was beweist das Knallgasexperiment? Was sind die Unterschiede zwischen einem juristischen, einem geometrischen und einem chemischen Beweis? Hat sich die SPD in der Weimarer Republik vernünftig verhalten in dem Versuch, einen Erfolg der NSDAP zu verhindern? Haben sich die Republikaner vernünftig verhalten, als sie Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei gewählt haben, oder hatten sie keine andere Wahl? Ist es vernünftig, wenn Ärzte darüber entscheiden, wie eine terminale Krankheit weiter behandelt werden sollte, oder sollte das allein die kranke Person mit ihren Angehörigen tun? Sind unanschauliche Theorien wie die der nach-newtonischen Physik unvernünftig, wie von einigen Zeitgenossen Einsteins behauptet wurde? Ist es vernünftig, alles in der Schule, was die Schüler sagen und schreiben, zu bewerten? Gibt es ein vernünftiges Verfahren, mit dem man schon in der Schule herausfinden kann, ob jemand einmal etwas wirklich Wichtiges herausfinden wird? Worauf bereitet die Schule eigentlich vor: auf ein vernünftiges Leben oder auf Erfolg im Beruf, und wie unterscheidet sich beides voneinander? Solche Fragen zu diskutieren, setzt nicht nur auf der Seite der Schüler eine gewisse Flexibilität voraus, sondern auch auf der Seite der Lehrer die Fähigkeit, sich nicht nur an Lehrbüchern und Prüfungsaufgaben, sondern auch an gut aufbereiteten historischen und aktuellen Problemen und der tatsächlichen Lebenssituation ihrer Schüler so orientieren zu können, dass sie auf kluge Weise Stoff in der schulischen „Aufklärungsarbeit“ anbieten können. Vermutlich bereitet die gegenwärtige Lehrerbildung nicht genug auf eine solche Arbeit vor (obwohl ich sie in der

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Projektarbeit einer Schweizer Schule, die sich am Montessorimodell [und damit auch an Deweys „learning by doing“] orientierte, kennengelernt habe11). Es wäre nun verfehlt, angesichts solcher Überlegungen – und vor allem wenn der Name Feyerabend fällt – gleich erschrocken: „Relativismus!“ und „Anarchie!“ zu rufen und zu fürchten, die „Prinzipien der Aufklärung“ (was immer das auch sein möge) gingen jetzt über Bord. Feyerabend war nicht, wie behauptet wird, ein platter Relativist, wenn man nicht alle, die die Suche nach allgemeinen über-historischen Vernunftkriterien für unplausibel halten, als platte Relativisten bezeichnen will, sondern ein reflektierter Empirist, der jede, auch eine auf den ersten Blick abstrus erscheinende Hypothese und jedes erst einmal fremdartige Verfahren getestet sehen wollte, bevor man es ablehnt. Er meinte nicht, dass Astrologie und chinesische Medizin so gut wie Persönlichkeitspsychologie und westliche Medizin sind, weil man die Wahrheit sowieso nicht kennen und nicht wissen könne, was letztlich vernünftig ist, sondern weil sie erst verstanden und getestet werden müssen, bevor man sie verwirft, auch wenn sie sehr unwahrscheinlich und zunächst unvernünftig aussehen, sofern sie etablierten Prinzipien nicht entsprechen.12 Denn auch der Kopernikanismus und die EinsteinQsche Physik galten in ihrer Zeit zunächst als „verrückt“. Sie haben auf lange Sicht jedoch neue Beispiele dafür gegeben, wie man Physik betreiben kann, d. h. die Prinzipien, nach denen diese Disziplinen funktionieren, verändert. Auch der anarchistische Slogan „Anything goes!“ ist von Feyerabend aus dem Studium der Geschichte gewonnen: Dieses zeigt nach Feyerabend eben, dass es keine einheitlichen Kriterien der Klarheit, Präzision und Vernünftigkeit in den Wissenschaften (und man kann ergänzen: der Politik und dem alltäglichen Handeln) gibt, die absolut stabil über die Zeit hinweg wären.13 Feyerabend diagnostiziert in der „abendländischen Zivilisation“ einen sich durchhaltenden Kampf zwischen „abstrakten“ und „historischen Traditionen“,14 man könnte auch sagen: zwischen einem, wie es John Forrester genannt hat,15 „thinking in cases“ und einem Prinzipien-Denken. In der Wissenschaft kann das Prinzipien-Denken zu Blockaden führen, dazu, dass man Innovationen als „unvernünftig“ oder „undenkbar“ beiseite tut, wie die mehrwertige Logik, eine vierdimensionale Raumzeit oder die Veränderung des genetischen Materials durch Umwelteinflüsse, weil dies angeblich „der Vernunft“ widerspricht. Ähnliches gilt auch für das Nachdenken und Handeln außerhalb der Wissenschaft. Ich beziehe mich hier auf den Unterricht in der „Talenta Zürich“: https://www.talenta.ch/; zuletzt aufgerufen 03. 05. 2021. 12 Paul Feyerabend, Three Dialogues on Knowledge, Oxford 1991. 13 Feyerabend, Irrwege der Vernunft (wie Anm. 6), 418. 14 Ebd., 428 15 John Forrester, Thinking in Cases, Cambridge 2017. 11

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Auch hier können Appelle an „die Prinzipien der Vernunft“ Hemmnisse darstellen, um neue politische oder soziale Wege zu beschreiten. Wenn die Aufklärung sich über sich selbst aufklären und als Bewegung erneuern will, darf sie m. E. nicht die kantischen Vernunft- und Freiheitsbegriffe mit allen Mitteln zu „retten“ versuchen, um sie weiterhin wie Amulette vor sich hertragen zu können, weil sie uns vermeintlich vor irrationalem Relativismus und der Entwürdigung unserer Person schützen, vor allem dann nicht, wenn unklar ist, wie diese Amulette eigentlich wirken. Das ist kein Argument gegen die historische Kantforschung, sondern eines gegen den Ersatz kultureller Bewegungen durch philologisch-hermeneutische Untersuchungen. III. Bildung in Zeiten der Meritokratie Sicher haben meine Kritikerinnen Recht, dass das, was ich über Bildung in diesem Pamphlet (und gerade eben) zu sagen habe, zu wenig ist, dass es vor allem kritisch ist, sofern unsere Bildungsinstitutionen von einem universalisierten Markt zu Karriereinstrumenten degradiert worden sind. Diese Institutionen waren jedoch, bevor das geschah, auch nicht bloß Schulen der Vernunft, in denen das Begründen geübt und gelernt wurde, wie man vernünftiges Argumentieren vom Machtausüben nach kantischen Prinzipien unterscheidet. Bildungsinstitutionen boten vielmehr auch eine education sentimentale, eine Erziehung der Gefühle und des politischen Gespürs, der ästhetischen Empfindsamkeit und der Fähigkeit zum Perspektivenwechsel zwischen Epochen und Kulturen. Sie dienten idealerweise auch der Heranbildung eines Bewusstseins dafür, was man selbst so alles herausfinden und erschaffen kann. All das geschah weitgehend durch das gründliche Studium von wissenschaftlichen, historisch-politischen und künstlerischen Beispielen, indem man einen Schwingkreis in der Physik, die Entwicklung der Französischen Revolution im Geschichtsunterricht oder Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ in Deutsch studierte. Das geschieht vielleicht immer noch. Doch, so erscheint es mir aufgrund familiärer Lebenserfahrung, heute weniger, um vernünftige Verfahren der Forschung, politischen Gestaltung und gelingenden Deutens von Kunst kennenzulernen, sondern um Kreditpunkte einzusammeln, damit man einmal zu den Gewinnern und nicht zu den Verlierern in der Meritokratie gehört. Die Beschäftigung mit Inhalten ist (was sie für einige vielleicht immer schon war) Mittel zum Zweck eines messbaren Ausbildungserfolgs geworden, der die Berufschancen in einer durch und durch marktförmig strukturierten Gesellschaft steigern soll. Man kann und soll m. E. von dem, was heute in den Bildungsanstalten passiert, nicht einfach zu dem zurückkehren, was vor 50 Jahren üblich war oder vor 120 Jahren in Deweys Laborschule in Chicago schon besser gemacht wurde als

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das, was vor 50 Jahren geschah. Die vergangenen Tatsachen der Bildung verweisen lediglich auf Möglichkeiten, Bildungsinstitutionen als etwas anderes zu begreifen denn als Vorbereitung auf eine außerschulische meritokratische Wirklichkeit in einer vermutlich nicht mehr lange fortsetzbaren Gesellschaft, der es überwiegend um Aufmerksamkeit und Reichtum geht, bei weitgehender Missachtung der moralischen, politischen und ökologischen Kollateralschäden dieser Zweckausrichtung des Lebens für andere menschliche und nicht-menschliche Wesen. Dass auch die „alten“ Bildungsanstalten nicht vor Katastrophen schützen konnten, ist oft zu Recht gezeigt worden. Das humanistische Gymnasium, der von Spranger und Jaeger, wie Mulsow zu Beginn seiner Kritik eindrucksvoll berichtet, angestrebte „Dritte Humanismus“, das Auswendiglernen der Zehn Gebote, einschließlich „Du sollst nicht töten“, haben den Massenmord bekanntlich nicht verhindern können. Imre Kert8sz schrieb entsprechend: „Du entwirfst eine grauenhafte Vision: Mit dem Ranzen auf dem Rücken trotten Millionen Kinder zur Schule [ins humanistische Gymnasium, M.H.], um sich später auf dem Vorplatz der Krematorien, an einer als Massengrab ausgehobenen Grube als Täter und Opfer wiederzutreffen.“16 DeweyQsche Schulreformen allein werden „unsere“ Gesellschaft so wenig „retten“, wie der „Dritte Humanismus“ die Weimarer Gesellschaft vor der Diktatur retten konnte. Alle sonstigen Möglichkeiten, die anderen politischen Freunden einfallen mögen, um die universale Konkurrenz der Reichtumsgesellschaften und ihre ökologischen Schäden zu beenden, sollten deshalb m. E. in die Öffentlichkeit gebracht und dort erwogen werden, um im politischen Kampf, der, wie noch zu zeigen sein wird, nicht mein Geschäft ist, zum Einsatz zu kommen. Meer und Hlade scheinen nahezulegen, dass man noch einmal in die Theorie der Urteilskraft und die Geschichtsphilosophie von Kant schauen solle, um positive Bildungs- und Geschichtsideale aus ihnen entnehmen zu können. Analoges scheint mir Weckwerth für Hegel und die Theoretiker des Vormärz zu empfehlen. Doch scheinen mir diese Hinweise dem Ernst und den Ursachen für „unsere“ desolate Lage nicht ganz angemessen. Die Zerstörung der Öffentlichkeit, zu der Kant, Hegel und die Theoretiker des Vormärz m. W. noch nichts zu sagen haben (aber ich lasse mich gern eines Besseren belehren), durch das marktförmig funktionierende Internet und die Zerstörung der ökologischen Lebensgrundlagen der Menschheit hängen ja miteinander zusammen. Die Unfähigkeit, auf die ökologische Krise zu reagieren, ergibt sich aus einer allgemein gelähmten Reaktionsfähigkeit der Öffentlichkeit, der kollektiven Subjektivität, weil diese nur noch bedingt reflexiv, ja kaum mehr reaktiv ist, sondern weitgehend zu einem triggerbaren Mechanismus geworden ist, der angesichts der Aufmerksamkeitsbelohnungen, die das Netz bereitstellt, immer effizienter manipuliert werden kann, um ge16

Imre Kert8sz, Dossier K. Eine Ermittlung, Reinbek bei Hamburg 2006, 207.

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wünschte Meinungen zu produzieren oder Kaufhandlungen durchzuführen. Die Öffentlichkeit ist zu einer Art PavlowQschem Hund geworden, der auf die Glocken, die Google, Facebook u. a. erklingen lassen, pünktlich seinen Speichel bzw. seine Daten absondert und sein Geld abgibt. So scheinen die finstersten Albträume Adornos, dass man dem Kapitalismus nirgends mehr entrinnen kann, dass alles zur Ware wird, langsam, aber sicher Realität zu werden. Unsere Lebenszeit, unsere Aufmerksamkeit, unsere Meinungen, unsere persönlichen Daten – all das ist zur Ware geworden. Jeder Austausch zwischen Menschen im Netz ist ein potentieller Ort für Werbemaßnahmen und das Abgreifen weiterverkaufbarer Daten. Auf die Zerstörung der Umwelt kann ein so konditioniertes kollektives Wesen nicht mehr effizient reagieren. Die Werbeagenturen der große ökologische Kosten verursachenden Konzerne appellieren für die Abwendung ökologischer Katastrophen an die „Verantwortung der Einzelnen“, auf die es ja angeblich immer ankommt, um dadurch notwendige internationale institutionelle Reformen zu verhindern, die ihren Handlungsspielraum einschränken würden. Eine solche Strategie kann sich sogar als aufklärerisch verstehen, weil sie die Vernunft der einzelnen Person anspricht, die als mündiger Mensch eben den Müll trennen und das Fleischessen einstellen kann, wenn sie das als richtig einsieht, so dass der Markt als Aggregation der vernünftigen Entscheidungen der Einzelnen auch die ökologischen Probleme schon richten wird. Wäre es nicht auch hier sinnvoll, sich an konkreten Fällen zu orientieren, statt an die Vernunft der Individuen und des Marktes zu glauben? Hat die marktförmige Organisation des Gesundheits- oder öffentlichen Transportwesens diese effizienter und allgemein preiswerter gemacht? Mir scheint das nicht der Fall. Kann in dieser Situation die Entwicklung von allgemeinen Kriterien des Vernünftigen helfen? Auch das kann ich nicht glauben. Es scheint mir deshalb nötig, Menschen zu bilden, die in der Lage und guten Mutes sind, die gegenwärtige Gesellschaft und Kultur nicht mehr fortzusetzen, weil diese Gesellschaft und Kultur in den nächsten 50 Jahren vermutlich unter Entstehung von viel Leid von selbst aufhören wird, eine fortsetzbare zu sein. Wie aber kann man Menschen hervorbringen, die die bestehenden Verhältnisse nicht perpetuieren oder verschlimmern, sondern auf sie reagieren können? Denn alle Menschen entstehen in ihren Gewohnheiten und Zielvorstellungen ja in den bestehenden Verhältnissen. Eine gewalttätige Revolution, die sich gegen die gegenwärtigen Institutionen richtet, obwohl sie vielleicht immer wahrscheinlicher wird, wenn die politische Polarisierung der Menschen in Gewinner und Verlierer weiter fortschreitet, würde an den Gewohnheiten der Menschen, die ihr Verhalten bestimmen, nichts ändern. Menschen, die mit den Gewohnheiten und Zielen „ausgestattet“ sind, die gegenwärtig in die Zerstörung der Demokratie und der ökologischen Lebensgrundlagen führen, werden nach einer revolutionären Zerschlagung der Institutionen der ge-

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genwärtigen Gesellschaft keine neuen errichten können, die Menschen mit anderen, politisch und ökologisch länger fortsetzbaren Gewohnheiten und Zielvorstellungen hervorbringen. Nur wenn es innerhalb dieser Gesellschaft gelingt, in den Bildungsinstitutionen wieder eine potentielle Anti-Struktur zu den anderen Institutionen dieser Gesellschaft zu bilden, kann diese Gesellschaft sich aus sich heraus ändern und einen anderen Pfad nehmen als den in die politische und ökologische Selbstzerstörung. John Dewey hat in Human Natur and Conduct gezeigt, dass eine Gesellschaft, die sich lediglich reproduziert, aber nicht verändert, in einen „vicious circle“ geraten kann, in dem es ihr gerade nicht mehr möglich ist, sich zu erhalten, sich fortzusetzen, weil sie fortwährend Bewegungen vollführt, die sie selbst vernichten.17 Nur eine reaktionsfähige und zur Selbstveränderung fähige Gesellschaft ist in dieser Perspektive auch eine fortsetzbare. Unsere gegenwärtigen westlichen Gesellschaften befinden sich dagegen überwiegend bereits in diesem deweyschen vicious circle; sie sind reaktions- und in entscheidenden Punkten veränderungsunfähig geworden angesichts der ihnen klar vor Augen stehenden Bedrohungen. In dieser Situation geht es nicht um die Autonomie im Sinne der Selbstgesetzgebung, auch wenn Republikanismus und kantische Freiheit der Individuen eine schöne Sache sind. Es geht eher um die sehr elementarere Kompetenz des Überhaupt-noch-kollektiv-reagieren-Könnens auf Gefahren, um die Fähigkeit, andere Ziele zu verfolgen als die der Profitmaximierung und des gesellschaftlichen Aufstiegs, deren sture Verfolgung der Abwendung dieser Gefahren im Wege steht. Würde es helfen, die Erzieher in dieser Situation mit Kant zu erziehen? Gibt es eine kantische Utopie der Geschichte, die die gegenwärtigen Menschen überall auf dem Globus, auch in China und Indien und im US-amerikanischen MidWest nachvollziehen und der sie zustimmen könnten, würde sie nur verständlich in die Öffentlichkeit getragen, um von ihnen als eine globale soziale und politische Alternative zum gegenwärtigen Kapitalismus wählbar zu sein? Ich habe da große Zweifel. Wie kommt es, dass die seit der Stoa existierenden Argumente gegen die Sklaverei nie bewirkt haben, dass diese abgeschafft werden konnte, sondern erst Kunst (Uncle TomQs Cabin) und vermutlich wirtschaftliche Zwänge, die sie unrentabel erscheinen ließen, im 19. Jahrhundert diese Folge hatten?18 Muss die Philosophie sich angesichts solcher Tatsachen nicht fragen, welche soziale und politische Wirksamkeit ihre Argumente haben? Hier teile ich die Position von Raymond

John Dewey, Human Nature and Conduct (The Middle Works: 1899–1924, Vol. 14), Carbondale 1983, 88–92. Ich danke Arvi Särkelä in Zürich für den Hinweis auf diesen Gedanken von Dewey. 18 Vgl. dazu Richard Rorty, Achieving our Country, Cambridge, Mass. 1997, 136. 17

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Geuss, wonach ein „guter Philosoph […] ein selbstkritischer Partisan der Aufklärung“ zu sein hat und kein fanatischer Ritter der „Vernunft“.19 An dieser Stelle ergeben sich einige Überschneidungen zwischen dem Denken von Geuss, dem von Feyerabend in seinen „Irrwegen der Vernunft“ und meinen eigenen bescheidenen Versuchen. Denn Feyerabend hat die Hoffnung geäußert, dass alle Anstrengungen, „unsere Handlungen von Einsicht und nicht länger von […] Schlagwörtern“ leiten zu lassen, zu einer „neuen Aufklärung“ führen könnten, in der auch alte Traditionen des Denkens und solche aus anderen Kulturen geprüft und eventuell zu neuer Geltung gebracht werden.20 Was Feyerabend als den Fehler, sich von Schlagwörtern leiten zu lassen, bezeichnet, nennt Geuss „World-View“ und ich das „Wälzen von großen Worten zu Grundlegungszwecken“. Eine Bewegung der Dritten Aufklärung würde Schlagworte, WorldViews und Grundlegungsprojekte zu vermeiden suchen. Sofern Utopien „World-Views“ sind, ginge sie auch diesen aus dem Weg. Denn sie sind nach Geuss letztlich nichts anderes als ein nicht funktionierender Ersatz für eine ehemals intakte und zukunftsfähige Gemeinschaftlichkeit bzw. der Versuch, diese Gemeinschaftlichkeit durch ein „Theoriegebäude“ zu retten. Gemeinschaften, deren Mitglieder sozial zu „schwach“ geworden sind, um sich durch die Regeln und Gewohnheiten in ihnen gebunden zu fühlen, „brauchen“ rechtfertigende Weltsichten und, so möchte ich ergänzen, Utopien. Doch diese theoretischen Konstrukte können die verschwundene Kohäsion und Zukunftsfähigkeit einer Gemeinschaft auch nicht wiederherstellen.21

IV. Formen der Aufklärung Vielleicht kann man, um weiter auf die Kritik von Hartung einzugehen, zwischen einer positiven und einer negativen Aufklärung unterscheiden, so wie man zwischen einem positiven und einem negativen Utilitarismus differenzieren kann. Der erste versucht, ein möglichst großes Glück für eine möglichst große Zahl zu befördern. Der zweite strebt die Verminderung von Leid an. Die positive Aufklärung hat versucht, die Autonomie zu befördern und die Mündigkeit, die Fähigkeit, selbst zu denken und aus dem eigenen Denken und Fühlen heraus auch das Handeln zu wagen. Sie hat als politische Bewegung für die Emanzipation marginalisierter Menschen, die Frauen und die Ausgebeuteten gekämpft. Sie hat dabei versucht, allgemeine Kriterien der Vernünftigkeit (im Sinne Kants) und eine allgemeine „rationale Sprache“ (im Sinne des cartesischen Discours de la m8thode 19 20 21

Raymond Geuss, Who Needs a Worldview?, Princeton 2020, 59. Feyerabend, Irrwege der Vernunft (wie Anm. 6), 440. Geuss, Who Needs a Worldview? (wie Anm. 19), 32 f.

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oder der leibnizschen characteristica universalis) zu entwickeln. Die negative Aufklärung (die es auch immer schon gegeben hat, wie den negativen Utilitarismus, aber das weiß Mulsow besser als ich und ist aus seinen Publikationen zu lernen) versucht dagegen, Grausamkeiten und Illusionen zu vermeiden, Autoritäten zurückzudrängen, religiöse Angstmacherei zu beenden. Eine dritte Aufklärung müsste ebenfalls eine negative sein, die versucht, die schon laufenden Grausamkeiten zu stoppen, die durch die Universalisierung des Marktes den Menschen und auch anderen Lebewesen angetan werden. Sie müsste zeigen, dass es der allgemeinen Kriterien der Vernunft nicht bedarf, um einen Wandel in Praktiken dennoch als „vernünftig“ zu charakterisieren. Denn es gibt, wenn man etwa in die Geschichte des Strafprozessrechts oder des Fußballspieles schaut, eine kontinuierliche Veränderung der Regeln, nach denen diese Praktiken ausgeübt werden. Gute Historikerinnen und Historiker können beschreiben, wie die Änderungen jeweils abgelaufen sind und welche Gründe die Ändernden für ihre Änderungen hatten. Auch die Arten der Gründe mögen dabei selbst einer Veränderung unterliegen. Sofern diese Prozesse nachvollziehbar sind, kann man sie als „vernünftige“ charakterisieren, ohne dass sie deshalb durch Prinzipien der Vernunft a tergo gesteuert sein oder auf die Realisierung der uns allen aufgegebenen Vernunft teleologisch zulaufen müssen. Das gilt m. E. auch für die Geschichte der Philosophie. Auch sie wird nicht durch eine Vernunft angetrieben und läuft auch nicht auf eine hinaus. Sie erscheint mir so wenig wie die Geschichte der Malerei oder der Dichtung eine Fortschrittsbewegung. Gerald Hartung hat recht, dass es vermutlich nichts Neues in meinem Essay gibt. Aber es ist schwer, etwas Neues in der Philosophie zu sagen, und mir ist auch nicht ganz klar, ob man das muss. Ich teile die Diagnose von Ian Hacking, dass Philosophie nicht im „progress business“ ist, dass es nicht die Aufgabe der Philosophie sein kann, Erkenntnisfortschritt im Sinne der Natur- und Technikwissenschaften zu betreiben, weil sie viel weniger als diese durch geteilte Methoden bestimmt ist.22 (Für die Philosophiegeschichtsschreibung sieht das freilich anders aus.) Meine Schrift ist also nicht als eine Intervention in die Philosophiegeschichte gedacht, die so gebildete Philosophiehistorikerinnen und Philosophiehistoriker wie meine Kritiker und Kritikerinnen mit neuen Gedanken in Erstaunen versetzen könnte. Sie ist eher ein Versuch und eine Aufforderung, sich zu erinnern. Denken wir uns Menschen, die seit 100 Jahren im Krieg leben. Schon lange gibt es keine „Do not blush at the perennial themes of philosophy. Unlike the natural sciences it is not in the progress business.“ Ian Hacking, Historical Ontology, Cambridge, Mass., London 2002, 55. Vgl. dazu Michael Hampe, Denken, Dichten, Machen und Handeln. Zum Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Technik, in: Gregor Betz, Dirk Koppelberg, David Löwenstein, Anna Wehofsits (Hg.), Weiter denken. Über Philosophie, Wissenschaft und Religion, Berlin 2015, 3–22. 22

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friedlichen Gelage, keine ruhige Gemeinschaftlichkeit, die nicht zu Konkurrenz mehr führt, sondern nur Flucht, Not und Kampf. Auch daran können sich Menschen gewöhnen, wie der Aufklärer Lichtenberg einmal bemerkt hat, weil die, die den Frieden „geschmeckt“ haben, aussterben und die Erinnerung an ihn deshalb schwindet.23 So wie man sich an den Krieg gewöhnen kann, haben „wir“ uns an unser Leben gewöhnt, das wir gern auch noch als „fortschrittlich“ charakterisieren, weil es mit technischen Innovationen und Reichtumsgewinnen für eine kleine Gruppe verbunden ist. Doch was, wenn wir einsehen müssen, dass dieser Fortschritt einer Mehrheit der Menschen und anderen Lebewesen zum Schaden gereicht und deshalb die auf ihn eingestellten Institutionen scheitern müssen? Ist dann nicht auch das Wort „Fortschritt“ wie das Wort „Vernunft“ und das Wort „Freiheit“ ein Großbegriff der Aufklärung, ein „Schlagwort“ im Sinne Feyerabends, über dessen Bedeutung vielleicht mehr nachgedacht, über den „die Aufklärung“ als kulturelle Bewegung sich selbst aufklären sollte (die Philosophiegeschichte tut das natürlich, indem sie „Freiheit“ bei Spinoza und Kant untersucht, „Fortschritt“ bei Hegel und Marx, „Vernunft“ bei Descartes und Peirce usw.)? Kann in diesem Sinne nicht eine Erinnerung an alte Gedanken, eine Zusammenstellung von Überlegungen, die einigen gut bekannt sein mögen, trotzdem einen aufklärerischen Nutzen in der Öffentlichkeit haben, im Sinne einer entlarvenden Geste? Der Pragmatist Chauncey Wright schrieb 1865 in Kritik an Herbert Spencer: Progress is a grand idea, – Universal Progress is a still grander idea. It strikes the key note of modern civilization. Moral idealism is the religion our times. What the ideas of God, the One, and the All, the Infinite First cause, were to an earlier civilization, such are Progress and Universal Progress to the modern world, – a reflex of its moral ideas and feelings.24

Wäre es nicht lohnenswert, statt den vermeintlichen Fortschritt vorantreiben zu wollen, sich stattdessen daran zu erinnern, dass Menschen auch anders leben können, als „wir“ es gerade tun? Ist es nicht lohnenswert, sich daran zu erinnern, dass, so wie es möglich war, ohne Krieg zu leben, es auch möglich war, zu leben, ohne alles zu verkaufen, ohne immer nur in einer Konkurrenz auf einem Markt zu sein, ohne sich gegenseitig seine Meinungen ins Gesicht zu schreien? Wäre eine der breiteren Öffentlichkeit zugängliche „Entlarvung“ der Rolle des Fortschrittsbe„Wenn ein Krieg 20 Jahre gedauert hat, so kann er wohl auch 100 dauern. Denn der Krieg wird nun ein Status. Polemokratie. Die Menschen, die den Frieden geschmeckt haben, sterben weg.“ Georg Christoph Lichtenberg, Sudelbücher (J 1181). Ich hatte dies Zitat als Motto für „Die Dritte Aufklärung“ gewählt. 24 Chauncey Wright, The Philosophy of Herbert Spencer, in: North American Review, April 1865, 450. Wieder abgedruckt in Chauncey Wright, The Evolutionary Philosophy of Chauncey Wright, vol. 1, ed. by Frank X. Ryan, Bristol 2000, 69. Ich danke Fabienne Forster in Zürich für den Hinweis auf diese Textstelle. 23

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griffs als eines leeren „Schlagworts“ im feyerabendschen Sinne innerhalb eines „World-Views“ im Sinne von Geuss deshalb nicht ein erstrebenswertes Projekt negativer Aufklärung? Damit rede ich in gewisser Hinsicht einer rückwärtsgewandten Aufklärung wie Spranger und Jaeger das Wort, da hat Mulsow recht, aber vielleicht doch vor einem anderen Hintergrund. Denn die Frage, ob eine Aufklärungsstrategie rückwärtsgewandt ist oder nicht, ist ja in hohem Maße von der Rolle des Fortschrittsbegriffs im Diskurs abhängig. Sollten wir Aufklärungsbewegungen einfach als „Fortschrittsprojekte“ charakterisieren? Das erschiene mir blauäugig. V. Gewohnheiten, implizite Normen, Handeln und Erinnern Damit sind wir bei dem vielleicht schwierigsten Problem dieser Diskussion, das Martin Mulsow entfaltet hat: Wie verhalten sich die Diagnosen der deskriptiven Sozial- und Geschichtswissenschaften zu den normativen Orientierungsversuchen der Philosophie? Die Scheidelinie zwischen Tatsachen und Normen läuft, so möchte ich im Anschluss an John Dewey behaupten, durch die menschlichen Gewohnheiten. Menschen sind, wie sie sind, weil sie sich an bestimmte natürliche, technische, kulturelle, soziale und politische Tatsachen gewöhnt haben. Doch an welche Tatsachen sie sich gewöhnen und an welche sie sich nicht gewöhnen sollen und wollen, sondern die sie zu ändern versuchen müssen, ist eine normative Frage. Sie betrifft vor allem die Erziehung. Denn Erziehungsprozesse sind zu einem großen Teil Gewöhnungsprozesse, in denen sich die gewöhnenden Subjekte noch nicht von Tatsachen, an die sie gewöhnt werden, distanzieren können. Die normativ zentrale Frage ist hier: Wer erzieht die Erzieher und nach welchen Kriterien? Ich kann nicht beurteilen, inwieweit das LatourQsche Programm, auf das Mulsow zu Recht hinweist und das konkrete soziale und politische Veränderungen in der Repräsentation von Akteuren anstrebt, als eines anzusehen ist, das tatsächlich auch solche konkreten Resultate zeitigt. Ich habe den Eindruck (wie Arne Naess25), dass der panpsychistische oder animistische Hintergrund, den das LatourQsche Programm voraussetzt, erst dann sozial allgemein akzeptabel ist, wenn sich die Lebensform bereits geändert hat. Hier müsste also ein anderer Kreislauf in Gang gebracht werden: Neue Gewohnheiten bedingen eine neue Lebensform und in einer neuen Lebensform werden implizit neue Normen etabliert, die wiederum neue grundlegende Evidenzen als akzeptabel erscheinen lassen, auch in Erziehungsprozessen. Es gibt jedoch für diesen Prozess der gegenseitigen Bedingtheit von Gewohnheiten, impliziten Normen und Evidenzen m. E. keine

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Arne Naess, Ecology, Community, and Lifestyle, Cambridge 1989.

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normative Steuerungsinstanz, auch in der Philosophie nicht. Und ich sehe auch Latours Theorie nicht in dieser Rolle. Aber vielleicht irre ich mich auch hier. Philosophie ist im Verhältnis zu Religionen, Techniken und vor allem der Politik keine starke normative Kraft in den westlichen Gesellschaften. Als Kritik von Religion und Politik kann Philosophie jedoch in meinen Augen am ehesten normative Wirkungen entfalten. Das Schreckgespenst des sogenannten „realen Sozialismus“ als Versuch der praktischen Realisierung der normativen Vorstellungen von Karl Marx und Friedrich Engels scheint jedoch der Philosophie ihre praktische Unschuld bis auf weiteres genommen zu haben. Es vielleicht gut gemeint, aber schlecht gemacht zu haben, ist ein Vorwurf, den sich seit der UdSSR nicht nur die Religionen und Technologien, sondern auch die Philosophie anhören muss. Diese Sicht im Westen richtet jedoch zu wenig Aufmerksamkeit auf die Relevanz von Daoismus und Konfuzianismus als säkularen aufklärerischen Bewegungen in China. Häufig schreiben sich europäische Gesellschaften in Griechenland, England, Frankreich und Deutschland die „Erfindung“ der Aufklärung unter Ausklammerung von Asien zu. Das Beispiel China kann einen m. E. jedoch eines Besseren belehren und evident machen, dass das Projekt der Aufklärung als ein ernst zu nehmendes kritisches philosophisches und bildungspolitisches Vorhaben weiterhin von Bedeutung ist, sofern es in einer kulturellen und politischen Bewegung eine breite öffentliche Relevanz erhält. (Damit soll der gegenwärtige Parteidespotismus in China nicht geleugnet werden.) Das von Mulsow betonte Problem der Verhältnisbestimmung von Beschreibungen der Vergangenheit und normativen Interventionen zur Gestaltung der Zukunft betrifft das Verhältnis von Erinnern und Handeln. Menschen können die Vergangenheit nicht ändern. Sie können sie nur mehr oder weniger genau erinnern. Doch das, was sie tun, hängt mit dem, was sie erinnern, zusammen. Denn Menschen reagieren nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die in einer Gegenwart auf spezifische Weise erinnerte Vergangenheit. Der Hinweis auf zwei Aufklärungsbewegungen in der Vergangenheit führt zu ungleich viel ungenaueren Erinnerungen als denjenigen, die Martin Mulsow und seine Kolleginnen und Kollegen von der Aufklärung erzeugt haben.26 Mein ungenaues Erinnern ist jedoch nicht allein der Faulheit und Unbildung geschuldet (vielleicht auch), sondern hat vor allem strategische Gründe, die mit der Suche nach einer antwortenden Geste auf die folgende Frage zusammenhängen: Wie sollen wir auf das, was wir gegenwärtig erleben, angesichts dessen, was wir erinnern können, reagieren? Für die, die handeln und entscheiden müssen, beginnt in gewisser Hinsicht immer „eine neue Zeit“. Es mag, wie Mulsow schreibt, vom Standpunkt der Historikerin und des Sozialwissenschaftlers naiv erscheinen, „ein neues Zeitalter“ einEtwa in Martin Mulsow, Prekäres Wissen. Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012 und Jonathan I. Israel, Martin Mulsow (Hg.), Radikalaufklärung, Berlin 2014. 26

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läuten zu wollen. Ebenso naiv mag es Historikerinnen erscheinen, aus der Vergangenheit lernen zu wollen, weil ja keine Gegenwart wirklich einer Vergangenheit entspricht und deshalb Problemlösungsstrategien nicht einfach übertragbar sind. Aus einer Handlungsperspektive mag man jedoch der Furcht vor dem, was zukünftig noch alles möglich ist, nur begegnen können, indem man sich an Wendungen in der Geschichte zu erinnern versucht, als Menschen sich noch als kollektiv reaktionsfähig gezeigt haben. Diese vereinfachenden Erinnerungen mögen in den Augen der historisch Gelehrten Simplifikationen und Idealisierungen sein. Doch vielleicht sind die gerade nötig, um die kollektive Reaktionsfähigkeit auf eine bedrohliche Gegenwart durch zeigendes Reden (und Schreiben) zu steigern. Wenn Erinnern in unterschiedlichen Formen der Ausführlichkeit und Genauigkeit passieren kann, dann erfüllt es dabei also verschiedene Funktionen. Die elementarste ist vielleicht das biografische Erzählen, mit dem man sich seiner eigenen Lebensgeschichte versichert und die Verluste, mit denen man dabei konfrontiert ist, zu bewältigen versucht.27 Auch wenn es professionellen Historikerinnen eher ein Gräuel ist, erinnern wir auch, um daraus für die Gegenwart zu lernen. Hat man nicht aus vergangenen Finanzkrisen 2007/08 zu lernen versucht, um die, mit der man in diesen Jahren konfrontiert war, bewältigen zu können und sie nicht durch eine neue Austeritätspolitik zu verschärfen?28 Hat Madeleine Albright, die US-Außenministerin von 1997–2001, deren tschechische Eltern jüdischer Abstammung mit ihr als Einjähriger von Belgrad ins englische Exil flüchteten, in ihrem 2018 erschienen Buch Fascism. AWarning nicht deshalb noch einmal an den Aufstieg von Hitler und Mussolini erinnert, um vor den Entwicklungen des Trumpismus (aber auch vor dem, was Putin und Erdogan veranstalten) zu warnen?29 Sie tat das nicht, um einen Betrag zur historischen Faschismusforschung abzuliefern, wie etwa Ian Kershaw mit seiner Hitlerbiografie.30 Könnte es deshalb nicht auch umgekehrt sinnvoll sein, positiv bewertbare Entwicklungen aus der Geschichte wieder in Erinnerung zu rufen, um dadurch ein schlummerndes gesellschaftliches Reaktionspotential zu wecken zu suchen? Mulsows Hinweise, dass man meine Skizze durch ein Studium unterschiedlicher „Wahrheitskulturen“ anreichern könnte, um meine grobe Genealogie zu „verfeinern“ und sie schließlich in eine „normative Utopie einer künftigen Kultivierung von Wahrheitspraktiken“ zu überführen, ist ein wertvoller Hinweis. Mir scheint, Ich habe selbst im Anschluss an Walter Benjamin und Alexander Hunold diese Funktion des Erinnerns zu analysieren versucht in: Endlichkeit und Genauigkeit. Über das Erzählen als einer Weisheitspraktik, in: Michael Hampe, Kai Marchal (Hg.), Weisheit. Neun Versuche, Berlin 2021. 28 Karin Küblböck, Johannes Jäger, Andreas Novy, The World Financial System in Crisis, in: World Economy and Ecology: https://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.470. 4628&rep=rep1&type=pdf. Zuletzt abgerufen 30. 04. 2021. 29 Madeleine Albright, Fascism. A Warning, New York 2018. 30 Ian Kershaw, Hitler, London 1998. 27

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es gibt ein Kontinuum der Genauigkeit und Wahrhaftigkeit des Erinnerns, an dessen einem Ende die Resultate der historischen Wissenschaften stehen, wie sie von Hartung, Mulsow und Weckwerth mit großem Erfolg betrieben werden. Am anderen Ende stehen die persönlichen und politischen Reden auf Gedenkfeiern, Jahrestagen u. ä., die nicht unwahr sein müssen, aber strategische Ziele verfolgen, die der Geschichtsforschung fernliegen. Mein Pamphlet ist „mehr“ als eine Rede zum Geburtstag des Aufklärers John Dewey, aber „weniger“ als Mulsows Prekäres Wissen oder der Ueberweg. Die Qualität einer Erinnerung aus strategischen Motiven bemisst sich wohl in ihrer praktischen Wirksamkeit, die ich, was meinen eigenen Text angeht, schwer abschätzen kann, denn man kann nicht wissen, wann und wie lange schriftliche Gesten wirken. Mulsow hat völlig recht, dass mein Projekt von Befürchtungen ausgelöst und mit ähnlichen Absichten betrieben wurde, die auch bei Bruno Latour zu finden sind. Mulsow stellt fest, dass die „Dritte Aufklärung“ eine „Diplomatie“ im latourschen Sinne wäre. Allerdings scheint mir nicht nur die „Verflüssigung von Kategorien“ und der Verzicht auf eine Fundamentalontologie, wie Mulsow anmerkt, für das LatourQsche Projekt wichtig, sondern auch seine an Whitehead anknüpfende Ausweitung des Akteursbegriffs. Für diese habe ich, als jemand, der sich selbst mit großem systematischen Interesse mit der whiteheadschen Prozessontologie befasst hat, ebenfalls Sympathien. Ich glaube, auch für Latours Diplomatieprojekt ist dieser animistische Akteursbegriff relevant. Er ist jedoch gleichzeitig mit Problemen verbunden, für deren Bewältigung ich keine Lösung sehe. Letztlich läuft die Vorstellung, dass es nicht-menschliche Akteure und Existenzweisen gibt, die politisch zu repräsentieren und deren „Perspektiven“ zu vermitteln wären, auf eine panpsychistische Revision des Handlungsbegriffs hinaus, die diesen von intentionaler Personalität ablöst. Diese Revision steht m. E. im Zentrum von Latours Versuch, uns von der illusionären Trennung von Natur und Kultur, die uns unsere ökologischen Probleme einträgt, zu befreien. Doch einen solchen Panpsychismus wird man nur dann plausibel finden, wenn man seine Lebensform bereits geändert hat, d. h. wenn man bereits nicht mehr in Gewohnheiten lebt, in denen alles Nicht-menschliche und eventuell alles, was nicht zur eigenen Kultur gehört, als Ressource betrachtet wird. Plausibilitäten bestimmen Lebensformen und Lebensformen Plausibilitäten. Die Unplausibilität, Tiere und Pflanzen als Akteure zu betrachten und andere Kulturen als ebenso „wichtig“ wie unsere eigene anzusehen, ist „bei uns“ in unserer Lebensform verankert. Arne Naess hat darauf hingewiesen, dass aus dieser Lebensform kein Argument und keine Theorie, sondern nur eine gleichsam religiös-politische Bewegung führen kann, die er „Tiefenökologie“ genannt hat.31 Arne Naess, The shallow and the deep, long range ecology movement. A summary, in: Inquiry 16 (1973), 95–100 und Michael Hampe, Explaining and Describing: Panpsychism and Deep 31

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Vielleicht hat Mulsow recht, dass Latour da beginnt, wo ich aufhöre. Aber es könnte sein, dass Latour für seinen Weg die gegenseitige Abhängigkeit von Revisionen in der Weltbeschreibung und Revisionen in der Lebensform zu wenig bedacht hat. VI. Utopie und Emanzipation Das Wenige, das ich zur Zukunft der Aufklärung zu sagen habe, ist, wie hoffentlich deutlich geworden ist, stark skeptisch und negativistisch geprägt. Es geht mir hauptsächlich darum, durch schriftliche Gesten die Chancen dafür zu erhöhen, dass Schlimmeres als die Gegenwart vielleicht noch verhindert werden kann. Das Verhältnis von Philosophie, kultureller Bewegung und politischem Kampf ist mir in diesem Zusammenhang jedoch alles andere als klar. Damit bin ich bei den Kritiken von Isabel Karremann und Christine Weckwerth angekommen. Um das Problem des Verhältnisses von Philosophie, Politik und kultureller Bewegung näher zu bestimmen, möchte ich auf eine an Dewey anschließende Beobachtung von Arvi Särkelä verweisen. Er schreibt: Den allermeisten von uns ist klar, dass wir in einer Hierarchie der Geschlechter leben, die moralisch unhaltbar ist; dass je dunkler die Haut einer Person ist, desto mehr soziale Ungerechtigkeiten ihr im Leben begegnen werden; dass die Erderwärmung, die inzwischen den Punkt der Unumkehrbarkeit erreicht hat, das Fortleben der Menschheit bedroht; und dass es an demokratischer Kontrolle der Wirtschaft fehlt. Doch dieses Wissen hindert uns kaum daran, ebendiese Umstände durch unser Handeln fortgesetzt zu stabilisieren. Wie stichhaltig unsere Argumente gegen sie auch sein mögen, sie verändern unsere Lebensform nicht. Eine naturalisierte Sozialphilosophie nimmt an, dass Bewusstwerdung, Begründung und Argumentation, obzwar sie zweifelsohne wichtige philosophische Anliegen darstellen, nicht ausreichen, um Transformationen im Handeln herbeizuführen. Denn um unsere Lebensform zu ändern, müssen wir unsere Gewohnheiten ändern. Und unsere Gewohnheiten ändern wir nur infolge mühsamer Übung, die jenes Bewusstsein und Wissen in die handelnden Körper überträgt und bei der gesellschaftliche Institutionen der Abrichtung und Erziehung nötig sein werden.32

Ich stimme dieser Diagnose vollständig zu und auch der Beobachtung von Särkelä, dass Philosophie im Anschluss an Wittgenstein, Adorno und Dewey nur hinauszeigen kann aus den uns bedrückenden und bedrohenden Verhältnissen. Doch sie ist selbst kein politischer Akteur und auch keine platonische Verwaltungsinstanz, die Erziehungsinstitutionen und -pläne zu organisieren hätte. Im Sinne eiEcology, in: Martin Lenz, Anik Waldow (Hg.), Contemporary Perspectives on Early Modern Philosophy: Nature and Norms in Thought (Studies in History and Philosophy of Science 29), Berlin 2019, 179–202. 32 Arvi Särkelä, Anpassung und Erschließung. Naturgeschichte als kritische Geste, under review für die Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 2021/22.

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ner kritisch zeigenden und warnenden Stimme traue ich ihr auch keine Utopieproduktion zu. Erst selbstbewusste und einander demokratisch begegnende Menschen, zwischen denen ein gewisser sozialer Zusammenhalt besteht, können unter sich Zielvorstellungen für ihr Zusammenleben entwickeln. Die Philosophie kann mit erinnernder Geste auf alte Ziele zeigen, aber sie kann niemandem solche vorschreiben. Denn wer hätte sie zu einer solchen Utopieproduktion autorisiert? Sie ist m. E. auch nie selbst der Motor einer emanzipatorischen Bewegung gewesen. Solche Bewegungen wurden von politischen Akteuren vorangetrieben, was Philosophinnen und Philosophen vielleicht auch sein können, doch dann müssen sie in das unangenehme Geschäft des politischen Kampfes überwechseln. Deshalb liegt es mir auch fern, postkoloniale und feministische Theorien (weiter) zu entwickeln. Die Gewohnheiten von Menschen in Europa und Nordamerika, die zu den oben von Särkelä geschilderten Verhältnissen führen, müssen geändert werden. Sie werden nicht durch Theorien, nicht einmal durch Argumente geändert, sondern nur dadurch, dass die mit ihnen verbundene Lebensform entweder zusammenbricht oder sich von innen her selbst verwandelt. Das letzte wird nur möglich sein, wenn Menschen in „unseren“ Bildungsinstitutionen entstehen, die „unsere“ gegenwärtige Lebensform nicht fortsetzen, sondern zu anderem in der Lage sind. Meine Kritik am deterministischen Geschichtsdenken, von welcher Seite auch immer es kommt, ist in diesem Sinne als auffordernde Geste gemeint, dass es nicht so weitergehen muss wie gegenwärtig. Aber diese Geste initiiert nicht notwendig Bildungsreformen und auch keine Emanzipationsbewegungen. Ich weiß, dass ich selbst für den politischen Kampf nicht geeignet bin. Aber ich habe auch nicht die Tendenz, deshalb in die Ersatzhandlung von Theoriebildungen zu verfallen. Als eine solche Ersatzhandlung würde ich es verstehen, wenn ich versuchen würde, Aufklärungsideale, postmoderne Ideale und Aufklärungsfeminismus in einer komplexeren Theorie zu verknüpfen, wie dies Karremann mir nahelegen möchte. Dewey hatte meines Erachtens nicht ganz unrecht, als er die deutsche Transzendental- und Aufklärungsphilosophie als eine Ersatzhandlung zur politischen Revolution kritisierte. Es ist leicht, universale Werte schriftlich zu fordern, doch schwer, eine globale Gemeinschaft politisch zu etablieren, die sie zu realisieren vermag.33 Es ist leicht, theoretisch festzustellen, dass wir als intelligible Wesen alle frei und gleich sind, aber es ist schwer, Gewohnheiten zu etablieren, die dazu führen, dass Frauen und Männer und Menschen aus unterschiedlichen Weltgegenden sozial, ökonomisch und juristisch gleich behandelt werden. Entsprechend bleibt, wie Christine Weckwerth zu Recht hervorhebt, mein Appell an eine Bewusstseinsbildung, die es möglich macht, das Gemeinwohl wieder als Ziel des politischen Handelns ins Zentrum zu stellen, nur ein Postulat. (Ich 33

John Dewey, German Philosophy and Politics, London 2013.

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selbst würde lieber sagen, eine zeigende Geste.) Auch die Rede über die Grausamkeitsvermeidung ist nicht mehr als eine minimalistische Hoffnung. Wie die politische Theoretikerin Judith Shklar gehe auch ich vom grundsätzlichen Gegebensein des Negativen im Sinne des Leidvollen aus und halte eine skeptische Haltung für hilfreich, um das Leid von kämpfenden Fanatikerinnen zu vermeiden.34 Ob die politischen Kämpfe, die vielleicht begonnen werden, um gegenwärtiges Leid zu vermindern, nur Leid verschieben, indem sie neues Leid an anderer Stelle schaffen, ob die ehemals Unterworfenen die Nachkommen ihrer Unterwerfer (die „alten weißen Männer“) unterwerfen werden, damit sie auch einmal spüren, wie es ist, unterworfen zu sein, ob, wie manche der Aktivisten von Extinction Rebellion vorschlagen, Flugzeuge mithilfe von Drohnen zum Absturz und Express-Züge zum Entgleisen zu bringen sind, um durch das Ermorden von Menschen „ein System“ zu erschüttern, das die Ausrottung von Arten auf Dauer gestellt hat, weiß ich nicht.35 Weder über die zu ergreifenden konstruktiven noch die vermeintlich nötigen destruktiven Maßnahmen bin ich mir im Klaren. Ich habe kein politisches Programm, aber ich bemühe mich, die Neigung zu unterdrücken, politisches Handeln durch Theoretisieren zu ersetzen. Daraus resultiert dann ein unbefriedigendes Manifest. Mir bleibt eben nur die kritische Geste. Deshalb verstehe ich die Enttäuschung von Karremann und Weckwerth. Ich habe nichts zu bieten, um sie auszuräumen. Vielleicht kann ich auf diese Enttäuschung antworten, indem ich auf Adorno verweise (noch eine Geste), der in einem kleinen Text mit dem Titel Kritik das Folgende schrieb: Unterstellt wird, daß nur der Kritik üben könne, der etwas Besseres anstelle des Kritisierten vorzuschlagen habe; in der Ästhetik hat Lessing vor zweihundert Jahren darüber gespottet. Durch die Auflage des Positiven wird Kritik von vornherein gezähmt und um ihre Vehemenz gebracht. […] Tatsächlich ist es keineswegs stets möglich, der Kritik die unmittelbare praktische Empfehlung des Besseren beizugeben, obwohl vielfach Kritik derart verfahren kann, indem sie Wirklichkeiten mit den Normen konfrontiert, auf welche jene Wirklichkeiten sich berufen.36

Judith Shklar, Putting Cruelty First, in: Daedalus 111:3 (1982), 17–28 und dies., The Liberalism of Fear, in: dies., Political Thought and Political Thinkers, Chicago 1998, 7. 35 Vgl. den Bericht der BBC zur geplanten Drohnen-Attacke in Heathrow vom Juni 2019: https:// www.bbc.com/news/uk-england-london-48636392. Zuletzt aufgerufen 05. 05. 2021. 36 Theodor W. Adorno, Kritik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang, Frankfurt am Main 1977, 792. Ich danke Arvi Särkelä für den Hinweis auf diese Stelle. 34

R EZ E N S I ON E N

Ptienne Bonnot de Condillac, Trait8 des animaux/Abhandlung über die Lebewesen. Französisch/Deutsch. Deutsche Erstübersetzung, Einleitung und Kommentar von Vanessa Kayling. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, 310 S., E 64,–. „Faire une 8dition est un accident qui peut arriver / tout le monde“ (Hippolyte Taine) Condillacs Trait8 des animaux fällt in eine Zeit intensiver Debatten über das Wesen der Seele, ihr Verhältnis zum Körper, aber auch über die Unterschiede zwischen der Seele der Menschen und der Tiere. Die einschlägigen seelentheoretischen und tierpsychologischen Debatten wurden nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa geführt. So haben sich z. B. in der deutschen Aufklärungsphilosophie Hermann Samuel Reimarus, Justus Christian Hennings und Georg Friedrich Meier in umfassenden Monographien mit Fragen der Seelenlehre der Tiere befasst.1 Zu diesen Debatten hat Condillac mit seinem Trait8 des animaux, der 1755 in erster Auflage erschien, ebenfalls einen wesentlichen Beitrag geleistet, indem er in seiner Schrift auf der Grundlage einer sensualistischen Erkenntnistheorie die Neubewertung des Verhältnisses von Mensch und Tier vornimmt und die cartesische Position, nach welcher Tiere als bloße Maschinen zu betrachten sind, zurückweist. Aber – wie Condillac zu Beginn des ersten Kapitels erklärt – ist DescartesQ Position bereits veraltet, weshalb der eigentliche Gegner des Trait8 Buffon ist, der damals führende Naturhistoriker, der DescartesQ Fehler reproduziert habe. Dennoch ist Condillac kein Gegner einer dualistischen Position, er will vielmehr aufzeigen, inwiefern auch den Tieren eine Seele bzw. seelische Vermögen zugesprochen werden muss. Condillac macht im Vorwort des Trait8 darauf aufmerksam, dass die Erforschung des Seelenlebens der Tiere vor allem deshalb von Bedeutung sei, weil dies ein Mittel darstelle, „uns selbst besser kennen zu lernen, – ein Mittel, um besser zu begreifen, was wir sind“. Anders als Descartes und Buffon sieht Condillac zwischen Mensch und Tier im Wesentlichen nur graduelle Unterschiede, auch Tiere verfügen über vielfältige kognitive Vermögen und sind zu entsprechenden Erkenntnisleistungen in der Lage:

Hermann Samuel Reimarus: Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttrieb. Zur Erkenntniß des Zusammenhangs der Welt, des Schöpfers, und unser selbst, Hamburg 21762; Justus Christian Henings, Geschichte von den Seelen der Menschen und Thiere pragmatisch entworfen, Halle 1774 [Reprint hg. von Falk Wunderlich, Christian Wolff: Gesammelte Werke, III. Abt., Bd. 158, Hildesheim, New York 2020]; Georg Friedrich Meier, Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere, Halle 51750. 1

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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Rezensionen

[W]enn Tiere denken, eine Art von Denkvermögen besitzten, wenn sie einander ihre Empfindungen und Absichten mitteilen, wenn einige Arten von ihnen zu einem gewissen Teil unsere Sprache verstehen, worin unterscheiden sie sich dann vom Menschen? Ist es nicht bloß ein gradueller Unterschied, ein Mehr oder Weniger? (91) Es gibt deshalb keinen Grund, den Tieren eine Seele abzusprechen, wie dies bei denjenigen geschieht, die durch einen derartigen „Vergleich der Verhaltensweisen“ von Mensch und Tier die Einzigartigkeit und Vorrangstellung des Menschen bedroht sehen (vgl. 92). Ebenso wichtig wie die Abgrenzung vom falschen esprit de systHme bei Descartes und Buffon ist für Condillac die Abgrenzung von atheistischen bzw. materialistischen Positionen. Die Stoßrichtung seiner Argumentation ändert sich in den Kapiteln 6 und 7 des zweiten Teils, die von der Erkenntnis Gottes und den moralischen Prinzipien handeln (100–110). In dieser Hinsicht konstatiert Condillac nun eine qualitative Differenz zwischen Mensch und Tier, weil nur der Mensch zu den entsprechenden Erkenntnisleistungen in der Lage ist und sich hierin seine „Überlegenheit […] gegenüber den Tieren“ (99) manifestiert, so dass er nun behauptet, dass die menschliche Seele „nicht von derselben Beschaffenheit wie die der Tiere“ (113) ist. Es liegt auf der Hand, dass hiermit ein Wechsel der Argumentationsebenen verbunden ist. Die Kritik am Materialismus bzw. Atheismus wird nicht auf dem Gebiet der Physiologie, der Psychologie oder der Erkenntnistheorie geführt, sondern auf der Ebene moralphilosophischer Letztbegründung. Während der Unterschied zwischen Mensch und Tier in kognitiver Hinsicht minimal ist, erweist er sich nach Condillac im Hinblick auf Religion und Moral als fundamental. Der Trait8 umfasst zwei Teile. Im ersten Teil „Du systHme de Descartes et de lQhypothHse de M. de Buffon“ bekämpft Condillac die Annahme, Tiere seien bloße empfindungslose Maschinen, deren Verhaltensweisen rein mechanisch erklärt werden könnten. Demgegenüber macht er deutlich, dass Tiere Empfindungen haben, Vergleiche anstellen, urteilen sowie über Vorstellungen und Gedächtnis verfügen. Der zweite Teil des Trait8 handelt vom „SystHme des facult8s des animaux“.2 Condillac beansprucht damit theoretisches Neuland zu betreten, denn „welcher Schriftsteller hat bisher die Entstehung ihrer Fähigkeiten, das System ihrer Erkenntnisse, die Gleichförmigkeit ihrer Handlungen („op8rations“), die Unfähigkeit, über die Artikulation von Lauten hinausgehend eine richtige, gesprochene Sprache zu bilden, über ihren Instinkt, ihre Affekte und die Überlegenheit des Menschen in jeder Hinsicht dargelegt?“ (79). Sein eigenes System sei nicht willkürlich, sondern beruhe auf Beobachtung (ebd.); es soll kein „System der Natur der Lebewesen“, sondern „ein System ihrer Verhaltensweisen (op8rations)“ sein (92). Der Trait8 schließt mit dem Anhang eines „Briefes des Abb8 de Condillac an den Autor der Briefe an einen Amerikaner“ (131–138), mit dem Condillac auf die Kritik des Jesuiten Joseph-Adrien Lelarge de Lignac reagiert, die dieser am Trait8 des sensations geübt hatte. In der deutschen Übersetzung ist fälschlicherweise von dem „System der Erkenntnisleistungen der Tiere“ (81) die Rede, obwohl z. B. Kapitel 6 und 7 des zweiten Teils wie schon ausgeführt von der Kenntnis Gottes und der moralischen Prinzipien handeln – „Erkenntnisleistungen“, die nur beim Menschen zu finden sind. Die Herausgeberin hatte selbst in ihrer Einleitung angekündigt, animaux „durch den Begriff Lebewesen“ zu übersetzen, allerdings nur „im Titel“ (8). Auch die Übersetzung von facult8s mit „Erkenntnisleistungen“ ist problematisch, weil in der deutschsprachigen Philosophie des 18. Jahrhunderts der Vermögensbegriff (als Übersetzung für facultas) einen feststehenden Terminus technicus darstellt. In der Einleitung hatte die Herausgeberin noch betont, „die verschiedenen Vermögen (facult8s)“ vorstellen zu wollen (ebd.). 2

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Condillacs Trait8 ist ein wichtiges Dokument, das zeigt, in welcher Weise erkenntnistheretische Überlegungen im 18. Jahrhundert eingesetzt wurden, um überholte metaphysische Positionen der Rationalpsychologie zu kritisieren und neues Licht auf das Verhältnis von Mensch und Tier zu werfen. Deshalb ist es auch verdienstvoll, diesen Text Condillacs erstmals den deutschen Lesern durch eine Übersetzung zugänglich zu machen. Allerdings kann die Durchführung dieser Absicht durch die Herausgeberin Vanessa Kayling, die 2018 im Fach Romanistik an der Universität Potsdam habilitiert wurde, nicht überzeugen. Die Edition erweist sich in verschiedener Hinsicht als mangelhaft, und zwar sind es drei Arten von Mängeln, die zu konstatieren sind: 1. Der erste betrifft die leserunfreundliche Textpräsentation. Das Buch beginnt mit der Einleitung der Herausgeberin (5–38). Es folgt (39–138) ihre Übersetzung der Abhandlung über die Lebewesen. Auf S. 41–42 findet sich ein Inhaltsverzeichnis der deutschen Übersetzung, während ein Inhaltsverzeichnis des gesamten Bandes fehlt. Auf den S. 138–223 folgen die Anmerkungen und Kommentare der Herausgeberin zum Text ihrer Übersetzung. Erst dann folgt (225–308) der Text des französischen Originals, an dessen Anfang wiederum ein Inhaltsverzeichnis zu finden ist (227 f.). Es ist nicht nachvollziehbar, warum der Verlag keine französisch-deutsche Paralleledition ermöglicht hat. So sind die Leser, die Originaltext und Übersetzung vergleichen wollen, gezwungen, immer wieder hin und her zu blättern. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Herausgeberin in ihrer Einleitung bei Zitaten und Stellenangaben nicht auf ihre eigene Übersetzung oder den abgedruckten französischen Text bezieht, sondern auf die französische Edition des Trait8 von Jean-Marc Signoret, die 1984 im Corpus des œuvres de philosophie en langue franÅaise in der Librairie ArthHme Fayard in Paris erschienen und zugleich online verfügbar ist. Dieser OnlineEdition von Signoret liegt nach Angaben der Herausgeberin (6, 36) ihrerseits die 1766 in Amsterdam erschienene Edition des Trait8 des animaux zugrunde. Signoret3 gibt allerdings an, der Text des Trait8 sei „tir8 des Œuvres de Condillac, revues, corrig8es par lQauteur, Paris 1798“, so dass die Leser im Unklaren darüber verbleiben, welcher französische Text die Grundlage der Übersetzung bildet, und ob es zwischen den verschiedenen Ausgaben des französischen Textes – der Originalausgabe von 1755 und den beiden späteren Auflagen von 1766 und 1798 – relevante Unterschiede gibt. 2. Auch die Sachanmerkungen der Herausgeberin lassen zu wünschen übrig. So findet sich im Kapitel 1 des ersten Teils der Abhandlung über die Lebewesen eine Anmerkung, in der sich Condillac auf das bezieht, „was Herr Buffon über Burnet geäußert hat“ (46). In der entsprechenden Erläuterung Nr. 14 der Herausgeberin (144 f.) heißt es: „Bisher konnte in der Histoire naturelle Buffons keine Erwähnung zu Burnet erruiert werden“. Die Herausgeberin nennt deshalb sowohl Thomas als auch Gilbert Burnet als mögliche Referenzautoren Buffons. Durch einen Blick in den ersten Band von Buffons Histoire naturelle4 hätte die Herausgeberin durchaus ,erruierenR können, dass es sich um Thomas Burnets Schrift Telluris Theoria sacra, orbis nostri originem et mutationes generales quas aut jam subiit, aut olim subiturus est, completens, London 1681, handelt, die Buffon kritisiert.

http://classiques.uqac.ca/classiques/condillac_etienne_bonnot_de/traite_des_animaux.html. Georges Louis Leclerc comte de Buffon, Histoire naturelle, g8n8rale et particuliHre. Tome 1. Second discours: histoire & th8orie de la terre: Preuve de la th8orie de la terre, art. III: Du systHme de M. Burnet, Paris 1749, 180–183. Die entsprechende Information hätte die Herausgeberin auch einer neueren Ausgabe des Trait8 des animaux entnehmen können, vgl. Trait8 des animaux, hg. von Michel Malherbe, Paris 2004. 3 4

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Wenn es in Anmerkung 5 der Herausgeberin (140) heißt: „Der Empirismus Lockes beeinflusste Pierre Gassendi (1592–1655), der den Sensualismus in Frankreich lehrte und verbreitete“, so vermutet der Rezensent zugunsten der Herausgeberin, dass es sich um einen Druckfehler handelt. Zu Beginn des schon angesprochenen 6. Kapitels des zweiten Teils der Abhandlung über die Lebewesen („Wie der Mensch eine Erkenntnis von Gott erwirbt“) fügt Condillac eine Anmerkung ein, in welcher er darauf aufmerksam macht, dass dieses Kapitel „nahezu vollständig aus einem Aufsatz [stamme, D.H.], den ich vor einigen Jahren verfasst habe, der in einem Sammelband der Berliner Akademie gedruckt wurde, aber ohne Nennung meines Namens“ (100). Erneut teilt die Herausgeberin den Leserinnen und Lesern in ihren Erläuterungen nicht mit, um welchen Text es sich hier handelt, obwohl sie selbst zu Beginn ihrer Einleitung (5, Anm. 1 sowie in der langen Anmerkung 115, 201 f.) diesen Text nachgewiesen hatte. Es handelt sich um Condillacs Dissertation Les monades, die von Laurence L. Bongie identifiziert und 1980 mit einer umfangreichen Einleitung versehen publiziert wurde.5 Auch Lothar Kreimendahl hat in einer Rezension zu Bongies Edition6 festgestellt, um welchen Text es sich handelt. Der Grund für das Schweigen der Herausgeberin liegt vermutlich in einem für ihre editorische Praxis charakteristischen Missverstädnis: Während Kreimendahl in seiner Rezension darauf hinweist, dass Condillac das letzte Kapitel der Monadendissertation „nahezu unverändert in den Trait8 des animaux übernommen hat“,7 behauptet die Herausgeberin, Kreimendahl würde darauf hinweisen, „dass der Inhalt des letzten Kapitels im Trait8 des animaux mit einem Kapitel des Monadentextes übereinstimmt“ (201). 3. Die Mängel der dritten Klasse sind allerdings gravierender: Sie betreffen die philosophische Interpretation des Trait8 des animaux und machen deutlich, dass die Herausgeberin keine fundierte Kenntnis der philosophischen Debatten im 18. Jahrhundert, kein entsprechendes Problembewusstsein hat und statt dessen zu dogmatischen Fixierungen neigt. Als erstes interpretatorisches Problem seien die Ausführungen der Herausgeberin über Condillacs Willenstheorie (106, 126–129) genannt: Nach Angaben der Herausgeberin schreibt Condillac dem Menschen „aufgrund seines freien Willens“ einen „Sonderstatus“ zu (27 ff.). Sie beruft sich zur Untermauerung ihrer These auf dessen Dissertation sur la libert8, die einen Anhang des Trait8 des sensations bildet.8 Nun ist die Annahme, Condillac sei ein Verfechter der Willensfreiheit, schon angesichts seines sensualistischen Programms nicht plausibel. Denn ähnlich wie die Sinnlichkeit als Grundlage der Erkenntnis durch äußere Gegenstände affiziert wird, so wird auch der Wille durch äußere Gegenstände affiziert. In der von der Herausgeberin erwähnten Dissertation sur la libert8 ist daher Etienne Bonnot de Condillac, Les Monades, edited with an introduction and notes by Laurence L. Bongie, Oxford 1980 [Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 187]. Bongie mutiert an der genannten Stelle (5, Anm. 1) zu „Lawrence Bongie“; an späterer Stelle heißt er wieder „Laurence“ (201). Als Erscheinungsort von Bongies Edition gibt die Herausgeberin aus unerfindlichen Gründen Grenoble statt Oxford an. 6 Lothar Kreimendahl, Condillac und die Monaden. Zu einem neu aufgefundenen Text des Abb8s, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 64 (1982), 280–288. Nur am Rande sei als Kuriosum vermerkt, dass Kayling Ludwig Stein als Herausgeber des Archivs für Geschichte der Philosophie benennt. Stein war im 19. Jahrhundert der Gründer des Archivs, aber er verstarb bereits im Jahre 1930. 7 Kreimendahl, Condillac und die Monaden (wie Anm. 6), 484. 8 Condillac, Trait8 des sensations, tome II, London, Paris 1754, 267–285. 5

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auch nicht von der Freiheit des Willens im strengen Sinne die Rede (als liberum arbitrium indifferentiae), sondern vom Vermögen der „d8liberation“ (bes. §§ 7, 9 und 15) bzw. vom „pouvoir de d8lib8rer“ (§ 16). Vielmehr erklärt Condillac in § 17 der Dissertation, dass wir von den Objekten des Wollens aufgrund unserer Mangelempfindung abhängen („que nous d8pendions des objets par lQinqui8tude que cause leur privation“). Zwar sei diese „d8pendance“ von äußeren Objekten „nQest pas contraire / la Libert8“, aber die Definition, mit welcher die Dissertation endet, macht deutlich, um welche Art von Freiheit es sich hier handelt: „La Libert8 consiste donc dans des d8terminations, qui […] sont une suite des d8liberations, que nous avons faites, ou que nous avons le pouvoir de faire“. Von Willensfreiheit ist also nicht die Rede, sondern von dem Vermögen der Abwägung der Vor- und Nachteile von Handlungen, deren Berücksichtigung schließlich den Ausschlag bei der Willensentscheidung gibt. Ein Determinist (wie z. B. Hobbes) könnte ohne Widerspruch zur Behauptung strikter Determination des Willens ein solches Deliberationsvermögen annehmen. Es ist diejenige Freiheit, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft als „Freiheit im praktischen Verstande“ (B 562) bzw. als „praktische Freiheit“ (im Unterschied zur transzendentalen Freiheit) bezeichnet, die „durch Erfahrung bewiesen werden“ kann (B 830) und in der „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (B 562) besteht. Es scheint, dass die Herausgeberin dem Irrtum der Verwechslung von Deliberationsfähigkeit und Willensfreiheit unterliegt. Irrtierend sind auch die Ausführungen der Herausgeberin im Hinblick auf das Problem der Unsterblichkeit der Seele. Sie erkennt einerseits durchaus, dass die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele nicht mit Condillacs Sensualismus vereinbar ist und als Fremdkörper in einer tierpsychologischen Abhandlung erscheint: „[A]ls Philosoph und Sensualist schließt er aus, dass man über diesen nicht-empirischen Bereich definitive Aussagen formulieren könne“ (31). In der Tat verlässt Condillac im zweiten Teil seiner Abhandlung den Boden seiner erkenntnistheoretischen und tierpsychologischen Überlegungen, wenn er in den Kapiteln 6 und 7 die Frage nach der Erkenntnis Gottes und nach der Erkenntnis moralischer Prinzipien und der Unsterblichkeit der Seele aufwirft. Die Herausgeberin vertritt im Hinblick auf eine Unsterblichkeit der Seele die eigentümliche These von Condillacs „theologischer Perspektive“ (33) – eine Einschätzung, die an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Formulierungen wiederholt wird: „Als Theologe muss er quasi die Unsterblichkeit der Seele befürworten“ (31), für Condillac „als Geistlichem“ war diese Annahme „selbstverständlich“ (198), denn dieses Dogma sei „für die christliche Religion […] fundamental“ gewesen; „[a]ls Geistlicher vertritt Condillac die Überzeugung von der Güte und Gerechtigkeit Gottes“ (197); „[a]ls Theologe muss Condillac die Unsterblichkeit der Seele befürworten“ (203). Welches sind die systematischen Argumente, welche die Autorin für eine genuin ,theologische PerspektiveR von Condillacs Unsterblichkeitskonzeption vorbringt? Diese Behauptung von Condillacs angeblich theologisch motivierter Annahme der Unsterblichkeit der Seele ist aus zwei Gründen befremdlich: erstens weil die Herausgeberin selbst im Frühjahr 2016 an einer Tagung teilgenommen hat, die dem „Problem der Unsterblichkeit der Seele in der Philosophie, der Theologie und den schönen Künsten im 18. Jahrhundert“ gewidmet war, worauf sie auch in ihrer Einleitung (8) hinweist.9 Durch die Vorträge der Tagung hätte sie wissen können, dass die Annahme der SeelenunVgl. hierzu Das Problem der Unsterblichkeit der Seele in der Philosophie, den Wissenschaften und den Künsten des 18. Jahrhunderts, hg. von Dieter Hüning, Stefan Klingner und Gideon Stiening [Aufklärung 29 (2017)]. 9

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sterblichkeit bis zum Ende des 18. Jahrhundert gewissermaßen eine philosophische Standardposition war, die selbst von manchen erklärten Materialisten geteilt wurde. Aber diese Annahme wurde üblicherweise im Rahmen der natürlichen Religion, d. h. ohne Rekurs auf die Offenbarungsreligion, verfochten. Dies bestätigt auch Condillacs Text selbst: Die Prinzipien des siebten Kapitels des zweiten Teils des Trait8 („Comment lQhomme acquiert la connaissance des principes de la morale“) bilden „les fondements […] de la religion naturelle“ (II, 7, 287). Zwar betont Condillac, die natürliche Religion sei eine Art Vorbereitung10 bzw. Vorstufe für diejenigen Wahrheiten, „dont la r8v8lation peut seule nous instruire“ (II, 7, 287),11 so dass zwischen der „vraie philosophie“ und dem Glauben („la foi“) kein Widerspruch bestehen könne.12 Die Herausgeberin scheint allerdings den Unterschied von Offenbarungs- und natürlicher Religion ebenso wenig zu kennen13 wie den Unterschied von Theologia revelata und Theologia naturalis. Zweitens hat Kayling selbst darauf hingewiesen, dass Condillacs Unsterblichkeitskonzeption von Leibniz und Christian Wolff abhängig ist und z. B. von einer dort zu findenden Unterscheidung Gebrauch macht (112, vgl. auch 29 f., 201 f.). Leibniz hatte in seiner Theodic8e den Tierseelen zwar „immat8rialit8“ und „indivisiblit8“ und deshalb auch „indestructibilit8“ zugesprochen, aber bestritten, dass man ihnen deshalb auch die „immortalit8“ zuerkennen müsse. Die Unsterblichkeit ist das Privileg „de lQ.me humaine“, weil nur in ihrem Falle eine „conservation de la personalit8“ gedacht werden kann. In der Fortdauer des diachronen Identitätsbewusstseins liegt zugleich die Bedingung der Empfänglichkeit der Menschen für die Vorstellungen von Strafe und Belohnung.14 Während Condillacs Abhängigkeit von Leibniz bzw. Wolff klar zu Tage liegt, ist von einer spezifisch christlichen „theologische[n] Perspektive“ (33) nichts zu finden. Anstelle einer systematischen Begründung der ,theologischen PerspektiveR findet sich bei Kayling nur ein biographisches Argument, das für sich genommen keine ÜberzeuZur formellen Akzeptanz der Rolle der natürlichen Religion als einer ,praeambula fideiR auch in der Theologie vgl. Günter Gawlik, Einleitung, in: Hermann Samuel Reimarus, Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion, hg. von Günter Gawlik, Göttingen 1985, 11 ff. 11 In der deutschen Übersetzung kommt die Offenbarung (la r8v8lation) nicht vor. Hier ist nur davon die Rede, dass die Vernunft die Prinzipien der Moral und der natürlichen Religion entdeckt und sich dadurch auf die Wahrheiten vorbereitet, „deren Erkenntnis allein uns unterrichten kann“ (113). Es müsste heißen: „von deren Erkenntnis uns allein die Offenbarung unterrichten kann“. 12 In diesem Sinne hatte schon Christian Wolff behauptet: „Notio immortalitatis, quam dedimus, scripturæ sacræ seu menti Christi conformis“ (Christian Wolff, Psychologia rationalis, Frankfurt am Main, Leipzig 1740 [Reprint Hildesheim, New York 1972], § 740). 13 Nur deshalb kann die Herausgeberin „la religion naturelle“ mit „naturgemäße Religion“ (287, 113) übersetzen. 14 Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de th8odic8e I, § 89 (Gottfried Wilhelm Leibniz, Die philosophischen Schriften, Bd. 6, hg. von C. J. Gerhardt, Berlin 1885 [Reprint Hildesheim 1965], 151 f. Vgl. auch Christian Wolff, Psychologia rationalis (wie Anm. 11), § 738: „Immortalitas incorruptibilitatem præsupponit“; ebenso ders., Deutsche Metaphysik, § 926: „Da nun die Seele des Menschen erkennet, sie sey eben diejenige, die vorher in diesem Zustand gewesen, und demnach den Zustand ihrer Person auch nach dem Tode des Leibes behält; so ist sie unsterblich. Denn das unverweßliche ist unsterblich, wenn es den Zustand einer Person beständig behält. Es erhället aber hieraus zugleich, daß die Seelen der Thiere nicht unsterblich sind, ob sie gleich unverweßlich sind.“ Zu Wolffs Unsterblichkeitskonzept vgl. die Aufsätze von Hanns-Peter Neumann, Paola Rumore und Henny Blomme in Das Problem der Unsterblichkeit der Seele (wie Anm. 9). 10

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gungskraft besitzt. In der Tat hatte Condillac eine theologische Ausbildung absolviert und sein Leben lang die Soutane und die Bezeichnung Abb8 getragen. Aber anders als von seiner Familie gewünscht, hat er nicht als Geistlicher amtiert und überhaupt nur eine Messe gelesen (die den Abschluss seines Theologiestudiums bildete). Schon aus diesem biographischen Gesichtspunkt ist es unwahrscheinlich, dass Condillacs Schriften durch theologische Beweisabsichten motiviert wurden. Abschließend ist zu klären, warum Condillac im zweiten Teil seines Werkes, der dem „SystHme des facult8s des animaux“ (259) gewidmet ist, das Problem der Unsterblichkeit der Seele überhaupt anschneidet. Condillacs Verteidigung der Unsterblichkeit der Seele ist Ausdruck eines Problems. Nach der Etablierung der sensualistischen Erkenntnistheorie in seinem Essai sur lQorigine des connaissances humaines von 1746 erfuhr diese eine zustimmende Rezeption bei den führenden Aufklärern. Und insbesondere die Religionskritiker und Materialisten konnten den Sensualismus gut in ihre materialistischen bzw. atheistischen Überlegungen integrieren. Eine solche Nähe zu Atheismus und Materialismus war aber Condillac selbst offenbar suspekt und deshalb distanziert er sich im Trait8 des animaux – zur unangenehmen Überraschung seiner Freunde aus dem Umfeld der philosophes – davon. Dennoch bleibt das Problem, dass aus den sensualistischen Prämissen systematisch keine rationaltheologischen und moralphilosophischen Positionen abgeleitet werden können. Condillacs Annahme der Existenz Gottes, moralischer Prinzipien und der Unsterblichkeit der Seele ist es deshalb wert, einer genaueren Analyse unterzogen zu werden, die im gegebenen Rahmen allerdings nur skizziert werden kann. Zunächst ist es kaum überraschend, dass Condillac – wie viele andere Zeitgenossen – die moraltheologische Letztbegründung normativer Prinzipien für eine sozialpolitische Notwendigkeit hielt: Die „connaissance de Dieu15 est […] une connaissance proportion8e / lQint8rÞt de la soci8t8“ (285). An die Stelle der sensualistischen Behandlung der Vermögenslehre tritt nun ein moralphilosophischer Positivismus, der in erster Linie auf die sozialpolitische Relevanz moralischer Prinzipien rekurriert. Die Vernunft kann zwar die Notwendigkeit und Nützlichkeit bestimmter moralischer Regeln, deren Inbegriff das natürliche Gesetz darstellt, erkennen (110 f.), aber diese Erkenntnis ist für sich genommen nicht hinreichend, um die Menschen auch tatsächlich dazu zu motivieren, sie zu befolgen, denn „die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um dieses Gesetz zu entdecken“, dürfen nicht mit dem Prinzip verwechselt werden, „welches ihm die nötige Kraft verleiht“ (111). Die motivierende Kraft der Befolgung erhält das natürliche Gesetz erst durch die Vorstellung der göttlichen Gerechtigkeit als eines Sanktionssystems, das darin besteht, „uns zu bestrafen oder uns zu belohnen“. Weil aber diese Gerechtigkeit nicht „während unseres Lebens in dieser Welt“ (112) zur Anwendung kommt – denn wir machen in diesem Leben die Erfahrung, dass „die Güter und Übel, Glück und Unglück, nicht entsprechend dem Verdienst des einzelnen“ zugeteilt werden (ebd.) –, so ist der Gedanke der postmortalen göttlichen Gerechtigkeit notwendig mit der Annahme der Unsterblichkeit der Seele verbunden. Auch das ist im Grunde genommen ein moralphilosophisches Standardargument, das im Zeitalter der Aufklärung weit verbreitet war und das in Samuel Pufendorf seinen wohl prominesteten Verteidiger Die Herausgeberin übersetzt „la connaissance de Dieu“ (285) irreführenderweise mit „der Begriff von Gott“ (110). Zu Beginn des 6. Kapitels des zweiten Teils hatte die Herausgeberin noch die richtige Übersetzung von connaissance geliefert, „dass die Kenntnis, die wir von Gott haben, sich nicht bis zur Erkenntnis seines Wesen erstreckt“ (100). 15

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gefunden hat. Wie schon Pufendorf16 unterscheidet Condillac zwischen der ratio cognoscendi und der ratio obligandi des natürlichen Gesetzes: „Die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um dieses Gesetz [die lex naturalis, D.H.] zu entdecken“, sind nicht mit dem Prinzip identisch, „welches ihm die nötige Kraft verleiht“ (111), die erforderlich ist, um seine Befolgung zu gewährleisten. Es bleibt zum Abschluss festzustellen, dass die vorliegende Condillac-Edition wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt. Die Übersetzung ist zwar gut lesbar, aber ihr fehlt die terminologische Präzision. Die zahlreichen editorischen Mängel kann sich der Rezensent wenigstens teilweise nur dadurch erklären, dass die Edition unter großem Zeitdruck veröffentlicht wurde. Darüber hinaus verhindert das mangelnde Problembewusstsein der Herausgeberin für die philosophischen Debatten des 18. Jahrhunderts eine angemessene Interpretation von Condillacs Trait8. Dieter Hüning (Kant-Forschungsstelle der Universität Trier)

Vgl. hierzu Samuel Pufendorf, De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo (1682). With an Introduction by Walther Schücking, New York 1927, I, 3, § 10, wo zwischen der „utilitas“ der Vorschriften des natürlichen Gesetzes und der „vis legis“, die voraussetzt, „Deum esse, & sua providentia omni regere“ unterschieden wird. 16

Stefan Schick, Die Legitimität der Aufklärung. Selbstbestimmung der Vernunft bei Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi, (Philosophische Abhandlungen 116) Frankfurt am Main: Klostermann 2019 In den letzten Jahren ist ,die AufklärungR wieder in den Fokus verschiedener Forschungsinteressen gerückt und damit Gegenstand einiger Monografien geworden. Als historische Epoche genommen, ist sie als Selbstermächtigungsbewegung gedeutet, unter dem Etikett der Dekonstruktion einmal mehr polemischer Kritik unterzogen, aber auch leidenschaftlich gegen zahlreiche, zum Teil schon zweihundert Jahre alte Klischees und Zerrbilder verteidigt worden.1 Zudem wurde sie als bis heute gültige Idee beschworen, an deren Umsetzung gerade jetzt und mehr denn je gemeinsam zu arbeiten sei.2 All diesen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie ,die AufklärungR als mehr oder weniger präzise bestimmbares Großprojekt nehmen, das nicht bloß historisch relevant ist, sondern uns Heutige angeht und zu dem wir uns zu verhalten haben. Auch die hier zu besprechende Monografie ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. In ihr wird das „Projekt der Aufklärung“ als „Verwirklichung vernünftiger Selbstbestimmung“ (1) verstanden und es steht für den Autor außer Frage, dass es dieses Projekt „auch heute noch fortzusetzen gilt“ (5). Auffällig sind bereits dem ersten Blick zwei Punkte: Titel und Methode der Abhandlung. Der Titel erinnert zuerst an das 1966 erschienene Buch Die Legitimität der Neuzeit, in dem Hans Blumenberg die historisch verstehende Rede von ,der NeuzeitR als einer eigenständigen Epoche nicht durch den Verweis auf Säkularisierungsprozesse, sondern auf eine „Umbesetzung vakant gewordener Positionen“, nicht im Sinne bloßer Transformation, sondern tatsächlicher Innovation gerechtfertigt sieht.3 Diese Assoziation scheint aber nicht beabsichtigt zu sein, jedenfalls wird weder Blumenbergs Klassiker genannt, noch nach der ,Legitimität der AufklärungR in ihrer historischen Stellung gefragt. Stattdessen soll „die vorliegende Studie […] das neuzeitliche Aufklärungsprojekt aus zwei unterschiedlichen Perspektiven gegen die Kritik […] re-legitimieren, der dieses sich heute ausgesetzt sieht“ – wobei „sämtliche gegenwärtigen Delegitimierungsversuche“ bereits am Ende des 18. Jahrhunderts „antizipiert“ (2) worden seien. Die in der Aufklärungskritik formulierten „Einwände“ werden dabei unter fünf schlagwortartige Wendungen gebracht: „Dialektik der Aufklärung“, „Ideologiekritik“, „Einebnung des Religiösen“, „Kritik des Subjekts der Aufklärung“ und „Historisierung der Aufklärung“ (2 – 5). Die beiden ,unterschiedlichen PerspektivenR, aus denen das Projekt der Aufklärung ,re-legitimiertR werden soll, sind wiederum diejenigen von Immanuel Kant und Friedrich Heinrich Jacobi als „Exponenten der Aufklärung“. Denn beide verfolgten „dasselbe Projekt vernünftiger Selbstbestimmung durch Aufklärung“ (2) – und zwar im selbstkritischen Bewusstsein der mit ihm verbundenen Gefahren und MissverVgl. Steffen Martus, Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert. Ein Epochenbild, Hamburg 2015; Andreas Pecˇar, Damian Tricoire, Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne?, Frankfurt am Main 2015; Georg Cavallar, Gescheiterte Aufklärung? Ein philosophischer Essay, Stuttgart 2018. 2 Vgl. Steven Pinker, Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung, Frankfurt am Main 2018; Michael Hampe, Die Dritte Aufklärung, Berlin 2018. 3 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt am Main 1966 (Neuausgabe 1996), hier 75. 1

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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ständnisse. Daher stellten ihre Schriften auch die theoretischen Ressourcen bereit, die bis heute gängigen Einwände zu ,entkräftenR und so „das Potential des ursprünglichen Aufklärungsprojekts […] zu rekonstruieren“ (5). Im Unterschied zu Blumenbergs Bemühen um ein adäquates Verständnis des Spezifikums einer Epoche soll hier also ,die AufklärungR als an sich und bis heute gültige Idee verteidigt und insofern ,legitimiertR werden. Und im Unterschied zu anderen neueren Versuchen einer solchen Verteidigung soll das mittels der Interpretation der philosophischen Schriften zweier prominenter Autoren der deutschen Spätaufklärung geschehen. Dieser methodische Zugang führt allerdings Probleme mit sich. Einmal davon abgesehen, dass er hermeneutisch höchst anspruchsvoll ist, indem er nicht nur die relevanten philosophischen Gehalte der Schriften Kants und Jacobis kohärent rekonstruieren, sondern sie auch in ihrem historischen Kontext situieren und zugleich ihre für die anvisierte ,LegitimierungR notwendige Selektion rechtfertigen muss, führt er geradezu auf die Frage, welche der beiden „historischen Realisierung[en]“ (5) des ,ursprünglichen AufklärungsprojektsR denn eigentlich die treffendere und damit die für uns Heutige lehrreichere ist. Immerhin ist keine außerordentliche Expertise in der Philosophiegeschichte der deutschen Spätaufklärung nötig, um grundsätzliche Unterschiede zwischen den Philosophien Kants und Jacobis zu erkennen. Entsprechend bemerkt der Autor bereits in der Einleitung, dass die Philosophie Jacobis als „Vollendung einer anderen Aufklärung“ zu verstehen sei, deren Heranziehen im vorliegenden Kontext einer „gewissen Rechtfertigung“ (6) bedürfe. Er verweist daher auf Jacobis „tiefe Verwurzelung in der Aufklärung“, die sich in dessen Rezeption klassischer aufklärerischer Schriften und Ideen widerspiegele, und vor allem auf dessen Profilierung einer als Alternative zu herkömmlichen Aufklärungskonzeptionen wie zur „Gegen-Aufklärung“ konzipierten, eben „anderen“ Aufklärung (7). Dass dieser auch gegenüber der kantischen Konzeption der Vorzug zu geben sei, stellt sich bei weiterer Lektüre als eines der wesentlichen Ziele der Abhandlung heraus. Bevor diese Bevorzugung, an der dem Autor als ausgewiesenem Jacobiforscher verständlicherweise viel gelegen scheint, auf ihre Stichhaltigkeit hinterfragt werden kann, ist eine Skizze des Aufbaus und Argumentationsgangs der Abhandlung hilfreich. Der Text gliedert sich neben ,EinleitungR und ,SchlussR in drei „Teile“, die jeweils drei „Kapitel“ mit weiteren Unterkapiteln umfassen. Der erste, mit sechzig Seiten weitaus kürzeste Teil („Aufklärung – ein dialektisches Projekt?“) soll nachweisen, dass ,AufklärungR sowohl für Kant als auch für Jacobi „Selbstaufklärung der aufklärerischen Vernunft und ihrer Dialektik“ bedeute, so dass einerseits der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer formulierte Vorwurf eines Übersehens ihrer „destruktiven Tendenzen“ (15) entkräftet und sie andererseits als nicht nur historisch diverses, sondern als in der Sache einheitliches Projekt verstanden werden könne. Ausgehend von der zeitgenössischen Debatte um die Frage „Was ist Aufklärung?“ zeichnet der Autor zuerst in groben Zügen die Entwicklung des Selbstverständnisses der Aufklärung von einer bloßen Vorurteilskritik hin zu einer „kritischen Wendung der Vernunft gegen sich selbst“ nach, die mit einer „Entwicklung der freien Beförderung öffentlicher Diskurse“ (22) korreliere. Im Anschluss wird eine zweifache „ursprüngliche Einsicht“ von Kants „transzendentaler Aufklärung“ proklamiert: eine Einsicht in die „Grenzen unseres Wissens und der Anwendbarkeit der Vernunft“ und eine „Entdeckung des Interesses unserer Vernunft am Unbedingten“ (41). Aufgrund dieser Einsichten könne Kant dann die „Theorien seiner Mitphilosophen“ insofern als „falsch“ und zugleich „moralisch verwerflich“ einschätzen, als sie der Dialektik spekulativen Denkens frönen und so „keine aufgeklärte und autonome Denkungsart hervorbringen“ (49) könnten.

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Einen anderen Weg beschreite Jacobi: Er durchschaue die aufklärerische „Kritik von Autoritäten“ direkt als potentiell autoritär, indem die Vernunft selbst „zu einem Machtinstrument“ gemacht werden könne, „das im Namen der Freiheit der Vernunft Unterdrückung legitimiert“ (51). Dagegen setze er „die Anerkennung aller Überzeugungen als bedingte Ausdrucksformen der unbedingten Vernunft“ und sehe im „herrschaftsfreien Diskurs“ eine ,Bedingung der Möglichkeit der wahren AufklärungR (55). Jacobis Durchschauen gehe aber noch weiter: Er erkenne nämlich auch die historische Notwendigkeit der Selbstermächtigung der Vernunft, die lediglich aus der konsequenten Ausübung von deren Funktionen resultiere und schließlich in der Ethik Spinozas ihre ,VollendungR gefunden habe. Diese „vollendete Aufklärung“ bildet bekanntlich das Sprungbrett für Jacobis „Salto mortale“, dessen „Vollzug“ sich „an einem Ort außerhalb des Rationalitätsparadigmas der instrumentellen Vernunft“ abspiele und „eine andere Aufklärung“ (65) ermögliche. Diese setze einerseits „die rein rationale Aufklärung“ sowohl sachlich als auch historisch voraus und müsse andererseits deren Defizite erkennen und so deren Überwindung darstellen. Insofern Jacobi die ,rein rationale AufklärungR mit ,dem SpinozismusR gleichsetzt,4 liegen die zu erkennenden Defizite auf der Hand: „Fatalismus, Atheismus und Nihilismus“. Entsprechend sei es dann die Aufgabe der ,anderen AufklärungR „das Dasein der Freiheit [man darf hinzufügen: Gottes und des Endzwecks, S.K.] zu enthüllen“ (67). Nachdem damit Jacobis Aufklärungsprojekt bereits im ersten Teil als – zumindest irgendwie – noch reflektierter oder ,tieferR als dasjenige Kants erscheint, wird diese Suggestion in den beiden folgenden Teilen aufrechterhalten und weiter verstärkt. Der zweite, mit über zweihundert Seiten umfangreichste Teil („Aufklärung als kosmopolitisches Projekt“) soll die Aufklärungskonzeptionen Kants und Jacobis als gegen Kritiken gefeit darstellen, die ,die AufklärungR als Ideologie entlarven oder angesichts ihrer Subjektkonzeption als nutzlos oder elitär hinstellen. Als Aufmacher dient „die gegenwärtige Fundamentalkritik der Aufklärung, die diese als rein westliches Projekt weißer Männer betrachtet“ (75). Ihr wird zuerst mit einem Referat von Herders Aufklärungskritik begegnet, der die ,gegenwärtige FundamentalkritikR „wenig Neues“ (78) hinzufüge.5 Sodann wird ein „schwer erträgliche[r] Chauvinismus“ etlicher Aufklärer „gegenüber anderen Klassen, Kulturen, Religionen, Ethnien und Frauen“ (83) eingeräumt, dann aber in wenigen Absätzen mit dem Verweis auf „das Ideal der Aufklärung“ (85) wieder beiseitegeschoben. Auch die Kritiken, das Aufklärungsprojekt sei ,eurozentrischR oder ,elitärR, werden mit einem ähnlichen Argument zurückgewiesen: Bei einigen Aufklärern fänden sich solche Tendenzen, bei anderen, dem ,Ideal der AufklärungR eher entsprechenden fände sich dagegen die Einsicht, dass historische, geographische oder soziale Situiertheit zwar die Perspektive eines Subjekts bedinge, aber „die aufklärerische Universalitätsforderung“ (90) nicht auflöse, diese vielmehr aufgrund ihrer egalitaristischen und ,demokratischenR Tendenzen unbedingt schätzenswert sei. Im Anschluss wird diese ,aufklärerische UniversalitätsforderungR anhand Kants Transzendentalphilosophie spezifiziert. Sie sei das Projekt, „Aufklärung als Praxis eines […] Kant nehme Jacobi zufolge dagegen „zahlreiche Inkonsequenzen, Widersprüche und Zweideutigkeiten in Kauf“ (66), so dass seine Philosophie auch kein Ausdruck der ,vollendeten AufklärungR sein könne. 5 Was sie vielleicht doch hinzufüge, wird nicht weiter ausgeführt. Dass sie ,wenig NeuesR hinzufüge, wird mit einem Verweis auf Cassirers erstmals 1932 erschienene Philosophie der Aufklärung gestützt – was seltsam anachronistisch wirkt. 4

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weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs zu etablieren, indem sie die Allgemeingültigkeit aufklärerischer Ansprüche fundiert“ (100). In den folgenden langatmigen, in den gebrauchten Wendungen zumeist redundant wirkenden Abschnitten werden Kants Konzeptionen ,synthetisch-theoretischer Urteile a prioriR und ,moralischer UrteileR sowie sein ,Prinzip des RechtsR als „Grundlegung einer Praxis weltbürgerlichen Vernunftgebrauchs“ (103) gedeutet, ,SelbstdenkenR an die „Voraussetzung universeller Erkenntnisstrukturen“ (126) geknüpft, die ,Maxime der erweiterten DenkungsartR als Bedingung für eine „Korrektur durch Dritte“ (127) verstanden und schließlich die Kategorien, die transzendentalen Ideen und das Prinzip der Zweckmäßigkeit als „Minimalbedingungen für publikable Urteile“ (133) dargeboten.6 Dies alles soll zeigen, dass Kant zufolge die „Konzeption des transzendentalen Subjekts“ auch „die Voraussetzung dafür [ist], das historisch situierte Individuum als Adressat und Thema der Aufklärung verstehen zu können“. Das Kant-Kapitel dieses Teils wird daher mit einigen ,AnalysenR der „strukturelle[n] Bestimmungen“ transzendentaler Subjektivität beschlossen (186), wobei das „reine Selbstbewusstsein“ als notwendige Bedingung für die ,SelbstzuschreibungR von Urteilsvollzügen und „empirische[r] Identität“ (190), das „noumenale Selbst“ als notwendige Bedingung für das geforderte ,SelbstdenkenR und das Theorem vom „intelligiblen Charakter“ als Lösung des Problems, inwiefern „das Verbleiben im Zustand der Unmündigkeit dem Unmündigen überhaupt zurechenbar [ist]“ (198), interpretiert werden. Hier wird schließlich auch das Defizit der kantischen Konzeption benannt: Insofern äußere Faktoren keinen Einfluss auf die geforderte ,Revolution der DenkungsartR haben können, Aufklärung aber eben in einem besonderen öffentlichen Diskurs bestehe, sei hierbei „keine Rückwirkung der historischen Bedingtheit auf die[] transzendentalen Voraussetzungen“ möglich, vielmehr würden diese „absolut gesetzt“ (208 f.). Genau diese „Unbedingtheit von Kants transzendentaler Strukturierung des Subjekts“ (209) nehme – glücklicherweise – Jacobi kritisch in den Blick, so dass dieser „nicht nur die Aufklärungskritik der Postmoderne“ vorwegnehme, sondern „ein alternatives Aufklärungskonzept“ entwickle, „das auf einer fundamental anderen Rationalitätskonzeption als der Kants basiert“ (210). Diese ,andere AufklärungR wird zuerst anhand von „Jacobis Kant-Kritik“ akzentuiert, indem Kants „Idee der sich selbst konstituierenden Subjektivität“ (211) sowohl in theoretischer wie praktischer Hinsicht als der faktischen Individualität des Subjektseins unangemessen herausgestellt wird. Gegen die ,abstrakte VernunftR, die Kant im Gefolge Spinozas annehme, setze Jacobi „das Bewusstsein der Personalität im Fundamentalgefühl der Individualität“ (232). Nicht das „Denken“, sondern das „Bewusstsein“ von der „ungeteilte[n], substantielle[n] Einheit von Spontaneität und Rezeptivität“ (233 f.) gebe den „Grund der Einheit und Identität des Menschen“ (237) ab. Dieser Grund kann allerdings nicht ,vorgestelltR, sondern ,nur unmittelbar erfasst werdenR. Er sei nicht „logische Voraussetzung bestimmter Vollzüge“, sondern „metaphysisches Prinzip menschlicher Individualität und konkreten Personseins“ (239): Indem „sich das Ich des Menschen in der vernünftigen Durchdringung […] selbst annihiliert“, werde diese Erfahrung „zur elastischen Stelle, von der aus sich das Selbst zur anderen Aufklärung als Daseinsenthüllung des eigenen Individualitätsbewusstseins fortschwingen kann“ (242). Dieser ,Salto mortaleR erlaube es dann auch, die Freiheit der Menschen in „ein unmittelbares Während die einleitenden Worte zu Abschnitt „C.“ von „Kapitel 2“ von „Teil 2“ die ,UntersuchungR der „reflexiven Urteilskraft“ und des Prinzips der Zweckmäßigkeit als dritten Unterabschnitt in Aussicht stellen (vgl. 133), erfolgt sie jedoch tatsächlich als Abschnitt „D.“ von „Kapitel 2“ von „Teil 2“ (vgl. 149 – 185). 6

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Interesse oder unmittelbare Neigungen zum Guten“ (249) zu setzen, die nur noch habitualisiert werden müssten. Die dabei vorausgesetzte Freiheit beweise sich „durch die Tat“ (253), sei sogar „Bedingung der Möglichkeit mechanischer Verknüpfung“ (254) und schließlich ,individuell geformteR „Kraft des Geistes“ (257). Im Zentrum von Jacobis Philosophie steht also die einzelne Person. Ihr „,offenbartR sich der Gegenstand in seiner Wahrnehmung“ (267), ihre ,VernunftR ist „keine reine Vernunft, sondern eine organische Einheit“ (271) und ihr ,BewusstseinR wird konstituiert durch das ,BewusstseinR „eines Du als personalem Gegenüber“ (274) – kurz: kein komplizierter Idealismus, kein lästiger Erkenntnisdualismus und kein Problem mit der Erklärung von Interpersonalität. Darüber hinaus sei sich der „menschliche Geist“ in seiner Endlichkeit „auch des Absoluten selbst bewusst“ (284) und er erkenne „im Vergleich verschiedener Überzeugungssysteme hinter den verschiedenen Ausdrucksformen der Vernunft das Wahre und die Vernunft selbst“ (293).7 Der dritte Teil („Aufklärung und Religion“) ist schließlich der bis heute wohl prominentesten Bestimmung ,der AufklärungR gewidmet: Aufklärung ist Religionskritik. Er ist in verschiedener Hinsicht der lesenswerteste. Denn einerseits enthält er einige interessante Überlegungen – etwa zu einer Unterscheidung von moralischem und religiösem Glauben bei Kant8 –, andererseits wird mit ihm endlich deutlich, was der Autor unter einer ,LegitimierungR der Aufklärung versteht und worauf für ihn eine gute Philosophie abzielen sollte. Ausgehend von dem Einwand, die aufklärerische Religionskritik „diffamiere das Selbstverständnis religiöser Menschen“ und werde „als paternalistische Bevormundung erfahren“ (311), werden „die kritischen Vernunftbegriffe von Religion und Glaube bei Jacobi und Kant“ als Mittelweg zwischen bloßer Religionskritik und ,spekulativer AufhebungR der Religion dargestellt. Dabei wird Jacobis „Konzept des Glaubens“ als „handlungstheoretisch begründet“ gelesen, „der Offenbarung“ wiederum „auch für Kants Aufklärungsprojekt eine konstitutive Rolle“ (313) zugesprochen. Nach einigen Überlegungen zu einer bloß ,kritischenR und einer ,anerkennendenR Form des Umgangs mit Religion in der deutschen Aufklärung wird in einem großen Bogen von Kants Zurückweisung der ,spekulativen TheologieR über die Funktion des Gottesbegriffs in dessen praktischer Philosophie hin zu einem „religiösen Gebrauch der Idee Gottes“ (326) die Konzeption ,praktischen GlaubensR in der kritischen Philosophie nachgezeichnet. Direkt anschließend wird Jacobis ganz ,andereR Konzeption ,praktischen GlaubensR vorgestellt. Da Jacobi zufolge „alle theoretischen Akte des Selbst […] auf dessen praktischem Verhältnis zur Wirklichkeit [gründen]“ (416), dieses aber ein „Handlungsbewusstsein“, mithin „Freiheit“, „Gefühl der Kraft des Individuums“ usw. impliziere, liege der „Glaube“ als „praktische Einstellung“ nicht nur „jeglichem Handeln“, sondern auch der „theoretische[n] Einstellung zur Wirklichkeit“ (416 f.) zugrunde. Allerdings könne das sich so als ,selbsttätigR verstehende Subjekt auch einsehen, dass die „Verabsolutierung der Vernunft“ zum „Nihilismus“ und zur „Annihilation“ des eigenen „Seinsgrund[s]“ (432) führe. Dies erfordere „eine Entscheidung […] zwischen dem Nichts und einem Grund, der absolute Selbsttätigkeit ist“ Allein in einem Punkt seien Kant und Jacobi einer Ansicht: Die „äußere Freiheit des Individuums [ist] Grund und Grenze des staatlichen Zwangs“ (307). 8 Vgl. 368 ff. – Während der ,rein praktisch-moralische GlaubeR für die vernünftige Willensbestimmung konstitutiv sei, habe der ,religiöse GlaubeR keine ,epistemischen KonnotationenR, sondern sei lediglich ein ,HoffenR darauf, dass die Bedingungen zur Realisierung des höchsten Guts tatsächlich gegeben seien. 7

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(433) – also Gott. Ob hier tatsächlich eine Wahl möglich ist, sei einmal dahingestellt.9 Jedenfalls kommt bei Jacobi bereits auf prinzipientheoretischer Ebene ,GottR ins Spiel: Er sei nun einmal „der immer schon vorausgesetzte konstitutive Grund aller Leistungen der Vernunft“ (434). Das letzte Kapitel geht schließlich „der Notwendigkeit einer Vermittlung zwischen Religion und Aufklärung“ nach. Kant versuche eine solche Vermittlung durch die ,radikale RückbindungR von „Sündenfall“ und „Fortschritt zum Besseren“ an den „menschlichen Willen“. Jacobi sehe darin allerdings eine ,De-HistorisierungR und ,De-RealisierungR von „Religion und Offenbarung“ (435) und deute daher die ,äußereR Offenbarung als „Entäußerung der absoluten Freiheit und Selbständigkeit, das heißt Gottes“ (490), die im Christentum ihren angemessenen Ausdruck finde. Denn dessen „Lehre von der Geistausgießung“ sei nichts anderes als die von der „Freiheit des Menschen“ als „permanentes Wunder“ und als „Gnade“ (491) Gottes, mithin adäquater Ausdruck der ,Unbegreiflichkeit der FreiheitR. Während Kant also „die Eigenständigkeit bestimmter religiöser Bewusstseinsformen […] anerkennt“, sie aber bloß „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ thematisieren könne, sehe Jacobi deren „Aufklärungspotential“ (495), so dass „die Andersheit“ religiösen Bewusstseins nicht bloß „anzuerkennen“, sondern „in die aufgeklärte Bewusstseinsform kritisch zu integrieren“ (492) sei. Der Überblick verrät bereits, dass Jacobis Konzeption hier aus wenigstens zwei Gründen der Vorzug gegenüber der kantischen gegeben wird. Der erste Grund ergibt sich bereits aus der methodischen Anlage und Durchführung der Abhandlung, die nach folgendem Schema verfährt: Bestimmte Einwände sollen ,entkräftetR werden, wozu zuerst „Kant“ herangezogen wird, um daraufhin dessen Lösung als noch nicht so richtig gelungen hinzustellen und vielmehr „Jacobi“ als vollständig satisfaktionsfähig zu präsentieren. Das ist insofern wohlfeil, als Jacobis Kant-Kritik – die allein schon in ihrem Umfang diejenige Kants an Jacobi bei Weitem übertrifft – zugleich als Maßstab der sachlichen Einschätzung der kantischen Position(en) verwendet wird. Dass in diesem Licht die Position Jacobis als überlegene erscheint, ist dann keine Überraschung. Der zweite Grund bezieht sich dagegen eher auf die verschiedenen Arten des Philosophierens Kants und Jacobis: „Kant“ wirkt immer irgendwie umwegig und kompliziert, „Jacobi“ dagegen pointierter und authentischer. Abgesehen davon, dass sich über Aufgabe und Methode der Philosophie trefflich streiten lässt, ist hier die durchgehende Bevorzugung von Jacobis Philosophieverständnis als ,DaseinsenthüllungR mit Händen zu greifen. Profiliert wird sie mittels einer unkritischen Affirmation von dessen Ablehnung der „spekulativen Konstruktion“ und des „spekulativen Abstraktionsverfahren[s]“ (212), die Kants Philosophieren zugeschrieben werden, sowie durch den mantraartig wiederholten Verweis auf ,UnmittelbarkeitenR – sei es beim ,ErfassenR des „Prinzip[s] individuellen Denkens und Handeln“, beim „Bewusstsein unserer Substantialtität“ (237), bei besonderen „Interesse[n]“ und „Neigungen“ (249) oder beim „individuelle[n] Bewusstsein vom Guten“ (256). Ärgerlich ist diese Bevorzugung daher bereits aufgrund der einseitigen Darstellung der Positionen beider Referenzautoren. Weder wird Jacobis Kant-Kritik hinterfragt, noch wird Jacobis eigene Konzeption noch einmal kritisch – sei es nun mit „Kant“ oder ohne – diskutiert. Sicher, ohne die kantische Philosophie hätte sich wohl Jacobi nicht Einerseits soll „das Heraussetzen des Grundes des Wissens aus der Immanenz der eigenen Vollzüge“ keine „logische[] Operation“ (432 f.) sein; andererseits würden durch Ablehnung eines ,Glaubens an GottR „Sein und Wesen […] für uns zu Gespenstern werden“ (434). Aber wer wählt schon zwischen ,SeinR und ,GespensternR? 9

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zu solchen Höhen aufschwingen können, wie sie der Autor beschreibt. Aber sie bleibt doch bloß die Leiter, die – einmal erklommen – weggestoßen werden kann und muss. Das ist für eine Abhandlung, die über zweihundert Jahre nach dem thematisierten Wirken der Referenzautoren erscheint und auf eine ebenso lange Geschichte der Forschung und Rezeption der klassischen deutschen Philosophie zurückblicken könnte, nicht nur ein ästhetischer Makel, sondern auch ungeschickt, vielleicht sogar unredlich: „[D]ass es sich bei den Aufklärungsphilosophien Kants und Jacobis um Bestformen aufklärerischen Denkens handelt“, wird mit Blick auf Kants Philosophie hier tatsächlich nicht „behauptet“ – mit Blick auf Jacobis Philosophie aber schon, wenn auch nicht explizit im resümierenden „Schluss“ (493) der Abhandlung. Dass nicht Kant, sondern Jacobi zum Helden der ,Re-LegitimierungR der Aufklärung avanciert,10 ist nicht zuletzt auch der Kant-Interpretation des Autors geschuldet. Wie bereits angedeutet, zeigt sich das am offensichtlichsten an den Stellen, wo Jacobis Kant-Kritik einfach als schlagend präsentiert wird. Ein Beispiel dafür ist die Auszeichnung der Transzendentalphilosophie als „metaphysische Konzeption[]“, die allerdings „ihre metaphysischen Voraussetzungen verschleiert“ (240). Hat man dies einmal zugestanden, ist es nicht besonders schwierig, Jacobis Selbstbewusstseinsmetaphysik einer kant(ian)ischen Kritik zu entziehen, beide Konzeptionen (vorläufig) auf eine Ebene zu stellen und ihre Verschiedenheit auf „radikal unterschiedene Ausgangspunkte“ (239) zurückzuführen. Zusammen mit einer ausschließlich selbstbewusstseinstheoretischen Lesart von Kants Apperzeptionstheorie liegt es dann auf der Hand, Kant eine Konzeption von „Selbstbewusstsein als Vorstellung einer abstrakten Identität“ (232) zuzuschreiben und diese leichtfüßig zurückzuweisen. Denn selbstverständlich wird eine solche Konzeption weder individueller Subjektivität noch dem „ganzen Menschen“ (235) gerecht. Allerdings muss die kantische Apperzeptionstheorie nicht nur anders gelesen werden,11 sie steht auch bei Kant selbst in einem bestimmten Kontext – nämlich einem erkenntniskritischen. In der Kritik der reinen Vernunft, wo Kant nun einmal seine Apperzeptionstheorie an prominenter Stelle entwickelt, geht es nicht um ,DaseinsenthüllungR oder dergleichen, sondern um die ,Möglichkeit von ErkenntnisR,12 was sich für Kant mit Blick auf die zeitgenössischen Diskussionen in der Schulphilosophie zur Frage nach der ,Möglichkeit von MetaphysikR zuspitzte. Sobald diese erkenntniskritische Pointe aufgegeben wird, opfert man zugleich das systematische Potential der kantischen Überlegungen zur theoretischen Philosophie – ge-

Dass Jacobi nicht nur in Sachen Aufklärung ein Held gewesen sein muss, zeigen die zahlreichen Hinweise auf dessen Vorwegnahmen späterer philosophischer Einsichten, nicht nur von Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (vgl. z. B. 213, 228 und 265), sondern besonders auch von Ludwig Wittgenstein (vgl. 278, 292 und 401). Zudem scheint er auch Überlegungen von Donald Davidson (vgl. 291) sowie von Michel Foucault und Jürgen Habermas (vgl. 294) vorweggenommen zu haben. 11 Vgl. etwa die Differenzierung von ,ApperzeptionR in ,SelbstbewusstseinR und ,funktionale ReflexivitätR bei Reinhard Hiltscher, Gegenstandsbegriff und funktionale Reflexivität in Kants Transzendentaler Deduktion, in: Das Leben der Vernunft. Beiträge zur Philosophie Kants, hg. von Dieter Hüning u. a., Berlin, Boston 2013, 40 – 61, bes. 44 ff. 12 Was das für Zuständigkeit und Grenzen einer Erkenntniskritik bedeutet, kann kantianischen Darstellungen des Erkenntnisproblems entnommen werden, z. B. Gerold Prauss, Einführung in die Erkenntnistheorie, Darmstadt 1980, bes. 5 ff. oder Werner Flach, Grundzüge der Erkenntnislehre. Erkenntniskritik, Logik, Methodologie, Würzburg 1994, bes. 72 ff. und 143 ff. 10

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rade auch mit Blick auf einen möglichst metaphysikfreien Beitrag zur Aufklärungsdebatte. Zwar ließen sich noch weitere kritische Bemerkungen zur Kant-Interpretation des Autors hinzufügen,13 doch würden sie der oben beschriebenen Beobachtung einer unausgewogenen Darstellung der Positionen Kants und Jacobis nichts Entscheidendes hinzufügen. Stattdessen muss noch ein anderer ärgerlicher Punkt angesprochen werden. Er ist im Titel der vorliegenden Besprechung angedeutet und betrifft die sprachliche Form der Abhandlung. Dabei sind die Redundanzen von Wendungen wie: ,Erinnern wir unsR, ,Wir können festhaltenR, ,Wir haben bisher gesehenR, oder besonders: ,Fassen wir zusammenR14 noch erträglich. Auffälliger sind die zahlreichen sprachlichen Unsauberkeiten. Da ist zum Beispiel von einem „Diskurs der Meinungen“ (55), vom „Menschen“, der „primär schöpferische Freiheit ist“ (89), von „Kants Selbstbewusstsein“ (219), von dem, „was Kants moralischer Wille eigentliche will“ (228), vom „ungeteilten Menschen“ (235), von „Kants unterschiedlichen Reinheiten“ (273), von „Kants reinem Ich“ (275) oder von der „Autonomisierung“ (331, auch 448)15 die Rede. Schwerer wiegt jedoch, dass die „menschliche Vernunft“ im Zuge ihrer jacobischen ,anderenR Aufklärung nichts weniger als Gott „veräußert“ (488). Spätestens an dieser Stelle kann sich der Rezensent bissige Nachfragen – wie diejenige, wieviel man für etwas so Einzigartiges wohl bekomme – nicht verkneifen. Nicht nur sprachlich, sondern auch sachlich schwerer wiegt schließlich die Behauptung, dass Jacobi zufolge die „vollendete Spekulation […] zu einer Entsetzung der menschlichen Vernunft“ führe. Dass mit ,EntsetzungR nicht einfach ein Entsetzen der Vernunft gemeint ist, macht das angefügte „aus ihrem Alleinheitsanspruch“ klar. Allerdings kann der folgende Passus: „zur Voraussetzung einer sie transzendierenden, absoluten Vernunft“ (470) dann doch zum Entsetzen führen – nämlich genau dann, wenn man die Suggestion einer ,anderen AufklärungR nicht mitmacht. Die menschliche Vernunft darf sich durchaus entsetzt zeigen, wenn der Jacobis ,anderer AufklärungR zugeschriebene Beitrag zum Projekt der Aufklärung ernst genommen wird. Das Entsetzen beginnt bereits bei dessen erkenntnis- und begründungstheoretischer Dürftigkeit: Warum sollte eigentlich ,IndividualitätR für die philosophische Reflexion relevanter sein als invariante Erkenntnisprinzipien? Warum sollten „Behauptungen Anderer“ nicht auch tatsächlich einmal „unbegründet oder falsch“, somit auch Jacobis ,philosophische MethodeR, sich solange mit Perspektive und Gründen von Anderen zu beschäftigen, „bis man selbst mit [deren] Meinung ,sympathisiertR“ (291), nicht sogar gefährlich sein? Und was ist eigentlich die ,fundamental andere RationalitätskonzeptionR, die Jacobi vertrete? Wenn sie kein ,FideismusR sein soll, ist es dann das ,immer schonR „Auf-Etwasaus-Sein“ (262 f.), die „finale Struktur menschlichen Bewusstseins“ (480)? Dann kann aber der Unterschied zu Kants Überlegungen nicht so groß sein, dessen Philosophie nicht nur mit Blick auf konkrete Subjektivität ein Konzept technischer, also ,auf-EtAugenfällig ist etwa auch das terminologische Durcheinander bei den Darstellungen von Kants praktischer Philosophie, wo etwa die Termini ,MoralR, ,RechtR und ,EthikR nicht klar differenziert und dann entsprechend verwendet werden (vgl. z. B. 47 ff., 104 ff. oder auch 123 Fn 4). 14 Das ist vielleicht die beliebteste Wendung im ganzen Buch, wo sie z. B. 108 – 121 und 160 – 177 jeweils viermal verwendet wird – den Gebrauch der anderen o. g., ganz ähnlichen Wendungen auf diesen Seiten nicht mitgezählt. 15 Gemeint ist dabei kein mathematisches Verfahren, sondern die Ontologisierung der „Voraussetzung des menschlichen Denkens zu einem transzendentalen Seienden“ (336) oder auch „die Reform der Sinnesart“ (448). 13

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was-aus-seienderR Vernunft in Anschlag bringt, sondern diese bekanntlich auch konsequent an die Ideen praktischer Vernunft – die ja gerade nicht als ,instrumentellR zu denken ist – zurückbindet. Vor allem läuft Jacobis ,andere AufklärungR aber – folgt man der Argumentation der Abhandlung – auf eine Anerkennung ,des AbsolutenR in theoretischer wie praktischer Hinsicht hinaus. Und dieses Absolute soll auch noch im Sinne der christlichen Religion verstanden werden können. Was ist das aber anderes als ein Hinauslaufen auf altbekannte ,WahrheitenR? Geht es um eine schlichte Einsicht in die Endlichkeit menschlichen Daseins? Oder doch um eine sich besonders reflektiert gebende Spielart von Konservatismus? Und wo bleibt dann die behauptete ,Legitimität der AufklärungR? Jedenfalls darf mit einigem Recht die mit einer solchen ,anderen AufklärungR inaugurierte Unterordnung menschlicher Vernunft unter einen „Grund ihres Seins“ (432) in die Nähe der frommen Ontotheologie des Gros der deutschen Aufklärungsphilosophen gerückt werden. An diesem Punkt bietet jedoch gerade Kants Konzeption der ersten Philosophie als Erkenntniskritik einen Ausgangspunkt, ,AufklärungR unabhängig von ihrer historischen Gestalt und als auch für uns Heutige relevant zu verstehen – und zwar weder als ,EntsetzungR noch als bloße ,SelbstermächtigungR, sondern als Bemühen einer auf sich allein gestellten Vernunft, Verantwortung zu übernehmen. Oder mit Michail M. Bachtin: „Was garantiert uns dann aber den inneren Zusammenhang der Elemente der Persönlichkeit? Allein die Einheit der Verantwortung.“16 Und die liegt eben ausschließlich bei uns. Stefan Klingner (Universität Göttingen)

Michail M. Bachtin, Kunst und Verantwortung, in: ders., Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt am Main 1979, 93 f., hier 93. 16

Björn Spiekermann, Der Gottlose. Geschichte eines Feindbilds in der frühen Neuzeit, (Das Abendland NF 44) Frankfurt am Main: Klostermann 2020 Rückblickend auf die Literatur zur Geschichte des Atheismus, speziell auf Hans-Martin Barths Studie zu Atheismus und Orthodoxie,1 hat Winfried Schröder angemerkt, sie präsentiere „ein im Grunde kurioses Bild ihres Gegenstandes: das Bild eines Schattenkampfes, den die christliche Orthodoxie mit dem real gar nicht existierenden Atheismus führte“.2 Dieser Eindruck ist wenig überraschend. Nicht nur lassen sich vor dem auf die Mitte des 17. Jahrhunderts datierbaren Theophrastus redivivus3 keine unzweifelhaft und explizit atheistischen Texte nachweisen; auch als diese Texte dann existierten, zirkulierten sie über lange Zeit klandestin, so dass viele von Ihnen erst im letzten Jahrhundert das erste Mal in den Druck gingen. Mit anderen Worten, die ebenso wortreichen wie treuglaubenden Kritiker der Gottesleugner hatten von ihnen und ihrem Inhalt im Regelfall keine Kenntnis (14 f.). Dass es trotzdessen nicht an Abhandlungen, Traktraten, Predigten und längeren und kürzeren Texten aller Art mangelte, die sich schon im Mittelalter, mit deutlich erhöhter Schlagzahl dann aber ab der Reformation dem Ungetüm des „Gottlosen“ widmeten, mag daher auf den ersten Blick erstaunen. Nun gibt es allerdings, wie die vorliegende Studie des Germanisten Björn Spiekermann deutlich macht, eine recht plausible Erklärung für dieses (scheinbare) Kuriosum: Unter dem Rubrum „Atheismus“ wurden nicht in erster Linie tatsächliche Atheisten (also Menschen, die die Existenz Gottes leugneten) angegriffen oder zu überzeugen versucht, sondern „Gottlose“ im weiteren Sinne. Die eigentliche Zielscheibe waren andere Christen, die in verschiedener Weise die – nach Ansicht der Kritiker: dringend gebotene – „wahre“ Frömmigkeit kläglich vermissen ließen. Und je inniger und fordernder die jeweils zugrunde gelegte praxis pietatis war, desto größer (und auch heterogener) war folglich „das Heer der Ungläubigen“, dem die Autoren sich gegenüber sahen, denn: „Dem äußerst Frommen ist alles unfromm“ (15, 160). Auch aus diesem Grund wählt Spiekermann einen diskurstheoretischen Zugriff auf die von ihm untersuchten Debatten und Texte (9 f., 26 f.), um die Rede von „Atheismus“ besser in den jeweiligen, mit anderen Begriffen wie etwa „Epikuräer“ oder „politicus“ vernetzten Diskursen situieren und die dort verhandelten Probleme und Positionen adäquater erfassen zu können. Dass man schon lange vor dem Auftritt eines expliziten Atheismus diese Bedrohung ausführlich beschrieb und kritisierte, hatte natürlich auch zur Folge, dass man von apologetischer Seite dann recht gut präpariert war, als dann endlich ,echteR Atheisten die Bühne betraten (vgl. 40 u. ö.). Dieser Blickwinkel ist in bewusster Abgrenzung von bzw. in Ergänzung zu Winfried Schröders bereits erwähnter Untersuchung gewählt (vgl. 11–13). Denn Spiekermann möchte im Anschluss an Schröders Feststellung, dass die antiatheistischen Autoren im Grunde keine Atheisten kannten, denen sie mit ihren Argumenten zu Leibe hätten rücken können, die Frage klären, an wen ihre Arbeiten denn dann gerichtet waren? Seine Untersuchung hat dabei den Anspruch, die bisherige, seines Erachtens wohl auch bei Schröder Hans-Martin Barth, Atheismus und Orthodoxie. Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhunderts, Göttingen 1971. 2 Winfried Schröder, Die Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Bad Cannstadt 1998, 17. 3 Zur Datierung vgl. ebd., 17 f. und 404–407. 1

Aufkl-rung 33 · V Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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noch wirksame Erzählung einer von antimodernem Glaubenseifer getriebenen, einem Phantom nachjagenden Orthodoxie als treibender Kraft dieser Debatten in doppelter Weise zu korrigieren. Einerseits möchte Spiekermann aufzeigen, dass es eben keineswegs nur verbohrte Orthodoxe waren, die über die Bedrohung oder Ungefährlichkeit, die Vernünftigkeit oder Irrationalität des Atheismus stritten – sondern dass diese Debatten auf durchaus hohem Reflexionsniveau von orthodoxen wie nicht-orthodoxen Autoren, von Theologen wie von Philosophen geführt wurden (33–35). Andererseits soll dabei deutlich werden, dass diese Debatten nicht nur keine bloßen Selbstbestätigungsdiskurse antimoderner Hexenjäger waren, sondern dass vielmehr die antiatheistische Apologetik selbst ein wesentlicher Faktor bei der kritischen Reform gängiger Rationalitätsstandards und der Exculpation und Etablierung vermeintlich gefährlicher Praktiken, allen voran der frühen Naturwissenschaften, darstellte (37–39). Mit anderen Worten: Nicht nur waren diese Debatten nicht vor- oder gar antimodern, sie waren selbst eine wesentliche Schubkraft der Moderne, wobei sich Spiekermann bewusst auf die Debatten der deutschen Aufklärung beschränkt und Texte nicht-deutscher Autoren wie etwa Pierre Bayle nur dort ausführlicher diskutiert, wo – und insoweit – sie Gegenstand dieser deutschen Debatten wurden (7–9). „Der Gottlose“ ist in sechs Teile gegliedert, die sich zwar chronologisch in etwa entlang der Zeitachse von der Reformation bis zur Hochaufklärung verteilen, aber dabei jeweils sachliche Schwerpunkte besitzen und Überschneidungen aufweisen. Letztere macht Spiekermann durch geschickte Vor- und Rückverweise deutlich, wodurch er die ohnehin schwer zu vermeidenden Wiederholungen in dieser gründlichen und materialgesättigten Studie auf ein erträgliches Minimum reduziert. Der erste Teil der Untersuchung thematisiert die Beschreibung und Kritik des Gottlosen in der Frühen Neuzeit, da nach Spiekermanns Darstellung hier im Grunde die wesentlichen Topoi gesetzt wurden, auf welche die Debatten der Aufklärung dann affirmativ wie kritisch Bezug nahmen. Damit ist vor allem die Diagnose der Unmöglichkeit eines tatsächlichen Atheismus gemeint (vgl. 46–48, 55–59). Diese beruft sich auf die biblische Beschreibung des Atheisten als „Narr“ oder „Tor“ (Ps 14,1), d. h. als jemand, der Gott nicht aus Überzeugung oder Überlegung leugnet, sondern aus anderen Gründen – im Zweifelsfall, weil er unmoralisch handelt und sich aus Angst vor Gottes Zorn lieber einreden möchte, dass es Gott gar nicht gibt. Denn dass es Gott gibt und dass er ein gerechtes Leben zu leben fordert, ist nach Paulus ja auch den „Heiden“ „in ihr Herz geschrieben“ (Röm 2,15). Der Unglaube wäre dann aber ein moralischer Makel, nicht allein, weil er auf einen „Willensakt“, d. h. auf eine bewusste Entscheidung zurückzuführen ist (48), sondern weil diese selbst ihre Grundlage unmittelbar in moralischem Fehlverhalten hat. „Atheismus“ oder „Gottlosigkeit“ waren somit im Grunde shorthands für eine variabel definierbare Amoral (65). Dies erklärt erstens den Umstand, dass als Synonyme für „Atheismus“ seit Luther vor allem Positionen wie der „Epikuräismus“ galten, denen jeweils vorgeworfen wurde, die christliche Religion anderen, weltlichen und damit unchristlichen Motiven und Zielen zu opfern – der eigenen Lust bzw. dem politischen Erfolg (Kap. I.2). Zweitens wird so plausibel, warum die Figur des so konzipierten Gottlosen vor allem in jenen Texten als Bedrohung auftrat, in denen die (seinerzeit sicherlich kaum kontroverse) These von der Religion als einigendem „Band der Gesellschaft“, als „vinculum societatis“, offensiv vertreten wurde – wobei hier dann eben deutlich wird, dass die Konfliktlinie weniger zwischen religiösen und anti-religiösen Positionen verlief als vielmehr zwischen unterschiedlichen konfessionellen Positionen.

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Dieser erste Teil endet dann, nach zwei Kapiteln, die die Diskurse um die „neue Wissenschaft“ und die Debatten um Bacon, Descartes, Mersenne u. a. eher grob nachzeichnen (Kap. I.3 und I.4), folgerichtig mit einem Kapitel zu Gijsbert Voetius (Kap. I.5). Denn nicht nur kann man Voetius als denjenigen Autor bezeichnen, der diese reformatorischen Überlegungen ebenso umfassend wie einfluss- und folgenreich systematisiert hat. Folgenreich sind vor allem seine Thesen zu der Möglichkeit gewesen, Gottes Existenz „implizit“ zu leugnen: jener berühmt-berüchtigte „atheismus per consequentiam“, der, wie Spiekermann durchgängig betont, prominent von Thomasius und dann von Wolff als inquisitorische Praxis der „Consequenzienmacherey“ kritisiert wurde und den Spiekermann gleich eingangs in die Nähe moderner „Verdächtigungshermeneutik“ rückt (vgl. 10–12). Bei Voetius wird also nicht nur die dezidiert innerchristliche, genauer: konfessionell-dogmatische Stoßrichtung dieser Begriffe deutlich (162 f., 164), sondern auch ihre Verquickung mit dem Vorwurf der (politisch gefährlichen) Unmoral, die sich selbst (freilich nur im Irrtum) sogar für christlich halten mag (165 f.). Wie die folgenden Teile der Untersuchung deutlich machen, sind damit im Grunde die wesentliche Eckpfeiler der Diskussion gesetzt. So diskutiert Spiekermann im zweiten Teil vor allem Spener und sein Umfeld, wobei deutlich wird, dass der Terminus „Atheismus“ durchgehend im Sinne des „Gottlosen“ im weiten Sinne verwendet und immer deutlicher auf zwei Gruppen zugeschnitten wird. Einmal auf jene Autoren, die (meist unter dem Begriff der „Staatsräson“) für eine Autonomie, wenigstens aber für eine relative Unabhängigkeit politischer Akteure und Überlegungen von kirchlichen Autoritäten und ihren normativen Vorgaben stritten; hier werden dann der „politicus“ (176 f.) und der „Machiavellismus“ (203–205) als Synonyme bzw. als gebräuchliche Erscheinungsformen des Atheismus als gottlos angriffen und verunglimpft. Argumentativ zielt die Kritik hier natürlich auf die „Verweltlichung“ (223–225), d. h. auf die Abkehr von der ausschließlichen Orientierung an einer letztlich auf das Jenseits zielenden Wertordnung, an deren Stelle zunehmend ein Bewusstsein für die Eigenständigkeit und die reellen Eigengesetzlichkeiten des Diesseits tritt. Zugleich wird laut Spiekermann hier der innerprotestantische Charakter, spezifischer noch die pietistische Stoßrichtung dieser Debatten deutlich (vgl. Kap. II.3), so dass der Begriff des Atheismus letztlich als „Chiffre für eine spirituelle Krise“ (241) dient. Sicherlich, Spiekermann betont auch, dass sich bereits bei Spener Überlegungen zur Kritik der inquisitorischen Eigenlogik von VoetiusQ Atheismus-Nomenklatur finden (229 f.), ebenso wie vereinzelte Zugeständnisse, dass auch Gottlose wohl in der Lage seien, ein „ehrsames Leben“ zu führen (237); aber es ist natürlich nicht minder „kurios“ (to say the very least!), dass ein letztlich innerchristlicher Diskurs um die richtige Form christlicher Frömmigkeit durchgängig mit Begriffen geführt wird, die den jeweiligen Gegner öffentlich in den Ruch nicht allein der „Gottlosigkeit“, sondern auch der Unmoral stellen. Und dieser Fokus, die Verbindung von Gottlosigkeit und Unmoral und (aus dieser abgeleitet) politischer Gefährlichkeit, bleibt sogar, wie Spiekermann im dritten Teil deutlich macht, in zeitgenössischen Widmungsepisteln, Gedichten und Romanen erhalten. Auch hier findet sich der Topos des Gottlosen, der eigentlich, „in seinem Herzen“, von Gottes Existenz weiß, sich aber absichtlich vom Gegenteil überredet, weil er nur so die Furcht vor den Folgen seines unmoralischen Lebenswandels bekämpfen kann (257 f.). Entscheidend ist hier vor allem die gewählte Metaphorik, die den Atheismus in der breiten Wahrnehmung mit „Pest“ und „Monstren“ und dergleichen Schrecknissen anständiger Christinnen in Verbindung brachte. Folgt man Spiekermanns Darstellung, dann ist es vor allem die im vierten Teil seiner Untersuchung rekonstruierte Auseinandersetzung mit Pierre Bayles These, dass ein fried-

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licher und prosperierender Staat überzeugter Atheisten möglich sei, an der sich der prägende – und progressive – Einfluss der Apologetik auf die Aufklärung zeigen lässt. Einerseits, so Spiekermann, ließen sich die Apologeten von Bayles Hinweisen auf unmoralische Christen auch deshalb kaum aus der Reserve locken, weil sie, als Kritiker einer überall anzutreffenden mangelhaften Frömmigkeit, dieser Diagnose des moralischen Verfalls der Christenheit ja zustimmten (330 f.). Andererseits aber ließen sich in der Auseinandersetzung mit Bayle sowohl die Argumente zugunsten einer christlichen Grundierung der Politik (v. a. in Seckendorffs Christen-Stat, vgl. Kap. IV.3) als auch die Begriffe und Kategorien der Vorurteilslehre (Kap. IV.4) hinterfragen, neu einordnen und schärfen. Und es ist nach Spiekermann vor allem letztere, die – gerade in Verbindung mit der Annahme des willentlich angenommenen Unglaubens – für die Aufklärung einflussreich war. Dies soll vor allem der fünfte Teil zeigen, in dem Spiekermann mit einem Fokus auf Thomasius (Kap. V.2), Gundling (Kap. V.3) und Wolff (Kap. V.4) deutlich machen möchte, in welchem Maße hier die theologischen Debatten und Überlegungen der Frühaufklärung die Diskurse der Aufklärung prägten: Indem sie einerseits über die Vorurteilslehre die Anthropologie und Psychologie der Aufklärung beeinflussten und andererseits die Haltung der Mehrheit der deutschen Aufklärer zum Atheismus als Problem der politischen und Moralphilosophie prägten. Denn die von Spiekermann v. a. bei Thomasius und Wolff diagnostizierte Position, einerseits den Atheismus-Vorwurf mit Blick auf die „Consequenzienmacherey“ an scharfe Auflagen seitens der Ankläger zu binden und andererseits die politische Gefährlichkeit des Atheismus sehr differenziert einzuschätzen, ist nach seiner Darstellung weniger genuin philosophisch begründet, als vielmehr ein Spiegelbild der vorangegangenen theologischen Selbst-Aufklärung. Dementsprechend spricht er mit Blick auf diese Debatten von einem „apologetischen Schulterschluss von Aufklärung und Orthodoxie“ (469). Es kann daher kaum überraschen, wenn Spiekermann im Anschluss an diese Festlegung sowohl die Positionen von Lutheranern nach 1700 (Kap. V.5) als auch die an ein breiteres Publikum gerichteten Journale und Wochenschriften der Aufklärung (Teil VI) in diese Linie einordnet und ihnen im Grunde durchgehend bescheinigt, dass sie – auch wenn aus dem „Atheisten“ nun der „Freigeist“ wird – intellektuell redlich, fair und auf hohem Niveau diese Diskussionen weiterführten. Und es überrascht ebenfalls nicht, dass der sechste Teil und damit die Untersuchung des historischen Materials damit endet, dass dann Herders Position charakterisiert wird als die eines frommen, aber aufgeklärten Christen, der um die Gefahren der Intoleranz ebenso weiß wie um die inquisitorische Eigenlogik der Atheismuskritik – und dass es die so beschriebene Position Herders ist, die dann als folgerichtiges Ergebnis dieser Debatten und wohl auch als sachlich richtige (vgl. 670 f.) Haltung eines Aufklärers beworben wird. Neben einer kurzen Schlussbemerkung, auf die gleich noch gesondert einzugehen sein wird, enthält das Buch neben einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis noch dankenswert umfangreiche und gründlich gearbeitete Register. Neben den Querverweisen im Text und einem ausführlichen Inhaltsverzeichnis (VII–XV) ermöglicht insbesondere dieser wissenschaftliche Apparat eine zielgerichtete Arbeit mit einzelnen Abschnitten. Diese ist indes nicht zwingend geboten, denn es ist Spiekermanns klarem und angenehm unprätentiösen Stil zu danken, dass diese Untersuchung trotz ihres Umfangs und der quellengesättigten, einzelne Texte durchaus genau sezierenden Vorgehensweise im Ganzen sehr gut und mit Gewinn lesbar ist. Dass sie mit Gewinn zu lesen ist, schließt freilich kritische Rückfragen nicht aus und mit Bezug auf die historische Untersuchung selbst möchte ich wenigstens zwei kurz benennen.

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Erstens reibt sich der Philosophiehistoriker doch bisweilen verwundert die Augen, wenn Autoren, deren Religionskritik zurecht umstritten ist in der Forschung, ein ums andere Mal anhaltslos als fromme Christen etikettiert werden, um ihre Argumente dann denen der christlichen Apologetik an die Seite zu stellen. Das betrifft schon Bodin, dessen Colloquium heptaplomeres man wenigstens kurz einordnen sollte, wenn man seine Six livres de la Republique als christlich charakterisiert (97–99), statt es dann erst später, in einem gänzlich anderen Kontext (vgl. 148 f.), nur kurz zu erwähnen. Überraschend, wenn auch nicht ganz neu, ist diese christliche Vereinnahmung ja bei Hobbes (vgl. 117–120) und auch bei Bayle (337–345), wobei sie bei letzterem wenig überrascht, da Spiekermann sich hier allein auf seine Kometenschrift bezieht, sich aber nicht zum Historischen und kritischen Wörterbuch äußert – auch wenn er Gottscheds Übersetzung zumindest erwähnt (536).4 Natürlich wäre es billig, Spiekermann hier vorzuwerfen, keine gründliche, mehrere Kapitel füllende Diskussion dieser Autoren und ihrer Schriften geführt zu haben. Aber hier, wie an zahlreichen anderen Stellen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sowohl die behandelten Autoren als auch die entsprechende Forschungsliteratur eher selektiv gelesen wurden. Und dies führt, zweitens, zu einer grundsätzlichen Rückfrage mit Bezug auf die Tragfähigkeit des gewählten methodischen Zugriffes auf diese Texte. Einerseits zeigt die Übernahme bestimmter Begriffe und Argumente der christlichen Apologie durch einen Autor nicht, dass er damit die entsprechenden Schlussfolgerungen, Vorannahmen und Überzeugungen übernimmt; folgt man Blumenbergs Überlegungen in der Legitimität der Neuzeit, dann muss man vielmehr davon ausgehen, dass diese Begriffe und Argumente schon aufgrund eines veränderten Theoriekontexts auch selbst ein anderes Gewicht hatten. Andererseits macht es sich Spiekermann deutlich zu leicht, wenn er, etwa unter Verweis auf die Kritik der „Consequenzienmacherey“ bei Wolff, jeglichen Hinweis auf einen möglichen ,doppelten BodenR von Texten als „Verdächtigungshermeneutik“ in „Fortsetzung der apologetischen Gesinnungsspürerei“ (366) im Grunde mit einem platten Ideologievorwurf abkanzelt. Man muss kein gläubiger Schüler oder blinder Adept Leo StraussQ sein, um dessen Überlegungen zur Hermeneutik philosophischer Texte der Frühen Neuzeit und Aufklärung für grundsätzlich berechtigt und auch gewinnbringend zu halten. Schon Spinozas Tractatus theologico-politicus dürfte hier jeden eines Besseren belehren.5 Natürlich hat dies Einfluss auf die Aussagekraft der Untersuchung. Denn gerade Herder kann als Höhepunkt und Vorbild der Aufklärung nur protegiert werden, wenn man ihre Geschichte als den behaupteten „apologetischen Schulterschluss von Aufklärung und Orthodoxie“, als traute Einigkeit von pietistischer Theologie und aufklärerischer Philosophie (wenn auch mit einigen Streitigkeiten und dem ein oder anderen Missverständnis) schreiben kann. Und hier wäre es durchaus auch interessant zu wissen, wie sich dies zu der These Isaiah Berlins verhält, dass der Unterschied zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung weniger in den konkreten politischen und gesellschaftlichen Überzeugungen bestand (hier waren sich Hume und Burke ebenso weitestgehend einig wie sich Kant und Herder wohl hätten verständigen können), als vielmehr in der Grundannahme: Wo die Es wäre wohl Koketterie, an dieser Stelle nicht darauf hinzuweisen, dass vom Rezensenten eine umfangreiche Studie zu Thomas HobbesQ Positionen zu Religion und Christentum vorliegt, vgl. Dietrich Schotte, Die Entmachtung Gottes durch den Leviathan. Thomas Hobbes über Religion, Stuttgart-Bad Cannstadt 2013. 5 Siehe dazu auch die Beiträge in Winfried Schröder (Hg.), Reading between the lines. Leo Strauss and the history of early modern philosophy, Berlin, New York 2015. 4

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Aufklärer grundsätzlich in der menschlichen Natur eine allgemein zugängliche Erkenntnisgrundlage – auch für normative Kriterien wie das Naturrecht – sahen, lehnten die Gegenaufklärer diese letztlich ab.6 Anders formuliert: Die Frage ist nicht, ob sich Theologen und Philosophen im praktischen, politischen Umgang mit den „Gottlosen“ weitestgehend einig waren, sondern auf welcher argumentativen Grundlage sie ihre jeweiligen Positionen entwickelten. Und ein nur im Gefühl erlebbares „Leben“ oder „die Offenbarung“ treten hier eben nicht gleichberechtigt neben eine kraft natürlicher Vermögen erkennbare Natur. Diese kritischen Rückfragen mindern nicht den Erkenntnisgewinn von Spiekermanns Untersuchung und sie ändern auch nichts an ihren bereits erwähnten Qualitäten. Umso ärgerlicher ist daher das „Nachwort“, das er ihr am Ende der „Schlussbemerkung“ hinzufügt. Denn hier schließt Spiekermann mit ein paar Bemerkungen zu dem, was seines Erachtens „über die Funktionsweise von Feindbildern“ im Allgemeinen (!) aus der Untersuchung zu lernen sei: „ein Vorbehalt gegenüber ,SectenhaßR mit seinen Erregungskurven, gegenüber den Mechanismen der Konsequenzenmacherei, und eine Skepsis gegen die altbekannten Angst- und Zusammenbruchsszenarien ebenso wie gegen das stets bereitliegende Psychogramm des gemeinen Ungläubigen, Häretikers oder Zweiflers“ (685). Damit hier, erstens, wirklich etwas zu lernen sein könnte, müsste man erst einmal aufzeigen, dass heutige Debatten in der Tat dieselbe (oder wenigstens eine hinreichend ähnliche) „Funktionsweise“ aufweisen – eine einfache Behauptung, dass das ja wohl so sei, ist bestenfalls handelsübliche feuilletonistische ,GesellschaftskritikR. Und man müsste zeigen, dass die Lösung, die damals angemessen war, es auch heute noch ist; auch das ist ja keineswegs selbstverständlich. Zumal man in jedem Falle ehrlich sein und klar sagen sollte, welche Debatten man meint, d. h. wen denn der ,HaßR welcher ,SecteR gerade trifft. Alles andere ist genau jenes Geraune, von dem sich Spiekermanns Stil sonst ja auf so wohltuende Weise abhebt. Und zweitens ist es, gerade nach der positiven Charakterisierung des kritisch-reflektierten Herder, doch einigermaßen überraschend, für diese ,Lehre aus der GeschichteR als Autoritäten, von denen hier etwas über die Natur des Menschen zu lernen sei, Gustave le Bons Psychologie der Massen und Konrad LorenzQ Das sogenannte Böse angeführt zu sehen – zwei Texte, die, was immer man von einzelnen Argumenten halten mag, einem vollkommen unkritischen und unreflektierten Naturalismus folgen. Beide sind, gänzlich unabhängig von ihrem Erscheinungsdatum, letztlich Epigonen eben jenes 19. Jahrhunderts, das die Aufklärung nicht nur inhaltlich ad acta gelegt hatte. Diese wenigen Seiten, mit denen die Untersuchung schließt, sind nicht nur ärgerlich aufgrund der bemerkenswerten Schlichtheit der hier vorgetragenen Überlegungen. Sie sind vor allem ärgerlich, weil sie den Verdacht aufkeimen lassen, dass die vorangegangene, bisweilen ja bemerkenswert gradlinige Geschichte der Aufklärung letztlich durch diese Überlegungen motiviert wurde, selbst wenn Spiekermanns gründliche Untersuchung

Vgl Isaiah Berlin, Gegenaufklärung, in: ders., Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, hg. von Henry Hardy, Frankfurt am Main 1994, 63–93, bes. 73, 75–78, 85. Berlin hat dies, auch mit Bezug auf Herder, zwar später abgeschwächt und statt von „Relativismus“ von „Pluralismus“ gesprochen, aber m. E. seine eigene Kritik nicht glaubhaft widerlegen können, siehe aber Isaiah Berlin, Der angebliche Relativismus des europäischen Denkens im 18. Jahrhundert, in: ders., Das krumme Holz der Humanität. Kapitel der Ideengeschichte, hg. von Henry Hardy, Frankfurt am Main 1995, 97–123, hier bes. 120. 6

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diesen Eindruck, unabhängig von den genannten kritischen Rückfragen, zu widerlegen scheint. Dietrich Schotte (Universität Leipzig)

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In Memoriam Werner Schneiders (1932 – 2021) Frank Grunert Am 1. November 2021 ist Werner Schneiders im Alter von 89 Jahren unerwartet gestorben. Mit seinem Tod reißt eine beeindruckende philosophiehistorische und philosophische Produktivität ab, die tatsächlich noch nicht an ihr Ende gekommen war. Denn für Werner Schneiders war Philosophie und Philosophieren eine auf Dauer gestellte, d. h. faktisch nicht endende und nicht enden könnende Reflexion, die im Ausgang von genauer Beobachtung sich mit den unabweisbaren – theoretischen und praktischen – Fragen der conditio humana befasst. Das Ende einer solchen individuellen Reflexion kann nur durch das Ende dieses individuellen Bewusstseins überhaupt definiert werden. Indem Werner Schneiders Philosophieren als eine „Selbstbesinnung“ beschreibt, mit deren Hilfe ich mir im Ausgang von mir selbst und in der Rückkehr zu mir selbst „meiner selbst in meiner Welt mehr und mehr bewusst“1 werde, bestimmt er zugleich den sowohl praktischen wie theoretischen Impuls, der für seine ebenso anregungs- wie ertragreiche Beschäftigung mit der Aufklärung leitend war. Werner Schneiders gehört fraglos zu den einflussreichen und maßgeblichen Pionieren der nach Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges einsetzenden und sich mehr und mehr interdisziplinär verbreiternden Aufklärungsforschung. Schon seine 1959 eingereichte und von dem späteren Gründer der Münsteraner Leibniz-Forschungsstelle, Erich Hochstetter, betreute Dissertation, die zunächst 1960 und dann noch einmal 1961 in einer fotomechanischen Vervielfältigung unter dem Titel Recht, Moral und Liebe. Untersuchungen zur Entwicklung der Moralphilosophie und Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts bei Christian Thomasius erschien, ließ ein entschiedenes Interesse an der Aufklärung erkennen. Sie zeigte aber auch einen jungen Wissenschaftler, der entschlossen ist, einen eigenen Weg zu gehen und sich nicht von den Konjunkturen seines Faches beeindrucken zu lassen. Wohl nicht von ungefähr hat ihn der in Münster lehrende Philosoph Joachim Ritter, mit dessen Kreis Werner Schneiders eher lose assoziiert war, halb im Ernst und halb im Scherz als einen „obstinaten Prinzipienreiter“ bezeichnet. Nach seiner Promotion in Münster und dem zuvor abgelegten Staatsexamina lehrte Werner Schneiders für kurze Zeit an einem Gymnasium und trat 1962 als Editor in die LeibnizForschungsstelle ein – der Band 3 von Leibniz Philosophischen Schriften ist unter seiner Beteiligung entstanden. Die Habilitation erfolgte 1980 in Trier und 1982 wechselte Werner Schneiders an das Philosophische Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wo er als Professor für Philosophie bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1997 lehrte. Obwohl Werner Schneiders auch nach seiner Zeit an der Leibniz-Forschungsstelle sich verschiedentlich mit der Philosophie ihres Namengebers befasste, galt sein philosophieWerner Schneiders, Wieviel Philosophie braucht der Mensch? Eine Minimalphilosophie, München 2000, 22001, 52 f. 1

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Felix Meiner Verlag 2021 · ISSN 0178-7128

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historisches Interesse vorwiegend der Aufklärung, deren Beginn in Deutschland für ihn – jenseits und unabhängig von Leibniz – mit dem Wirken von Christian Thomasius einsetzte. In dessen lebenslangem Bemühen „um eine moralische Lebens- und Gesellschaftsreform“,2 die Thomasius auf der Basis einer Verbesserung des Verstandes – u. a. mit Hilfe einer eigenen Vernunftlehre – und einer Verbesserung des Willens – etwa durch eine eigene Sittenlehre – sah Werner Schneiders den Nukleus aufgeklärten Denkens in Deutschland gegeben.3 Eine Vernunftlehre, die sich als Anleitung versteht, sowohl zwischen Wahrem, Wahrscheinlichem und Falschem zu unterscheiden als auch neue Wahrheiten „zu erfinden“, und sich dabei – und darauf kommt es an – ausdrücklich unabhängig von Stand und Geschlecht an alle wendet, formuliert – wie Werner Schneiders deutlich machte – einen originär aufklärerischen Anspruch: Hier wird richtige Erkenntnis mit Emanzipation verknüpft, d. h. Vernunft und Freiheit bereits in einen in der Folge wirkungsmächtigen Zusammenhang gesetzt. Indem Werner Schneiders 1968 die Vernunfft-Lehre und die SittenLehre von Christian Thomasius, jeweils die „Einleitung“ und die „Ausführung“, mit ausführlichen Vorworten versehen als Reprints herausgab, stellte er der damals langsam Fahrt aufnehmenden Aufklärungsforschung früh wichtige Grundlagentexte zur Verfügung. Deren sachlich philosophischen Stellenwert hat Werner Schneiders durch seine 1971 erschienene Monographie Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius, einer vollständigen Neufassung und interpretatorischen Fortführung seiner ursprünglichen Dissertation, unmissverständlich vor Augen geführt. Genau 50 Jahre nach seiner Publikation ist dieses Buch noch immer das entscheidende, d. h. unerledigte Standardwerk, von dem jede neuere Beschäftigung mit dem Werk von Christian Thomasius nach wie vor seinen Ausgang nimmt. Mit zahlreichen Einzelstudien und vor allem mit der seit 1993 erscheinenden Reprint-Edition der Ausgewählten Werke von Christian Thomasius hat Werner Schneiders in seiner weiteren Arbeit der Thomasius-Forschung Stück für Stück eine neue, auch interdisziplinär fruchtbare Grundlage geschaffen. Ergänzt werden diese Unternehmungen durch die in Zusammenarbeit mit Kay Zenker initiierte Reihe Thomasiani, die seit 2007 mit entsprechenden Editionen – inzwischen liegen nicht weniger als 20 Bände vor – weiteres Material für eine Erforschung der unmittelbaren zeitgenössischen Wirkung von Christian Thomasius erschließt. Spätestens durch seine editorische Arbeit an dem in engem Kontakt mit einem weitreichenden Netzwerk entstandenen philosophischen Œuvre von Gottfried Wilhelm Leibniz, vermutlich aber auch angeregt durch seinen Doktorvater Erich Hochstetter war für Werner Schneiders früh klar, dass philosophiehistorische Forschung sich nicht mit der Analyse des theoretischen Höhenkamms begnügen darf. Obwohl er sich über den philosophischen Rang von Autoren keine Illusionen machte, die später nicht oder nur noch am Rande berücksichtigt wurden, nahm er deren Wortmeldungen in einem vornehmlich begriffsgeschichtlich verfahrenden Zugriff als Zeugen zeitgenössischer Diskussionen ernst, die – seiner Einschätzung nach – sowohl theoretisch wie historisch signifikant und daher der präzisen Rekonstruktion wert und würdig waren bzw. noch immer sind. Die 1983 erschienene Habilitationsschrift Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie führt dies mustergültig vor Augen: Unter Berücksichtigung der komplexen Werner Schneiders, Vorwort, in: Christian Thomasius, Einleitung zur Vernunftlehre (Ausgewählte Werke, Bd. 8), Hildesheim, Zürich, New York 1998, IX. 3 Vgl. dazu auch Werner Schneiders, Das Zeitalter der Aufklärung, München 1997, 52014 sowie die Einleitung zu ders., Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1995, Taschenbuchausgabe München 2001. 2

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philosophiehistorischen Diskursvoraussetzungen entfaltet Werner Schneiders mit Blick auf eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Stimmen die problem- und begriffsgeschichtlich akzentuierte Geschichte eines der zentralen Motive der Aufklärung. Dabei werden Autoren und Fragestellungen namhaft und sichtbar gemacht, die bis dato nur sehr selten das wissenschaftliche Interesse auf sich gezogen haben, nun aber mit Hilfe einer dezidierten Fragestellung und einer darauf abgestimmten Methode als diskursrelevante Positionen in Erscheinung treten konnten. Auf diese Weise wurden Diskussionen, Zusammenhänge, Autoren und Lehrmeinungen wahrnehmbar gemacht, deren weitere philosophiehistorische Analysen schließlich dazu beigetragen haben, das Verständnis von Aufklärung – insbesondere der deutschen Aufklärung im Unterschied zu anderen, auf politisch und kulturell differierenden Voraussetzungen beruhenden nationalen oder regionalen Aufklärungen – neu zu formieren und genauer zu differenzieren. Diese begriffsgeschichtlich informierte Rekonstruktion von Diskussionen war auch für zwei weitere, auf eine breitere Rezeption zielenden Bücher leitend: die 1974 erschienene Studie Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung und der 1990 publizierte Band Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland. Die historische Konzentration auf die bis dato – zumindest teilweise – unbekannte Selbstproblematisierung von Exponenten der deutschen Aufklärung einerseits und auf die Entwicklung des aufklärerischen Philosophiebegriffs andererseits verbindet sich hier mit einer grundsätzlichen Reflexion über Aufklärung überhaupt. Und genau darum ist es – wie einzelne Aufsätze zum Begriff der Aufklärung und zum Anspruch der Philosophie schon zuvor gezeigt haben – Werner Schneiders immer gegangen, nämlich um die philosophische Konturierung einer immer notwendig bleibenden Aufklärung vor dem Hintergrund einer theoretisch produktiv zu machenden historischen Kenntnis dessen, was Aufklärung einmal war. Hier verbinden sich ein genaugenommen existenzieller Reflexionsanspruch mit historischer Forschung, so dass das Interesse an der Aufklärung als historischer Epoche mit einem nicht minder starken Interesse an der Aufklärung als Programm und als Auftrag verknüpft ist.4 Freilich musste dieser Bezug des einen auf das andere ohne anachronistischen Fehlschluss geschehen: Denn mit Blick auf die Frage, „ob Aufklärung noch aktuell ist“, konstatiert Werner Schneiders in aller Deutlichkeit, „dass die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, […] trotz ihres exemplarischen Charakters in ihrer damaligen Form geschichtlich überholt ist“.5 Und das heißt, dass die historische Aufklärung der programmatischen Aufklärung lediglich als ein relativer „Orientierungspunkt“ dienen kann. Schneiders spricht ausdrücklich von einem „sehr vagen“6 Orientierungspunkt, was weniger der theoretischen Unzulänglichkeit der historischen Aufklärung geschuldet ist, als vielmehr ihren durch den historischen Ort begründeten notwendigen Begrenztheiten. Historische Aufklärung, die als solche historisch wahrgenommen werden muss, ist eben ein vielgestaltiges Phänomen, aus dem nicht einfach eine wahre, d. h. gültige Aufklärung destilliert werden kann, die sich dann noch ohne zusätzliche Vorkehrungen auf die Verhältnisse einer anderen Zeit applizieren ließe. Dennoch hält Werner Schneiders bezeichnenderweise daran fest, dass sich – und dadurch wird dann doch die vage Orientierungsfunktion der historischen Aufklärung konkreter – „die bleibenden Aufgaben der Aufklärung Siehe dazu die Beiträge in: Werner Schneiders, Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien. Zu seinem 70. Geburtstag hg. von Frank Grunert, Berlin 2005. 5 Werner Schneiders, Zur Aktualität der Aufklärung, in: ders., Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie (wie Anm. 4), 480. 6 Ebd., 481. 4

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auch immer noch in den Worten des 18. Jahrhunderts formulieren“ lassen: „Aufklärung“ – so heißt es in Hoffnung auf Vernunft – „richtet sich nach wie vor – außer gegen Irrtümer und Unwissenheit – gegen Vorurteile und Aberglauben, Schwärmerei und Fanatismus: gegen Vorurteile, also gegen affektive, nur emotional statt rational begründete Urteile bzw. Einstellungen; gegen Aberglauben, also gegen absurde, weil willkürliche oder irrationale Verendlichungen des ,AbsolutenR; gegen Schwärmerei, also gegen kritiklose und überschwängliche Verfallenheit an eigene Verabsolutierungen; gegen Fanatismus, also gegen unbelehrbares und eiferndes Insistieren auf fixe Ideen. Alle diese Alogismen“ – so fügt Werner Schneiders hinzu – „haben neben ihren alten, meist religiösen, auch ihre modernen, oftmals politischen Erscheinungsformen“.7 Der ursprüngliche auf Wahrheit durch Klarheit zielende Impetus der Aufklärung beansprucht – immer, damals wie heute – eine sich selbst reflektierende Vernunft, die für ihre Tätigkeit äußere Freiheit und innere Offenheit voraussetzt. Sie muss auch dann noch an ihrem Wahrheitsanspruch festhalten, wenn ihr im Kern kritisches Geschäft wegen einer sich stets ändernden Wirklichkeit auf keine absolute Wahrheit zulaufen kann und faktisch einen endlosen, „immer erneute[n] Aufbruch zur Überwindung der stets neu wuchernden Pseudowahrheit“8 darstellt. Weil Aufklärung einerseits alternativlos ist – gewollte Unwahrheit und Unmündigkeit lässt sich nicht sinnvoll rechtfertigen –, zugleich aber wegen der Widersprüchlichkeit einer komplexen und dynamischen Wirklichkeit nicht zur abschließenden Verwirklichung einer ohnehin stets prekären Vernunft führen kann, erkennt Werner Schneiders in der „Hoffnung auf Vernunft“ den letzten und unaufgebbaren und unbestreitbaren Kern von Aufklärung.9 Wobei er zugleich festhält – und das überschreitet seine Bemühungen um Aufklärung bzw. einerseits setzt diese andererseits in das richtige Licht –, dass es „auf das Wort Aufklärung“ genauso wenig ankommt wie z. B. „auf das Wort Philosophie“, worauf es hingegen ankommt, ist – nach seiner Einschätzung –, „daß es auch in Zukunft immer soviel Vernunft und Freiheit geben wird, daß die Welt weder in Chaos versinkt noch in einer versteinerten Ordnung erstarrt“.10 Im Ausgang von der philosophiehistorischen Beschäftigung mit Aufklärung wird damit eine Denkhaltung sichtbar, die Werner Schneiders jenseits der Academia als ein – wenn man so will – philosophischer Schriftsteller verfolgt hat. Ganz im Geiste der Aufklärung hat er sich in deutlicher Distanz zu den üblichen akademischen Gepflogenheiten – vor allem nach seiner Emeritierung – mit Büchern an ein größeres, fachungebundenes Publikum gewandt, die sich mit „Grundfragen des lebendigen Denkens“ befassen und sich als eine fortlaufende philosophische Reflexion lesen lassen. Insbesondere seine unter dem Titel Wieviel Philosophie braucht der Mensch? mehrfach aufgelegte und ins Türkische übersetzte „Minimalphilosophie“11 versteht sich als grundlegender Orientierungsversuch, Werner Schneiders, Hoffnung auf Vernunft. Aufklärungsphilosophie in Deutschland, Hamburg 1990, 180. 8 Ebd., 179. 9 Vgl. dazu auch: Werner Schneiders, Vernunft und Versuchung. Über Aufklärung und ihre Alternativen, in: Aufklärung heute / Enlightenment today, hg. von / ed. by Oliver R. Scholz (Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift / Applied Philosophy. An International Journal, Heft / Vol. 1 [2016]), Göttingen 2017, 19–35. 10 Schneiders, Hoffnung auf Vernunft (wie Anm. 7), 186. 11 Schneiders, Wieviel Philosophie braucht der Mensch? (wie Anm. 1), vgl. auch ders., Apropos Liebe, apropos Erkenntnis, Berlin 2004 sowie zuletzt ders., Die Globalisierung des Nihilismus, Freiburg im Breisgau, München 2019. 7

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der – „radikal und trivial zugleich“12 – prinzipielle Probleme sichtbar macht und dazu plausible und pragmatische Antworten in einer klaren, ausgesprochen unprätentiösen Sprache mehr erwägt, als unbedingt anbietet. Was hier als ,minimalR vorgestellt wird, sind tatsächlich ,essentialsR zu den klassischen Fragen der Philosophie insgesamt. Das durch den Titel bekundete Understatement signalisiert zwar Bescheidenheit, kann aber doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier in der Offenheit eines unabschließbaren Reflexionsprozesses eine vollständige Philosophie entfaltet wird. Noch bis ganz kurz vor seinem plötzlichen Tod hat Werner Schneiders an der Fortsetzung seiner Überlegungen weitergearbeitet. Er hat ein reichhaltiges, übrigens nicht nur im deutschen Sprachraum wahrgenommenes Œuvre13 hinterlassen, das wichtige Impulse gesetzt hat und tatsächlich noch längst nicht ausgeschöpft ist. Es wird die Erinnerung an ihn und an sein Denken noch lange Zeit wachhalten.

Schneiders, Wieviel Philosophie braucht der Mensch? (wie Anm. 1), [9]. So ist die Minimalphilosophie (wie Anm. 1) 2008 ins Türkische übersetzt worden und die Hoffnung auf Vernunft (wie Anm. 7) 2009 ins Japanische. Die 1998 bei C.H. Beck in München publizierte Studie Deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts ist 2005 sowohl auf Koreanisch als auch auf Arabisch erschienen. Siehe zum Gesamtwerk von Werner Schneiders das 2005 von Kay Zenker zusammengestellte „Schriftenverzeichnis Werner Schneiders 1961–2004“ in: Schneiders, Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie (wie Anm. 4), 563–571. Die Bibliographie soll in absehbarer Zeit vervollständigt und einem Sammelband veröffentlicht werden, der dem Gedächtnis an Werner Schneiders gewidmet ist. 12

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