Kunstreligion: Band 3 Diversifizierung des Konzepts um 2000 9783110368611, 9783110371093

Was “art as a form of religion” still a viable concept at the end of the 20th century? Following two earlier volumes on

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German Pages 302 [300] Year 2014

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Table of contents :
Vorwort
»Es liegt also viel Romantik in der Luft«. Der ›Feuilletonkatholizismus‹ und die Ästhetisierung der Religion nach 2000
Das Heilige, die Kirche und ›quasi‹ das Jenseits. Totenkult in der Gegenwartsliteratur
Kunstreligiöse Ansätze in einigen Romanen Martin Walsers
Buchstabenfrömmigkeit. Botho Strauß’ nachreligiöse Auratisierung der Schrift
Selbstreflexive Rezeptionsästhetik und ›negative Kunstreligion‹: Zu Dame Gott von Paul Wühr
Brüchige Apotheosen. Neue Genies im deutschen postmodernen Roman
Goa, Peshawar, Kyoto. Christian Krachts Pilgerberichte ›am Ende des Jahrtausends‹
»Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus«. Formen von Kunstreligion bei Klaus Kinski
»Quel mio pubblico martirio«. Kunst, Religion und Autorschaft bei Pier Paolo Pasolini
Der österreichische Katholik Hermann Nitsch
Die blutige Taube. Versuch über Patti Smith
Einar Schleefs Poetik Droge Faust Parsifal (1997) oder Die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Ästhetik der Transzendenz. Christoph Schlingensiefs Parodie der Kunstreligion
Anti-kunstreligiöse Züge in den Opern von Olga Neuwirth und Wolfgang Mitterer
Personenregister
Autorinnen und Autoren
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Kunstreligion: Band 3 Diversifizierung des Konzepts um 2000
 9783110368611, 9783110371093

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Kunstreligion Band 3

Kunstreligion Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung

Band 3 Diversifizierung des Konzepts um 2000

Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Ge´rard Laudin unter Mitwirkung von Viktoria Haß und Anna-Marie Frick

De Gruyter

ISBN 978-3-11-037109-3 e-ISBN 978-3-11-036861-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt ALESSANDRO COSTAZZA / GÉRARD LAUDIN / ALBERT MEIER Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 CLAUDIA STOCKINGER »Es liegt also viel Romantik in der Luft«. Der ›Feuilletonkatholizismus‹ und die Ästhetisierung der Religion nach 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 KAI SINA Das Heilige, die Kirche und ›quasi‹ das Jenseits. Totenkult in der Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 MAURIZIO PIRRO Kunstreligiöse Ansätze in einigen Romanen Martin Walsers . . . . . . . . . . 61 CHRISTOPH DEUPMANN Buchstabenfrömmigkeit. Botho Strauß’ nachreligiöse Auratisierung der Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 CLAUS-MICHAEL ORT Selbstreflexive Rezeptionsästhetik und ›negative Kunstreligion‹: Zu Dame Gott von Paul Wühr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 ALESSANDRO COSTAZZA Brüchige Apotheosen. Neue Genies im deutschen postmodernen Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 DIRK NIEFANGER Goa, Peshawar, Kyoto. Christian Krachts Pilgerberichte ›am Ende des Jahrtausends‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 KATHARINA DERLIN »Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus«. Formen von Kunstreligion bei Klaus Kinski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 GIOVANNA CORDIBELLA »Quel mio pubblico martirio«. Kunst, Religion und Autorschaft bei Pier Paolo Pasolini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

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Inhalt

GERALD STIEG Der österreichische Katholik Hermann Nitsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 BERND AUEROCHS Die blutige Taube. Versuch über Patti Smith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 MARIELLE SILHOUETTE Einar Schleefs Poetik Droge Faust Parsifal (1997) oder Die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik . . . . . . . . . . . 221 LORE KNAPP Ästhetik der Transzendenz. Christoph Schlingensiefs Parodie der Kunstreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 LAURE GAUTHIER Anti-kunstreligiöse Züge in den Opern von Olga Neuwirth und Wolfgang Mitterer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

Vorwort ... we live in the midst of a great religious revival ... Leslie A. Fiedler: Cross the Border – Close the Gap (1969) Das ›Heilige‹ ... ist nicht zu erforschen, nur zu umschreiben, zu erzählen, umschreibend zu erzählen (lerne das Umschreiben) Peter Handke: Phantasien der Wiederholung (1983) Ist seit dem späten 20. Jahrhundert – im Horizont der kritischen Philosophie bzw. der Dekonstruktion – eine Kunstreligion überhaupt noch zu denken? Sollte die immer wieder angekündigte ›Rückkehr des Religiösen‹ nicht auch in den Künsten inhalt- und gestaltgebend sein? Sowohl Karlheinz Stockhausens Oper Montag aus Licht (1984-88), die das Erbe der Romantik bzw. Richard Wagners in vollem Ernst für die Spätmoderne zu retten sucht, als auch Christoph Schlingensiefs oder Einar Schleefs Spektakel (letzterer bei Droge Faust Parsifal in Anlehnung an Wagner), die Traditionslinien der Kunstreligion zwar aufnehmen, doch parodistisch umdeuten, lassen jedenfalls ein breites Spektrum an religiösen und künstlerischen Thematiken und Formen erahnen. Die hier im dritten Band der Akten zur trilateralen Tagungsreihe vorgelegten Untersuchungen verfolgen das Ziel, in der Vielfalt kunstreligiöser Motive und Formen ›um 2000‹ anhand repräsentativer Werke die weitläufige ›Diversifizierung‹ zu dokumentieren, die den Begriff Kunstreligion mittlerweile erfahren hat. Diese Ausfaltung ist im Zusammenhang mit der medialen Präsenz religiöser Themen zu sehen, für die sich – wohl erst seit 2001 – die Rede von einem ›Feuilleton-Katholizismus‹ eingebürgert hat. Vorbereitet wurde diese Tendenz zum einen durch die politische Rolle, die Papst Johannes Paul II. bei der Öffnung des Eisernen Vorhangs gespielt haben soll, aber auch durch sein langes Sterben und die darauf folgende Wahl seines umstrittenen Nachfolgers Benedikt XVI.; zum anderen gilt es an den 11. September 2001 und die damit verbundenen Debatten über religiösen Fundamentalismus zu denken. Religion, die längst als ›Privatsache‹ aufgefasst worden war, ist jedenfalls in die Öffentlichkeit zurückgekehrt und hat eine weitläufige Diskussion über die ›Deprivatisierung‹ des Religiösen bzw. die ›De-Säkularisierung‹ oder ›Postsäkularität‹ (Jürgen Habermas) ausgelöst. Den Anschluss des ›Feuilletonkatholizismus‹ an die Kunst sucht Die Häresie der Formlosigkeit (2002) des

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Gérard Laudin / Albert Meier / Alessandro Costazza

2007 mit dem Büchner-Preis ausgezeichneten Martin Mosebach: Der bekennende Katholik würdigt die ästhetische Kraft der ›alten‹ Liturgie als religiöses Potenzial. Nichtsdestotrotz manifestiert sich daran eine entschiedene Distanz zum Konzept der Kunstreligion um 1800 oder gar zur Kunstreligion um 1900, die zumindest ›Wahres‹ oder ›Heiliges‹ an die Stelle der Religion gesetzt haben. Nunmehr klaffen Religion und Ästhetik auseinander und das ästhetische Erlebnis besetzt die Stelle religiöser Erfahrung, ohne dass die Kunst sakralisiert würde. In zahlreichen Werken gegenwärtiger Literatur, die einen freien Umgang mit christlichen Stoffen pflegen, werden kunstreligiöse Motive variiert. Das gilt für jüngere Romane Martin Walsers ebenso wie für Christian Krachts Reiseberichte, die mit dem Modell der Pilgerfahrt spielen; mit seinen tiefen Wurzeln in der poetischen Tradition lebt das MotivSpektrum des Totenkults im Wandel von einer religiösen zur ästhetischen Akzentsetzung bei Walter Kempowski, W. G. Sebald und Durs Grünbein fort. In Botho Strauß’ Erzählung Kongreß. Die Kette der Demütigungen (1989) vermittelt nicht nur eine kulturgeschichtliche Tradition zwischen Liebe und Religion, sondern auch ein konkretes Verlangen nach Ekstase, nach ›dem Außer-sich-Sein‹ im sexuellen Akt oder in der Andacht; in seiner kunstreligiösen Poetik rekurriert Strauß auf Johann Georg Hamann, dem es mit der Sakralisierung der Rede völliger Ernst gewesen ist, und lässt die Dichtung dennoch nicht aus einer pneumatischen Verbindung mit dem Heiligen hervorgehen. Christoph Schlingensiefs Schauspiele demonstrieren das Ineinander von religiöser und ästhetischer Erfahrung und stellen einen Bezug zur Transzendenz oder gar zum Göttlichen, Heiligen, Numinosen her, kritisieren das Streben nach Wahrheit jedoch in der Demonstration ihrer Unerreichbarkeit. In den Songs von Patti Smith steht demgegenüber das Bemühen um eine Transfiguration des Trivialen und Banalen im Vordergrund. Auffällig häufig finden sich parodistische Umgestaltungen des Künstlers als alter deus: etwa in Patrick Süskinds Welterfolg Das Parfum (1985), aber auch in Robert Schneiders Schlafes Bruder (1992) oder Daniel Kehlmanns Beerholms Vorstellung (1997), deren Protagonisten die Nachtseiten der (Selbst-)Vergöttlichung des Künstlers thematisieren. Als Umkehrung kunstreligiöser Motive lassen sich sowohl Klaus Kinskis Performance Jesus Christus Erlöser (1971) als auch Pier Paolo Pasolinis Ermordung verstehen, die bis heute nicht selten als inszenierter Selbstmord bzw. als in seinem eigenen Werk präfiguriertes Martyrium gedeutet wird. Das Theater des österreichischen Katholiken Hermann Nitsch, das mystisch-ekstatische Erlebnisse heraufbeschwören will, dieses Aufgehen im Kosmos freilich mit kulinarischem Lokalpatriotismus verbindet, macht die parodistische Intention deutlich genug. Noch mehr zeigt sie sich in Opern der öster-

Vorwort

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reichischen Komponisten Olga Neuwirth und Wolfgang Mitterer: Besonders Neuwirth bricht mit der von Schopenhauer herrührenden Auffassung von der Musik als einer Art von Religion, die von den ersten Bayreuther Festspielen der 1870er Jahre über Olivier Messiaens Kompositionen bis hin zu Karlheinz Stockhausen reicht. Neuwirth hebt sich dadurch von der kunstreligiösen Auffassung der Musik ab, indem sie keine Wirklichkeitsferne, sondern ein Mehr an Realität sucht; Elfriede Jelineks Libretti akzentuieren diese Entsakralisierung der Musik erst recht. Paul Wührs Gedichtzyklus Dame Gott (2007) stilisiert kunstreligiöspoetische Rede ironisch zum Gebetsäquivalent. Poetische Theogonie wird dabei als Akt einer Selbsterschaffung der Poesie und als selbstreferenzielle Werkstiftung lesbar, wobei eine ›negative Kunstreligion‹ entsteht, die die sprachlichen und epistemologischen Erfahrungen negativer Theologie poetisierend verinnerlicht.

* Der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Fondation Maison des Sciences de l’Homme (MSH) sowie der Villa Vigoni in Verbindung mit der Università di Trento wissen wir uns zum dritten Mal für die großzügige Förderung unserer trilateralen Kolloquien verpflichtet (18. – 21. April 2011). Für die wunderbare Gastfreundschaft gilt unser Dank der Leitung und allen Mitarbeitern der Villa Vigoni, namentlich ihrem damaligen Generalsekretär Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira sowie unserer wissenschaftlichen Betreuerin Dr. Christiane Liermann. Dank sagen wir zugleich dem Verlag Walter de Gruyter, der nun auch diesem Abschlussband der deutsch-italienisch-französischen Tagungsserie zur Kunstreligion den Weg in die Öffentlichkeit bahnt. Paris – Kiel – Mailand, März 2014

Gérard Laudin Albert Meier Alessandro Costazza

CLAUDIA STOCKINGER

»Es liegt also viel Romantik in der Luft« Der ›Feuilletonkatholizismus‹ und die Ästhetisierung der Religion nach 2000 Eine unerwartete Liebesgeschichte, die knapp ein Jahrzehnt dauerte […], geht wie über Nacht zu Ende. Um das zu verstehen, muss man die sonderbare katholische Konjunktur des Zeitgeistes im späten 20. Jahrhundert begreifen.1

Diese ›Liebe‹ zwischen Feuilleton und katholischer Kirche, deren Ende der Journalist Gustav Seibt im April 2010 verkündete, hatte u. a. er selbst einige Jahre zuvor überhaupt erst ausgerufen: In einem Beitrag für NDR Kultur im November 2005 machte er für das gewachsene Interesse der deutschen Publizistik an der katholischen Kirche die Kategorie des ›Feuilletonkatholizismus‹ stark.2 Die ›neue‹ Faszination am Katholischen beziehe sich, so Seibt, zum einen etwa auf die besondere politische Rolle, die Karol Wojtyła (Johannes Paul II.) im Prozess der Öffnung des Eisernen Vorhangs gespielt haben soll, oder auf dessen öffentliches Sterben, das ihn 2005 endgültig zu einer »Medienikone«3 werden ließ. Zum anderen beziehe sie sich auf Joseph Ratzingers (Benedikt XVI.) so beharrlich wie freundlich vermitteltes Festhalten an einer Tradition, die als wohltuendes Gegenprogramm zu den vermeintlichen ›Häresien der Formlosigkeit‹ (Martin Mosebach) in nachvatikanischer Liturgie wie postmoderner Ästhetik gefeiert wurde. Aus dieser Perspektive lässt sich Kunstreligion in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts als publizistisches Konzept beschreiben, das von (allerdings missverständlich so bestimmten) christlich-katholischen Posi_____________ 1

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Seibt, Gustav: Das Papsttum. Das war die Gegenwart (17). Aufstieg und Fall des katholischen Eleganzphänomens; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 88 vom 17./18. 04. 2010, S. V2/5. – Der vorliegende Beitrag dokumentiert den Stand der Diskussion zum Feuilletonkatholizismus bis April 2011; zwischenzeitlich ist eine Kurzfassung erschienen (Stockinger, Claudia: Feuilletonkatholizismus – ein Nachruf; in: Stimmen der Zeit 137 [2012], Bd. 230, H. 8, S. 551-559). Vgl. Seibt, Gustav: Kontrast zur Wurschtigkeit. Die neue Großmacht Feuilletonkatholizismus. Gesendet in: NDR Kultur (Glaubenssachen), 27. 11. 2005, 08.40 Uhr. Graf, Friedrich Wilhelm: Kampf um Aufmerksamkeit. Die Konkurrenz auf dem Markt der Religionen; in: Herder Korrespondenz Spezial (Oktober 2006): Renaissance der Religion. Mode oder Megathema?, S. 20-24, hier S. 22.

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Claudia Stockinger

tionen geprägt ist. Es wurde weitgehend unbehelligt von der Amtskirche selbst diskutiert, die den ihr attestierten ›Aufstieg‹ höchstens am Rande realisierte und deshalb auch Seibts Diagnose, es sei nun ein ›Fall‹ der Kirche zu beobachten, kaum nachvollziehen konnte. Nicht die Kirche hatte sich (und ihre Positionen) in diesen Jahren verändert, sondern die öffentliche Rede über die Kirche. Weil die Kirche in der Tat »ihrem eigenen, durch die Jahrhunderte, nicht durch Generationen bestimmten Gesetz«4 folgt und langwierige Reformprozesse nur schwer ins Blickfeld des feuilletonistischen Tagesinteresses kommen, gerät Gustav Seibts Argumentation spätestens dann in eine Schieflage, wenn er behauptet, nach einem Jahrzehnt ›katholischer Konjunktur‹ beginne in der Kirche nun wieder »der Alltag«.5 Nicht für die Kirche beginnt ›der Alltag‹, sondern für ein Feuilleton, das sich eine Zeit lang für Katholisches interessiert hatte und deren Vertreter jetzt feststellten, dass diesem Interesse keine Dauer beschieden war. Zu Seibts Einschätzung mag die seit Januar 2010 innerkirchlich angestoßene Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Einrichtungen erheblich beigetragen haben; es mochte nun nicht länger als angesagt gelten, sich zur katholischen Kirche zu bekennen oder sich für sie einzusetzen, aus welchen Motiven auch immer. Für die bis dahin grundsätzlich ästhetisch – und nicht etwa ethisch – bestimmte Faszination des Feuilletons am Katholizismus dürften dergleichen Fragen (etwa Fragen nach einem Fehlverhalten der Institutionen und ihrer Träger) allerdings keine systematische Relevanz haben. Der ›neue Kulturkatholizismus‹, wie Seibt das Phänomen mit Blick auf Jan Roß’ viel gelesene Biographie Johannes Pauls II. auch nennt,6 ging nach 2000 konform mit den u. a. in Philosophie, Theologie und Sozialwissenschaften diskutierten Thesen von einer ›Wiederkehr der Religion(en)‹ in der Gegenwart. Zielte Jürgen Habermas’ Diagnose, wir lebten in einer »postsäkularen Gesellschaft«, eher auf Kontinuitäten im Verhältnis von

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Seibt: Das Papsttum (Anm. 1). Seibt: Das Papsttum (Anm. 1). Vgl. Seibt: Das Papsttum (Anm. 1). – In seiner Biographie entwirft Roß zum hierzulande seinerzeit verbreiteten kritischen Papstbild ein positives Gegenbild, das aus dem Reaktionär einen Humanisten und aus dem Autokraten einen geschickten Medienstrategen macht. In einer großen biographischen Linie wird Wojtyłas Kampf zum einen gegen den Kommunismus, zum anderen gegen die Moderne auf das anthropologische Programm des ausgebildeten Philosophen bezogen und als in sich stimmiges Konzept plausibilisiert (Roß, Jan: Der Papst. Johannes Paul II. Drama und Geheimnis. Berlin 2000).

Der ›Feuilletonkatholizismus‹ und die Ästhetisierung der Religion nach 2000

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Religion und Politik,7 meinten andere Vertreter der genannten Disziplinen Neuaufbrüche im Religiösen beobachten zu können, insbesondere »in globaler Perspektive« – so etwa Hans Joas.8 Bezieht sich also Habermas auf das »Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft«, in der Wissenschaft/Technik und Religion/Kirche(n) gleichzeitig neben- und bei den Gläubigen unter den Staatsbürgern auch miteinander existieren,9 ist andernorts sogar von einem ›religious turn‹ in den Kultur- und Geisteswissenschaften zu lesen10 oder von einem »new sacred ›turn‹ or ›return‹ – for better or worse – in contemporary thought and writing«.11 Wie bei den Jahrhundertwenden ›um 1800‹ oder ›um 1900‹ bestätigt sich aus dieser Sicht auch für die Zeit ›um 2000‹ eine Beobachtung des protestantischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf: »Säkularwenden provozieren mit einer gewissen Regelmäßigkeit religionskulturelle Selbstverständigungsdebatten!«.12 Der Feuilletonkatholizismus gehört zu den Symptomen dieser neuerdings veränderten Rede vom Prozess der Säkularisierung, der gelegentlich unter dem Stichwort ›De-Säkularisierung‹13 firmiert. Als Kronzeugen für eine solche Entwicklung im Bereich der Literatur werden von Kritik und Wissenschaft wiederholt Autoren wie Arnold Stadler (Büchner-Preis 1999), Martin Mosebach (Büchner-Preis 2007) oder Josef Winkler (Büchner-Preis 2008), Andreas Maier, Felicitas Hoppe (Büchner-Preis 2012) oder Sibylle Lewitscharoff (Büchner-Preis 2013) genannt. _____________ 7 8 9

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Habermas, Jürgen: Glaube, Wissen – Öffnung. Zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Eine Dankrede (http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/artikel86740. php; letzter Zugriff: 15. 10. 2013). Joas, Hans: Braucht der Mensch Religion? Freiburg/Br. 2004, S. 123. Habermas formulierte diese Diagnose unter dem Eindruck der Ereignisse von 9/11 in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 2001. Er legt es darin der von ihm so benannten ›säkularen Seite‹ nahe, sich »ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen« zu ›bewahren‹ (Habermas: Glaube, Wissen – Öffnung (Anm. 7)). Eine solche (zunehmende) Sensibilität lässt sich im Bereich der Gegenwartsliteratur in den Folgejahren durchaus beobachten. Vgl. Nehring, Andreas/Valentin, Joachim (Hrsg.): Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen. Stuttgart 2008. Bradley, Arthur/Carruthers, Jo/Tate, Andrew: Introduction. Writing Post-Secularity; in: Spiritual Identities. Literature and the Post-Secular Imagination. Edited by Jo Carruthers und Andrew Tate. Oxford u. a. 2010, S. 1-8, hier S. 1. Graf, Friedrich Wilhelm: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur (2003). München 2007, S. 73. Vgl. Berger, Peter L.: The Desecularization of the World. A Global Overview; in: The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics. Edited by Peter L. Berger. Grand Rapids 1999, S. 1-18.

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Claudia Stockinger

Im Folgenden sollen – in einem ersten Schritt – die Debatten um den Feuilletonkatholizismus im Zusammenhang der These von einer ›Wiederkehr der Religion(en)‹ rekonstruiert werden. Dabei möchte ich mit einem revidierten Konzept von Gerhard Schulz’ ›Erlebnisgesellschaft‹ ein Erklärungsmodell dafür anbieten, aus welchen Gründen ›Religion‹ zu einem relevanten Kontext für den Literaturbetrieb und die Literatur seit etwa der Jahrtausendwende werden konnte. In einem zweiten Schritt möchte ich auf die besondere Rolle Martin Mosebachs für diese Zusammenhänge eingehen, der mit seiner 2007 neu aufgelegten Streitschrift Häresie der Formlosigkeit (zuerst 2002) als Gegenstand wie als Katalysator der Debatte fungierte – in ihrer Polemik auf die Verleihung des Georg-BüchnerPreises 2007 an Mosebach etwa bezeichnete Sigrid Löffler den Autor als den »Wegbereiter und Wortführer« des »ästhetisierende[n] FeuilletonKatholizismus«14. Abschließend ist in einem dritten Schritt zu klären, welche Erkenntnisse über (die) Form(en) der Kunstreligion im 21. Jahrhundert sich aus der Beschäftigung mit dem Feuilletonkatholizismus ergeben.15

I. Der Feuilletonkatholizismus und die Wiederkehr der Religion(en) Bei der Debatte, um die es im Folgenden geht, handelt es sich in erster Linie um eine Debatte des Feuilletons, und das weiß niemand besser als das Feuilleton selbst. In einer hellsichtigen Analyse zieht Thomas E. Schmidt im März 2007 eine Zwischenbilanz: »Die Debatte ist munter. Anders als vor zehn Jahren ist Religion wieder in der Öffentlichkeit. Aber vielleicht ist sie auch nur dort«. Nicht Theologen oder Soziologen beanspruchten jetzt die »Deutungshoheit zum Thema«, sondern Journalisten – »das ist auch neu«, konstatiert Schmidt, »denn Journalisten galten lange als _____________ 14 15

Löffler, Sigrid: Als man zum Kitsch noch Horreur sagte. Der aufhaltsame Aufstieg des Martin Mosebach zum Georg-Büchner-Preisträger 2007. Würdigung einer exemplarischen Karriere; in: Literaturen 10 (2007), S. 4-8, hier S. 5. In einem vierten Schritt wären – etwa mit Andreas Maiers Frankfurter Poetik-Vorlesungen Ich (2006) und mit Thomas Hürlimanns Novelle Fräulein Stark (2001) – poetologische und poetische Beispiele für die Frage nach der Brauchbarkeit der von Seibt vorgeschlagenen Kategorie für die Analyse des Verhältnisses von Literatur und Religion nach 2000 zu diskutieren. Dies soll an anderer Stelle nachgeholt werden.

Der ›Feuilletonkatholizismus‹ und die Ästhetisierung der Religion nach 2000

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religiös unmusikalisch, wenn nicht als taub«.16 Was Max Weber 90 Jahre zuvor auf das Verhältnis von Wissenschaft und Religion bezog, wird jetzt für die Publizistik in Anspruch genommen. Hatte Weber in seinem 1917 gehaltenen Vortrag Wissenschaft als Beruf unvereinbare Differenzen »zwischen der Wertsphäre der ›Wissenschaft‹ und der des religiösen Heils« behauptet, die »dem inneren Interesse eines wirklich religiös ›musikalischen‹ Menschen« notwendig zuwiderlaufen, ohne dass dieses Dilemma zu lösen wäre,17 so waren ›Religion‹ oder gar das eigene religiöse Bekenntnis im ausgehenden 20. Jahrhundert überhaupt kein (öffentlich verhandelbares) Thema mehr. »Tabus gibt es keine mehr, außer Gott«, meinte der deutsche Schriftsteller Arnold Stadler noch 2002 und fügte hinzu, man sei eher bereit, das Gegenüber zu sexuellen Handlungen aufzufordern als zu einem öffentlichen Tischgebet – in religiösen Angelegenheiten ist die Gefahr offensichtlich groß, sich lächerlich zu machen.18 Mit der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft gab es längst »keine nichtreligiösen Gründe mehr […], sich zu einer Religion zu bekennen«;19 alle religiösen Entscheidungen wurden ins Private verschoben, Religion wurde dadurch Teil des Bereichs der Freizeit und konkurrierte dort mit anderen Angeboten wie ›Sport‹, ›Kino‹ etc.20 Schon aus diesen Gründen hatte ein solches Thema gerade in intellektuellen Kreisen nichts zu suchen – soweit der Konsens. 2007 aber führte »Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI.« laut einem Ranking des ›Magazins für politische Kultur‹ Cicero die Liste der deutschsprachigen Intellektuellen an,21 und Thomas E. Schmidts zeitgleicher Befund entsprach dieser Einschätzung: »Religion ist zum Lieblingsthema der kulturellen Eliten geworden«22 – ohne dass dafür aus der Innensicht reli_____________ 16 17 18 19 20

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Schmidt, Thomas E.: Jesus und Amen; in: Die Zeit Nr. 13 vom 22. 03. 2007, S. 25. Weber, Max: Wissenschaft als Beruf (1919). Nachwort von Friedrich Tenbruck. Stuttgart 2006, S. 43 und 41. Stadler, Arnold: ›Tabus gibt es keine mehr, außer Gott‹; in: Literaturen 11 (2002), S. 24-27, hier S. 24. Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft. Herausgegeben von André Kieserling. Frankfurt/M. 2000, S. 136. Vgl. Luhmann, Niklas: Funktion der Religion (1977). Frankfurt/M. 1982, S. 232-242. – In einer Formulierung des (nach eigener Auskunft ebenfalls ›religiös unmusikalischen‹) Jürgen Habermas: »Bisher mutet ja der liberale Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten« (Habermas: Glaube, Wissen – Öffnung (Anm. 7)). Vgl. Anonym: Aufstieg der Optimisten; in: Cicero online vom 24. 04. 2007 (http://www.cicero.de/aufstieg-der-optimisten/37978; letzter Zugriff: 22. 11. 2013). Schmidt: Jesus und Amen (Anm. 16), S. 25.

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Claudia Stockinger

giöser Erfahrung gewonnene Kenntnisse vorausgesetzt werden müssen.23 Insbesondere die katholische Prägung hatte es dem Feuilleton angetan. Dass also ›Gott‹ kein Thema sein könne, mochte für Partygespräche gelten; für die publizistischen Debatten in den Feuilletons galt es ebenso wenig wie (nebenbei sei es bemerkt) für die Literatur. Wie in den Bereichen Politik und Gesellschaft vollzog sich die Debatte über die »›Deprivatisierung‹ des Religiösen«24 auch im Bereich der Kultur. Noch Ende März 2010 reagierte die Wochenzeitung Die Zeit darauf, indem sie ein eigenes Ressort zum Thema ›Glauben & Zweifeln‹ einrichtete.25 – Was war geschehen? Feuilletonkatholizismus Einige Daten sind hier zu nennen, die (u. a.) den Hintergrund der Debatte bilden: − die von Bassam Tibi und Theo Sommer angestoßene und seit Ende der 1990er Jahre regelmäßig geführte Auseinandersetzung über die Frage nach einer deutschen Leitkultur, die vom Thema der Zuwanderung ausging und sich auf das Selbstverständnis Deutschlands bzw. der Deutschen allgemein bezog;26 − die Debatte über den (neuen religiösen) Fundamentalismus nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001; − die Medienaufmerksamkeit auf das öffentliche Sterben von Papst Johannes Paul II. sowie auf die Wahl des deutschen Kardinals Joseph Ratzinger zu Papst Benedikt XVI. 2005, fortgesetzt aus Anlass des Weltjugendtags in Köln (ebenfalls 2005) sowie aus Anlass des Papstbesuchs in Bayern 2006;

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»[Z]u Religion und Christentum kann man als Intellektueller auch dann das Wort ergreifen, wenn man sich selbst als ›religiös unmusikalisch‹ erfährt. […] Die theoretisch anspruchsvolle Aufgabe, Religion zu deuten, setzt aber mehr als nur elementare Religionsbildung und religionsanalytische Unterscheidungsfähigkeit voraus. Gefordert ist auch die Kompetenz, soweit theoretisch überhaupt möglich, Binnenperspektiven religiösen Bewusstseins nachzuvollziehen« (Graf: Die Wiederkehr der Götter (Anm. 12), S. 17). – »Ein Leben mit und in Gott« gilt »im Land der lauen Geister immer noch als verhaltensauffällig«, so der religiöser Umtriebe unverdächtige Thomas E. Schmidt (Schmidt: Jesus und Amen (Anm. 16), S. 25). Graf: Die Wiederkehr der Götter (Anm. 12), S. 53. Vgl. Die Zeit Nr. 14 vom 31. 03. 2010, S. 55-60. Vgl. Tibi, Bassam: Europa ohne Identität. Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. München 1998; Sommer, Theo: Der Kopf zählt, nicht das Tuch. Ausländer in Deutschland. Integration kann keine Einbahnstraße sein; in: Die Zeit Nr. 30, 16. 07. 1998, S. 3; seitdem immer wieder aufgegriffen, etwa 2000 von Friedrich Merz, 2005 von Norbert Lammert, oder 2007 von Ronald Pofalla; vgl. dazu auch http://www.leitkultur.de/ links.html (letzter Zugriff: 22. 04. 2011).

Der ›Feuilletonkatholizismus‹ und die Ästhetisierung der Religion nach 2000

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− das enorme Medieninteresse an Richard Dawkins atheistischem Pamphlet Der Gotteswahn 2007; − die Debatte über die ›Rückkehr zur lateinischen Messe‹ (bezogen auf Benedikts XVI. ›Motu Proprio‹ Summorum Pontificum vom 7. Juli 2007, das die vorkonziliar›tridentinische‹ Form der Messe als außerordentlichen Ritus wieder einsetzte); − die Debatte über die Versöhnungsgeste des Vatikan gegenüber jenen Bischöfen der rechtskonservativen Pius-Bruderschaft im Januar 2009, die 1988 gültig, aber unerlaubt geweiht und deshalb exkommuniziert worden waren;27 − die Debatte über das Angebot eines erleichterten Übertritts an Mitglieder der anglikanischen Konfession seit Oktober 2009, die mit ihrer Ursprungskirche in Fragen der Frauenordination sowie der Haltung zur Homosexualität nicht übereinstimmten.

Erstmals verwendet wurde der Begriff des ›Feuilletonkatholizismus‹ allerdings schon im Jahr 2001. Im Editorial zum Magazin der Berliner Zeitung stellte der Journalist Jens Bisky am 19. Mai 2001 mit einiger Verblüffung fest, dass der Katholizismus, der selbst weiterhin »auf seiner heiteren, menschenfreundlichen Verachtung der Gegenwart« beharre, in den Feuilletons nicht länger als eine rückständige Randerscheinung der Moderne gelte, die sich über kurz oder lang ohnehin überleben werde. Vielmehr ›grassiere‹ in den deutschen Feuilletons, vor kurzem noch Hochburgen des Fortschritts, […] im Augenblick die Liebe zum Katholischen, das vielen als Inbegriff des Veralteten schlechthin gilt. Verwundern kann der Feuilletonkatholizismus nicht. Der Kunstliebhaber wie der Katholik haben einen Bund mit der Tradition geschlossen und blicken skeptisch auf das betriebshaft Neue.

Bei allem feinen Gespür für den Zeitgeist trägt der Artikel noch die bezeichnende Überschrift ›Im Untergrund‹: Wenngleich sowohl gültig als auch erlaubt, so doch mehr oder weniger im Verborgenen feierte eine kleine Anzahl an Katholiken auch in Berlin die Messe nach dem alten Ritus, wie Ijoma Mangold in derselben Ausgabe berichtete.28 Was diese Christen mit bestimmten Vertretern des Feuilletons verbindet, ist die Faszination für elitäre Praktiken ebenso wie das Interesse an überkommenen Formen, die für ›wahrer‹, ›heiliger‹, ›schöner‹ gehalten werden als die im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils reformierte Liturgie; was sie von diesen unterscheidet, ist, dass sie es ernst meinen. Auf dieser Differenz jedenfalls beharrt das Feuilleton selbst, dessen Urteil _____________ 27

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Die Exkommunikation wurde am 21. 01. 2009 von Benedikt XVI. zurückgenommen; die Bischöfe und Priester der Bruderschaft bleiben weiterhin suspendiert; vgl. dazu Beinert, Wolfgang (Hrsg.): Vatikan und Pius-Brüder. Anatomie einer Krise. 2., durchgesehene Auflage. Freiburg 2009. Vgl. Bisky, Jens: Im Untergrund; in: Berliner Zeitung Nr. 116 vom 19. 05. 2001, S. M01.

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über die selbsterzeugte Kategorie des Feuilletonkatholizismus erstaunlich einhellig ausfällt: Mit christlicher Überzeugung habe das alles »nichts zu tun«; der Feuilletonkatholizismus finde »allenfalls auf dessen Trittbrett statt« (Thomas E. Schmidt);29 es werde zwar viel von Religion geredet, insbesondere aber von denjenigen, »die nicht glauben« (Isolde Charim); während der deutsche Normalkatholik »erschüttert« sei »über die Wahl Kardinal Ratzingers«, ergingen sich »manche Intellektuelle in Unterwerfungsgesten und Selbstgeißelungsritualen, die einen Schiiten in Kerbala vor Neid erblassen lassen würden« (Mariam Lau); und man müsse »bei manchem der allerneuesten Papstfans unter den Medienkollegen schon murmeln: ›ausgerechnet der‹« (Nils Minkmar).30 – Was also zeichnet den Feuilletonkatholizismus aus? Seit der Prägung des Begriffs durch den kritischen Journalismus im Feuilleton der Berliner Zeitung um die Jahrtausendwende gehört Gustav Seibt zu den wichtigsten Beiträgern zur Debatte;31 nicht selten wird das Wort vom ›Feuilletonkatholizismus‹ ihm gleich ganz zugeschrieben.32 Durchgesetzt hat sich der Begriff erst einige Jahre nach seiner Prägung. Insbesondere seit dem ›Zwei-Päpste-Jahr‹ 2005 taucht er immer wieder in den Feuilletons auf33 und wird darin sogar wiederholt als »neue Großmacht« bezeichnet, die sich als ein »ästhetisches Phänomen« eher von der »Wurschtigkeit der liberalen Gegenwart« abzuheben beabsichtige, als sich _____________ 29 30 31

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Schmidt: Jesus und Amen (Anm. 16). Stellungnahmen in: Der Standard vom 25. 04. 2005 (http://derstandard.at/2025806; letzter Zugriff: 22. 11. 2013). Neben Gustav Seibt und Jens Bisky sind hier u. a. Stephan Speicher oder Adam Krzeminski zu nennen, dessen Besprechung von Roß’ Johannes-Paul-II.-Biographie bereits 2000 den zentralen Vorbehalt gegen das feuilletonkatholische Bekenntnis formulierte: »Jan Roß glaubt an den Papst, aber nicht an das, woran der Papst glaubt« (Krzeminski, Adam: Du bist der Fels, auf dem ich eine Kirche besichtige; in: Berliner Zeitung Nr. 242, 17. 10. 2000, S. L10). Vgl. Graf: Kampf um Aufmerksamkeit (Anm. 3), S. 23. Gesamtliste in Kurztiteln der Fundorte seit der Erstnennung bis 2010: Berliner Zeitung vom 19. 05. 2001; Die Welt vom 27. 06. 2001; Süddeutsche Zeitung vom 16. 06. 2005; Süddeutsche Zeitung vom 02. 06. 2005; Berliner Morgenpost vom 13. 07. 2005; Der Spiegel vom 08. 08. 2005; Die Welt vom 25. 08. 2005; Frankfurter Rundschau vom 30. 11. 2005; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. 12. 2005; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 02. 2006; Berliner Zeitung vom 12. 09. 2006; Die Zeit vom 21. 09. 2006; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 11. 2006; Die Zeit vom 22. 03. 2007; taz vom 08. 06. 2007; Die Zeit vom 14. 06. 2007; Der Tagesspiegel vom 09. 07. 2007; Welt am Sonntag vom 02. 09. 2007; Focus vom 15. 10. 2007; Die Zeit vom 16. 10. 2008; Die Zeit vom 05. 02. 2009; Süddeutsche Zeitung vom 25. 04. 2009; Süddeutsche Zeitung vom 17. 04. 2010; taz vom 30. 04. 2010; Die Zeit vom 29. 07. 2010.

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tatsächlich für eine ›erneuerte Frömmigkeit‹ einzusetzen.34 Das Interesse ›der Welt‹ an der Kirche speist sich aus der Faszination an der Begegnung mit etwas ganz Anderem. Aus Anlass des Papstbesuchs in Bayern im September 2006 schreibt Stephan Speicher in der Berliner Zeitung: Dieser Papstbesuch ist nicht unbedingt ein historisches Datum. Selbst die Bischöfe bereiten sich nicht auf eine Zeit massenhafter Kircheneintritte vor. Mit Grund wird von einem grassierenden Feuilletonkatholizismus gesprochen, einem Interesse an der Religion, dem der Ernst fehlt. Und doch ist aufschlussreich, dass es ein solches Interesse gibt und auch länger anhaltend, als es die bloße Mode erregen könnte. Die Kirche – und die katholische noch mehr als die evangelische – kommt aus einer anderen Welt als der, mit der wir uns sonst herumschlagen.35

Noch näher ›am Puls der Zeit‹ beschäftigte sich die Zeitschrift Literaturen im Dezemberheft 2005 mit dem Schwerpunkt »Wie gewaltig ist der Glaube?«. Die segnenden Hände auf dem Cover – dem Beobachter der Medienberichterstattung dieses Jahres unschwer als Hände Benedikts XVI. erkennbar – verbinden das Thema ›Glaube‹ schon ikonographisch mit dessen christlicher, genauer: römisch-katholischer Ausprägung. In diesem Heft bezeichnet Gustav Seibt – in Aushandlung mit seinen Gesprächspartnern Gesine Schwan und Rüdiger Safranski – den ›FeuilletonKatholizismus‹ als eine »Intellektuellen-Religiosität, die ästhetische Züge trägt«. Er führe »bestimmt nicht dazu, dass seine Anhänger sich an irgendwelche Gebote halten«; vielmehr sei diese »ästhetisierende Haltung […] im Kern etwas intellektuell Romantisches«.36 Das genuin ›romantische‹ Potenzial des Feuilletonkatholizismus besteht m. E. zum einen in erstaunlichen biographischen Parallelen, denen zufolge sich v. a. westdeutsche Intellektuelle in den letzten Jahren verstärkt und in fortgeschrittenem Lebensalter zur katholischen Konfession entweder überhaupt zugewandt oder jedenfalls öffentlich bekannt haben – wie dies vergleichbar in den Konversionen romantischer Autoren (Adam von Müller, 1805; Friedrich und Dorothea Schlegel, 1808; Zacharias Werner, 1811) bzw. an deren programmatischer (Wieder-) Ausrichtung am Katholizismus (Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff) dokumentiert ist. Zum anderen besteht eine literaturgeschichtliche Parallele in der Rückbindung des religiösen Interesses an v. a. ästhetische Begründungs_____________ 34 35 36

Seibt, Gustav: Wie katholisch war Dante? Oh, gefährlich: Martin Mosebach und Bischof Huber in Berlin; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 136 vom 16. 06. 2005, S. 16; vgl. auch Seibt, Gustav: Kontrast zur Wurschtigkeit (Anm. 2). Speicher, Stephan: Die Dinge mit Gott, in: Berliner Zeitung Nr. 213 vom 12. 09. 2006, S. 4. ›Wie hast du’s mit der Religion?‹ Im Literaturen-Gespräch antworten Gesine Schwan, Rüdiger Safranski und Gustav Seibt auf die Gretchen-Frage; in: Literaturen 12 (2005), S. 14-19, hier S. 15.

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zusammenhänge, die sowohl den romantischen als auch den feuilletonkatholischen Revisionismus prägt: »Jedenfalls erinnert der gegenwärtige Feuilleton-Katholizismus, der für die lateinische Messe streitet – aus ästhetischen, nicht aus theologischen Gründen – sehr an Schleiermachers Projekt der Ästhetisierung der Theologie. Es liegt also viel Romantik in der Luft«.37 Zumeist kritisch äußern sich Beiträger, die das Phänomen aus der Perspektive des (deutschen) Protestantismus kommentieren – etwa die »gelernte Protestantin« Ina Hartwig, die sich am 30. November 2005 in der Frankfurter Rundschau über den »Feuilletonkatholizismus« und die »mehr oder weniger offen praktizierte Sexualität katholischer Geistlicher« auslässt,38 oder Robert Leicht, der mit einem Artikel zum Thema Wir sind Papst! Aber wir haben keinen. Der Protestant und die Sichtbarkeit seiner Kirche auf die verstärkte institutionelle und mediale Präsenz des Katholizismus reagiert.39 Friedrich Wilhelm Graf betrachtet in einem Artikel die Öffentlichkeitsarbeit des Vatikans, die in erster Linie darauf ziele, die »Aufmerksamkeitsrenditen« medienpolitisch wirksam zu erhöhen. Der Feuilletonkatholizismus fungiert aus dieser Perspektive als eine Art Erfüllungsgehilfe der päpstlichen Politik: In Deutschland wird diese Kommunikationsstrategie von den Jungintellektuellen eines avantgardistischen ›Feuilletonkatholizismus‹ (Gustav Seibt) unterstützt, das heißt, kirchenrechtlich prägnant, von schreibenden ›Laien‹, die von anderen politisch prominenten ›Laien‹ dann pünktlich zur Ankunft des Papstes in seinem katholischen Weißblauhimmelbayern mehr Gehorsam gegenüber dem Lehramt einklagen.40

Ansonsten aber besinnt sich die Zunft der Theologen einigermaßen verspätet auf ihr Rederecht in der Debatte. Die Deutschlandfunk-Sendung Aus Religion und Gesellschaft steuert hierzu am 5. Februar 2008 einen Beitrag mit dem bezeichnenden Titel bei: »Das Schweigen der Lämmer. Theologieprofessoren wollen nicht länger den Intellektuellen das Feld binnenkirchlicher Diskussionen überlassen«. _____________ 37 38 39 40

Vgl. Fuhr, Eckhard: Romantik liegt jetzt in der Luft; in: Die Welt online vom 03. 09. 2007 (http://www.welt.de/kultur/article1149542/Romantik_liegt_jetzt_in_der_Luft.html; letzter Zugriff: 22. 11. 2013). Hartwig, Ina: Keusch; in: Frankfurter Rundschau Nr. 279 vom 30. 11. 2005, S. 15. Vgl. Leicht, Robert: Wir sind Papst! Aber wir haben keinen. Der Protestant und die Sichtbarkeit seiner Kirche; in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 103 (2006), S. 306-318. Graf: Kampf um Aufmerksamkeit (Anm. 3), S. 23. – Vgl. auch Körtner, Ulrich H. J.: Profil des Christlichen schärfen. Ein protestantischer Blick auf die vermeintliche Rückkehr der Religion; in: Herder Korrespondenz Spezial (Oktober 2006): Renaissance der Religion. Mode oder Megathema?, S. 24-27.

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Auf den falsch verstandenen Katholizismus des Feuilletons reagiert 2008 ebenfalls Hans Joachim Meyer, der damalige Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, das die Vertretungen der deutschen katholischen Laien koordiniert. Das Selbstverständnis des Laienkatholizismus ziele auf Eigenverantwortung; seine Grundlage finde es in den Kerngedanken der Kirchenkonstitution Lumen Gentium sowie des Dekrets über das Laienapostolat Apostolicam actuositatem des Zweiten Vatikanischen Konzils.41 Aus Sicht des Laienkatholizismus sendet der Feuilletonkatholizismus Signale aus, die hinter den Status Quo des Konzils zurückweisen und mit der Realität katholischer Lebenspraxis in Deutschland nach 2000 längst nichts mehr zu tun haben. Das Katholische findet demnach bei einem davon attrahierten Feuilleton Anklang, weil es dem heimatlos gewordenen Individuum Ordnung und Stabilität verheißt, wie diese sich etwa institutionell in der Hierarchie der Ämter oder ästhetisch in der Liturgie abbilden. Man bevorzuge deshalb eine »Kirche der Magie«, »jedenfalls der undurchschaubaren und unveränderlichen Form«, wie man sie in der vorkonziliaren Messe zu finden behaupte.42 Die aktuelle »Kirche des geschwisterlichen Dialogs und der mündigen Christen« aber sei dieser Sichtweise fremd.43 Meyer hält den Feuilletonkatholizismus für ein ›Zeitgeist‹-Phänomen.44 Eine lange Dauer oder nachhaltige Wirkung dürfte davon also nicht zu erwarten sein. (Und in der Tat soll diese Phase ja schon 2010 wieder vorüber gewesen sein, folgt man – wie anfangs zitiert – Gustav Seibt.)

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Vgl. dazu Rahner, Karl/Vorgrimler, Herbert (Hrsg.): Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils. Allgemeine Einleitung – 16 spezielle Einführungen – ausführliches Sachregister (1966). Freiburg/Br. u. a. 2008, S. 134f. (über das ›gemeinsame Priestertum aller Gläubigen‹). Meyer, Hans Joachim: Katholische Kirche in Deutschland. Laienräte – Basis für die Zukunft. Festrede zum 40-jährigen Bestehen des Diözesanrates der Katholiken im Bistum Hildesheim, 20. 01. 2008 (http://www.bistum-hildesheim.de/bho/dcms/sites/bistum/ bistum/gremien/dioezesanrat/dok/dr_40jahrestag_meyer.pdf), S. 11; vgl. auch: »Heutzutage gilt es im Feuilleton als modisch, sich als Anhänger der Tridentinischen Messe zu gerieren, auch wenn man der Kirche fern steht oder ihr gar nicht angehört – offenbar, weil man sich in der Welt als Individualist nicht mehr zurechtfindet und sich darum dem Dunklen und Mystischen überantwortet«. Meyer: Katholische Kirche in Deutschland (Anm. 42), S. 11. Vgl. auch: »Man will die Kirche nicht als miteinander denkende und gemeinsam handelnde Gemeinschaft sehen, sondern nur als gläubige Masse oder als heiligen Rest« (Meyer: Katholische Kirche in Deutschland (Anm. 42), S. 10). Meyer: Katholische Kirche in Deutschland (Anm. 42), S. 10.

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Die Wiederkehr der Religion(en) Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Feuilletonkatholizismus fällt in eine Zeit, in der mit der Absage an die These von der Säkularisierung (oder zumindest mit deren ›Aufweichung‹) ein Grundkonsens moderner Gesellschaften wiederholt in Frage gestellt wird.45 Stattdessen ist jetzt von einer »De-Säkularisierung« (Peter L. Berger), einer »Re-Spiritualisierung« (Matthias Horx), einer »De-Privatisierung« (José Casanova) aller Lebensbereiche die Rede oder auch von der »Rückkehr der Religionen« (Martin Riesebrodt).46 Allerdings gehen einige der Beobachter der Zusammenhänge davon aus, dass diese Entwicklungen selbst Teil des Prozesses der Säkularisierung sind, diesem also nicht zuwiderlaufen. Nach Charles Taylor ist der Status einer dritten Form von Säkularität erreicht, wenn der (christliche) Glaube als eine Option unter vielen anderen – religiösen oder nichtreligiösen – Optionen existiert und akzeptiert wird. Genau dies beschreibe die Situation des 21. Jahrhunderts, in der ihr »Glaube auch für besonders religiöse Menschen nur eine menschliche Möglichkeit neben anderen ist [Hervorhebung C. S.]«.47 Die Entscheidung für oder gegen Religion ist im Zeitalter von ›Säkularität 3‹ oder – mit Taylor – in der aktuellen »expressivistischen Kultur«48 stets dem Primat der Selbstverwirklichung unterworfen.49 Die Forderung _____________ 45

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Einen differenzierten Überblick über die Positionen bietet Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt/M. – New York 2009, S. 27-42. – Zur Kritik an Knoblauch vgl. Pollack, Detlef: Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II. Tübingen 2009, S. 78/Anm. 17. Zitiert nach Pollack, Detlef: Die Wiederkehr des Religiösen. Eine neue Meistererzählung der Soziologen; in: Herder Korrespondenz Spezial (Oktober 2006): Renaissance der Religion. Mode oder Megathema?, S. 6-11, hier S. 6. Taylor, Charles: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Frankfurt/M. 2009, S. 13f. und S. 15. – Zu den ersten beiden Stufen der Säkularität nach Taylor vgl. zusammenfassend Stockinger, Claudia: Poesie und Wissenschaft als Religion. Kunstreligiöse Konzepte im 19. Jahrhundert (Henry James, Theodor Storm); in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Viktoria Haß, Aiko Kempen, Martina Schwalm und Ingo Vogler. Band 2: Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850. Berlin – Boston 2012, S. 13-41, hier S. 18f. Taylor: Ein säkulares Zeitalter (Anm. 47), S. 857 u. ö. Vgl. Taylor: Ein säkulares Zeitalter (Anm. 47), S. 846. – Bereits in den 1960er und 1970er Jahren lässt sich, wie Nicolai Hannig nachgewiesen hat, im publizistischen Sektor eine »öffentliche Individualisierung des Glaubens« beobachten. Fragen der Art ›Wie stehen Sie zum Christentum?‹ werden demnach in Reportagen, Serien und Umfragen verhandelt (vgl. die Umfrage des Jugendmagazins Twen 5/1961: ›Brauchen wir einen Gott?‹), die dem Einzelnen damit die Möglichkeit nahelegen, ein eigenständiges Verhältnis zum Glauben zu entwickeln, der durchaus bereits synkretistische Züge annehmen kann. An solchen Bei-

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nach Individualität in der Wahl wird demnach nicht nur dann aufrecht erhalten, wenn – etwa beim Kauf eines Markenprodukts je nach Zugehörigkeit zu einer bestimmten peer group – die individuelle Entscheidung der Entscheidung einer größeren Gruppe offensichtlich entspricht;50 sie bestimmt auch den Meinungsbildungsprozess in der je eigenen Haltung zur Religion. »Das religiöse Leben, die religiöse Praxis, an der ich mich beteilige«, so Taylor, »muß nicht nur von mir gewählt worden sein, sondern sie muß mich auch ansprechen – sie muß im Sinne meiner spirituellen Entwicklung deutbar sein«.51 Das je eigene Verständnis von Spiritualität vermag dabei ganz ohne die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Institution oder Kirche auszukommen; selbst die Bindung an Religion(en) überhaupt ist dafür keine Voraussetzung (die Stichworte hierfür lauten »›Spiritualität ohne Religion‹«52 oder »believing without belonging«).53 Jürgen Habermas bietet mit dem Begriff der ›Postsäkularität‹ eine andere Bezeichnung für Taylors ›Säkularität 3‹ an. Wie schon in seiner Friedenspreis-Rede von 200154 bezieht sich Habermas auch im Gespräch mit Joseph Kardinal Ratzinger am 19. Januar 2004 in München auf das aus seiner Sicht unbestreitbare »Phänomen des Fortbestehens der Religion in einer sich weiterhin säkularisierenden Umgebung«.55 Sowohl Taylor als auch Habermas tragen demnach der Tatsache Rechnung, dass gegenwärtig religiöse und säkulare Überzeugungen in vielfältiger Ausprägung gleichzeitig und gleichberechtigt existieren. Die Vorstellung, in einer postsäkularen Gesellschaft bestehe die Religion gar nicht als solche fort, sondern werde

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spielen zeigt sich, »dass die Bastelei intensiv im öffentlich Raum begleitet« wurde (Hannig, Nicolai: Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945-1980. Göttingen 2010, zit. S. 310, 312-315, 317). Was nur zwei Jahrzehnte später eine selbstverständliche Forderung ist (die Selbstverwirklichung durch Wahl), nimmt hier seinen (publizistisch gestützten) Anfang. »Daß ich Laufschuhe von Nike kaufe, sagt vielleicht etwas darüber aus, wie ich sein oder erscheinen möchte, nämlich wie ein starker Akteur, der Just do it zu seinem Motto machen kann. […] Auf diese Weise tue ich mich, indem ich meine ›Individualität‹ zum Ausdruck bringe, mit Millionen von anderen Menschen zusammen« (Taylor: Ein säkulares Zeitalter (Anm. 47), S. 804f.). Taylor: Ein säkulares Zeitalter (Anm. 47), S. 811. Taylor: Ein säkulares Zeitalter (Anm. 47), S. 895. Davie, Grace: The Sociology of Religion. London u. a. 2007. Vgl. Habermas: Glaube, Wissen – Öffnung (Anm. 7). Habermas, Jürgen/Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Mit einem Vorwort herausgegeben von Florian Schuller. Freiburg/Br. u. a. 2005, S. 28.

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auf ihre moralischen Implikationen hin befragt und darauf letztlich auch reduziert,56 erfasst demnach nur einen kleinen Ausschnitt des Phänomens. Die postsäkulare Gesellschaft, so meine erste These, ermöglicht den Feuilletonkatholizismus, der zugleich den Status Quo der gesellschaftlichen Postsäkularität überhaupt beobachtbar macht und zu veranschaulichen vermag. Wenn nun aber die Individualisierung des Umgangs (u. a.) mit Religion zu deren Merkmalen gehört, liegt es nahe, zur soziologischen Erklärung des Feuilletonkatholizismus Modelle der Erlebnisgesellschaft heranzuziehen, wie diese – ausgehend von Entwicklungen seit den 1970er Jahren57 − für die zweite Hälfte der 1980er Jahre von Gerhard Schulze entworfen wurden. »Erlebnisgesellschaft heißt: Intrinsische Motive siegen über extrinsische, Innenorientierung über Außenorientierung«, so Schulze in seinem Vorwort zur zweiten Auflage seiner Studie von 2005.58 Im Mittelpunkt steht die Erlebnisorientierung des auf Selbstbeschäftigung verwiesenen Einzelnen,59 der sich der Zumutung unentwegt auf ihn einströmender Möglichkeiten ausgesetzt sieht; er vermag diese nur dadurch abzuwehren, dass er sie sondiert und eine je eigene – an der Steigerung von ›Genuss‹ orientierte60 – Auswahl trifft.61 Geht Schulze noch davon aus, dass in der Erlebnisgesellschaft eine Vielfalt von ›Geschmacksgruppen‹ gleichzeitig, aber ohne Verbindung zueinander existiert,62 lässt sich seit der Jahrtausendwende eine Radikalisierung dieser (durchaus positiven) Entwicklung zur Auswahl aus gleichberechtigten Angeboten beobachten. Das Interesse an Inhalten weicht – wie in Abschnitt 2 am Beispiel Mosebach zu zeigen sein wird – dem Interesse an Formen; die Stile werden austauschbar; das zuvor in inhaltlicher Hinsicht für unvereinbar Gehaltene wird kompatibel.63 _____________ 56 57 58 59 60 61 62 63

Vgl. Höhn, Hans-Joachim: Postsäkulare Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel. Paderborn 2007, S. 21. Zur ›Pluralisierung des Religiösen in den 1970er Jahren‹ vgl. Hannig: Die Religion der Öffentlichkeit (Anm. 49), S. 358-386. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart (1992). Mit einem aktuellen Vorwort des Autors. Um den Anhang gekürzte und mit einem neuen Vorwort versehene 2. Auflage. Frankfurt/M. – New York 2005, S. VII. Vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft (Anm. 58), S. 541. Vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft (Anm. 58), S. 545. – ›Genuss‹ bezieht sich hierbei nicht ausschließlich auf hedonistische Erlebnisformen, sondern schließt auch asketische mit ein. Vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft (Anm. 58), S. 543. Vgl. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft (Anm. 58), S. 541. Dies illustriert eine Stelle aus Oliver Maria Schmitts Roman Anarchoschnitzel schrieen sie. Ein Punkroman für die besseren Kreise (Berlin 2006), wo ein Altpunker auf der Suche nach den Mitgliedern seiner ehemaligen (Schüler-)Band mit einem zwölfjährigen Mädchen spricht: »Ich fragte, ob es eigentlich Punk möge. Ginge so, war die Antwort, Rap und HipHop fän-

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Zum einen also, so meine zweite These, folgen die Anhänger des Feuilletonkatholizismus dem ›Imperativ‹ der Erlebnisgesellschaft, den Stephan Porombka mit einer prägnanten Formulierung auf den Punkt bringt: »›Verwirkliche Dich selbst durch Deine Wahl‹«.64 Ergebnis ist eine ›Patchwork-Religion‹, die sich (dem Synkretismus der postsäkularen Gesellschaft entsprechend) für das je eigene Programm Brauchbares aus unterschiedlichen Angeboten zusammensammelt. Dass die so entstehenden Konzepte Kritiker nicht überzeugen, sondern polemische Reaktionen geradezu provozieren, verwundert nicht. In der publizistischen Debatte über den Feuilletonkatholizismus werfen sich sowohl die Gegner (die den Begriff als polemischen allererst geprägt haben) als auch die Befürworter (die sich allerdings selbst nicht so titulieren) wechselseitig vor, postmoderner Beliebigkeit in Fragen der Religion – genauer einer ›weichgespülten‹ WellnessReligion – das Wort zu reden. Der Feuilletonkatholizismus wende sich (wie zitiert) gegen die »Wurschtigkeit der liberalen Gegenwart mit ihrer weltanschaulichen Angebotsfülle« und lebe »vom Kontrast […] zur unverbindlichen Wellness moderner Religiosität«.65 Einer seiner entschiedenen Verfechter, der SPIEGEL-Journalist und Buchautor Matthias Matussek, sagte am 12. April 2010 in Anne Wills Diskussionsrunde in der ARD: Das Zölibat wird fallen, die Traditionalisten werden sich abspalten, und der Rest treibt in Richtung Protestantismus und Lindenstraße davon. Und selbstverständlich wird es dort auch Priesterinnen geben, Klampfen-Gottesdienste, Rockertrauungen und Kegelausflüge mit Gebets-Picknick, und alle werden die katholische Kirche endlich da haben, wo sie sie haben wollten: im bequemen, harmlosen Freizeit-Nichts.66

Auch empfiehlt Matussek jenen Politikern und Theologen, die sich zu Beginn des Jahres 2011 in öffentlichen Stellungnahmen für Reformen in der katholischen Kirche ausgesprochen haben, »sich weniger mit Politik« _____________

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de es viel ›krasser‹. Später wolle es aber ›eventuell‹ mal Rocker werden, vielleicht auch Ted – ›oder Gothic‹, fügte es hinzu. Das klang alles ganz schön wahllos. Früher, zu unseren umstürzlerischen Zeiten, verlangte die Uniformierung als Hippie, Punk oder Popper auch die Repräsentation der jeweiligen Ideenwelt, mittlerweile waren das anscheinend nur noch austauschbare Chiffren, die nicht mehr bedeuten als: Ich mache Moden mit und interessiere mich für Style. Sonst nichts« (S. 291f.). Porombka, Stephan: Investieren! Fünf Stellungnahmen zum Scheitern der Hypertextliteratur und ein Vorschlag zu ihrer Rettung; in: literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Herausgegeben von Erhard Schütz und Thomas Wegmann. Berlin 2002, S. 10-23, hier S. 14. Seibt: Wie katholisch war Dante? (Anm. 34). Vgl. Matussek, Matthias: Zur Diskussionsrunde bei Anna Will vom 12. 04. 2004 (http://www.matthias-matussek.de/2010/04/zur-diskussionsrunde-bei-anne-will/; letzter Zugriff: 22. 11. 2013).

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zu beschäftigen, und »sich stattdessen öfter mal« hinzuknien und »um göttliche Gnade und Einsicht« zu bitten. Er erinnert sie (deren Glaubenspraxis er weder kennt noch zu beurteilen sich erlauben kann) an ihre »Gehorsamspflicht« (ohne zu bedenken, dass dazu ja gerade die Pflicht gehört, auf Missstände hinzuweisen)67 und stellt heraus, was aus seiner Sicht »den Katholizismus im Kern« ausmache: »die Liturgie«, »die Sakramente«, »die Beichte«.68 Dem Journalisten Jens Schmitz von der Badischen Zeitung in Freiburg ist das nicht genug. Er wirft dem ›Feuilletonkatholiken‹ Matussek vor, den »Kern« des katholischen Glaubens gerade zu verfehlen, der da lautet: »Du sollst Gott und deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. Dagegen gehe es bei »Matusseks Katholizismus« nicht um den Nächsten, sondern ums Ich im Kontext ästhetischer Rituale. Ein selbstbezogener Wellness-Glaube ohne Konsequenzen in der Welt – das ist kein seltenes Phänomen unter Katholiken, die sich als konservativ verstehen.69

Individuelle Entscheidungen bringen je unterschiedliche Lösungen hervor; auch genuin revisionistische Konzepte wie der Feuilletonkatholizismus sind davon nicht ausgenommen. Da es aber zugleich, wie bereits angedeutet, immer komplizierter wird, so etwas wie ›Individualität‹ als Eigenes und sich von anderen Individualitäten Unterscheidendes auszubilden und zu stabilisieren, liegt es nahe, zugunsten eines elitären Konzepts auf breite Wirksamkeit zu verzichten, also ›das Besondere‹ für eine auserwählte Gruppe von Wenigen anzubieten. _____________ 67

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In den Konzilstexten ist hier etwa vom »klugen Rat« der Laien die Rede, den die »geweihten Hirten« »gern« »benutzen« »sollen« (Rahner/Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium (Anm. 41), S. 168/Lumen Gentium, Kap. 37); in der Zusammenarbeit »mit der Hierarchie« »tragen« die Laien »ihre Erfahrung bei und übernehmen Verantwortung […] in der Beurteilung der Verhältnisse, unter denen die pastorale Tätigkeit der Kirche auszuüben ist« (Rahner/Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium (Anm. 41), S. 410 /Apostolicam actuositatem, Kap. 20), denn: »[D]as Recht und die Pflicht zur Ausübung des Apostolates [ist] allen Gläubigen, Klerikern und Laien gemeinsam« (Rahner/Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium (Anm. 41), S. 414/Apostolicam actuositatem, Kap. 25); die Priester »sollen gern auf die Laien hören, ihre Wünsche brüderlich erwägen und ihre Erfahrung und Zuständigkeit in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Wirkens anerkennen, damit sie gemeinsam mit ihnen die Zeichen der Zeit verstehen können« (Rahner/Vorgrimler: Kleines Konzilskompendium (Anm. 41), S. 577/Presbyterorum ordinis, Kap. 9). Matussek, Matthias: Die Kirche und die Abrissbirnen; in: Spiegel online vom 06. 02. 2011 (http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518, 743789,00.html; letzter Zugriff: 22. 11. 2013). Schmitz, Jens: Was ist katholisch?; in: Badische Zeitung vom 08. 02. 2011 (http://www.badische-zeitung.de/kommentare-1/was-ist-katholisch--41004379.html; letzter Zugriff: 22. 11. 2013).

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Zum anderen also, so meine dritte These, entlasten sich die Anhänger des Feuilletonkatholizismus gerade dadurch vom Druck des Wahl-Imperativs, dass sie ein ›unpopuläres‹, i. e. nicht auf allgemeinen Konsens zielendes Programm entwerfen. Dieses Programm verspricht den Anschluss an höhere überzeitliche Wahrheiten, und es erfindet dafür eine Institution, die es so nie gegeben hat: das Konstrukt einer ›vorkonziliaren katholischen Kirche‹. Es reagiert damit zudem auf aktuell gängige Verfalls- oder Verlustdiagnosen. Bei aller Vielfalt an derzeit existierenden Gesellschaftsmodellen70 besteht insofern weitgehende Einigkeit darüber, dass man sich seit den Postmoderne-Debatten der ausgehenden 1960er und dann wieder der 1980er Jahre von der Vorstellung eines allgemeinverbindlichen Wertesystems weitgehend verabschiedet habe.71 Modelle, die die gegenwärtige Gesellschaftsformation als (›nachbürgerliche‹) Wissensgesellschaft zu beschreiben versuchen, verstehen Wissen als soziales Konstrukt, das subjektiv, kontextgebunden und historisch variabel ist. Die Folge davon: Bislang gültige »Regeln und Selbstverständlichkeiten« werden »immer häufiger in Frage gestellt«.72 Da Wissen als revidierbar und permanent revisionsbedürftig, keinesfalls aber als ontische, überzeitlich gültige Größe (›Wahrheit‹) betrachtet wird,73 erzeugt die permanente Vermehrung von Wissen sowie dessen »zunehmende gesellschaftliche Verbreitung« eine immer größer werdende »Unsicherheit, Zerbrechlichkeit und Kontingenz«, so Nico Stehr 1996.74 Die Religion (als relevanter Kontext der Literaturkritik, der Literaturwissenschaft und der Literatur) übernimmt demnach zum einen die Funktion, ›das Besondere‹ der je individuellen Wahl gerade auch im intellektuellen Milieu herauszustellen, um auf dem Markt der Möglichkeiten eine Aufmerksamkeit sichernde Position zu besetzen. Zum anderen sorgt sie für eine möglichst stabile eigene Selbstbeschreibung gegen die postmoderne ›Wurschtigkeit‹ in einer transzendental obdachlosen, zunehmend unübersichtlichen und gleichwohl weiterhin trostbedürftigen Welt. Je _____________ 70 71 72 73 74

Vgl. Tänzler, Dirk/Knoblauch, Hubert/Soeffner, Hans-Georg: Zur Kritik der Wissensgesellschaft. Einleitende Bemerkungen; in: Tänzler, Dirk/Knoblauch, Hubert/Soeffner, Hans-Georg (Hrsg.): Zur Kritik der Wissensgesellschaft. Konstanz 2006, S. 7-12, hier S. 7. Vgl. Franck, Georg: Mentaler Kapitalismus. Eine politische Ökonomie des Geistes. München 2005, S. 12. Heidenreich. Martin: Merkmale der Wissensgesellschaft (2002) (http://www.sozialstruktur.uni-oldenburg.de/dokumente/blk.pdf; letzter Zugriff: 22. 11. 2013), S. 6f. Vgl. Willke, Helmut: Systemisches Wissensmanagement. Stuttgart 1998, S. 21. Zitiert nach Heidenreich: Merkmale der Wissensgesellschaft (Anm. 72), S. 8; vgl. auch Stehr, Nico: Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften. Weilerswist 2000; sowie Stehr, Nico: Moderne Wissensgesellschaften; in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 36/2001, S. 714, hier S. 13.

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bestimmter und kompromissloser ein Programm dabei vertreten wird (das zeigt gerade das Beispiel Feuilletonkatholizismus), desto größer sind die Chancen, sich Gehör zu verschaffen. Es lässt sich etwa belegen, dass »[a]ggressives God selling und das Angebot harter, streng bindender Religion […] insgesamt erfolgreicher [sind] als die konventionelle Vermarktung von Produkten hoher Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit«.75 Nicht zuletzt dafür steht Martin Mosebach, der spätestens seit seiner Programmschrift Häresie der Formlosigkeit als Prototyp des Feuilletonkatholizismus gilt.

II. Martin Mosebachs Häresie der Formlosigkeit Mosebachs Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind erschien erstmals 2002 in einem kleinen Wiener Verlag und wurde im Frühjahr 2007, um drei Aufsätze ergänzt, im Hanser Verlag erneut veröffentlicht; im Juni 2007 stand Mosebach als Georg-Büchner-Preis-Träger des Jahres fest; und im September 2007 gehörte sein Roman Der Mond und das Mädchen (ebenfalls im Hanser Verlag erschienen) zu den Nominierungen der sogenannten ›Shortlist‹ des vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels verliehenen Deutschen Buchpreises. 2007 war damit ein überaus erfolgreiches Jahr für den Autor Mosebach, der schon seit 1980 als freier Schriftsteller arbeitete, aber erst seit etwa der Jahrtausendwende mit seinen Arbeiten größere Beachtung fand. Gerade die Verleihung des renommierten Büchner-Preises an Mosebach gilt in den zeitgleichen Kommentaren der Literaturkritik als Symptom dafür, »wie sehr der literarische Betrieb und die literarische Rezeption sich verändert haben«.76 Mosebachs öffentliches Bekenntnis zur römisch-katholischen Kirche (ebenfalls seit etwa der Jahrtausendwende) hat ihm dabei keinesfalls geschadet. Es gründet, wie es im ersten Essay von Häresie der Formlosigkeit heißt, auf der »Begegnung mit der alten katholischen Liturgie«.77 Was er darunter versteht, hatte Mosebach bereits in seinem Roman Eine lange Nacht (2000) beschrieben; der _____________ 75 76 77

Graf: Die Wiederkehr der Götter (Anm. 12), S. 28. Greiner, Ulrich: Durchdringender Blick auf das Hässliche; in: Die Zeit Online vom 08. 06. 2007 (http://www.zeit.de/online/2007/24/mosebach-buechnerpreis; letzter Zugriff: 22. 11. 2013). Mosebach, Martin: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind (2002). München 2007, S. 7.

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entsprechende Ausschnitt wurde unter der Überschrift Die Prozession aus der Schiebetür in den genannten Essay-Band von 2002/07 eingerückt. Ort des Geschehens ist eine Kapelle in einem Frankfurter Hotel »am Rand eines Bordellviertels«; die Einrichtung des Raums zeugt eher von schlechtem Geschmack als von Kunstsinn (»über dem Altar schwebte ein Aluminiumkruzifix mit einem Corpus aus rotem Glasfluß wie eingetrocknete Erdbeermarmelade«); es riecht unangenehm, die Blumen auf dem Altar sind verfault.78 Der als Küster und Ministrant tätige Hermann Drais und sein Bruder Ludwig rüsten die Kapelle für den Gottesdienst: den Altar, die Kredenz, den Kelch. Auf diese Weise nähert sich der personale Erzähler (Ludwig) dem Geschehen von außen. Er dringt immer tiefer in die Handlung ein, indem er, angeleitet durch seinen Bruder, die heiligen Gegenstände zu benennen lernt und sie zugleich ordnet (Kelch und Patene etwa dürfen nicht mit bloßen Händen berührt werden), indem er mit dem Zelebranten in der Sakristei über die Liturgie und deren Reform spricht und indem er schließlich der Messe beiwohnt. In der detaillierten Beschreibung aus der Perspektive eines Nichtkenners vollzieht sich die Liturgie als Prozess persönlicher Aneignung bzw. Anverwandlung. Von Beginn des Textabschnitts an wird die Liturgie so als das ›Andere‹, als das am Rande der Gesellschaft Situierte eingeführt – als etwas Fremdes, als elitäre Veranstaltung, als das Verborgene, nur wenigen Eingeweihten Zugängliche. Sie verbindet sich nicht etwa mit der Person des Priesters; im Gegenteil: Weil der Priester die alte Messe mit dem Rücken zur Gemeinde zelebriert, schiebe sich seine »individuelle[ ] Gegenwart« nicht zwischen die Laien und den heiligen Akt, wie dies im ordentlichen Ritus der Fall sei (hier feiert der Priester die Eucharistie versus populum, der Gemeinde zugewendet). Die überkommene Zelebrationshaltung wird damit zum sichtbaren Zeichen einer Rolle, die den Zugang zur – der irdischen Zeit enthobenen – Zeit der Liturgie vermittelt.79 Dass sich ausgerechnet der Zelebrant der alten Liturgie in der Frankfurter Hotelkapelle als Vertreter jener »fortschrittliche[n] Seelsorger«80 entpuppt, die sich zur Idee einer (aus Sicht ihrer Anhänger) seit Jahrtausenden gültigen Form _____________ 78 79

80

Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 200. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 26. − Die Liturgie »ist tot, wenn es zu ihrem Vollzug eines frommen und guten Priesters bedarf. Niemals darf es möglich sein, daß die Gläubigen die Liturgie als Leistung des Priesters betrachten. Sie ist nicht das Ergebnis einer glücklichen Stunde, persönlichen Charismas, niemandem kommen Verdienste für sie zu. In ihr wird die Zeit aufgehoben […]. Wie klug war die alte Liturgie, als sie sich entschloß, der Gemeinde das Gesicht des Priesters zu entziehen – seine Zerstreutheit und Kälte, oder, wichtiger noch, seine Andacht und Ergriffenheit« (Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 26). Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 26.

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skeptisch bis herablassend verhalten, steht deren Wirksamkeit in der Darstellung des Romans (bzw. Essays) demnach nicht entgegen. Vielmehr soll gerade dies die eigentliche Unabhängigkeit der Liturgie belegen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Gläubige Hermann völlig unbeeindruckt von der Schmährede des Priesters die Sakristei »schweigend, aber mit heiterer Miene« verlässt. Im Gespräch mit Ludwig weist der Priester auf die Irrtümer der alten Lehre hin und teilt mit, der Bischof halte die Feier der Messe in der Hotelkapelle gar für »›gefährlich‹«. Sein eigenes Tun versteht er als pastoralen Akt für »einige wenige«, »die dem alten magischen Gesicht der Kirche verhaftet seien, eine winzige Schar, intellektuell auf bescheidenstem Niveau, soziologisch zu vernachlässigen, geistlich natürlich nicht«.81 Gegen das Alte plädiert er für »›die Freude des Christseins‹«, die »›Errungenschaften der Reformation‹«,82 ein »›Ende‹« der »›Pfaffenherrschaft‹«; auch spricht er sich gegen die »›schaurige Opfertheologie mit ihrem steinzeitlichen Blutgeruch‹« aus,83 die der alten Liturgie anhafte. Ludwig aber, der in Glaubensdingen seinem Bruder zu folgen bereit ist, lässt sich davon nicht – oder nur kurz – irritieren.84 Dass sich die Lehren des Zweiten Vatikanischen Konzils von Destruktionstheorien wie der ›Maktationstheorie‹, die von einer Art »›mystischen Schlachtung‹« im Messopfer ausging (genauer: von der »sakramentalen Auseinandertrennung von Leib u. Blut Jesu Christi in der Doppelkonsekration«), oder der Oblationstheorie, der zufolge jedes Messopfer die Opferung Jesu wiederhole, weitgehend losgesagt haben,85 erklären die Anhänger der alten Liturgie in der Darstellung Mosebachs für nicht relevant. Es gehört zur Tragik von Mosebachs Bekenntnis, das sich für die Rechtmäßigkeit der eigenen als einer allgemeinen (i. e. ›katholischen‹) Position einsetzt, dass die damit eigenmächtig vollzogene Wendung gegen die gültige katholische Lehre selbst die Gefahr der Häresie birgt. Die Wiederzulassung des ›alten Ritus‹ durch das ›Motu proprio‹ Summorum Pontificum vom 7. Juli 2007 als ›außerordentlicher‹ Form der Messe86 mag den Reformgegnern ein wenig den Wind aus den Segeln genommen haben; ob _____________ 81 82 83 84 85 86

Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 205. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 206. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 207. Vgl. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 211f. Vorgrimler, Herbert: Neues Theologisches Wörterbuch. Freiburg/Br. u. a. 2000, S. 127, 418; vgl. auch S. 473 (an die Stelle der Opfer- ist die Liebestheologie getreten). Benedictus PP XVI.: Summorum Pontificum (07.07.2007) (http://www.vatican. va/holy_father/benedict_xvi/motu_proprio/documents/hf_ben-xvi_motu-proprio_200 70707_summorum-pontificum_lt.html; letzter Zugriff: 22. 11. 2013).

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allerdings ein Ritus, der nicht länger als »alte[r], jetzt verbotene[r] Ritus«87 gelten kann und damit an Exklusivität eingebüßt hat, überhaupt noch interessant erscheint, wird sich zeigen. Fest steht jedenfalls, dass es sich bei diesem Ritus keinesfalls um eine »seit über eintausendfünfhundert Jahren ununterbrochen[e] überlieferte[ ] Form« handelt, wie es bei Mosebach heißt, der darin »die Erfüllung aller Religionen« sieht.88 Vielmehr wird er, bezeichnet auch als ›Tridentinische Messe‹, nach dem Missale Romanum von 1962 gefeiert und umfasst seit seiner Festschreibung im Messbuch Pius’ V. von 1570 weitere Reformen durch die Jahrhunderte, insbesondere seit der liturgischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die auf eine stärkere Beteiligung der Gemeinde setzte. Der ›neue Ritus‹ geht auf die Liturgiereform Pauls VI. zurück, die im Anschluss an die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium (1963) des Zweiten Vatikanischen Konzils im Missale Romanum von 1970 niedergelegt ist.89 In Mosebachs Roman Eine lange Nacht wird die alte Liturgie in ihrer unaufwändigsten Form gefeiert: der sogenannten ›Missa lecta‹, auch ›Missa privata‹ oder ›Stillmesse‹ genannt, wie sie in den Gemeinden vor der Liturgiereform vornehmlich werktags ›gefeiert‹ oder, genauer, ›gelesen‹ wurde. Der Priester liest die (lateinischen) Texte der Messe ohne Gesang, kaum hörbar, zumeist mit dem Rücken zur Gemeinde, zumeist respondiert ein Ministrant. Mosebachs Leser erfahren dies aus der Perspektive Ludwigs,90 der keinerlei Begriff davon hat, was am Altar geschieht; sein Bruder hat ihm »Nichtwissen verordnet«.91 Die genaue Bezeichnung der Messform findet sich demnach genauso wenig im Text wie eine Deutung der einzelnen Akte oder Hinweise auf deren Position in der Ordnung der Messe. Allerdings hindert das verordnete Nichtwissen den Erzähler keineswegs daran, die Haltung des Priesters in der Messe zu beurteilen. Um einmal mehr die überindividuelle Heiligkeit der Liturgie zu betonen, erlaubt sich die Darstellung auf diese Weise einen Bruch in der Charakterisierung der Figur, die zwar keine Ahnung von den Vorgängen zu haben behauptet, aber doch genau zu wissen scheint, worin sich eine ›richtige‹ priesterliche Einstellung zum Geschehen von einer ›falschen‹ (die _____________ 87 88

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Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 11. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 17, vgl. auch S. 10, v. a. S. 41, S. 68. – Dem Einwand einer historischen Entwicklung des Ritus und seiner Reformen in den liturgischen Bewegungen (als Ausdruck allmählicher Veränderungen) begegnet Mosebach selbst wenig überzeugend (S. 26f. und 29). Vgl. Bieritz, Karl-Heinrich: Liturgik. Berlin 2004, S. 512-536. Vgl. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 210. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 211.

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hier zu beobachten sei) unterscheidet: »Seine Bewegungen waren die einer aufgezogenen Puppe, starr ruckend. In jedem Augenblick zeigte er, daß ihm nicht selbstverständlich war, was er tat, sondern daß er sich hier einem Zwang unterwarf«. Damit dem Leser die dahinter stehende Darstellungsabsicht nicht verborgen bleibt, wird diese im unmittelbaren Anschluss nachgeliefert, denn der ›nichtwissende‹ Erzähler übernimmt (in einer hermeneutischen Doppelposition) neben der Funktion der Darstellung auch diejenige der Deutung: [N]ichts deutete darauf hin, daß das, was geschah, irgend etwas mit Professor Gessners Persönlichkeit, seinem Geschmack und seinem Intellekt zu tun hatte. Seinen Zornmut und seine Ungeduld mußte er für die Dauer dieser Geschehnisse zurückstellen.92

Was sich hier vollzieht, so macht der Roman deutlich, vollzieht sich in einer geschmacklosen Umgebung, angeleitet durch einen wenig glaubwürdigen Priester, vor den Augen eines in die Geheimnisse der Messe uneingeweihten Beobachters. Auf diese Weise wird die Schlusswendung des Textauszugs umso wirksamer vorbereitet: Nach wie vor ›versteht‹ Ludwig »tatsächlich nichts von dem, was sich um und vor ihm tat«, auf einmal aber geschieht es: Nach den Einsetzungsworten (die nicht zitiert werden, auch wenn, wie es heißt, der Priester »etwas vernehmlicher« »flüsterte«), während der Elevation der Hostie und dem dreimaligen Läuten des »Glöckchens«,93 blendet Ludwig völlig aus, daß Hermann die Oblate aus der Holzdose auf den kleinen goldenen Teller auf dem Kelch gelegt hatte, er sah diese weiße Scheibe in der Rauchwolke gar nicht als etwas Materielles an oder jedenfalls doch als etwas sehr Zartes, verfestigtes Licht, einen stillen Augenblick lang. Dann senkten sich die Hände wieder, und Professor Gessner begann aufs neue flüsternd zu lesen…94

Im performativen Akt der beobachteten Wandlung vollzieht sich das Wahre als Schönes (als ›zartes, verfestigtes Licht‹) und wird zugleich als darin erlebbar und erfahrbar gezeigt. Ein Vorverständnis dafür ist nicht erforderlich – ›beim ersten Mal‹ wäre dieses sogar eher hinderlich, wie der Text insinuiert. Nicht einmal die priesterliche ›Schmährede‹ zuvor oder überhaupt ein in dieser Hinsicht ›unwürdiger‹ Priester kann die Wirksamkeit der Liturgie demnach verhindern. Auf’s Ganze gesehen beschreibt der Romanauszug somit eine dreifache Verwandlung: (1) Hermann und Ludwig verändern einen vernachlässigten unwirtlichen Raum in einen heiligen Ort; (2) im Akt der Doppelkonsekration werden Brot und Wein in den _____________ 92 93 94

Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 210. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 212. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 213.

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Leib und das Blut Jesu Christi gewandelt; (3) aus dem anfänglichen Beobachter Ludwig wird ein Teilnehmer am numinosen Geschehen. In seinem Essay ›Dies ist mein Leib‹. Zur Verehrung des Altarsakraments in der Katholischen Kirche macht Mosebach deutlich, worum es ihm eigentlich geht: Er ist auf der Suche dem ›Authentischen‹,95 um dessentwillen er nicht einmal vor einer Falschaussage zurückscheut, wenn er, um die Besonderheit seiner Position herauszustreichen, die (tatsächlich nie vollzogene) »Abschaffung der Hostienanbetung und Hostienverehrung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil«96 behauptet. Er berichtet davon nicht mit dem Expertenwissen des Theologen: Er müsste dann genauer von der ›eucharistischen Verehrung‹ sprechen; die Hostie selbst wird nicht – und wurde nie – angebetet.97 Vielmehr berichtet er davon mit dem Selbstverständnis des Erzählers, der das Geschehen um sich herum beobachtet. Die »beobachtete Realität« aber, so Mosebach, habe vor allem dann »ein ganz anderes Gewicht«, »wenn ich sie nicht begreife«.98 In Mosebachs Beschreibung der liturgischen Handlung wird die profane Literatur zum Medium des Numinosen. Der erzählende Zugriff auf das Heilige soll dieses erfahrbar machen, ohne dass die Erzählung dadurch selbst schon zu einem heiligen Gegenstand und damit sakralisiert würde. Mosebach steht damit in der Tradition von George Steiners Großessay Von realer Gegenwart, der eine Art ästhetischen Gottesbeweis vorschlägt: Ich stelle die These zur Diskussion, daß insbesondere auf dem Gebiet der Ästhetik […] die Erfahrung von Sinn auf die notwendige Möglichkeit dieser ›realen Gegenwart‹ [i. e. auf die ›Annahme einer Gegenwart Gottes‹; C. S.] schließen läßt.99

Das sinnstiftende Potential der Künste (v. a. der Literatur, Malerei und Musik) lässt diese zu Medien der Präsenz Gottes werden. Mosebach wendet Steiners These ganz konkret auf die literarische Beschreibung des eucharistischen Akts selbst an: Das Heilige vollzieht sich in einer fiktionalen Handlung, sei darin aber als nicht-fiktives Gebilde (als Gegenstand ›beobachteter Realität‹) zu verstehen – insbesondere dann, wenn es dem Kontext des Romans entzogen und Teil eines Essay-Bandes geworden ist. _____________ 95 96 97

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Vgl. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 179. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 181. Zur Eucharistieverehrung in der katholischen Kirche (bis heute) vgl. Meyer, Hans Bernhard: IX. Eucharistieverehrung; in: Lexikon für Theologie und Kirche. Band 3. Durchgesehene Ausgabe der dritten, völlig neu bearbeiteten Auflage. Herausgegeben von Walter Kasper, Horst Bürkle, Karl Kertelge, Klaus Ganzer, Konrad Baumgartner und Wilhelm Korff. Freiburg/Br. u. a. 2009, Sp. 964f. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 180. Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß. Aus dem Englischen von Jörg Trobitius. München – Wien 1990, S. 13f.

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Zugleich wird der erzählende Text damit selbst zum Zeugen der Erfahrbarkeit jener realen Gegenwart Gottes, die er im eucharistischen Akt zum Gegenstand der Beschreibung gemacht hat. In der Lektüre des Textes als eines ästhetischen Gebildes lässt sich die dort geschilderte Erfahrung nachvollziehen. Es ist also von doppelter Sinnerfahrung die Rede: von der Sinnerfahrung, die der Text schildert, und von der Sinnerfahrung, die der Text ermöglicht. In Botho Strauß’ Nachwort zu Steiners Essay heißt es: Überall, wo in den schönen Künsten die Erfahrung von Sinn gemacht wird, handelt es sich zuletzt um einen zweifellosen und rational nicht erschließbaren Sinn, der von realer Gegenwart, von der Gegenwart des Logos-Gottes zeugt.100

Als eine Art Urbild hierfür dient Botho Strauß nicht etwa ein Beispiel aus der Literatur im engeren Sinn, sondern die »Feier der Eucharistie« als eine »Feier der Gleichzeitigkeit«, die, wie es in Mosebachs Essay ›Dies ist mein Leib‹ heißt, selbst wieder als eine »literarische Geschichte« zu lesen ist, und zwar »wörtlich so, wie er [Jesus Christus; C. S.] es gesagt hat«.101 Strauß’ Beitrag Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit (1990) gehört zu den frühen Belegen der um 2000 einsetzenden Debatte über das Für und Wider des Feuilletonkatholizismus. Man kann wohl sogar so weit gehen zu behaupten, diese beginne mit Strauß’ Nachwort zu Steiners Arbeit und damit schon drei Jahre vor Strauß’ umstrittenem Essay Anschwellender Bocksgesang von 1993,102 der gemeinhin als terminus post quem eines neuen Konservativismus gilt.103 Zum einen tritt Mosebach mit dem Ziel an, den Vorbehalt zu widerlegen, er vertrete eine ästhetizistische Position (er sei »also ein Ästhet, der seine ästhetizistischen Bedürfnisse in der Religion befriedigen will«).104 Zum anderen erklärt er in einem so überschriebenen Essay zum Thema die Liturgie selbst zur Kunst: »Liturgie ist Kunst«.105 Welche Merkmale kommen der Form nach Mosebach zu? Welche Funktion übernimmt sie? Mosebach nennt sie »anschaulich« und »gestalthaft«, »körperlich« und »vollplastisch«; ihre unmittelbare Präsenz sei »Ehrfurcht« gebietend, kul_____________

100 Strauß, Botho: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit; in: Steiner: Von realer Gegenwart (Anm. 99), S. 301-320, hier S. 307. 101 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 185. 102 Vgl. z. B. Löffler: Als man zum Kitsch noch Horreur sagte (Anm. 14), S. 5. 103 Vgl. Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang; in: Der Spiegel Nr. 6 vom 08. 02. 1993, S. 202-207. – Vgl. dazu Schilk, Heimo/Schacht, Ulrich (Hrsg.): Die Selbstbewußte Nation. Anschwellender Bocksgesang und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Frankfurt/M. − Berlin 1994, sowie Havertz, Ralf: Der Anstoß. Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang und die Neue Rechte. Eine kritische Diskursanalyse. 2 Bände. Berlin 2008. 104 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 9. 105 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 101-120.

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turhistorischer Relativierung sei sie entzogen, kurz: »sie war schön«.106 Etwas Schönes aber – so der autonomieästhetische (›klassische‹) Schönheitsbegriff Mosebachs – bedarf keiner Begründungen außerhalb seiner selbst, ist in sich stimmig, sich selbst genug. Mit anderen Worten: Indem er den Ästhetizismus-Vorbehalt auszuhebeln versucht, argumentiert Mosebach doch ästhetizistisch. Wieder tritt der Autor nicht als Theologe auf, sondern spricht »aus einer bestimmten Lebenserfahrung heraus«.107 Aus guten Gründen: Er müsste ansonsten konzedieren, dass, theologisch gesehen, die Liturgie Instrument des Gottesdienstes ist, für sich selbst aber nichts gilt: »Nihil Operi Dei praeponatur« | »Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden«, heißt es in der Regel des hl. Benedikt,108 auch nicht die Liturgie. Ein zentrales Beispiel für seine Idee von Schönheit findet Mosebach also in der ›alten‹ römischen Liturgie: Sie sei »ein Kunstwerk« und Jesus Christus – als ihr »Schöpfer« – ein »Künstler«.109 Am Tag des letzten Abendmahls etwa (›Gründonnerstag‹) habe dieser Künstler einen neuen Ritus gestiftet, ohne dabei das Überkommene grundlegend zu verändern. Das Neue des Ritus (»Dies ist mein Leib«) erwachse gleichsam natürlich, beinahe unmerklich, aus dem Alten, dem Paschamahl der jüdischen Tradition: »[E]r ändert nichts, aber er erfüllt mit einem neuen Geist«. Weil Christus dem eigenen Opfer »die Gestalt liturgischer Kunst« gegeben habe,110 sei auch »nur die Kunst«, so Mosebachs Schlussfolgerung, dazu in der Lage, »dem Auftrag Christi beim Gründonnerstagsmahl zu entsprechen. Dieser Auftrag ist die Memoria, die immer aufs neue wiederholte Vergegenwärtigung des […] Opfers«.111 Was Mosebach unter der Schönheit der Liturgie versteht, wird auch an seinen Ausführungen zu den drei Orationen der Sonntage (dem Tagesgebet, dem Gabengebet und dem Schlussgebet) deutlich: »Nie hat sich die römische Kirche schöner dargestellt als in diesen Orationen, die eine Schule sakramentalen Empfindens sind«. Er belegt sie mit Attributen wie ›elegant‹ und ›kostbar‹, ›sanft‹ und ›geschliffen‹, ›sprachlich gelungen‹ und dieses Gelingen als »Freude« vermittelnd, ›ernst‹ und zugleich ›lächelnd‹.112 _____________ 106 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 102f. 107 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 103. 108 Benediktsregel 43,3 (Die Regel des heiligen Benedikt. Herausgegeben im Auftrag der Salzburger Äbtekonferenz, Beuron 2009, S. 89). 109 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 104. 110 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 109. 111 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 108. 112 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 115.

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Sie betreffen den einzelnen in seiner je individuellen Tagesaktualität,113 enthalten also das Besondere ebenso, wie ihre Aussagen zeit- und ortlose allgemeine Gültigkeit beanspruchen können. Mosebach spricht konkret von der »klassische[n] Allgemeinheit« der Gebete,114 ganz auf der Linie von Goethes Symbolbegriff, demzufolge die Symbolik […] die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild [verwandelt], und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe.115

Damit wendet Mosebach den Vorbehalt des Ästhetizismus in einen Ästhetizismus als Glaubensbekenntnis: Er ›glaube‹, so heißt es im Essay Ewige Steinzeit, »daß eine unwahre, verlogene, gefühllose Sprache keinen Gedanken von Wert enthalten kann«. Das »Häßliche« lasse allein »auf das Unwahre schließen«.116 Ähnlich hatten es Vertreter des moralischen Sensualismus der englischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, in dieser Hinsicht Wegbereiter einer v. a. von Karl Philipp Moritz vorbereiteten klassizistischen Ästhetik, formuliert: »For all beauty is truth«, so lautete der ästhetische Leitsatz Anthony Ashley-Coopers, 3. Earl of Shaftesbury.117 An erster Stelle steht demnach nicht das Wahre, sondern das Schöne – von der Aussage »Rien n’est beau que le vrai. Le vrai seul est aimable« eines Nicolas Boileau-Despréaux118 hatte sich Shaftesbury ja gerade verabschiedet. Kriterien für die Bestimmung dieses Schönen als Schönes _____________ 113 »[U]nd doch enthalten sie einen Stoff, der auch den einzelnen stillen Leser zu treffen vermag« (Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 116). 114 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 115. 115 Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 12: Schriften zur Kunst und Literatur. Textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, kommentiert von Herbert von Einem. Maximen und Reflexionen. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Hans Joachim Schrimpf. 9., neubearbeitete Auflage. München 1981, S. 470. – Vgl. dazu auch Goethes Verständnis von der »Natur der Poesie«: »Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät« (Goethe: Schriften zur Kunst und Literatur, S. 471). 116 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 9. 117 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 3rd Earl of: Sensus Communis. An Essay on the Freedom of Wit and Humour (1709); in: Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper 3rd Earl of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Band 1. Herausgegeben von Philip Ayres. Oxford 1999, S. 35-81, hier S. 77. 118 Boileau-Despréaux, Nicolas: Epistre IX; in: Boileau: Œuvres complètes. Introduction par Antoine Adam. Textes établis et annotés par Françoise Escal. Paris 1966, S. 133-137, hier S. 134.

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bleibt Mosebach seinen Lesern schuldig. Sie werden nicht genannt bzw. ergeben sich aus der »Wirkung«119 des Ritus auf den Betrachter. Das Alte (i. e. das Lateinische, das ›Unentschlüsselbare‹,120 dem man sich »wahrhaft gedankenlos[...]« ›einschmelzen‹ kann)121 sei schön und wahr; das Neue (i. e. der Ritus nach der Liturgiereform der 1960er Jahre) sei hässlich und damit verlogen und unwahr. Diese Position – das macht insbesondere die polemische Rhetorik der Essays deutlich122 – lässt nichts neben sich gelten und definiert das (tatsächlich über Jahrhunderte gewachsene) sogenannte ›Neue‹ als ein Gegenüber, das es zu bekämpfen gilt. Sie ist per definitionem als ›fundamentalistische‹ Position zu bezeichnen und wendet sich damit – auch wenn sie dies bestreiten muss – zugleich gegen die katholische Kirche selbst, der sie vorwirft, in den 1960er Jahren einen »Angriff auf die Göttliche Liturgie« gestartet zu haben.123 Die antikirchliche Haltung dieses ästhetischen Katholizismus der Jahrtausendwende bestätigt sich auch in Mosebachs Bekenntnis, »Animist« zu sein,124 also die Beseeltheit der anorganischen und organischen Natur anzunehmen. Was seine Streitschrift anbietet, ist mithin eine weitere Form der derzeit in der postsäkularen Gesellschaft verbreiteten ›PatchworkReligionen‹,125 die, in seinem Fall, problemlos Elemente des vorvatikani_____________ 119 120 121 122

Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 9. Vgl. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 13. Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 9. Auf einige Beispiele wie die unzutreffende Bemerkung über »die Abschaffung der Hostienanbetung und Hostienverehrung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil« (Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 181) habe ich schon hingewiesen. Weitere Beispiele finden sich etwa im Hinweis »auf die unbestreitbare [!] Tatsache«, »daß der neue Katechismus ein Werk ist, das in unseren Priesterseminaren allenfalls zu Zwecken der Belustigung einmal durchgeschaut wird« (Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 21; Hervorhebung C. S.), in der Unterstellung, »[k]aum einer kniet bei der Wandlung« (Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 23), in der diffamierenden Beschreibung der Art und Weise, wie nach dem ordentlichen Ritus Fürbitte gehalten wird (Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 116) etc. 123 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 18. 124 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 13. 125 Auch binnenkirchlich ist dergleichen zu beobachten, vgl. dazu Hintermeier, Hannes: Im Land der Mutlosen. Missbrauchsskandale, Mitgliederschwund, Vertrauensverlust. Die deutschen Katholiken kennen alle Fehler ihres Bischofs, aber das ›Ave Maria‹ beherrschen sie nicht mehr. Die Kirche steht auf wackeligen Beinen in der deutschen Glaubenslandschaft; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 181 vom 07. 08. 2010, S. 38; außerdem die Ergebnisse des Trendmonitors über die ›Religiöse Kommunikation 2010‹, im Auftrag der Medien-Dienstleistungs-Gesellschaft MDG erhoben durch das Institut für Demoskopie Allensbach im Oktober und November 2009: »Damit stellen ›die Experimentalisten die größte Herausforderung der Kirche dar‹ (I/48), zumal sie die Spitze eines Trends anführen, der in Richtung selbstbestimmter – selbstgewählter und selbstcollagierter Religiosität geht, dem auch die Mehrheit der katholischen Kirchenmitglieder folgt« (Ebertz, Michael N.: Wie

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schen Katholizismus mit (bevorzugt magischen) Elementen von Naturreligionen kombinieren und sich zugleich insbesondere für eine elitäre Kultpraxis interessieren: »Der Zusammenbruch der Liturgie in der offiziellen [!] Kirche hat auch etwas Gutes«, so Mosebach: »Der Ritus ist jetzt wieder ein wirkliches Mysterium, in dem Sinne, daß er, wie eigentlich auch vorgesehen [!], im Verborgenen gefeiert wird«.126 Die Inhalte spielen keine Rolle, da es um die Form und um den »Eindruck« geht, der sich bei der Betrachtung der Form als Schauspiel einstellt: »Aber nun sah ich zum ersten Mal wieder einen Priester im Magnetfeld des Altares. Was er sprach und sang, glitt an mir ab. Ich empfand es als weniger wichtig. Wichtig war der Eindruck, daß er etwas tat«.127 Die Handlungen und ihre Wirkung stehen im Vordergrund.

III. Feuilletonkatholizismus und Kunstreligion Indem der Feuilletonkatholizismus dem verbreiteten Kontingenzbewusstsein ein klares Programm entgegensetzte, bediente er ein offensichtlich gerade unter Intellektuellen verbreitetes Bedürfnis nach Orientierung. Eine größere Rolle als die (inhaltliche) Reduktion der katholischen Lehre auf ›Sündenbewusstsein‹ und ›Erlösungsbedürftigkeit‹ (Matussek) spielt dabei der Primat der Liturgie (Mosebach), der die formale Gestaltung des Gottesdienstes in den Mittelpunkt des Umgangs mit Religion rückt. Dadurch weicht die sakramentale Erlösung des seiner Sündhaftigkeit bewussten Menschen der ästhetischen. Kunst und Religion werden im Feuilletonkatholizismus also keineswegs (wieder) zur Deckung gebracht, wie dies – vor der funktionalen Ausdifferenzierung beider Bereiche128 – im Konzept der primären Kunstreligion notwendig der Fall gewesen ist (in diesem Konzept stand die Kunst im Dienst der Wahrheit derjenigen Religion, die sie in Kultus und Liturgie vergegenwärtigte.) Auch dem Konzept der sekundären Kunstreligion, das ein immanent gedachtes ›Wahres‹ oder ›Heiliges‹ – mit vergleichbarem Absolutheitsanspruch – an die freigewordene Stelle der Religion setzte und im 19. Jahrhundert etwa für die Berei_____________ kommunizieren die Katholiken? Der neueste Trendmonitor zeigt wachsende Gräben; in: Herder Korrespondenz 64 (2010/7), S. 344-348, hier S. 346f.). 126 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 14; Hervorhebungen C. S. 127 Mosebach: Häresie der Formlosigkeit (Anm. 77), S. 15. 128 Vgl. Detering, Heinrich: Religion; in: Anz, Thomas (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Band 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Stuttgart 2007, S. 382-395, hier S. 393.

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che ›Poesie‹ oder ›Wissenschaft‹ angenommen werden kann, lässt sich der Feuilletonkatholizismus nicht zuordnen.129 Im 21. Jahrhundert ist, bezogen auf den Feuilletonkatholizismus, eine dritte Form der Kunstreligion geltend zu machen. Die Kunst tritt diesem Programm zufolge weder in Konkurrenz zur Religion noch lässt sie sich auf ein bloßes Medium religiöser Sinnstiftung reduzieren. Der Feuilletonkatholizismus geht zwar von einer »wesentliche[n] und emphatische[n] Bezugnahme von Kunst auf Religion« und auf das von ihr (in einer spezifischen Konfession, nämlich dem Katholizismus) gesetzte »Heilige oder Numinose« aus, das etwa Heinrich Detering von einer Kunstreligion im engeren Sinn fordert.130 Zugleich tritt das ästhetische Erlebnis in diesem Programm an die Stelle des religiösen, ohne dass dadurch die Kunst selbst schon sakralisiert würde. Mosebach schreibt ausdrücklich keine katholische Literatur. Zwar sei er bekennender Katholik; da aber in seinem Umfeld das Katholische (verstanden als ein existenzieller Kampf um Fragen des Glaubens) nicht stattfinde, könne er es auch nicht beschreiben.131 Auch möchte er Literatur nicht auf die Funktion eines »Propaganda-Vehikel[s] katholischer Lehre«132 beschränken. Vielmehr würdigt er – insbesondere in Häresie der Formlosigkeit – die ästhetische Wirkkraft der ›alten‹ Liturgie als religiöses Potenzial. Genau dadurch unterscheide sie sich von der ›neuen‹ Form. Wenn aber die Liturgie als Kunst eine religiöse Wirkkraft entfaltet und entsprechende Erfahrungen ermöglicht, dann wird im kunstreligiösen Konzept des Feuilletonkatholizismus Religion nicht einfach durch etwas ›Religionsförmiges‹ ersetzt, wie dies in anderen ›postsäkularen‹ Formen der Kunstreligion (die wohl genauer als ›postreligiös‹ zu bezeichnen sind) nicht selten der Fall ist. Als ›religionsförmig‹ hat eine Übernahme dann zu gelten, wenn »nicht-religiöse Inhalte […] in ein religiös konnotiertes Lay_____________ 129 Zu den Konzepten der primären und der sekundären Kunstreligion vgl. Stockinger: Poesie und Wissenschaft als Religion (Anm. 47), S. 20. 130 Detering: Religion (Anm. 128), S. 393. − Vgl. auch Detering, Heinrich: Was ist Kunstreligion?; in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin – New York 2011, S. 11-27, hier S. 12. 131 »Und so sehe ich mich denn außerstande, Menschen zu beschreiben, die um ihren Glauben ringen, oder Menschen, die eine Bekehrung erleben, oder Menschen, die das Martyrium erleiden, oder Menschen, die an ihrer Schuld oder ihren Zweifeln zerbrechen, wenn ich solche Menschen niemals gesehen und erlebt habe« (Mosebach, Martin: Was ist katholische Literatur?; in: Mosebach, Martin: Schöne Literatur. Essays. München 2006, S. 105-129, hier S. 118). 132 Mosebach: Was ist katholische Literatur? (Anm. 131), S. 119.

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out gehüllt«133 werden. Signifikante Beispiele sind etwa die auf das Szenario der Berufung Mose anspielende Werbung eines Sportartikelherstellers: »Zieh deine Nike-Schuhe an, denn hier ist heiliger Boden«134 – oder eventorientierte Adaptationen religiöser Formate wie die Verwandlung eines Diskobesuchs in eine Art Kirchgang in Rainald Goetz’ Rave (1998): Um schnell mal rüber zu schauen ins P 1, wo doch gerade Blub Club sein soll, oder? Ja, genau. Am Eingang kriegt jeder einen Begrüßungsschnaps injiziert und Norbert segnet alle, in roter Kardinalsrobe, wie gesagt, mit weißen Handschuhen und rotweißroter Mitra groß am Kopf. Und wir gehen da also rein, und sofort ist man praktisch verschluckt von dem ganzen hochaufwendigen Dekoirrsinn: farbig, glimmernd, würdevoll: ein düster opulentes, bayrisch schwules Pophochamt des Hochbarock, mittelalterliche Gesänge und Mönche in Kutten, knabenhafte Ministranten, die den Weihrauch schwenken, Betbänke und Beichtstühle, und vorne eine goldfunkelnde Monstranz, in deren weißleuchtender Mitte das obligatorisch erigierte, männliche Ding zu jubilierender Anbetung ausgestellt und freigegeben ist. Sehr schön. Und die Glocken läuten schwer und drohend in das alles hinein. Und der Laden ist brechend voll und tobt da auf diese alte, irre Art ums Allerheiligste, das Sanctum und Sacrum, den Sex der Musik.135

In dieser ›postreligiösen‹ Ausprägung parodiert Kunstreligion religiöse Vorgaben, indem sie deren Formen übernimmt, die Inhalte aber (in diesem Fall – nolens volens – blasphemisch) verändert.136 Der ästhetizistischen Anlage des zugleich auf religiöse Erbauung setzenden Feuilletonkatholizismus läuft dieses Programm gerade zuwider. Der Feuilletonkatholizismus ist Kunstreligion weder im Sinne bloßer ›Religionsförmigkeit‹ noch im Sinne bloßer ›Gesinnung‹ (wie Sigrid Löffler im Fall Mosebachs unterstellte).137 Zum einen tritt Mosebach für den ›alten‹ katholischen Ritus ein _____________

133 Höhn, Hans-Joachim: Postreligiös oder postsäkular? Wo heute religiöse Bedürfnisse aufleben; in: Herder Korrespondenz Spezial (Oktober 2006): Renaissance der Religion. Mode oder Megathema?, S. 2-6, hier S. 4. 134 Ex 3,5 (Einheitsübersetzung): »Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden«; vgl. dazu Hainz, Michael: Die religiöse Landschaft in Deutschland. Zwischen schrumpfender Kirchlichkeit und spirituellen Neuaufbrüchen; in: Stimmen der Zeit 133 (2008), S. 377-390, hier S. 383. 135 Goetz, Rainald: Rave. Erzählung. Frankfurt/M. 1998, S. 68f. – Eine frühe Form bietet Goldman, Albert: Disco (im Raum einer alten Kirche). New York 1978; vgl. Schumacher, Eckhard: Can You Feel It? Pop, Literatur und Religiosität; in: Braungart, Wolfgang/Koch, Manfred (Hrsg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. III: Um 2000. Paderborn u. a. 2000, S. 219-252, hier S. 224 und 228. 136 Die ›Parodie‹ modifiziert »das Thema und beläßt den Stil« (Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M. 1993, S. 22-24, S. 36). 137 Vgl. Löffler: Als man zum Kitsch noch Horreur sagte (Anm. 14), S. 5. – Vgl. dazu auch: »Das hat etwas Perverses« – Löffler kritisiert die Vergabe des Georg-Büchner-Preises an Mosebach (Liane von Billerbeck im Gespräch mit Sigrid Löffler, Deutschlandradio Kultur 05. 10. 2007 (http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kulturinterview/677424).

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und redet zum anderen einer animistischen Spiritualität das Wort. Mit diesem Eklektizismus verbinden sich sowohl ein hoher künstlerischer Anspruch als auch das Interesse am Religiösen als einem ›Besonderen‹, ›Außerordentlichen‹, ›Unverständlichen‹ (jedenfalls nicht jedem Verständlichen). Der sich mit Mosebach im bürgerlichen Habitus inszenierende Revisionismus war, so gesehen und bezogen auf den ›Zeitgeist‹ des Jahrzehnts 2000-2010, gleichsam der neueste Schrei der Erlebnis- oder (›nachbürgerlichen‹) Wissensgesellschaft. Formen der Kunstreligion der Jahrtausendwende entstehen demnach in Aushandlung vielfältiger (para-)religiöser Konzepte der Zeit, die auf den postmodernen Pluralismus reagieren, indem sie etwa (wie der Feuilletonkatholizismus) neue Verbindlichkeiten einklagen. Für diese Konzepte haben die Religionswissenschaften den Oberbegriff der ›vagierenden Religiosität‹ geprägt; neben ›politischen Religionen‹, ›Sportreligion‹ oder ›Sozialreligionen‹ etc. ist etwa das Konzept einer ›Intellektuellen-Religiosität‹ im Umlauf, das den Vorstellungen des ästhetisch begründeten Feuilletonkatholizismus ziemlich nahe kommt.138 Zusammenfassend: Der Feuilletonkatholizismus lässt sich verstehen als eine Ausprägung der ›postsäkularen‹ Gesellschaft. Zu seinen Voraussetzungen gehört ein Freiraum der Multioptionalität in religiösen Fragen. Zugleich ist diese neue Vielfalt Bestandteil des Feuilletonkatholizismus, der spirituelles Erleben und institutionalisierte Religion dann voneinander trennt, wenn die gültige kirchliche Lehre (etwa der ›ordentliche‹ Messritus) den eigenen – in erster Linie ästhetischen – Vorstellungen nicht entspricht. In diesem Sinne ist der Feuilletonkatholizismus kaum als Indiz für den aktuellen ›Konservativismus‹ zu bezeichnen, wie gelegentlich zu lesen steht.139 Es geht im feuilletonkatholischen Programm ja gerade nicht darum, in der Kirche, bezogen auf die Inhalte des Glaubens, Altes zu bewahren und sich allem sogenannten ›Neuen‹ zu verweigern. Vielmehr beschränkt sich die ›konservative‹ Haltung des Feuilletonkatholizismus auf eine von ihm entworfene Form, die nichts ›bewahrt‹, sondern etwas völlig Neues kreiert, indem sie Altes aussortiert oder (je nach Bedarf) Neues hinzumengt. Auch die Rede von einer ›Rückkehr der Religion(en)‹ ist insofern problematisch, als etwa Mosebachs Forderungen nach einer Revision der sogenannten ›Tridentinischen Messe‹ kein konsequentes Plädoyer für einen _____________

138 Graf: Die Wiederkehr der Götter (Anm. 12), S. 97. 139 Vgl. Seibt, Gustav: Das schwarze Loch. Sie werden, wenn sie die Neuwahlen gewinnen, eine größere Gestaltungsmacht haben denn je. Aber was wollen die deutschen Konservativen eigentlich?; in: Süddeutsche Zeitung Nr. 150 vom 02./03. 07. 2005, S. 13.

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vorkonziliaren Katholizismus enthalten, sondern mit einem ganz eigenen (›individuellen‹) Synkretismus auf den für die ›postmodernen‹ Gesellschaften allgemein diagnostizierten Werteverlust reagieren. Der Feuilletonkatholizismus folgt damit dem Imperativ der Erlebnis- sowie der Wissensgesellschaft, in den Mittelpunkt der Wahl die eigene Selbstverwirklichung zu stellen. Die Entscheidung für eine elitäre Kultform, die bestimmten (nämlich unpopulären) ästhetischen Ansprüchen genügt, bietet aus feldtheoretischer Perspektive zweifellos einen enormen Standortvorteil. Eine Zeitlang – von ca. 2000 bis ca. 2010 – feierte der Feuilletonkatholizismus durchaus einige Erfolge (die Verleihung des Büchner-Preises an Mosebach ist nur eines von vielen Beispielen). Er gehört zu den bislang wirkmächtigsten Formen der Kunstreligion des neuen Jahrtausends.

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Das Heilige, die Kirche und ›quasi‹ das Jenseits Varianten des Totenkults in der Gegenwartsliteratur D ie K u nst al s To dte nb e sc h wö r er i n. ― Die Kunst versieht nebenbei die Aufgabe zu conserviren, auch wohl erloschene, verblichene Vorstellungen ein Wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren. Friedrich Nietzsche

In La chambre claire, seinem berühmten Essay zur Fotografie von 1980, entfaltet Roland Barthes eine Argumentation, die ein spezifisches Wechselverhältnis von Tod, Fotografie und Religion entwirft: [La Photographie] doit avoir quelque rapport avec la « crise de mort » […]. Car la Mort, dans une société, il faut bien qu’elle soit quelque part; si elle n’est plus (ou est moins) dans le religieux, elle doit être ailleurs […].1

Mindestens zwei Begriffe sind hier erläuterungsbedürftig: Das Schlagwort von der ›Krise des Todes‹ meint den Verlust allgemeinverbindlicher Riten, das Verbergen, den Ausschluss des Todes aus dem öffentlichen Raum – eine grundlegende Diskursverschiebung, die der Historiker Philippe Ariès im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert beobachtet und in seiner wirkmächtigen Studie L’Homme devant la mort (1977) rekonstruiert hat.2 Die Frage nach dem ›Anderswo‹, in das sich der Tod aus dem Bereich des Religiösen bewegt habe, beantwortet Barthes mit dem Hinweis auf die Fotografie hingegen selbst, und die neuere Forschung hat ihn darin mittlerweile bestätigt: So wurden beispielsweise sogenannte Geisterfotografien – Aufnahmen, auf denen man die Abbilder von Toten zu erkennen meint – als ein Ort der Moderne beschrieben, an dem die Toten ›sichtbar‹ _____________ 1 2

Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie. 1980; in: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Tome V: 1977-1980. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty. Paris 2002, S. 785-892, hier S. 863. Vgl. Ariès, Philippe: Geschichte des Todes. Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen und Una Pfau. München 1980, S. 715-770.

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werden.3 Aber auch im Bereich der Literatur sind entsprechende Phänomene – Figuren der Totenbeschwörung, Motive des Wiedergehens, des Erscheinens von Verstorbenen – erkannt und untersucht worden, und zwar auf inhaltlicher wie auf medialer Ebene: bei Autoren wie Stéphane Mallarmé, Stefan George, Rainer Maria Rilke, Osip Mandel’štam oder Paul Celan etwa;4 leicht ließe sich diese Reihe um Namen wie Walt Whitman, Edgar Allan Poe, Vladimir Nabokov oder Ernst Jünger erweitern. »Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen«:5 Dieser allgemeine Wirkungszusammenhang, von dem Friedrich Nietzsche spricht, findet mit Blick auf den Totenkult – hier verstanden als »Glaubensvorstellungen und Praktiken, die den Tod, die Seele und sonstige Geistwesen zum Gegenstand haben«6 – offenbar seine konkrete Bestätigung; dementsprechend expliziert auch Nietzsche seine These hinsichtlich einer »Wiederkehr geliebter Todten«7 in der Kunst. Vor dem Hintergrund dieser Konstellation lassen sich in Sicht auf den Phänomenbereich ›Kunstreligion um 2000‹ eine These formulieren und eine Frage stellen: _____________ 3

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Vgl. Arndt, Christiane: Leichen und Geister – Fotografie und Tod im 19. Jahrhundert; in: Eiden, Patrick/Ghanbari, Nacim/Weber, Tobias/Zillinger, Martin (Hrsg.): Totenkulte. Kulturelle und literarische Grenzgänge zwischen Leben und Tod. Frankfurt/M. – New York 2006, S. 147-170, hier S. 151. Vgl. Werberger, Annette: Zwischen Totenkult und Textkult: Der Mensch, der Tod und das Gedicht; in: Eiden/Ghanbari/Weber/Zillinger: Totenkulte (Anm. 3), S. 103-122. – Dem Totenkult bei Stefan George widmet sich Dörr, Georg: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Zur Dialektik der Aufklärung um die Jahrhundertwende bei den Kosmikern, Stefan George und in der Frankfurter Schule. Würzburg 2007, S. 346-350. − Zu den Klassikern der literarischen Moderne (u. a. Marcel Proust, Virginia Woolf, Franz Kafka, James Joyce) vgl. Lewis, Pericles: Religious Experience and the Modernist Novel. Cambridge 2010; zum Bereich der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur vgl. Winde, Arne de (Hrsg.): Literatur im Krebsgang. Totenbeschwörung und memoria in der deutsch-sprachigen Literatur nach 1989. Amsterdam – New York 2008. – Weitere, aktuelle Bei-spiele untersucht Ulrike Vedder im kulturgeschichtlichen Zusammenhang: Gegenwart und Wiederkehr der Toten. Sterben, Erben, Musealisieren vor und nach der Moderne; in: Zeitschrift für Germanistik 17 (2007/2), S. 389-397. – Beispiele aus dem Bereich von Fotogra-fie und Literatur aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg finden sich bei Winter, Jay: Sites of memory, sites of mourning. The Great War in European cultural history. Cambridge – New York 1995. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister (1878); in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 2. München 1980, S. 9-366, hier S. 144. Veit, Ulrich: Zur Einführung; in: Kümmel, Christoph/Schweizer, Beat/Veit, Ulrich (Hrsg.): Körperinszenierung – Objektsammlung – Monumentalisierung. Totenritual und Grabkult in frühen Gesellschaften. Archäologische Quellen in kulturwissenschaftlicher Perspektive. Münster 2008, S. 17-30, hier S. 23. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (Anm. 5), S. 142.

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1. Die Tradition eines modernen literarischen Totenkults ist – so die These – bis heute wirksam und setzt sich in unterschiedlichen Varianten bei Autoren wie Walter Kempowski, W. G. Sebald und Durs Grünbein fort. Ausschlaggebend für die Auswahl gerade dieser drei Autoren, die bislang noch nie in einem Zusammenhang betrachtet worden sind, ist ein jeweils spirituelles Medienkonzept,8 das nicht nur den Gedanken der Unsterblichkeit einschließt, sondern darüber hinaus eine tatsächliche, realpräsentische Begegnung der Lebenden mit den Verstorbenen im Akt der Rezeption ermöglichen soll. In diesem Anspruch wird die Funktion der memoria, wie sie für die klassischen Formen des Totengesprächs, der Totenklage oder der Epitaph-Dichtung charakteristisch ist, entschieden überschritten. Dabei geht die Spiritualisierung der Medien mit einer entweder ausdrücklichen oder auch nur unterschwelligen Erhöhung der Autoren zu ›Figuren des Dritten‹ einher, die mit ihren Werken zwischen den Lebenden und den Toten zu vermitteln versuchen. 2. Die daran anschließende Frage leitet sich aus dem entsprechenden Kunst- und Künstlerkonzept ab: Wenn sich historisch ein Prozess der Übernahme religiöser Funktionen durch die Kunst nachzeichnen lässt, dann liegt es nahe, dass dieser Transfer auch auf der Ebene inter- und extratextueller Bezüge der Kunst auf religiöse Inhalte erkennbar wird, insofern also von kunstreligiösen Modellen im engeren Sinne gesprochen werden kann.9 Beispielhaft zeichnet sich ein solcher Wechselbezug, im Blick auf die Fotografie, bei Barthes selbst ab, der zunächst von der »substance religieuse dont je suis pétri« spricht: »rien à faire: la Photographie a quelque chose à voir avec la résurrection«.10 Und weiter: _____________ 8

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Es gibt keine unstrittige Definition von ›Spiritualität‹. Im vorliegenden Zusammenhang scheint jedoch die allgemeine Erklärung als »Seins- oder Erkenntnisweise der immateriellen Wesen« zutreffend (Solignac, Aimé: ›Spiritualität‹; in: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 9. Basel 1995, Sp. 1415-1422, hier Sp. 1416). Heinrich Detering bestimmt drei klassifikatorische Bedingungen für die terminologische Rede von Kunstreligion: 1. die »funktionale Ausdifferenzierung« von Kunst und Religion in zwei unterschiedliche soziale Teilsysteme, die sich mit der Herausbildung eines autonomen Kunstverständnisses im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzieht; 2. eine »wesentliche und emphatische Bezugnahme« der Kunst auf Religion sowie 3. der Anspruch, der Kunst, »bestimmte Funktionen« der Religion zuzuschreiben; vgl. Detering; Heinrich: Religion; in: Anz, Thomas (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände, Konzepte, Institutionen. Band 1: Gegenstände und Konzepte. Stuttgart – Weimar 2007, S. 382-395, hier S. 393. Barthes: La chambre claire (Anm. 1), S. 855. – Dass diese Form der ›Auferstehung‹ gleichwohl nicht mit dem christlichen Konzept gleichzusetzen ist und auch keine ›Wiederkehr der Toten‹ im engeren Sinne impliziert, stellt Barthes ausdrücklich heraus: »L’effet qu’elle [die Fotografie; K. S.] produit sur moi n’est pas de restituer ce qui est aboli (par le temps, la distance), mais d’attester que cela que je vois, a bien été« (Barthes: La chambre claire

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ne peut-on dire d’elle [der Fotografie; K. S.] ce que disaient les Byzantins de l’image du Christ dont le Suaire de Turin est imprégné, à savoir qu’elle n’était pas faite de main d’homme, acheïropoïétos?11

Religiöse Denkfiguren »issues des mille foyers de la culture«12 zu einem Sinnhorizont verschmelzend, konzipiert Barthes also ein Modell, das die inhaltliche und funktionale Gebundenheit der Fotografie an den religiösen, insbesondere christlichen, Traditionsbestand offenlegt. Ob dies in vergleichbarer Weise auf die Autoren Kempowski, Sebald und Grünbein zutrifft und inwiefern eine Einordnung ihrer literarischen Totenkulte unter dem Oberbegriff der Kunstreligion sinnvollerweise, d. h. unter Wahrung der in den letzten Jahren gewonnenen begrifflichen Trennschärfe,13 möglich erscheint – diese Frage wird auf Grundlage der folgenden drei Skizzen zu beantworten sein.

I. Walter Kempowski oder »Kirchen werden zu Erinnerungshäusern«14 Im Tagebuch vom 16. Februar 1983 formuliert Walter Kempowski eine persönliche Überzeugung, die für seine Poetik von grundlegender Bedeutung ist: »Ich weiß, daß die Seelen der Toten so lange leben, wie wir von ihnen sprechen. Und sie leben gerne noch etwas, da drüben«.15 Es handelt sich hier zunächst um eine geläufige Vorstellung, bei der aus der im weiteren Sinne religiösen Tradition lediglich die Struktur zweier Welten übernommen wird: Der Tod trennt die Seele vom Leib, die Seele geht über in eine jenseitige Sphäre (›da drüben‹) und dauert weiter im Gespräch, im _____________

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(Anm. 1), S. 855). Stattdessen läuft Barthes’ Konzept auf die unauflösliche Spannung einer tatsächlichen Präsenz des allerdings unwiderruflich Vergangenen in der Fotografie hinaus: »ce que je vois, ce n’est pas un souvenir, une imagination, une reconstitution, un morceau de la Maya, comme l’art en prodigue, mais le réel à l’état passé: à la fois le passé et le réel« (Barthes: La chambre claire (Anm. 1), S. 855f.). Barthes: La chambre claire (Anm. 1), S. 855. Barthes, Roland: La mort de l'auteur (1968); in: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Tome III: 1968 – 1971. Nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Éric Marty. Paris 2002, S. 40-45, hier S. 43. Vgl. für eine Rekonstruktion Sina, Kai: Kunst – Religion – Kunstreligion. Ein Forschungsüberblick; in: Zeitschrift für Germanistik 2 (2011), S. 337-344. In diesem Abschnitt berufe ich mich auf einige Ergebnisse meiner Studie: Sühnewerk und Opferleben. Kunstreligion bei Walter Kempowski. Göttingen 2012. Kempowski, Walter: Sirius. Eine Art Tagebuch. München 1990, S. 77.

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Gedenken der Lebenden an die Verstorbenen. Die Aussparung des Auferstehungsgedankens geht hier mit einer Form der memoria einher, die sich in der religiösen Praxis seit dem frühen 19. Jahrhundert etablieren konnte. Kempowski argumentiert prinzipiell nach dem Modell des Totensonntags, in dem sich die Erinnerung gegenüber der Auferstehung tendenziell verselbständigt: Der Tote lebt nun vornehmlich im Gedächtnis der Lebenden fort.16 Diese Verschiebung von der Auferstehung zur Erinnerung wird bei Kempowski konsequent weitergedacht. Die christlichen Sakralbauten und die Liturgie seien zukünftig vollständig dem Gedenken zu widmen, die religiösen Traditionen durch einen neuen, eigenwilligen Memorialkult zu ersetzen: Kirchen werden zu Erinnerungshäusern. So wie früher Evangelienlesungen, so werden jetzt Lesungen aus Biographien abgehalten, Fehlentwicklungen studiert. Fehler auch, ›Unglück‹, nie wiederholen sich die Lern- oder Betrachtungsstoffe. Unerschöpflicher Reichtum. [...] Jeder Mensch bekommt bei der Taufe einen Zweitnamen, der einem Toten abgenommen. Sein Leben verbringt er damit, sich dessen Leben zu vergegenwärtigen. [...] Erfinder der Biographieforschung wird verehrt in Tempel.17

Die hier erkennbare Ablösung der Erinnerung vom Auferstehungsdenken zeigt sich auch darin, dass bei Kempowski unklar bleibt, was mit jenen Seelen geschieht, deren nicht mehr gedacht wird. Der Wegfall der endzeitlichen Perspektive geht einher mit dem Verlust einer angemessenen Sprache für das Jenseitige, was zu immer neuen, nie befriedigenden Annäherungen an das Unbekannte führt: »Was ist mit den Seelen, an die niemand mehr denkt? Die Seele eines Bauern, der im 15. Jahrhundert gelebt hat?«.18 Der Fragende verfügt über keine konkretere Vorstellung, über kein genaueres Bild als das einer ›eisigen Weltallewigkeit‹,19 eines diffusen und lebensfeindlichen Dunkels also. An anderer Stelle mündet der Zweifel in eine Denkfigur, in der sich religiöse Vorstellungen (das Fegefeuer) und _____________ 16

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Bizer, Christoph: Auferstehung, praktisch-theologisch; in: Betz, Hans Dieter/Browning, Don S./Janowski, Bernd/Jüngel, Eberhard (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Band 1: A – B. Tübingen 1998, Sp. 921-922, hier. Sp. 921. – Diese Enthebung des Totengedenkens aus seinem eschatologischen Bezug ist auch ein Grund dafür, warum der Totensonntag theologisch seit dem 19. Jahrhundert umstritten ist (vgl. Bieritz, Karl-Heinz: Totensonntag; in: Betz/Browning/Janowski/Jüngel (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Band 5: L – M. Tübingen 2002, Sp. 498). Kempowski, Walter: Culpa. Notizen zum Echolot. München 2005, S. 43. – Die hier wiedergegebene Äußerung entstammt dem Entwurf zu einem Science-Fiction-Roman. Kempowski, Walter: Alkor. Tagebuch 1989. München 2003, S. 354. Vgl. Literatur im Foyer (SWR, 20. 03. 2000).

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abergläubische Elemente (der Allerseelenwind) miteinander vermischen: »Merkwürdig, daß man sich die armen Seelen besonders in windigen Nächten vorstellen kann«.20 Für die Frage nach der totenkultischen Archivpraxis Kempowskis und der sich aus ihr herleitenden Poetik des Echolot (1993-1995) ist der Bezug der Seelen zu den von ihnen hinterlassenen Briefen, Lebenserinnerungen, Tagebüchern usf. entscheidend, die Kempowski seit den 1980er Jahren zehntausendfach gesammelt, archiviert und schließlich zur Textcollage verarbeitet hat. Deutlich kommt dabei zunächst die Funktion einer medialen Repräsentation zum Ausdruck: Ein Einsender aus Rostock hat sein Manuskript zurückgefordert […]. Der gute Mann hat keine Ahnung, daß das Echolot die einzige Chance war, den Aufzeichnungen seines Vaters ein Forum zu schaffen, d. h., ihn unsterblich zu machen.21

Nicht etwa durch das schöpferische Handeln des dreieinigen Gottes, sondern durch die Aufnahme der schriftlichen Hinterlassenschaft des Vaters erst in das Archiv, später in das Echolot würde dieser Mensch der Unsterblichkeit teilhaftig, weil allein die ins Medium der Literatur überführten Schriftstücke das Andenken des Toten aufrechterhalten könnten. Übersetzt in das Seelen-Vokabular Kempowskis bedeutet dies: Das Fortleben der Seele ›da drüben‹ ist nur dann gewährleistet, wenn das Echolot die kollektive Erinnerung an diese Seele über die Zeit hinweg sicherstellt. Entsprechend dieser medialen Repräsentationsfunktion gleicht der Rückruf eines einmal eingesandten Dokuments durch einen Angehörigen ebenso wie die Tilgung eines bereits in das Manuskript eingefügten Schriftstücks durch den Autor einem endgültigen Todesurteil: »Ich muss sagen, als das Konvolut, dieses Riesenkonvolut fertig war, es waren ja weit über 5000 Seiten, musste ich streichen«, so Kempowski in einem Fernsehinterview. »Und ich hab mich da sehr schwer getan, denn jeder Strich bedeutet ja das nachträgliche Todesurteil für eine Seele«.22 Der erhebliche Umfang des Werks – in der Endfassung von 2005 insgesamt fast 8000 Seiten, mehr oder weniger gleichmäßig verteilt auf zehn dicke, edel in rotes Leinen gebundene Einzelbände – lässt sich auf eben dieses Problem zurückführen; die außerordentliche Materialität des Werks unterstreicht somit die Außerordentlichkeit des mit ihm verbundenen Auftrags: »Und was den _____________ 20

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Kempowski: Alkor (Anm. 18), S. 354; vgl. hierzu Mengis, Carl: Arme Seelen; in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Herausgegeben unter besonderer Mitwirkung von E. Hoffmann-Krayer und Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen von Hanns BächtholdStäubli. Band 1. Berlin – Leipzig 1927, Sp. 584-597. Kempowski: Culpa (Anm. 17), S. 213. Das undatierte, aus den neunziger Jahren stammende Interview wurde ausgestrahlt in dem TV-Porträt Walter Kempowski. Die Bücher seines Lebens (NDR, 18. 11. 2007).

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Umfang angeht: Jeder Zeuge, der gestrichen wird, stirbt zum zweiten Mal [...]. Zum ersten Mal wurde mir klar, daß ich etwas Ungeheuerliches in die Welt setze«.23 Doch hierbei bleibt es nicht. Kempowski spitzt die Funktion einer medialen Repräsentation immer wieder zu einer medialen Identifikation der schriftlichen Artefakte mit den Toten zu. In dieser Logik entspricht das Artefakt der Person, die es bei ihrem Tod hinterlassen hat, d. h. das Artefakt ist die Person: »Die Menschen leben weiter in den materiellen Tatbeständen, die sie geschaffen haben, in ihren Werken, in dem, was sie angerührt haben«.24 Welche Auswirkungen diese Identifikation auf die Arbeit im Archiv und am Werk hat, zeigt ein weiterer Tagebucheintrag, der vom unvorsichtigen Umgang mit einem Manuskript berichtet, d. h. von der versehentlichen Löschung eines bereits in den Computer eingegebenen Textes, die Kempowski bis in den Schlaf hinein verfolgt: Schwere Träume. Zuerst lange von Uschi Schaubert, gestern war ich noch zusammen mit ihr, da heißt es: Sie ist tot. Ausgelöst wurde der Traum durch einen Fehler, den ich gestern am Computer machte. Ich ging ›neben‹ das Textprogramm in den Apparat – neugierig – und löschte durch eine Taste eine ganze Diskette mit ›Zwischentexten‹, das ging so schnell, als wenn es nichts wäre.25

Die Beschäftigung mit dem jeweiligen Artefakt oder auch nur das bloße Vorhandensein in dem Manuskript entspricht in dieser Darstellung dem tatsächlichen Umgang, dem realen Beisammensein des Archivars und der dahinterstehenden Person, die durch den falschen Klick, den unabsichtlichen Druck auf die Delete-Taste, zum zweiten Mal – und diesmal endgültig – verstirbt. Mit dieser Konstellation – der Repräsentation der Seelen durch die Artefakte und ihrer Identifikation mit ihnen, deren Bewahrung und Aufbereitung das Gedenken und Fortleben gewährleisten sollen – geht unvermeidlich die Erhebung des Autors zum Richter über Leben und Tod einher: »Texte streichen, das hieße: Menschen streichen«.26 Der Autor, der die hinterlassenen Schriftstücke in sein Manuskript einfügt und notgedrungen oder auch nur versehentlich wieder löscht, erfährt in dieser Logik schließlich – und ungeheuerlicherweise – seine Apotheose: »Ich entscheide über Tod und ewiges Leben«.27 _____________ 23 24 25 26 27

Kempowski: Alkor (Anm. 18), S. 300. Zit. nach Hempel, Dirk: Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie. München 2007, S. 244. Kempowski, Walter: Somnia. Tagebuch 1991. München 2008, S. 383. Kempowski: Culpa (Anm. 17), S. 297. Kempowski: Culpa (Anm. 17), S. 315.

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II. W. G. Sebald oder »eine sehr fragwürdige Zauberkunst« Dem gelehrten W. G. Sebald wäre eine solch unverhohlene und darin durchaus provozierende Überhöhung der eigenen Autorschaft sicher fremd, zumal im Blick auf Kempowski, der mit dem Echolot ohnehin die Skepsis des akademischen Schriftstellerkollegen auf sich gezogen hat. »Das ist sehr gutes Material – und gut, daß es das gibt«, gesteht Sebald in einem Interview zunächst zu, um gleich darauf mit der vollen Autorität des Literaturwissenschaftlers sein Urteil zu fällen: »Aber es handelt sich nicht um Literatur in irgendeiner Form«.28 So unterschiedlich die Literaturbegriffe beider Autoren offenbar bewertet werden müssen, und so scharf die Abgrenzungsgeste Sebalds auch ausfällt: In ihrer Konzeption eines medialen Totenkults treffen sich Kempowski und Sebald. Während Kempowski allerdings in erster Linie von schriftlichen Hinterlassenschaften ausgeht, sind es bei Sebald vor allem Fotografien, die eine Begegnung der Lebenden mit den Toten ermöglichen (Torsten Hoffmann und Uwe Rose haben dies in einer eigenen Studie bereits ausführlich gezeigt).29 Ein weiterer, auf den ersten Blick ersichtlicher Unterschied besteht darin, dass Sebald − anders als Kempowski mit seinen persönlichen Tagebuchnotizen − die eigene Person in den Totenkult nur mittelbar mit einbezieht. Das ergibt sich schon aus den Textsorten, in denen Sebald sein Modell begründet: in Romanen, Erzählungen, Essays. Dies zeigt ein kurzer, nur stichprobenartiger Streifzug durch das Gesamtwerk. Der Erzähler in Die Ausgewanderten (1992) nimmt immer wieder das Fotoalbum seines Lehrers zur Hand, weil es ihm »beim Betrachten der darin enthaltenen Bilder tatsächlich schien und nach wie vor scheint, als kehrten die Toten zurück«.30 In Austerlitz (2001) erscheint die Fotografie als ein ›Unergründliches‹; gerade das Bild des sowohl im Buch als auch auf dem Cover abgebildeten Jungen wird für Austerlitz zum Gegenstand intensiver Betrachtungen, und der Betrachtete scheint den Blick des Be_____________ 28 29

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Hage, Volker: Gespräch mit Hitlers pyromanischen Phantasien [Interview mit W. G. Sebald]; in: Hage, Volker: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche. Frankfurt/M. 2003, S. 259-279, hier S. 266. Vgl. Hoffmann, Torsten/Rose, Uwe: ›Quasi jenseits der Zeit‹. Zur Poetik der Fotografie bei W. G. Sebald; in: Zeitschrift für deutsche Philologie 125 (2006/4), S. 580-608, hier S. 605. - Zu diesem Aspekt (u. a. mit Blick auf Austerlitz) vgl. außerdem Horstkotte, Silke: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln u. a. 2009, S. 234-247. Sebald, W. G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen (1992). Frankfurt/M. 2003, S. 68f.

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trachtenden zu erwidern: Austerlitz fühlt sich »von dem forschenden Blick des Jungen« durchdrungen, »der gekommen war, seinen Teil zurückzufordern«.31 In dem aus dem Nachlass veröffentlichen Essay Campo Santo – und damit jenseits des Fiktionalen – werden Fotografien schließlich »als die Materialisierung gespenstischer Erscheinungen vermittels einer sehr fragwürdigen Zauberkunst« gedacht.32 Den Fotografien wird bei Sebald somit eine »Unsterblichkeitshoffnung«33 zugeschrieben. Die Toten befinden sich in ihnen, so lässt sich eine Formulierung aus Austerlitz übertragen, »quasi jenseits der Zeit«34 − eine Denkfigur, die hinüberspielt in eine mythologische WiedergängerIdee (›sichtbar werdende Wesen‹) und überdies auf einem spirituellen Konzept der Fotografie (›Materialisierung‹) beruht. Die Verbindung der verschiedenen diskursiven Versatzstücke und ihr funktionales Zusammenspiel ähneln in dieser Hinsicht dem Modell bei Roland Barthes, das Sebald nachweislich kannte.35 Allein: Von der ›religiösen Substanz‹, die Barthes in sich erkennt, ist bei Sebald – zumindest ausdrücklich – keine Rede mehr.36 Darüber hinaus sticht in diesen Reflexionen die durchgehende Rede in Möglichkeitsformen, im Modus des ›als ob‹, ins Auge. Dies kann, muss aber nicht notwendigerweise als Versuch der Relativierung gedeutet werden. Zwar bringt Sebald seine Aussagen dadurch in der Tat in einen »uneindeutigen Schwebezustand«,37 doch wird auf diese Weise zugleich zum Ausdruck gebracht, dass die Ungeheuerlichkeit, die ›tatsächlich‹ stattfindet, sprachlich nur unzureichend benannt werden kann, dass also die verbale Vermittlung selbst immer nur ein ›als ob‹ der Repräsentation darstellt. In dieser Lesart verweist die wohl bewusste Unschärfe der Sprache auf das buchstäblich ›unsagbare‹ Potenzial des fotografischen Mediums. Im selbstreflexiven Sinne lassen sich die angeführten Passagen als Betrachtungshinweise an die Leser der Romane und Erzählungen verstehen _____________ 31 32 33 34

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Sebald, W. G.: Austerlitz. München – Wien 2001, S. 264. Sebald, W. G.: Campo Santo. In: Sebald, W. G.: Campo Santo. Herausgegeben von Sven Meyer. München – Wien 2003, S. 19-38, hier S. 28. Hoffmann/Rose: ›Quasi jenseits der Zeit‹ (Anm. 29), S. 605. Sebald: Austerlitz (Anm. 30), S. 363. − Die Formulierung bezieht sich hier nicht auf Fotografien, sondern allgemein auf eine »Vergangenheit«, in der die Menschen möglicherweise »Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns« (Sebald: Austerlitz (Anm. 31), S. 363). Die entsprechenden Lektürespüren finden sich dokumentiert und ausgewertet bei VogelKlein, Ruth: Französische Intertexte in W. G. Sebalds Austerlitz; in: Heidelberger-Leonard, Irene/Tabah, Mireille (Hrsg.): W. G. Sebald. Intertextualität und Topographie. Münster 2008, S. 73-92, hierzu S. 82f. Zu Differenzen und Überschneidungen zwischen den Konzepten von Barthes und Sebald vgl. eingehender Hoffmann/Rose: ›Quasi jenseits der Zeit‹ (Anm. 29), S. 600f. Hoffmann/Rose: ›Quasi jenseits der Zeit‹ (Anm. 29), S. 606.

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und in dieser Funktion auf all jene Fotografien beziehen, die Sebald in großer Zahl in seine literarischen Texte und Essays einfügt. Ungeachtet der unterschiedlichen Varianten, die am intermedialen Zusammenspiel von Text und Bild zu beobachten sind,38 lässt sich grundsätzlich ein Bedeutungsüberschuss bestimmen, ja eine ›Spur des Magischen‹ (Susan Sontag), die den Fotografien anhaftet: Es sind Tote, die wir/die uns auf diesen Bildern ansehen, und es lässt sich bei eingehender Betrachtung der Eindruck gewinnen, »es rühre sich etwas in ihnen, als vernehme man kleine Verzweiflungsseufzer«.39 Den Fotografien wird bei Sebald somit eine »metaphysische Dimension«40 zugeschrieben: Ihnen ist »ein Bewußtsein« zu eigen, wie es in einem weiteren Essay heißt, »dem etwas an der Fortführung des Lebens gelegen ist«.41 Der auffälligen Unschärfe und Grobkörnigkeit einiger Fotografien42 weist Sebald die entsprechende Funktion zu; das zwischen Schwarz und Weiß angesiedelte Grau inszeniere eine Sphäre, die »zwischen dem Tod und dem Leben liegt«.43 Dass sich diese in den literarischen Werken und im Essay entfaltete Poetik der Fotografie gerade auf solche Bilder bezieht, auf denen die Gesichter der Kamera und damit auch dem Betrachter des späteren Fotos zugewandt sind, liegt nahe – nur diese Blickrichtung erlaubt eine direkte Adressierung. Aber auch die fotografisch wirkenden Porträts von Jan Peter Tripp können diese Begegnung zwischen Betrachter und Betrachtetem für Sebald ermöglichen; auch in ihnen begegnen uns bereits Abwesende – sei dies ein Hund, von dessen ›überschattetem Auge‹ sich der Betrachter »durchschaut« fühlen mag,44 oder immer wieder gemalte Men_____________ 38 39

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Vgl. hierzu die Typologie in Hoffmann/Rose: ›Quasi jenseits der Zeit‹ (Anm. 29). Sebald: Austerlitz (Anm. 31), S. 266. – Die Begegnung der Lebenden mit den Toten wird – dies legen bereits die oben angeführten Zitate nahe – immer schon als ein wechselseitiger Vorgang gedacht. Es sind »die Personen«, die Austerlitz aus den Bildern »entgegensahen« und mit der Zeit so »vertraut« werden, dass er gar meint, »die eine oder andere der Photofiguren« auf der »Straße« oder »draußen auf dem Feld« zu erkennen (Sebald: Austerlitz (Anm. 31), S. 78); vgl. zu diesem Aspekt eingehender Hoffmann/Rose: ›Quasi jenseits der Zeit‹ (Anm. 29), S. 603f. Hoffmann/Rose: ›Quasi jenseits der Zeit‹ (Anm. 29), S. 605. Sebald, W. G.: Helle Bilder und dunkle. Zur Dialektik der Eschatologie bei Handke und Stifter; in: Sebald, W. G.: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. Salzburg – Wien 1985, S. 165-186, hier S. 178. Vgl. besonders deutlich Sebald: Austerlitz (Anm. 31), S. 354f. Interview in der Neuen Zürcher Zeitung vom 26. 02. 2000, hier zitiert nach Steinaecker, Thomas von: Zwischen schwarzem Tod und weißer Ewigkeit. Zum Grau auf den Abbildungen W. G. Sebalds; in: Martin, Sigurd/Wintermeyer, Ingo (Hrsg.): Verschiebebahnhöfe der Erinnerung. Zum Werk W. G. Sebalds. Würzburg 2007, S. 119-136, hier S. 131f. Sebald, W. G.: Wie Tag und Nacht – Über die Bilder Jan Peter Tripps; in: Sebald, W. G.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere. München 1998, S. 169-188, hier S. 188.

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schenaugen. Eine Vielzahl dieser hyperrealistisch anmutenden Augenporträts, die von Texten in Versen begleitet werden, versammelt der von Tripp und Sebald gemeinsam gestaltete und (postum) herausgegebene Band Unerzählt (2003). Das Titelgedicht findet sich unter dem Bildnis eines seitlich blickenden Augenpaars einer unbekannten, dunkelhaarigen Frau: »Unerzählt | bleibt die Geschichte | der abgewandten Gesichter«.45 Während Kempowski davon ausgeht, dass die ›arme Seele‹, deren schriftliche Hinterlassenschaft nicht in die Textcollage des Echolot überführt wird, dem Vergessen und damit einem zweiten Tode anheim gegeben ist, sieht Sebald bereits die Hinwendung des Gesichtes zur Kamera oder gegebenenfalls auch zum Porträtmaler als Bedingung für einen potenziellen Blickkontakt mit dem Betrachter des späteren Fotos/Gemäldes – und damit für eine postume Verlebendigung. So ähnlich beide Autoren den Status der Medien für ihren Totenkult bewerten, so unterschiedlich ist ihre damit verbundene Selbst- und Rollendefinition: Anders als bei Kempowski, der durch die Aufnahme in oder die Streichung der schriftlichen Hinterlassenschaften aus dem Manuskript über ewiges Leben oder endgültigen Tod entscheidet, strahlt Sebalds totenkultisches Modell nur indirekt auf sein Autorschaftskonzept ab: Indem der Autor die Fotografien in seine Texte einfügt, stellt er die Voraussetzung für den Kontakt zwischen den Lebenden und dem Reich der Toten überhaupt erst her. Oder anders: Der Autor übernimmt mit seinem Werk die Funktion eines Mittlers. Und in dieser Mittler-Funktion trägt er nicht zuletzt für sein eigenes Nachleben Sorge, so dass Toten- und Künstlerkult auf subtile Weise miteinander konvergieren: Wir sehen ein Porträt des Dichters als junger Mann, eingefügt in Die Ringe des Saturn (1995) – und nun sind es wir, die das Bild betrachten und glauben dürfen, er wende sich uns darin ›tatsächlich‹ zu.46

III. Durs Grünbein oder »Subjektmagie als Sprachereignis« Was bei Kempowski die Archivalie und bei Sebald die Fotografie leisten soll, übernimmt bei Durs Grünbein das Gedicht, wie sich an Hand des _____________ 45 46

Sebald, W. G./Tripp, Jan Peter: Unerzählt. 33 Texte und 33 Radierungen. Mit einem Gedicht von Hans Magnus Enzensberger und einem Nachwort von Andrea Köhler. München – Wien 2003, S. 69. Vgl. Sebald, W. G.: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt. Frankfurt/M. 2004, S. 313.

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poetologischen Textes Mein babylonisches Hirn (1996),47 verbunden mit einem Seitenblick auf die Frankfurter Poetikvorlesungen Vom Stellenwert der Worte (2009)48 nachzeichnen lässt. Im Mittelpunkt dieser anspruchsvollen, ja bisweilen raunenden Dichtungstheorie, die wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer ausgestellten ›Dunkelheit‹ wegen immer neue Deutungsbemühungen (wie die vorliegende) herausfordert, steht zunächst die emphatische Vorstellung vom Dichter, dem eine außerordentliche Begabung zukomme: die Fähigkeit nämlich, die Sprache mit »Tiefenwirkung« vom ›belanglosen Wortschwall‹ zu unterscheiden; nur dem Dichter sei die herausragende Sensibilität für jene ›magische Reizschwelle‹ zu eigen, die das Wertlose vom Wertvollen im Bereich der Sprache trenne.49 Der Begriff ›Reiz‹ verweist auf den zu Grunde liegenden Maßstab dieser im Wortsinne kritischen, weil trennenden Arbeit: Es sind »Engramme«,50 kognitiv erfahrbare Reizwirkungen also, die dauerhafte Spuren im Gehirn des Dichters hinterlassen und über den Wert oder Unwert einer Äußerung entscheiden. Diese Engramme finden sich im »Stimmengewirr vieler Zeiten«, in der Gegenwart ebenso wie in der Vergangenheit, in der Hochkultur ebenso wie in den nur scheinbar belanglosen Szenen des Alltags. Für den Dichter können »ein Vers des Kallimachos aus Kyrene« und »der Zuruf des Postboten vor der Tür« gleichermaßen wertvoll sein.51 Hochliterarische Schriftlichkeit und lebensweltliche Mündlichkeit wären damit kurzerhand in eins gesetzt als eine postmoderne Poetik, die Leslie A. Fiedlers Aufruf ›cross the border, close the gap‹ auf eigene Weise beim Wort nimmt.52 Der Dichter, in den sich die engrammatisch wahrgenommenen, sowohl dichterischen als auch alltäglichen Sätze ›einschreiben‹, wird damit als ein hervorragender Mittler zwischen nahen und fernen Zeiten gedacht − ein auf den ersten Blick geläufiger Gedanke, der gewissermaßen die kulturwissenschaftliche Vorstellung der Literatur als ›Archiv‹ in weihevolle Worte kleidet und zugleich mit einem elitären Autorschaftskonzept verbindet. Eine »Funktion des Gedächtnisses« weist Grünbein dem Gedicht denn auch zu; das »Gedichtwort« halte Verbindung »zu den Gedächtnis_____________ 47 48 49 50 51 52

Grünbein, Durs: Mein babylonisches Hirn (1996); in: Grünbein, Durs: Gedicht und Geheimnis. Aufsätze 1990-2006. Frankfurt/M. 2007, S. 19-33. Grünbein, Durs: Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung 2009. Berlin 2010. Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 21. Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 21. Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 21. Vgl. für eine Lesart in diesem Sinne Detering, Heinrich: Moral, Memoria und Metrum. Durs Grünbeins Den Teuren Toten; in: Lützeler, Paul Michael (Hrsg.): Die Ethik der Literatur. Deutsche Autoren der Gegenwart. Göttingen 2011, S. 73-83.

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gründen, den im Erdreich versunkenen Zivilisationen, den allgegenwärtigen Toten«, und folglich setzt sich die eigene Stimme des Dichters immer schon aus vielen Stimmen zusammen, die in seinem Wort mitklingen.53 ›Durs Grünbein, ein Kosmos, von Dresden der Sohn‹, so ließe sich dieser moderne Topos der Entgrenzung in Anlehnung an Walt Whitman zuspitzen – und es mag eben diese Hochschätzung der Vielstimmigkeit sein, die Grünbeins in Briefen und persönlichen Buchwidmungen dokumentierte Hochachtung gegenüber Kempowski, dem Arrangeur des Echolot, begründet.54 Bis zu diesem Punkt lässt sich das poetologische Gedankengerüst Grünbeins also einigermaßen schlüssig rekonstruieren. Der Dichtungstheoretiker legt mit neurologischen Begrifflichkeiten selbst eine geradezu naturwissenschaftliche Erklärbarkeit nahe (von der ›zerebralen Seite der Kunst‹55 ist da etwa die Rede). Und die als ›magisch‹ apostrophierte Sprachsensibilität des Dichters, der unterschiedlichste ›Engramme‹ aus sämtlichen Zeiten im Gedicht zusammenzuführen vermag, darf vor diesem Hintergrund als eine ebenso unscharfe wie metaphorische Auratisierung gewertet werden. Die Rede vom ›Geheimnis‹, ja von der ›Magie‹ betrifft aber noch einen weiteren Aspekt: Das engrammatisch aufgeladene Gedicht stellt bei Grünbein nicht allein eine ›Schichtung‹ besonderer sprachlicher Sinnlichkeitsphänomene dar. Es ist darin zugleich »ein Splitter manifest gewordenen Bewußtseins aus einem Leben, das wir niemals leben werden, weil es ein anderer schon gelebt hat, unwiederholbar, Lichtjahre entfernt in seiner Monade«.56 Die im Gedicht kondensierten Engramme stellen – ähnlich wie die schriftliche Hinterlassenschaft bei Kempowski oder die Fotografie bei Sebald – die »Verankerung einer Existenz« dar. Der Vers erscheint somit als das »Integral der Persönlichkeit«:57 einerseits des Dichters, andererseits der vielen Stimmen, die der Dichter in sich bündelt. Das Gedicht bewahrt dieses ›Integral‹ zunächst nur; es speichert die ›Verankerung‹ – und das dem Tod entgegenstrebende Menschenleben verliert damit etwas von seiner Vergänglichkeit. Auf die Relativierung ›etwas‹ kommt es dabei allerdings entschieden an. Der besondere, bleibende Teil des Ganzen ist für Grünbein die Stim_____________ 53 54

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Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 22f. Vgl. zu Whitman und der Tradition ›demokratischer‹ Erzählverfahren in der Moderne Kiesel, Helmuth: Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert. München 2004, S. 112. – Die bekannten Verse aus Whitmans Song of Myself lauten: »Walt Whitman, a kosmos, of Manhattan the son«. Vgl. Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 32. Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 27. Grünbein: Vom Stellenwert der Worte (Anm. 48), S. 31, S. 40.

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me: die des Dichters, zugleich aber auch diejenige all derer, die in sie eingegangen sind. Die Stimme ist die »einzige Überlebende, Relikt des Körpers, wenn nach dem Abgang des Autors nichts als das Schriftbild einer Gedichtzeile stehengeblieben ist«.58 In eben dieser im Gedicht gebannten Stimme erlangt der Sprecher, »der immer woanders oder lange schon tot ist«, erneut »physische Präsenz«,59 in ihr ist er tatsächlich anwesend, und zwar durch die Wiederbelebung im Akt der Lektüre, genauer: durch den körperlichen Affekt, den das lyrische Engramm nun auch beim Leser des jeweiligen Gedichts auszulösen vermag, sei dies »ein Stoßseufzer, ein Aufruhr des Körpers, eine Epiphanie oder ein jähes Inbild, Konzentrat der Erscheinungswelt«, die »das Wort aus dem lexikalischen Tiefschlaf« erwecken.60 Diese Wiederbelebung umschreibt Grünbein mit einem Zitat von Charles Baudelaire: »›Im Wort liegt etwas Heiliges, das uns verbietet, mit ihm ein Zufallsspiel zu treiben. Eine Sprache kunstvoll handhaben heißt eine Art Beschwörungszauber ausüben‹«.61 Liest man diese Zeilen, so scheint es ganz berechtigt, dass in der Grünbein-Philologie bereits von ›Kunstreligion‹62 die Rede war. Doch Grünbein bringt das ›Geheimnis‹ der Dichtung auch mit eigenen Worten auf den Punkt: »Poesie ist Subjektmagie als Sprachereignis«.63 Eine Vorstellung vom Jenseits kennt diese Dichtungstheorie nicht, und sie bedarf ihrer auch nicht, denn weder verschwinden die Toten ganz noch kehren sie vollständig zurück ins Leben. Allein mit ihrer Stimme, die das Gedicht bewahrt und die Lektüre belebt, bleiben die Toten in einer »Gegenwart jenseits des Todes und diesseits der historisch verhafteten _____________ 58 59 60

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Grünbein: Vom Stellenwert der Worte (Anm. 48), S. 39. Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 23. Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 29, S. 26. – Man mag hier an die klassische Hermeneutik denken: »Ich würde Hermeneutik als das Vermögen bestimmen, die Dinge, die zu uns in einer starren, versteinerten Form kommen, sprechen zu lassen« (Gadamer, Hans-Georg: Writing and the living voice [Interview]; in: Misgeld, Dieter/Nicholson, Graeme (Hrsg.): Hans-Georg Gadamer on Education, Poetry and History. Applied Hermeneutics. Albany 1992, S. 66). – Vgl. zu den kultur- und denkgeschicht-lichen Wurzeln dieses Topos Weigel, Sigrid: Die Stimme der Toten. Schnittpunkt zwischen Mythos, Literatur und Kulturwissenschaft; in: Kittler, Friedrich/Macho, Thomas/Weigel, Sigrid (Hrsg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Medien-geschichte der Stimme. Berlin 2008, S. 73-92. – Vgl. zum Zusammenhang von Herme-neutik und Totenkult Simon, Ralf: Nekrologie. Versuch, die Epochen der ästhetischen Moderne als Gespenster zu verstehen; in: Baßler, Moritz/Gruber, Bettina/Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.): Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorien. Würzburg 2005, S. 281-295. Grünbein: Vom Stellenwert der Worte (Anm. 48), S. 54. Vgl. zur Reichweite diese Klassifikation im Werk Grünbeins Ahrend, Hinrich: ›Tanz zwischen sämtlichen Stühlen‹. Poetik und Dichtung im lyrischen und essayistischen Werk Durs Grünbeins. Würzburg 2010, S. 320. Grünbein: Vom Stellenwert der Worte (Anm. 48), S. 52.

Das Heilige, die Kirche und ›quasi‹ das Jenseits

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Zeit«;64 mit ihr sind sie Teil einer gänzlich irdischen ›Ewigkeit‹. Der nach Grünbein ureigenen Aufgabe der Dichter, nämlich »der Trauer der Hinterbliebenen den Weg«65 zu weisen, mag dieser Gedanke vielleicht dienen.

IV. Kunstreligion? Kempowski, Sebald, Grünbein: Ihre künstlerischen Totenkulte treffen sich – das haben die skizzenartigen Darstellungen gezeigt – im spezifischen Medialitätskonzept. Ob biografisches Artefakt, Fotografie oder Gedicht: In sämtlichen Fällen geht es nicht bloß um die Repräsentation, sondern um die Identifikation der jeweiligen Medien mit den Verstorbenen; der Akt des Lesens, des Betrachtens, wird in dieser Logik als Begegnung der Lebenden mit den Toten verstanden, als ein Beisammensein, als Blickwechsel und Erhörung. Alle drei Autoren sprechen den Medien also spirituelle Qualitäten zu, die den Status der Kunst als ›Kirche‹ (Kempowski), ›quasi‹ als ›Jenseits‹ (Sebald) und als ›Heiligkeit‹ (Grünbein) begründen. Diese Erhöhung der Kunst schließt eine Erhöhung der Künstlerpersona immer schon ein: unverblümt in der Gestalt eines Archiv- und Autorgottes (Kempowski), eher subtil in Form eines Mittlers, der das Reich der Lebenden mit dem der Toten verbindet (Sebald), oder als eine Art Stimmenbeschwörer, der mit seinem Gedicht die Verstorbenen erneut zu Worte kommen lässt (Grünbein).66 Lässt sich damit einerseits die eingangs aufgestellte These einer fortdauernden Tradition eines modernen künstlerischen Totenkults bis in die Gegenwart hinein bestätigen, so unterscheiden sich die drei Modelle andererseits in einem zentralen Punkt, nämlich in ihrem Bezug auf die Religion: Während der Totenkult bei Kempowski ausdrücklich und grundlegend eine der Religion angestammte Aufgabe auf die Kunst überträgt, um sie zu ersetzen, bezieht sich Sebald nur implizit auf Vorstellungen, die sich allenfalls oberflächlich dem Bereich des Religiösen zurechnen lassen, die unscharfe Idee einer irgendwie jenseitigen Daseinsform vor allem.67 _____________ 64 65 66 67

Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 22. Grünbein: Mein babylonisches Hirn (Anm. 47), S. 24. Damit lassen sich diese Ausführungen an das Forschungsfeld der ›Autorinszenierung‹ anschließen; vgl. hierzu neuerdings Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard (Hrsg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011. Vgl. zur ähnlich undogmatischen Verhandlung des Todes im Kontext moderner Religiosität Strasser, Peter: Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wohlfühlreligionen und die Suche

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Kai Sina

Grünbein schließlich rückt seine streckenweise naturwissenschaftlich argumentierende Poetik in den Bereich des Numinosen, wobei er sich nicht auf die Religion, sondern mit Baudelaire auf die kunstreligiöse Rhetorik der literarischen Moderne bezieht – ein kunstreligiöses Modell zweiter Stufe also. Damit zeigt sich, dass der Begriff der ›Denkfigur‹ mit Blick auf den literarischen Totenkult der Gegenwart ernst zu nehmen und vom Begriff des ›Zusammenhangs‹ zu unterscheiden ist: Auf der einen Seite lässt sich feststellen, dass keiner der Autoren auf religiöse oder kunstreligiöse Versatzstücke zur Bezeichnung der irrationalen, numinosen Aspekte ihrer Kunst vollkommen verzichten kann (oder will), wenngleich diese Bezugnahmen auf der anderen Seite ganz unterschiedliche Reichweite aufweisen – und eben diese jeweilige Reichweite muss darüber entscheiden, ob sich von einem kunstreligiösen Zusammenhang im ganzheitlichen Sinne (bei Kempowski) oder von kunstreligiösen Denkfigur von begrenzter Geltung (bei Sebald und Grünbein) für den jeweiligen poetologischen Gesamtentwurf sprechen lässt. Die Optik darf dabei freilich nicht zu scharf eingestellt werden: Von irgendeiner ›reinen Lehre‹ geht keiner der hier vorgestellten Autoren aus; im Gegenteil: Vielmehr entwerfen sie komplexe Synkretismen, in denen sich religiöse bzw. kunstreligiöse Motive mit mythischen, ja sogar wissenschaftlichen Vorstellungen in totenkultischer Absicht verbinden.68 Der Wandel vom religiösen zum künstlerischen Totenkult, wie er eingangs als ein kulturgeschichtliches Phänomen der Moderne angedeutet wurde, scheint sich bis in die Gegenwart hinein also soweit vollzogen zu haben, dass ein emphatischer Bezug der Kunst auf die Religion, die es einst zu ersetzen galt, keine Notwendigkeit mehr, sondern bloß noch eine Möglichkeit darstellt. Anders gesagt: Offenbar können die heutigen Autoren _____________ 68

nach dem wahren Selbst; in: Gutmann, Hans-Martin/Gutwald, Cathrin (Hrsg.): Religiöse Wellness: Seelenheil heute. München 2005, S. 191-205. Dieser Status zeigt sich offenbar auch im nicht-literarischen Nachdenken über den Tod und Nach-Tod: »Von religiösem Synkretismus zu sprechen macht dort Sinn, wo das eigene Leben als Ganzes im Zusammenhang von Traditionselementen verschiedener Religionen thematisch wird. In der Gegenwart ist dieser religiöse Synkretismus vor allem hinsichtlich der Nach-Todes-Vorstellungen der Menschen verbreitet [...]. Dies dürfte das entscheidende Kennzeichen des religiösen Synkretismus der Gegenwart sein: Vor dem Hintergrund traditioneller Orientierungen, die ihre Bedeutsamkeit behalten, werden zunehmend Vorstellungen aus anderen Religionen und Weltanschauungen rezipiert, ohne daß dieser Vorgang als spektakulär oder prekär erfahren würde. Religiöser Synkretismus gehört zum Alltag der Menschen bis weit in die kirchlichen Milieus hinein« (Grözinger, Albrecht: VII. Synkretismus, praktisch-theologisch; in: Stolz, Fritz/Lips, Hermann von/Georgi, Dieter/Markschies, Christoph/Sparn, Walter/Grözinger, Albrecht (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie. Berlin – New York 2001, S. 556-559, hier S. 557).

Das Heilige, die Kirche und ›quasi‹ das Jenseits

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vom Gedanken einer ›Unsterblichkeit‹ ausgehen, ohne damit immer schon auf Aspekte des Religiösen verwiesen zu sein. Die Frage, wie sich dieser Befund in einer diachronen Betrachtung ausnimmt und ob sich hier möglicherweise ein Prozess abzeichnet, in dem die Kunst zunächst enger und ausdrücklich auf die Religion bezogen war (und sei es im Modus der Kritik), sich im zeitlichen Verlauf jedoch gelöst und bis in die Gegenwart schließlich weitgehend verselbständigt hat − diese Frage lässt sich an dieser Stelle indes bloß noch aufwerfen; sie zu beantworten, wäre Gegenstand einer anderen, umfangreicheren Untersuchung, die dann freilich auch weitere Autoren der Gegenwart wie Uwe Johnson, Heiner Müller, Ruth Klüger, Sybille Lewitscharoff oder Peter Handke in die Betrachtung einbeziehen müsste. Denkt man in diesem Zusammenhang allerdings an die eingangs genannten Rilke, Mallarmé und George, die allesamt als einschlägige Vertreter moderner Kunstreligion gelten,69 liegt eine Antwort zumindest nahe: Für die hier umrissenen Varianten einer ›Kunstreligion um 2000‹ ist das Religiöse ein Traditionsbestand, auf den sie mal explizit, mal implizit bezogen bleiben, ohne sich an dieser Tradition noch ›abarbeiten‹ zu müssen. In dieser Lesart wird aus der Kunstreligion zunehmend eine Kunstreligion.

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Stefan George und Stéphane Mallarmé haben Eingang gefunden in die Überblicksdarstellung von Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult; in: Georgia Augusta 5 (2007), S. 124-133. – Zu Rainer Maria Rilke vgl. King, Martina: Pilger und Prophet. Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke. Göttingen 2009.

MAURIZIO PIRRO

Kunstreligiöse Ansätze in einigen Romanen Martin Walsers Im Mittelpunkt der kunstreligiösen Problematik, die in Martin Walsers Werk während der letzten zwanzig Jahre (etwa ab Die Verteidigung der Kindheit, 1991 erschienen) eine nicht unbedeutende Rolle spielt, steht diejenige Fragestellung, die aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Akzentsetzungen die gesamte Konstellation der Moderne in der deutschsprachigen Literatur geprägt hat: Wie steht es um die Beziehung zwischen Kunst und Leben, Form und Seele? Wollte man auf die in diesen Zusammenhang wohl passende Gretchenfrage zurückgreifen, dann wäre sie an die Sprache als realitätsbezogenes Darstellungsmittel faktischer Zustände zu adressieren und würde lauten: ›Nun sag, wie hast du’s mit der Wahrheit?‹. Denn sowohl in der essayistischen als auch in der fiktionalen Arbeit verfährt Walser jenseits postmoderner Relativierungsversuchungen immer im Sinne einer postulierten Wahrheitsbeziehung pragmatischer Art zwischen erlebter Wirklichkeit und deren literarischer Inszenierung. Dies bedingt wiederum Walsers Bezug zum kunstreligiösen Diskurs und grenzt ihn erheblich ein, wie im Folgenden in drei Arbeitsschritten gezeigt werden soll. Einleitend ist auf einige grundsätzliche Überlegungen Walsers zum Wesen der Sprache hinzuweisen (I), die die gewöhnliche Trennung zwischen denotativer und konnotativer Sprachverwendung um eine moralische Dimension erweitern, wobei die Grundlagen einer kunstreligiösen Praxis schon deutlich genug zum Vorschein kommen. Daraufhin werden zwei Beispiele aus Die Verteidigung der Kindheit und Ein springender Brunnen (1998) herangezogen (II), in denen sich Ansätze zur Verherrlichung und Verabsolutierung von Kunst als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis des Lebens im Lichte einer auf Ganzheit abzielenden Begrifflichkeit nachweisen lassen (in beiden Romanen gilt Kunst insbesondere als Therapeutikum zur Linderung traumatischer Erlebnisse). Den Abschluss bildet der Versuch (III), an diesem Modell auch Brüche und Diskontinuitäten aufzuzeigen, die mit Walsers Festhalten an einem nicht postmodernen Horizont zu tun haben. Der vitalistische Anspruch an ästhetisches Schaffen, Kunst müsse unbedingt an das Leben anknüpfen, es rechtfertigen, normieren oder vollständig umfassen, gerät an der einen oder anderen

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Stelle in eine für die Moderne charakteristische Aporie: Wollen sich symbolische Formen am Leben messen lassen, so muss sich das daraus resultierende Kunstwerk in seiner Diskursfähigkeit auflösen, solange es darauf beharrt, an der idealen Vorstellung ursprünglicher, ungebrochener und im Grunde nicht verbalisierbarer Lebendigkeit festzuhalten; ansonsten muss es auf metadiskursiver Ebene sein eigenes Scheitern reflektieren. Dort, wo Walser in seinen Romanen diese Ambivalenz aufgreift, macht sich eine Relativierung kunstreligiöser Tendenzen bemerkbar, die darauf gründet, dass im menschlichen Erleben ein unaussprechlicher Rest enthalten sei, der durch keinen sprachlichen Akt vollkommen erfasst werden kann. (I) Wie nicht wenige Autoren der Nachkriegszeit hat Martin Walser in seinem essayistischen Schreiben und gelegentlich auch in seiner fiktionalen Prosa, wenn es um Vorbilder und Eideshelfer ging, Thomas Mann eher den Status eines Gegenmodells zugesprochen. Diese Distanzierung hängt weniger mit stilistischen Gründen zusammen, wie es z. B bei Peter Rühmkorf als einem anderen prominenten Thomas Mann-Kritiker der Fall sein dürfte, als vielmehr mit Walsers Selbstverständnis als Schriftsteller. An dem Ironie-Begriff, den Walser 1980 in seinen Frankfurter PoetikVorlesungen1 entwickelte, zeichnet sich die Ablehnung einer poetologischen Traditionslinie ab, der er blinden Konservativismus vorwirft.2 Der von ihm als ›romantisch‹ erachteten Ironie Thomas Manns als Abwehrhaltung des Bürgertums gegen alles in die Zukunft Weisende setzt Walser ein alternatives Ironie-Konzept ›sokratischer‹ Prägung entgegen, dem er nicht den Modus affirmativer und unkritischer Glorifizierung des Bestehenden attestiert. In Ironikern wie Franz Kafka und Robert Walser, denen es eher um eine negative Identitätsbildung gehe, sieht er eine radikale Infragestellung der gegebenen Verhältnisse verwirklicht, die der eigentlichen Aufgabe ironischen Sprechens insofern entspricht, als diese nicht mit Erhaltung, sondern mit Kritik, nicht mit Bestätigung, sondern mit Verunsicherung zu tun hat. Großbürgerliche Selbstzufriedenheit und Festhalten an Klassenprivilegien bescheinigt Martin Walser Thomas Mann auch im Hinblick auf einen entscheidenden Punkt in Manns Kunstauffassung, nämlich den dekonstruktiven Umgang mit Hauptwerken der literarischen Tradition. Die Doktorin, eine Schlüsselfigur in der intellektuellen und seelischen Erziehung Alfred Dorns in Die Verteidigung der Kindheit, lässt _____________ 1 2

Vgl. Walser, Martin: Selbstbewußtsein und Ironie. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M. 1981. Zu Walsers Ironie-Begriff vgl. Luckscheiter, Roman: Martin Walser und die Ironie als demokratische Waffe; in: Seelenarbeit an Deutschland. Martin Walser in Perspective. Edited by Stuart Parkes and Fritz Wefelmeyer. Amsterdam – New York 2004, S. 107-118.

Kunstreligiöse Ansätze in einigen Romanen Martin Walsers

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Walser Thomas Manns Joseph-Romane als das kleinkarierte Ergebnis kurzatmiger Belesenheit aburteilen: Sie als alte Lehrerin wittere in Thomas Manns Bildungsprunk den Autodidaktenstolz, den Herrensohn, der seine kleinbürgerlichen Lehrer von Anfang an verachtet hat und ihnen jetzt mit jedem bildungsgeblähten Satz nachruft: Ätsch, ich habe es ohne euch geschafft. Nicht durchaus, möchte sie da manchmal murmeln, nicht durchaus, mein Herr.3

Über diese proklamierte Abneigung hinaus sind allerdings argumentative Gemeinsamkeiten zwischen Walsers und Manns Essayistik schwer zu übersehen. Dies betrifft insbesondere die politischen Ansichten beider Autoren zum Thema ›deutsche Geschichte‹. Es ist überaus bekannt, wie Thomas Mann in den ersten Jahren der Weimarer Republik die neue Staatsform durch sein intellektuelles Prestige zu unterstützen trachtete. Dabei bemühte er sich unter höchster rhetorischer Anstrengung, die These zu bekräftigen, das Bekenntnis zur demokratischen Verfassung stehe in keinem Diskontinuitätsverhältnis zur konservativen Gesinnung, die er in den mitten im Kriegsgeschehen verfassten und 1919 veröffentlichten Betrachtungen eines Unpolitischen zum Ausdruck gebracht hatte. Wichtigstes Dokument dieses selbstbezogenen interpretatorischen Unternehmens ist das Vorwort, mit dem Mann die Druckfassung seiner im Oktober 1922 anlässlich des 60. Geburtstags von Gerhart Hauptmann gehaltenen Rede Von deutscher Republik versah, in der er für die Republik eine eigenartige Genealogie herangezogen hatte, die von Novalis zu Friedrich Nietzsche, Walt Whitman und Stefan George reichte. Als er zur »allgemeinen Meinung« Stellung nehmen soll, in seinen Sympathiebekundungen gegenüber der Republik liege »eine Sinnesänderung, ein Gesinnungswechsel überraschender, verwirrender und selbst frivoler Art vor«, tritt Mann diesen Bedenken durch eine paradox anmutende, ja irritierende Formulierung entgegen: »Ich weiß von keiner Sinnesänderung. Ich habe vielleicht meine Gedanken geändert – nicht meinen Sinn«.4 In Anlehnung an ein Wort Goethes ordnet er dann ›Meinen‹ und ›Sein‹ zwei grundverschiedenen kategorialen Bereichen unter. »Die Kunst«, so Mann, ist Sphäre des reinen Geistes und besitzt für ihn [den Künstler; M. P.] die Würde der Betrachtung, während er den Gedanken nur als dialektisches Mittel kennt, ihn

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Walser, Martin: Die Verteidigung der Kindheit. Roman. Frankfurt/M. 1991, S. 219. Mann, Thomas: Vorwort [zu Von deutscher Republik] (1922); in: Mann, Thomas: Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Herausgegeben von Heinrich Detering Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence James Reed, Thomas Sprecher, Hans Rudolf Vaget und Ruprecht Wimmer. Band 15.1: Essays II. 1914-1926. Herausgegeben von Hermann Kurzke. Frankfurt/M. 2002, S. 583.

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um seiner selbst willen, als ›Wahrheit‹, nicht sehr achtet und das Betrachten im Sinne einer Aktion zu üben geneigt ist.5

Meinungen sind zweckgebunden, d. h. ihnen kommt nichts als eine instrumentale Funktion zu; das Währende an künstlerischen Leistungen findet man hingegen im Grundwesen ihres Urhebers, nicht in der zufallsbedingten dialektischen Einkleidung, in die er ab und zu diese Grundgesinnung zwingen muss, um sich an Diskussionen allgemeinen Interesses beteiligen zu können. Martin Walser knüpft genau an diesen Punkt an und treibt Thomas Manns Systematik noch weiter auf die Spitze, um den Erkenntniswert von Kunstausübung weit über jede andere menschliche Tätigkeit zu stellen. Mann hatte keinen fundamentalen Widerspruch zwischen essayistischem und fiktionalem Schreiben postuliert. Stehen essayistische Aussagen auch im Lichte der in ihrem Wahrheitsgehalt mehr als suspekten ›Meinung‹, so spricht doch nichts dagegen, dass der Essayist seine Meinungen nach derart kultivierten Kompositionsprinzipien so zusammenfügt, dass seine ästhetische Souveränität selbst über gattungsbezogene Eigenschaften hinaus restlos zur Geltung gelangen kann. Anders Walser: Das Äußern weltanschaulicher Standpunkte hat für ihn etwa ab Anfang der Neunziger Jahre eine negative Konnotation.6 Durch Prägungen wie ›Meinungssoldaten‹ und ›Meinungsdienst‹, mit denen seine 1998 in der Frankfurter Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels bekannt gegebenen Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede Aufregung verursachten, beabsichtigte Walser, Wirksamkeit und Berechtigung öffentlicher Debatten zu Themen in Frage zu stellen, die seiner Ansicht nach nur im geschützten Raum des individuellen Gewissens auf angemessene Weise bearbeitet werden können. Ohne hier auf Einzelaspekte der Paulskirchen-Rede einzugehen,7 gilt es darauf hinzuweisen, dass die von Walser anvisierte Privatisierung und _____________ 5 6 7

Mann: Vorwort (Anm. 4), S. 584. Wichtiges dazu in Nölle, Volker: Der Redner als Dichter und umgekehrt. Zu konzeptionellen Aporien in Walsers Friedenspreisrede; in: Parkes/Wefelmeyer: Seelenarbeit an Deutschland (Anm. 2), S. 259-280. Zur Diskussion, die Walsers Friedenspreisrede auslöste, vgl. Lorenz, Matthias N.: ›Familienkonflikt‹ oder ›Antisemitismusstreit‹? Zur Walser-Bubis-Debatte; in: Parkes/Wefelmeyer (Anm. 2), S. 363-388. – Mit ideologischen und rhetorischen Grundaspekten von Walsers Rede beschäftigen sich u. a. Prümm, Karl: Vergangenheit ohne Bilder? Martin Walsers Konzept der Erinnerung in dem Roman Ein springender Brunnen (1998) und in seiner Rede nach der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels; in: Produktivität des Gegensätzlichen. Studien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Horst Denkler zum 65. Geburtstag. Tübingen 2000, S. 267-274; Borchmeyer, Dieter: Martin Walser und die Öffentlichkeit. Frankfurt/M. 2001; Schubarth, Bettina: ›Das hohe Lied des Nihilismus singen‹. Ironie in Martin Walsers Friedenspreisrede; in: Zeit-

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Entmedialisierung menschlichen Erlebens auf die Dominanz eines einzigen Mediums hinausläuft: der Kunst. Dem Redner schwebt eine sprachliche Landschaft mit stark reduzierter Interdiskursivität vor, in der es darauf ankommt, Öffentliches und Privates in ihrer jeweiligen Artikulationsweise streng voneinander zu trennen. Die damit einhergehende drastische Abwertung der politischen Sphäre wird eben insofern sprachlich fundiert, als unter dem Öffentlichen einseitige, zu reiner Machtausübung dienende Diskurspraktiken subsumiert werden, während mit dem Privaten/Persönlichen eine assoziative, die ungestörte Entfaltung subjektiver Totalität anstrebende Sprache in Verbindung gebracht wird. Dies entspricht der unüberbrückbaren Kluft, die sich aus Walsers Perspektive zwischen dem Typus ›Essayist‹ und dem wahren Künstler auftut. Einmal in der Paulskirchen-Rede gilt diese Unterscheidung Thomas Mann selbst, dessen essayistische Produktion unter einem Vorzeichen abgestuft wird, das sich weniger mit Mann als vielmehr mit Walsers Selbstverständnis deckt. Vor der republikanischen Wende, so Walser, war er auch schon zwanzig Jahre lang ein Intellektueller und Schriftsteller, aber, was die öffentliche Meinung angeht, auf der anderen Seite. Aber wer seine Bücher liest von Buddenbrooks bis Zauberberg, der kriegt von diesem krassen Meinungswechsel so gut wie nichts mit. Dafür aber, behaupte ich, den wirklichen Thomas Mann: Wie er wirklich dachte und empfand, seine Moralität also, teilt sich in seinen Romanen und Erzählungen unwillkürlich und vertrauenswürdiger mit als in den Texten, in denen er politisch-moralisch recht haben mußte.8

Kunst gilt also als Praxis der Moralität und Authentizität, durch die ganzheitliche Menschlichkeit gefördert wird. Dazu steht die auf Meinungsbildung angelegte, in ihren parteiischen Zielsetzungen nur allzu durchschaubare Rede in der Öffentlichkeit in größtmöglichem Widerspruch. Die öffentliche Meinung sieht Walser als fiktives Konstrukt zur Untermauerung von Machtpositionen durch die Beschwörung eines abstrakten, allgemeinmenschlichen Horizontes, der sich in seiner betonten Unbestimmtheit jeder Kontrolle entzieht. Die auf Konsensstiftung abzielende Verschwommenheit der öffentlichen Sprache legt Walser als Bevormundungsinstrument aus, das mit dem zusammenhängt, was er als »unsere Immernochbefangenheit in Religionsvermächtnissen«9 definiert. Seine _____________

8 9

schrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 31 (2001/123), S. 123-137; Mathäs, Alexander: The Presence of the Past. Martin Walser on Memoirs and Memorials; in: German Studies Review 25 (2002), S. 1-22; Krauß, Andrea: Der letzte Rhetor. Oder wie einer abschaffen will, was er tut. Martin Walsers ›Friedenspreisrede‹ zwischen Politik und Literatur; in: Engagement, Debatten, Skandale. Deutschsprachige Autoren als Zeitgenossen. Herausgegeben von Joanna Jabłkowska und Małgorzata Półrola, Wyd. Łódź 2002, S. 435-449. Walser, Martin: Ich vertraue. Querfeldein. Reden und Aufsätze. Frankfurt/M. 2000, S. 40. Walser: Ich vertraue. Querfeldein (Anm. 8), S. 14.

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Aufwertung der Kunst als Sprachmittel ungebrochener Menschlichkeit geht nicht zuletzt von einer vehementen Kritik der Religion als Urform von Machtausübung aus. »Darf man jetzt nicht den Eindruck haben«, schreibt Walser 1998 in der Neuen Zürcher Zeitung, »die Religionen seien unsere Kinderschuhe, wir müßten ihnen längst entwachsen sein?«.10 Und an anderer Stelle: Wir suchen nach universalistischen Rezepten, als müßten wir weiterhin mit dem Welterlösungsanspruch der Marxlehre konkurrieren, anstatt endlich von uns auszugehen, dann aber auch bei uns zu bleiben. Nicht an andere sollen wir denken, sondern an uns. Nur dann haben vielleicht auch andere etwas von uns. Es ist das Gegenteil des Missionarismus: Gehet hin und lehret alle Völker.11

Kunst stützt sich dagegen im Sinne einer erneuerten Idyllik auf Beschränkung, Heimlichkeit, Diesseitigkeit.12 Insofern steht ihre moralische Funktion im Dienste des Subjektiven, dem die Kunst eine unpolitische Sprache zur Verfügung stellt, die dagegen hält, was Walser als »zentralistische Vision«, »Ethik für alle« und »säkularisierten, auf Demokratie frisierten Monotheismus«13 anprangert. Eine Hauptfrage der Moderne – wie kann Ästhetik Wesentliches über das Leben zum Ausdruck bringen? – glaubt Walser durch einen in der deutschsprachigen Kulturlandschaft tief verwurzelten Gedankenzug beantworten zu können: durch die Autonomie der Kunst. In impliziter Anlehnung an einige Postulate der Weimarer Klassik sowie an Immanuel Kants Begriff der Interesselosigkeit als unentbehrliche Voraussetzung des ästhetischen Vergnügens bringt er die Aussagekraft künstlerischer Gestaltungsarbeit mit dem Verzicht auf Zweckgebundenheit kausal in Verbindung. Dem Künstler legt Walser den Modus des an keinen Adressaten gebundenen Selbstgesprächs als wirklich kongeniale Form ästhetischen Schaffens nahe. Im Januar 2000 veröffentlicht die ZEIT einen für die kunstreligiöse Prägung der Poetik Walsers äußerst aussagekräftigen Essay mit dem Titel Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch, in dem für Bezugslosigkeit als Grundbedingung ästhetischer Wirksamkeit plädiert wird. Dort distanziert sich Walser von allen Diskursführungsweisen, die im Zeichen des ›Rechthabenwollens‹ stehen, und schildert das eigene Verfahren als ›Selbstgespräch‹, das »an keinem Punkt der Zustimmung oder Ablehnung« aufhört, »alles Erdenkliche« durchläuft und »tief ins Unmorali_____________ 10 11 12 13

Walser: Ich vertraue. Querfeldein (Anm. 8), S. 15. Walser: Ich vertraue. Querfeldein (Anm. 8), S. 14. Vgl. Meier, Andreas: Verteidigung des Primären. Facetten einer literarischen Anthropologie bei Martin Walser; in: Parkes/Wefelmeyer:: Seelenarbeit an Deutschland (Anm. 2), S. 89105. Walser: Ich vertraue. Querfeldein (Anm. 8), S. 19.

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sche, Amoralische und dadurch auch nicht Haltbare hinein[läuft]«.14 Die Evokation dieses idealen Zustands der Leichtigkeit und Ungebundenheit mündet wiederum in die Gegenüberstellung von Kunst und Politik: Warum sind Gedichte das schönste Sprachliche, das wir kennen? Weil das Gedicht nicht recht haben will. Warum sind Politikerreden das sprachlich Matteste, das wir kennen? Weil der Politiker geradezu darauf angewiesen ist, recht zu haben beziehungsweise den Eindruck zu erwecken, er habe recht.15

Bei allem Misstrauen Walsers gegenüber seinem großen Vorgänger schwingt in dieser Abrechnung unüberhörbar die Empörung mit, die Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Typus ›Zivilisationsliterat‹ in den Betrachtungen eines Unpolitischen durchzogen hat. (II) Bereits in Die Verteidigung der Kindheit ist Kunst ins undurchdringbare Gebiet der ›machtgeschützten Innerlichkeit‹ eingebunden, um auf ein weiteres Wort zurückzugreifen, das die Publizistik von Thomas Mann prägt. Die Hauptfigur der Romanerzählung – der stets an sich zweifelnde, zwischen seiner Sehnsucht nach der zerbombten und mitten im ›Kalten Krieg‹ nunmehr unwiederbringlich verlorenen Heimatstadt Dresden und dem grauen Alltag als Beamter in einem bundesrepublikanischen Landesministerium gespaltene Jurist Alfred Dorn – gleicht all das Leiden, das seine Umgebung ihm zufügt, durch eine absolute, ins Extrem einer verwirrenden Ausschließlichkeit geratene Bindung an seine Mutter Martha aus.16 An dem Tag, an dem er sich weigert, die mündliche Abschlussprüfung seines Jurastudiums abzulegen, zieht er selbst Bilanz über sein Abhängigkeitsverhältnis zur Mutter: Er machte jetzt in seinem Zimmer, als er seine Unbeständigkeit in einer entsetzlichen Unruhe, in einem Nirgendsbleibenkönnen erlebte, eine Erfahrung: er konnte nur an seine Mutter denken, an niemanden sonst. Überall, wo er sonst hindachte, fühlte er sich sofort wieder verjagt oder zumindest nicht angenommen. Nur bei ihr war eine Bleibe. Seine Bleibe.17

Diese Liebesbeziehung, welche kultischen Charakter annimmt, speist sich in erheblichem Maße aus Alfred Dorns Heimatgebundenheit,18 die sich in _____________ 14 15 16

17 18

Martin Walser: Über das Selbstgespräch. Ein flagranter Versuch; in: Walser: Ich vertraue. Querfeldein (Anm. 8), S. 137. Walser: Über das Selbstgespräch (Anm. 14), S. 148. Vgl. Parkes, Stuart: Looking Forward to the Past. Identity and Identification in Martin Walser’s Die Verteidigung der Kindheit; in: The Individual, Identity and Innovation. Signals from Contemporary Literature and the New Germany. Edited by Arthur Williams and Stuart Parkes. Bern u. a. 1994, S. 57-74. Walser: Die Verteidigung der Kindheit (Anm. 3), S. 166. Das Heimatmotiv bei Walser stand bereits im Mittelpunkt mehrerer Untersuchungen: Bongartz, Jürgen: Der Heimatbegriff bei Martin Walser. Köln 1996; Jablkowska, Johanna: ›Brocken, die heilig geworden sind‹. Zu Martin Walsers Heimatbewußtsein; in: Braungart,

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leidenschaftlichen Sammelaktionen von Gegenständen niederschlägt, die in irgendeinem Verhältnis zur Stadtgeschichte und der Geschichte seiner eigenen Kindheit stehen.19 Privates und Lokales korrespondieren gemäß ihrer zentralen Rolle in Walsers Poetik als unerschöpflicher Wesensquell des Menschseins. Diese gegenseitige Bedingung plant Dorn durch zwei verschiedene Unternehmungen zur Geltung zu bringen. Zum Ersten will er eine Biographie der sächsischen Galionsfigur Graf von Brühl schreiben, die sich in seiner Vorstellung als historischer Roman nach dem Muster von Stefan Zweigs Lebensbeschreibungen entwickeln soll. Dabei geht es ihm weniger um antiquarisches Interesse an der historischen Gestalt als vielmehr um die Wiedergeburt eines mit symbolträchtigen Erinnerungen überfüllten Raums: »Je elender das wirkliche Dresden dalag, desto wacher mußte sein inneres Dresden werden«.20 Zum Zweiten strebt Alfred Dorn eine lückenlose Rekonstruktion seiner eigenen Kindheit mit Hilfe allerlei bildlicher und schriftlicher Zeugnisse an, die in ein Gesamtkonstrukt zusammenfließen sollen, das er »Alfred Dorn-Pergamon« nennt: Wenn man nach zweitausend Jahren den Pergamon-Altar wieder aufbauen konnte, kann man auch seine Kindheit wieder aufbauen! Daran ist doch überhaupt nicht zu zweifeln! Wie und wo, das wird sich ergeben, wenn er alle erreichbaren Vergangenheitszeugnisse gesammelt haben würde. Es ist soviel verbrannt, verschüttet, verloren, jetzt kommt es auf jedes Foto an, auf jedes Backrezept, jeden Bettvorleger. Er ist bisher den gelegentlich auftauchenden Signalen aus der Vergangenheit eher liebhaberhaft gefolgt. Irgendwann mußte das seine Hauptarbeit, seine einzige Richtung werden. Nicht irgendwann. Jetzt. Sofort.21

Nach dem Tod Marthas gibt Dorn diese Projekte auf, um sich der Errichtung eines Denkmals zu widmen, das am Grab der Verstorbenen die Innigkeit der Mutter/Sohn-Beziehung gleichsam verewigen soll. Ein namhafter Architekt wird beauftragt, eine religiöse Symbolik zu gestalten, die um verschiedene Figurationen Christi kreisen soll. Dabei lässt Dorn seine Fixierung auf die Mutter durch zwei Bildmodelle inszenieren: Martha erscheint zur Mutter Gottes verklärt, so wie sie ihm in seinen Kindheitserlebnissen oft als Sixtinische Madonna vorgekommen war, während er _____________

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Wolfgang/Fuchs, Gotthard/Koch, Manfred (Hrsg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Band III: Um 2000. Paderborn u. a. 2000, S. 99-117; Fetz, Gerald A.: Walser’s ›Heimat‹ Conundrum; in: Parkes/Wefelmeyer: Seelenarbeit an Deutschland (Anm. 2), S. 141-165. Eine anregende, psychoanalytisch orientierte Interpretation von Dorns Drang nach Wiederherstellung der eigenen Kindheit hat Alison Lewis geliefert: Lewis, Alison: The ›Phantom-Pain‹ of Germany: Mourning and Fetishism in Martin Walser’s Die Verteidigung einer [sic!] Kindheit: in: Kulturstreit – Streitkultur. German Literature Since the Wall. Edited by Peter Monteath and Reinhard Alter. Amsterdam – Atlanta 1996, S. 125-144. Walser: Die Verteidigung der Kindheit (Anm. 3), S. 185. Walser: Die Verteidigung der Kindheit (Anm. 3), S. 263.

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für sich selbst und seine zärtliche Natur die Opfermetapher reklamiert, die auf dem Lamm, dem agnus dei, beruht.22 Im Mittelpunkt des Denkmals steht ein einziges Wort (›Mutter!‹), das die Verlassenheit des Sohnes zum allgemeinmenschlichen Schicksal erhebt. Die individuelle Vergangenheit erhält durch ihre ästhetische Umformung eine symbolische Dimension, die sich als einzig mögliches Bewältigungsmittel von Verstörungen und psychischen Traumata erweist. Die Ritualisierung des Gedächtnisses, die Dorn durch die Einbindung seiner eigenen Erinnerungspraxis in eine normierte semiotische Struktur schafft, geschieht innerhalb eines konstruktiven Verfahrens (der Gestaltung des Totendenkmals), das Dorn selbst ganz offensichtlich als ästhetisch versteht und nach ästhetischen Paradigmen in die Wege leitet.23 Die kunstreligiöse Beschwörung einer zeitenthobenen Verbindung unter Liebenden über den Tod hinaus zielt darauf ab, sinnstiftend einen Eindruck von Totalität zu erwecken, der dem Gebrochenen und Fragmentarischen des menschlichen Erlebens entgegenarbeiten soll. In Ein springender Brunnen verlagert sich der zeitgeschichtliche Schwerpunkt der Handlung im Vergleich zur Verteidigung der Kindheit ein Stück weit nach hinten. Reflektiert Dorn in seinem Lebensweg mehrere wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Achtziger Jahre hinein und werden diese Ereignisse hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt der Teilung Deutschlands dargestellt, so geht es in Ein springender Brunnen um die Jahre zwischen 1932 und 1945, also um eine Zeitspanne, die vom Untergang der Weimarer Republik bis zum Zusammenbruch des NS-Staates in den letzten Tagen des Krieges reicht.24 Dieses Kontinuitätsverhältnis, das beide Romane im Hinblick auf _____________ 22

23 24

Die mit der Darstellung der Vergangenheit verbundene Metaphorik im Roman hat Ursula Reinhold untersucht: Reinhold, Ursula: Figuren, Themen und Erzählen. Die Verteidigung der Kindheit in ästhetischen, poetologischen und politischen Kontexten; in: Leseerfahrungen mit Martin Walser. Neue Beiträge zu seinen Texten. Herausgegeben von Heike Doane und Gertrud Bauer Pickar. München 1995, S. 196-216. Vgl. dazu Walling, Jane: The Use and Abuse of Art. Walser’s Alfred Dorn and Proust’s Charles Swann; in: Parkes/Wefelmeyer: Seelenarbeit an Deutschland (Anm. 2), S. 181-193. Die Art und Weise, wie geschichtliche Konstellationen im Roman reflektiert werden, hat man in der Sekundärliteratur mehrfach thematisiert; vgl. u. a. Taberner, Stuart: A Manifesto for Germany’s ›New Right‹? Martin Walser, the Past, Transcendence, Aesthetics, and Ein springender Brunnen; in: German Life and Letters 53 (2000), S. 126-141; Taberner, Stuart: ›Deutsche Geschichte darf auch einmal gutgehen‹: Martin Walser, Auschwitz and the ›German Question‹ from Ehen in Philippsburg to Ein springender Brunnen; in: German Culture and the Uncomfortable Past. Representations of National Socialism in contemporary Germanic Literature. Edited by Helmut Schmitz. Aldershot u. a. 2001, S. 45-64; Kiesel, Helmuth: Zwei Modelle literarischer Erinnerung an die NS-Zeit. Die Blechtrommel und Ein springender Brunnen; in: Parkes/Wefelmeyer: Seelenarbeit an Deutschland (Anm. 2), S. 343361; Beßlich, Barbara: Unzuverlässiges Erzählen im Dienst der Erinnerung. Perspektiven

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ihren historischen Kontext miteinander verbindet, endet allerdings sofort, wenn man die Lebensläufe der jeweiligen Hauptfiguren berücksichtigt. In Alfred Dorn vollzieht sich die Entstellung eines hochbegabten Menschen durch die kollektive Geschichte; bei Johann, dem mit autobiographischen Anspielungen reichlich besetzten Kind, dessen Kindheits- und Jugendjahre am Bodensee Walser mit liebevoller Teilnahme vom fünften bis zum achtzehnten Lebensjahr zurückverfolgt, handelt es sich dagegen um die Behauptung der individuellen Lebenskraft gegen alle möglichen Hindernisse, die ihr die ›große‹, ›allgemeine‹ Geschichte in den Weg stellt. Sowohl Alfred Dorn als auch Johann setzen in ihrem Alltag ein additives Verfahren zur Selbstverteidigung gegen die Übermacht der politischen Geschichte ein. Alfred Dorn arbeitet im Banne einer neurotische Züge annehmenden Sammelwut an der Wiedergeburt seiner Vergangenheit durch die Wiederanschaffung der Gegenstände, die seinen Lebensraum prägten, Wohnzimmer-Möbel etwa oder Kleider, die seine Mutter an bestimmten Festtagen getragen hat. Johann sammelt seinerseits Wörter; seine Kreativität, in der sein Dichterschicksal schon programmiert ist, wird entfacht, als sein kränkelnder Vater, welcher der Faszination jeder möglichen Esoterik uneingeschränkt verfällt, in ihm die Lust nach mehrsilbigen, auf den ersten Blick unverständlichen und schwer zu buchstabierenden Wörtern wachsen lässt: Popocatepetl. Bhagawadgita. Rabindranath Tagore. Swedenborg. Bharatanatyam. Wörter, bei denen nicht schon nach drei oder vier Buchstaben den Rest ergänzen konnte wie bei Hindenburg, Fahnenstange oder Hochzeitsschmaus. Wenn Johann fragte, was so ein Wort heiße, sagte der Vater: Tu’s in den Wörterbaum. Zum Anschauen.25

Die Liebe zur Sinnlichkeit und Bildhaftigkeit der Sprache, die sich von der rein klanglichen Anziehung aus im Laufe der Jahre immer mehr auf das semantische Ausdruckspotenzial poetischer Aussagen erstreckt und sich bald als Liebe zur deutschen Sprache entpuppt, stabilisiert Johanns Psyche _____________

25

auf den Nationalsozialismus bei Maxim Biller, Marcel Beyer und Martin Walser; in: Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Herausgegeben von Barbara Beßlich, Katharina Gräz und Olaf Hildebrand. Berlin 2006, S. 35-52; Schödel, Kathrin: Literarisches versus politisches Gedächtnis? Martin Walsers Friedenspreisrede und sein Roman Ein springender Brunnen. Würzburg 2010. – Der großangelegten Studie von Matthias N. Lorenz (»Auschwitz drängt uns auf einen Fleck«. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart – Weimar 2005) verdankt man die Eröffnung einer neuen Perspektive auf die ideologischen Grundlagen von Walsers Gesamtwerk; eine konsequente Auseinandersetzung mit Verfahren der fiktionalen Verarbeitung geschichtlicher Themenkomplexe in Walsers Romanen ist ohne Einbeziehung der interpretatorischen Ergebnisse Lorenz’ kaum mehr möglich. Walser, Martin: Ein springender Brunnen. Frankfurt/M. 1998, S. 10.

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mitten im traumatischen Kriegsgeschehen und versieht ihn mit einem höchst resistenten Identitätsprinzip, auf dessen Grundlage der werdende Dichter sein gesamtes Wesen definiert.26 Kunst und Bildlichkeit erweisen sich hier nicht als prekäre Wiederbelebungsmittel eines dem Subjekt nunmehr abhanden gekommenen Totalitätsgefühls, wie dies in Die Verteidigung der Kindheit der Fall war, sondern vielmehr als affirmative Sinnfindungsstrategien. Bei Johann geht es nicht um die Suche nach einer vergangenen Totalität, sondern um eine ungebrochene Wahrnehmung der Gegenwart, die in der Annäherung an die ästhetische Praxis die kongenialste Form von Totalitätsstiftung findet. In Johanns geistiger Erziehung spielt Kunst eine entscheidende Rolle zwar insofern, als sie ihm ein Gegenmodell zum Inhumanen der NS-Zeit bietet; auf eine noch tiefer greifende Weise legitimiert sie in seinen Augen aber die Gegenwart als einzig möglichen Lebens- und Selbstentfaltungsraum. Bekundungen eines uneingeschränkten ›Ja zum Leben‹ begegnen dem Leser mehrfach und zum Teil in expliziter Auseinandersetzung mit den Gräueltaten der Zeit. Das Wissen darum wird aus einer betont wertfreien Perspektive in seinem verpflichtenden Charakter relativiert. Das Aufblühen eines ›richtigen Lebens im Falschen‹, um auf die bekannte Formulierung Adornos zurückzugreifen, wird in seiner bloßen Faktizität festgestellt. Durch die wachsende Vertrautheit mit Schillers Werken regelrecht beflügelt, findet Johann keinen Grund, um seine Lust zum Leben durch Einsicht in die Unmenschlichkeit der Diktatur schmälern zu lassen: So gestimmt, konnte Johann von nichts Schrecklichem Kenntnis nehmen. Alles, was entsetzlich war, fiel ab an ihm, wie es hergekommen war. Er wollte nicht bestreiten, was rundum als entsetzlich sich auftat. Aber er wollte sich nicht verstellen. Und er hätte sich verstellen müssen, wenn er getan hätte, als erreiche ihn das Entsetzliche. Es erreichte ihn nicht. Er kam sich vor wie in einer Flut. In einem Element aus nichts als Gunst und Glanz. Jeder Tag, an den er sich erinnerte, war der schönste Tag in seinem Leben. Andere Tage ließ er gar nicht zu.27

Das Vitalistische einer solchen Kunstauffassung ist wohl nicht zu übersehen.28 Ästhetik soll Lebensgefühle intensivieren, das Leben als Ganzheit bis zu einem Punkt wahrnehmbar und darstellbar machen, so dass alles Bedingte und Kontingente ausgelöscht wird und sich das Erlebte als Aus_____________ 26 27 28

Vgl. Váňa, Pavel: Der ›Sprachbaum‹ Martin Walsers. Zur Sprache in M. Walsers Romanen aus den neunziger Jahren; in: Sprach- und literaturwissenschaftliche Brückenschläge. Herausgegeben von Maria Balaskó. München 2007, S. 181-190. Walser: Ein springender Brunnen (Anm. 25), S. 388f. Vgl. Gebauer, Mirijam: Poesie und Provokation im Erinnerungsroman. Zu Martin Walsers Ein springender Brunnen; in: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. Herausgegeben von Christoph Parry und Edgar Platen. München 2007, S. 111-129.

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druck eines absoluten Maßes offenbart. In diesem Zusammenhang ist es alles andere als verwunderlich, dass sich die Begegnung mit Stefan George, also mit einem Dichter, der kunstreligiöse Anschauungen mit größter Konsequenz vertritt, auf Johann als das prägendste Bildungserlebnis überhaupt auswirkt. Andächtig vertieft sich der Siebzehnjährige an den Abenden, die er im Winter 1944 in einer Kaserne zur Ausbildung für den Frontdienst verbringen muss, in Das Jahr der Seele und entdeckt in George einen unvermuteten ›modernen Klassiker‹, der seinen Kanon um eine wichtige Konstellation ergänzt: Und erst vor ein paar Jahren sei der Dichter gestorben. Das war eine Nachricht. Das hatte er nicht zu vermuten gewagt, daß in seinem eigenen Jahrhundert solche Gedichte gemacht werden konnten. Gedichte, das war Klopstock, Goethe, Schiller, Hölderlin – und Schluß. Ein paar Hainbündler noch. Auf jeden Fall 18. Jahrhundert. Und jetzt so nah, solche Gedichte. Gedichte, die auf Johann nicht weniger wirkten als die von Klopstock bis Hölderlin.29

(III) Gerade die vitalistische Forderung, Kunst solle für klärende und allseitige Erkenntnis in das verstrickte Gefüge des Lebens sorgen, führt in die kunstreligiöse Orientierung Walsers einige relativierende Elemente ein, auf die abschließend kurz hinzuweisen bleibt. Ein solcher Auftrag an die Kunst setzt an und für sich voraus, dass das Seiende einen Mehrwert an Natürlichkeit und Authentizität besitzt, dem ein Künstler unbedingt gewachsen zu sein hat: nicht indem er das Lebendige zum rein stofflichen Substrat für sein Werk verkommen lässt, sondern indem die schöpferische Arbeit, die zur Gestaltung des Werks führt, sich durch die dem Leben wesenseigene, fließende Mannigfaltigkeit durchdringen, ja durchtränken lässt. Diese für die Moderne charakteristische Erwartung wird in der Regel freilich nicht als solche gehegt, sondern gibt sich insofern als Ideologem zu erkennen, als ihre Enttäuschung nicht das Versagen der Ästhetik einleitet, wie man erwarten sollte, wenn man sie wörtlich nähme; vielmehr sichert sie der Ästhetik eine Art von Eigengesetzlichkeit und bestimmt den Rahmen, innerhalb dessen die Kunst ihre Legitimität aus der stilistischen Souveränität ihrer Ausführung und aus der Willkürlichkeit ihres Zeichensystems gewinnen kann. Das Erkennen der Künstlichkeit als Grundlage ästhetischer Sinnproduktion bringt aber den Begriff ›Kunstreligion‹ um die besonders bei Walsers Poetik wichtige Eigenschaft als Regulativ zum Leben. Ein solcher Bruch ist sowohl in Die Verteidigung der Kindheit als auch in Ein springender Brunnen mehrfach nachgewiesen und wird in ein für die Moderne ebenfalls gewöhnliches Themenfeld eingebunden: in die Unzulänglichkeit der künstlerischen Sprache gegenüber _____________ 29

Walser: Ein springender Brunnen (Anm. 25), S. 346.

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dem Reichtum und Überfluss des Lebens. Alfred Dorn sieht sein Unternehmen, die in Dresden erlebte Kindheit in musealer Form zu verewigen, immer wieder entweder durch die sklavische Nachahmung des Faktischen oder aber durch das Festhalten an einer abstrakten und verschwommenen Idealvorstellung gefährdet – in beiden Fällen also durch mangelnde Nähe zum Leben. Einmal schwebt ihm eine ins Unendliche tendierende Verallgemeinerung des Subjektiven als mögliche Lösung vor, um sich aus diesem Engpass zu befreien: »Soviel Menschen, so viele Museen. Das fände er angemessen. Milliarden Museen. Das wäre seine Welt«.30 Bei Johann in Ein springender Brunnen wird die Skepsis gegenüber Sprache und deren Fähigkeit, dem Erlebten ein adäquates Ausdrucksmittel zur Verfügung zu stellen, um eine weitere Dimension ergänzt. Als ihm im Dickicht einer Traumvision ein Schlüssel zum Verständnis vieler Ereignisse dargeboten wird, die ihn in der letzten Zeit beschäftigt und wie der Tod seines Bruders auch gequält hatten, kann Johann nicht umhin, die Beschreibung dieses Traums, die er zu Papier gebracht hatte, als ungenügend und sogar schädlich abzulehnen: Als er den Traum aufgeschrieben hatte, sah er, daß er nicht den Traum aufgeschrieben hatte, sondern das, was er für die Bedeutung des Traums hielt. Vom Traumüberfluß war nichts übriggeblieben. Solange er träumte, hat er alles verstanden, jetzt, aufgewacht, versteht er nur noch die Bedeutung. Er hatte den Traum durch Aufschreiben zerstört.31

Diese sprachkritische Auslassung mündet eigentlich in das Plädoyer für eine subjektive und konnotative Poetik, deren theoretische Fundierung in Walsers Aufsätzen zu finden ist. Für diese Forderung steht allerdings eine Formulierung Friedrich Nietzsches Pate, dessen Zarathustra-Lied dem Roman den titelgebenden Ausdruck geliefert hat. Dass damit jener Autor in die Problematik des Romans involviert ist, der die Ambivalenz jeder kunstreligiösen Gesinnung am eindrücklichsten aufgezeigt hat, stellt ein weiteres Zeichen dafür dar, wie tief eine solche Ambivalenz auch im Werk Martin Walsers verwurzelt ist.

_____________ 30 31

Walser: Die Verteidigung der Kindheit (Anm. 3), S. 320. Walser: Ein springender Brunnen (Anm. 25), S. 404.

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Buchstabenfrömmigkeit Botho Strauß’ nachreligiöse Auratisierung der Schrift Wenn der Geist heiligt, so ist jedes ächte Buch Bibel. Novalis: Blüthenstaub-Fragment Nr. 102

In Botho Strauß’ Erzählung Kongreß. Die Kette der Demütigungen (1989) wird der ›Berufsleser‹ Friedrich Aminghaus in der Stille seines Arbeitszimmers von einer ›winzigen Stimme‹ heimgesucht, die mit Hartnäckigkeit seine Versenkung in die Lektüre vereiteln und ihm die Schrift des Buches, das vor ihm liegt, verleiden will: Wann endlich befällt Sie der Ekel vor dem Gewürm der Schrift und der Ekel vor der Last, mit Hilfe dieser kleinen Krüppel sich etwas Schönes in den Geist zu rufen? Wann endlich zermürbt Sie der kalte Fleiß, mit dem Ihre Vorstellungskraft das unermüdliche Symbolstechen betreibt?1

Diese ›Buchfee‹ oder ›Buchin‹, Hermetia mit Namen, die »aus der Ritze zwischen den Seiten« flüstert, hält Friedrich Aminghaus fortwährend zum Abbruch der Lektüre und zum Aufbruch an: »›Nun sprich! Buch zu!‹«.2 Es hilft ihm nichts, dass er sich als »ein unbedingt lesendes Individuum«3 bekennt, das wie die lästige Fee selbst nur im »Blättern und Geblättertwerden«4 zu existieren meint. Die Buchfee Hermetia ist übrigens nur die im Rang Nächsthöhere in einer ›Kette‹ von Dämonen, die zu Aminghaus geschickt zu sein scheinen, um ihm das Lesen auszutreiben: Vor ihr war es ein Mann im glänzenden Purpurgewand mit einer über den Kopf gezogenen Kapuze gewesen, der in der Ecke des Zimmers »beständig hockte« und »von früh bis spät« gegen das »einzige Laster« Aminghausens Einspruch erhob: »›Lies nicht soviel!‹«.5 Dieser ›junge Mann‹ ist nun, wie der Erzähler ausdrücklich feststellt, »derselbe, der einst zu dem tafelnden Swedenborg gesagt hatte: ›Iß nicht _____________ 1 2 3 4 5

Strauß, Botho: Kongreß. Die Kette der Demütigungen. München 1989, S. 8f. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 8. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 10. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 9. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 11.

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soviel!‹«.6 Emanuel Swedenborg berichtet von einer solchen Begegnung, die er auf April 1745 datiert:7 Bei der üppigen Mahlzeit in einem Londoner Gasthof habe sich plötzlich der Boden mit den »scheußlichsten kriechenden Tieren« bedeckt, woraufhin ihm ein Mann in der Ecke des Zimmers erschienen sei und ihn durch die Worte »›Iß nicht so viel‹« in »Schrecken versetzte«. Die geisterhafte Figur enthüllte sich Swedenborg in der folgenden Nacht als »Gott der Herr, der Weltschöpfer und Erlöser« und erwählte ihn zur Auslegung der heiligen Schrift unter seinem Diktat. Von diesem Augenblick an vermochte er in den Himmel, die Geisterwelt und die Hölle zu sehen. Swedenborg, bis dahin Mitglied der königlich-schwedischen Bergbaukommission, entsagte aller »weltlichen Gelehrsamkeit«, wurde zum Begründer einer Neuen Kirche und schrieb eine Fülle theosophischer Schriften, die ihm im Urteil des jungen Aufklärers Immanuel Kant (1766) den Beinamen »Erzphantast unter allen Phantasten« eingetragen haben.8 Dem passionierten Leser Aminghaus bei Botho Strauß widerfährt eine solche Offenbarung nicht. In der Begegnung mit der ›Buchfee‹ Hermetia, die ihm außerhalb der Lektüre als »rechtmäßige Ehefrau«9 eines Professors begegnet, wird sein sexuelles Begehren enttäuscht: Man erzählt sich mehr oder minder erregende Geschichten, aber zur Vereinigung zwischen Leser und Muse kommt es nicht. Obwohl ihm Hermetia als das »Wesen der Begierde in Person« erscheint, bleibt sie am Ende »unverändert das reine Nichts, ein Phantom, der schöne Wahn«.10 Hineingezogen in das Erzählspiel mit den »Demütigungen«,11 dient auch der Leser Aminghaus nur zu »Vorwand und Scheingestalt« für »die Leidenschaft der anderen«, die ihn für ihre erotischen Beziehungen benutzen.12 Das Ende der Erzählung legt zudem nahe, dass sich die Begebenheiten zwischen Leser und Buchfee nur in der Lektüre zugetragen haben. Wenn der erschöpfte Leser Aminghaus schließlich »gegen halb sieben Uhr in der Frühe« das Buch endlich wirklich zuklappt und ans Fenster tritt, geht sein Blick auf einen _____________ 6 7

8

9 10 11 12

Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 11. Swedenborg erwähnt die Christus-Vision nur knapp in seinen Adversaria in Libros Veteris Testamenti (postum 1847-54); ein ausführlicher Bericht ist von seinem Freund Carl Robsahm zuerst 1784 auf Englisch veröffentlicht worden (hier zitiert nach Stengel, Friedemann: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011, S. 42). Kant, Immanuel: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik; in: Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band II: Vorkritische Schriften II, 1757-1777. Berlin 1905, S. 315-373, hier S. 354. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 181. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 187. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 104. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 187.

Buchstabenfrömmigkeit

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banalen Betriebsparkplatz mit einem kreisenden ›Warnlicht‹ hinaus: »Es warnte niemanden, es warnte vor nichts. Es kreiste für sich und war defekt«.13 Aminghaus, der Leser, und Hermetia, die ›Buchin‹, sind offenbar Figuren einer allegorisierten Poetik. Diese Poetik sagt etwas darüber aus, was von literarischer ›Verführung‹ zu erwarten ist: Sie ersetzt den sexuellen Akt durch die Rezeption von Zeichen des immer Abwesenden und das Glück der Erfüllung durch den immer erneuten Aufschub. Die ›unendlich genossene Verzögerung‹14 des Glücks gleicht – wie der Erzähler ausdrücklich feststellt – einer Übung des Kamasutra, konvertiert aber zugleich einen Topos poststrukturalistischer Zeichentheorie. In diesem theoretischen Zusammenhang stellt das Buch – respektive die Literatur – den Platzhalter für ein letztlich ›metaphysisches‹ Versprechen dar. Zwischen Liebe und Religion, der Verheißung des ›Sexus‹ und der des ›Numinosen‹, vermittelt nicht nur eine kulturgeschichtliche Tradition, sondern auch ein konkretes Verlangen nach Ekstase: dem ›Außer-sich-Sein‹ im sexuellen Akt oder in der Andacht. Deshalb kann dieselbe Poetik auch in religiösen Bildern reflektiert werden, so dass der Erzähler in Kongreß zu der physischen Haltung des Lesenden »am langen Tisch der Bibliothek« anmerkt: »Das Buch – das einzige Wesen, vor dem der heutige Mensch noch den Blick niederschlägt, niederschlagen muß! Alles Höhere sonst wird geradeaus besehen, ohne Scham und Scheu!«.15 Das Niederschlagen des Blicks vor dem Buch bewahrt eine Geste der Scheu vor dem Heiligen, von deren Verlust die gegenwärtige Kultur offenbar gekennzeichnet ist. Damit wäre das Konzept ›Kunstreligion‹ bei Botho Strauß bereits annähernd umrissen: Wo immer bei ihm von Religiösem die Rede ist (insbesondere dort, wo sich die Stimme des reflektierenden Erzählers oder Essayisten affirmativ auf Religiöses bezieht), handelt es sich um Gesten oder Bekenntnisse religiösen Denkens und Verhaltens nach der Religion. Dieses Denken setzt Perioden der Kritik voraus, deren Durchquerung ihm das Bewusstsein des Unzeitigen und Sentimentalischen verleiht. Adolf Muschg hat die Funktion und die Folgen solcher postreligiösen ›Bekenntnisse‹ zum vielsagend ›Höheren‹ in einer Rede unter dem Titel Die Gegenwart des abwesenden Gottes. Von der wahren Kunst zur Ware Kunst oder: Wie hängen Autor und Autorität zusammen? anlässlich des Bonner Germanistentags 1997 so zusammengefasst: _____________ 13 14 15

Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 192. Vgl. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 188. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 19.

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Wer die Kunst als Platzhalter ›höherer Werte‹ beansprucht, und zwar nicht bloß mit der Autorität des bekannten ›Kulturträgers‹, des Literatur-Promis, sondern mit der Autorität des gründlich Andern, ein anderes Maß Verlangenden: der macht Skandal. Ich denke an die Reaktionen auf Botho Strauß und Peter Handke, ich meine aber auch George Steiners Schrift über Real Presences, und im Grunde meine ich eine ganze, aus Frankreich stammende Schule von Schriftgelehrten, die, ohne Augenzwinkern, die Zurücknahme des Lesers durch die Lektüre als Hochamt, als frommes Exerzitium zelebrieren. Sie haben darauf nicht nur viel Geist verwendet, sondern auch eine neue Scholastik daraus entwickelt. Ich meine die Bewegungen against interpretation und against metaphor, die Texte keineswegs nur so ansehen, als ob sie heilig wären. Diese Lesekünstler entziehen sich der Dienstleistung an der Massengesellschaft. Sie betreiben kein fröhliches Fischen im Mainstream: Sie verstehen sich, wie die Ausleger der Kabbala, als Arbeiter an der Gegenwart des abwesenden Gottes.16

Der literarische und theoretische Kontext, in den Muschg Strauß’ Poetik stellt, ist mit Peter Handke, Susan Sontag und George Steiner durchaus heterogen konfiguriert: Ihr Gemeinsames wird offenbar in einer ästhetischen ›Schrift‹-Verehrung angenommen, die ›sekundäre‹, hermeneutische, erst recht aber journalistisch-massenmediale Diskurse zurückweist. Zu Steiners Groß-Essay Real Presences (1989), der mit der Fiktion einer ›antiakademischen Gesellschaft‹ beginnt, die jegliches »Gespräch über Kunst, Musik und Literatur« exkommuniziert,17 hat Strauß den Aufsatz Der Aufstand gegen die sekundäre Welt als Nachwort (1990) beigesteuert. Steiner entwirft im Essay ausdrücklich die Ansicht, »daß alle ernstzunehmende Kunst und Literatur [...] ein opus metaphysicum ist«.18 Es gehe, kommentiert Strauß, um die »Wiederentdeckung« der »theophanen Herrlichkeit« des Kunstwerks, d. h. seiner »transzendentalen Nachbarschaft«.19 Es gehört jedoch zur paradoxen Qualität bereits von Steiners Essay, dass die Ausweisung des Sekundären selbst im Medium des akademischen Sekundärdiskurses vorgebracht wird; die ›antiakademische‹ Republik ist eine zutiefst akademische Phantasie, eine république des lettres. Denn auch Steiner reflektiert, wie Strauß in seinem Nachwort festhält, eine »Epoche ›nach dem Wort‹, den _____________ 16 17 18

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Muschg, Adolf: Die Gegenwart des abwesenden Gottes. Von der wahren Kunst zur Ware Kunst oder: Wie hängen Autor und Autorität zusammen? Rede zur Eröffnung des Germanistentages 1997 in Bonn; in: Die Zeit Nr. 42 vom 10. 10. 1997, S. 60. Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß, aus dem Englischen von Jörg Trobitius. München 1990, S. 15. Strauß, Botho: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit; in: Steiner, George: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß, aus dem Englischen von Jörg Trobitius. München 1990, S. 303-320, hier S. 306. Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 307.

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Epilog, wie er es nennt«,20 in dem Nietzsches Todesurteil über den LogosGott bereits gesprochen und seine – von Roland Barthes bezeichneten – ›Hypostasen‹ dem Denken ausgetrieben sind.21 ›Realpräsenz‹ aber gründet auf der alten christlich-theologischen Figur der Transsubstantiation, also darauf, dass das Bezeichnete »unter der Gestalt«22 oder im ›Körper‹ des sprachlichen (oder auch ikonischen) Zeichens anwesend sein kann. Die in Steiners idealem Staat allein zugelassene philologische Rede besorgt daher die Auslegung oder Glossierung der ›unhintergehbaren‹ Schrift des literarischen Kunstwerks, gegen deren ›parasitäre‹ Überwucherung oder – schlimmer noch – ›zersetzende‹ Dekonstruktion sie eine »Scheu vor der tabuverletzenden Benennung« bewahrt.23 Der alltägliche Diskurs der Information, der Journalismus, betreibt im Gegensatz dazu eine Praxis der Indiskretion, der Enthüllung und Verdächtigung, die »das Gewebe der Welt fadenscheinig« mache.24 Die Re-Auratisierung der Kunst – vor allem der Literatur – fordert für Strauß von der auslegenden Rede eine quasi-religiöse »Scheu vor dem Schöpfungsakt«;25 sie überträgt das Modell der göttlichen Schöpfung und des göttlichen Wortes auf die Kunst. Analog zur Religion werden auch die Verfahren der Auseinandersetzung26 mit künstlerischen Produkten definiert. George Steiner hat in Real Presences als angemessene Rezeption von Kunst, Musik und Literatur die Einverleibung (mit Ben Jonsons Begriff ›ingestion‹) bestimmt, die sich im Auswendiglernen, im »savoir par cœur«,27 oder in der produktiven Antwort auf das Kunstwerk Ausdruck verschafft: im Musizieren, Malen, Schreiben.28 Strauß hat diese Überlegung ins Rituelle fortgedacht: »Man arbeitet an der Aneignung«, indem man sich das Gebet oder die Litanei zum Vorbild der intensiven (statt extensiven), nicht-konsumistischen und – wie Strauß in Die Fehler des Kopisten über den kolumbianischen Philosophen Nicolás Gómez Dávila _____________ 20 21 22 23 24 25 26

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Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 310. Barthes, Roland: La mort de l’auteur; in: Barthes, Roland: Œuvres complètes. Édition établié et presentée par Éric Marty. Tome II. 1965-1973, [Paris] 1994, S. 491-495, hier S. 494. Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 308. Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 311. Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 312. Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 312. »Mundum tradidit disputationi eorum (Eccl. 3,11), mit den Worten Th. Haeckers: Und er übergab ihnen die Welt zur Auseinandersetzung« (Strauß, Botho: Die Fehler des Kopisten. München – Wien 1997, S. 196); der Vers verwahrt das Werk Gottes zugleich gegen die Anmaßung seiner ›Ergründung‹ (›Denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende‹). Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 311. Steiner: Von realer Gegenwart (Anm. 17), S. 21.

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schreibt – affirmativen Lektüre nimmt: »Erst allmählich, durch die Litanei des Ja-Sagens erhebt sich die Zustimmung zur Einsicht. Die bezeugte Gefolgschaft wandelt sich in Souveränität, insofern die Freude über die gewonnene Einsicht als Tonikum dem gesamten Geist zugute kommt«.29 Als Kronzeugen seiner kunstreligiösen Poetik benennt Strauß wiederholt Autoren, denen es mit der Sakralisierung der Rede im christlichen Sinne voller Ernst gewesen ist: Nicolás Gómez Dávila, Theodor Haecker oder Johann Georg Hamann, den er mit dem Satz aus einem Ende 1785 verfassten Brief an Friedrich Heinrich Jacobi zitiert: »›Sprache‹, die Mutter der Vernunft und Offenbarung«.30 Über Rudolf Borchardt, dessen restaurative Poetik er »im Geist Herders und Friedrich Schlegels« von der »zeitspaltende[n] Sehnsucht nach dem Ersten und Ganzen« getragen sieht, schreibt Strauß, sein ›poetischer Fundamentalismus‹ sei »ein zutiefst religiöses Programm«.31 Anders als der Religiöse weiß sich der ästhetisch Gläubige jedoch von der Totalität unüberbrückbar getrennt; er muss ›Distanz ertragen‹, wie es im Titel des Borchardt-Essays heißt. Gerade aus dem sentimentalischen Bewusstsein der Getrenntheit – ausdrücklich weist Strauß auf Schillers Nänie hin32 – geht jedoch die besondere auratische Wertschätzung der Schrift hervor: »Und so wird das Maß aller Dinge das Vermissen bleiben, das Fehlende, und allein die Schrift, das Medium der Hinterlassenschaft, der Abwesenheit und der Entfernung, kann es getreulich und täglich feiner zu bestimmen suchen«.33 Dichtung geht also nicht aus einer pneumatischen Verbindung mit dem Heiligen hervor, sondern nimmt sich einer kulturellen Gedächtnisfunktion an: Sie bewahrt vor allem die Formen des Verhaltens und die Muster des Denkens, aus denen das Heilige der Religion in einem halben Jahrhundert der »Abschwörung und der Leugnung«34 vertrieben worden ist. Der ›Poet‹ ist, wie es in den Fragmenten der Undeutlichkeit heißt, der »Verbinder der Zeiten, der hochintegrierte Archivar« seiner Kultur.35 In _____________ 29 30

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Strauß: Fehler des Kopisten (Anm. 26), S. 171. Strauß: Fehler des Kopisten (Anm. 26), S. 189. – Vgl. Hamann, Johann Georg: Brief an Friedrich Heinrich Jacobi, Ende 1785; in: Hamann, Johann Georg: Briefwechsel. Herausgegeben von Arthur Henkel. Band VI: 1785 – 1786. Frankfurt/M. 1975, S. 105-108, hier S. 108. Strauß, Botho: Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt; in: Strauß, Botho: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München 1999, S. 5-22, hier S. 9. – Auf die Formel ›ästhetischer Fundamentalismus‹ hat Stefan Breuer den ›deutschen Antimodernismus‹ gebracht (vgl. Breuer, Stefan: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995). Strauß: Die Distanz ertragen (Anm. 31), S. 14. Strauß: Fehler des Kopisten (Anm. 26), S. 204. Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 310. Strauß, Botho: Fragmente der Undeutlichkeit. München – Wien 1989, S. 47.

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Anschwellender Bocksgesang hat Strauß diese Funktion mit dem Begriff der ›Gegenaufklärung‹ in Verbindung gebracht: Während sich die politischen Jugendbewegungen von den ›Achtundsechzigern‹ bis zu den Neonazis – sekundiert von den medienöffentlichen »Strategen der kritischen Entlarvung« – in ›Schamverletzungen‹ üben, sei die Gegenaufklärung »immer die oberste Hüterin des Unbefragbaren, des Tabus und der Scheu«.36 Wie es für diese ästhetische Haltung charakteristisch ist, geht es primär um das Tabu als Form, nicht um einen spezifizierbaren Gehalt: »Jedes Tabu ist besser als ein zerstörtes«.37 Wie sehr die Literatur bei Strauß Merkmale der Religion zugesprochen bekommt, ist an ihrem Zeitmodus ablesbar. »Der poetische Fundamentalist«, heißt es im Essay über Borchardt, »kehrt gegen Geschichte und Vergehendes die gedenkende Macht der Dichtung, dem Zeitenwandel enthoben wie Religion«.38 Diese statische, aufgehobene Zeit, die in religiösen Festen oder in der Eucharistie manifest wird, steht gegen das Vergehen wie gegen das Werden. An die Stelle des über die Zeit souveränen, allwissenden Gottes tritt die ›allwissende‹ Literatur oder Dichtung. Denn im Vorstellungsraum der Dichtung ist überhaupt »kein Raum für das Unbekannte. Hier ist alles vorausgesehen. In den Symbolen der Dichtung erschöpft sich die menschliche Vorstellungskraft wie aber auch die weltliche Ereignispotenz«.39 Gegen den »Mythos der Jetztlebigkeit«40 bieten die Dramen und Prosatexte von Botho Strauß nicht zuletzt den Bildungsschatz des antik-mythologischen Wissens auf, also Zeugnisse einer Vorstellungskraft, die die Grundsituationen menschlicher Existenz bereits auf ›archetypische‹ Erzählformen gebracht hat. Noch im Vorwort zum Roman Der junge Mann (1984) hatte Strauß diese ›gleiche Zeit‹, den »ursprünglichen Äon«, gegen den »Zeit-Pfeil« der modernen Physik und Naturwissenschaft verteidigen zu müssen geglaubt: »Zumal der Erzähler« werde (wie Marcel Proust in À la recherche du temps perdu) »weiterhin schalten und walten mit verlorener und wiederkehrender Zeit« und »bis zuletzt dem Zeit-Pfeil trotzen«.41 In Beginnlosigkeit (1992) findet Strauß dagegen ein ›kongeniales‹ Modell in der steady state-Theorie des britischen Astronomen und Mathematikers Fred Hoyle: ein Modell, welches das ›bewegte Immerdar‹ der Seinsweise Gottes in den Horizont _____________ 36 37 38 39 40 41

Strauß, Botho: Anschwellender Bocksgesang; in: Strauß, Botho: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München – Wien 1999, S. 55-76, hier S. 73. Strauß: Fehler des Kopisten (Anm. 26), S. 82. Strauß: Die Distanz ertragen (Anm. 31), S. 14. Strauß: Anschwellender Bocksgesang (Anm. 36), S. 75. Strauß: Die Distanz erstragen (Anm. 31), S. 22. Strauß, Botho: Der junge Mann. München – Wien 1984, S. 14f.

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der Naturwissenschaft zurückholt und zugleich das ästhetische Zeitverständnis des ›Dichters‹ rechtfertigt.42 Mit diesem Konzept aber kann jegliches Geschehen als Erfüllung der ›Schrift‹ interpretiert werden, die die prophetische Schrift der Religion beerbt: »Jeder gelebte Augenblick hat einen Vorfahren in der Literatur«.43 Mehr noch rechtfertigt sich menschliche Existenz vor der Instanz des verabsolutierten Textes, wie es in Die Fehler des Kopisten (1997) heißt: »[S]o ist es, daß Menschen nichts sind als Verheißung von Texten«.44 Das Numinose, das die Kunst beschwört, ist demnach kein göttliches Wesen, sondern besteht einzig in der Schrift oder der Sprache selbst. Nur: Diese Schrift »verschwindet« nach Strauß’ Überzeugung »aus dem Zentrum der Kultur«,45 wo der Medienbetrieb der Informations- und Erlebnisgesellschaft seine Schaubuden aufgeschlagen hat. Unter den Bedingungen der medialen Moderne sinkt Mallarmés Glaube an das universale Buch, in dem die Welt sich vollenden werde,46 zu einem »ebenso harmlose[n] wie obsolete[n] Privatspaß« herab.47 Wenngleich die verabsolutierte Schrift den Gedanken der Erlösung in sich aufgenommen hat, wird doch der Glaube des Literaten an die eigene ›Sendung‹ von keiner ›gesellschaftlichen‹ Perspektive, keiner weltlichen ›Soteriologie‹ oder Heilslehre mehr motiviert.48 Deshalb ist auch die Stellung des Autors als Schriftgläubiger ›am Rand‹ der Gesellschaft situiert: Er, der »Außenseiter unter den Schriftstellern, der Exzentriker«, wird »zur trolligen Figur«,49 zum Außenseiter unter Außenseitern. In Anschwellender Bocksgesang hat Strauß mit sozusagen hochgestimmter Resignation formuliert, »nur noch in engsten literarökologischen Enklaven, in Denk- und Empfindungsreservaten« sei ihm ein »Überleben« möglich.50 »Es ist für mich unabänderlich, und das könnte man religiös nennen, eine Buchstabenfrömmigkeit, dass alles, was von mir existiert, nur durch das Buch existiert«, heißt es in einem Gespräch mit Ulrich Greiner (Mai 2000): _____________ 42 43 44 45 46 47 48 49 50

Vgl. Strauß, Botho: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie. München – Wien 1992, S. 9; zum ›kongenialen Ansatz‹ vgl. den Klappentext. Strauß: Fehler des Kopisten (Anm. 26), S. 26. Strauß: Fehler des Kopisten (Anm. 26), S. 75. Strauß, Botho: Paare, Passanten. München – Wien 1981, S. 106. Mallarmé, Stéphane: Le livre, instrument spirituel; in: Œuvres complètes. Texte établi et annoté par Henri Mondor et G. Jean-Aubry. Paris o. J., S. 378-382, hier S. 378. Strauß: Paare, Passanten (Anm. 45), S. 106; vgl. Funke, Pia-Maria: Über das Höhere in der Literatur. Ein Versuch über die Ästhetik von Botho Strauß. Würzburg 1996, S. 68. Mit der Erfahrung des Bankrotts der »verfehlten, weltlichen Soteriologie« setzt Strauß’ Nachwort zu Steiners Essay ein (Strauß: Aufstand gegen die sekundäre Welt (Anm. 18), S. 305). Strauß: Paare, Passanten (Anm. 45), S. 106. Strauß: Anschwellender Bocksgesang (Anm. 36), S. 71.

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Ich akzeptiere nichts außerhalb der Schrift. Ich meine sogar, die Literatur besteht nur für Literaten, für literarisch tingierte Menschen. Mein Leser ist mir zum Verwechseln ähnlich. Er ist nicht die Frau des Vorstandsvorsitzenden. Er gehört nicht zur Elite. Es wird jemand sein, der völlig spiegelbildlich dem Autor entspricht. Einsamkeit plus Einsamkeit.51

Ästhetischer Ausdruck dieses religiös aufgeladenen Dichtungsverständnisses ist eine Neigung zum ›pathetischen Manierismus‹, zur Apodiktik und bildungsbewussten Autorität; eine Vorliebe für das Aphoristische, für Lakonik, Hermetik und Allegorese, die dem umstandslosen Verstehen Hindernisse in den Weg stellt. Strauß präferiert Schreibweisen, die sich – im ästhetischen und intellektuellen, nicht im sozialen Sinn – als ›elitärer‹ Gegenentwurf zum gemeinverständlichen »sozialen Geräusch« der Gegenwart artikulieren.52 Unter dem ›Regime‹ der ›totalen Öffentlichkeit‹, die sich über das Prinzip unausgesetzter ›Kommunikation‹ definiert (für Strauß das »Unwort des Zeitalters«),53 geht es der Literatur darum, für Unterbrechungen zu sorgen. Das geschieht nicht zuletzt in der Irritation durch diejenige Literatur, die eine von der Religion übernommene Autorität beansprucht, ohne eine autorisierte Botschaft zu verkünden, und also auch nicht auf dem Meinungsmarkt ›konsumiert‹ werden kann, wie Strauß im ungebrochenen Einklang mit Theodor W. Adornos negativer Dialektik formuliert. In dieser semantischen Offenheit gründet auch der Formalismus seines kunstreligiösen Imperativs: »Erstes Gesetz dem entgegen: erkenne, was höher ist als du selbst. Lerne die Fremdsprache. […] Meide die Pädo-kata-gogen: die Herunter-Erzieher«.54 Von der Warte autonomer Höhenkunst blickt Strauß auf die Ebene der Gegenwart herab. Aus der Distanz zu ihren demokratischen Belangen leitet sie ein metapolitisches Selbstverständnis ab, das bereits für die Kunstreligion der Romantik kennzeichnend war: als »politisches Externum zur Bekämpfung und Leugnung der Allmachtsansprüche des Politischen«.55 Mit dieser Verbindung von Kunst- und Bildungsideal, konkreter »Politikdistanz und metapolitischem Umwegkonzept« knüpft Strauß an eine deutsche Tradition der Kunst-Apotheose an.56 Denn die Kunst be_____________ 51 52 53 54 55 56

Strauß, Botho: Am Rand. Wo sonst. Ein Zeit-Gespräch mit Botho Strauß; in: Die Zeit Nr. 23 vom 31. 5. 2000, S. 55-56, hier S. 56. Vgl. Essenberg, Oliver van: Kulturpessimismus und Elitebewusstsein. Zu Texten von Peter Handke, Heiner Müller und Botho Strauß. Marburg 2004, besonders S. 24-27. Strauß, Botho: Der Untenstehende auf Zehenspitzen. München – Wien 2004, S. 41. Strauß: Der Untenstehende auf Zehenspitzen (Anm. 53), S. 60. Strauß: Anschwellender Bocksgesang (Anm. 36), S. 74. Bollenbeck, Georg: Von der Kunstreligion zur ›kulturellen Kristallisation‹? Stationen einer Ernüchterungsgeschichte; in: Insel Almanach auf das Jahr 2000. Gedanken zum 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. – Leipzig 1999, S. 78-93, hier S. 78.

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findet sich auch für Strauß in einem weit grundlegenderen ›Kampf‹ antagonistischer Sphären: »Unvereinbarkeit besteht heute im Grunde nur noch zwischen dem Reich, das die politisch-gesellschaftliche Hegemonie über Geist, Moral, Wissenschaft und Glaube erstrebt, und, auf der anderen Seite, der entschiedenen Bestreitung solcher Hegemonialansprüche«.57 Die Inschutznahme des ›Geistes‹ gegen die tagesaktuellen Diskurse des Intellekts oder der Intelligenz fordert daher das »sacrificium intellectus« des Gläubigen, das »von Zeit zu Zeit« auch vom Schriftsteller »erbracht werden« müsse.58 Kunstreligion ›um 2000‹, wie sie bei Botho Strauß ausgedacht wird, kontinuiert die Topoi der Kunstreligion um 1800 und unterscheidet sich davon: Sie ist alles andere als ein kollektives Programm, kommt ohne geschichtsphilosophische oder gesellschaftliche Perspektiven aus, bleibt also eher ein individualistisches, auf die Außenseiterrolle des ›schriftgläubigen‹ Literaten (und seines kongenialen Lesers) ausgelegtes Konzept. Gleichwohl ist auch ihr problematischer Aspekt ohne Abzug, vielmehr sogar mit verschärftem Nachdruck, offenbar: die Kritik an der ›offenen Gesellschaft‹, während die polemische Metaphorik des ›Parasitären‹, der ›Zersetzung‹ und der ›Flechte‹ den totalitären Charakter der erträumten Gegen-Kultur unüberhörbar macht. Strauß’ kunstreligiöses Pathos verdammt die ›offene Gesellschaft‹ und ihre Medien, die ihm und einer religiös amplifizierten Literatur überhaupt gleichwohl einen Nischenplatz reserviert.59 Kunstreligion ist nicht zuletzt deshalb ein Paradigma der Verweigerung gegenüber der ausdifferenzierten Gesellschaft, weil sich ein religiöser Anspruch per se nicht mit der Zuweisung einer diskreten Funktionsstelle begnügen mag.

* Adolf Muschg hat an Botho Strauß’ Skandal gebendem Essay Anschwellender Bocksgesang vor allem das eben benannte Moment der ›Unterbrechung‹ gewürdigt: »Es war ihm gelungen, im Dickicht der Zeichen, von denen wir _____________ 57 58 59

Strauß: Anschwellender Bocksgesang (Anm. 36), S. 74. Vgl. etwa Strauß: Der Untenstehende auf Zehenspitzen (Anm. 53), S. 118; vgl. Bauer, Christian: sacrificium intellectus. Das Opfer des Verstandes in der Kunst von Karlheinz Stockhausen, Botho Strauß und Anselm Kiefer. München 2008, S. 115f. Im Roman Der junge Mann hat Strauß noch von einer »am Ende doch glücklichen Periode deutscher Geschichte« gesprochen (Strauß: Der junge Mann (Anm. 34), S. 11).

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umstellt sind und die wir alle lesen sollen, ein Zeichen zu setzen, das den Betrieb der Kultursparte ins Stocken brachte und bei einzelnen Teilnehmern sogar den Atem«.60 Das erinnert an eine Szene in Strauß’ 1981 erschienenem Stück Kalldewey, Farce: »Der Mann Pssst! / Alle hören in die Höhe. / K Nein. War nichts«.61 Mit einer erzählerischen Variation dieser Szene setzt auch der im selben Jahr erschienene Band Paare, Passanten ein: Ein Mann in einem grauen, zu kurzen Anzug, der im Restaurant allein am Tisch sitzt, ruft plötzlich ›Psst!‹ in die dahinplappernde Menge der Gäste, so laut, daß alle, nachdem er dies zwei Mal wiederholt hat, zu seinem Tisch hinblicken und das Stimmengewoge stockt, beinahe versickert und [...] endlich einer Totenstille weicht. Der Mann hebt den Finger und sieht horchend zur Seite und alle horchen mit ihm still zur Seite. Dann schüttelt der Mann den Kopf: nein, es war nichts. Die Gäste rühren sich wieder, sie lachen albern und uzen den Mann, der sie zu hören ermahnte und die gemischteste Gesellschaft in eine einträchtig hörende Schar verwandelt hatte, wenn auch nur für Sekunden.62

Die Szene lässt sich als Allegorie von Strauß’ kunstreligiöser Poetik verstehen: Die sonderbare Figur unterbricht das ›Stimmengewoge‹, um auf etwas hinzuweisen; auch wenn in der eingetretenen Stille nichts zu hören ist, hält die Geste des erhobenen Fingers doch den Bezug zur Transzendenz offen.63 Gleichzeitig aber hat sie die heterogene »Gesellschaft in eine einträchtig hörende Schar verwandelt«, in eine Gemeinde also, die für die Wahrnehmung eines ›höheren‹ Sinns empfänglich geworden ist: »wenn auch nur für Sekunden«64 oder für die Dauer der Lektüre eines Buches, vor dem man »den Blick niederschlägt«.65 Es ist der optimistischste Augenblick in Botho Strauß’ Kunstreligion.

_____________ 60 61 62 63 64 65

Muschg: Die Gegenwart des abwesenden Gottes (Anm. 16). S. 60. Strauß, Botho: Kalldewey, Farce. München – Wien 1981, S. 102; vgl. auch S. 84. Strauß: Paare, Passanten (Anm. 45), S. 9. Vgl. auch Steiner, Uwe C.: »Die schwache Stimme in der Höhle unter dem Lärm«. Botho Strauß und der Mythos der Kommunikation; in: Akzente 5 (2004), S. 388-402. Strauß: Paare, Passanten (Anm. 45), S. 9. Strauß: Kongreß (Anm. 1), S. 19.

CLAUS-MICHAEL ORT

Selbstreflexive Rezeptionsästhetik und ›negative Kunstreligion‹ Zu Dame Gott von Paul Wühr

Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit der 332 Seiten starke, aus den zwei Großabschnitten Damenwelt und Dame Gott mit je 17 und 23 Kapiteln bestehende Gedichtzyklus Dame Gott1 von Paul Wühr als Indiz einer Diversifizierung von ›Kunstreligion‹ gelesen werden kann. Heinrich Detering nennt als Voraussetzungen neuzeitlicher Kunstreligion seit dem späten 18. und der Wende zum 19. Jahrhundert erstens die Autonomisierung bzw. funktionale Ausdifferenzierung von Religion und Kunst/Literatur, zweitens eine »emphatische Bezugnahme von Kunst« auf das Heilige/Numinose und drittens den Anspruch von Kunst und Poesie auf einen »gleichberechtigten Zugang« dazu;2 historischtypologisch unterscheidet Detering eine poetisch inszenierte und philosophisch begleitete ›Erfahrungs‹-Konvergenz von Literatur und Religion (Schleiermacher, Hegel) von einer Phase ersatzreligiös institutionalisierter Konkurrenz zwischen Religion und Kunst ab 1850 (von Richard Wagner bis zu Stefan George).3 _____________ 1

2

3

Wühr, Paul: Dame Gott. München 2007 (im Weiteren zitiert unter der Sigle ›DG‹; Hervorhebungen jeweils von C.-M.O.). – Die folgende Argumentation knüpft an Überlegungen zu Dame Gott an, die noch keine explizit ›kunstreligiöse‹ Deutungsperspektive verfolgen: Ort, Claus-Michael: Die falsche Häresie der Poesie. Zu Paul Wührs theologischem Dreh-Buch Dame Gott; in: Kyora, Sabine (Hrsg.): Im Fleisch der Poesie. Festschrift zum 80. Geburtstag von Paul Wühr. Bielefeld 2007, S. 159-194. Detering, Heinrich: Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen; in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin – New York 2011, S. 11-27, hier jeweils S. 12. Detering: Was ist Kunstreligion? (Anm. 2), S. 14f.; vgl. vertiefend Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 und Auerochs, Bernd: Was ist eigentlich Kunstreligion? Reflexionen zu einem Phantasma um 1800; in: Friedrich, HansEdwin/Haefs, Wilhelm/Soboth, Christian (Hrsg.): Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Berlin – New York 2011, S. 323-335, sowie Eibl, Karl: Aporien-Reflexion. Zur funktionalen Äquivalenz von Religion und Dichtung; in: Friedrich/Haefs/Soboth: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert (Anm. 3), S. 1-13.

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Auch wenn sich sowohl ›Konvergenz‹ als auch ›Konkurrenz‹ inzwischen weniger als funktionale Außenbeziehung von Literatur und Religion denn literaturintern als im Medium der Poesie inszeniertes Verhältnis zwischen beiden beobachten lassen und obwohl Paul Wührs Lyrik ihre thematischen und intertextuellen Referenzen auf Religion und Theologie in hoch reflexive, poetische Innenbezüge überführt, erfüllt Dame Gott gerade deshalb die Kriterien für eine spezifische Variante von Kunstreligion: Erweitert um die via negativa der ›negativen Theologie‹4 werden in ihr zwar ›Konvergenz‹ als bloße Wissens-Konvergenz und ein quasi-häretisches Konkurrenzverhältnis zur Religion (oder genauer: zum Konzept ›Kunstreligion‹ selbst) textintern inszeniert, aber nicht mehr eindeutig unterschieden. Deshalb wird vorläufig von einem textbezogenen Kriterium für ›kunstreligiöse‹ poetische Rede ausgegangen, das diese als ein spezifisches Verhältnis von Fremdreferenz (›Rede über…‹) und Selbstreferenz (›Rede als Rede‹) definiert, ihr eine selbstreflexive Rezeptionsästhetik einschreibt und zugleich als ein hypothetisches, gattungs- und epochenübergreifendes Minimalkriterium für Varianten ›kunstreligiöser‹ Literatur fungiert. Als je einzeltextbezogenes Widerlager kontextueller funktionalistischer (literatursoziologischer, sozialgeschichtlicher) Definitionen von Kunstreligion könnten damit die variablen Aussagemodi einer im weitesten Sinn ›kunstreligiösen‹ poetischen Rede von Vorstufen in der Frühen Neuzeit über die ›Schwellenphase‹ um 1800 bis zur Postmoderne vergleichend untersucht werden. ›Kunstreligiöse‹ poetische Rede liegt demnach vor, wenn die (fremdreferenzielle) Rede über Religion, Kirche, Theologie, Gott oder ›heilige‹ (z. B. biblische) Texte nicht nur – wie in geistlicher Dichtung – literaturexterne Diskurse über diese Redegegenstände integriert oder sie zumindest voraussetzt, sondern mit einer expliziten oder impliziten, selbstreferenziellen Annäherung von Rede und Redegegenstand einhergeht. Die poetische Rede begreift sich dann selbst als ›göttliche‹ oder ›göttlich‹ inspirierte (›mystische‹) Rede oder stilisiert sich – außerhalb religiöser (etwa kirchlich-liturgischer) Handlungskontexte – zum Gebetsäquivalent: zu einem rituellen (magischen) Sprechakt, der eine je spezifische Präsenzfiktion generiert, in der der Text zu seinem eigenen Redegegenstand wird.5 _____________ 4

5

Im Sinne von Westerkamp, Dirk: Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie. München 2006; vgl. die frühe literaturwissenschaftliche Parallelaktion zur Lyrik Ernst Meisters in Kiefer, Reinhard: Text ohne Wörter. Die negative Theologie im lyrischen Werk Ernst Meisters. Aachen 1992. Dies legt jedoch keineswegs gattungsfunktionalistische Pauschalierungen nahe, wie sie Heinz Schlaffer vornimmt, wenn er – ausgehend von Sapphos Ode an Aphrodite und von

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Um ›kunstreligiöse‹ Tendenzen auch in der Gedichtkunst des 20. und 21. Jahrhunderts identifizieren zu können, mag sich also ein flexibilisiertes, je textintern überprüfbares Konzept von Kunstreligion als hilfreich erweisen, dessen Beobachtungsradius potenziell hinter Schleiermacher zurückreicht und textintern thematisierte (oder auch nur implizierte) Autorschafts- und Werkstiftungsfiktionen bzw. ›Poetiken‹ des Lesens insoweit inkludiert, als sie tradierte religiöse und kunstreligiöse Fremdreferenzen als poetische Selbstreferenzen verhandeln.6 Die Rede über das Göttliche, die Rede mit Gott und die Rede selbst als ›göttliche‹ kommen schon vor 1800 tendenziell zur Deckung, literaturgeschichtlich nachhaltig insbesondere bei Friedrich Gottlieb Klopstock. An dessen Abhandlung Von der heiligen Poesie (1754/55)7 – der Kopenhagener Ausgabe der ersten fünf Gesänge seines Messias-Epos angefügt – lässt sich ablesen, wie sich die Literatur aus der hierarchischen Unterordnung unter die Religion löst, um selbst zu einem Medium göttlicher ›Offenbarung‹ zu werden, die – wie im Messias – mit der SelbstOffenbarung einer sich vergöttlichenden Poesie zusammenfällt. Poetische Rede sowohl als erzählende, preisende Rede über Religion, über Gott, die Heilsgeschichte und die ›heilige Dichtkunst‹ selbst, als auch gebetsäquivalente, göttlich inspirierte Rede als Kommunikation mit Gott werden zusehends ununterscheidbar: Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, | Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet, | […],| […]. | Also geschah des Ewigen Wille. […]| […] | […]: er thats, und vollbrachte die große Versöhnung. | Aber, o That, die allein der Allbarmherzige kennet, | Darf aus dunkler Ferne sich auch Dir nahen die Dichtkunst? | Weihe sie, Geist Schöpfer, vor dem ich hier still an-

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6

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den Sprechsituationen der ›Anrufung‹, des ›Preisens‹ und des Rilkeschen ›Rühmens‹ – die Gattung ›Lyrik‹ insgesamt auf die Funktion eines Gebetsäquivalentes reduziert und als verkappten, unzeitgemäßen ›Gabentausch‹ zwischen Göttern und Menschen versteht, dessen »älteste Zwecke […] zwar verschwunden [sind], nicht aber die Mittel, die einst dazu dienten, jene Zwecke zu befördern« (Schlaffer, Heinz: Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik. München 2012, S. 9). Zur ›mystischen Häresie‹ bei Catharina Regina von Greiffenberg oder Johannes Scheffler (jenem ›Angelus Silesius‹, dessen Cherubinischer Wandersmann in Wührs Parergon Zur Dame Gott »gegrüßt wird« (Wühr, Paul: Zur Dame Gott. Mit einem Nachwort von Franz Josef Czernin. Graz – Wien 2009, S. 38; vgl. auch Angelus Silesius, S. 33) vgl. Kemper, HansGeorg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 3: Barock-Mystik. Tübingen 1988, S. 208278. – Das Verhältnis zwischen ›mystischer‹ poetischer Rede (vgl. Certeau, Michel de: Mystische Fabel − 16. bis 17. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Michael Lauble Mit einem Nachwort von Daniel Bogner. Berlin 2010) und ›kunstreligiöser‹ poetischer Rede scheint außerdem nach wie vor nicht befriedigend geklärt zu sein. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Von der heiligen Poesie; in: Klopstock, Friedrich Gottlieb: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Karl August Schleiden mit einem Nachwort von Friedrich Georg Jünger. Darmstadt 1962, S. 997-1009, v. a. S. 999.

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bete, | Führe sie mir, als Deine Nachahmerin, voller Entzückung, | Voll unsterblicher Kraft, in verklärter Schönheit, entgegen.8

Diese Sprechsituationen (Rede über… / Rede mit…/ Rede als …), die in einander über- und auseinander hervorgehen können und sich in Wührs Gedichten nicht nur anlässlich religiöser, sondern auch philosophischer oder naturwissenschaftlicher Thematik finden lassen, markieren Modi kunstreligiöser Rede, die – so ist zu vermuten – je epochenspezifisch variable Konfigurationen bilden. Dass sich Wührs Œuvre von Anfang an mit den Positionen christlicher Religion und den Dogmen der katholischen Kirche auseinandersetzt und sich an ihnen poetisierend abarbeitet, ruft Reinhard Kiefer zu recht in Erinnerung: Wührs Poesie stellt gleichsam eine Arbeit an der christlichen Theologie dar, zweifelsohne unter den Vorzeichen des modernen Atheismus, doch ist sie allemal auch – ex negativo – ein Rettungsversuch des theologischen Sprechens überhaupt. In Wührs Gedichten werden Vorstellungen und Positionen bewahrt, die ins Gedächtnis der religions- und traditionsfernen Mehrheit niemals eingedrungen sind. Insofern ist seine Poesie auch ein […] Archiv theologischen Denkens und Sprechens.9

Wühr ›archiviert‹ jedoch nicht nur religions-, mythen- und theologiegeschichtliches Wissen (fremdreferenzielle ›Rede über…‹), sondern versteht »im Grunde […] Schreiben als einen religiösen Akt«:10 als einen Akt der »poetische[n] Offenbarung, die jetzt religiös genannt worden ist von mir« und »eine verwirrende [ist]. Und eine Offenbarung muss eigentlich immer […] provokativ sein, immer verwirrend, […]. Der Jesus ist ein Verwirrer, _____________ 8

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Der Messias, Erster Gesang, V. 1-12 (Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias; in: Klopstock, Friedrich Gottlieb: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Begründet von Adolf Beck, Karl Ludwig Schneider und Hermann Tiemann. Herausgegeben von Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Herlebusch und Rose-Maria Hurlebusch (†). Abteilung Werke IV. Band 1 und 2: Text. Herausgegeben von Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin – New York 2000, S. 1): – Vgl. ansonsten Jacob, Joachim: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997. Kiefer, Reinhard: Gottesurteil. Paul Wühr und die Theologie. Aachen 2003, S. 70; vgl. ähnlich Hagestedt, Lutz: agens – patiens – movens. Vom Originalton zur Lyrik; in: Kyora, Sabine (Hrsg.): falsches lesen. Zu Poesie und Poetik Paul Wührs. Festschrift zum 70. Geburtstag. Bielefeld 1997, S. 159-167, speziell S. 162f. – Zum Verhältnis von Wührs Poesie zur Theologie vgl. ferner Kiefer, Reinhard: Maria – Paul Wührs Inventionen zu einer Heiligen; in: Kyora, Sabine (Hrsg.): Die poetische Republik. Annäherungen an Paul Wührs Salve res publica poetica. Bielefeld 2002, S. 109-116 und Hagestedt, Lutz: Literarische Werkstiftung auf zweiter Stufe. Aspekte der Bibelrezeption in vier Autoren-Œuvres des 20. Jahrhunderts. Über Ernst Jünger, Paul Wühr, Robert Gernhardt und Patrick Roth; in: Berliner Theologische Zeitschrift 25 (2008/2), S. 219-246. Wühr, Paul: Wenn man mich so reden hört. Ein Selbstgespräch, aufgezeichnet von Lucas Cejpek. Graz – Wien 1993, S. 7.

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ein absoluter Verwirrer».11 Dies dokumentieren bereits die zwischen 1947 und 1955 entstandenen Hymnen, Oden und Langgedichte, die sich religiöser Lyrik wie The Hound of Heaven des 1907 verstorbenen Francis Thompson12 verdanken und nur vereinzelt als Privatdrucke oder in Zeitschriften publiziert worden sind. Laut Lutz Hagestedt entstehen »bis 1955 […] 27 Hymnen, ›Fegfeuerhymnen‹ zwischen 1945 und 1950, später ›Himmlische Hymnen‹, [und] Langgedichte, die der Autor […] zum größeren Teil in andere Werke übernimmt, [und] in seine Großpoeme Gegenmünchen und Das falsche Buch einfügt«.13 Paul Wühr selbst äußert zu seiner poetischen ›negativen Theologie‹: Die eigentlichen und für mich heute noch wichtigen Gedichte, das sind diese 27 Hymnen – die misch ich in meine Poesie inzwischen rein – da hab ich Theologie getrieben, und zwar intensiv. […]. Allerdings natürlich eine teils laszive, teils negative Theologie, […]. Dieses Teamwork von Kirchenvätern. Großartige Köpfe! […]. Dichter! Ausgesprochene Dichter! Alles ein Gedicht. Ein Gesamtgedicht. Und da gings bei mir los.14

Engführungen von Heilsgeschichte und Poesie, von Tod, Auferstehung und Erlösung des ›Fleisches‹ im Prozess des Schreibens lassen sich schon in den frühen geistlichen Hymnen Wührs aufspüren (etwa in Resurrectio, 1955), wo die Auferstehung des liegenden Christus »im Zeichen« des vertikalen Kreuzes als »eine Drehung des Zeichens«15 interpretiert wird (Auferstehung als Signifikation, Signifikation als ›Drehung‹): Die Auferstehung Christi wird ganz im Zeichen des Kreuzes gesehen. Die Grablegung, Sein Liegen, ist die Horizontale, ist der Querbalken, welcher das Aufgerecktsein des Antichrist, den vertikalen Balken des Kreuzes, durchstreicht. […]. Die Auferstehung ist dann eine Drehung des Zeichens: die Vertikale ist Christus […].16

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Wühr: Wenn man mich so reden hört (Anm. 10), S. 8. Thompson, Francis: Der Himmelhund und andere Gedichte. Ins Deutsche übertragen nach einer Interlinearübersetzung von Holger Klein durch Paul Wühr. München 2009. Hagestedt: agens – patiens – movens (Anm. 9), S. 163. Wühr, Paul: Was ich noch vergessen habe. Ein Selbstgespräch, aufgezeichnet von Lucas Cejpek. Graz – Wien 2002, S. 11f. – Vgl. Wühr, Paul: Über Francis Thompson; in: Thompson: Der Himmelhund und andere Gedichte (Anm. 12), S. 23-31, hier S. 27: Thompson »hatte sich […] lediglich bedient und Stoffe der Theologie verwendet, die diese wiederum […] nicht selbst erfunden hatte, sondern sich in ihren Anfängen bei der Poesie geholt. Soviel zur Legitimität des Stoffes. Es gibt keine christliche Dichtung«; vgl. auch S. 29: »von Dichtern hat diese Kirche mit all ihrer Theologie schon immer gestohlen. […] Francis, der fromme, [hat] sich doch nur wiedergeholt, was der Poesie schon immer gehörte. Ich nenne mich da selber wie er einen katholischen Dichter in diesem Sinne«. Prolog ›Inhalt‹ zu Wühr, Paul: Resurrectio. o. O. 1955, [S. 1]. Wühr: Resurrectio (Anm. 15), [S. 1]. – Zu Wührs ›horizontaler‹ »Version der Transsubstantiation« als ›Geschlechtsumwandlung‹ sowie als Umsemantisierung und Ambigui-

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Das Heilsgeschehen erweist sich also von Anfang an als ein schriftanalog semiotisches, d. h. als ›ausliegendes‹ und auszulegendes, das mit der poetischen Rede selbst als ›resurrectio‹ zusammenfällt, wie bereits die ersten Verse verdeutlichen: Du bist eingetragen, | weil ein Gemach ist die volle Bedeutung, | ausliegend sie – | eingezeichnet, | weil eine Deutung verfiel | über dem Raume, der Dir Grab wurde, | hier | bist Du eingetragen, […] | 17

Dem entsprechen auch die Schluss-Verse: Wir sind in Dir, alleluja, | im Zeichen des Kreuzes, | […], | […] | denn wir wohnen | im Worte, das Du bist | von Anbeginn, dann | sagen wir ist geworden | der Anbeginn, | siehe, dem Thronen.18

Freilich handelt es sich hier noch mehr um eine ›Rede über‹ Gott, Christus und ›uns‹ selbst, die allerdings immer wieder in eine deutende und preisende ›Rede mit‹ Christus umschlägt. Dame Gott potenziert nun sowohl die fremdreferenziell enzyklopädischen Wissensreferenzen als auch die selbstreferenzielle Schließung zu einer paradoxen Produktions- und Rezeptionsästhetik, indem sie dogmatische und heterodoxe Theologie poetisiert und sich selbst als Poesie zugleich ›vergöttlicht‹. So thematisiert Dame Gott z. B. im ersten Kapitel ›Grund‹ des zweiten Buches den häretischen Kirchengründer Marcion (etwa 85 bis 160 n. Chr.), der den ›schlechten‹ mosaischen Schöpfergott, der für Gesetz und Gericht steht, vom ›guten‹ neutestamentlichen Erlösergott der Liebe, den Vater also vom Sohn trennen möchte. Marcions Kritik an ersterem und an seiner unvollkommenen materiellen Schöpfung wird zwar geteilt (DG 168), seine Umdeutung Christi zum reinen Geistwesen aber als »egal« marginalisiert (DG 167). Und »so schwierig geht es weiter wenn | wir mit dem Codex Nag | Hammadi || umspringen« (DG 312). Die nach dem ägyptischen Fundort benannten, 1945 entdeckten dreizehn Papyrusbücher mit koptischen Texten nutzt Dame Gott für ihre Zwecke und greift v. a. auf die fünfte Schrift des Codex V (Die Apokalypse Adams) zurück. Darin werden Adam und Eva als ein einziges ›erhabenes‹ Wesen (DG 297: »zwei | in einer«) erst durch den Zorn des eifersüchtigen Schöpfergottes getrennt, so dass Adam in geschlechtliche Begierde nach Eva verfällt. Schon im Kapitel ›Bordell‹ bezieht sich Dame Gott auf den Codex, in dem »Adam | […] Seth sein gemeinsames | Leben mit Eva« ›erzählt‹ (DG 297). _____________

17 18

sierung ›religiöser und theologischer Begriffe‹ vgl. Czernin, Franz Josef: Zur Dame Gott (Paul Wühr) (2009); in: Czernin, Franz Josef: Das telepathische Lamm. Essays und andere Legenden. Wien 2011, S. 19-22, hier S. 20. Wühr: Resurrectio (Anm. 15), [S. 3]. Wühr: Resurrectio (Anm. 15), [S. 13].

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Biblische und mythologische Stoffe, Dogmen- und Theologie-geschichte ›offenbaren‹ ihre poetische Qualitäten und verschränken sich im MakroSyntagma des Gedichtzyklus mit der angekündigten sprachlichen Epiphanie des »weiblichen Gottes«. Dies wird im ersten Gedicht des Zyklus deutlich, das innerhalb des ersten Buches Damenwelt, aber noch außerhalb des ersten Kapitels situiert ist und eine Rahmen-Sprechsituation konstruiert, in der sich ein gottgleicher Bastler anschickt, eine theogonische bricolage ins Werk zu setzen, die nicht mehr [aufhört] damit | aus aller Welt || Material herbeizuschaffen das | zur Herstellung eines weiblichen | Gottes also || der Dame Gott dient ohne | Rücksicht auf die heilige | Homogenität […] || […] gegen | alles was Einheit schafft | und strahlt || […] || […] || […] aus Asien | hergeschrieben […] || […] entnehmen wir Frauen | die Frau hier || als Material erzählen wir | nach bis der || weibliche Gott erscheinen | kann (DG 9)

Der Initial-Sprechakt »Ich || sage zu ihr jetzt wird begonnen« signalisiert darüber hinaus (der semantischen Unbestimmtheit des ›ihr‹ wegen), dass dieses männliche ›Herschreiben‹ des Weiblichen in einer allerdings wiederum nur zitierten (›ich sage zu ihr‹, nicht ›zu dir‹) Kommunikationssituation erfolgt, in der das Ziel und Objekt des Begehrens – also die ›Dame Gott‹ – bereits als weiblicher Adressat der Ich-Rede präsent ist, so dass sich poetisches Geschöpf (›Tochter‹ statt ›Sohn‹) und poetischer Schöpfer (Vatergott) trinitätsanalog als gleichursprünglich erweisen. Dame Gott knüpft damit nicht nur an die widersprüchlichen Aussagen der biblischen Genesis über die Erschaffung von Mann und Frau an (1. Mose 1: »Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, […] schuf sie als Mann und Weib« vs. 1. Mose 2: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei«) und überträgt sie auf das Verhältnis von ›Ich‹, ›Dame‹ und ›Gott‹. Sie expliziert darüber hinaus auch eine für den Zyklus insgesamt programmatische Zirkularität von Innen und Außen, Identität und Differenz, ›Gott‹ und ›Natur‹ sowie ›Grund‹ und ›Begründetem‹, ›Schöpfer‹ und ›Schöpfung‹, ›Autor‹ und ›Werk‹ anhand vier längerer Zitate aus den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Diese Zitate verbinden die beiden Bücher ›Damenwelt‹ und ›Dame Gott‹ und leiten das erste Kapitel ›Grund‹ des zweiten Buches ein: Gott hat in sich einen innern Grund seiner Existenz, der insofern ihm als Existierendem vorangeht; aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht sein könnte, wenn Gott nicht actu existierte. […].

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Aber Gott selbst, damit er sein kann, bedarf eines Grundes, nur dass dieser nicht außer ihm, sondern in ihm ist, und hat in sich eine Natur, die obgleich zu ihm selbst gehörig, doch von ihm verschieden ist. (DG 164)19

Die zugrundeliegende Paradoxie einer Selbstbegründung Gottes als Zirkel von ›Grund‹ und ›Begründetem‹ beschreibt die Logik, mit der Wühr in Dame Gott die poetische Schöpfung der ›Dame Gott‹ begründet und das Verhältnis von ›männlich‹ und ›weiblich‹, ›gut‹ und ›böse‹, ›richtig‹ und ›falsch‹, von ›Geist‹ und ›Fleisch‹, ›Gott‹ und ›Welt‹ definiert. Männlicher und weiblicher Gott koexistieren zwar weiter, repräsentieren und inkludieren einander aber jeweils zur Gänze: »Dame heißt Gott wo der | Gott wohnt ist die andere dieses einen || der sie im Ganzen auch ist nie || also treffen wir die Dame alleine an« (DG 176); »wie durchaus männlich | die Dame Gott || immer bleibt auch« (DG 177); »sie ist nicht Gott und | nicht Göttin sie ist der weibliche | Gott also« (DG 292). Das maskuline Lexem ›Gott‹ darf also nur in attributiver Nachbarschaft zu ›weiblich‹ oder ›Dame‹ auftauchen, nie aber isoliert als Gegensatz zu ›Göttin‹; die Konstruktion der ›Dame Gott‹ ist insofern wesentlich eine sprachliche und wird auch explizit als solche reflektiert. ›Dame Gott‹ meint somit nicht nur das Bricolage-Produkt, sondern immer auch den so betitelten Text und das Buch Dame Gott selbst. Im weiteren Verlauf verwandelt sich das weibliche ›Du‹ in der Rolle der herbeizitierten biblischen, mythischen und literarischen ›Damen‹ sukzessive zur ›Dame Gott‹, die mit dem ›Wir‹ verschmilzt und doch als ›Du‹ unterschieden bleibt (z. B. im Kapitel ›Damen‹ des ersten Buches (DG 144): »Jetzt || haben wir uns in den | Köpfen || vollbracht du steckst | in dem meinen || wie ich in dem deinen«). Semantische Relationen wie Teil/Ganzes-Beziehungen werden zu syntagmatisch-räumlichen (›an erster Stelle‹) und temporalen Konfigurationen von Anfang und Ende lexikalisch-morphologisch verdichtet: der weibliche Gott als | hohe Erscheinung [bekommt] sein || Adjektiv zum Nomen erklärt […] und | [muß] das sozusagen verlassen […] aus weiblich | wird Weib der Hoheit || halber hier Dame im Ganzen ist eine | Dame Gott vorhanden und Dame dominiert | die Art der Person || genau so wie Gott wobei Dame allerdings an | erster Stelle die ganze Person dominieren | soll und das wenn wir so wollen || zustande kam Gott ist demnach | unsichtbar in der Dame | vorhanden (DG 268).

In »dieser unglaublichen | Denkerei eines Falschen« (DG 270) wird in und mit dem »Name[n] nämlich Dame Gott« (DG 270) zwar »so etwas von Gottvater || […] weggelockt mit allerchristlichster | Theologie« _____________ 19

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809); in: Schelling, F.W.J.: Schriften von 1806-1813. Darmstadt 1976, S. 275-360, hier S. 302 und S. 319.

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(DG 270), der patriarchale ›Herrgott‹ also eskamotiert (DG 270); dennoch bleibt ›Gott‹ aber »unsichtbar in der Dame vorhanden« (DG 268) und sichtbar in der Formulierung ›Dame Gott‹. Die ›Dame‹ ist als »falscher Gott nämlich weiblicher« (DG 315) »als das weibliche Wesen | in Gott« (DG 300) und hält sich in semantischer und syntagmatischer ›Nähe‹ Gottes auf wie ›Gott‹ in der Nähe der ›Dame‹: In || sofern […] | ist Gott als der männliche | immer da als || zwar quasi entrückter aus | dem theologischen Blickfeld | verbannter || aber doch anwesend seiender | wie ja auch der Name Gott | bei der Dame || feststellt soweit ist alles | in Klarheit (DG 318).

Die ›Dame‹, die »ja keine Göttin« ist, sondern ›weiblich‹ von ›männlich‹ zu unterscheiden und beides dennoch monotheistisch zu inkludieren versucht, »verachtet« den heidnischen Polytheismus mit seinen Göttinnen, ohne die Dominanz des Weiblichen zu bedrohen oder hermaphroditisch zu werden: hier | kommt es wieder || heraus sie ist nicht Gott und | nicht Göttin sie ist der weibliche | Gott also || nichts Gescheites nichts Halbes | nichts Ganzes sehr schwer wie | schon oft || gesagt wurde zu analysieren | also zu falsch um damit Religion | zu betreiben (DG 292)

Als ›falsche‹ ist sie aber ›richtig‹, um Theologie zu ›betreiben‹ und sie zu poetisieren, wie sich mit Blick auf das Gedicht »Als || Anmerkung hier für Leute die wenig | von theologischen Sachen verstehen« (DG 269) ergänzen ließe. Gerade die selbst schon poetisch ›verdrehte‹ »Christologie« liefert nämlich ein Denkmodell, das die »absolute Geltung || des Namens Dame« zu denken ermöglicht, »der für eine | ganze Person gilt« (DG 269). Nicht gender-psychologischen Spekulationen wird also das Wort geredet, sondern »nur theologisch | läßt sich dies || grundsätzlich ausdrücken was | Dame Gott bedeutet«: für Leute die wenig | von theologischen Sachen verstehen dies | in Kürze es ist || hier nicht die Rede von Ergebnissen | der Psychologie nämlich von jeweiligen | Anteilen des jeweils || anderen Geschlechts in einer Person | sondern […] || […] gemäß der | Christologie ist || Christus unbedingt ganzer Mensch | und ganzer Gott in einer Person | die Dame Gott || ist ganzer weiblicher Gott und | ganzer männlicher Gott in einer | Person na bitte || noch Einwände (DG 269).20

_____________ 20

Dass sich Dame Gott damit auch von ihren mythologischen, paradoxie-vermeidenden Vorläufer-Narrativen entfernt, verdeutlicht Wührs Schelling-Bezug in Zur Dame Gott: »Schelling schreibt: ›Die Materie ist das gebärende Prinzip des zweiten Gottes, denn mater und materia sind dasselbe […] [Auslassung im Original; C.-M.O.] Der Übergang dieses Prinzips von der höchsten Spannung zur Erschlaffung erscheint in der Mythologie als ein Weiblichwerden des männlichen Gottes, als Übergang des Uranus in Urania, in der griechischen Mythologie als Entmannung des Uranus‹« (Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 6; zugleich Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Offenbarung (1841/43).

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Die Fügungen ›Dame Gott‹ und ›weiblicher Gott‹ (»kein weiblicher | Mann aus Fleisch«, DG 232; Vorstufe: »Herr Göttin«, DG 297) werden in Wührs Dreh- und Verdrehungsbuch darüber hinaus selbst metasprachlich bedeutungstragend. Die ›ganze Person‹ wird weiterhin durch den weiblichen Anteil ›dominiert‹, dessen Lexem in ›Dame Gott‹ an erster Stelle steht (obgleich ›Gott‹ dafür das ›letzte Wort‹ in ›Dame Gott‹ hat). Ziel ist es, mit der Zeit das | Wort Gott || [zu] vergessen weiblicher bleibt und | man wird sagen da war doch | ein Subjekt || jedoch genügt meiner Logik | die Eigenschaft siehe ein | Komparativ ach || wie lustig (DG 294).

Das gottgleiche, demiurgische ›Ich‹ ordnet Vorhandenes neu, recycelt den antiken europäischen Mythen-Fundus (z. B. Perseus, Medusa, Andromeda, Baubo usf.), mittelalterliche Epen (z. B. die persische Nationaldichtung Schahname des Firdausi), neuere Literatur (Johann Georg Hamann u. a.) und das theologische, biblische und christologische Repertoire, um aus dem ›Herr-Gott‹ die ›Dame‹ hervorzutreiben, und damit einmal mehr an das romantische mytho-poetische Projekt des ›kommenden Gottes‹ Hölderlins und Schellings anzuschließen, d. h. es kritisch ›weiterzudrehen‹ und mit der Lizenz des Poeten zu verfälschen, zu pervertieren: Wenn wir am Vatergott etwas aussetzen, so rügen wir diejenigen, die ihn erfunden und ihn ausgedacht haben. […]. Wollen wir lieber Gefallen finden an einer Erfindung, dann müssen wir selber einen Gott erfinden, oder, wie hier geschehen, oder doch damit begonnen: Gottes Geschlecht umwandeln. Wir müssen die Dame Gott erfinden. […].21 Und jetzt erst recht: Gott schaffen nach dem Ebenbild des Menschen. […]. Das heißt: ihn immer neu gestalten. Immer weiter weg vom Despoten. Kein Vater. Keine Mutter. Keine Jungfrau. Eine Dame.22

»Mensch und Gott [sind] noch immer dabei, einander ebenbildend hervorzubringen«, heißt es bei Franz Josef Czernin anlässlich von Dame Gott,23 und der bildnerische Schöpfungsakt ist noch nicht zum Abschluss gekommen, sondern ein nach wie vor offener Prozess, der auch Gott

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21 22 23

Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank. 2. erweiterte Auflage. Frankfurt/M. 1993, S. 387). – Die ›Dame Gott‹ wird zwar selbst aus mythologischem, biblischem, theologischem und literarischem ›Material‹ (DG 9) kreiert, kastriert Gott aber ebenso wenig, wie sie ihn zum Zwitter effeminiert, sondern ist selbst – sprachlich – ganz weibliche ›Dame‹ und ganz männlicher ›Gott‹. Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 5. Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 6. Czernin: Zur Dame Gott (Paul Wühr) (Anm. 16), S. 21.

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selbst poetisch verändert und die Hierarchie von Urbild und Bild umstürzt.24 Zwischendurch – im zentralen Kapitel ›Drehbuch‹ – scheint die sich derart selbst ermächtigende, theogonische Ich-Instanz angesichts ihrer demiurgischen Hybris mit Ängsten zu kämpfen und ruft den eigentlich längst marginalisierten ›Gott‹ an (DG 272): »Ich || will sagen schon ich allein habe durchaus | Angst soweit ich hier noch sprechen kann | […]«. Wenige Verse später gesteht die Sprechinstanz: was zur Angst bei der vermaledeiten | Sache hinzukommt ist die Scham mein Gott | es nicht zu vermögen die bleibt weil | ich es wirklich nicht kann ich kann | ihn || den weiblichen Gott nicht ganz aussagen | wie es allerdings auch bei dem männlichen | Gott der Fall ist weshalb ich mich doch | wiederum nicht schämen muß […] (DG 272)

Das ›Ich‹ wird sich also mit einer ›negativen Theologie‹ zufrieden geben und aus ihr poetisches Kapital schlagen müssen, beansprucht es doch, »die Dame Gott [zu erfinden] von der | ich doch so wenig wie alles nicht | weiß« (DG 225) und die sich »so || gelehrt […] | […] selbst erläutern [kann] | und sagen || was sie um Gottes willen | nicht ist« (DG 254). Insofern die ›Dame Gott‹ ein Produkt der Poesie – ein sprachliches Konstrukt – ist, erweist sich auch ihre poetische Existenz von Anfang an als gesichert; sie ›begründet‹ sich als Dichtung a priori und realisiert – ›verkörpert‹ – sich im Buch selbst: im metaphorischen ›Fleisch der Poesie‹. Die mitlaufende Selbstreflexion ihrer sprachlichen Genese offenbart den poetischen Schöpfungsakt, der den ›alten‹ Gott nicht ›tötet‹ oder leugnet, sondern an ihn hypoleptisch anknüpft, sich also auch explizit von Friedrich Nietzsches »Todeserklärung« distanziert (DG 267), vielmehr ›Gott‹ mit ›Gott austreibt‹ (DG 270: »der Teufel || wird […] | mit Beelzebub ausgetrieben«) und die ›Dame‹ permanent zur Erscheinung bringt. Zugleich erweist sie sich als Personifikation und ›Vergöttlichung‹ ihres eigenen Mediums ›Poesie‹. »Die Dame Gott ist Poesie«25 meint also mehr als nur eine Selbstverständlichkeit, erinnert alles andere als zufällig an Novalis’ tautologische Setzung (›Poesie ist Poesie‹)26 und betrifft a fortiori die _____________ 24

25 26

Dieses durchaus konträr zur Martin Mosebach, der zwar »Jesus Christus [als] das Selbstporträt Gottes« (Mosebach, Martin: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. München 2007, S. 82) und die »Liturgie« als »Kunst« interpretiert (S. 101-120), die Kunst- und Bild-Metaphern aber der Religion unterordnet: ›Religionskunst‹ statt ›Kunstreligion‹. Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 70; vgl. auch S. 71: »Was also kann die Poesie über die Dame sagen?«. »Poësie ist Poësie. Von Rede(Sprach)kunst himmelweit verschieden. […]. Worinn eigentlich das Wesen der Poësie bestehe, läßt sich schlechthin nicht bestimmen. Es ist unendlich zusammengesetzt und doch einfach« (Novalis: Fragmente über Poesie (Nr. 668 und 690,

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textinterne ›Verkörperung‹ der Dame Gott als ›Dame Gott‹. Deren poetische Theogonie als bricolage wird so als Akt einer Selbsterschaffung der Poesie und als selbstreferenzielle, keineswegs ›inhomogene‹ Werkstiftung lesbar, die sich auch noch im Selbstwiderspruch zu der im Eingangsgedicht formulierten Ablehnung der »heiligen Homogenität« (DG 9) und der »Einheit« des ›abgestimmten Werkes‹ (DG 9) paradox bestätigt. Dass Dame Gott im letzten Gedicht (DG 332) mit dem einzigen Reim des Textes endet, mag dies belegen: Ein umschließender Endreim verbindet den letzten Vers der vorletzten Strophe und den letzten Vers des abschließenden Zweizeilers (DG 332) und reimt »Stück« auf »Glück«. Die ›Verdrehungen‹ ins ›Fehlerhafte‹ machen vor der eigenen AntiHomogenitäts-Poetik nicht Halt und bestätigen so im potenzierten Selbstwiderspruch die mehrfach von Wühr in poetologischen und literarischen Texten skizzierte Poetik des ›Falschen‹: Die mosaische und christliche Theologie mit ihren eigenen, immer schon ›poetischen‹ Mitteln zu dekomponieren, neu zusammenzusetzen, ›weiterzudrehen‹ und dabei ihren logischen Kern – die ›nackte Wahrheit‹ der ›schamlos‹ enthüllten ›Dame Gott‹ als Aletheia (vgl. DG 268 und 332) – freizulegen, ist nur einer ›Poesie‹ möglich, die ihrerseits eine ›unglaubliche‹ und ›falsche‹ Position einnimmt, von der aus an sie selbst nur mehr ›geglaubt‹ werden kann und von welcher aus sie im »Namen« der »Dame Gott || […] jede menschliche Denkungsart | wie ich es freilich wünsche || zur Aufgabe ihrer selbst [bringt]« (DG 270). »Glaube ist also | vonnöten in dieser unglaublichen || Denkerei eines Falschen« (DG 270): Bevor || überhaupt der Dreh dran ist | der alles || wirklich verdreht bis etwas | Falsches in || all seiner verstörenden | Falschheit || wirklich beginnen kann | […]|| muß gesagt werden die | Dame schreibt sich || in nächster Nähe von sich | nieder Gott || ist ihr Name Gott ganzer Gott | ist sie || vor sich selber sich | selber mit || sich selber ganz und | gar in || den Schatten stellend | so ist das (DG 260).

In solcher Selbstdistanzierung (als Selbstverdunkelung: »Schatten«) und Selbstannäherung (als Selbsterhellung) wird »Theologie […] siehe | da eine || Mischung die immer mehr | Spaß macht« (DG 261) und ›uns‹ gerade zur »Gottesliebe || verführt die wir längst | verloren || glaubten« _____________ 1798); in: Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul Kluckhohn (†) und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. Dritter Band: Das philosophische Werk II. Herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Stuttgart 1968, S. 685-690); die evidenten Affinitäten zwischen Wührs Poetik und Positionen der Frühromantik − etwa in Friedrich Schlegels ›Gedankenexperiment‹ einer ›neuen Bibel‹ als enzyklopädisches ›Buch‹ einer unabschließbaren Literaturgeschichte − können hier nicht vertieft werden; zu Schlegels ›Projekt‹ vgl. Auerochs: Was ist eigentlich Kunstreligion? (Anm. 3), S. 330-335.

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(DG 264). Das vorletzte Kapitel ›Mit Gott‹ bestätigt diese ›Liebe‹ (DG 319) zur ›Dame‹, die »sich | Gott nennen || läßt« (DG 322), was »mir […] | nur recht sein [muß] || bei meiner Liebe zur Theologie« (DG 322). Weder das (katholische) ›Richtige‹ des ›Gläubigen‹ noch das ›richtig Falsche‹ als Negation des Atheisten, sondern nur das ›Falsche in der Nähe des Richtigen‹ dient der poetischen Wahrheitsfindung und Erkenntnis: Das Falsche kann sich an das Richtige annähern und dann nicht als Gegensatz, sondern als Bedrohung. Sobald das Richtige unausstehlich wird, muss das Falsche das Richtige penetrieren. Alles Runde, Richtige, ganz Genaue muss immer penetriert werden. Die Wahrheit muss immer wieder von der Lüge angebohrt werden [...].27

Insofern ist das »Falsche wie es hier verstanden wird | [...] als nicht richtiges Falsches | kein Gegensatz sondern ganz in | der Nähe des Richtigen | angesiedelt unter anderen Umständen dringt es in | das Richtige«.28 Wenn Paul Wühr Dame Gott selbst in seinen Reflexionen Zur Dame Gott als »poetische Häresie« bezeichnet, so ist vor diesem Hintergrund eine ›falsche‹ Häresie gemeint, die sich der binären Opposition von Orthodoxie und Heterodoxie verweigert. Dame Gott grenzt sich im Kapitel ›Bricolage‹ aber auch gegen eine dritte, mit ihr konkurrierende Position ab: nämlich gegen diejenige der indolenten ›Agnostiker‹, die aber im Unterschied zur ›Poesie‹ »an Gott | und seinem Spielmaterial | nichts finden || was ihre boshaften Spiele | treibt bis zu verzweifelten | Scherzen || dann eben nicht« (DG 190). Ziel der semantischen ›Drehungen‹ in Dame Gott ist es stattdessen, aus den Bruchstücken von Mythologie, Theologie und Philosophie poetische ›Wesen‹ zu erschaffen und ›niederzuschreiben‹: wir | drehen immer || so lange bis das Zeug um | uns her selbst || seiner Darstellung mißtraut | und zerbricht || um zum Material zu werden | für Wesen || die nur noch im Geist | erkannt werden können (DG 311).

Voraussetzung hierfür ist, »falsch denken [zu] lernen«, um »wie | die Poesie ausschließlich || Unsichtbares Unvorstellbares sichtbar | [zu] machen mit der Sprache« (DG 271). Dabei durchdringen sich das Verschwinden des körperlich Personalisierten und seine Entmaterialisierung und ›Vergeistigung‹ im ›Denken‹, bis »dieses Buch sich endgültig | geleert hat« (DG 173), und der inverse Vorgang, der ›Denken‹ wieder zur ›Erscheinung‹ bringt und reinkarniert: _____________ 27 28

Wühr, Paul/Combrink, Thomas: »Die Wahrheit ist grauenerregend«. Interview mit Paul Wühr vom 29. Juli 2003; in: Akzente. Zeitschrift für Literatur (2005/2), S. 110-119, hier S. 117. Wühr, Paul: Salve. Res publica poetica. München 1997, S. 562.

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ist männlich der Gott | dessen Eigenschaft weiblich ist wobei die | Beiwörter sich fleischlich als Hauptwörter | auswirken und das Hauptwort unsichtbar | bleibt (DG 184)

Wie im Johannes-Evangelium (Joh. 1, 1: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« und Joh. 1, 14: »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, […] als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit«)29 bedingen sich auch bei Wühr ›Geist‹ und ›Wort‹ gegenseitig (logos) und inkorporieren sich im fleischgewordenen ›Wort‹ der Poesie, das als materialisierte Schrift jedoch ›lesbar‹ bleibt und wiederum selbst ›Geist‹ wird: für | tot erklärt zu werden da steht | man dann || erst richtig lebendig wieder aus dem | Tod auf (DG 267) ruft sie || zum Aufstand siehe heraus | aus den Gräbern || die Haut übergeworfen das | Fleisch ist leicht faßbar | geworden (DG 328) wo | zum Geist || der Stoff erklärt wird bis | das Fleisch unter uns zu denken | beginnt (DG 141) Petrarca hat || sie gefunden die Laura seitdem | denkt sich ihr Fleisch aus im | Geist […] || […] | in Gedanken aus Fleisch (DG 141f.) Geist aus || Fleisch im Fleisch | Geist || geworden der | auch noch denken || wird (DG 151) Fleisch || wird in Gestalt einer Frau | noch mehr Geist (DG 172) das Fleisch | kann gelesen werden ein | jedes Stück | erklärt uns das Ganze […] (DG 332).30

Von eschatologischen Konsequenzen ›erlöst‹, findet die poetische ›Auferstehung des Fleisches‹ als ›Inkarnation des Geistes‹ ohne Erbsünde, Kreuzestod und Jüngstes Gericht statt. Poetischer Schöpfungs- und Erlösungsakt – ›Sündenfall‹, ›Tod‹ und ›Auferstehung‹ – fallen zusammen. Die Körper-Bildlichkeit erweist sich bei Wühr aber nicht allein als selbstreferenziell, weil poetologisch lesbar, sondern kennzeichnet darüber hinaus – so Michel de Certeau – auch den »modus loquendi« und »modus _____________ 29 30

Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers [Lutherbibel. Standardausgabe]. Mit Apokryphen. Stuttgart 1985, S. 110. Zu ›Körper‹ und ›Geist‹ und zur Poetik des ›Sprachkörpers‹ in Wührs Gedichtzyklus Venus im Pudel vgl. Combrink, Thomas: Die Poesie zwischen den Begriffen. Zu Paul Wührs Venus im Pudel; in: Kyora, Sabine (Hrsg.): Im Fleisch der Poesie. Festschrift zum 80. Geburtstag von Paul Wühr. Bielefeld 2007, S. 113-124, v. a. S. 116-119; zu Dame Gott auch Hagestedt, Lutz: Wortkunst und Körperkunst. Paul Wührs Gedichtband Dame Gott; in: Kyora, Sabine (Hrsg.): Im Fleisch der Poesie. Festschrift zum 80. Geburtstag von Paul Wühr. Bielefeld 2007, S. 139-144.

Selbstreflexive Rezeptionsästhetik und ›negative Kunstreligion‹

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agendi« mystischer Rede,31 die die »Sprache anders zu behandeln« versucht, um »die (Er-)Findung eines mystischen Körpers [zu] organisieren«.32 Dessen sprachliche, poetische (Re-)Präsentation versuche den für das Christentum konstitutiven »Verlust eines Körpers«,33 also das »Gründungsverschwinden«34 des Leibes Christi, zu kompensieren (gerade die vergegenwärtigende eucharistische Konsekrationsformel ›hoc est enim corpus meum‹ verdankt sich seiner unaufhebbaren Abwesenheit). Dass de Certeau einen Zusammenhang von »Theographie und Pornographie«, den Walter Seitter mit Blick auf Pierre Klossowski konstatiert, bereits ex negativo aus den ›mystischen Fabeln‹ des Mittelalters und der Frühen Neuzeit erschließt, verwundert vor diesem Hintergrund nicht.35 An der infiniten Suche nach dem abwesenden corpus des Auferstandenen arbeiten sich nicht nur insbesondere Märtyrerdramen der Frühen Neuzeit ab,36 sondern auch die Vertreter der Mystik vom Mittelalter (Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse, Nikolaus von Kues u. a.) bis zur Frühen Neuzeit (Juan de la Cruz, Teresa von Avila u. a.), und zwar sowohl im Modus der Rede mit Gott als auch in dem der philosophischen Rede über Gott. Insbesondere die Topoi der Unsagbarkeit und der Unabschließbarkeit der mystischen Rede in Philosophie und Poesie basieren auf paradoxen und tautologischen Reflexionsfiguren des Göttlichen.37 Auch bei Paul Wühr manifestiert sich die Logik der poetischen Geistund Fleischwerdung als dynamisches Verhältnis von Leere und Fülle, Absenz und Präsenz, Geist und Körper, Versprachlichung als Verkörperung, um »wie | die Poesie ausschließlich || Unsichtbares Unvorstell_____________ 31 32 33 34 35

36 37

Certeau: Mystische Fabel (Anm. 6), S. 28. Certeau: Mystische Fabel (Anm. 6), S. 28f. Certeau: Mystische Fabel (Anm. 6), S. 124-148, hier S. 127. Certeau: Mystische Fabel (Anm. 6), S. 127. Walter Seitter sieht die »beiden Extreme menschlicher Simulakrenfabrikation« in »Theographie und Pornographie« und betont: »Jedwede Theologie ist auch Theopoesie – diese Einsicht […] führt den Einsichtigen an den Rand des Atheismus« (Seitter, Walter: Pierre Klossowski. Ein vielfaches Leben; in: Klossowski, Pierre: Die Gesetze der Gastfreundschaft. Berlin 2002, S. 7-32, hier S. 31f.); vergleichbare bildtheologische Deutungsperspektiven anlässlich des Œuvres von Francis Bacon eröffnet Littell, Jonathan: Triptychon. Drei Studien zu Francis Bacon (2011). Berlin 2013, S. 87-135, v. a. S. 93-110). Dazu Wild, Christopher J.: Fleischgewordener Sinn: Inkarnation und Performanz im barocken Märtyrerdrama; in: Fischer-Lichte, Erika (Hrsg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Stuttgart 2001, S. 125-154. Sie markieren jene ›via negativa‹ einer ›negativen Theologie‹, deren Metaphysik, Sprache und Methode der unabschließbaren Negation Westerkamp: Via negativa (Anm. 4) rekonstruiert (von Maimonides über Nikolaus von Kues bis zu Hegel, Derrida und Jean-Luc Marion).

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bares sichtbar | [zu] machen mit der Sprache« (DG 271); »das Fleisch | kann« so wiederum »gelesen werden« (DG 332). Dame Gott exponiert damit zugleich auch Referenzen (als Reverenzen?) auf die von Wühr subvertierten Positionen einer selbst schon poesieaffinen, um ›Geist‹ und ›Fleisch‹ kreisenden, mariologischen und christologischen Theologie. So erweist sich etwa die Mariologie Joseph Ratzingers als eine Inspirations- und Inkarnations-Theologie, die die »Empfängnis Mariens durch das Wort, das in ihr Fleisch wird, […] als Urbild des mystischen Prozesses der geistigen Geburt interpretiert«:38 paradoxerweise ist es, als materialisierte sich im Fleisch die Spiritualisierung des Fleisches auf seine Erlösung hin. […]. Das Verhältnis von Geburt im Fleische und Geburt im Geiste ist bei Ratzinger keines mehr von Opposition und Überwindung, von Verkehrung und Umschlag des Alten ins Neue Testament […].39

Barbara Vinkens ›rhetorischer‹ Analyse zufolge projiziert Benedikt XVI. »die geistliche Geburt auf die fleischliche, aus deren Bildern sie schöpft, zurück. Er überträgt eine Übertragung. Er nimmt die Metaphern spiritueller Mutterschaft wörtlich«.40 Im Seitenblick auf solch poesie-affine – letztlich aber bloß metaphorische – theologische Parallelaktionen (Rede über…) wird allerdings auch die Differenz zu Wührs theologie-affiner, selbst- und sprachreflexiver Poesie deutlich, die im syntagmatischen Vollzug der poetischen Rede als Rede (und als Lektüre, wäre zu ergänzen) selbst zum Medium einer ›Real-Präsenz‹ dessen wird, was sie aussagt bzw. worüber sie ›redet‹. Die materielle Präsenz des repräsentierenden Signifikanten fällt mit dem abwesenden, aber von ihm signifizierten, ›verkörperten‹ Referenten zusammen. Die Vermutung liegt hier nahe, dass die Rezeptionsästhetik von Dame Gott zwischen ›Mimesis‹ (Rede über…) und sprachlicher ›Performanz‹ (Rede als Rede) nicht nur eine selbstreferenzielle ›Realpräsenz‹ der ›Poesie‹ hervorbringt, sondern dass sich deren zeichen- und medientheoretische Implikationen darüber hinaus komplementär zur eucharistischen »Paradoxie von Realpräsenz und ritueller und […] zitationeller Wiederholung als Mimesis […], als memoriale Wiederholung und eschatologischer Aufschub, als gegenseitige Angewiesenheit und Widerstreit von Mimesis und Performanz«41 verhalten. Nur im raum-zeitlichen Nacheinander des Gedichtzyklus vermag solche Rede jedenfalls semantisch einzulösen, was ihre ›negative Theologie‹ _____________ 38 39 40 41

Vinken, Barbara: Aufhebung ins Weibliche: Mariologie und bloßes Leben bei Joseph Ratzinger, Benedikt XVI.; in: Ratzinger-Funktion. Frankfurt/M. 2006, S. 24-55, hier S. 29. Vinken: Aufhebung ins Weibliche (Anm. 38), S. 35. Vinken: Aufhebung ins Weibliche (Anm. 38), S. 37. Menke, Bettine: Ratzinger-in-Displacement; in: Ratzinger-Funktion. Frankfurt/M. 2006, S. 56-92, hier S. 60.

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Gott und der Poesie selbst auf paradoxe Weise zuschreibt. Wenn sich die ›negative Theologie‹ der Nicht-Aussagbarkeit Gottes als Ganzheit mit der gesteigerten Selbstreferenzialität einer ›unmöglichen‹ Rede über Gott als Rede mit Gott verbindet, mündet sie in ein mehrdimensionales Selbstgespräch, dessen Subjekt zwischen auktorialem ›Ich‹, ›(Dame) Gott‹ und der Poesie selbst oszilliert.42 Die poetischen Aussagen dieses Sprech- bzw. Schreibaktes vermessen die Spielräume zwischen Tautologie und Paradoxie bzw. zwischen Selbst- und Fremdreferenz und entfalten sich dabei logisch zum Selbstbegründungs-Zirkel, syntagmatisch aber zum GedichtZyklus. Auf diese Weise generieren sie eine ›Kunstreligion‹, die weder mit Religion konvergiert noch mit ihr konkurriert (allenfalls punktuell mit dem modus loquendi der Mystik), sondern die sprachlichen und epistemologischen Erfahrungen ›negativer Theologie‹ poetisierend verinnerlicht (›negative Kunstreligion‹). Die theologischen und mythologischen Fremdreferenzen der Dame Gott und ihre poetologische Selbstbezüglichkeit sind dabei aufeinander angewiesen. Stoffliche Fülle, also die Re-Präsentation von absentem, aber ›herbeigeschafftem‹, ›hergeschriebenem‹ Wissen (DG 9),43 und Referenz der Poesie auf sich selbst, auf ihre pure sprachliche Selbst-Präsenz (bis »dieses Buch sich endgültig | geleert hat«, DG 173), erweisen sich als untrennbar verschränkt und verdichten sich in Dame Gott zur (schrift)sprachlichen Verkörperung der Poesie als ›Dame Gott‹. Dass die »Dame Gott […] Poesie« ist und dass »darüber geredet werden [kann], was sie in Worten handelt, ihre Rede ist nämlich ein Tun, ein gutes, ein weniger gutes, sogar ein schlechtes, wenn es nur Schönheit besitzt«,44 thematisiert also keineswegs nur eine Eigenschaft des Textes im Buch Dame Gott, son_____________ 42

43 44

Inwieweit schon die kanonisierte Trinitätskonzeption des Konzils von Nicäa den Herausforderungen einer ›negativen Theologie‹ zu begegnen versucht, bleibe dahingestellt; Joseph Ratzinger variiert jedenfalls die dem trinitarischen Diskurs inhärenten, tautologischen und paradoxen Denkfiguren einer trinitätsinternen Beziehung von Fremdreferenz und Selbstreferenz (Ratzinger, Joseph (Benedikt XVI.): Der Gott Jesu Christi. Betrachtungen über den dreieinigen Gott (1976). München 2006, insbesondere S. 137-149). – Peter Fuchs analysiert die Denkfigur wie folgt: »Die trinitarische […] Ausdeutung der Selbstgebärung Gottes entparadoxiert dessen Selbstreferenz. Er wird handlungsfähig durch die Ausdifferenzierung externer und interner Umwelten. Er kann […] sich über anderes auf sich selbst beziehen« (Fuchs, Peter: Von der Beobachtung des Unbeobachtbaren: Ist Mystik ein Fall von Inkommunikabilität?; in: Luhmann, Niklas/Fuchs, Peter: Reden und Schweigen. Frankfurt/M. 1989, S. 70-100, hier S. 81f.); vgl. dazu anlässlich von Dame Gott schon Ort: Die falsche Häresie der Poesie (Anm. 1), S. 159-194, speziell S. 177-179. »Material herbeizuschaffen«, »aus Asien | hergeschrieben«, »die Frau hier | als Material erzählen wir | nach« (DG 9). Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 70.

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dern betrifft die textinterne ›Verkörperung‹ der ›Dame Gott‹ als Vergöttlichung der Poesie gleichermaßen. Solche ›Poesie‹ wird zum auto-poietischen Medium ihrer eigenen creatio (als bricolage) und nähert sich einer semiotischen unio mystica von Medium und Botschaft an, die dennoch nur als unterbrochene und aus minimaler Selbstdistanz (im ›Schatten‹) sichtbar wird: die »Dame schreibt sich || in nächster Nähe von sich | nieder Gott || ist ihr Name Gott ganzer Gott | ist sie || vor sich selber sich | selber mit || sich selber ganz und | gar in || den Schatten stellend | so ist das« (DG 260). Die ›Dame schreibt sich‹ – und auch die Sprechinstanz dieser Aussage – ›in nächster Nähe von sich nieder‹, so dass die Rede über die ›Dame‹ und das Niederschreiben der ›Dame Gott‹ selbst – genitivus subjectivus und objectivus – ununterscheidbar werden. Wenn die ›Dame Gott‹ Poesie ist und Poesie die ›Dame Gott‹, dann redet bzw. schreibt Poesie, so sie fremdreferenziell von Gott handelt, immer selbstreferenziell über sich selbst als weiblich, ohne dass sich jedoch beide Referenzen in einer Paradoxie blockierten: Denn die Poesie vermag dies wiederum nur in einem dynamischen Akt der Selbsterhellung und Selbstverdunkelung (›Schatten‹) – als reflexive Selbstdistanzierung – zu realisieren, also »in nächster Nähe von sich […]|[…]|| vor sich selber sich | selber mit || sich selber ganz und | gar in || den Schatten stellend« (DG 260). Invisibilisierung und (sprachliche) ›Verkörperung‹ der ›Dame Gott‹ gipfeln in der poetischen Epiphanie der ›Dame Gott‹ als ›Poesie‹ (und vice versa), in der sich beide Vorgänge kurzschließen. Das Zerbrechen des Vorgefundenen, die Verschleierung seiner Herkunft und seine schöpferische Re-Kombination, das Denken der Lücke, der Absenz und ›verheißungsvollen‹ Leere einerseits und zugleich der körperlichen Präsenz, der ›Auferstehung‹ des ›Geistes‹ im sichtbaren metaphorischen ›Fleisch‹ der Schrift andererseits münden in einen Schöpfungs- und Erkenntnisakt des ›Schreibens‹ und ›Lesens‹, dessen Dynamik sich insbesondere elliptischer Rede, syntaktischer Unbestimmtheit und Ambivalenz verdankt und den Leser immer wieder mit Entscheidungen für einander ausschließende oder ergänzende Lesarten konfrontiert. Die semantischen und rezeptionsästhetischen Konsequenzen einer Engführung von ›Geistwerdung‹ und (sprachlicher) ›Fleischwerdung‹ realisiert performativ insbesondere das nachstehende Gedicht im drittletzten Kapitel ›Nag Hammadi‹ des zweiten Buches: In dessen letzten fünf Versen enthüllt sich die ›Poesie‹ selbst ex negativo in der Summe dreier syntaktischer Segmentierungsmöglichkeiten und findet den paradoxen Ort ihrer Präsenz gerade im schriftlos weißen Raum zwischen ›Ahnung‹ und (verneinter ›genauer‹?) ›Anschauung‹:

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Und || wenn es uns nur deshalb gibt | um Erfundenes noch einmal | zu erfinden || bis es seine Herkunft beinahe | ganz selbst aus seinen Augen | verliert wie || es sein muss wenn es in seiner | neuen Zusammensetzung unsichtbar | wird ein || Geist allenfalls auch aus Fleisch | geahnt nie angeschaut werden | kann Poesie genau || da ist sie (DG 313)45

Da sich die syntaktischen Kippfiguren nur in mehrfacher Lektüre des Textes erschließen und die Synchronie der Lesarten im Nacheinander allenfalls ›erahnbar‹ wird, erweist sich der Prozess der Epiphanie der Poesie (»da ist sie«) zugleich als ein repetitiver und potenziell unabschließbarer sprachlicher ›Schöpfungsakt‹: Die Präsenz der Poesie (›Geist aus Fleisch‹ | ›Fleisch aus Geist‹) am Ende des Gedichtes bleibt ebenso transitorisch wie die Erscheinung der ›Dame Gott‹ am Ende des Zyklus Dame Gott selbst. Auch ihr im ersten Gedicht inaugurierter Produktionsprozess (DG 9: Von »Ich || sage zur ihr jetzt wird begonnen« bis zu »bis der || weibliche Gott erscheinen | kann«) kommt im Zielkapitel ›Im Fleisch‹ (DG 323332) nicht zu Abschluss und Stillstand; im letzten Gedicht von Dame Gott wird er vielmehr auf einen unauflösbaren hermeneutischen Zirkel von ›Teil‹ und ›Ganzem‹, von Einzelgedicht und Makrotext verwiesen, der nach 326 Seiten poetischer Theogonie die ›zyklische‹ Re-Lektüre der ›Teile‹ der Dame Gott (und der ›Dame Gott‹ als bricolage-Produkt) nahelegt. Im infiniten Prozess produktiver Rezeption wird ›Glück‹ verheißen (DG 332) und ›Glück‹ auf ›Stück‹ gereimt: Wie || sie unter uns jung bis nackter | immer noch so ohne Scham wird | weise Vagina || endlich die uns begreift in der | wir den ältesten Glauben erfahren | an uns selbst || Gott wie er uns in dieser Dame | begegnet in sein Glied mit | dem unseren || dringen wir ein das Fleisch | kann gelesen werden ein | jedes Stück || erklärt uns das Ganze ist | Glück46

_____________ 45

46

Das »Strophenende vor dem letzten Vers ›da ist sie‹ […] [kommt der] paradoxen Selbstpositionierung der ›Poesie‹ in einer Art ›Unschärferelation‹ zwischen ›Anschauen‹ und ›Erahnen‹ (›Nicht-Anschauen‹), zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, ›Fleisch‹ und ›Geist‹, ›Fülle‹ und ›Leere‹ [entgegen] und [bringt] den ›unmöglichen‹ Status der ›Poesie‹ in diesem Gedicht selbst ›zur Erscheinung‹« (Ort: Die falsche Häresie der Poesie (Anm. 1), S. 162; zur Analyse der syntaktischen Lesarten vgl. S. 159-163). – Zu den syntaktischen Lesarten des ersten Gedichts von Paul Wührs Salve. Res publica poetica vgl. auch Czernin, Franz Josef: Dichtung als Erkenntnis. Zur Poesie und Poetik Paul Wührs. Graz – Wien 1999, S. 5-8. Die Lexeme ›Stück‹ (auch DG 302f.) – als Morphem in »Stückwerk« (DG 182) und »zerstückelt« (DG 200) – und ›Glück‹ (auch DG 108, 115, 141, 232, 324) fügen sich zu einem zyklusinternen Makro-Binnenreim, der Dame Gott analeptisch und proleptisch durchzieht; hierzu sowie zur Analyse des Schlussgedichtes vgl. Ort: Die falsche Häresie der Poesie (Anm. 1), S. 192-193; auch die Wiederholung des Gedichtes Für | aufmerksame Zuhörer (DG 18, 169) jeweils am Anfang des ersten und des zweiten Buches wäre in diesem Zusammenhang auszudeuten.

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Gerade weil Gotteserkenntnis als Selbsterkenntnis (»die uns begreift in der | wir den ältesten Glauben erfahren | an uns selbst | Gott«), sexuelles ›Erkennen‹ in körperlicher Vereinigung und ›Lesbarkeit‹ des (poetischen) ›Fleisches‹ (»das Fleisch | kann gelesen werden«)47 semantisch unterschieden werden und syntagmatisch distanziert bleiben, kann ihre erwünschte Annäherung und Gleichursprünglichkeit nur dann in actu vergegenwärtigt werden, wenn die ›Präsenz‹ der ›Dame Gott‹ zeitlich gedehnt wird und sich zumindest innerhalb der sprachlichen Raum-Zeitspanne des Gesamtzyklus Dame Gott im Prozess der Lektüre der Einzelgedichte sukzessive realisiert (»jedes Stück | erklärt uns das Ganze« und »das Ganze ist | Glück«).48 Dass Dame Gott auch nach dem letzten Gedicht »niemals also vergangen« (DG 331) sein soll, ihr poetischer Schöpfungsprozess vielmehr von neuem beginnt, verdeutlicht das vorletzte Gedicht des Zyklus, dessen ›Zukunft‹ auf ein einziges Gedicht – das oben zitierte nachfolgende letzte – geschrumpft scheint: Von || Zeit zu Zeit geht die Dame | Gott mit uns durch als Alles | in allem mit || uns drängt sie weiter mit | ihren Menschen aus welchen | sie unter anderem || besteht […] || […] auf dem Gang in die Zukunft | niemals heraus || aus der vergangenen Welt in | dieser Welt niemals also | vergangen || niemals (DG 331)49

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Zum Schreibakt als Penetration vgl. DG 12, als Erektion DG 217; zu ›Lesen‹ und ›Schreiben‹ vgl. DG 194; zum ›Fleisch‹ und zum ›Lesen‹ von ›Versen‹ vgl. DG 23; zur ›Lücke‹ zwischen ›Geist‹ und ›Fleisch‹ vgl. DG 95 oder 141: »jedes Glück | ist uns recht dort unten wo | zum Geist || der Stoff erklärt wird«. – Vgl. auch: »Die Dame will erkannt werden. Als Mensch. Glück als Erkenntnis« (Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 95). »Zum einen bleibt ›Glück‹ an das ›Ganze‹ gebunden, erscheint aber nur ex post als Folge seiner ›Erklärung‹, zum anderen realisiert sich ›Glück‹ […] im erklärenden und zu lesenden ›Stück‹ selbst. ›Glück‹, das erklärt wird, ist also nur als vergangenes oder zukünftiges denkbar« (Ort: Die falsche Häresie der Poesie (Anm. 1), S. 192); zur ›zyklischen‹ Relation von Teiltexten und Gesamttext zwischen »semantische[r] Heteronomie und Autonomie, Fremd- und Selbstbezüglichkeit« vgl. Ort, Claus-Michael: Zyklus; in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Band III. Berlin – New York 2003, S. 899-901, hier S. 899. – Anklänge an die Funktion des ›romantischen‹ Fragments als (›negatives‹? scheiterndes?) Medium von Totalität können hier nur konstatiert, nicht aber elaboriert werden; vgl. aber anlässlich von Giacomo Leopardis Gedicht L’Infinito Herold, Milan: Fragment und Totalität – Das Ausbleiben der ›unio mystica‹ und die negative Darstellung in der modernen Kunst; in: Canal, Héctor/Neumann, Maik/Sauter, Caroline/Schott, Hans-Joachim (Hrsg.): Das Heilige (in) der Moderne. Denkfiguren des Sakralen in Philosophie und Literatur des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2013, S. 203-216. Die ›Zukunft‹ und »unser Glück« kommen also niemals ohne Rekurs auf Vergangenes aus: »wir sagen zurück unser Glück | aus über | die Herkunft unserer Dame« (DG 108). − Die strukturelle Unabschließbarkeit und den Aufschub des ›Endes über sich hinaus‹ im Œuvre von Paul Wühr rekonstruieren Ort, Claus-Michael: Zyklopoiesis: Annäherungen an Salve. Res publica poetica; in: Kyora, Sabine (Hrsg.): falsches lesen. Zu Poesie und Poetik Paul Wührs. Festschrift zum 70. Geburtstag. Bielefeld 1997, S. 233-252; Krah, Hans: Apokalyp-

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Ohne die einzeltext- und zyklusinterne Zeitstruktur von Dame Gott – die Relationen von Rekurrenz (Doppelungen, Wiederholungen), Differenz und Rekursion – hier eingehender rekonstruieren zu können, sei abschließend – ›hypoleptisch‹ – mit Giorgio Agamben an einen paulinischen und mit Alfred North Whitehead an einen ›prozesstheologischen‹ Deutungshorizont für Dame Gott erinnert: 1) Zum einen postuliert Agamben eine Analogie zwischen der ›messianischen Zeit‹ (von der Auferstehung Christi bis zur Parusie) und der poetischen Struktur des Gedichts als »zeitliches Gebilde«, dessen »innere Eschatologie« es »von Anfang an auf sein eigenes Ende hin [ausstreckt]«.50 Insofern »jedes der Reimwörter ein anderes Reimwort (oder besser: sich selbst als ein anderes) […] wiederaufnimmt und erinnert«,51, erscheint jedes reimende Einzelgedicht als eine »soteriologische Maschine«, die »Ankündigungen und Wiederaufnahmen«, »Vergangenes« und »Gegenwärtiges« aufeinander bezieht und »chronologische Zeit in messianische Zeit verwandelt«, also in die »Zeit, die das Gedicht braucht, um zu enden«.52 Wührs zyklisches Dichten überschreitet jedoch die Grenzen der Einzelgedichte und dehnt solche ›messianische Zeit‹ zum infiniten rezeptionsästhetischen Regress, der ›Ende‹ und ›Anfang‹, ›Teile‹ und ›Ganzes‹ zirkulär verschränkt. Zum anderen gilt für die von einzelnen Gedichten der Dame Gott etablierte, selbstreflexive Rezeptionsästhetik der poetischen Rede offenkundig, was Agamben für das ›Wort des Glaubens‹ in Paulus’ Römerbrief konstatiert: eine Zwischenposition der Rede, die weder »Glossolalie ohne Bedeutung noch einfach referentielles Wort« ist,53 sondern »auf eine Realität verweist; die es selbst herstellt« (»Autoreferentialität des Performativen«).54 2) Dass diese ›selbsthergestellte Realität‹ in Dame Gott nur eine poetische (und keine des etwa christlichen oder jüdischen Glaubens im Sinne einer ›positiven Theologie‹) sein kann, schließt jedoch nicht aus, dass _____________

50 51 52 53 54

se und Rekursion. Schreibweisen von Paul Wühr im kontextuellen Bezug; in: Kyora, Sabine (Hrsg.): falsches lesen. Zu Poesie und Poetik Paul Wührs. Festschrift zum 70. Geburtstag. Bielefeld 1997, S. 95-115, sowie Krah, Hans: Über das Ende/hinaus. Fortgesetzte Anmerkungen zu Paul Wührs ›falschem Schließen‹; in: Kyora: Kyora, Sabine (Hrsg.): Die poetische Republik. Annäherungen an Paul Wührs Salve res publica poetica. Bielefeld 2002, S. 1946. Agamben, Giorgio: Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief (2000). Frankfurt/M. 2006, S. 93-100, hier S. 93. Agamben: Die Zeit, die bleibt (Anm. 50), S. 95. Agamben: Die Zeit, die bleibt (Anm. 50), jeweils S. 96; mit Blick auf das Schlussgedicht von Dame Gott vgl. auch dazu Ort: Die falsche Häresie der Poesie (Anm. 1), S. 193. Agamben: Die Zeit, die bleibt (Anm. 50), S. 146. Agamben: Die Zeit, die bleibt (Anm. 50), jeweils S. 148.

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›Dame Gott‹ die Frage, ob sie an Gott (an sich selbst? an die Poesie? an ihre eigene Autopoiese?) glaube, keineswegs eindeutig verneint, sondern zu einer ›unheroischen‹ Antwort im Sinne von Herman Melvilles Bartleby the Scrivener (1853) tendiert: Wir stellen uns vor, die Dame Gott wird von uns gefragt, ob sie an Gott glaube. In unserem Buch antwortet sie: Lieber nicht. Wir könnten schließen, dass ihr nichts ferner liegt als das heldenhafte Pathos der Verneinung. Nun, wie haben sie schon mehrmals eine Falsche genannt.55

Da die poetische Theogonie in Dame Gott nicht zum Abschluss und zu keinem fixierbaren ganzheitlichen ›Bild‹ von sich selbst kommt, fallen potenzieller Inhalt ihrer Rede und der Prozess der »Herstellung eines weiblichen | Gottes« (DG 9) zusammen, so dass ihr sprachlicher Produktionsprozess im Fortlauf des Gedicht-Zyklus zu einer Art poetischer ›Prozesstheologie‹ (oder ›theologischer‹ Prozess-Poesie) gerät. Nicht umsonst knüpft Wühr in Dame Gott und in seinen Paralipomena Zur Dame Gott ausdrücklich an Alfred North Whitehead und Charles Hartshorne an und »muss« im Anschluss an Whitehead gar annehmen, »dass von einer Partizipation Gottes an der Erfindung der Dame Gott gesprochen werden kann. […]. Die Dame muss das wissen«.56 Whiteheads ›theopoetischer‹ Begriff von ›Gott‹ als ›Prozess‹ und sein Verständnis der ›Wirklichkeit‹, die »sich in einem unaufhörlichen kreativen Übergang von Vielheit in Einheit« konstituiert, ›Einheiten‹ aber auch wieder pluralisiert und dynamisiert,57 bildet zweifelsohne einen poesie-affinen, kosmologischen Deutungshorizont für Dame Gott, deren konvergierende, konkurrierende oder subvertierende Bezüge auf Whitehead ebenso der Erhellung harren wie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für eine ›negative Kunstreligion‹.58 _____________ 55 56

57 58

Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 105-106. Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 87; zu Whitehead siehe auch S. 38f. oder S. 12; in Dame Gott erscheint der »große Whitehead« (DG 222) dreifach (auch DG 64 und 139). – Vgl. Whitehead, Alfred North: Wie entsteht Religion? (Religion in the Making, 1926). Frankfurt/M. 1990; Process and Reality. An Essay in Cosmology (1929). Gifford lectures delivered in the University of Edinburgh during the session 1927-28 by Alfred North Whitehead. Corrected edition edited by David Ray Griffin and Donald W. Sherburne. New York – London 1978; Hartshorne, Charles: The Divine Relativity. A Social Conception of God. New Haven 1948; Hartshorne, Charles: A Natural Theology for our Time. Indianapolis 1967 sowie Faber, Roland: Gott als Poet der Welt, Anliegen und Perspektiven der Prozesstheologie. Darmstadt 2003 (zum ›relationalen‹ Gottesbegriff und zur ›trinitarischen Kommunikation‹ siehe S. 172-204). Faber: Gott als Poet der Welt (Anm. 56), S. 24, ähnlich S. 26. Zu A. N. Whiteheads Kosmologie als ambivalente Folie und Widerpart für Wührs Produktionspoetik sowie zu Wührs poetisierender ›Weiterdrehung‹ von Whiteheads Positionen vgl. aber Bauer, Matthias: Kreativität und Solidarität in einer summenden Welt von Mit-

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Wenn sich ›Kunstreligion‹ als ›ästhetisches Konzept der Moderne‹ den logischen und ästhetischen Herausforderungen (vormoderner) ›mystischer Rede‹ und ›negativer Theologie‹ stellt, gewinnt dieses Konzept, so ist zu vermuten, ein Diversifizierungspotenzial hinzu, das sich nicht mehr notwendig auf die ›Moderne‹ beschränken muss. Die literaturgeschichtliche Reichweite einer derart verstandenen ›negativen Kunstreligion‹ und ihrer Vor- und Schwundstufen wird allerdings auch für das 20. Jahrhundert (von Franz Kafka bis Paul Celan) erst noch zu bestimmen sein. Vor diesem Hintergrund nimmt Paul Wührs Gedichtzyklus Dame Gott eine singuläre und radikale Position ein, von der aus die Poesie in ihrer ›häretischen‹, weil gottgleich autonomen Selbstbezüglichkeit umso mehr religiöse und theologische Wissensreferenzen zu inkorporieren und zu poetisieren vermag. Dabei unterhält die Dame Gott weder ein Konvergenz- noch ein Konkurrenz-Verhältnis zu Religion und Theologie und benötigt den religiösen und theologischen Original-Konkurrenten nicht mehr, um ihn zu substituieren, sondern um ihn zu marginalisieren, ihn seiner Offenbarungs- und Glaubensfunktionen zu berauben und zugleich seine poetischen Qualitäten freizulegen. Poesie konkurriert dann aber nicht länger mit Religion und (positiver) Theologie, sondern – auf ihrem eigenen Terrain – mit einer von ihr selbst bereits re-poetisierten Theologie. Das ›Ich‹ erfindet »die Dame Gott von der | ich doch so wenig wie alles nicht | weiß« (DG 225) und beschreitet dabei – konkurrenzlos – einen Parallelweg zur ›negativen Theologie‹: »Der Herr Gott offenbarte sich. Die Dame Gott lässt sich veröffentlichen«.59 Für Wührs poetologisch selbstreflexive Poesie als ›negative Kunstreligion‹ scheint somit zumindest der zweite Teil der Diagnose nicht zuzutreffen, die Bernd Auerochs mit Blick auf die obsoleten Versuche des 19. und 20. Jahrhunderts, »Kunst und Literatur in einen Religionsersatz zu verwandeln«, formuliert: Das Motiv für Kunstreligion ist lebensfähig und erzeugt kunstreligiöses Gedankengut immer wieder von neuem. Jede versuchte Realisation bleibt indes in der bloßen Programmatik stecken.60

Wenn aber, wie bei Paul Wühr, ›Poesie‹ und ›Poetik‹ zusammenfallen und ›Dame Gott‹/Dame Gott zur zyklisch iterativen Epiphanie einer sich selbst generierenden ›Poesie‹ wird, dann muss die poetische – immer nur zyklusinterne – Realisation einer ›negativen Kunstreligion‹ a priori gelingen. _____________

59 60

geschöpfen. Zur modellbildenden Funktion von Whiteheads Kosmologie in Salve res publica poetica. Eine Konjektur; in: Kyora, Sabine (Hrsg.): Die poetische Republik. Annäherungen an Paul Wührs Salve res publica poetica. Bielefeld 2002, S. 77-108. Wühr: Zur Dame Gott (Anm. 6), S. 94. Auerochs: Was ist eigentlich Kunstreligion? (Anm. 3), jeweils S. 335.

ALESSANDRO COSTAZZA

Brüchige Apotheosen Neue Genies im deutschen postmodernen Roman ... il n’existe pas de génie heureux. Pour se rapprocher de son Dieu à lui, le créateur doit se faire martyr ... Tzvetan Todorov

Die Aporien der Genie-Vergöttlichung Bei der ersten Tagung zur ›Kunstreligion‹ (2009) habe ich versucht, den im Rahmen der Genietheorien des 18. Jahrhunderts sich abspielenden Aufstieg des Künstlers zum alter deus und somit auch die parallele Entwicklung der Kunst zum Analogon der Religion nachzuzeichnen.1 Weil diese Entwicklung an erster Stelle erkenntnistheoretisch motiviert gewesen ist, verfolgt meine Untersuchung den unaufhaltsamen Übergang von Alexander Gottlieb Baumgartens ›sinnlicher Erkenntnis‹ der Kunst zur ›intellektuellen Anschauung‹ des Genies und von dort zum Analogon der höchsten göttlichen Erkenntnis. Die damit einhergehende Vergöttlichung des Genies hat allerdings bereits manche Ambivalenz und Aporie erkennen lassen, indem sie in ihrer pantheistischen Variante letztendlich zu einer Überwindung des Künstlers selbst führt, der zum bloßen Werkzeug einer irrationalen Naturkraft wird.2 Wie sich etwa bei Karl Philipp Moritz und später bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zeigt, verlangt die Erhöhung der Kunst zur Religion vom Künstler ein oft extremes Opfer, d. h. entweder die Absage an die Kunst oder die Aufgabe seiner selbst. Die Tragik dieses notwendigen Opfers hat man schon zu jener Zeit deutlich empfunden und sowohl philosophisch reflektiert als auch literarisch verarbeitet. _____________ 1

2

Vgl. Costazza, Alessandro: Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis: von Baumgarten bis zum Frühidealismus; in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin − New York 2011, S. 73-88. Vgl. Costazza: Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis (Anm. 1), bes. S. 85-88.

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Alessandro Costazza

Bereits Moritz’ Aufsatz Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) untersucht unmissverständlich, wie die Vergöttlichung der Kunst derart hohe Ansprüche an den Künstler stellt, dass dieser ihnen unmöglich nachkommen kann und insofern fast unausbleiblich als sogenannter ›Dilettant‹ daran zugrunde gehen muss.3 Johann Wolfgang Goethes genieverdächtiger Werther stellt das offensichtlichste Beispiel für dieses künstlerische Unvermögen und das daraus resultierende Leiden dar, so dass Jakob Michael Reinhold Lenz gerade daran gedacht haben mag, als er ihn einen ›gekreuzigten Prometheus‹ nannte4 und somit auf die Qualen des damaligen Inbegriffs eines Genies verwies. 1774, im Erscheinungsjahr des Werther, ist Johann Gottfried Herder noch schärfer mit dem ›grassierenden Geniewesen‹ ins Gericht gegangen, indem er das nach vielen zeitgenössischen Theorien als allseitige Begabung verstandene Genie5 zu einem ›Ungeheuer‹ von Einseitigkeit erklärte und später sogar Prometheus auf den Kaukasus und die anderen Titanen unter den Ätna verbannt wissen wollte.6 Es sind also nicht nur die bornierten Aufklärer, die in ihren Parodien oder Satiren die Naturgenies als Scharlatane lächerlich machen;7 vielmehr scheinen selbst die Vertreter des Sturm und Drang die tiefe Ambiguität des gottähnlichen Genies geahnt zu haben.8 Eine unmittelbare Folge dieser Verabsolutierung der Kunst zu einer Religion sind sowohl die bitteren Qualen des verhinderten Künstlers oder ›Dilettanten‹ Anton Reiser9 als auch die schmerzhafte Enttäuschung über _____________ 3

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8 9

Vgl. Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen; in: Moritz, Karl Philipp: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 2: Populärphilosophie – Reisen – Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1997, S. 958991, hier S. 976-978. Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers; in: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden. Herausgegeben von Sigrid Damm. Band 2. Leipzig 1987, S. 673-690, hier S. 685. Vgl. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985, S. 142f. Vgl. dazu ausführlich: Costazza, Alessandro: Genie und tragische Kunst. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern u. a. 1999, speziell S. 290-300. Zu den bekanntesten Parodien bzw. Satiren auf das Genie zählen Friedrich Nicolais Freuden des jungen Werthers. Leiden und Freuden Werthers des Mannes (1775) sowie die Friedrich Maximilian Klinger, Johann Caspar Lavater und Jacob Sarasin zugeschriebene Satire Plimplamplasko, der hohe Geist (heut Genie). Eine Handschrift aus den Zeiten Knipperdollings und Doctor Martin Luthers (1780); vgl. dazu Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 6), S. 285-288. Als Satiren auf das Genie können etliche Werke des Sturm und Drang selbst gelesen werden: neben Goethes Satyros oder der vergötterte Waldteufel (1773) vor allem Klingers Sturm und Drang (1776); vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 6), S. 289f. Vgl. den ›Die Leiden der Poesie‹ betitelten Abschnitt in Karl Philipp Moritz’ ›psychologischem Roman‹ Anton Reiser (1785-1790). – In Moritz’ Über die bildende Nachahmung des Schönen ist bei jenen Individuen, bei denen »die Empfindung die Tatkraft überwiegt«, so-

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die Kunst und den Künstler, als Wilhelm Heinrich Wackenroders Kapellmeister Joseph Berglinger den unüberwindbaren Widerspruch von Kunst und Leben entdeckt. Im Laufe seiner kurzen Existenz lernt Berglinger nämlich zuerst die Kluft zwischen den Kunstträumen seiner Jugend und der Misere des Alltagslebens kennen, später jene zwischen seiner religionsähnlichen Kunstverehrung und der prosaischen Realität des ›künstlerischen Feldes‹, schließlich auch den Abstand zwischen dem wirklichen Elend und der ästhetizistisch verklärenden Verfahrensweise der Kunst.10 Diese Entfremdung zwischen Kunst und Leben wird zusätzlich durch die Entfremdung des Künstlers selbst verstärkt, der nicht das wahre Subjekt seiner Kunstproduktionen ist, sondern nur ein »schwaches Werkzeug« der göttlichen Offenbarung, eine »Aeolsharfe […], in deren Saiten ein fremder, unbekannter Hauch weht, und wechselnde Lüfte nach Gefallen herumwühlen«.11 Hierin wurzelt jener bis ins 20. Jahrhundert hinein − etwa zu den Werken Thomas Manns − reichende Antagonismus von Kunst und Leben, der in vielen Kunsterzählungen oder -romanen der Romantik zum Wahnsinn, ja zum Dämonischen und zum Verbrechen führt. Einsamkeit und drohender Wahnsinn als konsequente Folge der Entrationalisierung und Verabsolutierung der Kunst zeichnen etwa den genialen, nach dem Absoluten einer nicht von ungefähr religiösen Musik strebenden Kapellmeister Kreisler in E.T.A. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr (1821), aber auch den Poeten Nathanael in Der Sandmann (1818) desselben Autors aus. In der in dessen Zyklus Die Serapionsbrüder (1819-21) enthaltenen Erzählung Das Fräulein von Scuderi rührt der zum Verbrechen gesteigerte Wahnsinn des Goldschmieds Cardillac unmittelbar aus seinem _____________

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gar von »Höllenqualen« die Rede (Moritz: Bildende Nachahmung (Anm. 3), S. 988); zum Dilettantismus-Thema in Moritz’ Anton Reiser vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 6), S. 179-252. Vgl. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger. In zwey Hauptstücken; in: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Band 1: Werke. Herausgegeben von Silvio Vietta. Heidelberg 1991, S. 130-145, hier insbesondere S. 130-139 und S. 141; Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Ein Brief Joseph Berglingers; in: Wackenroder: Sämtliche Werke I, S. 224-227, hier S. 225. Wackenroder: Joseph Berglinger (Anm. 10), S. 141; Wackenroder: Ein Brief Joseph Berglingers (Anm. 10), S. 227. – Zu Wackenroders zweideutigem Verhältnis zur Kunstvergöttlichung vgl. Rispoli, Marco: Kunstreligion und künstlerischer Atheismus. Zum Zusammenhang von Glaube und Skepsis am Beispiel Wilhelm Heinrich Wackenroders; in: Kunsterligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin − New York 2011, S. 115-133.

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fast religiösen Kunstverständnis her, das ihn zum Serienmörder werden lässt, um die Zweckfreiheit seiner Kreationen zu retten.12 Georg Büchners Lenz kann abschließend als die medizinischanthropologisch genaueste Pathographie des ständig zwischen titanischen Allmachtphantasien und melancholischem Selbstzerstörungswillen hin und her schwebenden Genies gelesen werden. Der »Alp des Wahnsinns«,13 der den jungen Dichter von Anfang an verfolgt und bedroht, ist das unmittelbare Ergebnis seiner maßlosen Hybris: Indem er sich zum einzigen und höchsten Gott erheben möchte, der die Welt zerstört und neu erschafft, verliert er jeden Zusammenhang mit der Wirklichkeit, die sich somit in eine leere und traumhafte Projektion seiner eigenen Phantasie verwandelt. Das Genie zerbricht also an den absoluten Anforderungen einer als Religion aufgefassten Kunst oder, falls es diesen wenigstens teilweise gerecht zu werden vermag, am unüberwindlichen Abstand zwischen einer sowohl idealisierten als auch idealisierenden Kunst und der Wirklichkeit: In ersterem Fall handelt es sich um einen ›Dilettanten‹ und damit um die notwendige Kehrseite des Genies, in letzterem entweder um einen Philister oder um ein weltloses, asoziales, wahnsinniges bzw. gar verbrecherisches Genie. Genau diese tragischen Folgen einer Vergöttlichung der Kunst und des Künstlers thematisieren nun drei zwischen 1985 und 1997 in Deutschland erschienene Romane, die mehr oder weniger explizit als Metaphern der Künstlerexistenz gelesen werden können und in denen nicht von ungefähr die Auseinandersetzung mit der Religion bzw. mit Gott eine schlechthin zentrale Rolle spielt: Das Parfum (1985) von Patrick Süskind, Schlafes Bruder (1992) von Robert Schneider und Beerholms Vorstellung (1997) von Daniel Kehlmann – drei Werke, die auf unterschiedliche Art und Weise die Nachtseite der künstlerischen Vergöttlichung anhand einer für den postmodernen Roman typischen, weil dichten intertextuellen

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Die Romantik kennt allerdings noch eine andere Antwort auf die übermäßigen Anforderungen der Kunstreligion: den – oft ironischen – Rückzug ins Spießbürgerliche durch eine unterschwellige Herabsetzung der Anforderungen der Genie-Ästhetik. Dies ist etwa der Fall in Jean Pauls Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal (1793), bei der Geschichte des titelgebenden Protagonisten von E.T.A Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr oder in Joseph von Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts (1826). Büchner, Georg: Lenz; in: Büchner, Georg: Werke und Briefe. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Pörnbacher, Gerhard Schaub, Hans-Joachim Simm und Edda Ziegler. München – Wien 1988, S. 135-158, hier S. 140; hierzu ausführlicher Costazza, Alessandro: Il Lenz di Büchner: patografia letteraria del genio stürmeriano, in Cultura Tedesca − gennaio-dicembre 2012 (42/43): 1813 – Büchner – Hebbel – Wagner, S. 13-31.

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Konfrontation mit ästhetischen Theorien und literarischen Werken der Romantik vorführen.14

Patrick Süskinds Das Parfum: Selbstaufopferung als paradoxe Erfüllung des Genies Jean-Baptiste Grenouille, die Hauptfigur des in Paris bzw. Frankreich um die Mitte des 18. Jahrhunderts spielenden Romans,15 ist in jeder Hinsicht das geborene Genie. Wie jedes echte Genie hat er keine Eltern (die Mutter bringt er indirekt, doch anscheinend absichtlich gleich nach seiner Geburt um), weil es absolut autark, d. h. selbstbestimmt sein soll. Die Tatsache, dass er inmitten einer stinkenden Stadt und einer deftig riechenden Menschheit (P 5f.) keinerlei Körpergeruch besitzt, drückt von Anfang an seine für den modernen Künstler typische Distanz zur Welt und zum Leben aus: Nur weil oder insofern der Künstler am Leben nicht teilnimmt, kann er sich vollkommen der Kunst widmen und das Leben darstellen. Um seine Entfernung vom Menschlichen zu unterstreichen, wird Grenouille, dessen Name bezeichnenderweise ›Frosch‹ bedeutet, an mehreren Stellen im Roman mit hauptsächlich kaltblütigen Tieren oder Insekten, insbesondere aber mit einer Zecke verglichen,16 d. h. nicht von ungefähr mit einem Parasiten, der das Leben der anderen nur ausbeutet. Schon von der ersten Seite an wird »dieses monströse Kind« (P 30), das wie der Teufel auch noch einen Klumpfuß aufweist, »Scheusal« (P 5, 28, 242) und »Unmensch« genannt (P 242). Grenouille verfügt von klein auf über eine übermenschliche bzw. ›übernatürliche‹ Geruchssensibilität (P 22f., 36f.), die ihm ermöglicht, die ganze Welt in allen Einzelheiten auf einmal, wie in einer Art ›intellektueller _____________ 14 15

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Zur Intertextualität in Das Parfum vgl. Buß, Angelika: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht. Am Beispiel von Patrick Süskind Das Parfum. Frankfurt/M. 2006. Grenouille wird am 17. Juli 1738 in Paris direkt neben dem Cimitière des Innocents geboren und stirbt am selben Ort am 25. Juni 1767, noch nicht 29-jährig. – Alle Zitate werden unter Angabe der Sigle ›P‹ nach folgender Ausgabe nachgewiesen: Süskind, Patrick: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders. Zürich 1985, hier S. 7 und S. 317. Vergleich mit einer Zecke: P 27, 29, 41, 43, 90, 114, 168, 242, 244; mit einer Spinne: P 24, 30, 99; mit einer Kröte: P 96f.; mit einem Hund: P 116; mit einem Krebs: P 168. Spinnen und Zecken sind im engeren Sinne keine Insekten, sondern gehören vielmehr in der Klasse der Spinntiere zum Stamm der Gliederfüßer.

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Anschauung‹,17 zu erfassen, die bezeichnenderweise auch gleich in ›schöpferische Tätigkeit‹ übergeht (P 34f.). Bedeutungsvoll ist dabei die Tatsache, dass diese ›intellektuelle Anschauung‹ ausgerechnet über den Geruchssinn erfolgt, weil dieser den niedrigsten, sozusagen ›animalischsten‹ aller Sinne darstellt. Dadurch wird sowohl die das ganze 18. Jahrhundert charakterisierende ›Rehabilitation der Sinnlichkeit‹18 als auch die damit einhergehende Irrationalisierung der Kunsterfahrung noch einen entschiedenen Schritt weiter getrieben als im Übergang von Baumgarten zur Romantik.19 Wie das echte moderne Genie ist auch Grenouille extrem einseitig,20 weil er über keine andere Fähigkeit als das Riechen verfügt: Er entwickelt sich spät, lernt erst mit drei Jahren gehen und »sein erstes Wort spricht er mit vier« (P 31), weshalb sein Lehrer ihn für schwachsinnig gehalten hat (P 35). Diese Sprachunfähigkeit rührt allerdings aus der Unmöglichkeit her, den unendlichen ›Reichtum‹ der sinnlichen Erfahrung in die ›Armut‹ der sprachlichen Begrifflichkeit zu zwingen (P 33f.), und erinnert somit unmittelbar an die bekannte Sprachproblematik bei Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos. Grenouille hat jedoch nicht nur mit abstrakten Begriffen, sondern vor allem mit Begriffen »ethischer und moralischer Natur« die größten Schwierigkeiten (P 33), weil ihm, wie schon bei seinem _____________ 17 18 19

20

Vgl. dazu Costazza: Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis (Anm. 1), S. 78-81. Vgl. Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981. Vgl. Costazza: Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis (Anm. 1), S. 82-88. − Die neue Wissenschaft der ›Ästhetik‹ wird in ihren Anfängen bekanntlich durch die Metapher des ›Geschmacks‹ charakterisiert, beschäftigt sich jedoch vor allem mit Produkten, die sich an das Auge – das Hauptsinnesorgan der Aufklärung – und an das Ohr richten; Herder hat in seiner Plastik versucht, die ästhetische Erfahrung auf den Tastsinn zurückzuführen, während der Geruchsinn im ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts eher vernachlässigt wurde. In der Auffassung einiger Autoren wie etwa Gottsched, Baumgarten, Sulzer oder Mendelssohn, die in der Tradition der Renaissance-Idee vom Universalgenie stehen, resultiert das Genie aus dem harmonischen Zusammenspiel aller körperlichen und geistigen Kräfte des Menschen (vgl. Schmidt: Geschichte des Geniegedankens I (Anm. 5), S. 142f., insbesondere Anm. 48; vgl. auch Wolf, Herman: Versuch einer Geschichte des Geniebegriffs in der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Band 1: Von Gottsched bis auf Lessing. Heidelberg 1923, S. 83f., 101, 107, 126, 130f., 133). In Wirklichkeit verraten jedoch die meisten Schriften zum Genie die Einseitigkeit dieses Vermögens, sodass das Genie außerhalb seiner Sphäre meistens ein ›Pfuscher‹, ein ›Stümper‹ oder gar ein ›Dummkopf‹ ist (vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 6), S. 174-177, hier S. 174). − Nur wenn man an der harmonischen Auffassung vom Genie festhält, kann man Das Parfum als ironische Karikatur des Geniebegriffs interpretieren (vgl. Zima, Peter V.: Der europäische Künstlerroman. Von der romantischen Utopie zur postmodernen Parodie. Tübingen – Basel 2008, S. 305-321, hier insbesondere S. 306f.; zum ›kranken Genie‹ vgl. auch Frizen, Werner/Spancken, Marilies: Patrick Süskind. Das Parfum. Interpretation. 2., überarbeitete Auflage. München 1998, S. 58-61).

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ersten Mord (P 58) deutlich und vom weiteren Verlauf der Geschichte zusätzlich bestätigt wird, auch das allergeringste Gefühl für Gut und Böse fehlt. Gerade in einer Zeit, in der die Kunst ihre Legitimität immer mehr aus ihrer ethischen Funktionalisierung gewinnt, entlarvt somit der Künstler Grenouille, seiner Zeit weit voraus, die tiefe, jeder ästhetisierenden Tendenz der Kunst zugrunde liegende Immoralität. Es kann jedenfalls keinen Zweifel daran geben, dass Grenouilles Werdegang zum besten Parfümeur aller Zeiten verallgemeinert werden und metonymisch als paradigmatische Entwicklung des Künstlers schlechthin gelesen werden soll.21 Bereits nach der Begegnung mit dem Duft seines ersten Opfers erkennt Grenouille, der »noch kein ästhetisches Prinzip« (P 48) besitzt, dass »dieser Duft […] der Schlüssel zur Ordnung aller anderen Düfte« (P 50), »das höhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die andern ordnen mußten«, »die reine Schönheit« (P 55) sei. Auf ziemlich unglaubwürdige Art und Weise, da er bis dahin wie ein Tier gelebt und keine Vorstellung weder von ›Genie‹ noch von ›Bestimmung‹ oder gar ›Schönheit‹ hatte, scheint es ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich sei: nämlich nichts anderes als ein Genie; und daß sein Leben Sinn und Zweck und Ziel und höhere Bestimmung habe: nämlich keine geringere, als die Welt der Düfte zu revolutionieren […]. (P 57)

Ein ähnliches, ›unheimliches Selbstbewusstsein‹ (P 92f.) »von geradezu grotesker Unbescheidenheit« (P 90) überkommt Grenouille auch beim ersten Betreten des Ladens des Parfümeurs Baldini, wenn er fühlt, »daß er von hier die Welt aus den Angeln heben würde« (P 90). Seine Produktionsweise, die sich an keine Tradition, an kein Handwerk und an keine Regel hält (P 104f., 109f., 117f.), betrachtet der zunftgetreue und nur nach äußeren Regeln und rationalen Vorschriften handelnde Baldini mit Entsetzen als ein ›Wunder‹ (P 100, 104, 118, 120) bzw. als das Werk eines ›Stümpers‹ (P 107), eines ›Zauberlehrlings« (P 117) oder ›Hexenmeisters‹ (P 118), eines jener fanatischen und despotischen Genies, die nur die moderne Zeit hervorbringen konnte (P 105f.). Grenouilles Nähe zum Tierhaften erhält somit eine zusätzliche Bedeutung, da die Produktionsweise des Genies in vielen Schriften des 18. Jahrhunderts mit dem Wachstum der Pflanzen bzw. mit dem instinktmäßigen Handeln der Tiere verglichen wird.22 ›Ich brauche keine Formel‹, behauptet nicht zufällig Grenouille, der _____________ 21

22

Der Roman ist wiederholt als Analogon des Künstler- oder Bildungsromans bzw. als dessen Parodie gelesen worden; vgl. Frizen/Spancken: Patrick Süskind (Anm. 20), S. 24-41, S. 50-54 sowie Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht (Anm. 14), S. 148-156. Vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 6), S. 147f.

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wie das Genie nach Edward Young23 nicht der ›Krücke‹ der Regeln bedarf und diese vielmehr – um mit Immanuel Kant zu reden –24 der Kunst vorschreibt, indem er sich nach und nach diszipliniert und Baldinis »nach Regeln dürstend[em] Geist« ermöglicht, »beobachtend und registrierend an den Schöpfungsakten« teilzunehmen (P 118f.). Grenouilles Anpassung an die Regeln der Parfümerie ist zwar anfangs bloße Tarnung, um – ganz im Sinne Thomas Manns – die Illusion von Normalität und ›bürgerlicher Existenz‹ zu erwecken, dient ihm aber zugleich dazu, bestimmte Techniken des Destillierens, der Konzentrierung und vor allem der Konservierung von Duftstoffen zu erlernen (P 121f.). Auf diese Art und Weise entwickelt er sich sozusagen vom ›Dilettanten‹ zum echten Künstler: Solange er nämlich den Duft seines ersten Opfers nur in dessen unmittelbarer Gegenwart genießen, ihn aber nicht erhalten, geschweige denn hervorbringen kann, gleicht er noch dem ›Dilettanten‹ in Goethes und Schillers Schemata über den Dilettantismus, der »mit dem Geruch einer Blume die Blume selbst hervorzubringen« glaubt.25 Bei Baldini lernt Grenouille allerdings sehr bald auch die Grenzen bestimmter handwerklicher Verfahren kennen und wird deshalb »lebensbedrohlich krank« (P 130), ja zum von Hunderten schwärender Wunden gequälten ›Märtyrer‹ (P 130, vgl. auch P 133) seiner Kunst, bis er von anderen Methoden der Duftgewinnung bzw. -konservierung erfährt und plötzlich wieder genest (P 137). Erst Jahre später sieht Grenouille im provenzalischen Grasse endgültig die Notwendigkeit ein, »seine Kenntnisse [zu] erweitern und seine handwerklichen Fähigkeiten [zu] vervollkommnen« (P 219, vgl. auch P 211). In der Maison Arnoulfi erlernt er die Technik des Mazerierens und der kalten Beduftung, dank derer er leblosen Gegenständen den Duft abgewinnen kann und jetzt »mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder einzelner Gegenstände« erschafft (P 235). Er erstreckt alsdann diese mimetische Tätigkeit auch auf lebende Objekte, die _____________ 23 24 25

Vgl. Young, Edward: Gedanken über die Originalwerke in einem Schreiben an Samuel Richardson. Übersetzt von H. E. von Teubern. Herausgegeben von Kurt Jahn Faksimiledruck nach der Ausgabe Leipzig 1760. Bonn 1920, S. 28f. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft (§ 46), in: Kant, Immanuel: Werkausgabe in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Band 10. 13. Auflage. Frankfurt/M. 1974, S. 241f. Goethe, Johann Wolfgang/Schiller, Friedrich: [Über den Dilettantismus]; in: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Band 54. Fotomechanischer Nachdruck der im Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger 1887-1919 erschienenen Weimarer Ausgabe oder Sophien-Ausgabe (I. Abtheilung. Band 47. Weimar 1896). München 1987, S. 299-326, hier S. 319.

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er allerdings zuerst töten muss (P 35f.), um ihnen die »duftende Seele zu rauben« (P 237), und geht schließlich auf Menschen über. Inzwischen hat sich allerdings auch seine Kunstauffassung tief verändert, und er hat sich gewissermaßen von einem genialischen, nur nach dem Gefühl schaffenden Stürmer und Dränger zu einem Klassiker entwickelt. Laure Richis' »haarsträubend himmlisch[en]« (P 217) Duft, der ihn gleich an den seines ersten Opfers in Paris erinnert (P 215), hat Grenouille zwar schon unmittelbar nach seiner Ankunft in Grasse wahrgenommen (P 213-219); dieses Mal begnügt er sich aber nicht damit, ihn flüchtig zu genießen und dadurch zu zerstören, sondern betrachtet ihn andächtig als »etwas Heiliges« (P 218), bändigt seine Leidenschaft (P 219) und verzichtet auf den unmittelbaren Genuss, da er ihn nur auf diese Weise in ein ewiges Kunstwerk verwandeln kann. Dafür hat Grenouille sogar eine genaue Ästhetik entwickelt, die sich an die klassizistisch-idealisierende Kunstauffassung anlehnt. Anstatt den Duft der Laure Richis ganz primitiv und unraffiniert »pur [zu] verwenden und [zu] verschwenden«, will er ihn »wie den kostbarsten Edelstein« fassen: Ein Duftdiadem mußte er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich eingebunden in andere Düfte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein Parfüm würde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des Mädchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein. (P 246)

Die Begleitdüfte, die die Herznote des Parfums unterstützen und diesem zum höchsten Glanz verhelfen, müssen aber den Leichen von »vierundzwanzig der schönsten Jungfrauen aus allen Schichten des Volkes« von Grasse entstammen (P 252). Dieses Schönheitsideal stellt offensichtlich eine Abwandlung der klassizistischen Electio-Lehre dar und geht einerseits auf die bekannte Anekdote von Zeuxis zurück, der die Schönheit der Helena (oder der Juno) aus den schönsten Körperteilen der fünf schönsten Jungfrauen von Kroton gebildet haben soll, andererseits aber auch auf das im Klassizismus verwendete Bild des Künstlers, der wie eine Biene von Blume zu Blume fliegt und die schönsten Gegenstände in der Natur auswählt.26 Als einziger im Roman versteht gerade der Vater der Laure Richis dieses ästhetische Prinzip: _____________ 26

Vgl. etwa Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Altertums. Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Wien 1934. Darmstadt 1993, S. 155; Mengs, Anton Raphael: Gedanken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei; in: Bibliothek der Kunstliteratur. Herausgegeben von Gottfried Boehm und Norbert Miller. Band 2: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Herausgegeben von Helmut Pfotenhauer, Markus Bernauer und Norbert Miller unter Mitarbeit von Thomas Franke. Frankfurt/M. 1995, S. 195-249, hier S. 208.

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Wenn man sich nämlich – so dachte Richis – all die Opfer nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines höheren Prinzips vorstellte und sich in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaften als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen dächte, dann müßte das aus solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schönheit schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wäre nicht mehr von menschlicher, sondern von göttlicher Art. (P 258f.)

Der Roman entlarvt damit die Unmenschlichkeit der idealistischen Ästhetik, die hier buchstäblich ›über Leichen geht‹ und Büchners Auffassung vom Idealismus als »schmählichste Verachtung der menschlichen Natur«27 zu bekräftigen scheint. Grenouilles Vorgehen bei der Duftgewinnung an Laures Körper zeigt endgültig und unmissverständlich, dass er nun kein Dilettant und auch kein ›Stürmer und Dränger‹ mehr ist, sondern sich zu einem klassizistischen Künstler entwickelt hat. Er lässt sich nicht mehr vom Enthusiasmus leiten, sondern geht »mit professioneller Bedächtigkeit« vor (P 272) – nach dem Prinzip der sobria ebrietas also, das in vielen Genietheorien der Zeit überall dort nachklingt, wo die Notwendigkeit eines Zusammenspiels von Enthusiasmus und Besonnenheit behauptet wird.28 Grenouille modelliert »gleichsam ein Duftdiagramm« und wendet »eine künstlerische Technik [an], die Sinne, Phantasie und Hände gleichermaßen« beschäftigt (P 273). Nur indem er auf den unmittelbaren Genuss verzichtet (»genießen, genießen bis zum Rausch, würde er ihn [den Duft; A. C.] später, wenn er ihn erst wirklich besaß«, P 275), vermag er »all seine Kunstfertigkeit« aufzubringen, keinen Fehler zu begehen und ein einzigartiges Werk hervorzubringen, das ihm das höchste Glück eines erfüllten Lebens beschert (P 277f.). Den Höhepunkt seines Lebens, eine regelrechte Apotheose im wortwörtlichen Sinne der Erhebung zu einem Gott, erlebt Grenouille wenig später, nachdem er als Mörder entlarvt worden ist und bereits auf dem Richtplatz steht. Hier bewirkt das von ihm hergestellte Parfum das große, unbegreifliche Wunder (P 299), dass die zehntausend der Hinrichtung beiwohnenden Menschen ihn heftig zu lieben beginnen und »in religiösem Entzücken« in ihm einen Engel, den »Herrgott höchstpersönlich«, den »Heiland« oder »das Höchste Wesen« erblicken, bevor alles in ein infernalisches Bacchanal ausartet (P 302-304): er hatte es erreicht, sich vor der Welt beliebt zu machen. Was heißt beliebt! Geliebt! Verehrt! Vergöttert! Er hatte die prometheische Tat vollbracht. […] Er war noch größer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender und

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Büchner: Lenz (Anm. 13), S. 144. Vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 6), S. 176.

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wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß. Und er verdankte sie niemandem – keinem Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten einem gnädigen Gott – als einzig sich selbst. Er war in der Tat sein eigener Gott, und ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott, der in den Kirchen hauste. (P 304)

Als autarkes, selbsterschaffenes Genie vergleicht sich also Grenouille mit Prometheus als dem Inbegriff des gottähnlichen Genies,29 dem er sich jedoch eindeutig überlegen fühlt, weil er von keinem Gott abhängt, sondern selber ein Gott ist. Auch diese Apotheose, dieser ›größte Triumph seines Lebens‹, in dem »der Große Grenouille« nun zu verwirklichen meint, was er »einst in seinen selbstverliebten Phantasien« erlebt hatte, wird sich jedoch als bloß äußerlich und trügerisch erweisen (P 305). Zwischen der Abreise aus Paris und der Ankunft in Grasse hat Grenouille sieben Jahre lang wie ein Anachoret, in absoluter Einsamkeit und sich von Gräsern und Insekten ernährend, in einer Grotte auf dem Vulkan Plomb du Cantal im Zentralmassiv zugebracht (P 152-176). Im Unterschied zu anderen Heiligen, Büßern oder Propheten ist es ihm dabei allerdings nicht um Gott gegangen, weil er vielmehr selber wie ein selbstgenügsamer Gott »in seiner eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz [badete] und […] das herrlich [fand]« (P 158). Grenouille begnügt sich indes nicht mit diesem passiven Zustand eines primären Narzissmus, sondern fängt gleich an, als ›der Große Grenouille‹ den Gott der biblischen Schöpfungsgeschichte nachzuahmen, indem er eine ganze Welt von Myriaden von Gerüchen erschafft, die er dann »gut« findet (P 161f.).30 Sieben Jahre lang, die auffälliger Weise genau mit der Dauer des Siebenjährigen Krieges übereinstimmen (P 169), lebt Grenouille wie der perfekte ›philosophische Egoist‹, der die ganze Wirklichkeit als Projektion seiner selbst auffasst,31 von der Wirklichkeit getrennt »im selbsterschaffenen Reich seiner Seele« (P 169). Gerade die Erkenntnis des unüberwindbaren Abstandes von der Wirklichkeit, der durch seinen Mangel an Geruch symbolisiert wird, stürzt ihn jedoch in die tiefste Verzweiflung, macht noch einmal einen Märtyrer aus ihm (P 171) und bewegt ihn dazu, seine Phantasiewelt zu verlassen, um in der wirklichen Welt produktiv zu werden und auf die Menschen zu wirken. Dabei beschränkt er sich nicht auf die Nachahmung des menschlichen Geruchs, sondern misst sich bezeichnenderweise gleich mit Gott und will »einen Duft kreieren […], der nicht _____________ 29 30 31

Vgl. Frizen/Spancken: Patrick Süskind. Das Parfum (Anm. 20), S. 54-58. Zu den intertextuellen Bezügen dieses Vergleichs mit dem Schöpfergott (etwa zur Genesis, aber auch zu Nietzsches Zarathustra) vgl. Buß: Intertextualität als Herausforderung für den Literaturunterricht (Anm. 14), S. 136-144. Zur Problematik des ›philosophischen Egoismus‹ vgl. Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 6), S. 311-325.

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nur menschlich, sondern übermenschlich« ist: »Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und über wirkliche Menschen« (P 198). Nach diesem Entschluss scheint ihm Gott selbst »ein kleiner armer Stinker« (P 199), »ein Betrüger, nicht anders als Grenouille – nur ein um so viel schlechterer!« (P 200). Den endgültigen Sieg über den nach Weihrauch stinkenden Gott erringt Grenouille, wie bereits angedeutet, bei seiner Apotheose auf dem Schafott; doch weder jene Vergöttlichung noch die Macht, die er auf die von ihm zutiefst verabscheuten Menschen ausübt (P 305f.), welche ihn später als »neue[n] Messias« oder als »Gott auf Erden« (P 316) feiern, vermögen ihn zu befriedigen, weil er sich der bloß künstlichen Natur seines Duftes (P 316f.), d. h. − ähnlich wie etwa Wackenroders Berglinger in seinem Brief an den Klosterbruder − der Lügenhaftigkeit der Kunst stets bewusst bleibt. Gerade infolge dieser Erkenntnis der betrügerischen Natur seiner Kunst kehrt Grenouille zum Ort seiner Geburt zurück, besprenkelt sich über und über mit seinem Parfum und lässt sich vom Gesindel aus dem Cimitière des Innocents in Paris auffressen, das ihn dabei wie »einen Engel oder sonst etwas Übernatürliches« erlebt (P 318f.). Damit endet zwangsläufig die Hybris des gottseinwollenden Genies, der nur durch eine Art kannibalischer Eucharistie das pantheistische Einswerden mit der Natur und mit dem All verwirklichen kann, das auch das Ziel von Hölderlins Genievorstellung ausgemacht hat. Ähnlich wie Hölderlins Empedokles passt Grenouille nicht in seine Zeit und muss auch aus diesem Grund zwangsläufig scheitern. Aus einem literatur- und philosophiegeschichtlichen Gesichtspunkt betrachtet, ist der Künstler Grenouille, wie es für jedes Genie typisch oder sogar notwendig ist, seiner Zeit weit voraus. Er lebt nämlich in einer ›Sattelzeit‹, in der die Aufklärung zwar bereits ihr Licht verbreitet, die aber noch von vielen Gegnern derselben und des Fortschrittes bewohnt ist (etwa Baldini, P 6676), während selbst die zumindest auf dem Gebiet der Religion der Aufklärung Nahestehenden nicht frei vom Aberglauben sind (Pater Terrier, P 18-25) und die Verfechter der neuen anthropologischen Wissenschaften ihrerseits (Marquis de la Taillade-Espinasse, P 176-208) sich als Scharlatane entpuppen. Als Künstler reicht Grenouille über seine Gegenwart hinaus, indem er als Vertreter einer irrationalistischen, nur vom Gefühl und Instinkt geleiteten Kunstauffassung einer späteren Epoche als jener der ›Regelpoetik‹ eines Baldini angehört und sich später zu einem klassischen Kunstverständnis emporentwickelt. Dieses Unzeitgemäße erklärt seine Einsamkeit und sein Außenseitertum, die ihrerseits sein notwendiges Scheitern begründen: Unter diesen Umständen kann das moderne Genie –

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Grenouille nicht anders als Empedokles – nur in der Selbstauflösung die paradoxe Erfüllung erreichen und seine Apotheose feiern.

Robert Schneiders Schlafes Bruder: Ein Märtyrer für oder wider die Kunst? Die Lebensgeschichte Johannes Elias Alders in Robert Schneiders Roman Schlafes Bruder spielt zwar am Anfang des 19. Jahrhunderts (von 1803 bis 1825),32 doch das Bergdorf Eschberg im mittleren Vorarlberg, wo alles Geschehen stattfindet, lebt noch in einer voraufklärerischen, ja mittelalterlichen Epoche, die vom tiefsten Aberglauben und religiösen Fanatismus – es findet noch eine Hexenverbrennung statt (SB 18-25) – charakterisiert ist.33 Die Diskrepanz zwischen dem Genie und seiner Zeit bzw. Umwelt wird hier vom Erzähler ausdrücklich und wiederholt zur ersten Ursache des notwendigen Scheiterns erklärt und Gott selbst zum Vorwurf gemacht: Seine Beschreibung von Elias’ Leben sei eine Anklage wider Gott, dem es in seiner Verschwenderlaune gefallen hatte, die so wertvolle Gabe der Musik ausgerechnet über ein Eschberger Bauernkind auszugießen, wo er doch hätte absehen müssen, daß es sich und seine Anlage in dieser musiknotständigen Gegend niemals würde nutzen und vollenden können. (SB 11)34

Schon von den ersten Seiten an steht also die Geschichte im Zeichen der gescheiterten Genies, dieser »geborenen und doch zeitlebens ungeborenen Menschen«, denen »nicht gegönnt war, ihr genuines Handwerk zu erlernen« (SB 12), weil sie in die falsche Zeit oder in die falsche Umgebung _____________ 32

33

34

Vgl. Schneider, Robert: Schlafes Bruder. Roman. Leipzig 1992, S. 12 und 196 (auf diese Ausgabe beziehen sich die im Folgenden unmittelbar im Haupttext in Klammern nach der Abkürzung ›SB‹ angegebenen Seitenzahlen). Der Roman verfolgt allerdings die Geschichte des Dorfes und seines letzten Bewohners bis ins Jahr 1912 (vgl. SB 8, 199f.). Der Einbruch der Moderne, der das Ende »des mittelalterlichen Schlafs« bedeutet, ereignet sich erst gegen Ende des Romans (SB 152f.), während die darauffolgende Geschichte des Köhlers Michel, der sich nach der Lektüre von Johann Gottfried Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit auf die Suche nach den ›Kaliforniern‹ aufmacht, eine Satire auf den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit darstellt (SB 154-157). »Was denn, hätten wir dem Elias raten können? Wenn einem Menschen von Anbeginn bedeutet wird, daß er zwar ein geniales Talent besitzt, es aber niemals wird vollenden dürfen, weil es die Gesetzmäßigkeiten eines verschwenderischen Planes will, so hätte sich an diesem Leben selbst in der Fremde, in der günstigen Umgebung einer musikliebenden Welt nichts geändert. | Gott ist stärker, denn er liebt alles Unrecht unter der Sonne« (SB 93).

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hineingeboren wurden bzw. die falsche Sphäre ihrer Tätigkeit gewählt haben.35 Die Anzeichen für Elias Alders Genie sind zahlreich und unübersehbar.36 Schon seine Geburt erfolgt unter wundersamen Vorzeichen, da das Kind praktisch von selbst geboren wird (SB 12-17) und erst beim Hören des von der Hebamme gesungenen Te Deum zu schreien und zu leben anfängt (»Das Tedeum hatte dem Kind das Leben gerettet«, SB 17); der Erzähler spricht explizit von der Geburt eines ›genialen Musikers‹ bzw. von »Geniewerdung« (SB 17). Selbstverständlich ist auch der Vater nicht der natürliche Vater, weil Elias, wie viele Kinder des Dorfes, vom Kuraten Elias Benzer abstammt (SB 26f.). Elias verfügt seit seiner Geburt über eine übermenschliche Hörfähigkeit (SB 9/28), so dass er schon bei der Taufe ›jubiliert‹, nachdem er zum ersten Mal die Klänge einer Orgel gehört hat (SB 27). Mit fünf Jahren erlebt er dann ein ›Hörwunder‹, das alle Merkmale der ›intellektuellen Anschauung‹ aufweist: Hat Grenouille die Gerüche der ganzen Welt erfasst, so hört an »diesem Nachmittag […] der fünfjährige Elias das Universum tönen« (SB 32). Ein Konzert bzw. ein Strom von allen, immer stärker und unerträglich lauter werdenden Geräuschen, Schreien, Lauten, Klängen und Tönen der ganzen Welt überflutet das Ohr des Kindes, lässt es die ganze Welt bis in die Tiefe der Ozeane ›erblicken‹ (SB 34-36) und verändert tiefgreifend seine Natur und sein Aussehen. Er erlebt dabei eine regelrechte Wiedergeburt (»Blut sickerte aus der längst verwachsenen Haut des Nabels«, SB 33), seine Augen bekommen eine gelbe Farbe, seine »gläserne Stimme« verwandelt sich in einen Bass und der Fünfjährige beginnt zu pubertieren (SB 33, 37). Diese Verwandlung bedingt auch Elias’ Außenseitertum, da das »vermeintlich besessene Kind« bzw. der »Andersgeartete[ ]« (SB 39, 42) jahrelang von der Familie in einem kleinen Zimmer vor neugierigen Blicken versteckt wird (SB 40-46). Elias’ Cousin und heimlicher Halbruder Peter ist im ganzen Roman sein einziger Freund und auch der Einzige, »der das Genie dieses Menschen erkannte« (SB 42). Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen schafft es Elias Alder, sich sowohl physisch als auch geistig zu entwickeln und sogar sein musikalisches Talent zu üben. Mit zehn Jahren sieht er zwar wie ein Erwachsener _____________ 35

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Mark Werner erblickt hierin zu Recht Parallelen zu den literarischen Musikern bei Wackenroder (Berglinger) und Hoffmann (Kreisler); vgl. Werner, Mark: Die Konzeption des Genies in Robert Schneiders Schlafes Bruder. Marburg 2003, S. 91-108. – Zur Interpretation von Schneiders Roman als »Geschichte eines Genies« und insbesondere zu den vielen Parallelen zu Wackenroders Berglinger- und zu E.T.A Hoffmanns Kreisler-Figur vgl. auch Steets, Angelika: Robert Schneider. Schlafes Bruder. Interpretation. München 1999, S. 27-34. Nicht alle diese Merkmale werden von Werner erkannt (vgl. Werner: Die Konzeption des Genies (Anm. 35), S. 20-23).

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aus, mit der Stimme eines Erwachsenen und einem ›übermäßig entwickelten Geschlecht‹ (vgl. SB 51f.), bildet sich aber später doch zu einem »schönen Mann« heran: »mit fünfzehn schossen ihm die Glieder aus, mit neunzehn hatte er die Gestalt eines reifen Mannes von vierzig Jahren« (SB 91f.), der schulterlange Haare trägt und immer nur in Schwarz gekleidet ist (SB 92); später wird er sogar zu einem guten, »aufmerksame[n] Lehrer« (SB 117). Seine Hauptentwicklung gilt aber selbstverständlich seiner musikalischen Begabung. Elias arbeitet zuerst an seiner Stimme und lernt bald die Kopfstimme, die es ihm ermöglicht, in hohen Frequenzen mit den Tieren zu reden (SB 53f.), entdeckt »seine außerordentliche Begabung zur Imitation fremder Stimmen« (SB 55f.) und findet schließlich zu einer warmen, unwiderstehlichen Stimme, die in der Kirche vor allem unter den ›Eschberger Weibern‹ Verwirrung und Verstörung verursacht (SB 58f.). 1815 wird Elias zum »Blasebalgtreter an der fünfregistrigen Orgel zu Eschberg« (SB 61) und lernt gleich nicht nur das Instrument und dessen Gebrechen (SB 62), sondern auch die Fehler des Organisten – seines Onkels Oskar Alder – kennen, der aus diesem Grund die Freude am Orgelspiel verliert (SB 64) und sich später aus Verzweiflung darüber sogar umbringen wird (SB 96f., 111). Bei Nacht dringt dann Elias in die Kirche ein, steigt auf die Empore und fängt sogleich zu komponieren an (SB 67f.): »Bald gehorchten ihm die Tasten wie von selbst« (SB 67). Er entdeckt für sich »das Gesetz der Imitation« (SB 68) und kurz darauf entwirft er sogar »schlank erdachte, leichtfüßige Kompositionen« (SB 92), bevor er zu improvisieren anfängt (SB 94). Ohne je das Notenhandwerk gelernt zu haben (SB 11), erlernt Elias »aus eigenem die Kunst des Orgelspiels« (SB 94), und wie der Erzähler selbst ausdrücklich bemerkt, ist es »das Wesen eines jeden Genies, daß es Dinge mit großer Vollendung zuwege bringt, die es weder geschaut noch gehört hat« (SB 92f.). An einem Ostertag des Jahres 1820 wird Elias tatsächlich zum Organisten, erfindet gleich einen Choral in seinem Kopf (SB 110f.), den der Erzähler als »eine geniale Musik!« definiert (SB 111) und den Elias so gekonnt und »teuflisch« spielt, dass er eine mächtige Wirkung auf die Zuhörer (SB 113f.) ausübt. Kurze Zeit darauf, infolge eines an sich läppischen Kinderscherzes, entdeckt er die Sünde und beginnt, Disharmonien und Dissonanzen zu komponieren, so dass »[s]ein ehemals naives Spiel […] die Kraft des Dämonischen« erlangt (SB 128). Obwohl Elias nie begreift, »welch grandioser Musiker er ist« (SB 134), nennt ihn der Erzähler ausdrücklich den ›genialsten Musiker‹, »den das Vorarlbergische je hervorgebracht hat«, »der vermöge seiner musikalischen Intelligenz Dinge zu sagen hätte, welche die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts um ein Gewaltiges voranbringen könnte« (SB 157f.). Im Roman ist aber der Domorganist zu Feldberg derjenige, der die primitive,

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wilde und genialische Natur von Elias’ Spiel erfasst (SB 160) und ihn daher zum alljährigen Feldberger Orgelfest einlädt. Sein zweistündiges Spiel während dieses Wettbewerbs, in dem er über Johann Sebastian Bachs Kantate Komm, o Tod, du Schlafes Bruder extemporiert (SB 169-177), wird schließlich zu einer absoluten Apotheose. Dadurch hypnotisiert er sowohl die Zuhörer als auch die Jury, die von »übernatürlichen Dingen« redet und Elias mit »[a]bgöttische[r] Begeisterung« betrachtet (SB 175-182). Gerade am Tag dieses grandiosen Erfolgs fasst jedoch Elias den »unglaublichen Entschluß« zu sterben (SB 181). Was ihm den Tod bringt, ist also nicht die Musik, d. h. weder das Streben nach einer absoluten Kunst noch das Gefühl einer nicht ausgelebten Begabung. Wie schon vom Erzähler auf den ersten Seiten des Romans vorweggenommen, ist Elias’ »spektakulärer Tod« der »letzte Tribut« seiner absoluten und daher unerfüllbaren Liebe (SB 7). Nur auf den ersten Blick handelt sich dabei um die unglückliche Liebe zur Cousine Elsbeth, weil selbst diese Liebe in Wirklichkeit unmittelbarer Ausdruck einer viel allgemeineren Liebe ist, die Elias mit der ganzen Welt verbindet. Bereits beim ersten Hörwunder hört er nämlich den Herzschlag der noch ungeborenen Cousine (SB 36f.), und seine Liebe beginnt gleich mit deren Geburt (SB 49f.). Diese Liebe, die nicht nach körperlicher Erfüllung oder Erwiderung verlangt (SB 106), ist schlechthin unbedingt und grenzt »ans Unmenschliche« (SB 93). Aus diesem Grund glaubt Elias, dass sie in einem einander ausschließenden Verhältnis zu seiner musikalischen Begabung stehe und er zwischen beiden wählen müsse. Da ihm die Liebe für »›wichtiger als das höchste Genie dieser Welt‹« (SB 134) gilt, entscheidet er sich für die Liebe und gegen die Musik: Er befand, daß es gut sei, sich für die Liebe zu entscheiden, Geist und Kraft eines ganzen Menschenlebens daran zu geben. Mit dem letzten Quentchen seines begrenzten Willens entschied er sich für Elsbeth und somit gegen sein musikalisches Genie. (SB 93f.)

Das bedeutet freilich nicht, wie der Erzähler ausdrücklich unterstreicht, dass Elias infolge dieses Entschlusses die Musik vernachlässigt bzw. aufgibt, da er vielmehr gerade ab diesem Zeitpunkt anfängt, »sein Talent auf das äußerste zu fordern«, da er »für Elsbeth« (SB 94) spielt, und seine größten musikalischen Erfolge feiert (SB 112-116). Nachdem Elsbeth auf Betreiben ihres Bruders Peter, der auf Elias eifersüchtig gewesen ist, einen anderen geheiratet hat, erlischt mit Elias’ Liebe zu ihr auch sein Interesse am Leben (SB 147, 150). Obwohl er schon in diesem Moment sterben möchte (SB 147), ist es nicht infolge des Endes seiner Liebe, dass er später konkret zu sterben beschließt, sondern vielmehr für seine wiedergefundene Liebe. Während des grandiosen Extemporierens beim Feldberger Orgelfest, bei dem er wie in einer »intellektuellen Anschauung« alle seine ver-

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gangenen Erfahrungen rekapituliert und aufarbeitet, um dann letztendlich die ganze Natur in Musik zu verwandeln (SB 174-179), erwacht in ihm nämlich auch die Liebe zu Elsbeth (SB 175) wieder und er fasst den »unglaublichen Entschluß« (SB 181), durch Schlafentzug zu sterben. Fragt man sich, warum Elias gerade am Tag seines größten Erfolgs und ausgerechnet auf so grausame Art und Weise zu sterben beschließt, so scheint die Antwort auf die zweite Frage auf den ersten Blick einfacher zu sein. Kurze Zeit davor ist nämlich in Eschberg ein Schauprediger erschienen, der ein »Apostel der Liebe« war und einer absoluten Liebe das Wort redete, die nicht einmal den Schlaf zulässt: »›Wer schläft, liebt nicht‹« (SB 100f.). Die Theorie dieses »Scharlatans« (SB 101), als den ihn der Erzähler ausdrücklich abqualifiziert, hat sich allerdings auf eine sinnliche, wollüstige Liebe bezogen, die das Gegenteil von Elias’ Auffassung von einer rein geistigen Liebe ist. Nichtsdestoweniger ist Elias von der Absolutheit dieser Theorie stark beeindruckt worden und hat sie zu »›Wer liebt, schläft nicht!‹« (SB 102, 189f.) umformuliert. Später ist Elias allerdings von seiner Liebe zu Elsbeth ›erlöst‹ worden, so dass die neue Liebe zu ihr, die er während des Orgelkonzerts wieder verspürt, eine grundsätzlich andere als die frühere ist. Nach der großen Enttäuschung über das Ende seiner Liebe zu Elsbeth findet nämlich eine wichtige Auseinandersetzung zwischen Elias und Gott statt, die nicht nur »die Theologie seines Glaubens« (SB 118), wie nach seinen unerhörten Gebeten um die Erfüllung seiner Liebe (SB 118), sondern vor allem seine Auffassung der Liebe selbst grundsätzlich und endgültig verändert. Wie ein neuer Hiob geht Elias mit Gott ins Gericht, stellt alle Argumente der Theodizee in Frage und schreit ihn »in sich zu Tode« (SB 140): ›Großer und starker Gott‹ […], ›Du Schöpfer aller Menschen, der Tiere, der Welt und aller Sterne. Warum hast Du mich, den Johannes Elias Alder, geschaffen? Heißt es nicht in der Schrift, daß Du vollkommen bist? Wenn Du aber vollkommen bist und gut, weshalb mußtest Du das Elend, die Sünde und den Schmerz erschaffen? Weshalb weidest Du dich an meiner Trauer, an der Mißgeburt meiner Augen, am Kummer meiner Liebe?‹ […] ›Warum demütigst Du mich? Hast Du mich nicht nach Deinem Ebenbild geschaffen? Also demütigst Du Dich selbst, Du Ungott!!‹ (SB 141)

Während der Erzähler an mehreren Stellen Gott ausdrücklich anklagt, weil er Elias Alder eine übermenschliche musikalische Begabung zugesprochen hat, die nie zu verwirklichen war (SB 12, 93, 157), beklagt sich Elias selbst zu keiner Zeit über sein musikalisches Talent und wirft Gott vielmehr vor, ihm eine absolute und daher unerfüllbare Liebesfähigkeit bzw. -notwendigkeit verliehen zu haben: ›Und doch hast Du mir etwas in die Seele gehaucht, etwas, das mich wie das Paradies dünkte. Du hast mich vergiftet. Warum, Du großer, mächtiger und all-

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wissender Gott, warum kann es Dir gefallen, mir das Glück meines Lebens zu verweigern? Bist Du nicht ein Gott der Liebe? Weshalb also, läßt Du mich nicht lieben? Weshalb mußte sich mein Herz für Elsbeth entzünden?‹ (SB 142)

Elias’ Auflehnung gegen Gott legt sich jedoch bald, nachdem er in der Kirche ein »zerlumpte[s] Kind mit dem verbundenen Haupt« erblickt hat, von dem »eine geheimnisvolle Wärme« ausging, »die von innen her strahlte«, »ihn unerklärlich glücklich machte und der Seele einen herrlichen Frieden gab« (SB 144f.). In diesem tief leidenden Kind ohne Nabel (vgl. SB 145), dessen Wunde zu bluten anfängt, sobald Elias es zu berühren versucht (SB 146), erkennt er das Jesuskind, das in seiner unbedingten Liebe das Leid der ganzen Menschheit und der ganzen Welt auf sich genommen hat.37 Dadurch versteht er aber vor allem, dass seine Liebe zu Elsbeth nur eingeschränkt und egoistisch gewesen ist, weil die wahre Liebe im Mit-Leiden mit der ganzen Welt liegt. Die Tatsache, dass er nach dieser Erkenntnis wieder die dunkelgrünen Augen bekommt (SB 146), die er vor dem ›Hörwunder‹ gehabt hat, verweist darauf, dass er wieder hinter jene Zeit versetzt worden ist, in der seine Liebe zu Elsbeth begonnen hat. Nicht von ungefähr wird er unmittelbar darauf von dieser Liebe »erlöst« (SB 147), wobei diese Erlösung in der »Erkenntnis der Sinnlosigkeit allen Lebens« besteht und mit jener Jesu und anderer »Heiligen des Bösen und des Guten« verglichen wird, die nach vollbrachtem Werk »vor ihrer Zeit« den Tod »suchten oder fanden« (SB 147). Elias’ selbstgewählter Tod ist folglich keine Auflehnung gegen Gott oder Behauptung des freien Willens gegen Gottes ›Fügungen‹, wie er ihn in seiner Liebesverzweiflung noch verstanden und herbeigesehnt hat (SB 142f.), sondern vielmehr der Tod eines »Märtyrers« (SB 194)38 und somit ein Zeugnis für Gott, für die Liebe und letztendlich auch für die Kunst. Elias’ Leben ist von Anfang an Teil des göttlichen Planes – wiederholt heißt es, dass Gott erst unmittelbar vor seinem qualvollen Tod »fertig mit ihm« ist (SB 196); allein aus der eingeschränkten Sicht des Menschen und somit auch des Erzählers (SB 196) kann dieser Plan als grausam und widersprüchlich, ja als ›satanisch‹ (SB 11) angesehen werden. In Wirklichkeit erfüllt Elias mit dem Tod genau seine Bestimmung.39 Bei der Begegnung mit dem leidtragenden Jesuskind begreift er die Liebe zu einem einzelnen Wesen als egoistischen Fehler, den er erst durch Vermittlung der Musik während des Feldberger Konzerts als Ausdruck einer _____________ 37 38 39

Zu dieser ›Erscheinungsszene‹ vgl. Werner: Die Konzeption des Genies (Anm. 35), S. 3437. Vgl. Werner: Die Konzeption des Genies (Anm. 35), S. 38f. Zu unterschiedlichen Interpretationen von Elias’ Tod vgl. Werner: Die Konzeption des Genies (Anm. 35), S. 88-90.

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pantheistischen Liebe zu allem Seienden, zu dem auch Leid und Tod wesentlich gehören, überwindet. In seiner Improvisation über Bachs Komm, o Tod, du Schlafes Bruder,40 das den Tod als »sichern Port«, weil Eingang zu Gott preist (SB 171, 179), ›beschreibt‹ Elias zunächst das unnütze Aufbegehren des Menschen gegen den Tod und gegen Gott, das notwendigerweise in einem »Schauspiel der Hilflosigkeit« endet (SB 173). Danach wechseln sich »Elsbeths Melodien« auf mannigfaltige Art mit der Melodie des Chorals ab, welche den Tod symbolisiert (SB 173f.), bis Elias die ganze Natur, sein ganzes Leben und auch Elsbeth in Musik auflöst, um das Ganze »in einem sanft klingenden Septakkord verhallen« zu lassen (SB 174f.). Der Entschluss zu sterben kann somit als konsequente Folgerung dieser durch die Musik gewonnenen ›intellektuellen Anschauung‹ und als paradoxe Erfüllung von Elias’ Bestimmung verstanden werden. Bereits Berglinger hat nicht von ungefähr in einem Passionsspiel seine höchste Erfüllung erlebt und ist gleich danach gestorben. Elias ist solch ein unmittelbarer Tod nicht gegeben, weil er vielmehr den Weg des Martyriums41 gehen muss. Durch Schlafentzug, den er mit Hilfe von natürlichen Drogen wie Stechäpfeln, Narrenschwämmen und Tollkirschen herbeiführt, schaltet Elias sozusagen die Rationalität aus; nicht von ungefähr verliert sein Auge an Sehkraft (SB 191), während sein Gehör an Schärfe zunimmt und er in eine immer tiefere, halluzinierte Gemeinsamkeit mit der ihn umgebenden Natur gerät, die ihn zum Schluss mit allen Waldtieren reden lässt (SB 195). Kurz vor dem Tod erfährt er also noch eine ›intellektuelle Anschauung‹, die jener des Hörwunders gleicht (SB 195f.) und welche nur Ausdruck einer pantheistischen Liebe sein kann, die ihrerseits ein tragisches und paradoxes – weil die Tragödie, wie Hölderlin geschrieben hat, auf dem Paradoxon gründet42 − Ja-Sagen zum Leben und seinem Leiden bedeutet. Die Kunst vermag also die Notwendigkeit der Vereinigung mit dem Absoluten zu offenbaren, aber der Weg zu dieser Vereinigung »mit _____________ 40 41

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Zu Bachs Kantate Ich will den Kreuzstab gerne tragen, zu der dieser Schlusschoral gehört, vgl. Werner: Die Konzeption des Genies (Anm. 35), S. 57-59. In seinem Brief an den Klosterbruder vergleicht sich Berglinger mit jenen »frommen ascetischen Märtyrern«, die das Leid der Welt auf sich nehmen; er weiß aber, dass er nicht wie sie sein kann, weil die Kunst auch das Leid immer in etwas Schönes verwandeln muss (vgl. Wackenroder: Ein Brief Joseph Berglingers (Anm. 10), S. 225). − Diesem Ästhetizismus scheint Elias zu antworten, indem er die Kunst verleugnet und den Weg des Martyriums beschreitet, um alle Leiden der Welt auf sich zu nehmen. Hölderlin, Friedrich: Die Bedeutung der Tragödien, in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden: Herausgegeben von Jochen Schmidt. Band 2: Hyperion. Empedokles. Aufsätze. Übersetzungen. Herausgegeben von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz. Frankfurt/M. 1994, S. 561.

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allem, was lebt« führt für Elias, wie schon bei Empedokles oder bei Grenouille,43 über den Tod.

Daniel Kehlmanns Beerholms Vorstellung: Das Leiden am künstlerischen Unvermögen Auch Arthur Beerholm, der Protagonist von Daniel Kehlmanns in der Gegenwart spielendem Roman Beerholms Vorstellung, hat als Adoptivkind keinen Vater und keine Mutter und freut sich darüber, »von niemandem abzustammen«.44 Seine Geburt hat darüber hinaus ebenfalls etwas Wunderbares, weil Arthurs Erinnerungen ‒ ähnlich wie jene von Oskar Matzerath in Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel – bis in seine Geburtsstunde zurückreichen, als er in einem Anfall von ›primärem Narzissmus‹ bzw. ›philosophischem Egoismus‹ sich wie »der einzige Mensch auf der Welt« vorkam (BV 8). Wie Grenouille und Elias ist auch Beerholm bereits im Kindergarten (BV 14), beim Religionsunterricht (BV 23) und sonst im Leben (BV 72, 74) stets auf sich gestellt: »Ich war allein. Es gab vielleicht im ganzen Sonnensystem niemanden, der so allein war« (BV 205). Arthurs Verhältnis zur Natur ist von Anfang an zwiespältig, weil er auf der einen Seite vom ›Unvernünftigen‹ der Natur und des Lebens zugleich erschreckt und fasziniert wird, auf der anderen aber das Bedürfnis empfindet, dem Chaos eine rationale Ordnung entgegenzusetzen. Bereits als kleines Kind erlebt er angesichts eines entzweigerissenen Regenwurms, dessen beide Enden als selbständige Wesen weiterkriechen, das Grauen – allerdings nicht vor dem Tod, sondern vor dem Leben: »Vor dem Leben, wo es noch unberührt ist von Ordnung und Geist«, denn »das Leben, und nicht der Tod, ist das Unvernünftigste; und nichts in der Welt ist erschreckender als reines, todloses Leben« (BV 9f.). Diese Erfahrung wird gleich durch eine andere kontrapunktiert, in der das zweijährige Kind die geometrischen Bausteine eines Spielzeugkastens in die richtigen »stern-, kreis-, drei- und viereckigförmigen Löcher[ ]« zu fügen vermag und dadurch, als »zweijähriger Platoniker«, regelrecht »zum Menschen« wird, weil es entdeckt, dass es in der Welt »eine Ordnung gab« (BV 11). Später empfindet _____________ 43 44

Für weitere Parallelen zwischen Das Parfum und Schlafes Bruder vgl. Werner: Die Konzeption des Genies (Anm. 35), S. 133-136, sowie Steets: Robert Schneider (Anm. 35), S. 84-86. Kehlmann, Daniel: Beerholms Vorstellung. Roman. Hamburg 2007, S. 12f., Zitat S. 13; vgl. auch S. 224f. – Textnachweise werden im Folgenden unter der Sigle ›BV‹ geführt.

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Arthur Ekel sowohl angesichts der Chemieexperimente in der Schule – »Ekel vor den obszönen Verrenkungen, Verfärbungen, Verformungen, die die blubbernde Materie vorführt, wenn man sie in ein heißes Reagenzglas sperrt, Ekel vor dem Dreck, der sich gebärdet, als wäre er lebendig« (BV 32) – als auch vor der Vorstellung des Lebens in der »lichtlose[n] Welt« des Meeresgrundes, »bewohnt von alten, riesigen Alptraumwesen« (BV 220). Es wiederholt sich also bei ihm im Kleinen die gleiche Dialektik, die in Thomas Manns Doktor Faustus auf Adrian Leverkühn und Serenus Zeitbloom verteilt ist: Während Adrian schon von den Experimenten seines Vaters fasziniert ist, der durch Kristallisationseffekte und osmotische Vorgänge unheimliche Imitationen wuchernder Naturgebilde hervorbracht hat45 und später aus angeblich eigener Anschauung enthusiastisch vom Eintauchen in die Tiefen des Ozeans und vom »GroteskFremdartige[n] des Tiefseelebens« berichtet, bei dessen Exzentrizitäten die Grenzen zwischen Leben und Leblosem absolut durchlässig zu sein scheinen,46 wehrt sich der Humanist Zeitbloom entschieden gegen »einen solchen Angriff auf den Menschenverstand«, hinter dem er zu Recht das Dämonische wittert, indem er an den menschlichen – sowohl geistigen wie moralischen – Werten festhält.47 Die »Zeit, in der alles in Ordnung war« endet für Arthur mit dem Tod seiner Adoptivmutter, die an einem heiteren Tag vom Blitz buchstäblich ins Nichts aufgelöst wird (BV 13-17). Auch die genaue wissenschaftliche Erklärung des Phänomens (BV 16) vermag das Absurde und Irrationale des Ereignisses nicht zu schwächen: »Ellas plötzlicher Tod ereignete sich in einer Region, in der sich Schicksal, Irrsinn und Statistik auf das Unangenehmste berühren« (BV 15). »Angst«, »Grauen« und »Schrecken« prägen demzufolge das Leben des Kindes (BV 18f.), aber letztendlich ist das ganze Leben Arthurs durch die »ungeheure Anwesenheit des Gräßlichen« beeinflusst: »Ich habe nie etwas getan, das nicht von diesem einen schreckensgedehnten Augenblick am Fenster bestimmt war« (BV 60). Diese Erfahrung erklärt vor allem Arturs Interesse an Mathematik und seinen damit eng verbundenen Entschluss Theologie zu studieren. Ganz zu Beginn glaubt er nämlich, in der Mathematik »eine Wahrheit gefunden [zu haben], die im Grund der Welt wurzelt, die mich nicht im Stich lassen _____________ 45

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Mann, Thomas: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde; in: Mann, Thomas: Gesammelte Werke in zwölf Bänden.. Band 6. Frankfurt/M. 1960, S. 30f.; vgl. weitere Anspielungen auf diese Experimente u. a. in »Adrians geheimer Aufzeichnung« seines Gesprächs mit dem Teufel: S. 313, 323 und 353. Mann: Doktor Faustus (Anm. 45), S. 354-360, hier S. 359. Mann, Doktor Faustus (Anm. 45), S. 360-366, hier S. 360.

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wird« (BV 26), weil er in Wirklichkeit gerade von jenen mathematischen und geometrischen Problemen angezogen wird, die an die Grenze der Rationalität führen und eine irrationale Tiefenstruktur des Seins verraten. Genau wie der junge Törleß in Musils Erzählung, der in der Vorstellung des mathematischen Unendlichen »etwas furchtbar Beunruhigendes«, etwas »über den Verstand Gehendes, Wildes, Vernichtendes« entdeckt,48 ist auch Arthur vom Problem des Unendlichen in der Mathematik fasziniert (BV 55-58), hinter dem er »eine frühe Spiegelung, eine Vorahnung des Bösen« erblickt (BV 57) und das ihn erkennen lässt, »daß im Herz der Mathematik der Keim des Wahnsinns liegt« (BV 58). Diesen existenziellen und metaphysischen Beunruhigungen entspringt auch Arthurs Entschluss, Theologie zu studieren. Mein »Streben zu Gott war in seiner Wurzel ein mathematisches« (BV 58), behauptet er ausdrücklich, um dann seine Diplomarbeit in Theologie über Blaise Pascals Traktate zur Geometrie zu schreiben (BV 96, 98f.). Der Irrationalität eines blinden Zufalls zieht er also aus einer »metaphysische[n] Form von Opportunismus« (BV 61) die Willkür eines gelangweilten Gottes vor (BV 60), der seine Gnade und seine Liebe »ohne Gründe« verteilt (BV 24). Da sowohl die Mathematik als auch die Theologie zwar Antworten auf die Irrationalität der Welt sind, diese jedoch nicht bezwingen, sondern vielmehr bestätigen, greift Arthur zur Magie bzw. zur Zauberei. Denn zwar scheint die Magie auf den ersten Blick jeder Wahrscheinlichkeit zu widersprechen und mit den ewigen Gesetzen zu streiten, die »ein unerbittlich klarer Geist« allen Dingen auf der Welt, »Tieren, Hunden, Versicherungsagenten, Krokodilen, Blumen, Ozeanen, Sonnen, Planeten und Galaxien«, vorschreibt (BV 40); wenn diese scheinbar geordnete Welt jedoch bereits in ihren Wurzeln unterminiert ist und selbst Gott nur willkürlich handelt, dann kann ausgerechnet die Magie in Wirklichkeit eine »Offenbarung der Vernunft« sein: Was sich als Aufhebung der Naturgesetze gibt, ist eigentlich deren glanzvolles Hervortreten aus dem Gestrüpp des Zufalls. Die unsichtbare Welt der Formen und die nur zu sichtbare Welt des Formlosen verschmelzen für einen kurzen, kaum wirklichen Moment. Die unendliche Macht des Geistes zeigt sich eine Sekunde lang ganz unverstellt. (BV 40)

Diese Auffassung der Magie als geistiger, über die formlose Materie siegender Formwille, der unmittelbar an die Romantik, etwa an Novalis, oder an Thomas Mann erinnert (der bezeichnenderweise von seiner Familie den Beinamen ›Der Zauberer‹ erhielt und sich so sehr damit identifizierte, _____________ 48

Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß; in: Musil, Robert: Gesammelte Werke in neun Bänden. Herausgegeben von Adolf Frisé. Band 6: Prosa und Stücke. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 7-140, hier S. 63.

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dass er seine internen Briefe nur noch mit ›Z.‹ zeichnete), legt aber eine Interpretation der Magie als Metapher für die Kunst überhaupt nahe, welche gestattet, Arthurs Wechsel von der Theologie zur Magie auch als Übergang von der Religion zur Kunst und den ganzen Roman als Bildungs- oder Künstlerroman bzw. als Anti-Bildungsroman zu lesen. Arthur Beerholm, der »keinerlei frühe Berufung« (BV 22) verspürt hat und nur zufällig seinem Ziehvater einen Kartentrick vorführt (BV 21), fängt im Schweizer Internat an, sich für diese ›Kunst‹ zu interessieren, und beschafft sich die wichtigsten Werke dazu (BV 33-37). Sein erster Auftritt während eines Schulfestes endet allerdings mit einem absoluten Misserfolg, der ihn in die Nähe des Selbstmordes führt (BV 42-47). Erst während des Theologiestudiums an der katholischen Fakultät wohnt er einer Aufführung des großen Magiers Jan van Rode bei, die ihn in eine weitere gefährliche Krise versetzt (BV 76-84) und zur erneuten Beschäftigung mit der Zauberei verleitet (BV 90). Nach Abschluss des Studiums und einem gescheiterten Aufenthalt im Kloster wird er zuerst zum Unterhaltungskünstler in einem Nachtlokal und später sogar zum ›Kriminellen‹ (vgl. BV 126), d. h. zum Betrüger beim Pokerspiel (BV 121-127), bevor er sich entscheidet, Schüler des größten lebenden Zauberers Jan van Rode zu werden. Was ihn dazu treibt, den großen Meister aufzusuchen, ist das Ungenügen an seiner als bloßes »Handwerk« (BV 127) verstandenen Kunst: Solange ich weiß, daß ich Tricks gebrauche, bin ich ein kleiner Gaukler und sonst nichts, und jede Bewegung, jedes Wort, jede Geste von mir wird die Peinlichkeit dieses Wissens ausdrücken. Warum sind denn die meisten Zauberer, selbst wenn sie ihre Sache ganz gut können, so elende Gestalten? Deswegen. Weil sie sich albern vorkommen. Weil etwas in ihnen nicht vergessen kann, daß sie nicht zaubern können, daß sie keine Macht über die Wirklichkeit haben, nicht einmal über das kleine Kartenspiel in ihren Händen. Sagen wir also klar und in aller möglichen Brutalität: Hinter unserer Kunst steckt eine Lüge. (BV 128)

Ähnlich wie Wackenroders Berglinger leidet Arthur einerseits am Wissen um den bloß handwerklichen Charakter seiner Kunst, andererseits und noch mehr am Bewusstsein ihrer unüberwindlichen Lügenhaftigkeit. Umsonst versucht er seine »Vernunft zu überlisten« (BV 129) und die »verborgenen Griffe hinabsinken zu lassen ins Halbdunkel des Unbewußten« (BV 128), indem er sie wie ein Automat ausführt, »ohne daß sie einen Abdruck in seinem Bewußtsein« hinterlassen (BV 129). Er wähnt zwar, damit die »Magie« erreicht zu haben (BV 131), aber dieses Gefühl hält offensichtlich nicht lange an, wenn er trotz des riesigen Erfolgs seiner Nummern die Stelle als Unterhalter im Nachtlokal kündigt und zu Jan van Rode geht, weil er eingesehen hat, dass die von ihm ausgeübte ›Zauberei‹ nur eine »Abendunterhaltung von zweitklassigen Leuten im Glitzerfrack, eine Einlage für Kindergeburtstage und Fernsehshows, ein Hobby für

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Dilettanten, ein Beruf für unbegabte Schauspieler, eine lächerliche Sache« ist (BV 141). Gerade im Umgang mit dem großen Meister muss Arthur allerdings endgültig den Unterschied zwischen sich und dem wahren ›Genie‹ einsehen, dem die Dinge wirklich gehorchen (BV 147). Nichtsdestoweniger lernt er viel von ihm, überwindet später seine ›romantische‹ Auffassung von der Kunst als Produkt der ›Inspiration‹ zugunsten der Idee der mathematischen und technischen Natur der Kunst (BV 181) und erzielt bald, auch dank eines Vertrages, den er mit einem etwas dämonischen Agenten unterschreibt (BV 176-178), einen internationalen Medienerfolg. Wie schon Grenouille oder Elias hat auch er sein Publikum »in der Hand« (BV 184), das ihn »für einen Boten des Himmels oder (hier herrschte Uneinigkeit) des Nirvana« (BV 194) hielt. Der Erfolg vermag Beerholm, der nach dem Absoluten strebt, jedoch ebenso wenig wie etwa Grenouille oder Elias zu befriedigen, und er zweifelt so sehr an seinen magischen Mitteln, dass er eines Abends in völlig betrunkenem Zustand sich auf die Probe stellen muss (BV 196-203). Dabei gelingt es ihm während eines nächtlichen Irrgangs durch bloße Gedanken das Glas eines Schaufensters zerspringen zu lassen (BV 203f.) und später einen Busch in Brand zu setzen (BV 205f.). Die Dinge scheinen ihm tatsächlich zu gehorchen, aber er bekommt plötzlich Angst und behauptet, dass er diese Macht nicht wolle, sich geirrt habe und »kein Zauberer« (BV 209f.) sei. Daraufhin hält Arthur noch einige Vorführungen gemäß dem Plan seiner Tournee, bis ihm bei einer Vorstellung schlecht wird, er die Nummer verpfuscht und seinen endgültigen Bankrott anmeldet, bevor er die Bühne verlässt (BV 226-228): Mir kam alles sehr unwirklich vor, auch ich selbst, beinahe so, als ob ich die Erfindung eines anderen war. Was tat sich hier? Ich war kein Zauberer, ich war es nicht mehr. Ich war zu einem Komödianten geworden, einem Schauspieler, einem albernen Unterhaltungskünstler. […] Es gab keine Magie, bloß dumme Naturgesetze. Ich hatte versagt. (BV 227)

Die unmittelbare Folge dieses Scheitern ist Arthurs Entscheidung zu sterben (BV 230). Die große Aussicht über die ganze Stadt aus dem Fernsehturm, die den Roman als eine Art intellektuelle Anschauung eröffnet hat (BV 7), entlarvt sich somit als der »Abgrund« (BV 231), in den Arthur springen will. Einen Monat lang (BV 231, 238) steigt der noch nicht Dreißigjährige (BV 12, 225) auf die Terrasse des Fernsehturms und schreibt an einem abgelegenen Tisch an seinen Memoiren, die er an eine als ›du‹ apostrophierte mysteriöse Geliebte adressiert und die den Roman ausmachen. Trotz der physikalisch genauen Berechnung der Falldauer (BV 244) und trotz des Versuchs einer metaphysischen Erklärung des Schmerzes (BV 245f.) behauptet Arthur, »kein Selbstmörder« zu sein:

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Ich springe, aber nicht in den sicheren, nicht in den sicheren Tod. Ich riskiere viel, sehr viel, unvernünftig viel, das stimmt. Das mag wohl dumm sein, aber es ist keine Sünde. | Denn womöglich falle ich nicht. Ist es denn wirklich so sicher, so vollkommen ausgemacht, daß mein Weg hinunterführt – und nicht hinauf? Wen kümmert die Physik? […] Bin ich kein Magier? Habe ich nicht die Materie beherrscht, dich aus dem Dunkel geholt, beim Feuer Gehorsam gefunden? Wer bin ich, daß ich fallen soll? | […] Vielleicht, daß mein Wagnis selbst ungewöhnlich genug ist, um die Ordnung des Gewölbes, um seine Regeln und Gesetze zu erschüttern, zu brechen. Ohne das Risiko ist kein Wunder zu haben: Vermutlich werde ich fallen. Aber vielleicht, vielleicht, vielleicht – wie viele ›vielleicht‹ braucht es, um die Unmöglichkeit zu fassen? – vielleicht auch nicht. Dann werde ich aufsteigen. Schweben. Gestreichelt vom Wind. Und das Land wird fern und unberührt sein, und die körperlose Luft wird mich tragen. (BV 246f.)

Nachdem Arthur eingesehen hat, dass er kein Magier, kein produktiver Künstler, kein Prometheus sein kann, hofft er, zumindest ein Ganymed zu werden und – wie in Goethes Hymne »Aufwärts | An deinen Busen, | Alliebender Vater!«49 – trotz allem zu den Göttern zu gelangen. Auch dieser Tod könnte somit – wie schon bei Grenouille und Elias Alder – als pantheistische Vereinigung mit dem All, als eine Art Wiederholung von Empedokles’ Sprung in den Ätna interpretiert werden. Es besteht auch kein Zweifel daran, dass Arthurs Hoffnung auf seiner mathematischgeometrischen Auffassung des Unendlichen fußt, auf jener Irrationalität des Weltalls also, die eine Nähe von Mathematik und Magie zulässt (BV 241). Es gibt allerdings noch einen weiteren Grund, warum Arthurs Hoffnung plausibel sein könnte: weil er nämlich zwar als Magier gescheitert ist, durch das Aufschreiben dieses Scheiterns jedoch den letzten Versuch unternimmt, sich als Künstler, d. h. als Schriftsteller oder als Schöpfer zu behaupten. Die bis hierher eingleisig nacherzählte Geschichte ist nämlich in Wirklichkeit, wie bereits der Titel des Romans und mehrere als Poetik lesbare Bemerkungen im Text andeuten, ebenso doppelbödig wie Arthurs Zaubertricks. ›Beerholms Vorstellung‹ kann sich sowohl auf einen Auftritt des Zauberers Arthur als auch auf eine bloße Idee, Erfindung bzw. Einbildung von ihm beziehen oder mehr noch auf beides zugleich, wie der Protagonist selbst nahelegt: Diese lange und verwirrte Rückschau auf mein kurzes und verwirrtes Leben. Ich gestehe: Der Makel meines Berufes haftet auch ihr noch an. Fast gegen meinen

_____________ 49

Goethe, Johann Wolfgang: Ganymed; in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 1: Gedichte und Epen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz. Zwölfte Auflage. München 1981, S. 46-47, hier S. 47.

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Willen ist eine kleine Vorstellung daraus geworden; ich habe Effekte, Überblendungen, täuschende Lichtspiele eingefügt. (BV 232)

Die »doppelten Böden«, »Überblendungen« und »täuschende Lichtspiele« (BV 232), von denen Arthur redet, sind ganz unterschiedlicher Natur. So gibt es viele Momente, in denen Arthur selbst, der unter anderem auch Gebrauch von Valium- oder Bellodorm-Tabletten macht (BV 222, 230), kaum zwischen Wirklichkeit und Traum unterscheiden kann, wobei es sich möglicherweise nur um Halluzinationen oder Fieberträume handelt: so etwa während und nach der Aufführung von Jan van Rode (BV 81-84) oder nach der ›magischen Nacht‹, in der er durch den bloßen Gedanken das Schaufenster zersprengt und den Busch entzündet hat (BV 207-214). Van Rode selbst legt Arthur an einer Stelle sogar nahe, dass er seine ganzen Erlebnisse möglicherweise nur geträumt habe (BV 150). Es ist insofern nicht verwunderlich, wenn Arthur selbst von sich behauptet, »die Grenze zwischen dem Traum- und Alptraumreich […] [seiner] Phantasie und der Wirklichkeit, der sogenannten, immer bemerkenswert durchlässig gefunden« zu haben (BV 193), und gegen Ende des Romans ausdrücklich fragt, ob es nicht »ein langer Traum gewesen sein« könnte, was er seit seinem Aufenthalt im Kloster Eisenbrunn erlebt hat (BV 233). In seinem Bericht begnügt sich Arthur allerdings nicht damit, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit wiederholt zu durchbrechen bzw. die Differenz zwischen beiden Bereichen unbestimmt und durchlässig zu lassen, sondern konstruiert auch bewusst eine ›Wirklichkeit‹ der Erzählung. Am deutlichsten ist dies der Fall bei der Figur des Paters Fassbinder und der Geliebten, an die er seinen Bericht adressiert. Der blinde Pater Fassbinder wird von Arthur, der ihn regelrecht heraufbeschwört, ausdrücklich als eigene ›Vorstellung‹ eingeführt (BV 64). Da Pater Fassbinder an wesentlichen Weichenstellen des Romans immer wie aus dem Nichts erscheint und wichtige Gespräche mit Arthur führt (BV 65-68, 74, 84-88, 100, 109-111,113f., 186-188), ohne je mit anderen Figuren zu interagieren,50 könnte es sich bei ihm in der Tat um eine Art Halluzination handeln, die als ›moralische Instanz‹ fungiert. Nach dem ersten Gespräch mit Fassbinder wird die explizit konstruierte Illusion auch nicht aufgelöst, so dass der Leser den Eindruck haben kann, ab dem vierten Kapitel (BV 70) handle es sich um die Fortführung dieser Einbildung bzw. ›Vorstellung‹.51 Natürlich lässt sich das bei einem in der Ich-Form geschriebe_____________ 50 51

Einzige Ausnahme ist die Erwähnung Pater Fassbinders durch Professor Waldhall, der Arthurs Abschlussarbeit über Pascal betreut (BV 98). Kehlmann selbst legt eine solche Interpretation nahe und beklagt sich darüber, dass sein Roman von der Kritik als ›realistische‹ Erzählung aufgefasst worden ist (vgl. Kehlmann, Daniel: Diese sehr ernste Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen 2007, S. 18).

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nen und ständig zwischen ›Traum‹ und ›Wirklichkeit‹ hin und her schwebenden Bericht nie mit absoluter Sicherheit ausschließen, doch spricht zumindest die wiederholte Thematisierung der Schreibsituation auf der Terrasse des Fernsehturms ‒ wenn der Protagonist etwa »im Angesicht kaffeetrinkender Ausflügler« (BV 99) schreibt oder »die letzten Absätze noch einmal« durchliest (BV 151) ‒ dagegen, weil diese Situation sozusagen den Nullgrad von Arthurs Erfindungen darstellt. Bewusst erfunden und konstruiert ist dagegen die Figur der Adressatin des Berichts, die zuerst ganz unauffällig als ›du‹ (BV 12) erscheint und dann im Laufe des Romans immer mehr an Kontur gewinnt, um im zehnten Kapitel bei einer Party sogar anwesend zu sein, ohne je mit Arthur in direkte Verbindung zu treten (BV 200). Erst im zweiten Teil des achten Kapitels (BV 160-173) fasst Arthur zusammen, auf welche Weise er diese Figur durch lange anhaltende Arbeit konstruiert hat: Ja, eines Tages fiel mir all das ein. Ich durfte es nicht dazu kommen lassen; ich mußte dich an mich heranholen, dich zur Wirklichkeit machen. […] | War ich denn kein Magier? […] Du warst irgendwo da draußen, aufgelöst im Unbestimmten; noch hattest du keinen Namen, keine Gestalt, keine Seele; du warst nicht mehr als eine Vorstellung, die sofort zerfloß, wenn ich versuchte, genau hinzusehen. Aber ich würde dich befreien. Wie ein Bildhauer seine Figur aus dem Stein holt, so würde ich dich aus dem Reich des Möglichen schälen. | […] Das war kein Träumen. Es war schwere Arbeit, ein ungeheuer anstrengender und kaum länger als ein paar Minuten in voller Intensität durchzuhaltender Aufwand der Konzentration. Ich mußte jeden Gedanken in deinem Kopf, jedes Detail an deinem Körper, deinem Kleid, jeden Geruch, der deine Nase berührte, jeden flüchtigen Einfall, der deinen Geist streifte, Gestalt annehmen lassen. Ich mußte dein Leben entwerfen […]. Ich mußte dich erfinden. (BV 162)

Nach einer Zeit, in der sie noch »halb ein Teil meiner [Arthurs; A. C.] Phantasie […] und halb erst einer der festen, weiten, realen Welt« (BV 166) war, wo »vielleicht nicht einmal Gott […] sicher hätte sagen können […], ob du noch meine Erfindung warst oder schon niemandes Erfindung mehr« (BV 166f.), wird sie zur festen Wirklichkeit, so dass Arthur sich wirklich wie ein Magier fühlen kann (BV 167). Trotz dieses Selbstbewusstseins als Magier und Schöpfer hört Arthur nicht auf, an sich und an seiner Schöpferkraft zu zweifeln, indem er befürchtet, dass sich »alles in ein Trugbild, einen Wahn, einen Irrtum auflösen« könnte (BV 168). Er vergleicht sich dabei mit Merlin, von dem der erste Teil des Kapitels in einer Art von Wachtraum gehandelt hat (BV 155-158), und fragt sich: Ob Merlin etwas Ähnliches erlebt hat? Ob er jemals wirklich daran glauben konnte, Merlin zu sein? Irgendwo in ihm muß es immer den Verdacht gegeben haben, daß er ein schlafender Verrückter war, der ärmlichste der Menschen, der sich einbildet, Könige gekrönt und den Tempel von Stonehenge aufgetürmt zu

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haben. Was hätte er nicht für Gewißheit gegeben – aber Gewißheit ist nicht zu haben. Niemals. Und schon gar nicht für Zauberer. (BV 168)

Der nicht zufällig »vaterlose Magus« (BV 155) Merlin dient hier als Inbegriff eines Zauberers und zugleich eines schöpferischen Künstlers, der als sein letztes, höchstes Kunstwerk sogar die nahezu vollkommene Zauberin Nimue kreiert hat, die seine angebliche Liebe zu ihr nutzen soll, um ihn auf Ewigkeit in eine Grabeshöhle einzusperren: Mag sein, daß es der eine oder andere griechische Bildhauer einst fertiggebracht hatte, sich in eines seiner Werke zu verlieben; Merlin gelang das nicht. Vermutlich war er zu groß, zu klug. Aber er hatte wenig Lust, als Musterbild des gescheiterten Künstlers oder, schlimmer, des gescheiterten Gottes in die Geschichte einzugehen, und so behielt er für sich, daß er selbst Nimue geformt hatte. (BV 157)

Die Parallele zwischen Arthur und Merlin ist offensichtlich und dies umso mehr, als Arthur seiner Geliebten den Namen ›Nimue‹ verleiht (BV 165f., 171). Somit vergleicht sich Arthur auch mit einem anderen Künstler, d. h. mit Pygmalion (BV 157, 162), auch wenn er sich – ähnlich wie Merlin – nicht in sein Werk verliebt (BV 157), sondern wie der Gott Spinozas höchstens eine Art ›Warmherzigkeit‹ oder Mitleid gegenüber seiner Schöpfung empfinden kann (BV 170). Während es Merlin darüber hinaus gelungen ist, nicht »als Musterbild des gescheiterten Künstlers oder, schlimmer, des gescheiterten Gottes in die Geschichte einzugehen«, bleiben die Zweifel bei Arthur weiter bestehen. Er hofft zwar, als Verfasser des Berichts und somit als Schriftsteller das erreicht zu haben, was er als Zauberer oder Magier nicht erreicht hat, d. h. zum Schöpfer geworden zu sein, doch auch an diesen Schöpfungen bleibt wie an allen Zaubertricks der Makel der Lügenhaftigkeit unübersehbar haften. Nach der ›magischen Nacht‹, in der er angeblich zum ersten und einzigen Mal echte Magie ausgeübt hat, um gleich darauf Angst davor zu bekommen, antwortet Arthur auf eine mögliche Frage seiner Geliebten über die Wahrhaftigkeit seines Berichts: Also ist es, höre ich dich fragen, nicht wahr, was du erzählt hast? Nein, was ich erzählt habe, ist nicht wahr. Nicht buchstäblich wenigstens. ›Täuschungskunst‹ […] ›ist, was man auch behaupten will, die Kunst zu lügen.‹ Hast du noch immer nicht gewußt, daß ich ein Lügner bin? Aber sei beruhigt, es ist auch wahr. […] Das alles ist die Wahrheit. Der Rest ist Ausschmückung, eine Mischung aus Wunsch- und Alptraum. Der Versuch, mein Scheitern in eine Art dämonischen Glanz zu kleiden. Du hast es wirklich geglaubt? Das ehrt mich. Vielleicht bin ich doch ein Magier. Ich wäre es gerne gewesen, wenigstens für ein paar Stunden, für eine Nacht. (BV 213f.)

Nicht nur der Zauberer ist somit bloß ein ›Komödiant‹ und ein »Schauspieler« (BV 227), sondern ebenso der Schriftsteller, der nur versucht, sein »Scheitern in eine Art dämonischen Glanz zu kleiden«. Arthur selbst erscheint am Schluss die Vorstellung »eines gescheiterten Zauberkünstlers,

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der sich von einer Aussichtsterrasse wirft, in der unsinnigen Hoffnung, daß ihm Flügel wachsen« (BV 248), eher als unrealistisch und lächerlich. Es bleibt ihm somit nichts anderes übrig, als im ursprünglichen ›philosophischen Egoismus‹ eine letzte Rettung bzw. eine Hoffnung zu suchen. Denn wenn die ganze Wirklichkeit nur eine Projektion seines Bewusstseins ist, dann muss sie mit ihm aufhören: Ich habe diese Welt nie anders vorgefunden als gehüllt in mein Bewußtsein; wie also kann ich gehen, ohne sie mitzunehmen? […] Alles, was sich hier vor mir ausbreitet, wird mit mir verschwinden. […] Das Ende meiner Tage wird das Ende aller Tage sein. (BV 248f)

Mit Sicherheit muss mit dem Sprung die Erzählung aufhören, doch bleibt es fraglich, ob dieser Sprung noch als letzte Apotheose, als pantheistische Vereinigung ›mit allem, was lebt‹ verstanden werden darf.

Schlussbemerkung In allen drei behandelten Romanen führt die in der Romantik-Tradition stehende Vergöttlichung des Genies zu einer Zerstörung bzw. Auflösung des Genies selbst. Alle drei Protagonisten weisen gemeinsame Charakteristika auf, die sie über jeden Zweifel hinaus als Genies bezeichnen: Elternlos und einzige Urheber ihrer selbst, verfügen sie über übermenschliche Kräfte, die sie in ein inniges, irrationales Verhältnis zu den tieferen Abgründen der Natur setzen. Diese übermenschlichen Kräfte erheben sie zwar über die Regeln jeder Kunst, zugleich aber auch über die gesellschaftlichen Konventionen, so dass sie einerseits an keinerlei moralische Normen gebunden sind, andererseits aber ihre Auszeichnung mit Außenseitertum und Einsamkeit bezahlen. Ihr Verhältnis zur Kunst ist dabei so absolut und exklusiv, dass es sich mit dem Leben nicht vereinbaren lässt und letztendlich zum Tod führt. Grenouille, Alder und Beerholm sterben vor ihrem dreißigsten Jahr durch einen selbstgewählten Tod, der eine religiöse Dimension besitzt und sich als zumindest gesuchte Vereinigung mit einem pantheistischen Ganzen interpretieren lässt. Um den hohen Ansprüchen einer als Religion aufgefassten Kunst zu genügen, muss der Künstler bei seinem Streben nach dem Absoluten also entweder einen Pakt mit dem Teufel eingehen und zum Ungeheuer werden, wie es beispielsweise Adrian

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Leverkühn in Thomas Manns Doktor Faustus tut, oder zum Märtyrer seines erfüllten bzw. unerfüllten Kunststrebens werden.52 Das wahrhafte, besessene und zugleich eingeschränkte Genie Grenouille in Patrick Süskinds Das Parfum partizipiert an beiden Möglichkeiten und opfert sich am Ende seiner monströsen Karriere, nachdem er sich ausdrücklich und blasphemisch mit dem Schöpfergott und mit Prometheus, dem Inbegriff des schöpferischen und gottähnlichen Genies, verglichen hat, in einer kannibalischen Eucharistie auf. Der Vergleich des Künstlers mit Christus, als dem leidenden Gott, ist andererseits nicht neu, weil bereits der geniehafte Werther sein Leben in einer ausdrücklichen Christus-Imitation beendet hat. Auf eine ironisch gebrochene Art und Weise setzt sich dann auch ein anderes göttliches und teuflisches Genie der Moderne wie Oskar Matzerath an mehreren Stellen von Die Blechtrommel mit der Christus-Figur auseinander, bis er sich gegen Ende des Romans mit ihm identifiziert und sich mit dessen Worten im GethsemaneGarten der Polizei ergibt: »›Ich bin Jesus‹«.53 Zum Märtyrer nach der Begegnung mit dem leidenden Jesuskind und nach dem musikalischen Nachvollzug der Passion Christi wird auch Elias Alder in Schlafes Bruder, der zumindest äußerlich gesehen das verhinderte Genie verkörpert, welches mit seiner Umwelt im Widerspruch steht. In Wirklichkeit sind Elias’ Leben und das Leiden an der unerfüllbaren Liebe zu seiner Cousine Teil eines für den Menschen undurchsichtigen göttlichen Plans, der dazu führt, dass Alder nur durch die Musik zur Erkenntnis der einzig wahren Liebe gelangt, die eine sich aufopfernde und die Leiden der ganzen Menschheit in sich aufnehmende Liebe ist. Sein selbstgewähltes Märtyrertum soll demnach gerade ein Zeugnis für diese pantheistische, auch das Leiden in sich begreifende Liebe zum ganzen Universum ablegen. _____________ 52

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Vgl. etwa Tzvetan Todorov, der das Schicksal dreier reeller Künstler – Oscar Wilde, Rainer Maria Rilke und Marina Zwetajewa – nachzeichnet, die in ihrem Streben nach dem Absoluten ihr Leben einer zur Religion erhobenen Kunst als echte ›Märtyrer‹ geopfert haben (Todorov, Tzvetan: Les Aventuriers de l’absolu. Paris 2006, S. 128 und 196). Grass, Günter: Die Blechtrommel. Roman; in: Grass, Günter: Werkausgabe. Herausgegeben von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Band 3. Herausgegeben von Volker Neuhaus. Göttingen 1997, S. 777. − Außer mit der Christus-Figur identifiziert sich der moderne Künstler auch mit Marsyas, der Apoll zum Musikwettkampf herausfordert und als Strafe für die Niederlage bei lebendigem Leibe gehäutet wird (vgl. Todorov: Les Aventuriers de l’absolu (Anm. 52), S. 77 und 195); eine weitere Identifikationsfigur des modernen Künstlers als Märtyrer ist der Heilige Sebastian etwa in den vielen einschlägigen Selbstporträts von Oskar Kokoschka (vgl. weiterführend Heusinger von Waldegg, Joachim: Der Künstler als Märtyrer. Sankt Sebastian in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Worms 1989).

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In einer Art Anti-Klimax stellt schließlich Arthur Beerholm in Kehlmanns Roman die Tragödie des ›Dilettanten‹ dar, der über das bloße Handwerk hinaus nach einer romantisch als Magie verstandenen Kunst strebt. Die zutiefst irrationale Organisation der Welt, die er durch unmittelbare Erfahrung erlebt, aber auch in der Natur und sogar in der Mathematik entdeckt, treibt ihn dazu, Theologie zu studieren. Da ihn jedoch auch die Vorstellung eines willkürlich agierenden Gottes nicht befriedigen kann, will er sich selbst zum schöpferischen Gott erheben und durch die Magie dem Chaos der Erscheinungen das strenge Gesetz des Geistes vorschreiben. Nach der Erkenntnis seiner Niederlage als Magier, versucht er noch als Schriftsteller zum schöpferischen Genie zu werden, indem er sein Scheitern zum Gegenstand eines zutiefst doppelbödigen Berichts macht. Auch das scheitert allerdings an der unüberwindlichen Lügenhaftigkeit jeder Kunst, so dass Arthur, um nicht zum „Musterbild des gescheiterten Gottes“ zu werden, das Äußerste wagt in der Hoffnung, wenigstens als Ganymed von den Göttern aufgenommen zu werden.

DIRK NIEFANGER

Goa, Peshawar, Kyoto Christian Krachts Pilgerberichte ›am Ende des Jahrtausends‹ Alle vier Romane Christian Krachts spielen mit dem Modell einer säkularen Pilgerfahrt. Sie bildet, so kann man etwas pauschal resümieren, den letztlich nicht zielführenden Endpunkt einer Identitätserprobung des jeweiligen Protagonisten: Faserland beschreibt eine Reise von Norddeutschland in die Schweiz, wo der Ich-Erzähler schließlich im Dunkeln das Grab Thomas Manns sucht. Der Nachfolgeroman 1979 erzählt im zweiten Teil von der Pilgerreise zum und um den heiligen Berg Kailasch. Der Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten gestaltet in den beiden Schlusskapiteln die Reise des Ich-Erzählers in ein von der Zivilisation befreites Afrika. Imperium, Krachts bislang letzter und umstrittenster Roman, handelt im Grunde von einer einzigen Pilgerfahrt in die Südsee, wo August Engelhardt auf der Kokosinsel Kabakon sein Glück sucht, bis er selbst Ziel von Pilgerfahrten und eine »Attraktion für Südseereisende«, für Touristen und Sinnsucher, wird.1 Auch hier lässt die stete Identitätssuche noch einmal eine überraschende Wende zu: Elliptisch wird das Ende der Geschichte als Ende einer langen Reise zu sich selbst erzählt. Engelhardt taucht als Einsiedler auf der Insel Kolombangara auf. Soldaten finden in »einer Erdhöhle« einen »uralten weißen Mann, dem beide Daumen fehlen. Er scheint ausschließlich von Nüssen, Gräsern und Käfern« gelebt zu haben.2 Das säkular interpretierte Pilgermotiv als Reise des Protagonisten zu einem Ort, von dem er sich nicht nur eine quasi-sakrale Einkehr verspricht, sondern dadurch auch die Möglichkeit eines neuen Selbstentwurfs fern des mitteleuropäischen Alltags, nutzt Kracht nicht nur zur Gestaltung seiner Romane, sondern es kehrt als ästhetisches Element in seinen Essays und Reiseberichten wieder. Um die paradigmatische Nutzung der sakralen Handlung ›Pilgerreise‹ für die ästhetische und an der Popkultur der späten 1990er Jahre orientierte Ausgestaltung dreier Reiseessays geht es im Folgenden. Sie bewirkt, dass nicht nur die Essays als spezifisch ästhetische _____________ 1 2

Kracht, Christian: Imperium. Roman. Köln 2012, S. 229. Kracht: Imperium (Anm. 1), S. 239.

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Ausdrucksform eines quasi-sakral gestalteten Reiseerlebnisses einen kunstreligiösen Charakter bekommen, sondern auch die dort beschriebenen Handlungen nur als poetisch absichtsvolles Zusammenspiel ästhetischer und sakraler Momente begreifbar werden. Die analysierten Reiseessays thematisieren also nicht nur ein sakrales Erleben jenseits eingeführter Religionen, sondern erscheinen darüber hinaus als spezifische Verschriftlichung dieser Erlebnisse selbst; sie sind insofern als kunstreligiöse Texte lesbar, nämlich als ästhetisch gestaltete und säkular interpretierte Pilgerberichte. Die Pilgerreise – peregrinatio ad loca sancta – führt auf einem meist bewusst mühsamen Weg zu heiligen Stätten; Motive der Reise können Dank, Buße, spezifische Bitten, die Suche nach religiöser Gemeinschaft und unterschiedliche Heilserwartungen sein. Manchmal basiert die Reise auf einem heiligen Gebot und dient dann einer Initiation, wie die Mekka-Reise im Islam. Pilgerreisen gibt es nicht nur im Christentum, besonders im katholischen Bereich, sondern in fast allen Weltreligionen: im Judentum, im Islam, im Hinduismus und im Buddhismus. Auch wenn man die Pilgerreise allein unternimmt, wird sie oft, da auch andere Gläubige den gleichen Weg einschlagen, zu einem sozialen Ereignis. Der Austausch über das Vorhaben und die gegenseitige Unterstützung tragen nicht wenig zum Erfolg der Pilgerreise bei. Diese muss von ähnlichen sakralen Reiseformen wie der eher regional orientierten Wallfahrt und der gemeinschaftlich vollzogenen Prozession, bei der der Weg selbst und seine abzuschreitenden Stationen zentral sind, unterschieden werden. Die Pilgerreise hat stärker als die Prozession ein überregional bedeutendes sakrales Ziel vor Augen: in der Christenheit vor allem Jerusalem, Santiago de Compostela und Rom. Die Pilgerberichte, die heute sogar je nach Ziel über das Internet abrufbar sind, informieren auf der Grundlage meist individueller Erfahrungen über Weg, Ziel, Erwartungen und Erfolge der Reise. Der erfolgreichste Pilgerbericht der letzten Jahre dürfte Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg (2006), der wichtigste des christlichen Abendlandes vermutlich John Bunyans The Pilgrim’s Progress (1678), gewesen sein, obwohl letzterer keine tatsächliche Reise, sondern den fiktionalen Traum eines Pilgerunternehmens bietet, das paradigmatisch von der City of Destruction zum Neuen Jerusalem führt. Pilgerberichte sind also nicht unbedingt faktuale Texte, jedenfalls nicht ausschließlich. In Krachts säkularen Pilgerberichten findet sich – wie in ähnlichen sakralen Texten – eine doppelte Perspektive: die Selbstbeobachtung des Pilgers in seiner Veränderung während der Reise und eine differenzierende Wahrnehmung der anderen Pilger, die mal als Gleichgesinnte, mal als kuriose Andersartige gesehen werden. Beides dient im traditionellen Pil-

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gerbericht dazu, den individuellen Zweck der peregrinatio ad loca sancta dem Leser vor Augen zu führen, denn dieser soll zur adäquaten imitatio aufgemuntert werden. Bei Kracht ist eher das Gegenteil der Fall: Bei ihm erwächst aus dem Pilgerbericht eine Ästhetisierung des Selbst, die das geschilderte Ich gerade von der Masse möglicher Nachahmer abhebt.

I. Goa, das virtuelle Paradies Seit den späten 1960er Jahren verbindet sich mit den Stränden der westindischen Küste von Goa eine spezifische kunstreligiöse Praxis, die nicht unwesentlich Vorstellungen einer alternativen Sinnsuche im Modus der Kunst bis heute geprägt hat. Hier werden mehr oder minder künstliche und künstlerisch gestaltete Religionen nicht allein angeschaut, rezipiert oder vorgeführt, sondern primär praktiziert, und zwar als deutliche Alternative zu dem, was christliche Kircheninstitutionen in Westeuropa und Nordamerika an Religionserfahrung bieten. Musik, Tanz, Yoga und gemeinsame Meditationen charakterisieren die unterschiedlichen, meist sehr eklektizistisch angelegten Sakralperformanzen. Dennoch übernehmen und variieren die Indienreisenden christliche Erlebnismodelle, vor allem die Pilgerreise, das Bettelmönchstum oder das Eremitendasein. Das quasireligiöse Erleben, das zuerst Hippies, dann Aussteiger aller Art nach Goa treibt, gewinnt seine Attraktivität aus Momenten des ostentativ Unzivilisierten, des – zumindest scheinbar – Unangepassten. Inszeniert wird eine Abkehr von der bislang erlebten Welt, die allen Pilgerreisen inhärent ist: Wer sich unschuldig in der Economy-Class in einem Flugzeug nach Südostasien befindet […], erkennt sie an ihrem strengen Geruch bereits vor Reisebeginn: Kiffertouristen auf dem Weg in ihr Neunziger-Nirvana, nach Goa.3

So beginnt eine der wenigen Empfehlungen im Reisefeuilleton-Band Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt (1998) von Christian Kracht und Eckart Nickel, der sich nicht auf ein Gasthaus oder Hotel, sondern einfach auf einen Ort bezieht. Sie befasst sich mit dem berühmten BanyanBaum in Goa, einer sakralen Stätte für zivilisationsmüde Reisende aus dem reichen Westen. Banyan-Bäume gehören zu den Feigen, sind ursprünglich heimisch im nördlichen Indien, jetzt aber in ganz Südostasien zu finden. Von den Hindus wird der Banyan als heiliger Baum verehrt. _____________ 3

Kracht, Christian/Nickel, Eckhart: Ferien für immer. Die angenehmsten Orte der Welt (1998). Köln 2000, S. 50.

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Diese kartographisch markierbare, auratisch erlebbare und konkret verortbare Sakralität übernahmen die Aussteiger als symbolische Orientierung ihrer als tatsächliche Reise inszenierten Sinnsuche. Der Banyan von Arambol, den Kracht und Nickel beschreiben, fungiert noch heute als Treffpunkt von Aussteigern und Sinnsuchern aus Europa. So finden sich im Internet Videos, die seine Attraktivität als Ort gemeinsamer Musik (gelabelt als so genannte ›Goa-Musik‹), der Grenzerfahrung, der Ich-Suche und des sinnlichen Drogenkonsums, bis heute belegen. Während man im Schatten des Banyan George Harrisons My sweet lord intoniert, erinnert man sich an dessen Sitar-Improvisationen mit Ravi Shankar am Strand von Goa. Sie gelten heute als Meilenstein der Popgeschichte. Auf dem Titelbild zu Christian Krachts Essayband Der gelbe Bleistift (2000) erkennt man den Sitar spielenden Autor in der auf Goa verweisenden George-Harrison-Pose.4 Ergänzt wird die Pose durch den ›indisch‹ gestalteten Hintergrund. Die Indien-Reise der Beatles ist freilich lange her; geblieben ist jene sakrale Sehnsucht, die auch George Harrison hierher getrieben hat. Immer noch weist, wie Kracht/Nickel berichten, eine »dünne Rauchsäule« den Weg zum heiligen Baum: Das Initiationsritual, das zum Umwohnen des Baumes befähigt, schließt die feierliche Verbrennung des Reisepasses inmitten des Haufens stinkender Westklamotten ein, was jene wegweisende, schon von Weitem zu sehende dünne Rauchsäule entstehen lässt, die sich nachhaltig aus der windstillen Urwalddecke in den Himmel schlängelt.5

Der Initiationsritus, die Aufnahme in die Goa-Gemeinde unter dem heiligen Banyan von Arambol, wird im Feuilleton unüberhörbar mit einem christlichen Beschreibungsvokabular bespielt, das freilich das Sakrale in seiner fast kindlich wirkenden Künstlichkeit ironisch dechiffriert: Der Rauch schlängelt sich wie die Versuchung aus dem Paradies um den Baum der Erkenntnis. Die Kleider müssen beim Eintritt in den Garten abgelegt und feierlich verbrannt werden – als Rauchopfer und Verbindungslinie zum Himmel. Im Paradies braucht es keine Kleidung, zumindest keine westliche. Das Verbrennen der stinkenden Klamotten nimmt Formen der rituellen Reinigung auf, die man in den monotheistischen Religionen, aber natürlich auch im Hinduismus pflegt. Bäume als Ort religiöser Zusammenkünfte und Ziel von Wallfahrten kennen sowohl das Christentum als auch östliche Religionen; man denke etwa an Zarathustra. Auch Rauchriten mit ihrer inspirativen Mantik gehören zum religiösen Repertoire; im _____________ 4 5

Das berühmte AP-Photo aus den späten 1960er Jahren mit Harrison im Schneidersitz findet sich relativ häufig im Internet, etwa auf: http://wwwbeatles. blogspot.de/2011/07/ george-harrison-sitar.html (letzter Zugriff: 01. 04. 2012). Kracht/Nickel: Ferien für immer (Anm. 3), S. 51.

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christlichen Umfeld assoziiert man die Verwendung des Weihrauchs mit der katholischen Liturgie. Durchaus kritisch geht der Text am Ende mit dem heruntergekommenen Hoffnungsort der westlichen Sinnsucher um. Dem modernen, reflektierenden und ästhetisch orientierten Zuschauer bietet sich ein grauenerregender Nukleus der gegenwärtigen Welt: Goa, soviel ist sicher, dient dem Reisenden heutzutage weniger als Erholungs-, Erleuchtungs- oder Erkenntnisziel. Vielmehr erfährt man hier mehr über den verrohten Zustand der Gesellschaft als sonst wo auf der Welt.6

Hier wird das Pilgern geradezu kontrafaktisch gezeichnet. Sucht man auf der Pilgerfahrt üblicherweise eine Abkehr von den Schrecken der alltäglichen Welt, erfährt der Pilger in Goa das Gegenteil, nämlich die abstoßende Essenz einer verrohten Zivilisation. Diese aber hätte ihn eigentlich zum Pilgern motivieren müssen. Goa zeigt sich jedoch auch als Ort einer eigenen ästhetischen Erfahrung und übrigens nicht der rationalen Erkennens. In den quasi-religiösen Ritualen der westlichen Sinnsucher offenbart sich aus entsakralisierender Sicht eine für den Betrachter durchaus reizvolle Ästhetik des Hässlichen; das allein macht den heiligen Banyan-Baum in Arambol offensichtlich zu einem ›der angenehmsten‹, weil künstlerisch interessantesten ›Orte der Welt‹. Das Pilgern erscheint hier also als Suche nach besonderen ästhetischen Erlebnissen; es wendet sich zwar sakralen Orten wie Goa zu, nutzt diese aber primär für Augenblicke ästhetischer Erfahrung, die die sakralen Momente der traditionellen Pilgerreise ersetzen. Noch deutlicher zeigt dies der Goa-Essay in Krachts Reise-Sammlung Der gelbe Bleistift: Après nous le déluge7 – nach uns die Sintflut. Eine kunstreligiöse, weil fremdsprachlich und sprichwörtlich verstellte Bibel-Allusion findet sich schon in der Überschrift. Sinngemäß schließt der Titel an den »verrohten Zustand der Gesellschaft« aus dem Ferienbuch an, die Ortsund Zeitangabe unter dem Titel Goa, 1998 an die Harrison-Pose auf dem Titel des Bandes. Erst am Ende des Essays merkt man indes, welche Umdeutung Goas schon im Titel intendiert war: »Der Monsun kommt, und die Freaks verschwinden, […] und als sie alle weg sind, kehrt endlich Ruhe wieder ein«.8 Das ›künstlich‹ inszenierte Autor-Ich auf dem Titelbild, der Erzähler des Reisetextes, bleibt als kundiger Berichterstatter und erkennender Insider zurück. Er gehört offensichtlich weder zu den Freaks noch zu den Touristen. Denn er begegnet, anders als die Fremden, der hagio_____________ 6 7 8

Kracht/Nickel: Ferien für immer (Anm. 3), S. 51. Kracht, Christian: Der gelbe Bleistift. Mit einem Vorwort von Joachim Bessing. Köln 2000, S. 97. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 106.

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graphischen Eigentlichkeit Goas angemessen, weil er sich einen Zugang zu den sakralen Tiefen des Ortes zwar nicht religiös, aber ästhetisch erarbeitet hat. Wegen seines kunstreligiösen Zugangs zum heiligen Ort darf er sich als ›wahrer‹ Pilger verstehen. Denn nun, mit den sintflutartigen Regenfällen, die den Ort von den Fremden reinigen, erlangt Goa die ihm eigenen sakralen Momente wieder: »Eine kristalline, vegetative, nie gekannte Ruhe tritt ein. Goa, das wirkliche Goa, so sagen die Inder, ist nur während des Monsuns zu finden. Schantih«.9 Weder der Tourist noch der westliche Sinnsucher entdecken das ›wirkliche Goa‹ und seine Spiritualität, sondern nur der Einheimische und der Ästhet, der die wahre Schönheit in der kristallinen und vegetativen Ruhe des von Regen erfüllten Ortes sieht. Die harmonische Struktur des Kristallinen verweist wohl auf den gleichmäßigen Regen. Hier eine Anspielung auf die ›hexagonale Regelmäßigkeit‹ zu sehen, der sich Hans Castorp im berühmten Schneekapitel des Zauberbergs ausgesetzt sieht,10 ist angesichts der Pilgerfahrt zu Thomas Manns Grab am Ende des FaserlandRomans11 nicht ganz abwegig; schließlich geht es hier wie dort und eben auch in Goa um Grenzerfahrungen im Modus der Kunstreligion. Der Hinweis auf die vegetative Ruhe des Ortes lässt sich mühelos mit dem Motiv der Fruchtbarkeit zusammenbringen, das in vielen Religionen, auch der christlichen, eine große Rolle spielt, fällt doch das Erntedankfest an der Schwelle von Sommer und Herbst auf den Beginn des Monsuns. In Krachts Essay markiert der Regen sowohl, wie es der Titel verheißt, das Ende als auch den Neubeginn. Die verlassenen Häuser der westlichen Sinnsucher werden von der Vegetation überwuchert, »endlich wieder versteckt«,12 wie es im Text heißt, um im Frühjahr von den Reisenden neu entdeckt zu werden. Auch der sich so andeutende Kreislauf erscheint als sakrales Moment, das hier in der Relation von Titel und Schlussabsatz des Essays ästhetisch antizipiert wird. Das in Goa »hyperinflationär«13 gebrauchte indische Fremdwort ›Schantih‹ für Frieden,14 das den Essay beschließt, korrespondiert mit dem französischen Après nous le déluge im Titel.15 Der Monsunregen bringt mit seiner Vertreibung der westlichen Sinnsucher den wirklichen Frieden. Die Ruhe im Sturm lässt somit die wahre Bedeutung von ›Schantih‹ aufleuch_____________ 9 10 11 12 13 14 15

Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 106. Vgl. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Roman (1924). Frankfurt/M. 1967, S. 510. Vgl. Kracht, Christian: Faserland. Roman. Köln 1995, S. 163-165. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 106. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 100. Vgl. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 100f. Vgl. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 97.

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ten. An anderer Stelle des Essays hat Kracht seine ästhetische Vorlage hierfür genannt: ›Schantih‹ zitiert eben nicht den indischen Allerweltsgruß, sondern wir lesen einen Intertext auf das »Schlußwort aus T.S. Eliots Das wüste Land«16 – also auf einen der zentralen Texte der europäischen Kunstavantgarde. Die Brücke zur christlichen Religion schlägt T. S. Eliot selbst in seinem Eigenkommentar: In der von Kracht vermutlich verwendeten deutschen Ausgabe – er zitiert ja auch den übersetzten Titel – wird ›Shantih‹ mit dem in diesem Wortlaut christlich konnotierten Segenswunsch »Der Friede, welcher höher ist als alle Vernunft« umschrieben.17 Eliot tilgt indes den konkreten Bezug auf Gott und perspektiviert damit eine allgemeine mystische Formel. Vom ›Frieden Gottes‹ ist im Philipperbrief die Rede, denn dessen Friede meint der christliche Segenswunsch, während Eliots dreimal wiederholtes ›Shanti‹ wohl vor allem den Frieden des Meditierenden18 meint und am Ende seines Gedichts einen Modus der Versenkung in die Kunstwahrnehmung verlangt. Dass Eliots waste land in Krachts Text als Kontrafaktur zu Goa après le déluge zu lesen ist, muss kaum erwähnt werden. Es gehört zur bisweilen absichtsvoll überheblichen Ästhetik der Popkultur, keinen Respekt vor den Größen der Avantgarde zu haben. Deshalb kann Kracht an anderer Stelle auch den Beat-Poeten Allen Ginsberg als den Ahnherren der Goa-Pilger ausrufen: Er ist »eigentlich an allem Schuld«.19 Wie mit dem Hinweis auf Eliot gelingt Kracht damit eine Entsakralisierung des Ortes, der zum Schauplatz ästhetischer Performanz, zum Ziel einer poetischen Pilgerreise wird. Dass der Pop das indische Goa zu dem gemacht hat, was es heute ist, zeigen auch einige christliche Sinnsucher. Sie gehören übrigens zu den ersten bizarren Gestalten, die in Krachts Essay zu Wort kommen: »Ich habe schon viele Drogen ausprobiert, aber nichts macht dich so breit wie der Heilige Geist« sagt ein junger Jesus-Freak. Er ist Mitglied einer losen, sich auf keinen Fall als Sekte begreifenden Vereinigung junger Leute, die sich tatsächlich so nennen: Jesus Freaks.20

_____________ 16 17 18 19 20

Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 100. − Vgl. T. S. Eliot: Das wüste Land [The Waste Land] (1922). Englisch und deutsch, übersetzt von Ernst Robert Curtius. Mit einem Vorwort von Hans Egon Holthusen. Frankfurt/M. 1991, S. 76f. Eliot: Das wüste Land (Anm. 16), S. 95 (nach Phil 4, 7 (Lutherbibel): »Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu!«). Eliot verwendet zur Erklärung die Sanskrit-Vokabel ›Unpanishad‹ (vgl. Eliot: Das wüste Land (Anm. 16), S. 95), mit der man das Sich-Niederlassen in der Nähe eines Meisters oder Gurus bezeichnet. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 98. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 98.

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Die Gruppe ist an die indische Westküste gekommen, um »eine RockOper über das Leben Christi« aufzuführen.21 Ob es sich um eine Laienaufführung der legendären Rockoper Jesus Christ Superstar von Andrew Lloyd Webber und Tim Rice handelt, wird nicht erwähnt. Unmittelbar auf den Popdiskurs spielt auch die Erwähnung des englischsprachigen Autors Hakim Bey und seines Zentralbegriffs Temporäre Autonome Zone22 an. Dieser setzt sich Anfang der 1990er Jahre für kurzfristige soziale und politische Aktionsformen ein, die kreative Freiräume schaffen sollen. Diese zeitlich begrenzten Paradiese könnten Systemgesetze und Repressionsmechanismen außer Kraft setzen. Kracht interpretiert – ganz gegen die Intention der Sinnsucher – den indischen Kultort in diesem Sinne: Goa wurde das erste virtuelle Paradies, ein pseudo-rechtsfreier Raum, eine gefälschte vorübergehende autonome Zone, deren Erschaffung der IslamoAnarchist Hakim Bey als letzte ästhetische Handlung fordert.23

Akim Beys Manifest-Sammlung ist 1991 erschienen; in der deutschen Übersetzung von 1994, auf die Kracht vermutlich zurückgreift, rückt die Agentur Bilwet in einem Vorwort das Buch in die Nähe der Heiligen Schrift. Zwar habe man mit Akim Beys Buch »nicht die Bibel der antimedialen Bewegung in Händen oder das Evangelium, das nach Auslegung schreit«, doch solle man es »plündern«, um zur »Praxis-Akkumulation« zu kommen.24 Kracht interpretiert Goa als virtuelles Paradies post festum – ganz im Sinne Akim Beys. Er betont die Künstlichkeit des Ortes, seine ›gefakte‹ Spiritualität und die zeitliche Begrenzung des Erlebnisraums, seinen experimentellen Charakter und sein popkulturelles Potenzial. Auch das wäre Akim Bey gemäß, der die Idee temporärer autonomer Zonen ausdrücklich als »poetische Spielerei verstanden wissen«25 will. Kracht geht es – im Sinne Beys – um die poetische Umdeutung Goas als virtuelles Paradies. Es stellt für den Betrachter einen anarchischen Raum dar, in dem sich zivilisationsmüde Westeuropäer und Amerikaner in pseudoreligiösen Praktiken, insbesondere der Pilgerreise, ausprobieren. Dieser – so Kracht – ganze »Irrsinn«, diese »ganze Freak-Show«,26 bietet der Reiseessay selbst als kunstreligiöse Performanz, als säkularen Pilgerbericht an, mit dem der Leser virtuell an der Reise teilhaben kann. Der ›Freak-Show‹ _____________ 21 22 23 24 25 26

Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 98. Vgl. Hakim Bey: T. A. Z. The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism, Autonomedia [EA 1991], Brooklyn 2003. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 100. Agentur Bilwet: Laufe zu den düsteren Räumen über; in: Bey, Hakim: T. A. Z. Die Temporäre Autonome Zone. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schneider. Berlin – Amsterdam 1994, S. 7-10, hier S. 10. Bey: T. A. Z. (Anm. 24), S. 109. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 101.

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stellt der Bericht den vermeintlich wahren sakralen Charakter Goas nach oder im Monsun entgegen. Aber auch dieses ›neue Jerusalem‹ erweist sich als zeitlich begrenzte ästhetische Überformung im Lichte eines popkulturellen Blicks; denn im nächsten Frühjahr kommen die Touristen zurück und verstellen mit ihren Praktiken den heiligen Ort erneut.

II. Peshawar, das grüne Paradies Seit den Afghanistan-Kriegen gehört Peshawar zu den legendären, gefährlichsten und auch bizarrsten Orten dieser Welt. Eine Pilgerfahrt dorthin öffnet sich fast automatisch dem radikalen Islamismus. Kracht widmet Peshawar deshalb einen eigenen Text im Gelben Bleistift. Schon der Titel macht deutlich, dass es bei der Reise in das pakistanisch-afghanische Grenzgebiet um die zur Zeit in Deutschland meist diskutierte Religion geht: Der Islam ist eine grüne Wiese, auf der man sich ausruhen kann. Wie im Goa-Text wird hier eine alternative Räumlichkeit beschworen. Die grüne Wiese und das Motiv des Ausruhens lassen eine inspirierende Idylle erwarten, die eine Pilgerreise für zivilisationsmüde Geister lohnt. Die Farbe Grün dient aber auch der eindeutigen religiösen Identifikation, ja des Bekenntnisses: Grün ist die Farbe des Koran. Die Allgegenwart der Farbe Grün kommt etwa im Namen des Hotels – »Green’s hotel«27 – zum Ausdruck, das Kracht und Nickel in Ferien für immer beschreiben. Das legendäre Hotel existiert noch, wird heute aber von einer Hotelkette betrieben. Der Charme der Jahrtausendwende scheint also etwas verflogen zu sein. Damals, so heißt es in dem eigenartigen Pop-Reiseführer, sei das Hotel Ausgangspunkt für Waffenkäufe im Dorf Darra gewesen und habe als Ort von Benefizveranstaltungen oder als Zentrum religiöser Praxis gedient. Wen die Waffenpartys im Hotel störten, bei denen laute Musik des Pop-Provokateurs Frank Zappa gespielt würde, der finde in der Farbe Grün seine Ruhe: Wem das alles zu martialisch ist, kann die kontemplative Farbe Grün auch als Meditationsunterlage eines friedlich ausschließlich im Hotel verbrachten Pakistan-Aufenthalts nutzen.28

Anders als beim Goa-Bericht, der durchaus auch den Charakter einer Reportage besitzt, trägt der Peshawar-Text im Gelben Bleistift deutliche _____________ 27 28

Kracht/Nickel: Ferien für immer (Anm. 3), S. 173. Kracht/Nickel: Ferien für immer (Anm. 3), S. 174.

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Merkmale einer Erzählung, ja geradezu einer Novelle. Doch auch hier besteht eine unübersehbare Nähe zum Pilgerbericht. Die Entfernung zur Heimat wird über eine Anspielung auf den Popdiskurs hervorgehoben: »Ich dachte darüber nach, wo ich hier eigentlich gelandet war, und um mich ein bisschen abzulenken, summte ich einen alten Schlager von Serge Gainsbourg«.29 Die Erzählung beginnt zwar in Peshawar, führt dann aber noch ins drei Stunden entfernte Waffendorf Darra, wo der Held Initiationsriten über sich ergehen lässt. Gleich zu Anfang trifft der Ich-Erzähler einen älteren Mann, der ihn immer weiter in die Geheimnisse der beiden ›sakralen‹ Orte einführt.30 Dieser zweite Protagonist der Erzählung trägt den Namen Ibrahim Khan.31 Er ist offenbar ein typischer Orientale: Er hatte einen langen weißen Bart in seinem Gesicht, trug eine dunkelblaue Pudelmütze auf seinem rasierten Schädel, eine braune Decke um die Schultern, und während er redete, lächelte er ununterbrochen, und eigentlich mochte ich ihn sofort. Er war schon alt, wie alt genau, das wußte er selber nicht Er hatte tiefe Furchen im Gesicht, und er erzählte und erzählte.32

Und er hat »eine Kalaschnikow geschultert«.33 Auf dem Schutzumschlag von Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends (1999), von Christian Kracht entworfen, befindet sich ein Photo, das Kracht selbst mit einer Kalaschnikow zeigt.34 Er hält sie wie eine Gitarre. Die dunkle Hintergrundlandschaft könnte man mit etwas gutem Willen wohl im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet verorten. Im Roman Faserland (1995) heißt es über ein Foto, das den Freund des Ich-Erzählers abbildet:

_____________ 29 30 31

32 33

34

Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 66. Vgl. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 67: »er würde mich führen«. Diesen Namen trägt um 1800 der Großwesir von Persien. − In Ferien für immer wird der Kricket-Spieler und Politiker Imran Khan erwähnt (vgl. Kracht/Nickel: Ferien für immer (Anm. 3), S. 174), der Ende der 1990er Jahre in Pakistan als liberaler Politiker Fuß zu fassen sucht. Heute gilt er als wichtiger, international anerkannter Oppositionspolitiker. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 65. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 65. − Über die Vorliebe Krachts für diese Waffe vgl. Niefanger, Dirk: Provokative Posen. Zur Autorinszenierung in der deutschen Popliteratur; in: Pankau, Johannes (Hrsg.): Pop – Pop – Populär. Popliteratur und Jugendkultur. Oldenburg 2004, S. 85-101 und S. 215-217. Vgl. Kracht, Christian (Hrsg.): Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. Stuttgart 1999, Abbildung auf der hinteren Klappe des Schutzumschlags. − Der Entwurf des Schutzumschlags stammt von Judith Grubinger, Hamburg; die Rückseite ziert das bekannte Zitat von Jarvis Cocker: ›Irony is over. Bye Bye‹ (vgl. Meier, Albert: Irony Is Over. Der Verzicht auf Selbstreferenzialität in der neuesten Prosa; in: Detering, Heinrich (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart – Weimar 2002, S. 570-581).

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Dann habe ich [ein Foto] [...] von ihm, da ist er in Afghanistan. Er trägt so ein Tuch um den Kopf geschlungen [...]. Neben ihm steht ein Mudjahedin, der seine Kalaschnikow hochhält, und Alexander hat den Arm um ihn gelegt.35

Die Szene gleicht dem Erlebnis, das in Der Islam ist eine grüne Wiese erzählt wird. Alexander aus dem Roman Faserland scheint zu erleben, was in der Reiseerzählung Ibrahim Khan dem Ich-Erzähler nahe bringen möchte. Nach der genauen Schilderung diverser Schießübungen im Dorf Darra heißt es über die russische AK 47: Du hast dich in die Kalaschnikow verliebt, sagte Ibrahim Khan zu mir. Wir alle hier lieben die Kalaschnikow, sie ist die Waffe der Männer hier oben, sie ist unsere Freundin, unsere Geliebte. Sie ist Schwert und Schild des Islam.36

Der Ich-Erzähler, der von Khan immer ›Inglesi‹ genannt wird, wagt nicht zu widersprechen: »Ja. […] So ist es«.37 Deshalb bekommt er am Ende der Reise von seinem Kampfgenossen ein bemerkenswertes Geschenk überreicht: Im Hotelzimmer setzte ich mich auf mein Bett und wickelte vorsichtig das Päckchen aus, auf das er mit krakeliger Kinderschrift meinen Namen geschrieben hatte. Nicht Inglesi, sondern meinen Namen. In dem Paket war ein Koran.38

Die vermeintliche conversio des Westeuropäers verbindet sich mit der Lust am Kampf. Die Kalaschnikow, nicht der Koran, fungiert in Krachts Text als erster Zugang zum Islam; die Worte des Propheten verschenkt der alte Mudjahedin nach dem Initiationsritus im Waffendorf Darra. Der IchErzähler scheint nach den anstrengenden und verletzten Waffenübungen als potenzieller islamischer Märtyrer geeignet. Jetzt erst wird der fremde Inglesi bei seinem richtigen Namen genannt und mit dieser Benennung als Freund des Islam erkannt. Die Pilgerreise hat ihr Ziel erreicht. Novellenhaft kommt so die Erzählung zu ihrem Ende; das Leitmotiv ›Grün‹ materialisiert sich gewissermaßen in der verschenkten Schrift des Propheten und die »sich ereignete, unerhörte Begebenheit«39 im Waffendorf Darra bekommt ihren kunstreligiösen Sinn. Auf Afghanistan kommt Christian Kracht auch im letzten Teil von Tristesse Royale (1999), einer inszenierten Diskussion zwischen Popautoren, zu sprechen. Auch hier dienen religiöse Motive der Gestaltung des Textes. _____________ 35 36 37 38 39

Kracht: Faserland (Anm. 11), S. 64. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 74. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 75. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 75. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Herausgegeben von Karl Eibl, Volker C. Dörr, Horst Fleig, Wilhelm Große, Christoph Michel, Norbert Oellers, Hartmut Reinhardt, Dorothea Schäfer-Weiss und Rose Unterberger. Band 39: Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe. In den letzten Jahren seines Lebens. Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Frankfurt/M. 1999, S. 221.

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Nun werden aber deutlich biblische Bilder verwendet, um einen christlichen Märtyrer als Pop-Ikone zu gestalten. Kracht berichtet von einem Kriegsreporter, der in Kabul gleich bei seiner Ankunft von TalibanMilizen verletzt wurde. Der Artikel der Zeitschrift wurde aufgemacht mit einem doppelseitigen Foto von ihm selbst nackt, nur mit einer Calvin-Klein-Unterhose bekleidet – als Jesus Christus – mit ausgebreiteten Armen auf einer Bahre liegend, durchgeblutete Verbände an Schenkel und Schulter zur Schau stellend, und um ihn herum stehen vier Ärzte in Gewändern mit langen Bienenzüchterbärten und rätseln über die gut lesbaren Calvin-KleinInsignien am Unterhosenbund dieses Menschen.40

Die Afghanistan-Reportage liest Kracht einerseits, wenn er den Markenfetischismus hervorhebt, als Dokument der Pop-Kultur, anderseits als Installation eines christlichen Martyriums. Der Reporter wird als Opfer eines Religionskrieges zwischen Christentum und Islam dargestellt. Dabei geht es natürlich nicht um tatsächliches Leid oder die Auseinandersetzung zwischen den beiden monotheistischen Religionen, sondern um popkulturelle Inszenierungen, um Kunstreligion um die Jahrtausendwende also.

III. Kyoto, das geordnete Paradies Weniger martialisch geht es naturgemäß im Japan-Reisetext zu. Lob des Schattens, so der Titel des Essays aus dem Band Der gelbe Bleistift, gilt im Vorwort von Joachim Bessing als ›die beste‹ Geschichte der Sammlung. Sie sei paradigmatisch für Krachts Darstellungsverfahren. Nach Japan treibt es den Ich-Erzähler aus einer tiefen Sehnsucht »nach Ordnung«.41 Das Pilgermotiv der räumlichen Veränderung, die eine Möglichkeit zu neuer Sinnerfahrung bietet, ist dieser Sehnsucht inhärent. Dennoch wird kein Zweifel am ästhetischen Interesse gelassen. Denn wie der Schauspieler Kevin Costner würde der Protagonist »so gerne Meisterwerke herstellen«, doch scheitere er an entsprechenden Möglichkeiten.42 Seine Reisebegleiterin verweist ihn auf die japanische Welt der Perfektion, die man bei einer Reise zwar nicht selbst herstellen, aber doch bewundern und melancholisch erleben könne: _____________ 40 41 42

Tristesse Royale. Das Popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Benjamin von StuckradBarre, Christian Kracht, Eckhard Nickel und Alexander von Schönburg. Berlin 1999, S. 188. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 164. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 165.

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Sie sagte: »Was Sie brauchen, ist eine Portion melancholischer Ordnung. Sie benötigen das genaue Gegenteil des Barocks, also, etwas Frühgotisches, nein, warten Sie … […] Sie brauchen Zeremonie, Ritual, ganz ähnlich wie es Meister Sen no Ryuku43 sich erdacht hat, im Jahre 1580. Tee-Zeremonien, Wabi-Sabi,44 ZaZen.45 Miniaturgärten, diese Dinge, Also kommen Sie, wir fliegen zusammen ein paar Tage nach Japan.«46

Die Reise nach Japan soll inspiriert werden durch »Junichiro Tanzakis wunderbares Buch Lob des Schattens«.47 Denn der ästhetische Genuss der komplexen, nur auf den ersten Blick einfach erscheinenden japanischen Ästhetik und spirituellen Kunst kann nicht unverstellt erfolgen, sondern bedarf der intensiven literarischen Vorbereitung. Im Japan-Diskurs der Postmoderne hat Roland Barthes nachhaltig auf das fremde Reich der Zeichen hingewiesen.48 Die Komplexität des Zugangs zur japanischen Kunstreligion vermittelt der Ich-Erzähler an Hand einer Beobachtung im Flugzeug. Dort sähen die Sitze so aus, als befänden sich bunte Fussel auf ihnen; bei näherem Hinschauen erkenne der Betrachter diese als Teil des Dekors. Die Strenge des Stoffes soll so offenbar absichtlich durchbrochen werden; damit aber würde das Design der Sitze gegen die strenge Ordnung der japanischen Ästhetik verstoßen. Doch der Ich-Erzähler will vermitteln, dass eine im Grunde postmoderne Denkfigur Teil des ästhetischen Konzepts ist: Das hieße aber, dachte ich mir, daß es vorher eine Perfektion gegeben haben musste, einen Purismus, der untergraben werden wollte, ja, daß es von den Japanern als ästhetisch empfunden wurde, die Perfektion selbst wieder ad absurdum zu führen. Sonderbar, dachte ich.49

Die japanische Ästhetik sei so perfekt konzipiert, dass das Nichtperfekte Teil der perfekten Anordnung sei. Nicht das tatsächliche ästhetische System führt der Text damit vor, sondern die Voreingenommenheit durch eine angelesene Vorstellung von Japan – nämlich dessen auf’s Perfekte zielende Ästhetik, die in jedem Detail, selbst in der Ausstattung eines Lini_____________ 43 44 45 46 47 48 49

Gemeint ist vermutlich Sen no Rikyū, ein Zen-Meister, der sich mit Teezeremonien beschäftigt hat. Wabi-Sabi ist ein ästhetisches Konzept, das von Sen no Rikyū eingeführt wurde; vgl. Koren, Leonard: Wabi-sabi für Künstler, Architekten und Designer. Japans Philosophie der Bescheidenheit. Tübingen 2000. Zazen ist eine japanische Sitzmeditation. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 165. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 166. − Vgl. Tanizaki, Jun’ichiro: Lob des Schattens: Entwurf einer japanischen Ästhetik [EA 1933 in der Zeitschrift Keizai Ōrai]. Übersetzt von Eduard Klopfenstein. Zürich 1987. Vgl. Barthes, Roland: Das Reich der Zeichen. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt/M. 1981. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 167.

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enflugzeugs, wiedererkennbar sein muss. Durch eigene Erwartungen gesteuerte Wahrnehmungen prägen auch die Pilgerreise, die in der Regel, geschult durch die Pilgerberichte, auch das erlebbar macht, was erhofft wurde. Das perfekte Japan-Erlebnis bietet dem Protagonisten schließlich ein Blick aus dem Hotelzimmer in Tokyo. Im Himmel ziehen Kraniche ihre Kreise und unten liegt ein kleiner Herbstgarten mit wohl abgestimmten Pflanzen: Es schien, als ob dieser erste Ausblick auf Japan wirklich im wahrsten Sinne des Wortes ein Ausblick war, ein zurechtgeschnittenes Rechteck, ein auf Leinwand geworfener Kinofilm, ein vom Hotel Okura projeziertes [sic!] Bild, hergestellt allein zur ästhetischen Erbauung. Später sollte ich erfahren, daß ein großer Teil Japans tatsächlich so ist wie ein Bild, ein Blick durch einen rechteckigen Rahmen – von den Manga-Comics zu den frühen Filmen von Ozu und Mizoguchi bis zu den inszenierten kleinen japanischen Gärten, die man am besten, still sitzend, durch das freie Rechteck in einer Papierwand betrachtet.50

Obwohl der japanische Garten die Natur, wenn auch als dressierte, mit einbezieht, bleibt er Objekt einer autonomen Kunst. Das gilt für die nur zur zweckfreien Betrachtung gedachten Steingärten und die gepflegten Beete. Ganz sicher gilt es auch für den Japan-Pilger des Essays, der die zweckfreie, meditative, die stille Betrachtung durch einen Rahmen zur einzig adäquaten Rezeptionsweise erhebt. Nur in solchen Ausblicken kommt das vermeintlich authentische Japan zu sich selbst: In der still gestellten Vedute teilt sich jene Ruhe mit, die die japanische Kunst als Kunstreligion erlebbar macht. Das kann nicht voraussetzungslos geschehen, sondern erfordert ein Wissen um das japanische Selbstverständnis, das der Westeuropäer in unzähligen Büchern geliefert bekommt. Dies zeigt sich in der Ausschnittsästhetik des Hotelfensters, aber auch an der Nebenerzählung über die Suche nach Junichiro Tanzakis ›wunderbarem‹ Lob des Schattens.51 Der Ich-Erzähler berichtet, er habe es nicht in Japan kaufen, sondern erst später über den westlichen Versandhandel Amazon bestellen können. Zudem habe er keinen Japaner kennen gelernt, der es je gelesen hätte. Ohne eine explizite Kenntnis des Buches teilt sich dem zwar verständigen, aber doch fremden Pilger die japanische Kunst nicht unmittelbar mit. Das nicht in Japan, wohl aber in Europa präsente Buch zeigt, wie groß das Bedürfnis nach einem stilisierten, sakral ausgebauten Zugang zur japanischen Kunst ist. Der Text verdeutlicht hier, wie notwendig die europäische Brille erscheint, damit sich die japanische Kunstreligion mitteilt. Es gibt für den Westeuropäer keine authentische, unverstellte japani_____________ 50 51

Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 171. Vgl. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 166.

Goa, Peshawar, Kyoto

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sche Ästhetik oder Religionspraxis, sondern eben nur eine medial vorgeprägte, konstruierte Kunstreligion, die als vermeintlich ganzheitliche japanische Lebensform gedacht wird. Um diese zu sichern, ist der Erhalt der europäischen Perspektive notwendig − nur dann erscheinen dem westlichen Pilger die japanischen Gärten als perfekte Orte der Einkehr und Ruhe. Kunstvoll entsteht so inmitten der am weitesten entwickelten Industrienation der Welt das ruhige Kontrastbild zur Schnelligkeit und Hektik der westlichen (und eben auch der eigentlichen japanischen) Zivilisation. Nach Fukushima erinnert ganz besonders ein kurzer Abschnitt über Japans Atomindustrie an den tatsächlichen Zivilisationsstand Japans. Der Text aus dem Jahre 1999 offenbart heute ein verstörendes, geradezu prophetisches Moment: Eine rote Anzeigetafel verkündete, daß Gerhard Schröder als Reaktion auf das Reaktorunglück hier in Japan den Ausstieg aus der Atomkraft für unumgänglich hielt. Nicht wenige Menschen in der Ankunftshalle trugen schneeweiße Mullbinden um Mund und Nase, und mir wurde ganz mulmig, aber meine Begleiterin erzählt seelenruhig, die Japaner mit den Mullbinden hätten keine Strahlenschäden, sondern nur eine Erkältung.52

Am Ende kommt es ähnlich wie in Goa oder Peshawar zu einer ästhetisch inszenierten conversio des Pilgers, in gewissem Sinn sogar zu einer doppelten. Mit dem Shinkansen geht es in rascher Fahrt am nebeligen Fujiyama vorbei zur alten Kaiserstadt Kyoto – »heute«, wie es heißt, »Projektionsfläche für das Japanische an sich«.53 Hier wohnen die Reisenden in einem traditionellen Hotel und akzeptieren die »strengen Regeln zum Bewohnen des Kinmata«.54 Das Essen und der Tee werden nach alten Riten zelebriert und der Schlaf auf Tatami-Matten in Kauf genommen. Doch ein Ausflug in die Altstadt zeigt ihnen auch hier eine radikal um sich greifende Verwestlichung der japanischen Welt, die allenfalls noch eine bizarre Fusion japanischer und amerikanischer Kulturmomente produziert. Das perfekte Japan-Erlebnis holt der Ich-Erzähler dann in aller Ruhe und virtuell nach: Auf einer kleinen Bank im heimischen Garten liest er Tanzakis Lob des Schattens und erfährt Japan, wie es wirklich gewesen ist.

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Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 168. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 181. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 181.

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IV. Pilgerfahrten in Kunstwelten Im Vorwort zu Der gelbe Bleistift analysiert Joachim Bessing sehr genau die poetische Verfahrensweise seines befreundeten Popkollegen: Grundsätzlich umkreisen seine Sätze dabei stets ein angenommenes Zentrum, das leer bleiben soll bis zum Schluß. Dieses Zentrum ist der gedachte Ort der Stille und Reinheit. Dieser Platz ist für den Leser reserviert. Hier soll er zurückbleiben.55

Im Indien-Essay wird das räumliche Zentrum verzeitlicht; es ist das Goa der Monsun-Zeit und seine »kristalline, vegetative, nie gekannte Ruhe«.56 Auch am Ende des Peshawar-Textes gibt es ein Zentrum der Stille; man könnte so das für Meditationen geeignete Zimmer im Green’s Hotel fassen, wo der Ich-Erzähler den ihm zugedachten Koran auspackt. Das traditionelle Gasthaus in Kyoto erscheint schließlich ebenfalls als Ort der Ruhe und Einkehr; in der Kaiserstadt erweist sich jedoch selbst dies als letztlich leere Inszenierung; denn der eigentliche Ort der Schatten findet sich im heimischen Garten, nicht in der Wirklichkeit, wohl aber in der Lektüre Tanzakis. Die Pilgerreisen des Westeuropäers nach Goa, Peshawar und Kyoto vermitteln unterschiedliche, aber strukturell vergleichbare Kunstwelten religiöser Einkehr. Sie werden aus westlicher Perspektive gestaltet und entbehren deshalb notwendigerweise jeglicher Authentizität. Sie gestatten allenfalls, dass der Reisende das findet, was er sucht, aber letztlich keine überraschenden sakralen Momente. Im Gegenteil: Das, was man auf der Pilgereise zuerst entdeckt, erschwert eher die Sinnsuche. Der Westen macht letztlich das Shanti in Goa zur wüsten ›Freak-Show‹, das islamische Peshawar zum Waffenmarkt und die stillen Gärten Kyotos zur Plastikwelt. Und es bedarf einer ausgeklügelten westlichen Inszenierungskunst, um in diese Orte die sakralen Momente im Modus kunstreligiöser Praxis zurück zu holen. Indem Krachts Texte dies am Ende der Pilgerreise immer wieder zelebrieren, erweisen sie sich als moderne Hagiographien, ja, in ihrem Verfahren selbst als Texte der Kunstreligion.

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Blessing, Joachim: Vorwort; in; Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 13-19, hier S. 15. Kracht: Der gelbe Bleistift (Anm. 7), S. 106.

KATHARINA DERLIN

»Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus« Formen von Kunstreligion bei Klaus Kinski Kinski polarisiert. Vom »Großkotz« mit »narzisstisch[er] Persönlichkeitsstörung«,1 den »Macho-Posen« mit »seinen zwei bekannten Darstellungsmitteln (sadistisch schäumend oder masochistisch Staub fressend)«2 oder schlicht dem »große[n] Spinner«3 ist ebenso die Rede wie vom »Medizinmann des gesprochenen Wortes«4, dem »begnadeten Darsteller«5 oder dem »letzte[n] deutsche[n] Weltstar des Kinos«.6 Klaus Kinski (eigentlich Nikolaus Günther Naksynski) ist nicht zuletzt durch diese Diskussion um ihn zu einem regelrechten »Mythos«7 avanciert. Diese Mystifizierung seiner Person hat Kinski in hohem Maße durch die Auswahl der Rollen und durch deren Darstellung auf der Bühne bzw. im Film, erst recht aber durch sein Auftreten als Privatperson selbst zu verantworten: Die exzentrischen Rollen sind dem lebenswirklichen Menschen Kinski angeglichen, und so liegt seine »größte Meisterschaft« zweifelsohne in der »Kunst der Selbstinszenierung«;8 er »spielt seine Psychopathen-Rollen im Leben wei_____________ 1 2 3 4 5 6 7 8

Anonym: Bildstrecke – Prominente auf Selbstzerstörungstrip; in: Süddeutsche.de vom 02. 07. 2009 (http://www.sueddeutsche.de/kultur/bildstrecke-prominente-auf-selbstzer stoerungstrip-1.110881-3; letzter Zugriff: 19. 07. 2013). Karasek, Hellmuth: Die Kriechspur des Herrenmenschen; in: Der Spiegel Nr. 41 (1987/49), S. 235-238, hier S. 238. Vgl. Haas, Daniel: Satire: Kinskis krasse Krankenakte; in: Spiegel Online vom 22.07.2008 (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/satire-kinskis-krasse-krankenakte-a-567304. html; letzter Zugriff: 19. 07. 2013). Frankfurter Abendpost 1961, zitiert nach Anonym [Rubrik Kultur/Unterhaltung]: Abende eines Fauns; in: Der Spiegel 15 (1961/9) vom 22. 02. 1961, S. 62-71, hier S. 63. Kreitling, Holger: König Pest; in: Die Welt Online vom 06. 10. 1999 (http://www.welt.de/ print-welt/article586499/Koenig-Pest.html; letzter Zugriff: 19. 07. 2013). Vgl. Förster, Jochen: Klaus Kinski, Deutschlands letztes Scheusal; in: Die Welt Online vom 17. 10. 2006 (http://www.welt.de/kultur/article160114/Klaus-Kinski-Deutschlandsletztes-Scheusal.html; letzter Zugriff: 19. 07. 2013). Becker, Tobias: Kinski-Doku Jesus Christus Erlöser: Dem Publikum in die Fresse; in: Spiegel Online vom 08. 10. 2009 (http://www.spiegel.de/kultur/kino/kinski-doku-jesuschristus-erloeser-dem-publikum-in-die-fresse-a-653798.html; letzter Zugriff: 19. 07. 2013). Balk, Claudia: Klaus Kinskis theatralische Sendung; in: Reichelt, Peter/Brockmann, Ina (Hrsg.): Klaus Kinski. »Ich bin so wie ich bin«. München 2001, S. 36-45, hier S. 37.

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ter, ohne Zäsuren zu kennen«.9 Diese Verschränkung von Person und Kunst nimmt bei Kinski außerordentliche Formen an, da sein schauspielerisches und rezitatorisches Schaffen evident im Zusammenhang gesehen werden muss mit der Nutzbarmachung (kunst-)religiöser Bereiche. Um deren Verwendung und Funktion im Leben Kinskis aufzuzeigen, werden sich die folgenden Ausführungen unterschiedlichen Etappen seines künstlerischen Schaffens widmen, wobei die ersten beiden Abschnitte im Interesse von Übersichtlichkeit und chronologischer Plausibilität sein Werk in Bühnen- und Filmschaffen unterteilen: Der erste Part wird Kinskis Bühnenwirken als Schauspieler und Rezitator und damit in Interaktion mit dem Publikum untersuchen, das unmittelbar auf seine effektvollen Darbietungen reagieren kann; den Schwerpunkt bilden hierbei Beginn und Ende seiner Bühnendarbietungen, d. h. das erste von ihm gespielte Einpersonenstück La voix humaine (1949) sowie sein letzter Auftritt mit Jesus Christus Erlöser (1971), das den kunstreligiösen Bezug bereits im Titel signalisiert. Der zweite Abschnitt wird sich dem filmischen Schaffen im Allgemeinen und der letzten Produktion Kinski Paganini (1989) im Besonderen widmen, in der die Differenz zwischen dem Musiker Paganini und dem Schauspieler Kinski verschwindet. Schließlich soll in einem dritten Teil Kinskis Lenkung seiner Rezeption sowohl durch gefälschte Autobiographien als auch durch pseudonymisierte Rezensionen, die ihn selbst zum Verfasser haben, veranschaulicht werden. Diese Dreiteilung will ihren Gegenstand sukzessive von der Künstlichkeit zur Wirklichkeit, von der reinen Darstellung auf der Bühne zur Darstellung in der Lebenswirklichkeit führen und sichtbar machen, inwiefern die Dichotomie von Kunst und Leben bei Kinski tatsächlich aufgehoben ist. Vorweg sei festgehalten, dass die wenig vertrauenswürdigen Biographien die Skizzierung seines Schaffens eher erschweren und die Fakten daher meist anderen Quellen entnommen werden müssen.

Schauspiel und Rezitation Nachdem Klaus Kinski seine ersten schauspielerischen Gehversuche 1945 im englischen Kriegsgefangenenlager Camp 186 in Berechurch-Hall (bei Colchester, Essex) unternommen hat, findet er, ohne eine Schauspielausbildung zu absolvieren oder auch nur anzufangen, im Jahr seiner Ent_____________ 9

Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 69f.

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lassung 1946 sofort Anstellung an deutschen Theatern.10 Bereits von seinem ersten Vertrag in Offenburg wird er jedoch aufgrund schwierigen Verhaltens entbunden, was für seine gesamte Karriere charakteristisch bleiben soll. In Berlin bekommt er u. a. bei den durchaus renommierten Regisseuren Boleslaw Barlog und Otto Graf kleinere Rollen, bis er mit Jean Cocteaus La voix humaine 1949 »seinen Einstand als Einzelunterhalter«11 verzeichnen kann; mit dieser »psychodramatischen Sex-Rolle«12 wird Kinski erstmalig breit in der Presse besprochen. Sicherlich ist der Inhalt des Stücks dabei ausschlaggebend gewesen: Kinski spielt eine Frau, die ein letztes Gespräch mit ihrem Geliebten am Telefon führt, bevor sie sich selbst mit dem Kabel erdrosselt. Überdies ist das Interesse durch die öffentlichkeitswirksame Rahmensituation geschürt worden: Die Aufführung im Theater an der Kaiserallee, die Cocteaus deutscher Verleger genehmigt hatte,13 war wenige Tage vor der Premiere durch die französische Besatzungsmacht »mit Hinweis auf den Autor«14 untersagt worden; warum Cocteau selbst (oder sein französischer Verlag) Einspruch erhob, ist nicht bekannt.15 Jedenfalls beschließt Kinski, die Aufführung als Privatvorstellung ins Atelier des Modefotografen Helmut von Gaza zu verlegen, womit er bereits seine Professionalität im Umgang mit den Medien demonstriert: Da die britische Besatzungsmacht der Anwesenheit von Journalisten wegen an der Privatheit der Veranstaltung zweifelt, lädt Kinski die Presse kurzerhand aus. Das Presseverbot macht der Tagesspiegel-Redakteur Walter Karsch zum Thema, der nicht nur die »Buchstabentreue engherziger deutscher Behörden« beklagt, sondern auch die »Bereitwilligkeit der […] britischen Besatzungsmacht, diese Engstirnigkeit zu unterstützen«, und zudem auch noch Kinski selbst kritisiert, indem er von »mangelnde[r] Zivilcourage künstlerisch recht couragierter Männer« spricht.16 Als die Presse eine Woche später wieder zugelassen wird, hat dieser aufmerksamkeitsstrategische Vorgang eine breitere Rezeption des Stücks in den Feuilletons zur Folge, die Kinski durch eine Eigenrezension _____________ 10

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Vgl. hierzu und im Folgenden ›Kinskis Theaterengagements‹ unter www.klaus-kinski.de (http://klaus-kinski.de/default.htm (letzter Zugirff: 19. 07. 2013)). – Auch hier gilt es zu bemerken, dass die Angaben teilweise den Autobiographien entnommen sind und daher keinen Anspruch auf Richtigkeit erheben. Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 65. Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 65. Vgl. Geyer, Peter/Krimmel, OA: Kinski. Vermächtnis. Autobiographisches, Erzählungen, Briefe, Photographien, Zeichnungen, Listen, Privates. Hamburg 2011, S. 33. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 33. Vgl. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 32. Zitiert nach Anonym: Umgedrehte Hosenrolle [Rubrik ›Theater‹]; in: Der Spiegel 3 (1949/35), S. 28.

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in der 3. Person Singular ergänzt17 – eine Strategie, die er beibehalten wird und die unklar werden lässt, welche Rezensionen durch seine beeinflusst oder gar von ihm verfasst sind. Hier spricht Kinski auch von ›moralischen‹ Gründen für das Aufführungsverbot und lenkt damit das Interesse auf die inhaltliche Dimension des Stückes. In dieser mehrere Seiten langen Abhandlung präsentiert er, der bislang nur ein ›junger Berliner Schauspieler‹18 ist und erst wenige Schritte auf der Bühne vollzogen hat, sich selbst als Künstlergenius, dem es nicht mehr um die »›artistische‹ Leistung«19 gehe: nicht mehr um »das Andersgeschlechtliche«,20 sondern um den »rein menschlichen Moment«,21 die »gequälte Kreatur an sich«.22 In seinen Ausführungen stellt er neben (vermutlich gefälschten) biographischen Darstellungen und Zitaten von sich sein exzessives Proben, seine vollkommene Hingabe an die Kunst und die Aufgabe seiner eigenen Bedürfnisse heraus: »[E]r übertrug diese Wesensart in sein Denken und Handeln und verkümmerte so jede andere Wesensart in sich«,23 bis sich »in der Vielfalt seiner Seele und seines Geistes […] die frauliche Fähigkeit der Hingabe und Opferbereitschaft«24 gefunden und er mit diesem »Gleichnis menschlichen Schmerzes« die »Verwandlung erreicht«25 habe. Kinski stilisiert sein Schauspiel hier zu einem metaphysischen Ereignis, das die Grenze von Kunst und Wirklichkeit unterläuft, indem er die Frau nicht mehr ›darstellt‹, sondern zu ihr wird. Sein Körper und sein Geist durchlaufen scheinbar eine transzendentale Entwicklung, die darüber hinaus mit religiös konnotierter Terminologie (›Geist‹, ›Opferbereitschaft‹ und ›Gleichnis‹) beschrieben wird. Kinski bemüht sich, eine autoritative Wahrheit fernab der Geschlechtlichkeit als reines Gefühl zu vermitteln (oder sich selbst zumindest derart zu inszenieren) und sieht sich als dazu befähigte Instanz; wenngleich er das Zehrende dieser Fähigkeit – durchaus blümerant – darstellt und damit schon zur religiösen Leidensfigur (Christus) tendiert. Das Bühnenschaffen ist in den Folgejahren geprägt von skandalträchtigen Zwischenfällen. Zu den kleineren zählt sicherlich das Einwerfen der Scheiben von ihn unterstützenden Regisseuren, wenn er keinen Vorschuss erhält; zu den größeren zählen gewiss die vorgezogenen Vertragsauflösun_____________ 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Abgedruckt bei Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 35-38. Vgl. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 28. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 35. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 36. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 36. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 35. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 37. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 37. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 38.

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gen.26 Beispielhaft sei die Premiere des Torquato Tasso am Burgtheater angeführt, deren weitere Vorstellungen abgesagt werden, weil Kinski beim Applaus den Zuschauern Kusshände zuwirft – eine Unsitte, die im traditionsreichen Wien am Burgtheater seit jeher verboten ist und lediglich Gastspielern erlaubt wird.27 Er setzt sich hierbei mit einem ebenso immensen wie verfrühten Selbstbewusstsein über altehrwürdige Konventionen hinweg, um eine Sonderrolle im Ensemble einzunehmen. Darüber hinaus verändert er nicht nur spontan den Originaltext Goethes, »damit vor allem die Jugend den Kampf Torquato Tassos versteht«,28 sondern hält sich auch während der Aufführung nicht an vereinbarte Regieanweisungen.29 Weder der Regisseur als Autorität über die Bühne noch Goethe als Autorität über die Dichtung vermögen es also, bei Kinski Respekt zu erzeugen. Dieses Verhalten lässt seine offensive Selbstinszenierung erkennen, die er schon in den Anfängen verfolgt. Dass es für Kinski dennoch Menschen gibt, die er anerkennt »in dieser Zeit, in der die Mittelmäßigkeit regiert«,30 zeigt eine Photographie Elisabeth Hausmanns, auf der Kinski im gleichen Tasso-Kostüm und in gleicher Pose wie Joseph Kainz im Treppenhaus des Burgtheaters posiert31 − Kainz ist damit wohl der einzige, der temporär als eine Art Vorbild gelten kann.32 Zugleich präsentiert sich Kinski »als lebendes Abbild glorioser Theaterkunst, als Kunstfigur zum Leben erweckter Theatergeschichte«,33 und schafft also mit dem Lorbeerkranz im Haar nicht nur eine Parallele zum Torquato Tasso Goethes als dem nach Freiheit und Autonomie strebenden Dichter (»Frei will ich sein im Denken und im Dichten«, IV, 2), sondern personifiziert symbolisch sein gesamtes Metier und stellt damit selbst die entscheidende Instanz dar. Seine Sprechqualitäten und die rhetorischen Gestaltungsmittel _____________ 26

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Der Vorfall am Burgtheater ist keineswegs ein Einzelfall: Bei einer Aufführung des Heinrich IV. am Münchner Residenztheater kommt es am 9. November 1956 am Rande der Bühne zu einer Schlägerei zwischen Kinski und einigen Statisten, die ebenfalls den Hinauswurf Kinskis zur Folge hat (vgl. Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 41). Vgl. Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 39f. Kinski, Klaus: Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund. Erinnerungen. 4. Auflage. München 1978, S. 198. Vgl. Adolf Rotts Erwiderung auf Kinskis Verlangen, ein längeres Engagement oder eine Schadensersatzsumme wegen der Vertragsaufkündigung zu erhalten (15. 02. 1958): Es sei »bei der ablaufenden Vorstellung am 13. März 1956 nicht möglich« gewesen, »den Schauspieler [Klaus Kinski] zu präzisen Gängen und Beibehaltung der szenischen Vereinbarung zu bringen« (zitiert nach Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 40). Kinski im Interview mit Hermi Löbl: Früher wie zur Kommunion; in: Express, 8. oder 9. Dezember 1962 (zitiert nach Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 38). Vgl. Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 38. In Kinskis späterer Autobiographie heißt es jedoch, dass er in diese Rolle des Nachfolgers von Kainz gedrängt worden sei (vgl. Kinski: Erdbeermund (Anm. 28), S. 198f.). Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 38.

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sind hier und auch später in weit ausgeprägterer Form »spezifisch […] für ein Virtuosentum, das ins 19. Jahrhundert zurückreicht«.34 Damit liegt in Kinskis frühem Schaffen der Schwerpunkt vor allem auf einer romantischen Form der Kunstreligion: Durch seine Selbstinszenierung wird das Subjekt aufgewertet und Künstler sowie Kunst sakralisiert. – Ein Vorläufer zum romantischen Konzept der Kunstreligion findet sich im Geniekult des Sturm und Drang und damit in der historisch ersten Heroisierung des Künstlers, worauf weiter unten noch Bezug genommen werden wird. Seinem Bühnenschaffen steht Kinski durch normwidriges Verhalten selbst im Weg: Bereits in den 50er Jahren zwingen ihn die Absagen der Theater und seine finanzielle Belastung dazu, Soloabende zu veranstalten. Doch gerade durch diese wird Kinski seine Popularität deutschlandweit vergrößern. La voix humaine (Die menschliche Stimme) hat damit nur bedingt »auf den Schlußpunkt der dramatischen Monologe«35 hingedeutet; mit den Rezitationsabenden gelangen diese vielmehr zu einem vorläufigen Höhepunkt, indem die künstlerische Verantwortung nun ganz bei Kinski liegt. Unter Kinski spricht werden die Solo-Abende angekündigt,36 an denen er Balladen von François Villon, Arthur Rimbaud, auch Gerhart Hauptmann, Oscar Wilde und Friedrich Schiller vorträgt. Entspricht die Auswahl von Balladen Schillers und Gedichten Goethes dem Versuch, ein bürgerliches Publikum zu gewinnen,37 so ist das Besondere an dieser zunächst willkürlich durch die Epochen und Gattungen verlaufenden Auswahl die thematische Nähe zu den drei Bereichen Sexualität, Wahnsinn und Religion. So gibt er Hauptmanns Novelle Der Ketzer von Soana (1918) wieder, in der ein junger Priester der fleischlichen Liebe verfällt; Oscar Wildes Märchen, die auch christliche Motive aufweisen,38 trägt er im _____________ 34 35 36

37 38

Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 36. Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 37. Außerdem sind ab 1959 bei Amadeo Schallplatten Ges.m.b.H. in Wien eine Reihe von Rezitationen Kinskis eingespielt worden, die ebenfalls unter dem Titel Kinski spricht erschienen (vgl. die Schallplattencover in Reichelt, Peter/Brockmann, Ina (Hrsg.): Klaus Kinski. »Ich bin so wie ich bin«. München 2001, S. 120-123). Vgl. Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 66. In Der selbstsüchtige Riese (von Kinski rezitiert 1959, vgl. Kinski, Klaus: Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund. Hörbuch, Deutsche Grammophon 2004, Nr. 5) taucht der kleine Junge, der verschwunden war und vom Riesen ›am meisten geliebt‹ wurde, mit von Nägeln durchbohrten Händen und Füßen wieder auf. Der Riese will den Täter rächen, doch der Junge hält ihn ab: Es »sind die Wunden der Liebe« (in der Einspielung von 1959 heißt es abweichend »die Wundmale der Liebe«.) Auf die Frage hin, wer der kleine Junge sei, antwortet dieser: »Du ließest mich einst in deinem Garten spielen; heute sollst du mit mir in meinen Garten kommen, der da ist das Paradies« (Wilde, Oscar: Der selbstsüchtige Riese; in: Wilde Oscar: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Rainer Gruenter. Erster Band: Gedichte in Prosa. Märchen. Erzählungen. Versuche und Aphorismen. München 1976, S. 124-129, hier S. 129).

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schwarzen Talar vor und führt die Texte durch die Selbststilisierung als Geistlicher im performativen Akt zu einer religiösen Überhöhung; Villons durch Kinski wieder prominent gewordenes Großes Testament (1461/62), das er in der Nachdichtung Paul Zechs rezitiert, versprachlicht in seiner bildreichen Sprache nicht nur Parodien auf die kriminelle Laufbahn des Verfassers, sondern richtet sich auch gegen die Kirche: Mich haben Gottes harte Reiserbesen | vom Mutterbauch verstoßen in die Welt. | Doch du, Herr Bischof, − Hund −, du kannst mich nit | verfluchen, weil ich bitter Strafen litt. | Ich bin noch lange nicht dein Sklave hier, | du Judas, bin auch nicht dein Hundetier. […]| Ich will auch dieses letzte Mal | mit einer schönen runden Zahl | die Kirche unserer lieben Frau erfreun | dafür soll mir an jedem Allerseelentag | die hohe Geistlichkeit mit Tschindera und Paukenschlag | ganz frische Jungfernhäute auf die Nase streun | damit ich von dem weißen Muttertier | beileibe nicht den Nachgeschmack verlier.39

Villons Texte sind geprägt von christlich-religiöser Motivik und häufiger Thematisierung der Institution Kirche, die meist negativ dargestellt wird. Parallel dazu identifiziert sich Kinski mit Villon, wenn er anhand der (stilisierten) Lebensläufe feststellt, dass »sein Schicksal das von Villon« sei.40 Hat er Kainz noch als künstlerisches Vorbild gesehen, so ist es bei Villon die Identität: Kinski ist Villon. Das wird allerdings nicht die einzige Identifikation mit einem anderen Künstler bleiben. Über diesen religiösen Bezug in dennoch weitgehend weltlicher Poesie geht Kinski 1962 in einem radikalen Schritt weit hinaus, indem er in sein Repertoire Passagen des Neuen Testaments aufnimmt, um »den lieben Gott« zu spielen und die Worte »wie Blitze und Keulen unter die Massen [zu] schleudern«.41 Dabei trägt er eine schwarze Soutane oder lediglich einen Lumpenkittel, während auf der Rückwand der Bühne das Schattenbild eines Gekreuzigten projiziert wird.42 Kinski tritt nun also nicht mehr in der literaturvermittelnden Rolle eines Rezitators auf, sondern spielt die Rolle des Propheten, ja Christi selbst und arbeitet als Schauspieler mit der Heiligen Schrift. Über den blasphemischen Gehalt, eine gotteslästerliche Aktion, lässt sich hierbei sicherlich streiten, denn Kinski verfolgt seine Darstellung mit der für ihn typischen Ernsthaftigkeit. Freilich ist die Grenze zwischen literarischem und religiösem Text hier bereits aufgehoben und somit auch der Schritt von Kunst als Religion zu Religion als Kunst und damit einer der Religion dienenden Funktion getan. _____________ 39 40 41 42

Klaus Kinski spricht François Villon: Das Große Testament, freie deutsche Nachbearbeitung von Paul Zech, 1959 (auf Kinski: Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund (Anm. 38), Nr. 4). Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 44. Kinski zitiert nach Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 62. Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 62.

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Diese Entwicklung findet ihren Höhepunkt zehn Jahre später in einer auf 100 Vorstellungen geplanten Tournee,43 aus der letztlich aufgrund der Vorkommnisse nur zwei Veranstaltungen werden.44 Es handelt sich um die Rezitation von Jesus Christus Erlöser, einem Text, der laut Ankündigung »eine ›auf heute bezogene‹ Neufassung des Neuen Testaments« ist, »die ›den Leuten die Existenz von Jesus Christus dynamisch‹ nahebringen will«.45 Tatsächlich handelt es sich um einen von Kinski selbst verfassten, mutmaßlich von Adolf Holls Jesus in schlechter Gesellschaft beeinflussten,46 gut 30 Schreibmaschinenseiten47 umfassenden Text, der in steckbriefartiger Form und durch episodenhaftes Erzählen relevante Etappen aus Christi Leben wiedergibt und damit als eine Art Kommentar zur Bibel gelten kann.48 Kinski geht hier also über die Religionskunst hinaus und wird selbst zum Propheten. Nicht nur die Presse sieht Christus als »Identifikations-Figur« und stilisiert Kinski zum »Jesus-Jünger«, indem sie vermeintliche Freunde zitiert, die vom »erste[n] Gottesdienst seit 2000 Jahren«49 sprechen; auch Kinski selbst entdeckt zum Gottessohn ›viele Parallelen‹.50 Die Grenzen verschwimmen nicht nur in der Identifikation als Prophet oder als Christus, sondern auch, weil Kinski hier vom ›wirklichen Kinski‹51 spricht und dabei im Unklaren lässt, ob er seine schauspielerische Fertigkeit oder tatsächlich die Position als Prophet resp. Heiland meint. Diese ambivalente Selbstinszenierung misslingt denn auch auf der Bühne: Bei der Premiere am 20. November 1971 in der Berliner Deutschlandhalle sind 3000 Zuschauer anwesend, als Kinski in Hippie-Manier mit veilchenblauer Schlaghose und bunt gepunkteter Tunika, mit wilden Haaren und weitem Blick die Bühne betritt, um seine ›Verkündigung‹ zu beginnen.52 Er kommt nicht weit: Nach nur wenigen Momenten ertönen verschiedene Stimmen aus dem Publikum, die ihn unterbrechen und pro_____________ 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

Vgl. Becker: Dem Publikum in die Fresse (Anm. 7). Obwohl der zweite Auftritt in Düsseldorf ungestört verläuft, werden alle weiteren Veranstaltungen abgesagt. Rumler, Fritz: »Jesus hat auch keine Pause gemacht«; in: Der Spiegel 25 (1971/47), S. 214 (Zitate innerhalb des Zitats von Klaus Kinski). Vgl. Rumler: »Jesus hat auch keine Pause gemacht« (Anm. 45), S. 214. Vgl. Becker: Dem Publikum in die Fresse (Anm. 7). Kinski, Klaus: Jesus Christus Erlöser und Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen. Herausgegeben von Peter Geyer. Frankfurt/M. 2006. Rumler: Jesus hat auch keine Pause gemacht (Anm. 45), S. 214. Vgl. Rumler: Jesus hat auch keine Pause gemacht (Anm. 45), S. 214. Vgl. Rumler: Jesus hat auch keine Pause gemacht (Anm. 45), S. 214. Die Beschreibung des Abends sowie die Zitate sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, dem Live-Mitschnitt entnommen (Geyer, Peter [Regie]: Kinski: Jesus Christus Erlöser (= The Klaus Kinski Estate Edition No. 1) DVD 2009).

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vozieren. Kinski wirft Mikrofon samt Ständer Richtung Publikum und fordert: »Komm Du nach vorne, der Du so ein großes Maul hast«. Der Aufgeforderte kommt tatsächlich. Mit ruhiger Stimme lässt er verlauten: »Ich bin kein großer Redner und es ist möglich, dass von euch welche Christus suchen. Aber ich glaube, er ist es nicht, denn Christus war duldsam, soviel ich weiß. Und wenn ihm einer widersprochen hat, dann hat er versucht, ihn zu überzeugen, er hat nicht gesagt: Halt deine Schnauze!« Kinski schreit ihn daraufhin wutentbrannt mit seiner wohl berühmtesten Beleidigung an: »Nein, er hat nicht gesagt: ›Halt die Schnauze!‹ Er hat eine Peitsche genommen und ihm in die Fresse gehauen! Das hat er gemacht! --- Du dumme Sau!«. – Nun ist der gesellschaftliche Kontext, in den dieser Abend fällt, ein durchaus relevanter: Mit der Hippie-Bewegung der 60er und vor allem 70er Jahre beginnt in wiederentdeckter Spiritualität eine ›Jesus-Welle‹ durch vornehmlich jugendkulturelle Kreise zu gehen,53 die nicht zuletzt für den Erfolg von Produktionen wie Jesus Christ Superstar von Andrew Lloyd Webber ausschlaggebend ist.54 So liegt hier offensichtlich ein großes Missverständnis vor, indem der Raum der Kunst nicht respektiert wird und das linksorientierte Publikum den Text, der als solcher als fiktional gelten muss, als blasphemischen Ausdruck erkennt und sich durch Kinskis Performanz in seiner Religionssuche angegriffen fühlt. Kinski wiederum sieht sich hier als Künstler unverstanden. Er kommentiert die Bibel; durch die Verwendung religiöser Chiffren entsteht jedoch noch kein Bibelkreis, denn die Schwerpunkte liegen auf dem künstlerischen Vortrag, der Performanz, der Sprache und dem Umgang mit der Bibel, will heißen: seinem eigenen, oft kommentierenden Zutun. Sein Text skizziert – sicherlich in drastischer Sprache – eine Christus-Figur fernab des katholischen oder protestantischen Glaubens − frei also von der Institution Kirche, gegen die dieser ›anarchistische‹ Christus ebenso angeht wie gegen den Staat, die Polizei und die Gesellschaft überhaupt: Der Gesuchte gehört nicht der Gesellschaft an. Keiner Partei! Auch nicht der Partei der Christen. Keiner Kirche. Auf Parteitagen und Versammlungen findet man ihn nicht. Parolen und Programme lehnt er ab.55

Im sozialen System sich also als autonome Person positionierend, steht ›der Gesuchte‹ ein für all diejenigen, die am Rand der modernen Gesell_____________ 53 54

55

Vgl. hierzu: Anonym [Rubrik ›Jugend‹]: Heißer Tip; in: Der Spiegel 25 (1971/36), S. 52. Geyer macht darauf aufmerksam, dass Kinski nicht als ›Trittbrettfahrer‹ gelten kann, da die Premiere des Musicals auf den 12. Oktober 1971 datiert, Kinski den Vertrag aber bereits am 19. August unterschrieben hat (vgl. Geyer, Peter: Zur Entstehung von Jesus Christus Erlöser; in: Kinski, Klaus: Jesus Christus Erlöser und Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen. Herausgegeben von Peter Geyer. Frankfurt/M. 2006, S. 35-38, hier S. 35f.). Kinski: Jesus Christus (Anm. 48), S. 11.

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schaft stehen: Gotteslästerer, Staatenlose, Prostituierte, Kriminelle, Revolutionäre, Asoziale, Arbeitslose, Obdachlose, Kriegsverweigerer, Hippies, Fixer, und Mütter in Vietnam.56 Zudem werden verschiedene Episoden frei nacherzählt und Bibelzitate aufgegriffen: »Wer von Euch ohne Sünde ist der werfe den ersten Stein!«57 Außerdem betont der Text in einer an die Bibel angelehnten Sprache die Wichtigkeit von Geboten wie denen, den Nächsten zu lieben (»Tut Gutes allen! Liebet eure Feinde die euch hassen und verfolgen!«)58 oder niemanden zu töten (»Ihr habt gehört daß gesagt worden ist du sollst nicht töten außer im Krieg. Ich aber sage euch: Ihr sollt nicht einmal gegen irgend jemand [sic] die Hand erheben und ihm den geringsten Schmerz zufügen!«).59 Dieser Jesus ist also mehr als der von Tobias Becker behauptete ›Sozialrevolutionär und zornige Aufrührer‹, der damals Mode war60 – er ist viel näher an die Darstellung der Evangelischen Kirche angelehnt. Auch wenn ein performativer Akt der Kunst vollzogen wird, ist die religiöse Funktion dieses Vortrags in der Bewusstmachung der Ursprünge christlicher Religion evident. Gleichwohl lässt sich hier auch der erste Verweis auf eine ›negative Kunstreligion‹ festmachen, die später bei Kinski Paganini ausgeweitet wird: Da der Künstler im Sinne einer traditionellen Kunstreligion als göttlich legitimierter Gegenentwurf eines ›Tyrannen‹61 gilt, Kinski aber genau diesen durch seine narzisstische Aggressivität verkörpert, entsteht in einem kunstreligiösen Kontext eine Negativassoziation: Christus oder später der Künstler analog zum Göttlichen werden mit einem Gegenentwurf von Aggression und Gewalt, bei Kinski Paganini außerdem mit einer pornographisch konnotierten Sexualität besetzt. Als Kinski nach weiteren Unterbrechungen – insgesamt sind es drei – wiederum das Wort ans Publikum richtet (»Wenn man zu dumm und borniert ist, euch anzuhören, haltet euch nicht auf, geht weiter«), leitet er diese Provokation mit den Worten ein, dass Jesus selbst dereinst so formuliert habe. Der Text wiederum überschreitet vice versa die Grenze zwischen dem Sprecher Kinski und der fiktiven Figur Jesus vor allem durch die prägnante Formulierung des ›Rolle-Spielens‹, wenn von der 3. Person _____________ 56 57 58 59 60 61

Vgl. Kinski: Jesus Christus (Anm. 48), S. 12f. Kinski: Jesus Christus (Anm. 48), S. 23. Kinski: Jesus Christus (Anm. 48), S. 16. Kinski: Jesus Christus (Anm. 48), S. 17. Vgl. Becker: Dem Publikum in die Fresse (Anm. 7). Vgl. Benedetto, Arnaldo di: »quasi che un Dio«. Vittorio Alfieris Auffassung vom Dichter; in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin − New York 2011, S. 195-214.

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(›Gesucht wird…‹) in die 1. Person Singular (›Ich werde gesucht‹) gewechselt wird und das Ich verkündet: Ich bin nicht euer Super-Star der seine Rolle am Kreuz für euch weiterspielen muß und dem ihr aufs Maul schlagt wenn er aus der Rolle fällt. […] Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus […]. Ich bin der Aufrufer! Der Aufwiegler!62

Durch derartige Formulierungen wie auch durch die sprachliche und inhaltliche Nähe zur Bibel trägt Kinski selbst zur Unmöglichkeit bei, die Intention des Vortrags – künstlerische Performanz, zeitgenössische Kritik an Religion, kunstreligiöse Auseinandersetzung mit der Bibel, Hinwendung zu und Vermittlung von religiösen Inhalten – zu entschlüsseln. Nachdem also weitere Unterbrechungen eintreten mit Beschimpfungen sowohl von Seiten Kinskis (»Scheißgesindel«) als auch von Seiten einzelner Zuschauer, die aufgrund ihres Diskussionsbedürfnisses ein Rederecht auf der Bühne einfordern (woran man im Übrigen erkennt, dass sie den künstlerischen Rahmen der Veranstaltung und damit den fiktiven Charakter gänzlich ignorieren) und Kinski als ›Faschist‹, ›Phrasendrescher‹, ›Arschloch‹ attackieren, kann er weit nach Mitternacht seinen Vortrag vor einigen hundert Gebliebenen (wenn auch nicht ohne Allüren) zu Ende bringen, während manche bisweilen andächtig ihre Hände falten. In seiner Autobiographie wird es später heißen: »Na ja, denke ich, das ist ja wieder wie vor 2000 Jahren. Dieses Gesindel ist noch beschissener als die Pharisäer. Die haben Jesus wenigstens ausreden lassen, bevor sie ihn angenagelt haben«.63 Mit seinem Verhalten als »Skandal-Genie«64 und Wahnsinniger, durch Zorn, Wut, Beleidigungen und körperliche Ausbrüche, konterkariert er seine Darstellung eines gütigen, verzeihenden, barmherzigen Christus, indem er sich nicht nur als Gegenpol, sondern als regelrechter Antichrist seinem modernen Jesus gegenüberstellt, da er alle innertextuellen Forderungen nach Nächstenliebe, Nachsicht, Milde und Güte auf der Bühne außerhalb des Vortrags durch sein Verhalten negiert. Kinskis Bühnenschaffen demonstriert damit eine starke Hinwendung zur christlichen Thematik, lässt aber keine stringente Botschaft oder meinungsmachende Sichtweise zu Religion und Kirche zu, wenngleich die Institution Kirche mit ihrer Hierarchisierung insgesamt sicherlich negativ rezipiert wird. Vielmehr, und das ist vielleicht das Entscheidende, stellt der inhaltliche und dargestellte religiöse Bezug einen Kontrapunkt zu den sonst üblichen Rollen des Genies oder Wahnsinnigen, dem Privatverhal_____________ 62 63 64

Kinski: Jesus Christus (Anm. 48), S. 12. Kinski, Klaus: Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund [›Prolog‹] (zitiert nach Geyer: Zur Entstehung von Jesus Christus Erlöser (Anm. 54), S. 38). Rumler: Jesus hat auch keine Pause gemacht (Anm. 45), S. 214.

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ten mit Wutausbrüchen und Publikumsbeschimpfungen65 sowie schließlich seiner eigenen Interpretation der Bibel in Jesus Christus Erlöser dar.

Film Klaus Kinski ist bis heute vor allem für sein filmisches Werk bekannt, wobei er als Filmschauspieler erst Anfang der 60er Jahre tätig geworden ist, nachdem sein Theaterschaffen (bis auf die erwähnten zwei Vorstellungen 1971 zu Jesus Christus Erlöser) ein frühes Ende gefunden hat. Die Wahl seiner populärsten Rollen fällt stets, sofern es sich bei den über 140 Filmen nicht um Italo-Western, Soft-Pornos oder einen der insgesamt 17 Edgar-Wallace-Filme handelt, mit denen er seine finanziellen Nöte zu bewältigen sucht, auf »Personifizierungen des Bösen, Grenzgänger und Wiederkehrer, klassische Extremfiguren literarischer Fiktionalität«.66 Stellvertretend hierfür und wohl am populärsten ist seine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Werner Herzog, während der fünf als überaus avantgardistisch zu bezeichnende Filme entstanden sind: Aguirre, der Zorn Gottes (1972), Nosferatu – Phantom der Nacht (1978), Woyzeck (1978), Fitzcarraldo (1981) und Cobra Verde (1987). Bekannt sind diese Filme vor allem wegen der skandalträchtigen Dreharbeiten, bei denen sich das ›eingeübte Ehepaar‹67 Herzog und Kinski in einem »Zweikampf der ›Schöpfer‹[!]«68 »fast ermordet«69 hätte. Doch auch aufgrund ihres Ergebnisses sind die Filme für Kinskis Fortführung kunstreligiöser Ansätze relevant: In allen spielt Kinski die Hauptrolle, in der er als stets zwischen Genie und Wahnsinn schwankender Charakter die ganze Impulsivität und den Facettenreichtum seiner künstlerischen Möglichkeiten ausschöpfen kann. Die Figuren haben, bis auf den durchweg schlecht rezensierten letzten Film Cobra Verde, stets den »Wahn utopischer Ziele«70 wie etwa Fitzcarraldo, der seine Oper im Urwald errichten möchte. Doch alle Rezensenten sind sich einig, dass trotz oder gerade aufgrund des dargestellten Wahnsinns, des Zwiespalts, _____________ 65 66 67 68 69 70

Vgl. Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 64. Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 44. Vgl. Karasek: Kriechspur des Herrenmenschen (Anm. 2). Seeßlen, Georg: Das Genie des Zusammenbruchs; in: Reichelt, Peter/Brockmann, Ina (Hrsg.): Klaus Kinski. »Ich bin so wie ich bin«. München 2001, S. 130-156, hier S. 147. Lössl, Ulrich: »Wir hätten uns fast ermordet«. Interview mit Werner Herzog; in: Spiegel Online vom 05. 10. 1999 (http://www.spiegel.de/kultur/kino/werner-herzog-wir-haettenuns-fast-ermordet-a-45373.html; letzter Zugriff: 19.07.2013). Karasek: Kriechspur des Herrenmenschen (Anm. 2), S. 235.

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des (oft ambivalent) Bösen, stets »Kinski Kinski« blieb,71 er auch im Kino »ein exzentrischer und extrovertierter Autobiograph«72 ist und somit jeder Film in seiner Fiktionalität auch autobiographisch gelesen werden darf. So heißt es in einem Nachruf: »Sein exzessives Dasein rechtfertigt er mit dem Wahnsinn seiner Filmfiguren, die er nur deshalb so überzeugend zu spielen vermochte, weil er den Irrwitz seines Lebens einbringen konnte«.73 Der kunstreligiöse Bezug scheint hier bis auf die wenigen expliziten Ausnahmen zunächst weniger evident; das liegt jedoch daran, dass hier nicht Religion als Kunst gehandhabt wird, sondern Kunst in Konkurrenz zur Religion tritt. Zwar lässt sich ersteres vermuten, wenn innerhalb der Filme Kinski als Personifikation spiritueller Mächte wie bei Aguirre behauptet, ›der Zorn Gottes‹ zu sein, enge Kollegen wie Herzog ihn als »Geschenk Gottes«, als »Weltwunder«74 bezeichnen, Rezensenten wie Hellmuth Karasek in einer durchweg kritischen Besprechung dennoch davon reden, wie die »Kamera seinen Helden vergottet« und man darauf warte, er »würde über das Wasser wandeln können, ein klappriger Heiland mit strohiger blonder Dornenkrone«.75 Kinski wird hier aber nur scheinbar zum schauspielerischen Äquivalent eines poeta vates, also eines ›prophetischen Mediums‹.76 Tatsächlich ist »alles in Kinski […] dieses unmöglich gewordene ›Genie‹, das nach Selbstüberschreitung verlangte«.77 Die Machart der Filme, Kinski neben seiner Funktion als Schauspieler trotzdem auch als den Menschen dahinter zu zeigen, ihn in seiner ganzen darstellerischen Größe an die Grenzen von Schauspiel und Wirklichkeit gelangen zu lassen, führt zwangsläufig zu einer Positionierung Kinskis als ursprüngliches Originalgenie des Kunst-Diskurses im Sturm und Drang und damit als analoger Gegenentwurf zum Göttlich-Schaffenden. Am eindringlichsten erscheint diese kunstreligiöse Manifestation als Genie wohl in Kinskis letzter filmischen Produktion Kinski Paganini (1989), dem einzigen Film, bei dem Kinski neben der Hauptrolle auch Regie und Drehbuch übernommen hat und der somit bereits auf der Pro_____________ 71 72 73 74 75 76

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Anonym: Kinski. der Zorn Gottes (Nachruf im ›Zeitmosaik‹); in: Die Zeit Nr. 49 vom 29. 11. 1991, S. 58. Seeßlen, Georg: Das Genie des Zusammenbruchs (Anm. 68), S. 130. Nolden, Rainer: Vom Irrwitz eines wilden Lebens; in: Die Welt Nr. 276 vom 27. 11. 1991, S. 25. Werner Herzog über Klaus Kinski [Rubrik ›Zitate‹]; in: Der Spiegel 41 (1987/38), S. 282. Vgl. Karasek: Kriechspur des Herrenmenschen (Anm. 2), S. 238. Detering, Heinrich: Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen; in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin − New York 2011, S. 11-27, hier S. 15. Seeßlen: Das Genie des Zusammenbruchs (Anm. 68),, S. 140.

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duktionsebene als sein opus magnum angesehen werden darf. Auch Kinski verweist hierauf: »Die Arbeit an Paganini war die einzige magische Arbeitszeit meines Lebens gewesen«.78 Schon der Titel deutet darauf hin, dass hier eine Verschränkung des ›Teufelsgeigers Niccolò Paganini‹ und des Schauspielers Kinski vollzogen wird: zum einen als Kinskis Projektion eines Künstlerbildes zwischen Genie und Wahnsinn auf die historische Person Paganini, zum anderen erneut als Aufhebung der Kluft von Kunst und Leben in der Parallelisierung des realen Kinski mit dem dargestellten Paganini (wie schon bei Villon, Aguirre, Jesus Christus). Bereits 25 Jahre zuvor hat Kinski beim Betrachten eines Bildes des Musikers in Wien geglaubt, dessen »Reinkarnation«79 zu sein, und daraufhin alles gesammelt, was mit seinem anderen Ich zusammenhängt,80 um unversehens das Drehbuch zu verfassen. Nachdem er die Finanzierung lange Zeit nicht sichern konnte,81 ist die Wiederaufnahme der Arbeit erst 1987 möglich geworden. Der Film hat wenig mit dem historischen Paganini gemein, zeigt er doch vor allem die Wirkung von Musik auf das weibliche Geschlecht und die daraus folgenden amourösen (durchaus pornographisch geschilderten) Abenteuer, die gleichzeitig aber auch die dekadente Entwicklung des Lebensstils von Paganini widerspiegeln. Ein »maßlose[r] Film über die rauschhafte Selbsterfahrung«82 des Musikers entsteht, der in Bildern den »Zusammenhang zwischen Sexualität und Kunst«83 zu zeigen versucht. Damit sind noch immer, wie bereits zwanzig Jahre zuvor in der Spiegel-Reportage festgehalten, Kinskis »fast krankhafte Egozentrik, [die] raffinierte Sprechtechnik – die Synthese echter und gespielter Besessenheit –, hysterische Exaltation und ein extrovertierter Sexualismus […] die Instrumente seines Erfolgs«.84 Das klassische Bild des Genies wird nicht nur mit einer extrovertierten Sexualität um den Bereich der Körperlichkeit _____________ 78 79 80

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Kinski, Klaus: Paganini. München 1992, S. 199 (zitiert nach Frank, Carsten: Kleine Entstehungsgeschichte von Kinski Paginini; in: Reichelt, Peter / Brockmann, Ina (Hrsg.): Klaus Kinski. »Ich bin so wie ich bin«. München 2001, S. 216-222, hier S. 221). Frank: Kleine Entstehungsgeschichte (Anm. 79), S. 216. Als Anekdote in diesem Kontext sei erwähnt, dass Paganinis Violine von dem Geigenbauer Giuseppe Guarneri stammt, der sich auf seinen Geigenzetteln, also dem Inlay der von ihm gefertigten Geigen, als Joseph Guarnerius bezeichnete und ein Kreuz sowie ›IHS‹ anfügte. Letzteres ist bekanntlich das Kürzel für ›Iesus Hominum Salvator‹, kann aber auch ›In Hoc Signo‹ bedeuten, und Guarneri wurde später als Giuseppe Guarneri del Gesù bekannt. – Kinski wiederum hat Abbildungen der Wundergeige ›Guarneri del Gesú‹ gesammelt (vgl. Frank: Kleine Entstehungsgeschichte (Anm. 79), S. 216). Vgl. Frank: Kleine Entstehungsgeschichte (Anm. 79), S. 216-219. Brockmann, Ina: Vorwort; in: Reichelt, Peter / Brockmann, Ina (Hrsg.): Klaus Kinski. »Ich bin so wie ich bin«. München 2001, S. 8-10, hier S. 10. Seeßlen: Das Genie des Zusammenbruchs (Anm. 68), S. 156. Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 64.

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erweitert, sondern auch um den des geistig Verkommenen, indem Paganini als Besessener, vom Wahnsinn gepackter Künstler erscheint. In Kinskis letztem großen Werk wird somit der kunstreligiöse Gehalt seines Gesamtwerks in nuce präsentiert: Indem Kinski das Geniehafte mit Wahnsinn und sexueller Körperlichkeit kontrastiert, kehrt sich der Geniebegriff und damit die Rolle des (künstlerischen) Schöpfers ins Negative um.

Selbstinszenierung In obigen Ausführungen sind die offensiven Strategien von Kinskis Selbstinszenierung bereits ausgeführt. Im Folgenden sollen einige Beispiele ergänzt werden, um die Funktionsweise der Selbstinszenierung als Person der Öffentlichkeit zu vervollständigen. In Folge dessen lässt sich an der Rezeption darüber hinaus die Aufnahme kunstreligiöser Termini beobachten, wie schon bei Jesus Christus Erlöser geschehen, und führt somit zu einer komplexen Wechselwirkung von einem sich kunstreligiös produzierenden Kinski und einer ihn kunstreligiös vermarktenden Presse. Kinski agiert bereits zu Beginn seiner Karriere als »PR-Pionier« mit »ungewöhnlicher Öffentlichkeitsarbeit«:85 Zum einen fasst er schmeichelhafte Kommentare – auch in abgewandelter Form86 – zu einem Pressespiegel zusammen, um diesen anschließend zu vervielfältigen; trotz seiner finanziellen Schwierigkeiten gerade in den ersten Jahren seines Schaffens lässt er immer wieder Portraits von sich anfertigen, um selbst »der beste Abnehmer« von ihnen zu werden;87 beides zusammen sendet er dann Journalisten zu, die der »oft dümmlich, doch effektvoll angekurbelten Publicity recht aufgeschlossen« gegenüberstehen.88 Die Selbstmystifizierung wird außerdem angekurbelt durch die schon erwähnten pseudonymisierten Rezensionen, die in Kinskis Nachlass erhalten sind.89 Das sind neben vereinzelten Pressezitaten, die mutmaßlich aus seiner Feder stammen, der Text La voix humaine, der Dreharbeiten, Aufführung und äußere Umstände des gleichnamigen Stückes beschreibt, und ›Leben‹ bis Sommer _____________ 85 86 87 88 89

Geyer / Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 28. Geyer / Krimmel zeigen, dass Kinski teilweise Kritiken derart minimal veränderte, dass der Gehalt der Aussage wesentlich positiver erscheint (vgl. Geyer / Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 28). Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 28. Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 66. Vgl. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13).

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1952, ein autobiographischer Abriss der ersten Jahre in höchst selbstverklärender Manier, sowie einige Kritiken einer Gertrud von Freisleben, wobei es sich den Recherchen Geyers zufolge womöglich ebenfalls um ein Pseudonym Kinskis handelt.90 Diese Texte stilisieren Kinski bereits am Anfang seiner Karriere zu einem »Entfesselte[n] künstlerischer Inbrunst« mit »ungewöhnlichen geistigen und mimischen Fähigkeiten« (auch Geyer/Krimmel machen darauf aufmerksam, dass es für einen Rezensenten schwerlich möglich sei, die ›geistigen Fähigkeiten‹ eines Schauspielers zu erfassen).91 Seine Inszenierung von La voix humaine gehöre »wohl zu dem Erschütterndsten und Überwältigendsten […], was menschlicher und künstlerischer Ausdruck vermag«.92 ›Leben‹ bis Sommer 1952 beginnt denn auch mit der Mystifizierung seiner Kindheit und Jugend, die Kinski später in seinen Autobiographien Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund (1975) und Ich brauche Liebe (1991) weiter fortführt. Das Bild eines Wunderkindes anstrebend wird beschrieben, wie Kinski mit vier Jahren angefangen habe zu malen, nie aber ›zufrieden‹ gewesen sei; mit sechs Jahren konnte er alle Geschichten der Bibel auswendig, mit neun Jahren schrieb er die ersten Gedichte usw.93 Dem stehen die auch in der Presse häufig zu lesenden Beschreibungen einer Kindheit in Hunger und Armut entgegen, »die trostlose Einsamkeit des Geächteten, in der immer wieder völligen Verarmung und Obdachlosigkeit eines Bettlers«,94 weswegen Kinski mit elf Jahren auch ›aus Hunger‹ zu arbeiten angefangen habe.95 In seiner Autobiographie Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund werden diese Geschichten schließlich ad absurdum geführt, wenn die Ratten, die »mit Unverschämtheit über uns hinwegsteigen«, so »stramm wie Möpse« waren,96 seine Mutter sich für eine Anstellung prostituierte und sein Vater sich beim Stehlen erwischen ließ.97 Dass es hierbei nicht mehr um eine lebensnahe und mit Villon vergleichbare (s. o.) Biographie handelt, ist spätestens bei den Kommentaren der beiden Brüder Kinskis ersichtlich, die »diese infamen Lügen nicht unwidersprochen hinnehmen« wollen und die »gemeinen

_____________ 90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 70-72. Geyer/Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 31. Geyer / Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 38. Geyer / Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 50. Geyer / Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 44. »Er hat sein Leben lang gehungert und geweint in ewiger Verzweiflung« (Geyer / Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 42). Zitiert nach Anonym [Rubrik ›Memoiren‹]: Alles ist wahr; in: Der Spiegel 29 (1975/45), S. 189-192, hier S. 189. Vgl. Alles ist wahr (Anm. 97), S. 189.

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Verleumdungen« und »verlogene[n] Selbstdarstellungen« in Briefen an den Kinski-Verlag Rogner & Bernhard richtig stellten.98 Zu der Mitleid heischenden Fiktionalisierung seines Lebens treten überdies die bereits angesprochenen Parallelisierungen mit Personen, zu denen Kinski einen wie auch immer gearteten Bezug hat, hinzu: sei es François Villon, den er »mit Rimbaud als seinen einzigen Bruder in der Literatur bezeichnet«,99 die »Besessenheit zum Werk« bei Vincent van Gogh100 und sicherlich nicht zuletzt Jesus, zu dem er »viele Parallelen«101 entdeckt haben will. Auch hier findet also eine Lenkung der Rezeption in zwei Richtungen statt: zum einen als Nachfolger in einer langen Reihe von außergewöhnlichen, geniehaften Künstlern, zum anderen erneut im kunstreligiösen Bezug entweder als Gleichsetzung mit Christus oder aber als davon abgelöster ›selbstständiger‹ Prophet. Kinski hat »sich zur Kunstfigur seines eigenen Starkults« gemacht, »zu der von ihm selbst fiktiv erdachten Figur seines Künstlertraums«.102 In diesem Zusammenhang wird auch nur allzu gern darauf verwiesen, dass sein Haus in Rom eine ehemalige Klosterkirche sei.103 Die Selbstinszenierung wird dankbar von allen Vertretern der Kinski-Rezeption aufgenommen: sei es in der Presse, wenn die Zuschauer als ›Kinski-Jünger‹ bezeichnet werden und Kinski sich »ein beinahe kultisches Zeremoniell zugelegt« habe;104 sei es von anderen Künstlern, wenn beispielsweise George Seaton behauptet, dass dieser Mann »unübertrefflich« sei und »für die Gestalt Christi nur Klaus Kinski in Betracht« komme, sollten Amerikaner einen Christus-Film drehen;105 sei es in der wissenschaftlichen Diskussion, wenn er als »besessen« (auch dies eine Form von negativer Kunstreligion) gilt und »keinen Gott neben sich« dulde, »kein Maß und kein Urteil« kenne und »alles aus sich heraus« schaffe.106 Doch steht diese Darstellung mithilfe christlich-religiöser Termini in Distanz zu Kinskis öffentlichem Verhalten mit emotionalen, oft negativen Ausbrüchen, (Publikums-)Beschimpfungen und der immer wieder thema_____________ 98

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So ist der Vater ein rechtschaffener Apotheker gewesen, die Mutter eine Pfarrerstochter; die Familie brauchte zudem nie zu hungern und Kinski wohnte – wie in vielen Rezensionen zu lesen ist – auch nie in einem Kinderheim (vgl. Alles ist wahr (Anm. 97), S. 189 und 192). Kinski zitiert nach Geyer / Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 43. Kinski zitiert nach Geyer / Krimmel: Kinski (Anm. 13), S. 44. Kinski zitiert nach Der Spiegel 25 (1971/45), S. 172 [Rubrik ›Szene: Schauspieler‹]. Balk: Kinskis theatralische Sendung (Anm. 8), S. 44. Vgl. u. a. Der Spiegel 25 (1971/45). Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 62. Seaton, George (zitiert nach Abende eines Fauns (Anm. 4), S. 71). Brockmann: Vorwort (Anm. 83), S. 9.

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tisierten, obszön gehaltenen Sexualität. Der Bezug zur Religion wird daher ironisch gebrochen, womit hierin eine Form von negativer Kunstreligion erkannt werden mag.

* Insgesamt gestaltet sich eine Einordnung in den kunstreligiösen Kontext als problematisch, da Kinski allzu offensichtlich mit den gängigen Ordnungskriterien, den Mustern in diesem Bereich, spielt. Die Ausführungen haben aufgezeigt, inwieweit die Kunstreligion als Modell von Inszenierung bei dem Schauspieler Klaus Kinski maßgeblich für sein Leben und Wirken gewesen ist. Dabei durchläuft er verschiedene Phasen: von seinen Anfängen und dem Versuch, eine autoritative Wahrheit zu vermitteln, über die Aufnahme kunstreligiöser, hier im Sinne von der Religion dienenden oder sich zumindest auf Religion beziehenden Texten bis hin zur Selbststilisierung als Prophet bei Jesus Christus Erlöser. Nach diesem kunstreligiösen Höhepunkt bewegt sich Kinski von diesem Modell wieder weg und versucht den Künstler bzw. die Kunst erneut ins Zentrum zu stellen und so eine Kunstreligion im Sinne von Kunst als Religion zu erreichen. Die Rezeption seitens der Kollegen, der Presse und der Wissenschaft hat diese Verwandlungen stets vorbereitet und – durch entsprechende Beschreibungen und Terminologien – mit ausgetragen. Kinskis Selbstinszenierung kann in nuce sicherlich auch als negative Kunstreligion betrachtet werden, indem sein extravagantes Verhalten als Kontrapunkt zu einer religionsdienenden Kunst verstanden wird und das Praktizieren verschiedener Formen von Kunstreligion als deren Scheitern in der Moderne gelesen werden mag. Jedoch: Das Durchlaufen verschiedener Formen und Funktionen von Kunstreligion als gewollte Inkonsequenz kann sich auch als eine Form moderner Kunstreligion herausstellen und vermag somit die Entwicklung von ›Kongruenz‹ und ›Konkurrenz‹ mit ›Inkonsequenz‹ fortzuführen.

GIOVANNA CORDIBELLA

»Quel mio pubblico martirio« Kunst, Religion und Autorschaft bei Pier Paolo Pasolini Pier Paolo Pasolini ist einer der umstrittensten Autoren und Intellektuellen der italienischen, ja der europäischen Nachkriegskultur. Nach wie vor wird er ebenso intensiv wie kontrovers diskutiert, und nicht einmal über die näheren Umstände seines Todes, der noch in jüngster Zeit Gegenstand verschiedener Verschwörungstheorien gewesen ist, herrscht Einvernehmen. Der Autor Pasolini ist nicht nur Dichter, Dramatiker, Romancier, Regisseur und Publizist gewesen, sondern zugleich ›personaggio pubblico‹1 bzw. »grande figura mediale«.2 Pasolinis oftmals provokante, den Skandal durchaus einkalkulierende Selbstinszenierungen haben zu diesem widersprüchlichen Bild eines umstrittenen Autors erheblich beigetragen. Themen und Bezüge religiöser Art spielen dabei eine nicht unwichtige Rolle. Vor allem aber stellen sie, jenseits der Praktiken der Selbstpräsentation des Autors Pasolini, eine Konstante in seinem Schreiben dar, die daher auch schon mehrfach untersucht worden ist.3 In den folgenden Überlegungen soll es nun um diese thematischen Verweise auf Religion und deren Überschneidungen im Werk Pasolinis gehen, mehr noch aber um ihre Funktionalisierung im Rahmen einer höchst markanten Inszenierung als Autor, die seine Rezeption bis heute entscheidend prägt. Diese Aspekte einer Autorschaft, bei der mediale (Selbst-)Inszenierung, religiöse Symbolik und im Verlauf der Rezeptionsgeschichte entstandene Zuschreibungen ineinander übergehen, lassen sich anhand der Erörterung einer Fotografie und ihrer diskursiven Verwendung veranschaulichen. Sie ist um 1969 bei den Dreharbeiten zum Film Medea in der Türkei entstanden und zeigt den Regisseur Pasolini, der einem Schau_____________ 1 2 3

Ferretti, Gian Carlo: Il ›personaggio‹ Pasolini tra persecuzione e successo; in: Belfagor 50, (1995), S. 675-692, hier S. 678. Miconi, Andrea: Pier Paolo Pasolini. La poesia, il corpo, il linguaggio. Genova – Milano 1998, S. 7. Conti Calabrese, Giuseppe: Pasolini e il sacro. Prefazione di Gianni Scalia. Milano 1994; Cacitti, Remo/Conti Calabrese, Giuseppe/Manenti, Marzio/Spineto, Natale: Su Pasolini e il sacro. Udine 1997; Subini, Tomaso: La necessità di morire. Il cinema di Pier Paolo Pasolini e il sacro. Roma 2007; De Benedictis, Maurizio: Pasolini: La croce alla rovescia. I temi della vita e del sacrificio. Anzio 1995.

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spieler die Position erklärt, die er in einer der Anfangsszenen des Films einnehmen muss. Es handelt sich dabei um die lange Sequenz eines Fruchtbarkeitsritus, den die − von Maria Callas dargestellte − Priesterin Medea leitet: Vor der Gemeinschaft wird ein Menschenopfer dargebracht; der Körper wird zerstückelt, um mit dem Blut die Erde zu befruchten. Es ist der Fotograf Mario Tursi, der den Regisseur Pasolini in genau derjenigen Position porträtiert hat, in der er die Haltung des Opfers nachahmt. Diese Aufnahme hat aufschlussreiche Folgen für die Ikonografie Pier Paolo Pasolinis gehabt und ist z. B. für den Umschlag von Stefania Riminis Untersuchung Performance del sacrificio nella drammaturgia di Pasolini herangezogen worden (siehe Abb.). Dieser Gebrauch des Bildes unterstreicht einen Aspekt, der als typisch für eine bestimmte Tendenz der Pasolini-Forschung und die Rezeption Pasolinis generell angesehen werden kann. In der Tat ist die Bildunterschrift in Riminis Studie zweideutig: ›Pasolini in croce‹ (›Pasolini am Kreuz‹). Die Nachahmung des heidnischen Ritus, die bei den Dreharbeiten das Ziel der Veranschaulichung einer bestimmten Szene gehabt hat, wird so ihrem Kontext weitgehend entfremdet, d. h. zum Dokument einer Kreuzigung Pasolinis umgedeutet. Das Foto dient insofern als Anspielung auf Riminis Hauptthese: Il progetto letterario e artistico di Pasolini può essere letto […] alla luce di un incessante ardore sacrificale in cui il martirio si pone innanzitutto in senso etimologico, in quanto ›testimonianza‹ di un destino, per poi connotarsi in vari modi (tragica fatalità, cieca violenza, redenzione, rito antropologico, olocausto), rivelando la complessità del suo valore simbolico.4

_____________ 4

Rimini, Stefania: La ferita e l’assenza. Performance del sacrificio nella drammaturgia di Pasolini. Postfazione di Roberto Tessari. Acireale – Roma 2006, S. 14 (›Das literarische und künstlerische Projekt Pasolinis kann im Licht eines unaufhörlich brennenden Opferbedürfnisses gelesen werden, wobei das Martyrium zunächst etymologisch zu verstehen ist, insofern es als ›Zeugnis‹ einer Bestimmung erscheint, um dann verschiedene andere Konnotationen anzunehmen (tragische Schicksalhaftigkeit, blinde Gewalt, Erlösung, anthropologischer Ritus, Holocaust), wobei so die Komplexität seines symbolischen Wertes verdeutlicht wird‹).

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Abb. 1: Titelillustration von Stefania Rimini: La ferita e l’assenza. Performance del sacrificio nella drammaturgia di Pasolini. Acireale – Roma 2006.

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Das Thema des Martyriums taucht bei Pasolini in der Tat immer wieder auf, so wie auch dem Muster der imitatio Christi bei der Konstitution seiner Autorschaft eine Funktion zukommt. Dabei gilt es zu beachten, dass eine bestimmte Rezeptionstradition die Überschneidung von religiösen und künstlerischen Aspekten akzentuiert und sie als Fundament einseitiger Interpretationen bzw. oftmals mechanisch wirkender Folgerungen nimmt. Hin und wieder (nicht unbedingt bei Stefania Rimini) wird dabei ein Punkt erreicht, an dem die Grenze zwischen Kunst und biographischer Dimension überschritten ist: Charakteristische Züge von Pasolinis Autorschaft werden auf sein Leben projiziert (so ließ sich der gewaltsame Tod am 1. November 1975 in Ostia bei Rom als ein selbstinszeniertes Martyrium interpretieren). Gewisse Stränge der postumen Rezeption potenzieren Elemente, die bereits bei der Inszenierung und Konstitution von Pasolinis Autorschaft religiös semantisiert waren, und versehen sie oftmals auch mit Zuschreibungen ästhetischer Art. Die Figur Pasolini erweist sich folglich in doppelter Hinsicht als emblematisch für die Relevanz, die kunstreligiösen Ansätzen auch im italienischen Kontext um die Jahrtausendwende innewohnen kann.

›Testimoniare lo scandalo‹: Kunst, Religion und mediale Inszenierungspraktiken in Pasolinis Autorschaft Die folgenden, exemplarisch ausgewählten Stationen aus Pasolinis Werk bilden einen Querschnitt. Sie berücksichtigen verschiedene Phasen dieses Werks und zugleich verschiedene Gattungen und Medien: Prosa, Lyrik, Film. Ausgegangen wird von Pasolinis Jugendschriften, wobei ein Prosastück aus dem Jahr 1946 im Zentrum steht, dem das Zitat im Titel dieses Aufsatzes entnommen ist. Die Passage findet sich in den sogenannten Quaderni rossi, einer Art Tagebuch, das Pasolini 1946/47 noch im Friaul geschrieben hat, d. h. vor seinem Umzug nach Rom infolge einer Anklage wegen ›Verführung Minderjähriger‹ und ›obszöner Handlungen in der Öffentlichkeit‹. Der Prozess, der seinerzeit ein großer Skandal war, hatte für den homosexuellen Pasolini den Verlust seiner Stelle als Lehrer bedeu-

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tet und den Ausschluss aus der kommunistischen Partei nach sich gezogen.5 Die Texte der Quaderni rossi geben sich als tagebuchhafte Einträge. Mittlerweile ist jedoch nachgewiesen worden, dass Pasolini bestimmte Teile der Quaderni später in seinen Romanen und Erzählungen verwendet hat.6 Die Grenze zwischen journal intime und literarisch-fiktionalem Schreiben ist also in den Einträgen der Quaderni sehr unscharf. Es handelt sich um einen der ersten Texte, in denen sich die Autorschaft Pasolinis zu profilieren beginnt. Der Abschnitt, der hier genauer zu betrachten ist, wird gleichzeitig mit anderen unter dem Titel Pagine involontarie eingeführt und beschreibt eine Jugendphantasie: die – auch erotische – Verwirrung angesichts des Gekreuzigten sowie das ›Verlangen, Jesus bei seiner Aufopferung für die anderen Menschen zu imitieren‹. Es handelt sich um eine erste Identifikation Pasolinis mit Christus und insofern um eine Art archetypischer Szene, die den späteren literarischen und künstlerischen Entwicklungen ein Muster vorgibt: Poi nelle mie fantasie apparve espressamente il desiderio di imitare Gesù nel suo sacrificio per gli altri uomini, di essere condannato e ucciso benché affatto innocente. Mi vidi appeso alla croce, inchiodato. I miei fianchi erano succintamente avvolti da quel lembo leggero, e un’immensa folla mi guardava. Quel mio pubblico martirio finì col divenire un’immagine voluttuosa: e un po’ alla volta fui inchiodato col corpo interamente nudo. Alto, sopra il capo dei presenti – compresi di venerazione, con gli occhi fissi su di me – io mi sentivo spasimare di fronte a un cielo turchino e immenso. Con le braccia aperte, con le mani e i piedi inchiodati, io ero perfettamente indifeso, perduto.7

_____________ 5 6

7

Vgl. Naldini, Nico: Pasolini, una vita. Torino 1989, S. 131-137; Schwartz, Barth David: Pasolini Requiem. A cura di Paolo Barlera. Venezia 1995, S. 342-350. Vgl. Note e notizie sui testi. A cura di Walter Siti e Silvia De Laude; in: Pasolini, Pier Paolo: Romanzi e racconti. A cura di Walter Siti e Silvia De Laude con due saggi di Walter Siti. Cronologia a cura di Nico Naldini. Volume I: 1946-1961. Milano 1998 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 1625-1744, hier S. 1658-1661. Pasolini, Pier Paolo: [Dai »Quaderni rossi«] (Eintrag vom 2. August [1946]). In: Pasolini, Pier Paolo: Romanzi e racconti. A cura di Walter Siti e Silvia De Laude con due saggi di Walter Siti. Cronologia a cura di Nico Naldini. Volume I: 1946-1961. Milano 1998 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 131-157, hier S. 136 (›Dann erschien in meinen Phantasien ausdrücklich das Verlangen, Jesus in seiner Opferung für die anderen Menschen nachzuahmen, verurteilt und getötet zu werden, obwohl ich tatsächlich unschuldig war. Ich sah mich am Kreuz aufgehängt, festgenagelt. Meine Lenden waren knapp verhüllt von jenem leichten Streifen Stoff, und eine unermessliche Menge schaute mich an. Dieses mein öffentliches Martyrium wurde am Ende zu einem wollüstigen Bild: und nach und nach wurde ich mit vollständig nacktem Körper festgenagelt. Hoch oben, das Haupt über den Anwesenden – gebannt in Bewunderung, die Augen auf mich geheftet – fühlte ich mich schmachten vor einem tiefblauen und unendlichen Himmel. Mit offenen Armen, die Füße festgenagelt, war ich vollkommen wehrlos, verloren‹).

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Verschiedene Aspekte in diesem Zitat sind der Beachtung wert, insbesondere das Streben nach einer imitatio Christi, die als Selbstopferung eines Unschuldigen für die anderen Menschen verstanden wird. Wichtig für Pasolini ist aber auch der sinnlich-wollüstige Charakter dieses ›öffentlichen Martyriums‹, der mit der Selbstausstellung des nackten, unverschleierten Körpers für die Anwesenden zusammenhängt. Schon hier zeichnet sich der unschuldige Christus Pasolinis ab, der − Gian Carlo Ferretti hat das bemerkt – wie der ›Träger einer blasphemischen Religion der Diversität‹ auftritt.8 Die vielseitigen Implikationen dieser Identifikation erscheinen sowohl in vorangegangenen als auch in nachfolgenden Werken Pasolinis deutlicher markiert und definiert. Es geht also darum, »textuelle« und »paratextuelle Inszenierungspraktiken«9 – wobei zu diesen im Fall Pasolinis eindeutig auch mediale Selbstdarstellungsstrategien zählen – in ihrer funktionalen Verschränkung und Relationalität zu untersuchen. Anders gesagt: Die Verwendung der Figur Christi hat an signifikanten Punkten des Werkes immer auch eine identifikatorische Funktion für den Autor Pasolini. So ist das Aussage-Subjekt zugleich textuelle Instanz und Stimme in einem literarischen Diskussionszusammenhang, in dem Pasolini sich als Autor kontinuierlich neu positioniert. Von den Quaderni rossi ausgehend kann man die Verwendung und Variation dieses Motivs in verschiedenen Phasen von Pasolinis künstlerischem Schaffen verfolgen. Wenn im journal intime aus dem Jahr 1946 die archetypische Szene der Identifikation mit Jesus in einem Text erscheint, dessen fiktionaler Charakter noch nicht eindeutig erkennbar ist, findet man in anderen Texten die Konturen des Autors Pasolini stärker ausgeprägt. Das ist zum Beispiel der Fall in Pasolinis Lyrik, in der seit der ersten Sammlung im friulanischen Dialekt – Poesie a Casarsa (1942) – die Figur Jesus als Identifikationsfläche auftaucht. Ein in diesem Sinn charakteristisches Gedicht ist La domenica uliva (in der Übersetzung von Christian Filips Dër Sunntac Uliva). Es ist als Dialog zwischen Mutter und Sohn strukturiert und zwar nach dem Schema eines geistlichen Spiels,10 das mit _____________ 8 9

10

Ferretti: Il ›personaggio‹ Pasolini (Anm. 1), S. 676 (»portatore di una blasfema religione della diversità«). Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese; in: Jürgensen, Christoph/Kaiser, Gerhard (Hrsg.): Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Heidelberg 2011, S. 9-30, spez. S. 11-14, hier S. 11. Vgl. Note e notizie sui testi. A cura di Walter Siti, Maria Careri, Annalisa Comes e Silvia De Laude; in: Pasolini, Pier Paolo: Tutte le poesie. A cura e con uno scritto di Walter Siti. Saggio introduttivo di Fernando Bandini. Cronologia a cura di Nico Naldini. Tomo primo. Milano 2003 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 1453-

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der expliziten Selbstidentifikation des Sohnes mit Christus und seinem Martyrium am Kreuz endet.11 Andere Variationen der Christus-Identifikation finden sich in der späteren Sammlung L’Usignolo della Chiesa cattolica (›Die Nachtigall der katholischen Kirche‹). Der 1958 erschienene Band enthält auch ältere Texte, die bis in die Jahre im Friaul 1944-48 zurückreichen. Pasolini hatte damals ein ›kleines Buch mit religiösen Meditationen‹12 geplant, das erst in den 50er Jahren im Usignolo zur endgültigen Form fand. Im Buchtitel wird ein in der provenzalischen Literatur häufiges Motiv aufgegriffen: die Nachtigall, die auch in der italienischen Tradition von Petrarca bis Pascoli präsent ist. Außerdem verweist der Titel mit seiner Anspielung auf den Gesang der Nachtigall der katholischen Kirche auf eine religiöse Thematik: die liturgische Symbolik; die Gegensätze zwischen Unschuld und Sünde, Schuld und Reue sind im Usignolo13 in der Tat leitmotivisch zu verfolgen. Diese Religiosität ist dennoch – wie von seinem Autor öffentlich erklärt14 – weit von der institutionellen Religion entfernt und hat durchaus häretische und _____________ 11

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14

1774, hier S. 1472; ebenso Asor Rosa, Alberto: Scrittori e popolo. Saggio sulla letteratura populista in Italia. Roma 1965, S. 447; Rimini: La ferita e l’assenza (Anm. 4), S. 17. »[…] Jo soi còme che tu mi às fat, Crist: | ciànt e plànt ’a son ’na ròbe in tè. | Ta la tò crôs inclàudimi, Crist: | jo soi sènze remèdi tò.«; »Io sono come tu mi hai fatto, Cristo: canto e pianto sono una cosa sola in te. Sulla tua croce inchiodami, Cristo; io sono senza rimedio tuo.« (›Ich bin wie Du mich gemacht hast, Christus: Gesang und Weinen sind in Dir eine einzige Sache. Nagle mich an Dein Kreuz, Christus: Ich bin ohne Ausweg Dein‹, Pasolini, Pier Paolo: La domenica uliva (1941); in: Pasolini, Pier Paolo: Tutte le poesie. A cura e con uno scritto di Walter Siti. Saggio introduttivo di Fernando Bandini. Cronologia a cura di Nico Naldini. Tomo primo. Milano 2003 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 183-193, hier S. 191). Diese Verse wurden in der Folge von Pasolini gestrichen, als er Poesie a Casarsa stark modifiziert in La meglio gioventù (1954) und in La nuova gioventù (1975) publizierte. Christian Filips, der den Versuch unternahm, Pasolinis Friulanischen Dialekt in einer aus mittelhochdeutschen und lutherischen Elementen sowie aus verschiedenen Dialekten zusammengesetzten Sprache wiederzugeben, hat nur die neue Fassung von La domenica uliva übersetzt (vgl. Pasolini, Pier Paolo: Dunckler Enthusiasmo. Friulianische Gedichte. Übersetzt von Christian Filips. Basel 2009, S. 96-121). Pier Paolo Pasolini a Luciano Serra, 26 gennaio 1944; in: Pasolini, Pier Paolo: Vita attraverso le lettere. A cura di Nico Naldini. Torino 1994, S. 77-79, hier S. 78 (»un libretto di meditazioni religiose«). Vgl. Santato, Guido: L’usignolo della Chiesa Cattolica; in: Santato, Guido: Pier Paolo Pasolini. L’opera. Vicenza 1980, S. 113-143, hier S. 114; sowie Bazzocchi, Marco Antonio: Usignolo della Chiesa Cattolica (L’); in: Bazzocchi, Marco Antonio: Pier Paolo Pasolini. Milano 1998, S. 203-205. In einem Zeitungsartikel, der als Beispiel für eine epitextuelle Inszenierungspraktik gesehen werden kann, wird die Sammlung von Pasolini offen als ›häretisch‹ bezeichnet; vgl. Pasolini, Pier Paolo: Marxismo e Cristianesimo [1964]; in: Pasolini, Pier Paolo: Saggi sulla politica e sulla società. A cura di Walter Siti e Silvia De Laude con un saggio di Piergiorgio Bellocchio. Cronologia a cura di Nico Naldini. Milano 1999 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 786-824, hier S. 787.

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sakrilegische Konnotationen. Exemplarisch dafür ist das Gedicht La Passione (›Die Passion‹),15 das wie schon im oben zitierten Eintrag aus den Quaderni rossi eine starke ›Erotisierung‹16 des Leibs des gekreuzigten Christus aufweist. Relevant für die Identifikationsstrategien mit Jesus ist La Crocifissione (›Kreuzigung‹). Eingangs fällt ein paratextuelles Element auf. Pasolini wählt als Motto des Gedichts einen Vers aus dem ersten PaulusBrief an die Korinther: »Ma noi predichiamo Cristo crocefisso: scandalo pe’ Giudei, stoltezza pe’ Gentili« (›Doch wir predigen Christus den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit‹). In einer der letzten Strophen formuliert Pasolini das Motiv der imitatio Christi, indem er mit der Provokation des Skandals einen Aspekt integriert, den das Paulus-Motto erwähnt:17 Bisogna esporsi (questo insegna il povero Cristo inchiodato?), la chiarezza del cuore è degna di ogni scherno, di ogni peccato di ogni piú nuda passione... [...] Noi staremo offerti sulla croce, alla gogna, tra le pupille limpide di gioia feroce, scoprendo all’ironia le stille del sangue dal petto ai ginocchi, miti, ridicoli, tremando d’intelletto e passione nel gioco del cuore arso dal suo fuoco, per testimoniare lo scandalo.18

Wie in den Quaderni rossi nimmt also Pasolini wieder die Figur eines sinnlichen Christus auf und liefert darüber hinaus eine persönliche Interpreta_____________ 15

16 17 18

Vgl. Pasolini, Pier Paolo: La Passione; in: Pasolini, Pier Paolo: Tutte le poesie. A cura e con uno scritto di Walter Siti. Saggio introduttivo di Fernando Bandini. Cronologia a cura di Nico Naldini. Tomo primo. Milano 2003 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 388-391. Santato: L’usignolo della Chiesa Cattolica (Anm. 13), S. 118. Vgl. Jori, Giacomo: Pasolini. Torino 2001, S. 40-41. »Man muß sich aussetzen (weist darauf | der arme, angenagelte Christus?), | die Klarheit des Herzens verdient | jeden Hohn, jede Sünde | jegliche nackteste Passion ... [...] | Wir werden ausgesetzt sein am Kreuz, | am Pranger, den klaren Blicken wilder Freude, | dem Hohn enthüllen die Tropfen des Bluts | von der Brust auf das Knie, | sanft, lächerlich, zitternd | von Intellekt und Leidenschaft im Spiel | des von seinem Feuer verbrannten Herzens, | um zu zeugen vom Ärgernis« (Pasolini, Pier Paolo: La Crocifissione/Kreuzigung; in: Pasolini, Pier Paolo: Die Nachtigall der katholischen Kirche. Gedichte. Italienisch/Deutsch. Aus dem Italienischen von Toni und Bettina Kienlechner. München – Zürich 1989, S. 148-151).

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tion des Martyriums am Kreuz. Zu Beginn der letzten Strophe wird das Martyrium auf ein ›noi‹ ausgeweitet, in dem sich Christus, das lyrische Subjekt und die Angesprochenen verbinden. Die Kreuzigung vor einem Publikum, das Jesus und diejenigen verhöhnt, die ihm bis zur Kreuzigung nachfolgen, wird hier als ›Notwendigkeit, sich auszusetzen‹ präsentiert, um vor der Gemeinschaft den Skandal zu bezeugen. Bereits an diesem Punkt kann man die Perspektive über die Analyse spezifisch textueller Inszenierungspraktiken hinaus erweitern und die Stellung des Autors Pasolini in seinem kulturellen und sozialen Kontext untersuchen. Das so interpretierte christologische Modell wird von Pasolini auch als Vorbild für sein Selbstverständnis und seine Selbstdarstellung als Autor in der Öffentlichkeit herangezogen. Wie Ferretti betont, ist der Skandal eine der Hauptinszenierungsstrategien des Autors Pasolini: Indem er skandalisiert, steigere er ›Prestige, Charisma und Erfolg‹.19 Pasolini musste sich bekanntlich während seiner Lebenszeit 33 Prozessen stellen (einigen infolge von Skandalen, die eigene Werke hervorgerufen hatten). Sie könnten, so Ferretti, auf das Agieren der öffentlichen Figur Pasolini zurückgeführt werden; die Konstitution dieser öffentliche Figur sei geprägt vom ›ursprünglichen Motiv eines anderen Christus, der schamlos der Verehrung und dem Hass dargeboten wird, sowohl als Opfer als auch als Rebell‹.20 Einer dieser Prozesse verdient insofern Beachtung, als darin das Zusammentreffen von Strategien der Autorinszenierung und skandalisierten Reaktionen der Öffentlichkeit zu beobachten ist. Vor diesem Hintergrund kommt auch das Kino als diejenige Kunstform in den Blick, die Pasolini seit Anfang der 60er Jahre intensiv praktiziert. Der Prozess betrifft den Kurzfilm La ricotta (Der Weichkäse), in dem es signifikanterweise um die Dreharbeiten an einem Film über das Leben Christi geht. Zu erwähnen sind zuerst einige Daten: Am 1. März 1963 wird im Corso, einem Kino in Rom, aufgrund einer Anzeige wegen ›Verunglimpfung der Staatsreligion‹ die Abendvorstellung von La ricotta unterbrochen. Der Prozess endet mit der Verurteilung Pasolinis zu vier Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung.21 Wie der Autor in einem Interview erläutert hat, kamen zur Verurteilung noch eine skandalisierte öffentliche Reaktion und in Bezug auf _____________ 19 20 21

»[…] del suo prestigio, charisma e successo […]« (Ferretti: Il ›personaggio‹ Pasolini (Anm. 1), S. 677). »[…] motivo originario di un Cristo diverso, impudicamente offerto alla venerazione e all’odio, sia in quanto vittima sia in quanto ribelle.« (Ferretti: Il ›personaggio‹ Pasolini (Anm. 1), S. 681). Vgl. Pasolini: cronaca giudiziaria, persecuzione, morte. A cura di Laura Betti. Milano 1978, S. 154-164.

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seine Person ›für zwei oder drei Jahre [...] eine Art unvorstellbare Verfolgung‹ hinzu.22 Pasolini ist sowohl Drehbuchautor als auch Regisseur von La ricotta, der dritten Episode des gesellschaftskritischen Episodenfilms RoGoPaG, an dem auch Jean-Luc Godard, Roberto Rossellini und Ugo Gregoretti als Regisseure beteiligt waren. Um die Sujetwahl des Kurzfilms zu verstehen, gilt es auf einen weiteren Aspekt hinzuweisen: auf die Gleichzeitigkeit einer – mit Pasolinis eigenen Worten – ›Inspiration religiöser oder jedenfalls irrationaler Art‹23 und der seit etwa 1950 immer bewussteren Annäherung an den Marxismus – das letzte Gedicht des Usignolo hat den verräterischen Titel La scoperta di Marx. Diese ideologische Dimension bestimmt auch die Arten und Formen, die das christologische Motiv im weiteren Werk Pasolinis annimmt: Christus wird mit dem Subproletariat an den Rändern der Gesellschaft identifiziert, das aus neuen, nun nicht mehr heiligen Märtyrern besteht. Eine der Hauptfiguren des Filmes La ricotta ist – neben der eines intellektuellen Regisseurs, den Orson Welles verkörpert – der ausgehungerte Proletarier Stracci, der einen der Schächer spielt und im Film alle Stationen der Passion Christi vom letzten Abendmahl bis zum Tod am Kreuz durchläuft.24 Die Passionsgeschichte ist allem Anschein nach der Urtext, auf den sich das Drehbuch von La ricotta bezieht. Überlagert wird sie von ›einer marxistischen Umschreibung der Geschichte der Erniedrigten, die, wie Stracci, der vernichtenden Logik des Kapitals geopfert werden‹.25 Auch in diesem Fall ist eine von Pasolini sehr gezielt eingesetzte Strategie der Autor-Inszenierung zu beobachten. Dem Film ist eine Texttafel vorangestellt, die als programmatischer Vorsatz und peritextuelle Selbstinszenierung eine Erklärung des Autors Pasolini präsentiert. Es handelt sich um eine Inszenierungspraxis, die stark performative Akzente aufweist, da der Drehbuchautor und Regisseur den folgenden Text vorliest: Non è difficile prevedere per questo mio racconto dei giudizi interessati, ambigui, scandalizzati. Ebbene io voglio qui dichiarare che, comunque si prenda La ricotta,

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»[…] per due o tre anni [...] una specie di persecuzione inimmaginabile.« (Pasolini, Pier Paolo: Pasolini su Pasolini. Conversazioni con Jon Halliday [1968-1971]; in: Pasolini, Pier Paolo: Saggi sulla politica e sulla società. A cura di Walter Siti e Silvia De Laude con un saggio di Piergiorgio Bellocchio. Cronologia a cura di Nico Naldini. Milano 1999 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 1283-1399, hier S. 1322). Pasolini: Marxismo e Cristianesimo (Anm. 14), S. 787. Vgl. Murri, Serafino: Pier Paolo Pasolini. Milano 2003, S. 40. Erminia Passannanti spricht von einer »riscrittura in chiave marxista della storia degli umili, sacrificati, come Stracci, alla divorante logica del Capitale« (Passannanti, Erminia: Il Cristo dell’eresia: Rappresentazione del sacro e censura nei film di Pier Paolo Pasolini. Novi Ligure 2009, S. 37).

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la storia della Passione – che indirettamente La ricotta rievoca – è per me la più grande che sia mai accaduta, e i Testi che la raccontano, i più sublimi che siano mai stati scritti.26

Dass eine skandalisierte Reaktion des Publikums auf La ricotta wahrscheinlich und absehbar war, hat der Prozess wegen Verunglimpfung der Religion dann ja auch bestätigt. Zu den skandalträchtigsten Elementen des Films La ricotta gehört, dass der Proletarier Stracci in der Rolle eines der Schächer für Pasolini einen neuen Christus verkörpert. Es ist also diese Hauptfigur, die im plot des Films unmittelbar mit Jesus identifiziert wird. Die zitierte peritextuelle Selbstinszenierung ist dennoch von großem Belang, weil zur Eröffnung des Films der Autor selbst programmatisch betont, dass der Film auf die Passion Christi Bezug nimmt, die er als das ›größte Ereignis‹ bezeichnet, das je geschehen sei. Zu bemerken ist insbesondere, dass ein wichtiger Aspekt des christologischen Modells nach Pasolini – nämlich das öffentliche und bewusste Bezeugen des Skandals – dem Autor von La ricotta zugeschrieben wird. Das Leben Christi steht auch im Mittelpunkt eines weiteren Films von Pasolini, der bereits während der Dreharbeiten von La ricotta geplant wurde: Il Vangelo secondo Matteo (›Das Erste Evangelium – Matthäus‹). Nach der Affäre um den Kurzfilm von 1963 hat Pasolini das Drehbuch des Vangelo in enger Zusammenarbeit mit Exponenten der katholischen Kultur in Italien verfasst.27 Erzählt wird das Leben Christi nach dem Evangelium des Matthäus, den Pasolini in einem Interview als den ›revolutionärsten‹28 unter den Evangelisten bezeichnet hat. Wichtig ist dabei, dass innerhalb des ästhetischen Systems des Films wiederum eine Überblendung der religiösen Thematik mit Elementen erfolgt, die für die Selbstdarstellung des Autors und Künstlers Pasolini zentral sind. Betrachtet werden soll hier eine Szene, in der der Film vom ursprünglichen Konzept abweicht: Das Drehbuch behält die Anwesenheit Marias an den ausdrücklich im Matthäus-Evangelium genannten Orten bei, wobei _____________ 26

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Note e notizie sui testi. A cura di Walter Siti e Franco Zabagli; in: Pasolini, Pier Paolo: Per il cinema. A cura di Walter Siti e Franco Zabagli con due scritti di Bernardo Bertolucci e Mario Martone e un saggio introduttivo di Vincenzo Cerami. Cronologia a cura di Nico Naldini. Tomo secondo. Milano 2001 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 3033-3238, hier S. 3059 (›Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass meine Geschichte interessierte, zwiespältige und skandalisierte Urteile hervorrufen wird. Jedenfalls möchte ich hier erklären, dass unabhängig davon, wie La ricotta aufgefasst werden wird, die Geschichte der Passion, von der La ricotta indirekt handelt, für mich das größte Ereignis darstellt, das sich je ereignet hat und dass die Texte, die davon berichten, das Erhabenste sind, was je geschrieben wurde‹). Vgl. Subini: La necessità di morire (Anm. 3), S. 48-63. »[…] il più rivoluzionario […]« (Pasolini: Pasolini su Pasolini. Conversazioni con Jon Halliday (Anm. 22), S. 1343).

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in den Szenen, in denen Jesus die via crucis durchläuft und dann ans Kreuz genagelt wird, in der Masse der Zuschauer nur die ›Marien‹29 erkennbar sind. Im Film kann man dann eine substanzielle Veränderung beobachten: Wie im Johannes-Evangelium hat Maria eine zentrale Rolle in der Sequenz der Kreuzigung.30 Bemerkenswert daran ist, dass Pasolini die Rolle der Maria von seiner eigenen Mutter Susanna Pasolini spielen lässt. Dadurch wird eine Interferenz zwischen dem fiktionalen System des Films und der faktischen Referenz auf Pasolinis Biographie geschaffen. Die Mutter Pasolinis rezitiert am Fuß des Kreuzes die Verzweiflung Marias über Passion und Martyrium des Sohnes Christus, der für die Zuschauer des Films zu einer Projektionsfläche für den Autor Pasolini werden kann. Es ist also die Inszenierung des Autors als ein Christus ähnliches Opfer (und nicht die religiöse Thematik als solche), die es hervorzuheben gilt. Es wurde gezeigt, dass sich eine textuelle und auktoriale Instanz Eigenschaften zuschreibt, die eine bestimmte Deutung Jesu Christi aufrufen oder implizieren: das Martyrium und die öffentliche Opferung trotz der eigenen Unschuld; die Notwendigkeit, sich dem Hohn der anderen in der eigenen Menschlichkeit auszusetzen und einen sozialen ›Skandal zu bezeugen‹. In dieser Verschiebung von der religiösen zur künstlerischen Sphäre, die sich in der Selbst-Definition des Subjekts im Gedicht ebenso zeigt wie in Pasolinis Selbstinszenierungen als Autor in der Öffentlichkeit, liegt die Relevanz des Falls Pasolini für eine Diskussion über das Konzept Kunstreligion im Italien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Pasolinis Tod – ein selbstinszeniertes Martyrium? Auch in der Pasolini-Rezeption gibt es Aspekte, die Elemente seiner Selbstinszenierungen aufnehmen und akzentuieren. Besonders eindrücklich wird das, wenn man den Deutungen und Spekulationen nachgeht, die sich in der Folge von Pasolinis Tod entwickelt haben. Am 1. November _____________ 29

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Vgl. Il Vangelo secondo Matteo (Szene Nr. 120-123); in: Pasolini, Pier Paolo: Per il cinema. A cura di Walter Siti e Franco Zabagli con due scritti di Bernardo Bertolucci e Mario Martone e un saggio introduttivo di Vincenzo Cerami. Cronologia a cura di Nico Naldini. Tomo primo. Milano 2001 (Pier Paolo Pasolini. Tutte le opere. Edizione diretta da Walter Siti), S. 642-645. Vgl. Gioviale, Fernando: Una madre in fuga nel Vangelo secondo Matteo: modello letterario, sceneggiatura, film; in: Contributi per Pasolini. A cura di Giuseppe Savoca. Firenze 2002, S. 63-96, hier insbesondere S. 93-94.

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1975 ist Pasolini unter mysteriösen Umständen gewaltsam ums Leben gekommen. Fotos seiner mehrfach überfahrenen Leiche sind in den nächsten Tagen in der italienischen Presse veröffentlicht worden31 und haben maßgeblich zu einer neuen Ikonographie Pasolinis beigetragen: der ›Ikonographie eines ausgesetzten und gemarterten ›Körpers‹, der ›massiv die Räume der öffentlichen Kommunikation und Vorstellungswelt‹32 besetzt. Die Verurteilung des Strichjungen Pino Pelosi hat den Fall nie abschließen können. Nach wie vor gibt es die Spekulation, dass der Mord politische Hintergründe hatte und dass Pasolini, der mit seinen öffentlichen Polemiken politisch unbequem war, im Auftrag der Geheimdienste gewaltsam beseitigt wurde. Vertreten wird aber auch die These eines inszenierten Selbstmords, den Pasolini in seinem Werk präfiguriert habe. In provokatorischer Absicht hat sie zuerst Enzo Siciliano in seiner Biographie Vita di Pasolini (1978)33 formuliert; vom Maler und Schriftsteller Giuseppe Zigaina, den eine lebenslange Freundschaft mit Pasolini verband, ist sie dann aber aufgegriffen und weitergeführt worden. 1984 hat Zigaina in der Stanford Italian Review den Beitrag Total Contamination in Pasolini34 veröffentlicht, worin er für die ›unentwirrbare Verknüpfung seines Lebens und seines Werkes‹35 plädiert und in Schriften Pasolinis (wie in der Erzählung Gas und in La Divina Mimesis) die bewusste Vorwegnahme seines Todes ausmachen will (monographische Anschlussstudien wie Pasolini e la morte (1987) oder Hostia. Trilogia della morte di Pasolini (1995) haben die These später vertieft). Im Epilog der letzten Untersuchung kommt Zigaina zum Ergebnis, dass Pasolinis Tod ein ›Opfertod (Martyrium, Zeugenschaft) mit dem Ergebnis einer (rückwirkenden) Aufwertung des Werkes‹ sei.36 Im Jahr 2006 fasste Peter Kammerer in einem Gespräch mit Zigaina dessen These wie folgt zusammen: _____________ 31 32 33 34

35 36

Vgl. insbesondere die Fotoserie, die mehrere Jahre nach Pasolinis Tod in L’Espresso erschien: Rodotà, Carla: Massacro di un poeta; in: L’Espresso vom 11. Februar 1979, S. 1821. Vgl. Miconi: Pier Paolo Pasolini. La poesia, il corpo, il linguaggio (Anm. 2), S. 15. »Pasolini chiese a se stesso di morire? Il suo assassinio fu un suicidio per delega?« (Siciliano, Enzo: Vita di Pasolini. Terza edizione. Milano 1979, S. 389). Zigaina, Giuseppe: Total Contamination in Pasolini. Translated by Giuseppe Zigaina and James Carolan; in: Stanford Italian Review 2 (1984), S. 267-285. Unter dem Titel La contaminazione totale wurde der Aufsatz später publiziert in Zigaina, Giuseppe: Pasolini e la morte. Mito alchimia e semantica del ›nulla lucente‹. Venezia 1987, S. 17-39 und auch ins Deutsche übersetzt (vgl. Die vollkommene Kontamination in Zigaina, Giuseppe: Pasolini und der Tod. Mythos, Alchimie und Semantik des ›glänzenden Nichts‹. Eine Studie. Aus dem Italienischen von Bettina Kienlechner. München – Zürich 1989, S. 15-36). Zigaina: Die vollkommene Kontamination (Anm. 34), S. 27. Vgl. Zigaina, Giuseppe: Hostia. Trilogia della morte di Pier Paolo Pasolini. Venezia 1995, S. 449.

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Giovanna Cordibella

Der Tod Pasolinis ist Werk eines Autors. Das bedeutet, dieser besondere Tod wurde gedanklich konzipiert, im schriftlichen, filmischen und theatralischen Werk angekündigt, dann organisiert und schließlich in einer mythisch-religiösen Darstellung auf dem ›Spielfeld‹ in Ostia realisiert. Er ist integraler Teil der Pasolini’schen Sprache und Schlüssel zum gesamten Werk, das erst durch diesen als Opfer vollzogenen ›kulturellen Ritus‹ seinen vollen Sinn erhält.37

Auf dieser Basis formuliert Zigaina auch Hypothesen zum Zeitpunkt und zum Ort des Mordes. Als Beispiel sei hier ganz kurz eine dieser Spekulationen angeführt: Ort des Verbrechens ist Ostia, genauer: der alte Wasserflughafen an der Mündung eines Tiberarms. Da Ostia nicht nur ›Mündung‹, sondern auch ›Hostie‹ bedeutet,38 sei dies ein Hinweis auf Pasolinis strategische Wahl des Ortes seiner lang geplanten Opferung. Weitere Details müssen hier nicht angeführt werden. Wichtig ist stattdessen Folgendes: Die Thesen Zigainas sind symptomatisch für die offenen Fragen und Weiterungen, die mit Pasolinis Tod verknüpft sind. Dieser, so wurde insinuiert, sei der letzte Akt der Inszenierung eines Autors, in der künstlerische und religiöse Elemente eine funktionale Verbindung eingehen. Auch solche rezeptionsgeschichtlichen Aspekte machen aus Pasolini einen charakteristischen Fall für die Aktualisierung des Verhältnisses von Kunst und Religion im Italien der Gegenwart.

_____________ 37

38

Auf der Feuerlinie. Pasolinis Zeichen von Leben und Tod. Peter Kammerer im Gespräch mit Giuseppe Zigaina; in: P.P.P. – Pier Paolo Pasolini [anlässlich der Ausstellung P.P.P. – Pier Paolo Pasolini und der Tod, 17. November 2005 – 5. Februar 2006, Pinakothek der Moderne, München]. Herausgegeben von Bernhart Schwenk und Michael Semff unter Mitarbeit von Giuseppe Zigaina. Ostfildern-Ruit 2005, S. 156-172, hier S. 156. Vgl. Zigaina: Hostia (Anm. 36), S. 289-293.

GERALD STIEG

Der österreichische Katholik Hermann Nitsch 1960, im Alter von 22 Jahren, hat Nitsch in einem knappen Manifest die Grundthesen des Rituals seines O.M. Theaters formuliert, das er von Anbeginn als ›Gesamtkunstwerk‹ ansah: MANIFEST 1960 die existenzsacrale malerei angestrebt ist die konsequente sacralisierung der kunst und damit eine tiefgehende existenzvergeistigung durch welche der mensch der reine priester des seins wird nicht wie bisher das unappetitlichste vieh unter den tieren in der kunst liegt eine mythische verheissung der intellekt geborene mythos das züchten psychologischer berauschung, das wissenschaftliche auskosten meditativer zustände, die ritualisierung des gesamten lebensablaufes ist die vergeistigte sacramenthafte umsetzung der lust des fleisches in die zwecklosigkeit des urspiels der seinsmystik die seinstrunkenheit die erlösung durch den jubelritus des lebensfestes die kunst wird sacramentgleiche manifestation der existenz sein das orgien mysterien theater1

Ich weiß nicht, ob ich der Richtige bin, um über das OMT von Hermann Nitsch zu sprechen. Ich gehöre, fürchte ich, zu jenen »sinnlich unbegabten«, »in der lauheit ›geborgenen‹«, »enggesteckten kaufmannsphilosophen«, denen die »lebensekstase« und damit das Sensorium fehlt, um dank diesem Theater aus seinem lauen und trägen Nichtsein aufzuerstehen und _____________ 1

Nitsch, Hermann: manifest, 1960; in: Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater. Manifeste. Aufsätze. Vorträge. Salzburg 1990, S. 7.

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Gerald Stieg

in einen (be-)trunkenen Seinsjubel auszubrechen.2 Ich gestehe, dass ich einem Programm nicht zu folgen mag, in dem es um nichts weniger geht als um eine »auflösung der ordnungen, der kleinlichkeit, der sprache, der rationalität, der moral und des gegensatzes von leben und tod«.3 Ich gehöre zu denen, die dem »wirklich bösen der lauheit« verfallen sind und es vorziehen, folgendes »angebot« auszuschlagen: ein breiter trunkenmachender strom, die kraft des existierens, die millionen milchstrassen bewegt und nichts mit unserer sündigen trägheit zu tun hat, die verweilen will in menschheit und staatlicher ordnung, die herrliche anarchie der schöpfung.

Jeder Laue, der ein bisschen verweilen möchte, ist also von vornherein zusammen mit Faust aus dem Reich des Dionysos »ausgespien«. Nitschs erklärte Absicht ist es, das »menschliche bereit (zu) machen zur aufpeitschung der sinne, zur orgiastik des sadomasochistischen grundexzesses, bereit zu machen für eine Epiphanie«: »der gott dionysos zeigt sich, jener gott dionysos, der so sehr dionysische Aufwallung ist, dass er sich selbst frisst, dass er von der Aufwallung zerstört, zerrissen wird«.4 Die Begriffe, die in der Theorie Nitschs ununterbrochen wiederkehren, lauten: ›sadomasochistische Zerreissung‹, ›Grundexzess(erlebnis)‹, ›Triebdurchbruch (bereitschaft)‹, ›exzessive ekstatische Staulösung‹, ›sadomasochistische Aggressionsbedürfnisse‹, ›rückhaltlose Triebbefriedigung‹, ›orgiastisch‹, kurz ›dionysischer Exzess‹.5 Obwohl Nitsch ständig mystisch-ekstatische Erlebnisse heraufbeschwört, reklamiert er allen Ernstes für sein OMT den Status einer ›Wissenschaftlichkeit‹, die weitgehend ein Synkretismus aus Freud und Jung ist. Die »coincidentia oppositorum« und das »Mysterium Coniunctionis«6 sind allgegenwärtig, denn diese ›Wissenschaft‹ ist zugleich religiöser Kult. Diese Kunstreligion hat heute Anhänger und Apostel in aller Welt; Vieles gemahnt an den Status einer Sekte.7 _____________ 2 3 4 5 6 7

Jaschke, Gerhard (Hrsg.): Reizwort Nitsch. Das Orgien Mysterien Theater im Spiegel der Presse 1988-1995. Wien 1995, S. 8. Jaschke: Reizwort Nitsch (Anm. 2), S. 8. Nitsch, Hermann: das orgien mysterien theater II. theoretische schriften. partiturentwurf des 6 tage spieles. Neapel u. a. 1976, passim (Zitate dieser Art finden sich in allen Schriften von Nitsch zu wiederholten Malen). Nitsch: das orgien mysterien theater II (Anm. 4), insbesondere S. 43, 63 und 134. Nitsch: das orgien mysterien theater II (Anm. 4), S. 171f. − Das Mysterium Coniunctionis (›solve et coagula‹) überträgt den alchemistischen Prozess auf die Psychologie. Andererseits entbehrt die Nitsch-Gemeinschaft nicht gewisser komischer Züge, z. B. in der Einladung zum Pfingstfest 2011 in Prinzendorf: ›procession in the fields and vineyard. Stop over in the kellergasse ebersdorf and eselstadt. Together with the food at the heurigen will be offered organic wine from prinzendorf‹.

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I. Alte Meister Empathie (also Identifikation) ist nicht unbedingt nötig, um ein System und sein Funktionieren zu begreifen. Nitsch hat seine künstlerischen ›Aktionen‹ mit einem riesigen, äußerst anspruchsvollen historischtheoretischen Apparat versehen und dazu ›Partituren‹ entworfen, deren Umsetzung in theatralische Aktion nur zu einem winzigen Prozentsatz realisierbar ist. Hier klafft ein unüberwindlicher Widerspruch zwischen Theorie und Praxis auf, da die überbordende sadomasochistische Phantasie des ›Grundexzesses‹ doch nur im (sonst verachteten) Wort, also auf dem Papier, vorstellbar ist.8 Um die Sache von vornherein auf den springenden Punkt zu bringen: Die verwirklichte Aktion würde notgedrungen Strafverfolgung für eine Reihe von schweren Delikten bzw. Verbrechen (z. B. Massenmord, Leichenschändung und Tierquälerei) nach sich ziehen. Selbst die auf’s Akzeptable reduzierten ›Aktionen‹ Nitschs haben ihm hin und wieder Gerichtsverfahren eingebracht, die nicht wenig zu seiner Bekanntheit beitrugen und eine riesige, wohl dokumentierte Masse journalistischer Reaktionen und polemischer Leserbriefe provozierten.9 Die ekelerregenden Vorgänge (Wühlen in Eingeweiden etc.), deren Ekelhaftigkeit Nitsch gar nicht bestreitet, sind vielleicht Verstöße gegen den guten Geschmack; sie haben auch unzweifelhaft blasphemische Züge für gläubige Katholiken, aber die Schlachtung der Tiere erfolgt niemals durch Künstler, weil der sadistische Akt des Zerreißens an einem fachgerecht (also hoffen wir schmerzlos) geschlachteten Tier vorgenommen wird. Mit anderen Worten: Selbst die provokanteste Aktion ist bereits von der Mimesis angekränkelt, d. h. ist Nachahmung einer Handlung und nicht wie proklamiert die Handlung selbst. Wie sehr Nitsch der aristotelischen Wirkungspoetik der Katharsis verpflichtet ist, zeigt seine chronologisch angeordnete Anthologie von blutigen ›Grundexzess‹-Situationen bei Aischylos, Sophokles (in der Übersetzung Hölderlins), Euripides, Seneca, Mussato, Shakespeare, Corneille, Gryphius, Lohenstein, Voltaire, Heinrich Leopold Wagner, Schiller, Kleist (Penthesilea ist Nitschs bevorzugte Tragödie), Grillparzer, Hebbel, Ibsen, Strindberg, Wilde, Maeterlinck, Hauptmann, Holz/Schlaf, Schnitzler, Hofmannsthal, Kaiser, Goering, Jahnn, O’Neill, Eliot, Brecht, Sartre, Ionesco, Goethe (die lange Reihe endet mit Nitsch). _____________ 8

9

Wieland Schmied bemerkt in seinem Essay Blasphemie oder Theodizee?, dass während des Sechstagespiels »kein Wort gesprochen« wurde: »Hermann Nitsch liebt die Literatur, aber er misstraut dem Wort«; in: nitsch. eine retrospektive. katalog sammlung essl. Klosterneuburg 2003, S. 167. Vgl. dazu die Dokumentation von Jaschke: Reizwort Nitsch (Anm. 2).

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In mancher Hinsicht ist diese Anthologie mit Heiner Müllers knappem Elektratext vergleichbar. Das Insistieren auf der dramatischen Tradition der Gewalt − Nitsch rennt hier wahrhaft offene Türen ein − wird ergänzt durch die Aufzählung und den auszugsweisen Nachdruck musikalischer Partituren vom prototypischen Vorbild Wagner über Kirchenmusik (Messen: Gregorianik, Dufay, Ockeghem, Desprez, Palestrina, Monteverdi, Gabrieli, Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert; Passionen: Schütz, Bach, mit einem Dithyrambus auf ›O Haupt voll Blut und Wunden‹), Oper (Don Giovanni, Tristan, Götterdämmerung, Parsifal, Pelléas et Mélisande, Erwartung, Wozzeck, Oedipus, der Tyrann) − die Traditionsreihe mündet auch hier in Nitsch. Schließlich wird die Symphonik herbeizitiert (Mozarts JupiterSymphonie als Verherrlichung des Lichts, als Fest, ja als Gottwerdung; Beethovens 3., 5., 7. und 9. Symphonie, Bruckners Fünfte und Neunte, Mahlers 9. und 10. Symphonie, zum Beschluss Skriabin (Le poème de l’extase und Prometheus). Mit dieser ästhetischen Rückendeckung wird das OMT Sechs-Tage-Spiel zu nichts weniger als einer Übersteigerung der gesamten abendländischen Tragik und Symphonik: zu einer sechs Tage (sechs Tage und sechs Nächte) dauernden Symphonie in zwölf Sätzen. Kurz: Die gesamte abendländische Kunstproduktion, soweit sie der dionysischen Ekstatik verpflichtet ist, läuft in Nitsch zusammen.10

II. Katholizismus Aber Nitsch begnügt sich nicht mit dem autonomen Bereich der Ästhetik, sondern will bedeutend mehr. Er will die Religion. Aus der chronologischen Aufzählung der Tragödien habe ich einen ›Fremdkörper‹ zunächst ausgeklammert: Zwischen den Bakchen des Euripides und dem König Ödipus von Seneca steht ›Jesus Christus, Passion und Kreuzigung‹. Zitiert werden nach dem ›Evangelium Matthäi‹ Abendmahl und Passion. Darauf folgt auf Lateinisch und Deutsch der liturgische Zentraltext der ›christlichen Messe‹, nämlich die Wandlung und die Kommunion. Der Grundexzess ist dabei der Gottes-Kannibalismus. Was von Presse, Kirche und Publikum als Blasphemie angesehen wurde, nämlich die Einordnung der ›Geschichte Christi‹ in eine ästhetische Tradition und deren religiöse Grundlegung im Dionysos-Kult, ist nicht gerade eine Neuheit. Es genügt _____________ 10

Vgl. Nitsch, Hermann: zur theorie des orgien mysterien theaters. zweiter versuch. Salzburg − Wien 1995, S. 541-49 und S. 650-705.

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hier, die aufklärerische Ironie Lichtenbergs heranzuziehen: Der Eingeborene aus Neuseeland antwortet auf den Vorwurf des Missionars, er sei ein Menschenfresser, mit dem entwaffnenden Argument, die Pfaffen seien Gottesfresser.11 Mir erscheint die Einordnung des Neuen Testaments in den kulturgeschichtlichen Ablauf einerseits als banale Historisierung, andererseits als Versuch, die ästhetischen Exempel auch auf einer religiösen Ebene lesbar zu machen. Eines steht fest: Nitsch ist auf den katholischen Ritus fixiert. Was an seinen Aktionen am stärksten wirkt, ist die Allgegenwart der Kultgegenstände des Katholizismus (Messgewänder, Kelche, Monstranzen). Der Skandal rührt daher, dass diese Utensilien symbolischer Handlungen mit der dahinter liegenden materia prima (vor allem dem Fleisch und Blut, von dem Nitsch selbst sagt, es sei für ihn ›ein besonderer Saft‹, aber auch dem Sperma) konfrontiert, also entsymbolisiert und entsublimiert werden. Ich scheue mich hier nicht, in Analogie zu Friedrich Heers Analyse Der österreichische Katholik Adolf Hitler vom österreichischen Katholiken Nitsch zu sprechen. Er selbst hat 1989 auf die Bitte des kirchenkritischen Theologen Adolf Holl hin einen Aufsatz Mein Verhältnis zum Christentum12 veröffentlicht, in dem er sehr detailliert den direkten Einfluss des katholischen Ritus und Brauchtums auf sein OMT beschreibt. Man könnte fast von einer Retroprojektion seines Theaters auf die Kindheits- und Jugenderfahrungen sprechen. Da ich in einer vergleichbaren katholischen Umwelt aufgewachsen bin, kann ich Nitschs Überlegung bis ins Detail nachvollziehen. Amüsant ist dabei nicht zuletzt der Umstand, dass Nitsch konsequent vorkonziliarisch eingestellt ist. Nicht nur plädiert er für die dem Volk unverständliche lateinische Kultsprache, sondern er lehnt auch die Neuerung ab, dass sich der Priester dem Volk zuwendet. In der Tat sind die katholischen Messgewänder auf der Rückseite prachtvoller gestaltet als auf der Vorderseite. Ganz und gar katholisch ist die synästhetische Form der Messfeier und der Prozessionen: Magische Zauberformeln, Musik, Bilder, das ›Gezeigte‹ (die ›Monstranz‹, der Kelch, der Ornat) in wertvollster Materie (Gold, Edelsteine, Stickereien), Weihrauch, Kerzen und nicht zuletzt Blumen aller Art richten sich an alle Sinne, so dass der Kult ein synästhetisches Ritual darstellt. Das entscheidend Katholische ist jedoch das Mysterium der Eucharistie: die magische Wandlung von Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi, _____________ 11 12

Vgl. Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher; in: Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Herausgegeben von Franz H. Mautner. Band 1: Sudelbücher. Fragmente. Fabeln. Verse. Frankfurt/M. 1984, S. 63-526, hier S. 418, J 904. Vgl. Nitsch, Hermann: mein verhältnis zum christentum, 1989; in: Nitsch: Das Orgien Mysterien Theater (Anm. 1), S. 141-157.

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die nicht symbolisch, sondern real ist, also die Verzehrung des Gottes ermöglicht. Hier liegt der Kern einer seltsamen Imitatio Christi, die fast offen ausgesprochen Nitschs Theater zu Grunde liegt. Symptom dafür ist die Versessenheit auf Brot und Wein. Kurz gefasst: Nitsch unternimmt mit dem Katholizismus eine ›Umwertung‹ (er nennt das selbst »die Werte wieder umdrehen«): »ich wollte, dass christus wieder dionysos wird«. Dazu geht er den Weg der »entsublimierung«, der Rückgängigmachung des »sublimierungsweges«, der Regression auf die »unverdorbene amorphe lebendigkeit«: »ich wollte vom wichtigsten mysterium des christlichen kultes, der transsubstantiation, der wandlung aus, hinunterloten in die entsublimierte triebsphäre«.13 Anders gesagt geht der ›späte‹ symbolische und unblutige Kult zurück auf die »blutige[…] exzessive[…] wut des im fleisch wühlenden mordes«.14 Diese Umwertung geschieht nicht mehr innerhalb der Religion, sondern wird zum Privileg der Kunst: [D]a die traditionellen religionen abgebraucht sind und unseren gegenwärtigen bewusstseinshaltungen nicht mehr entsprechen, bildet die zu sich selbst gekommene, zu ihrem wesen gekommene, von allem ballast gereinigte kunst eine neue möglichkeit, als kult gegenüber dem sein zu funktionieren. […] kunst kann als eine gegenwärtige kultform oder religiosität dem sein gegenüber begriffen werden. sie ersetzt herkömmliche kultformen ohne deren sinn und zweck zu verlieren.

Wie diese von allem Ballast gereinigte Kunst des Seinskultes aussieht, macht verständlich, dass der Blasphemie-Vorwurf gegen Nitsch erhoben wurde. Die Blasphemie kann nur eine lebendige Religion und nicht einen Mythos betreffen. Was Nitsch Ödipus theatralisch tun lässt (Leichenschändung), ist eine Frage des ästhetischen Geschmacks; Wenn aber Christus in einem Schlachthaus einen Stier tötet, dessen Geschlechtsteil aussaugt und die Hoden zerbeißt, zerreißt und zerschneidet, um dann das Geschlechtsteil einer getöteten Kuh mit einem Skalpell zu zerfleischen, ist das natürlich für gläubige Christen kein Theater mehr, sondern eine gotteslästerliche Provokation. Für den Zustand des abendländischen Bewusstseins kennzeichnend scheint mir folgende an sich bedeutungslose Anekdote: In einem Salzburger Dorf wurde Nitsch ein Auftritt als Organist in der Kirche verboten, woraufhin das liberale Feuilleton empört die Freiheit der autonomen Kunst reklamierte (man versuche sich vorzustellen, was einem Nitsch in einem Land mit einer noch ›nicht abgelebten‹ Religion, dem Islam zum Beispiel, geschähe).15 Für Ungläubige ist es _____________ 13 14 15

Nitsch: mein verhältnis zum christentum (Anm. 12), S. 147. Nitsch: mein verhältnis zum christentum (Anm. 12), S. 148. Vgl. Müller, Karl: Hermann Nitsch in Rauris; in: Literatur und Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Herausgegeben von Stefan Neuhaus und Johann Holzner. Göttingen 2007, S. 642-657.

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durchaus erlaubt, das Christentum wie einen Mythos zu behandeln. Fragwürdig ist hier nicht die Kritik an der asketischen Religion und ihre Rückführung auf sadomasochistische Opferpraktiken, sondern der Anspruch, sich als Medizinmann, d. h. als Priester und Therapeut, an ihre Stelle zu setzen. Wenn man im Internet nach der Kombination von Nitsch und Jerusalem fragt, bekommt man zuerst die Gegenfrage, ob man es nicht mit der Orthographie ›Nietzsche‹ versuchen wolle; das Gleiche gilt für die Kombination ›Nitsch/Musik‹. Doch findet man schließlich auch Nitschs die eroberung von jerusalem16 und kann sich von da ausgehend recht einlässlich über die Erfolgs- und Skandalgeschichte des Schöpfers des Orgien Mysterien Theaters wie über seine Versuche als von Bruckner inspirierter Symphoniker informieren. Das Echo in Frankreich ist etwa im Vergleich zu den Reaktionen auf Otto Muehl auffallend gering – das meiste Interesse an Nitsch hat bisher Brigitte Bardot durch ihre Interventionen gegen die Schlachtung von Tieren auf der Bühne des Burgtheaters erregt. Ich habe Nitsch nur zweimal persönlich getroffen: das erste Mal im Herbst 1976 auf der FIAC (Foire internationale de l’art contemporain) in Paris, wo ich als Dolmetscher für ihn fungiert habe. Im Jahr zuvor hatte er durch die Schlachtung eines Lammes Aufsehen erregt und die Direktion der FIAC dazu gebracht, solche ›Aktionen‹ in Zukunft zu verbieten (die Schlachtung des Lamms ist ein Musterbeispiel für das ›Umdrehen‹ bzw. Zurückdrehen des Symbols (›Agnus Dei‹) in die Materialität des Tieropfers). 1976 waren also nur Photos und Reliquien ausgestellt – eine Praxis, die für die vielen späteren Ausstellungen symptomatisch wurde. 2010 habe ich ihn in Wien wiedergesehen – physisch sehr verwandelt: Aus dem Heurigentrinker von 1976 ist der liebe Gott barocker Altarbilder geworden. Die bloße Erwähnung, dass ich aus Paris komme, hat ihn sofort zu einer Tirade gegen Frankreich bewogen, das unfähig sei, sein Werk anzuerkennen. Schuld daran seien Descartes und Napoleon, die ganze französische Kunst sei geometrisch-rationalistisch, man brauche sich ja nur die Architektur anzuschauen. Dass solche Aussagen nicht ganz ernst zu nehmen sind, zeigt ein Blick auf Nitschs theoretisch-historische Einleitung zu seinem Orgien Mysterien Theater.

_____________ 16

Nitsch, Hermann: die eroberung von jerusalem. Neapel − Berlin o.J.

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III. Tiefenpsychologie Den Weg zurück ins Kinderland möchte ich, nach reiflicher Überlegung, doch lieber mit Jean Paul als mit S. Freud [und Nitsch] machen. Karl Kraus17

Abgesehen von seiner Hochschätzung des Impressionismus, Cézannes und ganz besonders des Tachismus zitiert Nitsch ausgiebig Péladan, Valéry, Flaubert, Baudelaire (selbstverständlich La charogne), Rimbaud, Mallarmé (Auszüge aus Hérodias), Saint-John Perse und, was natürlich zu erwarten war, Sade und Artaud.18 Abgesehen von Valéry handelt es sich begreiflicherweise um Autoren, die aus verschiedenen Gründen als Beweisstücke in der Genealogie des OMT fungieren. Denn neben den ›alten Meistern‹ beruft sich Nitsch auch auf eine ausgiebige moderne Genealogie, in der allerdings die deutschsprachige von George bis zur Wiener Gruppe dominiert und der Expressionismus (Trakl, Benn, Heym, Stramm) eine bedeutende Rolle spielt. Wie bei den ›alten Meistern‹ geht es um frappierende Analogien zum OMT. Aber es geht nicht nur um künstlerische Ahnen. Die Beinahe-Homonymie mit Nietzsche ist nicht bloß ein Spiel des Zufalls. Man könnte, ohne Nitschs Denken Gewalt anzutun, die Behauptung wagen, dass das OMT und seine Theorie nichts weiter seien als eine Radikalisierung von Nietzsches Dionysos-Kult: eine radikalisierte Absage an Winckelmanns Griechenbild und das humanistische Ideal der Klassik. In einem äußerst eklektischen Verfahren, in dem Theologie (Mystik), Alchemie, Philosophie, Psychoanalyse freudscher und jungscher Provenienz, Anthropologie und Kunst kombiniert werden, konstruiert Nitsch eine neue Form von Kunstreligion, die er selbst deutlich von den kunstreligiösen Versuchen um 1900 abgrenzt. Er sieht diese zwar als notwendige Reaktion auf den Prozess der Säkularisierung an, der im Impressionismus gegipfelt hatte, wirft ihren Vertretern aber vor, weiter mit den überkom_____________ 17

18

In der Anthologie Reizwort Nitsch finden sich zwei Nitsch-Parodien von Antonio Fian (Der Geschändete von Sevilla. Aus den Erinnerungen des heiligen Hermann von Prinzendorf; in: Reizwort Nitsch (Anm. 2), S. 186) und Werner Kofler (Hermann Nitsch opfert Robert Menasse. Ein Abreaktionsspiel; in: Reizwort Nitsch (Anm. 2), S. 187). – Koflers Text zeigt, dass der größte parodistische Effekt nicht durch Übertreibung, sondern wie bei Karl Kraus durch bloßes Zitieren hervorgerufen wird; Günter Brus weiß das und schreibt (d. h. zitiert) in seinem Beitrag Alles oder Nitsch u. a.: »Karl Kraus hätte ihn erschlagen« (Brus, Günter: Alles oder Nitsch; in: Nitsch. Das bildnerische Werk. Herausgegeben vom Museum Moderner Kunst Wien/Städtische Galerie im Lenbachhaus München unter Mitarbeit von Christian Gargerle. Salzburg –Wien 1988, S. 33-35, hier S. 33. Vgl. Nitsch: das orgien mysterien theater II. (Anm. 4), S. 24ff.

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menen formalen Mitteln gearbeitet zu haben. Der entscheidende (Fort)Schritt wird Nitsch zufolge vom Tachismus geleistet, also von der ›informellen Kunst‹, die keine Tabu-Grenzen anerkennt. Er ist sich durchaus bewusst, dass es sich dabei um eine Regression auf die kindliche Analund Oralphase handelt: Nicht umsonst rufen tachistische malvorgänge wie kritzeln, verschütten, verschmieren von flüssigkeiten usw. parallelen zu frühkindlichen oralen und analen handlunsgbedürfnissen aus. Sowohl die frühkindlichen handlungsbedürfnisse als auch die tachistischen intentionen weisen eine fast wollüstige beziehung zu allem feuchten, schlammig-schleimig-unterleiblichen auf. ursprünglich, durch reinlichkeitsforderungen verdrängte anale lustgefühle des kindes gegenüber menschlichen [sic!] kot und urin durften durch die informelle kunst wieder nach außen drängen….19

(Es ist kein Zufall, dass die auffälligste Aktion des Mai 1968 in Wien, an der Nitschs engste Freunde beteiligt waren, darin bestand, dass in einem Hörsaal der Universität öffentlich geschissen, gebrunzt und masturbiert worden ist). Die Protagonisten des Wiener Aktionismus (Muehl, Brus, Nitsch) bekamen es mit der österreichischen Justiz zu tun, was bei einigen zu einer pathetisch-komischen Emigration ins Berliner Exil führte. Im Falle von Otto Muehl haben wir es eindeutig mit der Bildung einer Sekte unter der Herrschaft eines Pseudo-Gottes zu tun, in der die ästhetische Produktion zur konsequent antibürgerlichen gesellschaftlichen Praxis geworden ist, in der alle Tabus gefallen sind. Nitsch hat die eroberung von jerusalem seinem »lieben freund günther brus, dem grossschlächter der unterleiber u. heiligen des sexualprunks« gewidmet. (Ich habe seit den frühen sechziger Jahren dank meiner Beziehungen zur Galerie Krinzinger die diversen Formen der österreichischen Experimentalkunst mitverfolgt und bin dabei zur Überzeugung gelangt, dass hier neben Nietzsche, Freud, Jung, Wilhelm Reich und dem Katholizismus auch ein weiteres spezifisch österreichisches Erbe am Werk war, nämlich die Rolle des Hanswurst, vielleicht am schönsten repräsentiert durch Mozarts Privatkorrespondenz, in der die Wollust am Fäkalen sich mit dem Vergnügen paart, der Grammatik und anderen Normen den Hals umzudrehen − bei Nitsch nun allerdings ins Monumentale und Mythisch-Religiöse gesteigert; seltsamerweise verehrt Nitsch nicht nur Wagner und Bruckner, sondern auch Mozart).

_____________ 19

Nitsch: das orgien mysterien theater II (Anm. 4), S. 117.

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IV. Leberknödelsuppe und der gestirnte Himmel über uns Es ist ausnehmend schwer, dem Orgien Mysterien Theater in seiner Gesamtheit methodisch gerecht zu werden. Ich werde darum versuchen, einige (obsessionelle) Strukturelemente herauszuarbeiten, die einen Begriff von Nitschs Intentionen geben können. Er selbst insistiert, wie gesehen, immer wieder auf dem Begriff des Exzesses in allen seinen Varianten, deren religionshistorisch bedeutsamste die Ekstasis ist. Die auffälligste Form des Exzesses, abgesehen von seiner inhaltlichen Bindung ans Zerreißen und Blutvergießen, ist zunächst die der großen Zahlen und Dimensionen. Die Visionen Nitschs haben immer kosmische Dimensionen – Karl Kraus hat schon bemerkt, wie leicht ein Druckfehler aus ›kosmisch‹ ein ›komisch‹ machen kann. Die Dimension der Zeit geht weit über die Geschichte in eine Urgeschichte der menschlichen Existenz zurück; Sonne, Mond und Sterne, das ganze sich ausdehnende Universum – die Schöpfungsgeschichte ist aufgerufen. Dieser gigantischen Ausweitung des Raums und der Zeit entspricht die Forderung, dass es gleichzeitig um die tiefste der Tiefen unseres Wesens gehe, nämlich um die ›untersten Vitalitätsschichten‹. Der erste komische Effekt taucht auf, wenn der Raum fixiert wird, in dem das mystische Großerlebnis stattfinden soll. In seiner Eröffnungsrede zu Pfingsten 197320 berichtet Nitsch von seinem jugendlichen pantheistisch-mystischen Erleuchtungserlebnis in Prinzendorf: das land, in dem der wein wuchs, hatte hochzeit. alles war ein grünes, feuchtes, weinfeuchtes trunkenes brautbett, voll befruchtungsekstase […]. ein lebensrausch bäumte sich in mir auf, ich war nahe am herzen der schöpfung, kosmos. Ein aussensein wurde zu einem innensein im garten des paradieses der wirklichen existenz. Die kraft, die galaxien bewegt und fixsterne ruhen lässt, ließ mich glücklich erschauern […] ich stand hell im mittelpunkt der welt.21

Das Aufgehen im Kosmos ist eng mit einer Art landschaftsgebundenem und kulinarischem Lokalpatriotismus verbunden: »das denken an prinzendorf bedeutete für mich: die schöpfung herzlich lieben«22 – darum ist es begreiflicherweise nicht nur erd-, sondern vor allem weingebunden. Und es ist also nur folgerichtig, wenn in den Ordensregeln kleine Bauernhäuser im traditionellen Stil für die Ordensbrüder des OMT gebaut werden. Dort sitzt man in der Abenddämmerung bei Wein (naturbelassenem Weinviertler), Brot und Schweinefleisch. Die bäuerliche Idylle wird sofort mit der Eucharistie (Transsubstantiation, Auferstehung, Weltverwandlung) _____________ 20 21 22

Nitsch: das orgien mysterien theater II (Anm. 4), S. 374-382. Nitsch: das orgien mysterien theater II (Anm. 4), S. 376. Nitsch: das orgien mysterien theater II (Anm. 4), S. 376f.

Der österreichische Katholik Hermann Nitsch

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assoziiert. Die Synästhesie, das ästhetisches Grundprinzip Nitschs, verbindet den ›Geschmack von Brot und Wein‹ mit der realen Anschauung von ›Kornfeldern und Weingärten‹. Diese Kombination ist nun wahrlich nichts Neues, da sie sich in der Dichtung z. B. bei Hölderlin und Trakl in etlichen Varianten findet. Neu ist allein, dass sie von der Obsession der ›springenden Zahl‹ und einem Wiederholungszwang (des immer Gleichen) begleitet ist: Trillionen Crocusblüten, das Photo des gestirnten Himmels mit Helligkeitstabellen, die 16-stellige Zahl 111 0000000 7 89 65 00 (Quadrillionen ), heiliger Zustand der Zahl 1 2227 00000 (Milliarden), eine 45-stellige Zahl, 2 Seiten Messier-Nebelliste, astronomische Konstanten, die Lichtgeschwindigkeit, komplizierte mathematische Formeln. Die Partitur des Sechstagespiels (natürlich als Imitation der Schöpfungstage) für das Schloss Prinzendorf muss sich natürlich an das materiell Mögliche halten. Sie entspricht darum wohl in der Grundintention, nicht aber in der Verwirklichung, ihrer megalomanen Urform: der eroberung von jerusalem mit ihren allumfassenden Dimensionen und springenden Zahlen. Nur einige Beispiele: 1079 Spielräume, eine Herde von 1017 weißen Rindern, ein ›Lärmorchester‹ von 122 Musikern, 600 Schafe in einem Raum, 800 Rinder in einem Raum, Tausende Leichen von Kindern, Frauen und Männern, ein Orchester von 100 Blasinstrumenten (darunter 20 Stierhörner) + 220 Chorschreier, Geschrei von 600 Schweinen, 160 000 Opfertiere. Als Fortissimo: Geschrei von etwa 6000 Tieren, 7 Chöre und Orchester, 20 Waldhornisten, 60 Trompeter, 80 Posaunisten, 15 Tubabläser, 4 Panzermotoren, 4 Maschinengewehre. Das alles wiederholt sich im Crescendo bis zum Lärm von 12 Bläserchören mit 208 Posaunen + dem Motorenlärm von 40 Panzern.

V. Exemplum docet: Die Transfiguration des Grals und das ›mysterium coniunctionis‹ Der zweite Tag des Sechstagespiels beginnt mit der ›verwandlung des phallus in die monstranz‹ und lässt sich als Variationen des Gralmythos beschreiben. Parsifal steht in einer Linie mit Adam, Christus, Prometheus und Œdipus. Es vollzieht sich die »Verwandlung des Phallus in die Monstranz in den Gral«. ›Gral = Phallus‹ ist eine der Formeln Nitschs für das, was er im Anschluss an C.G. Jungs Forschungen zur Alchemie als ›mysterium coniunctionis‹ bezeichnet. Es handelt sich, vereinfacht gesagt, um eine mystische coincidentia oppositorum, einen Zusammenfall der Gegensätze (nicht zuletzt des Schmutzigen und des Heiligen, wie es Freud beim Dop-

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pelsinn des Urworts ›sacer‹ konstatiert hatte). Besondere Aufmerksamkeit wird natürlich der Seitenwunde des Amfortas entgegengebracht, die nicht nur mit der Seitenwunde Christi assoziiert wird, sondern wiederum im Geist des mysterium coniunctionis mit dem weiblichen Geschlechtsorgan. Die Gral-Szenen des OMT sind auch symptomatisch für Nitschs Anspruch auf ein synästhetisches Gesamtkunstwerk, das alle Sinne anspricht. Selbstverständlich fällt dabei der musikalischen Lärmentwicklung eine wichtige Rolle zu. Zur üblichen Blasmusik gesellen sich 20 Ratschen − vermutlich eine sehr katholische Anspielung auf die Ersetzung der Glocken durch Ratschen in der Karfreitagsliturgie. Auf einer besonderen Liste wird eine Zerlegung der Gralsgeschmacksempfindungen vorgenommen: Trotz ihrer Menge und ihrer Verschiedenheit vom Weihrauch über den Wein zum Menthol und schließlich dem ›geruch der erlösung‹ ist auch die Transformation von Wagners Parsifal in eine Dionysos-Liturgie bestimmt vom Grundprinzip der Wiederholung des immer Gleichen und der unbezwingbaren Lust der springenden Zahl. Das mysterium coniunctionis ›verbindet‹ Hitlerreden, Kirchenglocken, Schuhplattler mit Dutzenden ›registrierbarer gerüche‹. Zu den Zerreißungseffekten würde im Falle einer Realisierung der Partitur auch die der Trommelfelle gehören. Der überspannte religiöse Anspruch drückt sich auch im Wiederholungszwang des Rituals aus. Nichts aber ist für einen Ungläubigen langweiliger als ein Ritual.

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Die blutige Taube Versuch über Patti Smith This is what it sounds like when doves cry. S.K. zugedacht I. Leben Patricia Lee Smith wird am 30. Dezember 1946 als ältestes von vier Geschwistern in beengten, frommen protestantischen Verhältnissen mit großem familiären Zusammenhalt geboren.1 Ihre Kindheit und Jugend verbringt sie in Germantown, einem Vorort von Philadelphia, dann im südlichen New Jersey, in der Nähe von Camden. Sie ist, nach eigener Auskunft, in einer Atmosphäre von »religious dialogue« und »civil rights« _____________ 1

Der knappe biografische Aufriss, den ich im Folgenden gebe, stützt sich auf Patti Smiths Autobiographie Just Kids (London u. a. 2010) sowie auf Bockris, Victor/Bayley, Roberta: Patti Smith. An Unauthorized Biography. New York 1999 und Thompson, Dave: Dancing Barefoot. The Patti Smith Story. Chicago 2011. − Die beiden letztgenannten Bücher aus der Feder von Musikjournalisten zeichnen sich durch gute Kenntnisse der kulturellen und musikalischen Szene aus, in der sich Patti Smith bewegt hat; für Smiths geistigen Horizont haben sie wenig Sinn, sobald er – und das ist häufig der Fall – die Grenzen dieser Côterien überschreitet. Quellenkritik ist sowohl für Bockris/Bayley als auch für Thompson ein Fremdwort, und die Zuversicht, mit der die Autoren zu wissen glauben, was Patti Smith und ihre Freunde und Bekannten zu bestimmten Zeiten ihres Lebens gedacht und gefühlt haben, benimmt dem Leser manchmal den Atem. Die Bedeutung der künstlerischen Leistung von Patti Smith wird immer vorausgesetzt, niemals jedoch geklärt oder erläutert. Meinungen über Songs und Alben finden sich im Überfluss, während man vergebens nach Analysen sucht. Thompsons Buch tendiert mehr zur Hagiographie, Bockris/Bayley erlauben sich des Öfteren eine kritische Einstellung zu ihrer Heldin. Damit soll nicht gesagt (und auch nicht impliziert) sein, dass Bockris/Bayley verlässlicher wären als Thompson. Der Klappentext kündigt Bockris/Bayley als »stunning profile« einer kulturellen Ikone an; Thompsons Buch wird als »the full and true story of Patti Smith« beworben. – Die dritte Biografie von Patti Smith auf dem Markt (Johnstone, Nick: Patti Smith. A Biography. London u. a. 1997), ist ebenfalls das Werk eines Musikjournalisten, enthält aber zahlreiche sachliche Fehler; Johnstones ›Interpretationen‹ zu Texten von Patti Smith übergeht man am besten mit Schweigen.

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aufgewachsen.2 Nach einer ungewollten Schwangerschaft (die 18-Jährige hat das Kind weggegeben) und dem Abbruch einer Ausbildung an einem Lehrerseminar geht sie 1967 nach New York, wo sie rasch den beinahe gleichaltrigen, aus begütertem, streng katholischem Elternhaus stammenden Robert Mapplethorpe kennen und lieben lernt. Sie ziehen zusammen, zunächst ins preiswerte Brooklyn, später ins Chelsea Hotel, und gehen in der Armut der bohème gemeinsam ihren künstlerischen Neigungen nach. Patti Smith arbeitet im New Yorker Buchhandel und verdient sich ein Zubrot mit dem An- und Verkauf antiquarischer Entdeckungen, während Mapplethorpe als Möbelpacker und, im Zuge der zögerlichen Entdeckung seiner Homosexualität, auch als Strichjunge Geld verdient. Beider künstlerische Anfänge sind von großem Beharrungsvermögen, aber auch von Selbstzweifeln und Unsicherheit getragen, in welche Richtung es denn gehen solle. Klar ist: Man zieht die ›transformative art‹ der ›mirroring art‹ vor.3 Ein gemeinsames Feld bearbeitet man mit Zeichnungen und der Verfertigung von Objekten; zugleich aber sind die Schwerpunkte letztlich verschieden gelagert: Mapplethorpe ist der Künstler, der nicht (oder kaum) liest, Patti Smith versteht sich im Grunde immer als ›poet‹ – und (noch) nicht als ›singer‹.4 Die Unzufriedenheit mit dem Schreiben allein macht sich allerdings bald in der Weise geltend, dass es nicht »physical enough« sei.5 Den Ausweg bietet das Performative. Patti Smith versucht sich als Schauspielerin: ein Beruf, für den sie, wie sie bald einsieht, wenig Talent hat. Über Musikkritiken, die sie für Rock-Zeitschriften schreibt, kommt sie in Kontakt mit der New Yorker Musikszene. Im Februar 1971 trägt sie, neben dem Gitarristen Lenny Kaye, in New York erstmals eigene Poesie und Songs vor (neben Lyrik und Liedern anderer Autoren den eingängigen Song von Mack the Knife. Diese erfolgreiche Lesung zieht eine Reihe ähnlicher Veranstaltungen unter dem Titel Rock and Rimbaud nach sich; die innere Dynamik der Entwicklung führt schließlich zur Assemblage einer wirklichen Rockband, der Patti Smith Group, die schon vor ihrem ersten Album zu einem New Yorker Geheimtipp avanciert. _____________ 2

3 4 5

Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 22. – Der Gegensatz zwischen dem atheistischen Vater und der streng religiösen, den Zeugen Jehovas anhängenden Mutter, den Bockris und Bayley annehmen (Bockris/Bayley: Patti Smith (Anm. 1), S. 23), dürfte überzogen sein; Indizien für eine unharmonische Ehe der Eltern gibt es nicht. Vgl. Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 69 (im Kontext einer Abwertung Warhols gegenüber Mapplethorpe) und S. 136 (Mapplethorpes Fähigkeit, Objekte des Alltags zu transformieren). »I want to be a poet, not a singer« (Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 142). »I was getting frustrated with writing; it wasn’t physical enough« (Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 177).

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1974 erscheint eine erste Single, 1975 dann Horses: kein Debütalbum im herkömmlichen Sinne, denn aus der Hauptstadt des 20. Jahrhunderts entspringt die Minerva vollkommen gerüstet. In rascher Folge bringt die Patti Smith Group bis 1979 vier Alben heraus: nach Horses 1976 Radio Ethiopia (Harar, der spätere Aufenthalt Rimbauds, liegt in Äthiopien), 1978 Easter (mit dem TopTen-Hit Because the Night) und 1979 Wave. Diese vier Jahre mit ihren Tourneen rund um die Welt und ihrer Hektik und Produktivität erinnern an die ersten Jahre Dylans von 1961 bis zu seinem Motorradunfall 1966. Eine kurze Atempause schenkt ein Sturz von der Bühne 1977 in Tampa, Florida, bei dem sich Patti Smith an zwei Wirbeln verletzt; eine langwierige Rehabilitationsphase schließt sich an. Als 1979 die Patti Smith Group ihr vorläufig letztes Konzert in Florenz gibt, ist der Ruhm der ›Queen of Rock’n’Roll‹ etabliert. Der Erfolg der Patti Smith Group ist wesentlich auf die ekstatische Bühnenpräsenz der Sängerin und vielleicht mehr noch auf ihre Stimme zurückzuführen. Das Spektrum ihrer Ausdrucksvalenzen reicht von kraftvoller, erhabener, manchmal wutentbrannter raw energy bis zu einer Gebrochenheit, die die Stimme gleichsam an der Grenze ihrer selbst schwächeln und taumeln lässt. Dazwischen liegen gehetzte Atemlosigkeit, Schluchzen, Brabbeln und verwirrtes, aufgestörtes Zungenreden, Klage und Triumph, Obszönität und Zärtlichkeit. All dies fällt in der Mitte der siebziger Jahre nicht plötzlich vom Himmel, sondern steht durchaus in einer – wenngleich noch jungen – Tradition. Die wichtigsten literarischen und musikalischen Einflüsse seien kurz benannt. Unter den Dichtern steht in der ersten Reihe das Dreigestirn William Blake, Arthur Rimbaud und Jean Genet, gefolgt von den amerikanischen Beat-Poeten William Burroughs, Allen Ginsberg und Gregory Corso, die Patti auch alle drei schon vor der Zeit ihres Ruhmes persönlich gekannt hat. Für Smiths’ Selbstverständnis als Rock-Poetin maßgeblich gewesen sind Bob Dylan6, Jim Morrison mit den Doors und Lou Reed mit Velvet Underground, für das Klima der Ekstase auf der Bühne und die manische Besessenheit in der Musik Jimi Hendrix und der für viele Rockmusiker dieser Zeit sehr bedeutsame, 1967 verstorbene Jazzsaxophonist John Coltrane.7 Vorbilder _____________ 6

7

Dass Bob Dylan an erster Stelle steht, ist auch so gemeint. Patti Smith betont seine Sonderrolle als Modell für ihre eigene künstlerische Identität, indem sie – Dylan hatte unerwartet bei einem ihrer frühen Auftritte den Klub betreten – im Rückblick auf diese plötzliche Anwesenheit einbekennt: »It seemed for me a night of initiation, where I had to become fully myself in the presence of the one I had modeled myself after« (Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 248). – Die Sprache Harold Blooms, auf die Smith hier (unwillkürlich?) zurückgreift, macht das agonale Moment der Szene kenntlich. Im Klappentext zu Just Kids ersetzt John Coltranes Tod die Jahresangabe: »It was the summer Coltrane died, the summer of love and riots, and the summer when a chance en-

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für die eigenwillige, charismatische Stimme von Patti Smith sind schwieriger zu benennen. Vom Klangcharakter her könnte man an die freilich im Ausdrucksregister weniger umfassende Grace Slick, die Sängerin der Westcoast-Band Jefferson Airplane, denken. Klanglich völlig verschieden, aber verwandt in der ekstatischen Verausgabung auf der Bühne ist Janis Joplin, hinter der wiederum Billie Holiday steht. Von 1980 bis 1994 lebt Patti Smith, mehr oder weniger zurückgezogen, in Detroit, verheiratet mit dem Musiker Fred ›Sonic‹ Smith; sie bringt ihre Söhne Jackson und Jesse zur Welt und widmet sich ihrer Erziehung. Der Rückzug vom Zirkus der Tourneen und auch von der Schallplattenproduktion wird nur durch ein einziges Album – Dream of Life von 1988 – unterbrochen, das in enger Zusammenarbeit mit ihrem Mann entsteht. Die Jahre nach 1988 sind überschattet von einer Reihe von Todesfällen engster Bezugspersonen für Patti Smith. 1989 stirbt Robert Mapplethorpe nach quälendem Leiden an AIDS, 1990 Richard Sohl, der Pianist der Patti Smith Group. 1994 trifft es Fred ›Sonic‹ Smith, den Ehemann, sowie den jüngeren Bruder Todd Smith. Aus ihrer tiefen Trauer findet Patti Smith langsam heraus, indem sie 1995 auf Einladung Bob Dylans gemeinsam mit ihm auf eine Tournee an der amerikanischen Ostküste geht und sich wieder an die musikalische Arbeit macht. 1996 erscheint Gone Again, so gut wie durchgängig ein Album der Trauer und des Totengedenkens; mit My Madrigal enthält es den tiefsten Klagelaut, den die Rockmusik je gehört hat. Die Zäsur der Todesfälle und der Produktionspause geben dem Werk, das ab 1994 entsteht, einen deutlich anderen Charakter. Verausgabung, mit thematischer Konzentration auf Sexualität und Körperflüssigkeiten, wird mehr und mehr durch Gefasstheit ersetzt; elegische Züge, auch im Frühwerk schon vorhanden, treten nun signifikanter hervor, und statt die Ekstase neu und unecht zu inszenieren, steigert Patti Smith die Reflektiertheit und das Mitgefühl. Edmund White, der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler aus Yale, der vor allem mit Studien zu homosexuellen Schriftstellern hervorgetreten ist, hat den Wandel von Patti Smith so beschrieben: »She was once our savage Rimbaud, but suffering has turned her into our St. John of the Cross, a mystic full of compassion«.8 _____________

8

counter in Brooklyn led two young people on a path of art, devotion, and initiation« (vgl. auch Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 31). − Zu den wenigen gehüteten Schätzen des karg ausgestatteten ersten gemeinsamen Haushalts von Patti Smith und Robert Mapplethorpe hat die vielleicht wichtigste von Coltranes Schallplatten gehört: A Love Supreme (vgl. Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 45). Smith, Patti: The Coral Sea (1996). New York − London 2012 (Rückseite des Covers).

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Im letzten Jahrzehnt ist bei Patti Smith eine deutliche Annäherung an die Hochkultur zu beobachten – eine Entwicklung, die nur diejenigen überraschen kann, die sie einmal in die Schublade des Punkrock gesteckt haben und diese Schublade jetzt, nach so vielen langen Jahren, nicht mehr öffnen mögen. Sie hat die Bayreuther Festspiele besucht und von dort im Feuilleton der bekannten deutschen Wochenzeitung Die Zeit über Christoph Schlingensiefs Parsifal-Inszenierung berichtet.9 Für Vintage Books hat sie eine Auswahledition von William Blake besorgt und dazu eine Einführung geschrieben.10 Ihre Zeichnungen, Fotografien und Installationen sind im Andy Warhol Museum in New York sowie in der Fondation Cartier in Paris gezeigt worden. Und sie wurde mit Ehrungen überhäuft: Das französische Kulturministerium hat ihr den Titel Commandeur des Arts et des Lettres verliehen, und selbstverständlich wurde sie − wenngleich spät, nämlich 2007 − in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen. Im März 2009 trat Patti Smith eine zehntägige Kreuzfahrt im östlichen Mittelmeer auf dem Schiff Costa Concordia an – Jean-Luc Godard hatte sie zu den Dreharbeiten zu seinem Film Socialisme eingeladen.11 2010 ist Just Kids erschienen, die Autobiographie ihrer jungen Jahre und ihres Lebens mit Robert Mapplethorpe: ein aufschlussreiches Buch, geschrieben in einer warmherzigen, eleganten Prosa, die sich stets nah am Konversationston hält und doch – es kostet die Autorin nur eine leichte Anstrengung – immer wieder mit Passagen aufwartet, die an klare, konzentrierte Poesie erinnern. Mit Anekdoten geht Patti Smith sparsam um in diesem Buch. Eine darunter berichtet von einer Begegnung mit Salvador Dalí in der Lobby des Chelsea Hotel, als sie eine ausgestopfte schwarze Krähe aus dem Museum for American Indians bei sich hatte. »›You are like a crow‹«, soll Dalí zu ihr gesagt haben, »›a gothic crow‹«.12 Indes hätte er sich geirrt. Die schwarze Krähe ist der Vogel Joni Mitchells; zu Patti Smith gehört ein anderer Vogel.

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Smith, Patti: Frankensteins Braut, Christophs Hase und ich (aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Jakobeit); in: Die Zeit Nr. 33 vom 11. August 2005, S. 35. Blake, William: Poems. Selected and introduced by Patti Smith. London 2007. Damals besuchte die Costa Concordia noch Häfen wie Izmir und Alexandria und lag noch nicht gescheitert, seltsam schräg aus dem Wasser ragend, auf den Klippen vor der Insel Giglio. Sollte diese Havarie tatsächlich symbolische Qualität haben, so jedenfalls nicht für den Untergang des Sozialismus. Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 133.

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II. Transfiguration Die Grenzen zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen sind in der traditionellen Musik der schwarzen Amerikaner sowohl musikalisch wie poetisch relativ fest etabliert gewesen: Blues war nicht Gospel, und Gospel war nicht Blues. Man ist sich weitgehend darüber einig, dass das Auftreten und der überwältigende Erfolg von Ray Charles eine erste Unordnung in diesem kulturellen Feld verursacht haben: I’ve Got a Woman von 1954 ist ein Lied mit Blues-Thematik (Liebe) und Gospelharmonien; diese Mischung der vordem getrennt gehaltenen Register wurde in der Folge zum Markenzeichen des blinden schwarzen Musikers und gab das Startsignal für die Entwicklung jener Musikrichtung, die unter dem Namen Soul, als einer Synthese aus Blues und Gospel, bekannt wurde. Der Titel sowohl eines Songs wie eines Albums von Ray Charles verkörpert gleichsam den Geist der Vermischung und Grenzüberschreitung, der hier angestrebt wurde: Hallelujah I Love Her So. Die Folksinger-Bewegung, die durch das jugendliche Charisma Bob Dylans aus den engen Fesseln einer radikalen Subkultur befreit wurde, bezog ihre Normen ohnehin von biblischen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Erlösung und nahm in ihrer Sprache massive Anleihen beim Bibelenglisch. Als Patti Smith in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Bühne betrat, konnte sie somit bereits auf eine gewisse Tradition der religiösen Aufladung profaner Musik zurückgreifen, die auch den Rock’n’Roll – mit seinen geradezu ostentativ weltlichen Motiven – nicht ganz unberührt gelassen hatte. Die amerikanische populäre Musik trug jedoch eine weitere Grenze in sich, die für Patti Smith von nicht geringerer Bedeutsamkeit sein sollte. Es ist die Grenze zwischen –anders als in dieser polemischen Weise ist es kaum auszudrücken – kommerziell und wahr. Die Lieder, die in den 30er, 40er und 50er Jahren in den großen Radiostationen Amerikas auf und ab gespielt wurden, machen das aus, was man sich angewöhnt hat, das Great American Songbook zu nennen. Hier geht es um Glück und Unglück der Liebe – und nur um dies. Das Unglück ist sanft und wehmütig und lädt zur melancholischen Identifikation ein. Man fleht den Geliebten an zu sagen, es sei nicht so,13 berichtet vom Gerücht, die Liebe sei wundervoll,14 _____________ 13

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Say It Isn’t So, 1932 von Irving Berlin komponiert. Wie bei den im Folgenden angeführten Jazz-Standards gilt auch in diesem Fall das Kriterium, das einen Song zum Standard macht: dass er ›many times by many artists‹ aufgenommen wurde (Say It Isn’t So u. a von Aretha Franklin, Billie Holiday und Dinah Washington). They Say It’s Wonderful, 1946 von Irving Berlin komponiert, aufgenommen u. a. von Frank Sinatra, Doris Day und Judy Garland.

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oder bedankt sich beim verflossenen Geliebten für die schönen Momente, darunter vorzugsweise Europareisen, z. B. zu den »castles on the Rhine«.15 Überhaupt ist das Setting dieser Songs häufig die saturierte Welt der Müßigen und Reichen, des ›lush life‹.16 Dass Leiden andere als Liebesleiden sein und mit sozialer Auseinandersetzung und politischem Kampf in Zusammenhang stehen können, tritt nicht in den Horizont dieser Musik. Die Welt ist wie durch einen Schleier aus gefühlvollen schwarzen Frauenstimmen und einschmeichelnden, warmen Saxophonen vom Great American Songbook getrennt. Auf der anderen Seite dieser Grenze gibt es große Klassiker des Blues, die eine schockartige Wahrnehmung der Welt ermöglichen. Man wird ins schäbige Krankenhaus gerufen, wo, aufgebahrt und nackt, die Leiche der Geliebten liegt: »I went down to St. James Infirmary, | I saw my baby lying there | Stretched out on a long white table, | So sweet, so cold, so bare«.17 In Strange Fruit sind die seltsamen Früchte die schwarzen Opfer der Lynchjustiz, die in den Bäumen baumeln und mit graphischem Detail beschrieben werden: »the bulging eyes, the twisted mouth«. In diesem Song werden zudem die Bestandteile eines romantisierten Südstaatenbildes, des ›gallant South‹, ironisch aufgenommen und mit den gelynchten »black bodies« konfrontiert. »Southern breeze« und Magnolien-Duft vermischen sich mit dem süßlichen Gestank von »burning flesh«. Billie Holiday – auch, aber eben nicht nur, eine Interpretin vieler sentimentaler Liebeslieder aus dem Great American Songbook – hatte den Song populär und zu ihrem Markenzeichen gemacht. Seit der ersten Einspielung von 1939 wollte das Publikum ihn immer wieder von ihr hören.18 Und doch war, weil Strange Fruit eine unsichtbare Grenze verletzte, der Song im _____________ 15

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Thanks for the Memory, 1938 von Leo Robin und Ralph Rainger als Filmmusik komponiert und mit einem Oscar bedacht. Im Angebot dieses Songs sind »candlelight and wine, castles on the Rhine […] the Parthenon and moments on the Hudson River Line […] motor trips and burning lips […] sunburns at the shore, nights in Singapore«. Und nicht zuletzt »lingerie with lace, Pilsner by the case«. Lush Life, 1938 von Billy Strayhorn komponiert (der ursprüngliche Titel des Songs enthielt einen Hinweis auf die Kehrseite des ›lush life‹: Life Is Lonely). Der St. James Infirmary Blues (anonym) geht auf ein englisches Volkslied des 18. Jahrhunderts zurück. Textvariationen sind, wie auch sonst bei traditionals, zahlreich. Die Interpreten des Songs aufzählen hieße die Geschichte des Blues rekapitulieren. Der Text zu Strange Fruit stammt von Abel Meeropol, einem jüdischen Lehrer aus der Bronx, der ihn unter dem Pseudonym Lewis Allan (und unter dem Titel Bitter Fruit) erstmals 1937 in der marxistischen Zeitschrift The New Masses veröffentlichte. Billie Holiday ist bis heute die maßgebliche Interpretin des Liedes geblieben, und jede neue Interpretation – auch die eindrückliche Fassung, die Cassandra Wilson auf dem Album New Moon Daughter (1995) aufnahm – orientiert sich an ihr (vgl. Margolick, David: Strange Fruit. Billie Holiday, Café Society, and an Early Cry for Civil Rights. Philadelphia 2000).

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amerikanischen Radio lange unerwünscht. Es ist diese Grenze, die die Insistenz erklärt, mit der in den frühen sechziger Jahren die jungen Sänger aus der Folkbewegung, etwa Bob Dylan oder Paul Simon, darauf bestanden, es gebe ›true songs‹, die eigentlich zählten, und andere, ohne Belang, ›not true‹. Vom Standpunkt der Hochkultur könnte man das Triviale und Banale als das Falsche und Verlogene einfach abtun. Im Rahmen der populären Kultur ist dies weder möglich noch sinnvoll, da gerade die trivialen und banalen Momente, die in Klischees und Stereotypen überliefert werden, eine unversiegbare Kraftquelle darstellen. Patti Smiths Umgang mit dem Trivialen und dem Banalen ist von dem Gedanken seiner Rettung und Transformation bestimmt. Sie treibt die Wonnen der Gewöhnlichkeit über ihre konventionellen Grenzen bis zum Exzess, und sie taucht sie in religiöse Sprache, Begriffe und Bilder. Free Money, aus dem Debütalbum Horses von 1975, ist ein Song mit einer paradoxen Utopie, der gegen die Knappheit als Daseinsbedingung des Geldes dessen grenzenlose Verfügbarkeit und damit die Erfüllbarkeit aller Wünsche phantasiert. Der Anschluss dieses Liedes an einen stereotypen love song besteht in einem Motiv, das in der populären Musik so häufig ist, dass es als feste Formel vom einen Lied zum andern wandert: Es bindet das Liebesversprechen an das Geldausgeben für ein respektables Produkt der Warenwelt, etwa ein schönes, schnittiges Auto: »I’ll buy you a Cadillac, | Long, and shiny, and black, | I’ll buy you a Cadillac«.19 Oder etwas, das man der Geliebten über den Finger streifen kann: »I’ll buy you a diamond ring«: 20 Patti Smith schraubt zunächst das Preissegment, in dem sich solche Geschenke zu bewegen pflegen, deutlich nach oben, öffnet dann das Dach der Warenwelt hin zum Universum und endet in reiner Ekstase: »I’ll buy you a jet plane baby | Get you on a higher plane to a jet stream | And take you through the stratosphere | And check out the planets there and then take you down | Deep where it’s hot in Arabia-babia | Then cool cold fields of snow. And we’ll roll | Dream roll dream roll dream roll dream«.21 Oder nehmen wir ihre Fassung von Gloria, ebenfalls aus dem Debütalbum und der Hit, sofern man es so nennen kann, daraus. Im Original ist Gloria einer der bis heute erstaunlich lebendigen Klassiker der britischen Rockmusik aus den frühen 60er Jahren, komponiert von Van Morrison, Nordirlands berühmtestem Sohn, und aufgenommen von seiner damaligen Gruppe Them. Ein sehr direktes, fröhlich-aggressives _____________ 19 20 21

Eric Burdon & The Animals: Hey Gyp. Hier könnten die Beatles sich mit einem anch’io melden: Can’t Buy Me Love. Text des Songs Free Money; in: Patti Smith Complete. 1975-2006. Lyrics, Reflections and Notes for the Future. New York 2006, S. 38.

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Lied über Lust und Liebe, die hübsche Gloria besingend, die um Mitternacht vorbeischaut, die Treppe zum Zimmer des Sängers hochsteigt und schließlich die Schwelle überschreitet. Was sie danach tut, erfahren wir nicht mehr – genug: »She makes me feel alright«.22 Patti Smith transformiert Van Morrisons Song in die Darstellung einer lesbischen Spontanaffäre mit der zufällig während einer langweiligen Party aus dem Fenster erblickten, an der Parkuhr lehnenden Gloria. So spontan ist diese Affäre, dass Gloria erst danach nach ihrem Namen befragt werden kann. Vor allem aber kombiniert Patti Smith den Song mit ihrem eigenen Gedicht Oath, das man im Deutschen wohl am besten mit Lossagung wiedergibt.23 Es beginnt mit dem berühmt gewordenen Vers »Jesus died for somebody’s sins but not mine« und taucht das ganze Lied in die Atmosphäre von unschuldiger und selbstbewusster Blasphemie und religiösem Antinomismus: »I move in this here atmosphere where anything’s allowed«; »People say beware but I don’t care | The words are just rules and regulations to me«; »[M]y sins my own«. Zum ekstatischen Ausbruch läuten die »tower bells«; sie läuten auch im Innern eines religiös freigesetzten Individuums, das nicht zurückscheut: »And I heard those bells chiming in my heart going ding-dong | Ding-dong ding-dong dingdong ding-dong ding-dong ding-dong | Ding dong.«24 Wie problematisch die Vorstellung eines unschuldigen Antinomismus an sich auch sein mag – man ginge dennoch fehl, würde man, etwa verleitet von Phänomenen aus der zeitgenössischen Punk-Bewegung, hier von einem Kult des Bösen sprechen wollen. Ähnlich wie bei Baudelaire ist bei Patti Smith die offene Blasphemie oder alles, was nach ›Satanismus‹ aussieht, allenfalls die Sensation erregende Vorderseite des Werks. In der die Unterschiede verwischenden Ekstase wird vielmehr die Intention sichtbar, die Abfälle, das Beiseitegeschobene, das Verpönte aufzuheben und zu retten – alles zu erlösen, weil alles heilig ist. In einem bemerkenswerten poetischen Einschub auf dem Album Easter von 1978 wird in diesem Sinn die Transformation des Abfalls (»transformation of waste«) als die zentrale Aufgabe des Menschen ausgezeichnet, der dafür als erwählte Verbindung (»chosen alloy«), wie eine als Katalysator fungierende chemische Substanz, prädestiniert ist. Die auch für Flaubert, Baudelaire und Rimbaud bedeutsame alte alchemistische Vorstellung der Verwandlung von Mist in Gold wird explizit aufgerufen: _____________ 22 23 24

Van Morrison: Gloria. Smith, Patti: Oath; in: Smith, Patti: Early Work. 1970-1979. New York 1994, S. 7. Text von Gloria (In Excelsis Deo); in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 28f.

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Pollution is a necessary result of the inability of man to reform and transform waste. | the transformation of waste | the transformation of waste | the transformation of waste | the transformation of waste is perhaps the oldest preoccupation of man being the chosen alloy he must be reconnected – via shit at all cost inherent within us is the dream of the alchemist to create from the clay of man and to re-create from excretion of man pure and then soft and then solid gold.25

Der Künstler als maverick, als Außenseiter, muss nicht Kain sein. Er muss, verschmäht, Kain verwandeln, verklären: »I am the […] | Scorned, transfigured child of Cain«.26

III. Auferstehung Im Motiv der Transfiguration des Banalen und Trivialen tritt die Zeitgenossenschaft Patti Smiths besonders deutlich zu Tage. Die sie künstlerisch prägenden Jahre sind die Jahre der unbestrittenen Regentschaft Andy Warhols über die New Yorker Kunstszene gewesen. Andy Warhol und Marcel Duchamp waren die großen Vorbilder des jungen, mit sich und seiner Kunst experimentierenden Robert Mapplethorpe, bevor er sich, zunächst zögerlich, der Fotografie zuwandte und mit ihr schließlich Ruhm und Anerkennung fand. Warhol und Duchamp waren aber auch die Galionsfiguren im Denken des amerikanischen Kunstphilosophen Arthur C. Danto, dessen Erfahrungen mit Kunst ebenfalls wesentlich durch das New Yorker Milieu der 70er Jahre vermittelt waren. Das Buch, das ihn berühmt machte und heute als einer der wichtigsten philosophischen Traktate des 20. Jahrhunderts über Kunst anerkannt ist, erschien im Jahr 1981 und trägt den Titel The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art.27 In Just Kids hat Patti Smith jedoch eingestanden, dass sie sich in ihren jungen Jahren, neben Robert Mapplethorpe, nicht unbedingt als Zeitgenossin fühlte. Ihre Welt war die Welt der radikalen französischen Poeten des 19. Jahrhunderts, Nerval, Baudelaire und vor allem Rimbaud, mit dem sie sich am tiefsten identifizierte. Ein Exemplar der Illuminations war in ihrem Koffer, als sie, mehr oder weniger mittellos, den Schritt aus _____________ 25 26 27

Text von 25th Floor; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 117f., hier S. 117. Text von Easter; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 123. Danto, Arthur C.: The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art. Cambridge/Mass. 1981.

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dem provinziellen Süden New Jerseys nach New York wagte. 1973 hat sie sogar eine Pilgerreise nach Charleville unternommen. Nachdenklich ging sie durch die Gassen und Straßen der Stadt, im Bewusstsein, dass sie nun das, was Rimbaud gehasst und verachtet hatte, mit Liebe nach Spuren absuchte.28 Der hochmütige Blick Rimbauds, sein »defiant Dylan face«29 auf dem berühmten Gemälde von Henri Fantin-Latour,30 ist das eigentliche Vorbild für die Haltung der »casual defiance«, in der sie sich für das Cover von Horses von Mapplethorpe porträtieren ließ.31 Es gibt ein Lied von Patti Smith, in dem sie mit der Stimme Arthur Rimbauds spricht: den Titelsong ihres kommerziell erfolgreichsten Albums Easter von 1978, zugleich das abschließende Lied auf diesem Album. Der Großteil des Materials für Easter wurde in der kreativen Pause zusammengetragen, die sie sich nach ihrem Bühnensturz 1977 zwangsweise gönnen musste. Im Rückblick hat sie über das Album geschrieben: As we developed the material for Easter, these things were on my mind: the miracle of physical movement, the transmutation of energy through performance, and the idea of resurrection. Whether as a phoenix rising from the ashes or as a human being who just fell and got up again.32

Der Song Easter nimmt seinen Ausgang von einer Familienkonstellation, die Patti und Arthur identische Positionen im Geschwisterverband zuschreibt. Patti das älteste, Arthur das zweitälteste von jeweils vier Kindern, beide im Besitz der Anführerrolle. Easter spricht vom gemeinsamen Gang der Familie Rimbaud zur Messe − die alleinerziehende Mme Rimbaud und ihre vier Kinder Frédéric, Arthur, Vitalie und Isabelle − und thematisiert den von Arthur ins Werk gesetzten Ausbruch aus der rigiden Disziplin, die die Mutter den Kindern auferlegt hat: Sie entkommen dem konventionellen Ritual, indem sie zum Fluss hinunterlaufen und dort das Mysterium lebendig wiederfinden, dessen erstarrter gesellschaftlicher Festlegung sie gerade entronnen sind:

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32

Vgl. Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 227-230. Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 216. Der Bildausschnitt von Un coin de table (1872), der Rimbaud zeigt, illustriert das Gedicht dream of rimbaud; in: Smith: Early Work (Anm. 23), S. 42. »I tossed the jacket over my shoulder Sinatra-style, hopefully capturing some of his casual defiance« (Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 25). − Zur Entstehung der Fotografie vgl. Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 25 sowie – ausführlicher – Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 248-251. Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 96.

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one morning about a hundred years before little richard baptised america with rock’n roll, arthur und frederic and their sisters isabelle and vitalie labored thru the streets of charleville in white ribbons and cloth of blue to receive their first communion. close to the church it was arthur who broke formation and called to the other rimbaud children to come run with him thru the field, past the chapel off a bridge into the cold and finite waters of a river that led to the warm and infinite blood of christ.33

Die Verse von Easter sind von einer geheimnisvollen, symbolisch aufgeladenen Dürftigkeit und Einfachheit. Das Lied beginnt mit der Invokation der elementarsten, angenehmsten und schwerwiegendsten leiblichen Handlungen des Menschen, Sagen und Gehen: »Easter Sunday we were walking | Easter Sunday we were talking«. Es fährt fort mit dem Eintauchen in die Atmosphäre eines umfassenden Geheimnisses, in dem alles glüht und alles weiß: »Isabella, all is glowing | Isabella, all is knowing«. Seinen musikalischen Höhepunkt erreicht das Lied, wenn die Fülle der Zeit als tatsächlich gekommen besungen wird: »Brother sister time has come«. Bei der Intonation von ›come‹ öffnet sich die Stimme der Sängerin, als sei sie unendlich bereit zu empfangen. Im Ausklang des Liedes überblenden sich zwei Stimmen von Patti Smith. Die eine rezitiert im Sprechgesang eine Litanei, in der sich die Sängerin mit der erlösten Allnatur, dem Guten wie dem Bösen, dem Schwert, der Wunde, dem Blutfleck identifiziert; während die Singstimme im monotonen Singsang, begleitet von Kirchenglocken und Dudelsack, den Kern des Ostermysteriums wiederholt: »Isabella, we are dying | Isabella, we are rising«.34 Das Motiv der Auferstehung berührt eine der wichtigsten religiösen Überzeugungen von Patti Smith und ist häufig in ihrem Werk. Mit ähnlich suggestiver Selbstverständlichkeit wie in Easter wird es noch in Ghost Dance mit seinem an rituelle Stammestänze erinnernden Refrain »We shall live again« behandelt.35 Es tritt jedoch auch in einer aggressiven Intensität auf, die an ein klassisches häretisches Motiv der Religionsgeschichte denken lässt: das Bedrängen Gottes, das Erzwingenwollen der Erlösung − »Use menace, use prayer«.36 In Birdland ist es der Waisenknabe, der seinen verstorbenen, nun in einem außerirdischen Raumschiff wiedergekehrten Vater ekstatisch anfleht, ihn mitzunehmen nach oben und außen: »please take me up, don’t leave me here. […] let’s go up up take me up I’ll go up I’m going up I’m going up. | Take me up, I’m going up, I’ll go up there«.37 Und in Ain’t It Strange wird im ekstatischsten Moment des ganzen Songs direkt die _____________ 33 34 35 36 37

Patti Smith: Easter (1978), Arista AB 4171 (inner sleeve). Text des Songs Easter; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 123. Text von Ghost Dance; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 102. Patti Smith zitiert Jean Genet; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 90. Text von Birdland; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 36f.

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Zuarbeit Gottes verlangt: »Turn whirl like a dervish | Turn God make a move | Turn Lord | […] I just move in another dimension«.38 Der theologische Kernbestand des Christentums befeuert die Bühnenekstase der Patti Smith Group, und die Bühnenekstase der Patti Smith Group trägt den theologischen Kernbestand des Christentums auf exaltierte Weise ins Publikum. So ist es in den siebziger Jahren. Später schleichen sich auch hier, im Gefolge der sich anhäufenden Todesfälle von Nahestehenden, elegischere Züge in die Auferstehungshoffnung ein, und die Klage über das eigene Unvermögen, Gott zu zwingen, ist zu hören: »Why can’t I«, heißt es nach der Darstellung der letzten Leiden Robert Mapplethorpes in Just Kids, »Why can’t I write something that would awake the dead? That pursuit is what burns most deeply«.39 Noch mit der Einsicht in das Unvermögen des Künstlers und Poeten schwelt die Sehnsucht nach der ultimativen Transfiguration, die auch Rimbaud bewegte, als er in Wort und Gedanken mit der Magie experimentierte.40

IV. Figuren des Leidens: Soldat, Märtyrer, Pilger Selbstbehauptung: »in heart i am an american artist and i have no guilt.«41 Das Spektrum der aggressiven schamlosen Unschuld, das dieser Schlüsselsatz eröffnet, wird von zwei Plattencovern von Patti Smith abgedeckt. Auf dem Cover von Horses der Blick von oben herab, der von lässigem Trotz spricht und von Stolz und sich aus dem Bewusstsein speist, dass die Poesie erhaben und unnahbar ist und darum Respekt verdient. Das Cover von Wave zeigt eine andere Haltung der Sängerin: Neben einer großen Zimmerpflanze, einem ficus benjamina stehend, weißgewandet, hält sie auf beiden Händen je eine weiße Taube und blickt merkwürdig von unten in die Kamera, als sei sie selbst ebenfalls nichts als kreatürlich − der dritte Vogel auf dem Bild, das scheueste, schutzbedürftigste Tier der Lüfte, das man keinesfalls aufschrecken darf. Das Amerikanische, das Patti Smith ihrem _____________ 38 39 40

41

Text des Songs Aint’t It Strange; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 70-71, hier S. 71. Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 279. Vgl. Starkie, Enid: Arthur Rimbaud. New York 1961, S. 159-178 (das Kapitel über ›Alchemy and Magic‹). – Diese Rimbaud-Biografie hatte großen Einfluss auf die 68erGeneration und ihr mit der Drogenkultur verbundenes Interesse an Bewusstseinserweiterung und der Überschreitung physischer und psychischer Grenzen. Patti Smith erwähnt, dass sie Starkies Buch auf ihrer Frankreichreise 1973 mitführte und als Reiseführer für Paris und Charleville benutzte (vgl. Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 226). Smith, Patti: Babelogue; in: Smith: Early Work (Anm. 23), S. 117.

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Künstlertum zuschreibt, liegt jedoch weder in der Erhabenheit, die die eine, noch in der Scheu, die die andere Fotografie kommuniziert. Man muss es begreifen, will man vor der aggressiven Komponente dieser Unschuld nicht die Augen verschließen: die Taube führt Krieg. Man greift zu den Waffen, um die freie Republik zu errichten, zu erhalten, zu verteidigen. Es ist dieses Motiv der civil religion des klassischen Republikanismus, auf das Patti Smith zurückgreift, um ihr Selbstverständnis als Führerin einer Rockband zu artikulieren. Seinen modernen Ursprung hat der republikanische Ruf zu den Waffen in den Stadtstaaten der italienischen Renaissance und der aus ihrem Umfeld erwachsenen politischen Theorie. Auf verschlungenen Wegen ist er ins England des 17. und 18. Jahrhunderts und ins vorrevolutionäre Amerika gedrungen, hat einen entscheidenden Beitrag zum Selbstverständnis der founding fathers geleistet und sich tief im amerikanischen Alltagsbewusstsein abgelagert.42 Das für europäische Beobachter von Amerikanern oft mit so unverständlicher Hartnäckigkeit verfochtene Recht des einzelnen Bürgers, Waffen zu tragen, ist letztlich nur vor diesem Hintergrund einsichtig zu machen. Patti Smith kommt in ihrem Werk insistierend immer wieder gerade auf den roll call zurück. Ask the Angels, das erste Lied auf dem im ›bicentennial year‹ 1976 veröffentlichten Album Radio Ethiopia, eröffnet die Platte mit dem Kriegsschrei »Move« und versichert den Hörer in späteren Versen: »honey the call is for war« – »war is the battle cry«.43 Der kurze, aufrüttelnde Befehl – zusammen mit dem Pathos der Verlautbarung überhaupt ein generelles Kennzeichen der Poesie von Patti Smith − kehrt wieder in Till Victory: »Take arm. Take aim. Be without shame«.44 Das Wir dieses Liedes fliegt in V-Formation durch den Himmel: wie ein Vogelschwarm, aber eben auch wie ein militärisches Geschwader. Das ist keine gedankenlose martialische Metaphorik, die selbst nicht weiß, was sie sagt, sondern die bewusste Anknüpfung an amerikanische Mythologie. In Just Kids hat Patti Smith dann ganz explizit ihren Aufbruch mit ihrer Rockband mit dem berühmten Ritt Paul Reveres verbunden, der 1775 von Boston nach Lexington und Concord reitet, um den Weckruf zu den Waffen zu verbreiten, die Bürger vor den herannahenden britischen Truppen zu warnen und sie in Verteidigungsbereitschaft zu setzen:

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Vgl. Pocock, John G.A.: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition. Princeton 1975. Text des Songs Ask the Angels; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 69. Text von Till Victory; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 95.

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We would call forth in our minds the image of Paul Revere, riding through the American night, petitioning the people to wake up, to take up arms. We too would take up arms, the arms of our generation, the electric guitar and the microphone.45

Das Pathos der Gründung und Erneuerung, des rückhaltlosen Von-vorneAnfangens ist unzertrennlich von diesem Mythos des roll call und bildet den Hintergrund des wegen seines Provokationswertes bekannt gewordenen Satzes »i haven’t fucked much with the past, but i’ve fucked plenty with the future«.46 In den 70er Jahren ist das militärisch-republikanische Pathos sehr stark vom Heroismus des rauschhaften Abenteuers und des ekstatischen Moments gekennzeichnet, in den man sich, wie ein Soldat ins Kampfgetümmel, hineinstürzen muss. Rock ’n’ roll und Rimbaud: »Go Rimbaud go Rimbaud go Johnny go«.47 Auch der »pursuit of style«,48 der zur Rockkultur unvermeidlich gehört, wird gepflegt und prägt sich in einer Vorliebe Patti Smiths für Armeetarnkleidung und Armeestiefel aus. Bereits in diesen frühen Jahren des ersten Erfolgs findet sich das Soldatische jedoch auch christlich überformt. Ihr Album Easter vorbereitend, sah Patti Smith Pier Paolo Pasolinis Film Il vangelo secondo Matteo (1964) und war beeindruckt von dessen Jesusbild: »[…] I was struck by his commentary on Jesus as a revolutionary figure. I began to see him in another light – a teacher, a fighter, a guerrilla«.49 Unterschrieben wird Easter mit jenem Bibelvers, der exemplarisch Christentum und soldatisches Ethos zusammenführt und im angelsächsischen Raum einen viel höheren Bekanntheitsgrad genießt als an anderen Orten des Globus mit christlicher Kultur: »I have fought a good fight, I have finished my course – Timothy 4:7«.50 Im Laufe der Jahre tritt die christliche Überformung immer deutlicher hervor. Man kann sie daran ablesen, dass Rimbaud, das Idol der jungen Jahre, mehr und mehr von William Blake mit seinem Selbstverständnis als ›soldier of Christ‹, verdrängt wird. Die vielleicht wichtigste Eigenschaft des Soldaten, die Bereitschaft anderen Leid zuzufügen, wird ausgeblendet, _____________ 45 46 47 48

49 50

Smith: Just Kids (Anm. 1), S. 245. – Vgl. auch Bockris/Bayley: Patti Smith (Anm. 1), S. 115. Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 105. Aus dem Song Land auf dem Album Horses; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 52 . Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 25. – Für Patti Smith beginnt mit Baudelaire nicht nur die literarische Moderne, sondern auch die Popkultur: Nicht »Bob Dylan’s snap tab collar«, sondern »Baudelaire’s cravat« ist das erste der Beispiele, die sie an dieser Stelle für den »pursuit of style« gibt. Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 96. – Vgl. auch: »Christ was a man worthy to rebel against, for he was rebellion itself« (Smith: Just Kids (Anm. 21), S. 247). Patti Smith: Easter, Arista AB 4171 (inner sleeve) zitiert nach Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 124.

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und der Soldat verschmilzt, in seinem langen, lebenslangen Kampf, den er führt, mit den Figuren des Märtyrers und des Pilgers: Er ist, kämpfend, unterwegs, und er zieht sich dabei Wunden zu: »An artist wears his work in place of wounds«.51 Der bedeutendste (und von Patti Smith auch am häufigsten vorgetragene) Song des Spätwerks, My Blakean Year, artikuliert diese Synthese aus Soldat, Märtyrer und Pilger. Das Album, auf dem er sich findet − Trampin’ von 2004 − zeigt auf seinem Cover das Symbol der kämpfenden, leidenden Wanderschaft: der nackte, magere, seltsam längliche, geschundene Fuß, in unklarer, dürftiger, unwirtlicher Umgebung, leuchtend weiß, berührt von einer schwarzen, beringten Hand.52 Das Lied selbst, angetrieben von einem dumpfen Marschrhythmus, entfaltet eines der eindrücklichsten Bilder der Poesie von Patti Smith: das des in den Rücken genähten, somit Wunden verursachenden, Pilgersacks, dessen Last man auf seinem Lebensweg mit sich trägt (»The threads that bind the pilgrim’s sack | Are stitched into the Blakean back«). Doch der Triumph des Kampfes wartet auch noch hier, in großer Blakescher Allegorie und, statt im ekstatischen Rimbaudschen Moment, in der Zukunft eines langen Jahres: »joy shall conquer all despair | In my Blakean year«.53

V. Kunstreligion Was haben die sehr offensichtlichen religiösen Motive im Werk von Patti Smith mit Kunstreligion zu tun? Zunächst einmal fällt auf, dass das Motiv des Religionsersatzes und der neuen Religion bei ihr keine Rolle spielt. Patti Smith ist nicht nur gewiss christlicher als ihr Publikum; der Gedanke an eine planmäßige Religionsstiftung, der uns des Öfteren innerhalb der Geschichte der Kunstreligion begegnet, liegt ihr so fern wie nur möglich. Gut belegt in Werk und Performance sind hingegen jene liberalen bis kulturrevolutionären Tendenzen der Kunstreligion, die sich gern in einer gewissen Vorliebe für Häresie und Blasphemie ausprägen und regelmäßig mit einer Universalisierung der Offenbarung, einer Ausweitung des Religionsbegriffs und einer Vergleichgültigung von interreligiösen und konfes_____________ 51 52 53

Smith, Patti: To the reader; in: Smith: Early Work (Anm. 23), S. X. Das Cover zeigt nur einen Bildausschnitt. Beide nackten Füße des auf dem Erdboden sitzenden Tramps [?] sind sichtbar auf der Abbildung in Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 295. Text des Songs My Blakean Year; in: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 315 – anders als auf Trampin’ trägt der Song hier den Titel In My Blakean Year.

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sionellen Grenzen einhergehen. Auch hier sind jedoch Qualifikationen nötig. Die beiden wichtigsten dichterischen Vorbilder für Patti Smith, Arthur Rimbaud und William Blake, haben beide (wenigstens zeitweise) für sich die Rolle des Propheten, nicht die des Priesters, in Anspruch genommen. Im Fall von William Blake ist dieses Selbstverständnis sehr stark biblisch verwurzelt. Es schließt sich an die sowohl altjüdische wie radikalprotestantische Vorstellung einer ›heiligen Gemeinde‹ an, in der jeder einzelne und alle zusammen heilig sein sollen. »Would God that all the Lord’s people were prophets« heißt es in Num. 11, 29, einer Lieblingsstelle von William Blake. Diese radikale Menschengleichheit ist nun bei Blake wiederum in einer Theologie der Gottesebenbildlichkeit fundiert, die zur entscheidenden gemeinsamen Eigenschaft von Gott und Menschen die ›Kreativität‹ macht. Es leuchtet ein, dass unter solchen Voraussetzungen die Poesie große religiöse Bedeutsamkeit gewinnen kann und es sogar möglich und plausibel wäre, die Identität von Poesie und Prophetie zu behaupten. Man gelangt jedoch von dieser Variante einer Theologie der Kreativität nicht zu dem Gedanken eines besonders inspirierten und wegen seiner besonderen Inspiration seinen Mitmenschen überlegenen Genies, sondern zu Sätzen eines Typs, wie sie zum Beispiel Joseph Beuys im Anschluss an Novalis oder eben Patti Smith im Anschluss an Blake formuliert haben: »the word ART must be redefined. this is the age where everybody creates«.54 Oder: »To take on Blake is not to be alone. Walk with him. William Blake writes ›all is holy‹. That includes the book you are holding and the hand that holds it«.55 Man mag hier skeptisch bleiben und in der demokratisierten Inspiration und universalisierten Heiligkeit nur einen weiteren Knoten in der Peitsche des Herrn sehen: Wer die frohe Botschaft verkündet, dass jeder Poet sei, bleibt am Ende doch der charismatische Meister und will es vielleicht auch gar nicht anders. Umso wichtiger ist es zu betonen, dass die Apotheose von Kunst und Poesie durch eine Theologie der Gottesebenbildlichkeit noch auf andere Weise in ihre Grenzen verwiesen wird als dadurch, dass sie den Geniekult erschwert. Das Ebenbild in der Kreativität hat sowohl einen expressiven wie einen mitmenschlichen Sinn. Der _____________ 54 55

Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 107. Smith, Patti: Introduction; in: Blake: Poems (Anm. 10), S. XI-XIII, hier S. XIII. – Für das Motto zu ihren gesammelten Gedichten aus den Jahren 1975-2006 hat sich Patti Smith bei Allen Ginsbergs Litanei Footnote to Howl bedient: »The typewriter is holy the poem is holy the voice is holy the hearers are holy the ecstasy is holy!« (Ginsberg, Allen: Footnote to Howl; in: Ginsberg, Allen: Howl and other Poems. Introduction by William Carlos Williams. San Francisco 2000, S. 27-28, hier S. 27).

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bereits herangezogene Song My Blakean Year klingt nicht mit Versen von Patti Smith aus, sondern mit Versen von William Blake – aus dem Gedicht The Divine Image, in dem dasjenige benannt wird, was sowohl ein göttliches wie ein menschliches Gesicht trägt: »Mercy Pity Peace and Love«.56 Alle diese wunderbaren allegorischen Wesenheiten gehören eher in den Bereich der mitmenschlichen Solidarität als in den der Kunst. Somit werden Kunst und Poesie zu einer Gestalt neben anderen, die das göttliche Bild im Menschen annehmen kann und annimmt: zum Teil eines mitmenschlichen Gesamtprojekts, das man in einer Sprache, die der Bibel, William Blake und Patti Smith gemeinsam ist, als Bauen Jerusalems, als Errichtung des ›peaceable kingdom‹ bezeichnen kann.57 Zuzugeben ist freilich, dass sich diese Entwicklung hin zu einem prophetischen Moralismus bei Patti Smith in den 70er Jahren allenfalls andeutet und wesentlich eine Angelegenheit des Spätwerks ist. Hier schlägt sich wohl die sich im Laufe eines Lebens ansammelnde Einsicht nieder, dass Ekstase keine Kinder erzieht, keinen Streit schlichtet und niemandem aufhilft. In den 70er Jahren gab es den energiegeladenen Aufbruch einer Rockband, alles gleichermaßen fieberhaft, in Leben wie Kunst, mit einer aufrührerischen, avantgardistischen Intention, die Grenze zwischen beidem nicht anzuerkennen. Im Rückblick auf diese Phase, mehrere Jahrzehnte später, wird eben diese Grenze im Bewusstsein, dass die Poesie nur eine wertvolle Sache unter vielen wertvollen Sachen ist, wieder eingezogen: »In art and dream may you proceed with abandon. ǀ In life may you proceed with balance and stealth«.58 Für eine Betrachtung, die nach der Diversifizierung der Kunstreligion fragt, ist das Gesamtwerk der Patti Smith ein eindrucksvoller Beleg für eine prophetische Kunstreligion, die sich am Moralismus der Religion orientiert. Sie ist physiognomisch klar von einer pontifikalen, priesterlichen Linie unterschieden, die sich von Kult und Ritual fasziniert zeigt. Wenn man so will, gibt es auch im Feld der Kunstreligion levellers und dissenters auf der einen Seite, so wie auf der andern die high church.

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Blake: Poems (Anm. 10), S. 90 (erste und zweite Strophe). Vgl. Ps. 147, 2; Sach. 8, 1–13; Jes. 11, 1–10; Text von Peaceable Kingdom: Patti Smith Complete (Anm. 21), S. 319. Smith, Patti: To the reader; in: Smith: Early Work (Anm. 23), S. X.

MARIELLE SILHOUETTE

Einar Schleefs Poetik Droge Faust Parsifal (1997) oder Die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik Befremdlich, wenn nicht gar provokant mag dieser Titel im Zeitalter des sogenannten postdramatischen Theaters anmuten. In erster Linie soll die Anlehnung an Friedrich Nietzsches frühe Schrift (1872) jedoch signalisieren, dass Einar Schleefs Werk und Theaterästhetik zwölf Jahre nach seinem Tod am 4. August 2001 noch immer für Aufsehen sorgen, auch wenn sich die Form des Chor-Theaters1 auf der deutschen Bühne inzwischen mit mehr oder weniger Konsequenz und Erfolg durchgesetzt hat.2 Die Sprengkraft seiner theoretischen und praktischen Auslegungen ist aber längst nicht ausgeschöpft, wobei Schleefs Bemühen um eine ›Wiedergeburt‹ der Tragödie mit Sicherheit am ertragreichsten ist. Der Verweis auf Nietzsches Neudefinition der Tragödie als Duplizität und Kampf des Apollinischen mit dem Dionysischen, der ruhigen Vision mit dem orgiastischen Rausch, der Individuation mit der Selbstentäußerung, der Plastik mit der »unbildlichen Kunst der Musik«,3 ergibt sich aus Schleefs Werk Droge Faust Parsifal (1997), einer seltsamen Mischung aus Ausführungen über die Tragödie von der Antike bis zur Gegenwart und allgemeinen Betrachtungen über Entfremdungs- und Gewaltprozesse in der modernen Gesellschaft, die durch Beispiele aus der eigenen Biografie – als Stationen des Leidenswegs eines Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stilisiert – dargestellt werden. Dass Nietzsche in dieser Reflexion als großes Vorbild fungiert, wird zuallererst durch Schleefs viel_____________ 1 2

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Vgl. Schmidt, Christina: Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Bielefeld 2010. In Droge Faust Parsifal bedauert Schleef, dass sich sein »Formenkanon«, auch wenn er sich bei den Chor-Inszenierungen durchgesetzt habe, doch immer nur auf eine verwässerte Weise gegenüber dem Original behauptet: Das »Chor-Problem« werde »stumpf und kongruent geschliffen, damit die politische Kraft, die heute dem Chor innewohnt, nicht erscheinen möge« (Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt/M. 1997, S. 10). Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 1. München 1980, S. 9-156, hier S. 25.

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seitige Auseinandersetzung mit dem Philosophen belegt, die in Schriften4 oder Theateraufführungen5 zum Vorschein kommt. Mit Nietzsche verbindet ihn aber vor allem ein besonderer Duktus bzw. Impetus, den er im März 2000 am Wiener Akademietheater nach einem Vortrag von Auszügen aus Ecce homo, gleichzeitig als »protestantische Strenge« und »Predigtton« definiert, durch die Herkunft aus derselben Gegend erklärt und mit Thomas Müntzers Ton der sozialen Revolution in Verbindung setzt.6 Denn wie Nietzsche seine Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ein Jahr nach der Reichsgründung 1871 in der Suche nach einer adäquaten Darstellungsform für das Volk – fernab von jedem politischen Nationalismus und jeder ideologischen Gesinnung – zur ›dionysischen Befähigung‹7 desselben veröffentlicht hat, so erscheint Schleefs Poetik der modernen Zeiten acht Jahre nach dem Fall der Mauer und sieben Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, um Individuum und Kollektiv, Figur und Chor mit Trauer, Verlust, Verrat und Gewalt zu konfrontieren. Beiden, dem Philosophen wie dem Theatermacher, Maler, Fotografen und Schriftsteller, ist das Gefühl der politischen Not in Zeiten eines gefährlichen ideologischen Taumels gemein, dem nur durch eine Wiederbelebung der antiken Tragödie entgegenzuwirken sei. Ihr Grundprinzip erblicken sie in der Verwandlung, wie sie im Zusammenspiel zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen, der Individuation und dem Chor sichtbar wird.8 Wenn Nietzsche bekanntlich eine ›Artistenmetaphysik‹9 bzw. eine künstlerisch überhöhte Darstellung der Einheit vorschwebte, so ist Schleef um eine Figuration der entgegengesetzten Bewegung, der konflikthaften Entzweiung von Individuum und _____________ 4

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Schleef, Einar: Nietzsche-Trilogie. Lange Nacht. Stücke und Materialien. Frankfurt/M. 2003. – Die Kapitel ›Vorbild III: Nietzsche. Unendliche Melodie‹ und ›Exil – Wunde: Nietzsche und Wagner‹ finden sich in Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 338-348 bzw. S. 349-353. Verratenes Volk (mit dem Untertitel: Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk), eine Collage von Auszügen aus Nietzsches Ecce Homo, Alfred Döblins November 1918, John Miltons Paradise Lost und Edwin Erich Dwingers Armee hinter Stacheldraht, ist Schleefs letzte Inszenierung (Premiere am 29. Mai 2000 am Deutschen Theater Berlin), nachdem er am 2. März 2000 Auszüge aus Ecce Homo im Wiener Akademietheater vorgetragen hat. »Ihnen ist […] diese protestantische Strenge wahrscheinlich fremd. Aber ich komme aus seiner Gegend, ich höre den Predigtton des Pfarrhauses bei Lützen (Sachsen). Es ist der Ton der revolutionären Reformation Thomas Müntzers« (zitiert in Behrens, Wolfgang: Einar Schleef. Werk und Person. Berlin 2003, S. 225). Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie (Anm. 3), S. 153. »Dieser Prozeß des Tragödienchors ist das dramatische Urphänomen: sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre« (Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 3), S. 61). Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 3), S. 13, 17 und 21.

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Kollektiv, Figur und Chor mit Fixierung auf Verwandlungsmomente in Einheit, Zweiheit und Vielheit bemüht. Beide sind aber bestrebt, das zwischenmenschliche Band der Gemeinschaft zu problematisieren und das Publikum mit dessen Gestaltung in der Tragödie zu konfrontieren. Dabei ist sowohl Nietzsches als auch Schleefs ständige Auseinandersetzung mit Wagners Gesamtkunstwerk gleichzeitig als Reflexion über Natur, Wert und Funktion der Musik im Drama und die Suche nach einer Neugestaltung der Bühnenform mit Einbeziehung von Chor und Orchestra aufzufassen. Wenn Nietzsches anfänglicher Begeisterung bekanntlich ein kategorisches Verwerfen der zuerst als Abstraktion und dem tragischen Mythus gleichkommendes Mittel zur dionysischen Verzauberung, dann als betrügerischer Sog verstandenen Musik folgt (vgl. Nietzsche contra Wagner, 1888), so befasst sich Schleef vorrangig mit Richard Wagners Ortung der Orchestra, der Frage der Perspektive und der Beziehung des Chors zu den Figuren, an erster Stelle aber mit der weiblichen Figur der Kundry. Er denkt im allgemeinen über die Mittel nach, die Musik in die agonale Dynamik zwischen Individuum und Chor selbst zu verlagern und durch eine Art Vorform zu jedem logisch organisierten Ausdruck – sei es der Tanz durch das Trampeln und Stampfen oder die Sprache durch die Schreie, Laute, das Stottern – in das Ritual einzubeziehen. Hiermit wird, wie Schleef an Shakespeares Stücken darlegt, das Publikum gezwungen, »sich dem Strudel, dem Sog auszusetzen, oder sich zu absentieren«:10 also aktiv zu werden, zur Gegenreaktion, zum Wider-Stand genötigt. Es wird vor allem vor die grundlegende Frage der als Kult verstandenen Tragödie gestellt, wieviel ›Droge‹ es braucht, um sich mit der Verwandlung in Einheit und Vielheit, der Wahrnehmung und dem Bewußtsein der Grenzerfahrung und Formwerdung auseinanderzusetzen.

Schrift und Bühne Das Werk stellt sich als eine Poetik der Gegenwart dar, die in einem heute eher theoriearmen Theater geradezu als Kuriosum erscheint. Durch die schwarze Aufmachung des Bandes wird schon rein äußerlich der Grundton von Trauer und Klage angeschlagen und eine Nähe zur Tragödie suggeriert. Wie eine Grabinschrift muten der Titel wie auch der Autoren- und Verlagsname an, während die wie in Sargholz eingeritzten Buchstaben aus _____________ 10

Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 11.

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dem schwarzen Untergrund in Ernst Barlachs Manier hervorstechen. Auf der Rückseite des Bandes, wo für gewöhnlich eine kurze Zusammenfassung des Werkes und die Vorstellung des Autors erscheinen, ist der Satz an den Leser gleichzeitig als Frage (doch ohne Fragezeichen) und Mahnung adressiert: »wieviel Droge braucht der Mensch«, wobei das letzte Wort in Großbuchstaben geschrieben besonders stark hervorgehoben wird. Das Inhaltsverzeichnis lässt ohne logischen Zusammenhang 78 Kapitel mit rätselhaften Überschriften (z. B. ›Sound - Sog: Eichendorff und Teneriffa‹, ›Spanien I: El Paral‹) erscheinen, einige in semantischen mehrteiligen Blöcken organisiert (›Gegenwelt‹, ›Sprache‹, ›Anrufung‹, ›Perspektive‹, ›Wunden‹, ›Paar‹, ›Baustein‹, ›Kuß‹, ›Könige‹, ›Vorbild‹, ›Monolog‹, ›Männer‹, ›Ideologie‹). Auch werden Dramatiker mit Szenen aus ihren Werken (diese in Großbuchstaben angegeben) zitiert, wobei Goethes Urfaust und Faust I/II (›Walpurgisnacht‹, ›Dom‹, ›Kerker‹, ›Auerbachs Keller‹) vor Brechts Puntila, einem Shakespeare gewidmeten Kapitel (›Shakespeare, Trümmer und Sog‹) und Sophokles’ Elektra (›Vor dem Palast‹) den weitaus größten Platz einnehmen. Neben ihm werden Szenen und Figuren aus Richard Wagners Werk (Parsifal, Kundry, Gralsburg, Gurnemanz, Klingsor) sowie der Theaterreform in Bayreuth mehrere Kapitel gewidmet, gleichzeitig aber der Beitrag Nietzsches zur differenzierten Rezeption von Wagners Kunst (›Vorbild III: Nietzsche. Unendliche Melodie‹ und ›Exil - Wunde: Nietzsche und Wagner‹) einbezogen. Als einzige Maler finden Leonardo und Dürer in einem ›Perspektive II‹ betitelten Kapitel Erwähnung, wobei die schwarzen Streifen der Kapitelüberschriften mit dem in weißen Buchstaben eingeschnitzten Titel stark an Koloman Mosers Vignetten erinnern. Verweise auf die eigene Biografie (›Konfirmation und Jugendweihe‹, ›Langhaarschnitt contra Kurzhaarschnitt‹, ›die Lehrer‹), auf Politiker der DDR (Walter Ulbricht) und auf die zeitgenössische Theatersituation (›Theater in der Wende‹, ›Trümmer: Ende des Sprechtheaters‹) sind zudem in dieses scheinbar lose Gefüge eingeflochten. Beim näheren Hinsehen lassen sich eine Struktur und ein Sinn erkennen, womit das Theater, vom Text bis zur Architektur, von den Figuren zur Bühnenform und Wirkung auf das Publikum, im Gesamtgefüge der Kultur (Staat und Politik, Gesellschaft, Religion) unter vielen Perspektiven erfasst wird. Der Poetik-Tradition gemäß wird in diesem Unternehmen immer wieder auf die Tradition Bezug genommen, ohne dass Treue und Verpflichtung gegenüber den Vorfahren auf Kosten der Wahrheit und der Suche nach einem zeitgemäßen Theater sich behaupten würden: Weiß eingerahmt auf schwarzem Untergrund folgt auf der vorletzten Seite die Widmung »Meinen Lehrern +« auf das Schlusskapitel ›Sprechen‹, in dem der Impetus der Wortverständlichkeit vorgezogen wird. Schleef bleibt bis zuletzt ein Protestant im wörtlichen Sinne: Seine dramatische, politische

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und soziale Reform erfolgt im Wissen um die Tradition in der polemischen Auseinandersetzung mit ihr. So ist die Widmung als Gedenken und Drohung zugleich zu verstehen, womit die Gewalt und die agonale Dynamik als Grundgestus von Schleefs unversöhnlicher Vision von Staat, Gesellschaft und Theater erneut betont werden, auch wenn in der Mitte des Bandes drei mit ›Kuß I‹, ›Kuß II‹ und ›Kuß III‹ bezeichnete Kapitel – das letzte sogar in ausdrücklicher Anlehnung an Klimts bekanntes Gemälde Der Kuss – allem Haß und aller Gewalt die Bewegung der Liebe entgegenzusetzen scheinen. Diesen Weg scheint auch der Verweis auf das Leid Christi (›3 Visionen 3 Verwechslungen Christi‹, ›Jesus: Jude oder Christ‹), das im Vorwort als Grundvariation von der als kannibalisches Ritual aufgefassten antiken Tragödie gedeutet wird, wie überhaupt die Nähe des Werkes zur Bibel (die Kapitel ›Könige‹, die verschiedenen Stationen ›Entscheidungen‹, ›Wunden‹) zu bestätigen. Doch bleibt Schleef bis zuletzt Nietzsches Gestus in Ecce Homo treu, indem er Dionysos als chaotische Kraft dem Gekreuzigten entgegensetzt11 und weniger als Mensch denn als Dynamit vor und auf der Bühne stehen will.12 Droge Faust Parsifal ist als Kampfansage an das bürgerliche Theater konzipiert, deren Notwendigkeit Schleef immer wieder zu veranschaulichen bemüht ist durch die zugleich lose und dichte Montage aus theoretischen Bemerkungen über das Theater im allgemeinen und seine Tradition in der abendländischen Kultur im besonderen, über die moderne Wirklichkeit durch die Schilderung der Folgen von Trauerabwehr (Depression und Vereinsamung), durch die Analyse der Geschichte und Kultur an sich, wobei Phänomene wie Sprache, Tier oder Mensch behandelt werden. Der Rekurs auf die eigene Biographie macht es möglich, die Spannung und ständige Bewegung zwischen Individuum und Kollektiv ans Licht zu bringen und dabei insbesondere Mutationsprozesse herauszukristallisieren, die Schleef zufolge das Wesen des Theaters ausmachen: die Entstehung der Sprache als organisiertes Gefüge und ihr Ursprung im Schrei, Laut, Klang; das Tierische im Menschen, das in der Kultur immer wieder verdrängt wird und ein Potential an Gewalt in sich trägt; der Chor als Meute, das Individuum als Raubtier, während das bürgerliche Theater »den Zuschauer zum Voyeur« macht, »der in ein ›Rattenloch‹ sieht, in dem sich die Figuren wie er selbst verzweifelt krümmen. Der Zuschauer ist Ratte unter Ratten«;13 in der Wirklichkeit Spuren der erlittenen oder erwünschten Zu_____________ 11 12 13

Vgl. Nietzsche, Friedrich: Ecce Homo. Wie man wird, was man ist; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 6. München 1980, S. 255-374, hier S. 374. »Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit« (Nietzsche: Ecce Homo (Anm. 11), S. 365). Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 51.

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gehörigkeit zum Kollektiv aufzuspüren.14 Hinsichtlich der Geschichte des Theaters werden diejenigen Augenblicke besonders detailliert analysiert, in denen wirksame Formen und Mittel des Grundkonflikts ausgeschlossen wurden: in der Klassik, die den Chor und die Sprache domestiziert, im Gegensatz zum Sturm und Drang, wo die produktive Gewalt noch vorhanden ist; im Theater Hauptmanns, da die Frau wie in der antiken Tragödie eine wesentliche Rolle spielt und auch der Chor auftritt. Schließlich werden Sprachreformatoren wie Martin Luther, Thomas Müntzer oder Friedrich Nietzsche immer wieder zitiert und in ihrem besonderen Duktus aufgegriffen. Aus diesem Grund hat Schleef seiner Geburtsstadt und -region eine symbolische Funktion zugeschrieben: 20 km westlich von Luthers Geburtsstadt Eisleben entfernt, 80 km westlich von Leipzig, wo Bach und Wagner zur Welt gekommen sind und nahe bei Nietzsches Heimat Röcken.

Ich und Landschaft Schleefs vielseitige Assoziationskette lässt vor dem Leser eine multiperspektivistische politische, religiöse, soziale, historische, ästhetische Landschaft erstehen, die er selbst als Künstler aktiv durchschreitet und sich darin zugleich als Opfer inszeniert. Die von Crista Mittelsteiner zu Recht so genannte ›theatralische Biografie‹15, die bewusste Aktivierung der modernen Passionsgeschichte eines Deutschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und deren verschiedene Stationen ermöglichen es, die von Schleef als Grundszene der Tragödie angesehene Situation der sophokleischen Elektra vor dem Palast am eigenen Beispiel zu exemplifizieren: Damit wiederholt sich jene antike Konstellation, in der Elektra nachts vor dem Palast steht, dem Palast, in dem sie geboren wurde, der sie verstoßen hat, und

_____________ 14

15

»Betrunkene hörte ich oft in einer anderen Sprache sprechen, stammeln, stottern. Ihre Schreie vermischten die Sprachen, blieben unverständlich. Noch als wütendes Keuchen, geladen mit einem Haß, der sich gegen jeden, der ihnen begegnete, richtete, der zu den anderen gehörte, denen sie sich verzweifelt entgegenwarfen. Ihre Ohnmacht herausheulten, ihrer nicht Herr werden wollten. | Darin unterschieden sich die Deutsch Monologisierenden, standen wie unter Drogen, ganz in sich gekehrt, wehmütig leise« (Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 88). Mittelsteiner, Crista: Battements de chœur. Einar Schleef, une biographie théâtrale; in: Choralités. Alternatives théâtrales 76/77. Sous la direction de Christophe Triau avec la collaboration de Georges Banu. Bruxelles 2003, S. 45-49, hier S. 45.

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dem sie sich nun in Rache und Mordlust nähert. Hinter ihr stehen die Götter, die ebenso verstoßen sind und Einlaß begehren: Und Ihr Geschrei erfüllt das Riesenhaus.16

Wohl gemerkt erscheint dieses Bild, nachdem Schleef auf die Weigerung von Staat und Gesellschaft angespielt hat, sich einer Wiederbelebung des »antiken Chor-Gedankens«, der »Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt« sowie dem »tragischen Bewußtsein«17 überhaupt zu öffnen. Hiermit wird deutlich auf den Fall der Mauer und auf den darauf folgenden nationalen Jubel angespielt, den Schleef – wie auch sein 2000 am Deutschen Theater inszeniertes ›Volksspiel‹ Verratenes Volk mit dem aggressiven Untertitel Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk bezeugt – anprangerte. An Elektras Szene wird die doppelte Haltung der Figur und des Kollektivs vor dem Palast als Symbol der Macht sichtbar, nämlich das Ausgestoßensein einerseits und die agonale Dynamik andererseits. Die systematische Selbststilisierung verwandelt den Raum dieser modernen Poetik in eine Bühne, auf der sich die moderne Tragödie Deutschlands in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Konflikt des Kollektivs und des Einzelnen, »von Vielheit und Singularität«,18 abspielt. Diese Durchlässigkeit von Theatertheorie und -praxis einerseits und menschlicher Erfahrung andererseits spricht für Schleefs Vision an der Schnittstelle zwischen Malerei und Theater, Bild und Handlung, Rahmung und Sprengung, in der sowohl das Individuum als auch das Kollektiv, d. h. die Figur und der Chor im Bühnenraum, auf die Probe gestellt werden. Schleefs Vertrauen in das Theater als Darstellungsmittel des tragischen Bewusstseins bzw. des Grundkonflikts zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv gründet zuerst auf der Überzeugung, dass die menschlichen Verhältnisse nach einem Grundschema organisiert sind: Der krankhaften Sehnsucht des Einzelnen nach einer Integration ins Kollektiv und seinem gleichzeitigen Aufbegehren gegen diese Bewegung, die er als Krümmung der Senkrechten empfindet, entspricht das zwingende Bedürfnis des Kol_____________ 16 17

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Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 9. »Der Versuch, gegen die deutschen Klassiker den antiken Chor-Gedanken zu beleben, die Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt zu erreichen, die mit der Rückführung des tragischen Bewußtseins gekoppelt ist, wurde von vielen Theatermachern praktiziert, doch scheitern ihre Versuche angesichts der sich verändernden politischen Zustände, die sich oft einer Rückführung des tragischen Bewußtseins öffneten, sich aber genau in dem Moment der Öffnung, als diese allgemein bewußt wurde, wieder verschlossen« (Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 9). Lehmann, Hans-Thies: Theater des Konflikts. [email protected]; in: Einar Schleef Arbeitsbuch. Herausgegeben von Gabriele Gerecke, Harald Müller und HansUlrich Müller-Schwefe. Berlin 2001, S. 42-53, hier S. 49.

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lektivs, über das Partikulare Herr zu werden und es sich mit Gewalt einzuverleiben, da dessen Individualisierungsversuch als Verrat gilt. Der Verrat am Kollektiv, diese zugleich schmerzhafte und begehrte Erfahrung des Individuums, die notwendig die Ausstoßung aus dem Kollektiv bedeutet, ist nach Schleef die menschliche Grunderfahrung der Wirklichkeit, wie sie in der antiken Tragödie durch den Ausgang des Hypokrites aus dem Chor dargestellt wird. Das Individuum konstituiert sich durch »Trauerabwehr, verleugnete[ ] Klage um die Zugehörigkeit bzw. verleugnete[s] Begehren nach Zugehörigkeit«.19 In der antiken Tragödie nimmt der Chor eine Ausstoßung vor, da er, so Schleef, »den Einzelnen nur als Kadaver kennt«20 und seinen Tod feiert, wobei der Monolog auch erst entstehen kann. Auf ähnliche Weise muss in der Tragödie der von Natur aus kranke Chor immer wieder einen Einzelnen, ›Andersdenkenden‹ für schuldig erklären und mit Gewalt ausstoßen, da er sonst wohl nicht – innerlich geschwächt, wie er ist – überleben könnte. Wie Hans-Thies Lehmann eindrucksvoll beschreibt, entsteht zwischen Individuum und Kollektiv, Figur und Chor »ein Kreislauf der Abspaltung«, »eine absurd anmutende Interdependenz der wechselseitigen Definition«21 durch diese doppelte Bewegung der Integrations- und Befreiungssehnsucht des Einzelnen und dessen notwendige Ausstoßung durch den Chor: Der antike Chor ist ein erschreckendes Bild: Figuren rotten sich zusammen, stehen dicht bei dicht, suchen Schutz beieinander, obwohl sie einander energisch ablehnen, so, als verpeste die Nähe des anderen Menschen einem die Luft. Damit ist die Gruppe in sich gefährdet, sie wird jedem Angriff auf sich nachgeben, akzeptiert voreilig angstvoll ein notwendiges Opfer, stößt es aus, um sich freizukaufen. Obwohl sich der Chor des Verrats bewußt ist, korrigiert er seine Position nicht, bringt vielmehr das Opfer in die Position des eindeutig Schuldigen. […] ein Vorgang, der sich jeden Tag wiederholt. Der Feind-Chor […] die Andersdenkenden, vor allem der, der die eigene Sprache spricht, ihn gilt es zuerst auszulöschen, egal wie.22

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Lehmann: Theater des Konflikts (Anm. 18), S. 51. Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 392. »Der Chor wiederum ist seinerseits eine bedrohte Identität, die gar kein Subjekt, keinen Halt hat, sondern lediglich in eben dieser Bewegung existiert, das Individuum (jedes wirkliche Individuum) als das Fremde, das Unzugehörige, sagen wir: als das Ungehörige zu bestimmen. Diese gegenseitige Definition, mit der Schleef das Theaterproblem von Gemeinschaft und Individuum erfasst, erinnert unwiderstehlich an Kafka, an Josefine oder das Volk der Mäuse, bei dem ein ähnlich grundloser oder abgründiger Kreislauf der Abspaltung, Ausstoßung und Sehnsucht nach Vereinigung, und zugleich eine absurd anmutende Interdependenz der wechselseitigen Definition erscheint« (Lehmann: Theater des Konflikts (Anm. 18), S. 51). Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 14.

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Zwischen dem Apollinischen als principium individuationis und dem Dionysischen als Selbstentäußerung herrscht eine ständige Spannung zwischen Figur und Chor und in diesen. Es wird ein regelrechter Kampf ausgetragen, ohne dass die ständige Kreisbewegung auf eine Versöhnung hinausliefe, da die Tragödie, wie Hans-Thies Lehmann triftig schreibt, gerade das Ausgestoßensein, den »Zerfall von Zugehörigkeit« darstellt.23 Diese agonale Wechselbeziehung, die in der Tragödie wie im Rausch gemimt, erhöht und nacherlebt wird, reaktiviert religiöse Momente der Theater- und Kulturtradition, die Schleef in den ersten Seiten seiner Poetik anführt: Die vom Chor-Gedanken ausgehenden Stücke verbindet ein Thema, die Droge, ihre Definition und rituelle Einnahme in Gruppe. Grob gesagt, wird die Droge notwendig, um eine gesellschaftliche Utopie zu entwickeln, ihren Einflußbereich aufrecht zu erhalten, folglich die Zahl ihrer Konsumenten zu erhöhen. Dabei beruft sich die von den deutschen Autoren verwendete Drogeneinnahme auf die erste ›chorische‹ Drogeneinnahme unseres Kulturkreises: Das ist mein Leib. Das ist mein Blut.24

Die Feststellung eines Darstellungsdefizits der der Gesellschaft innewohnenden Gewalt, die Verinnerlichung derselben durch den einsamen Rausch, muss durch die kollektive Drogeneinnahme im Theater und die Reaktivierung des Dionysischen wohl nicht zur Stilllegung des Grundkonflikts zwischen Ein- und Vielheit, Individuum und Kollektiv, wohl aber zur Bewusstwerdung der ihm zugrundeliegenden Affekte durch die Vorstellung selbst ersetzt werden. Ex negativo scheint also die Verbindung (das religere) hergestellt werden zu können, doch liegt dieser Auffassung gleichzeitig das Vertrauen in die Kraft und die unentbehrliche Rolle des Theaters als Kampfmittel durch die mimische Darstellung der Verwandlung und der unmöglichen Vereinigung zugrunde.25 Besonders aufschlussreich ist dabei die Feststellung, dass nicht wie in René Girards La Violence et le sacré (1972) der Einzelne durch seine Opferung zur Läuterung und Sühne der kollektiven Schuld verhilft, und auch nicht wie bei Antonin Artaud, dessen Theater der Grausamkeit in man_____________ 23 24 25

»Die antike Tragödie zeigt den Moment, da Staat, ›Bevölkerung‹ bricht, Zerfall von ›Zugehörigkeit‹ geschieht und genau deren Verlust das Individuum konstituiert« (Lehmann: Theater des Konflikts (Anm. 18), S. 51). Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 7. »Die ideologische Problematik – Bejahung oder Verneinung, Begehren oder Abscheu dem Chor gegenüber – ist also gerade nicht das Zentrum. In jedem Einzelnen existiert vielmehr für Schleef eine Art von Bewusstsein (Schmerz oder Begehren) von Zugehörigkeit, während auf der anderen Seite – und da beginnt die eigentlich theatralisch interessante agonale Dynamik – dem Chor von Schleef zugeschrieben wird, dass er immer ›das Individuum als ausgestoßen betrachtet‹« (Lehmann: Theater des Konflikts (Anm. 18), S. 51; der letzte, in Anführungsstrichen stehende Satz stammt aus Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 377).

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cher Hinsicht für Schleefs Auffassung einer Theatersprache vor dem Wort und dem Logos Pate gestanden zu haben scheint, die agonale Dynamik auf der Bühne als Ausdruck einer kosmischen Gewalt fungiert. Bei Schleef sind Figur und Chor vielmehr gleichsam ausgestoßen: Beide stehen vor dem Palast als Symbol der Macht, machtlos und mächtig zugleich, aufund gegeneinander zugehend, um in diesem rauschhaften Protest erst als Form auftreten zu können.

Stationen Als zweiter Sohn eines Architekten und einer Näherin am 17. Januar 1944 in Sangerhausen geboren, wuchs Einar Schleef in der Ruinenlandschaft der unmittelbaren Nachkriegszeit und im grauen Alltag der DDR auf, als neue Machtstrukturen die individuelle Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten nach der NS-Terrorherrschaft wiederum einschränkten. Auch im Privatbereich hatte er stark unter dieser Gewalt zu leiden, da sein Vater gesellschaftlich bedingte Frustrationen im Prügeln der Kinder abreagierte. 1977 assoziierte Schleef in seinem Tagebuch Privat- und Staatsgewalt und erklärte, die »Vergangenheit unserer Eltern« werde »unsere Zukunft«.26 Wie er 1997 in Droge Faust Parsifal feststellt, konnte er immer noch nicht »zwischen dem Gruß der Jungen Pioniere und dem Gruß der HitlerJugend unterscheiden, die Körperhaltung, die man dabei einzunehmen gezwungen« war, blieb ihm zufolge eine »Verkrümmung der Senkrechten«.27 Die Sozialisierungsriten der Kirche (die Konfirmation), der Gesellschaft (das Saufen) und der Politik (die Jugendweihe) deutete er als eine Gewalt am Individuum aufgrund der erzwungenen Integration ins Kollektiv. Sein Stottern, das er nach einem frühen Unfall sein Leben lang behielt, war die logische und notwendige Ausdrucksform dieser Vergangenheit und Gegenwart; der Sprachunterricht, den er als Kind in Nordhausen, einer der damals am meisten zerstörten Städte Deutschlands, erhielt, konsolidierte die Trümmerlandschaft in ihm nur noch mehr und verbarrikadierte ihn äußerlich wie innerlich. Später vermochte er nur noch auf der _____________ 26 27

Schleef, Einar: Tagebuch 1977-1980. Wien u. a.. Herausgegeben von Winfried Menninghaus, Sandra Janßen und Johannes Windrich. Frankfurt/M. 2007, S. 120. »Ich kann heute noch nicht zwischen dem Gruß der Jungen Pioniere und dem Gruß der Hitler-Jugend unterscheiden, die Körperhaltung, die man dabei einzunehmen gezwungen ist, bleibt eine Verkrümmung der Senkrechten« (Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 82).

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Bühne eine erstaunlich flüssige und vehemente Sprache zu sprechen, wovon seine Puntila-Interpretation am Berliner Ensemble 1996 oder die Deklamation langer Passagen aus Nietzsches Ecce Homo am Wiener Akademietheater 2000 zeugen. Im Februar 1960, mit knapp sechzehn Jahren, verbrachte Schleef nach dem Sturz aus einem fahrenden Zug zwölf Monate im Krankenhaus neben Arbeitern und russischen Soldaten, entging einer Arm-Amputation und überlebte schließlich als einziger der Stubengemeinschaft. 1963 fuhr er nach Berlin, um der Hölle im Elternhaus nach der Flucht seines Bruders in die BRD 1957 zu entfliehen. Zwischen 1964 und 1973 studierte er Malerei an der Kunsthochschule Weißensee, erwarb 1971 sein Diplom und wurde nun Meisterschüler des Bühnenbildners Karl von Appen, wo er zwei Jahre blieb, nachdem er »bei Heinrich Kilger, auch einem Mitarbeiter Brechts, studiert hatte«.28 In diesen Jahren begann auch die Zusammenarbeit mit dem Brecht-Schüler Bernhard Klaus Tragelehn am Berliner Ensemble, doch die »fast 20jährige Beschäftigung mit diesem Theater, mit den Arbeiten Brechts und seiner Nachfolger, mündete nicht«, wie Schleef selbst 1997 erkannte, »in eine Brecht-Inszenierung«, sondern 1974 in seinen ersten Theatertext Berlin ein Meer des Friedens, »der den Untergang der geteilten Stadt in einer braunen Flut« beschreibt und überhaupt zeigt, wie »die Abwicklung der Nazi-Altlasten jahrelang das Wiedererstehen einer faschistischen Welt verdeckte«.29 Mit Tragelehn inszenierte er 1972 am Berliner Ensemble Erwin Strittmatters Katzgraben, zwei Jahre später Frank Wedekinds Frühlings Erwachen und schließlich 1975 August Strindbergs Fräulein Julie, wobei er mit dieser letzten Arbeit für einen heftigen Skandal sorgte. Berliner Oberschüler tanzten zu Beat-Rhythmen und Jutta Hoffmann als Hauptfigur ging am Ende des Stückes von der Bühne »über die Stühle des Parketts und die Köpfe der Zuschauer hinweg«.30 Diese klare Metapher des Befreiungsaktes nahm Schleefs Entscheidung vorweg, 1976 anläßlich einer Einladung des Wiener Burgtheaters die DDR endgültig zu verlassen, wodurch er seine Mutter und seine Lebensgefährtin Gabriele Gerecke den Repressalien des Regimes aussetzte (Gabriele Gerecke wurde 1977 bei einem Fluchtversuch verhaftet und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt). Schleefs Integration in die westdeutsche Gesellschaft ließ lange auf sich warten: In den ersten Jahren blieb er finanziell vollkommen auf die Hilfe von Bekannten und Freunden angewiesen, fristete in den ersten drei Wiener Monaten ein kümmerliches Dasein, lebte _____________ 28 29 30

Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 84. Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 84. Behrens: Einar Schleef (Anm. 6), S. 53.

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bis November 1978 provisorisch in Stuttgart, Zürich, Frankfurt und Berlin, versuchte am Düsseldorfer Schauspielhaus Fuß zu fassen, bis er sich gänzlich vom Theater zurückzog und dem Schreiben widmete. In dieser Zeit entstanden bei Suhrkamp, dessen damaligen Leiter Rudolf Rach er in Frankfurt kennengelernt hatte, der Erzählungsband Die Bande (1982), das Schauspiel Wezel (1983) und die zwei Teile von Gertrud (1980, 1984), einem 1000 Seiten umfassenden Monolog seiner Mutter in Romanform, der akribisch den Alltag in fünfzig Jahren deutscher Geschichte aufrollt. Von 1986 bis 1993 wurde Schleef vom neuen Intendanten des Frankfurter Schauspiels, Günther Rühle, mit mehreren Regiearbeiten beauftragt, die ihn mit einem Schlag bekannt machten, gleichermaßen geliebt und gehaßt. In seinem Schauspiel Mütter z. B. – einer Collage aus Aischylos’ Sieben gegen Theben und Euripides’ Bittflehenden Müttern – spielte ein Chor von sechzig Frauen die Hauptrolle, zum großen Teil Laien, die, so Martin Wuttke in seinen Erinnerungen, »aus aller Herren Länder [kamen] und die unterschiedlichsten Sprachen« sprachen.31 In einer 15minütigen langen Totenklage »rhythmisierte ein Vorsänger das ›Ai Ai‹ und die Bewegungsrituale der Gruppe, bis der Zuschauer entweder einstimmte in den Vorgang oder ausgeschlossen war. Das heißt: Schleef setzt die Zuschauer szenischen Prozeduren aus, die sie körperlich verspüren«.32 Gegen die Illusion und den Psychologismus ist die Guckkastenbühne »durch einen den Zuschauerraum zerteilenden Stufensteg« erweitert worden, der von der Bühnenrampe bis an die Beleuchterloge führt. Zusätzlich befinden sich im Rücken des Publikums Podeste. Die Bestuhlung des Saals ist entfernt worden, so daß das Publikum auf den Bodenstufen des Theaters sitzt, einer antiken Arena vergleichbar.33

Weiterhin entwickelte Schleef in dieser Inszenierung »seinen Formenkanon«: ein weitgehend leerer, von wenigen gliedernden Elementen bestimmter Grundraum; wenige, gleichsam als Archetypen genutzte Grundkostüme, äußerste Beschränkung der Requisiten; rhythmisiertes Sprechen; Gegenüberstellung von Chor und Individuum.34

In einem Gespräch beschrieb der Dramaturg Carl Hegemann 2002 die Reaktionen des Publikums: _____________ 31

32 33 34

Behrens: Einar Schleef (Anm. 6), S. 106; »Das ist doch kein Drama«. Wie Einar Schleef 1986 in Frankfurt das Theater abschaffte. Martin Wuttke und Carl Hegemann erinnern sich; in: Einar Schleef Arbeitsbuch. Herausgegeben von Gabriele Gerecke, Harald Müller und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Berlin 2001, S. 193-196, hier S. 193f. Günther Rühle: Das Theater des Einar Schleef. Sonderheft des Magazins des Frankfurter Schauspiels Vorwort, Mai 1988, S. 6 (vgl. Behrens: Einar Schleef (Anm. 6), S. 109). Behrens: Einar Schleef (Anm. 6), S. 108. Behrens: Einar Schleef (Anm. 6), S. 106.

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Die Leute gingen raus und sagten: Das ist kein Theater mehr. Und das war auch kein Theater, das war ein durchgeführtes Ritual, hatte nichts mit der Straßenszene zu tun und auch nichts mit Verstellungskunst. […] Es wurde einfach nur auf der Bühne getrauert und zwar in Tönen, die man sonst höchstens noch irgendwo in der Türkei oder in Griechenland auf dem Lande hören kann. […] Schleef hat einfach die Realität auf die Bühne gebracht. Er hat Vorgänge stattfinden lassen, die nicht gespielt waren. Er hat das Ritual profanisiert. Und insofern hatten die Leute recht, die sagten, das ist kein Theater mehr.35

Nach Mütter inszenierte Schleef 1987 Hauptmanns Stück Vor Sonnenaufgang, das seiner Meinung nach »zu den wichtigen Theatertexten zählte«, da, so Schleef, »Hauptmann die Frau im Zentrum zu lokalisieren« suchte und sich damit von der Tradition der Klassik löste.36 1988 brachte er sein Stück Die Schauspieler, eine Collage aus Gorkis Nachtasyl und Notizen von Stanislawski über den Schauspieler, auf die Bühne und nach dem Frankfurter Opernbrand (1987) führte er Götz von Berlichingen im Bockenheimer Depot auf, das er durch einen 43 Meter langen Steg in der Mitte mit dem Publikum auf beiden Seiten teilte. Einige Szenen wurden simultan gespielt und eine eigene, von den anderen unterschiedliche Perspektive des Zuschauers erzwungen. Gleichzeitig legte Schleef hier den Schwerpunkt auf das Defilee, den zeremoniellen Auftritt, und knüpfte somit an die mitteltalterliche Prozession wieder an. Wie Miriam Dreysse in ihren Erinnerungen erklärt, verlief die erste Probezeit so, dass vormittags Leseproben stattfanden, an denen ein »wiederkehrendes Motiv in Schleefs Theaterarbeit: die Utopie eines runden Tisches« geübt wurde, eines »gemeinschaftlichen Handelns, und ihr meist gewalttätiges Scheitern, vor allem in der deutschen Geschichte«.37 Abends hatte die mimesthai, die tänzerische Darstellung, den Vorrang: die Trennung von Körper- und Stimmbewegung, die Schleefs Inszenierungen kennzeichnet, auch beim Proben. Vormittags die Konzentration auf den Text, das Sprechen, die Suche nach dem richtigen ›Ton‹ der Figuren bzw. Figurengruppen. Abends das Tanzen38

Zur deutschen Einheit 1990 inszenierte Schleef Neunzehnhundertachtzehn oder Sklavenkrieg, eine Bearbeitung von Lion Feuchtwangers dramatischem Roman Thomas Wendt (1920) über die Revolution nach dem Ersten Welt_____________ 35 36 37 38

Wuttke/Hegemann: »Das ist doch kein Drama« (Anm. 31), S. 195. »Sich von der Tradition der Klassik lösend, versucht Hauptmann die Frau im Zentrum zu lokalisieren. Schon daher zählt Vor Sonnenaufgang zu den wichtigsten Theatertexten« (Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 15). Dreysse, Miriam: Erinnerungen an die Frankfurter Zeit; in: Einar Schleef Arbeitsbuch. Herausgegeben von Gabriele Gerecke, Harald Müller und Hans-Ulrich Müller-Schwefe. Berlin 2001, S. 155-157, hier S. 155. Dreysse: Erinnerungen (Anm. 37), S. 155.

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krieg. Der Chor der Revolutionäre, der rauschsüchtig der Niederlage entgegentaumelt, wurde von Frauen gespielt. Im selben Jahr gab er noch Faust und stellte einer Gruppe von 25 Faust- und Margarethe-Figuren Mephisto gegenüber. Als Günther Rühle 1993 als Intendant des Schauspiels abgesetzt wurde, folgte Schleef einem Ruf Heiner Müllers ans Berliner Ensemble, wo er Rolf Hochhuths Wessis in Weimar mit einem Chor nackter Männer aufführte. Aufgrund von Differenzen zwischen Peter Zadek und Heiner Müller im Vorstand des Berliner Esembles ging Schleef ans Schiller-Theater, inszenierte dort nach dessen Schließung Faust am 16. Oktober auf den Stufen des Gebäudes, mit Schauspielern in Uniform, die am Licht von brennenden Fackeln den Text vier Stunden lang deklamierten. Nach Zadeks Ausscheiden aus dem Berliner Ensemble spielte Schleef selbst die Titelrolle in seiner Puntila-Inszenierung 1995, verschwand nach Müllers Tod am 30. Dezember aber wieder aus dem Theater und inszenierte 1997 Salome in Düsseldorf, 1998 am Wiener Burgtheater Jelineks Sportstück, Wilder Sommer nach Carlo Goldonis Villeggiatura und Ulla Unseld-Berkéwicz’ Golem in Bayreuth. 2000 gab er am Deutschen Theater Berlin Verratenes Volk nach Texten von John Milton, Friedrich Nietzsche, Edwin Erich Dwinger und Alfred Döblin, musste die auf Anfang Januar 2001 geplante Aufführung von Jelineks Trilogie des Todes aus gesundheitlichen Gründen absagen und starb am 21. Juli im Berliner Paulinenkrankenhaus. In einem Artikel, der zwei Wochen nach Schleefs Tod in der österreichischen Wochenzeitschrift Format (05. 08. 2001) und zwei Tage später in der Frankfurter Rundschau (07. 08. 2001) erschien, erklärt Elfriede Jelinek, es habe »nur zwei Genies in Deutschland nach dem Krieg gegeben, im Westen Fassbinder, im Osten Schleef«, und lässt ihren Nachruf mit zwei Wortspielen Dritter über den Vornamen des Künstlers enden: »Einar wie keiner« und »alles schläft, Einar wacht«.39

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Jelinek, Elfriede: »Einar Schleef«; in: Format, 05. 08. 2001.

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Mauer und Wider-Stand Schleefs Ästhetik und Wiederbelebung der Tragödie als Bühnenform ist ohne das Grundbild der Mauer nicht zu verstehen, womit die ElektraModellszene erst zur vollen Geltung gelangt: Wie sich Sophokles’ Figur vor dem Palast als ausgestoßen betrachtet und sie sich ihm darauf, von den gleichsam geächteten Göttern gefolgt, in Rache und Mordlust nähert, so ist Schleefs Grunderfahrung der deutschen Geschichte stets durch Grenzüberschreitung, Verrat und Ausstoßung markiert. Statt Freiheit und Entfaltung hat die Flucht aus der DDR nur einen neuen Blick auf die Mauer aus einer anderen Perspektive bedeutet, wie er 1981 in einem Das antifaschistische Bollwerk betitelten Kapitel seines Tagebuchs schreibt: Wenn ich aus dem Haus geh, endet es an der Mauer. Da ist eine Beziehung unbewußt, nur ein Wort, mich zu trösten, die Augen zukleben, weil ichs weiß […]. | Bin ich zu Haus, hält es mich keine Minute, raus muß ich, irgendwohin, nur nicht hier bleiben. Wie viele Anläufe, nichts klärt sich in mir, ohnmächtig wenn ich das Bollwerk ansehe, in mir verankert. | Jedesmal Warum? Ich bin ihnen zugehörig, denen auf der anderen Seite, ich bin einer von ihnen, indem ich ihnen gegenüberstehe […]. | Das geht nicht, bei keiner Flucht, ich rüttle vergeblich. | Da bin ich her, hier wollte ich hin. Ich habe kein Deutschland gefunden. Ich habe nichts. Jetzt bin ich auf der anderen Seite.40

Republikflüchtig wünscht er nichts mehr, als zu den Verlassenen, den von ihm Verratenen zu gehören; auf beiden Seiten bleibt aber das Gefühl der Ausstoßung, der Blick auf die Mauer in und außer sich als Fluchtperspektive, als ständiger Anlass zum Protest, Anlauf und Rütteln dagegen, was die Existenz erst möglich macht. Gleichsam steht die Masse wie vor der Mauer des Palastes, z. B. bei einer Kundgebung von Darstellern in den letzten Tagen der DDR, wo sie, statt »ihn zu stürmen«, »pestkrank in erniedrigender Demütigung« beharrt als Beweis dafür, dass »die antike Konstellation lebendig ist« und die »Verweichlichung und Dekadenz des bürgerlichen Theaters brandmarkt«, welches »sich bewußt den politischen Themen verweigert und zu ihrer Verhinderung auf der Bühne angetreten ist«.41 Dieses Bild der Mauer betrifft auch die zwischenmenschlichen Beziehungen, d. h. das Individuum kann nur dann Form annehmen, wenn es den anderen als Mauer betrachtet, die es im Rausch zu stürmen gilt. Diese Aggression ermöglicht erst die Ortung, eine räumliche Existenz, sobald sie _____________ 40 41

Schleef, Einar: Tagebuch 1981-1998. Frankfurt am Main – Westberlin. Herausgegeben von Winfried Menninghaus, Sandra Janßen und Johannes Windrich. Frankfurt/M. 2009, S. 52f. Schleef: Tagebuch (Anm. 40), S. 176.

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sich durch Sprache bzw. Ansprache als solche erkennen lässt, wie Schleef durch die Erzählung einer Alltagsszene aus dem Tagebuch, kurz vor dem Mauerfall 1989, demonstriert: Auf einer meiner letzten Fahrten vor dem Mauerfall stand ich dicht neben einem jungen Mann, der versunken an der Tür lehnte. Obwohl er mich beim Einsteigen ansah, nahm er mich nicht wahr, er sah sein Gegenüber, das er heftig ansprach, dem er sich seinerseits nähern wollte, um sich verständlich zu machen. Vor mir, in unmittelbarer Nähe vollzog sich in einem monologartigen Dialog eine Auseinandersetzung in solcher Heftigkeit, die den Sprechenden umgab, ihn von dem ihn Beobachtenden abschottete, ihn wie Fluoreszenz umgab, wie eine Hülle, die keiner verletzen wollte. […] Es war keine Inszenierung, sondern mit ›verklärtem Blick‹, in sich versenkt, argumentierte der junge Mann mit einem Gegenüber, das bald seine Passivität aufgab, daraus Kraft gewann, sich gegen den Sprechenden energisch wandte, als würde es ihn schütteln, als wolle sein Gegenüber ihn zur Besinnung bringen.42

Das Sprechen auf einen zu – der ›monologartige Dialog‹ – lässt den Einzelnen in der Menge hervorgehen, bildet einen magischen Kreis um ihn ›wie Fluoreszenz‹ bzw. ›eine Hülle‹. Durch diesen Verwandlungsprozess (›mit verklärtem Blick‹) entsteht aber zugleich ein Gegenüber, das in der Aggression gleichsam an Kraft gewinnt und rein körperlich, reflexartig Gegenenergien freisetzt: Da ich den jungen Mann eine längere Strecke begleitete, meinte ich sein Gegenüber zu verstehen. Ich konzentrierte mich noch mehr, versuchte die Nebengeräusche auszufiltern, als wäre ich ein technisches Gerät, als gelänge mir die Konzentration auf die tieferen Geräusche, die das Gegenüber machte, als verschlucke sich der Sprechende, würge. Als begleite sein Sprechen eine 2. Stimme, die die Worte nicht ausformuliert, sondern sie anstößt und zurückschlürft, als sauge sie Luft ein. Ich hörte die Sprachführung deutlich, da wir beide an der Tür lehnten. Jeder auf seiner Seite, und da keiner unsere Tür benutzte, verharrten wir beide so, ohne daß mein Nachbar mich wahrnahm. Jeder von uns hatte sich in eine Ecke ›gebaut‹, den Körper so eingeschoben, als gehörte er hierher, als flankierten 2 Plastiken eine U-Bahn-Tür, einander im Visier.43

Auf einmal erreicht der Körper eine Plastizität, die er sonst nicht hat. Der Wider-Stand lässt ihn nicht nur Form und Konturen gewinnen; vielmehr setzt er sich im Raum dauerhaft an, »gehört hierher«, während er sich sonst immer als das Ungehörige empfindet. Sobald Widerstand da ist und sich hör- und sichtbar macht, erfolgt auch der Stoß in seinen verschiedenen Varianten und Richtungen (Ab-, Aus-, Gegenstoß) und somit derjenige Individualisierungsprozeß, den Hans-Thies Lehmann zu Recht als das Grundprinzip im Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv, _____________ 42 43

Schleef: Tagebuch (Anm. 40), S. 173. Schleef: Tagebuch (Anm. 40), S. 173.

Einar Schleefs Poetik Droge Faust Parsifal

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Figur und Chor ansieht.44 Um überhaupt wahrgenommen zu werden, bedarf es der Verwandlung der Sprache in Musik, d. h. des Lauts, des Klangs und des Rhythmus vor dem Logos. In diesem Punkt stimmt Schleef darin mit Nietzsche überein, dass die Ästhetik nichts anderes ist als eine »angewandte Physiologie«45, deren Fundament für ihn die Sprache bildet: ihre Entstehung, Abbildung und Wirkung auf den Körper.46 Ganz nachvollziehbar wird erst hiermit, warum das Verhältnis vom Chor zum Individuum durch den Prozess der Ausstoßung bestimmt wird, der ja in der Sprache selbst seinen Ursprung hat. Dass diese für den Stotterer zuerst ganz konkret als lebendige Mauer aufgefasst wird,47 die den Körper in Bewegung setzt, ihn zur Reaktion und Gegenwehr zwingt, bis sie ausgestoßen werden kann, kommt in der Fortsetzung der Erzählung deutlich zum Vorschein: Da in mir oft Sprache tobt, gegen die Schläfen schlägt, nicht Ruhe geben will, sich nicht eindämmen läßt, ahnte ich, was in ihm vorging. In seinem eigenartig verzerrten Gesicht schien ich mich zu erkennen, nicht in den Äußerlichkeiten, sondern in der Konzentration, die sich auf einen bestimmten, unsichtbaren Punkt richtete. Sosehr er sich auch an ihn hinwendete, von diesem Punkt schien eine Rückbewegung auszugehen, die ihn ergriff. Das war kein äußerlicher Vorgang, er verlief innerlich. Doch war eine Unterscheidung schwierig, da die Zugbewegung uns beide erfaßte, nicht zuließ, sich ihr zu entziehen. Das Zittern der Körper war identisch mit dem des stehenden Zugs, wenn er in den Stationen verharrte, die wenigen Fahrgäste vor den Fenstern vorbeiglitten.48

Erneut wird hier veranschaulicht, dass im Prozeß der Ausstoßung Energien im Gegenüber freigesetzt werden, die sich in einer Rückbewegung auf den Sprechenden übertragen. Aus diesem Wechselverhältnis entsteht also der Dialog, da nach Schleef der »Monolog« grundsätzlich »die Aufspaltung der Stimmen, die eine und die von allen« beschreibt.49 Auf der Bühne gilt dieses Prinzip sowohl für die Figur als auch für den Chor;50 »als Folgeerscheinung eines erwünschten oder erzwungenen Ausbruchs«51 _____________ 44 45 46 47 48 49 50 51

»Die attische ›Szene vor dem Palast‹ ist insofern für Schleef räumliche Metapher für den Individualisierungsprozess selbst« (Lehmann: Theater des Konflikts (Anm. 18), S. 51). Nietzsche, Friedrich: Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 6. München 1980, S. 413-445, hier S. 418. »Wie entsteht Sprache? Wie bilde ich Sprache ab? Wie verändert Sprache den Körper?« (Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 364). »Die Sprachtrümmer würgen sich ab. Die Blockade läßt sich nicht lösen. Die Sprache hat sich in mir verbarrikadiert« (Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 86). Schleef: Tagebuch (Anm. 40), S. 173f. Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 377. Lehmann: Theater des Konflikts (Anm. 18), S. 51. Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 377.

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ermöglicht der Monolog, die agonale Dynamik zwischen beiden zu versinnlichen.

Schauer, Zu-schauer52 Nun stellt sich die Frage nach der adäquaten Bühnenform, damit im Zuschauer diese Energien freigesetzt werden und von ihm eine Rückbewegung ausgehen kann. Zuerst muss der Chor entgegen Richard Wagners Zuschüttung der Orchestra wieder auf der Bühne erscheinen und zu seinem Recht kommen; es gilt daher, den Fluch des bürgerlichen Theaters und der Guckkastenbühne, nämlich die vierte Wand und die Zentralperspektive, systematisch abzubauen. Die Leerung der Bühne, ihre Öffnung auf den Zuschauersaal hin durch Stege, Podeste sowie die Aufteilung der Chorgruppen auch im Publikum verhelfen zu dem notwendigen »AntiRealismus des Protestes« (Alexander Kluge);53 die starke Geometrisierung des Chors im Raum ermöglicht eine »konstellative Dramaturgie«54 mit mehreren Fluchtpunkten. Im Gegensatz zu Friedrich Schillers Konzept wird der Chor nicht als lebendige Mauer aufgefasst, die »die Tragödie um sich herumzieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschließen und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren«.55 Schleefs Chorauffassung lässt sich unmöglich mit diesem Idealismus vereinigen, auch wenn er wie Schiller das vermeintlich Natürliche der Bühne, »die bei der dramatischen Poesie gemeinhin geheischte Illusion«56 mit aller Schärfe anprangert. Mit Nietzsche kämpft Schleef auch gegen die Auffassung, die der Philosoph irrtümlich August Wilhelm Schlegel zugeschrieben hat, der Chor sei als der »Inbegriff und Extract der Zuschauermenge« der ›idealische Zuschauer‹, der die »Welt der Scene gar nicht aesthetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse«.57 Für Schleef bedeutet dieses _____________ 52 53 54 55

56 57

Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 3), S. 53. Kluge, Alexander: Leçon de cinéma, 27. 04. 2013 (Cinémathèque française Paris, anläßlich einer Retrospektive seiner Filme). Kluge, Alexander: Leçon de cinéma (Anm. 53). Schiller, Friedrich: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie; in: Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Berliner Ausgabe. Herausgegeben von Hans-Günther Thalheim mit Peter Fix, Jochen Golz, Waltraud Hagen, Matthias Oehme, Regine Otto und Barthold Pelzer. Band V. Berlin 2005, S. 7-15, hier S. 10 (wörtlich zitiert in Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 3), S. 54). Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 3), S. 54. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 3), S. 53f.

Einar Schleefs Poetik Droge Faust Parsifal

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Wirkenlassen eine Passivität, die Verdoppelung des Zuschauers im Chor erneut die Gefahr der Illusion und der Schließung der Bühne. Für ertragreicher hält er Schlegels Definition des Chors als des »personifizierten Gedanken[s] über die dargestellte Handlung, die verkörperte und mit in die Darstellung aufgenommene Teilnahme des Dichters als des Sprechers der gesamten Menschheit«.58 Schleefs Auffassung zufolge ist August Wilhelm Schlegels Bemerkung vom Dichter als Sprecher der ganzen Menschheit nicht inhaltlich, d. h. als Botschaft, zu verstehen, sondern rein körperlich in bezug auf eben diese Problematik der Zentralperspektive, die unmöglich wie im bürgerlichen Guckkastentheater auf einen einzigen, alles andere aufsaugenden Punkt fixiert werden kann. Äußerst wirksam erscheint in dieser Hinsicht Schleefs Zeichnung aus Droge Faust Parsifal, mit der er dieses Verhältnis zwischen Autor und Zuschauer in einer räumlichen Perspektive zu erfassen sucht:

Bühnenrückwand – Autor Rampe I —————————————————— I und Portal Zuschauer im Zuschauerraum59

Da ihm ein Theater vorschwebt, das »den Chor, die Gemeinschaft der miteinander Arbeitenden, die Gemeinschaft der Figuren, die eine Sprache sprechen, die des Autors« wieder auf der Bühne ›beheimatet‹,60 muss Schleef sich zwangsweise mit dieser Frage der Rezeption bzw. mit dem Grundverhältnis zwischen Bühne und Publikum auf dem Hintergrund des Guckkastentheaters und der Zentralperspektive auseinandersetzen. Es spricht sehr für seinen Versuch eines systematischen Abbaus der alten Struktur, dass er sie durch den Chor zugleich aufrechterhält und ständig unterhöhlt: So wird nicht nur der Chor und somit die Orchestra auf die Bühne gestellt; die Räumlichkeit der Bühne selbst wird durch ihn bestimmt und in Kreisen, horizontalen und vertikalen Linien oder Spalieren organisiert, wobei der Einzelne sich auf diesem Grund bzw. auf dieser _____________ 58 59 60

Schlegel, August Wilhelm: Kritische Schriften und Briefe. Herausgegeben von Edgar Lohner. Band V: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. Stuttgart u. a. 1966, S. 64. Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 101. Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 10.

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Grundierung61 zugleich behauptet, also Form annimmt und gegen das Verschwinden ankämpft. Wie Christina Schmidt mit Recht unterstreicht, »verweigert die Chor-Figur« auf der Ebene des Sehens »eine (flächige) Ansicht von sich, die an die Erwartung einer perspektivistischen Bildwahrnehmung der Bühne – und damit der theatralen Figur – geknüpft ist«.62 Vom Auge wird vielmehr gefordert, dass es die Fixierung auf einen Punkt durch Wanderung ersetzt,63 da der Chor gleich Wagners Auffassung von der Musik als Dämmerung64 eine gleichzeitig multiple, diffuse und aus mehreren Quellen pulsierende Konstellation bildet, die durch ihre kraftvolle, ja aggressive Ausdrucks- und Äußerungsform die Konventionen der Guckkastenbühne sprengt. Die ›energetische Form des Chorauftritts‹,65 die Christina Schmidt triftig als Grundcharakteristik von Schleefs Theater beschreibt, ermöglicht erst die Überwindung des Bühnenportals, folglich die einseitige Fixierung des Bühnenbilds auf eine durchorganisierte Darstellungsform und das Übergreifen des Schauers auf das Publikum, das gleichsam von dieser Energie angesteckt, zum Gegenschauer herausgefordert wird. In dieser Hinsicht ist Schleefs Theater tatsächlich »als realer Versammlungsort«66 aufzufassen, da es aus dem Zuschauer ein aktives, unentbehrliches Mitglied der Aufführung macht: Durch die Ansprache der Bühne wird er gleichzeitig zur Wahrnehmung und Reflexion über das agonale Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Chor angeregt, körperlich muss er eine Position einnehmen, womit er nicht mehr da »unten sitzt«,67 sondern widersteht. Das Theater als ›realer Versammlungsort‹ ist also nicht als utopische Gemeinschaftsbildung zu verstehen, auch wenn Schleef in seine Inszenierungen diesen Moment miteinbezieht, sondern als Darstellung und gleichzeitige Wahrnehmung des grundlegenden Konflikts zwischen Individuum und Kollektiv.

_____________ 61 62 63 64 65 66 67

Schmidt: Tragödie als Bühnenform (Anm. 1), S. 26. Schmidt: Tragödie als Bühnenform (Anm. 1), S. 13. Schmidt: Tragödie als Bühnenform (Anm. 1), S. 86. »Musik ist Dämmerung, sagt Wagner, definiert damit seine Gegenposition zur betonten Zentralperspektive im Bühnenraum« (Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 74). Vgl. Schmidt: Tragödie als Bühnenform (Anm. 1), S. 13. Schmidt: Tragödie als Bühnenform (Anm. 1), S. 14. »Ich baute ein Parsifal-Modell 5 zu 1, das in diesem Maßstab sehr grob ausfällt. […] Das Opernmodell besitzt einen Vorbau, den Orchestergraben, und genauso schwer, wie er zu bauen ist, genauso schwer ist er zu integrieren, also wie bringt man die Personen, die da unten, ich betone da unten, anscheinend sitzen müssen, unter« (Schleef: Droge Faust Parsifal (Anm. 2), S. 50).

LORE KNAPP

Ästhetik der Transzendenz Christoph Schlingensiefs Parodie der Kunstreligion Christoph Schlingensief hat als Aktionskünstler sowie als Theater- und Opernregisseur verschiedene Erscheinungsweisen der Kunstreligion parodiert. Er gründet mit der Church of Fear demonstrativ eine Kunstkirche, inszeniert sich als Jesus, Priester, Prophet oder Genie und macht durch die Aufführung christlicher Rituale auf das Ineinander von religiöser und ästhetischer Erfahrung aufmerksam. Seine Arbeiten hinterfragen die Kunstreligion als deutschnationales Identifikationsphänomen, spielen mit deren Traditionslinien um die Metaphysik der Musik, die Mythologie und die Genieästhetik und machen das Kunstreligiöse schließlich zum Strukturmerkmal seiner eigenen Ästhetik.

Religiöse als ästhetische Erfahrung Wenn ästhetische Erfahrungen als Offenbarung oder als Erlebnis der Nähe zum Göttlichen gedeutet werden, spricht Schlingensief von einer »fata morgana der eigenen Kunstverklärung«. Er stellt fest, die Götter, die »im Kontext der eigenen arbeit auftauchen« würden, seien »eingebildeter murks«.1 Darüber hinaus demonstriert Schlingensief immer wieder, wie sakrale Atmosphäre aus gezielten ästhetischen Wirkungsstrategien entsteht. In Sterben lernen! spielt er ein großes Prozessionsritual nach, bei dem alle Zu-

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»Eigentlich verwirrend… aber manche dinge muss man eben selber erlebt haben… da ist es doch egal ob die götter oder die, die sich dafür halten, nur im kontext der eigenen arbeit auftauchen oder als eingebildete fata morgana der eigenen kunstverklärung. beides ist eingebildeter murks« (Schlingensief, Christoph: Die Kaaba? Geschlossen? Die Fata Morgana der eigenen Kunstverklärung…; in: Schlingenblog vom 03. 06. 2010 (http://www.peterdeutschmark.de/blog/?p=19648980 (letzter Zugriff: 14. 06. 2013)).

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schauer den Darstellern durch die Altstadt von Zürich folgen.2 Der Schlingensief-Darsteller geht voran und trägt mühevoll ein schweres Holzkreuz. Der Chor singt lateinische Kirchengesänge. Während liturgische Kreuzprozessionen in der Regel um ein Kirchengebäude herum oder von einer Kirche zur anderen gehen, da sie ihr Ziel heiligen und den Raum weihen, den sie durchschreiten,3 führt Schlingensiefs Zug zunächst zum Kunsthaus und nach einer Unterbrechung weiter zur parallel stattfindenden Premiere im Schauspielhaus. Das Ziel dieses nachgespielten Prozessionsrituals sind die Orte der Kunst, und die Heiligung dient der Kunst selbst. Die Bildende Kunst und das Theater rücken hier an die Stelle des Göttlichen, dem Prozessionen im kirchlichen Rahmen gelten.4 Auf einer Kreuzwegstation im Kunsthaus Zürich spielt der Schlingensief-Darsteller einen Mystiker, dem seine toten Eltern erscheinen. Alle Zuschauer verharren in angespannter Stille und tragen zu einer Atmosphäre mystischer Innerlichkeit bei, bis eine Priesterfigur den Satz ruft: ›Hey, das ist ja unheimlich gut, das müsste man mal in einer Installation machen‹. Der selbstreflexive Verweis des Priesters rückt ins Bewusstsein, dass hier eine Performance im Kunsthaus stattfindet. Der Zuschauer wird sich seiner Überschreitung der im theatralen Rahmen üblichen Rezeptionshaltung bewusst. Während die Zuschauer also provoziert werden, eine religiöse Wahrnehmung zu entwickeln, die der Rolle des Priesters entspräche, sieht dieser die Szene mit einem ästhetischen Blick als die Installation, die sie faktisch ist. Das Spiel mit der Wahrnehmung der Zuschauer mündet in einen Rollentausch. Der ›Priester‹ unterbricht die religiöse Illusion in einem Moment, in dem das »Mehr an Bedeutung«5 inszeniert ist und alle Gesten bzw. Requisiten des Bühnengeschehens als religiöse Zeichen lesbar werden. Kritiken des Abends gehen bis hin zu der Bezeichnung ›Gottesdienst‹.6 Doch bei _____________ 2

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6

Die Ausführungen zu Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in 60 Minuten (UA 2009) beziehen sich auf die Aufführungen am 4. und 6. Dezember 2009 in Zürich. Eine Videodokumentation ist auf Schlingensiefs Blog abrufbar: http://www.peterdeutschmark.de/blog/?paged=5 (letzter Zugriff: 02. 08. 2013). Felbecker, Sabine: Die Prozession. Historische und systematische Untersuchungen zu einer liturgischen Ausdruckshandlung. Altenberge 1995, S. 443f. Felbecker: Die Prozession (Anm. 3), S. 440. Schlingensief, Christoph: Mozart und die Oper. Die Ankunft der Oper in der Gegenwart; in: Der Tagesspiegel online vom 27. 09. 2006 (http://www.tagesspiegel.de/kultur /schlingensief-im-tagesspiegel-mozart-und-die-burka/756466.html; letzter Zugriff: 26. 06. 2013). »Was Schlingensief in Zürich zeigt und tut, ist kein Theater mehr und keine Kunst. Wenn es etwas ist, dann ist es Gottesdienst. Es ist noch näher am Gottesdienst als es die ›Kirche der Angst‹ war. Und was er sagt, ist sehr nahe an der Predigt« (Michalzik, Peter/Pilz, Dirk: Aktiv sterben, passiv spielen; in: Frankfurter Rundschau online vom 06. 12. 2009

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Schlingensiefs Inszenierung handelt es sich weder um Theater als Gottesdienst noch um religiöse Kunst. Zwar wird hier das Ineinander von religiöser und ästhetischer Erfahrung demonstriert, der theatrale Rahmen dabei jedoch für keinen Moment in Frage gestellt, sondern durch die Bemerkung des Priesters indirekt sogar betont. Die Aufmerksamkeit wird darauf gelenkt, dass die Inszenierung einer mystisch-heiligen Stimmung den Respekt der Zuschauer vor dem Bühnengeschehen erhöht. Der heilige Charakter entpuppt sich als eine ästhetische Wirkung. Einem ähnlichen Prinzip folgt das Fluxus-Oratorium Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, für dessen Inszenierung Schlingensief den Altarraum der Oberhausener Herz-Jesu-Kirche nachgebaut hat, in der er als Kind Messdiener war.7 Bunte Kirchenfenster, ein Altar, zu dem Stufen hinauf führen, und ein Rundleuchter bilden die Kulisse für das Spiel, in dem die geistig behinderte Kerstin Grassmann wie bei einer kirchlichen Lesung an einem Pult steht und Schlingensiefs Tagebuchaufzeichnungen vorträgt. Liturgische Versatzstücke wie ›Glaube, Liebe, Hoffnung‹ und ›Amen‹ oder die Reflexion »der Leidende […] erfüllt […] die Welt mit christlicher Substanz«8 sind Teil der Inszenierung, deren Nummernfolge am Ablauf einer katholischen Messe orientiert ist. Gelesen wird neben Schlingensiefs eigenen Texten allerdings ›das 5. Evangelium von Joseph Beuys‹. Zwar dient das Theater zwischenzeitlich der Auseinandersetzung mit Glaubensfragen, wenn hier wie auch in Mea Culpa die Frage gestellt wird: »Was ist das ewige Leben?« (als Antwort kommt beide Male eine Art Urschrei). Es geht jedoch nie um die Vermittlung eines Glaubens. Religiöse und biographische Elemente werden in das Spiel integriert, wobei wie bei der Prozession in Sterben lernen! eine Priorität der Kunst bereits durch den institutionellen Theaterrahmen immer gegeben ist. In zahlreichen Momenten der Selbstreflexivität wird zudem betont, dass es sich um Kunst handelt. So ist vor dem Altar ein Theatervorhang befestigt und Schlingensief als kleiner Junge auf einem Video spielt nur, als würde er sterben. Es findet kein Theater als Gottesdienst statt, sondern die gottesdienstlichen Elemente sind Teil des Theaters. Doch während sich die architektonisch-, dramaturgisch-, rituell- oder musikalisch-religiösen Elemente als inszeniert _____________ 7 8

(http://www.fr-online.de/theater/theater-in-zuerich-aktiv-sterben-passiv-spielen,1473346, 2844750.html; letzter Zugriff: 14. 06. 2013). Die Ausführungen zum Fluxus Oratorium. Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir beziehen sich auf die Aufführung am 7. Juni 2009 in Amsterdam. Siehe das Programmheft zu Schlingensief, Christoph: Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir. Fluxus-Oratorium (http://www.kirche-der-angst.de/presse/schlingensief _programm.pdf; letzter Zugriff: 28. 06. 2013).

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entlarven, schleicht sich die schmerzliche Erkenntnis ein, dass die tödliche Krankheit des Regisseurs bittere Realität ist.

Metaphysik der Musik Schlingensiefs Analyse der religiösen als ästhetische Erfahrung entspricht Richard Wagners Worten in Religion und Kunst (1880): Während dem Priester Alles daran liegt, die religiösen Allegorien für thatsächliche Wahrheiten angesehen zu wissen, kommt es dagegen dem Künstler hierauf ganz und gar nicht an, da er offen und frei sein Werk als seine Erfindung ausgiebt.9

Wagner integriert die christliche Eucharistiefeier als Gralsenthüllung in seine Oper Parsifal, um die Wirkung des Bühnenweihfestspiels zu sakralisieren. Er bewegt sich damit in der Tradition einer Metaphysik der Musik, die sich im Begriff der absoluten Musik und in Schopenhauers Verständnis von der Musik an der Spitze einer Hierarchie der Künste äußert. Sowohl Wagners Musiktheater-Ästhetik als auch ihren an Schopenhauers Metaphysik der Musik orientierten Schein hat bekanntermaßen Friedrich Nietzsche kritisiert. Nietzsches Kritik resultiert aus seiner eigenen enttäuschten Kunstreligion. So ist es nicht zuletzt Nietzsches eigener Glaube an ein »Jenseits in der Kunst« oder an »eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte«,10 der erschüttert ist und ihn sagen lässt: »Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt«.11 – »Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben gegeben habe«.12 In der Wiener Burgtheater-Produktion Attabambi-Pornoland verkörpert Schlingensief Wagner persönlich, und in Sterben lernen! zitiert er Nietzsches Bemerkung, Wagner löse alle Probleme »im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Meisters«.13 Ähnlich wie Nietzsche ist Schlingensief _____________ 9 10

11 12 13

Wagner, Richard: Religion und Kunst; in: Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen. 4. Auflage. Band 10. Leipzig 1907, S. 211-253, hier S. 210. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 2. München − Berlin − New York 1980, S. 9-363, hier S. 180. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I (Anm. 10), S. 175. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I (Anm. 10), S. 182. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 6. München u. a. 1980, S. 9-53, hier S. 44.

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für heutige Verhältnisse »mit der Wagnerei verwachsen«.14 Er hat sich in zahlreichen abfälligen Äußerungen über Bayreuth dagegen verwahrt, als ein Wagnerianer eingeordnet zu werden, und integriert Wagners Musik doch nahezu in jede seiner Arbeiten. Das Vorspiel aus Wagners Parsifal, den Schlingensief 2004 in Bayreuth inszeniert hat, eröffnet beispielsweise auch Mea Culpa sowie den Vierten Akt von Sterben lernen!. In Mea Culpa inszeniert er Isoldes ›Liebestod‹ aus Wagners Tristan und Isolde auf einer kleinen Bühne als Spiel im Spiel.15 Von dem Gesang zeigt sich der Darsteller des kranken Schlingensief, der demnächst sterben muss, sehr ergriffen und sagt am Ende: »Das war zwar sehr schön, aber ich mag noch nicht«. Indem er den Vorhang der kleinen Bühne auf der Bühne zuzieht, unterstreicht er die Analogie zwischen Jenseits und Schein in Wagners Illusionstheater, auf das Schlingensief mit einem verdeckten Orchestergraben anspielt. Wagners Musik erscheint weniger als ein ›Tor zur Transzendenz‹, wie Carl Hegemann im Programmheft schreibt, denn als Teil der theatralen Welt des Scheins. Durch die Verbindung von Musik, Schein und Jenseits kritisiert Schlingensief die Kunstreligion und ihre romantischen Wurzeln, nicht ohne die Wirkkraft der Musik in seinen Inszenierungen selbst zu instrumentalisieren. Zahlreiche Merkmale der Ästhetik Schlingensiefs finden sich bei Nietzsche als Kritikpunkte an Wagner formuliert. Was Schlingensief bewusst übertreibt, entspricht Nietzsches polemischer Kritik am Fall Wagner. So wie Wagner eine Festspielgemeinde um sich schart, hat Schlingensief seine sogenannte Theaterfamilie. Im Gegensatz zu Wagner, der sich selbst als ›tondichterischen Seher‹16 stilisiert, macht Schlingensief durch plakative religiöse Selbstinszenierungen auf diese Tendenz aufmerksam. Schlingensiefs Auseinandersetzung mit Wagner knüpft an das Scheinhafte an Wagners Kunst an, das den Musiker, wie Nietzsche kritisiert, zum Schauspieler mache.17 Diese Kritik am Schauspielertum, an der Effekthascherei und der Wirkung treibt Schlingensief auf die Spitze. Indem er mit der Illusion spielt, strebt er aber selbst nach höchster Wirkung. Seine Überreizung und Überwältigung der Zuschauer entspricht Nietzsches Kritik an Wagners Verlangen nach der Wirkung, die wie auf Schlingensief gemünzt klingt: […] die ganze Falschmünzerei der Transscendenz und des Jenseits, hat in Wagner’s Kunst ihren sublimsten Fürsprecher – nicht in Formeln: Wagner ist zu klug

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Nietzsche: Der Fall Wagner (Anm. 13), S. 11. Ich beziehe mich auf die Aufführungen am 13. und 14. Oktober 2009 in München. Vgl. DVD zu Mea Culpa, edition Burgtheater, Nr. 30. Vgl. Wagner: Religion und Kunst (Anm. 9), S. 250. Vgl. Nietzsche: Der Fall Wagner (Anm. 13), S. 29-32.

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für Formeln – sondern in einer Überredung der Sinnlichkeit, die ihrerseits wieder den Geist mürbe und müde macht.18

Formeln finden sich bei Schlingensief auf den Spruchbändern, bei den Aktionen, in Übertiteln wie ›Blick ins Jenseits‹ und als ›Weltenformel‹ in Via Intolleranza II.19 Auch die Sinne werden bei Schlingensief überredet und überreizt, wobei der Geist nicht nur durch Formeln und andere Illusionsdurchbrechungen, sondern auch durch die Aufforderung, einen Sinn in die assoziativen Nummernfolgen auf der Bühne zu bringen, immer wieder aktiviert und nicht zuletzt ermüdet wird.

Privatmythologie Zu Schlingensiefs Vorbildern zählt neben Richard Wagner auch Joseph Beuys, der Kunst und Religion über die Unverständlichkeit analogisiert: In der Kunst ist absolut nichts zu verstehen, einfach nichts. Das einzige Zeichen, welches Kunst trifft, ist dieses: Ein Fragezeichen. Was bedeutet ein Gemälde von Mondrian? Es bedeutet genau das, was da ist, und was da ist, ist immer ein Fragezeichen. Darum regte ich an, dass man alle die Kreuze von Kirchen entfernen und Fragezeichen hinter jeden Altar stellen sollte […]. Im Gebiet der Kunst sollten nur geheimnisvolle Bilder geschaffen werden.20

Beide Künstler haben eine eigene, private Mythologie entwickelt und die Kunst zum Teil als Mythos begriffen, sie also »für mythologische oder letztendlich rel. Erfahrung« instrumentalisiert.21 Während Wagner christliche und buddhistische Elemente sowie nordische und andere Heldensagen zu den Mythen seiner Libretti verknüpft, spricht Beuys bestimmten Materialien und Symbolen, die ihm durch seine persönliche Lebensgeschichte bedeutsam geworden sind, eine besondere Energie zu. Beide Verfahren erinnern an das frühromantische Projekt einer ›Neuen Mythologie‹.22 _____________ 18 19 20 21

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Nietzsche: Der Fall Wagner (Anm. 13), S. 43. Meine Ausführungen zu Via Intolleranza II beziehen sich auf die Aufführungen am 23. und 24. Mai 2010 in Hamburg. Aus einem Interview von Umberto Allemandi mit Joseph Beuys, in: Bolaffi Art, Juni 1974. ›Mythos/Mythologie‹; in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Herausgegeben von Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski und Eberhard Jüngel. 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Band 5: L-M. Tübingen 2008, Sp. 1682-1704, hier Sp. 1687f. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, der die ›Neue Mythologie‹ mitbegründen wollte, behandelte den Mythos als Offenbarung des Absoluten, während gerade die christliche

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Im synkretistischen Durcheinander seiner Parsifal-Inszenierung verbindet Schlingensief den Mythos vom Gral mit dem beuysschen Hasen. Zitate avantgardistischer Kunst sind mit Zeichen fremder Kulturen und mit Symbolen verschiedenster Religionen kombiniert. Schlingensiefs Lunge in der Monstranz sowie wiederkehrende Ausschnitte aus seinem Tonbandtagebuch, Bilder aus dem Film Inferno, Darsteller aus seiner sogenannten Theaterfamilie oder das Stichwort ›Voodoo‹ fügen sich wie selbstverständlich in die Reihe traditioneller Reliquien ein, so dass es schwierig ist, zwischen Kunstzitaten, religiösen Symbolen und Neuschöpfungen zu trennen. Auf der dunklen Bühne entsteht eine Fülle eindrücklicher und rätselhafter Bilder. Dass sich hier eine unbestimmte Bedeutsamkeit »im und als Akt der Wahrnehmung« von Rhythmus, Klängen, Farben und Räumen23 vermittelt, kann als ästhetische Erklärung dieser quasireligiösen Zeichenhaftigkeit gelten. Auch die Tendenz zur musikalischen Ausdrucksform und zum gesungenen Text in Schlingensiefs letzten Musiktheater-Arbeiten entspricht – gerade weil der Gesang in manchen Szenen befremdend scheinen mag – den Anklängen an stofflich Mythologisches.24 Ganz plakativ ist in Sterben lernen! jedoch zu lesen »kein Wunder wird helfen«, und seine Bilder von Afrika entlarvt Schlingensief selbst als mythische Fälschungen. Während er sich in die Tradition des Privatmythologisch-Kunstreligiösen einschreibt, dekonstruiert Schlingensief das Mythische zugleich, weil die Künstlichkeit selbst geschaffener Mythologeme – wie bereits Schleiermacher bemerkt hatte – im Widerspruch zur Überlieferung uralter Mythen steht.

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23 24

Theologie in ihrem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mythenkritisch ist. Aus diesem Grund hat Friedrich Schleiermacher sich gegen das frühromantische Projekt einer Neuen Mythologie gewendet (vgl. ›Mythos/Mythologie‹ (Anm. 19), Sp. 1699-1700). Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004, S. 245. Vgl. Dahlhaus, Carl: Richard Wagners ›Bühnenfestspiel‹. Revolutionsfest und Kunstreligion; in: Das Fest. [anlässlich des 14. Kolloquiums der Forschungsgruppe ›Poetik und Hermeneutik‹ vom 28. September bis 3. Oktober 1987, Bad Homburg]. Herausgegeben von Walter Haug und Rainer Warning. München 1989, S. 592-609, hier S. 604.

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Religiöse Selbstinszenierungen Eine privatmythologisch-synkretistische Zusammenstellung vom Hundeafter über den beuysschen Hasen bis zu Voodoomasken prägt auch ein kleines Häuschen, in dem Musik aus Wagners Parsifal läuft. Dabei handelt es sich um ein Modell der Church of Fear. Im Jahr 2003 hat Schlingensief diese künstliche Kirche oder auch Kunstkirche gegründet, als deren Oberhaupt er dann bei Aktionen in Städten wie Frankfurt und Kathmandu oder auf der Biennale in Venedig auftritt. Mit einer Gruppe von Arbeitslosen imitiert er ein Gemeindeleben. Er castet Freiwillige für das urchristliche Ritual des Pfahlsitzens, zeichnet denjenigen aus, der sich der Parole ›Habt Angst!‹ auf einem Pfahl am längsten aussetzt, und kritisiert die Heilsversprechen der Kirche sowie politischer Parteien. ›Handeln statt Glauben‹ ist das Motto dieser ›Gemeinschaft der Nicht-Gläubigen‹. Schlingensiefs Aktionismus und sein geschickter Umgang mit den Medien führen zu einer ausgeprägten medialen Präsenz und schüren einen Künstlerkult. T-Shirts der Church of Fear sind mit der Aufschrift ›Ich will heilig werden‹ bedruckt. Auch in seinen Theaterarbeiten inszeniert Schlingensief sich wiederholt als Jesus, Heiliger, Priester, Prophet oder Genie. Im Gegensatz zu seinem Vorbild Joseph Beuys bricht er diese quasireligiösen Selbstinszenierungen jedoch meistens ironisch. Wenn er in Sterben lernen! als verrückter Papst Mabuse mit einem Umhang aus Dalmatinerfell und wilder Wuschelperücke auf der Sänfte getragen kommt und ins Mikrofon brüllt ›Die Heilung hat eingesetzt‹, mag ein Zusammenhang zwischen Genialität und Wahnsinn assoziiert werden. Dabei reflektiert er bereits in einer anderen Szene derselben Inszenierung sein Peinlichkeitsempfinden in dieser Rolle. Er erklärt, die Szene sei aus der ernsthaften Suche nach dem Glauben entstanden, schreit im Dezember vor seinem Tod aber ins Megaphon wie bei frühen, politischeren Aktionen. Später entschuldigt er sich für seine Überheblichkeit in dieser Rolle. Er reflektiert die Trivialisierung und Tabuisierung des Geniegedankens in der Avantgarde, arbeitet jedoch mit der gleichen Intensität an seiner Selbststilisierung.

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Kunst des Nicht-Könnens als Genieästhetik Immanuel Kants Konzept vom Genie, das mit seiner geistreichen Erfindungsgabe oder schöpferischen Einbildungskraft ›der Kunst die Regel gibt‹, geht mit einer Kritik an der Regelpoetik einher.25 Schlingensiefs Verhaltensweisen, die als die eines die geltenden ästhetischen Normen verletzenden Provokateurs gesehen worden sind, knüpfen daran an. Auf die schöpferische Grundidee, die in der Fluxus-Bewegung im Vordergrund gestanden hatte, verweist die Gattungsbezeichnung ›FluxusOratorium‹ von Kirche der Angst. Statt jedoch die »falsche Romantik«26 einer Produktionsästhetik des genialen Schaffensrausches zu schüren, hat Schlingensiefs Ästhetik der provisorischen Bretterbühnen, großen Gerüste, selbstgezimmerten und mit Tüchern behängten Hütten sowie handschriftlichen Spruchbänder optisch einen handwerklichen Charakter, der einer rauschhaft inspirierten Genieästhetik entgegen steht. So kritisiert auch der Untertitel ›Ready-Made-Opera‹ von Mea Culpa die ästhetischen Prämissen der Originalität und Singularität. Wenn es hier wie auch in Sterben lernen! heißt, man könne auch in die Höhe fallen, geht es Peter Sloterdijks Analyse von Friedrich Nietzsches Zarathustra entsprechend um das lebensgefährliche Streben nach Leistung und Intensität in der (Trapez-) Kunst27 sowie um das Streben der Künstler nach Originalität, Vollkommenheit, Erfolg und Unsterblichkeit. Schlingensief unterläuft diese Prämissen einer Genieästhetik und schreibt sie gleichzeitig weiter. Denn indem er seinen Aktionismus mit einer Kunst des Nicht-Könnens verbindet und den Slogan ›Scheitern als Chance‹ verbreitet, entwickelt er eine eigene Form der Genieästhetik. Frei nach Joseph Beuys’ Diktum ›Jeder ist ein Künstler‹ betätigt er sich in den verschiedensten Kunstformen und beschäftigt Laiendarsteller. Genau in diesem Sinne hatte Nietzsche an Wagner »eine immer grössere Gleichgültigkeit gegen jede strenge, vornehme, gewissenhafte Schulung im Dienste der Kunst« kritisiert: »an ihre Stelle gerückt den Glauben an das Genie, auf deutsch: den frechen Dilettantismus«.28 Carl Hegemann betont in diesem Zusammenhang: »Schlingensiefs _____________ 25 26 27 28

Vgl. Baeumler, Alfred: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Reprografischer Nachdruck der 2., durchgesehenen und um ein Nachwort erweiterten Auflage 1967. Darmstadt 1974, S. 164. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 2., durch einen Nachtrag erweiterte Auflage. Tübingen 1965, S. 88. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt/M. 2009, S. 181f. (Schlingensief hat im Austausch mit Sloterdijk gestanden). Nietzsche: Der Fall Wagner (Anm. 13), S. 42.

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Kunst bewegt sich immer zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Würde man klar feststellen können, dass es sich um Kunst handelt, dann wäre es Kitsch«.29 Ebenfalls an der Grenze zum Kitsch singt eine Tochter des Schlingensief-Darstellers im ersten Akt von Sterben lernen! eine Schlagermelodie für ihren Vater ins Mikro »Du bist jetzt ein Künstler, du wirst ein Genie. Du wirst ein Genie, wenn du tot bist«. Daraufhin wird der Geniegedanke parodiert, indem Schlingensiefs alter Ego in Sterben lernen! auf dem Rücken liegend und mit Armen und Beinen strampelnd Nietzsches Wort zitiert, das Genie sei »wie ein blinder Seekrebs, der fortwährend nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt: er tastet aber nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen«.30 Ähnlich unweigerlich, wie sich die Glieder des Krebses tummeln müssen, verarbeitet Schlingensief sein Leben zur Kunst. Das Produktionsprinzip des häufig improvisierten und spontanen Spiels basiert dabei ähnlich auf Wahrscheinlichkeit und Zufall wie das Ernährungsprinzip des Seekrebses. Auch in solchen Aufführungen, denen eine durchgängige Inszenierung zu Grunde liegt, tritt Schlingensief mit improvisierten Monologen auf, mit denen er sich die Möglichkeit verschafft, die Aufführung zu beeinflussen, zu kommentieren, für Momente der Überraschung zu sorgen und in das Wechselspiel zwischen Darstellern und Zuschauern einzugreifen.31

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31

Carl Hegemann im Gespräch mit Johannes Hoff (2. Mai 2011) bei der Oberhausener Lektion III im Berliner HAU. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente. Anfang 1880 bis Sommer 1882; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 9. München − Berlin − New York 1980, S. 9-687, hier S. 17. Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (Anm. 23), S. 286. – Aufführungen von Mea Culpa und Via Intolleranza II nach Schlingensiefs Tod, bei denen seine Rolle zum Teil als Aufzeichnung einer vorangegangenen Inszenierung eingespielt und zum Teil, nämlich zu Beginn von Via Intolleranza II, von Stefan Kolosko gespielt wurde, haben verdeutlicht, dass sich die Abende daraufhin weniger unterscheiden. Die atemberaubende Unvorhersehbarkeit von Schlingensiefs Kunst wurde glattgeschliffen, ließ sich jedenfalls ohne ihn nur eingeschränkt erhalten.

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Transzendenzäquivalente in der ästhetischen Struktur I: der Zufall Die performativen Kunstformen, die Schlingensief bevorzugt, zeichnen sich generell durch eine hohe Unberechenbarkeit aus. Er provoziert den Anschein, seine Kunst würde sich verselbstständigen, und besonders in seinen Monologen entsteht zuweilen der Eindruck, Schlingensief spreche schneller, als er denkt. »[D]en Moment, in dem jemand mehr und anderes tut, als er wollte, ja mehr tut, als er kann; in dem also in seinem Tätigsein sich seine Kräfte ›tummeln‹ und ausleben, in dem sein Tun ›lebendig‹ wird«, bezeichnet Christoph Menke als ›Zufall‹: »Dabei markiert der Begriff des Zufalls den Moment, in dem sich die Tätigkeit von der Handlung löst, ihren Zweck überschreitet«.32 Es ist, als wäre Schlingensief bei seinen Monologen die lebendige, eigendynamische Kunst selbst. Weitere Zufallseffekte entstehen, wenn Schlingensief Behinderte beschäftigt, deren Verhalten auf der Bühne unberechenbar ist. Außerdem lässt sich vom Zufall als dem Rezeptionsprinzip der Aufführungen sprechen, weil besonders das visuelle Angebot in Kombination mit dem akustischen Bühnengeschehen so reichhaltig ist, dass es weitgehend zufällig ist, welche Kombination von Elementen der Aufführung der Zuschauer aufnimmt. Durch das Spiel mit dem Zufall vermittelt Schlingensiefs Kunst Emergenz und Kontingenz als säkulare Form der Unverfügbarkeit, des Nicht-Greifbaren, Höheren.33 Die Kunst rückt in die Nähe zur Unberechenbarkeit des Lebens und lenkt die Aufmerksamkeit auf das Unverfügbare, Nicht-Plan- und Greifbare. Das Auftauchen von etwas, das vorher nicht da gewesen ist (wenn beispielsweise auf dem Weg der Prozession in Sterben lernen! eine Straßenbahn den Weg versperrt), demonstriert die Unvorhersagbarkeit des Lebens, bei der sich ähnlich wie in der Konfrontation mit dem Tod die Machtlosigkeit des Menschen zeigt. Schlingensief initiiert Aktionen, in denen sich die Kunst verselbstständigt und vom Willen und der Anstrengung des Menschen löst. Das Spiel mit dem Zufall ist ein Mittel der Kunst, den Zuschauer ins Leben zurückzuwerfen und gleichzeitig auf etwas Höheres, Lebendiges in der Kunst zu verweisen. _____________ 32 33

Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Frankfurt/M. 2008, S. 119. Carl Hegemann am 6. November 2010 im Podiumsgespräch mit Johannes Hoff anlässlich von Gedenken 3000 in der Berliner Volksbühne.

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Transzendenzäquivalente II: Paradoxien Zudem ist Schlingensiefs Ästhetik durch eine Fülle an Paradoxien gekennzeichnet. Sie lauten: »Schmeißen Sie Ihr Geld weg und retten Sie die Marktwirtschaft. Und vielleicht Ihre sterbliche Seele!«;34 »Erinnern heißt: vergessen!«;35 »Unsterblichkeit kann töten«; »›Aufladung durch Entladung‹«;36 »Bleiben Sie hier und kommen Sie mit«; »das Können des NichtKönnens«.37 Schlingensiefs Paradoxien haben inhaltlich wenig mit Religion zu tun. Formal ähneln sie jedoch religionsphilosophischen Beschreibungen Gottes als »seins-loses Sein« oder als »Sein über allem Sein«,38 die in Sterben lernen! erwähnt werden. Neben streng logischen und damit unauflöslichen Paradoxien, die aus Ohnmacht für die Beschreibung des Unbeschreibbaren gewählt werden und darauf angelegt sind, nicht auflösbar zu sein, bezeichnet das Paradox auch Widersprüche. So versteht Aristoteles unter ›Paradox‹ lediglich eine der allgemeinen Auffassung widersprechende Gegenmeinung.39 Zu den rhetorischen Widersprüchen Schlingensiefs gehören provokante Slogans wie ›Nazis rein‹ in Zürich oder die Parole ›Ausländer raus‹ in Wien, mit denen es sich ähnlich verhält wie mit Paradoxien in der antiken Rhetorik, die nicht mehr provokant sind, wenn man ihnen einen Sinn gegeben hat oder erkannt hat, dass ihre Funktion darin besteht, auf Missstände aufmerksam zu machen. Schlingensief hat sein Schaffen mit den Worten kommentiert:

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36 37 38 39

Schlingensief, Christoph: 7 Tage Entsorgung für Graz – Künstler gegen Menschenrechte/Chance 2000 für Graz (Wahlkampf der Partei Chance 2000) (http://www.schlingensief. com/projekt.php?id=t024; letzter Zugriff: 21. 06. 2013). Auch Jacques Derridas Begriff ›Archiv‹ basiert auf dem Gedanken, dass Bewahren nur durch Vergessen und Zerstören ermöglicht wird. (vgl. Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek und Hans Naumann. Berlin 1997, S. 22). Vgl. Michalzik, Peter: Der weite Weg nach Bayreuth. Der Nomade, Egomane und Schamane Christoph Schlingensief unterwegs mit der ›Church of Fear‹; in: Frankfurter Rundschau Nr. 214 vom 13. 09. 2003, S. 9. Diese und die vorigen drei Äußerungen stammen aus Sterben lernen!. Vgl. die Veröffentlichung des Textes zum ersten Akt von Sterben lernen! (http://www.peterdeutschmark.de/blog/?paged=6; letzter Zugriff: 02. 08. 2013). Gogos, Georgios: Aspekte einer Logik des Widerspruchs. Studien zu griechischen Sophistik und ihrer Aktualität. Würzburg 2001, S. 27.

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Die große Kraft aber liegt in der Unklarheit, in der Gewissheit, dass es keine Lösung gibt, sondern Transformationen und Formveränderungen … das ist für mich nicht fatalistisch, das ist ein ganz großes Ja zum leben.40

Diese Dynamik, dieses Fließen und diese ständige Veränderung, die sich nie auf einer vermeintlichen Lösung ausruht, ist ein Charakteristikum von Schlingensiefs Ästhetik. Doch abgesehen davon finden Schlingensiefs Widersprüche selten in eine dialektische Auflösung.41 Beispielsweise spricht der afrikanische Darsteller in Via Intolleranza II, kurz nachdem der europäische Kunstkodex kritisiert worden ist, es gehe nicht mehr, dass die Leute Texte auswendig lernen und sie dann aufsagen. Die Gleichzeitigkeit von Politik und Theater während der Parteiaktionen von Chance 2000 ist so paradox wie der Untertitel ›Fluxus-Oratorium‹, bei dem der Verweis auf die chaotische Fluxus-Bewegung der epischen Grundhaltung der musikalischen Gattung ›Oratorium‹ widerspricht. Schlingensiefs Ästhetik verharrt im Paradox. Dabei ist der Ausdruckswille für etwas kaum Erreichbares, das der Kunst selbst zugeschrieben wird, vergleichbar mit dem theologischen Ringen um den Grund des Glaubens. Der Ironie, mit der Schlingensief seine eigenen religiösen Selbstinszenierungen kommentiert, entspricht eine negative Analogie von Künstler und Schöpfer, die er aufruft, indem er das Scheitern im künstlerischen Schaffensprozess zum Programm macht. So vermutet er: Vielleicht ist Gott doch ein gescheiterter Künstler. Wenn ich jetzt etwas länger hinschaue, dann frage ich mich, ob ein Schöpfer wie Gott als Künstler versagt hat. Sein Werk ist unvollkommen, es gammelt vor sich hin. Gott hat aufgegeben. Er will nicht mehr korrigieren. Die Kunst aber akzeptiert das Scheitern und genau da hilft sie Gott. Der gescheiterte Künstler Gott bekommt Hilfe! Die Kunst wird zur Religion. Ich bin nicht Gott und Gott kann nicht malen! Gott sei Dank! Und trotzdem habe ich Angst, so etwas zu denken.42

Dem entsprechend stellt Schlingensief in Via Intolleranza II eine Parallele zwischen einem Satz aus dem 1. Buch Mose, 6, (›Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis zum Vieh‹) und Luigi Nono her, der sich von seiner Oper Via Intolleranza _____________ 40

41

42

Christoph Schlingensief wird hier zitiert nach Schweeger, Elisabeth: Ein persönlicher Blick auf Christoph Schlingensief. Vorab-Veröffentlichung aus der Publikation zum Deutschen Pavillon 2011 (http://www.deutscher-pavillon.org/2011/de/ein-personlicher-blick-aufchristoph-schlingensief; letzter Zugriff: 21. 06. 2013). Carl Hegemann: »[…] um Widersprüche aufeinander prallen zu lassen […], braucht [man] einfach nur Mut« (Schlingensiefs ›Theaterfamilie‹. Gespräch mit Carl Hegemann, Irm Hermann, Peter Kern, moderiert von Teresa Kovacs; in: Janke, Pia/Kovacs, Terese (Hrsg.): Der Gesamtkünstler Christoph Schlingensief. Unter Mitarbeit von Günter Dumele, Lisa Gerstl und Agnes Zenker. Wien 2011, S. 269-282, hier S. 277). Schlingensief im Interview mit Der Westen, 05. 09. 2008 (online nicht mehr zugänglich).

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distanziert hatte. Auch Schlingensiefs Arbeitsweise ist geprägt von einem Zwiespalt zwischen dem unbedingten Vorantreiben des eigenen Kunstschaffens und dem radikalen Hinterfragen des eigenen Tuns. Seine verzweifelte Frage, die beispielsweise Fritzi Haberlandt in Mea Culpa zitiert, lautet: »Warum mache ich immer alles wieder kaputt?«. Eine Antwort bietet die Installation Animatograph in der Island-Fassung: »Wenn das, was ist, sich ändern lässt, ist das, was ist, nicht alles«. Schlingensiefs Arbeiten folgen dem Prinzip, mit jeder künstlerischen Äußerung vorangegangene Äußerungen zu revidieren und sich niemals festzulegen. Bei den freien Monologen seiner letzten Inszenierungsarbeiten behauptet er häufig das Gegenteil dessen, was er am Vorabend gesagt hat. Keine der Aussagen Schlingensiefs lässt sich festhalten, weil meistens das Gegenteil auch behauptet wird. So kehrt er die Annahme, dass Bayreuth ihn krank gemacht habe, in seinen letzten Arbeiten in die Annahme um, dass Wagners Musik heilen könne. Zunächst jedoch macht er die unsterbliche, absolute, Kraft raubende Kunst ebenso für sein Sterben verantwortlich wie seine eigene, aus diesem Kunstverständnis resultierende Unsterblichkeit oder Genialität. Deswegen heißt es im Titel der Zürcher Produktion Sterben lernen! auch ›Unsterblichkeit kann töten‹. Bereits bei seiner Antrittsvorlesung an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig hatte Schlingensief gerufen »Kunst kann mich töten«.43 Deswegen ist in Sterben lernen! schließlich die Forderung nach dem »Sterben lernen der Kunst« zu lesen. Diese Wendung impliziert die Auseinandersetzung mit einer kunstreligiösen Werkästhetik, einerseits weil sie sich gegen die kunstreligiöse Überhöhung einer unsterblichen Kunst wendet und andererseits weil sie die Annahme einer lebendigen Kunst suggeriert. So betont er in der Hamburger Aufführung von Via Intolleranza II über sein Projekt in Burkina Faso: »Das Operndorf wächst nur, wenn es will«. Eine eigengesetzliche Kunst, die Energie ausstrahlt und heilen kann, knüpft an die kunstreligiöse Tradition des Kultbildes an, dessen Motiv wie eine lebende Person gesehen wird und zugleich die übernatürliche Wirkkraft der Präsenz Gottes darstellt.

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Eine Aufzeichnung der Antrittsvorlesung am 16. Mai 2006 befindet sich im Archiv der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig.

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Das Kunstreligiöse: Ästhetik der Transzendenz Bei der Church of Fear, bei Talkshows, Theaterarbeiten und politischen Aktionen integriert Schlingensief verschiedene Formen des Lebens in die Kunst: die Politik, die Religion, das Alltagsleben der Zuschauer und sein eigenes. Im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs von Beuys experimentiert er mit der Aufhebung der Grenzen zwischen künstlerischem Schaffen und alltäglichem Leben. Aktive Handlungen des politischen oder religiösen Lebens wie die Auswahl von Asylbewerbern, den Wahlkampf oder das Pilgern vollzieht er als Teil seines Theaters. Mit seinem breiten, an Happening und Fluxus orientierten Kunstbegriff deutet er gleichzeitig ein hierarchisches Verhältnis an, bei dem die Kunst über dem Leben steht und Priorität, wenn nicht sogar eine absolute Stellung hat. Schlingensiefs künstlerischer Aktionismus waltet bis kurz vor seinem Tod, als bestünde der Lebenssinn im Kunstschaffen – eine Auffassung die durchaus als persönliche Kunstreligion verstanden werden kann. Doch auch unabhängig vom Verhältnis des Künstlers zu seiner Kunst führen die Aktionen auf der Straße oder in der U-Bahn zu einer quasiunendlichen, alles umgreifenden Kunst. Das Überschreiten der Grenzen des Kunstsystems – ›The Dissolution of Borders‹44 – legt nahe, von einer Ästhetik der Transzendenz zu sprechen. Über das Grenzenlosigkeits- oder Unendlichkeitsmotiv hinaus sind für Schlingensiefs Ästhetik Strukturen bestimmend, die im religionsphilosophischen Kontext zur Konstruktion von Transzendenzbegriffen verwendet werden. Dazu gehören der Zufall, Emergenz und Kontingenz, die paradoxen Wendungen und Formeln sowie das Motivfeld einer eigendynamischen, auratischen oder unsterblichen Kunst. Christliche Theologen wie Emmanuel Lévinas oder Karl Jaspers verwenden den Begriff der Transzendenz synonym mit Gott im Sinne einer außerweltlichen Wirklichkeit und bewegen sich damit in der Tradition der scholastischen Philosophie des Mittelalters.45 Von Kant ist der Begriff erkenntnistheoretisch gewendet worden und bezeichnet nun einen der Erkenntnis verschlossenen Bereich jenseits möglicher Erfahrung.46 Der Gedanke _____________ 44 45 46

Vgl. Schlingensief, Christoph: Art without borders. Edited by Tara Forrest and Anna Teresa Scheer. Chicago – Bristol 2010. Jaspers, Karl: Chiffren der Transzendenz. München 1984; Lévinas, Emmanuel: Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz. Übersetzt von Thomas Wiemer. Mit einem Vorwort von Bernhard Casper. Freiburg – München 1985. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft; in: Immanuel Kants Werke. In Gemeinschaft mit Hermann Cohen, Artur Buchenau, Otto Buek, Albert Görland, B. Kellermann und Ot-

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immanenter Göttlichkeit oder die Wendung der Transzendenz in der Immanenz, die bezeichnend für das Kunstreligiöse ist, enthält also nur dann ein Paradox, wenn man – wie Schlingensief – von einem Dualismus von Gott und Welt ausgeht. Doch wie jenseitig diese Sphäre der Transzendenz nun gedacht wird, ist für das Kunstreligiöse letztlich gar nicht entscheidend. Denn wenn ein formal-ästhetisches Transzendenzäquivalent an Kunstereignisse gebunden ist, dann handelt es sich ohnehin um Immanentes.47 Wenn Kunstreligion im Anschluss an die Berglinger-Erzählung in Wilhelm Heinrich Wackenroders und Ludwig Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1796) als ästhetische Erfahrung definiert wird, die gedeutet würde, als böte sie einen Bezug zu einer Transzendenz, liegt dem eine Definition von Religion als Bezug zur Transzendenz oder zum Göttlichen, Heiligen, Numinosen nach Rudolf Otto zugrunde.48 Bei einer solchen ›Mittlerreligion‹ handelt es sich jedoch immer um die Kunstreligion von Personen; hier sollen hingegen ästhetische Strukturmerkmale als Transzendenzäquivalente und damit als eine subjektungebundene ästhetische Kategorie beschrieben werden. Während das Phänomen der Kunstreligion immer zwischen Kunst und Religion changiert, ist das Kunstreligiöse eine eindeutig ästhetische Kategorie. Die Hierarchie zwischen Kunst und Religion ist bei dem ästhetischen Merkmal des Kunstreligiösen eindeutig: Religiöses dient hier der Kunst. Um es noch einmal abstrakter zu formulieren: Vom Kunstreligiösen einer Ästhetik lässt sich dann sprechen, wenn erstens inhaltlich-motivische _____________ 47 48

to Schöndörfer herausgegeben von Ernst Cassirer. Band 3: Kritik der reinen Vernunft. Herausgegeben von Albert Görland. Berlin 1922, S. 365f. Die religiöse Selbstreferenzialität, also das Verweisen religiöser Zeichen auf sich selbst, die wie bei den genannten synkretistischen Beispielen traditionell auf einen sakralen oder transzendenten Sinn ausgerichtet sind, ist dagegen ohne Frage paradox. Vgl. Otto, Rudolf: Das Heilige über das Irrationale und sein Verhältnis zum Göttlichen. Breslau 1917. – Im Gegensatz zur funktionalen Herangehensweise an die Kunstreligion als ein soziologisches Phänomen, die auf einer soziologischen Bestimmung von Religion basiert, wie sie Bernd Auerochs' Arbeit Die Entstehung der Kunstreligion (Göttingen 2006) zugrunde liegt, verschiebe ich den Akzent hin zu werk-ästhetischen Überlegungen; Heinrich Detering begreift die Kunstreligion als Mittlerreligion, wobei er zwischen Kongruenz und Konkurrenz im Verhältnis von Kunst und Religion unterscheidet (vgl. Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult. Bemerkungen zu einem Konflikt von Schleiermacher bis zur Moderne; in: Meckenstock, Günter (Hrsg.): Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe. Göttingen, S. 179-200; Detering, Heinrich: Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen; in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm. Band 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Berlin – New York 2011, S. 11-27, hier speziell S. 12, 19 und 26).

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Bezüge zur Religion bestehen, zweitens formale Transzendenzäquivalente erkennbar sind und drittens eine selbstreflexive Tendenz vorliegt, die signalisiert, dass das Religiöse hier dem Kunstwerk oder Kunstereignis dient. Eine kunstreligiöse Ästhetik, bei der diese drei Voraussetzungen erfüllt sind, schließt eine religiöse Rezeption natürlich nicht aus. Schlingensiefs Kunst ist selbstreflexiv, insofern der Kunstbegriff mit jeder Arbeit neu hinterfragt wird. Die Nachdrücklichkeit, mit der dies geschieht, lässt zugleich die Annahme der Kunst als einer unbestimmten Größe vermuten, in der die eigentliche Entsprechung zum Glauben läge. Zu den Transzendenzäquivalenten in Schlingensiefs Arbeiten zählen auch Identität, Wahrheit und Authentizität, deren Unerreichbarkeit er demonstriert.

Transzendenzäquivalente III: Wahrheit Schlingensiefs letzter Eintrag auf seinem Blog lautet » Die Bilder übermalen sich so oder so! – ›Erinnern heißt: Vergessen!‹ «.49 Wie zur Bekräftigung laufen auf der ersten Seite des Blogs zwei Tonspuren gleichzeitig, was sich laut Carl Hegemann aus einem Zufall heraus ergeben hat: Schlingensief »war nie fertig«,50 übermalte eine Arbeit mit der nächsten. Seine Arbeiten sind geprägt von dem Zwiespalt zwischen dem unbedingten Vorantreiben des eigenen Kunstschaffens und dem radikalen Hinterfragen des eigenen Tuns. Er verändert seine Aufführungen und Installationen laufend, weil sie seinem Wahrheitsanspruch nicht genügen. Dieser Wahrheitsanspruch ist wesentlicher Bestandteil des Kunstreligiösen der Ästhetik, das sich gerade dadurch auszeichnet, dass es nicht um eine religiöse Wahrheit geht, sondern um deren ästhetisches Äquivalent.51 _____________ 49

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Schlingensief, Christoph: Die Bilder verschwinden automatisch und übermalen sich so oder so! – ›Erinnern heißt: Vergessen!‹ (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!); in: Schlingenblog vom 07. 08. 2010 (http://www.peter-deutschmark.de/ blog/?p=25173801; letzter Zugriff: 28. 06. 2013). Schaper, Rüdiger: Über alle Grenzen; in: Der Tagesspiegel Nr. 20714 vom 22. 08. 2010, S. 3. Programmatisch ist dafür Walter Benjamins Diktum, »mit der Säkularisierung der Kunst« trete »die Authentizität an die Stelle des Kultwertes« (Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. ›Zweite Fassung‹; in: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band I. 2: Ab-

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Paradox und Wahrheit sind in Schlingensiefs Ästhetik durch den Versuch verknüpft, sich Unsagbarem zu nähern bzw. dem eigentlich Wahren, Richtigen näher zu kommen. Hegemann hat nach Schlingensiefs Tod wiederholt, Schlingensief hätte körperliche Abwehrreaktionen gehabt, wenn er lügen oder sich verstellen musste, und aus diesem Grund beispielsweise beim Hamlet in Zürich ärztlicher Hilfe bedurft. Schlingensiefs eigener Anspruch, ohne Ausnahme ehrlich und sich selbst treu zu sein, konfrontiert ihn damit, diesem Authentizitätsanspruch nie ganz gerecht werden zu können. Paradoxerweise kippt gerade dieser Anspruch in die gegenteilige Haltung um, das ganze Leben als ein Spiel zu betrachten: »Spielzeitverlängerung, sagte er jedes Mal, wenn er aus der Röhre kam«.52 So lässt Schlingensief in Via Intolleranza II auch verlauten: »Das kommt von dem Pflaster, dass ich Fiktion und Wirklichkeit nicht trennen kann«. Und wenn man als Zuschauer durchschaut, dass die junge afrikanische Sängerin nur in ihrer Rolle einen französischen Professor geheiratet hat, dass der kleinwüchsige afrikanische Komiker 32 Jahre alt ist und nur in seiner Bühnenrolle ins Publikum ruft, er suche eine Frau, und dass die Taktzahlen, die zu den Szenenüberschriften von Luigi Nono eingeblendet werden, der Partitur entsprechen, dann ist man in allen Fällen getäuscht worden. Auf der Bühne wird gelogen, um zu signalisieren, dass Schein und Lüge hier nicht moralisch relevant sind, sondern erkenntnistheoretisch. In diesem Sinne resümiert Nietzsche nach seiner Wagner-Kritik: »Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? … Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!«.53 Da wir an die Wahrheit nicht mehr glauben, fallen wir auch auf den Schein der Wahrheit nicht mehr herein. Schlingensief inszeniert religiöse Rituale als ästhetische Ereignisse und Wagners an eine metaphysische Wahrheit gemahnende Opernszenen als Spiel und Schein. Eine eigene Aufführungswirklichkeit wird wieder und wieder an ihrem Entstehen gehindert. Gerade weil man die Illusionsdurchbrechungen erkennt, hält man es für einen Bericht aus dem tatsächlichen Leben, dass es leider nicht möglich

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handlungen. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1980, S. 471-508, hier S. 481, Fußnote 8). Blasberg, Anita: »Ich regel das von oben«; in: Die Zeit Nr. 17 vom 20. 04. 2011, S. 43. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt; in: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Band 6. München u. a. 1980, S. 55-161, hier S. 81.

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war, die Rechte für eine vollständige Aufführung von Luigi Nonos Oper Via Intolleranza zu bekommen. Doch auch dies ist schlicht gelogen.54 Auf seinem Blog hat Schlingensief sich gegen »die theaterlügentheatermaschine« gewehrt,55 womit er Inszenierungen meinte, in denen ein Element in das andere greift und die Illusion einer präzisen Lebensrealität entsteht, deren perfekter Schein hinterher von der Kritik gelobt wird. Schlingensiefs Theater demonstriert dagegen die Fiktionalität der Wirklichkeit und die Unerreichbarkeit von Wahrheit. Um die Erkenntnis, dass das Echte immer inszeniert ist und das Fiktionale oft authentisch wirkt, mit dem Paradox in Verbindung zu bringen, ist es gar nicht nötig zu wissen, dass die griechische Vorsilbe para mit ›falsch‹ oder ›Schein‹ übersetzt werden kann.

Transzendenzäquivalente IV: Unverfügbarkeit der Identität Eine ähnliche Erkenntnis wird auch erreicht, wenn Schlingensief das Spiel mit Wahrheit, Schein und Illusion auf sich selbst bezieht. Die Inszenierungen seiner Person charakterisieren das gesamte Werk und verweben sein Leben mit dem Theater, weswegen er vielen als ›Egomane‹ gilt.56 Neben medialen Vervielfältigungen seiner Person spielen auch die anderen Schauspieler meistens Schlingensief. Dem Zuschauer wird er dabei nicht greifbarer. Eher wird die Unverfügbarkeit des Ich und die Unerreichbarkeit einer Identität demonstriert. Trotz oder gerade wegen der überbordenden medialen Präsenz der Person, der Projektion persönlicher Bilder und der Vermittlung intimer Gedanken entsteht besonders in den Aufführungen ein Eindruck der Unerreichbarkeit und Ferne.57 Durch verschiedene Formen von Abwesenheit wird der Mythisierung seiner Person Vorschub geleistet, wenn nämlich scheinbar authentische Äußerungen medial vermittelt auf der Leinwand zu sehen oder in der Zeitung zu lesen sind, wenn er hinter einer _____________ 54 55 56 57

So äußerte sich Aino Laberenz über Schlingensiefs Gespräche mit Nonos Witwe im Publikumsgespräch nach der Aufführung von Via Intolleranza II am 23. Mai 2011 beim Berliner Theatertreffen. Schlingensief, Christoph: Liebe Frau Andersen!; in: Schlingenblog vom 08. 12. 2009 (http://www.peter-deutschmark.de/blog/?p=8445809; letzter Zugriff: 28. 06. 2013). Michalzik: Der weite Weg nach Bayreuth (Anm. 36), S. 9. Diesen Hinweis verdanke ich Sarah Ralfs, die eine Dissertation zu Christoph Schlingensief unter dem Arbeitstitel Fließende Übergänge. Ästhetik des kollektiven Selbst schreibt.

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Rolle verschwindet, von Schauspielern gespielt wird oder gar nicht zur Aufführung erscheint. Die Demonstration dessen, dass es eine IchIdentität nicht gibt, negiert die Selbststilisierung weniger, als dass sie eine kulthafte Überhöhung begünstigt. Tatsächlich hat Schlingensief sein ZEIT-Feuilleton handschriftlich um den Satz ergänzt: »Das Heilige ist wahrscheinlich ein Begriff von Abwesenheit«.58 Gerade die Absenz der realen Person, gerade die Unerreichbarkeit ihrer Authentizität, begünstigt eine Aura.59 Auch indem Schlingensief auf verschiedene Weise sein eigenes Sterben, seine Totenmesse oder sein Leben nach dem Tod inszeniert, spielt er mit seiner Abwesenheit. In Kirche der Angst versammeln sich einige der Schauspieler um den Altar, der mit einem Kelch und Schalen gedeckt ist, und verkünden, das Besondere sei nicht die Anwesenheit eines Priesters, sondern »die Anwesenheit des potentiell Sterbenden«.60 Der emotionsgeladene Verlauf des Abends hat das Interesse auf die Person Schlingensiefs und seinen gesundheitlichen Zustand fokussiert, und die Gruppierung um den Tisch herum, so wie man sie aus Darstellungen des Abendmahls etwa bei Leonardo da Vinci kennt, verlangt nach einer Jesus-Figur. In dieser Situation erscheint Schlingensief schließlich in einem schlichten Wollpullover und tritt als er selbst auf, während der Kontext gerade dieses authentische Selbst in die Rolle des Göttlichen drängt, der die alltägliche Kleidung denn auch eher entspricht als ein Jesus-Kostüm. Denn nicht um die schauspielerische Verkörperung des Göttlichen geht es hier, sondern um den Kult des lebenden oder vielmehr sterbenden Künstlers. Indem Schlingensief die Unverfügbarkeit von Identität und die Unerreichbarkeit von Wahrheit demonstriert, schwingt mit, dass ihn deren Fehlen beschäftigt. Die Kehrseite der Darstellung der Unverfügbarkeit über das eigene Selbst ist der Glaube an das Einzigartige der eigenen Person. Nur wer Wahrheit und Identität vermisst, kann auch ihr Fehlen inszenieren. Nun lässt sich eine Unverfügbarkeit oder Unerreichbarkeit, die sich nur von der Annahme ihrer Existenz ausgehend zeigt, auf Gott gleichermaßen beziehen wie auf Wahrheit und Identität. Sowohl Wahrheit als auch deren Unerreichbarkeit und sowohl Identität als auch deren Unverfügbarkeit können daher als Transzendenzäquivalente gelten. _____________ 58 59 60

Schlingensiefs Handschrift im Feuilleton der Zeit Nr. 53 vom 22. 12. 2009, S. 45-55, hier S. 54. Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Anm. 51), S. 481 und 489. Die Ausführungen beziehen sich an dieser Stelle auf die Aufführung am 7. September 2009 in der Westergasfabrik in Amsterdam.

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Parodie des Kunstreligiösen Die Art, wie sich Schlingensiefs Ästhetik beschreiben lässt, ähnelt der Art, wie eine Transzendenz beschrieben wird bzw. die Annahme einer außerweltlichen Wirklichkeit begründet. Im Gegensatz zu religiöser Kunst zeichnet sich kunstreligiöse Kunst dadurch aus, dass sie nicht im Dienst einer Religion steht. Stattdessen macht sie sich Zuschreibungen des Göttlichen zu eigen. Wenn man nun bestreitet, dass die Häufung der Paradoxien, das Spiel mit dem Zufall sowie die Inszenierung von Unverfügbarkeit, Unerreichbarkeit, Emergenz, Kontingenz, Grenzenlosigkeit, Unendlichkeit oder Unsterblichkeit (der Kunst) eine religionsphilosophische Implikation haben, dann sei auf all die Anspielungen auf die Tradition der Kunstreligion und des Künstlerkultes verwiesen, mit denen diese weltliche Ästhetik kombiniert ist. So wird die Religiosität dieser Argumentation durch Schlingensiefs religiöse Selbstinszenierungen provoziert und freilich gleichzeitig parodiert. Die deutlich religiöse Selbstinszenierung als Papst oder Jesus oder mit Heiligenschein im Kurzfilm Die Kaaba? Geschlossen? Die Fata Morgana der eigenen Kunstverklärung… stellt die Spitze und gleichzeitig bereits den ironischen Bruch der permanenten Selbstinszenierung dar. Denn in dem Moment, in dem Schlingensief sich gezielt als heilige Person inszeniert, parodiert er die Aura, die er durch seine vermeintlich authentischen Selbstinszenierungen suggestiv kreiert. Die religiösen Selbstinszenierungen sind ein offensichtliches Rollenspiel, mit dem Schlingensief das eigene Kunstschaffen kommentiert. Sowohl die Verkörperungen des Authentischen als auch die des Göttlichen provozieren die Reflexion des Starkults als kunstreligiöse Praxis. Die vermeintlich exponierte Künstlerrolle und kunstreligiöse Haltungen werden hinterfragt: Wenn ich sage, ich bin heilig, ist es garantiert nicht heilig | Wenn ich sage ich bin künstler, bin ich kein Künstler | Die Kunst des Nichtkönnens ja Aber der wahre Heilige ist der Künstler der Nichtheiligkeit Die Nichtheiligkeit | ist wahrscheinlich die wahre Heiligkeit61

Die Paradoxien sind bezeichnend dafür, dass Schlingensiefs Ästhetik zwischen Eigenschaften, die als kunstreligiös bezeichnet werden könnten, und deren Parodie oder Aufhebung schwankt. Eine Szenenüberschrift in Via Intolleranza II lautet sogar: »Ziele anstreben, die sich gegenseitig ausschließen«. Auch deswegen sind das Streben nach Wahrheit oder Authentizität und die Demonstration der Unerreichbarkeit derselben für Schlin_____________ 61

Schlingensiefs Handschrift im Feuilleton der ZEIT Nr. 5 vom 22. 12. 2009, S. 54.

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gensiefs Ästhetik gleichermaßen charakteristisch. Das Streben nach Wahrheit wird durch die Demonstration der Unerreichbarkeit von Wahrheit kritisiert; diese wiederum führt zu einem Bekenntnis zum Schein, das sich gleichermaßen auf das Leben wie auf die Kunst wie auf ein Jenseits bezieht. Das Unerreichbare wird also weniger auratisiert, als dass es in erkenntnistheoretische Fragestellungen mündet. So wie das Mythische durch die privatmythologischen Elemente gleichzeitig konstruiert und dekonstruiert wird, sind auch alle transzendenzäquivalenten ästhetischen Strukturen im Widerspruch begriffen. Dem Spiel mit dem Zufall steht die penible Probenarbeit gegenüber, und eine unsterbliche, unendliche, ewige, absolute Kunst kann nicht gleichzeitig lebendig, machtvoll, unberechenbar und eigengesetzlich sein. Während sich die Lebendigkeit gegen die klassisch-kunstreligiösen Unendlichkeits- und Unsterblichkeitspostulate wendet, stellt sie bezüglich einer Vergöttlichung der Kunst eher eine Steigerung als deren Gegenteil dar. Dass dabei nicht wirklich von einem Eigenleben der Kunst ausgegangen wird, liegt auf der Hand. Deswegen kritisieren gerade die Formulierungen um ein Eigenleben der autonomen Kunst die Tendenz der zeitgenössischen theoretischen Ästhetik, die Kunst zu auratisieren. Schlingensief parodiert also nicht nur traditionelle Strömungen der Kunstreligion, sondern auch die eigene Ästhetik der Transzendenz, indem er die jeweiligen transzendenten Strukturen immer wieder in Frage stellt.62 Es ginge auch nicht um Christoph Schlingensief, würde das Kunstreligiöse als ästhetische Kategorie nicht ebenfalls dekonstruiert.

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Eine ausführlichere Darstellung der verschiedenen Aspekte dieses Aufsatzes veröffentliche ich in meiner Dissertation zum Kunstreligiösen in der gegenwärtigen Ästhetik (erscheint voraussichtlich 2014).

LAURE GAUTHIER

Anti-kunstreligiöse Züge in den Opern von Olga Neuwirth und Wolfgang Mitterer1 Die Gattung ›Oper‹ ist spätestens seit der Errichtung von Richard Wagners Festspielhaus in Bayreuth in den Jahren 1872-75 mit dem Phänomen der Kunstreligion eng verknüpft. Zum einen kulminiert in Wagners Gesamtkunstwerk das romantische Ideal einer Kunst, die, indem sie die Grenzen zwischen den verschiedenen Gattungen aufhebt, gewisse Funktionen der Religion übernimmt; zum anderen dürfen die in Bayreuth veranstalteten Festspiele als eines der bekanntesten und andauerndsten Beispiele für Kunstidolatrie gelten. In dem, was man als das ›System Wagner‹ bezeichnen könnte, tritt das musikalische Drama – als einzelnes Kunstwerk wie auch als Institution – nicht nur in Konkurrenz zur Religion, sondern ersetzt diese sogar. Wurde die Musik um 1800 als Hinführung zum Absoluten aufgefasst und ihre Rolle mit derjenigen einer noch nicht radikal in Frage gestellten Religion verglichen2, entwickelt sie sich nach 1850 zum Religionsersatz. Als solche ermöglicht sie, den ›Kern der Religion‹3 in einer Periode zu bewahren, in der Friedrich Nietzsche den Tod Gottes schon verkündet hat. In der ersten und noch stärker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (nach der Shoah) galt die Musik – und vor allem die Oper – vielen Komponisten der Avantgarde hingegen als eine _____________ 1

2 3

Ich möchte Elizabeth Calleo (Sopran), die die Herzogin von Guise in Massacre u. a. an der Cité de la Musique (Paris, April 2011) interpretierte, meinen Dank dafür aussprechen, dass sie mir Material (Partitur, Interviews etc.) zur Verfügung gestellt hat. Mein Dank gilt auch ganz besonders Wolfgang Mitterer, der sich vor einem zwölfseitigen schriftlichen Interview im März 2011 auch schon auf ein mündliches Interview (Paris, April 2010) eingelassen hat. Zur Musikphilosophie der Frühromantiker vgl. v. a. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik. 3. Auflage. Kassel 1994, S. 91-104. In seinem letzten Aufsatz Religion und Kunst behauptet Richard Wagner, dass es »da, wo die Religion künstlich wird«, der Kunst »vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten« (Wagner, Richard: Religion und Kunst; in: Wagner, Richard: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Neunter Band. Sechste Auflage. Leipzig [1912], S. 211-253, hier S. 211); vgl. Borchmeyer, Dieter: Die Festspielidee zwischen Hofkultur und Kunst-religion. Goethe und Richard Wagner; in: Theodramatik und Theatralität. Ein Dialog mit dem Theaterverständnis von Hans Urs von Balthasar. Herausgegeben von Volker Kapp, Helmuth Kiesel und Klaus Lubbers. Berlin 2000, S. 167-186; Lehmkuhl, Josef: Der Kunst-Messias. Richard Wagners Vermächtnis in seinen Schriften. Würzburg 2009.

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höchst problematische, weil mit der Tradition eng verbundene Gattung, die eine kultische Auffassung des Komponierens und des Zuhörens voraussetzt und genau aus diesem Grund erneuert, wenn nicht gar überwunden werden soll. Mit ›Erneuerung‹ und ›Überwindung‹ sind zwei Haltungen angesprochen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegenüberstanden. Erstere hat Karlheinz Stockhausen in mehreren Opern vertreten. Insbesondere sein Montag aus Licht (1984-88) kann als Versuch bezeichnet werden, das romantische bzw. wagnersche Erbe in der späten Moderne zu retten. Gewiss fordert Stockhausen eine tiefe Veränderung der Schreibweise, doch lebt in seinen Opern der Glaube an die metaphysische Kraft der Musik fort. Durch die Herausarbeitung von Superformeln – jenen Matrizen, die die Mikro- und Makrostruktur des Stückes prägen und Schnittpunkte mit Wagners ›Leitmotiv‹ aufweisen – verleiht der Komponist dem sonst undramatischen Werk eine innere Struktur und verleiht ihm dadurch die größtmögliche Sprengkraft. Vom postdramatischen Theater beeinflusst, lehnt Stockhausen zwar die Psychologie und das Dramatische ab, verabschiedet jedoch den Glauben an die göttliche Kraft des Musikalischen nicht. In Montag aus Licht drückt sich dies in einer unendlichen Erweiterung des tönenden, instrumentalen und vokalen, Raumes aus.4 Während sich Stockhausen in seinem Bemühen um die Erweiterung des Hörerlebnisses eher für eine Evolution des Genres eingesetzt hat, arbeitet Luigi Nono in Prometeo (1987) an dessen Revolutionierung, die seiner Auffassung nach insbesondere die Durchbrechung des konventionellen Verhältnisses von Zuhörer und Bühne erfordert. Der italienische Komponist strebt nicht nur eine Strukturveränderung des musikalischen Werkes an, sondern eine regelrechte Dekonstruktion des Opernerlebnisses, in der die Partitur ihren sakralen Charakter verliert und das Publikum lernt, aktiver zuzuhören. Was bisher als zentral erachtet worden ist, rückt so plötzlich an die Peripherie: nämlich die Partitur, die Bühnengeschehnisse und die Leistung der Sänger. Gleichzeitig wird das Periphere aufgewertet: das Hörerlebnis, um das sich nun alles drehen soll, wie es Nono im programmatischen Untertitel, Prometeo sei eine ›tragedia dell’ascolto‹, ankündigt. Es geht in dieser Perspektive nicht mehr nur um eine Erweiterung des musikalischen Raumes durch die Arbeit an der Partitur, sondern darüber hinaus um das Schaffen eines inneren Raumes im Zuhörer, wobei die Live-Elektronik, das Schweigen und die Präparierung _____________ 4

Vgl. u. a. Cohen-Levinas, Danielle: Le présent de l’opéra au XXe siècle. Chemin vers les nouvelles utopies. Pour une esthétique du palimpseste. Paris 2001, S. 198-203 und 248-254; Schnur, Peter: Die Idee des Gesamtkunstwerks bei Karlheinz Stockhausen, dargestellt am Zyklus Licht. [e-book] 2007.

Anti-kunstreligiöse Züge in den Opern von Olga Neuwirth und Wolfgang Mitterer

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der Instrumente wie des Raumes eine große Rolle spielen:5 Das Prekäre, das Unvorhersehbare, das Kaum-Vernehmbare sind die Elemente, die zum Skelett des Werkes erklärt werden, während die Partitur nicht mehr als Alpha und Omega eines musikalischen Abends fungiert und damit an metaphysischer Sprengkraft stark einbüßt. Der Raum, in dem die Oper aufgeführt wird, soll nicht zu einem Kunsttempel werden, in welchem ein Zuschauer durch die hervorragenden Leistungen zugleich des Komponisten, des Orchesters und der Sänger das Absolute erblickt; vielmehr gilt es einen akustischen Raum zu schaffen, in dem ein jeder ›die unergründliche Stille‹ vernehmen kann, ›wo alle Fragen begraben liegen‹.6 Der radikalen Infragestellung der Oper im ausgehenden 20. Jahrhundert zum Trotz setzen sich jüngere Komponisten um 2000 mit dieser ›Gattung‹ auch weiterhin auseinander. Ausgerechnet in Österreich als dem Land, das der Musik und insbesondere der Oper immer noch einen kultischen Wert beimisst (man denke an den Mozart-Kult oder an die Salzburger-Festspiele), schlagen junge Komponisten einen radikalen Weg ein, der an Luigi Nono anschließt. Olga Neuwirth und Wolfgang Mitterer, beide in Österreich geboren, sind bekannt für ihre Klang-Happenings und provokativen Sound-Installationen. Beide Komponisten verzichten dennoch nicht auf die Oper: Olga Neuwirth hat 1996-99 das Musiktheater Bählamms Fest und 2000 Lost Highway komponiert, während Wolfgang Mitterer 2004 die Playback-Oper Massacre uraufführen ließ. Die traditionelle Gattung wird hier jeweils einer neuen Praxis unterzogen: Beide Künstler heben in der Komposition die Rolle des Zufalls dadurch hervor, dass sie der Improvisation7 und den aleatorischen Komponenten8 großen Platz einräu_____________ 5

6 7

8

Vgl. Nono, Luigi: Possibilité et nécessité d’un nouveau théâtre musical; in: Contrechamps 4 (1985), S. 55-67; – Allgemeiner vgl. Cohen-Levinas, Danielle: L’esthétique de la scène ou l’oxymore de la tradition, l’appel de l’espace; in: Cohen-Levinas: Le présent de l’opéra (Anm. 4), S. 242-265. Nono spricht von »l’insondable silence où sont enfouies toutes les questions« (zitiert nach Jabès, Edmond: Luigi Nono; in: Contrechamps 1 (1987), S. 11-12, hier S. 11). Zur zentralen Rolle der Improvisation in der Neuen Musik vgl. u. a. Feißt, Sabine: Der Begriff ›Improvisation‹ in der neuen Musik. Sinzig 1997; Wilson, Peter Niklas: Hear and Now. Gedanken zur improvisierten Musik. Hofheim 1999. – Allgemeiner zum Begriff des Improvisierens in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts vgl. Landgraf, Edgar: Improvisation: Paradigma moderner Kunstproduktion und Ereignis; in: Parapluie 17 (2003) (http://parapluie.de/archiv/improvisation/kunstproduktion/index.html#NoteBase1; letzter Zugriff: 16.08.2013); Bormann, Hans-Friedrich/Brandstetter, Gabriele/Matzke, Annemarie (Hrsg.): Improvisieren. Paradoxien des Unvorhersehbaren: Kunst – Medien – Praxis. Bielefeld 2010, S. 7-12. Die Aleatorische Musik, die gegen Ende der 50er Jahre von großer Bedeutung war, steht im Zusammenhang mit der Fluxus-Bewegung und John Cage. Der Einsatz von Zufallsoperationen ist jedoch eine wichtige Komponente des Komponierens während des gesamten 20. Jahrhunderts; vgl. Schulze, Holger: Das aleatorische Spiel. Erkundung und Anwen-

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men; darüber hinaus unterstreichen sie durch ihren Umgang mit LiveElektronik und die Präparierung des Aufführungsortes die starke Raumbezogenheit der Musik. Es soll im Folgenden danach gefragt werden, inwiefern die Betonung des immanenten Charakters der Musik zu einer restlosen Entsakralisierung und Desauratisierung insbesondere fester Formen wie der Oper beiträgt. Dabei gilt es zu überprüfen, ob es in den Werken beider Komponisten nicht doch Spuren des Glaubens zu finden gibt: des Glaubens an ein vielleicht gottloses Absolutes bzw. an die Möglichkeit einer verweltlichten Epiphanie, wozu einzig und allein die Musik Zugang böte.

I. Entsakralisierung der Musik durch Lachen und Zitieren Wenn sich Olga Neuwirth selbst als »›österreichischer Depressionist‹«9 definiert, will sie den Hang, die Kunst zu ent-sakralisieren und sogar zu ent-werten, zur Haupteigenschaft ihrer Musik stilisieren. Diese Selbstetikettierung ist als provokativer Seitenhieb auf alle diejenigen Komponisten zu interpretieren, die geneigt sind die Kunst zu verabsolutieren. Die Komponistin weigert sich, der Musik irgendeine Macht zuzusprechen. Sie erwähnt in mehreren Interviews ihre Allergie gegen jegliche Demonstration von Macht, sei sie religiöser, politischer oder künstlerischer Art. Ganz besonders zuwider ist ihr die Verbindung von Musik und politischer Macht, wie sie sich in der alten k. u. k Monarchie und sogar noch im modernen Österreich als besonders langlebig erwiesen hat (man denke nur an die Vorliebe des alten Kaisers Franz Joseph für den Radetzky-Marsch und in jüngerer Zeit an die Vorliebe Jörg Haiders für Schlagermusik. In dem 2000 verfassten Essay Ich lasse mich nicht wegjodeln desavouiert sie alle Herrschaftsmechanismen und zeigt, dass die Musik sich nicht auf die Seite der Mächtigen – hier Haider – stellen dürfe.10 Der vermeintlichen Macht von _____________

9 10

dung der nichtintentionalen Werkgenese im 20. Jahrhundert. München 2000; Deufert, Kattrin: John Cages Theater der Präsenz. Norderstedt 2001, hier speziell S. 92-189: ›Zufall und Unbestimmtheit in John Cages Theaterarbeit‹. Neuwirth, Olga: Gedankensplitter zu Lonicera Caprifolium (1993); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg – Wien – München 2008, S. 28-31, hier S. 31. Neuwirth, Olga: »Ich lasse mich nicht wegjodeln«. Rede bei der Großdemonstration in Wien am 19. Februar 2000 gegen die Regierungsbeteiligung der FPÖ; in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg – Wien – München 2008, S. 128-129.

Anti-kunstreligiöse Züge in den Opern von Olga Neuwirth und Wolfgang Mitterer

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Musik setzt Olga Neuwirth die Zerbrechlichkeit der Klangwelt entgegen und auch ihre eigene Ohnmacht. Wichtig ist ihr, das ›eigene Scheitern‹ in die Partitur mit einzuschreiben11 – eine Haltung, die man als strikte Ablehnung der kunstreligiösen Tradition betrachten kann. Die Musik ist kein Organon mehr, das das Absolute verkündet oder gar selber eines ist, wie sie von den Formalisten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert aufgefasst wurde.12 Vielmehr ist sie ein Ausdruck des menschlichen Herumirrens und seiner Unzulänglichkeit: Da ich keinen schönen Schein, keine Ziel-, keine Wunschvorstellungen konkret in Musik umsetzen kann, kann ich persönlich nur das Nicht-AnkommenKönnen, das Zögern vor dem Ziel, jene Angst vor dem endgültigen Anfang komponieren.13

Komponieren definiert Olga Neuwirth nie als ›starken‹, weil schöpferischen Akt. Sie führt diesen kreativen Prozess auf die nüchterne, selbstkritische, immer bescheidene Diagnose eines Nicht-Könnens zurück. Schon als ganz junger Mensch ist ihr bewusst geworden, dass in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts die metaphysische Kraft der Musik endgültig verloren gegangen war. In den 1960er und 1970er Jahren war es Pierre Boulez, Luigi Nono oder Helmut Lachenmann noch beschert, magische Kräfte in der zeitgenössischen Musik heraufzubeschwören. Im Bewusstsein einer Zäsur, eines restlosen Verlustes der metaphysischen Sprengkraft von Musik, hat sich Olga Neuwirth ans Komponieren gemacht, und eben diese Depression bzw. diesen Wertverlust wollten ihre frühen Werke diagnostizieren: Da alle Werte und die Metaphysik in dieser so genannten ›zeitgenössischen Musik‹ zusammengebrochen waren in den Achtzigern, begann ich wegen dieser Begebenheit zu fragen, zu hinterfragen.14

Diese Haltung drückt sich vorerst in der Zerstörung musikalischer Mythen aus, etwa in der Bearbeitung des Don Giovanni-Mythos gemeinsam mit Elfriede Jelinek. Im Auftrag der Salzburger Festspiele komponierte _____________ 11

12 13 14

»Aber gleichzeitig ist mir wichtig, dass auch das Scheitern bzw. mein eigenes Scheitern mit eingeschrieben ist« (Neuwirth, Olga: Überlegungsfragmente zu einem Musiktheater (1994); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 32-33, hier S. 33). Für Eduard Hanslick war die Musik bekanntlich selbst Wesen oder Idee; vgl. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 2), S. 128. Neuwirth, Olga: Music and Peace (1988); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 107-112, hier S. 108. Ernste Musik und Ende (2001). Reinhard Schulz im Gespräch mit Olga Neuwirth; in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 148-153, hier S. 148.

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Neuwirth für das Mozart-Jahr 2006 die Musik zu Der Fall W. Jelinek und Neuwirth beabsichtigten jedoch nicht, in einer Aktualisierung des Don Giovanni-Stoffes der Figur ein weiteres Denkmal zu setzen. Ihre Bearbeitung vollzog vielmehr einen Tabubruch im Kunsttempel der Salzburger Festspiele. Von Mozarts Don Giovanni ist dabei nur noch wenig übrig geblieben: Sowohl Jelineks Libretto als auch die Musik von Neuwirth assoziieren die erfolgreiche männliche Figur mit Gewalt und denunzieren ihre Macht. 2006 ist der italienische Frauenheld zu einem Kinderschänder geworden; der Mythos wird mit Schlagzeilen um einen Serienmörder vermengt und dient als Folie für das Libretto, das dadurch Züge einer Slapstickkomödie annimmt. Denn das Libretto erzählt die verbotene Lust des Kindermörders, schildert seine Autorität und Anziehungskraft. Zugleich wird die Aufmerksamkeit des Zuhörers auf den Augenblick fokussiert, in dem derjenige, der arme Knaben aus dem Erziehungsheim konsumiert, plötzlich selber von einem der Opfer konsumiert wird, das so die eigene Kindheit rächt. Das Opfer entpuppt sich als Dämon, der Geld verschlingt und seinen Täter materiell ausbeutet. Weder das Libretto noch die Partitur unterstreichen die ernste Dimension dieser Tragödie des Begehrens; vielmehr parodieren beide das gewaltige Spiel des sinnlichen Begehrens. Elfriede Jelinek erkennt in dieser Liquidierung der Figur ›Don Giovanni‹ mehr als nur den Angriff auf eine Opernlegende. Im Essay Requiem auf eine Oper geht die Schriftstellerin – auf Søren Kierkegaard fußend15 – mit der Musik ins Gericht. Sie vertritt die Meinung, dass diese immer Macht anstrebt und – Don Giovanni gleich – immer wieder unersättlich nach Erfüllung sucht. Die Ironisierung der Figur des Schürzenjägers führt also zu einer Infragestellung der Macht des Musikalischen, das zu keinerlei religiösen Huldigungen in Opernsälen oder auf Festspielen Anlass geben soll. Die Zeit der Verbeugung vor Musikgrößen soll endgültig vorüber sein. Der Verzicht auf Ernst ist sowohl Ungehorsam gegenüber festgefahrener Konzertattitüde als auch Selbstironie des Komponisten. Musik denkt Neuwirth nie im Paradigma des Absoluten. In diesem Dispositiv der Relativierung der Macht von Musik kommt dem Lachen eine zentrale Funktion zu. Neben dem Einfluss der Surrealisten16 und der Wiener Gruppe erkennt die Komponistin viele Berührungspunkte zwi_____________ 15 16

Vgl. Jelinek, Elfriede: Requiem auf eine Oper (2006); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 319-325. Vgl. »Ausgefranste Ränder, stiebende Partikelchen«. (1995). Reinhard Kager im Gespräch mit Olga Neuwirth; in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 4148, hier S. 47.

Anti-kunstreligiöse Züge in den Opern von Olga Neuwirth und Wolfgang Mitterer

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schen ihrer Auffassung von Kunst und jener der Dadaisten. Ihre Auffassung des Lachens erinnert an das Lachen der Dadaisten, die dieses Instrument der Sinnstörung als ihr Lieblingswerkzeug in der »Kunst- und Kultur-Guerilla« anwendeten.17 In Happenings, die die Komponistin selbst in die Tradition dieser Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts einreiht, nimmt ihr subversiver Humor der Kunst ihren Wahrheitswillen, ihre Aura.18 In einer Art lachender Verzweiflung zerstört Olga Neuwirth während eines solchen Happenings eine Violine und verhöhnt dadurch die Ehrfurcht vor dem Wohlklang des Streichinstruments.19 In ihren Werken drückt sich die Verhöhnung vor allen Dingen durch die Dekonstruktion festgefahrener Klänge aus, die sie durch spezifische Spieltechniken erreicht: Entweder verwendet sie Live-Elektronik, um eine neue Klangwelt zu erfinden, oder sie präpariert die sog. ›klassischen‹ Instrumente, um hybride Töne herauszuarbeiten. In diesen Happenings sagt sie den bürgerlichen Akustik-Gewohnheiten den Kampf an, etwa im ironisch Spleen benannten Stück, worin sie die kühnsten Versuche unternimmt, den Instrumenten unerhörte Laute abzugewinnen. So soll ein Bassklarinettist pausenlos ungewohnte Höhen erreichen, bis er kaum noch atmen kann. Auf diese Weise gerät man an die von Olga Neuwirth geliebte schmale Grenze zwischen dem Unerhörten und dem Grotesken. Olga Neuwirths Lachen kleidet sich meistens in gesellschaftliche Satiren, die durch Elfriede Jelineks Libretti noch pointiert werden. Neuwirths Musiktheater, Bählamms Fest und Lost Highway, weist eine große Nähe zu den Werken von österreichischen Satirikern wie Thomas Bernhard und Wolfgang Bauer auf. Im Land, in dem die Musik immer sehr ernst genommen wird, ist es ein couragiertes Unterfangen, satirische Musik zu komponieren. Indem sie alltägliche Situationen und gewöhnliche Laster entlarvt, will die Komponistin das Publikum für die Schrecken des Lebens widerstandsfähiger machen und die Köpfe ›befreien‹.20 Humor schafft Überhöhung und Distanz. Diese Verfremdung hat aber nie zum Ziel, die Wirklichkeit vergessen zu lassen, sondern will ganz im Gegenteil zur Wirklichkeit zurückführen. Ihre Auffassung der Musik vergleicht Neuwirth mit Maurice Nadeaus Definition des surrealistischen Standpunktes: _____________ 17 18 19 20

Vgl. Bergius, Hanne: Das Lachen Dadas. Die Berliner Dadaisten und ihre Aktionen. Gießen 1989, insbesondere S. 9-22 (Zitate S. 9). Vgl. Neuwirth: »Ausgefranste Ränder, stiebende Partikelchen« (Anm. 16) S. 47. Vgl. Drees, Stefan: Die Komponistin Olga Neuwirth; in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 88-93, hier S. 92f. Vgl. Neuwirth: »Ausgefranste Ränder, stiebende Partikelchen« (Anm. 16), S. 47.

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›Die surrealistische Gesinnung […] kommt nämlich zu allen Zeiten vor, sofern man sie als die Bereitschaft auffasst, das Wirkliche tiefer zu ergründen, ohne damit sogleich transzendieren zu wollen.‹21

Das erklärte Ziel Olga Neuwirths ist also keine Flucht vor der Realität, sondern ein Mehr an Realität. Diese Haltung hebt sich dezidiert von einer kunstreligiösen Auffassung der Musik ab und bricht mit der romantischen Vorstellung davon. Ihre Nähe zur surrealistischen Gesinnung drückt sich namentlich in Bählamms Fest aus, einem zwischen 1997 und 1999 komponierten Musiktheater in 13 Bildern nach Leonora Carringtons Theaterstück The Baa-Lamb’s Holiday (Libretto von Elfriede Jelinek).22 Es handelt sich um »eine sadistische Familiengeschichte in skurril-surrealen Momentaufnahmen«.23 In einem heruntergekommenen bürgerlichen Haus, das vereinsamt auf einer Heide steht, leben zwei männliche und drei weibliche Figuren: einerseits Philipp, ein herrischer älterer und versoffener Großbürger, sowie sein Bruder Jeremy (halb Mensch, halb Wolf); andererseits die Jeremy ganz verfallene Theodora, Philipps und Jeremys Mutter Mrs. Carnis, die beide Söhne abgöttisch verehrt, sowie Philipps erste Frau Elizabeth, die die Liebe zwischen Jeremy und Theodora mit Unbehagen verfolgt und den eigenen Mann dazu ermuntert, Jeremy zu ermorden. Dem Haus kommt eine wichtige Rolle zu, weil es zugleich Zufluchtsort und Tollhaus ist. Dialog und Musik leisten den Spagat zwischen dem Poetischen, unerhört Surrealen, und dem Komischen. Die Musik persifliert das einengende und entfremdende Familienleben. Diese Entfremdung wird durch die Personifizierung der Tiere im Libretto figuriert, die zugleich das halb Tierische, Jähe und Instinktvolle im Menschen auf eine unheimliche Weise zum Ausdruck bringt und das Groteske an der Liebe und an den Familienverhältnissen betont, das auf der Bühne amüsant wirkt. Die Musik setzt nicht vor der ersten Rede ein (wie es in der Oper von jeher praktiziert wurde), sondern erst am Ende des ersten Bildes. Dieses retardierende Moment soll nicht die Wirkung der Musik steigern, sondern die Komik der Situation verstärken. Als sie erklingt, sieht man auf der Bühne Mrs. Carnis, die eine hölzerne Schachtel in Form eines Sargs holt. Währenddessen kommt Henry, ein schwarzer Hund, mit einer blutigen Beute _____________ 21 22

23

Neuwirth: Music and Peace (Anm. 13), S. 109. Vgl. Surrealismus und ›aufgebrochenes‹ Musiktheater (1998). Stefan Drees im Gespräch mit Olga Neuwirth über das Musiktheater Bählamms Fest (1997-99); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 96-106. Neuwirth: Music and Peace (Anm. 13), S. 109.

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im Maul. Robert, der Diener, trägt ein Hundefell als Accessoire, und das Libretto gibt die folgende Bühnenanweisung: Also vielleicht einen Kragen mit einer Krawatte, oder ein Hosenbein oder so, nur angedeutet! Man kann dann später auch damit spielen und einmal mehr, einmal weniger Menschenkleidung auf ihn applizieren, je nachdem, ob er gerade eine mehr tierische oder mehr menschliche Rolle zu spielen hat.24

Die Musik begleitet absurde Gesten wie z. B. die Bewegung des Hundes, der sich ausgiebig kratzt und an Sachen schnüffelt, bevor er sie angeekelt wieder wegwirft, wozu das Libretto vermerkt: »Pantomime. Sehr tierisch! Ab und zu heult er laut auf«.25 Die Musik ist selbstständig und schafft doch Brücken zur Erzählung. Sprachfetzen und skurrile Reden auf der einen Seite, Live-Elektronik, knurrendes Singen26 oder Hundebellen auf der anderen. Das Knurren beim Singen soll man als restlose Negation des Schöngesangs betrachten. Nicht nur die Musik, sondern auch die Stimmen sollen zur Komik beitragen. Die Stimmen werden verzerrt, seltsame Töne hervorgezaubert – es wird gejauchzt, gepiepst, gebrüllt, geweint, gebellt, gekichert und gedröhnt. Selten wird gesungen, und wenn ein Lied angestimmt wird, wie im siebten Bild das Duett des kleinen Mädchens mit dem Kanarienvogel (5. Bild), dann wird es skandiert und ins Groteske gesteigert. Der Text markiert Humor durch ulkige Nebensätze und inhaltliche Distanzierung von der literarischen Vorlage. Skurril sind nicht nur die surrealistischen Komponenten wie der sprechende Hund und der Wolfmensch Jeremy, sondern auch von Jelinek hinzugedichtete Bühnenanweisungen (»er schaut wieder in die Heide hinaus, der hund meine ich«, die dafür sorgen, dass man sich auf keine Emotion festlegen kann und die größtmögliche Distanz zur Handlung auf der Bühne gewinnt. Während Olga Neuwirth das Kunstreligiöse als Ausdruck der Macht von Kunst verwirft, distanziert sich Wolfgang Mitterer von jeglichem religiösen Umgang mit einem Kunstwerk, egal ob innerhalb einer Kirche oder eines Kunsttempels. Bei ihm wird die Religion, genauer die Verbindung zwischen Religion und Politik, anders als bei Olga Neuwirth, explizit zum Thema in Massacre, einer 2002 komponierten Playback-Oper. Religion kann nur in Gewalt ausarten, wenn sich Religion mit Politik vermengt, wie die zentrale Botschaft des Librettos von Stefan Müller und Wolfgang Mitterer nach Christopher Marlowes Vorlage The Massacre at _____________ 24 25 26

Neuwirth, Olga: Bählamms Fest. Musiktheater in 13 Bildern nach Leonora Carrington. Librettofassung von Elfriede Jelinek in der Übersetzung von Heribert Becker. Klangforum Wien, dirigiert durch Johannes Kalitzke (2 CD, Kairos, 2003), Libretto, S. 15. Neuwirth/Jelinek: Bählamms Fest (Anm. 24), S. 15. Vgl. im 3. Bild zu Robert: »Er sieht wild aus und knurrt beim Sprechen oder Singen, völlige Verwandlung!« (Neuwirth/Jelinek: Bählamms Fest (Anm. 24) S. 17).

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Paris27 lautet. Anders als bei Marlowe thematisiert die zeitgenössische Adaption nicht nur den historischen Kampf zwischen Protestanten und Katholiken, der sich in der Bartholomäusnacht des Jahres 1572 dramatisch zuspitzte. Es ist Mitterer darum gegangen, die zeitliche Verankerung zu überwinden und die ewigen Ränkespiele der Macht in der Geschichte aufzuzeigen. So fungieren die Protagonisten von Mitterers Massacre − die Herzogin und der Herzog von Guise, der König und die Königin von Navarra, Catharina de’ Medici und Heinrich III. von Frankreich − als bloße Masken. An Stelle der über 35 dramatis personae bei Marlowe wirken hier lediglich sechs glorreiche historische Figuren, die unter der Feder der beiden Librettisten ihrer historischen Macht und Aura entledigt werden. Was verbleibt, sind leere Hüllen, die mit Titeln versehen sind wie ›die Majestät‹, ›der König‹, ›die Königin‹ und ›die Mutter‹. Die Handlung wird auf einen Rumpf reduziert und die Eloquenz in die Luft gesprengt. Übrig bleiben politische Marionetten, die auf der Bühne hetzen, sich an Gott wenden, vor sich hin brüllen und im Namen des Kreuzes morden oder zum Massaker aufrufen. Die Absurdität der engverbundenen religiösen und politischen Machtstrukturen wird dadurch bloßgelegt, dass der Text leitmotivisch Formeln aufwirft wie ›treason‹, ›revenge‹, ›fatal‹, ›go ahead‹, ›charge‹ oder ›let not escape‹, die sich immer wiederholen. Zwischen jenen Ausrufen gibt es kaum Dialoge, höchstens Sprachfetzen. ›Gott‹ und ›Kreuz‹, auf die sich alle Protagonisten berufen, erscheinen als Trugbilder einer nur gewaltsamen Welt. Die Repliken werden so reduziert, dass die Kausalzusammenhänge zum Vorschein kommen: N. come my lords Let’s pray that god may still de-fend the rights of our land Fa-tal fa-tal was this NIGHT for us all Fa----tal for our france and the holy word of GOD Fa-tal fa-tal fa-tal.28

Die Grausamkeit der Sprache findet eine Entsprechung in der Partitur, die von konkreten − bald von Tieren, bald von Maschinen produzierten – und verzerrten instrumentalen Klängen wie etwa der Blechblasinstrumente übersät ist. Die eingespielten Sounds schleppen ihr Umfeld mit: So lässt das Summen der Fliege im Kontext eines mörderischen Glaubenskrieges unmittelbar an übel riechende Kadaver denken. Die Sirenen und das Hupen sind alltägliche Großstadtgeräusche, die den Zuhörer zurück in die _____________ 27 28

Marlowe, Christopher: The massacre at Paris. Nachdruck. Edited by W. W. Greg. Oxford 1928. Mitterer Wolfgang: Massacre. Libretto by Stephan Müller und Wolfgang Mitterer. Live recording made at the theatre Saint-Quentin-en-Yvelines on 9. October 2008 by Dominique Bataille (1 CD, Col Legno 2010), Libretto, S. 59.

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Realität führen und darüber hinaus die Gewalt des politischen Machtkampfes überformen. Während das Libretto das Gewaltige an der Verquickung zwischen politischer und religiöser Macht explizit denunziert, ist es die Aufgabe der Partitur, prosaische Prozesse aufzuzeigen, die die Gewalt auf ihre Art und Weise signalisieren. Indem Mitterer die Hörwelt durch die Einspielungen von konkreten Klängen in der Realität verankert, soll die Musik jeglichen kultischen Charakter verlieren. Sie wird als rein immanent aufgefasst, d. h. Mitterer stellt ihre Materialität dadurch aus, dass er die Prozesse der Klangerzeugung aufzeigt: Schön wenn die fliege ein wenig stinkt, die fliege kommt aber auch prozessiert vor und klingt dort wie eine wohltuende violine, und hohes zirpen kann simpel als öffnung des oberen gehörraumes dienen.29

Diese Öffnung des akustischen Horizontes wird aber nie absolut gedacht. Mitterer zeigt sich in seinen Werken kritisch nicht nur gegenüber der Anbetung von religiösen Idolen, sondern auch gegenüber derjenigen von Kunstwerken und Künstlern. Die Popmusik, die eine Renaissance kunstreligiöser Phänomene beobachten lässt,30 denunziert er als ›Klischeeinstallation‹: Elvis Presley ist laut einhelliger medienmeinung ein grosser künstler, ein priester, ein gott, dann bin ich kein künstler sondern ein monteur; solches dämliche getue ist mir jedenfalls schon von kindheit an auf die nerven gegangen.31

Aber Kunstidolatrie kritisiert der Österreicher auch in Form der Vergangenheitsanbetung in der sog. ›klassischen‹ Musik. Der kunstreligiöse Umgang mit der musikalischen Tradition hemme das Hörerlebnis. Wenn das Ohr in die Knie gehe, entgehe dem Zuhörer das Meiste. Die Entsublimierung der Tradition gehört zu Mitterers Steckenpferden, wie man seiner Handhabung von auditiven Zitaten entnehmen kann. So kommt es in Massacre zu Zitaten aus Bachs Kantaten wie z. B. ›Falsche Welt, dir trau ich nicht‹ (BWV 52) oder ›Ich freue mich auf meinen Tod, | Ach hätt er sich schon eingefunden‹ (BWV 82). In Massacre werden die Zitate nicht als Hommage an eine bestimmte Tradition verstanden;32 ihnen kommt viel_____________ 29 30

31 32

›Das Uner(hört)e‹. Wolfgang Mitterer im Gespräch mit Laure Gauthier, März 2011. Zum Künstlerkult in der Popkultur vgl. Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult. Bemerkungen zu einem Konflikt von Schleiermacher bis zur Moderne; in: Meckenstock, Günter (Hrsg.): Schleiermacher-Tag 2005. Eine Vortragsreihe. Göttingen 2006, S. 179-200, besonders S. 196-200. ›Das Uner(hört)e‹. Wolfgang Mitterer im Gespräch mit Laure Gauthier, März 2011. Man denke dabei an das ›B.A.C.H.‹ Motiv in Arnold Schönbergs Moses und Aron. Die Grundserie der Oper wurde in Form des BACH-Motivs präsentiert, das die Selbstoffenbarung Gottes im brennenden Dornbusch begleitet. Schon in den ersten Akkorden wird dort die Offenbarung Gottes in eine analogische Verbindung mit der musikalischen Schöpfung gebracht. Schönbergs Partitur vermag das Absolute zu offenbaren wie einst Bach; vgl.

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mehr der Status eines sample zu. Sie werden als Soundmaterial gehandhabt und insofern auf die gleiche Stufe mit den anderen Klängen gestellt, die Mitterer ebenso in seine Datenbank aufnimmt wie die Bagger oder eben die Fliegen. Das bestätigt dann das akustische Umfeld des Zitats: Das Bach-Zitat ›Wir waren schon zu tief gesunken‹ in der 16. Sequenz der Oper ist eingerahmt von ironisch eingesetzten, poppigen Melodien: ›My brain turns upside down. Upside down‹ (13. Damnation of D.) und ›All goes to wreck. My brain my brain. Upside down‹ (17. Fazit). Dabei geht es dem Komponisten weniger um die Dekonstruktion des musikalischen Erbes als vielmehr um die Zersprengung der akustischen Konventionen sowie des seines Erachtens verstaubten Umgangs mit der musikalischen Tradition. Die Kultisierung der Musikgeschichte und der kultische Umgang mit einer Partitur führen in seinen Augen zum deutlichen Substanzverlust des akustischen Materials und des musikalischen Erlebnisses Durch das Nebeneinanderstellen von Soundquellen heterogener Provenienz könne man zu einem Gefühl des Unerhörten beitragen und den Klanghorizont des Publikums erweitern. Da er die tradierte Auffassung vom Komponisten als Halbgott oder Priester ablehnt, bagatellisiert Mitterer bewusst die eigene Macht und führt sie auf die eines Arrangeurs zurück, der wie ein DJ – ein Klassik-DJ – arbeitet: Niemand erfindet die welt neu, wir profitieren alle voneinander. ich mache lediglich manchmal ein paar neue klingende musiksamples und mische diese in ungewohnte zusammenhänge.33

Jene Ironisierung des Komponisten als Priester sowie der Partitur als Reliquie drückt sich auch in den Titeln von Mitterers Kompositionen aus (etwa in Stop Playing oder mehr noch in Musik for checking e-mail) in denen die absolute Zeitgebundenheit, die reine Immanenz der Musik hervorgehoben wird. Musik wird hier nie verabsolutiert, sondern als Begleiterscheinung eines alltäglichen Prozesses erlebt.

_____________

33

Gauthier, Laure: Arnold Schönbergs Moses und Aron. Vertiefung oder Aufhebung der kunstreligiösen Dialektik?; in: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Gérard Laudin unter Mitwirkung von Viktoria Haß, Aiko Kempen, Martina Schwalm und Ingo Vogler. Band 2: Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850. Berlin – Boston 2012, S. 155-183. ›Das Uner(hört)e‹. Wolfgang Mitterer im Gespräch mit Laure Gauthier, März 2011.

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II. Der Komponist als Architekt: die Raumbezogenheit der Musik Weil Musik die Macht besitzt, unsere räumlichen und zeitlichen Wahrnehmungen zu verändern, ist sie um 1800 als Funktionsäquivalent zur Religion betrachtet worden. Nicht nur Friedrich Schleiermacher hat ihr einen Sonderstatus unter den Künsten beigemessen, indem er ihre Nähe zur Religion hervorhebt;34 auch Arthur Schopenhauer zieht eine Trennlinie zwischen ihr und den anderen schönen Künsten, indem er eine Metaphysik der Musik entwickelt, welche die Debatten zur absoluten Musik im 19. Jahrhundert stark beeinflusst hat35 und u. a. von Richard Wagner rezipiert worden ist.36 Diese Sonderstellung ging um 1800 und noch stärker nach 1850 mit einer Verherrlichung des Komponisten einher, der souverän über die Zeit herrschen sollte. Gerade in dem Glauben an die Macht der Musik über die Zeit liegt die Äquivalentsetzung der Musik mit der Religion. Diese Auffassung unterstellt ein Verständnis der Musik als ewig-zeitlose Kunst, die das Absolute zu offenbaren vermöchte. Wolfgang Mitterer und Olga Neuwirth gehören zu denjenigen, die mit dem Mythos eines allmächtigen Komponisten, der über die Macht verfügt, den eingeweihten Zuhörer ins Absolute zu führen, brechen und einen Prozess verstärken, der seit den späten 1950er Jahren insbesondere durch John Cage vorangetrieben wurde.37 Beide österreichische Künstler unterstreichen in ihren Werken, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, die Materialität und die Raumbezogenheit der Musik. _____________ 34 35

36

37

Scholtz, Gunter: Schleiermachers Musikphilosophie. Göttingen 1981. − Zum Bezug zwischen Kunst und Religion bei Schleiermacher vgl. allg. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2009, S. 438-482. Für den Formalisten Eduard Hanslick erfüllt die Musik keine hinführende Funktion mehr; sie gilt ihm an sich – als Ton – als rein, objektlos und absolut, wobei ›absolut‹ keinen metaphysischen Gehalt mehr bezeichnet, sondern etwas rein Formales denotiert (vgl. Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik in der Tonkunst. Unveränderter reprografischer Nachdruck der 1. Auflage Leipzig 1854. Darmstadt 1991). Vgl. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 2), S. 128-138. − Ludwig Tieck versteht die Instrumentalmusik als Organon der Metaphysik, denn losgelöst von sprachlichen und funktionalen Bedingtheiten erhebe sie sich über die Begrenztheit des Endlichen, der Materie, zur Ahnung des Unendlichen; vgl. Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (Anm. 2), S. 63. Man denke dabei vor allem an time brackets von John Cage, das aus mehreren Zufallsoperationen besteht; vgl. Anonym: John Cage; in: Die Opernzeitung Frankfurt Nr. 1/2, Oktober/November 1987, S. 11, sowie das Kapitel zu time brackets in Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004, S. 228-232.

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Einer als absolut verstandenen Musik – einer Musik als ›Herrin der Zeit‹ – setzt Olga Neuwirth eine nicht fassbare, fließende Musik entgegen,38 die sie mit einer vorüberziehenden Wolke vergleicht. Das Musizieren beschreibt sie als einen Prozess des Auftauchens und des unablässig WiederVerschwindens, der nur selten zu einer Phase der Stabilisierung kommt. Gerade weil sie das Interesse vor allem auf das Moment des Erlöschens konzentriert, verzichtet die österreichische Komponistin meist auf Melodien, die auf dem Prinzip der Fortdauer, der Wiederholung basieren und Erinnerungen im Zuhörer wachrufen.39 Was Olga Neuwirth anstrebt, ist vielmehr eine Musik der Amnesie und des Verlustes: Mich interessiert die totale Fragmentierung. Ich greife das Thema des Vergessens immer wieder auf und zeige an jeder Komposition dadurch vielleicht auch mein eigenes Scheitern.40

Olga Neuwirth ironisiert die Tradition des Komponisten als ›Uhrmacher‹, jene mechanistische Vorstellung eines allmächtigen Komponisten, der durch die Fertigstellung einer vermeintlich perfekten Partitur gedenkt, bei der Aufführung alle Elemente zu meistern und die Zeit zum Stillstand zu bringen.41 Wenn Olga Neuwirth die zeitliche Dimension ihrer Werke erwähnt, dann unterstreicht sie deren prekären und unfassbaren Charakter. Es geht ihr nicht um die Beherrschung der messbaren, mathematischen Zeit, sondern um die Erfahrbarkeit einer brüchigen, diskontinuierlichen Zeit, die weder das Publikum noch der Komponist auffangen kann. Ihren Werken wohnt das Paradoxon inne, dass die Zeit fühlbar wird, gerade weil sie vergeht. Dem entsprechend wird die Musik auch dann fühlbar, wenn sie verschwindet. Diese Erfahrung kann der Zuhörer während der stillen Phasen von Bählamms Fest machen. Alles bewegt sich fort, nur kleine Fetzen Zeit werden isoliert, zeitliche Nischen, die eine Geographie des Stillstands markieren: Diese Oper musste also einige ihrer Teile auslassen, die dann als Inseln forttreiben durften. Wie weit ragen Eis/Schnee-Inseln in den Raum hinein, und was

_____________ 38 39 40 41

Vgl. »Die Musik soll Herrin der Zeit sein.« Peter Weibel im Gespräch mit Olga Neuwirth (2005); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 272-278. In Bählamms Fest greift Neuwirth ein einziges Mal auf eine Melodie zurück. Es handelt sich dabei um zwei jiddische Kinderlieder, die die versuchte Auslöschung des jüdischen Volkes durch die Nazis in Erinnerung rufen sollen (nur ›politisch‹ darf man nicht vergessen). Peter Weibel im Gespräch mit Olga Neuwirth (Anm. 38), S. 274. »Der Komponist als Uhrmacher, als Synonym für Gott und weiter als Genie, dieser viel gebrauchte Terminus in der Musik, ist nicht zufällig immer männlich besetzt« (Peter Weibel im Gespräch mit Olga Neuwirth (Anm. 38), S. 273).

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bleibt unter Wasser, um die Inseln aufrecht halten und, falls nötig, Schiffe aufschlitzen zu können?42

Dieses Prinzip der stillen Inseln, die eine eigene Existenz führen, setzt an John Cages Prinzip der ›Zeitinseln‹ an, die zwischen den time brackets eine autonome, kurzlebige Existenz führen.43 Dort sind jene Inseln Momente, die einen eigenen Rhythmus aufweisen, Fragmente, die sich zwischen den das Werk strukturierenden time brackets befinden. Die verschiedenen Zeitinseln folgen aufeinander, tauchen auf und verschwinden wieder, ohne dem Zuschauer ein Gefühl der Kontinuität zu vermitteln.44 Diese Zeitangaben bieten feste Rahmen, innerhalb derer die Künstler freie Handlungen improvisieren können, die untereinander keine Kausalzusammenhänge aufweisen. So entsteht eine Spannung zwischen dem willkürlichen, strikt chronometrischen Rahmen und freien, improvisierten, zusammenhanglosen Handlungen. John Cage strebte durch den willkürlichen Einschnitt seiner time brackets eine alternative Zeitlichkeit an, gar ein Sichüber-die-Zeit-Hinwegsetzen.45 Für Olga Neuwirth geht es bei den ›EisInseln‹ aber weniger um die Erprobung einer neuen Zeitlichkeit als primär um die räumliche Erfahrbarkeit jener virtuellen Zeitinseln sowie überhaupt um die räumliche Dimension des musikalischen Erlebnisses. Ihre Arbeit vergleicht die Komponistin deswegen immer wieder mit der eines Architekten und bezeichnet ihre Art und Weise, mit dem akustischen Material umzugehen, in dieser Hinsicht als dekonstruktivistisch.46 Als sie in Santa Monica das Gehry-Haus besichtigte, das erste dekonstruktivische _____________ 42

43 44

45

46

Vgl. Jelinek, Elfriede: Musik und Furcht (einige Überlegungen zu ›Instrumental-Inseln‹ von Olga Neuwirth) (2001); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008,, S. 120-122, hier S. 120. In Untitled Event (1952) hat Cage das Prinzip der time brackets erstmals eingesetzt: jene präzise chronometrische Angabe, die auf der Partitur eingetragen ist. »Eine Zeitinsel tauchte auf, wenn etwas zum Erscheinen kam, das heißt, sich im Raum ausbreitete; und sie versank, wenn das, was in Erscheinung getreten war, wieder aus dem Raum und damit aus der Wahrnehmung verschwand« (Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (Anm. 37), S. 231). Zur Auffassung von der Zeit bei Cage vgl. insbesondere Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (Anm. 37), S. 230; Kösterke, Doris: Kunst als Zeitkritik und Lebensmodell. Aspekte des musikalischen Denkens bei John Cage (1912-1992). Regensburg 1996; Kovács, Inge: Wege zum musikalischen Strukturalismus. René Leibowitz, Pierre Boulez, John Cage und die Webern-Rezeption in Paris um 1950. Schliengen 2004 (speziell Kapitel 3: ›Begriffliche Eckpunkte einer neuen Poetik‹, S. 167-245); Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch. Zu Musik, Kunst und geistigen Fragen unserer Zeit. Köln 1989, S. 4355. Vgl. Neuwirth, Olga: Ideen für ein Raum-Musik-Projekt (London 2004); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 262-263.

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Gebäude, fiel ihr die Nähe von Frank Gehrys Anliegen zu ihrem eigenen Projekt auf. In Anlehnung an Jacques Derridas Prinzip der Dekonstruktion waren Frank Gehry und andere Architekten aus seinem Umkreis wie Mark Wigley oder auch Philip Johnson ab 1988 bestrebt, die Tektonik wieder in Frage zu stellen.47 Sie untersuchten die inneren Strukturen der Bauelemente sowie z. B. das Verhältnis zwischen Tragen und Lasten, um diese offenzulegen und dann aufzubrechen. Eigentlich geht es dabei weniger um Dekonstruktion als um ein Sichtbarmachen des a-tektonischen Moments des Bauens.48 Ihre a-tektonische Geste begreifen sie als antimetaphysische Haltung, insofern als sie jegliche Idee von Ordnung und Überordnung der Elemente ablehnen.49 An Gehry anknüpfend ist Olga Neuwirth bestrebt, durch die Destruktion (oder eher Auseinanderlegung), diesmal von musikalischen Strukturen und Formen, etwas Neues zu bilden: Das Auflösen von wohl geordneten, stabilen einfachen geometrischen Körpern war mir persönlich nahe. Das Abweichen von den Werten der Harmonie, Einheit und Stabilität wird von der Struktur selbst abgelöst. Dadurch bildet sich ein neues Ganzes aus Heterogenem. An dieser Stelle setzt die ›dekonstruktive‹ Architektur an, und genau an diesem ›Denkpunkt‹ wollte ich mit meinen Kompositionen damals ansetzen: indem man in einer Komposition so weit wie möglich in die Struktur selbst hineingeht, um genau dort die Instabilität aufzuspüren und sichtbar zu machen.50

Ziel von Neuwirths Kunst ist es, die Form in Frage zu stellen bzw. ›zu verhören‹. Die brüchigen Stellen bzw. Unzulänglichkeiten ausfindig zu machen, ist eine ihrer Aufgaben als Komponistin. Sie arbeitet nicht an einer wohlstrukturierten Architektur mit über- und untergeordneten Elementen, sondern enthierarchisiert die Bauteile, legt sie auseinander und versucht dann »›virtuelle Raumblase[n]‹«51 zu schaffen, die die Wahrnehmung des Raumes verändern: »Das in seiner Mitte sitzende Publikum wird _____________ 47

48

49 50 51

Wigley, Mark: Architektur und Dekonstruktion. Derridas Phantom. Übersetzt aus dem Englischen von Christian Rochow unter Mitarbeit von Axel Haase. Basel u. a. 1994; Dekonstruktivismus. Eine Anthologie. Herausgegeben von Andreas Papadakis. Aus dem Englischen übersetzt von Christiane Court, Wolfgang Rhiel und Brigitte Weitbrecht. Stuttgart 1989. Seidl, Ernst: Zerstörungsphänomene in der Baukunst: Atektonik statt Dekonstruktion; in: Aufbauen – Zerstören. Phänomene und Prozesse der Kunst. Herausgegeben von Bettina Paust, Johannes Bilstein, Peter M. Lyen und Hans Peter Thurn. Oberhausen 2007, S. 5768. Vgl. Eisenman, Peter: Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik in der Architektur. Herausgegeben von Ullrich Schwarz. Übersetzt und bearbeitet von Martina Kögl und Ullrich Schwarz. Wien 1995. Neuwirth: Ideen für ein Raum-Musik-Projekt (Anm. 46), S. 262. Neuwirth: Ideen für ein Raum-Musik-Projekt (Anm. 46), S. 263.

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mit einem unablässigen Wandel von Räumen konfrontiert: ein MusikRaum-Haus…«.52 Die Zeitspannen oder Zeitinseln bei John Cage sind hier bei Olga Neuwirth zu Raumblasen geworden. Diese Hervorhebung des Raumes darf bei den Aufführungen jedoch zu keiner Sakralisierung des Ortes führen. Olga Neuwirth zeigt sich gegenüber jeglicher Ortsmagie – ebenfalls eine späte Erscheinung der Kunstreligion − sehr kritisch. Sie strebt unpathetische Räume an, die über eine uneingeschränkte Funktionalität verfügen, also ganz im Dienste des Zuhörens und des Klangmaterials stehen. Sie sträubt sich sowohl gegen legendäre Konzertsäle als auch gegen vermeintlich unkonventionelle Orte wie Bahnhofsareale oder verlassene Fabrikgebäude. Neuwirths Aufführungsorte sind daher mit mobilen Paneelen möbliert, die nach Bedarf verstellt werden können und das Publikum so mit ständig neuen räumlichen Konstellationen konfrontieren. Nicht allein die Musik vermag es, diese Raumblasen im Kopf des Publikums entstehen zu lassen. Auch Videos tragen dazu bei, indem sie für die Dreidimensionalität des Raumes sorgen. Demzufolge sollen die VideoLeinwände in den Opern Neuwirths und Jelineks die einzige Ausstattung auf der Bühne bilden. Sie schaffen Außen- und Innenräume und besitzen das Vermögen, subjektive Prozesse aufzuzeigen, die nicht von der Sprache getragen werden und auch in der Musik keinen Ausdruck finden. Die Komponistin schlägt insofern Brücken zwischen Literatur, Video und Musik. Dabei werden Bilder und Texte nicht der Musik als Alleinherrscherin unterworfen, sondern jede Kunst wahrt ihre eigene Logik und tritt mit den anderen in einen Dialog ein. Ziel ist aber nicht die Verstärkung eines ›Gesamteffektes‹ (die Potenzierung der Wirkung auf den Zuschauer durch Aufhebung der Grenzen zwischen den Künsten wie bei Wagners Musikdrama), sondern vielmehr die Nebeneinanderstellung disparater Elemente, die in ihrer Heterogenität kommunizieren. Anders als in der romantischen Musiktradition drückt ein solcher Dialog zwischen den verschiedenen Kunstsparten die Ratlosigkeit der Komponistin gegenüber dem Leben aus und versucht, der eigenen »Sprachlosigkeit über die Irrationalität des menschlichen Daseins zu entkommen«.53 Dieser dissonante Dialog zwischen Künsten ist die Manifestation ihrer Zweifel und zugleich die einzig mögliche Befreiung von denselben. Was bei Olga Neuwirth an die Stelle der Idee eines machtvollen, wirkungsstarken Gesamtkunstwerkes tritt, ist die von Valie Export über_____________ 52 53

Neuwirth: Ideen für ein Raum-Musik-Projekt (Anm. 46), S. 263. Neuwirth, Olga: Überlegungsfragmente zu einem Musiktheater (1994); in: A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a 2008, S. 32-33, hier S. 32.

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nommene Idee der ›Naht‹.54 Musik und Video wirken nicht zusammen, sondern werden vielmehr zusammengenäht. Diese prekäre Bindung drückt den verzweifelten Versuch aus, sich vor dem Irrationalen zu schützen.55 Das Visuelle und das Auditive führen jeweils eine Eigenexistenz und beeinflussen sich zugleich doch gegenseitig. Das Hinterfragen der Bezüge zwischen dem Verbalen, dem Akustischen und dem Visuellen ist in Olga Neuwirths Werk zentral, ganz besonders in Lost Highway, jenem 2000 komponierten Musiktheater, das von David Lynchs gleichnamigem Film inspiriert ist. Der heterogene Dialog der verschiedenen Künste wird exemplarisch im Einsatz visueller Abblenden deutlich, die anders funktionieren als im Film: Die Abblende wird nicht durch ein Verstimmen der Musik eingeleitet, und umgekehrt folgt auf die Abblende der Videos kein Augenblick der Stille. Die visuellen Pausen werden vielmehr von einer akustischen Expansion des Raumes begleitet – alle Lautsprecher im Raum werden angestellt. Während der visuellen Aufblenden hingegen kommt es zu einer Kontraktion des akustischen Raumes – bis auf die Bühnenlautsprecher bleiben dann alle anderen stumm. Die Musik beschränkt sich nicht auf das Untermalen der Videos, und ebenso wenig veranschaulichen die Bilder nur die Musik. Es entstehen hingegen komplexe Bedeutungszusammenhänge, wenn etwa der erste Teil von Lost Highway nur gesprochen, manchmal sogar nur geflüstert wird. Der Zuhörer gewinnt in diesen ersten Szenen einen Einblick in das Alltagsleben eines wohlsituierten Paares: Fred liebt Renee, wird aber von der Angst gepackt, sie aufgrund ihrer unausgesprochenen Vergangenheit zu verlieren. Das Libretto vermag einige von Renees Ausreden und Lügen durch schleierhafte Antworten zum Ausdruck zu bringen. Die Musik setzt aber immer dann ein, wenn man ihre Reden nicht mehr rational nachvollziehen kann. Die Live-Elektronik, die im Raum flirrt, soll dem Publikum das Gefühl eines Rätsels verleihen. Die Musik schwebt über dem Zuhörer, durch den Raum hindurch, genauso wie das Wirkliche in der Schwebe bleibt. Sie drückt in ihrer Vergänglichkeit, ihren fortwährenden Abblenden, die Bedrohung aus (ein Hauptmotiv des Werkes) und macht Innenräume durch besondere Laute vernehmbar, die ungreifbar und unsagbar bleiben. Dem Video kommt in der Oper Olga Neuwirths und Elfriede _____________ 54

55

»Die ›Naht‹ dient als Platzhalter für eine scheinbar abwesende Ursache, die Unheimlichkeit erzeugt.« (Neuwirth, Olga: Nachgedanken zu Lost Highway (2002/03). Warten auf Godot der Leidenschaft und Nähe. Eine Versuchsanordnung der Vergeblichkeit (2003); in: Neuwirth, Olga: Zwischen den Stühlen. A twilight-song auf der Suche nach dem fernen Klang. Herausgegeben von Stefan Drees. Salzburg u. a. 2008, S. 203-208, hier S. 205). »Es ist nur eine Methode, mit Hilfe der ›Naht‹, die Bedrohlichkeit, die scheinbar abwesende Ursache der Angst, das Phantasma quasi zu überbrücken« (Neuwirth: Nachgedanken (Anm. 54), S. 205).

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Jelineks damit die Aufgabe zu, »den Blick einer unmöglichen Subjektivität, die nicht innerhalb eines erzählenden Raumes lokalisiert werden kann«, zu übernehmen,56 was durch die Figur des Mystery Man am ehesten anschaulich wird. Diese unheimliche Figur überblickt stumm und bewegungslos das gesamte Bühnengeschehen und verfügt, indem ihr Kamera-Auge stetig alles aufzeichnet, über eine Macht zur Manipulation. Da sie das Phantasma und die Projektionsfläche verkörpern soll, ist sie nie leibhaftig auf der Bühne zu sehen, sondern wird durch den Rekurs auf Videoeinspielungen figuriert. Der Musik wird so in Olga Neuwirths Musiktheater keine besondere Stellung unter den Künsten zuerkannt; sie ereignet sich auf der Bühne, entsteht und vergeht im Raum und hat dabei ihre Transzendenz eingebüßt. Die performative Komponente ist im Werk von Wolfgang Mitterer ebenfalls zentral. Der Komponist setzt sich damit auseinander, wie Musik entsteht und vom Publikum wahrgenommen wird. Er interessiert sich für das hic et nunc der Aufführung und schenkt der Nachwirkung des Werkes entsprechend wenig Aufmerksamkeit. Die Musik sei keine ewig-zeitlose Kunst, die ein Wahres, Höheres offenbare, und der Komponist sei nicht allmächtig, weshalb er dem Orchester und den Sängern auch nicht alles vorschreiben könne. Mitterer versteht den Komponisten vielmehr als einen Arrangeur, einen Monteur, der klangliche Bauteile zusammenfügt und für die Jetzt-Zeit erfahrbar macht: Ich wende mich von dieser romantischen Tradition ab. Festlegungen und Vorstellungen wie die, dass die ›Kunst‹ die einzige Wahrheit und die Komposition die ›wichtigste‹ Sache sei. Ich komponiere nicht für die Nachwelt. Ich schreibe für die Musiker, ich schreibe jetzt und für die aktuelle Situation.57

Dabei kann der Komponist bei der Aufführung keineswegs alle Elemente unter seine Kontrolle bringen, sondern lediglich bemüht sein, die Musik an die äußeren, akustischen und räumlichen Umstände anzupassen. Mitterer verstärkt geradezu die aleatorische Dimension seiner Komposition, indem er mit Improvisationsmusikern arbeitet, die sich mit seiner musikalischen Vorlage auseinandersetzen und sie als Rohmaterial für ihre Improvisationen benutzen. Bei der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern erzielt er kein Gesamtkunstwerk, sondern hebt vielmehr die eigene Begrenztheit hervor. Er arbeitet am Prosaischen und versucht das musika_____________ 56 57

Neuwirth: Nachgedanken (Anm. 54), S. 205. Mitterer Wolfgang: Massacre. Libretto by Stephan Müller and Wolfgang Mitterer. Live recording made at the theatre Saint-Quentin-en-Yvelines on 9. October 2008 by Dominique Bataille (1 CD, Col Legno 2010), Libretto, S. 14. – Vgl. Roth, Stéphane: Massacre von Wolfgang Mitterer: ein Abbild des Politischen; in: Théâtres et musiques, n°5, 2008, S. 11-21.

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lische Material zurechtzubiegen, damit es anders klingt. In dem 1993 komponierten Turmbau zu Babel, in dem 4200 Choristen, 22 Schlagzeuge und 40 Blechinstrumente mitwirken, sowie im 2000 aufgeführten Vertical Silence für vier DJs, vier Schauspieler, einen Tusch, einen Kinderchor sowie Bagger, LKW’s, Motorräder, Jogger mit Hund, Feuerwehrleute und elektronische Säger wird deutlich, dass der österreichische Komponist die räumliche Dimension der Musik in den Vordergrund seines Happenings stellt. Vertical Silence war als Open-Air-Konzert in einem Steinbruch konzipiert. Anders als Olga Neuwirth, die neutrale Konzertsäle mit guter Akustik sucht, veranstaltet Mitterer seine Musikhappenings in den verschiedensten Orten: Kirche, Steinbruch oder Theater. So drängen sich in Vertical Silence die natürlichen Elemente dem Komponisten auf (architektonische und akustische), während die Musiker und die DJs improvisieren und sich verselbständigen und der Hund sich bemerkbar macht, der gerade da sein soll, um unerwartet vor sich hin zu bellen. Während die Tiere bei Neuwirth metaphorisch konzipiert sind und so wie die Schafe oder der Wolf in Bählamms Fest die unberechenbare triebhafte Natur des Menschen versinnbildlichen, wirken sie bei Mitterer real mit: entweder als Soundmaterial (wie bei dem eingespielten Summen der Fliege in Massacre)58 oder als unberechenbare körperliche Präsenz. Wolfgang Mitterer knüpft zwar an die Happening-Kultur der späten 50er und 60er Jahre an, radikalisiert aber jenes Erlebnis im Sinne einer noch stärkeren Infragestellung der Macht der Kunst. John Cage hat in Werken wie Untitled Event, in dem er das Prinzip der times brackets einführte, die improvisierten Teile ausschließlich Künstlern überlassen; so wirkten 1952 in der Sommerschule des Black Mountain Colleges der Tänzer Merce Cunningham, der Maler Robert Rauschenberg, der Komponist Jay Watts und außerdem die Dichter Charles Olsen und Mary Caroline Richards an der ersten Aufführung des Werkes mit. Um 2000 zweifelt Wolfgang Mitterer den Glauben an die Wirkung der Kunst noch radikaler an, indem er das Zufällige in Form von Sägen, Hunden und Feuerwehrleuten in Erscheinung treten lässt, die frei agieren sollen. Was oder wer sich dem musikalischen Material aufdrängt, wirkt im Werk mit, wird zu einem gleichwertigen Klang wie die live gespielte elektronische Musik, die dann als Kunstwerk nicht mehr explizit wahrgenommen werden kann. Es entstehen heterogene Klänge, die in ihrer Abfolge unerhört klingen. Die Musik, die Mitterer im Rahmen der Veranstaltung von Vertical Silence spielt, soll um die eigene Existenz ringen. Der Komponist muss kämpfen, um mit seiner Live-Elektronik dem Publikum vernehmbar zu bleiben, _____________ 58

Vgl. oben S. 275ff.

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während mehrere LKW’s und Sirenen drohen, den akustischen Raum ganz in Anspruch zu nehmen. Das Ziel Mitterers ist dabei, den Gehörsinn des Publikums durch unerhörte Klangsituationen und -kombinationen zu erweitern. Im Turmbau zu Babel z. B. spielt Mitterer als Osttiroler mit der Tradition, indem er auf Blaskapelle und Kinderchor zurückgreift und diese erste – dem Publikum vertraute – Klangwelt mit industriellen, mechanischen und tierischen Tönen zu einem ungewohnten Klang mixt. In der Playback-Oper Massacre wird deutlich, dass Mitterer das Aleatorische auch in das Genre der Oper zu integrieren versucht. Massacre beruht zunächst auf einer Matrix zuvor aufgenommener elektronischer Tonspuren. Allen Szenen sind durchlaufende Playbacks unterlegt. Aus diesem Grund hat der Österreicher exakte chronometrische Angaben in der Partitur notiert. Dieser verbindliche Rahmen gibt den Sängern Anhaltspunkte und lässt ihnen dennoch viel Freiraum. Mitterers Vorstellung von elektronischer Musik ist nicht in etwa die eines Edgar Varèse, der von Instrumenten träumte, die bloß dem Denken gehorchen. Trotz der vorgefertigten Folie – des elektronischen Rasters – will der Komponist auf die unvorhersehbaren Effekte des Performativen nicht verzichten. Den Musikern werden innerhalb des vorgegebenen Rahmens weder strenge Vorschriften gemacht noch Grenzen gesetzt. Es entsteht dabei ein dialektisches Spiel zwischen dem strengen Playback-Untergrund auf der einen und der Vortragsweise der Sänger sowie der Spielweise des Orchesters auf der anderen Seite: eine Dialektik von Freiheit und Restriktion. Insbesondere wenn die Stimmen vom Sologesang zu Chören wechseln, steht alles der Improvisation offen. Dieser Freiraum erfordert vom Orchester eine Haltung zum eigenen Spiel, die der Komponist von der des traditionellen Symphonieorchesters unterscheidet, das den Vorschriften rigide folge und mit einer solchen Freiheit des Spielens nichts anzufangen wisse: Würde man einem klassischen orchester 10 minuten totale freiheit geben, wüsste man bereits im vornhinein genau wie dieses stück klingen würde und das wäre langweilig.59

Das Instrument soll nicht mehr Teil eines Symphonieorchesters sein und lediglich dazu beitragen, die Perfektion der Partitur zum Ausdruck zu bringen, sondern als ein materielles Werkzeug fungieren, mit dem man vielseitig umgehen kann und das unerhörte Klänge von sich gibt. An die Praxis der Fluxus-Bewegung knüpft Wolfgang Mitterer mit Stop Playing an und erweitert das Klangerlebnis der präparierten Instrumente auf die Kirchenmusik. Wenn er in einer Kirche auftritt (sei es in Linz, Wien, Köflach _____________ 59

›Das Uner(hört)e‹. Wolfgang Mitterer im Gespräch mit Laure Gauthier, März 2011.

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oder Straßburg), um das Orgelstück Stop Playing aufzuführen, so wohnen die Konzertgäste nicht einem erneuten Aufleben himmlischer Kirchenmusik bei, sondern ganz im Gegenteil einer Auseinandersetzung mit der Materialität der Orgel. Gerade indem er die Orgel als präpariertes Instrument und die Kirche als Rahmen wählt, radikalisiert er die Desakralisierung der Musik, die John Cage mit seinem präparierten Klavier in die Wege geleitet hat. Der akustische Horizont des Publikums soll erweitert und dessen Hörgewohnheiten auf den Kopf gestellt werden. Immer auf der Suche nach neuen Klängen experimentiert Mitterer mit der Orgel: Er schlägt auf das Gehäuse (track 3), spielt dann so schnell, dass manche Tasten nicht ganz gedrückt werden und Nebengeräusche entstehen, schaltet den Motor ein und aus, damit der Blasbalg Luft verliert und die Töne leiser werden und nacheinander überblasen. Im Mittelpunkt der Stücke steht das Spiel mit den Registerzügen. Diesen Prozess nennt Mitterer ›stop playing‹: Dieses Spiel erlaubt es, den Winddruck zu kontrollieren und den Pfeifen weniger Luft als vorgesehen zu schicken. Dadurch verschiebt sich die Tonhöhe der Pfeifen nach unten, beziehungsweise, bei zu wenig Luft, überblasen die Pfeifen nach oben.60

Im Stephansdom zu Wien, einem Tempel der Orgelmusik, hat er Stop playing gespielt und dem Publikum gezeigt, wie man mit der Zunge am Pedal und darüber einem kurzen gesampelten und geloopten ZungenAkkord neue musikalische Welten entdecken kann. Mittel, die bisher als unedel betrachtet wurden, wie Handschlag oder Zungenbewegungen, erweitern das musikalische Möglichkeitsbewusstsein. Ausgerechnet im berühmten Wiener Dom, wo sonst Sakralmusik gespielt wird, ist Mitterers horizontale Weltsicht ausgebreitet worden. Indem der Komponist auf das Holz des Notenständers klopft oder Töne verstimmt, entkleidet er das Kircheninstrument seiner sakralen Dimension und stellt dessen Materialität und Diesseitigkeit in den Vordergrund. Der begeisterte Orgelspieler rettet das Instrument für die zeitgenössische Musik, indem er das Festgefahrene des Orgelrepertoires sprengt. Aufgrund dieser Verankerung der Musik im Raum und in der Gegenwart vergleicht Mitterer auch den Beruf des Komponisten mit dem des Architekten, »der ein haus plant, das andere bauen, und in dem wieder andere wohnen«.61 Das Wort ›Komponieren‹ − com-ponere − will er buchstäblich nehmen als das Zusammen-Fügen von Klangmaterial und Klangereignissen. Während Olga Neuwirth eher das Moment des Auseinanderlegens und erst dann des Zusammennähens _____________ 60 61

Mitterer, Wolfgang: Stop Playing. CD. Col Legno, 2010, Libretto, S. 6. ›Das Uner(hört)e‹. Wolfgang Mitterer im Gespräch mit Laure Gauthier, März 2011.

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isoliert, hebt Mitterer die Bedeutung der Montage und des Zusammensetzens von heterogenen Bauelementen hervor.

III. Paradoxien des Komponierens: Sehnsucht nach einem (immanenten) Höheren? Auch wenn Wolfgang Mitterer und Olga Neuwirth in unterschiedlichen Interviews immer wieder betonen, dass die Musik über keine transzendente Macht verfüge und sie als Komponisten nie bestrebt seien, durch die Musik auf ein Jenseits hinzuweisen, stellt sich bei näherer Untersuchung ihrer Werke heraus, dass sie den Glauben an ein Höheres, zu dem nur die Musik einen Zugang eröffnet, nicht ganz aufgegeben haben. Nun bleibt danach zu fragen, ob es sich dabei um Fetzen einer romantischen Auffassung von Musik als Funktionsäquivalent oder gar Ersatz der Religion handelt oder ob jenes Höhere rein immanent aufgefasst wird. Trotz der vorhin hervorgehobenen Kreuzungspunkte zwischen beiden Künstlern in Bezug auf den Umgang mit Raum und Zeit, unterscheiden sie sich in diesem Punkt. Es gibt bei Wolfgang Mitterer keinen radikalen Bruch zwischen Tradition und Gegenwart. Ob das an seiner doppelten Ausbildung als Organist und studierter Elektroakustiker beruht? Das Repertoire der früheren Jahrhunderte wird als Rohmaterial gehandhabt, auf welches Wolfgang Mitterer beliebig zurückgreifen kann. Das als Datenbank aufgefasste Notenmaterial kann aber nur dann weiterexistieren, wenn es reaktualisiert und dem jetzigen Publikum mit neuen Techniken erfahrbar gemacht wird. So hat Mitterer in der Straßburger Église du Bouclier 2010 Bachs Präludium und Fuge Es-Dur BMV 552 gespielt und zwischen dem Präludium und der Fuge seine Komposition Stop Playing aufgeführt. Die Konzeption des Konzertes ließ dabei die verschiedenen Teile langsam ineinander übergehen. Mitterer verstimmte das Bach-Präludium, schob die Register hinein und ließ sie »in ganz andersartigen klängen«62 verschwinden, bis sie als Bach-Fuge wieder auftauchten. Durch diese langsame Verflechtung zweier Klangwelten unterstreicht er das Andersklingende an Bach und ebnet zugleich den Weg zu einem gänzlich neuen Umgang mit der Orgel. Auch wenn in Massacre die musikalischen Zitate aus Bach und Vivaldi meistens wie Samples gehandhabt werden und auf der gleichen ästhetischen Stufe wie die Bagger_____________ 62

›Das Uner(hört)e‹. Wolfgang Mitterer im Gespräch mit Laure Gauthier, März 2011.

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geräusche oder das Hundebellen stehen, merkt man bei Stop Playing, in dem Mitterer eine Partitur von Bach auf der Orgel selbst interpretiert, oder in Im Sturm, jener Variation auf Schuberts Winterreise, wie paradox der Status der Tradition hier ist. In beiden Werken ist die alte Vorlage, die er weiter bearbeitet und variiert, kein bloßes Sample. Wenn er behauptet, mit Im Sturm die alte Form des Liedes von ihrem Sockel herunterzustürzen, möchte er zur Desakralisierung der Musik im Allgemeinen und derjenigen Schuberts im Besonderen beitragen. Zugleich scheint der Rekurs auf zeitgenössische Mittel wie Loops und Samples keinen Wunsch nach der restlosen Dekonstruktion des Liederzyklus auszudrücken, sondern eher den Versuch, die alte Aura der Musik in der Jetztzeit zu retten: Ich wollte gern diese alte form des liedes mit klavierbegleitung Vom dachboden des 19. Jahrhunderts herunterholen Den staub & die vorurteile abwischen Um zu sehen Ob der alte glanz noch einmal aufpoliert werden kann Ob sich das alte lyrische element Mit der musik der raketenabwehrsysteme […] Verbinden verzahnen & verstöhren lässt.63

Zwar behauptet der Sänger Georg Nigl, dem das Werk gewidmet ist, dass das Lyrisch-Belcanteske in Mitterers Liederzyklus von einem Sturm ›weggetrieben‹ werde,64 doch kann man sich beim Zuhören des Eindrucks nicht erwehren, es gehe nicht lediglich um ein ›Wegtreiben‹, sondern vielmehr um die Verjüngung einer verstaubten Glorie, die in der Gegenwart in ihrer alten Form nicht mehr zu erscheinen vermag. Das lyrische Element aus der Zeit Schuberts ist in der Späten Moderne anachronistisch geworden. Konkrete Klänge sind hier realistische Einsprengsel mit der Funktion, die unmöglich gewordene Harmonie zu fragmentieren und die Lieder in der gegenwärtigen Realität zu verankern. Mitterer fügt Elemente seiner Zeit hinzu und disparate Klangwelten zusammen. Die zeitgenössische Form zeichnet sich durch Hochgeschwindigkeit, Gewalt und Unmöglichkeit der Harmonie aus. Daher platzt Triviales in dem Augenblick herein, in dem bei Schubert die Schwermut zum Ausdruck gekommen ist. Die Affekte, welche Schuberts Winterreise auslöste, werden hier immer gehemmt und verfremdet. Die Verwirrung kommt aber einem Versuch gleich, das Zeitlose an den Partituren vergangener Zeiten wieder ›hörbar‹ zu machen, ihren ›alten Glanz‹ für die Jetztzeit zu retten. Der Komponist _____________ 63 64

Mitterer, Wolfgang: Im Sturm. »dein! Dein ist mein herz!«. Liederzyklus, frei nach Franz Schubert für Bariton, präpariertes Klavier und electronics, 1 CD. (Col Legno, 2008), Libretto, S. 4. Mitterer: Im Sturm (Anm. 62), S. 5.

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arbeitet an seinem akustischen Material und präpariert die Instrumente so, dass der Glanz in veränderter Form blitzartig wieder erscheinen kann. Es handelt sich um musikalische Emergenzen aus früheren Zeiten. Indem er – wenn auch auf brutale Weise – mit zeitgenössischen Mitteln das Erbe früherer Komponisten wie Bach oder Schubert aufgreift, ebnet er den Zuhörern einen akustischen Weg, um wieder einen Zugang zu diesem Erbe zu erlangen, auch wenn das nur noch augenblicklich und fragmentarisch gelingen kann: Es gibt so viele schöne kompositionen aus vergangenen zeiten, gut gespielt behalten sie ihren glanz, wie gesagt mir geht es nicht um ein zerstören, sondern um einbauen und aufbauen.65

Auch wenn Mitterer in der Kunst keine neue Religion sehen will und er sich dem kultischen Umgang sowohl mit der Partitur als auch mit den Komponisten gegenüber kritisch zeigt, bleibt bei ihm nichtsdestoweniger die Überzeugung aufrechterhalten, dass die Musik auch in der Späten Moderne noch wie um 1800 eine »ahnung des unendlichen« vermitteln kann:66 Da muss ich sagen, kenne ich viele stücke von boulez über miles davis bis paco de lucia die mich eine romantisch enthusiastische ahnung des unendlichen ahnen lassen.67

Diese Aussage scheint im krassen Widerspruch zu Mitterers strikt immanenter Auffassung der eigenen Musik zu stehen, die sich nur in der Jetztzeit ereignet. Denn bei ihm vermag die zeitgenössische Musik keine höheren Wahrheiten mehr zu offenbaren. In Mitterers Werk hat das Unendliche mit dem Absoluten, so wie es die Romantiker verstanden haben, nur noch wenig zu tun. Vermag die Musik jedoch ein säkularisiertes, rein immanentes, etwa mathematisches Unendliches zu offenbaren? Was um 2000 übrig bleibt, ist also eine vertikale Sichtweise: die Sehnsucht nach etwas Höherem, das noch blitzartig in einer sonst horizontalen Welt zu ›erscheinen‹ vermag. Die musikalischen Zitate aus älterer Zeit fungieren als kleine Epiphanien der Vergangenheit in einer gottlosen Welt. Sie ›erscheinen‹ ›im Sturm‹ und versprühen Hoffnungsfetzen. Die aus heteroge_____________ 65 66

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›Das Uner(hört)e‹. Wolfgang Mitterer im Gespräch mit Laure Gauthier, März 2011. Diese Definition der Musik erinnert an Schleiermacher: »In heiligen Hymnen und Chören, denen die Worte der Dichter nur lose und luftig anhängen, wird ausgehaucht was die bestimmte Rede nicht mehr fassen kann, und so unterstützen sich und wechseln die Töne des Gedankens und der Empfindung bis Alles gesättigt ist und voll des Heiligen und Unendlichen« (Schleiermacher, Friedr[ich] [Daniel Ernst]: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Herausgegeben von Hans-Joachim Rothert. Hamburg 1958, S. 102; vgl. Scholtz: Schleiermachers Musikphilosophie (Anm. 34), S. 20-25. ›Das Uner(hört)e‹. Wolfgang Mitterer im Gespräch mit Laure Gauthier, März 2011.

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nem Material bestehende zeitgenössische Musik schwingt noch empor, ohne dass aber je klar würde, wohin. Die zeitgenössische Musik birgt in Form eines Sample Augenblicke einer schwingenden Bewegung in sich. Bei Olga Neuwirth ist der Bruch mit der Tradition restloser. Die Komponistin räumt zwar ein, dass sie den Pfad von Varèse weiterverfolgt und unter anderem auch von Luigi Nono sowie Helmut Lachenmann beeinflusst worden ist; sie weist jedoch auch immer wieder auf einen tiefen Einschnitt in der Musikgeschichte hin, den sie auf die 1980er Jahre datiert. Um 2000 ist ihres Erachtens alles – ob gute, schlechte, elektronische oder opernhafte Musik – »einfach scheinbar austauschbar und mit negativen Vorurteilen besetzt«.68 Anlässlich ihres 40. Geburtstags hat Olga Neuwirth 2008 noch pessimistischer als zuvor auf ihr eigenes Schaffen und auf die Zukunft der ernsten Musik zurückgeblickt: Ich muss mich wirklich jeden Tag nach dem Sinn fragen, was ich da tue. Es dauert einfach zu lange, das Leben geht vorbei, und man schreibt noch ein Stück und noch ein Stück; ich habe jetzt eigentlich alles durch von der Kammermusik bis zur Oper und zur Elektronik. Gesellschaftlich hat das aber null Resonanz […]. Denn wir üben ein altes Handwerk aus, das absolut anachronistisch geworden ist und heute überhaupt keinen Platz mehr hat. Man malt Pünktchen aufs Papier.69

Während Wolfgang Mitterer mit Stop Playing und Massacre um 2010 stärker noch als in seinem Frühwerk (Vertical Silence; Turmbau zu Babel) bestrebt ist, sich mit der Tradition auseinanderzusetzen, um diese bruchweise zu retten, überfällt Olga Neuwirth seit ihrem 40. Geburtstag eine deutliche Skepsis gegenüber der Zukunft der ›ernsten‹ Musik und ihres eigenen Schaffens. Auch wenn es ihr gelungen ist, in Bählamms Fest sowie in Lost Highway alte Formen zu erneuern, gar zu revolutionieren, bezweifelt sie die Fortdauer jenes Repertoires. Das Angebot an Musik, vor allem an Popmusik, sei in der zeitgenössischen westlichen Gesellschaft so unüberschaubar groß geworden, dass die sogenannte zeitgenössische Musik, die vom Zuhörer viel Aufmerksamkeit verlangt, nur noch äußerst wenig gesellschaftliche Aufmerksamkeit finden könne. Die Komponistin beklagt, dass ihre Musik nur noch von einem kleinen elitären Publikum wahrgenommen werde, obwohl sie sich ausgerechnet gegen das Ideal der Absoluten Musik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zur Wehr setzt, das die Musik einem Kreis von Eingeweihten vorbehielt. Sie schreibt ihre Musik für ein breiteres Publikum, das bei der Aufführung dazu eingeladen wird, autopoietisch den Sinn zu rekonstruieren. Sie überfordert das Publikum absichtlich − nicht etwa, weil sie ein elitäres, verabsolutierendes Musikverständnis hätte, sondern um die Zuhörer aktiv zu beteiligen. Das _____________ 68 69

Reinhard Schulz im Gespräch mit Olga Neuwirth (Anm. 14), S. 149. Reinhard Schulz im Gespräch mit Olga Neuwirth (Anm. 14), S. 148.

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Publikum des beginnenden 21. Jahrhunderts scheint jedoch – anders als dasjenige der 1950er, 1960er und 1970er Jahre – die von Olga Neuwirth vorgeschlagene autopoetische Erfahrung nicht mehr mitmachen zu wollen und sich anstelle dessen in der Popmusik neue Totems und Fetische zu suchen. Die ›klassische‹ Musik ist selbstkritisch geworden zu einer Zeit, in der sie beim Publikum fast keine Resonanz mehr findet und die Popmusik als späte, ihrer Substanz entleerten Erscheinung der Kunstreligion gelten darf.70 Olga Neuwirth trauert der gesellschaftlichen Resonanz der zeitgenössischen Musik nach, weil doch die Musik trotz und sogar wegen ihrer Kurzlebigkeit vermöge, »Erstarrtes auf[zu]zeigen und den desolaten Zustand von Gesellschaft und Politik sichtbar [zu] machen«.71 Weil sie vergänglich sei, sei die Musik besser als andere Künste in der Lage, auf die erstarrten Zustände der Welt hinzuweisen. Die Bewusstwerdung eines − wenn auch minimalen − gesellschaftlichen Einflusses der Musik auf die Zuhörer ist 2000 erfolgt, d. h. im Jahr des Protestes gegen Jörg Haider, den inzwischen verstorbenen Vorsitzenden der FPÖ. Die Radikalisierung der politischen Lage in Österreich hat Olga Neuwirth dazu gebracht, sich als Künstlerin mehr zu engagieren und ihrer Musik wenn nicht eine politische ›Macht‹, so doch eine politisch-gesellschaftliche ›Resonanz‹ zuzuerkennen. Ein Beispiel dafür ist die Rede, die sie am 19. Februar 2000 anlässlich einer Protestaktion gegen Jörg Haider vor der Wiener Oper gehalten hat: »Ich lasse mich nicht wegjodeln«.72 Diese politische Wende entfernt Neuwirth noch radikaler von der kunstreligiösen Tradition. Olga Neuwirth spricht der Musik jegliche kunstreligiöse Macht ab, spricht ihr jedoch eine leise gesellschaftliche Relevanz zu.

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Der Kult um den Popsänger kann als späte Erscheinung der Überbewertung des Künstlers als Priester angesehen werden; vgl. Detering: Kunstreligion und Künstlerkult (Anm. 30), sowie in vorliegendem Band den Beitrag von Bernd Auerochs zu Patti Smith (S. 203-220). Neuwirth: »Ich lasse mich nicht wegjodeln« (Anm. 10), S. 128. Neuwirth: »Ich lasse mich nicht wegjodeln« (Anm. 10). – Am 4. Februar 2000 kam es in Österreich zu einem Bündnis zwischen der ÖVP und der rechtsextremistischen FPÖ unter der Führung des Kanzlers Wolfgang Schüssel. Die FPÖ hatte dabei eine besonders starke Stellung inne. Infolgedessen kam es im ganzen Land zwischen Februar 2000 und Januar 2002 zu Donnerstagsdemonstrationen.

Personenregister Adorno, Theodor W. (1903-1969) 71, 83 Agamben, Giorgio (*1942) 107 Aischylos (525-456 v. Chr.) 193, 232 Ariès, Philippe (1914-1984) 43 Ashley-Coopers, Anthony 3. Earl of Shaftesbury (1671-1713) 36 Bach, Johann Sebastian (1685-1750) 194, 197, 274, 287f. Barlach, Ernst (1870-1938) 224 Barlog, Boleslaw (1906-1999) 161 Barthes, Roland (1915-1918) 43, 45f., 51, 79, 155, 291 Baudelaire, Charles (1821-1867) 56, 58, 198, 211-213, 217 Bauer, Wolfgang (1941-2005) 269 Baumgarten, Alexander Gottlieb (17141762) 111, 116 Beethoven, Ludwig van (1770-1827) 194 Benedikt XVI. (d. i. Joseph Ratzinger; *1927) 7, 11, 15-17, 19, 102 Benjamin, Walter (1892-1940) 258 Benn, Gottfried (1886-1956) 11, 198 Berlin, Irving (d. i. Israel Isidore Beilin; 1888-1989) 208f. Bernhard, Thomas (1931-1989) 269 Bessing, Joachim (*1971) 154, 158 Beuys, Joseph (1921-1986) 219, 234, 236249, 255 Bey, Hakim (d. i. Peter Lamborn Wilson; *1945) 150 Blake, William (1757-1827) 205, 207, 217220 Bloom, Harold (*1930) 205 Boileau-Despréaux, Nicolas (1636-1711) 36 Bonaparte, Napoleon (1769-1821) 197 Borchardt, Rudolf (1877-1945) 80f. Boulez, Pierre (*1925) 267, 287 Brecht, Bertolt (1889-1956) 193, 224, 231 Brentano, Clemens (1778-1842) 19 Büchner, Georg (1813-1837) 8, 13f., 28, 40, 42, 114, 120 Bunyan, John (1628-1688) 144

Burroughs, William (1914-1997) 205 Cage, John (1912-1992) 265, 275, 277, 279, 282, 284 Callas, Maria (1923-1977) 178 Carrington, Leonora (1917-2011) 270 Celan, Paul (1920-1970) 44, 109 Certeau, Michel de (1925-1986) 100f. Charles, Ray (d. i. Raymond Charles Robinson; 1930-2004) 208 Cocteau, Jean (1889-1963) 161 Coltrane, John (1926-1967) 206 Corneille, Pierre (1606-1684) 193 Corso, Gregory (1930-2001) 205 Costner, Kevin (*1955) 154 Cruz, Juan de la (1542-1591) 101 Cunningham, Merce (1919-2009) 282 Czernin, Franz Josef (*1952) 96 Dalí, Salvador (1904-1989) 207 Danto, Arthur C. (1924-2013) 212 Dawkins, Richard (*1941) 17 Day, Doris (d. i. Doris Mary Ann Kappelhoff; *1922) 209 Derrida, Jacques (1930-2004) 101, 252, 278 Descartes, René (1596-1650) 197 Döblin, Alfred (1878-1957) 222, 234 Duchamp, Marcel (1887-1968) 212 Dwinger, Edwin Erich (1898-1981) 222, 234 Dylan, Bob (d. i. Robert Allen Zimmerman; *1941) 205f., 208, 210, 213, 217 Eckhart (d. i. ›Meister Eck(h)art‹; um 1260-1328) 101 Eichendorff, Joseph von (1788-1857) 19, 114, 224 Eliot, T. S. (1888-1956) 149, 193 Euripides (um 480-406 v. Chr.) 193f., 232 Fantin-Latour, Henri (1836-1904) 213 Fian, Antonio (*1956) 198 Fiedler, Leslie A. (1917-2003) 7, 54

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Personenregister

Flaubert, Gustave (1821-1880) 198, 211 Franz Joseph I. (1830-1916) 266 Freud, Sigmund (1856-1939) 192, 198f., 202 Garland, Judy (d. i. Frances Ethel Gumm; 1922-1969) 209 Gehry, Frank (*1929) 278 Genet, Jean (1910-1986) 205, 214 George, Stefan Anton (1868-1933) 44, 59, 63, 72, 87, 198 Ginsberg, Allen (1926-1997) 149, 205, 219 Girard, René (*1923) 229 Godard, Jean-Luc (*1930) 186, 297 Goethe, Johann Wolfgang (1749-1832) 36, 63, 72, 112, 118, 135, 163f., 193, 224 Goetz, Rainald (*1954) 40 Gogh, Vincent van (1853-1890) 175 Goldonis, Carlo (1707-1793) 234 Gómez Dávila, Nicolás (1913-1994) 79f. Gorki, Maxim (1868-1936) 233 Gottsched, Johann Christoph (1700-1766) 116 Grillparzer, Franz (1791-1872) 193 Grass, Günter (*1927) 130 Greiffenberg, Catharina Regina von (16331694) 89 Gregoretti, Ugo (*1930) 186 Grünbein, Durs (*1962) 45f., 54-58 Gryphius, Andreas (1616-1664) 193 Haberlandt, Fritzi (*1975) 254 Habermas, Jürgen (*1929) 7, 12f., 15, 23 Haecker, Theodor (1879-1945) 79f. Haider, Jörg (1950-2008) 266, 289 Handke, Peter (*1942) 7, 59, 78 Hanslick, Eduard (1825-1904) 267, 275 Harrison, George (1943-2001) 146f. Hartshorne, Charles (1897-2000) 108 Hauptmann, Gerhart (1862-1946) 63, 164, 193, 226, 233 Hamann, Johann Georg (1730-1788) 8, 80, 96 Haydn, Joseph (1732-1809) 194 Hebbel, Friedrich (1813-1863) 193 Heer, Friedrich (1916-1983) 195 Hegemann, Carl (*1949) 233, 245, 249, 253, 257f. Heinrich III. von Frankreich (1551-1589) 272

Herder, Johann Gottfried (1744-1803) 80, 112, 116, 123 Herzog, Werner (*1942) 170f. Heym, Georg (1887-1912) 198 Hochhuth, Rolf (*1931) 234 Hölderlin, Friedrich (1770-1843) 72, 96, 122, 193, 201 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776-1822) 113, 124, 144 Hoffmann, Jutta (*1941) 231 Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929) 116, 193 Holiday, Billie (d. i. Elinore Harris; 19151959) 206, 209 Holl, Adolf (*1930) 166, 195 Holz, Arno (1863-1929) 193 Hoppe, Felicitas (*1960) 13 Hoyle, Fred (1915-2001) 81 Hürlimann, Thomas (*1950) 292 Ibsen, Henrik Johan (1828-1906) 193 Jacobi, Friedrich Heinrich (1743-1819) 80 Jahnn, Hans Henny (1894-1959) 193 Jaspers, Karl (1883-1969) 255 Jelinek, Elfriede (*1946) 9, 234, 267-271, 279, 281 Johannes Paul II. (d. i. Karol Józef Wojtyła; 1920-2005) 7, 11, 16 Johnson, Philip (1906-2005) 278 Johnson, Uwe (1934-1984) 59 Joplin, Janis (1943-1970) 206 Joyce, James (1882-1941) 44 Jünger, Ernst (1895-1998) 44 Jung, Carl Gustav (1875-1961) 192, 199 Kafka, Franz (1883-1924) 44, 62, 109, 228 Kainz, Joseph (1858-1910) 163, 165 Kant, Immanuel (1724-1804) 66, 76, 118, 249, 255 Karasek, Hellmuth (*1934) 171 Kaye, Lenny (*1946) 204 Kehlmann, Daniel (*1975) 8, 114, 130, 136, 141 Kempowski, Walter (1929-2007) 8, 45-50, 53-55, 57f. Kerkeling, Hape (*1964) 144 Kinski, Klaus (1926-1991) 8, 159-176 Kierkegaard, Søren (1813-1855) 268

Personenregister Kleist, Heinrich von (1777-1811) 193 Klinger, Friedrich Maximilian (1752-1831) 112 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724-1803) 72,89 Kofler, Werner (1947-2011) 198 Kokoschka, Oskar (1886-1980) 140 Kracht, Christian (*1966) 8, 143-154, 158 Kraus, Karl (1874-1936) 198, 200 Kues, Nikolaus von (1401-1464) 101 Lachenmann, Helmut (*1934) 267, 288 Lau, Mariam (*1962) 18 Lavater, Johann Caspar (1741-1801) 112 Lenz, Jakob Michael Reinhold (1751-1792) 112 Leopardi, Giacomo (1798-1837) 106 Lévinas, Emmanuel (1906-1995) 255 Lewitscharoff, Sibylle (*1954) 13, 59 Lichtenberg, Georg Christoph (17421799) 195 Löffler, Sigrid (*1942) 14, 40 Mahler, Gustav (1860-1911) 194 Maeterlinck, Maurice (1862-1949) 193 Maier, Andreas (*1967) 13f. Maimonides, Moses (1135-1204) 101 Mallarmé, Stéphane (1842-1898) 44, 59, 82 Mann, Thomas (1875-1955) 62-65, 67, 96 Mandel’štam, Osip Ėmil’evič (1891-1938) 44 Marion, Jean-Luc (*1946) 101 Marlowe, Christopher (um 1564-1593) 272 Mapplethorpe, Robert (1946-1989) 204, 206f., 212f., 215 Matussek, Matthias (*1954) 25f., 38 Medici, Catharina de (1519-1589) 272 Meeropol, Abel (1903-1986) 209 Melville, Herman (1819-1891) 108 Meyer, Hans Joachim (*1936) 21 Milton, John (1608-1674) 222, 234 Mitchell, Joni (*1943) 207 Mitterer, Wolfgang (*1958) 9, 263, 265, 271-275, 281-288 Monteverdi, Claudio (1567-1643) 194 Moritz, Karl Philip (1756-1793) 36, 111113 Morrison, Jim (1943-1971) 205

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Mosebach, Martin (*1951) 8, 11, 13f., 24, 28, 30f., 33-42 Moser, Koloman (1868-1918) 224 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791) 194, 199, 265, 268 Muehl, Otto (1925-2013) 197, 199 Müller, Adam von(1779-1829) 19 Müller, Heiner (1929-1995) 59, 194, 234 Müller, Stefan (*1975) 271 Müntzer, Thomas (um 1490-1525) 222, 226 Musil, Robert (1880-1942) 132 Mussato, Albertino (1261-1329) 193 Nabokov, Vladimir (1899-1977) 44 Neuwirth, Olga (*1968) 9, 263, 265-271, 275-282, 285, 288f. Nickel, Eckhart (*1966) 145f., 151 Nicolai, Friedrich (1733-1811) 112 Nietzsche, Friedrich (1844-1900) 43f., 63, 73, 79, 97, 121, 197-199, 221-226, 231, 234, 237f., 244f., 249f., 258, 263 Nigl, Georg (*1972) 286 Nitsch, Hermann (*1938) 8, 191-202 Nono, Luigi (1924-1990) 254, 258f., 264f., 267, 288 Novalis (d. i. Friedrich Leopold von Hardenberg; 1772-1801) 63, 75, 97, 132, 219 Olsen, Charles (1910-1970) 282 Paganini, Niccolò (1782-1840) 160, 172 Pascal, Blaise (1623-1662) 132 Pasolini, Pier Paolo (1922-1975) 8, 177f., 180-190, 217 Paul VI. (d. i. Giovanni Battista Montini; 1897-1978) 31 Paul, Jean (d. i. Johann Paul Friedrich Richter; 1763-1825) 114, 198 Péladan, Joséphin (1858-1918) 198 Perse, Saint-John (1887-1975) 198 Pius V. (Antonio Michele Ghislieri; 15041572) 31 Poe, Edgar Allan (1809-1849) 44 Presley, Elvis (1935-1977) 273 Proust, Marcel (1871-1922) 44, 82 Rainger, Ralph (1901-1942) 209

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Personenregister

Ratzinger, Joseph (d. i. Benedikt XVI.; *1927) 15f., 23, 102f. Rauschenberg, Robert (1925-2008) 282 Reed, Lou (1942-2013) 205 Reich, Wilhelm (1897-1957) 199 Reveres, Paul (1735-1818) 216 Rice, Tim (*1944) 150 Richards, Mary Caroline (1916-1999) 282 Rikyū, Sen no (1522-1591) 155 Rilke, Rainer Maria (d. i. René Karl Wilhelm Johann Josef; 1875-1926) 44, 59, 89, 140 Rimbaud, Arthur (1854-1891) 164, 175, 198, 205f., 212-215, 217-219 Robin, Leo (1900-1984) 209 Rossellini, Roberto (1906-1977) 186 Rühmkorf, Peter (1929-2008) 62 Sade, Donatien-Alphonse-François Marquis de (1740-1814) 198 Safranski, Rüdiger (*1945) 19 Sappho († 570 v. Chr.) 88 Sarasin, Jakob (1742-1802) 112 Sartre, Jean Paul (1905-1980) 193 Scheffler, Johannes (um 1624-1677) 89 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775-1854) 93, 95f., 111, 247 Schlaf, Johannes (1862-1941) 193 Schleef, Einar (1944-2001) 7, 221-240 Schlegel, August Wilhelm (1776-1845) 238f. Schlegel, Dorothea (1764-1839) 19 Schlegel, Carl Wilhelm Friedrich (17721829) 19, 80, 98 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768-1834) 20, 87, 89, 247, 275, 287 Schlingensief, Christoph (1960-2010) 7f., 207, 241-262 Schmitt, Oliver Maria (*1966) 24 Schneider, Robert (*1961) 8, 114, 123f. Schnitzler, Arthur (1862-1931) 193 Schönberg, Arnold (1874-1951) 273f. Schopenhauer, Arthur (1788-1860) 9, 244, 275 Schubert, Franz (1797-1828) 194, 286f. Schüssel, Wolfgang (*1945) 289 Schwan, Gesine (*1943) 19 Seaton, George (1911-1979) 175

Sebald, W. G. (1944-2001) 8, 45f., 50-55, 57f. Seneca, Lucius Annaeus (um 1-65 n. Chr.) 193f. Seuse, Heinrich (um 1297-1366) 101 Shakespeare, William (1564-1616) 193, 223f. Shankar, Ravi (1920-2012) 146 Siciliano, Enzo (1934-2006) 189 Simon, Paul (*1941) 210 Sinatra, Frank (1915-1998) 209, 213 Slick, Grace (*1939) 206 Smith, Patti (*1946) 8, 203-208, 210-220, 289 Sontag, Susan (1933-2004) 52, 78 Sophokles (497-406 v. Chr.) 193, 224, 235 Stadler, Arnold (*1954) 13, 15 Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch (1863-1938) 233 Steiner, George (*1929) 33f., 78f., 82 Stockhausen, Karlheinz (1928-2007) 7, 9, 264 Stramm, August (1874-1915) 198 Strauß, Botho (*1944) 8, 34, 75-85 Strayhorn, Billy (1915-1967) 209 Strindberg, August (1849-1912) 193, 231 Strittmatter, Erwin (1912-1994) 231 Süskind, Patrick (*1949) 8, 114f., 140 Swedenborg, Emanuel (1688-1772) 70, 75f. Tanzakis, Junichiro (1886-1965) 155-158 Tauler, Johannes (1300-1361) 101 Taylor, Charles (*1931) 22f. Teresa von Avila (d. i. Teresa Sánchez de Cepeda y Ahumada; 1515-1582) 101 Thompson, Francis (1859-1907) 91 Tieck, Ludwig (1773-1853) 256, 275 Todorov, Tzvetan (*1939) 111, 140 Tragelehn, Bernhard Klaus (*1936) 231 Trakl, Georg (1887-1914) 198, 201 Ulbricht, Walter (1893-1973) 224 Unseld-Berkéwicz, Ulla (*1948) 234 Valéry, Paul (1871-1945) 198 Van Morrison (d. i. George Ivan Morrison; *1945) 211

Personenregister Villon, François (1431-1463) 164f., 172, 174f. Voltaire (d. i. François-Marie Arouet; 1694-1778) 193 Wackenroder, Wilhelm Heinrich (17731798) 113, 122, 124, 133, 256 Wagner, Heinrich Leopold (1747-1779) 193 Wagner, Richard (1813-1883) 7, 87, 194, 199, 202, 223f., 226, 238, 240, 244246, 248f., 254, 258, 263f., 275, 279 Walser, Martin (*1927) 8, 61-68, 70, 72f. Walser, Robert (1878-1956) 62 Warhol, Andy (1928-1987) 204, 297, 212 Webber, Andrew Lloyd (*1948) 150, 167 Weber, Max (1862-1920) 15 Wedekind, Frank (1864-1918) 231 Welles, Orson (1915-1985) 186 Werner, Zacharias (1768-1823) 19 White, Edmund (*1940) 206 Whitehead, Alfred North (1861-1947) 107f. Whitman, Walt (1819-1892) 44, 55, 63 Wilde, Oscar (1854-1900) 140, 164, 193 Wilson, Cassandra (*1955) 209 Winkler, Josef (*1953) 13 Woolf, Virginia (1882-1941) 44 Wühr, Paul (*1927) 9, 87-92, 94-96, 98102, 105-109 Young, Edward (1683-1765) 118 Zadek, Peter (1926-2009) 234 Zech, Paul (1881-1946) 165 Zigaina, Giuseppe (*1924) 189f. Zwetajewa, Marina Iwanowna (1892-1941) 140

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Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Bernd Auerochs, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Dr. Giovanna Cordibella, Universität Bern Prof. Dr. Alessandro Costazza, Università degli Studi di Milano Katharina Derlin M.A., Christian-Albrechts-Universität zu Kiel PD Dr. Christoph Deupmann, Universität Karlsruhe (TH) Dr. Laure Gauthier, Université de Reims Champagne-Ardenne Lore Knapp M.A., Freie Universität Berlin Prof. Dr. Gérard Laudin, Université de Paris – Sorbonne Prof. Dr. Albert Meier, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Dirk Niefanger, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen Prof. Dr. Claus-Michael Ort, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Dr. Maurizio Pirro, Università degli Studi di Bari Dr. Marielle Silhouette, Université de Paris Ouest Nanterre La Défense Dr. Kai Sina, Georg-August-Universität Göttingen Dr. Gerald Stieg, Université de Paris – Sorbonne Nouvelle Prof. Dr. Claudia Stockinger, Georg-August-Universität Göttingen