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German Pages 269 [272] Year 2010
Kunstreligion Band 1
Kunstreligion Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung
Band 1 Der Ursprung des Konzepts um 1800 Herausgegeben von Albert Meier, Alessandro Costazza und Ge´rard Laudin unter Mitwirkung von Stephanie Düsterhöft und Martina Schwalm
De Gruyter
ISBN 978-3-11-021780-3 e-ISBN 978-3-11-021781-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt ALESSANDRO COSTAZZA / GÉRARD LAUDIN / ALBERT MEIER Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 HEINRICH DETERING Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 BERND AUEROCHS Das Bedürfnis der Sinnlichkeit. Möglichkeiten funktionaler Äquivalenz von Religion und Poesie im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 29 STEFANIA SBARRA Das Erlösende in der Poesie Eine Parallele zwischen Zinzendorf und Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 CHRISTOPH DEUPMANN Apostel und Genie? Zu Johann Georg Hamanns eigensinniger Behauptung der Einheit von Kunst und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 ALESSANDRO COSTAZZA Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis: von Baumgarten bis zum Frühidealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 STEFANIE BUCHENAU Kunstreligion und Vernunftabstraktion. Zur Genealogie des Konzepts vor 1800 (Baumgarten, Kant, Schleiermacher) . . . . . . . . . 89 REMIGIUS BUNIA »… in einer andern Welt«. Die Spannung zwischen religiösem und ästhetischem Weltbegriff bei Novalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
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Inhalt
MARCO RISPOLI Kunstreligion und künstlerischer Atheismus Zum Zusammenhang von Glaube und Skepsis am Beispiel Wilhelm Heinrich Wackenroders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 RENÉ-MARC PILLE Lob des ›Rein-Menschlichen‹ Weimarer Widerstände gegen die Kunstreligion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 MARKUS OPHÄLDERS »eine schöne Religion zu stiften« Hegels Kunstreligion als ›moralische Anstalt‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 ALEXANDER NEBRIG Poesie oder Prosa? Hegels Literaturbegriff und die ästhetische Erfahrung des Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 MARCO CASTELLARI »Religion ist Liebe der Schönheit« Natur- und Kunstreligion in Hölderlins Hyperion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 ARNALDO DI BENEDETTO »quasi che un Dio«. Vittorio Alfieris Auffassung vom Dichter . . . . . . . . 195 GIOVANNA CORDIBELLA Kunstreligion in der italienischen Romantik? Der Fall Alessandro Manzoni im Kontext des frühen Mailänder romanticismo . . . . . . . . . . . . . . 215 GERHARD LAUER Das bittere Leiden an der Kunst. Über die Sinnbildkunst in Clemens Brentanos Das bittere Leiden unsers Herrn Jesus Christi . . . . . . . . . 231 ALAIN MUZELLE Das Bild des Künstlers im Werk Wackenroders und E.T.A. Hoffmanns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Vorwort Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Friedrich Nietzsche … so ist die Kunst die einzige und ewige Offenbarung, die es gibt … Friedrich Wilhelm Joseph Schelling Der Ursprung des Begriffs ist bekannt genug. Von einer ›Kunstreligion‹ hat erstmals Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in seinen 1799 erschienenen ›Reden‹ Über die Religion gesprochen. Zwar gebe es sie als solche noch nicht, doch sei sie immer schon wirksam gewesen: Nur das weiß ich, daß sich der Kunstsinn nie […] der Religion genähert hat, ohne sie mit neuer Schönheit und Heiligkeit zu überschütten und ihre ursprüngliche Beschränktheit freundlich zu mildern.1
Indem er die Religion als »Sinn und Geschmack fürs Unendliche« erläutert,2 um sie den ›Gebildeten unter ihren Verächtern‹ wieder genießbar zu machen, will Schleiermacher die nicht minder auf ein Unendliches gestimmte Kunst umso mehr an den Glauben binden: Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist. […] Sie harren einer näheren Offenbarung und unter gleichem Druck leidend und seufzend sehen sie einander dulden, mit inniger Zuneigung und tiefem Gefühl vielleicht, aber doch ohne Liebe. Soll nur dieser gemeinschaftliche Druck den glücklichsten Moment ihrer Vereinigung herbeiführen? oder werdet Ihr bald einen großen Streich ausführen für die Eine, die Euch so wert ist, so wird sie gewiß eilen wenigstens mit schwesterlicher Treue sich der andern anzunehmen. 3
Schleiermachers Hoffnung, der »Kunstsinn für sich allein« möchte zuletzt »in Religion« übergehen,4 deutet darauf hin, dass seine Argumentation keine originäre ist. Der eigentliche Ursprung des ›Konzepts‹ Kunstreligion dürfte jedenfalls schon früher anzusetzen sein: in der Entrationalisierung des Ästhetischen, die – ein Produkt der Aufklärung – in Karl Philipp _____________ 1 2 3 4
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit einer Einleitung herausgegeben von Andreas Arndt. Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek 563), S. 93f. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 1), S. 30. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 1), S. 94. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 1), S. 93.
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Alessandro Costazza / Gérard Laudin / Albert Meier
Moritz’ Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) ihren bündigsten Ausdruck gefunden hat. Weil sich das Schöne jedem vernünftigen Nachweis entzieht, müsse an sein Dasein ebenso ›geglaubt‹ werden wie an die Wirklichkeit des Numinosen. Als Kunstphilosoph greift Moritz in diesem Zusammenhang ein Verständnis von Religion auf, das Johann Gottfried Herder in Gott. Einige Gespräche (1787) vorgestellt hat. Heißt es dort, wir Menschen könnten als endliche Wesen »von der höchsten Ursache nur sagen: sie ist, sie wirket«,5 so nimmt Moritz im Jahr darauf Gleiches für die Kunst in Anspruch: »Und von sterblichen Lippen, lässt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen, als: es ist!«.6 Dass der alte Gedanke, das Schöne komme vom Heiligen her,7 damit hinfällig ist, hat ›Kunstreligion‹ erst möglich gemacht, und Hölderlins Hyperion begreift die Religion demzufolge nur noch als nachgeborene Tochter der Schönheit.8 Allein unter den Bedingungen einer Autonomie des Ästhetischen, d. h. der substanziellen Loslösung der Kunst von Religion, lässt sich wahrnehmen, wie sehr beide Bereiche einander doch ähnlich sind. Die Entstehung von Kunstreligion gilt es insofern als Ergebnis einer Ausdifferenzierung zu begreifen, die Kunst und Religion in ein Verhältnis der Funktionsäquivalenz gesetzt hat: »das Schönste ist auch das Heiligste«.9 Die so verstandene ›Kunstreligion‹ zeigt sich, kurz gesagt, als romantische Idee, die einen Gedankengang der Aufklärung zum Abschluss bringt. Namentlich Dichter und Kunstphilosophen der deutschen Romantik haben sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts begründet bzw. in ihren Werken davon profitiert. Unter dem Stichwort l’art pour l’art ist die Kunstreligion vor 1900 schon zum Signum aller ästhetischen Moderne avanciert, _____________ 5 6
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Herder, Johann Gottfried: Gott. Einige Gespräche. In: Herder, Johann Gottfried: Werke. Herausgegeben von Wolfgang Proß. Band II: Herder und die Anthropologie der Aufklärung. München – Wien 1987, S. 733-843, hier S. 787. Moritz, Karl Philipp: Über die Bildende Nachahmung des Schönen. In: Moritz, Karl Philipp: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 2: Popularphilosophie – Reisen – Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), S. 958-991, hier S. 991. »Die unmittelbare Ursache aller Kunst ist Gott« (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Kunst. Unveränderter reprografischer Nachdruck der aus dem handschriftlichen Nachlaß herausgegebenen Ausgabe von 1859. Darmstadt 1980, S. 30). »Das erste Kind der göttlichen Schönheit ist die Kunst. So war es bei den Athenern. | Der Schönheit zweite Tochter ist Religion. Religion ist Liebe der Schönheit« (Hölderlin, Friedrich: Hyperion oder der Eremit in Griechenland; in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Herausgegeben von Jochen Schmidt. Band 2: Hyperion – Empedokles – Aufsätze – Übersetzungen. Herausgegeben von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz. Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 108), S. 9-175, hier S. 90). Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland (Anm. 8), S. 99.
Vorwort
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und solange die Grenzziehung zwischen Kunst und Religion an Geltung nicht verliert, wird mit kunstreligiöser Praxis zu rechnen bleiben. Zur Erforschung dieser Prozesse hat sich eine trilaterale Forschungskonferenz ›Kunstreligion‹ konstituiert, die ihre Treffen am ›Deutschitalienischen Zentrum für europäische Exzellenz‹ der Villa Vigoni (Loveno di Menaggio) durchführt. Literaturwissenschaftler und Philosophiehistoriker aus Deutschland, Frankreich und Italien rekonstruieren und reflektieren die Karriere kunstreligiöser Vorstellungen bzw. entsprechender Schreibverfahren an drei historischen Schnittstellen, die jeweils eine Hochkonjunktur kunstreligiösen Denkens und Schaffens nahe legen: ›Um 1800‹ (Formulierung des Konzepts) – ›Um 1900‹ (Entfaltung des Konzepts) – ›Um 2000‹ (Aktualität des Konzepts). Der hier vorgelegte Band dokumentiert die erste Tagung, die im März 2009 sowohl der Genese des Konzepts ›Kunstreligion‹ als auch seinen Auswirkungen in der poetischen Produktion an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gewidmet war.
* Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Fondation Maison des Sciences de l’Homme (MSH) sowie der Villa Vigoni in Verbindung mit der Università di Trento für die großzügige Förderung. Zugleich gilt unser Dank für stets bewährte Gastfreundschaft in einem Ambiente unüberbietbarer Natur- und Kunstschönheit der Leitung und allen Mitarbeitern der Villa Vigoni, namentlich ihrem Generalsekretär Prof. Dr. Gregor Vogt-Spira und unserer wissenschaftlichen Betreuerin Dr. Caterina Sala Vitale. Nicht minder dankbar sind wir dem Verlag Walter de Gruyter, speziell seinem ›Cheflektor Germanistik‹ Prof. Dr. Heiko Hartmann, für die unkomplizierte Bereitschaft, die Serie unserer Tagungsbände an die Öffentlichkeit zu bringen. Mailand – Paris – Kiel, Oktober 2010
Alessandro Costazza Gérard Laudin Albert Meier
HEINRICH DETERING
Was ist Kunstreligion? Systematische und historische Bemerkungen 1. Systematisch Seit ihrer Einführung in der dritten von Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Reden über die Religion (1799) und der Wiederaufnahme in Georg Wilhelm Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) ist die Rede von einer ›Kunstreligion‹ etabliert.1 Im Zusammenhang mit der ästhetischen Theorie und Praxis der Romantik und deren Wirkungen bis in die Moderne hinein hat sich der Begriff seitdem eingebürgert. Seine tatsächliche Verwendung aber greift in den letzten Jahren erheblich weiter aus als der damit – ohnedies oft wenig trennscharf – umrissene terminologische Gebrauch. In der kulturkritischen Essayistik und in den Debatten des Feuilletons wie der Kulturwissenschaften scheint er zeitweise geradezu ubiquitär geworden zu sein und in einem sehr weiten Sinne auf Konzepte radikaler Kunstautonomie ebenso wie auf metaphysische Wahrheits- oder Geltungsansprüche von Kunst bezogen zu werden. Die theoretische Reflexion des Begriffs ist dieser Ausweitung seines Verwendungsbereichs nicht gefolgt; im Gegenteil scheint er mit zunehmender Verbreitung an Distinktionsschärfe zu verlieren. Einen terminologischen Status verspricht er durch die grundlegenden historischen und systematischen Arbeiten von Literaturwissenschaftlern wie Bernd Auerochs, Wolfgang Braungart und Dirk von Petersdorff zu gewinnen; daran _____________ 1
Schleiermacher verwendet den Begriff hier noch in einem engeren als dem im Folgenden vorausgesetzten Sinne (vgl.: 200 Jahre ›Reden über die Religion‹. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft. Halle 14.-17. März 1999. Herausgegeben von Ulrich Barth und Claus-Dieter Osthövener. Berlin – New York 2000 (Schleiermacher-Archiv 19)); sein Verwendungsbereich hat sich demgegenüber (und weitgehend unabhängig von seinem spezifischen Ursprungskontext) rasch ausgeweitet. Vgl. Alois Halders vergleichsweise knappen Artikel ›Kunstreligion‹ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter † und Karlfried Gründer. Band 4: I – K. Darmstadt 1976, Sp. 1458-1459 – Hartwich, Wolf-Daniel: Deutsche Mythologie. Die Erfindung einer nationalen Kunstreligion. Wien – Berlin 2000. – Mattenklott, Gert: Kunstreligion; in: Sinn und Form 54 (2002), S. 97-108. – Müller, Ernst: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des Idealismus. Berlin 2004 (Literaturforschung).
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Heinrich Detering
schließen die Überlegungen mehrerer Kieler und Göttinger Workshops und nun auch diese Tagung an. In welcher Weise kann von ›Kunstreligion‹ sinnvoll die Rede sein? Der Begriff ist abgeleitet; er impliziert stets einen mehr oder weniger emphatischen Bezug von als eigenständig vorausgesetzter ›Kunst‹ auf eine logisch und empirisch vorgängige ›Religion‹ (vielleicht auch, das scheint zumindest bei Schleiermacher der Fall zu sein, auf eine als vorgängig gedachte und wieder angestrebte Einheit von Kunst und Religion). Diese logische und empirische Reihenfolge impliziert nicht – wie es Säkularisierungsmodellen oft vorgeworfen worden ist – eine bestimmte Rangfolge, etwa im Hinblick auf unterschiedliche Grade von Authentizität oder Legitimität.2 Historische wie systematische Voraussetzung für die Rede von ›Kunstreligion‹ ist also erstens die funktionale Ausdifferenzierung von Kunst und Religion zu voneinander nicht abhängigen gesellschaftlichen Teilsystemen – mithin ein Prozess, der sich in Europa etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts umfangreich vollzieht. Zweite Voraussetzung für die Rede von ›Kunstreligion‹ ist eine emphatische Bezugnahme von Kunst auf Religion und auf das von dieser vorausgesetzte Heilige oder Numinosum,3 und zwar drittens mit dem Ziel eines hinsichtlich existierender Institutionen des Religiösen zwar andersartigen, jedoch zumindest gleichberechtigten Zugangs zum Numinosen – also dem Anspruch auf die Erfüllung einer Aufgabe, die vom jeweils vorausgesetzten religiösen System nicht oder nicht zureichend erfüllt zu werden scheint. Mit ›Kunst‹, die Funktionen von ›Religion‹ übernimmt, können dabei mindestens vier Kategorien gemeint sein, zwischen denen unterschiedliche Abhängigkeitsbeziehungen bestehen: das Produkt (also das Kunstwerk); der Produzent (also der Künstler; die Produktion (also beispielsweise ein Inspirationsgeschehen); zuletzt die Reproduktion, etwa im Sinne einer kultischen Aufführung. Von ›Religion‹ spreche ich hier – um nicht gleich vor der gelegentlich behaupteten Undefinierbarkeit des Begriffs die Waffen zu strecken4 – im _____________ 2
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Vgl. Säkularisierung, Dechristianisierung, Rechristianisierung. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Herausgegeben von Hartmut Lehmann. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 130). – Lübbe, Hermann: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs. 3., erweiterte Auflage. Freiburg/Br. 2003. – Ruh, Ulrich / Vollhardt, Friedrich: ›Säkularisierung‹; in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar herausgegeben von Jan-Dirk Müller. Band 3: P – Z. Berlin – New York 2003, S. 342-344. Die Begriffe des ›Heiligen‹ und des ›Numinosen‹ werden im Folgenden, um des vereinfachenden Überblicks willen und im Bewusstsein ihres Diskussionsbedarfs, synonym verwendet. Von der »Aporie der Undefinierbarkeit von Rel[igion]« und einer Verwendbarkeit des Begriffs allenfalls im Sinne eines umbrella term spricht Ernst Feil in seinem Grundlagen-
Was ist Kunstreligion?
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Sinne von Emile Durkheims Untersuchung von 19125 und zwar deshalb, weil diese bis heute für die religionswissenschaftliche Diskussion grundlegend geblieben ist und weil mit ihrer Hilfe die Rede von einer ›civil religion‹ umgangen werden kann, deren Ausweitung des Begriffs mit einer beträchtlichen Diffusion einhergeht. ›Religion‹ bestimmt Durkheim als ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.6
Dieses System umfasst theoretisch-textförmige sowie sozial-pragmatische Aspekte. Theoretisch-textförmige Aspekte sind ›Glaubensüberzeugungen‹ (Durkheim), soweit sie in ›Mythen‹ und ›Dogmen‹ verfasst sind. Sie entfalten die Lehre von einem Numinosen, das als Heiliges vom Profanen geschieden ist – und zwar in ontologischer wie in epistemologischer Hinsicht. Erzählt wird ein Mythos als eine die Lehre begründende und perspektivierende heilige Geschichte, und zwar in Bezug auf vergangenes (mythische Geschichte) wie zukünftiges Geschehen (Eschatologie). Die sozialpragmatischen Aspekte von Religion umfassen das gesamte ›religiöse Leben‹, von den Institutionen bis zu einer spezifischen Ethik (als einem Lehrsystem religiös begründeter moralischer Normen) und einem spezifischen Ethos (als dem religiösmoralischen Habitus der religiösen Gemeinschaft und ihrer Angehörigen). In ihrem Zentrum stehen bestimmte rituelle Praktiken der Verehrung, und zwar wiederum aus kollektivem wie aus individuellem Blickwinkel (also in den Ritualen einer religiösen Gemeinschaft wie im religiösen Leben des einzelnen Gläubigen). Die ›heiligen‹ Dinge, die Durkheim in einer sehr weiten Formulierung als diverse »abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken« beschreibt, habe ich in diesem Resümee schon enger gefasst: im Sinne nämlich von Rudolf Ottos ebenfalls klassischer Beschreibung des ›Heiligen‹ als eines ›Numinosen‹, das als fascinosum wie als tremendum erfahren und beschrieben werden kann.7 _____________
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Artikel ›Religion. I. Zum Begriff‹ in: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Herausgegeben von Hans Dieter Betz, Don S. Browning, Bernd Janowski und Eberhard Jüngel. Band 7: R – S. Vierte, völlig neu bearbeitete Auflage. Tübingen 2004, Sp. 263-267, hier: Sp. 266. – Einen Überblick über den gegenwärtigen Diskussionsstand gibt Figl, Johann (Hrsg.): Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen. Innsbruck – Wien – Göttingen 2003; vgl. speziell: Figl, Johann: Einleitung. Religionswissenschaft – historische Aspekte, heutiges Fachverständnis und Religionsbegriff, S. 18-80. Durkheim, Emile: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Paris 1919. Durkheim, Emile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Übersetzt von Ludwig Schmidts. Frankfurt/M. 1981, S. 75. Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau 1917. – Einen Überblick über die von diesem Buch ausgelösten Debatten gibt u. a. Colpe, Carsten (Hrsg.): Die Diskussion um das ›Heilige‹. Darmstadt 1977 (Wege der Forschung 305).
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Heinrich Detering
Eine tragfähige Nominaldefinition des Begriffs müsste darum, auch angesichts der berechtigten Einwände Ernst Feils8 und anderer, Durkheims Modell als Matrix notwendiger Bedingungen der Rede von ›Religion‹ erweitern um einige vor allem von Martin Riesebrodt vorgebrachte substanzielle Bestimmungen9 – namentlich um konstitutive Dichotomien wie diejenigen von Transzendenz/Immanenz, Erlösung/Verdammung, Heil/ Unheil, um interventionistische Kommunikationspraktiken (Opfer, Liturgie, Gebet u. s. f.) und nota bene um die Binnenperspektive der Teilnehmer. Was Religion ist, das entscheiden am Ende die jeweiligen Anhänger. ›Kunstreligion‹ kann sich auf einzelne, mehrere oder alle dieser Aspekte einer vorgängigen Religion beziehen. Sie kann in prophetischem Gestus metaphysische Wahrheiten zu verkünden und Heil zu vermitteln beanspruchen; sie kann ein Priestertum begründen, Hierarchien und Kultgemeinschaften entwickeln und verhaltenssteuernde ethische Lebensregeln formulieren u. s. f.10 In jedem Fall und per definitionem aber sind diese Bezüge sowohl durch Schnittmengen wie durch Differenzen bestimmt. Ohne das Erstere wäre nicht von ›Kunstreligion‹, ohne das Letztere nicht von ›Kunstreligion‹ zu reden. Die Art der Bezugnahme von ›Kunstreligion‹ auf Religion kann sich zwischen zwei extremen Möglichkeiten entfalten: als Konvergenz und als Konkurrenz. Konvergenz: Schleiermacher versucht 1799, bestimmte Formen des Erlebens, die von Kunst (unter den Bedingungen der eben erst vollzogenen Ausdifferenzierung) ermöglicht werden, in ein dementsprechend erweitertes religiöses System und seine Institutionen zu integrieren. Indem er die Kunst an die Kirche rückbindet, will er die Kirche für die Kunst als auto_____________ 8 9
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Feil, Ernst: Religio. Vierter Band: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2007 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 91), S. 892f. Riesebrodt, Martin: Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen. München 2007; vgl. auch Riesebrodt, Martin: Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der ›Kampf der Kulturen‹. München 2000 (Beck’sche Reihe 1388). – Zu besonderem Dank für Diskussionen und Auskünfte bin ich hier meinem Kollegen Matthias Koenig verpflichtet. So beispielsweise im Klopstock-Kult um 1800 oder im George-Kreis, in der BeethovenVerehrung um 1900 oder in der Hölderlin-Rezeption seit Norbert von Hellingrath; auch in der Verbindung von Happening und Schamanenpraxis in Performances von Joseph Beuys; hierher wäre ebenso die künstlerische Inszenierung eines nicht-antichristlichen, aber doch dezidiert nicht-christlichen Personenkults zu ziehen, etwa Novalis’ Forderung, Johann Gottfried Schadows Prinzessinnengruppe zum Mittelpunkt quasi-kultischer Versammlungen in Logen zu machen, oder die Erhebung des jungen Thomas Chatterton in Literatur und Malerei der englischen und französischen Romantik (und danach auch der deutschen Literatur von Ernst Penzoldt bis Hans Henny Jahnn) zum heiligen Märtyrer der Kunst. – Zur Bedeutung des Kultischen in der Bildenden Kunst der Moderne vgl. Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln 1997.
Was ist Kunstreligion?
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nome Form der Erfahrung von Transzendenz öffnen. Ermöglicht wird das u. a. durch eine Aufwertung des religiösen Erlebens gegenüber religiöser Dogmatik, wodurch einer Subjektivierung der Religion ebenso Vorschub geleistet wird wie ihrer Ästhetisierung. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird sich dieses Streben nach Konvergenz weithin in ein Verhältnis der Konkurrenz wandeln: Richard Wagner fordert von der autonom gewordenen Kunst, ihre Autonomie so weit fortzuentwickeln, dass sie sich geradezu selbst als ästhetische ›GegenKirche‹ etabliert,11 als gegenüber einer als überlebt und defizitär abgewerteten ›Religion‹ einzig gültiger Zugang zum Numinosen.12
2. Historisch Fragen wir nun nach der historischen Genese des Begriffs von ›Kunstreligion‹ in Schleiermachers Reden. a) Voraussetzungen Als einer der markanten Wendepunkte in der ›Emanzipation‹ eines autonomen Literaturverständnisses im 18. Jahrhundert kann Johann Gottfried Herders Lektüre der alttestamentlichen Psalmen und des Hohelieds als ›hebräische Poesie‹ gelten.13 Gerade diese Neukontextualisierung der sakralen Texte aber hat im Gegenzug die Möglichkeit zu einer religiösen Aufwertung und Funktionalisierung autonomer künstlerischer Textproduktion eröffnet, die etwa zeitgleich durch Klopstock (und die mit ihm verbundene Milton-Rezeption) exemplifiziert wird.14 Klopstock repräsentiert, exemplarisch und mit epochalem Erfolg, eine neuartige und bis in die Moderne folgenreiche Variante des poeta vates: den Typus eines autonomen Dichters, der, durch besondere göttliche Inspiration autorisiert, verbindliche religiöse Wahrheit zu verkünden vermag und dessen Dichtung darum, als Dichtung, in derselben Weise heilsvermittelnd wirken kann _____________ 11
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Theoretisch wird das vor allem in dem Aufsatz Religion und Kunst (1880) postuliert; praktiziert wird es wohl am entschiedensten im Parsifal, dem ›Bühnenweihfestspiel‹ von 1882 (vgl. Wagner, Richard: Religion und Kunst; in: Wagner, Richard: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Vierte Auflage. Zehnter Band. Leipzig 1907, S. 211-285, hier S. 275-285). Dieser Anspruch setzt die funktionale Ausdifferenzierung von ›Kunst‹ und ›Religion‹ seit dem 18. Jahrhundert zwar voraus, ist aber mit dieser nicht schon gegeben. Herder, Johann Gottfried: Von dem Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes. Erster Theil/Zweiter Theil. Deßau 1782/83. Vgl. Kaiser, Gerhard: Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963 (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft 1).
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wie das Wort der Heiligen Schrift.15 Während sein Antipode James Macpherson das Fehlen von Göttern in den Ossian-Dichtungen mit der kalkuliert mehrdeutigen Bemerkung rechtfertigt: »But gods are not necessary, when the poet has genius«,16 bittet der Dichter-Priester Klopstock in einem poetologischen Paratext zum Messias, der Ode An den Erlöser, Christus selbst um Belehrung und um Ermächtigung zu seinem Amt: »daß mein geweihter Arm | Vom Altar Gottes Flammen nehme«.17 Entsprechend werden die jeweiligen Dichtungen rezipiert: der Ossian etwa in Goethes Werther (1774) als Anti-Bibel und zugleich als AntiMythos in Opposition zu Homer; Klopstocks Messias in weiten Teilen des protestantischen Deutschland als ›heilige Schrift‹ – durch gemeinsame Lesung und Andacht neben der Bibel, nicht selten auch anstelle der Bibel. Anders als die götterlose Dunkelheit des Ossian aber konvergiert Klopstocks Form autonomer Dichtung mit dem kirchlichen Christentum, weil sie als Dichtung das Gotteswort adäquat und autoritativ erschließt und vermittelt. Einerseits erscheint der Dichter nur als prophetisches Medium eines transzendenten Texturhebers, als heteronomer Mittler göttlichen Wortes. Insofern der Prophet andererseits aber als autonomer Autor auftritt, gilt dasselbe Wort jedoch als seine Hervorbringung; in dieser Perspektive erscheint der Vermittler des Wortes zugleich als dessen Schöpfer. Wenn in Goethes Werther (im Eintrag vom ›16. Junius‹) Lotte das Gewitter abziehen und den Bogen des Friedens sich neigen sieht, dann zitiert sie nicht etwa die entsprechenden Verse der Frühlingsfeier – ihr Ergriffensein artikuliert sich allein im Aussprechen des Autornamens: »Klopstock!«.18 Dass dieses eine Wort als eine religiöse Anrufung zu verstehen ist, zeigt Werther, wenn er sich in seinem Bericht nun seinerseits an den »so oft entweihten Namen« Klopstocks wendet, der in Lottes Mund wieder die _____________ 15 16
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Dazu Frick, Werner: Poeta vates. Versionen eines mythischen Modells in der Lyrik der Moderne; in: Martinez, Matias (Hrsg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Paderborn – München – Wien – Zürich 1996 (Explicatio), S. 125-162. Macpherson, James: A Dissertation concerning the Æra of Ossian; in: The Poems of Ossian. Translated by James Macpherson, Esq. Volume II. A new Edition. Carefully corrected, and greatly improved. London 1773, S. 213-231, hier S. 219. – Zum Kontext und zur Wirkungsgeschichte vgl. Schmidt, Wolf Gerhard: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1-4. Berlin – New York 2003/04. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Dem Erlöser; in: Klopstock, Friedrich Gottlieb: Ausgewählte Werke. Herausgegeben von Karl August Schleiden. Nachwort von Friedrich Georg Jünger. Darmstadt 1962, S. 59-61, hier S. 61. Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers [Erste Fassung]. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 1. 2: Der junge Goethe. 1757-1775. 2. Herausgegeben von Gerhard Sauder. München – Wien 1987, S. 197-299, hier S. 215.
Was ist Kunstreligion?
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angemessene »Vergötterung« erfahren habe.19 Damit färbt die Verehrung, die dem heiligen Wort gilt, auf dessen Verkünder selbst ab; der durch den Künstler priesterlich verwaltete Kult verwandelt sich erstmals in die kultische Verehrung des Künstlers. In der Geschichte des Geniegedankens und der modernen Varianten des poeta vates von Shelley und Keats über Whitman bis in die Moderne hinein wird er mannigfaltige Ausprägungen erfahren. Eine Generation nach Klopstock, also in eben dem geschichtlichen Augenblick, in dem die Trennung von religiösen und literarischen Teilsystemen weitgehend abgeschlossen ist, erhebt sich verbreitet eine Forderung nach ihrer Synthese; als Bezeichnung dafür kommt bei den Frühromantikern die Rede von der ›Kunstreligion‹ auf. b) Das Universum als Kunstwerk Schleiermachers Begriff der ›Kunstreligion‹ resümiert20 ein unter diesen Voraussetzungen entstandenes, in sich hoch differenziertes und nicht selten widersprüchliches Projekt der Frühromantik. Dass ausgerechnet der den Brüdern Schlegel und Novalis gegenüber eher konservative, entgegen chiliastischen Erwartungen einer neuen Religion an Christentum und Kirchlichkeit festhaltende Schleiermacher diesen Ideen und Entwürfen in größter Beiläufigkeit den Namen gibt, erscheint beinahe wie ein Zufall. Tatsächlich aber haben gerade Schleiermachers Reden 1799 in ihrer besonnenen Auseinandersetzung mit den frühromantischen Impulsen und in ihrem Bemühen um Rückbindung der neuen Entwürfe an »das Gesellige in der Religion«21 entscheidend beigetragen zur Klärung dessen, was ›Kunstreligion‹ heißen könnte – das gilt auch für die Offenlegung von Spannungen, die sie selbst nicht aufzulösen vermögen. Der Begriff kommt bezeichnenderweise in der zweiten Rede über das ›Wesen der Religion‹ nicht vor, sondern erscheint, sehr beiläufig, erst in der dritten Rede ›Über die Bildung zur Religion‹. Er steht also im Zusammenhang mit der Frage nach einer möglichen Hinführung der durch ›Aufklärung‹ von der Religion entfremdeten Zeitgenossen zu deren eigentlichem Wesen, nicht hingegen im Zusammenhang der Frage nach dem Wesen von Religion selbst. Zugleich steht er im Kontext des Bemühens, gegenüber der Kunst-Idolatrie Friedrich Schlegels, Novalis’ und anderer _____________ 19 20 21
Goethe: Die Leiden des jungen Werthers (Anm. 18), S. 215. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra 323), S. 438-463. [Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst:] Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799, hier S. 174. Künftig im fortlaufenden Text zitiert mit der Sigle ›EA‹.
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die Kunst als Propädeutik der Religion zur Geltung zu bringen: »Für ihn war stets die Religion das Erste und die Kunst das Zweite«.22 Dennoch hat die umfangreiche Argumentation, die ihm vorausgeht, eine Eigendynamik entfaltet, die im Widerspruch dazu eine Gleichberechtigung, wenn nicht Gleichsetzung von Kunst und Religion nahe legt.23 Wenn Schleiermacher in der zweiten Rede den »schneidenden Gegensatz« betont, »in welchem sich die Religion gegen Moral und Metaphysik befindet« (EA 53), also gegen Transzendentalphilosophie und aufgeklärte Ethik,24 dann zielt das auf eine grundlegende Kontrastierung von ›Denken und Handeln‹ (oder »Spekulazion und Praxis«) mit »Anschauung und Gefühl« (EA 50-52). Sind für die Ersteren eben ›Moral und Metaphysik‹ als Leitdisziplinen der Aufklärung zuständig, so für die Letzteren sowohl die Religion als auch die Kunst. Dabei bezeichnen ›Anschauung‹ und ›Gefühl‹ noch so allgemeine und elementare Formen des Erlebens, dass ihre Anwendbarkeit auf keinen dieser beiden Bereiche eingeschränkt ist. Das ändert sich im Fortgang der Argumentation sehr rasch: Je genauer Schleiermacher die Eigenart religiösen Erlebens begreiflich machen will, desto entschiedener greift er auf den Wortschatz der Kunst und Kunstrezeption zurück: »Religion ist Sinn und Geschmak fürs Unendliche« (EA 53). In diesem berühmten Satz werden in propädeutischer Absicht ›Sinn‹ und ›Geschmack‹ als ästhetische Begriffe aufgenommen, die doch auch den Gebildeten unter den Verächtern der Religion ebenso vertraut sein müssen wie die damit bezeichneten Erfahrungsformen. Und sie werden auf die Religion angewendet: als Bezeichnungen einer Begabung zur Empfänglichkeit für »das Universum« (EA 50) und als Fähigkeit zum Begreifen, zur Distinktion und Beurteilung des Empfangenen. Wer diese Bega-
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Scholtz, Gunter: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften. Frankfurt/M. 1995 (stw 1191), S. 230; vgl. Nowak, Kurt: Schleiermacher und die Frühromantik. Eine literaturgeschichtliche Studie zum romantischen Religionsverständnis und Menschenbild am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland. Göttingen 1986. Es ist diese faktische Grenzverwischung, bei der dann die Schleiermacher-Kritik der dialektischen Theologie ansetzen wird. Es scheint zunächst, als impliziere Schleiermacher schon eingangs eine kategoriale Differenzierung von Kunst und Religion. Da ruft er den ›Gebildeten‹ spöttisch zu, »daß es in Euren geschmackvollen Wohnungen keine andere Hausgötter gibt, als die Sprüche der Weisen und die Gesänge der Dichter«, und dass folglich »für das ewige und heilige Wesen, welches Euch jenseit der Welt liegt, nichts übrig bleibt, und Ihr keine Gefühle habt für dasselbe und mit ihm«. Aber das ist noch ganz an die Spätlinge der Aufklärung und der Neologie gerichtet, nicht an die Athenäums-Streiter. Anders, als die Angeredeten meinen, liegt das Ewige und Heilige keineswegs nur »jenseit der Welt«, sondern ist auch und gerade in ihr zugänglich (EA 2).
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bungen besitzt, darf deshalb, mit einem auf Shaftesbury verweisenden Begriff, ein ›Virtuose‹ der Religion heißen.25 Die ästhetische Metaphorik, die diesen Versuch einer Bestimmung von Eigenart und Eigenwert religiöser Erfahrung zunächst nur begleitet, ist jederzeit im Begriff, zur Identifikation religiösen Erlebens und ästhetischer Erfahrung zu kondensieren. Wenn die religiösen Gefühle »wie eine heilige Musik alles Thun des Menschen begleiten« (EA 68; Hervorhebung H. D.) sollen, dann ist es nicht mehr ganz so weit zu Joseph Berglingers Überzeugung bei Wackenroder, auch das Musik-Erleben selbst eröffne einen Zugang zum Heiligen.26 Wenn es sich mit der Anschauung des Universums ebenso verhält wie mit der Anschauung eines ›großen Kunstwerks‹ (vgl. EA 83), dann liegt der Umkehrschluss nahe, dass sich womöglich auch durch das Kunstwerk das Universum anschauen lasse. Davon jedenfalls spricht Schleiermacher schon wenig später ausdrücklich in einer Weise, die religiöse und ästhetische Hermeneutik gleichzusetzen scheint: »Auch die Welt ist ein Werk«, »die Harmonie des Universums« ist geradezu »die wunderbare und große Einheit in seinem ewigen Kunstwerk« (EA 84 und 97). Nochmals: Es ist nicht zu bezweifeln, dass es Schleiermacher hier wie überall in den Reden ganz auf die ›Religion‹ in der Tradition protestantischer Kirchlichkeit ankommt und dass der ›Kunst‹ im Hinblick auf diese eine nur dienende, hinführende Funktion zukommen soll. Daraus folgt die wesentliche Differenz seiner Argumentation gegenüber dem kunsttrunkenen Chiliasmus des jungen Friedrich Schlegel oder den Visionen des Novalis. Aber Schleiermachers Ästhetisierung des Religiösen besitzt ein Potential religiöser Aufladung des Ästhetischen, das diese Rangordnung wieder unterläuft. Am deutlichsten ergibt sich das wohl aus dem Entschluss, ins Zentrum der Bestimmung von ›Religion‹ die Idee individueller ›Anschauung‹ _____________ 25
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Vgl. EA 3; der Begriff religiöser ›Virtuosität‹ erneut S. 111. – Shaftesbury begreift den ›virtuoso‹ als Liebhaber bzw. Verehrer des Guten und/oder Schönen: »Everyone is a virtuoso of a higher or lower degree. Everyone pursues a grace and courts a Venus of one kind or another« (Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, third Earl of: Sensus Communis, an Essay on the Freedom of Wit and Humour in a Letter to a Friend. In: Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, third Earl of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Edited by Lawrence E. Klein. Cambridge 1999 (Cambridge Texts in the History of Philosophy), S. 29-69, hier S. 64). Wackenroder, Wilhelm Heinrich / Tieck, Ludwig: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797). In: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Band 1: Werke. Herausgegeben von Silvio Vietta. Heidelberg 1991, S. 51-145 [Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger. In zwey Hauptstücken, S. 130-145]. Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 20), S. 451.
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zu stellen, die er, wie mir scheint, dialektisch als eine Empfänglichkeit für das Angeschautwerden durch das Universum versteht. In diesem Begriff der ›Anschauung‹ durchdringen sich ein Konzept ästhetischer Rezeptivität und das theologische Konzept von ›Offenbarung‹, und zumindest streckenweise scheint zwischen beiden eine Differenzierung gar nicht mehr möglich. »Was heißt Offenbarung?« fragt Schleichermacher und gibt die Antwort: »jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums ist eine« (EA 118). Das hat nun Folgen für ein gleichsam religiös aufgeladenes Verständnis nicht nur der Kunst, sondern auch – und dieser Aspekt dürfte für die weitere Karriere des Begriffs ›Kunstreligion‹ entscheidend gewesen sein – des Künstlers als einer durch Inspiration autorisierten und herausgehobenen Gestalt. Es ist wichtig, hier von vornherein festzuhalten, dass dieser für Schlegel oder Novalis zentrale Gedanke nicht in der argumentativen Absicht Schleiermachers liegt, sondern einigen seiner wesentlichen Gedanken zuwiderläuft. Umso bemerkenswerter ist es aber doch, dass sich eine solche Aufwertung aus einer gewissen Eigendynamik seiner Argumentation zu ergeben scheint. Insofern bewusste ›Anschauung‹, ›Sinn‹ und ›Geschmack‹ für das Unendliche auch künstlerische Kategorien sind, ist jeder Mensch ein Künstler, ein potentieller ›Virtuose‹ des Religiösen. Denn jeder Mensch kann Träger einer Anschauung des Universums und insofern Offenbarungsempfänger und -vermittler sein; die Fähigkeit zu ihr macht ihn zum religiösen Menschen. Diesen Aspekt, der Schleiermacher grundlegend von anderen Frühromantikern unterscheidet, hat Bernd Auerochs knapp resümiert: »der Mittler ist der religiös erregte Mensch und nicht der Künstler«.27 Sichtlich geprägt ist dieser egalitäre Grundzug durch die lutherische, hier pietistisch überformte Idee vom Priestertum aller Gläubigen, auf die Schleiermacher in der vierten Rede ja auch zu sprechen kommt. Aber dies ist eben nur eine Seite des Gedankens. Aus ihm ergibt sich eine zweite, die gewissermaßen eine Differenzierung von Laien und hierarchisch-priesterlichen Instanzen wieder einführt. Denn zwar kann es so viele ›Anschauungen‹ geben, wie es ›religiös erregte Menschen‹ gibt. Doch nur einige dieser Menschen sind zusätzlich auch in der Lage, ihrer Anschauung – die hier ja zunächst als ein entschieden passiver Vorgang verstanden ist – eine feste Form zu geben, durch die sie allererst über den Augenblick der Erregung hinaus aufbewahrt und vermittelt werden kann. In seiner Erklärung des herkömmlichen Begriffs ›Eingebung‹ präzisiert Schleiermacher das als »jedes Wiedergeben einer religiösen Anschauung«, als jedweder »Ausdruck eines _____________ 27
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religiösen Gefühls, der sich wirklich mittheilt, so daß auch auf andre die Anschauung des Universums übergeht« (EA 119). Erst diese erscheinen als inspirierte ›Mittler‹ in einem engeren Sinne. Zwar ist es immer noch anthropologisch verallgemeinernd gemeint, wenn Schleiermacher pointiert schreibt: »Nicht der hat Religion, der an eine heilige Schrift glaubt, sondern, welcher keiner bedarf, und wohl selbst eine machen könnte« (EA 122). Nur ist andererseits evident, dass nicht jeder, der im schleiermacherschen Sinne ›Religion hat‹, auch tatsächlich »selbst eine [heilige Schrift; H. D.] machen könnte« – und dass auch von diesen wiederum nur eine Minorität tatsächlich eine ›macht‹. Allein diejenigen, denen das gelingt, sind Schreibende als Propheten. Ein Beispiel dafür nennt Schleiermacher in seiner Würdigung eines philosophischen Schriftstellers: des »heiligen, verstoßenen Spinosa«, der »voller Religion […] und voll heiligen Geistes« (EA 54) gewesen sei.28 Priestertum aller Gläubigen – oder hierarchische Privilegierung inspirierter Verfasser heiliger Schriften: Diese bloß subkutan, aber durchweg bemerkbare Spannung könnte sich aus einem elementaren medientheoretischen Problem ergeben, das für Schleiermachers Argumentation erhebliche Bedeutung hat, aber nur ansatzweise reflektiert wird. Es betrifft die elementare Opposition von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. c) ›Dichter oder Seher‹, Rede und Schrift Weil Religion hier als ›Gefühl‹ im erlebenden Gegenüber zum ›Universum‹ aufgefasst wird und weil die Weitergabe dieses Erlebens in prophetischer Rede sich spontan ohne Umweg über mediale Vermittlung ereignet, ist das mediale Leitkonzept die Präsenz der Stimme. So bemüht sich der Schreiber dieser Reden denn auch nach Kräften, als im Wortsinne ›begeisterter Redner‹ aufzutreten, der sich an die »Hörer für meine Rede« wendet und vor ihnen wie in einer pietistischen Versammlung sein »Zeugniß […] ablegen muß« (EA 15f.), weil der Geist ihn dazu treibt: »Daß ich rede rührt nicht her aus einem vernünftigen Entschluße […], es ist ein göttlicher Beruf« (EA 5), Berufung also. Er sei, so lautete seine Selbstvorstellung gleich zu Beginn der Reden, »von einer innern und unwiderstehlichen Nothwendigkeit« erfüllt, »die mich göttlich beherrscht, durchdrungen zu reden« (EA 3).29 Aber natürlich vollzieht sich dies alles im _____________ 28 29
Vgl. hierzu und zum Folgenden Petersdorff, Dirk von: Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller. Tübingen 1996. Zu den vieldiskutierten Beziehungen zwischen pietistischen und literarischen Inspirationskonzepten und -praktiken vgl. aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Schneider, UlfMichael: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten. Göttingen 1995 (Palaestra 297).
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Medium der Schrift, in ›Buchstaben‹, nicht zwischen Redner und Hörern, sondern zwischen Schreiber und Lesern. Deshalb sucht Schleiermacher folgerichtig den Status jeder denkbaren ›heiligen Schrift‹ möglichst weit herabzustufen, eben weil sie nichts als ›Schrift‹ ist: »Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Werth auf den todten Buchstaben legen« (EA 121f.). Mit dem Rückgriff auf die pietistische Kontrastierung von totem Buchstaben und lebendigem Geist (2 Kor 3, 6) nimmt Schleiermacher hier faktisch eine Verengung seines eigenen Gedankengangs vor. Denn die ›Schrift‹ fungiert ja für ihn selbst keineswegs nur als totes Speicher-, sondern entschieden auch als lebendiges Kommunikationsmedium. Weil selbst der ›große Geist‹ und das lebendigste Wort vergänglich sind, bedarf es einer Speicherung, die zur Grundlage jener Kommunikation zwischen Gestorbenen und Lebenden dient, wie Schleiermacher selbst sie hier in seiner Lektüre Spinozas vorführt – und wie sie sich bis heute nur deshalb mit den Lesern seiner Reden vollziehen kann, weil diese eben gar keine ›Reden‹ sind. Wenn sich aber gleichsam unterhalb dieser Rollenprosa und Medienfiktion eben doch das Bewusstsein zur Geltung bringt, dass ›Speicherungen‹ der religiösen Anschauung – als Schrift, als Musik, als Bildwerk – nichts ihr bloß Äußerliches sind, sondern im Gegenteil innig mit ihrer Vermittlung verbunden; wenn weiterhin nur ein kleiner Teil der religiös Sensiblen zu solchen Aufzeichnungen befähigt ist und ein wiederum kleinerer Teil derjenigen, die »wohl selbst eine [heilige Schrift; H. D.] machen könnte[n]« (EA 122), sie auch tatsächlich erstellt – dann verengt sich mit dem Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit auch die Vorstellung einer universalen Mittlerschaft doch zur Differenzierung zwischen den wenigen ›Schreibern‹ und den vielen ›Lesern‹. Schleiermachers Argumentation impliziert, dass das, was er in einem religiös relevanten Sinne ›Kunst‹ nennt, einen sehr weiten Bereich umfasst – nämlich alles, was die Unmittelbarkeit der Erfahrung wie diejenige ihrer mündlichen Vermittlung in ›Speichermedien‹ überträgt: in den ›Buchstaben‹. Das gilt für Werke der Schrift »von den schönen Dichtungen der Griechen bis zu den heiligen Schriften der Christen« (EA 47f.), aber auch für Musik und bildende Kunst.30 Von hier aus lohnt sich ein Blick zurück auf die einleitenden Bemerkungen zur ersten Rede. Denn bereits hier hat Schleiermacher sowohl eine _____________ 30
Dass Schleiermacher in den Hinzufügungen zu den späteren Neuauflagen der Reden diesen Begriff von ›Kunst‹ soweit wie möglich auf eine nur thematisch ›religiöse‹ Kunst einzuengen versucht, lässt erkennen, dass er selbst hier eine Gefahr für seine kirchlichen Wirkungsabsichten gesehen hat.
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Gleichrangigkeit von Propheten und Künstlern als auch ihre Privilegierung mit einer Selbstverständlichkeit vertreten, die leicht als Rückfall in oder Zugeständnis an Vorstellungen Friedrich Schlegels erscheinen kann, sich im Licht der späteren Argumentation aber als plausibel erweist. Hier skizziert Schleiermacher die beiden extremen menschlichen Verhaltensweisen einer ungezügelten ›Sinnlichkeit‹ und eines ebenso ungezügelten ›Enthusiasmus‹, der »um leere Ideale herum […] thatenlos« (EA 8f.), d. h. unschöpferisch kreist. Diese Extreme auszugleichen und zu vereinen, gelingt nur wenigen Einzelnen, die dazu in besonderer Weise autorisiert sind: Darum sendet die Gottheit zu allen Zeiten hie und da Einige, in denen beides auf eine fruchtbarere Weise verbunden ist […] und sezt sie ein zu Dolmetschern ihres Willens und ihrer Werke, und zu Mittlern desjenigen, was sonst ewig geschieden geblieben wäre.
Sie dolmetschen, indem sie »das, was ihm begegnet ist, für Andere darstellen« – und das heißt hier: es in mündlicher Unmittelbarkeit oder auf dem Weg über Kunstwerk und Schrift mitteilen, »als Dichter oder Seher, als Redner oder als Künstler« (EA 9-12). Der ›Seher‹ und der ›Redner‹ bedienen sich der unmittelbaren Äußerung in Zeichenhandlungen und mündlicher Rede, der ›Dichter‹ und der ›Künstler‹ hingegen der schriftlichen oder bildnerischen Medien. Beide Fähigkeiten gleichermaßen begründen hier nun ausdrücklich ein besonderes ›Priestertum‹ – besonders deshalb, weil es hier eben keineswegs dasjenige aller religiös erregten Menschen ist, sondern nur das der wenigen göttlich besonders Autorisierten: »Dies ist das höhere Priesterthum, welches das innere aller geistigen Geheimniße verkündigt, und aus dem Reiche Gottes herabspricht; dies ist die Quelle aller Gesichte und Weissagungen, aller heiligen Kunstwerke und begeisterten Reden« (EA 12). Heilige Kunstwerke und begeisterte Reden – wie nahe hätte es auch hier gelegen, dem pietistischen Inspirationsbild der ›begeisterten‹, mündlich-unmittelbaren Reden schon hier das Verdikt des toten Buchstabens gegenüberzustellen! Dass Schleiermacher von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch macht, liegt nicht etwa an einem besonderen Respekt gegenüber der frühromantischen Kunst-Idolatrie. Es ergibt sich vielmehr aus dem Bewusstsein der schriftlichen Vermitteltheit auch dieser seiner eigenen Reden selbst – des Buches, in dem dies steht. Soll die Geltung dieser schriftlich fingierten Mündlichkeit nicht im performativen Selbstwiderspruch bestritten werden, so muss die sonst behauptete Kluft zwischen Rede und Schrift überspielt, müssen inspirierte Reden und heilige Kunstwerke ebenso als eines erscheinen wie ›Seher‹ und ›Dichter‹.31 _____________ 31
Wenn Auerochs diese Passagen als eine nur anfängliche, gewissermaßen vorübergehende Konzession an Friedrich Schlegels Privilegierung der Künstler als der »wesentlichen Mittler des Unendlichen« abtut, der gegenüber die zweite Rede der anthropologischen Verall-
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d) Kunst, Religion, ›Kunstreligion‹ Der folgenreiche Begriff ›Kunstreligion‹ selbst fällt in der dritten Rede, im Zusammenhang der Entfaltung möglicher Wege in die Religion, fast beiläufig. Und doch erscheint er nach dem Bisherigen wie das begriffliche Siegel auf einen differenzierten Gedankengang. Dem »sinnigen Menschen«, schreibt Schleiermacher, sei immer schon eine »Sehnsucht nach dem Unendlichen, nach dem Einen in Allem« zu eigen: ein anthropologischer Antrieb, dessen individuelle Ausprägung aber nicht anders von Begabungen abhängt als etwa die Musikalität. »Drei verschiedne Richtungen des Sinnes« unterscheidet er: Die erste geht (wie bei Fichte) »nach innen zu auf das Ich selbst« (EA 165), in die mystische Versenkung (von ›Mystizismus‹ spricht Schleiermacher wenig später; EA 168). Die zweite dagegen geht »nach außen auf das Unbestimmte der Weltanschauung«, als Anschauung des Universums in der aufklärerischen ›Naturreligion‹ und in der transzendental-philosophischen Metaphysik. Die dritte schließlich »verbindet« beide als dasjenige, das den menschlichen Sinn »in ein stetes hin und her Schweben zwischen beiden versezt«, also zwischen Innen und Außen, und das »nur in der unbedingten Annahme ihrer innigsten Vereinigung Ruhe findet« – und »dies ist die Richtung auf das in sich Vollendete, auf die Kunst und ihre Werke« (EA 165f.). Kunst als Vermittlung zwischen Subjekt und Welt, Innen und Außen, rückt damit auch hier in eine eigentümliche Zwitterposition ein. Einerseits bildet sie nur einen Weg zur ›Religion‹ wie die beiden anderen auch: Von jeder dieser drei Tendenzen im Menschen aus »giebt es einen Weg zur Religion und sie nimmt eine eigenthümliche Gestalt an nach der Verschiedenheit des Weges auf welchem sie gefunden worden ist« (EA 166). Insofern wäre sie mit Mystik und Metaphysik gleichrangig. Andererseits aber scheint sie diesen gegenüber privilegiert zu sein. Denn sie allein kann vermitteln und vereinen, was in diesen beiden jeweils nur als eine Seite, ein Aspekt des Ganzen verabsolutiert wird. Man kann dieser allmählichen Verschiebung der ›Kunst‹ vom Weg zur Religion in deren eigenen Geltungsbereich hinein hier beinahe Satz für Satz zusehen. So übernimmt Schleiermacher wenige Zeilen später fast beschwörend das frühromantische, vom Athenäums-Kreis erhobene Postulat, dass »der Kunstsinn für sich allein übergeht in Religion« (EA 166f.), und er redet von dieser Dynamik als von einem Mysterium, dessen unmittelbare Anschauung ihm selbst leider verhüllt sei: »Ich bescheide mich nicht _____________ gemeinerung und damit auch dem »allgemeinen Priestertum der Gläubigen« zum Recht verhelfe (Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 20), S. 450f.), dann unterschätzt er, scheint mir, deren Aufschlusskraft für das Verständnis der Spannungen, die bis weit in die dritte Rede hinein Schleiermachers Argumentation durchziehen.
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zu sehen, aber ich – glaube; die Möglichkeit der Sache steht klar vor meinen Augen, nur daß sie mir ein Geheimniß bleiben soll« (EA 167). Und schließlich wird der Vorgang der hier durchaus pietistisch verstandenen religiösen Bekehrung geradezu ineinsgesetzt mit dem Erlebnis großer Kunst: »wenn es wahr ist daß es schnelle Bekehrungen giebt, […] so glaube ich, daß mehr als irgend etwas anders der Anblik großer und erhabner Kunstwerke dieses Wunder verrichten kann« (EA 167). Gemeint zu sein scheint damit die Einheit von Evidenzerlebnis und Applikation. Bemerkenswert aber ist die Allgemeinheit, mit der in diesem Zusammenhang von ›Kunstwerken‹ die Rede ist. Nicht allein um eine im weitesten Sinne religiöse Kunst geht es hier ja, sondern um Kunst schlechthin. In manchen Wendungen lässt sich die Ambivalenz von Hinführung und Identifikation mit Händen greifen: Einerseits sind die Kunstwerke ›Veranlassungen‹, andererseits geht dem Betrachter in ihrer Anschauung »wie durch eine innere unmittelbare Erleuchtung der Sinn fürs Universum auf« (EA 167).32 Und insofern sich von Kunstwerken sagen lässt, dass in ihnen einzelne Menschen – die Künstler eben – anschauend auf das Angeschautwerden durch das Universum reagieren, kann Schleiermacher hinzufügen: das Universum selbst »überfällt [den Betrachter; H. D.] mit seiner Herrlichkeit«. Aus diesem Gedankengang geht dann wie von selbst das Wort ›Kunstreligion‹ hervor: Ganze Epochen, so räsoniert Schleiermacher, sind bestimmt gewesen entweder von ›Mystizismus‹ als Versenkung ins Ich oder von einer aufs Universum gerichteten ›Weltanschauung‹ – aber, so fährt er nun fort, »von einer Kunstreligion, die Völker und Zeitalter beherrscht hatte, habe ich nie etwas vernommen« (EA 168). Ihr aber, als einer kommenden Erscheinungsform der Religion, gilt nun ausdrücklich ein neuer ›Glaube‹: »doch ist dieser Glaube mehr auf die Zukunft gerichtet als auf die Vergangenheit oder die Gegenwart«. Diese rasante Verengung und Vereindeutigung hat etwas Folgerichtiges. Wenn das Kunstwerk selbst – jedenfalls das »große und erhabne Kunstwerk« – schon eine Mittlerinstanz darstellt zwischen Ich und Welt, Innen und Außen, dann ist die ›Religion‹ nicht mehr ein kategorial davon geschiedener Bereich, sondern nur seine reinste Ausprägung.33 _____________ 32
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Annähernd wörtlich klingt hier die Wendung wieder an, ›Religion‹ sei »Sinn und Geschmak fürs Unendliche« (EA 53; allein das kleine ›wie‹ freilich lässt eine letzte reservatio mentalis ahnen – allerdings nur vor der unmittelbaren Identifikation von Kunsterlebnis und ›Erleuchtung‹). Auch für Auerochs, der Schleiermacher nur eine ›religiös eingefärbte‹ Kunstauffassung zugesteht, lässt diese Stelle »eigentlich nur die Interpretation zu, Kunsterfahrung könne eine religiöse Offenbarung sein«; er weist zugleich darauf hin, dass Schleiermacher auch hier in den späteren Auflagen die Differenz nachträglich herauszuarbeiten sucht (Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 20), S. 456, Anm. 364). Anders als Mystik oder Metaphysik, die jeweils nur einen der beiden Aspekte realisieren.
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Es ist eigentümlich zu sehen, wie Schleiermachers Argumentation auf diese Konsequenz einerseits hinstrebt und wie er sie doch andererseits wieder vor diesem letzten Schritt anhalten will. Hat seine Rede vom Kunsterlebnis als dem ›Wunder‹ der ›Bekehrung‹ selbst beides eben noch buchstäblich identifiziert, so zieht er nun beide wieder vorsichtig auseinander, wenn er schreibt: Religion und Kunst stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen deren innere Verwandschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist. […] Sie harren einer näheren Offenbarung und unter gleichem Druk leidend und seufzend sehen sie einander dulden, mit inniger Zuneigung und tiefem Gefühl vielleicht, aber doch ohne Liebe. Soll nur dieser gemeinschaftliche Druk den glücklichen Moment ihrer Vereinigung herbeiführen? (EA 169).
Halten wir fest: In seiner expliziten Argumentation führt Schleiermacher Kunst und Religion, Kunsterlebnis und religiöse Erfahrung nahe aneinander heran, ohne sie gleichzusetzen. Er betont die Analogien zwischen ihnen und erhofft ihre zukünftige Vereinigung. Diese Vereinigung aber erscheint nun einerseits als diejenige zweier exklusiv gleichrangiger und aufs engste wesensverwandter Erfahrungsmodi, aufgrund einer nur diesen beiden eigenen Mittlerfunktion – andererseits aber wird eine Ungleichrangigkeit behauptet, sofern die Kunst nur als propädeutische Hinführung zur Religion selbst dienen soll, als Mittlerin zum Mittler. Diese Spannung wird in der expliziten Argumentation, soweit ich sehe, nirgends aufgelöst. Mindestens mit der durchweg ästhetischen Metaphorik, mit der Schleiermacher spezifisch religiöse Erfahrungsmodi umschreibt, unterläuft immer wieder die Rhetorik das Argument. Mit dem scheinbar beiläufig eingeführten Begriff der ›Kunstreligion‹ wird diese Ambivalenz wirkungsmächtig vereinfacht: Mit ihm erscheinen »große und erhabne Kunstwerke« schlechterdings als religiöse Offenbarungsmedien eigenen Rechts. In diesem Sinne bezeichnet ›Kunstreligion‹ dann die autonome Kunsterfahrung nicht als Analogie der religiösen, sondern als selbst religiöse Erfahrung. ›Kunstreligion‹ wird in dieser Rezeption zum vermittelnden Dritten zwischen religio revelata und religio naturalis, mit Schnittmengen in beiden Richtungen.34 In jedem Fall aber wird sie zu einer neuen Form der Religion. _____________ 34
Darauf bezieht sich dann die geschichtsphilosophische Diskussion des Begriffs ›Kunstreligion‹ in und seit Hegels Phänomenologie des Geistes 1807. Dort erscheint der Begriff im VII. Teil als Bezeichnung des Mittleren zwischen ›Naturreligion‹ auf der einen und ›offenbarer Religion‹ auf der anderen Seite, bezogen auf diejenige historische Epoche, in der Religion sich in Kunst artikuliert habe und das Kunstwerk als Medium religiöser Erfahrung erlebt worden sei, also ein klassisch-romantisch imaginiertes Griechenland. Die Rede von ›Kunstreligion‹ bleibt hier, vielleicht in kritischer Absetzung von Schleiermacher, beschränkt auf diese eine historische Konstellation, in der sich das Bezeichnete allerdings doch offenbar paradigmatisch entfaltet; bezeichnenderweise erscheint der Begriff in der systematischen Entfaltung von Hegels Ästhetik nicht (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegeben von der
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Damit konvergiert Schleiermachers Begriff am Ende mit eben jenen Postulaten der frühromantischen Dichter, als deren Korrektiv er doch offenbar gemeint war. Und darum gibt er, scheint mir, eine überraschend prägnante Bestimmung romantischer ›Kunstreligion‹ im Augenblick ihrer historischen Entstehung – ihrer Ansprüche und ihrer Aporien gleichermaßen.
_____________ Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Band 9: Phänomenologie des Geistes. Herausgegeben von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede (†). In Verbindung mit der Hegel-Kommission, der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum. Hamburg 1980, S. 376-399).
BERND AUEROCHS
Das Bedürfnis der Sinnlichkeit Möglichkeiten funktionaler Äquivalenz von Religion und Poesie im 18. Jahrhundert I Eine der Möglichkeiten, und eine ziemlich plausible, den Ausdruck ›Kunstreligion‹ zu erläutern, besteht darin, das kleine Wörtchen ›als‹ zwischen die Glieder des Kompositums zu schieben: ›Kunst als Religion‹. Dieser Syntagmentyp hat gegenwärtig wieder Konjunktur. Kapitalismus als Religion heißt z. B. ein Fragment aus dem Jahr 1921, das lange unentdeckt im reichen Œuvre Walter Benjamins schlummerte, bis man es schließlich hervorzog und sich mit ihm zu befassen begann. Inzwischen gibt es sogar einen eigenen Sammelband nur zu diesem Fragment und der in ihm entfalteten These.1 Kommunismus als Religion heißt ein vieldiskutiertes Buch von Michail Ryklin, das in deutscher Übersetzung im neuen Verlag der Weltreligionen erschienen ist.2 Das Syntagma ›x als Religion‹ impliziert, dass etwas, was immer es sonst sein mag, jedenfalls auch sinnvoll als Religion aufgefasst werden kann. So ebenfalls ›Kunst‹. Die Schwierigkeiten, die sich dem Gedanken entgegenstellen, Kunst sei in gewisser Weise als Religion zu begreifen, sind erheblich. Zunächst kommt diesem Gedanken das Differenzierungstheorem der Moderne in die Quere, ob nun in seiner systemtheoretischen oder in anderer Gestalt. Es besagt, dass in der Moderne die einzelnen Kulturgebiete sich grundsätzlich unter dem Leitgedanken einer (relativen) Autonomie entfalten, nach unterschiedlichen Regeln funktionieren, unterschiedliche Kern_____________ 1
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Baecker, Dirk (Hrsg.): Kapitalismus als Religion. Mit Beiträgen von Dirk Baecker, Walter Benjamin, Norbert Bolz, Christoph Deutschmann, Werner Hamacher, Anselm Haverkamp, Birgit P. Priddat, William Rasch, Mikhail Ryklin, Joachim Soosten und Uwe Schneider. Berlin 2003 (copyrights 9). Ryklin, Michail: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. Aus dem Russischen von Dirk und Elena Uffelmann. Frankfurt/M. – Leipzig 2008; vgl. auch Ryklin, Mikhail: Der Topos der Utopie. Kommunismus als Religion. Aus dem Russischen von Dirk Uffelmann; in: Baecker, Dirk (Hrsg.): Kapitalismus als Religion (Anm. 1), S. 61-75.
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begriffe ausbilden und unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Weil sie demnach nicht einfach gegeneinander austauschbar sind, hätte die Behauptung, Kunst lasse sich jedenfalls auch als Religion behandeln, vor diesem Hintergrund erst einmal ein spontanes Plausibilitätsdefizit. Gehen wir in die Vormoderne zurück, so werden die Geltungsbedingungen für den Satz, Kunst sei Religion, nicht unbedingt besser. Zwar finden wir hier die Vorstellung, religiöse Kunst sei die größte, beste und würdigste Kunst, in jeder Hinsicht der Gipfel aller Kunstbemühungen, häufiger akzeptiert als in der Moderne. Traditionelle religiöse Kunst ist jedoch etwas ganz anderes als Kunstreligion. Sie lebt davon, dass sich Kunst und Künstler als Diener einer etablierten Religion verstehen; sie hat etablierte religiöse Gegenstände, richtet sich nach etablierten religiösen Normen und wird in etablierten religiösen Kontexten produziert und aufgenommen. Ob wir also von der Seite der Tradition kommen oder von der Seite der Moderne – beide Male erscheint die Vorstellung, Kunst könne u. a. sinnvoll als Religion aufgefasst werden, zunächst unplausibel. Dennoch fällt die Kunstreligion, wenn sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts sich anschickt, unsere Welt zu betreten, nicht vom Himmel. Es gibt seinerzeit Auffassungsweisen von Kunst und Religion, die ihre funktionale Äquivalenz unter gewissen Gesichtspunkten nahelegen. Ich werde zunächst diese Auffassungsweisen skizzieren und danach ausführen, inwiefern die ersten Theoretiker der Kunstreligion um 1800 daran anknüpfen. Zur besseren Orientierung schicke ich mein Hauptargument voraus. Es lautet: Man muss den Standpunkt der Philosophie beziehen, wenn man im 18. Jahrhundert die Idee der Austauschbarkeit von Religion und Kunst in den Blick bekommen will. Von diesem Standpunkt aus erscheinen Religion wie Kunst als sinnliche und populäre Versionen einer Wahrheit, die in ihrer reinen – unsinnlichen wie unpopulären – Gestalt nur der Philosophie zugänglich ist.3
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Vor einigen Jahren habe ich den philosophischen Charakter der frühromantischen Kunstreligion vorwiegend auf die enthusiastische Aufnahme von Spinoza (sowie, in zweiter Linie, von Fichte) im Romantikerkreis zurückgeführt. Als Musterentwurf einer philosophischen Kunstreligion betrachtete ich die Philosophie Schellings um 1800, wie sie etwa im System des transcendentalen Idealismus Gestalt annahm (vgl. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra 323), S. 408-429, insbesondere S. 428). Inzwischen habe ich nochmals nachgedacht. Die Attraktivität des Spinozismus als Metaphysik hätte kaum allein den Gedanken einer Kunstreligion hervorgerufen, wäre ihm nicht die jahrhundertealte Tradition der philosophischen Allegorese von Religion und Poesie zu Hilfe gekommen. Eben dieser Tradition und ihrer Nachwirkung in die Frühromantik hinein widmet sich der folgende Beitrag.
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II Zu Beginn seiner Critischen Dichtkunst von 1740 begründet der Zürcher Kritiker Johann Jacob Breitinger, weshalb es die Poesie überhaupt verdient, dass man sich ernsthaft mit ihr befasst. Die Antwort ist: Sie leitet zur Erkenntnis von für den Menschen höchst wichtigen Wahrheiten an, tut das allerdings auf spezifische, ihr eigentümliche Weise. Im Prinzip könnten diese Wahrheiten durch die Arbeit des abstrakten Denkens erschlossen und in höchster Allgemeinheit durch den Weltweisen, den Philosophen, formuliert werden: Alleine da der gröste Haufen der Menschen zu den abgezogenen Untersuchungen des reinen Verstandes nicht aufgeleget, und derjenigen feinen Lust, welche die tiefe Einsicht der Wahrheit mit sich führet, nicht fähig ist, sondern alleine von den Sinnen geleitet wird, und sich nach einer empfindlichen Lust sehnet, die man ohne mühsames Bestreben erlangen kan, so ist es sich nicht zu verwundern, daß die Weltweisheit zu allen Zeiten die eigene Bemühung und Arbeit einiger weniger über das gemeine Looß der Menschen erhabener tiefsinniger Geister geblieben ist, und daß ihre so heilsamen Lehren bey den wenigsten Leuten den erforderlichen Eingang gefunden haben. Gleichwie nun ein kluger Arzt, der sich die Gesundheit seiner Krancken läßt angelegen seyn, die bittern Pillen vergüldet oder verzuckert, und durch diesen heilsamen Betrug ihnen die Artzney beybringet und die Gesundheit wieder herstellet, indem er sich nach ihrem eckeln Geschmacke richtet; also müssen diejenigen, welche die Weißheit als ein Hülfs-Mittel zur Beförderung der menschlichen Glückseligkeit gebrauchen wollen, gleicher Weise verfahren. Da die Wahrheit, die von den Weltweisen mittelst tiefen Nachsinnens erkannt worden, für die groben Sinnen der meisten Menschen ungeschmackt ist, und keinen Eindruck auf sie machet, müssen sie solche nach dem Geschmacke der mehrern zubereiten, auf daß sie allgemein werde; und da ihren Lehren der Eingang in das menschliche Hertz, der durch die mühsame Ueberzeugung des Verstandes erhalten wird, meistentheils verschlossen ist, müssen sie bedacht seyn, sich der Hertzen durch einen neuen Weg mittelst einer unschuldigen List zu bemächtigen.4
Eben diesen Weg beschreiten die Künste – und insbesondere die Redeund Dichtkunst – als »allgemeine Dollmetscherinnen der Weißheit«. Sie werden darum unter die artes populares gerechnet, »das ist diejenigen Künste […], welche ihre Absichten auf den gemeinen Haufen gerichtet haben«.5 Die Poesie erscheint hier also als eine populäre, den groben Sinnen des großen Haufens angepasste Weise, wichtige Wahrheiten, die ansonsten nur wenigen zugänglich wären, breit zu kommunizieren. Das traditionsreiche Bild der verzuckerten Pille, das Breitinger an dieser Stelle _____________ 4 5
Breitinger, Johann Jacob: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Erster Band. Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des 18. Jahrhunderts), S. 5f. Breitinger: Critische Dichtkunst (Anm. 4), S. 8f.
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verwendet, deutet darauf hin, dass eine »angenehm-verführende Einkleidung der bitteren, aber heilsamen Wirksubstanz der Wahrheit«6 Eingang bei den Menschen verschaffen soll. In der Satiretheorie, wo diese medizinische Metapher ihren eigentlichen literarischen Ort hat, wird die verzuckerte Pille als mildes pharmazeutisches Verfahren gemeinhin den aggressiven Mitteln der Chirurgie kontrastiert.7 Wie das verwandte Bild vom Zucker- oder Honigplätzchen, mit dem der unwillige ABC-Schütze zum Lernen verführt wird,8 suggeriert die Pille einen letztlich unproblematischen Übergang zur bitteren oder schwierig zu erfassenden Wahrheit. Unter der Hülle aus Zucker ist die gemeinte Wahrheit im Grunde doch identisch, ob sie nun rein in der Philosophie oder sinnlich und populär in der Poesie vermittelt wird. Die bei Breitinger vorausgesetzte Harmonie zwischen philosophischer Wahrheit und ihrer poetischen Darstellung ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Seit ihren Anfängen wird die Geschichte der Philosophie von dem Motiv begleitet, ihre Wahrheiten müssten mit großer Vorsicht kommuniziert werden, weil sie den Massen nicht zuträglich seien. Mittelalterliche Philosophen wie Averroës – und möglicherweise auch Maimonides – waren, ihrem großen Lehrer Aristoteles folgend, der Überzeugung, die Philosophie führe notwendig zu der Auffassung, die Welt sei von Ewigkeit her. Sie meinten indes, man dürfe das nicht offen sagen, weil zu viel an der Lehre von Gott als dem Weltschöpfer hänge. Unzählige Philosophen glaubten nicht an die Höllenstrafen und meinten dennoch, diese müssten unbedingt gelehrt werden, da sonst der böse Trieb bei den Unwissenden nicht im Zaum gehalten werden könne. Die Philosophie hat demnach eine exoterische und eine esoterische Seite: Innen ist Wahrheit, außen aber ist die Bequemung an die herrschenden Meinungen und das Zuträgliche. Der englische Deist John Toland spricht im frühen 18. Jahrhundert von einer ›twofold philosophy‹ und meint, dass die Philosophie in diesem Sinn immer zweifach, doppelt gewesen sei: »External, or popular and depraved« und »Internal, or pure and genuine«.9 Und der englische _____________ 6 7
8 9
Deupmann, Christoph: ›Furor satiricus‹. Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2002 (Studien zur deutschen Literatur 166), S. 95. »Während die Wirkungsästhetik der ›horazisch-heiteren‹ Satire sich im Bildbereich der ›sanften‹ Pharmakotherapie eine angemessene Metaphorik reserviert, erkennt die Aggressivität der ›juvenalisch-ernsthaften‹ Schreibweise sich in den ›aggressiven‹ Maßnahmen der Chirurgie wieder, in der medizinischen Gestalt einer heilsamen Gewalt« (Deupmann: ›Furor satiricus‹ (Anm. 6), S. 140). Generell zur Satire als medicina mentis vgl. ebd., S. 84-153 (sowie insbesondere zur verzuckerten Pille S. 94-103). Der locus classicus hierfür war Horaz: Satiren I, 1, 25f.: »ut pueris olim dant crustula blandi | doctores, elementa velint ut discere prima –«. Toland, John: Pantheisticon: or, the Form Of Celebrating the Socratic-Society. Divided into Three Parts. Which Contain, I. The Morals and Axioms of the Pantheists; or the
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Bischof William Warburton, anders als Toland ein Apologet des Christentums und der anglikanischen Kirche, widmet in seinem umfänglichen, europaweit vielgelesenen Hauptwerk The Divine Legation of Moses (1738/41) ein ganzes Buch der Frage, wie es die antiken Philosophen denn mit der Lehre vom Jenseits, der Lehre eines »future state« der Seele hielten. 10 Das Ergebnis Warburtons: Alle antiken Philosophen – mit der einen Ausnahme des Sokrates – haben nicht an ein Jenseits geglaubt und es dennoch für unverzichtbar gehalten, dass der Menge Belohnung und Bestrafung in einem anderen Leben in Aussicht gestellt werde, um sie zu disziplinieren und das Gemeinwesen zu erhalten.11 Voltaire hielt eine solche Diskrepanz zwischen den eigentlichen Lehren der Philosophie und dem, was populär vorgetragen wurde, für unproblematisch; er war sogar der Ansicht, dass Philosophie generell – und vielleicht hatte er ja Recht – völlig unschädlich sei. »D’ailleurs«, schreibt er in seinen Lettres philosophiques (im 13. Brief, der von John Locke handelt): […] il ne faut jamais craindre qu’aucun sentiment philosophique puisse nuire à la religion d’un pays. […] Divisez le genre humain en vingt parts, il y en a dix-neuf composées de ceux qui travaillent de leurs mains, et qui ne sauront jamais s’il y a un M. Locke au monde; dans la vingtième partie qui reste, combien trouve-t-on peu d’hommes qui lisent? et parmi ceux qui lisent, il y en a vingt qui lisent des romans contre un qui étudie la philosophie. Le nombre de ceux qui pensent est excessivement petit, et ceux-là ne s’avisent pas de troubler le monde.12
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Brotherhood. II. Their Deity and Philosophy. III. Their Liberty, and a Law, neither deceiving, nor to be deceived. To which is prefix’d a Discourse upon the Antient and Modern Societies of the Learned, as also upon the Infinite and Eternal Universe. And subjoined, a short dissertation upon a Two-fold Philosophy of the Pantheists, that is to be followed; together with an Idea of the best and most accomplished Man. Written Originally in Latin, by the Ingenious Mr. John Toland. And now, for the first Time, faithfully rendered into English. London 1751, S. 57. – Zum zeitgenössischen englischen Kontext der ›twofold philosophy‹ vgl. Harrison, Peter: ›Religion‹ and the religions in the English Enlightenment. Cambridge – New York – Port Chester – Melbourne – Sydney 1990, S. 85-92. Warburton, William: The Divine Legation of Moses Demonstrated, on the Principles of a Religious Deist, From the Omission of the Doctrine of a Future State of Reward and Punishment in the Jewish Dispensation. Volume 1. London 1738, S. 295-443. Warburton findet die ›double doctrine‹ überall in der antiken Philosophie, von Pythagoras über Plato bis Seneca. Ihr Motiv ist ein zutiefst politisches – »to strike a Terror in the childish Imaginations of the Multitude«, wie Warburton mit Strabo dem Geographen ausführt: »For it is impossible to govern Women and the common People, and to keep them pious, holy, and virtuous, by the Precepts of Philosophy: This can be only done by Superstition« (Warburton: The Divine Legation of Moses (Anm. 10), S. 302f.). – Zur Ausnahme des Sokrates vgl. ebd., S. 326. Voltaire: Lettres Philosophiques [Lettre XIII]. In: Œuvres complètes de Voltaire. Nouvelle édition avec notices, préfaces, variantes, table analytique, les notes de tous les commentateurs et des notes nouvelles. Conforme pour le texte à l’édition de Beuchot. Enrichie des découvertes les plus récentes et mise au courant des travaux qui ont paru jusqu’à ce jour
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In dieses Feld der Spannung zwischen der nur Wenigen zugänglichen reinen Wahrheit der Philosophie und den populären Lehren für die Vielen kann die Religion auf verschiedene Weisen eintreten. In der philosophischen Apologetik des Christentums, die sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts findet, gilt die christliche Religion als die einzige Weise, in der die Kluft zwischen der Wahrheit und der Popularität überbrückt werden kann. Es war nach dieser Auffassung gerade das Versagen der antiken Philosophen, dass sie in den wichtigsten Angelegenheiten der Menschen zu keiner einheitlichen Überzeugung gelangten, sondern einander unaufhörlich widersprachen. Wer sich an die antiken Philosophen um Rat in den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens wandte, so etwa der bereits genannte John Locke in seiner Reasonableness of Christianity, der betrat einen »wild Wood of uncertainty«, ein »endless maze«.13 Und hatten die Philosophen einmal Wahrheit erkannt, so konnten sie diese doch nicht populär machen: They kept this Truth locked up in their own breasts as a Secret, nor ever durst venture it amongst the People […]. Hence we see that Reason, speaking never so clearly to the Wise and Virtuous, had never Authority enough to prevail on the Multitude; and to perswade the Societies of Men, that there was but One God, that alone was to be owned and worshipped.14
Das Christentum hingegen sprach sowohl die Wenigen als auch die Vielen an: »as it suits the lowest Capacities of Reasonable Creatures, so it reaches and satisfies, Nay, enlightens the highest«.15 Das »College made up for the most part of ignorant, but inspired Fishermen«16 war den Philosophen überlegen, weil es gewisse Wahrheiten mit Evidenz versah, auf die die Vernunft niemals von selbst hätte kommen können – und es erreichte trotzdem die Menge, weil es sich nicht auf Argumente und komplizierte Gedankengänge verließ, sondern einfache Lehren und Gebote mit aus vollbrachten Wundern bezogener Autorität vortrug. Eben diese Auffassung des Christentums, nach der es zugleich überschwänglich wahr und dem Fassungsvermögen des großen Haufens ange_____________
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précédée de la vie de Voltaire par Condorcet et d’autres études biographiques. Ornée d’un portrait en pied d’après la statue du foyer de la Comédie-Française. Tome 22: Mélanges I. Paris 1879, S. 75-187, hier S. 126. − Es sind Voltaire zufolge nicht Montaigne, nicht Locke, nicht Bayle, nicht Spinoza, nicht Hobbes, nicht Lord Shaftesbury, nicht Collins, nicht Toland, die die Fackel der Zwietracht in ihr Vaterland getragen haben, sondern – die Theologen. Locke, John: The Reasonableness of Christianity. As delivered in the Scriptures. Edited with an Introduction, Notes, Critical Apparatus and Transcriptions of Related Manuscripts by John C. Higgins-Biddle. Oxford 1999 (The Clarendon Edition of the Works of John Locke), S. 154. Locke: The Reasonableness of Christianity (Anm. 13), S. 144. Locke: The Reasonableness of Christianity (Anm. 13), S. 159. Locke: The Reasonableness of Christianity (Anm. 13), S. 150.
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messen sei, geriet jedoch mit dem Erstarken der Religionskritik im Laufe des 18. Jahrhunderts mehr und mehr in die Krise. Wie etwa, wenn bestimmte Lehren der christlichen Religion, z. B. die Lehre von der Auferstehung, nicht wahr, sondern falsch wären? Dann bliebe die Überlegenheit der Philosophie als Wahrheitsquelle erhalten, und die Religion wäre bloß populär und nicht überschwänglich wahr. Vor diesem Hintergrund drängten sich im 18. Jahrhundert zwei andere Auffassungen der Religion aus philosophischer Perspektive auf: Zum einen konnte die Religion (oder dasjenige an ihr, was nicht mit der esoterischen Wahrheit der Philosophie harmonierte) als falsch abgetan werden (dies führt natürlich dazu, dass man sich als Philosoph exoterisch tatsächlich Ansichten anbequemt und sich womöglich auch öffentlich zu ihnen bekennt, an die man selbst nicht glaubt); zum andern wäre es aber auch möglich, dass die Religion in wie immer verfälschter und entstellter Form doch eben jene Wahrheit lehrte, die im Besitz der Philosophie ist (man hätte dann die Option, die Religion so zu deuten, dass die esoterische Wahrheit doch noch aus ihr hervorspränge). Mit anderen Worten: Die Alternative für den Philosophen bestünde in der Allegorese der Religion. In dieser (leicht prekären) Harmonie zwischen der sinnlich-populären Gestalt der Religion und der philosophischen Wahrheit läge dann auch eine strukturelle Gemeinsamkeit der Religion mit der Poesie, wie sie Breitingers Poetik vorstellt. Auch die Religion wäre demnach eine Art von verzuckerter Pille, in der ›abgezogene Wahrheit‹ indirekt und sinnlich gelehrt würde.
III Ich habe für mein bisheriges Argument ausschließlich Texte und Autoren der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Anspruch genommen – Lockes Abhandlung, aus der ich einiges zitiert habe, stammt sogar noch aus dem letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts. Natürlich erhebt sich die Frage, inwieweit die von mir skizzierte strukturelle Gemeinsamkeit zwischen Religion und Poesie im ausgehenden 18. Jahrhundert − im Kontext der Herausbildung des deutschen Idealismus und der Frühromantik − noch Relevanz hat. Die Antwort auf diese Frage lautet: vielleicht mehr, als man auf den ersten Blick denken würde. Im Gefolge der Neuinterpretation der Philosophie der Aufklärung durch Panajotis Kondylis17 ist in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Arbeiten erschienen, die im Geistesleben der zweiten Hälfte des 18. Jahr_____________ 17
Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981.
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hunderts eine Aufwertung der Sinnlichkeit am Werk sehen und den Künsten und ihrer philosophischen Thematisierung in einer sich langsam herausbildenden eigenen Disziplin, der Ästhetik, die entscheidende Rolle bei dieser Aufwertung zusprechen.18 Die Zurückdrängung des für das 17. Jahrhundert so bedeutsamen Stoizismus19 sowie die zunehmende Marginalisierung der christlichen Erbsündelehre lassen das Misstrauen gegenüber und das Leiden unter der Sinnlichkeit in den Hintergrund treten; man beginnt dem verkannten menschlichen Vermögen so viel Vertrauen zu schenken wie selten zuvor. Indes wurde dabei vielfach übersehen, dass die Aufwertung der Sinnlichkeit nur einen einzelnen Strang in der Mentalitätsgeschichte des 18. Jahrhunderts darstellt. Insbesondere bleibt die Folie, von der sich die Aufwertung der Sinnlichkeit abhebt, nämlich deren traditionelle Geringschätzung, in manchen Gebieten des Geistes und insbesondere innerhalb der Philosophie durchaus intakt. Nicht umsonst lässt sich Kants praktische Philosophie als Versuch lesen, die stoische Vernunfthegemonie unter modernen Bedingungen zu rekonstruieren. Und das instrumentelle Verhältnis, das in der Aufklärungspoetik die Vernunft zur Sinnlichkeit unterhält, bleibt bis zu den Anfängen des deutschen Idealismus zumindest insoweit erhalten, als eine Hinordnung der sinnlichen Gestalt der Poesie auf höhere, das Sinnliche übersteigende Vernunftzwecke weiterhin als selbstverständlich empfunden wird. Kant zögerte nicht, im berühmten § 59 der Kritik der Urteilskraft das Schöne »das Symbol des Sittlichguten« zu nennen.20 Und Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung, so sehr sie bereits von der Tendenz Zeugnis ablegen, das Schöne selbst für das Höchste zu erklären, deklarieren doch auch noch die Vernunft als die Bestimmung des sinnlichen Menschen – und die Ästhetik als den Weg, den man einschlagen sollte, um dieses Ziel zu erreichen.21 _____________ 18
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Vgl. etwa Braungart, Georg: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne. Tübingen 1995 (Studien zur deutschen Literatur 130); Mülder-Bach, Inka: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ›Darstellung‹ im 18. Jahrhundert. München 1998; Laak, Lothar van: Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Communicatio 31); Oschmann, Dirk: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007. Vgl. dazu Abel, Günter: Stoizismus und frühe Neuzeit. Zur Entstehungsgeschichte modernen Denkens im Felde von Ethik und Politik. Berlin − New York 1978. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, § 59, B 258. »Mit einem Wort: es gibt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht« (Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [23. Brief]; in: Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert herausgegeben von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. Band V: Erzählungen − Theoretische Schriften. Herausgegeben von Wolfgang Riedel. München − Wien 2004, S. 570-669, hier S. 641). – Kein andrer Weg, der Sinnlichkeit des Menschen
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Auch die maßvolle allegorische Umdeutung der Lehren der Religion hin auf philosophische Wahrheit kann über das 18. Jahrhundert hinweg bis hinein in den deutschen Idealismus verfolgt werden. Lessings Erziehung des Menschengeschlechts – ein Grundtext für so gut wie alle Idealisten und Frühromantiker – hat mit seiner Lehre von der allmählichen Umbildung von Offenbarungswahrheit in Vernunftwahrheit einen Vorgeschmack gegeben und exemplarisch einige philosophische Allegoresen wichtiger Lehrstücke der christlichen Theologie – »Vernünfteleien über die Geheimnisse der Religion« – geliefert: der Trinitätslehre in § 73, der Lehre von der Erbsünde in § 74 und der Satisfaktionslehre in § 75.22 Sowohl Kant wie Fichte folgen dann der gemäßigt religionskritischen Maxime, mit der überlieferten Religion nicht zu brechen, sondern sie maßvoll neu zu interpretieren und damit auf den Stand der neuesten Philosophie zu bringen. Kant liefert in seiner Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793, 21794) allegorische Auslegungen wichtiger biblischer Textstücke, etwa des Sündenfalls, der Erlösung durch Christus und des Endes der Welt.23 Signifikant ist die Bibel, Signifikate sind die jeweils relevanten Lehrstücke der kantischen Moralphilosophie. In Kants Lektüre der Bibel liest man auf recht erheiternde Weise neben der merkwürdig verfremdeten biblischen Erzählung immer schon die in sie hineingearbeitete moralphilosophische Perspektive mit. Ganz ähnlich verfährt Fichte in seinem Versuch einer Kritik _____________
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aufzuhelfen – es ist an solchen Stellen, dass das tiefe und angesichts seines Themas verwunderliche Stillschweigen, welches Schiller in seinem Text gegenüber der Religion beobachtet, dem Leser auffällig wird. Dieses Stillschweigen wird nur äußerst selten durchbrochen – und dann, um der Religion mittels eines Rückgriffs auf die Sprache der Religionskritik einen Platz in einer gottlob überwundenen Vergangenheit anzuweisen: »Das Zeitalter ist aufgeklärt […]. Der Geist der freien Untersuchung hat die Wahnbegriffe zerstreut, welche lange Zeit den Zugang zu der Wahrheit verwehrten, und den Grund unterwühlt, auf welchem Fanatismus und Betrug ihren Thron erbauten« (ebd. [8. Brief], S. 591). Lessing, Gotthold Ephraim: Die Erziehung des Menschengeschlechts; in: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann. Band 10: Werke 1778-1781. Herausgegeben von Arno Schilson und Axel Schmitt. Frankfurt/M. 2001 (Bibliothek deutscher Klassiker 176), S. 7399, hier S. 93f. (Zitat S. 94, § 76). Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Mit einer Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Bettina Stagneth. Hamburg 2003 (Philosophische Bibliothek 545). − Zu Sündenfall und Erlösung vgl. S. 103-109 (B 106-114); zum Weltende vgl. S. 182-186 (B 202-206). – Die allgemeine Bemerkung, mit der Kant die Nacherzählung von Sündenfall und Erlösung abschließt, verwendet die traditionelle Terminologie der Allegorese: Die »lebhafte und wahrscheinlich für ihre Zeit auch einzige populäre Vorstellungsart« der Bibel muss ihrer »mystischen Hülle« (integumentum) durch die philosophische Auslegung »entkleidet« werden – dann ergibt sich der »Sinn«, »daß es schlechterdings kein Heil für die Menschen gebe, als in innigster Aufnehmung echter sittlicher Grundsätze in ihre Gesinnung« (ebd., S. 109 [B 114f.]).
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aller Offenbarung von 1792, mit dem er sich bei Kant einführte und der nicht zuletzt wegen seiner konzeptionellen Nähe zu Kant zunächst von einigen für das lang erwartete religionsphilosophische Werk Kants, gleichsam die ›vierte Kritik‹, gehalten werden konnte.24 Fichte stellt in diesem Werk – selbstverständlich der kantisch-fichteschen Moralphilosophie entnommene – Kriterien auf, nach denen sich beurteilen lasse, ob eine behauptete göttliche Offenbarung als solche in Frage komme oder nicht. Ist, obzwar ohne logische Durcharbeitung und in sinnlicher Verkleidung, die Reinheit der Moralität in einer behaupteten Offenbarung gewahrt, so könne es sein, dass es sich tatsächlich um eine göttliche Offenbarung handelt. Wozu aber überhaupt eine zusätzliche Offenbarung, wenn sie sich inhaltlich nicht vom Moralgesetz unterscheiden darf und dieses jedermann ohnehin bereits bekannt ist? Nun, dies gebietet die Rücksicht auf das Sinnenwesen Mensch: »Ganz rein von Sinnlichkeit ist in concreto keine Religion; denn die Religion überhaupt gründet sich auf das Bedürfnis der Sinnlichkeit«.25 Damit aber sind wir bei einer Definition von Offenbarung und Religion, die sich aus dem geschichtlichen Hintergrund der ›twofold philosophy‹ herleitet; sie charakterisiert Offenbarung und die auf ihr aufbauende Religion als eine pädagogische, massentaugliche, exoterische und der Philosophie unterlegene Disziplin. Offenbarung besteht in »versinnlichenden Vorstellungen reiner Vernunftideen«.26 Und: »Der Zweck aller dieser Belehrungen ist kein andrer, als Beförderung reiner Moralität, und der der versinnlichenden Darstellung derselben insbesondre Beförderung reiner Moralität in dem sinnlichen Menschen«.27 In die Sinnlichkeit ansprechende Symbole verkleidet, sagt die Religion eine Wahrheit, die die Philosophie unentstellt zu sagen und auf die hin sie die Religion zu interpretieren weiß.
IV Als die Frühromantiker mit dem Gedanken einer ›Kunstreligion‹ zu experimentieren beginnen, können sie auf Traditionen der Aufklärung zurückgreifen, dergestalt dass eine versinnlichende Darstellung von philosophischer Wahrheit sowohl ein Merkmal der Poesie als auch ein Merkmal der _____________ 24 25 26 27
Vgl. Rohs, Peter: Johann Gottlieb Fichte. München 1991 (Beck’sche Reihe 521. Große Denker), S. 12f. Fichte, Johann Gottlieb: Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792). Herausgegeben und eingeleitet von Hans Jürgen Verweyen. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek 354), S. 32 (Anmerkung zu § 3). Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung (Anm. 25), S. 97 (§ 10). Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung (Anm. 25), S. 92 (§ 10).
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Religion sei. Beides sei nötig um der Popularität willen, die der Philosophie nun einmal nicht zugänglich sei. Von der ›twofold philosophy‹ erbt die Frühromantik mithin die Überzeugung, dass es sinnliche Darstellungen der philosophischen Wahrheit gebe. Diese müssen sich einerseits auf dem Stand der aktuellen Philosophie, des Idealismus, befinden und andererseits die Eingängigkeit und Verbreitung einer das Bedürfnis der Sinnlichkeit befriedigenden Religion aufweisen. Die Forderung nach einer ›neuen Mythologie‹ hat dort, wo sie in Idealismus und Frühromantik auftritt, genau dieses Doppelgesicht: so im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus, wo der geforderte »Polytheismus d[e]r Einbildungskraft u. der Kunst« zum »Monotheismus der Vern[unft] des Herzens« passen und die »neue Mythologie« eben eine »Mythologie der Vernunft« sein soll;28 oder in Friedrich Schlegels Rede über die Mythologie, wo es Aufgabe der neuen Mythologie ist, ihre schöne poetische Verwirrung auf dem Niveau von Schellings Naturphilosophie anzurichten. Es stellt sich natürlich die Frage, warum die sinnlichen Darstellungen und Symbole der christlichen Offenbarungsreligion, die bislang genügt haben, nun auf einmal nicht mehr genügen und es eine ›neue Mythologie‹ oder eine ›neue Religion‹ (so etwa wörtlich mehrfach bei Schlegel und Schelling), eine Kunstreligion sein muss. Eine strukturelle Verwandtschaft zwischen Religion und Kunst ist schließlich noch kein konkretes Motiv dafür, das eine durch das andere zu ersetzen. Natürlich wird man das jegliches Pathos des Neuen begünstigende Zeitklima der Französischen Revolution in Rechnung stellen müssen; die Leichtigkeit, mit der Fichte behauptet, dass seine Schriften »etwas dem Zeitalter ganz Neues«29 enthalten, oder Schelling sein System ein System nennt, »welches die ganze, nicht bloß im gemeinen Leben sondern selbst in dem größten Theil der Wissenschaften herrschende Ansicht der Dinge völlig verändert und sogar umkehrt«,30 spricht hier Bände. Auch dies trägt jedoch, obwohl es die erstaunliche Emphase auf das Neue im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts erklären mag, nichts zu der Frage bei, warum _____________ 28
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich / Hölderlin, Friedrich / Schelling, Friedrich Wilhelm: Das sogenannte Älteste Systemprogramm; in: Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen. Herausgegeben von Manfred Frank und Gerhard Kurz. Frankfurt/M. 1975 (stw 139), S. 110-112, hier S. 111f. Fichte, Johann Gottlieb: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Vorerinnerung, Erste und Zweite Einleitung, Erstes Kapitel (1797/98). Auf der Grundlage der Ausgabe von Fritz Medicus neu herausgegeben von Peter Baumanns. 2. verbesserte Auflage. Hamburg 1984 (Philosophische Bibliothek 239), S. 3. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: System des transcendentalen Idealismus (1800); in: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Ausgewählte Schriften. Band I: Schriften 1794-1800. Frankfurt/M. 1985 (stw 521), S. 395-702, hier S. 397.
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sich die Propagierer einer neuen Religion ausgerechnet auf Kunst und Poesie werfen. Warum also dies? Drei Motive scheinen mir besonders wichtig. Die ›twofold philosophy‹ hatte bereits ein Ende mit jener Auffassung gemacht, die von christlichen Apologeten aller Couleur weiterhin vertreten wurde: die von der einen vera religio, der die vielen falsae religiones gegenüberstünden. Wenn die Religion ohnehin nur eine sinnliche, entstellte Abschattung der Wahrheit sein sollte, dann war es absurd anzunehmen, dass es nicht mehrere solcher Abschattungen der Wahrheit geben und man sich andere Religionen nicht genauso deutend zurechtlegen könne wie das Christentum. »Truths«, hieß es etwa bei Ralph Cudworth, dem gelehrten Verfasser des True Intellectual System of the Universe, »are not multiplied, by the Diversity of Minds that apprehend them; because they are all but Ectypal Participations of one and the same Original or Archetypal Mind, and Truth«.31 Strukturverwandt mit dem neuzeitlichen Neuplatonismus (und wohl wichtiger für die Frühromantiker als dieser) war die Metaphysik Spinozas mit ihrer Lehre von der einen Substanz, die sich in unendliche Modi auseinanderlege, eben darum aber in jedem solchen Modus apperzipierbar sei. Die Attraktivität der Kunst und ihr Vorzug gegenüber der Offenbarungsreligion bestand in dieser Hinsicht in ihrer undogmatischen Vielfalt – die Kunst hielt viele je individuelle Repräsentationen des großen Ganzen bereit, passender als die eine Offenbarungsreligion, die von den verschiedenen Individuen Beugung unter ihre Tradition verlangte. Auf dieses Bedürfnis nach Flexibilität und Liberalität hatte bereits Fichte in seinem Versuch einer Kritik aller Offenbarung hingewiesen: […] so ist es Kriterium, zwar nicht der Göttlichkeit einer Offenbarung, aber doch ihrer möglichen Bestimmung für viele Völker und Zeiten, wenn die Körper, in die sie den Geist kleidet, nicht zu fest, und zu haltbar, sondern von einem leichten Umrisse, und dem Geiste verschiedener Völker und Zeiten ohne Mühe anzupassen sind. Eben dies gilt von den Aufmunterungs- und Beförderungsmitteln zur Moralität, die eine Offenbarung empfiehlt. Unter der Leitung einer weisen Offenbarung, die in weisen Händen ist, sollten die erstern und letztern immer mehr von ihrer Beimischung grober Sinnlichkeit ablegen, weil sie immer entbehrlicher werden sollte.32
Die Frühromantiker zogen aus der gleichen Problemlage, vor der Fichte stand, die Konsequenz, dass Offenbarungen nicht möglichst flach, leer und unbestimmt, sondern möglichst reich und vielfältig zu sein hätten – ein Motiv für die Option auf Kunst. _____________ 31
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Cudworth, Ralph: The True Intellectual System of the Universe (1678). Reprint Hildesheim – New York 1977, S. 737. − In der Tat war es einer der Hauptzwecke von Cudworths System, die Harmonie von hermetischer Tradition und antiker Philosophie einerseits (›Philosophick Cabbala‹) und Christentum andererseits zu erweisen. Fichte: Versuch einer Kritik aller Offenbarung (Anm. 25), S. 97.
Funktionale Äquivalenz von Religion und Poesie im 18. Jahrhundert
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Streng nach spinozistischer Metaphysik müsste jedes Blümlein auf dem Felde den gleichen Anspruch auf Rapport mit dem großen Ganzen haben wie das gelungenste Kunstwerk. Das zweite Motiv für die Kunst antwortet auf diesen Einwand: Das Blümlein auf dem Felde mag zwar von der einen Substanz wie alles andere durchwaltet werden, ist jedoch keine Darstellung des Ganzen. Im Schlegelkreis zeigte vor allem Schelling eine große Vorliebe für solche Poesie, die tatsächlich beanspruchen konnte, als Darstellung des Ganzen zu gelten (Dante an vorderster Stelle).33 Die Harmonie des Universums, der Zusammenhang des großen Ganzen soll sich ›im Kleinen‹ (so ein Ausdruck von Karl Philipp Moritz)34 zeigen können, was insbesondere im formal harmonischen Kunstwerk funktioniert. Für Friedrich Schlegel und vor allem für Novalis scheint daneben und komplementär eine bedeutende Rolle gespielt zu haben, wie sich innere Unendlichkeit als Eigenschaft eines Kunstwerks zeigt. Fichte und Spinoza zu vereinen, war nicht umsonst einer der die Zeitgenossen verwirrenden Slogans der Frühromantiker.35 Die Rolle, die Begriffe wie Fantasie oder Ironie für die frühromantische Poetik spielen, gehört in diesen Zusammenhang. Schließlich – drittes Motiv – ändert sich in der Frühromantik auch der Charakter der im Zentrum der ›twofold philosophy‹ stehenden Wahrheit. So sehr hier bei jedem Philosophen andere Wahrheiten gemeint sein konnten, so sehr war es doch – von Lord Herbert of Cherburys ›five com_____________ 33
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Vgl. [Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von]: Ueber Dante in philosophischer Beziehung; in: Kritisches Journal der Philosophie. Herausgegeben von Fr[iedrich] Wilh[elm] Joseph Schelling und Ge[org] Wilhelm Fr[iedrich] Hegel. Zweiten Bandes drittes Stück. Tübingen 1803, S. 35-50. »Jedes schöne Ganze aus der Hand des bildenden Künstlers, ist daher im Kleinen ein Abdruck des höchsten Schönen im großen Ganzen der Natur« (Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen; in: Moritz, Karl Philipp: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 2: Popularphilosophie − Reisen – Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), S. 958-991, hier S. 969). Das sachliche Motiv für den Slogan wird klar benannt im Abschluß des Lessing-Aufsatzes: »Alle Gedanken eines Spinosa, eines Fichte könnt Ihr auf einen einzigen Zentralgedanken reduzieren, und diese über die allgepriesne Konsequenz ebenso weit erhabne als ganz von ihr verschiedne Identität des ganzen Stoffs kann Euch lehren, daß dieser hier die Hauptsache sei, wenn Ihr die Bemerkung hinzunehmt, daß die Form selbst bei jedem dieser beiden kühnsten und vollendetsten Denker nur ein Ausdruck, Symbol und Widerschein des Inhalts ist, nämlich des Wesentlichen, des einen und unteilbaren Mittelpunkts des Ganzen. Darum ist die Form des Einen die der Substanz und Permanenz, Gediegenheit, Ruhe und Einheit, die des andern Tätigkeit, Agilität, rastlose Progression, kurz der diametrale Gegensatz der ersten« (Schlegel, Friedrich: [Abschluß des Lessing-Aufsatzes]; in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben von Hans Eichner. München − Paderborn − Wien − Zürich 1967, S. 397-419, hier S. 413).
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Bernd Auerochs
mon notions‹ bis hin zur ›reinen Moralität‹ Kants und Fichtes – klar, dass die gemeinte Wahrheit aussprechlich sei. Eben dies sicherte ja den Vorrang der Philosophie vor der Offenbarungsreligion und gab der Allegorese der religiösen Texte und der Glaubensüberzeugungen die richtige Richtung. Nimmt man hingegen die Unaussprechlichkeit der im Zentrum stehenden Wahrheit an, so verliert zunächst die indirekte Darstellung ihre Nachrangigkeit. Ist die Wahrheit unaussprechlich und damit in direkter Form undarstellbar, so ist man grundsätzlich auf indirekte Darstellungen verwiesen, um auf sie überhaupt hinweisen zu können und aufmerksam zu machen. Unter den Frühromantikern ist es Friedrich Schlegel, der besonderen Wert auf diese direkte Undarstellbarkeit gelegt hat. »Mit andern Worten«, sagt Ludoviko im Gespräch über die Poesie: »alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen«.36 Auch dies bedingt die Höchststufung der Poesie, die in der Kunst der indirekten Darstellung eben die Geübteste ist. »Darum sind die innersten Mysterien aller Künste und Wissenschaften ein Eigentum der Poesie«.37 Diese Unaussprechlichkeit der Wahrheit hat auch die merkwürdige Konsequenz, dass die Philosophie ihren Thron, den sie in der von mir bislang dargestellten Tradition unangefochten innehatte, räumen muss. Ins Zentrum – und sofort gewinnt dieser Terminus einen mystischen, an Jakob Böhme erinnernden Beiklang – rückt bei Schlegel wieder die Religion als Hort des Unaussprechlichen. Die Philosophie wird zu einer Art Propädeutik, um zur Religion durchzustoßen; die Poesie hingegen ist das geeignete Medium, die gefundene (unendliche) Religion (indirekt) zu artikulieren: Die Philosophie selbst ist doch nur Organon, Methode, Konstitution der richtigen d. h. der göttlichen Denkart, welche eben das Wesen der wahren Poesie ausmacht; sie ist also nur Bildungsanstalt, Werkzeug und Mittel zu dem, was die Poesie selbst ist.38
»Wer Religion hat, wird Poesie reden. Aber um sie zu suchen und zu entdecken, ist Philosophie das Werkzeug«.39 – Oder: »Wo die Philosophie _____________ 36
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Schlegel, Friedrich: Gespräch über die Poesie; in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben von Hans Eichner. München − Paderborn − Wien − Zürich 1967, S. 284-351, hier S. 324. Schlegel: Gespräch über die Poesie (Anm. 36), S. 324. Schlegel, Friedrich: Literatur; in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Dritter Band: Charakteristiken und Kritiken II (1802-1829). Herausgegeben von Hans Eichner. München − Paderborn − Wien − Zürich 1975, S. 3-16, hier S. 7. Schlegel, Friedrich: Ideen 34; in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Zweiter Band:
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aufhört, muß die Poesie anfangen«.40 Sehr ironisch ist das Schicksal, das bei dieser Umdeutung Fichte trifft. Denn während er selbst gewiss der Meinung war, dass alle Religion, sofern sie sich überhaupt als kompatibel mit der Philosophie erwies, allenfalls eben Philosophie in Form der Religion war und darum einer Allegorese bedurfte, schrieb Schlegel in seinen Ideen zur Rechtfertigung Fichtes im Atheismusstreit 1799 den Aphorismus nieder: Fichte also soll die Religion angegriffen haben? – Wenn das Interesse am Übersinnlichen das Wesen der Religion ist, so ist seine ganze Lehre Religion in Form der Philosophie.41
V Es tut gelegentlich gut, sich daran zu erinnern, dass die Lebewesen, die sich in einzelnen geistigen Traditionen, Disziplinen und Kulturgebieten bewegen und sie in Gang halten, Menschen sind. So wird man nicht in plötzliche Verlegenheit und Erklärungsnotstand kommen, wenn man in den wechselseitigen Beziehungen solcher geistiger Traditionen immer wieder das Moment der feindseligen Beobachtung entdeckt. Verdammung, Abwehr, Vereinnahmung, Apologie – das sind Haltungen, die dort zur Ausprägung kommen, wo, unter freiem oder bedecktem Himmel, der Geist dem anderen Prinzipien folgenden, aber dieselben Felder beackernden Geist begegnet und zur offenen oder versteckten Auseinandersetzung gezwungen ist. Die Weise, wie in der philosophischen Tradition sowohl Religion wie Poesie als Konzessionen an den sinnlichen Menschen verstanden wurden, trägt Züge einer Geste der Herablassung, die einen fremden Anspruch auf jenes Revier, das die Philosophen gerne für sich selbst reservieren würden, abwehrt. Zur Wahrheit, so kann diese Geste in Worte gefasst werden, sei sie nun theoretisch oder praktisch, ist letztlich nur die Philosophie fähig. Um nicht zur Verblendung anzuleiten, müssen die populären Vorstellungsarten sich einer philosophischen Interpretation unterwerfen, die das Falsche, welches dem Populären immer beigemischt ist, wieder absondert und das Wahre rein herauspräpariert. Naturgemäß haben sich weder Religion noch Poesie diese Behandlung gefallen lassen. Die Poesie, um nur von ihr zu reden, rächt sich an der _____________ 40 41
Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben von Hans Eichner. München − Paderborn − Wien − Zürich 1967, S. 256-272, hier S. 259. Schlegel: Ideen 48 (Anm. 39), S. 261. Schlegel: Ideen 105 (Anm. 39), S. 266. − Zur Einschätzung Fichtes durch Schlegel in dieser Phase vgl. Auerochs, Bernd: »Religion in Form der Philosophie«. Friedrich Schlegels Sicht auf Fichte (1799); in: Kritisches Jahrbuch der Philosophie 11 (2006), S. 91-107.
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Bernd Auerochs
Philosophie, indem sie deren Anspruch auf Reinheit der Erkenntnis als eine Form der Kälte und der Unlebendigkeit denunziert: Wie der Scheidekünstler, so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Verbindung und nur durch die Marter der Kunst das Werk der freiwilligen Natur. Um die flüchtige Erscheinung zu haschen, muß er sie in die Fesseln der Regel schlagen, ihren schönen Körper in Begriffe zerfleischen und in seinem dürftigen Wortgerippe ihren lebendigen Geist aufbewahren. Ist es ein Wunder, wenn sich das natürliche Gefühl in einem solchen Abbild nicht wiederfindet und die Wahrheit in dem Berichte des Analysten als ein Paradoxon erscheint?42
Sieht man die Philosophie so, so wird sie zu einer Disziplin, die die ›Wahrheit‹ verfehlt, weil sie sich nicht eng genug an die Vielfalt der Erscheinungen anschmiegen kann. Die Rangerhöhung der Poesie, die wir bei den Frühromantikern finden, verdankt der Lehre von der lebendigen Vielfalt der Poesie einiges. Und doch müssen die Frühromantiker auch den Standpunkt der Philosophie beziehen, um eben diese lebendige Vielfalt zugleich als ein Gefäß für metaphysische Wahrheit interpretieren zu können. Sachlich wird die Brücke zwischen beidem durch die spinozistische Metaphysik gebaut. Deren Plausibilität in dieser Frage aber zehrt nicht zuletzt von einer überlieferten strukturellen Verwandtschaft zwischen Religion und Poesie, die beide als populäre Ausprägungen der reinen philosophischen Wahrheit sehen lässt. Kunstreligion beginnt demnach um 1800 im Kreis der Frühromantiker als ein philosophisches Konzept. Und dieses Konzept beruht auf einer esoterischen Interpretation von Poesie bzw. Kunst.
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Schiller: Über die ästhetische Erziehung [1. Brief] (Anm. 21), S. 571. – Um die Tradition der Verteidigung der Poesie gegen die Philosophie vorzustellen, zitiere ich aus einem Text, der am Anfang des deutschen Idealismus steht. Man könnte diese Tradition weit in die frühe Neuzeit zurückverfolgen und würde dabei insbesondere in den verbreiteten Apologien der Poesie fündig werden.
STEFANIA SBARRA
Das Erlösende in der Poesie Eine Parallele zwischen Zinzendorf und Goethe Prämisse Bekanntlich war Goethe sein ganzes Leben lang ein Verehrer des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und der Herrnhuter Brüder, deren Wirken und Anschauungen ihm dank der Jugendfreundin Susanna Katharina von Klettenberg vertraut waren. Was für literarische Folgen die Begegnung mit dieser Frau und ihrer religiösen Welt zwischen Aneignung und Distanz hatte, ist schon eingehend untersucht worden und betrifft vor allem kurze Jugendwerke zur Religion (Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen), Die Leiden des jungen Werthers, die ›Bekenntnisse einer schönen Seele‹ in Wilhelm Meisters Lehrjahre sowie Faust.1 Hier möchte ich auf den Einfluss der Herrnhuter Konstellation auf einige Schwerpunkte in der Faust-Dichtung eingehen. Leider verfügt die Forschung über keine Gewissheit hinsichtlich der umfangreichen Herrnhuter Schriften, die Goethe selber gelesen haben kann. Was ich zunächst festhalten will, um meine Hypothesen plausibel zu machen, ist die Tatsache, dass die Figur der in Alchemie und Hermetik sehr bewanderten Klettenberg in den ›Bekenntnissen einer schönen Seele‹ mephistophelische _____________ 1
Zu Goethes Pietismusrezeption vgl. u. a. Chiarloni, Anna: Goethe und der Pietismus. Erinnerung und Verdrängung; in: Goethe-Jahrbuch 106 (1989), S. 133-159; Schneider, UlfMichael: ›Pietismus‹; in: Goethe-Handbuch in vier Bänden. Herausgegeben von Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke, Regine Otto und Peter Schmidt (†). Band 4/2: Personen – Sachen – Begriffe L – Z. Herausgegeben von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto. Stuttgart – Weimar 1998, S. 850-852; Raabe, Paul: Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 9. Mai bis 3. Oktober 1999. Halle 1999 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle 6); Goethe und der Pietismus. Herausgegeben von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6); Schrader, Hans-Jürgen: Propheten zur Rechten, Propheten zur Linken. Goethe in pietistischem Geleit; in: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag herausgegeben von Wolfgang Breul-Kunkel und Lothar Vogel. Darmstadt – Kassel 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte 5), S. 361-377; Tillmann, Thomas: Hermeneutik und Bibelexegese beim jungen Goethe. Berlin – New York 2006 (Historia Hermeneutica 2).
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Züge aufweist2 und dass im Zentrum ihrer Zinzendorf-Verehrung die sogenannte ›Sichtungszeit‹ stand. Zinzendorf selber prägte diese Bezeichnung für die Jahre 1743-50 in der Wetterauer Gemeinde in Herrnhaag: Die Blut- und Wundenästhetik, die den Kern der Herrnhuter Christologie ausmachte, wurde dort dermaßen erotisiert, dass der Graf selber aufgrund von Exzessen und den darauf folgenden Angriffen seitens der Orthodoxie die Auflösung der Gemeinde beschloss und die Entgleisungen der Herrnhaager Zeit mit dem Lukasevangelium erklärte: »Der Herr aber sprach: Simon, Simon, siehe, der Satanas hat euer begehrt, daß er euch möchte sichten wie den Weizen« (Lk 22, 31). In Bezug auf die Produktion von Gesangbüchern und die Missionsarbeit der Brüder in aller Herren Länder ist die ›Sichtungszeit‹ aber ein unumstrittener Höhepunkt in der Geschichte der Herrnhuter gewesen.3 Die über die Klettenberg vermittelte Begegnung mit dieser kontroversen Welt mag, wie im Folgenden zu beleuchten ist, als eine der zahlreichen Anregungen gelten, die Goethe den FaustStoff interessant erscheinen ließen. Was dem Helden widerfährt, könnte u. a. auch als eine Art rückgedeutete ›Sichtungszeit‹ verstanden werden, in der ein Pudel die Stelle des Lammes einnimmt und den Menschen in den Abgrund zieht, bis die Erlösung durch das Mittel der Poesie erwirkt wird.
Die Sehnsucht nach dem Ursprung Aus Dichtung und Wahrheit erfahren wir, was den jungen Goethe am Herrnhuter Pietismus fasziniert hat, nämlich dessen Ursprünglichkeit: Seit meiner Annäherung an die Brüdergemeinde hatte meine Neigung zu dieser Gesellschaft, die sich unter der Siegesfahne Christi versammelte, immer zugenommen. Jede positive Religion hat ihren größten Reiz wenn sie im Werden begriffen ist; deswegen ist es so angenehm, sich in die Zeiten der Apostel zu denken, wo sich alles noch frisch und unmittelbar geistig darstellt, und die Brüdergemeine hat hierin etwas Magisches, daß sie jenen ersten Zustand fortzusetzen, ja zu verewigen schien. Sie knüpfte ihren Ursprung an die frühsten Zeiten an, sie war niemals fertig geworden, sie hatte sich nur in unbemerkten Ranken durch die rohe Welt hindurchgewunden; nun schlug ein einzelnes Auge, unter dem Schutz
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Vgl. Dohm, Burkhard: Radikalpietistin und ›schöne Seele‹: Susanna Katharina von Klettenberg; in: Goethe und der Pietismus. Herausgegeben von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. 111-134. Zur Lyrik der ›Sichtungszeit‹ vgl. Dohm, Burkhard: Des Blutes Licht-Tinctur. Alchimistische Konzepte in Herrnhutischer Poesie; in: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Unter Mitwirkung von Barbara Becker-Cantarino, Martin Bircher, Ferdinand van Ingen, Sabine Solf und Carsten-Peter Warncke herausgegeben von Hartmut Laufhütte. Teil II. Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 35), S. 1171-1182.
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eines frommen vorzüglichen Mannes, Wurzel, um sich abermals aus unmerklichen, zufälligscheinenden Anfängen, weit über die Welt auszubreiten.4
Herrnhut inszeniert in Goethes Augen nicht weniger als eine Form von Verewigung der Anfangszeiten. Wir haben es hier mit einem Wunsch nach Ursprünglichkeit zu tun, der in der Goethezeit in Herders »Enthusiasmus des Ursprungs«5 und im außerordentlichen Erfolg Rousseaus einen Höhepunkt erreicht, einen Erfolg übrigens, für dessen Ausmaß in Deutschland erst der Pietismus in all seinen regionalen Ausprägungen die idealen Voraussetzungen geschaffen hat.6 Sowohl bei Herder als auch im weit verbreiteten Rousseauismus geht die Verklärung alles Ursprünglichen mit einer Kritik an der naturentfremdeten Gegenwart Hand in Hand, die als ein System von kristallisierten, das Lebendige abtötenden Normen empfunden wird. Im religiösen Diskurs des Pietismus entstehen die Sehnsucht nach der ersten Quelle des Glaubens und die damit verbundene Metaphorik des Fließens dort, wo die Orthodoxie als erstarrtes Korollar des eigentlich Unaussprechlichen ihren Reiz verloren hat. Es ist aber zugleich die Faszination, die von tief in einer fernen Vergangenheit verankerten Lebensbildern ausstrahlt und eine Beziehung zum religiös konnotierten Ursprung unterhält. Nach Mircea Eliade, um ein äußerst folgenreiches Beispiel für die Sehnsucht nach dem Ursprung zu nennen, ist das 1463 von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzte Corpus Hermeticum gerade deswegen so faszinierend für den Menschen der Renaissance, weil es die Erschließung der allerletzten Geheimnisse des Ursprungs verspricht. Dort glaubte man ein vormosaisches, auf Persien und Ägypten zurückgehendes Wissen aufbewahrt, bis der Philologe Isaac Casaubon 1614 entdeckte, dass die Texte nicht vor dem zweiten oder dritten nachchristlichen Jahrhundert verfasst sein konnten.7 Die Bereitschaft, an Texte als Zeugnisse einer fernen Vergangenheit zu glauben, taucht wieder in der Ossian-Affäre auf, einem der bedeutendsten Betrugsfälle der modernen Literatur, der auf seine Weise ebenfalls die Ursprungsobsession bedient. Und nach dem _____________ 4 5 6
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Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Herausgegeben von Klaus-Detlef Müller. Frankfurt/M. 1986 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche I 14 = Bibliothek deutscher Klassiker 15), S. 689f. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra 323), S. 266. Vgl. Gusdorf, Georges: Dieu, la nature, l’homme au siècle des lumières. Paris 1972 (Les sciences humaines et la pensée occidentale V), S. 67f. – Gusdorf rechnet Rousseau einer sogenannten ›internationale piétiste‹ zu, weil er sich durch Madame de Warens, deren Vormund François Magny ein überzeugter Pietist war, in die Welt von Madame Guyon und Fénelon vertieft habe. Bei Eliade ist von der »obsession with origins« die Rede; vgl. Eliade, Mircea: The Quest. History and Meaning in Religion. Chicago – London 1969, S. 44 (vgl. auch S. 39). – Vgl. Duerr, Hans Peter (Hrsg.): Sehnsucht nach dem Ursprung. Zu Mircea Eliade. Frankfurt/M. 1983.
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Ursprünglichen sehnt sich auch der Dichter des West-östlichen Divan, wenn er sich dem Osten zuwendet: Dort, im Reinen und im Rechten, Will ich menschlichen Geschlechten In des Ursprungs Tiefe dringen, Wo sie noch von Gott empfingen Himmelslehr’ in Erdesprachen, Und sich nicht den Kopf zerbrachen.8
Zinzendorfs Poetik als Weg zum Ursprung Von einer ausgesprochenen Sympathie für das Ursprüngliche ist auch Zinzendorfs Poetik geprägt. Im Jahr 1754/1755 unternimmt er – auf zwei Jahrzehnte zurückblickend – eine Ortsbestimmung der Herrnhuter Poetik im Rahmen der deutschen Literaturgeschichte. Dabei markiert er eine bedeutende Wende in der Liederdichtung nach Luther: Denn in dem vorigen Seculo hat, vor Martin Opitz, der frucht=bringenden gesellschaft, dem schwanen=orden, und dergleichen Dichtersocietäten, die dichtart Lutheri und der Böhm. Brüder obtinirt; von da an sind die Liederdichter aus Propheten, Poeten geworden: Und durch die ersten zehn bis zwölf Jahre unserer erneuerten Brüder=ökonomie obtinirte derselbe Genius auch in unsern Gesängen.9
Das Religiöse sei also zugunsten des Poetischen, d. h. hier des RhetorischStilistischen, beeinträchtigt worden. Die Liederdichtung habe somit einen Schritt weg vom Göttlichen getan, was sich die Herrnhuter Gemeinde in ihren Anfängen zu eigen gemacht habe. Dann aber sei es dem Verlangen nach Ursprünglichkeit gelungen, eine Kehrtwende herbeizuführen: Aber ums Jahr 1735 fing sich hierinnen eine merkliche veränderung bey uns an. Wir krigten einen vorzüglichen geschmak an der nachdrüklichen einfalt Lutheri und der Brüder. Wir sahen ihren neglect der versification für einen wahren Heroismum an. Uber der ersten ernsthaften reflexion ging es, wie in allen guten vornehmen gewöhnlich ist, ein bisgen zu weit: Denn was nicht just aus dem herzen abgesungen, sondern erst zu papier gebracht wurde, das hatte gar nichts mehr von
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Goethe, Johann Wolfgang: West-östlicher Divan. Teil 1. Herausgegeben von Hendrik Birus. Frankfurt/M. 1994 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche I 3/1 = Bibliothek deutscher Klassiker 113), S. 8-299, hier S. 12. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von: Materialien und Dokumente. Herausgegeben von Erich Beyreuther, Gerhard Meyer und Amedeo Molnár. Reihe 4: Londoner Gesangbuch. Altund Neuer Brüder-Gesang. Herausgegeben von Erich Beyreuther, Gerhard Meyer, Dietrich Meyer und Gudrun Meyer-Hickel. Band IV, Teil III. Beigebunden sind Anhänge zum Londoner Gesangbuch. Nachdruck der Ausgabe London 1749-54. Hildesheim – New York 1980, unpaginierte Vorrede.
Das Erlösende in der Poesie: Eine Parallele zwischen Zinzendorf und Goethe
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der vorigen polirung; sondern man bemühete sich, die sache auf das einfältigste, wahrhaftigste und mit einer kirchen-dezenz auszudrukken, mit völliger hintansetzung alles schmuks der rede.10
Die Faszination, die von Luther ausstrahlt, hängt mit jener Obsession für Ursprünglichkeit zusammen, die die querelle des anciens et des modernes belebt und später, wie gesagt, den enormen Erfolg Jean-Jacques Rousseaus mitverursacht.11 Es ist der Wunsch, in der Kontinuität einer verklärten, im Vergleich zum Hier und Jetzt sinnträchtigen Vergangenheit zu wirken, was bei Zinzendorf die Vorliebe für eine solche Poetik der Einfalt begründet: Wir haben zuweilen auch unter uns productionen gesehen, dagegen die politesten Dichter nicht viel einwenden dürften: Sie sind nicht unschön; aber was, so zu reden, in einem ehrbaren und schiklichen haus=negligé erscheint, das deucht uns noch schöner und originaler, denn wir können uns damit an unsre selige Vorfahren, bis zurük ins funfzehnte seculum hin, natureller und kenntbarer anschliessen.12
Die Suche nach der wahrhaften Religion deckt sich mit der Suche nach dem Ursprung bzw. nach der Ursprünglichkeit und umgekehrt. Der dem französischen Quietismus entstammende Begriff der ›Einfalt‹ spielt dabei eine zentrale Rolle.13 Mehr noch als das Kind, das durch Zinzendorf eine enorme Aufwertung als göttliches Geschöpf erfährt, ist Christus seine Verkörperung: »In der Einfalt ist nun der Heiland unser Exempel«.14 Christi Einfalt harmoniert zwar mit dem als Judicium (Urteilskraft) aufgefassten Verstand, setzt sich aber schroff von einer Vernunft ab, die sich im Urteilen selbst gefällt und deren Beschreibung im Wortschatz Rousseaus bei seinem Entgegensetzen von natur- und vernunftbetontem _____________ 10 11
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Zinzendorf: Londoner Gesangbuch (Anm. 9), unpaginierte Vorrede. Zur Rousseau-Rezeption vgl. u. a. Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Herausgegeben von Herbert Jaumann. Berlin – New York 1994; Söring, Jürgen / Gasser, Peter (Hrsgg.): Roussseauismus. Naturevangelium und Literatur. Frankfurt/M. – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1999; Sbarra, Stefania: La statua di Glauco. Letture di Rousseau nell’età di Goethe. Roma 2006 (Lingue e Letterature Carocci 60). Zinzendorf: Londoner Gesangbuch (Anm. 9), unpaginierte Vorrede. Zum Quietismus in Deutschland vgl. Schrader, Hans-Jürgen: Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur; in: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Im Auftrag der historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Hartmut Lehmann, Hans-Jürgen Schrader und Heinz Schilling. Göttingen 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 42), S. 189-225. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von: Die dreyzehnde Homilie. 13. Junii 1747. Deine erstaunliche Einfalt, Mache uns die Vernunft verhaßt!; in: Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von: Hauptschriften in sechs Bänden. Herausgegeben von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer. Band III: Reden während der Sichtungszeit in der Wetterau und in Holland – Homilien über die Wundenlitanei – Zeister Reden. Hildesheim 1963, S. 128-132, hier S. 130.
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Menschen nachklingen wird. Während in der Einfalt »eine gewisse Commodität« liegt, die beglückend ist (denken wir an die ›indolence‹ des homme naturel), ist die Sucht nach Urteilsgelegenheiten in allen Bereichen des Lebens die Pervertierung einer Gabe, die sich in einer ›Eitelkeit im Missbrauch‹ kundtut: und wenn ein Mensch einmal eine Affection drauf geworfen hat, und aus Neigung judicirt, weil ihm viel daran gelegen ist, daß er Sachen beurtheilt, weil er sich selbst darinnen gefällt; so macht die lange und viele Gewohnheit in dergleichen Verrichtungen einen Menschen intolerabel, er wird ein Esprit critique, er genießt nichts recht mehr, er wird ein boses Thier15, das immer den Stachel haussen hat, und immer mehr aufs attaquiren anderer, als auf seinen eigenen Schutz sinnt, das die Waffen, die man in der Natur hat, sich zu wehren, zum Schaden anwendet.16
Diese Pervertierung einer dem gesunden Menschenverstand ähnlichen Urteilskraft zur Vernunft entspricht in Rousseaus Psychogramm des modernen Menschen der Pervertierung des naturnahen, zu Selbsterhaltung und Mitleid dienenden amour de soi (Selbstliebe) des Naturmenschen zum naturentfremdeten, angriffs- und konkurrenzlustigen amour propre (Eigenliebe) des modernen Menschen. Zinzendorfs Christus, wie er in der oben erwähnten Homilie als Inkarnation der Einfalt dargestellt wird, ist schon eine Vorwegnahme des Naturmenschen, der im Deutschland der GoetheZeit um so mehr Fuß fasst, je mehr dessen Kultur mit Herrnhuter Pietismus durchtränkt ist. Diese Einfalt, die zum göttlichen Attribut schlechthin wird, prägt sich bei Zinzendorf auch der religiösen Lyrik ein. An Versen hafte ja ein göttliches Zeichen, das man vergebens in der Prosa suchen würde: Wenn je eine Ähnlichkeit mit der Inspiration und dem Worte Gottes zu erwarten ist, so ists in der Hymnologie … Wenn man ein Buch, das man selber geschrieben in Prosa, nach einiger Zeit wieder sieht, so gefällts einem gar nicht. Denn es sind menschliche Arten des Vortrags und Connexionen. Wenn man aber sein eigenes Lied wieder sieht, so hat man vergessen, daß man es selber gemacht und freut sich darüber, weil ein gewisses Theion darinnen liegt, es war in einer besonderen Nähe des Heilandes und communicatione spirituum, mit den guten Geistern, die Gott den Herrn loben, gemacht, die man zu andrer Zeit nicht so spürt. 17
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Vgl. Rousseaus ›animal depravé‹ im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes; in: Rousseau, Jean-Jacques: Œuvres complètes. Tome III: Du contrat social – Écrits politiques. Edition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond avec, pur ce volume, la collaboration de Franςois Bouchardy, Jean-Daniel Candaux, Robert Derathé, Jean Fabre, Jean Starobinski et Sven Stelling-Michaud. Paris 1964 (Biblio-thèque de la Pléiade 169), S. 109-194, hier S. 138. Zinzendorf: Die dreyzehnde Homilie (Anm. 14), S. 128f. Zitiert nach Kemper, Hans-Georg: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/I: Empfindsamkeit. Tübingen 1997, S. 35 und Reichel, Jörn: Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch. Bad Homburg v. d. Höhe –
Das Erlösende in der Poesie: Eine Parallele zwischen Zinzendorf und Goethe
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Das selbstverfasste Lied verliert in der Vergessenheit, in die es geraten ist, seine Kontingenz, entzieht sich somit dem Zufall der zeitbedingten Gelegenheit und nimmt an der Zeitlosigkeit des Göttlichen teil. Die dichterische Form, nicht die Prosa, bahnt den Weg zum höchsten Grad einer Sinngebung, die in der Erfahrung Gottes gipfelt. Das ›gewisse Theion‹ ist somit eher formal als inhaltlich verstanden. Darüber hinaus ist bei Zinzendorf im täglichen Umgang der Gemeindemitglieder mit Christus schon angelegt, was die Romantik mit der Idee des ›Romantisierens‹ und mit ihrer Kampfansage gegen die Trägen, d. h. die Philister, versuchen wird, wie die durchaus organisierte Agenda der verschiedenen GemeindeUntergruppen zeigt: Die Gesellschaften, die man sonst Banden nennet, sind zwey, drey und mehr auf JEsu Namen versamlete Seelen, unter denen JEsus ist, die sich besonders herzlich und kindlich über ihrem ganzen Herzenszustand mit einander besprechen, und nichts vor einander verbergen; sondern sich einander zu völliger Pflege übergeben haben in dem HErrn. Herzlichkeit, Verschwiegenheit, täglicher Umgang ist unter solchen Seelen von grossem Segen, und muß nie negligirt werden, und wo schon eine solche Trägheit eingeschlichen, muß man sogleich beschämet und gebessert werden.18
Eine ungekünstelte, im Herzen entspringende Sprache kann den Menschen in die unmittelbare Nähe von Christus versetzen. Lied und Gesang sind bevorzugte Mittel einer solchen Vergegenwärtigung des Göttlichen, das im Zustand der Inspiration zum alltäglichen Erlebnis werden soll. Die Herrnhuter Vergöttlichung des Alltags ist auch eine Poetisierung desselben, wie Zinzendorfs Bemühen um die größtmögliche Verbreitung der Liederpraxis unter den Gemeindemitgliedern belegt. Sein Mitarbeiter und Biograph Spangenberg berichtet zum Jahr 1735: Wie es dem Grafen überhaupt anlag, die Gaben der Brüder und Schwestern zu erwekken; […] so suchte er insonderheit die Liedergabe bey ihnen auf. Er glaubte, daß es bey geistlichen Liedern nicht sowohl auf schöne Worte, als auf Realitäten, und eine herzgefühlige Art des Ausdruks, ankomme. Wenn er nun an jemand, bey einem begnadigten Herzen, ein muntres Wesen verspürte; so gab er ihm Anlaß, bey vorkommender Gelegenheit seine Gedanken reimweise zu Papier zu bringen. Was ihm davon zu Handen kam, das machte er sich zu nutze, und beschämte niemand mit seiner Arbeit, ausser wenn er gewahr wurde, daß er an
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Berlin – Zürich 1969 (Ars poetica. Studien 10), S. 102. Das Original steht unveröffentlicht im Jüngerhausdiarium 1747-1760, am 5. 2. 1755. Spangenberg, August Gottlieb: Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf. 8 Bände in 4 Bänden. In: Zinzendorf, Nicolaus Ludwig von: Materialien und Dokumente. Herausgegeben von Erich Beyreuther, Gerhard Meyer und Amedeo Molnár. Reihe 2: Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Leben und Werk in Quellen und Darstellungen. Herausgegeben von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer. Band III/IV. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Barby 1773-1775. Hildesheim – New York 1971, S. 433.
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sich selbst, und an seinen Sachen, Gefallen hatte. Auf die Weise ist es geschehen, daß manches Bäuerlein, ja manches von den Knaben und Mägden, eine Uebung bekommen hat, liebliche Lieder zu machen.19
Zinzendorf versammelt dichterisch begabte Mitglieder der Gemeinde zur Übung um sich und lässt somit eine frühe Form der Kurse zum creative writing entstehen: Bisweilen nahm er solche Personen, an denen man eine Liedergabe merkte, zusammen; gab ihnen ein Thema auf, und wenn dann ein jedes das seinige fertig hatte; so las er eines nach dem andern mit ihnen durch, und unterhielt sich darüber mit ihnen zu mehrerer Einsicht: blieb aber nicht bey den Ausdrükken stehen; sondern ging auf die Sache selbst, die den Inhalt der Lieder ausmachte; und das geschahe oft mit vieler Gnade, und zum großen Segen der Anwesenden.20
Im Jahr 1744, um ein kühnes Beispiel für diese Pflege der Dichtergabe zu nennen, eröffnet Zinzendorf ein so genanntes ›poetisches Liebesmahl‹ und fordert die Schüler auf, den in folgender von ihm verfassten Strophe formulierten Topos der Wunden Christi in Versen improvisierend zu variieren: Des wundten Creuz=GOtts buntes blut, die wunden=wunden=wunden=fluth, ihr wunden! ja, ihr wunden! eur wunden=wunden=wunden=gut macht wunden=wunden=wunden=muth, und wunden, herzens=wunden. Wunden! Wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! O! ihr wunden!21
Die x-malige Wiederholung von ›Wunden‹ führt zu einer Sinnentleerung des Wortes, die in ihrem Versuch, das Göttlich-Unsagbare zu benennen, in ein tranceartiges, ansteckendes Lallen umschlägt.22 So entsteht aus einer Religion des Herzens eine sowohl subjektiv begründete als auch gemeinschaftsstiftende Poesie des Herzens, die in der Gemeinde zirkuliert und den Kern einer jeden Mitteilung im Umgang mit dem Göttlichen ausmacht.
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Spangenberg: Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen (Anm. 18), S. 918. Spangenberg: Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen (Anm. 18), S. 918f. Zitiert nach Reichel: Dichtungstheorie und Sprache (Anm. 17), S. 81. Schrader hat darauf hingewiesen, dass »Zinzendorfs Lyrik […] von der Regelpoetik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts her kaum zu fassen« sei, und geht soweit, darin eine Affinität zur konkreten Poesie und der écriture automatique zu erblicken (Schrader, HansJürgen: Zinzendorf als Poet; in: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Herausgegeben von Martin Brecht und Paul Peucker. Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 47), S. 134-162, hier S. 145).
Das Erlösende in der Poesie: Eine Parallele zwischen Zinzendorf und Goethe
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Faust und der religiöse Gesang »Der Streit zwischen studierten, spekulativ-philosophisch orientierten und ungelehrten, handwerklich am alchimistischen Werk interessierten Alchimisten durchzieht die Fachliteratur vor allem um 1700«.23 Faust, wie wir ihm im hochgewölbten gotischen Zimmer begegnen, scheint in sich diesen Streit zweier entgegengesetzter Parteien auszutragen, indem er die eigene akademische Laufbahn ablehnt. In seinem Faust-Kommentar hat Schöne als Vorlage für diese Szene auf Albrecht von Hallers Gedicht Die Falschheit menschlicher Tugenden (1730) verwiesen, das dem damaligen Lesepublikum wohl bekannt gewesen sein dürfte. Die Abwertung des akademischen Wissens ist aber auch bei Zinzendorf ein wiederkehrendes Motiv, das hier zugunsten der wahren Religion der Blut- und Wundenlehre eingesetzt wird. In einem auf 1744 datierten Lied kommt die Alternative zum akademischen Wissen in einem Pakt mit dem Lamm vor, wobei dessen Wunden die Tinte zur Unterschrift liefern. Im ersten Choral steht: Wie wenige sind die gelehrigen Hörer in welchen glänzt der Morgenstern? Wie wenige suchen beym himmlischen Lehrer von der Gelehrsamkeit den Kern?
Es folgt ein Rezitativ, das an Fausts Häufung von Titeln und Fächern erinnert: Der Stand Von der Gelahrtheit her / genannt / Die Viri honoratiores, Doctores, Meister, Professores, Consulti und Canonici, Die bey Collegiaten=Pfründen Sich ruhig und vergnügt befinden / Und solcherley Patricii, Die ihrer Wissenschaft zu Ehren Gehören Zum Adel dieser Welt; […]
Ein weiteres Rezitativ lautet: Es wäre wohl recht gut Wenn Universitæten Den selgen GnadenMuth Der auf der Leidens=Lehr beruht
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Kemper, Hans-Georg: »Göttergleich«. Zur Genese der Genie-Religion aus pietistischem und hermetischem ›Geist‹; in: Goethe und der Pietismus. Herausgegeben von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen 6), S. 171-208, hier S. 199, Anm. 106.
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Nicht könten oder wolten tödten. Das Blut War doch das einge Gut, Der Apostel und Propheten.
Und schließlich, weil das höchste Wissen nur aus Christus und der Blutund Wundenlehre zu schöpfen ist, wird in der Aria ein Vertrag mit dem Lamm beschworen: Nun Corpus Evangelicum Du alte Unitas Fratrum Und beyder Reformirten Kirchen Die ihr Lutheri Lehr=Grund treibt Dem Lämmlein aber unterschreibt, Euch zeichnen seines Rückens Fürchen. [...].24
Ohne behaupten zu wollen, dass Goethe dieses Lied beim Schreiben gegenwärtig gewesen sei (dafür fehlen die Belege), darf man doch vermuten, dass ihm über die Klettenberg und seine sonstigen den Herrnhutern nahe stehenden Bekannten diese Themen vertraut waren, die er dann im Faust um- und rückgedeutet hat. Faust ist aus Verzweiflung den falschen Vertrag eingegangen. Was ihn erlösen kann, ist die Poesie, wie im Weiteren gezeigt werden soll. Die tiefste Enttäuschung erfasst Faust nach dem Verschwinden des Erdgeistes erst dann, als er im Katalog der alten, ererbten Laborgeräte eine erdrückende Last erblickt. Sie betrübt ihn dermaßen, dass ihm der Gedanke an Selbstmord kommt. Die Masse der Gerätschaften jagt ihm eine solche Verzweiflung ein, dass er das Risiko eingeht, in ihr absolutes Gegenteil, in die Leere des Nichts, zu flüchten,25 falls ihm der Tod nicht ›neue Sphären reiner Tätigkeit‹ eröffnet.26 Plötzlich aber ertönt ein religiöser Gesang, der ihn vom Selbstmord abhält. Was ihn rettet, ist zwar nicht dessen Botschaft, denn ihm fehlt ja der Glaube,27 sondern der Klang, d. h. die Gleichzeitigkeit von Glocken und lyrischer Form der Chöre, die eine Erinnerung aktiviert:
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Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Herausgegeben von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer. Band IX: Bündingische Sammlung. Band 3. Hildesheim 1966, S. 441-447. Goethe, Johann Wolfgang: Faust eine Tragödie; in: Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Frankfurt/M. 1994 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche I 7/1 = Bibliothek deutscher Klassiker 114), S. 9-464, hier S. 44 (v. 719). Vgl. Goethe: Faust (Anm. 25), S. 44 (v. 705). Goethe: Faust (Anm. 25), S. 44 (v. 765).
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Und doch, an diesen Klang von Jugend auf gewöhnt, Ruft er auch jetzt zurück mich in das Leben.28
Die Chöre vermögen die Last des ererbten Krams zu vernichten, indem sie die Erinnerung an glückliche Zeiten erwecken. Es ist die Sehnsucht nach dem Ursprung, die unerwartet und lebensrettend eine biographische Erfüllung erhält: Dies Lied verkündete der Jugend muntre Spiele, Der Frühlingsfeier freies Glück; Erinnrung hält mich nun, mit kindlichem Gefühle, Vom letzten, ernsten Schritt zurück. O tönet fort ihr süßen Himmelslieder! Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder!29
In einer ästhetisch-mnemonischen Variation der durch den Einbruch der Gnade ermöglichten Wiedergeburt hinterlässt das auf Kunst reduzierte Göttliche selbst dort, wo der Glaube fehlt, seine lebensbejahenden Spuren in der Liederform als rettende, von der Verzweiflung erlösende Kraft, die in der Erinnerung einen neuen, vitalen Schwung erhält.30 Dass Lieder eine solche Wirkung auf das Gemüt haben können, hat Goethe schon in der Theatralischen Sendung hervorgehoben, wo der Erzähler im 13. Kapitel des Vierten Buches ausgerechnet am Beispiel der Herrnhuter die Natur der Unterredung zwischen dem Harfner und Wilhelm beschreibt, der den Alten in einem Moment tiefer Unruhe aufsucht: Wer einer Versammlung Herrnhuter oder andrer Frommen, die sich auf ihre Weise erbauen, beigewohnt hat, wird sich auch einen Begriff von dieser Szene machen können. Er wird sich erinnern, wie der Liturg seiner Rede einen Teil des Gesanges einzuflechten weiß, der die Seele dahin erhebt, wohin er wünscht daß sie ihren Flug nehmen möchte; wie er bald darauf aus einem andern Liede in einer andern Melodie einen Vers hinzufügt und an diesen wieder einen dritten knüpft, der auch die verwandten Ideen der Stelle, der er entwandt ist, mit bringt und durch die neue Verbindung wieder neu und gleichsam individuell wird, als wenn er in dem Augenblicke erfunden worden wäre; wodurch denn aus einem ganz bekannten Kreise von Ideen, aus Liedern und Sprüchen, die vielen zusam-
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Goethe: Faust (Anm. 25), S. 46 (v. 769). Goethe: Faust (Anm. 25), S. 46 (v. 779-784). Diese Szene kann als ein Beispiel für die Entstehung des Ästhetischen aus dem Religiösen interpretiert werden, wie sie Schlaffer beschreibt: »In der Kunst lebt der Kult weiter, aus dem sie entstanden ist und von dem sie sich entfernt hat. Von ihm hat sie, wie das griechische Beispiel lehrt, Form, Stoff, Ansehen und Wirkung übernommen, nicht aber den Ernst des Glaubens daran, daß diese kultischen Darbietungsformen nötig seien, um die Götter für das menschliche Dasein zu interessieren und die Menschen an göttlichem Wissen zu beteiligen. […] Das Ästhetische rehabilitiert eine verlorene Funktion als Fiktion« (Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins aus der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. 1990, S. 93).
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men gemein sind, dieser besondern Gesellschaft ihr Nötiges zugeeignet und sie dadurch belebt gestärkt und erquickt wird […].31
Ähnlich artikuliert der Harfner sein Gespräch, bis sich Wilhelm ebenso wieder gestärkt und erquickt fühlt: […] so erbaute der Alte seinen Gast, […] wodurch unser Freund in einen Zustand versetzt wurde, der sich von seinem bisherigen gedruckten und armseligen Leben wirklich unterschied. Die Gefühle von dem Adel seines Wesens von der Höhe seiner Bestimmung, das Mitgefühl des Guten und Großen unter den Menschen hervor zu bringen, ward aufs neue [Hervorhebung: S. S.] in ihm lebendig […].32
Die Erinnerung an einen anfänglichen heiteren Zustand, der auch hier beschworen und erneut vergegenwärtigt wird, taucht im Zusammenhang mit dem Einsatz von Liedern und Versen auf. Auch im für die Genieästhetik grundlegenden Aufsatz Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen hat Goethe das Pfingstwunder schon im Sinne einer momentanen göttlichen Eingebung interpretiert, deren Quelle bald versiegen musste, die aber in der Erinnerung nachhaltig eine Sehnsucht nach jenem beglückenden Augenblick nähre: Und doch mußte denen Jüngern die Erinnerung jenes Augenblicks Wonne durch ein ganzes Leben nachvibrieren. Wer fühlt nicht in seinem Busen, daß er sich unaufhörlich wieder dahin sehnen würde?33
Dass eine solche Erinnerung an frühere Zeiten lebensrettend sein kann, wenn sie sich durch das Mittel der Poesie oder im Zusammenhang mit ihr meldet, scheint weiter ein Gespräch mit Eckermann am 17. März 1830 zu erhellen. Es ist hier von den Poetischen Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi, dem ersten, 1766 veröffentlichten Gedicht die Rede, das Goethe vergessen hatte, bis Eckermann ihn 1826 wieder darauf aufmerksam machte. Nun erzählt Eckermann eine Unterredung Goethes mit Riemer diesbezüglich nach: »Das Gedicht ist voll orthodoxer Borniertheit und wird mir als herrlicher Paß in den Himmel dienen. Nicht wahr Riemer? Sie kennen es.«
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Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters theatralische Sendung; in: Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters theatralische Sendung – Wilhelm Meisters Lehrjahre – Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Herausgegeben von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt/M. 1992 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche I 9 = Bibliothek deutscher Klassiker 82), S. 9-354, hier S. 227. Goethe: Wilhelm Meisters theatralische Sendung (Anm. 31), S. 227. Goethe, Johann Wolfgang: Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen; in: Goethe, Johann Wolfgang: Ästhetische Schriften 1771-1805. Herausgegeben von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche I 18 = Bibliothek deutscher Klassiker 151), S. 131-140, hier S. 139.
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»Nein, Exzellenz, erwiderte Riemer, ich kenne es nicht. Aber ich erinnere mich, daß Sie im ersten Jahre nach meiner Ankunft schwer krank waren und in Ihrem Phantasieren mit einemmale die schönsten Verse über denselbigen Gegenstand rezitierten. Es waren dies ohne Zweifel Erinnerungen aus jenem Gedicht Ihrer frühen Jugend.« »Die Sache ist sehr wahrscheinlich, sagte Goethe. […]«34
Wenn das stimmt, dann befindet sich der kranke Dichter 1802 in einem kritischen Zustand und greift zu einer poetischen Jugenderinnerung, die »die schönsten Verse« wieder ans Licht bringt. Das Nachvibrieren des religiösen Liedes in der Erinnerung ist, wie bei Faust, eine Behauptung des Lebens gegen den Tod. Wie es aber bei Goethe oft der Fall ist, kommen zentrale Momente in seiner Auffassung des Menschlichen nicht isoliert vor. Sie schreiben sich vielmehr in einen bipolaren Rhythmus ein (Systole und Diastole, Verselbstigung und Entselbstigung) und machen den Takt eines ausgeglichenen Daseins aus. Nun impliziert auch die Erinnerung als Therapie ihr Gegenteil, wenn das Geschehen ein tragisches Ausmaß erlangt und den Helden zu vernichten droht, wie bei der Hinrichtung Gretchens am Ende von Faust I. Am Anfang des Faust II ist keine erquickende Erinnerung möglich – vielmehr ist es eine von den Elfen herbeigeführte Amnesie, die den ermüdeten, unruhigen, Schlaf suchenden Faust wieder lebensfähig macht. Um seinen Helden der als Gericht dargestellten Welt zu entziehen, greift Goethe auf eine durch Mitleid bedingte Verdrängung der Vergangenheit zurück: Wenn man bedenkt welche Gräul, beim Schluß des zweiten Act’s, auf Gretchen einstürmten und rückwirkend Faust’s ganze Seele erschüttern mußten, so konnt’ ich mir nicht anders helfen als den Helden, wie ich’s gethan, völlig zu paralisieren und als vernichtet zu betrachten, und aus solchen scheinbaren Tode ein neues Leben anzuzünden. Ich mußte hiebei eine Zuflucht zu wohlthätigen mächtigen Geistern nehmen wie sie uns in der Gestalt und im Wesen von Elfen überliefert sind. Es ist alles Mitleid und das tiefste Erbarmen. Da wird kein Gericht gehalten und da ist keine Frage, ob er es verdient oder nicht verdient habe, wie es etwa von Menschen Richtern geschehen könnte.35
An jene ersten Lieder der Jugend, deren Nachvibrieren im Gedächtnis Faust vom Selbstmord abgehalten haben, knüpfen dann aber die letzten Verse der Tragödie an. Denn im Augenblick der Erlösung darf er nach den »höhern Sphären« streben, aus denen die heilenden Jugendlieder der _____________ 34
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Herausgegeben von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters. Frankfurt/M. 1999 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche II 12 (39) = Bibliothek deutscher Klassiker 167), S. 717. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe über den zweiten Theil des Faust; in: Eckermann: Gespräche mit Goethe (Anm. 34), S. 905-908, hier S. 907.
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Nachtszene klangen. Es ist die Mater Gloriosa, die die Büßerin, »sonst Gretchen genannt«, auffordert: Komm! Hebe dich zu höhern Sphären, Wenn er dich ahnet folgt er nach.36
Was Faust einst nicht wagen konnte, das wird nun in einem Fest der Himmelschöre möglich, die den von Mephistopheles in der Grablegungsszene noch zuversichtlich geschwenkten »blutbeschriebnen Titel« entwerten. Und Mephistopheles selber ist sich schon der Unzulänglichkeit seiner Mittel bewusst: Der Körper liegt und will der Geist entfliehn, Ich zeig ihm rasch den blutbeschriebnen Titel; – Doch leider hat man jetzt so viele Mittel, Dem Teufel Seelen zu entziehn.37
Während er versucht, sich mit Hilfe der Lemuren der Seele Fausts zu bemächtigen, betritt eine ›himmlische Heerschar‹ mit Versen die Szene, die dem geschlagenen Teufel diese Worte abringen: Mißtöne höre ich, garstiges Geklimper, Von oben kommts mit unwillkommnem Tag[.]38
Himmelslieder vernichten den Blutpakt und retten die Seele in die Höhe – zuletzt also eine Abrechnung mit Herrnhuter Reminiszenzen, wobei die Blutbesessenheit des Grafen und der Jugendfreundin Goethes verworfen, der erhebenden, ja rettenden Kraft des poetischen Wortes aber zwischen den Zeilen ein Denkmal gesetzt wird.
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Goethe: Faust (Anm. 25), S. 464 (v. 12094f.). Goethe: Faust (Anm. 25), S. 447 (v. 11612-11615). Goethe: Faust (Anm. 25), S. 450 (v. 11685f.).
CHRISTOPH DEUPMANN
Apostel und Genie? Zu Johann Georg Hamanns eigensinniger Behauptung der Einheit von Kunst und Religion In seiner Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846) hat Sören Kierkegaard eine etwas zwiespältige Würdigung des literarischen ›Außenseiters‹, bekennenden Christen und kritischen Zeitgenossen der Aufklärung Johann Georg Hamann vorgenommen: Ich möchte nicht verhehlen, daß ich Hamann bewundere, wenn ich auch gern einräume, daß der Elastizität seiner Gedanken die Gleichmäßigkeit und seiner übernatürlichen Spannkraft Selbstbeherrschung fehlt, falls er zusammenhängend hätte arbeiten sollen. Aber die Ursprünglichkeit des Genies ist da in seinen kurzen Worten, und die Prägnanz der Form entspricht ganz dem sprunghaften Herausschleudern eines Gedankens. Er ist mit Leib und Seele und bis zum letzten Blutstropfen in einem einzigen Wort zusammengefaßt, dem leidenschaftlichen Protest eines hochbegabten Genies gegen ein System des Daseins. Aber das System ist gastfrei! Armer Hamann, du bist von Michelet auf einen § reduziert worden. Ob dein Grab jemals besonders bezeichnet gewesen ist, weiß ich nicht; […] aber das weiß ich, daß du mit teuflischer Macht und Gewalt in die §-Uniform gesteckt und in Reih und Glied eingeordnet worden bist. 1
Kierkegaards Charakteristik von Hamanns Stil – als leidenschaftlich, desultorisch und lakonisch, konzentriert auf den geballten Sinn eines Wortes, le mot propre – entspricht Hamanns Selbstcharakteristik seines stylus atrox2 und deckt sich mit der Hamann-Forschung, die mit Hegels Rezension über Hamann’s Schriften 1828 begonnen hat.3 Kierkegaard nimmt _____________ 1 2 3
Kierkegaard, Sören: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Erster Teil. Übersetzt von Hans Martin Junghans. In: Kierkegaard, Sören: Gesammelte Werke. 16. Abteilung. Düsseldorf – Köln, S. 242f. Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. 6 Bände. Wien 1949-1957; hier N IV, 421. – Hamanns Texte werden im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert unter der Sigle ›N‹ sowie der Band- und Seitenangabe. Vgl. Hegels Bemerkung, Hamann verfahre »überall nur fragmentarisch und sibyllinisch« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ueber: ›Hamann’s Schriften‹; in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Auf Grund des von Ludwig Boumann, Friedrich Förster, Eduard Gans, Karl Hegel, Leopold von Henning, Heinrich Gustav Hotho, Philipp Marheineke, Karl Ludwig Michelet, Karl Rosenkranz und Johannes Schulze besorgten Originaldruckes im Faksimileverfahren neu herausgegeben
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Christoph Deupmann
Hamann als »Bundesgenossen« gegen ein für ihn durch Hegel repräsentiertes ›System‹ in Anspruch, dessen universaler Klassifizierungsanspruch noch den eigenen Gegensatz absorbiert, also ins System zurückzwingt. Gleichzeitig aber übt Kierkegaards Würdigung – anders, als die Hamann-Forschung sie gelegentlich zitiert4 – auch Kritik an Hamanns Form der Mitteilung religiöser ›Innerlichkeit‹. Denn aller ausdrücklichen Bewunderung zum Trotz stellen die Texte des ›armen Hamann‹, analog zu seinem Schicksal, einen Beleg für Kierkegaards These dar, dass religiöse »Innerlichkeit« sich nie direkt – didaktisch »dozierend« ebenso wenig wie genialisch – mitteilen dürfe: weil eine theologische Spekulation, die sich zum Christentum ins »Missverständnis« setzt, sich sonst allzu leicht »der Sache annähme«.5 Hamanns ›genialisches‹ »Herausschleudern eines Gedankens« liefert sich vielmehr einer »Zähigkeit des Mißverstehens« aus,6 in der bekanntlich auch die Hermeneutik Schleiermachers gründet.7 Von der für Hamanns Schriften ebenfalls kennzeichnenden anspielungsreichen, ›geschraubten‹8 Kunstfertigkeit und ironischen Indirektheit ist in Kierkegaards Charakteristik nicht die Rede. Sein Urteil trifft sich sozusagen von der anderen Seite her mit Hegels Kritik, die Hamanns Schriften eine »koncentrirt[e]«,9 »partikulare Subjektivität« nachgesagt hat, die »nicht zur denkenden und künstlerischen Form« gedeihen konnte.10 »Man erkennt […] das Genie in Hamann’s Schriften, aber vermißt Geschmack in denselben«, zitiert Hegel zustimmend eine Rezension Moses Mendelssohns.11 Die »Kategorie«12 jedoch, die Kierkegaard (wie Hegel und Mendelssohn) für Hamann bereithält, ist im Lichte seines theologisch-ästhetischen Denkens besonders geeignet, um unter ihrem Namen das Verhältnis von Religion und Ästhetik zu bedenken: Genie. * _____________ 4 5 6 7
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von Hermann Glockner. Zwanzigster Band: Vermischte Schriften aus der Berliner Zeit. Mit einem Vorwort von Hermann Glockner. Stuttgart 1930, S. 203-275, hier S. 205). Vgl. etwa Bayer, Oswald: Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer. München – Zürich 1988 (Serie Piper 918), S. 42. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I (Anm. 1), S. 242. Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift I (Anm. 1), S. 242. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Herausgegeben und eingeleitet von Manfred Frank. Frankfurt/M. 1977 (stw 211), S. 92: »[…] daß sich das Mißverstehen immer von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden«. Vgl. Hegel: Ueber: ›Hamann’s Schriften‹ (Anm. 3), S. 262 (über den Briefwechsel mit Herder und passim). Hegel: Ueber: ›Hamann’s Schriften‹ (Anm. 3), S. 259 und öfter. Hegel: Ueber: ›Hamann’s Schriften‹ (Anm. 3), S. 258. Hegel: Ueber: ›Hamann’s Schriften‹ (Anm. 3), S. 258. Hegel: Ueber: ›Hamann’s Schriften‹ (Anm. 3), S. 258.
Hamanns eigensinnige Behauptung der Einheit von Kunst und Religion
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In seinem nur ein Jahr später (1847) selbständig publizierten, ursprünglich als Teil eines polemischen Buches gegen den dänischen Pastor Adolph Peter Adler konzipierten Aufsatz Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel hat Kierkegaard sich gegen eine ›raffiniert‹ gewordene, ästhetisch versierte theologische »Wissenschaft« gewandt, die Religion und Ästhetik bis zur Verwechselbarkeit einander annähere: Geistreich-Sein und Geist, Offenbarung und Ursprünglichkeit, Berufung durch Gott und Genialität, ein Apostel und ein Genie: dies alles kommt nun dahin, so ungefähr auf eines und das Gleiche hinauszulaufen.13
Prediger wie Adler konfundieren für Kierkegaard Religion und Ästhetik; sie »sprechen in den höchsten Tönen davon, wie geistreich der Apostel Paulus ist, welchen Tiefsinn er hat, wie schön seine Gleichnisse sind usw. – lauter Ästhetik«.14 Wer die christliche Botschaft ästhetisch anpreist, macht sich und seine Hörer oder Leser zu Kunstrichtern über die Offenbarung. Für Kierkegaard ist Religion jedoch nicht Gegenstand ästhetischer Rezeption oder Rezension. Seine auch im durchgearbeiteten Aufsatz noch durchaus polemische Intention richtet sich gegen eine »in der Irre gehende Exegese und Spekulation«, die »den Bereich des Paradox-Religiösen […] in das Ästhetische« zurückgeschoben hat »und es dadurch erreicht, daß jeder christliche Terminus […] nun, in einem reduzierten Zustande, brauchbare Dienste leistet als ein geistreicher Ausdruck, der da, ach, so allerlei bedeutet«.15 Die Unterscheidung des Religiösen vom Ästhetischen steht im Dienst der Sinnpflege, der gegenüber mit dem ÄsthetischWerden der Religion eine Pluralisierung des Sinns Einzug hält. Werden Religion und Ästhetik gewissermaßen kurzgeschlossen, so wäre dieser Sinn letztlich immer auch anderswo zu finden. Nichts anderes gilt von der ›Schönheit‹ einzelner Stellen der Bibel. Kierkegaard ist selber skeptisch, ob eine ästhetische Jury Paulus gegenüber Platon oder Shakespeare als »Stilisten und Sprachkünstler« prämieren würde: [A]ls Urheber schöner Gleichnisse kommt er ziemlich tief zu stehen; als Stilist hat er einen durchaus obskuren Namen – und als Teppichwirker: ja, ich muß gestehen, ich weiß nicht, wie hoch er in dieser Beziehung zu stellen sein mag.16
Die ästhetische Empfehlung der Religion setzt sich in ein Verhältnis des Wettbewerbs mit dem sakralen ›Original‹. Klopstocks Lobpreis Christi in seiner Ode Dem Erlöser von 1751 (»O du mein Meister, der du gewaltiger | Die Gottheit lehrtest, Zeige die Wege mir, | Die du da gingst, Worauf die _____________ 13 14 15 16
Kierkegaard, Sören: Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel; in: Kierkegaard, Sören: Gesammelte Werke. 21., 22., u. 23. Abteilung: Kleine Schriften. 1848/49. Düsseldorf – Köln 1960, S. 115-134, hier S. 117. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 117. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 117. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 118.
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Christoph Deupmann
Seher, | Deine Verkündiger, Wonne sangen!«)17 führt die damit verbundene Problematik exemplarisch vor: Dass sich ein Seher-Sänger findet, der die erhabene Lehre des ›Meisters‹ Jesus Christus noch überbietet, ist keineswegs ausgeschlossen. Zwischen dem ›Schüler‹ und dem ›Meister‹ besteht eine graduelle, prinzipiell überwindbare Differenz, und nichts garantiert, dass der meisterhaft gewordene Schüler den Lehrer noch anerkennt – oder nicht selbst zum Meister des Meisters wird. Religion besteht jedoch, Kierkegaard zufolge, auf Anerkennung ihrer Autorität und damit zugleich auf Schließung ihres Sinnhorizonts, unabhängig von jedem Beurteilungsmaßstab. Religion nurmehr ästhetisch zu ästimieren hieße, sie zu desautorisieren. Mit der Anheimstellung der Autorität der christlichen Religion an ein kunstrichterliches Geschmacksurteil, das sich immer auch anders entscheiden könnte, wäre für Kierkegaard das Ende der christlichen Religion schlechthin in Sicht: »und dann – Christentum gute Nacht!«.18
I Eine Religion von Gnaden des Kunsturteils ist für Kierkegaard ebenso wenig denkbar wie eine Kunst von Gnaden der Religion – oder eine, die der Religion äquivalent wäre: »Berufung durch Gott und Genialität« sind Erscheinungen getrennter – religiöser beziehungsweise künstlerischer – Sphären. Verdankt sich das Konzept der ›Kunstreligion‹ einer Ausdifferenzierung der Teilsysteme ›Kunst‹ und ›Religion‹ nach 1750, in deren Folge das eine zum anderen ins Verhältnis der Funktionsäquivalenz treten kann,19 so richtet sich Kierkegaards Polemik gegen einen Austausch der Maßstäbe, der damit eingeleitet schien. Sowenig Genie mit göttlicher Berufung zu verwechseln ist, sowenig haben ästhetische Maßstäbe und Begriffe auf dem Gebiet der Religion etwas zu sagen. Angesichts der Karriere einer ›Kunstreligion‹, welche die (quasi-)religiöse Aufwertung des Ästhetischen betreibt, wendet sich Kierkegaard gegen die andere Seite die_____________ 17
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Klopstock, Friedrich Gottlieb: Dem Erlöser; in: Klopstock’s Sämmtliche Werke. Vierter Band: Oden. Leipzig 1856, S. 74-77, hier S. 76. – Vgl. auch Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult; in: Georgia Augusta 5 (2007), S. 124-133, hier S. 128 (der dort genannte Titel An den Erlöser ist eine Verwechslung mit der dem Messias angehängten Ode). Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 117. Ernst Müller erklärt die »Nähe von Ästhetik und Religion« aus der Opposition zum »gemeinsamen Hintergrund eines wissenschaftlich-rationalen, desanthropomorphisierten Weltbildes« (Müller, Ernst: ›Religion/Religiosität‹; in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs Friedrich Wolfzettel. Band 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart – Weimar 2003, S. 227-264, hier S. 229).
Hamanns eigensinnige Behauptung der Einheit von Kunst und Religion
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ser Äquivalenz, also gegen das Ästhetisch-Werden der Religion, und denkt demgegenüber Religion und Ästhetik im Verhältnis radikaler Divergenz. Die – systemtheoretisch gesprochen – ›Leitdifferenz‹ zwischen beiden Bereichen besteht in der Unterscheidung von ›Transzendenz‹ und ›Immanenz‹. Sie legt sich in zwei Figurationen des ›Unbedingten‹ aus: Apostel und Genie.20 Kierkegaard begründet diese Unterscheidung dreifach: (1) Das erste Argument formuliert die Differenz zwischen Ästhetik und Religion in Hinsicht auf die Kategorie des ›Neuen‹, also in Hinsicht auf das genieästhetische Konzept der »Originalität«.21 Das ›Neue‹, welches das Genie hervorbringt, ist immer nur auf transitorische Weise neu – also in etwa so, wie Hans Robert Jauß die Überbietung des ästhetischen Erwartungshorizonts als Motor der Literaturgeschichte22 beschrieben hat: Jede »Vorwegname (Anticipation)«, also alles, was zu einem diskreten Zeitpunkt als ›paradox‹ erscheinen mag, »schwindet in der allgemeinen Aneignung des Geschlechts wieder dahin«.23 Die Kunst- respektive Literaturgeschichte ›konsumiert‹ das Neue und entparadoxiert das Paradoxe, indem sie das Außerordentliche an eine Ordnung verrät, die sich ihm gegenüber noch stets als ›gastfrei‹ erwiesen hat (so wie es, zu Kierkegaards Bedauern, Hamann widerfuhr). Der Apostel dagegen habe »paradox etwas Neues zu bringen, dessen Neuheit […] auf die Dauer bestehen bleibt«.24 Dieses ›Neue‹ ist insofern paradox, als es seine Neuheit zu jeder Zeit behauptet und sich damit paradox zu seinem eigenen Begriff verhält; indem es sich der Logik der Überbietung a priori entwindet und damit bis zum Ende der Geschichte auf Dauer stellt. (2) Das zweite Argument macht die Differenz von Religion und Ästhetik am Begriff der ›Vollmacht‹ fest, die nur der Apostel – nicht aber das Genie – empfangen hat. Nur »weil er göttliche Vollmacht hat«, verlangt der Apostel Paulus Gehör, nicht jedoch deshalb, weil er »ganz unvergleichlich geistreich«25 oder seine Rede so schön wäre. Die autoritative, von der Transzendenz herrührende Vollmacht des Apostolats setzt _____________ 20
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Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 118. – Die Herausgeber der KierkegaardAusgabe bezeichnen diese Differenz mit einem heute fragwürdig gewordenen Wort: »Die Rune aber, unter der diese Scheidung am klarsten sich fassen läßt, ist ihm der Unterschied von Genie und Apostel« (Herausgeber: Geschichtliche Einleitung zur 21., 22. u. 23. Abteilung; in: Kierkegaard, Sören: Gesammelte Werke. 21., 22., u. 23. Abteilung: Kleine Schriften. 1848/49. Düsseldorf – Köln 1960, S. VII-XVIII, hier S. XVII). Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 119. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft; in: Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation. 4. Auflage. Frankfurt/M. 1974 (es 418), S. 144-207. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 118f. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 118f. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 121.
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seine Botschaft geradezu »ästhetisch in Indifferenz«.26 Denn diese ›Vollmacht‹ ist nicht Gegenstand ästhetischer oder philosophischer Beurteilung, sondern bedingungsloser Anerkennung ihrer Autorität. Insofern stellt die ästhetische Beurteilung des kraft göttlicher Vollmacht geäußerten Wortes auf blasphemische Weise »Gott auf eine Stufe […] mit den Genies, den Dichtern und Denkern, deren Aussage schlecht und recht nur ästhetisch oder philosophisch gewürdigt wird«.27 Diese ästhetische »Vermittlung« der differenten Sphären von Religion und Kunst kommt für Kierkegaard einer »Lästerung«28 gleich: weil sie nur diejenige religiöse Aussage, die »außerordentlich gut gesagt erscheint«, als von »Gott […] gesagt« anerkennt.29 Mit demselben Recht könnte auch das ästhetisch Außerordentliche als ›göttlich‹ ausgezeichnet werden, wie es das Konzept der ›Kunstreligion‹ tatsächlich tut. (3) Das dritte Argument stellt schließlich zwischen der immanenten Teleologie des ›Genies‹ und der transzendenten des ›Apostels‹ einen Gegensatz her. Weil das Genie »in sich selbst« lebt,30 ist es im Hinblick auf die Welt außerhalb seiner selbst gleichzeitig bescheiden und stolz: bescheiden, weil es keinerlei Anspruch auf Anerkennung erhebt; stolz, weil es sich nur zu seinen eigenen kunstästhetischen Ansprüchen verhält und demzufolge gegenüber der öffentlichen Anerkennung seitens des Publikums gleichgültig bleibt. Diese Charakteristik des Genies beschreibt kaum anderes als eine Prämisse der durch Karl Philipp Moritz ausformulierten Autonomieästhetik: »weder er [der bildende Künstler; C. D.] noch sein Kunstwerk haben irgendwie Ziel und Zweck (τέλος) außerhalb ihrer«.31 Der Schriftsteller, meint dementsprechend Kierkegaard, »schreibt nicht: um zu. Und ebenso steht es mit jedem Genie. Kein Genie hat ein ›um zu‹; der Apostel hat absolut paradox ein ›um zu‹«.32 Die Instanz, um derentwillen es sich äußert, ist »sein Herr«, der ihm den Auftrag zur Rede erteilt. – Die Ästhetisierung der Religion, so lässt sich Kierkegaards Argumentation zu_____________ 26 27 28 29 30 31
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Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 124. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 122. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 127. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 122. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 133. Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 134. – Vgl.: »Der Begriff vom Unnützen nehmlich, in so fern es gar keinen Zweck, keine Absicht außer sich hat, […] schließt sich am willigsten und nächsten an den Begriff des Schönen an, in so fern dasselbe auch keines Endzwecks […] außer sich bedarf, sondern seinen ganzen Wert, und den Endzweck seines Daseins in sich selber hat« (Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen; in: Moritz, Karl Philipp: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 2: Popularphilosophie – Reisen – Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), S. 958-991, hier S. 964f.). Kierkegaard: Über den Unterschied (Anm. 13), S. 134.
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sammenfassen, führt zu einer Austreibung der Religion aus sich selbst, also zu einer falschen Universalität des Ästhetischen. Das Ästhetische aber hat mit dem Religiösen an sich nichts zu schaffen.
II Dass Kierkegaard Hamanns Autorschaft ins Zeichen des ›Genies‹ stellt, ist vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung zwischen Religion und Ästhetik bedenkenswert. Denn Hamanns ganze Autorschaft wendet sich gerade gegen eine strikte Unterscheidung von Ästhetik und Religion. Sie verhält sich damit ›paradox‹ zu ihrem ideengeschichtlichen Kontext, indem sie – ähnlich wie Kierkegaard es für den ›Apostel‹ formuliert – den absoluten Anspruch des Evangeliums gegen Bemächtigungsversuche von Seiten zeitgenössischer, vor allem philosophisch-theologischer Diskurse verteidigt. Hamann streitet gegen eine rationalistische Theologie oder ›Neologie‹, die das geoffenbarte Christentum auf philosophisch allgemein zugängliche Wahrheiten zurück zu führen sucht. Das philosophische Konstrukt einer »naturalisirten Religion« (N III, 225) gilt ihm geradezu als Inbegriff einer ›Kunstreligion‹ im pejorativen Sinn des von Schleiermacher aufgebrachten Begriffs – also als ›künstliche Religion‹, wie Schleiermacher den Begriff zunächst bestimmt hat.33 Den »abergläubischen Predigern der natürlichen Religion« hält Hamann eine Art selbstverschuldete Blindheit vor: »nicht sehen, was sich mit Händen greifen läßt«, weil eben die Offenbarung schon da ist, »macht das ganze System zur Nacht« (N III, 222). Das Paradox ist für Hamann im Übrigen die logische Grundfigur der Offenbarung qua Kondeszendenz, also der Geschichte des Mensch gewordenen Gottes: Die »heilige Geschichte des vom Himmel auf die Erde herab – und von der Erde in den Himmel heraufgefahrnen Helden, ewigen Vaters und Friedefürsten« steht im »Zeichen desjenigen Widerspruchs, den Er selbst wider Sich erduldet« (N III, 222). Die Auseinandersetzung mit der ›künstlichen Religion, die sich als ›natürliche‹ anpreist und auf eine›natürliche Vernunft‹ beruft, bildet die eine Seite von Hamanns Verhältnis zum Problem der Kunstreligion. Die andere, kompliziertere, betrifft seine Position zum Verhältnis von Religion und Ästhetik.
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Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit einer Einleitung herausgegeben von Andreas Arndt. Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek 563), S. 93.
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III »Gott ein Schriftsteller!« (N I, 5) Die emphatische Losung, mit der die Meditationen der Biblischen Betrachtungen einsetzen, stellt den lakonischsten Ausdruck von Hamanns Ästhetik dar. Ihre Pointe besteht darin, dass Hamann nicht den Schriftsteller – mit einem von Shaftesbury popularisierten Topos – zum alter deus macht,34 sondern Gott zum primus scriptor. Damit wird die Rolle des Autors religiös in der Anrede Gottes an die Kreatur fundiert. Die primäre Autorschaft Gottes strahlt jedoch gleichsam ab auf den Literaten bzw. die Literatur. Wenn Gott, vermittelt über die pneumatische Inspiration der Evangelisten, den Beruf des Schriftstellers ›erwählt‹ hat, dann steckt darin auch eine Aufwertung des SchriftstellerBerufs bzw. eine religiöse Nobilitierung der Literatur, allerdings verbunden mit der ›Berufung‹ zur Bezeugung der Offenbarung, die ihrerseits über das Postulat der Nachfolge vermittelt wird. Dass das Christentum (wie das Judentum und der Islam) eine Buchreligion ist, verleiht dem Medium Buch bzw. der Schrift eine außerordentliche Dignität. Hamanns Aesthetica in nuce hat diese kunstreligiöse Aufwertung der Literatur gleich im Eingangssatz auf emphatische Weise zum Ausdruck gebracht: »Nicht Leyer! – noch Pinsel! – eine Wurfschaufel für meine Muse, die Tenne heiliger Litteratur zu fegen!« (N II, 197). Mit dieser sakralen Kennzeichnung der Literatur als ›heilig‹ ist jedoch keine kunstreligiöse Position angegeben, die religiöse Merkmale und Rezeptionsbedingungen auf Ästhetisches überträgt, sondern eine, die an der religiösen Bestimmung des Ästhetischen festhält. Denn das Prädikat der ›Heiligkeit‹ kommt der Literatur eben nicht nach einem unabhängigen kunstrichterlichen Maßstab zu, sondern nur hinsichtlich ihrer Rückbindung an die Religion, mit der sie eine ursprüngliche Einheit bildet. Dass Poesie (mit Opitz’ Formulierung) »anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie«,35 sucht Hamann der zeitgenössischen Literatur in Erinnerung zu rufen. Die Anspielung auf das Evangelium nach Matthäus macht deutlich, dass diese religiöse Bestimmung auch in der Literatur die Spreu vom Weizen
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Vgl. dazu auch die materialreiche Untersuchung von Ringleben, Joachim: Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos; in: Gajek, Bernhard (Hrsg.): Johann Georg Hamann. Autor und Autorschaft. Acta des sechsten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1992. Frankfurt/M. – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1996 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B: Untersuchungen 61), S. 215-275. Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Herausgegeben von Cornelius Sommer. Stuttgart 1991, S. 12.
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trennt.36 Sofern von ›Kunstreligion‹ in Hinsicht auf Hamann, der den Begriff nicht kennen konnte, die Rede sein darf, liegt der Akzent auf dem zweiten Bestandteil des Kompositums: Kunstreligion. Mit dieser Sakralisierung der Poesie verbindet sich für Hamanns literarische Praxis ein ebenfalls aus dem religiösen Kontext bekanntes Verfahren: die Hermetik seiner Texte, die sich im weitgehenden Verzicht auf jede Explanation, Redundanz und Stringenz niederschlägt. Als ›kunstsakrale‹ Strategie knüpft sie an religiöse Kommunikationsformen an, indem sie zwischen Autor und Lesern eine prinzipiell esoterische und zugleich ›starke‹ Kommunikation herstellt. Über die hermetische Stilpraxis und eine ihr gewachsene Leserschaft wird eine kleine Gemeinschaft einverständiger Leser konstituiert, die sich von der exoterischen Vernunft der rationalistischen Aufklärung sondert. Diese esoterische Stilpraxis ›lockt‹, wie Hamann in Hinsicht auf Sokrates schreibt, zu »einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt, zu einer heimlichen Weisheit« (N II, 77).
IV Hamanns erste selbstständige Veröffentlichung nach der Londoner ›Bekehrung‹ von 1758, die Sokratischen Denkwürdigkeiten, erlaubt auch eine Interpretation seines eigenen Genie-Begriffs. ›Genie‹ – ein Modebegriff der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, der vor allem die Abweichung von den dramaturgischen Regeln der doctrine classique begründen muss – wird auch von Hamann als ein Konzept interpretiert, dem zufolge dem Dichter keine regelhafte Poetik, sondern »die Natur […] die Regel gibt«.37 Hamann versteht ›Natur‹ (wie ›Geschichte‹) indes – anders als die zeitgenössische Aufklärungsphilosophie und -theologie – als Medium religiöser Offenbarung, auch wenn diese Offenbarung in der Natur nur in ›zerstückter‹, fragmenthafter Form vorliegt: als »Turbatverse und disiecti membra poetae« (N II, 198). Sie »in Geschick zu bringen [ist] des Poeten bescheiden Theil« (N II, 199). Forscht man Hamanns Verständnis des ästhetischen Konzepts genauer nach, so begegnet man einer Umwertung, die Kierkegaards Unterscheidung des ›Genies‹ vom ›Apostel‹ unterläuft: Denn Hamann hätte deren Leitdifferenz ›Immanenz vs. Transzendenz‹ nicht akzeptiert. Seine ausdrücklichste Einlassung auf den Genie-Begriff in den _____________ 36 37
Vgl. Mt 3, 12: »Er hat eine Wurfschaufel in der Hand; er wird seine Tenne fegen und seinen Weizen in der Scheune sammeln; aber die Spreu wird er verbrennen mit unauslöschlichem Feuer«. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Herausgegeben von Karl Vorländer. Hamburg 1963 (Philosophisches Bibliothek 39 a), S. 160 (§ 46).
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Sokratischen Denkwürdigkeiten hat den »Genius« oder das daimonion des Sokrates vielmehr mit dem göttlichen Logos zusammengedacht: Sokrates […] hatte einen Genius, auf dessen Wissenschaft er sich verlassen konnte, den er liebte und fürchtete als seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der Egypter und Griechen, dessen Stimme er glaubte, und durch dessen W i nd […] der leere Verstand eines Sokrates so gut als der Schoos einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann. (N II, 75)
Die kühne Analogie, die vom Genius des Sokrates zur unbefleckten Empfängnis Mariae eine Brücke schlägt, ist ihrerseits weniger ein ›genialer‹ Einfall als Ausdruck von Hamanns typologischer Geschichtsauffassung, der zufolge auch der Philosoph der hellenistischen Aufklärung bereits eine figura Christi sein kann. Aber in ähnlicher Weise, wie Hamann in seiner sokratischen Schrift den Schutzheiligen der rationalistischen Aufklärung ›entwendet‹, also für sich selbst umfunktioniert, entspricht auch seine Verwendung des Genie-Begriffs einer Figur der Umfunktionalisierung oder des ›Metaschematismus‹ (nach 1 Kor 4, 6): also der ›Umkleidung‹ oder Übertragung eines Begriffs (vor allem gegnerischer Positionen) im eigenen Sinn. Das Genie in dem von Hamann präzisierten Sinn schöpft also mitnichten aus sich selbst und erschöpft sich auch nicht in der Selbstgenügsamkeit seines ästhetischen Spiels, sondern macht die (literarische) Rede zur Antwort auf die primäre ›Anrede‹ Gottes. Insofern er diese Anrede vernimmt, ist der Literat heteronom, nicht autonom. Die Inanspruchnahme Hamanns durch die Autoren des ›Sturm und Drang‹ – mit der es sich ohnehin asymmetrisch verhält: Hamann hat ihre Dramen und poetologischen Schriften kaum zur Kenntnis genommen38 – zeugt daher vor allem von einem produktiven Missverständnis. Für das ästhetische ›Genie‹ als solches hat sich Hamann, wie seine spärlichen Einlassungen auf genuin ästhetische Fragen belegen, kaum interessiert. In der Aesthetica in nuce hat er dagegen als einzigen literarischen Autor in positiver Weise Klopstock, den Verfasser des Messias, benannt und verteidigt. Denn die Konvergenz der Poesie mit der christlichen Religion (unter Hintansetzung alles Dogmatischen) in Klopstocks epischer Dichtung kommt am ehesten seiner Position nahe, die gegen die funktionale Ausdifferenzierung von Kunst und Religion deren Einheit behauptet. Klopstock, »dieser große Wiederhersteller des lyrischen Gesanges«, habe die »rätzelhafte Mechanik der heiligen Poesie bey den Hebräern glücklich nach[ge]ahmt«; insofern _____________ 38
Meier, Albert: Verdruss und Vergnügen. Über Hamanns problematisches Interesse an Drama und Dramentheorie; in: Gajek, Bernhard (Hrsg.): Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns. Acta des achten Internationalen Hamann-Kolloquiums an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg 2002. Frankfurt/M. – Berlin – Bern – Bruxelles – New York – Oxford – Wien 2005 (Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe B: Untersuchungen 88), S. 245-255.
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repräsentiere seine Poesie einen »Archaismus« in der literarischen Gegenwart, in der Poesie und Religion bereits getrennte Wege gehen. Ob »sie schon kein (vorgemaltes noch Gesetzkräftiges) Sylbenmaas haben«, sind Klopstocks prosanahe Verse einer ›Naturform‹ der Poesie mimetisch nahe, die mit dem Gesang der »ältesten und heiligsten Dichter« (N II, 215) eins ist. Mit der Engführung von Religion und Poesie verknüpft sich die kunstreligiöse Überhöhung zum Dichter-Priester (poeta vates); aber sie gilt für den Dichter nicht per se, sondern nur insofern seine Dichtung eine Erscheinungsform des Religiösen darstellt.
V Dass Hamanns ›Autorschaft‹ sich paradox zu ihrer eigenen Zeit (oder ihren vorherrschenden diskursiven Bedingungen) verhält, hat er in vielfältigen Selbst-Inszenierungen verdeutlicht. Seine Kennzeichnung als »Prediger in der Wüsten« im Fliegenden Brief von 1786 (N III, 357, nach Mt 3, 2 und Jes 40, 2) oder als ungelesener Autor bereits in der Zuschrift der Sokratischen Denkwürdigkeiten an »Niemand und an Zween« (N II, 57) machen diese Selbstinterpretation ebenso deutlich wie der von ihm angenommene Beiname ›Magus in Norden‹, der ihm von Friedrich Karl von Moser verliehen worden war: Hamann als einer der »Magi aus Morgenlande« (N II, 139), die dem Stern von Bethlehem gefolgt sind. Die Selbststilisierung bezeugt zugleich eine religiöse ›Innerlichkeit‹, die sich ihrer begrenzten Chancen der Kommunizierbarkeit bewusst ist. – Es ist ein rezeptionsgeschichtlicher Aspekt des hier verfolgten Themas, dass das kolportierte Hamann-Bild vom »dunkle[n] Wahrsager«39 und Mystagogen ihn selbst zu einer Art spätzeitlich-christlichen poeta vates-Figur überhöht hat. Noch Josef Nadlers Figuration Hamanns folgt trotz seines Widerspruchs gegen die obskurantistische Hamann-Deutung diesem Bild, indem er ihn als »Verkünder des corpus mysticum« darstellt: Er hat diesen Krieg geführt als totaler Christ mit dem Blick auf den Tag, da ein Hirt und eine Herde sein werde, und in Erwartung des apokalyptischen Endes dieser Welt.40
Im Fliegenden Brief (2. Fassung) – ›testamentarischer‹ Abschluss seiner Autorschaft und polemische Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum – hat Hamann sich diesem Bild vielleicht am weitesten angenähert: _____________ 39 40
Vgl. Josef Nadler im ›Schlüssel‹ (N VI, S. 237), s. v. »Magus in Norden«. Nadler, Josef: Johann Georg Hamann 1730-1788. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg 1949, Klappentext.
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Seher, Epopten und Zeugen der Leiden und Herrlichkeit hernach wurden zu allen Nationen und Creaturen ausgerüstet und ausgesandt mit der überschwenglichen evangelischen Predigt: MIR ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf der Erde […]. (N III, 405, nach Mt 28, 18)
Das Zitat bezieht sich im Evangelium nach Matthäus auf die göttliche Autorität, kraft deren Christus die Jünger zur Mission aufruft. Aber das Zitat begründet eine auktoriale Gewalt, die sich dem zitierenden Autor im Streit gegen den »heidnischen, naturalistischen, atheistischen Fanatismus« (N III, 315) seines ›aufgeklärten‹ Zeitalters mitteilt. So zitiert in der Tat jemand, der sich einer religiösen ›Vollmacht‹ bewusst ist.
* Dass Hamanns Versuch, die Einheit von Kunst und Religion, Genie und göttlichem Geist zu behaupten, sich einer ideen- und sozialgeschichtlichen Ausdifferenzierung kaum wirksam entgegenstemmen konnte, in deren Verlauf die Kunst religiöse Funktionen übernahm, wird an einem Gedicht seines eigenen Sohnes Johann Michael Hamann deutlich. In dessen gerade drei Jahre nach dem Tod des Vaters publizierten Poetischen Versuchen (1791) findet sich das Sonett An meine Muse: Emsig will ich dir, o Muse, dienen! Denn im Kreise deiner Priesterschaft Ist im Drange reiner Leidenschaft Früh dein neuer Jünger schon erschienen. Emsig will er mit dem Fleiß der Bienen Ueben seines schwachen Fittigs Kraft: Will aus allen Rosen und Jasminen Saugen ihren Geist und Nectarsaft. Wer im stolzen Wahne deiner Gaben Jeden Schatz der Wissenschaft verschmäht, Dessen Lieder werden leicht verweht; Der nur soll den Kranz des Phöbus haben Der, was tiefes Denken ihm gewebt, Leicht durch Bild und Harmonie belebt.41
Der »Jünger«, der sich der »Priesterschaft« der Musen zugehörig erklärt, ist gewiss nicht der berufene Sänger einer religiösen ›Wahrheit‹, die vor der Kunst läge, sondern einer Religion, die ganz in die Kunst eingezogen ist. Das Signum dieser Säkularisierung, welche die religiöse Verehrung ganz _____________ 41
Hamann, Johann Michael: Gedichte. Nachdruck der Erstausgaben. Mit einem Nachwort von Joseph Kohnen in Zusammenarbeit mit Rainer Wild. Frankfurt/M. – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1993 (Regensburger Beiträge zu deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Reihe A: Quellen 6), S. 93.
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ins Zeichen der Kunst gestellt hat, ist die Verschiebung der religiösen Andacht auf Motive und Gestalten der ›heidnischen‹ Antike. Die Anrufung der Muse ist nur mehr eine Figur der Rhetorik, und die Andacht, welche die Stimme des Gedichts der Muse widmet, ist entschieden bereits eine Figur der Kunstreligion.
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Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis: von Baumgarten bis zum Frühidealismus Die ›intellektuelle Anschauung‹ Im berühmten ›Athenerbrief‹ am Ende des ersten Bandes von Hölderlins Hyperion behauptet der Protagonist, dass bei den Athenern die Religion, nach der Kunst, »der Schönheit zweite Tochter« sei: »ihre Kunst und ihre Religion [sind] die echten Kinder ewiger Schönheit«.1 Der enthusiastische und rhapsodische Duktus des Vortrages lässt den Leser über das Verhältnis von Kunst und Religion allerdings im Unklaren, da Hyperion sogleich zu dem wenigstens auf den ersten Blick anderen Thema des Verhältnisses von Dichtung und Philosophie/Wissenschaft bei den Athenern übergeht und zu dem Schluss kommt, Dichtung solle »der Anfang und das Ende« jeder Philosophie und jeder Wissenschaft sein.2 In Wirklichkeit wirft jedoch gerade diese scheinbar abwegige Argumentation ein Licht auf das Verhältnis von Kunst und Religion, da deren Beziehung auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie zu suchen ist. Wie bereits sein zweiter Brief zeigt, geht Hyperion – und mit ihm natürlich auch Hölderlin selbst – von der Idee eines intuitiven, vorrationalen Wissens aus, das als einziges dem Menschen jene Erkenntnis des höchsten Seins ermöglicht, die dem rationalen Denken verwehrt bleibt.3 Jede echte und wahre Philosophie muss insofern für Hyperion/Hölderlin von der Dichtung bzw. der Kunst ausgehen, weil nur ihr eine solche intuitive Auffassung des Naturganzen zugänglich ist. Nichts anderes als diese ganzheitliche Auffassung der Natur ist aber auch jene ›ewige Schönheit‹,4 von der _____________ 1
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Hölderlin, Friedrich: Hyperion oder der Eremit in Griechenland; in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Herausgegeben von Jochen Schmidt. Band 2: Hyperion – Empedokles – Aufsätze – Übersetzungen. Herausgegeben von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz. Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 108), S. 9-175, hier S. 90. – Vgl. ausführlicher zum Verhältnis von Kunst und Religion in Hölderlins Hyperion den Beitrag von Marco Castellari in diesem Band, S. 179-193. Hölderlin: Hyperion (Anm. 1), S. 91. Vgl. Hölderlin: Hyperion (Anm. 1), S. 15-17. Vgl. Hölderlin: Hyperion (Anm. 1), S. 90.
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Hyperion im ersten Teil seines Athenerbriefes spricht und die von den Athenern durch die Kunst, ihre erste Tochter, d. h. also vermittelt durch eine sinnliche Verkörperung, erblickt werden konnte. Später hatte sich die Kunst bei den Athenern aber insofern in Religion verwandelt, als sie ein Streben nach dieser höchsten aller Erkenntnisse geworden war. Mit anderen Worten: Insofern die Kunst für den beschränkten Menschenverstand der einzige Vermittler einer übermenschlichen, weil göttlichen Erkenntnis war, kam sie letztendlich einer Religion, ja der höchsten Religion überhaupt, gleich. Ausgehend von den gleichen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen lassen sich auch die Erhebung der Poesie zur Grundlage jeder Philosophie und die Forderung nach einer neuen Mythologie im so genannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus erläutern:5 Beiden Tendenzen liegt nämlich die Auffassung einer besonderen Art der Erkenntnis zu Grunde, die Hölderlin mit Schelling teilt und welche unter den Begriff der ›intellektuellen‹ bzw. ›intellektualen Anschauung‹ fällt.6 Obwohl dieser Begriff sowohl bei Hölderlin als auch bei Schelling manchmal unterschiedliche Interpretationen erfährt,7 ermöglicht ein Blick auf den Ursprung dieser Idee eine Klärung und Vereinheitlichung ihrer Bedeutung. _____________ 5
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Vgl. Hölderlin, Friedrich / Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von / Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus; in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Herausgegeben von Jochen Schmidt. Band 2: Hyperion – Empedokles – Aufsätze – Übersetzungen. Herausgegeben von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz. Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 108), S. 575-577. Zur ›intellektuellen‹ bzw. ›intellektualen Anschauung‹ vgl. Dierse, Ulrich / Kuhlen, Rainer: ›Anschauung, intellektuelle‹; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter. Band 1: A – C. Darmstadt 1971, Sp. 349-351; Frank, Manfred: ›Intellektuale Anschauung‹. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewusstsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis; in: Behler, Ernst / Hörisch, Jochen (Hrsgg.): Die Aktualität der Frühromantik. Paderborn – München – Wien – Zürich 1987, S. 96-126. – Vgl. auch Jochen Schmidts klare und ausführliche Erläuterung des Begriffs in Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Herausgegeben von Jochen Schmidt. Band 2: Hyperion – Empedokles – Aufsätze – Übersetzungen. Herausgegeben von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz. Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 108), S. 1232-1235. Zu Hölderlins Auffassung des Begriffs vgl. Schmidt, Jochen: Die Geschichte des GenieGedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1985, S. 415-419; Port, Ulrich: ›Die Schönheit der Natur erbeuten‹. Problemgeschichtliche Untersuchungen zum ästhetischen Modell von Hölderlins ›Hyperion‹. Würzburg 1996 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 194), S. 92-119; Bassermann-Jordan, Gabriele von: ›Schönes Leben! du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter …‹. Die Figur der Diotima in Hölderlins Lyrik und im ›Hyperion‹-Projekt. Theorie und dichterische Praxis. Würzburg 2004 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 473), S. 117-124. – Zum Begriff der ›intellektualen Anschauung‹ bei Schelling vgl. Frank, Manfred: Eine Einführung in Schellings Philosophie. Frankfurt/M. 1985 (stw 520),
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Von ›intellektueller Anschauung‹ hat Kant an verschiedenen Stellen seines Werks, insbesondere aber in der Kritik der reinen Vernunft und in der Kritik der Urteilskraft geschrieben. Diese Art der Erkenntnis ist demnach eine Grenzerkenntnis, die dem Menschen zwar gar nicht zukommt, die er aber zum Verständnis des Organismus braucht, weil sie allein eine teleologische Betrachtung der Natur begründen kann.8 ›Intellektuelle Anschauung‹ bezeichnet nämlich eine ganzheitliche Betrachtung der Natur, die Kant nur einem intellectus archetypus, d. h. Gott, zuschreibt: Während der Mensch mit seinem beschränkten, diskursiven Verstand – intellectus ectypus – immer nur durch die Abstraktion bzw. analytisch vom Einzelnen zum Allgemeinen gelangt, kann Gott vom Synthetisch-Allgemeinen (von einer intuitiven Sicht des Ganzen) ausgehen und dadurch auch den notwendigen Zusammenhang der Teile mit dem Ganzen und somit das Wesen selbst der Dinge, das Noumenon, erkennen. Bekanntlich hat Goethe später, in einem Aufsatz aus dem Jahr 1820 mit dem Titel Anschauende Urteilskraft, diese Art der göttlichen Erkenntnis, die jedes Einzelne nur in seinem notwendigen Zusammenhang mit dem Ganzen der Natur betrachtet, sowohl für seine wissenschaftliche als auch für seine künstlerische Methode reklamiert.9 Aber bereits Schillers Darstellung von Goethes wissenschaftlicher Methode in seinem ersten Brief an ihn, den er unmittelbar nach ihrer Begegnung im Jahre 1794 und nach ihrer Unterhaltung über die Urpflanze geschrieben hat, legt eine Analogie zu Kants ›intellektueller Anschauung‹ nahe.10 Lässt man nun Fichtes Wiederaufnahme der ›intellektuellen Anschauung‹ in der Wissenschaftslehre beiseite, weil er ihr dort eine teilweise abweichende Bedeutung zuschreibt,11 so findet diese Art von Erkenntnis zweifellos in Schellings Philosophie ihre wichtigste Anwendung. Am Ende seines Systems des transcendentalen Idealismus (1800) betrachtet Schelling die ›intellektuelle Anschauung‹, die eben wie bei Kant eine intuitive Auffassung des Ganzen und somit des Wesens, selbst des Seins bedeutet, als die _____________ 8 9
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S. 41-47; Frank, Manfred: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt/M. 1989 (es 1563. N.F. 563), S. 137-154. Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Band X. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1974 (stw 57), S. 358-364 (§ 77). Goethe, Johann Wolfgang: Anschauende Urteilskraft; in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Herausgegeben von Erich Trunz. Band 13: Naturwissenschaftliche Schriften I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Dorothea Kuhn und Rike Wankmüller. Mit einem Essay von Carl Friedrich von Weizsäcker. Achte, neubearbeitete Auflage. München 1981, S. 30f. Vgl. Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 23. August 1794; in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Herausgegeben von Emil Staiger. Mit Illustrationen. Bildkommentar von Hans-Georg Dewitz. Band 1. Frankfurt/M. 1977 (insel taschenbuch 250), S. 33-36. Vgl. Frank: ›Intellektuale Anschauung‹ (Anm. 6), S. 106-114.
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letzte Begründung einer jeden Philosophie.12 Um diese von Kant nur Gott zugestandene Erkenntnis auch für den Menschen zugänglich zu machen, unterstreicht Schelling deren unbewusste, d. h. vorrationale Natur. Er schreibt diese Erkenntnisart bezeichnenderweise an erster Stelle dem Genie zu, das im unbewussten, wesentlichen Teil der Kunstproduktion zu einem Instrument der Natur selbst wird, die sich in seinem Produkt, im Kunstwerk also, dem Menschen manifestiert.13 Das Kunstwerk wird somit zur Offenbarung eines intuitiv, d. h. unbewusst erfassten Allgemeinen und dadurch »Organon zugleich und Document der Philosophie«.14 Wie schon der Begriff ›Offenbarung‹ nahe legt, bildet die Idee der intuitiven Erkenntnis der Ganzheit des Universums die Grundlage für eine Auffassung von der Kunst als Ersatzreligion, indem sie der Kunst die Fähigkeit zuspricht, dem Menschen genauso wie die Religion einen Zugang zum Göttlichen zu verschaffen.15 Es ist allerdings noch nicht mit ausreichender Deutlichkeit erkannt worden, dass es kein Zufall ist, wenn ausgerechnet die Kunst und nicht etwa die Philosophie oder eine andere Instanz zum privilegierten Vermittler dieser Offenbarung aufsteigt. Die Idee einer intuitiven Erfassung des Naturganzen ist nämlich von Anfang an mit der Kunstreflexion eng verbunden, und sowohl Schelling als auch Hölderlin haben die ästhetische Natur der ›intellektuellen Anschauung‹ wiederholt unterstrichen.16 Wie im Folgenden gezeigt werden soll, kulminieren in ihrer Auffassung von dieser Art Erkenntnis geradezu die ver_____________ 12 13 14 15
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Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: System des transcendentalen Idealismus. 1800; in: Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Ausgewählte Schriften. Band I: Schriften 1794-1800. Frankfurt/M. 1985 (stw 521), S. 395-702, hier S. 695. Vgl. Schelling: System des transcendentalen Idealismus (Anm. 12), S. 684-686. Vgl. Schelling: System des transcendentalen Idealismus (Anm. 12), S. 686 und 695. »Ich denke, daß die teilweise Analogie zur Offenbarung unverzichtbare Voraussetzung für alle Fälle ist, in denen der Kunst die Funktion einer Religion zugesprochen wird« (Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra 323), S. 91). – Auerochs interpretiert dieses »Gefühl für Ganzheit« als »eine Folge der aufklärerischen Religionskritik« (ebd.; vgl. auch S. 363f.) und untersucht das Verhältnis zwischen der spinozistischen bzw. pantheistischen Auffassung der Natur und der allmählichen Erhebung der Kunst zur privilegierten Offenbarungsinstanz bei Johann Gottfried Herder (S. 287-309), Karl Philipp Moritz (S. 367-372), August Wilhelm Schlegel (S. 372-378), Friedrich Schlegel (S. 380-399), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (S. 417-424), Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (S. 438-463) und Novalis (S. 463-482). Man vergleiche etwa Hölderlins Briefe an Schiller vom 4. September 1795 und an Niethammer vom 24. Februar 1796; in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Herausgegeben von Jochen Schmidt. Band 3: Die Briefe – Briefe an Hölderlin – Dokumente. Herausgegeben von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Wolfgang Behschnitt. Frankfurt/M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 81), S. 203f. und S. 224226. – Vgl. auch den Beitrag von Marco Castellari in diesem Band, S. 177-191, insbesondere S. 180f.
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schiedenen Theorien über die Göttlichkeit bzw. Gottähnlichkeit des Genies.17 Dieser Gedanke ist natürlich sehr alt und geht einerseits auf die altgriechischen Theorien des poetischen Enthusiasmus (der platonischen mania, der Gottergriffenheit also), andererseits auf die neuplatonische Idee des Schöpfergottes zurück; er findet dann aber v. a. in der Renaissance, bei Michelangelo, Leonardo, Dürer usw., sowie später im 17. Jahrhundert bei Autoren wie Federico Zuccari, Giovanni Paolo Lomazzo oder Giovanni Pietro Bellori seinen Ausdruck.18 In der Ästhetik des 18. Jahrhunderts erscheint diese Auffassung sowohl in Frankreich als auch in Italien, in England und in Deutschland schon als Topos. Am bekanntesten ist natürlich Shaftesburys Rede vom Künstler als »second Maker: a just Prometheus under Jove«,19 die in Deutschland v. a. im Sturm und Drang enthusiastisch aufgegriffen wurde (mehrere Belege hierfür ließen sich bei Herder, Goethe oder Lenz unschwer anführen). Aber auch schon Bodmer und Breitinger, Baumgarten, Lessing, Sulzer und andere verwenden die Metapher der Göttlichkeit des schaffenden Genies. Da diese Vorstellung jedoch zu ganz unterschiedlichen Zwecken ins Feld geführt wurde, werde ich mich im Folgenden ausschließlich auf die erkenntnistheoretische Begründung dieser Parallelisierung konzentrieren, weil nur diese zu jener Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis führt, die in Hölderlins und Schellings ›intellektueller Anschauung‹ ihren höchsten Ausdruck findet.
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Diese Herkunft der ›intellektuellen Anschauung‹ bei Hölderlin und Schelling ist noch nicht deutlich genug erkannt worden. Port verfolgt die Quellen dieser Idee bis in die griechische Philosophie zurück, vernachlässigt jedoch den ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts, den er erst sehr spät und nur nebenbei erwähnt; vgl. Port: ›Die Schönheit der Natur erbeuten‹ (Anm. 7), S. 93-119, hier S. 118. – Die ästhetische Natur dieses Vermögens wird auch von Auerochs nicht erkannt, der die Anschauung der Kunst bei Schelling als ein objektives Pendant zur intellektuellen Anschauung definiert, während Kunstanschauung und intellektuelle Anschauung dort in Wirklichkeit ein und dasselbe sind (vgl. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 15), S. 424). Vgl. Panofsky, Erwin: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der alten Kunsttheorie (1924). 2. verbesserte Auflage. Berlin 1960 (Studien der Bibliothek Warburg 5). Vgl. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Third Earl of: Soliloquy: Or, Advice to an Author; in: Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper Third Earl of: Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit paralleler deutscher Übersetzung. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Gerd Hemmerich und Wolfram Benda. Band I, 1: Ästhetik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981, S. 34-301, hier S. 110. – Vgl. hierzu Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens I (Anm. 7), S. 259-261.
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Die ästhetische Erkenntnis und die göttliche ›anschauende Erkenntnis‹ Am Ende der Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus, seiner ersten Begründung der Ästhetik als philosophische Disziplin, vergleicht Baumgarten den Künstler, der im Gedicht »gleichsam eine Welt« schafft, ausdrücklich mit dem »Schöpfer«.20 Diese hier eher beiläufig geäußerte Idee findet dann in Baumgartens System der Ästhetik eine tiefere Fundierung. Baumgarten geht nämlich bei seiner Rehabilitation der sinnlichen bzw. – nach der etymologischen Bedeutung des Wortes – ›ästhetischen‹ Erkenntnis, vom Bewusstsein des malum metaphysicum aus, d. h. von der Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis.21 Diese Beschränktheit führt dazu, dass auch die höhere menschliche Erkenntnis – die rationale oder, in der Sprache der Schulphilosophie, die ›deutliche Erkenntnis‹ – ihre Deutlichkeit nur durch einen Prozess der Abstraktion von den unendlichen Bestimmungen des gedachten individuellen Gegenstandes erreichen kann: Sie bezahlt ihre Deutlichkeit mit der Armut an Merkmalen. Die sowohl durch die Kunstproduktion als auch durch die Kunstrezeption vermittelte sinnliche oder ästhetische Erkenntnis erreicht hingegen nie die Deutlichkeit der rationalen Erkenntnis, sondern höchstens den Grad der ›Klarheit‹, kann aber dafür eine viel höhere Anzahl an Bestimmungen oder Merkmalen des Gegenstandes enthalten und ist insofern reicher als die rationale Erkenntnis. Gerade durch diesen ›Reichtum‹ nähert sie sich aber der höchsten Erkenntnis überhaupt: der anschauenden Erkenntnis Gottes, welcher ›auf einmal‹ – also intuitiv statt diskursiv – das Ganze der Natur und ihre Teile erblickt.22 Die ästhetische Erkenntnis ist nämlich eine Erkenntnis des Besonderen, dessen voll_____________ 20
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Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnulllis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Heinz Paetzold. Lateinisch – Deutsch. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek 352), S. 57 (§ 68). Zu Baumgartens Begründung der Ästhetik vgl. Franke, Ursula: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Wiesbaden 1972 (Studia Leibnitiana. Supplementa IX); Schweizer, Hans Rudolf: Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der Aesthetica A. G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des lateinischen Textes und deutscher Übersetzung. Basel – Stuttgart 1973; Solms, Friedhelm: Disciplina aesthetica. Zur Frühgeschichte der ästhetischen Theorie bei Baumgarten und Herder. Stuttgart 1990 (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 45). Vgl. die wichtigsten erkenntnistheoretischen Paragraphen der Aesthetica: Baumgarten, Alexander Gottlieb: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der Aesthetica (1750/58). Übersetzt und herausgegeben von Hans Rudolf Schweizer. Lateinisch – Deutsch. Zweite, durchgesehene Auflage. Hamburg 1988 (Philosophische Bibliothek 355), § 440-441, S. 68-71; § 557-565, S. 140-151.
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kommene Erkenntnis aber der Erkenntnis des Ganzen der Natur gleichkommt, insofern das Besondere nach der Definition der Metaphysik der Schule als ens omnimode determinatus eine Unendlichkeit von Bestimmungen besitzt.23 Die ästhetische Erkenntnis ist jedoch keine bloß passive Wahrnehmung, sondern vielmehr – ganz im Sinne von Leibniz’ produktiver Auffassung von Erkenntnis – eine Hervorbringung. Die ›lichtvolle Methode‹ in Baumgartens Meditationes und das Verfahren des Dichtungsvermögens in seiner Aesthetica beschreiben insofern nichts anderes als die Art und Weise, wie eine solche ästhetische Erkenntnis (v. a. durch Weglassungen und Verdichtungen) als ein dem großen Ganzen der Natur analoges Ganzes gebildet bzw. hervorgebracht wird. Der bei Baumgarten eher implizite Vergleich des Künstlers mit dem Schöpfer ist von einem ziemlich unbekannten Pädagogen namens Friedrich Gabriel Resewitz in seinem anonym erschienenen Aufsatz Über das Genie weitergeführt worden, in dem er die ›anschauende Erkenntnis‹ ausdrücklich zum Wesen des Genies erhebt.24 Diese Art der Erkenntnis, welche bereits Leibniz in den Nouveaux Essais ausschließlich Gott und nur teilweise auch den Genies zugesprochen hat,25 bedeutet eine simultane, d. h. intuitive Erkenntnis des Ganzen der Natur und ihrer Teile und ermöglicht somit dem Genie bei Resewitz, die Gegenstände oder das Besondere »in concreto« und damit in allen unendlichen Bestimmungen zu erfassen.26 Als Modell und zur Begründung der Möglichkeit einer solchen Erkenntnis nimmt Resewitz bezeichnenderweise die göttliche Sicht der Dinge, die zugleich höchst deutlich und intuitiv sein soll.27 Während Moses Mendelssohn eine solche anschauende Erkenntnis des Ganzen der Natur allein Gott vorbehält‚28 schreibt Lessing sie wenig_____________ 23 24
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Vgl. Baumgarten: Theoretische Ästhetik (Anm. 22), S. 141 (§ 557). Vgl. [Resewitz, Friedrich Gabriel]: Versuch über das Genie. Zweyter Abschnitt; in: Sammlung vermischter Schriften zur Beförderung der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Dritten Bandes erstes Stück [Herausgegeben von Christian Friedrich Nicolai]. Berlin 1760, S. 1-69, hier S. 7f. – Zu Resewitz vgl. Costazza, Alessandro: Genie und tragische Kunst. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern – Berlin – Bruxelles – Frankfurt/M. – New York – Paris – Wien 1999 (Iris 13), S. 77-80. Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm: Nouveaux Essais sur l’entendement humain. Livre IIIIV / Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Buch III-IV; in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Philosophische Schriften. Herausgegeben und übersetzt von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz. Band III. Zweite Hälfte. Darmstadt 1961, S. 580/582. Resewitz: Versuch über das Genie II (Anm. 24), S. 8. Vgl. auch ebd., S. 31 und 51. Resewitz: Versuch über das Genie II (Anm. 24), S. 38, 40f., 45. Vgl. Moses Mendelssohns Rezension von Resewitz’ Versuch in den Briefen die neueste Litteratur betreffend (210. Brief); in: Mendelssohn, Moses: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von I. Elbogen, J. Gutmann, E. Mittwoch. Fortgesetzt von A. Altmann, E. J. Engel. In Gemeinschaft mit F. Bamberger, H. Borodianski (Bar-Davan), S. Rawidowicz,
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stens mittelbar auch dem Künstler zu, indem er das Genie in der Hamburgischen Dramaturgie einen ›sterblichen Schöpfer‹ nennt, der sein Werk zu einem Ganzen bildet, welches »ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein« soll.29 Durch diese Idee der Gottähnlichkeit des schaffenden Künstlers will er allerdings nicht so sehr die produktive, schöpferische Kraft des Künstlers hervorheben; sie dient ihm vielmehr dazu, den Theodizee-Gedanken ästhetisch zu unterstützen und jedes »Murren wider die Vorsehung« wenigstens in der Kunst auszuschließen.30 Diese Argumentation macht andererseits eine wesentliche Funktion sichtbar, die der ästhetische Diskurs im Laufe des 18. Jahrhunderts übernommen hat: So wie die Ästhetik als philosophische Disziplin aus dem Zusammenbruch des rationalistischen Weltbildes entstanden ist, so werden auch die Argumente der Theodizee, je mehr sie angesichts der ›Tatsachen‹ an Gewicht verlieren, von der ästhetischen Diskussion (etwa in den Auseinandersetzungen über das Gefallen am Hässlichen, in den Theorien des Erhabenen und nicht zuletzt in der Theorie des Tragischen) übernommen. Schon lange vor Nietzsche hat also die Welt nur als ästhetisches Phänomen ihre Rechtfertigung gefunden.31 Die Auffassung von der göttlichen ›anschauenden Erkenntnis‹ als dem distinktiven Merkmal des Genies findet Eingang sowohl in die ästhetischen bzw. poetologischen Theorien der Aufklärung als auch in jene des Sturm und Drang – nur sie kann nämlich als vermittelnde Instanz zwischen dem Ganzen der Natur, als Makrokosmos, und dem Ganzen des Kunstwerkes, als Mikrokosmos, dienen. So schreibt etwa Friedrich von Blanckenburg in seiner Theorie des Romans (1774), die eine konkrete Anwendung auf eine spezifische Gattung der ästhetischen und poetologischen Positionen der Aufklärung darstellt, dass die Dichter, die sich »so gerne Schöpfer« nennen, diesen Namen nur verdienen, wenn sie »ihren Werken so viel Ähnlichkeit, als es möglich ist, mit den Werken des Uneingeschränkten […] geben«.32 Die Aufgabe des Künstlers besteht also nach _____________
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B. Strauss, L. Strauss, W. Weinberg. Band 5, 1: Rezensionsartikel in Briefe, die neueste Litteratur betreffend (1759-1765). Bearbeitet von Eva J. Engel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 487-492. – Vgl. dazu Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 24), S. 78f. und 51-55. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie [79. Stück]; in: Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Herausgegeben von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Arno Schilson, Jürgen Stenzel und Conrad Wiedemann. Band 6: Werke 1767-1769. Herausgegeben von Klaus Bohnen. Frankfurt/M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 6), S. 575-580, hier S. 577. Lessing: Hamburgische Dramaturgie [79. Stück] (Anm. 29), S. 577. Vgl. dazu Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 24), S. 398-402. Blanckenburg, Friedrich von: Versuch über den Roman. Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774. Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert. Stuttgart 1965 (Sammlung Metzler 39), S. 312f.
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Blanckenburg darin, das außer Gott nur ihm sichtbare Ganze der Natur auch dem Leser oder Zuschauer ›anschauend‹, d. h. ohne die Mediation der Sprache und des Verstandes, sichtbar zu machen.33 Ähnliche Gedanken finden sich dann auch in Jakob Michael Reinhold Lenz’ Anmerkungen übers Theater (1774). Der erste Grundsatz der Kunst ist nach Lenz nämlich die Nachahmung, die er aber als ein ›Nachäffen‹ des höchsten Schöpfers versteht, während er als zweite und wichtigste Quelle der Poesie das ›Anschauen‹ anführt.34 Damit meint er aber ganz genau die ›anschauende Erkenntnis‹ bzw. die Fähigkeit, »mit einem Blick durch die innerste Natur aller Wesen [zu] dringen«, »das Ganze« oder »das All« simultan zu erfassen und es immer »gegenwärtig« zu haben.35 Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass der Prozess, der bei Baumgarten mit einem Akt wenigstens scheinbarer Bescheidenheit angefangen hatte, indem aufgrund der Einsicht in die Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens auch den bloß klaren Erkenntnissen der Sinne eine gewisse Autonomie und Existenzberechtigung zugesprochen wurde, nun zur höchsten, gottähnlichen Erkenntnis überhaupt geführt hat. Was diesen Übergang vom analogon rationis zum analogon rationis dei ermöglicht hat, sind unzweifelhaft zwei Charakteristika, die die ästhetische Erkenntnis mit der göttlichen teilt: ihre intuitive Natur und ihr Ganzheitscharakter.36 Hatte nun Resewitz die Gottähnlichkeit der ästhetischen Erkenntnis durch eine Ausweitung auf die rationale Erkenntnis der sonst nur der sinnlichen Erkenntnis zukommenden Anschaulichkeit begründet, so entwickelt sich in Wirklichkeit die Rehabilitation der ästhetischen Erkenntnis in den Diskursen über das Genie in die geradezu entgegen gesetzte Richtung, d. h. durch die Hervorhebung der dunklen und unbewussten Anteile derselben.
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Vgl. ausführlicher Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 24), S. 80-83. Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater; in: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden. Herausgegeben von Sigrid Damm. Band 2. München – Wien 1987, S. 641-671, hier S. 645-647. Lenz: Anmerkungen übers Theater (Anm. 34), S. 646f.; vgl. dazu auch Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 24), S. 83-86. Vgl. ähnlich Schulte-Sasse, Jochen: Der Stellenwert des Briefwechsels in der Geschichte der deutschen Aufklärung; in: Lessing, Gotthold Ephraim / Mendelssohn, Moses / Nicolai, Friedrich: Briefwechsel über das Trauerspiel. Herausgegeben und kommentiert von Joche Schulte-Sasse. München 1972, S. 168-237, hier S. 178; Baeumler, Alfred: Kants ›Kritik der Urteilskraft‹. Ihre Geschichte und Systematik. Erster Band: Das Irrationalitaetsproblem in der Aesthetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur ›Kritik der Urteilskraft‹. Halle/S. 1923, S. 242f.
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Das Dunkle und Unbewusste der ästhetischen Erkenntnis In zahlreichen Genie-Theorien der Zeit, sowohl französischer als auch englischer oder deutscher Provenienz, werden die Naturverbundenheit und das Naturhafte des Genies dadurch hervorgehoben, dass das Genie mit einer Pflanze (Young, Gerard, Dubos) bzw. mit der Erde (Batteux) oder mit den Trieben der Tiere (Diderot) verglichen wird.37 In Deutschland hat vor allem Johann Georg Sulzer in den Artikeln ›Erfindung‹ und ›Genie‹ seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste sowohl die Pflanzenanalogie als auch den Vergleich mit den Trieben der Tiere aufgenommen und den unbewussten Charakter der Genieproduktionen hervorgehoben.38 Der Ursprung dieses Gedankens ist zumindest in Deutschland ziemlich eindeutig: Es handelt sich um die leibnizsche Idee der petites perceptions. Jedes Seiende bzw. jede Monade steht nach Leibniz mit jedem anderen Wesen des Universums in Verbindung, aber diese Verbindungen können infolge der Beschränktheit des Erkenntnisvermögens nicht alle deutlich, sondern höchstens dunkel wahrgenommen bzw. empfunden werden.39 Diese bloß unbewussten Empfindungen – die petites perceptions eben – stellen jedoch den Ursprung jeder Empfindung und letztendlich auch jeder Erkenntnis dar. Nur in der Dunkelheit dieser petites perceptions spiegelt also die menschliche Monade, trotz des malum metaphysicum, das Ganze des Universums wider und nähert sich dadurch gewissermaßen der göttlichen Sicht. Nicht durch eine Erhöhung oder Verfeinerung der auf Abstraktion basierenden rationalen Erkenntnis nähert sich somit auch der Mensch dem göttlichen Blick, sondern gerade umgekehrt durch eine Versenkung in die dunklen Gefilde des fundus animi.40 _____________ 37
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Vgl. Abrams, M[eyer] H[oward]: Spiegel und Lampe. Romantische Theorie und die Tradition der Kritik. Übersetzt und eingeleitet von Lore Iser. München 1978 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 42), S. 250-255 und speziell für Deutschland S. 255-269; Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens (Anm. 7), S. 132f.; Wolf, Herman: Versuch einer Geschichte des Geniebegriffs in der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. I. Band: Von Gottsched bis auf Lessing. Heidelberg 1923, S. 34 (Young), S. 42 (Gerard), S. 54 (Dubos), S. 57 (Batteux), S. 65 (Diderot). Vgl. Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden, Artikeln abgehandelt. Band II. Reprografischer Nachdruck der 2. vermehrten Auflage Leipzig 1792. Hildesheim 1967, S. 93f. und 364. Vgl. etwa Leibniz’ Préface zu seinen Nouveaux Essais sur l’entendement humain in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Philosophische Schriften. Herausgegeben und übersetzt von Wolf von Engelhardt und Hans Heinz Holz. Band III. Erste Hälfte. Darmstadt 1959, S. XXII-XXIV. Vgl. hierzu Adler, Hans: Fundus Animae – der Grund der Seele. Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung; in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 197-220; Adler, Hans: Die Prägnanz des Dunklen –
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Einen der deutlichsten Ausdrücke dieser Theorie findet man etwa im Artikel ›Génie‹ der Encyclopédie, den manche Denis Diderot, andere hingegen Jean-François de Saint-Lambert zuschreiben.41 Hier wird gesagt, dass der Mensch, »jetté dans l’univers«, »reçoit avec des sensations plus ou moins vives, les idées de tous les êtres«, so dass derjenige ein Genie ist, der eine »ame plus étendue« besitzt, die beim Kontakt mit allen Wesen unmittelbar aktiv und produktiv wird. Gerade infolge dieser ›breiteren Seele‹ wirft das Genie »sur la nature des coups-d’œil géneraux & perce ses abîmes«. Das Genie »observe rapidement un grand espace, une multitude d’êtres« und sammelt auf diese Weise »dans son sein des germes qui y entrent imperceptiblement, & qui produisent dans le tems des effets si surprenans, qu’il est lui-même tenté de se croire inspiré«.42 Eine ähnliche Auffassung vertritt mehr als ein halbes Jahrhundert später in Italien auch Giacomo Leopardi, der ebenfalls von der vorrationalen Natur des Enthusiasmus und vom »colpo d’occhio«, vom göttlichen Überblick des Genies, schreiben wird.43 Die bis jetzt verfolgte Entwicklung der Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis kulminiert jedoch in Deutschland bei einem Autor, der zwar zu den Begründern der deutschen Klassik zählt, aber trotzdem einen tiefen Einfluss auf die Kunsttheorie der Romantik und des Idealismus ausgeübt hat: in den ästhetischen Schriften von Karl Philipp Moritz.44 In seinem Aufsatz Die metaphysische Schönheitslinie geht dieser ausgerechnet vom – der Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens wegen – problematischen Verhältnis zwischen dem Ganzen der Natur, das nur in den Augen Gottes ein schönes Schauspiel darstellt, und dem Ganzen des Kunstwerks aus, das eine Widerspiegelung im »verjüngten Maßstabe« jener metaphysischen ›höchsten Schönheit‹ sein soll.45 Ohne zu _____________ 41
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Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1990 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 13). Vgl. Wolf: Versuch einer Theorie des Geniebegriffs (Anm. 37), S. 73f. Gegen eine solche Zuschreibung an Saint-Lambert äußert sich hingegen Dieckmann, Herbert: Diderot’s Conception of Genius; in: Journal of the History of Ideas II (1941), S. 151-182, hier insbesondere S. 163, Anm. 19. ›Génie‹; in: Encyclopédie ou dictionnaire Raisonné des sciences, des arts et des métiers. Nouvelle impression en facsimilé da la première édition de 1751-1780. Volume 7. StuttgartBad Cannstatt 1966, S. 582-584, hier S. 582f. Vgl. Costazza, Alessandro: »Questi tedeschi sempre bisognosi di analisi, di discussione, di esattezza«. Leopardi und die deutsche Philosophie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts; in: Ginestra. Periodikum der Deutschen Leopardi-Gesellschaft 12 (2002), S. 9-28. Zu Moritz’ ästhetischer Theorie vgl. Costazza, Alessandro: Schönheit und Nützlichkeit. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern – Berlin – Frankfurt/M. – New York – Paris – Wien 1996 (Iris 10); Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 24). Moritz, Karl Philipp: Die metaphysische Schönheitslinie; in: Moritz, Karl Philipp: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 2: Popular-
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erklären, wie der Künstler jene einzige wahre Totalität auch nur dunkel wahrnehmen kann, konzentriert sich Moritz in diesem Aufsatz auf die künstlerische Arbeitsweise, die im Grunde, ganz ähnlich wie Baumgartens ›lichtvolle Methode‹ bzw. wie das Dichtungsvermögen (facultas fingendi), »gleichsam negativ« zu Werke gehe, indem sie die Begebenheiten der wirklichen Welt aus ihrem unendlichen Zusammenhang ausschneide und sie dann untereinander wieder in Beziehung setze, um auf diese Art und Weise eine wenigstens scheinbare Totalität zu bilden.46 In seinem wichtigsten ästhetischen Aufsatz Über die bildende Nachahmung des Schönen nimmt Moritz dann eine entschiedene Irrationalisierung des künstlerischen Bildungsprozesses vor. Darin schreibt er der »Thatkraft« des Genies die Fähigkeit zu, das einzige wahre Ganze im großen Zusammenhang der Dinge, das weder »die unterscheidende Denkkraft« noch »die darstellende Einbildungskraft« noch »der äußre Sinn« umfassen können, »in dunkler Ahndung auf einmal« – also intuitiv – zu erfassen.47 Die Tatkraft des Genies muss nämlich »so weit, wie die Natur selber sein« und den unendlichen auf sie zuströmenden Eindrücken eine Unendlichkeit von Berührungspunkten anbieten.48 Die innigste Berührung zwischen dem Ganzen der Natur und dem Ganzen der »dunkelahnenden Tatkraft«49 des Künstlers löst alsdann den künstlerischen Schaffensprozess sozusagen automatisch aus, so dass der Künstler mit absoluter Notwendigkeit anfangen muss, »die vollkommensten Verhältnisse des großen Ganzen der Natur« »wie an den Spitzen seiner Strahlen, in einen Brennpunkt [zu] fassen«, um sie »zu einem für sich bestehenden Ganzen« zu bilden, das jene Verhältnisse »im verjüngenden Maßstabe« spiegelt.50 In einem weiteren Schritt spezifiziert Moritz, dass jene »dunkelahnende Tatkraft«, die das Genie auszeichnet und es zur künstlerischen Produktion zwingt, Ausdruck einer natürlichen Urkraft sei, die wie ein schopenhauerscher Wille in einem unaufhaltsamen Prozess der Bildung und Zerstörung bzw. der Bildung durch Zerstörung durch alle Reiche der Natur hindurchgehe.51 _____________ 46 47
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philosophie – Reisen – Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), S. 950-957, hier insbesondere S. 952. Vgl. Moritz: Die metaphysische Schönheitslinie (Anm. 45), S. 954. Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen; in: Moritz, Karl Philipp: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier. Band 2: Popularphilosophie – Reisen – Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), S. 958-991, hier S. 971f. Moritz: Über die bildende Nachahmung (Anm. 47), S. 972. Moritz: Über die bildende Nachahmung (Anm. 47), S. 971. Moritz: Über die bildende Nachahmung (Anm. 47), S. 973. Vgl. Moritz: Über die bildende Nachahmung (Anm. 47), S. 979f.
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Eine solche irrationalistische Auffassung der künstlerischen Produktion neigt jedoch dazu, die Bedeutung des traditionsreichen Begriffs der Naturnachahmung zu revolutionieren und das Genie selbst letztendlich zum bloßen Werkzeug zu degradieren. Nicht mehr das Kunstwerk imitiert dann die natürlichen Gegenstände (natura naturata), sondern das Genie ahmt diesem Verständnis zufolge in seinem Schaffen den natürlichen Bildungsprozess (natura naturans) nach. Diese Vorstellung ist freilich nicht absolut neu: Schon bei Shaftesbury hat es unmittelbar nach dem berühmten Passus über den ›second Maker‹ geheißen, dass der Künstler – nach Sulzers Übersetzung im Artikel ›Dichter‹ – »[g]leich jenem obersten Künstler oder der allgemeinen bildenden Natur […] ein Ganzes [formet], wol zusammenhangend und in sich selbst abgemessen«.52 In Deutschland hat aber als erster gerade Baumgarten in seinen Meditationes das Prinzip der imitatio auf die natura naturans bezogen, und ihm ist dann fast vierzig Jahre später Sulzer gefolgt, als er im Artikel ›Natur‹ das »Verfahren der Natur« als »die eigentliche Schule des Künstlers« bezeichnet.53 Ganz ähnlich behauptet auch Blanckenburg, dass »der so gepriesene Grundsatz der Nachahmung« nichts anderes bedeuten kann, als dass der Künstler bei der Produktion seiner Werke »wie die Natur in der Hervorbringung der ihrigen« verfährt.54 Und Moritz schreibt schließlich, dass »das Nachahmen in den schönen Künsten« ein Nachstreben und Wetteifern des Künstlers mit einer als dynamisches Prinzip verstandenen Natur sei;55 ja, die ›bildende Nachahmung‹ des Künstlers sei in Wirklichkeit nur ein Teil des natürlichen Schaffensprozesses selbst, den Moritz bezeichnenderweise als eine ›Nachahmung‹ versteht, d. h. als ein Streben alles Seienden nach dem höchsten Schönen.56 Am Ende der Entwicklung führt also die Irrationalisierung der Kunstproduktion im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Eliminierung des Genies selbst, das zum bloßen Werkzeug einer dunklen natürlichen Urkraft wird, die durch ihn hindurch im Kunstwerk ihre höchste, sozusagen schopenhauersche Erlösung im Schein feiert.57 Es ist daher kein Wunder, dass das Kunstwerk im letzten Teil von Moritz’ Bildender Nachahmung zur Offenbarung des tiefsten Wesens des Seins avanciert: Vor allem in der ›tragi_____________ 52 53 54 55 56 57
Vgl. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste (Anm. 38), S. 613. Vgl. Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste (Anm. 38), S. 507; vgl. außerdem Baumgarten: Meditationes (Anm. 20), S. 80 (§ CVIII-CX). Blanckenburg: Versuch über den Roman (Anm. 32), S. 313. Vgl. Moritz: Über die bildende Nachahmung (Anm. 47), S. 959 und 970. Vgl. Moritz: Über die bildende Nachahmung (Anm. 47), S. 990. Von dieser doppelten Funktion als ›Offenbarung‹ und ›Erlösung‹, die die Kunst mit der Religion teilt, spricht auch Auerochs, allerdings nicht in Bezug auf Moritz. Vgl. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 15), S. 14f.
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schen Kunst‹ äußert sich augenblicklich das tragische Gesetz der Bildung, jener unaufhaltsame Prozess von »Aufhören und Werden, Zerstörung und Bildung«, zu dem notwendigerweise auch das Leiden des Einzelnen gehört.58 Auch dieses individuelle Leiden wird allerdings durch seine Darstellung in der Kunst, dank des Mitleids, das eine sympathetische Überwindung der Individualität bedeutet, in die Gattung aufgenommen: »Das Auge blickt dann, sich selber spiegelnd, aus der Fülle des Daseins auf. –«59 Sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption der Kunst ermöglichen also nur die Überwindung der Einschränkungen des Subjekts – des principium individuationis – und ein pantheistisches Einswerden »mit allem, was lebt«, einen Blick hinter den ›Schleier der Maya‹, d. h. in Hölderlins ›ewige Schönheit‹ als das »Unendlicheinige« bzw. das »Eine in sich selber unterschiedne«.60 Obwohl Moritz den Begriff der ›intellektuellen Anschauung‹ nicht gebraucht, nimmt seine Beschreibung der Wirkung der tragischen Kunst Hölderlins und Schellings Vorstellung dieser besonderen Art von Erkenntnis unmittelbar vorweg.61 Nicht von ungefähr wird Hölderlin die Tragödie als »Metapher einer intellektuellen Anschauung« bezeichnen.62 Auch Schelling vertritt in seiner Rede Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur die Auffassung der Nachahmung der natura naturans63 und unterstreicht am Ende des Systems des transcendentalen Idealismus das Unbewusste im Hervorbringungsprozess des Genies: Nur dieses Unbewusste – die Überwindung des Subjekts also – mache das Genie zum Werkzeug einer Offenbarung des höchsten Seins und das Kunstwerk zum Produkt und zugleich Mittel der ›intellektuellen Anschauung‹.64 Insofern aber der Inhalt dieser Anschauung die ›ewige Schönheit‹ ist und die Religion – wie Hyperion sagt – nichts anderes als ›Liebe der Schönheit‹ im Sinne von Platons Gastmahls, d. h. ein Streben nach ihr meint, wird die Kunst eben zur Religion. _____________ 58 59 60 61 62
63 64
Vgl. Moritz: Über die bildende Nachahmung (Anm. 47), S. 990. Moritz: Über die bildende Nachahmung (Anm. 47), S. 991. Hölderlin: Hyperion (Anm. 1), S. 92. Vgl. zu Moritz’ Neubestimmung des Tragischen als Organon einer intellektuellen Anschauung: Costazza: Genie und tragische Kunst (Anm. 24), S. 429-454. Hölderlin, Friedrich: Über den Unterschied der Dichtarten; in: Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden. Herausgegeben von Jochen Schmidt. Band 2: Hyperion – Empedokles – Aufsätze – Übersetzungen. Herausgegeben von Jochen Schmidt in Zusammenarbeit mit Katharina Grätz. Frankfurt/M. 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker 108), S. 553-559, hier S. 553 und 555. Vgl. Schelling, F[riedrich] W[ilhelm] J[oseph]: Über das Verhältnis der bildenden Künste zu der Natur. Mit einer Bibliographie zu Schellings Kunstphilosophie. Eingeleitet und herausgegeben von Lucia Sziborsky. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek 344), S. 4f. Vgl. Schelling: System des transcendentalen Idealismus (Anm. 12), S. 695f.
Die Vergöttlichung der ästhetischen Erkenntnis
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In dieser Tradition muss auch Schleiermachers Einführung des Begriffs ›Kunstreligion‹ in der dritten Rede Über die Religion (1799) betrachtet werden:65 Obwohl die Verwendung des Begriffs eher beiläufig erfolgt, stellt sie in Wirklichkeit eine konsequente Folge von Schleiermachers ästhetischer Auffassung von Religion dar. Was er unter ›Religion‹ versteht, ist eben die ›anschauende Erkenntnis‹ des Genies oder die ›intellektuelle Anschauung‹. An unzähligen Stellen seiner Reden wiederholt er, dass »Religion […] Sinn und Geschmack fürs Unendliche« bzw. die »sinnliche Anschauung« oder die »dunkle Ahndung« des ganzen Universums sei.66 Die »sinnliche Anschauung« bedeutet aber auch für ihn, genau wie schon für die Schulphilosophie, eine unmittelbare Erkenntnis des einzelnen Dings,67 das nur »als Element des Ganzen« betrachtet werden kann, denn »im Universum kann es nur etwas sein durch die Totalität seiner Wirkungen und Verbindungen«:68 Aus diesem Grund verwandelt sich diese Erkenntnis des Einzelnen in eine Erkenntnis des Unendlichen bzw. der ganzen Natur. Auch bei Schleiermacher, wie v. a. bei Schelling und Hölderlin, bedeutet diese sinnliche Anschauung andererseits ein pantheistisches Einswerden mit der Natur69 bzw. mit der natürlichen »ewigen Gärung einzelner Formen und Wesen«,70 aber auch mit der geschichtlichen Entwicklung, mit ihrem unaufhörlichen Werden im Vergehen, wo »der hohe Weltgeist über alles lächelnd hinwegschreitet, was sich ihm lärmend widersetzt«.71 Dass Schleiermacher die Kunst in seiner dritten Rede als parallele Erscheinung zur Religion und in der Moderne geradezu als Propädeutik zur _____________ 65
66 67 68 69
70 71
Vgl. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit einer Einleitung herausgegeben von Andreas Arndt. Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek 563), S. 93. – Vgl. ausführlicher zu Schleiermachers Auffassung des Begriffs ›Kunstreligion‹: Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 15), S. 438-482 sowie den Beitrag von Heinrich Detering im vorliegenden Band, S. 11-27. Vgl. etwa Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 29-31, 33, 48, 70f. u. a. m.; von ›dunkler Ahndung‹, die unmittelbar an Moritz erinnert, redet Schleiermacher auf S. 92. Vgl. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 33. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 85. Spinoza wird von Schleiermacher zweimal ausdrücklich und in den höchsten Tönen erwähnt (vgl. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 31 und 71) und auch das Hen kai pan klingt wiederholt mit (vgl. ebd., S. 29 und 71). Man vergleiche auch die unmittelbar an Werthers Brief vom 10. Mai erinnernde pantheistische Erfahrung: »Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben, wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblicke mein Leib […]« (ebd., S. 41f.). Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 29. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 57.
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Religion auffasst, nimmt bei einer solchen ästhetischen Auffassung von Religion nicht wunder und erscheint vielmehr geradezu als konsequent. Der »Anblick großer und erhabner Kunstwerke« bewirkt nämlich Schleiermacher zufolge, dass dem Menschen, der an nichts weniger dachte als sich über das Endliche zu erheben, in einem Moment wie durch eine innere unmittelbare Erleuchtung der Sinn fürs Universum aufgeht, und es ihn überfällt mit seiner Herrlichkeit.72
In der Moderne stehen zwar Religion und Kunst nach Schleiermacher – als »Quellen der Anschauung des Unendlichen« – »nebeneinander wie zwei befreundete Seelen deren innere Verwandtschaft, ob sie sie gleich ahnden, ihnen doch noch unbekannt ist«.73 Gerade deswegen wird aber die ›Kunstreligion‹, als Vereinigung von beiden verstanden, zum Programm für die zukünftige Entwicklung: Sie zusammenzuleiten und in einem Bett zu vereinigen, das ist das Einzige was die Religion, auf dem Wege den wir gehen, zur Vollendung bringen kann, das wäre eine Begebenheit aus deren Schoß sie bald in einer neuen und herrlichen Gestalt bessern Zeiten entgegen gehen würde.74
Auch für Schleiermacher lässt sich also behaupten, dass jene Erhöhung der Kunst zur Religion, die etwa Hölderlin (bzw. sein Hyperion) den Athenern zuschrieb, aber implizit auch für die Kunst seiner Zeit und für die Kunst der Zukunft zusammen mit Schelling oder Hegel im Ältesten Systemprogramm reklamierte, das folgerichtige Ergebnis der Entwicklung der Ästhetik als erkenntnistheoretische Disziplin im Laufe des 18. Jahrhunderts darstellt. Die in den Genie-Vorstellungen der Zeit enthaltene Idee der Gottgleichheit des Künstlers – und somit auch die in dieser Zeit ansetzende kultische Verehrung desselben – basierte letztendlich auf der Idee der Gottähnlichkeit der ästhetischen Erkenntnis, wobei das Göttliche dieser Erkenntnis ausgerechnet in ihrer sozusagen triebhaften Dunkelheit bestand, so dass schließlich das subjektive Moment des Künstlers selbst zugunsten des Kunstwerks als Objektivation und Offenbarung des Absoluten eliminiert wurde. Diese Bestimmung des Kunstprodukts als »einzige und ewige Offenbarung, die es gibt«,75 öffnete aber der »Kunstreligion als einer Ersatzreligion«76 den Weg.
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Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 93. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 94. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 65), S. 94f. Schelling: System des transcendentalen Idealismus (Anm. 12), S. 686. Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens (Anm. 7), S. 396; vgl. auch S. 400f.
STEFANIE BUCHENAU
Kunstreligion und Vernunftabstraktion Zur Genealogie des Konzepts vor 1800 (Baumgarten, Kant, Schleiermacher) Die Frage nach dem Ursprung des romantischen Begriffs und Phänomens ›Kunstreligion‹ führt uns, wie die jüngere Forschung auch richtig erkannt hat,1 in die Aufklärung zurück. Dort aber erfordert sie offenbar eine ausgedehntere Perspektive als die disziplinimmanente des Kunst- oder Religionshistorikers, weil sich die Entstehung der Kunstreligion weder aus der Entwicklung der Kunst noch aus der der Religion oder aus beider Interaktion allein erklären lässt. Vielmehr gründet sie, wie folgender Beitrag ausführen will, in der modernen Entwicklung der Philosophie. Neben der Kunst und der Religion kommt als dritter Akteur jedenfalls die philosophische Vernunft ins Spiel. Anders ausgedrückt: Die moderne (genauer: romantische) Verwandtschaft und Rivalität von Kunst und Religion, in der die Kunst der Religion an die Seite tritt, ihr aber auch einen Teil der Aufgaben streitig macht, kann nur aus der Dreieckskonstellation zwischen Kunst, Religion und philosophischer Vernunft heraus verstanden werden. Vor allem Aufblühen der Künste bis hin zur Kunstreligion ist es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst zu einer ›Krise‹,2 d. h. zur Schwächung und Verarmung der Philosophie gekommen. Diese zeigt plötzlich Anzeichen extremer Erschöpfung, als könnte sie ihre weitreichenden Ziele und Ambitionen nicht einlösen, hätte sich mit ihrem rationalistischen Programm übernommen und würde plötzlich ihrer Grenzen und intrinsischen Beschränktheit gewahr: ihrer ›Abstraktheit‹, wie es nun _____________ 1
2
»Die entscheidende Folie für die neuzeitlichen Debatten um das Verhältnis zwischen Ästhetik/Kunst und Religion/Theologie bildet der Rationalismus« (Müller, Ernst: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004 (Literaturforschung), S. 1). »Lorsqu’elle naît à la fin du XVIIIe siècle, la théorie spéculative de l’Art est d’abord et avant tout la réponse à une double crise spirituelle, celle des fondements religieux de la réalité humaine et celle des fondements transcendants de la philosophie. Les deux crises sont liées aux Lumières et elles atteignent leur apogée – intellectuelle – en Allemagne avec le criticisme kantien« (Schaeffer, Jean-Marie: La religion de l’art: un paradigme philosophique de la modernité; in: Revue germanique internationale 2 (1994), S. 195-207, hier S. 198).
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heißt. Die Metaphysik als höchste philosophische Disziplin sieht sich neuen Angriffen ausgesetzt. Diese Korrelation zwischen der Abwertung der Philosophie im Namen ihrer ›Abstraktion‹ und der religiösen Aufwertung der Kunst ist bei einigen zentralen (Kunst-)Philosophen der Aufklärung direkt einsichtig: Alexander Gottlieb Baumgarten stellt schon um 1735 als einer der ersten die ›Dürre‹ und ›Trockenheit‹ der Philosophie heraus. Wie seine Aesthetica zeigt, ist für die Renaissance der Kunst als Gegenstand von ›Ästhetik‹ zunächst ganz eindeutig die Philosophie verantwortlich, da sie an die Kunst appelliert, um sich der Theologie gegenüber zu behaupten und die eigene rhetorische bzw. homiletische Überzeugungskraft zu wahren. Auf diese Weise tritt die Kunst direkt in den Dienst der Philosophie und indirekt in den der Religion. Diesem ersten Angriff auf die Philosophie folgen weitere. Sowohl Kant als auch Schleiermacher setzen sich in ihrer Philosophie mit der wesentlichen Abstraktion oder Abstraktheit der philosophischen und metaphysischen Vernunft auseinander. Schleiermacher formuliert vielleicht die schärfste Kritik überhaupt: Die Abstraktion sei eigentlich für den Verlust des religiösen Fundaments von Philosophie und Metaphysik verantwortlich. Damit aber verändern sich die Frontstellungen. Mit Schleiermacher wird die Kunst (als unbegriffliche, der Einheit des Gefühls entspringende) erstmals zur direkten Verbündeten der Religion. In dieser Debatte zeigt sich nun, dass der Streit der Fakultäten (Philosophie vs. Theologie) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch lange nicht befriedet ist und jetzt vielmehr neue Fakultäten oder Instanzen (nämlich die Kunst) involviert. Nachdem die moderne philosophische und wissenschaftliche Vernunft als ›Physikotheologie‹ die Theologie als oberste Autorität zu verdrängen versucht und für sich in Anspruch genommen hatte, die Existenz Gottes aus der Natur und Vollkommenheit der Welt heraus beweisen zu können, treten nun in der Debatte um die Kunstreligion die Dichter und Theologen in Konkurrenz zueinander, was neue Spannungen zur Folge hat. Peter Harrisons Formel »vocational tensions«3 scheint zur Beschreibung des Phänomens ›Kunstreligion‹ historisch präziser zu sein als Begriffe wie ›Amphibolie‹ oder ›Verwechselbarkeit‹,4 insofern er die gemeinsame Ambition von Religion, Philosophie und Kunst _____________ 3
4
Harrison, Peter: Physico-Theology and the Mixed Sciences. The Role of Theology in Early Modern Natural Philosophy; in: The Science of Nature in the Seventeenth Century. Patterns of Change in Early Modern Natural Philosophy. Edited by Peter R. Anstey and John A. Schuster. Dordrecht 2005 (Studies in History and Philosophy of Science 19), S. 165-183, hier S. 165. »Im Zentrum dieses Buches steht ein theoretisches Problem, das […] als Amphibolie (Verwechselbarkeit, Doppeldeutigkeit) des Ästhetischen und Religiösen beschrieben werden soll« (Müller: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion (Anm. 1), S. IX).
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zum Ausdruck bringt, zum Mittler zwischen Gott und dem Menschen zu werden. Kurz: Für die Interpretation der romantischen Kunstreligion gilt es, jeweils die Dreieckskonstellation von Kunst, Philosophie und Religion mit zu berücksichtigen. Die philosophische und theologische Aufwertung der Kunst ergibt sich direkt aus neuen aufklärerischen Einsichten in die abstrakte Natur der philosophischen Vernunft. Falls sich diese These erhärten lässt, wirft sie neue Probleme auf. Wenn die Kunstreligion nämlich wirklich ursprünglich aus der Einsicht in das Unvermögen der Philosophie entsteht, wie hier gezeigt werden soll, dann kommt der entscheidende Anstoß zur Revolution in der Kunst eigentlich von außen, und die Erklärung bleibt zunächst rein negativ. Statt auf die Macht oder Allmacht der Kunst verweist sie auf das Unvermögen oder die Überforderung von Philosophie und Vernunft. Damit stellt sich aber die Frage, ob die Idee einer Kunstreligion nicht unerfüllbare Anforderungen auf die Kunst projiziert.
* In der Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens, der die Philosophie der Kunst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als neue Disziplin eigentlich begründet, ist der Zusammenhang zwischen Aufwertung der Kunst und Abwertung der philosophischen Vernunft im Namen der Abstraktheit offensichtlich. Baumgarten selbst beschreibt in den Meditationes philosophicae de nonnullis de poema pertinentibus (›Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes‹) von 1735 und auch in den Gedanken vom Vernünfftigen Beyfall auf Academien,5 seiner Antrittsrede an der Viadrina (Frankfurt/ Oder), die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts neu aufflammende Debatte um das Wesen und Vermögen der Philosophie, in der ganz verschiedene Vorstellungen von und Ansprüche an Philosophie aufeinanderprallen. Um nur kurz aus Baumgartens detaillierter Darstellung zu zitieren: Iener schwiert, wie sie tumm, ungeschickt, finster, und selbst zu denen schönen Wissenschaften untauglich mache. Dieser hält sie so theuer als den Stein der Weisen. Iener murret, daß er nicht einmahl Hunde mit ihr aus dem Ofen locken könne.6
_____________ 5 6
Baumgarten, Alexander Gottlieb: Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien. Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Alexander Aichele; in: Aufklärung 20 (2008), S. 271-304, hier S. 301 (§ 12). Baumgarten: Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien (Anm. 5), S. 301 (§ 12).
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Der Hintergrund dieser Debatte um die auch Metaphysik und natürliche Theologie umgreifende Philosophie ist eigentlich ein sprachphilosophischer: Baumgarten wirft – in den Meditationes sowie in den Gedancken – die Frage auf, ob die Philosophie mit den sprachlichen Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, das sich gesteckte Ziel erreichen kann. Ist sie wirklich ›Weltweisheit‹ oder lediglich »Schulfüchserey«7 (hier erscheint ein ganz neues Leitmotiv)? Damit beginnt eine Reflexion über die Eigenart der philosophischen wie der künstlerischen ›oratio‹ (wie es in den Meditationes heißt) und ihrer Zeichen, die für die Romantik und die Folgezeit außerordentlich fruchtbar werden soll. Diese sprachphilosophische Reflexion hat seit den klassischen Werken von Alfred Baeumler und Ernst Cassirer aus den 1920er Jahren bereits eine gewisse Beachtung gefunden. Cassirer siedelt in seiner Philosophie der Aufklärung8 auch schon den Impetus zur ästhetischen Revolution des 18. Jahrhunderts in der Logik und der rationalistischen Philosophie an und beschreibt sie damit als eine von außen auf die Kunst übertretende. Auf die Mängel der philosophischen Rede kommt Baumgarten in den Gedancken von 1740, die ihren Ausgang von der Vollkommenheit der Rede nehmen, ganz explizit zu sprechen: […] wo die Lebhafftigkeit der Vorstellungen sehr fehlet, da bringet sie den Fehler, den man die Trockenheit und Dürre manchmal in den Reden und in der Schreibart benennt, siccum et spinosum dicendi scribendique genus, hervor.9
Den Hintergrund zu dieser These bildet sein Begriff der abstrakten Erkenntnis, der in den Meditationes philosophicae erstmals zur negativen Kennzeichnung und Kritik der Philosophie verwendet wird. In der Leibniz/Wolff-Schule ist die Abstraktion eigentlich gerade Zeichen einer dichterischen Dimension der Vernunft gewesen, deren Kreativität oder Erfindungskraft das Vermögen zur Trennung und Absonderung zugrundeliegen sollte. Indem die Ökonomie der Zeichen die Verkürzung langer Gedankenketten ermöglicht, vermeidet das Gemüt die Zerstreuung und konzentriert oder ›versammelt sich‹ auf das Wesentliche; auf diese Weise ist es in der Lage, durch Gedankenexperiment und Kombination – diejenige Art von Dichtung, die die Mathematik auszeichnet – neue Zusammenhänge zu erkennen und durch das Vermögen der Schlüsse neue Wahrheiten zu entdecken. Bei Baumgarten bleibt die Abstraktion in diesem Sinne positiv konnotiert. So heißt es in seiner Metaphysica: _____________ 7 8
9
Baumgarten: Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien (Anm. 5), S. 300 (§ 12). Cassirer, Ernst: Die Philosophie der Aufklärung. Mit einer Einleitung von Gerald Hartung und einer Bibliographie der Rezensionen von Arno Schubbach. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1932. Hamburg 1998 (Philosophische Bibliothek 513), S. 448ff. Baumgarten: Gedancken vom vernünfftigen Beyfall auf Academien (Anm. 5), S. 292 (§ 6).
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Wenn ich, nachdem ich zerstreuet worden, meine Gedanken von den vielen Sachen von anderer Art abziehe, und dadurch meine Aufmerksamkeit auf einen gewissen Gegenstand vermehre, so sammle ich mein Gemüth (collectio animi). Folglich wird durch diese Sammlung, und folglich durch die Abstraction, die Zerstreuung verhindert.10
Gleichzeitig stellt Baumgarten aber auch die Kehrseite, d. h. die Armut der abstrakten Vernunft, heraus. Als Erster weist er darauf hin, dass die Abstraktion der philosophischen Sprache notwendig die Zielsetzung der Vernunft bestimmt und einschränkt. Diese könne mit dem ihr zur Verfügung stehenden Werkzeug – der Sprache nämlich – nicht gleichzeitig Anschaulichkeit und logische Transparenz anstreben. Entweder ziele die Rede auf Anschaulichkeit und rhetorischen Reichtum ab oder, wie Baumgarten es in Anlehnung an und Erweiterung von Leibniz’ und Wolffs philosophischer Terminologie formuliert, auf ›extensive Klarheit‹ bzw. – wie in der Philosophie – auf logische Transparenz. Vor Augen führt sie dann nicht die Sachen selbst, sondern deren logische Zusammenhänge, indem sie von der Merkmalsfülle abstrahiert. Die Hybris des früheren Rationalismus besteht demzufolge darin, beides auf einmal gewollt zu haben. Aus diesem Grunde findet sich diese Unterscheidung zwischen intensiver und extensiver Klarheit weder in Leibniz’ noch in Wolffs Abstufung der Erkenntnisse, die zwischen deutlicher, klarer und verworrener, dunkler Erkenntnis differenziert. Die neue, von Baumgarten geprägte Kategorie der extensiven Klarheit weist somit auf eine ganz neue Ausdifferenzierung der Formen von Rede hin.11 Diese These zur Abstraktion der Philosophie stellt mit der rhetorischen aber auch die theologisch-praktischen und homiletischen Qualitäten der Philosophie in Frage. Der Philosophie steht gar nicht diejenige Art von Rede oder von Sprache zur Verfügung, die uns die Schönheit der Schöpfung lebhaft vor Augen führen könnte. Der Philosoph spricht und denkt nicht erbaulich. Diese Folgerung aus den sprachphilosophischen und semantischen Überlegungen findet sich explizit in Alexander Baumgartens theologischen Schriften, und sie wird auch schon parallel zu dieser ästhetischen Kritik von pietistischen Theologen in Halle und auch von seinem Bruder, dem Theologen Siegmund Baumgarten, formuliert.12 _____________ 10 11 12
Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik. [Übersetzt von Georg Friedrich Meier]. Neue vermehrte Auflage. Halle 1783, S. 178 (§ 391). Vgl. zu diesen und den folgenden Ausführungen meine noch unveröffentlichte Dissertation The Art of Invention and the invention of Art. Logic, rhetoric and aesthetics in the Early German Enlightenment. Yale – École Normale Supérieure Lettres et Sciences humaines Lyon 2004. Neuere Arbeiten zu Baumgarten weisen bereits auf den Einfluss des Halleschen Pietismus hin; vgl. im oben erwähnten Sonderband zu Baumgarten den Artikel von Grote, Simon: Pietistische Aisthesis und moralische Erziehung bei Alexander Gottlieb Baumgarten; in: Aufklärung 20 (2008), S. 175-198; Jacob, Joachim: Heilige Poesie. Zu einem literarischen
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Daraus lässt sich ersehen, dass die Philosophie sich ähnlich, nämlich semantisch oder sprachphilosophisch begründeten Angriffen von verschiedenen Fronten aus exponiert. In diesem Zusammenhang ist auch die homiletische Debatte um Georg Friedrich Meiers Gedanken vom philosophischen Predigen von 175413 und den im selben Zeitraum von Johann Christoph Gottsched und Johann Gustav Reinbeck verfassten Grundriß einer Lehrart, ordentlich und erbaulich zu predigen interessant.14 Wenn aber, um Baumgartens Gedanken fortzuspinnen, der Philosophie zwar logisch widerspruchsfreies Denken, nicht aber anschaulicher Reichtum oder rhetorische Überzeugungskraft bescheinigt werden können, dann muss die Kunst bzw. Dichtung diesen Mangel ausgleichen und der Philosophie zur Seite treten. Die Kategorie extensiver ›Klarheit‹ ist in der Forschung oft auf eine Weise der besonderen Begriffsbildung verkürzt worden. Man muss sie aber eigentlich weiter fassen: als quantitatives Kriterium derjenigen Anzahl von Elementen, die eine Rede als ganze kennzeichnen. Dieser Klarheit entspricht den Meditationes zufolge diejenige eigene Art, die Begriffe zu zergliedern, die Baumgarten die ›lichtvolle‹ nennt und der analytischen Methode der Philosophie an die Seite stellt. Der Dichtung fällt damit die Aufgabe zu, bildlich und rhetorisch lebhaft zu denken und zu sprechen. Damit übernimmt sie auch wichtige homiletische und theologisch-praktische Funktionen. Gleich eingangs hebt Baumgartens Aesthetica die ›homiletische‹ unter den speziellen Nutzanwendungen der Ästhetik hervor.15 Der Dichter hat zunächst teil am physikotheologischen Argument, das darin besteht, Gott indirekt, d. h. in seiner Schöpfung und durch diese, zu erkennen. Indem Baumgarten die Dichtung als Bild charakterisiert, greift er auf alte rhetorische Traditionen sowie auf die aristotelische Mimesis zurück und nimmt Ideen auf, die auch schon bei Bodmer und Breitinger vorgezeichnet waren. Dichtung ist ›Nachahmung‹, insofern sie Bilder generiert, die uns die Natur in ihren noch unbekannten Facetten vor Augen stellt. Solche Bilder ermöglichen erst die Entdeckung dessen, was die Natur in Wahrheit ist. In diesem Sinn kann uns nur der Künstler, nicht aber der Philosoph oder der Theologe, die Schöpfung in ihrer Herrlichkeit vor Augen führen. _____________ 13 14 15
Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997 (Studien zur deutschen Literatur 144); Müller: Ästhetische Religiosität (Anm. 1), S. 45-53. Meier, Georg Friedrich: Gedanken vom philosophischen Predigen. Halle 1754. Für die Einsicht in noch unveröffentlichte Forschungsarbeiten zur Stil- und Darstellungsdebatte in Aufklärung und Idealismus bin ich Philippe Büttgen sehr zu Dank verpflichtet. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Ästhetik. Übersetzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern herausgegeben von Dagmar Mirbach. 2 Bände. Lateinisch – deutsch. Hamburg 2007 (Philosophische Bibliothek 572a und 572b), S. 12/13 (§ 3).
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Hierin erschöpft sich die homiletische Aufgabe des Dichters jedoch noch nicht. Seine religiöse und moralische Aufgabe, durch die er zugleich ein praktischer Weltweiser und auch ein tätiger Christ wird, ist allgemeiner. Wie Baumgarten in den Meditationes schreibt,16 ist der Dichter als Teil des Reichs Gottes verpflichtet, durch seine Dichtung Tugend und Religion zu fördern. Für die bildliche Ausführung des religiösen Themas stehen ihm verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung: nämlich die ›Methode des Witzes‹ sowie die ›philosophische‹ und ›historische‹ Methode. Der Dichter kann entweder die Herrlichkeit Gottes aus der Schöpfung heraus beweisen oder z. B. auch religiöse Gleichnisse darstellen. In der Tat lässt sich aus seinen metaphysischen und theologischen Werken ersehen, dass Baumgarten nicht alle ästhetische Versinnbildlichung religiöser Inhalte ablehnt, sondern religiöse Gleichnisse und die Darstellung Christi durchaus gelten lässt. Zwar ist ein »Bild GOttes nicht möglich«, weil ein Bild Baumgarten zufolge »ein Zeichen der Gestalt eines andern Dinges«17 ist; denkbar bleibt jedoch eine gewisse Form der Versinnbildlichung und Personifizierung Gottes, die Baumgarten in den Praelectiones Theologiae dogmaticae unter dem Stichwort ›Christologie‹ thematisiert: Gott habe »sich selbst auch […] in Christus als menschliches, sinnlich wahrnehmbares Abbild« offenbart.18 Des Weiteren heißt es bei Baumgarten: Weil jeder Mensch, daher auch der christliche, durch seine eigene Natur zur höchsten Religion, die ihm physisch möglich ist, verpflichtet ist und durch diese zur Ehre Gottes, zu der zu erstrebenden Glückseligkeit seiner und anderer, […] muß die übernatürliche und damit auch die geoffenbarte Religion die natürliche ergänzen […].19
Die geoffenbarte Religion »billigt es und rät dazu«, Christus »als sinnlich wahrnehmbares Abbild Gottes, des Göttlichen, […] in höchstem Maße nachzuahmen«20 – Christus besitzt damit Modellfunktion für den Menschen. Man sieht hier also einerseits, dass Baumgartens Ästhetik sich in einen präzisen religiösen Kontext einschreibt, und andererseits, dass sich aufgrund der neuen Einsicht in die Armut und Abstraktion des theore_____________ 16
17 18 19 20
Baumgarten, Alexander Gottlieb: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus / Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes. Übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Heinz Paetzold. Lateinisch – deutsch. Hamburg 1983 (Philosophische Bibliothek 352), S. 47 (§ LVII). Baumgarten: Metaphysik (Anm. 10), S. 334 (§ 636). Mirbach, Dagmar / Nissmüller, Thomas: Einführung; in: Baumgarten, Alexander Gottlieb: Praelectiones Theologiae dogmaticae (Auszüge). Herausgegeben von Dagmar Mirbach und Thomas Nissmüller; in: Aufklärung 20 (2008), S. 305-308, hier S. 306. Baumgarten, Alexander Gottlieb: Praelectiones Theologiae dogmaticae (Auszüge). Herausgegeben von Dagmar Mirbach und Thomas Nissmüller; in: Aufklärung 20 (2008), S. 305350, hier S. 326 (§ 10). Baumgarten: Praelectiones Theologiae dogmaticae (Anm. 19), hier S. 332 (§ 13).
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tischen Denkens eine neue Konstellation ausprägt. Theologe und Philosoph begegnen einem neuen Rivalen: dem Dichter als felix aestheticus. Erstmals werden dem Priester nicht nur philosophische, sondern auch rhetorische oder ästhetische Qualitäten abverlangt. Umgekehrt stellt sich der Dichter aber auch in den Dienste von Philosophie und Religion. Er, der der Metaphysik zufolge21 auch die Kunst der Mantik oder Weissagung beherrscht, wird zum Priester, Mittler und Propheten, der aufgrund seiner besonderen rhetorisch-bildlichen Sprache nicht nur trocken demonstrieren, sondern seinem Publikum auch religiöse Inhalte und Bilder vor Augen führen kann.
* Kant bricht zwar radikal mit Baumgartens Ansatz, indem er die Philosophie auf eine solidere als die rein ästhetische Grundlage stellen möchte. Nichtsdestotrotz greift er auf dessen Idee zurück, dass Kunst (eine gewisse ästhetische Erfahrung und ein ästhetisches Gefühl) den ›abstrakten‹ Ideen der Metaphysik und Theologie die empirische Grundlage liefert. Ein Blick auf die frühen Schriften zeigt, dass Kants kritischer Ansatz ebenfalls mit der Einsicht in die Abstraktion der philosophischen Begriffe beginnt. ›Ist die Metaphysik eigentlich derselben Deutlichkeit der Begriffe fähig wie die übrigen Wissenschaften?‹ – so lautet die Preisfrage der Akademie zu Berlin im Jahre 1762, die auch die Evidenz von Religion und Theologie mit thematisiert. Ähnlich wie der Preisträger Moses Mendelssohn22 stellt Kant sich dem Problem der Abstraktion ganz direkt. In seiner Preisfrage-Schrift von 1763, der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Moral, argumentiert Kant, die analytische oder zergliedernde Methode der Philosophie oder Weltweisheit bringe es mit sich, dass sie das Allgemeine durch Zeichen in abstracto betrachtet: Die Zeichen der philosophischen Betrachtung sind niemals etwas anderes als Worte, die weder in ihrer Zusammensetzung die Teilbegriffe, woraus die ganze Idee, welche das Wort andeutet, besteht, anzeigen, noch in ihren Verknüpfungen die Verhältnisse der philosophischen Gedanken zu bezeichnen vermögen. Daher muß man bei jedem Nachdenken in dieser Art der Erkenntnis die Sache selbst vor Augen haben, und ist genötigt, sich das Allgemeine in abstracto vorzustellen,
_____________ 21 22
Vgl. die Ausführungen zu den sinnlichen Erkenntnisvermögen und insbesondere §§ 444450 der Metaphysik (Baumgarten: Metaphysik (Anm. 10), S. 207-212. Es wäre in diesem Rahmen auch möglich, der Abstraktionskritik Moses Mendelssohns in seiner Antwort auf die Preisfrage nachzugehen, weil er trotz der aufklärerischen Rede von der natürlichen Religion doch eine spezifisch jüdische These zur Abstraktion entwickelt, während Baumgarten und Schleiermacher ihrerseits protestantische Positionen vertreten.
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ohne dieser wichtigen Erleichterung sich bedienen zu können, daß man einzelne Zeichen statt der allgemeinen Begriffe der Sache selbst behandle.23
Einerseits operiert der Weltweise mit allgemeinen, abstrakten und in gewisser Hinsicht undurchsichtigen Begriffen, da er sich hier nicht die Sache selbst vor Augen führen kann; andererseits muss er sich aber ihres Realitätsgehalts vergewissern. Dieses Dilemma, d. h. die Unzulänglichkeit seines begrifflichen Instrumentariums, birgt Risiken in sich. Tatsächlich setzen sich die Philosophen aufgrund ihrer Methode und ihrer Werkzeuge, der abstrakten Begrifflichkeit, der ständigen Gefahr aus, zu schlechten Dichtern zu werden und Fiktionen bzw. Chimären zu schaffen, die Verwirrung stiften, oder leere Wörter statt Dinge zu vergöttern. Wie Kant in dieser frühen und wegweisenden Abhandlung des Weiteren herausstellt, vermag Leibniz’ und Wolffs Prinzip des zureichenden Grundes (reduziert auf den des Widerspruchs) dieser philosophischen Tendenz zum Realitätsverlust nicht abzuhelfen. Deshalb stagniert die Metaphysik auch als Wissenschaft, wie Kant schon 1763 feststellt und später in der ersten Vorrede der Kritik der reinen Vernunft wiederholt. Die Abstraktion der Philosophie wirft daher sowohl für Baumgarten als auch für Kant ganz grundlegende und schwerwiegende Probleme auf, und man kann feststellen, dass Kant die schon bei Baumgarten präsente Problematik zum einen vertieft und zum anderen einen ganz neuen Lösungsansatz findet, indem er die Wahrheit der philosophischen Rede auf eine neue Art philosophisch und ästhetisch absichert. Dieser kritische Ansatz bricht mit der Idee Baumgartens, allen religiösen Begriffen oder Themen eine poetische Anschauung zu unterlegen.24 Zur besseren Fundierung entwirft Kant eine neue kritische Philosophie, die als der Metaphysik vorgelagertes Kathartikon dem Geist das Gebäude und die Grenzen unserer Erkenntnis veranschaulichen und die Bedeutung unserer Begriffe festlegen soll. Dies gilt auch für so metaphysische Begriffe wie ›Gott‹, ›Welt‹ und ›Seele‹, die zwar notwendig aus der Natur unseres Vernunftvermögens entspringen, aufgrund der Diskordanz zwischen Vernunft- und Verstandesvermögen aber keiner Anschau_____________ 23
24
Kant, Immanuel: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral. Zur Beantwortung der Frage, welche die Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin auf das Jahr 1763 aufgegeben hat; in: Kant’s gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abtheilung: Kant’s Werke. Zweiter Band: Vorkritische Schriften II. 1757-1777. Berlin 1912, S. 273-301, hier S. 278f. (§ 2). Vgl. »Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte, die kritische Beurteilung des Schönen unter Vernunftprinzipien zu bringen, und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben« (Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Unveränderter Neudruck der von Raymund Schmidt besorgten Ausgabe (nach der zweiten durchgesehenen Auflage von 1930). Hamburg 1956 (Philosophische Bibliothek 37a), S. 64f.).
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lichkeit fähig sind. So denken wir notwendig den Begriff von Gott oder einer ersten Ursache, obwohl dessen Unendlichkeit unser Anschauungsvermögen übersteigt, indem wir eine Welt als die Totalität einer Reihe denken. Ebenso notwendig setzen wir (wie Kant in den Paralogismen der Kritik der reinen Vernunft ausführt) die Einheit und Beständigkeit unserer Seele voraus, ohne diese doch eigentlich anschaulich als Substanz erkennen zu können. Ihrer konstitutiven Abstraktion zum Trotz besitzen diese Begriffe oder Ideen der Vernunft aber eine objektive, durch das kritische System wenn nicht theoretisch, so doch praktisch begründete Gültigkeit, die via Teleologie und Ästhetik empirisch bestätigt wird. Die Naturwissenschaften bieten zwar keine Einsichten in göttliche Absichten, sondern lediglich in die Zweckmäßigkeit in der Natur, und trotzdem dient eine solche Teleologie der Theologie als Propädeutik, weil wir durch die Teleologie zwar nicht um die Existenz Gottes, aber doch um unseren Rang in der Schöpfung wissen. Sie weist uns auf die Hauptbedingung zurück, unter der wir die Welt als ein System der End- oder Zweckursachen mit einem gesetzgebenden Oberhaupt ansehen: nämlich auf unseren Rang als freies, unter Natur- und Moralgesetzen stehendes Wesen und als letzter Zweck der Schöpfung. Auch die Kunst dient, wie der späte Kant – nach einer längeren Abwendung von der Ästhetik – in der Kritik der Urteilskraft 1790 ausführt, der Erweckung und empirischen Belebung der abstrakten Vernunftideen. Durch das Schöne und insbesondere durch das Erhabene in Natur und Kunst erfahren wir uns zunächst als passive, durch eine äußere Ursache affizierte Wesen, denn der Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils ist ein subjektiver und weist auf das Gefühl der Lust und Unlust hin, »wodurch gar nichts im Objekte bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt«.25 Dadurch erlangen wir zwar nicht Selbsterkenntnis, aber doch ein ›Selbstgefühl‹. Wir sind uns einerseits des Lebens unserer Vermögen bewusst, andererseits aber auch der harmonischen Interaktion unseres Wesens mit anderen menschlichen Wesen, da das ästhetische Urteil vom Schönen mitteilbar ist. *
_____________ 25
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Herausgegeben von Karl Vorländer. Hamburg 1963 (Philosophische Bibliothek 39a), S. 40 (§ 1).
Zur Genealogie des Konzepts vor 1800
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Die Absicht Baumgartens geht wie auch die Kants zwar dahin, die aufklärerische Krise der Philosophie zu überwinden. Gleichzeitig mag man sich jedoch fragen, ob beide nicht längerfristig eine gegenteilige Wirkung erreicht haben. In gewisser Hinsicht scheinen sie nämlich Schleiermacher den Weg zu ebnen: Baumgarten, indem er erstmals die Kunst gleichrangig neben die Philosophie stellt, und Kant, indem er die begrifflichen Waffen schmiedet, die Schleiermachers Angriff auf die Philosophie im Namen von Kunst und religiösem Gefühl erst ermöglichen. In der Tat verschärft Schleiermacher den Angriff auf die Philosophie, indem er ihr noch weitere Vermögen abspricht. Schon durch Baumgarten wurde ihr das Vermögen aberkannt, den Demonstrationen Anschauung zu verleihen; sie sei lediglich ein bestimmtes Vermögen der Zergliederung und des bildlichen Reichtums unfähig. Schleiermacher kennzeichnet die Philosophie und Wissenschaft in seinen Reden über die Religion nun noch schärfer und unerbittlicher als eine »Wut des Verstehens«, die »den Sinn gar nicht aufkommen«26 lasse und »alles mit ihrer Schere verstümmle«27, zerreiße, abspalte und als »Zerlegungen die nichts auflösen«28 verendliche. Aus seiner genealogischen Perspektive, die nach dem Ursprung der abstrakten Begriffe fragt, werden diese Instanzen nun in einem ganz neuen Sinne einander entgegengesetzt. Die Abstraktion widerspricht nicht nur der Einheit des Gefühls, sondern ist dieser – und hier formuliert Schleiermacher einen neuen Einwand – auch abträglich. Ihr ist eine Tendenz zur Zerstückelung eigen, die über die Zeit hinweg den Verlust dessen bewirkt, wofür der Begriff eigentlich steht: einer Realität, die selbst nicht begrifflich, sondern Einheit ist. Durch ihre abstrakte Verfahrensweise untergräbt die Philosophie folglich ihre eigenen Voraussetzungen. In dem Maße, wie sie zu einem »wissenschaftliche[n] Klügeln ohne wahre Prinzipien« verkommt, werden ihr die Begriffe und Dogmen zu leeren Hüllen.29 Diese Kritik zeigt aber, dass Schleiermacher das Verhältnis zwischen Sprache und Realität im Vergleich zu seinen Vorgängern der Aufklärung anders artikuliert. In deren Augen war Realität wesentlich zeichenhaft und Sprache daher die Bedingung aller Wahrnehmung und Erkenntnis von Realität. Wolffianer wie Baumgarten dachten, dass unbekannte Aspekte _____________ 26
27 28 29
Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Mit einer Einleitung herausgegeben von Andreas Arndt. Hamburg 2004 (Philosophische Bibliothek 563), S. 80. – Zu Schleiermachers Kunstreligion vgl. wiederum Müller: Ästhetische Religiosität (Anm. 1), S. 193-218; Lehnerer, Thomas: Die Kunsttheorie Friedrich Schleiermachers. Stuttgart 1987 (Deutscher Idealismus 13), S. 338-384. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 26), S. 84. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 26), S. 90. Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 26), S. 94.
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der Realität erst dadurch, dass sie mit schon Bekanntem assoziiert und einem Zeichen- und Bedeutungszusammenhang angegliedert werden, überhaupt wahrgenommen werden können. Schleiermacher hingegen setzt die Realität dem Begriff entgegen und kann aus dieser neuen Perspektive die Sprache als eine Instanz denken, die eine erste Entfernung von der Realität bedeutet und manchmal den Zugang zur Realität versperrt. Unmittelbar ist demgegenüber die Wahrnehmung der Realität durch das Gefühl. Die Sprache kommt erst in einem zweiten Schritt zur Geltung und erweist sich daran, ob nun philosophisch-begrifflich oder im engeren Sinne künstlerisch, als Ausdruck einer wesentlich begriffslosen Realität. Dieses Verständnis von Realität und Sprache ermöglicht eine ganz neue Bestimmung und Aufwertung der Kunst in ihrem Verhältnis zu Philosophie und Religion. Während die ältere Ästhetik die Kunst in Analogie zur Philosophie konzipiert hatte (als eine eigene Art der Begrifflichkeit und ›dichterischen‹ Methode, die der Kombinationsmethode von Mathematik und Philosophie zur Seite gestellt wurde) und selbst Kant die Ästhetik noch in den Dienst der (sich selbst begründenden) Philosophie stellt, bricht Schleiermacher mit diesem Ansatz: Erstmals betrachtet er die Kunst als eine der Philosophie und ihrer Begrifflichkeit gleich- oder sogar übergeordnete Instanz sowie als Form des Äußerungstriebes des Menschen. Wie Kant setzt Schleiermacher dabei den Ursprung der Kunst im Gefühl an. Aus einer solchen Neubestimmung der Kunst als Gefühl ergibt sich nun ihre Verwandtschaft mit der Religion: Beide »stehen nebeneinander wie zwei befreundete Seelen«.30 Die Kunst wird dadurch zur eigentlichen Sprache der Religion, die allein der begrifflichen Sprache der Metaphysik und Philosophie neue Lebenskraft verleihen kann. Sie übernimmt insofern eine rhetorische oder homiletische Funktion wie bei Baumgarten; gleichzeitig aber ist sie wie das Gefühl universell und nicht bestimmten Rednern, den Priestern, vorbehalten. Wie die vierte Rede zeigt, stellt Schleiermacher das Modell der Predigt radikal in Frage und entwirft eine allgemeine Kirche, in der die besonderen Offenbarungsreligionen Ausdruck individueller Perspektiven sind. Wiederum im Ausgang von Kant argumentiert Schleiermacher, dass das (religiöse) Gefühl ein individuelles sei, vom Affiziertsein durch eine höchste Ursache zeuge und gleichzeitig auch von der harmonischen Ordnung des Universums, in der der Mensch sich in Wirkung und Wechselwirkung mit den anderen befinde und sein Gefühl ein mitteilbares sei. _____________ 30
Schleiermacher: Über die Religion (Anm. 26), S. 94.
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Dadurch verschiebt sich aber mit Schleiermacher die frühere Konstellation grundlegend. Neue Koalitionen entstehen, indem die Philosophie ihren Bündnispartner Kunst nun ganz an die Theologie verliert. Diese neue Koalition erlaubt es Schleiermacher in einer gewissen Hinsicht, für die Theologie ihre in der frühen Neuzeit verloren gegangene Vorrangstellung als erste Fakultät zurückzuerobern.
* Dieser Versuch einer Zusammenführung von Abstraktionskritik und Kunstreligion hat gezeigt, wie die Entwicklung von Kunst und Kunstreligion intrinsisch mit der Entwicklung der philosophischen Vernunft verbunden ist. Gleichzeitig hat sich auch gezeigt, dass die moderne Verbindung zwischen Philosophie und Kunst damit beginnt, dass die Philosophie im Bewusstsein ihrer eigenen Schwäche oder ›Abstraktheit‹ an die Kunst herantritt: Um ihre eigene Position zu stärken, weist sie der Kunst zunächst von außen bestimmte Funktionen zu. Diese Strategie erweist sich aber auf längere Sicht als unzureichend, ja als schädlich, da eine derart neubestimmte Kunst sich auch direkt – ohne den Umweg über die Philosophie – von der Religion vereinnahmen lässt. So zeugt der Weg in die romantische Kunstreligion einerseits von der Krise der Philosophie und andererseits von der Erneuerung und Erweiterung der alten rhetorischen und poetischen Modelle hin zu neuen Kunstbegriffen, die teils auch weitere und neue Arten von Kunst und Kunstwerken unter sich zu fassen vermögen.31 In der Tat scheint sich die Interaktion zwischen Philosophie, Religion und Kunst eine ganze Weile lang als äußerst fruchtbar zu erweisen, ja das Paradigma von der Kunstreligion scheint sich sogar weit über die Lebensdauer der theologischen und onto-theologischen Traditionen der Romantik hinaus gehalten zu haben.32 Zu fragen bleibt trotzdem, ob die Kunst die Funktionen und Ansprüche, die jeweils von außen an sie herangetragen und in sie projiziert wer_____________ 31
32
Die Entwicklung beginnt bei Baumgarten mit einer Modernisierung des rhetorischen Mimesis-Modells und der Dichtung als Abbildung möglicher Welten. Kant stellt dieser Konzeption eine andere, weiträumigere entgegen, die letztere vielleicht unter sich begreift, aber gleichzeitig andere Arten von Kunst thematisiert. Diese wird bei Schleiermacher durch einen protestantisch geprägten Kunstbegriff abgelöst, dem als Gefühl eine direkte religiöse Funktion zukommt, die sich weder bei Baumgarten noch bei Kant findet. Vgl. Schaeffer: La religion de l’art (Anm. 2), S. 203-207. – Schaeffer argumentiert, dass die theologischen und sakralen Implikationen des romantischen und spekulativen Kunstmodells noch die Kunstphilosophien Hegels, Heideggers und Nietzsches sowie die gesamte moderne Ästhetik prägen.
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den, tatsächlich einlösen kann: ob das Phänomen Kunstreligion, wie es sich um 1800 mit Schleiermacher ausbildet, nicht vielmehr von einer bestimmten historischen Konstellation abhängt, die in dieser Form nicht mehr existiert; ob es nicht nur eine spezifische, nämlich protestantische Form von Kunst betrifft, und ob die Entwicklung der modernen Kunst nicht vielmehr die allmähliche Erschöpfung und Entleerung des romantischen Paradigmas ›Kunstreligion‹ belegt.33
_____________ 33
Vgl. hierzu wiederum Schaeffer: »La confusion et le désenchantement, qu’on dit régner dans le domaine de la création et de la pensée artistiques et critiques depuis une dizaine d’années, ne sont peut-être que des signes de la lente agonie de ce paradigme spéculatif de l’Art et de la difficulté que nous rencontrons à le remplacer par une nouvelle vision des arts qui rende justice à leur importance humaine sans verser dans l’exaltation philosophicomystique qui a accompagné leur destin moderniste« (Schaeffer: La religion de l’art (Anm. 2), S. 207).
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»… in einer andern Welt« Die Spannung zwischen religiösem und ästhetischem Weltbegriff bei Novalis Bernd Auerochs zeigt in seiner Studie Die Entstehung der Kunstreligion, dass Phantasietätigkeit und Glauben für Novalis zusammenfallen.1 Der Begriff ›Welt‹ bildet dabei den Dreh- und Angelpunkt der Verschmelzung von Kunst und Religion, da ›Welt‹ im Christentum immer schon ein zugleich theologischer und weltlicher Begriff ist, der das irdisch-reale Hiersein einem transzendenten Ideal gegenüberzustellen erlaubt. Der Begriff erlaubt um 1800 zudem, die Einheit in der Vielfalt der Erfahrungen und Denkzusammenhänge ebenso wie die Vielfalt in der Einheit der einen, einzigen Schöpfung zu sehen. Er erweist sich daher in der Tat als die Stelle, an der sich Novalis’ kunstreligiöses Verständnis artikuliert und sein Entwurf einer universalen Poetik die Religion integrieren kann. So heißt es im Allgemeinen Brouillon: Glauben ist hienieden wahrgenommene Wircksamkeit und Sensation in einer andern Welt – ein vernommener transmundaner Actus. Der ächte Glaube bezieht sich nur auf Dinge einer andern Welt. Glauben ist Empfindung des Erwachens und Wirckens und Sinnens in einer andern Welt. (N 660, # 779)2
Novalis bezieht sich hier, so Auerochs, auf »Zeichen einer künftigen Welt«.3 Es geht zuallererst aber um den Gegensatz zwischen der ›profanen‹ hiesigen Welt und einer ›göttlichen‹ »andern Welt«. Glaube und, wie wir sehen werden, Kunst erlauben den ›transmundanen Actus‹, also das Wirken über die hiesige Welt hinaus. _____________ 1 2
3
Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra 323), S. 472. Zitiert wird mittels der Sigle ›N Seite, # Fragmentnummer‹ nach der folgenden Ausgabe: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl. München – Wien 1978 (doppelte eckige Klammern kennzeichnen eigene Auslassungen, einfache eckige Klammern sind Hinzufügungen der Herausgeber von Novalis’ Schriften). Auerochs: Kunstreligion (Anm. 1), S. 472.
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Novalis schiebt mit diesem Blick auf Religion drei Begriffsfelder ineinander, die vermuten lassen, dass der Begriff ›Welt‹ auf drei eigenständige Bereiche zielt. Die Fusion dieser Felder zeigt folgende Textstelle an, die aus dem Umfeld der vorangehenden stammt:4 Was bey d[en] Phil[osophen] die Vernunft ist, d[as] i[st] bey d[en] Poëten im engern Sinn der Glaube. Freyer Gebr[auch] des Glaubens. Staatsreligion. (N 661, # 782)
Die drei Felder sind Dichtung, Glaube und Staat.5 Im Zuge seiner Überlegungen konkretisiert Novalis diesen Gedanken weiter (fast direkt im Anschluss an die vorangegangenen Äußerungen) und verknüpft die drei Felder auf folgende Weise: Die ganze Repraesentation beruht auf einem Gegenwärtig machen – des Nicht Gegenwärtigen und so fort – (Wunderkraft der Fiction.) Mein Glauben und Liebe beruht auf Repraesentativen Glauben. So die Annahme – der ewige Frieden ist schon da – Gott ist unter uns – hier ist Amerika oder Nirgends – das goldne Zeitalter ist hier – wir sind Zauberer – wir sind moralisch und so fort. (N 661, # 782)
Welches Begriffsfeld erlaubt, dass Amerika mit Gott verbunden wird, Repräsentation mit Staat, das alles mit Fiktion? Es wird sich zeigen, dass Novalis an diesem Punkt weiterhin das Begriffsfeld der ›Welt‹ vor Augen hat.
De mundo hoc Die Geschichte des ›Welt‹-Begriffs ist nicht besonders gut erforscht. Ohne eine ihrerseits vollständige Darlegung bieten zu können, stellen wir hier die wichtigsten Stationen der Begriffsgeschichte zusammen und ergänzen die bisherige Forschung um wesentliche Aspekte. Im Vordergrund steht die Möglichkeit, von mehreren Welten zu reden. Dass von mehreren Welten die Rede sein kann, geht auf eine philosophische und eine theologische Denkfigur zurück. In der antiken Philosophie schlagen die Atomisten einen materiell definierten Weltbegriff vor, _____________ 4 5
Wir gehen mit der jüngeren Forschung davon aus, dass es bei Novalis durchaus auf die Position der Fragmente ankommt und eine Sammlung von Textstellen quer durch das Werk nicht statthaft ist. Für einen ausgezeichneten Überblick zum Zusammenhang zwischen Staat und Religion vgl. Stockinger, Ludwig: Religiöse Erfahrung zwischen christlicher Tradition und romantischer Dichtung bei Friedrich von Hardenberg (Novalis); in: Haug, Walter / Mieth, Dietmar (Hrsgg.): Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition. München 1992, S. 361-393. − Es gilt nämlich bei Novalis, dass das Subjekt die »Produkte der religiösen Phantasie, die eine intersubjektive Verständigung ermöglichen, eine Verständigung, die als solche Gemeinschaft zwischen den Menschen stiftet« (ebd., S. 372), in den Bildern findet, die eben die Phantasie erzeugt.
Die Spannung zwischen religiösem und ästhetischem Weltbegriff bei Novalis
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bei dem denkbar ist, dass sich die Welt auch ganz anders zusammensetzt und es in diesem Sinne mehrere Welten geben könnte.6 Epikur bestimmt Welt (κόσμος) als Ausschnitt aus dem allumfassenden Raum (οὐρανός), in dem sich alle Himmelskörper und Erscheinungen befinden.7 Aristoteles protestiert gegen die Auffassung, es könne mehrere Welten geben, denn er geht davon aus, dass alles demselben Naturgesetz unterworfen ist und folglich Teil der einen Welt sein muss; allerdings spricht auch er dann oft von οὐρανός (anstelle von κόσμος) und weicht insofern nur in begrenztem Maße von der atomistischen Vorstellung ab. Er gibt damit einen Lehrsatz vor, an dem erst in der Frühen Neuzeit erfolgreich gerüttelt werden kann.8 Auch in der christlich-theologischen Vorstellung findet sich der Gedanke, nach dem es eine andere Welt geben kann, die einem anderen Gesetz unterworfen ist, aber Teil der einen und selben Gesamtordnung ist. Nach Johannes 18, 36 sagt Jesus: »ἡ βασιλεία ἡ ἐμὴ οὐκ ἔστιν ἐκ τοῦ κόσμου τούτου« (»regnum meum non est de mundo hoc«).9 Der Ausdruck οὗτος κόσμος legt nahe, dass es eine andere Welt gibt. Das griechische οὗτος lässt sich eher mit lateinisch iste als mit hic übersetzen; Jesus grenzt sich damit im griechischen Wortlaut stärker von ›dieser euern Welt‹ ab und suggeriert die Existenz einer anderen. Doch im Resultat vergleichbar ist die lateinische Fassung, die ohnehin rezeptionsgeschichtlich das Maß vorgibt: hic mundus ist diejenige Welt, in der sich Jesus gerade befindet, und damit deutet er die Existenz einer anderen Welt an, die nicht die (unmittelbare) der Menschen ist. In der Tat hat die theologische Tradition dazu geführt, unterschiedliche Welten gegeneinander abzuwägen – allerdings immer nur als Ausprägungen einer einzigen stetigen Gesamtordnung, die im Einklang mit der aristotelischen Vorstellung universell ist. Einflussreichster Ausgangs_____________ 6 7
8 9
Vgl. Dick, Steven James: Plurality of Worlds and Natural Philosophy: An Historical Study of the Origins of Belief in Other Worlds and Extraterrestrial Life. Ph.D. 1977. Faksimile. Ann Arbor – London 1978), S. 7-16. »Κόσμος ἐστὶ περιοχή τις οὐρανοῦ ἄστρα τε καὶ γῆν καὶ πάντα τὰ φαινόμενα περιέχουσα« (Diogenis Laertii De clarorum philosophorum vitis, dogmatibus et apophthegmatibus libri decem. Ex Italicis codicibus nunc primum excussis recensuit C. Gabr. Cobet. Accedunt Olympiodori, Ammonii, Iamblichi, Porphyrii et aliorum vitæ Platonis, Aristotelis, Phythagoræ, Plotini et Isidori, Ant. Westermanno et Marini vita Procli J. F. Boissonadio edentibus. Græce et Latine cum indicibus. Parisiis MDCCCL, S. 274; es handelt sich um einen Brief Epikurs). Die Welt besteht also aus Himmel, Erde und allen zugehörigen Erscheinungen (die Stelle findet sich bei Dick: Plurality (Anm. 6), S. 9). Vgl. Dick: Plurality (Anm. 6), S. 62-71. ›Mein Reich ist nicht von dieser Welt‹. Die Übersetzung von κόσμος mit mundus herrscht seit der Bibelübertragung vor. – Vgl. Rentsch, Thomas: ›Welt. I. Vorgeschichte und Ausdifferenzierung des W[elt]-Begriffs‹; in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Herausgegeben von Joachim Ritter (†), Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Band 12: W – Z. Darmstadt 2004, Sp. 408-412, hier Sp. 408.
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punkt der theologischen Tradition ist Augustinus. Dabei lassen sich bereits bei dem Kirchenlehrer verschiedene Varianten einer Abgrenzung von Welten (innerhalb der einen Gesamtordnung) finden. So unterscheidet Augustinus die Welt vor Christi Wirken von derjenigen nach seinem Tod: Christus autem venit, et elegit quod fecit, non quod invenit: nam omnes malos invenit, et gratia sua bonos fecit. Et factus est alter mundus: et mundum persequitur mundus.10
Der neue Bund wird hier von Augustinus als neue, andere Welt im Sinne eines alter mundus begriffen, d. h. die eine Welt folgt auf die andere. Ausdrücklich schließt er den Himmel (caelum) ein: »dicimus mundum cœlum et terram, et omnia quæ in eis sunt«11. Hier liegt eine Definition von ›Welt‹ vor, die in ihren wesentlichen Zügen bis in die Gegenwart überdauert hat.12 Der einzige Unterschied ist, dass sie die Zeitlichkeit aus der Allheit ausschließt und somit aus Augustinus’ Sicht verschiedene Allheiten zeitlich aufeinander folgen können. Augustinus hat ferner die ganz anders gelagerte, platonische Unterscheidung zwischen κόσμος αἰσθητός und κόσμος νοητός aufgegriffen und als mundus sensibilis und mundus intelligibilis popularisiert:13 in hoc enim sensibili mundo uehementer considerandum est, quid sit tempus et locus, ut, quod delectat in parte siue loci siue temporis, intellegetur tamen multo esse melius totum, cuius illa pars est, et rursus, quod offendit in parte, perspicuum sit homini docto non ob aliud offendere, nisi quia non uidetur totum, cui pars illa mirabiliter congruit, in illo uero mundo intellegibili quamlibet partem tamquam totum pulchram esse atque perfectam.14
_____________ 10
11 12 13 14
Sancti Aurelii Augustini Hipponensis Episcopi Opera omnia. Post Lovaniensium theologorum recensionem. Castigata denuo ad manuscriptos codices Gallicanos, Vaticanos, Belgicos etc. Necnon ad editiones antiquiores et castigatiores, opera et studio monachorum Or-dinis Sancti Benedicti e Congregatione S. Mauri. Editio Parisina altera, emendata et aucta. Tomus quintus. Pars prior: S. Aur. Augustini Hipponensis Episcopi Sermones ad popu-lum omnes classibus quatuor nunc primum comprehensi. Parisiis MDCCCXXXVII (um 400), Sp. 736 (›Christus jedoch erschien und erwählte, was er schuf, nicht was er vorfand; denn alles, was er an Schlechtem vorfand, verwandelte er durch seine Gnade in Gutes. So entstand eine andere (zweite) Welt, und Welt folgt auf Welt.‹ − Übersetzung R. B.). Augustinus: Sermones (Anm. 10), Sp. 736; eine ähnliche Formulierung findet sich ebd., Sp. 735 (›Wir bezeichnen als Welt Himmel und Erde sowie alles, was in und auf ihnen ist.‹ − Übersetzung R. B.). Vgl. Rentsch: ›Welt. I.‹ (Anm. 9), Sp. 408. Vgl. Probst, Peter: Kant. Bestirnter Himmel und moralisches Gesetz. Zum geschichtlichen Horizont einer These Immanuel Kants. Würzburg 1994, S. 29. – Vgl. ferner Rentsch: ›Welt. I.‹ (Anm. 9), Sp. 409. Sancti Aureli Augustini: De ordine libri duo. In: Sancti Aureli Augustini: Opera. Sect. I. Part III: Contra academicos libri tres – De beata vita liber unus – De ordine libri duo. Ex recensione Pii Knöll. Vindibonae – Lipsiae MCMXXII (Corpus scriptorum ecclesiastico-
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Eine weitere Variante der Weltenunterscheidung liegt darin, genau zwischen terra und caelum zu unterscheiden, d. h. zwischen dem irdischen, vergänglichen Reich und dem Reich Gottes. Das ist die Variante eines alter mundus, die im Mittelalter als naheliegend empfunden wird: Der Himmel ist die eine Welt, das Irdische ist die andere. Dante erhält in der Divina Commedia den Auftrag, eine Nachricht aus dem Paradies, also der Gottnahen Welt, in seine Welt mitzubringen: »e questo apporterai nel mondo vostro«.15 Ganz ausdrücklich wird der Vergleich im 29. Gesang des Paradiso gezogen: »Ieronimo vi scrisse lungo tratto | di secoli de li angeli creati | anzi che l’altro mondo fosse fatto«16 – hier kontrastiert die Welt der Engel klar der ›anderen Welt‹, die erst später erschaffen worden ist. In all diesen Vorstellungen bleibt aber die Idee eines Allbegriffs bestehen; in der (allheitlichen) Welt auf die genannte Weise (teilheitliche) Welten zu unterscheiden verletzt nicht die fundamentale Annahme einer geschlossenen Welt.17 Erst im 17. Jahrhundert kommt es dazu, dass sich die Vorstellung eines alius mundus etabliert, einer Welt also, die sich als alternative Allordnung versteht und die gesamte Schöpfung ›ersetzt‹. Zwar gibt es nach wie vor Vorstellungen der einen Welt, die das Werk Gottes ist; berühmtestes Zeugnis ist fraglos Calderóns El gran teatro del mundo (1655), in _____________
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rum Latinorum LXIII), S. 119-185, hier S. 183. – Augustinus drückt hier aus, dass im sensibili mundo alles nur in Teilen und damit unvollständig vorliegt, während im mundo intellegibili eine Anschauungsform besteht, die erlaubt, die Ganzheit und Perfektion der einen Wirklichkeit zu sehen. In diesem Fall ist mundus also ähnlich wie beim Neuen und Alten Bund eine qualitative Änderung derselben Realität (wäre Realität nicht ein etwas anachronistischer Ausdruck): ›In diesem mundus sensibilis [der wahrnehmbaren Welt] nämlich muss man sehr genau bedenken, was Zeit und Ort sind, damit das, was [bloß] in einem räumlichen oder zeitlichen Teil erfreut, dennoch als im Ganzen (von dem der Teil ja nur einen Teil bildet) viel besser erkannt werden kann und umgekehrt der gelehrte Mensch darauf achtet, ob das, was in einem Teil missfällt, [vielleicht] wegen anderer Teile nicht missfällt; denn es erscheint bloß als ein Ganzes, tatsächlich aber wirken [nur] in jenem mundus intelligibilis [der gedanklich erfassbaren Welt] der Teil gleichermaßen wie das Ganze sowohl schön als auch vollendet‹ (Übersetzung R. B). Dante Alighieri: La Divina Commedia. A cura di Umberto Bosco e Giovanni Reggio. [Volume 3:] Paradiso. Firenze 1979, S. 423 (Paradiso XXV, v. 129). Dante: Divina Commedia (Anm. 15), S. 480f. (Paradiso XIX, v. 37-39). Hierzu und zu einer großartigen Übersicht mittelalterlicher Weltvorstellungen vgl. Sarnovsky, Jürgen: ›Si extra mundum fieret aliquod corpus…‹. Extrakosmische Phänomene und die Raumvorstellungen der ›Pariser Schule‹ des 14. Jahrhunderts; in: Raum und Raumvorstellungen im Mittelalter. Herausgegeben von Jan A. Aertsen und Andreas Speer. Für den Druck besorgt von Andreas Speer. Berlin – New York 1998 (Miscellanea Mediaevalia 25), S. 130-144, hier S. 139; siehe auch S. 141 für eine Gegenposition. Dennoch werden im Mittelalter sehr abstrakte Diskussionen geführt, etwa ob Gott in der Lage wäre, eine Bohne zu schaffen, die er außerhalb der Welt geradlinig (motu recto) bewegen könne. Die sich dahinter verbergende Grundfrage richtet sich darauf, ob Bewegung im Raum die Welt konstituiert oder ob Raum die Voraussetzung für Bewegung ist.
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welchem Drama der Schöpfer die Welt anspricht und so in die Existenz ruft (»tú el Mundo«18). Aber es setzen sich diejenigen Modelle durch, die unter ›Welt‹ einen gedanklich oder sprachlich definierten Möglichkeitsraum begreifen (was auch Novalis tut, wie wir am Ende sehen werden). Gerade die Entdeckung der Neuen Welt,19 also desjenigen ›Amerika‹, das – wie oben zitiert – auch für Novalis Inbegriff eines alius mundus ist, hat dazu geführt, dass es mehrere Welten im Sinne der Formel omnia quae in caelo et terra sunt gibt. Entgegen der alten aristotelischen und augustinischen Vorstellung, nach der nur ein einziges Naturgesetz denkbar ist, werden ganz andersartige Naturgesetze zumindest auf ihre Möglichkeit hin durchdacht. Die vermutlich erste Formulierung findet sich bei Descartes,20 der von mehreren Welten spricht: Et sans appuier mes raisons sur aucun autre principe que sur les perfections infinies de Dieu, ie taschay à demonstrer toutes celles dont on eust pu auoir quelque doute, Et à faire voir qu’elles sont telles, qu’encore que Dieu auroit creé plusieurs mondes, il n’y en sçauroit auoir aucun où elles, manquassent d’estre obseruées.21
Damit vergleicht Descartes bereits vor Leibniz viele Welten und erklärt, dass die Perfektionen Gottes in allen (möglichen) Welten sichtbar wären.22 ›Welt‹ wird auf diese Weise als Begriff für ein alternatives omnia eingeführt. 1638 erscheint John Wilkins’ Traktat The Discovery of a World in the Moone.23 Wilkins erwägt die Möglichkeit, dass es auf dem Mond eine parallele Welt _____________ 18
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Calderón de la Barca, Pedro: El gran teatro del mundo / Das große Welttheater. Spanisch – Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gerhard Poppenberg. Stuttgart 1988 (rub 8482), S. 6. − Die Welt ist erst irritiert, vom Schöpfer angerufen zu werden, fügt sich dann aber mit großer Begeisterung in seinen Plan. »Die Benennung Neue Welt (Mundus Novus), welche schon im Jahre 1504 von dem Buchhändler Johann Ottmar in der Ausgabe der dritten Reise mit dem Namen Amerigo Vespucci verbunden worden war, wurde in ganz ähnlicher Zusammenstellung im Jahre 1507 in der Vicentiner Sammlung wiederholt. Der Titel: Mondo Novo e paesi nuovamente retrovati da Alberico Vespuzio Fiorentino« (Humboldt, Alexander von: Kritische Untersuchungen über die historische Entwickelung der geographischen Kenntnisse von der neuen Welt und die Fortschritte der nautischen Astronomie in dem 15ten und 16ten Jahrhundert. Aus dem Französischen übersetzt von Dr. Jul. Ludw. Ideler. Zweiter Band. Berlin 1836, S. 356). Vgl. auch Rentsch: ›Welt. I.‹ (Anm. 9), Sp. 410; Dick: Plurality (Anm. 6), S. 193 (m. w. N.). Descartes, René: Discours de la méthode. Facsimile de l’edition originale (1637). Osnabrück 1973 (editio simile), S. 43f. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat mich in einem Gespräch darauf hingewiesen, dass lange vor Descartes die Idee, mögliche Weltentwürfe zu vergleichen, bereits von Avicenna im 11. Jahrhundert formuliert worden ist. Ich bin allerdings der Auffassung, dass zwischen dem cartesianischen Weltbild, das analytisch grundiert ist, und dem systematischen des Mittelalters ein unüberbrückbarer Unterschied besteht. Wilkins, John: The Discovery of a World in the Moone. Nachdruck der Ausgabe London 1638. Hildesheim – New York 1981.
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gibt, die der irdischen ähnelt. Leibniz expliziert den Gedanken: »il y a une infinité d’univers possibles dans les idées de Dieu«.24 Der Akzent liegt auf den Vorstellungen Gottes. Von Leibniz’ Schüler Christian Wolff geht die explizite Übertragung des Modells mehrerer Welten auf die Dichtung aus: §. 544. Da nun die Würcklichkeit der Dinge nicht mit zu ihrem Wesen gehöret (§. 35.), die Erklärungen der Sachen aber bloß das Wesen eines Dinges darstellen (§. 48. c. I. Log); so folgt aus dem, was wir bereits angemercket, daß die Welt eine Reihe veränderlicher Dinge sey, die neben einander sind, und auf einander folgen, insgesamt aber mit einander verknüpfet sind.25
Im Abschnitt über Welten geht Wolff besonders auf Romane ein: §. 571. Man kan solches auch mit den erdichteten Geschichten, die man Romainen zu nennen pfleget, erläutern. Wenn dergleichen Erzehlung mit solchem Verstande eingerichtet ist, daß nichts widersprechendes darinnen anzutreffen; so kan ich nicht anders sagen, als, es sey möglich, daß dergleichen geschiehet (§. 12.). Fraget man aber, ob es würcklich geschehen sey oder nicht; so wird man freylich finden, daß es der gegenwärtigen Verknüpfung der Dinge widerspricht, und dannenhero in dieser Welt nicht möglich gewesen. Unterdessen bleibet es wahr, daß dasjenige, was noch fehlet, ehe es würcklich werden kan, ausser dieser Welt zu suchen (§. 14.), nehmlich in einem anderen Zusammenhange der Dinge, das ist, in einer anderen Welt (§. 544). Und solchergestalt habe ich eine jede dergleichen Geschichte nicht anders anzusehen als eine Erzehlung von etwas, so in einer andern Welt sich zutragen kan.26
Bei Johann Jacob Breitinger wird die Anwendung auf Dichtung ausgeweitet. Wahrheit gilt ihm als eine Frage des Bezugs auf eine jeweilige Welt: Alle diese möglichen Welten, ob sie gleich nicht würcklich und nicht sichtbar sind, haben dennoch eine eigentliche Wahrheit, die in ihrer Möglichkeit, so von allem Widerspruch frey ist, und in der allesvermögenden Kraft des Schöpfers der Natur gegründet ist.27
_____________ 24
25
26 27
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie. Französisch und deutsch. Zeitgenössische Übersetzung von Heinrich Köhler. Mit der ›Lebens-Beschreibung des Herrn Leibnitz verfaßt von dem Herrn Fontenelle‹. Herausgegeben von Dietmar Till. Frankfurt/M. – Leipzig 1996 (insel taschenbuch 1832), S. 42, § 53. − Im Allgemeinen ist unter univers und monde das gleiche Konzept zu verstehen, nur ist Welt stärker menschenzentriert; beidem entspricht das griechische κόσμος. Wolff, Christian: Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. In: Wolff, Christian: Gesammelte Werke. Herausgegeben und bearbeitet von J. École, H. W. Arndt. Ch. A. Corr, J. E. Hofmann †, M. Thomann. I. Abtheilung: Deutsche Schriften. Band 2. Mit einer Einleitung und einem kritischen Apparat von Charles A. Corr. Nachdruck der Ausgabe Halle 1751. Hildesheim – Zürich – New York 1983, S. 331f. Wolff: Vernünfftige Gedancken (Anm. 25), S. 349f. Breitinger, Johann Jacob: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Erster Band. Stuttgart 1966 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des 18. Jahrhunderts), S. 56f.
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Bei Wolff und Breitinger verlässt der Weltbegriff langsam seine theologische Bindung und wird in einen rationalistisch-logischen Zusammenhang eingebettet. Beide Denkweisen stehen sich dann um 1800 gegenüber. In Novalis’ Fragmenten und Studien heißt es ganz in rationalistischer Tradition: Die Welt ist ein System nothwendiger Voraussetzungen – eine Vergangenheit[,] ein Ante eigner Art – unsre Ewigkeit a parte ante vielleicht. [ […] ] Aus der wircklichen und Idealwelt entspringt die Gegenwärtige Welt, die eine Mischung aus fester und flüssiger, Sinnlicher und intellectualer Welt ist. (N 842, # 442)
Spricht Novalis von »Voraussetzungen«, Notwendigkeit und Bedingungen (›Ante‹), so denkt er in der logischen Tradition, die ja gerade den Boden für ein Verständnis von Fiktion bereitet hat, wie es einer autonomen Kunst eignet.28 Er greift zwar den platonisch-augustinischen Gegensatz zwischen mundus intellegibilis und mundus sensualis auf,29 versteht ihn allerdings als bipolare Gedankenfigur, die die eigentliche und unitäre »Gegenwärtige Welt« (als Totalität) überhaupt erst begreifbar macht. Hier ist das Denken in »System« und »Welt« ein Versprechen der »Ewigkeit« und weist, insofern es eine »Idealwelt« der wirklichen gegenüberstellt, eine genuin religiöse Dimension auf.
Kunst/Religion Um 1800 ist der Begriff ›Welt‹ damit mindestens doppelt besetzt: poetisch und theologisch. Novalis spielt auf beide Verwendungsweisen an und übernimmt nicht nur die logizistische Tradition, die sich im 18. Jahrhundert ausgebildet hat. Damit wird ›Welt‹ zu einem Berührungspunkt der Sphären von Religion und Kunst. Auf beide Verwendungsweisen des Weltbegriffs spielt Novalis im oben zitierten Fragment des Allgemeinen Brouillon an, und beide vergleicht er miteinander. Repräsentation, Glauben, Fiktion, Gott, Amerika – das alles findet sich im Weltbegriff vermischt. _____________ 28
29
Es ist daran zu erinnern, dass es im oben angeführten Zitat »Wunderkraft der Fiction« (N 661, # 782) heißt, diese aber als Form der »Repraesentation« begriffen wird; Novalis scheint hier Walton vorweg zu nehmen; vgl. Walton, Kendall L.: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge/Mass. – London 1990. Im Übrigen ist für die Fiktionstheorie der Weltbegriff bis heute weitgehend verpflichtend. Für eine Übersicht vgl. Zipfel, Frank: Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität. Analysen zur Fiktion in der Literatur und zum Fiktionsbegriff in der Literaturwissenschaft. Berlin 2001 (Allgemeine Literaturwissenschaft. Wuppertaler Schriften 2), S. 82-90. Novalis priorisiert (im Gegensatz zu Goethe) den mundus intellegibilis vor dem mundus sensualis; vgl. Neubauer, John: Das Verständnis der Naturwissenschaften bei Novalis und Goethe; in: Novalis und die Wissenschaften. Herausgegeben von Herbert Uerlings. Tübingen 1997 (Schriften der Internationalen Novalis-Gesellschaft 2), S. 49-61, hier S. 55.
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Zu klären bleibt aber, in welcher Form Novalis für eine ›Vermischung‹ von Sphären plädiert. Angesichts seines Projektes der universalen Poetik ist dies das Problem, das in den letzten Jahren intensiv diskutiert worden ist.30 Für den vorliegenden Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage, wie Novalis das Verhältnis von Religion und Kunst bewertet. Gerade dort, wo er das Wort ›Kunstreligion‹ benutzt, lässt er besondere Vorsicht walten: Warum kann in der Religion keine Virtuositaet statt finden? Weil sie auf Liebe beruht. Schleyermacher hat Eine Art von Liebe, von Religion verkündigt – Eine Kunstreligion – beynah eine R[eligion] wie die des Künstlers, der die Schönheit und das Ideal verehrt. (N 758f., # 48)
Diese Textstelle ist recht dunkel. Festhalten kann man aber, dass der Religion eine Virtuosität fehlt, die die Kunst besitzt; und die Religion ist, selbst wenn sie Kunstreligion wird, bloß »beynah« wie eine wahrhaft künstlerische. Novalis zieht also eine Grenze zwischen Kunst und Religion. Wenig später führt er weiter aus: Wer keinen Sinn für Religion hätte – müßte doch an ihrer Stelle etwas haben, was für ihn das wäre, was andern die Religion ist, und daraus mögen wohl viel Streite entstehn – da beyde Gegenstände und Sinne Ähnlichkeit haben müssen und jeder dieselben Worte für das Seinige braucht, und doch beyde ganz verschieden sind – so muß daraus manche Confusion entspringen. (N 759, # 53)
Auch damit wendet sich Novalis gegen eine Ineinssetzung von Kunst und Religion.31 Er möchte, so wie er auch trotz des Ideals der universalen Poetik Wissenschaft und Dichtung voneinander getrennt wissen will,32 nicht, dass Religion und Dichtung verwechselt werden. Die spezielle Nähe, die zur »Confusion« führen kann, benennt er auf folgende Weise in einem späteren Fragment: _____________ 30 31
32
Zu einem Überblick vgl. Bunia, Remigius: Literaturwissenschaft als kontrollierter Weltkontakt. Novalis’ universale Poetik und das Wesen der Philologie; in: Athenäum 18 (2008), S. 15-50. Strack behauptet, Novalis setze Kunst über Religion; vgl. Strack, Friedrich: Die ›göttliche‹ Kunst und ihre Sprache. Zum Kunst- und Religionsbegriff bei Wackenroder, Tieck und Novalis; in: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Herausgegeben von Richard Brinkmann. Sonderband der ›Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte‹. Mit 49 Abbildungen. Stuttgart 1978, S. 369-391, hier S. 387. Vgl. hierzu Bunia: Literaturwissenschaft als kontrollierter Weltkontakt (Anm. 30). − Es gilt trotzdem für Novalis, dass »die Poesie in besondere Nähe zu den Wissenschaften rückt, weil beide zeichenvermittelte Darstellungen der Welt bilden« (Pethes, Nicolas: Poetik/ Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers; in: Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Herausgegeben von Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann in Verbindung mit Alexander von Bormann, Gerhart von Graevenitz, Walter Hinderer, Günter Oesterle und Dagmar Ottmann. Würzburg 2004 (Stiftung für Romantikforschung XXVI), S. 341-372, hier S. 359).
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Dichtkunst ist wohl nur – willkührlicher, thätiger, produktiver Gebrauch unsrer Organe – und vielleicht wäre Denken selbst nicht viel etwas anders – und Denken und Dichten also einerley. Denn im Denken wenden ja die Sinne den Reichthum ihrer Eindrücke zu einer neuen Art von Eindrücken an – und was daraus entsteht, nennen wir Gedanken. (N 759f., # 56)
Hierzu stellt Auerochs richtig fest: »In solchen verstreuten Bemerkungen wird Religion wie die Poesie und die Kunst als freie geistige Hervorbringung, als Resultat von Phantasiearbeit gedeutet«.33 Nicht nur Wissenschaft und Dichtung sind empirisch zu verstehen, sondern auch die Religion (in einer »Experimentalreligionslehre«; N 762, # 74). Eine ähnliche Verschaltung lässt sich mit Hilfe unserer kurzen Geschichte des Weltbegriffs auch für das Feld der Kunstreligion ausmachen, da Novalis einen Weltbegriff besitzt, der rationalistisch am Logos orientiert ist. Gerade die Gedanken, die das Dichten hervorbringt und die es an die fixierte Form von Buchstaben bindet, bilden nämlich die ›Welt‹: »Die Welt ist ein gebundener Gedanke« (N 792, # 248).34 Es sind die verschiedenen Welten (die der Dichtung, Religion, Wissenschaft35 und Politik), die in ihren Möglichkeiten poietisch genossen werden können.36 Den Raum für die verschiedenen poietischen Tätigkeiten bietet die Welt, wenn sie als eine Welt erfahren37 und begriffen werden will. Diese eine Welt ist aus verschiedenen Perspektiven betrachtbar; so ist etwa eine »Religioese Ansicht der Welt« (N 785, # 224) möglich; aber erst die Vielfalt der Ansichten schafft die wahre Erfahrung der ›Welt‹.38 Es ist die Vorstellung der einen Welt, die durch das poietische Schaffen zu einer Erfahrung der Vielweltlichkeit werden kann und damit die Dichotomie von Dualismus und Monismus zwischen Gott und Welt sprengt.39 Viel_____________ 33 34 35 36
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38 39
Auerochs: Kunstreligion (Anm. 1), S. 480. Vgl. hierzu auch Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt/M. 1983 [1981], S. 237. »Die Physik ist nichts, als die Lehre von der Fantasie« (N 754, # 18). Vgl. Daiber, Jürgen: Experimentalphysik des Geistes – Novalis als Experimentator an Außen- und Innenwelt. Stuttgart 2000 (Colloquia Academica. Geisteswissenschaften), S. 32. – Pethes: Poetik/Wissen (Anm. 32), legt überzeugend dar, dass die Ausdifferenzierung der Gesellschaft im Sinne Luhmanns die Folie ist, vor dessen Hintergrund Novalis seine universale Poetik entwirft; in diesem Sinne geht auch Novalis von einer Trennung zwischen Kunst und Religion aus. Novalis wendet sich gegen Naturphilosophie und Dichtung, wenn sie ohne Empirie arbeiten; vgl. Malsch, Wilfried: Erforschung und Poetisierung der Natur bei Novalis; in: Möbius, Hanno / Berns, Jörg Jochen (Hrsgg.): Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie. Marburg 1990, S. 133-148. Vgl. hierzu Bunia: Literaturwissenschaft als kontrollierter Weltkontakt (Anm. 30). – Novalis: »Poësie ist wahrhafter Idealismus – Betrachtung der Welt« (N 802, # 298). »Dieser wahren Religion werden zwei Formen der ›Irreligion‹ gegenübergestellt, die monistische Identifikation der Erscheinungswelt mit Gott auf der einen, die dualistische
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leicht werfen diese Überlegungen noch ein schärferes Licht auf jenen berühmten Satz aus den Vorarbeiten von 1798, der gerne für die Erläuterung der Romantik in Anschlag gebracht wird, ohne sich die Tragweite dessen bewusst zu machen, was ›Welt‹ eigentlich heißt: »Die Welt muß romantisirt werden« (N 334, # 105).
_____________ Trennung von Gott und Welt auf der anderen Seite« (Stockinger: Religiöse Erfahrung (Anm. 5), S. 377f.).
MARCO RISPOLI
Kunstreligion und künstlerischer Atheismus Zum Zusammenhang von Glaube und Skepsis am Beispiel Wilhelm Heinrich Wackenroders I Die Idee einer ›Kunstreligion‹ – der Versuch, die Kunst nicht bloß als Medium einer traditionellen Religion (denn das wäre eine Form religiöser Kunst), sondern als eine neue Religion aufzufassen – scheint von Anbeginn höchst problematisch zu sein. Das hat nicht zuletzt den Grund, dass die Kunstreligion gleichsam eine Tochter der Religionskritik ist: Sie entwickelt sich erst, seitdem die allgemein verbindliche Religion in Frage steht.1 Zwar wird die Kunstreligion von einer allzu scharfen Kritik ausgenommen bleiben müssen, um überhaupt denkbar zu sein, und freilich wird sich in der Moderne keine zur aufklärerischen Religionskritik analoge Kunstkritik entwickeln;2 dennoch scheint es, als ob dieser Ursprung nicht ganz wegzudenken wäre. Mag die Kunstreligion ihre Geburt aus dem Geist der Kritik gleichsam als pudenda origo verdrängen, so kann sie doch nur schwer darüber hinweggehen. Darum erscheint der Glaube an die Kunst oft vom Zweifel bedingt und begleitet. Sobald am Ende des 18. Jahrhunderts die Rede von einer künstlerischen Religion zum Tragen kommt, treten auch der Verdacht und die Gefahr eines ›künstlerischen Atheismus‹3 zutage (der Ausdruck stammt aus den kritischen Bemerkungen, die Novalis Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre gewidmet hat, und steht wohl im Zusammenhang mit _____________ 1 2 3
Zur Bedeutung der Religionskritik für die Entstehung der Kunstreligion sowie zum Verhältnis von Kunstreligion und Religionskritik vgl. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra 323), S. 116-118 und vor allem S. 362-367. Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 1), S. 13. Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Paul Kluckhohn (†) und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden und einem Begleitband. 3. Band: Das philosophische Werk II. Herausgegeben von Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz. Dritte, von den Herausgebern durchgesehene und revidierte Auflage. Stuttgart – Köln – Mainz 1983, S. 639.
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den romantischen Bemühungen um eine neue, sich in der Poesie offenbarende Religion). Es liegt nahe, dass solche Bemühungen auf ihr Gegenteil, eben auf die Möglichkeit eines künstlerischen Atheismus, nicht verzichten können. Denn der Ausdruck ›Kunstreligion‹ bekommt erst dann seinen Sinn, wenn von einer künstlerischen Religion die Rede ist, und gerade indem ein mehr oder minder verbreiteter Zweifel an der Kunst aufgespürt wird, kann deren Göttlichkeit ex negativo untermauert werden. Sieht man auch von diesem besonderen Fall ab, so erscheint der Zusammenhang von Glaube und Skepsis als ein auffälliges und charakteristisches Phänomen: Man denke an die Zeit des Ästhetizismus um 1900, als eine unerhörte Verherrlichung der Kunst mit ihrer weithin verbreiteten Verdächtigung einhergeht,4 oder an die neuesten Versuche, die ästhetische Erfahrung als religiöses Erlebnis darzustellen – zum Beispiel bei George Steiner, dessen Plädoyer für die Göttlichkeit der Kunst nicht nur aus rhetorischen Gründen beim angeblichen ›Triumph des Sekundären‹ und einem damit einhergehenden ästhetischen Relativismus seinen Ausgang nimmt.5 Welche Beziehung besteht aber zwischen Glaube und Skepsis? Kann Letztere ein bloßer Ansatzpunkt sein, welcher durch die Behauptung des religiösen Charakters der Kunst überwunden, ja vergessen werden darf? Oder ist sie nicht vielmehr nur der Anfang, sondern auch das Ergebnis des Versuchs, die Kunst als Religion zu denken? Und kann, darüber hinaus, ein solches Ergebnis wiederum zum Ansatzpunkt für die Entwicklung weiterer Versuche werden, in der Kunst eine Art religiöser Offenbarung zu finden, sodass sich eine potenziell endlose Dynamik entwickelt, die Glaube und Skepsis in ein Verhältnis der Komplementarität setzt?
II Solche Fragen drängen sich auf, wenn man das Werk Wilhelm Heinrich Wackenroders liest. Denn seine Schriften, einer der frühesten und radikalsten Ausdrücke der modernen Kunstreligion, sind zugleich eines der bedeutendsten Zeugnisse der modernen Skepsis gegenüber Sinn und Wert der Kunst.6 Eine solche Ambivalenz tritt unabhängig von der editorischen _____________ 4 5 6
Vgl. Wuthenow, Ralph-Rainer: Muse, Maske, Meduse. Europäischer Ästhetizismus. Frankfurt/M. 1978 (edition suhrkamp 897). Vgl. Steiner, George: Real Presences. London 1989. Der problematische Charakter von Wackenroders Kunstreligion wurde von der Forschung mehrmals hervorgehoben und unterschiedlich gedeutet: Gerhard Fricke (Wackenroders Religion der Kunst; in: Fricke, Gerhard: Studien und Interpretationen. Ausgewählte Schriften zur deutschen Dichtung. Frankfurt/M. 1956. S. 186-213) bemerkt die Ambivalenz von
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Arbeit Ludwig Tiecks deutlich zutage – d. h. an den Abschnitten, welche von der Forschung Wackenroder zugeschrieben werden.7 Zwar heißt es in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, dass die Kunst »eine religiöse Liebe […] oder eine geliebte Religion«8 (I 72) werden solle; zugleich aber tauchen Zweifel am Wesen der Kunst auf: »Was ist sie denn wirklich und in der That […]?« (I 142). So lautet die Frage, auf welche dann die Phantasien über die Kunst eine verzweifelte Antwort geben, wenn »die Kunst« dort als »eine verführerische, verbotene Frucht« und »ein täuschender, trüglicher Aberglaube« bezeichnet wird (I 225). Die Spannung, die aus solchen Aussagen entsteht, kann freilich im fiktiven Charakter der Texte – im Rollenspiel zwischen dem Klosterbruder und dem Kapellmeister Berglinger – eine Erklärung finden. Der hier angedeutete Gegensatz zwischen der Kunst als religiöser Offenbarung und der Kunst als dämonischer Verführung wird verständlicher, wenn man die beiden Hauptfiguren und deren unterschiedliche Perspektiven bedenkt. Es _____________
7
8
Kunstreligion und künstlerischer Verzweiflung, liest aber in Wackenroders Werk ein vermeintlich »vorbehaltlose[s] Ja zur Kunst« (ebd., S. 210); Friedrich Strack (Die ›göttliche‹ Kunst und ihre Sprache. Zum Kunst- und Religionsbegriff bei Wackenroder, Tieck und Novalis; in: Romantik in Deutschland. Ein interdisziplinäres Symposion. Herausgegeben von Richard Brinkmann. Sonderband der ›Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte‹. Mit 49 Abbildungen. Stuttgart 1978, S. 369-391) hebt den Gegensatz zwischen Glaube und Skepsis hervor, sieht aber in Wackenroders Werk den Versuch, »den Vorrang der Religion« (ebd., S. 373) gegenüber der Kunst wieder zu herzustellen, und relativiert demzufolge dessen Modernität; Martin Bollacher (Die heilige Kunst. Wackenroders ›Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders‹; in: Hofe, Gerhard vom / Pfaff, Peter / Timm, Hermann (Hrsgg.): Was aber bleibet stiften die Dichter. Zur Dichter-Theologie der Goethezeit. München 1986, S. 105-120) interpretiert zu Recht die Herzensergießungen »gegen die restaurative Intention des frommen Klosterbruders, als ein Dokument vor allem unserer […] entgötterten Zeit« (ebd., S. 120); Ulrich Barth (Ästhetisierung der Religion – Sakralisierung der Kunst. Wackenroders Theorie der Kunstandacht; in: Rohls, Jan / Wenz, Gunther (Hrsgg.): Protestantismus und deutsche Literatur. Göttingen 2004 (Münchener Theologische Forschungen 2), S. 167-195) deutet Wackenroders Ambivalenzen als Versuch einer anzustrebenden ›Synthese‹ von Religion und Kunst; Bernd Auerochs bemerkt, wie in Wackenroders Texten die Kunstreligion »in Koexistenz mit ihrer eigenen Krise« (Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 1) S. 502) dargestellt wird. Zum Problem der Autorschaft vgl. den grundlegenden Beitrag von Alewyn, Richard: Wackenroders Anteil; in: The Germanic Review 19 (1944) 1, S. 48-58. Vgl. dazu auch den Kommentar in der Historisch-kritischen Ausgabe: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von Silvio Vietta und Richard Littlejohns, Heidelberg 1991, Bd. I, S. 283-288 und 368-372. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. In: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von Silvio Vietta und Richard Littlejohns, Heidelberg 1991, Bd. I, S. 51-145, hier S. 72. – Zitate aus Wackenroders Werken und Briefen werden im Folgenden dieser Ausgabe entnommen und durch die Angabe von Band und Seite begleitet.
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sind mehrere Unterschiede zwischen dem Klosterbruder und Berglinger, die es hier zu erwähnen gilt. Zunächst fällt eine gewisse Ungleichzeitigkeit auf. Obwohl sie Zeitgenossen sind, beziehen sich die beiden Protagonisten auf verschiedene Epochen. Joseph Berglinger setzt sich mit seiner eigenen Zeit, d. h. mit der modernen Kunst und deren Verhältnissen, auseinander. Der Klosterbruder wendet sich hingegen von der aktuellen Epoche ab. Sieht man von seinen Erinnerungen an Berglinger ab, die ihn dazu bewegen, »einmal bey den gegenwärtigen Zeiten zu verweilen«, so erscheint die Gegenwart in seinen Gedanken als bloße Kontrastfolie für »die Schätze der Kunstgeschichte vergangener Jahrhunderte« (I 130). Der zeitgenössische Diskurs über die Kunst wird dabei ausdrücklich verworfen: Den »Ton der heutigen Welt«, schreibt der Klosterbruder ganz zu Beginn seiner Herzensergießungen, kann er »nicht lieben« (I 53). Und dies ist nicht nur eine Frage des Tons, weil ihm das Ganze als ein Gerede erscheint, mit dem die Schriftsteller sich »versündigt« haben oder sich gar als »ungläubige und verblendete Spötter« (I 55) erweisen. Die Wahl solcher religiösen Ausdrücke ist wohl kein Zufall: Dem Klosterbruder geht es offensichtlich darum, den Unglauben anzuprangern, um den eigenen Glauben zu untermauern. Ganz anders bei Berglinger: Er sucht in der Kunst die Möglichkeit, seinen armseligen häuslichen Verhältnissen und einem einseitigen, entfremdenden Beruf zu entkommen.9 Daran verzweifelt er allerdings angesichts der gesellschaftlichen Ohnmacht der Kunst: Die Gleichgültigkeit der Zeitgenossen, denen die Kunst nur ein »angenehmer Zeitvertreib« (I 142) ist, dient ihm – anders als dem Klosterbruder – keineswegs dazu, die eigene Kunstbegeisterung antagonistisch zu überhöhen; sie lässt vielmehr Zweifel am Sinn der Kunst erwachen, sodass Berglinger schließlich die Idee der Kunstautonomie verwirft. Wie er in dem bereits zitierten Brief aus den Phantasien über die Kunst schreibt, hat ihn gerade das Streben nach einer Tätigkeit irregeführt, die »von keinem gemeinen Zweck und Nutzen verschlungen […], von keinem Rade des großen Räderwerks getrieben wird« (I 224). Demgegenüber kann der Klosterbruder seine durchaus moderne Anbetung der Kunst mit Elementen einer vormodernen Welt vermischen: Seine Kunstreligion erlangt eine gewisse Stabilität, gerade indem sie sich auf die Zeit bezieht, in der noch keine Kunstreligion möglich war – auf die Zeit nämlich, als die Kunst noch »zur treuen Dienerinn der Religion« (I 128) bestimmt war.10 _____________ 9 10
Zum autobiographischen Hintergrund solcher Erwartungen vgl. Arendt, Dieter: Wackenroder. Der Ursprung der Romantik und die Versuchung des ›Romantismus‹; in: Studi germanici (Nuova serie) 17-18 (1979-1980), S. 97-130. Auf die Bedeutung dieser Verflechtung von modernen und vormodernen Ansichten beim Klosterbruder verweist – mit einem sehr starken Akzent auf dem Gewicht der Tradition –
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Es wird außerdem darauf verwiesen, dass Klosterbruder und Kapellmeister von verschiedenen Künsten sprechen, worin man einen weiteren Grund für ihre divergierenden Haltungen gesucht hat. Und freilich ist die Tatsache bemerkenswert, dass der fromme Klosterbruder hauptsächlich in der Malerei den Ort für Begeisterung und Andacht findet, während der Kapellmeister für die Tonkunst entflammt und daran zugrunde geht. Dass die Krise der modernen künstlerischen Religiosität gerade in der Musik akut wird, kann wohl in Zusammenhang mit den Eigenschaften dieser Kunst gebracht werden: mit dem immateriellen Charakter des musikalischen Kunstwerks, das »alle Bewegungen unsers Gemüths unkörperlich […] zeigt« (I 207), d. h. mit dessen Entfernung von mimetischen Darstellungen, ja mit dessen gleichsam innewohnender Tendenz zur Autonomie und Unabhängigkeit von der konkreten Welt. Dadurch mag die Tonkunst zwar als besonders geeignet erscheinen, um transzendenten Gefühlen Ausdruck zu verleihen, stellt sich gleichzeitig aber auch fragiler, subjektiver als andere Künste dar und mag den Eindruck vermitteln, als sei die künstlerische Andacht in der Musik zugleich besonders intensiv und besonders problematisch. So bedeutsam diese Verschiebung von Malerei auf Musik auch sein kann: Die sich daraus ergebenden Unterschiede erweisen sich nicht als entscheidend für den Wechsel von Kunstenthusiasmus und Kunstverzweiflung, welcher den Text Wackenroders bestimmt, weil dieser Wechsel, diese Art manisch-depressiver Dynamik, im Prinzip für jede Kunst charakteristisch werden kann.11 Wichtiger ist ein weiterer Unterschied zwischen den beiden Figuren: der zwischen dem bloß rezipierenden Klosterbruder und dem mühsam produzierenden Kapellmeister.12 Freilich war auch der fromme Klosterbruder in seiner Jugend bestrebt, die Kunst auszuüben; obwohl er nicht ohne Talent gewesen sei (seine Arbeiten »misfielen nicht ganz« (I 53), wie er erzählt), hat er doch darauf verzichtet, und zwar aus einer Mischung _____________
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Strack: Die ›göttliche‹ Kunst und ihre Sprache (Anm. 6). Aufschlussreicher für die strategische Funktion einer solchen Ungleichzeitigkeit in den Worten des Klosterbruders sind die Bemerkungen von Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 1), S. 485-490. Betont man in diesem Zusammenhang die stärkere Neigung der Musik zur Kunstautonomie (vgl. z. B. Schneider, Jost: Autonomie, Heteronomie und Literarizität in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders und den Phantasien über die Kunst; in: Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (1998), S. 161-172), so ist nicht zu vergessen, dass der Übergang von der Heteronomie zu einer oft problematisch erlebten Autonomie alle Künste betrifft. – Zur Musikästhetik Wackenroders vgl. Benert, Colin: Joseph Berglinger’s Musical Crucifixion: Harmony, Alterity, and the Theatre of the Passions in the Writings of Wilhelm H. Wackenroder; in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78 (2004), S. 20-54. – Valk, Thorsten: Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950. Frankfurt/M. 2008 (Das Abendland N. F. 34), S. 47-71. Vgl. Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 1), S. 495.
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von epigonalem Bewusstsein und demütiger Anbetung der alten Meister heraus: Aber immer dachte ich mit einem stillen, heiligen Schauer an die großen gebenedeyten Kunstheiligen; es kam mir seltsam, ja fast albern vor, daß ich die Kohle oder den Pinsel in meiner Hand führte, wenn mir der Name Raphael’s oder Michel Angelo’s in das Gedächtniß fiel. (I 53)
Je größer der Enthusiasmus für die Künstler ist, desto schwerer fällt die künstlerische Tätigkeit. Der Rückzug aus der aktiven Beschäftigung mit der Kunst ist für den Klosterbruder zugleich der Ausgangspunkt und das Ergebnis seiner kunstreligiösen Sensibilität. Denn die eigene bescheidene Entsagung erlaubt ihm, den künstlerischen Schaffensprozess in eine nicht nur zeitlich unüberbrückbare Distanz zu setzen und somit zum Heiligen zu verklären. Die dadurch gesteigerte Erkenntnis der Größe, ja der »Göttlichkeit« (I 57) der Kunst übt auf ihn wiederum eine einschüchternde Wirkung aus, die ihn im Verzicht auf den Künstlerberuf bestätigt und eine passive Haltung bewahren lässt. Wenn die Kunst zur Offenbarung werden soll, ist das im Übrigen unabdingbar: Der Mensch kann nur Empfänger, nicht Schöpfer oder Urheber einer göttlichen Offenbarung sein. Aus diesem Sachverhalt heraus entsteht dann in den Herzensergießungen des Klosterbruders das Bedürfnis, die passiven Elemente selbst im Fall der künstlerischen Schöpfung hervorzuheben; zugleich aber muss er, der eigenen Bescheidenheit unbeschadet, auf eine allzu scharfe Grenze zwischen bildenden und empfindenden Momenten innerhalb der ästhetischen Erfahrung verzichten. Einerseits soll der Künstler für die göttliche Inspiration empfindlich sein, denn nur dadurch – und das wird anhand der berühmten und vieldiskutierten Anekdote von Raphaels Erscheinung beispielhaft dargelegt13 – kann seine Kunst göttlich werden (seine produktive Tätigkeit sollte eigentlich in einer rezeptiven Haltung bestehen, um nicht in Verdacht zu geraten, ein willkürliches individuelles Schaffen zu sein).14 Andererseits obliegt es dem Zuschauer, nicht ganz passiv an der künstlerischen Erfahrung teilzunehmen. Zwar sollte auch er geduldig auf die göttliche Inspiration warten, wie es der Klosterbruder den Zeitgenossen ausdrücklich _____________ 13
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Zum Thema und zur entscheidenden Ersetzung der Gestalt von Galathea durch die Madonna siehe im vorliegenden Band den Beitrag von Alain Muzelle S. 253-263 sowie den Artikel von Mittner, Ladislao: Galatea. Die Romantisierung der italienischen Renaissancekunst und -dichtung in der deutschen Frühromantik; in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), S. 555-581. Darum erscheint in den Worten des Klosterbruders der Künstler eher als ein »bescheidener Diener« Gottes denn als ein »zweiter Schöpfer« (Kemper, Dirk: Sprache der Dichtung. Wilhelm Heinrich Wackenroder im Kontext der Spätaufklärung. Stuttgart – Weimar 1993, S. 204). Über die Schwierigkeiten des modernen Künstlers, die eigene Tätigkeit als Werkzeug einer transzendenten Offenbarung zu betrachten, vgl. Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 1), S. 492-496.
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empfiehlt, wenn es darum geht, ihnen zu erklären, wie man Kunstwerke betrachtet: »Harret […] auf die seligen Stunden, da die Gunst des Himmels euer Inneres mit höherer Offenbarung erleuchtet« (I 107). Zugleich aber sollte der Zuschauer, zumal in einer von Gott und Kunst entfernten Gegenwart, sich den Kunstwerken tätig annähern, damit sie zur Offenbarung werden können: »Ihre Zaubergestalten sind stumm und verschlossen, wenn ihr sie kalt anseht; euer Herz muß sie zuerst mächtiglich anreden, wenn sie sollen zu euch sprechen« (I 107). Es wird im Folgenden angebracht sein, auf eine derartige, gerade in kunstreligiöser Hinsicht höchst problematische Aufwertung der Rolle des Zuschauers zurückzukommen. Vorerst sei aber auf zwei hier auffallende Eigenarten der Kunstauffassung Wackenroders hingewiesen: Bereits hier, innerhalb des ästhetischen Diskurses des Klosterbruders, findet sich ein Beispiel jener Verflechtung von Tradition und Modernität, welche das Werk Wackenroders in vielerlei Hinsicht, am deutlichsten durch die Nebeneinanderstellung von Klosterbruder und Kapellmeister, kennzeichnet. Während die überirdische Inspiration des Künstlers und seine Rolle als Werkzeug Gottes an eine vormoderne Auffassung der Kunst gemahnen (angesichts der alten Meister könnte es fraglich erscheinen, ob überhaupt von Kunstreligion und nicht eher von religiöser Kunst im traditionellen Sinn die Rede sein sollte), so erscheint die Forderung an den Zuschauer nach aktiver Teilnahme an einer dialogisch gedachten künstlerischen Erfahrung als ein besonders moderner Zug, in dem die Angst vor dem Schweigen der Kunst in einer lärmenden Gegenwart reflektiert wird. Es ist außerdem bemerkenswert, dass solch kunstreligiöse Gedanken, indem sie die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Momenten innerhalb der künstlerischen Erfahrung einer göttlichen Inspiration unterordnen, eine gewisse Affinität zu dem aufweisen, was in der ästhetischen Reflexion mancher Autoren der Zeit aus ganz anderer Perspektive als Dilettantismus aufgefasst wird. Denn der Dilettant – so wie dieser von Goethe und Schiller, vor allem aber von Karl Philipp Moritz dargestellt wird – ist gerade derjenige, der »das Passive an die Stelle des Aktiven setzen«15 will. Bei dem Dilettanten ist ein Missverhältnis zwischen einem allzu entwickelten passiven ›Empfindungsvermögen‹ und einer mangelnden ›Bildungskraft‹16 zu beobachten: Bleibt er ein bloßer Zuschauer – in _____________ 15
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[Über den Dilettantismus]; in: Goethe, Johann Wolfgang: Ästhetische Schriften. 17711805. Herausgegeben von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1998 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche I 18 = Bibliothek deutscher Klassiker 151), S. 739-780, hier S. 779. Moritz, Karl Philipp: Über die bildende Nachahmung des Schönen; in: Moritz, Karl Philipp: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier.
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religiöser Hinsicht ein Gläubiger – ohne Anspruch darauf, selbst zum Künstler geweiht zu werden, so kann gerade ein solches Missverhältnis für die Entwicklung einer kunstreligiösen Sensibilität von großem Vorteil sein. Dadurch kann die Kunst viel leichter als Offenbarung aufgefasst werden, denn es geht dann nicht um eine tätige Auseinandersetzung mit Kunstgesetzen, um ein Üben, sondern eben um ein Warten auf die Erleuchtung. Damit die kunstreligiöse Begeisterung nicht zur Frustration des Dilettanten führt, der ständig in Gefahr ist, »durch tausend mißlungne Versuche, seinen Frieden mit sich selbst zu stören«,17 ist es aber notwendig, dass man sich der ernsthaften Ausübung einer künstlerischen Tätigkeit enthält. Denn so wird die eigene künstlerische Empfindung gleichsam nicht auf die Probe gestellt, und es bleibt möglich, an den göttlichen Wert des Kunstgefühls zu glauben. Darum hat der Klosterbruder die eigenen künstlerischen Versuche aufgeben müssen, und darum verweist er, als er eine Erklärung für das Scheitern Berglingers finden soll, gerade auf diesen wichtigen Unterschied zwischen sich und dem Freund. Er deutet dessen Fall als den eines Dilettanten, der die eigene passive Veranlagung verkannt hat: »Soll ich sagen, daß er vielleicht mehr dazu geschaffen war, Kunst zu genießen als auszuüben ?« (I 144). Diese Diagnose ist wohl suggestiv, dient allerdings auch weniger zum Verständnis von Berglingers Scheitern als vielmehr dazu, die schöpferische Tätigkeit als etwas Numinoses, jenseits jeder technischen Frage, zu verherrlichen. Damit weicht der Klosterbruder einer entscheidenden Frage aus: Wie kann der Enthusiasmus im schöpferischen Akt bewahrt werden? Was wird aus der Offenbarung, wenn es darum geht, sie konkret, sinnlich zu übersetzen? Dies bleibt für den Klosterbruder ein in der Vergangenheit liegendes Mysterium; Berglinger wird es zum Verhängnis. Sein Problem ist nicht so sehr die Qualität des eigenen Werks als das Abhandenkommen der religiösen Inbrunst in den handwerklichen Aspekten der Tonkunst. An die Stelle der Begeisterung sind die Regeln getreten, eine »mühselige Mechanik«, der nur mit »dem gemeinen wissenschaftlichen Maschinen-Verstande« (I 140) beizukommen ist. Das Entdecken und Erlernen der strengen Kunstgesetze stellt den Wert der künstlerischen Offenbarungen Berglingers in Frage. Es wird damit eine Kluft zwischen Eindruck und Ausdruck sichtbar, angesichts derer die ursprüngliche Begeisterung in eine Krise gerät. Um ein Bild Goethes zu verwenden: Berglinger entdeckt, dass »mit dem Geruch einer Blume« noch lange nicht »die Blume selbst hervorzubringen« ist.18 Dadurch entzieht er sich dem _____________ 17 18
Band 2: Popularphilosophie – Reisen – Ästhetische Theorie. Frankfurt/M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), S. 958-991, hier S. 975. Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (Anm. 16), S. 976. Goethe: [Über den Dilettantismus] (Anm. 15), S. 778.
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Dilettantismus, denn er erfährt, wie wenig die bloßen Empfindungen mit dem künstlerischen Schaffen zu tun haben.19 Zugleich entfernt er sich aber von seinem kunstreligiösen Glauben. Denn ganz abgesehen von seiner mehr oder weniger großen künstlerischen Begabung erfährt er dabei, wie wenig eine Künstler und Publikum gleichsam zusammenfassende, religiöse Inspiration den modernen künstlerischen Betrieb bestimmt. Dieser wird vielmehr von einer strikten Unterscheidung zwischen Produktion und Konsum von ästhetischen Werken bestimmt: einerseits ein Publikum, dem die Kunst ein oberflächlicher Genuss, »Belustigung der Sinne und angenehmer Zeitvertreib« (I 142) ist, andererseits wenige »bedauernswürdige Künstler«, die zur »Aufgeblasenheit« (I 141) neigen, sobald sie ein wenig Erfolg haben, und dennoch die Ausübung der Kunst als eine Arbeit erleben, die angesichts der grundsätzlichen Gleichgültigkeit des Publikums umso entfremdender wird. Berglinger bemerkt das selbst: »Und für diese Seelen arbeit’ ich meinen Geist ab!« (I 140). Die sich daraus ergebende Enttäuschung versucht Berglinger zu überwinden, indem er allein »die Kunst« und »nicht den Künstler« (I 141) als Gegenstand der religiösen Verehrung betrachtet. Eine solche Lösung, die übrigens von der Künstlerverehrung seitens des Klosterbruders wesentlich abweicht, bleibt jedoch provisorisch. Im Brief Berglingers aus den Phantasien über die Kunst breitet sich die Skepsis auf die Kunst im Allgemeinen aus: Das ist das tödtliche Gift, was im unschuldigen Keime des Kunstgefühls innerlich verborgen liegt. – Das ist’s, daß die Kunst die menschlichen Gefühle, die fest auf der Seele gewachsen sind, verwegen aus den heiligsten Tiefen dem mütterlichen Boden entreißt, und mit den entrissenen, künstlich zugerichteten Gefühlen frevelhaften Handel und Gewerbe treibt, und die ursprüngliche Natur des Menschen frevelhaft verscherzt. Das ist’s, daß der Künstler ein Schauspieler wird, der jedes Leben als Rolle betrachtet, der seine Bühne für die ächte Muster- und Normalwelt, für den dichten Kern der Welt, und das gemeine wirkliche Leben nur für eine elende, zusammengeflickte Nachahmung, für die schlechte umschließende Schaale ansieht. (I 226)
Berglingers Zweifel an der Kunst erscheint hier als eine Folge der eigenen künstlerischen Existenz. Das Kunstgefühl kann für ihn ›unschuldig‹ bleiben, solange es sich nicht übermäßig entwickelt und verabsolutiert. Keine _____________ 19
Nur zum Teil bleibt daher der Fall Berglingers als Fall eines Dilettanten im »strikten Moritzschen Sinne« erklärbar (Hollmer, Heide: Das Leiden an der Kunst. Ein MoritzThema und seine Folgen für die ›Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders‹; in: Text+Kritik 118/119 (1993), S. 107-117, hier S. 113); durch die schwere Lehrzeit und die Aufopferung wird vielmehr seine Lage zum Muster für die Einsamkeit des modernen, ohne transzendentes oder auch nur gesellschaftliches Mandat arbeitenden Künstlers. – Zum Einfluss von Karl Philipp Moritz vgl. auch Vietta, Silvio: Wackenroder und Moritz; in: Athenäum 6 (1996), S. 91-107.
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Inspiration bindet den Künstler mehr an eine göttliche Dimension, weswegen er dazu verurteilt scheint, sich auf Grund des eigenen Berufs der Wirklichkeit und der Menschheit, selbst der eigenen, zu entfremden. Damit wird also die Kunst zum Gegenstand einer Selbstkritik, welche die Verdächtigung von Kunst und Künstler zur Zeit des Ästhetizismus – wie man sie etwa in den Schriften des jungen Hugo von Hofmannsthal oder Thomas Manns findet – vorwegnimmt und jegliche Kunstreligion als Täuschung entlarvt. Das Kunstgefühl muss im ›Keim‹ bleiben, darf sich also überhaupt nicht entwickeln, wenn es sich nicht als ›Gift‹ erweisen soll.
III Das Verhältnis von Kunstreligion und Kunstskepsis erscheint also erhellt, indem diese beiden gegensätzlichen Haltungen im Text durch zwei unterschiedliche Figuren dargestellt werden. Ob der Glaube an die Kunst haltbar ist, hängt damit von den verschiedenen Rollen, wenn nicht gar von den psychologischen Kontingenzen beider ab.20 Dabei könnte Berglingers Zweifel an der Kunst als eine Antithese erscheinen, die geeignet ist, die Kunstreligion zu festigen, gerade indem diese mit ihrer möglichen Krise konfrontiert wird – als ob das Leiden Berglingers als eine Art Gottesferne zu deuten wäre, die gerade als solche die Göttlichkeit der Kunst nur bestätigen kann und auf einer höheren Ebene vorgesehen ist. Dem würde auch die Rolle des Klosterbruders als Herausgeber und Erzähler von Berglingers Geschichte entsprechen. Eine solche Perspektive, welche die Divergenzen und nicht die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden betont, läuft indes Gefahr, den für Wackenroders Werk charakteristischen Wechsel von Enthusiasmus und Skepsis allzu schematisch zu interpretieren. Glaube und Skepsis sind, wenngleich in verschiedenem Maß, bei beiden Figuren präsent: Entwickelt sich bei Berglinger das Misstrauen gegen die Kunst auch aus seiner Anbetung der Musik heraus, so erscheint die Kunstfrömmigkeit des Klosterbruders auch als Reaktion auf ein in seinen Schriften nicht ganz latentes Unbehagen gegenüber der Kunst seiner Zeit. Entscheidend ist bei diesem Wechselspiel die fehlende Vermittlung zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit, zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. _____________ 20
Einen Versuch, das Scheitern Berglingers auch durch seine sozialen und psychischen Besonderheiten zu erklären, findet man bei Wilson, W. Daniel: Wackenroders ›Joseph Berglinger‹. Sozial verantwortliche Kunst und die Revolutionskrise; in: Verantwortung und Utopie. Zur Literatur der Goethezeit. Ein Symposium. Herausgegeben von Wolfgang Wittkowski. Tübingen 1988, S. 321-342.
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Ein solcher Sachverhalt erscheint bei Berglinger geradezu evident. Wie man gesehen hat, wird zwar seine Glaubenskrise manifest, indem er als moderner Künstler lebt – das Problem liegt aber im Keim der Kunstreligion, d. h. in der Wirkung der Kunst, im Kunstgefühl und dessen allzu subjektivem, innerem Charakter. »In stiller Einsamkeit« (I 142) − so beschreibt Berglinger den jugendlichen Zustand, in dem seine religiöse Begeisterung gedieh, als er »still und unbemerkt« (I 140) ein Konzert anhören konnte. Sein Enthusiasmus geht zugrunde, indem er wahrnimmt, dass die Kunst beim Publikum nicht dieselben Gefühle wie bei ihm erweckt (dass es sich dabei um seine eigene Kunst handelt, ist sekundär): »Was ist die Kunst so seltsam und sonderbar! Hat sie denn nur für mich allein so geheimnißvolle Kraft, und ist für alle andre Menschen nur Belustigung der Sinne und angenehmer Zeitvertreib? Was ist sie denn wirklich und in der That, wenn sie für alle Menschen Nichts ist, und für mich allein nur Etwas? Ist es nicht die unglückseligste Idee, diese Kunst zu seinem ganzen Zweck und Hauptgeschäft zu machen, und sich von ihren großen Wirkungen auf die menschlichen Gemüther tausend schöne Dinge einzubilden?« (I 142)
Der Vergleich mit den Mitmenschen und ihrer unterschiedlichen Sensibilität ist also der Punkt, an dem der Glaube an die Kunst brüchig wird und kippt. Die Kunstreligion erweist sich als etwas höchst Asoziales, das nur im individuellen Gefühl wurzelt. Bei Berglinger kann der Wechsel von den »engen Gassen der kleinen Stadt« (I 138) zur Residenz, von bürgerlicher Philanthropie und Nützlichkeitsdenken zur künstlerischen Existenz, nichts als Enttäuschungen und Verzweiflung mit sich bringen, weil die moderne Kunstreligion (und das heißt: die nicht mehr religiöse Kunst) an keine allgemein verbindlichen Prinzipien mehr gebunden ist. Die Möglichkeit, dass Kunst etwas Gemeinschaftliches ausdrückt, erscheint bei ihm übrigens von Anbeginn an als fraglich. Bereits in seinen jugendlicheinsamen Hoffnungen musste der Eindruck, »von Gott […] auf die Welt gesetzt« (I 136) zu sein, um Musiker zu werden, dem Willen zum persönlichen, individuellen Erfolg Platz machen: Öffne mir der Menschen Geister, Daß ich ihrer Seelen Meister Durch die Kraft der Töne sey; Daß mein Geist die Welt durchklinge, Sympathetisch sie durchdringe, Sie berausch’ in Phantasey! – (I 137)
Wenn es hauptsächlich darum geht, der Menschen Seele ›Meister‹ zu werden und die Welt mit dem eigenen Geist zu durchdringen, dann kann die Kunst kein göttlicher Ausdruck mehr sein, sondern wird zur menschlichen, individuellen Projektion. Die traditionellen Verhältnisse haben sich dann gleichsam umgekehrt: Der Künstler ist kein Werkzeug Gottes mehr; es ist vielmehr die Gottheit (im Fall von Berglingers Gebet die heilige
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Cäcilia), die für den persönlichen Erfolg des Künstlers angebetet und darum gleichsam zum Werkzeug des Menschen wird. Berglingers Elend hängt davon ab, dass das Kunstgefühl nicht zur öffentlichen Religion werden kann – es sei denn, diese bestünde in der Anmaßung eines einzelnen Künstlers und seiner Verführungskraft. Genau damit aber hört sie auf, eine Religion zu sein; sie kann kein Glaube mehr sein, sondern höchstens, wie Berglinger konsequent erkennt, ein »Aberglaube« (I 225). Die Möglichkeit einer dem Gedankengut Rousseaus verpflichteten Flucht aus der Gesellschaft der Residenz »zu dem simplen Schweizerhirten ins Gebirge« (I 142) erscheint ihm dann als der einzige Ausweg aus der Krise. Nur so ließen sich der subjektive Charakter der Kunst und ihre sonst beklagte ethische Ohnmacht ignorieren. Dem asozialen Charakter der Kunstreligion entspricht also die Misanthropie des Künstlers, d. h. die Idee Berglingers, »ein Künstler müsse nur für sich allein, zu seiner eignen Herzenserhebung, und für einen oder ein paar Menschen, die ihn verstehen, Künstler seyn« (I 142). Es kann nicht verwundern, dass der Klosterbruder gegen diese Lösung nichts einzuwenden hat und die Idee eines »für sich allein« lebenden Künstlers »nicht ganz unrecht« (I 142) nennt. Denn etwas Ähnliches ist seine eigene Lösung gewesen. Nachdem er »in der Welt und in vielen weltlichen Geschäften verwickelt« war, zieht er sich auch darum in die »Einsamkeit eines klösterlichen Lebens« (I 53) zurück, damit seine Kunstreligion ungestört aufrechterhalten bleibt. Diese Religion kann offensichtlich nur in einer solchen intimen Dimension, nur als Privatreligion also, bestehen: Kunstwerke sollten nach Ansicht des Klosterbruders »in herzerhebender Einsamkeit« (I 106) bewundert werden. An dieser Neigung zur einsamen, ausschließlich in der Innerlichkeit möglichen Andacht lässt sich auch die Bedeutung der pietistischen Tendenzen für die Ästhetik Wackenroders und überhaupt für die Entwicklung des Gedankens einer Kunstreligion in Deutschland bemerken.21 Die Verlagerung der Religiosität in eine private Sphäre, in die Innerlichkeit des einzelnen Menschen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Kunstreligion. Gerade daraus kann sich aber eine relativistische Dynamik entwickeln, die bereits von Georg Friedrich Meier auf den Punkt gebracht wurde, indem er beobachtete: _____________ 21
Zur wichtigen, wenngleich ambivalenten Rolle des Pietismus für den Gedanken der Kunstreligion vgl. Müller, Ernst: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004 (Literaturforschung), S. 19-22; über den bereits im Wortschatz manifesten Einfluss des Pietismus auf Wackenroders Ästhetik vgl. Tadday, Ulrich: › – und ziehe mich still in das Land der Musik, als in das Land des Glaubens, zurück‹. Zu den pietistischen Grundlagen der Musikanschauungen Wilhelm Heinrich Wackenroders; in: Archiv für Musikwissenschaft 56 (1999), S. 101-109.
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So viele einzelne Menschen es also gibt, welche eine Religion haben, so viele voneinander verschieden würkliche Religionen giebt es in dem menschlichen Geschlechte.22
Die Frage, die sich in Wackenroders Text ankündigt und für die Existenz einer Kunstreligion zentral sein wird, besteht gerade darin, ob man aus diesem (kunst)religiösen Relativismus – der anfänglich die Kunstreligion möglich machte – einen Ausweg findet und ob bzw. wie man aus diesem privaten, inneren Kultus zu einer öffentlichen, gemeinschaftlichen Dimension gelangt. Es handelt sich um eine folgenreiche Frage, denn die ernsthaftesten modernen Versuche eine Kunstreligion zu behaupten – diesbezüglich sei vor allem auf Richard Wagner und Stefan George hingewiesen23 – werden sich um die Möglichkeit drehen, eine kunstreligiöse Gemeinde zu gründen. Es geht mit anderen Worten darum, den innerlichen, individuellen Kultus, dem sinnlich darstellenden, äußerlichen Wesen der Kunst gemäß, zur öffentlichen Repräsentation zu bringen. Trotz der protestantischen oder gar pietistischen Aszendenzen hat der Katholizismus auch gerade deswegen eine so starke Faszination auf Wackenroder ausgeübt, wie sich seinem Reisebericht entnehmen lässt: Im Bamberger Dom ist er nicht von den theologischen Aspekten des Katholizismus, sondern von der verbindlichen Macht einer Liturgie beeindruckt, die er vor allem ästhetisch wahrnimmt. »[B]ey Alten, wie bey Kindern« (II 203) bewundert er dabei die Fähigkeit, die religiöse Inbrunst öffentlich darzustellen, und ist derart affiziert von der Einstimmigkeit der Gesten, dass die Gemeinde ihm wie »eine ganze Welt« vorkommt und er selbst auf die Knie fällt, weil ihm sonst gewesen wäre, als »gehörte« er »nicht zu den Menschen« (II 204). Die katholische Messe liefert ihm damit ein Beispiel für die Überwindung der Kluft zwischen dem intimen Kultus und einer gemeinschaftlichen Dimension. Freilich hat diese Faszination regressive Züge, verweist aber auf die fürs Fortschreiten der Aufklärung entscheidende Dialektik von Privatem und Öffentlichem: Die Inklination zum _____________ 22
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Meier, Georg Friedrich: Betrachtungen über die würkliche Religion des menschlichen Geschlechts. Halle 1774, S. 10 (zitiert nach Müller, Ernst: ›Religion/Religiosität‹; in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Band 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart – Weimar 2003, S. 227-264, hier S. 241). Vgl. Auerochs: Entstehung der Kunstreligion (Anm. 1), S. 99: »Beide sind […] darum bemüht, den verpflichtenden Charakter ihrer Kunst besonders herauszustellen; beide sehen es gerade deshalb als notwendig an, ihrer Kunst einen institutionellen Apparat an die Seite zu stellen […]: Wagner in Form der Bayreuther Festspiele, George in Form seines Kreises«. – Auf die Bedeutung von ›Wagnerianern‹ und ›Georgekreis‹ angesichts einer Kunst, die im Vergleich zur Religion »auf den ersten Blick stark asozial« ist, verweist auch Konrad, Joachim: Religion und Kunst. Versuch einer Analyse ihrer prinzipiellen Analogien. Tübingen 1929, S. 65.
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Katholizismus kann auch als eine Antwort auf die Schwierigkeiten gelesen werden, die das Bürgertum in Deutschland fand, als es darum ging, die eigene Sensibilität und die eigenen, in polemischer Abgrenzung gegenüber der aristokratischen Öffentlichkeit entwickelten Werte öffentlich zu machen.24 Diese Inklination wurzelt also in derselben Sehnsucht und demselben Unbehagen, die Wilhelm Meisters Wunsch bedingen, ›öffentlich‹ sein zu können – und auch in diesem Fall übt ja übrigens die Kunst eine zentrale, wenngleich unzulängliche Funktion aus.25 Dass die Faszination des Katholizismus vor allem ästhetischer Natur bleibt26 und die Schwierigkeit, die innerliche Sensibilität ins Öffentliche zu übersetzen, dadurch nicht behoben werden kann, wird übrigens in Wackenroders Text nicht nur am Scheitern Berglingers deutlich, sondern auch an manchen Eigenarten der Kunstfrömmigkeit des Klosterbruders. Seine Zugehörigkeit zum geistlichen Stand sowie seine Vorliebe für die religiöse Kunst – für eine Kunst, die sich noch als »Dienerinn der Religion« (I 128) präsentiert – haben den Zweck, die Kunstfrömmigkeit an den institutionellen Rahmen einer traditionellen Religion zu binden _____________ 24
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Der Prozess, auf den hier angespielt wird, wurde bekanntlich von Habermas rekonstruiert: Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Unveränderter Nachdruck der zuerst 1962 im Hermann Luchterhand Verlag, Neuwied, erschienenen Ausgabe, ergänzt um ein Vorwort zur Neuauflage 1990. Frankfurt/M. 1990. Vgl. den berühmten Brief Wilhelm Meisters an Werner: »Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung. Ich habe, seit ich dich verlassen, durch Leibesübung viel gewonnen; ich habe viel von meiner gewöhnlichen Verlegenheit abgelegt und stelle mich so ziemlich dar. Eben so habe ich meine Sprache und Stimme ausgebildet, und ich darf ohne Eitelkeit sagen, daß ich in Gesellschaften nicht mißfalle. Nun leugne ich dir nicht, daß mein Trieb täglich unüberwindlicher wird, eine öffentliche Person zu sein« (Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre; in: Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters theatralische Sendung – Wilhelm Meisters Lehrjahre – Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. Herausgegeben von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Unter Mitwirkung von Almuth Voßkamp. Frankfurt/M. 1992 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche I 9 = Bibliothek deutscher Klassiker 82), S. 355-992, hier S. 659). Über Wackenroders Annäherung an den Katholizismus sei hier an Joseph von Eichendorffs Urteil in seiner Schrift Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland (1847) erinnert: »Jenes Mißverständnis hat daher, wie einerseits einen künstlerischen Dilettantismus, so auch ein dilettantisches Katholisieren in Mode gesetzt, das die Kirche fast nur als eine grandiose Kunstausstellung betrachtete und sich für berechtigt hielt, ihre Geheimnisse nach seiner Weise und Stimmung zu deuten« (Eichendorff, Joseph von: Über die ethische und religiöse Bedeutung der neueren romantischen Poesie in Deutschland. In: Eichendorff, Joseph von: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz. Band 6: Geschichte der Poesie. Schriften zur Literaturgeschichte. Herausgegeben von Hartwig Schultz. Frankfurt/M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 52), S. 13-280, hier S. 106.). – Zum Kontext dieser Kritik vgl. Bollacher: Die heilige Kunst (Anm. 6), S. 107f.
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und dadurch zu festigen, so als ob die Kunstreligion gerade durch das Vermächtnis einer positiven Religion möglich erscheinen könnte. Dennoch handelt es sich dabei um einen schwierigen, ja illusionären Balanceakt: Die traditionelle, positive Religion und die Kunstreligion können nur kurz und vorübergehend übereinstimmen, ohne dass sich ein Konkurrenzverhältnis zwischen den beiden entwickelt. Denn entweder ist die Kunst eine »Dienerinn der Religion«, sodass jede Anbetung der Kunst und der Künstler an sich einer Form von Idolatrie gleichkommt, oder die Kunst setzt sich auf Kosten der traditionellen Religionsinhalte als moderne Religion durch, kann aber in diesem Fall kaum an ein allgemeines, außerästhetisches Prinzip gebunden sein. Aus diesem Dilemma entstehen die Ambivalenzen in den Meditationen des Klosterbruders: Sobald sein Gedankengang die enge Zelle des Klosters und die alte Religiosität verlässt, um sich mit der Welt auseinanderzusetzen, muss sich sein Glaube mit einer von der Empirie des Geschmacks bedingten Skepsis vermischen. Von Bedeutung sind dabei seine Abhandlungen Von zwey wunderbaren Sprachen und Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe in der Kunst. In beiden Texten zeigt sich der Klosterbruder als Vertreter einer Religiosität, deren Mystizismus ein Ergebnis der Aufklärung ist.27 In den Reflexionen über die zwei ›wunderbaren Sprachen‹ der Natur und der Kunst erweist sich die Abwertung der menschlichen Wortsprache nicht nur als eine Vorwegnahme poetischer Tendenzen, die in dem europäischen Symbolismus und seiner Ablehnung der Alltagssprache, seiner Sprachskepsis und Sprachbegeisterung gipfeln werden – sie bedeutet zuallererst eine Relativierung des dogmatischen Wertes der Heiligen Schrift und somit eine Abkehr von der traditionellen Religion.28 Erlaubt dies erst recht, die Andacht von religiösen Inhalten auf die Kunstwerke zu verschieben, so verhindert es zugleich, die künstlerische Religion in irgendeiner Weise zu begrenzen und zu bestimmen. Indem der Klosterbruder die menschliche Sprache als unzulänglich erklärt, um »das Unsichtbare, das über uns schwebt«, begreiflich zu machen, indem sie von ihm zum bloßen Instrument herabgesetzt wird, um zu »herrschen« oder zu »erhandeln« (I 97), kann er demgegenüber die Sprache der Natur und vor allem die Sprache der Kunst umso stärker verherrlichen; es ist ihm jedoch _____________ 27
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Vgl. Kemper: Sprache der Dichtung (Anm. 14), S. 173. Auf die Zentralität dieser theoretischen Schriften gegenüber den Künstlercharakteristiken und Anekdoten verweist Littlejohns, Richard: Humanistische Ästhetik? Kultureller Relativismus in Wackenroders Herzensergießungen; in: Athenäum 6 (1996), S. 109-124. Dass die Dichtung – ähnlich wie später im Symbolismus – davon unangetastet bleibt, wird von Kemper überzeugend dargelegt: Kemper: Sprache der Dichtung (Anm. 14), S. 224227; zum Einfluss der Aufklärungstheologie auf die Schrift über die zwei ›wunderbaren Sprachen‹ vgl. ebd., S. 172 sowie Littlejohns: Humanistische Ästhetik? (Anm. 27), S. 116f.
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kaum mehr möglich, etwas über diese beiden wunderbaren Sprachen zu sagen. Daher rühren der programmatische Verzicht auf die Kritik und die Scheltrede gegen diejenigen, die »wie vom Richterstuhle, über alles das entscheidende Urtheil« sprechen, »ohne zu bedenken, daß sie niemand zu Richtern gesetzt hat« (I 87). An dieser Stelle der Reflexion Über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe tritt aber, trotz des scheinbaren Verzichts auf Kritik, die problematische Verwandtschaft von Kunstreligion und Kritik deutlich zu Tage: Obwohl der Klosterbruder die eigene künstlerische Andacht von der Kritik abzukoppeln sucht, kann er den Zusammenhang beider nicht verbergen. Denn das Verwerfen der Kritik ist auch ein Akt der Kritik, und zwar der radikalsten. Der Klosterbruder verurteilt die Urteilenden, weil sie keine allgemein gültige Legitimation mehr haben. Ihr Fehler ist nämlich, dass »sie ihr Gefühl als das Centrum alles Schönen in der Kunst« (I 87) betrachten. Ein solcher Fehler ist jedoch unausweichlich, wenn nur im Gefühl, im Kunstgefühl, in der demütigen Andacht sich die Schönheit der Kunst ergeben kann. Der eigentliche Fehler der Kritiker liegt eher darin, dass sie das eigene Gefühl zu verabsolutieren scheinen, dass sie nicht skeptisch und kritisch genug sind. Der Zweifel an der Verbindlichkeit des eigenen individuellen Gefühls, welchen die Kritiker hegen sollten, wirkt aber auch auf die Kunstbetrachtungen des Klosterbruders zurück und relativiert den allgemeinen Wert seiner Kunstandacht. Die Schwierigkeit, eine allgemeine, öffentliche Kunstreligion zu behaupten, wird damit evident: Der Enthusiasmus erscheint als Folge und Ausgleich der Skepsis; er ist das, was übrig bleibt, wenn jede Bestimmung von Wert und Sinn der Kunstwerke unsagbar erscheint und es kaum mehr möglich ist, die eigene künstlerische Erfahrung mit den Mitmenschen zu konfrontieren, so wie es nicht mehr sinnvoll ist, Künstler und Kunstwerke zu vergleichen. Die problematischen Aspekte solcher Unmöglichkeit der ästhetischen Verständigung werden im Text mitreflektiert: Der Klosterbruder ist deshalb bemüht, die Einheit des menschlichen Kunstgefühls zu betonen, als ob es »ein und derselbe himmlische Lichtstrahl« (I 88) wäre. Er muss aber angesichts der Mannigfaltigkeit der Kunstwerke und des Geschmacks auf jegliche konkrete Angabe über das, was schön und der Anbetung würdig ist, verzichten. ›Schönheit‹ klingt ihm nämlich wie »ein wunderseltsames Wort« (I 88), weil es notwendig unbestimmt und also nichtssagend bleiben muss: Erfindet erst neue Worte für jedes einzelne Kunstgefühl, für jedes einzelne Werk der Kunst! In jedem spielt eine andere Farbe, und für ein jedes sind andere Nerven in dem Gebäude des Menschen geschaffen. (I 88)
Damit wird nicht nur die Möglichkeit einer beurteilenden Kritik, sondern auch die Idee eines Kanons und einer künstlerischen Tradition in Frage gestellt. An den Worten des Klosterbruders fällt hiermit wieder eine
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gewisse Ungleichzeitigkeit oder gar eine widersprüchliche Spannung auf. Einerseits stützen sich seine Texte über die »großen, gebenedeyten Kunstheiligen« (I 53) auf die traditionellen Darstellungen der alten Meister und auf den zugrunde liegenden Kanon; andererseits wird aber jegliche ästhetische Distinktion für unhaltbar erklärt, sobald der Klosterbruder die weltliche und historische Vielfalt der künstlerischen Ausdrücke in Betracht zieht.29 Die Kunst und die Möglichkeit, dass sie zum Gegenstand der Andacht wird, bleiben also dem individuellen Geschmack untergeordnet, wie der Klosterbruder zugibt: So wie in jedes sterbliche Auge ein anderes Bild des Regenbogens kommt, so wirft sich jedem, aus der umgebenden Welt, ein anderes Abbild der Schönheit zurück. (I 89)
Bedenkt man, dass der Klosterbruder von Seiten des Kunstbetrachters eine aktive Anteilnahme fordert (dieser soll die Kunstwerke »mächtiglich anreden« (I 107), damit sie überhaupt wirken können), so wird der hier angekündigte Relativismus noch gesteigert, indem das Zustandekommen einer glücklichen künstlerischen Erfahrung dem Rezipienten überlassen bleibt.
IV Berglingers Frage nach dem Wesen der Kunst – »Was ist sie denn wirklich und in der That […]?« (I 142) – findet also keine bestimmte Antwort. Jegliches Weltbild und jegliche Idee des Schönen erscheinen als etwas Subjektives; es kann keine allgemeinverbindliche Kunstreligion geben, weil es überhaupt kein allgemeinverbindliches Kunsturteil geben kann. Wackenroders Plädoyer für die ästhetische Toleranz ist der Versuch, mit der historischen und kulturellen Vielfältigkeit der Kunst umzugehen: indem das ›Menschliche‹ dennoch überall zu suchen wäre, wenn »wir auf dem Gipfel eines hohen Berges stehen« und »viele Länder und viele Zeiten unsern Augen offenbar, um uns herum und zu unsern Füßen ausgebreitet liegen« (I 89). Mit diesem Bild vom Standpunkt eines mit historischen und geographischen Kenntnissen beladenen Betrachters nimmt Wackenroder das für das spätere 19. Jahrhundert charakteristische Problem des Eklektizismus vorweg. Die ästhetische Toleranz und der Verzicht auf ein maßgebliches ästhetisches Urteil sind unvermeidbar, wenn nur das subjektive _____________ 29
Angesichts dieser Ambivalenz geht bei Littlejohns die Aufwertung der theoretischen, moderneren und zum Relativismus neigenden Reflexionen des Klosterbruders mit der Relativierung des Gedankens einer Kunstreligion einher; die Religion und die religiösen Ausdrücke werden von ihm deshalb als ›Metapher‹ interpretiert: Littlejohns: Humanistische Ästhetik? (Anm. 27), S. 114f.
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Marco Rispoli
Kunstgefühl bestimmen kann, was schön ist, und man demzufolge zu keinem ästhetischen Konsens mehr kommt. Die ästhetische Beliebigkeit, die damit entsteht, stellt aber jeden Anspruch der Kunst darauf, zur Religion zu werden, in Frage. Damit wird es vielmehr möglich, einen grundlegenden Unterschied zwischen Religion und Kunst hervorzuheben: Wie Joachim Konrad in seiner Untersuchung über die Affinitäten und Unterschiede von Religion und Kunst bemerkt, muss jede Religion einen Anspruch auf absolute Wahrheit erheben, während in der modernen Kunst eine Art Pluralismus herrscht, sodass man »nur eine Religion haben kann, während man doch alle Kunst – soweit sie einem zugänglich ist und zusagt – genießen und somit sein eigen nennen kann«.30 Der bemerkenswerte Zusammenhang von Enthusiasmus und Skepsis, welcher Wackenroders Kunstauffassung charakterisiert, ist durch diesen Unterschied und dessen Folge bedingt. Um die Kunst als Religion auffassen zu können, wird hier eine ästhetische Beliebigkeit im Kauf genommen, welche den gerade in religiöser Hinsicht notwendigen Anspruch auf Wahrheit und Exklusivität vereitelt und zur Skepsis führt. Gerade um diese Gefahr abzuwenden, müsste ein Kanon festgelegt werden: Während der Klosterbruder offenbar darum bemüht ist, jede Geschmacksstreiterei zu vermeiden, um die subjektive Inbrunst unangetastet zu lassen, sodass für ihn gleichsam de gustibus non disputandum est gilt, werden manche späteren Versuche, den Sinn und Wert der Kunst zu bestimmen und zu verherrlichen, nicht zufällig von jeglichem ästhetischen Relativismus Abstand nehmen müssen. Die Vielfalt der künstlerischen Ausdrücke vieler Länder und Zeiten, die Wackenroder mit dem eigenen Kunstenthusiasmus noch in Einklang zu bringen versucht, ruft z. B. bei Friedrich Nietzsche vehementen Protest hervor: In der ersten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen verurteilt er das chaotische »Durcheinander aller Stile«, in dem die Deutschen seiner Zeit leben. Dieses erscheint ihm wie eine »moderne JahrmarktsBuntheit«, welche die »phlegmatische Gefühllosigkeit für die Kultur«31 beweist. Nietzsches Polemik, hauptsächlich gegen den anmaßenden Kulturbetrieb der Bismarckzeit gerichtet, verweist allgemein auf das Bedürfnis, der künstlerischen Beliebigkeit Einhalt zu gebieten, damit die Kunst nicht bloß in der Produktion und dem Konsum von »Zerstreuungsund Unterhaltungsobjecte[n]«32 besteht. _____________ 30 31
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Konrad: Religion und Kunst (Anm. 23), S. 136. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller; in: Nietzsche, Friedrich: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abteilung III, Band 1: Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemässe Betrachtungen I-III (1872-1874), Berlin – New York 1972, S. 153-238, hier S. 159. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen I (Anm. 31), S. 166.
Zum Zusammenhang von Glaube und Skepsis am Beispiel Wackenroders
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Angesichts der Gefahr eines ästhetischen Relativismus führt also gerade die Sorge um den Wert der Kunst dazu, die Notwendigkeit einer ästhetischen Debatte und einer kritischen Auseinandersetzung zu erkennen. Darauf wird noch Theodor W. Adorno hinweisen, als er, im Unterschied zum Klosterbruder, das Konkurrenzverhältnis der Kunstwerke untereinander hervorhebt. De gustibus est disputandum ist demzufolge der Titel eines der Minima Moralia, in dem man liest: Ästhetische Toleranz, wie sie die Kunstwerke unmittelbar in ihrer Beschränktheit gelten läßt, ohne sie zu brechen, bringt ihnen nur den falschen Untergang, den des Nebeneinander, in dem der Anspruch der einen Wahrheit verleugnet ist.33
Sollte die Kunst einen Anspruch auf Wahrheit erheben, dann kann sie kein friedliches Neben- und Durcheinander der Stile und Inhalte zulassen. Es wird vielmehr notwendig, den unterschiedlichen ästhetischen Wert der Kunstwerke zu bestimmen und damit auch den Anspruch auf Absolutheit jedes einzelnen Kunstwerks anzuerkennen, wenn jedes die »Schönheit für sich in seiner Einzigkeit« anstrebt und »deren Aufteilung nie zugeben« kann, »ohne sich selber zu annulieren«.34 Die ästhetische Toleranz des kunstfrommen Klosterbruders wird damit gerade in Hinsicht auf den Wert der Kunst, auf deren Wahrheitsanspruch, implizit verurteilt. Die Gefahr eines ›falschen‹ Untergangs der Kunst wird indessen im Text Wackenroders keineswegs verheimlicht. Sein Werk verweist vielmehr deutlich auf ein für jede moderne Kunstreligion unumgängliches Problem: auf den Relativismus und den sich daraus ergebenden Zweifel. Im Rollenspiel zwischen Klosterbruder und Kapellmeister, in den Ambivalenzen ihrer Geschichten und Reflexionen, kommt die schwankende, prekäre Lage der modernen Kunst zur Darstellung – sie wird zugleich verherrlicht und verdächtigt, mit Enthusiasmus und doch mit Skepsis betrachtet.
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Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Band 4. Darmstadt 1997, S. 85. Adorno: Minima Moralia (Anm. 33), S. 84.
RENÉ-MARC PILLE Lob des ›Rein-Menschlichen‹ Weimarer Widerstände gegen die Kunstreligion [...] und doch sind die Deutschen noch immer mehr religiös als kunstliebend. Jean Paul an Ernst Wagner, 28. April 1808 Der warme Wind bemüht sich noch um Zusammenhänge, der Katholik. Bertolt Brecht, Der 1. Psalm, 5 »Die Kunst ist über dem Menschen«.1 Diese programmatische Sentenz aus den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) darf wohl als Inbegriff der Kunstreligion um 1800 betrachtet werden. Sie sollte später vor allem den Nazarenern als Wahlspruch dienen, so dass Johann Friedrich Overbecks Aufsatz Der Triumph der Religion in den Künsten,2 den der Künstler 1840 als Kommentar zum eigenen, gleichnamigen Gemälde verfasste, auch als Wackenroders nachträglicher Sieg gelesen werden kann. Die Tatsache jedoch, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Sakralisierung des Kunstwerks mehr oder weniger durchgesetzt hat und seitdem unser Kunstverständnis wesentlich prägt,3 soll nicht daran hindern, unsere Aufmerksamkeit auf die – wenn auch vergeblichen – Widerstände um 1800 gegen die Kunstreligion zu lenken. Besagte Widerstände sind aus Weimar gekommen und markieren den Anfang des Bruchs zwischen der klassischen und der romantischen Kunstauffassung. Vollzogen hat sich dieser Bruch erst in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts und zwar europaweit: In jenem Jahrzehnt geht nämlich die Substantivierung der Adjektive ›klassisch‹ und ›romantisch‹ – classicismo, Klassizismus, classicism; _____________ 1
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Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders. In: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe. Herausgegeben von Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Band 1: Werke. Herausgegeben von Silvio Vietta. Heidelberg 1991, S. 51-145, hier S. 108. Abgedruckt in: Bibliothek der Kunstliteratur. Herausgegeben von Gottfried Boehm und Norbert Miller. Band 4: Romantische Kunstlehre. Poesie und Poetik des Blicks in der deutschen Romantik. Herausgegeben von Friedmar Apel. Frankfurt/M. 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker 79), S. 466-477. Vgl. Schaeffer, Jean-Marie: La religion de l’art: un paradigme philosophique de la modernité; in: Revue germanique internationale 2 (1994), S. 195-207.
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René-Marc Pille
romanticism, romanticisme/romantisme, romanticismo, Romantizismus4 – Hand in Hand mit der Polarisierung beider Strömungen.5 Ein aufschlussreiches Zeugnis dafür ist Goethes Aufsatz Klassiker und Romantiker in Italien, sich heftig bekämpfend, der 1820 in der Zeitschrift Kunst und Alterthum erscheint und folgendermaßen beginnt: Romantico! den Italiänern ein seltsames Wort, in Neapel und dem glücklichen Campanien noch unbekannt, in Rom unter deutschen Künstlern allenfalls üblich, macht in der Lombardie, besonders in Mayland, seit einiger Zeit großes Aufsehen. Das Publikum teilt sich in zwei Parteien, sie stehen schlagfertig gegen einander und, wenn wir Deutschen uns ganz geruhig des Adjectivum romantisch bei Gelegenheit bedienen, so werden dort durch die Ausdrücke Romantizismus und Kritizismus6 zwei unversöhnliche Sekten bezeichnet. Da bei uns der Streit, wenn es irgend einer ist, mehr praktisch als theoretisch geführt wird, da unsere romantischen Dichter und Schriftsteller die Mitwelt für sich haben und es ihnen weder an Verlegern noch Lesern fehlt, da wir über die ersten Schwankungen des Gegensatzes längst hinaus sind und beide Teile sich schon zu verständigen anfangen; so können wir mit Beruhigung zusehen, wenn das Feuer, das wir entzündet, nun über den Alpen zu lodern anfängt.7
Hier spricht scheinbar ein gelassener, ja wohlwollender Beobachter. In Wirklichkeit ist der Text voller Perfidie, da er implizit das vernichtende Urteil enthält, das Goethe einige Jahre später fällen sollte: »Das Klassische _____________ 4
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Zur Wort- und Begriffsgeschichte siehe Briesemeister, Dietrich / Busch, Werner / Fedderson, Kim / Hambsch, Björn / Jansen, Jeroen /Hörandner, Wolfram / Kelly, Douglas / Krones, Hartmut / Kuhnle, Till R. / Lichánski, Jakub Z. / Noe, Alfred / Schmidt, Peter L. / Reid, Ronald F.: ›Klassizismus, Klassik‹; in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding. Band 4: Hu – K. Tübingen 1988, Sp. 977-1088; vgl. auch Voßkamp, Wilhelm: ›Klassisch/Klassik/Klassizismus‹; in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Band 3: Harmonie – Material. Stuttgart – Weimar 2001, S. 289-305; Müller, Ernst: ›Romantisch/ Romantik‹; in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Herausgegeben von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Band 5: Postmoderne – Synästhesie. Stuttgart – Weimar 2003, S. 315-344; Hans Eichner (Ed.): ›Romantic‹ and Its Cognates. The European History of a Word. Toronto – Buffalo 1972. Siehe Pille, René-Marc: L’émergence de la polarité classicisme-romantisme dans l’espace européen (1820-1830); in: Bonnecase, Denis / Genton, François (dir.): Ferments d’Ailleurs. Transferts culturels entre Lumières et romantismes. Éditions des Langues et Lettres de l’Université de Grenoble (ELLUG) 2010, S. 275-283. Wahrscheinlich ein Druckfehler für Klassizismus. Goethe, Johann Wolfgang: Klassiker und Romantiker in Italien, sich heftig bekämpfend; in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 11. 2: Divan-Jahre 1814-1819. 2. Herausgegeben von Johannes John, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Irmtraut Schmid. München – Wien 1994, S. 258-264, hier S. 258.
Weimarer Widerstände gegen die Kunstreligion
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nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke«.8 Schon 1817 hatte Goethe in Kunst und Alterthum Johann Heinrich Meyers Beitrag Neudeutsche religios-patriotische Kunst veröffentlicht,9 der »als eine Bombe in den Kreis der Nazarenischen Künstler hinein plumpen« sollte.10 Um 1800 befanden sich ›Klassiker‹ und ›Romantiker‹ jedoch noch auf derselben Seite der ästhetischen Front: Von wahrer Eintracht zwischen ihnen konnte zwar nicht die Rede sein (insbesondere nicht zwischen Schiller und den Brüdern Schlegel), wohl aber von einem taktischen Bündnis zur Verteidigung der Kunst gegen den ›Nutzen‹, den Schiller in seinen Ästhetischen Briefen als »das große Idol der Zeit«11 anprangert, und gegen den ›Naturalismus‹, über den Goethe in einem 1800 in den Propyläen veröffentlichten Aufsatz spottet: In Berlin scheint, außer dem individuellen Verdienst bekannter Meister, der Naturalismus, mit der Wirklichkeits- und Nützlichkeitsforderung, zu Hause zu sein und der prosaische Zeitgeist sich am meisten zu offenbaren.12
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. In: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 19. Herausgegeben von Heinz Schlaffer. München – Wien 1986, S. 299-302, hier S. 300 [2. April 1829]. Meyer, Johann Heinrich: Neu-deutsche religiös-patriotische Kunst; in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 11. 2: Divan-Jahre 1814-1819. 2. Herausgegeben von Johannes John, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Irmtraut Schmid. München – Wien 1994, S. 319-350. Johann Wolfgang Goethe an [Karl Ludwig von] Knebel, 17. März 1817; zitiert nach: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 11. 2: Divan-Jahre 1814-1819. 2. Herausgegeben von Johannes John, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer und Irmtraut Schmid. München – Wien 1994, S. 987. – Vgl. Büttner, Frank: Der Streit um die neudeutsche religiös-patriotische Kunst; in: Aurora 43 (1983), S. 55-76. Schiller, Friedrich: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Herausgegeben im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Zwanzigster Band: Philosophische Schriften. Erster Teil. Unter Mitwirkung von Helmut Koopmann herausgegeben von Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 308-412, hier S. 311. Goethe, Johann Wolfgang: Flüchtige Übersicht über die Kunst in Deutschland; in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 6. 2: Weimarer Klassik 1798-1806. 2. Herausgegeben von Victor Lange, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer, Peter Schmidt und Edith Zehm. München – Wien 1988, S. 433-436, hier S. 434.
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René-Marc Pille
Besonders fruchtbar ist die klassisch-romantische Allianz auf dem Gebiet der Poesie und des Theaters gewesen: Goethe ließ sich in metrischen Dingen gern von August Wilhelm Schlegel beraten und kam diesem wiederum bei dem gigantischen Unternehmen zur Hilfe, Shakespeare und Calderón ins Deutsche zu übersetzen.13 Allerdings waren schon früh Risse in der ästhetischen Achse Weimar-Jena zu verzeichnen: Lange bevor sich die Kluft zwischen Klassik und Romantik auftat (spätestens 1808, als Friedrich Schlegel sein bahnbrechendes Werk Über die Sprache und Weisheit der Indier veröffentlichte14 und in Köln die katholische Taufe empfing)15 waren auf dem Gebiet der bildenden Künste erhebliche Meinungsverschiedenheiten offenbar geworden. Gerade auf diesem Terrain hatten _____________ 13
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Geteilte Erfahrungen negativer Art verbinden erst recht. Am 2. Januar 1800 erlitt Goethe ein Fiasko am Weimarer Hoftheater, als er August Wilhelm Schlegels Modernisierung von Euripides’ Ion auf die Bühne brachte. Sowohl die Verwendung von Masken als auch die antikisch, d. h. allzu leicht gekleideten Schauspielerinnen brachten das Publikum dermaßen in Verwirrung, dass Goethe sich genötigt fühlte, in seiner Loge aufzustehen und den Zuschauern zuzurufen: »Man lache nicht!« (Genast, Eduard: Aus Weimars klassischer und nachklassischer Zeit. Erinnerungen eines alten Schauspielers. Neu herausgegeben von Robert Kohlrausch. Mit 2 Porträts. Stuttgart 1904 (Memoirenbibliothek. Neue Serie 5), S. 77). Schlegel, Friedrich: Ueber die Sprache und Weisheit der Indier. Ein Beitrag zur Begründung der Alterthumskunde. Nebst metrischen Uebersetzungen indischer Gedichte. Heidelberg 1808. Vgl. die kritische Ausgabe von Ursula Struc-Oppenberg in: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Achter Band: Studien zur Philosophie und Theologie. Eingeleitet und herausgegeben von Ernst Behler und Ursula Struc-Oppenberg. München – Paderborn – Wien – Zürich 1975, S. 105-434. – Schlegels Zeitgenossen war die erzkonservative Botschaft des Indien-Buchs nicht entgangen. So schrieb Goethe am 22. Juni 1808 an Carl Friedrich von Reinhard: »[…]die Absichtlichkeit von jeder Zeile wurde klar, meine Einsicht aber ward vollkommen, als ich S. 97 des indischen Büchleins den leidigen Teufel und seine Großmutter mit allem ewigen Gestanksgefolge auf eine sehr geschickte Weise wieder in den Kreis der guten Gesellschaft hereingeschwärzt sah« (in: Goethes Briefe und Briefe an Goethe. Hamburger Ausgabe in 6 Bänden. Herausgegeben von Karl Robert Mandelkow. Band III: 1805-1821. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Bodo Morawe. München 1988, S. 76-79, hier S. 77). Zu Schlegels konservativer Wende vgl. Lefebvre, Joël: Du ›Républicanisme‹ à la ›Restauration‹. L’évolution de la pensée politique de Friedrich Schlegel; in: La Révolution française dans la pensée européenne. Actes du Colloque organisé à l’Université de Neuchâtel par le Séminaire de philosophie de la Faculté des Lettres et le Centre d’Études hégéliennes et dialectiques (10-12 février 1989). Édités par Daniel Schulthess et Philippe Muller. Neuchâtel – Lausanne 1989, S. 101-105; Pille, René-Marc: Von der Seine zum Ganges. Paris als Geburtsstätte des Indienbilds von Friedrich Schlegel; in: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 »Germanistik im Konflikt der Kulturen«. Herausgegeben von Jean-Marie Valentin unter Mitarbeit von Elisabeth Rothmund. Band 9: Divergente Kulturräume in der Literatur – Kulturkonflikte in der Reiseliteratur. Bern – Berlin – Bruxelles – Frankfurt/M. – New York – Oxford – Wien 2007 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongressberichte 85), S. 21-26; Matala de Mazza, Ethel: ›Alle Protestanten sind zu betrachten als zukünftige Katholiken‹. Schlegels Konversionen; in: Athenäum 18 (2008), S. 101-121.
Weimarer Widerstände gegen die Kunstreligion
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sich die Weimarer Klassiker mit großer Anstrengung bemüht, ihre ästhetischen Vorstellungen durchzusetzen, waren jedoch als Besiegte aus dem Kampf hervorgegangen. Einerseits war Goethe zum Mentor der neuen Malergeneration aufgestiegen, die er im Geiste des Klassizismus erziehen wollte, wobei ihn Schiller und mehr noch der Schweizer Maler Johann Heinrich Meyer16 unterstützten, mit denen er die Vereinigung der ›Weimarischen Kunstfreunde‹ begründet hatte. Die ›W.K.F.‹ – so unterzeichneten sie ihre zunächst in den Propyläen veröffentlichten Aufsätze – versuchten durch die 1799 gestiftete ›Weimarer Preisaufgabe‹, die Entwicklung der bildenden Kunst in Deutschland zu fördern (im Klartext: zu bestimmen).17 Andererseits hatte die ästhetische Strenge des Weimarer Triumvirats, das die griechisch-römische Antike zur absoluten Norm erheben wollte, zur Folge, dass sich die jungen Künstler abwandten und sich die christlich-religiöse Kunst des Mittelalters zum Vorbild nahmen.18 Dazu ermutigt wurden sie durch die publizistische Tätigkeit Friedrich Schlegels, der in seiner Zeitschrift Europa (1802-04) ausführliche Beschreibungen einiger markanter Gemälde veröffentlichte, die – von den französischen Armeen aus Deutschland und Italien entführt – im Louvre ausgestellt waren.19 Ohne die Propyläen ausdrücklich anzugreifen, waren Schlegels Aufsätze unmissverständlich gegen die Kunstauffassung der Weimarer gerichtet.20 Entzündet hatte sich das ›Feuer‹ – um Goethes bereits angeführte Worte zu gebrauchen – an den Gegenständen der bildenden Kunst: Zur Debatte standen sowohl deren Wahl als auch deren Behandlungsweise. Im ersten und zweiten Heft der Propyläen war 1798 ohne Namensnennung ein langer _____________ 16
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Goethe hatte ihn 1786 in Rom kennen gelernt und 1791 nach Weimar geholt. Durch die hohen Ämter, die er dort bekleidete – u. a. als Direktor der Freien Zeichenschule – übte Meyer, der außerdem als Berater in Goethes Haus lebte, einen bedeutenden Einfluss auf die kunstpolitische Entwicklung der herzoglichen Residenz aus. Siehe Dönike, Martin: Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796-1806. Berlin – New York 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 34). Zu dieser paradoxen und folgenschweren Entwicklung siehe Osterkamp, Ernst: Die Geburt der Romantik aus dem Geiste des Klassizismus. Goethe als Mentor der Maler seiner Zeit; in: Goethe-Jahrbuch 112 (1995), S. 135-148. Neu ediert in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Vierter Band: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner. Paderborn – München – Wien 1959, S. 9-152. – Zu Schlegels »Eurovisionen aus dem Louvre« siehe Matala de Mazza: Alle Protestanten (Anm. 15), S. 103-115. Vgl. die Einleitung von Eichner, Hans; in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Vierter Band: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst. Herausgegeben und eingeleitet von Hans Eichner. Paderborn – München – Wien 1959, S. XI-LVI, hier S. XXVIIIXXX.
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Aufsatz mit dem Titel Über die Gegenstände der bildenden Kunst erschienen,21 der von Meyer stammte, ohne dass an der Mitautorschaft von Goethe und Schiller zu zweifeln gewesen wäre. Hier wurde die christlich motivierte Kunst endgültig abgelehnt (mit Ausnahme etwa von Darstellungen der Geburt Christi, der Auferstehung und Himmelfahrt, »nebst der Himmelfahrt der Madonna«).22 Am schärfsten wurden die Gemälde der Martyrien getadelt: Indessen sei hier den Vorstellungen grauser und ekelhafter Märtyrerszenen das Wort nicht geredet: die meisten dürften, bei der Untersuchung, als unbequeme Gegenstände für die bilden[d]e Kunst erfunden werden, wenn gleich ein geschmackvoller Künstler vielleicht einige dergestalt behandeln könnte, daß weder Auge noch Gefühl beleidigt würde.23
Gegen diese Kritik von Seiten der Weimarer erhob sich Schlegels Stimme, als er in der Europa Sebastiano del Piombos Martyrium der hl. Agathe voll Begeisterung beschrieb: Wie hat man nur überhaupt die Martyria so unbedingt verwerfen können, als ungünstige und wohl gar unwürdige Gegenstände der darstellenden Kunst; da doch dieses nie genug zu preisende Bild allein hinreichend wäre, eine solche Meinung zu widerlegen, und evident zu zeigen, wie man auch diesen Stoff auf eine schöne und höchst würdige Art behandeln könnte?24
Aber nicht nur an der Wahl der Gegenstände schieden sich die Geister. Tiefer noch und gar unversöhnlich war der Riss hinsichtlich der Behandlungsweise. Man vergleiche hier die Propyläen und die Europa zum Thema der Madonnenbilder. Für die Weimarer gehörte das Sujet zu den »rein menschlichen Darstellungen«: Unter rein menschliche Darstellungen sind vornehmlich zu zählen alle diejenigen sogenannten Madonnenbilder und heiligen Familien, deren Figuren, in Gestalt und Zügen, nicht über schöne Natur und Menschheit erhoben sind, wenn wir einige konventionelle Zeichen, z. B. den goldenen Schein um die Köpfe, und allenfalls episodische Nebenfiguren von Engeln, oder dem weissagenden kleinen Johannes dabei übersehen wollen, so können beinahe alle insgesamt unter diese Klasse gerechnet werden; denn die neuere Kunst erhob sich in wenigen von diesen Bildern bis zur höhern symbolischen Bedeutung, und was sind die übrigen anders als Mütter, welche ihre Kinder pflegen, tränken, ankleiden, zart und liebend in die Arme schließen? Selbst die Madonna della Seggiola z. B. ist nicht
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Goethe, Johann Wolfgang: Über die Gegenstände der bildenden Kunst; in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. Band 6. 2: Weimarer Klassik 1798-1806. 2. Herausgegeben von Victor Lange, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer, Peter Schmidt und Edith Zehm. München – Wien 1988, S. 27-68. Goethe: Über die Gegenstände der bildenden Kunst (Anm. 21), S. 51. Goethe: Über die Gegenstände der bildenden Kunst (Anm. 21), S. 32. Schlegel, F.: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst (Anm. 19), S. 91.
Weimarer Widerstände gegen die Kunstreligion
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mehr, als vielleicht nur das fürtrefflichste Bild dieser Art. Wahrscheinlich ist sie ein Bildnis, oder sie könnte es doch sein, denn es leben gewiß zu allen Zeiten, und in jedem Lande eben so schöne Frauen, und vielleicht mehrere als man denken möchte. Gedachtes Bild hat nichts von dem Hohen, Heiligen, Himmlischen, was wir mit der Idee von der Mutter Gottes zu verbinden pflegen oder verbinden müßten, sondern es ist bloß reine, treue Darstellung der reinsten Menschlichkeit, und gerade daher fließt der unendlich unwiderstehliche Reiz, daher liegt es allen Wünschen und Hoffnungen eines jeden Herzens so nahe, und bedarf keines fernern Zwecks, keiner andern Bedeutung.25
Das klingt freilich radikal. Alle religiösen Elemente – der goldene Schein, die Engel – seien Nebensache gegenüber den einzig wesentlichen ›rein menschlichen‹ Motiven (im vorliegenden Fall Mutterschaft und weibliche Schönheit in einem), so dass das Bild ein Loblied auf die Diesseitigkeit anzustimmen scheine. Schlegel verfährt gerade umgekehrt, wenn er die Madonnenbilder in Kupferstichen Albrecht Dürers beschreibt. Während die Weimarer den Gegenstand aus seinem religiösen Kontext zu lösen trachten, bemüht sich der Verfechter christlicher Kunst, die Madonnenbilder in die Zusammenhänge einzubauen: In seinen [Dürers; R.-M. P.] verschiedenen Behandlungen der Kreuzigung ist es auffallend und darf nicht weiter erwähnt werden. Aber auch in den Muttergottesbildern. Wo gibt es schon eine Madonna von einem großen Maler gemalt, wie die von ihm entworfne, mit dem Monde zu ihren Füßen, der hohen Krone über dem Haupte schwebend, die langen Haare bis auf die Füße und den Saum des Gewandes wie ein Schleier herunterwallend. Wo gäbe es schon ein kunstvollendetes Bildnis, das uns die Königin des Himmels nach jener Vorstellung in aller Herrlichkeit des Glanzes und der Lieblichkeit darstellte, und der Würde und dem Tiefsinn jenes alten Symbols ganz entspräche? Und wie tiefsinnig und reich ist nicht seine Mutter Gottes im Garten entworfen; in dem Garten, der durch die unermeßliche Fülle der mannigfachsten und üppigsten Pflanzen in stiller Einsamkeit, wo hie und da sich seltsame Tiere zeigen, zu einem kurzen Inbegriff und reichen Sinnbilde der unendlichen Natur selbst erweitert ist? Wie kühn endlich und gleichsam an der äußersten Grenze des Wahren und Darstellbaren sind jene Versuche, wo er uns die Mutter Gottes sogar in ihrem irdischen Verhältnis und von irdischer Sorge gedrückt, das Kind von Engeln umspielt in der Handwerksstätte des irdischen Vaters darstellt? Wo gibt es schon solche Bilder, die doch zum Teil notwendig wären, wie wenigstens die Darstellung der sternbekränzten Mutter mit dem Monde zu ihren Füßen als siderische Königin dem christlichen Ideenkreise wesentlich ist, und die Darstellung der geistigsten Liebe im Mittelpunkt und Herzen des üppig blühenden Naturgartens demselben doch sehr nahe liegt.26
Was hier entworfen wird, ist nichts anderes als ein katholischer Kosmos, in dem alle Elemente einer strengen Hierarchie unterworfen sind: irdische _____________ 25 26
Goethe: Über die Gegenstände der bildenden Kunst (Anm. 21), S. 29f. Schlegel, F.: Ansichten und Ideen von der christlichen Kunst (Anm. 19), S. 94f.
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René-Marc Pille
und himmlische Ordnung in einem. Dies war wohl als implizite Kampfansage gegen die Weimarer zu verstehen. Der Bruch mochte noch nicht vollzogen sein, und doch ließ sich der ästhetische Riss zwischen dem ›romantischen‹ und dem ›klassischen‹ Programm nicht mehr überbrücken. »Der Mensch ist der höchste, ja der eigentliche Gegenstand bildender Kunst« hatte Goethe in der Einleitung in die Propyläen verkündet und gefordert.27 Für die Weimarer stand also die Kunst nicht über dem Menschen, sondern lag in ihm selbst.
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Goethe, Johann Wolfgang: Einleitung in die Propyläen; in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder und Edith Zehm. 6. 2: Weimarer Klassik 1798-1806. 2. Herausgegeben von Victor Lange, Hans J. Becker, Gerhard H. Müller, John Neubauer, Peter Schmidt und Edith Zehm. München – Wien 1988, S. 9-26, hier S. 13.
MARKUS OPHÄLDERS
»eine schöne Religion zu stiften«1 Hegels Kunstreligion als ›moralische Anstalt‹ Wenn von Kunstreligion die Rede ist, dann wird neben den Überlegungen Friedrich Schleiermachers oder Wilhelm Heinrich Wackenroders zumeist auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels abschließende systematische Form verwiesen, die er diesem Begriff 1807 in der Phänomenologie des Geistes gegeben hat. Angesichts der zentralen Stellung der hegelschen Konzeption von Kunstreligion ist es jedoch eigenartig bemerken zu müssen, dass der Terminus in dieser eminenten Form in Hegels Werk einzig hier auftritt, wo er die Stufe des Selbstbewusstseins des Geistes von sich als innerem Selbst bezeichnet, welche derjenigen der geoffenbarten Religion, in der sich der Geist als Geist weiß, vorhergeht. Weder in den vorangegangenen noch in den folgenden Schriften, zumal nicht in der monumentalen Ästhetik, taucht er auf, und diese Eigentümlichkeit zwingt dazu, den Begriff kritisch zu reflektieren: vor dem Hintergrund älterer und in der Folge fallen gelassener Begriffe (etwa dem der ›Volksreligion‹) sowie in Bezug auf den systematischen Duktus der Ästhetik (vor allem dort, wo es um das Verhältnis von klassischer und romantischer Kunstform geht). Was die Phänomenologie betrifft, so steht zwar auch hier noch, wie in den so genannten ›Jugendschriften‹, das Sittliche im Vordergrund, doch schon ohne den bis etwa 1800 dominierenden, von Immanuel Kant beeinflussten moraltheologischen Ansatz. Der Akzent liegt vielmehr auf dem Werden des Geistes zum System, in dem er sich selbst als das erkennen soll, was er ist bzw. sein sollte: Verwirklichung des Idealen. Von seiner logischen Struktur her ist das Kapitel ›Religion‹ in der Phänomenologie schon ganz nach dem Schema gestaltet, welches dann auch die Ästhetik erhalten wird, insbesondere was die Parallele der Auflösung der Kunstreligion mit derjenigen der romantischen Kunstform betrifft – dabei ist hervorzuheben, dass erstere in der Vergangenheit liegt, letztere jedoch, vor allem was Hegels definitive Kritik angeht, auf seine Zeitgenossen bezogen wird. Zieht man zudem _____________ 1
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt/M. 1986 (stw 601-620). – Im Folgenden zitiert unter der Sigle ›H‹ mit Angabe von Bandnummer und Seite; hier H I, 299.
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noch in Betracht, dass mit dem Begriff ›Volksreligion‹ moralische und politische Absichten in der Gegenwart verfolgt werden, dann ist es möglich, die Genese des Begriffs von Kunstreligion bei Hegel zeitkritisch zu interpretieren: nämlich als Gegenaltar zur christlichen positiven Religion und zum modernen Rechtsstaat, der auf den zertrümmerten Hoffnungen der Französischen Revolution erbaut wurde, welche die Brüderlichkeit preisgegeben, die Gleichheit vergessen und die Freiheit nur zur Hälfte als negative Freiheit von etwas, aber nicht als positive Freiheit zu etwas verwirklicht hat. Die Form, welche der Begriff dann am Ende annehmen wird, reflektiert schließlich die Resignation Hegels vor dem zunehmend sich verdunkelnden Zeitalter und dessen Zeitgeist. Schon in der Differenzschrift hat Hegel geurteilt: Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie. (H II, 21)
Das bedeutet gleichermaßen, dass Kunst und Religion anderen Epochen angehören und dass seine eigene Zeit alle organische Harmonie, sei sie auch dialektisch durch Widersprüche vermittelt, verloren hat. Hier kommt das zum Tragen, was Max Horkheimer als das so ungemein ›Erwachsene‹ an Hegel bezeichnet hat:2 seine seit der Phänomenologie immer stärker ausgebildete Tendenz, das, was ist, so zu rechtfertigen, wie es ist, und hinter dem Begriff den Wunsch zu verdrängen, der ihn eigentlich erst hervorgebracht hat. Wenn es gelingt, diesen Wunsch auch nur teilweise wieder gegenüber der alles zermahlenden Begriffsdialektik zum Vorschein zu bringen, wird wahrscheinlich neues Licht selbst noch auf so abschlusshafte Thesen wie die von der Rationalität alles Realen fallen. Es wird sich dann zeigen, dass rational einzig die verwirklichte Idee sein kann und nicht die einfach nur gegebene und ihrer Idee nicht entsprechende Realität der Tatsachen, der gegenüber weiterhin der hegelsche Lakonismus gilt: tant pis pour les faits. Es handelt sich bei dieser These nämlich viel eher um einen kategorischen Imperativ als um eine einfache Bestandsaufnahme. Wenn dem aber so ist, dann muss auch Hegels philosophische Systematik in Zweifel gezogen werden, die ja diese Rationalität des Realen im Begriff widerspiegeln soll. Vor dem Hintergrund der Überlegungen und des Erfahrungsgehalts des jungen Hegel könnte nämlich dieser von Adorno _____________ 2
Max Horkheimers Wendung vom ›so erwachsenen Hegel‹ ist in Theodor W. Adornos Drei Studien zu Hegel dokumentiert (vgl. Adorno, Theodor W.: Drei Studien zu Hegel, in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Band 5. Frankfurt/M. 1970, S. 247-380, hier S. 288).
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so bezeichnete Positivismus3 zweiten Grades vielleicht noch einmal umschlagen, was dann eben allerdings auf Kosten der systematischen Einheit ginge. Am 16. April 1795 schreibt Hegel an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, er erwarte sich vom kantischen System und dessen Vollendung in Deutschland eine Revolution, und denselben Geist findet man dann auch in dem fast gleichzeitigen Ältesten Systemprogramm. Kants Freiheitsbegriff und die Errungenschaften der Französischen Revolution sollen durch eine poetisch-ästhetisch zu verwirklichende ›Mythologie der Vernunft‹ vollendet werden in der Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit, das Wort in höherem platonischen Sinne genommen. Ich bin nun überzeugt, daß der höchste Akt der Vernunft, der, in dem sie alle Ideen umfaßt, ein ästhetischer Akt ist und daß Wahrheit und Güte nur in der Schönheit verschwistert sind. Der Philosoph muß ebensoviel ästhetische Kraft besitzen als der Dichter. […] Die Philosophie des Geistes ist eine ästhetische Philosophie. Man kann in nichts geistreich sein […] ohne ästhetischen Sinn. […] Die Poesie bekommt dadurch eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit […]. Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer. Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen. [Wir müssen] die Ideen ästhetisch, d.h. mythologisch machen […], die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. […] Dann erst erwartet uns gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen. Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden. Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister! – [wir müssen] diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte Werk der Menschheit sein. (H I, 235f.)
Diese neue, sinnliche Religion kommt dem sehr nahe, was Hegel vor der Phänomenologie noch als ›Volksreligion‹ bezeichnet hat und dessen Spuren selbst im Begriff der Moralität in der ›Welt der Bildung‹ noch erkennbar sind (vgl. H III, 422): »Erst in der Moralität des reinen Willens streift der sich selbst befreiende Geist jenes Moment der partikularen Willkür ab, in das er sich beim Versuch, die absolute Freiheit zu realisieren, verstricken mußte«.4 _____________ 3 4
Vgl. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik; in: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Herausgegeben von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1973, S. 7-408, hier S. 298. Brunkhorst, Hauke: Hegel und die Französische Revolution. Die Verzichtbarkeit der Restauration und die Unverzichtbarkeit der Revolution; in: Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption. Herausgegeben vom Forum für Philosophie Bad Homburg. Siegfried
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Nach dieser kurzen Skizze ist es nun möglich, sich einen Bogen vorzustellen, der von der ›Volksreligion‹ und der ›Mythologie der Vernunft‹ ausgehend über die Kunstreligion und die Moralität der Phänomenologie bis zu Hegels Rechtsphilosophie gespannt werden könnte, denn auch in letzterer noch ist die Moralität eine notwendige Bestimmung des Staates.5 Sittliches, Ästhetisch-Künstlerisches, Religiöses und Politisches laufen also beim jungen Hegel, aber m. E. auch noch beim Systematiker und Staatsphilosophen ineinander. Ihn interessiert nicht so sehr der Glaube oder das Künstlerische als solches, sondern das, was beide zu einem sittlichmoralischen Zusammenleben der Menschen vor allem in der entfremdenden Welt des modernen Kapitalismus und seinen atomisierenden Regierungs- und Gesellschaftsformen beitragen könnten; dies ist das Ideal, an dem sich sein Schaffen ausrichtet – auch noch in der Berliner Zeit, während der er es nicht versäumt, am 14. Juli auf die Erstürmung der Bastille anzustoßen.6 Worauf es ihm in erster Linie ankommt, das ist, die individualistisch atomisierenden Auswüchse der durch die Französische Revolution verwirklichten absoluten und abstrakten Freiheit aufzuheben in einer konkreten, dem Ideal der Brüderlichkeit gerecht werdenden Bildung menschlichen Zusammenlebens. Es geht von Anfang an um Versöhnung, Vereinigung und gegen die Willkür des Eigendünkels; die absolute Freiheit (und für den jungen Hegel selbst noch ihre extremste Konsequenz, die Schreckensherrschaft)7 soll ein Heilbad sein, das aus der Knechtschaft befreit, nicht die Grundlage der neuen bourgeoisen (oder heute postmodern-konservativen) Ideologien von der Freiheit des Einzelnen zusammen mit seinem Eigentum, auf das besagte Freiheit im Grunde dann letztlich einzig begründet ist.8 In diesem
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Blasche, Wolfgang R. Köhler, Wolfgang Kuhlmann und Peter Rohs. Frankfurt/M. 1989 (stw 789), S. 156-173, hier S. 158. Vgl. H VII, 197f. (§ 103) sowie Ilting, Karl-Heinz: Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie; in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie. Band 2. Herausgegeben von Manfred Riedel. Frankfurt/M. 1975 (stw 89), S. 51-78, hier S. 68, und Brunkhorst: Hegel und die Französische Revolution (Anm. 4), S. 159. Vgl. Pöggeler, Otto: Das Menschenwerk des Staates; in: Mythologie der Vernunft. Hegels ›ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus‹. Herausgegeben von Christoph Jamme und Helmut Schneider. Frankfurt/M. 1984 (stw 413), S. 175-225, hier S. 189. So vor allem in der Jenenser Realphilosophie (II); vgl. hierzu Wildt, Andreas: Hegels Kritik des Jakobinismus; in: Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels. Herausgegeben von Oskar Negt. Frankfurt/M. 1970 (es 441), S. 265-292, hier S. 273f. Hegel war sich in diesem Sinne allerdings bewusst, wie sehr Reichtum und Eigentum ein freies Zusammenleben der Menschen gefährden können: »Wie sehr der unverhältnismäßige Reichtum einiger Bürger auch der freiesten Form der Verfassung gefährlich und die Freiheit selbst zu zerstören imstande sei, zeigt die Geschichte […]« (H I, 439).
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Sinne ist das Hauptwerk des Hegelschülers Max Stirner ja schon im Titel bezeichnend.9 Was nun Kunst und Religion im Einzelnen betrifft, so verbindet Hegel mit ihnen und vor allem mit ihrer Vereinigung in der Kunstreligion eine innere, vor allem das Sittliche betreffende Absicht, die sich noch in seinem Wastebook aus den Jahren 1803-1806, das ja fast vollständig in die ›Vorrede‹ zur Phänomenologie des Geistes eingeflossen ist, nachlesen lässt: Die Gottheit wird im Kunstwerk, im schlechten wie im vorzüglichen, angebetet. Die Schauer der Gottheit, die Vernichtung des Einzelnen, durchdringen die Versammlung. Aber bald atmet sie auf, blickt um sich in lebendige Wesen, wacht zum Gefühl des Lebens auf. Sie erkennen sich als Leben […]. Das Jauchzen muß zur Harmonie, zur Mannigfaltigkeit der Bilder und Gedanken sich verwandeln. Das Maß durch den Takt wird zur Zurückhaltung des Subjektiven, des Willkürlichen. Die Individuen werden zu Gliedern der objektiven Einheit. (H II, 563)
In der Phänomenologie selbst nun werden allerdings die Akzente umgekehrt, und es hat den Anschein, als ob sich hier der Punkt befände, an dem die Hoffnungen des jungen Hegel umschlagen in die Notwendigkeiten der Systemlogik.10 Wenn es in Bezug auf die Volksreligion um ein Problem der Gegenwart geht, dann versetzt Hegel nun mit dem Begriff ›Kunstreligion‹ die gesamte Problematik in die Vergangenheit der Antike, die, so scheint es, keinerlei Verbindung mehr zum Tagesgeschehen hat, in dem nicht mehr Kunst und Religion wirksam sind, sondern einzig der philosophische Begriff.11 Die Kunstreligion bewirkt jetzt nämlich keine Ver_____________ 9
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Selbst der Übergang vom intersubjektivitätstheoretischen Modell der Sittlichkeit zu einem substantialistischen Denkmodell, welches letztendlich die spätere Staatstheorie theoretisch fundieren wird, ist noch unter diesen Voraussetzungen zu interpretieren. Also selbst dort, wo Hegel die Brüderlichkeit preisgibt und den Zusammenhalt der Gesellschaft einzig durch einen mehr oder weniger autoritären Staat garantiert wissen will, verfolgt er immer noch dieselbe Absicht. Es ist interessant zu unterstreichen, dass dieser Wechsel in Hegels gesellschaftstheoretischer Konzeption parallel verläuft zu den Akzentverschiebungen, die den Übergang von dem Begriff der Volksreligion zu dem der Kunstreligion charakterisieren und zwar in den Jenaer Jahren. – Vgl. zur Staatstheorie und zu Hegels Verhältnis zur Französischen Revolution Honneth, Axel: Atomisierung und Sittlichkeit. Zu Hegels Kritik der Französischen Revolution; in: Die Ideen von 1789 in der deutschen Rezeption. Herausgegeben vom Forum für Philosophie Bad Homburg. Siegfried Blaschke, Wolfgang R. Köhler, Wolfgang Kuhlmann und Peter Rohs. Frankfurt/M. 1989 (stw 789), S. 174-185, insbesondere S. 182f. Vgl. zu dieser Thematik vor allem Gethmann-Siefert, Annemarie: Die Funktion der Kunst in der Geschichte. Untersuchungen zu Hegels Ästhetik. Bonn 1984 (Hegel-Studien. Beiheft 25). Das kann vielleicht selbst noch von der Jenaer Anekdote vom 13. Oktober 1806 veranschaulicht werden, der zufolge Hegel in Napoleon die ›Weltseele‹ zu Pferde, ein großes welthistorisches ›Individuum‹, erblickt hatte (vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel an Friedrich Immanuel Niethammer, 13. Oktober 1806; in: Briefe von und an Hegel. Herausgegeben von Johannes Hoffmeister. Band I: 1785-1812. Zweite unveränderte Auflage. Hamburg 1961 (Philosophische Bibliothek 235), S. 119-121, hier S. 120). – Hegel war hier
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einigung oder Brüderlichkeit mehr, sondern durch sie geht umgekehrt der Geist aus seiner vorherigen Gestalt der Substanz in die des Subjekts über, wodurch die vorangegangene Einheit zerbrochen wird. Hierdurch wird in die Tat umgesetzt, was die Vorrede folgendermaßen ausdrückt: »Es kommt […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken« (H III, 22f.). Der wirkliche Geist der Kunstreligion ist am Anfang zwar der »sittliche oder der wahre Geist« (H III, 512) als allgemeine Substanz aller Einzelnen, welche in ihm sich wiedererkennen. Es handelt sich um ein freies Volk, »worin die Sitte die Substanz aller ausmacht« (H III, 512f.). Doch durch die fortschreitenden, auf die Konstruktion des Systems als rationales Ganzes ausgerichteten Umformungen geht dieser Geist unter. Die Dialektik der Kunstreligion spielt sich zwischen dem Volk der Griechen als Gemeinschaft und den Einzelnen ab, die jedoch noch keine wirklichen Individuen sind. Nach den naturreligiösen Formen ist die erste selbstbewusste Gestalt der Kunstreligion die durch die epische Sprache entstehende allgemeine Götter- und Heldenwelt; sie lebt nicht im Begriff, sondern in der Vorstellung durch den Gesang des Rhapsoden als einzelnen Subjekts. Gegenstand des Kultus ist nun der Mensch, und es entsteht der Kult der Schönheit des menschlichen Körpers und seiner Sprache, »worin die Innerlichkeit ebenso äußerlich als die Äußerlichkeit innerlich ist« (H III, 528f.). Diese Sprache wiederum ist nicht mehr die zufällige des Orakels noch die der Hymne, die immer nur einen einzelnen Gott preist, und auch nicht das Stammeln des bacchischen Taumels. Sie hat vielmehr klaren und allgemeinen Inhalt und kann nun zum Medium des geistigen Kunstwerks werden. In dieser Kunstreligion ist jedoch das Verhältnis der allgemeinen Gottheiten und der individuellen Helden nur eine Vermischung, wodurch die Einheit des Tuns beider Seiten inkonsequent verteilt wird: »Ein und _____________ mit Goethes am 2. Oktober 1808 gemachter Beobachtung ganz einer Meinung, dass Napoleon an die Stelle des Schicksals die Politik gesetzt habe und grundsätzlich nach einer Idee handle (vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Unterredung mit Napoleon; in: Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Herausgegeben von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller und Gerhard Sauder. Band 14: Autobiographische Schriften der frühen Zwanzigerjahre. Herausgegeben von Reiner Wild. München – Wien 1986, S. 576-580, besonders S. 579). Diese Individualisierung der geschichtlichen Bewegung findet sich später dann auch noch in der Konzeption der einzelnen Nationen als geschichtliche Individuen und ihren nicht nur logischen, sondern ebenfalls politischen Schwierigkeiten wieder. Gegenüber Hegels Bewunderung muss allerdings gleichfalls auf Beethovens viel klareres Bewusstsein vom Verhältnis Napoleons zur Revolution hingewiesen werden, der in den Jahren von 1802 bis 1804 seine dritte Symphonie (op. 55) auf ihn schreiben wollte, die Widmung aber im letzten Moment noch auskratzte, weil der Kaiser die Revolution soeben verraten hatte (vgl. Wegeler, Franz Gerhard / Ries, Ferdinand: Biographische Notizen über Ludwig van Beethoven. Im Anhang: Nachtrag von Franz Gerhard Wegeler. Reprografischer Nachdruck der Ausgaben Koblenz 1838 und 1845. Hildesheim – New York 1972, S. 78).
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dasselbe haben daher ebensowohl die Götter als die Menschen getan« (H III, 532). Außerdem stehen die verschiedenen Götter als einzelne zu einander in Beziehung, was wiederum ihrer Allgemeinheit widerspricht. Deshalb muss über dieser Welt der Vorstellung von allgemeinen Kräften und einzelnen Individuen eine höhere, noch allgemeinere Macht schweben, d. h. »die begrifflose Leere der Notwendigkeit« bzw. das Schicksal in seiner Reinheit und »Einheit des Begriffs« (H III, 533). Es ordnet die Inkonsequenz und Zufälligkeit des Tuns der Götter und der Helden durch den am Ende eintretenden Tod. Hierdurch schlägt die Dialektik um, und es stehen sich nun die beiden Elemente des Epos gegenüber, die nicht am eigentlichen Leben und an den Taten der Götter und Helden teilnehmen, und zwar das abstrakte Unwirkliche oder die Notwendigkeit und das wirkliche Einzelne oder der Rhapsode: »[D]as eine, die Notwendigkeit, hat sich mit dem Inhalte zu erfüllen, das andere, die Sprache des Sängers, muß Anteil an ihm haben« (H III, 534). Diese höhere Sprache ist die der Tragödie, in der die Substanz des Göttlichen in ihre Gestalten auseinander tritt. Die Sprache tritt direkt in den Inhalt hinein und ist nicht mehr erzählend, was für den Inhalt bedeutet, dass er nicht mehr nur vorgestellt wird: »Der Held ist selbst der Sprechende, und die Vorstellung zeigt […] selbstbewußte Menschen, die ihr Recht und ihren Zweck […] wissen und zu sagen wissen« (H III, 534). Doch auch diese Stufe des Selbstbewusstseins ist unvollständig, denn obschon auf der Bühne wirkliche Menschen handeln, tun sie es doch hinter einer Maske, und dies nun bedeutet, »daß die Kunst das wahre eigentliche Selbst noch nicht in ihr enthält« (H III, 535). Des Weiteren steht der Chor den Individuen als den Trägern allgemeiner sittlicher Mächte passiv gegenüber, und die Verstrickung der selbstbewussten Handlungen führt bis zu einem Punkt, an dem sie ihrer selbst nicht mehr mächtig sind, aus welchem Grund wiederum die Notwendigkeit bzw. das Schicksal eingreifen muss. Der einzelne Handelnde nämlich weiß lediglich um die eine Macht, deren Träger er ist; sein Wissen paart sich also mit einem Nichtwissen, wodurch es unvollständig wird. Die sittliche Substanz ist damit in die beiden Mächte des Menschlichen und des Göttlichen, des Staats und der Familie oder des männlichen und des weiblichen Charakters entzweit. Der Bezug auf Apoll und Kybele liegt hier nahe, doch am klarsten wird dieses Verhältnis durch Kreon und Antigone dargestellt; man kann hier der Struktur nach aber auch Friedrich Hölderlins Gegensatzpaar des ›Organischen‹ und des ›Aorgischen‹ erblicken, das ja in gewisser Weise Nietzsches apollinisches und dionysisches Prinzip vorwegnimmt. Indem das handelnde Individuum einem und nur einem Wissen folgen muss, verletzt es gleichzeitig das andere. Der tragische Held ist, heißt es dann später in der Ästhetik, schon schuldig, bevor er die Bühne betritt (vgl. H XV, 546): »Die Bewe-
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gung des Tuns erweist ihre Einheit in dem gegenseitigen Untergange beider Mächte und der selbstbewußten Charaktere« (H III, 539). Die Versöhnung besteht entweder im tragischen Tod oder, wie in der Orestie, in der Freisprechung. Beide Male handelt es sich um ein Vergessen der vergangenen Wirklichkeit und der Handlungen sowohl der Substanz als auch der Subjekte, denn das Wesen ist die Ruhe des Ganzen in sich selbst, die unbewegte Einheit des Schicksals […]. Dieses Schicksal vollendet die Entvölkerung des Himmels, der gedankenlosen Vermischung der Individualität und des Wesens. (H III, 540)
In der Tragödie ist demnach das Selbstbewusstsein noch von der Substanz und vom Schicksal geschieden; deshalb empfindet es im Chor oder als Zuschauer Furcht und Mitleid, und im Helden selbst kommt dies dadurch zum Ausdruck, dass er am Ende in seine Maske und in den Schauspieler zerfällt. »Die Vollendung der Sittlichkeit zum freien Selbstbewußtsein und das Schicksal der sittlichen Welt ist daher die in sich gegangene Individualität« (H III, 513); mit dem Aufkommen des Individuums im römischen Rechtsstaat und in der christlichen Religion geht also die sittliche Welt der Griechen mit ihren Göttern und ihrer Kunst unter und in die geoffenbarte Religion über. Auf diese Weise stirbt jene Epoche ihren tragischen und substantiellen Tod, auf den dann der komische und ganz subjektive folgt. Hegel fasst dies folgendermaßen zusammen: Das einzelne Selbst ist die negative Kraft, durch und in welcher die Götter […] verschwinden; zugleich ist es nicht die Leerheit des Verschwindens, sondern erhält sich in dieser Nichtigkeit selbst, ist bei sich und die einzige Wirklichkeit. Die Religion der Kunst hat sich in ihm vollendet und ist vollkommen in sich zurückgegangen. Dadurch, daß das einzelne Bewußtsein in der Gewißheit seiner selbst es ist, das als diese absolute Macht sich darstellt, hat diese die Form eines Vorgestellten, von dem Bewußtsein überhaupt Getrennten und ihm Fremden verloren […] das eigentliche Selbst des Schauspielers fällt mit seiner Person zusammen, so wie der Zuschauer in dem, was ihm vorgestellt wird, vollkommen zu Hause ist und sich selbst spielen sieht. […] es ist die Rückkehr alles Allgemeinen in die Gewißheit seiner selbst, die hierdurch diese vollkommene Furcht- und Wesenlosigkeit alles Fremden und ein Wohlsein und Sichwohlseinlassen des Bewußtseins ist, wie sich außer dieser Komödie keines mehr findet. (H III, 544)
Ironie und Spott sind hier kaum zu überhören, ebenso wie später dann in der Ästhetik, wenn Hegel vom subjektiven Humor, dem Witz und der Komödie in der Romantik spricht (vgl. H XIV, 229-231).12 Die Epoche _____________ 12
Es muss hier jedoch darauf hingewiesen werden, dass – gegenüber der durch Heinrich Gustav Hotho systematisierten Ästhetik – Hegels über einen Zeitraum von über zehn Jahren sich erstreckende Reflexionen über die Kunst wesentlich weniger systematisch waren. Das gilt auch für den Humor und die Ironie. – Vgl. hierzu die jüngst vor allem von Annemarie Gethmann-Siefert herausgegebenen Vorlesungsmitschriften sowie GethmannSiefert; Annemarie: Drama oder Komödie? Hegels Konzeption des Komischen und des
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der Poesie und der Schönheit ist vorüber; es herrschen die Prosa und die Langeweile des alltäglichen Lebens, wo jeder für sich ist und Gott gegen alle. Zwar ist der Geist aus der Form der Substanz in die des Subjekts übergegangen, aber dadurch ist das Wesen zum Prädikat heruntergekommen und steht dem Subjekt nicht mehr als etwas Substantielles gegenüber. Im Grunde genommen geht dem Subjekt die Substanz ab; sein Bewusstsein ist entäußert, weiß von dieser Entäußerung und wird dadurch unglücklich oder zerrissen. Die Kunstreligion gehört zum sittlichen Geist, wo der Einzelne in der substantiellen Allgemeinheit seines Volkes aufgehoben ist. Wo dieser Boden fehlt, da wird der Einzelne zur Person, d. h. zur abstrakten Allgemeinheit des Rechts, und die Wirklichkeit, das einstmalige konkrete Vorhandensein des sittlichen Geistes, wird Gegenstand »des reinen Gedankens, der [ihn] entleibt und dem geistlosen Selbst, der einzelnen Person, das Anundfürsichsein erteilt« (H III, 546). Dieses aus allen Bindungen herausgelöste und zu seiner absoluten, aber abstrakten, weil nur individuellen Freiheit gelangte Bewusstsein ist das unglückliche; es »ist das Bewußtsein des Verlustes aller Wesenheit […] – der Substanz wie des Selbsts; es ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist« (H III, 547). Was bleibt, ist die Erinnerung an die Werke, in denen der Geist jener vergangenen Wirklichkeit sich dargestellt hat. Gerade diese Erinnerung jedoch charakterisiert Hegel etwa zehn Jahre zuvor folgendermaßen: Das Gedächtnis ist der Galgen, an dem die griechischen Götter erwürgt hängen. Eine Galerie solcher Gehenkten […] heißt oft Poesie. […] bedeutungsleere gottesdienstliche Zeremonien üben, dies ist das Tun der Toten. Der Mensch versucht es, völlig zum Objekt zu werden, sich durchaus von einem Fremden regieren zu lassen. Dieser Dienst heißt Andacht. (H I, 432)13
Das Selbstbewusstsein dieses Zustands kennzeichnet sich als ein zerrissenes, von welchem Hegel im Wastebook sagt: »Ein geflickter Strumpf [ist] besser als ein zerrissener; nicht so das Selbstbewußtsein« (H II, 558). Mit diesem zerrissenen Bewusstsein stellt der junge Hegel seine Reflexionen zu Religion, Moralität und Kunst sowie zu Politik und Geschichte an. Ausgehend von den oben zitierten Passagen aus dem von Franz Rosenzweig so betitelten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus von 1796/97, wo Hegel, Schelling und Hölderlin mit Kants Terminologie versuchen, über ihn hinauszugehen, können nun einige Momente dieser _____________
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Humors als Paradigma der romantischen Kunstform; in: Gethmann-Siefert, Annemarie / Vos, Lu de / Collenberg-Plotnikov, Bernadette (Hrsgg.): Die geschichtliche Bedeutung der Kunst und die Bestimmung der Künste. München 2005 sowie Gethmann-Siefert, Annemarie: Einführung in Hegels Ästhetik. München 2005, S. 38, wo sie Hegels Beschäftigung mit Kunst geradezu als ein ›work in progress‹ bezeichnet. Vgl. auch das gleichzeitige, Hölderlin gewidmete Gedicht Eleusis (H I, 230-233).
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Überlegungen zumindest ansatzweise beleuchtet werden, um Hegels Begriff von Kunstreligion kritisch zu reflektieren.14 In der Schönheit, welche Hegel sowohl platonisch als auch christlich als Vereinigung von Menschen in der Liebe konzipiert, soll die Vernunft sich vollenden. Die Dichtkunst soll in der Folge Friedrich Schillers die Menschheit bilden, damit sie das Reich der Freiheit verwirkliche, das auf das Moralgesetz gegründet ist. Diese Leistung vermag einzig die Poesie zu erbringen, da in ihr Kants Postulate sinnlich und konkret gemacht werden können.15 Mit der Übernahme der moralischen Ideen bekommt die Dichtung aber gleichzeitig auch religiöse Aspekte, wodurch eben die Kunstreligion entsteht, die im Systemfragment als ›Mythologie der Vernunft‹ oder ›sinnliche Religion‹ bezeichnet wird, die sich an griechischen Idealen ausrichtet und die christlichen Glaubensinhalte gegen ihre Setzung als positive Wirklichkeiten retten soll. Spuren dieser Überlegungen lassen sich auch in den 1793/94 geschriebenen Fragmenten über Volksreligion und Christentum finden: »[S]o erhellt, daß Volksreligion, […] wenn ihre Lehren in Leben und Tat wirksam sein sollen, unmöglich auf bloße Vernunft gebaut sein könne« (H I, 24), denn »Aufklärung des Verstands macht zwar klüger, aber nicht besser« (H I, 21). Diese Überzeugung Hegels muss etwas kurios anmuten, wenn man an die zentrale Stellung der Vernunft in seinem späteren System denkt. Doch selbst in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie merkt er noch an, dass eine rein vernunftmäßige Verwirklichung von sittlichen oder politischen Idealen immer zu kurz greifen müsse: »Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt _____________ 14
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Wie bekannt ist die Frage nach der wirklichen Autorschaft des Systemprogramms nicht eindeutig zu klären. Es ist jedoch stark anzunehmen, dass Hegel, von dessen Hand es ja stammt, die in ihm enthaltenen Ideen zu jener Zeit teilte, auch wenn er sie bis zur Niederschrift der Phänomenologie teilweise änderte oder sogar verwarf. – Vgl. diesbezüglich Jamme, Christoph / Schneider, Helmut: Mythologie der Vernunft. Hegels ›ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus‹. Frankfurt/M. 1984 (stw 413); zu den Analogien mit dem Denken des jungen Hegel vgl. vor allem die Beiträge von Otto Pöggeler (ebd., S. 126143 und 175-225), Dieter Henrich (ebd., S. 144-169) und Annemarie Gethmann-Siefert (ebd., S. 226-260). Dieser Gedanke berührt allerdings auch ein grundlegendes theoretisches Problem der Ethik und zwar die Frage des Menon an Sokrates, ob Tugend gelehrt werden könne. Wie bekannt, endet Platons Dialog aporetisch: Da der Begriff Tugend logisch nicht eindeutig bestimmbar sei, könne sie auch nicht gelehrt werden. Diese Reduktion auf das rein Logische allerdings verfehlt sowohl die Tugend als auch die Möglichkeit, Menschen tugendhaft zu machen. Letzteres ist nämlich sehr wohl möglich, wenn man den Akzent vom Logischen auf das Mimetische verschiebt. Man kann Tugendhaftigkeit sehr wohl vermitteln, indem man sie durch die eigenen Handlungen oder durch beispielhafte Leistungen, etwa im Medium der Kunst, veranschaulicht oder selbst ex negativo durch Darstellung der Widersprüchlichkeit des Realen und seiner Unangemessenheit an die eigene Idee bzw. die eigenen Möglichkeiten zum Ausdruck bringt. Noch bei Kants kategorischem Imperativ zeugen das ›Als ob‹ und der ›focus imaginarius‹ von diesem Problem.
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Wirklichkeit zerstören« (H XX, 331). Umso mehr gilt diese Skepsis gegenüber der Selbstgerechtigkeit bloßer Vernunft für den jungen Hegel, der sich mit der Terreur auseinandersetzt und sich fragt: da eine allgemeine geistige Kirche nur ein Ideal der Vernunft bleibt – und da es nicht wohl möglich ist, daß eine öffentliche Religion etabliert werden könnte, die alle Möglichkeit, Fetischglauben daraus zu ziehen, benähme –, wie eine Volksreligion im allgemeinen eingerichtet sein müsse, um a) negativ so wenig als möglich Veranlassung zu geben, an dem Buchstaben und den Gebräuchen hängen zu bleiben, und b) positiv – daß das Volk zur Vernunftreligion geführt [würde]. (H I, 29)
Von diesen Fragen ausgehend konzipiert Hegel hier zum ersten Mal auch eine Analogie zwischen Vernunft und Liebe, welche von der Methode her die Figur des Selbstbewusstseins vorwegnimmt: [D]as Grundprinzip des empirischen Charakters ist Liebe, die etwas Analoges mit der Vernunft hat, insofern als die Liebe in anderen Menschen sich selbst findet oder vielmehr sich selbst vergessend sich aus seiner Existenz heraussetzt, gleichsam in anderen lebt, empfindet und tätig ist – so wie Vernunft, als Prinzip allgemein geltender Gesetze, sich selbst wieder in jedem vernünftigen Wesen erkennt, als Mitbürgerin einer intelligiblen Welt. (H I, 30)
Wenige Jahre später, d. h. 1797/98, wird die Liebe in den Entwürfen über Religion und Liebe mit dem Ideal der Freiheit und der Unsterblichkeit in Verbindung gebracht, wobei sie selbst als Gottheit, d. h. als etwas definiert wird, das die subjektive Beschränktheit des Individuums aufbricht: »In der Liebe ist das Getrennte noch, aber nicht mehr als Getrenntes« (H I, 246). Dieses Paradox führt nun unmittelbar zur Furcht vor dem Tod (dem eigenen wie dem des anderen) und zum Problem der Unsterblichkeit, die hier schon ganz andere Formen annimmt als noch in Kants Postulat. Diese Aspekte erweitern oder integrieren die Vernunft durch Formen der lebendigen Erfahrung, wie der des Zorns, der Scham, des Gefühls der an die je einzelne Körperlichkeit bzw. an den Leib gebundenen Individualität oder eben der Todesfurcht: Weil die Liebe ein Gefühl des Lebendigen ist, so können Liebende sich nur insofern unterscheiden, als sie sterblich sind […]. Die Liebe strebt aber auch diese Unterscheidung, diese Möglichkeit als bloße Möglichkeit aufzuheben und selbst das Sterbliche zu vereinigen, es unsterblich zu machen. […] die Liebe ist stärker als die Furcht; sie fürchtet ihre Furcht nicht […]. [D]as Sterbliche hat den Charakter der Trennbarkeit abgelegt, und ein Keim der Unsterblichkeit, ein Keim des ewig sich aus sich Entwickelnden und Zeugenden, ein Lebendiges ist geworden. (H I, 246ff.)16
Brüderlichkeit soll demnach nicht nur über Vernunft, sondern ebenso sehr über Liebe verwirklicht werden – also über etwas, das auch ganz _____________ 16
Vgl. auch Pöggeler: Das Menschenwerk des Staats (Anm. 6), S. 180.
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empirisch und konkret die Schranken und die Beschränktheit des Einzelindividuums durchbricht, so wie es sich dann einzig noch im Tod ereignet, über den hinaus jedoch die menschliche Erfahrungskraft versiegt. Begrifflicher formuliert kann hierin ein intersubjektives Modell17 von Gesellschaft gesehen werden, wie es dann in der Figur des Selbstbewusstseins, das aus der gegenseitigen Anerkennung hervorgeht, von Hegel in der Phänomenologie entwickelt wird. Doch sind in dieser Figur die lebendigen Erfahrungsgehalte in die ätherhaft unsinnliche Atmosphäre des Geistes aufgehoben und hierdurch verdrängt worden. Analog zur begrifflichen Struktur der Liebe wird auch das Verhältnis zu den Gegenständen konzipiert, zumal wenn es um die Natur geht: Begreifen ist Beherrschen. Die Objekte beleben ist, sie zu Göttern machen. […] Wo Subjekt und Objekt oder Freiheit und Natur so vereinigt gedacht wird, daß Natur Freiheit ist, daß Subjekt und Objekt nicht zu trennen sind, da ist Göttliches – ein solches Ideal ist das Objekt jeder Religion. (H I, 242)
Gegenstand der Religion, vor allem der als Kunst aufgefassten Religion, ist also vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus schon das spätere Subjekt-Objekt, vom sittlichen aus die Konkretion von Freiheit und Notwendigkeit. Demnach werden dann auch Theorie und Praxis, wie vormals von Kant in der Kritik der Urteilskraft durch Endzwecke, hier nun von Hegel durch die Liebe, d. h. durch Religion vereinigt: Die theoretischen Synthesen werden ganz objektiv, dem Subjekt ganz entgegengesetzt. Die praktische Tätigkeit vernichtet das Objekt und ist ganz subjektiv – nur in der Liebe allein ist man eins mit dem Objekt, es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht. Diese Liebe, von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht, ist die Gottheit. (H I, 242)
Eine so konzipierte Gottheit ist zentral die der Kunstreligion. Sie ist auf keinen Fall statisches Sein, sondern zeichnet sich gerade durch ihren dynamischen Charakter und als dialektisches Verhältnis aus: »Gott [ist] das seiner selbst gewisse Selbst Aller«.18 Liebe als Gottheit ist also die Vermittlerin zwischen den Menschen als Einzelnen und zwischen ihnen als Gesamtheit und der Natur und dementsprechend »ist Glauben nicht Sein, sondern ein reflektiertes Sein« (H I, 252). Aber auch die Figur des Selbstbewusstseins schwingt in diesen Reflexionen wieder mit, denn »Liebe kann nur stattfinden gegen das Gleiche, gegen den Spiegel, gegen das Echo unseres Wesens« (H I, 243). Ein in der Liebe gegründetes Verhältnis ist aber gleichzeitig immer auch ein ideales Verhältnis, das kontinuierlich über sich selbst hinausgeht, um das in ihm strebende Ideale in Wirklichkeit umzu_____________ 17 18
Vgl. Honneth: Atomisierung und Sittlichkeit (Anm. 9), S. 174-185. Rosenkranz, Karl: Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1844 unter Hinzufügung einer Nachbemerkung von Otto Pöggeler zum Nachdruck 1977. Darmstadt 1988, S. 197.
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setzen: »Das Wesen des praktischen Ich besteht im Hinausgehen der idealen Tätigkeit über das Wirkliche […]. Der praktische Glaube ist Glaube an jenes Ideal« (H I, 241). Am Ende ist das Ideal selbst das vermittelnde Medium: »Das Ideal können wir nicht außer uns setzen, sonst wäre es ein Objekt, – nicht in uns allein, sonst wäre es kein Ideal« (H I, 244). An dieses Ideal zu glauben bedeutet demnach kontinuierliche Überwindung des einmal gegebenen Wirklichen durch ständiges Hinausgehen aus sich selbst und über die jeweiligen Verhältnisse hinaus; hierin besteht das Notwendige des Moralgesetzes, nämlich aus Freiheit Kausalität zu erzeugen, allerdings eine Kausalität, die nicht mehr die der Natur ist. Der Geist schafft sich nämlich selbst seine Natur. Moralisches, am Ideal ausgerichtetes Handeln ist weder subjektiv noch objektiv und entspringt aus der Freiheit des Selbstbewusstseins. Dies ist der Ursprung der Sittlichkeit, der Freiheit zum Anderen, zusammen mit der Notwendigkeit des Moralgesetzes: Wovon ich das Bewusstsein habe, dass ich es tun muss, das kann ich dann auch tun. Die aus der Verwirklichung der absoluten individuellen Freiheit entstandenen Probleme werden von Hegel demnach über die Sittlichkeit bzw. Brüderlichkeit in Angriff genommen und finden eine erste Bewältigung in der Liebe, welche weder abstrakt vereinzelnd wirkt wie der Verstand noch absolut entgegensetzend wie die Vernunft. Der von der Aufklärung, aber auch noch von Kant rein rational konzipierte Freiheitsbegriff und seine notwendige Atomisierung der Gesellschaft in fensterlose Monaden soll also durch das konkret lebendige Gefühl der Liebe überwunden werden: Wahre Vereinigung, eigentliche Liebe findet nur unter Lebendigen statt, die an Macht sich gleich und also durchaus füreinander Lebendige, von keiner Seite gegeneinander Tote sind; sie schließt alle Entgegensetzungen aus, sie ist nicht Verstand, dessen Beziehungen das Mannigfaltige immer als Mannigfaltiges lassen und dessen Einheit selbst Entgegensetzungen sind; sie ist nicht Vernunft, die ihr Bestimmen dem Bestimmten schlechthin entgegensetzt; sie ist nichts Begrenzendes, nichts Begrenztes, nichts Endliches; sie ist ein Gefühl, aber nicht ein einzelnes Gefühl […]. (H I, 245f.)
Das Selbstbewusstsein, welches in dieser Form von Liebe entsteht, weiß sich als »Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist« (H III, 145), und damit ist es dem Individuell-Personhaften sowohl des römischen als auch des modernen Rechtsstaates entgegengesetzt. In letzterem gibt es weder Liebe noch Vernunft noch Sittlichkeit; auch gibt es keine Kunst, denn »den Werken der Muse fehlt die Kraft des Geistes, dem aus der Zermalmung der Götter und Menschen die Gewißheit seiner selbst hervorging« (H III, 547). Des Weiteren geht die Religion nicht mehr aus dem moralischen Handeln der Menschen hervor, ist eben nicht mehr Sittlichkeit, sondern nur noch positive Religion in einem abstrakten Rechtsstaat. Der positive Glaube ist ein abstrakt theoretischer, der nur objektiv gegebene Vorschriften und Hand-
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lungsweisen enthält, die sich das Subjekt niemals zu eigen machen kann; in ihm bleiben Begriff und Leben, Ideal und Wirklichkeit geschieden (vgl. H I, 239f.). Die Realisierung der Idee wurde außerhalb der Grenzen menschlicher Macht gesetzt, »der Mensch [wurde] selbst ein Nicht-Ich und seine Gottheit ein anderes Nicht-Ich« (H I, 212), was zur Folge hatte, dass die »Objektivität der Gottheit […] mit der Verdorbenheit und Sklaverei der Menschen in gleichem Schritte gegangen« (H I, 211) war. »Der positive Glaube fordert Glauben an etwas, das nicht ist – das, was nicht ist, kann nur entweder werden oder gar nicht werden« (H I, 254); in Bezug auf die Geschichte des Christentums urteilt Hegel folgendermaßen: Entfesselt von positiven Geboten, die die Stelle der Moralität vertreten sollten, hätte die Vernunft, in Freiheit gesetzt, jetzt ihren eigenen Geboten folgen können, aber zu jung, zu ungeübt, eigenen Gesetzen zu folgen, unbekannt mit dem Genusse selbsterrungener Freiheit warf man ihr wieder ein Joch von Formeln über. (H I, 139)
Mutatis mutandis gilt dies auch für den Ausgang der Französischen Revolution, und hier klingt von weitem auch Kants Urteil noch nach, demzufolge die Revolution gescheitert ist, nicht weil man zu viel Theorie getrieben habe, sondern umgekehrt, weil man ohne genügend theoretische Reflexion zur Praxis übergegangen war. An der Stelle der allgemeinen Götter- und Heldenwelt der griechischen Antike stehen jetzt die positive christliche Religion und der abstrakte Rechtsstaat, wobei Hegel zwischen der nachrevolutionären Zeit und dem untergehenden römischen Reich eine Analogie herstellt: »[E]s gab nur Römer in Rom, keine Menschen; in Griechenland hingegen wurden die studia humanitatis, menschliche Empfindungen, menschliche Neigungen und Künste geschätzt« (H I, 50). Das freie Rom, das eine Menge von Staaten, die […] ihre Freiheit verloren hatten, sich unterworfen […] hatte […], der Siegerin der Welt blieb allein die Ehre, wenigstens die letzte zu sein, die ihre Freiheit verlor. Die griechische und römische Religion war nur eine Religion für freie Völker, und mit dem Verlust der Freiheit muß auch der Sinn, die Kraft derselben, ihre Angemessenheit für die Menschen verlorengehen. (H I, 204)
Angemessen ist den Menschen nunmehr die christliche positive Religion, in welcher »nicht für die Phantasie gesorgt [ist] wie bei den Griechen, sie ist traurig und melancholisch« (H I, 72); daher kommt »der offene, willkommene Empfang der christlichen Religion zu den Zeiten der verschwundenen öffentlichen Tugend der Römer und der sinkenden äußeren Größe« (H I, 100). Doch Aufklärung und Französische Revolution haben gezeigt, dass die Menschen wieder zu Ideen fähig sind, und das bedeutet in der damaligen Terminologie, dass sie auch zur Freiheit fähig sind, denn nur »was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee« (H I, 234):
Hegels Kunstreligion als ›moralische Anstalt‹
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Daher, wenn nach Jahrhunderten die Menschheit wieder Ideen fähig wird, das Interesse an dem Individuellen verschwindet, […] die Lehre von der Verworfenheit des Menschen abnimmt und dasjenige, was uns das Individuum interessant machte, selbst als Idee in ihrer Schönheit nach und nach hervortritt, von uns gedacht, unser Eigentum wird, [wenn wir] das Schöne der menschlichen Natur, was wir selbst in das fremde Individuum hineinlegten […], wieder als unser eigenes Werk freudig erkennen, es uns wieder aneignen und dadurch Selbstachtung für uns empfinden lernen […] – Im Privatleben mußte Liebe zum Leben, Bequemlichkeit und Verschönerung desselben unser höchstes Interesse sein […]; jetzt, wenn moralische Ideen in dem Menschen Platz greifen können, so sinken jene Güter im Wert, und Verfassungen, die nur Leben und Eigentum garantieren, werden nimmer für die besten gehalten, […]. (H I, 100f.)
In einem solchen Moment wird es die Aufgabe der Volksreligion, mit Phantasie und Herz in Freiheit zur Bildung des Geistes eines Volks durch die Kunst beizutragen, denn »Volksreligion, die große Gesinnungen erzeugt und nährt, geht Hand in Hand mit der Freiheit« (H I, 41). Sie soll, wie die griechische, eine schöne Religion sein, weil sie von der Vereinigung bzw. von der Brüderlichkeit ausgeht und nicht, wie die positive des Christentums, von der abstrakten Entgegensetzung ihrer Gebote und des lebendigen Menschen. Ihr Inhalt soll nicht das nur Gedachte und Verstandesmäßige sein, das den wahren Menschen negiert oder ihn der Vergangenheit zuschreibt, sondern die praktisch-politische, konkrete Gegenwart, die den Menschen zum Menschen machen kann. Sie soll dieses Ideal von Liebe, Vernunft und Freiheit verwirklichen helfen, ein Ideal, das in Analogie zum republikanischen Geist des Altertums ausgebildet wird, ohne jedoch dessen Organisation wiedereinführen zu wollen. Der Mensch soll »Bürger des Reichs der Moralität [sein], der unsichtbaren Kirche, ohne dadurch andere Pflichten auf sich zu nehmen, als die er sich selbst auferlegt« (H I, 140). Aus dieser Freiheit des Selbstbewusstseins soll mit Notwendigkeit die allgemeine Substanz der Sittlichkeit entspringen, die unsichtbar bleibend, also nicht positiv werdend, die einzelnen Subjekte und ihre Handlungen zu einem organischen Ganzen verbinden könnte. In diesem Sinne ist die griechische polis für Hegel allerdings das Modell: Als freie Menschen gehorchten sie Gesetzen, die sie sich selbst gegeben, […] gaben ihr Eigentum, ihre Leidenschaften hin, opferten […] tausend Leben für eine Sache, welche die ihrige war […]; im öffentlichen wie im Privat- und häuslichen Leben war jeder ein freier Mann, jeder lebte nach eigenen Gesetzen. Die Idee seines Vaterlandes, seines Staates war das Unsichtbare, das Höhere, wofür er arbeitete, das ihn trieb, dies [war] sein Endzweck der Welt, oder der Endzweck seiner Welt, – den er in der Wirklichkeit dargestellt fand oder selbst darzustellen und zu erhalten mithalf. Vor dieser Idee verschwand seine Individualität. (H I, 204f.)
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Eben dieses Verschwinden der Individualität wird von Montesquieu als republikanische Tugend definiert, und Hegel zitiert ihn zustimmend. Für denjenigen, dem eine solche Tugend fehlt, hatten die Griechen den Terminus idiòtes bei der Hand, d. h. die Einzelperson im Gegensatz zum Staat, die sich des Wesentlichen, der Gemeinschaft, begibt und sich mit ihrem Eigentum von ihr entfernt, um ihren Privatinteressen nachzugehen19 – im Grunde ist dies die bürgerliche Privatperson und ihr Eigentum. Eben aufgrund ihres ausgeprägten Gemeinsinns sind die Griechen denn auch freier als die Christen und die modernen bürgerlichen Individuen, denn die positive Freiheit zum Anderen ist nicht eine andere als die negative Freiheit von Notwendigkeiten; sie ist im Gegenteil vielmehr ihre Grundlage und einzige Rechtfertigung, wenn die negative Freiheit nicht wieder umschlagen soll in Unfreiheit und Unterdrückung, wie dies im Fortgang der Geschichte des Bürgertums seit Hegel so häufig geschehen ist. Eine solche Form von Freiheit hat auch keinen transzendenten Gott nötig, im Gegenteil: »Griechen und Römer waren mit so dürftig ausgerüsteten, mit Schwachheiten der Menschen begabten Göttern zufrieden, denn das Ewige, das Selbständige hatten jene Menschen in ihrem eigenen Busen« (H I, 207). Kunstreligion geht eben immer auch ein wenig mit künstlerischem Atheismus einher, was aber nicht nur für die antike griechische Religion gilt, sondern ebenso sehr zum eigentlichen und ursprünglichen Gehalt des Christentums gehört und zwar dort, wo dem Menschen gesagt wird, er solle sein wie Gott. Oder wie Ernst Bloch dies ausdrückt: »[…] nur ein Christ kann ein guter Atheist sein«.20 Das Ergebnis der Revolution jedoch ist, wie gesagt, ein anderes, und der durch sie geschaffenen Welt gegenüber gilt: Insofern kann man sagen, daß das, was ist, deswegen doch nicht reflektiert [sein], nicht zum Bewußtsein kommen muß. Das, was ist, muß nicht geglaubt werden, aber was geglaubt wird, muß sein. Das Gedachte nun als ein Getrenntes muß Vereinigtes werden, und dann erst kann es geglaubt werden; der Gedanke ist eine Vereinigung und wird geglaubt; aber das Gedachte noch nicht. (H I, 252)
Das Seiende also ist nicht vereinigt; der Glaube, die unsichtbare Kirche, ist Statthalter für das, was nicht ist, und dies kann nur negativ dargestellt werden als Widersprüchlichkeit dessen, was ist. Noch sind keine festen Gedanken, kein philosophisches System, das sich in einem Kreis aus Kreisen abschließen könnte; es gibt lediglich Bewegung des Denkens, das auf etwas hinstrebt, jedoch noch nicht bei sich selbst angekommen ist. Was ist, ist Entgegensetzung, Entfremdung, Zerrissenheit und lässt keine _____________ 19 20
Vgl. ›Idiot‹; in: Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 23., erweiterte Auflage. Berlin – New York 1995, S. 393. Bloch, Ernst: Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs. Werkausgabe. Band 14. Frankfurt/M. 1991 (stw 563), S. 24.
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Beruhigung im positiven Glauben oder im philosophischen Begriff zu, sondern fordert Reflexion, Formen, Umformen ebenso der Wahrheit wie der Wirklichkeit. Es fordert, dass der seinsollenden Wahrheit als Moralität und Sittlichkeit zum Ausdruck verholfen werde. »Jeder will und meint besser zu sein als diese seine Welt. Wer besser ist, drückt nur diese seine Welt besser aus als andere« (H II, 555). Denn nicht wer eine bessere Welt nur wünscht (sei es religiös, philosophisch, politisch oder auch künstlerisch), ist ein guter Mensch, sondern wer die bestehende Welt gut darstellt, d. h. ihre Widersprüchlichkeit und ihre Bewegung in den jeweiligen religiösen, philosophischen oder politischen Formen angemessen zum Ausdruck bringt. Selbst in der Phänomenologie des Geistes klingt dieser Gedanke noch nach: »Das leichteste ist, was Gehalt und Gediegenheit hat, zu beurteilen, schwerer, es zu fassen, das schwerste, was beides vereinigt, seine Darstellung hervorzubringen« (H III, 13). Und hiermit, d. h. mit dem Problem der Form, des Ausdrucks und den Mitteln der Darstellung, ist gleichzeitig auch wieder auf ganz eminente Weise das Problem der Kunst gestellt, nämlich das Reale in seiner idealen Spannung zum Ausdruck zu bringen. Offen nämlich bleibt bei Hegel immer wieder die Frage, ob das philosophische System und seine Darstellungsform des logischen Begriffs, wie immer er sie auch auf geniale Weise umgewandelt hat, ihr Versprechen einlösen und die Wirklichkeit als Ganzes in Begriffen darstellen kann. Als Ganzes in ihrer Wahrheit, als reflektiertes Sein oder Ideal, ist Wirklichkeit vielleicht gerade mehr als sie nun eben mal ist, und das könnte in extremis sogar zu dem Verdacht führen, den Sören Kierkegaard mit Friedrich Nietzsche teilt, dass Hegels System sich in einer formalen, aber nicht inhaltlich-substantiellen Perfektion verfängt und am Ende selbst ins Religiöse eines Glaubens ans System als positiver Gegebenheit regrediert. Anzunehmen wäre nämlich, dass Hegels System unter dem Druck einer alles andere als rationalen Wirklichkeit zusammenbricht und dem entgegen versucht, seinen eigenen Fragmentcharakter ästhetisch im Ideal der Perfektion zu verschönern. Schon Kant allerdings hatte darauf verwiesen, dass Perfektion niemals zu den Formen der reflektierenden Urteilskraft gehören kann und dementsprechend auch für die Kunst keinen Geltungsanspruch erheben darf. Problematisch ist an Hegels Begriff von Kunstreligion nicht, dass er durch seine Widersprüchlichkeit zu immer neuen Formen drängt, im Gegenteil: Die Spannung, die zu immer wieder neuen Formen des Ausdrucks drängt, ist doch gerade das Leben der Kunst. Selbst der vermeintliche Tod der Kunst oder der Kunstreligion kann von ihr selbst ja wiederum als ihr neuer Gehalt gefasst werden und ihr von Hegel dekretierter Vergangenheitscharakter ist zumindest ein Mahnmal für eine Gesellschaft, die von ihrem Beginn an schon sich immer mehr verdunkelt, ihr Grau in Grau malt, in dem auch die tiefste philosophische
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Reflexion nichts mehr zu erkennen vermag.21 Der Stoff nämlich, den Kunst ebenso wie Philosophie der Wirklichkeit entnehmen muss, ist beschränkt, aber ihre ästhetischen Formen im Gegensatz zu den logisch abschlusshaften und synthetischen, d. h. ihre Möglichkeiten, immer wieder neue Beziehungen in diesem Stoff zu schaffen, sind mindestens ebenso unendlich, wie Hegel sich dies einzig vom philosophischen Geist denkt.
_____________ 21
Vgl. Marcuse, Herbert: Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie. Übersetzt von Alfred Schmidt; in: Marcuse, Herbert: Schriften. Band 4. Frankfurt/M. 1989, S. 165f. sowie Ilting, Karl-Heinz: Zur Genese der Hegelschen ›Rechtsphilosophie‹; in: Philosophische Rundschau 30 (1983), S. 161-209.
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Poesie oder Prosa? Hegels Literaturbegriff und die ästhetische Erfahrung des Absoluten 1. Das Ende der Kunstreligion Hegel hat früh die Unmöglichkeit erkannt, eine Kunstreligion in der Gegenwart zu restaurieren. Die ›Religion des Schönen‹ ist ein für alle Mal im geschichtlichen Fortgang des Geistes überwunden worden, und so untermauert die Entwicklung seines Denkens seit der Zeit in Jena die These, dass das Absolute in der Moderne allein durch die Philosophie ausgedrückt werden könne, nicht aber mehr durch Religion oder Kunst als geschichtlich obsolet gewordenen Erfahrungsweisen. Hegels historisch konturierter Begriff der ›Kunstreligion‹ schließt die Erfahrung von Transzendenz in ästhetischer Produktion und Rezeption der Moderne jedoch nicht unbedingt aus. Wie für die Romantiker seiner Generation ist es auch für ihn selbstverständlich, die Kunst als eine Form des Absoluten zu begreifen. Gleichwohl sich einzig in der griechischen Antike die ›Idee‹ im schönen Schein manifestiere, bleiben für Hegel künstlerische Äußerungen in den vorausgehenden wie nachfolgenden Epochen (trotz ihres unzureichenden medialen Charakters) metaphysisch rückgebunden, wodurch Kunst und Religion eng verwandte Sphären sind. Hegels ästhetisches Denken als Teil seiner Systemphilosophie bezieht sich selbstredend auf die Metaphysik. Aus heutiger Perspektive erscheint gerade diese metaphysische Selbstverständlichkeit Hegels als Prüfstein dafür, ob man seine Philosophie akzeptiert oder nicht. Die religiöse Kunstemphase der Romantiker lehnt Hegel nur deshalb ab, weil sie für ihn, den Philosophen, anachronistisch und inadäquates Mittel der göttlichen Erfahrung ist. Auf dem Gebiet der ›Dichtkunst‹, so die These, rücken das hegelianische Konzept einer geschichtlichen Stufe, auf der sich die Religion als Kunst zeigt, und das romantische Konzept, welches Religion und Kunst in der Gegenwart vereinen will, in eine für Hegel ungewollte Nähe. Der Grund dafür liegt in Hegels Literaturbegriff, der wie der romantische die Scheidung von Poesie und Prosa zu einer poetologischen Kardinalfrage
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Alexander Nebrig
erklärt. Strukturell wird dadurch der ›Dichtung‹ die Möglichkeit einer Annäherung an die allein der Philosophie zuerkannte Leistung eröffnet, das Absolute zu erfahren. Hegels historische Begrenzung des Konzeptes der Kunstreligion unterstützt den Grundgedanken, die Philosophie in ihrer Rolle als modernes Leitmedium für die Selbsterfahrung des (göttlichen) Geistes im Menschen zu festigen. Die von der Philosophie aufgrund ihrer Stofflichkeit bzw. sinnlichen Wahrnehmbarkeit unterschiedenen Künste der Architektur, der Skulptur, der Malerei oder der Musik fügen sich relativ problemlos in Hegels religionsästhetischen Entwicklungsgang ein, wohingegen die unstoffliche und unsinnliche Dichtkunst in ihrer medialen Affinität zur Philosophie für Irritationen sorgt. Obgleich sie als ›geistige Kunst‹ die Verinnerlichung des Geistes maximiert, bleibt die Poesie – als dem Bereich der Vorstellung zugehörig – stets der äußeren Wirklichkeit verhaftet. Die Versöhnung des ›Wahren mit der Realität‹ gelinge, heißt es dazu in der Ästhetik, »nur« in der »geistig vorgestellten Form realer Erscheinung«; ihre Verflüchtigung im ›reinen Begriff‹ sei dem spekulativen Denken und damit der Philosophie vorbehalten.1 Hegels Einwand manifestiert sich folgerichtig in seinem Werk, wenn die poetische Vorstellung als bildhafter und metaphorischer Ausdruck der Phantasie streng der dialektischen Begriffsspekulation untergeordnet bleibt.2 Diese Hierarchie geht zurück auf den binären Literaturbegriff der Tradition, der zwischen (bildlicher) Poesie und (bildloser) Prosa unterscheidet.3 Im Folgenden lese ich daher _____________ 1
2
3
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Band 1-3. In: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Band 13-15. Frankfurt/M. 1986 (stw 613-615), hier Band 3, S. 244. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Sigle ›Ästh.‹ und des Bandes zitiert. – Zitiert wird die allgemein verbreitete Redaktion der Ästhetik von Heinrich Gustav Hotho. Andere Fassungen der ästhetischen Vorlesungen Hegels werden hinzugezogen, sobald Hegels Autorschaft an einer Stelle als problematisch erscheint bzw. ein semantischer Mehrwert gewonnen wird. Zitiert werden: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über Ästhetik. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. I. Textband. Herausgegeben von Helmut Schneider. Frankfurt/M. 1995 (Hegeliana 3), im Folgenden mit der Sigle ›Ästh. 1820/21‹ angegeben.– Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. In: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 2. Herausgegeben von Annemarie Gethmann Siefert. Hamburg 1998, im Folgenden mit der Sigle ›PdK 1823‹ angegeben. Hierzu Simon, Josef: Zum Verhältnis von System und Stil bei Hegel und Nietzsche; in: Vieweg, Klaus / Gray, Richard T. (Hrsgg.): Hegel und Nietzsche. Eine literarisch-philosophische Begegnung. Weimar 2007 (Schriften aus dem Kolleg Friedrich Nietzsche), S. 164178. Die Auffassung, Poesie sei ein Denken in Bildern, wirkte lange nach bis ins 20. Jahrhundert. Vgl. z. B. Viktor B. Šklovskijs Kritik an Alexander A. Potebnja, dem prominentesten
Hegels Literaturbegriff und die ästhetische Erfahrung des Absoluten
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die Erörterungen, die Hegel dieser Differenz widmet, als Ausdruck einer Irritation darüber, dass Philosophie und Poesie innerhalb seines Denkens zusammenrücken.
2. Die Differenz von Poesie und Prosa Die Unterscheidung von Poesie und Prosa ist mit der kunstreligiösen Reflexion Hegels als Teil seiner Systemphilosophie in doppelter Hinsicht verbunden: Erstens berührt sie zwei subjektive Formen der Selbstbewusstwerdung des Geistes, indem die Poesie der ›Vorstellung‹, die Prosa hingegen dem ›begreifenden Denken‹ zugeordnet ist. Damit gleicht die Poesie formal der Religion,4 die ebenfalls auf der Vorstellung basiert; die Prosa aber wird der Philosophie zugeordnet. Hegel, der alle anderen Künste von ihrer sinnlichen Wahrnehmbarkeit ableitet, muss für die Poesie als Begründungsbegriff auf den der ›Anschauung‹ verzichten und den der ›Vorstellung‹ verwenden: Die Vorstellung hat nicht die sinnliche Bestimmtheit der Anschauung. Auf der anderen Seite ist die Vorstellung aber auch nicht der Gedanke als solcher, sondern sie liegt in der Mitte zwischen Anschauung und Gedanken, sie ist bildliche Vorstellung. Das Verständige der Prosa besteht in der abstrakten, zusammenfassenden Weise. (PdK 1823, 275)5
Wo sich aber der Geist nicht zum reinen Gedanken erhebe (immerhin liegt er jenseits der Vorstellung räumlicher und zeitlicher Kategorien), griffen Religion und Poesie. Die besondere Bestimmung der poetischen Vorstellung gelingt Hegel über die Abgrenzung von der prosaischen, d. h. historischen und rhetorischen Vorstellung. Letztere sind endliche und wirklichkeitsnahe Bewusstseinsformen, die äußeren Zwecken dienen. Die Poesie kennt nur einen inneren Zweck und charakterisiert sich zudem in einer besonderen äußeren sprachlichen Form. Die systematische Ubiquität der Poesie zeigt sich weiter darin, dass sie an allen drei Kunstformen partizipiert: an der symbolischen, der klassischen und der romantischen. Sie ist also potenziell ›noch nicht schön‹, _____________
4 5
russischen Vertreter dieser These: Šklovskij, Viktor: Искусство, как прием / Die Kunst als Verfahren (1916); in: Texte der russischen Formalisten. Mit einer einleitenden Abhandlung herausgegeben von Jurij Striedter. Redaktion und Register: Witold Kośny. Band 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 6.1), S. 2-35, hier S. 3. Vgl. Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart – Weimar 2003, S. 442. Zu dieser Mittelstellung vgl. Japp, Uwe: Die moderne Welt. Gegenwärtigkeit der Literatur nach Hegel; in: Japp, Uwe: Literatur und Modernität. Frankfurt/M. 1987 (Das Abendland N. F. 17), S. 225-251, bes. 235f.
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Alexander Nebrig
›schön‹ und ›nicht mehr schön‹. Alle diese drei Kunstformen waren gebunden an die Religion: die symbolische an die der orientalischen Völker, die klassische an die der Griechen, die romantische an die des Christentums. Für das philosophische Zeitalter aber ist keine Kunstform mehr vorgesehen. Sogar das Freiwerden der romantischen Künste von der christlichen Thematik seit der Renaissance, das man vorschnell als Verweltlichung auffassen könnte, interpretiert Hegel weiterhin im Sinne der religiösen Bindung, denn das echte Christentum ermögliche ja erst einen Raum, in dem sich adiaphorische, d. h. inhaltlich nicht religiöse Kunst entfalten kann. Aber die Poesie ist systematisch nicht bloß aufs engste mit der Religion verbunden. Hegel selbst rückt sie in die Nähe der Philosophie, wenn er betont, dass die Dichtkunst die Macht besitze, sich vom sinnlichen Element völlig zu befreien und »aus der Poesie der Vorstellung in die Prosa des Denkens« (Ästh. I, 123) überzugehen.6 In einer frühen Mitschrift Hothos lautete der Befund: »In dieser höchsten Stufe aber steigt die Kunst über sich selbst hinaus und wird zur Prosa, zum Gedanken« (PdK 1823, 44).7 Darüber hinaus sind Poesie und Prosa zweitens Metaphern zur Veranschaulichung des modernen Weltzustandes, in dem die Philosophie Kunst und Religion als Formen des Absoluten abgelöst hat. Aus geschichtsphilosophischer Sicht ist für Hegel die Zeit passé, da Kunst oder Religion das Absolute erfahrbar machen können: Sie sind gegenüber der begrifflichen Spekulation defizitär geworden. Das moderne Verhältnis von Ich und Welt unterscheidet sich von den vergangenen Konstellationen durch die Erkenntnis einer unendlichen Subjektivität und Freiheit, die sich von der ›Endlichkeit der Zwecke‹ (PdK 1823, 77) der Welt unterschieden weiß. Genau um diesen Zwiespalt zu bezeichnen, wird die Differenz von Poesie und Prosa verwendet. Der Geist hat sich selbst erkannt, und diese Verinnerlichung führt dazu, dass die Welt als das wahrgenommen werden _____________ 6
7
Zur eigentümlichen Inkonsequenz im Gebrauch der Begriffe ›Anschauung‹, ›Vorstellung‹ und ›Begreifen‹, die in der Ästhetik-Redaktion Hothos vorherrscht, vgl. Gadamer, HansGeorg: Die Stellung der Poesie im System der Hegelschen Ästhetik und die Frage des Vergangenheitscharakters der Kunst (1986); in: Gadamer, Hans-Georg: Gesammelte Werke. Band 8: Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage. Tübingen 1993, S. 221-231, hier S. 222f. Bei Hotho selbst, der die Ästhetik-Vorlesungen nach dem Tod des Lehrers noch einmal 1833 in Berlin hielt (also während er an der Ausgabe der Ästhetik arbeitete), lautet der Gedanke in der Mitschrift von Immanuel Hegel: »Aber sie [die Poesie; A. N.] macht schon den Schritt aus der Kunst, weil sie so geistig ist; sie gibt die Vereinigung des Sinnlichen und Geistigen auf und streift an Religion und Philosophie« (Hotho, Heinrich Gustav: Vorlesungen über Ästhetik oder Philosophie des Schönen und der Kunst (1833). Nachgeschrieben von Immanuel Hegel. Herausgegeben und eingeleitet von Bernadette Collenberg-Plotnikov. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004 (Spekulation und Erfahrung Abteilung I: Texte 8), S. 185).
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kann, was sie ist: eine endliche, wissenschaftlich erforschbare und vernünftig gestaltbare Angelegenheit.8 Weil der Innenraum frei geworden ist von aller Welthaftigkeit, kann sich aber das begrifflich-spekulative Denken auf das Wesentliche konzentrieren: sich den göttlichen Geist im menschlichen wieder zu Bewusstsein bringen. Die Selbstbewusstwerdung des Geistes in der Welt stellt sich in Bezug auf die Welt negativ dar als Entgötterung, Entmythisierung, Entzauberung der Außenwelt, womit gleichfalls ihre Entpoetisierung gemeint ist. Aus diesem negativen Verständnis heraus erklärt sich die Rede von der ›Prosa der Welt‹. Hegel bedient sich der Poesie/Prosa-Differenz aus der redenden Kunst, um den Entwicklungsgang des Geistes zu veranschaulichen, und verweist damit auf die Wurzeln seiner Philosophie in der Romantik, deren Protagonisten jedoch der ›Entzauberung der Welt‹ mittels der Poesie entgegenwirken wollten, ja sogar der Ansicht waren, die Prosaisierung im Konzept einer ›progressiven Universalpoesie‹ wieder rückgängig machen zu können durch Einbindung der Prosa in die Poesie. Die neue Konkurrenz auf dem Gebiet der Dichtkunst von Poesie und Prosa bildete um 1800 ein hermeneutisches Modell für die Gegenwartsdiagnose, das auch für Hegel wichtig war. Hat für die Romantiker die Differenz ideal für die Erfassung ihres Selbstverständnisses gepasst, so ist sie innerhalb von Hegels Denken ein Störfaktor, der ihn für die Erkenntnis der eigentlichen Möglichkeiten der Literatur blind macht. Anders gesagt: Die Differenz trägt zur Schwächung der Dichtung in Hegels System bei und stützt die Privilegierung der Philosophie, indem sie eine Annäherung von Poesie und Philosophie verhindert. Besaß für Schelling und romantische Autoren wie Friedrich Schlegel oder Novalis der Begriff ›Prosa‹ eine entgrenzende Funktion, so benutzt ihn Hegel gerade für scharfe Grenzziehungen und zur Stabilisierung seiner Geistphilosophie. Hegels kunstreligiöses Denken kulminiert in den Thesen vom ›Ende der Kunst‹ und vom ›Ende der Religion‹. Der Philosoph hat für seine Berliner Hörer der Vorlesungen zur Ästhetik eine prägnante Formulierung gefunden, um den zeitgenössischen Umgang mit religiöser Kunst auszudrücken. Ihr schöner Schein erfreue, aber man beuge nicht mehr das Knie _____________ 8
Georg Lukács leitet daraus die problematische Situation der Kunst ab. Bei Hegel seien jene Prinzipien, die den bisherigen Gang der Kunst bestimmten, aufgehoben, wodurch die Kunst problematisch werde: »die ›Welt der Prosa‹, wie er [Hegel; A. N.] diesen Zustand ästhetisch bezeichnet, ist gerade das Sichselbsterreichthaben des Geistes im Denken und in der gesellschaftlich-staatlichen Praxis. Die Kunst wird also gerade problematisch, weil die Wirklichkeit unproblematisch wird« (Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916). Mit dem Vorwort von 1962. 2. Auflage. München 2000, S. 11).
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(Ästh. I, 142), weil das Göttliche als ablösbar von der Gottesstatue gewusst ist. Wenn die »Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft« (Ästh. I, 141), gilt, dann deshalb, weil sie nur noch eine »versinnlichende Vorstellung des Göttlichen«, d. h. etwas Nachträgliches wäre. Dagegen hat die echte ›Kunstreligion‹ der Griechen nicht vorausliegende religiöse Sätze zur Darstellung gebracht, die man auch hätte anders paraphrasieren können, sondern ihre Künstler und Dichter schufen das ›Göttliche‹ selbst. Auch vermag Hegel es nicht, dem Gegenstand der modernen Kunst, dem humanus, »Heiligkeitsqualität«9 zuzuschreiben, und er bezeichnet ihn wohl eher beiläufig als den neuen Heiligen. Als Grund dafür nennt Walter Jaeschke die »gedoppelte Totalität von protestantischer Vertiefung der Subjektivität in sich und freigesetzter Prosa des Lebens als ein Letztes«.10 Weder könne noch solle dieses Letzte vermittelt werden. Kunst vermöge den Bereich der ›Anschauung‹, Poesie den der ›Vorstellung‹ nicht zu verlassen und müsse sich in zufälligen Formen des Lebens konkretisieren. Im »neuzeitlichen Wissen um das Versöhntsein von Subjektivität und Weltlichkeit«11 werde die Poesie in ihrer Vorläufigkeit immer schon erkannt sein und keine ethische, soziale und politische Aufgabe besitzen. Die Bedeutung der Differenz von Poesie und Prosa für das kunstreligiöse Denken wird, wie gesehen, zum einen systematisch funktionalisiert, wenn Kunst und Religion über den Begriff der ›Vorstellung‹ zusammengeführt und der Philosophie gegenübergestellt werden; zum anderen aber wird sie eingesetzt, um einen historischen Übergang zu markieren, bei dem Kunst und Religion überwunden werden von der Philosophie. Poesie als Erkenntnisform des Absoluten ist folglich unzureichend, weil die mit ihr verbundene subjektive Darstellungsform unzeitgemäß geworden ist. Das systematische Verständnis von ›Prosa‹ als Form des begrifflichen Denkens steht mit dem historischen Verständnis von ›Prosa‹ als Weltzustand in einem Innen/Außen-Verhältnis. Mit dem prosaischen Bewusstsein (innen) entsteht die prosaische Welt (außen); zugleich aber schwindet die Möglichkeit ästhetisch-poetischer Erfahrung, weil die Welt, deren sinnlicher Bezugspunkt sie ist, für die Erfahrung des Absoluten unbedeutend wird. Die Abwertung von ›Prosa‹ bei Hegel ist daher nur scheinbar, _____________ 9
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Jaeschke, Walter: Kunst und Religion; in: Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie. Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf und Falk Wagner. Stuttgart 1982 (Deutscher Idealismus 6), S. 163-195, hier S. 194. – Jaeschke demonstriert mit umfassender Werkkenntnis, dass sich die These vom ›Ende der Kunst‹ notwendig aus Hegels Systemphilosophie ergibt. Jaeschke: Kunst und Religion (Anm. 9), S. 194. Jaeschke: Kunst und Religion (Anm. 9), S. 192.
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und tatsächlich führt die Abgrenzung der Prosa von der Poesie dazu, Letztere als inferior gegenüber der Philosophie zu bestimmen. Würde Hegel hingegen auf die Differenz von Poesie und Prosa zugunsten einer ganzheitlichen Vorstellung von ›Literatur‹ verzichtet haben, dann wäre ›Literatur‹ als subjektive Erfahrungsform des absoluten Geistes möglich und damit aufgewertet innerhalb der Geistphilosophie. Da jedoch die Prosa als Negativkriterium der Poesie einem solchen ganzheitlichen Begriff entgegensteht, stellt sich umso mehr die Frage nach ihrer Semantik.
3. Die Ambiguität von ›Prosa‹ Friedrich Schlegel kritisiert in Über das Studium der griechischen Poesie das Lamentieren darüber, dass die Prosa die »eigentliche Natur der Modernen«12 sei. Hegel würde sich dieser Kritik angeschlossen haben. Wenn Schlegel als Konsequenz aber die literarische Prosa »ästhetisch courfähig«13 gemacht hat, ist damit auch schon der entscheidende Unterschied zu Hegel markiert, in dessen historischem Panorama der Poesie für die Prosa kein Platz ist. Hegel ignoriert den Versuch der Romantiker, die Differenz von Poesie und Prosa aufzuheben. Zwar erkennt er den Roman als Poesie an, aber seine quantitative Verkürzung auf einen Absatz im umfangreichen Poesieteil der Ästhetik sowie die Abneigung gegen hybride Formen poetischer Prosa sind Ausdruck des Unbehagens. Dieses oft kritisierte Versäumnis ist jedoch folgerichtig, und es rechtfertigt sich damit, dass Hegels Durchgang durch die Literaturgeschichte der Illustration seiner geschichtsphilosophischen Thesen und der Stütze seines Systems dient. Für die moderne Literatur fehlt ihm der Begriff. Jene Kollision von Poesie und Prosa als ihr mögliches Charakteristikum scheint mir zwar von Hegel angedacht gewesen zu sein, aber eine genaue Ausführung fehlt bzw. ist erst durch Hotho, den Herausgeber der Ästhetik (1835-1838), geleistet worden. Hegels Unterscheidung von Poesie und Prosa hingegen ist zu eng _____________ 12
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Schlegel, Friedrich: Über das Studium der Griechischen Poesie. 1795-1797. Mit einer Einleitung herausgegeben von Ernst Behler. Paderborn – München – Wien – Zürich 1982 (UTB 1055), S. 187. – Zu Schlegels Prosa-Begriff vgl. Schnyder, Peter: Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik in Friedrich Schlegels Frühwerk. Paderborn – München – Wien – Zürich 1999, S. 51-55. Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters. Bausteine für eine Poetik; in: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. Unveränderter Nachdruck der Originalausgabe 1887. Leipzig 1962, S. 303-482, hier S. 481. – Die wichtigsten Positionen der Frühromantiker zur Prosa-Diskussion referiert Vietor, Sophia: Astralis von Novalis. Handschrift – Text – Werk. Würzburg 2001 (Stiftung für Romantikforschung XV), S. 162-169.
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mit systematischen und geschichtsphilosophischen Prämissen seiner Philosophie verbunden, um wirklich brauchbar für die Erfassung der Gegenwartsliteratur zu sein. Bereits der Gebrauchsstatus von Prosa ist unklar, denn Hegels Verwendung des Schlagwortes von der ›Prosa‹ beschränkt sich fast ausnahmslos auf die Vorlesungen.14 Pragmatisch gesehen, handelt es sich also um ein rein mündliches Phänomen, das nur in den Nachschriften seiner Hörer überliefert ist. Die Schwierigkeit, die Semantik des Begriffs ›Prosa‹ zu erfassen, hat dieselben Ursachen wie seine Konjunktur. Seine Beliebtheit um 1800 erklärt sich mit seiner Befreiung aus dem formal-sprachlichen Bereich der oratio soluta und aus seinen zahlreichen semantischen Anschlussmöglichkeiten aufgrund mangelnder Präzision. So bedient sich die kulturkritische Polemik gern der Redeweise von der Prosa. Als Schlagwort des Zeitgeistes bleibt die Möglichkeit pejorativ-polemischer Konnotation immer bestehen.15 Die ›Prosa‹ als Metapher für das Leben findet sich schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts,16 aber populär wird sie im deutschen Sprachraum um 1800. Schillers ›begrenzter Zustand‹ in der Lebenswelt des sentimentalischen Zeitalters korrespondiert mit der Rede von der Prosa der bürgerlichen Welt.17 _____________ 14
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Schriftlich, wenn überhaupt, nimmt der Prosa-Begriff in der Regel auf die konventionelle, sehr allgemeine Bedeutung der ›ungebundenen Rede‹ Bezug, die durch ein Adjektiv in ihrem spezifischen Wert bestimmt ist. Bezeichnenderweise wehrt Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes philosophische Unternehmungen ab, die, über das Konzept der ›Genialität‹ legitimiert, unfähig sind, »ihr Denken auf einen abstrakten Satz« festzuhalten. Eine solche Genialität, die Poesie und Philosophie vermengt, »grassierte bekanntlich einst ebenso in der Poёsie; statt Poёsie aber, wenn das Produzieren dieser Genialität einen Sinn hatte, erzeugte es triviale Prose oder, wenn es über diese hinausging, verrückte Reden« (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Neu herausgegeben von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont. Mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen. Hamburg 1988 (Philosophische Bibliothek 414), S. 50). August von Platen konnte 1821 an Veit Engelhardt, im Jahr von dessen Erlanger Berufung als Theologieprofessor, ganz selbstverständlich die Verse schreiben: »Die Welt wird Prosa mehr und mehr, | Der Glaube selbst ist ohne Wehr: | Was hat das Ewige verschuldet, | Daß man’s nur nebenher noch duldet?« (Platen, August von: An Engelhard. Mit den Gaselen. 1821; in: Gesammelte Werke des Grafen August von Platen. In fünf Bänden. Erster Band. Stuttgart – Tübingen 1853, S. 228). Edward Young spricht in An Epistle to the right Hon. George Lord Lansdowne schon 1712 von der »prose of life« (Young, Edward: An Epistle to the right Hon. George Lord Lansdowne; in: Young, Edward: The Complete Works. Poetry and Prose. Edited by James Nichols. With a Life of the Author by John Doran (1854). Volume I. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe London 1854. Hildesheim 1968 (Anglistica & Americana 23), S. 298-312, hier S. 305). Vgl. auch Szondi, Peter: Antike und Moderne in der Ästhetik der Goethezeit; in: Szondi, Peter: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Herausgegeben von Senta Metz und HansHagen Hildebrandt. Frankfurt/M. 1974 (stw 40), S. 11-265, hier 178. – Schiller verwendet
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Die Semantik des Prosaischen, wie sie Hegel verwendet, hat sich im 18. Jahrhundert formiert. Der abstrakte Stilbegriff, der eigentlich das Gegenstück zur gebundenen Rede bezeichnet, eignet sich besonders gut zur kontrastiven Bestimmung des genuin Poetischen. Je nach Dichtungsbegriff färbt sich die Semantik der Prosa. Die antirationalistische Poetik sieht in ihr das Vernünftige, die Abweichungspoetik das Alltägliche. Primitivistisch verstanden, ist die Prosa ein der Poesie nachträgliches Phänomen. Zum Inbegriff der Nüchternheit wird sie, sobald die Poesie als Form oder Ausdruck religiöser Erfahrung angesehen wird.18 Eine wirkliche Prosatheorie konnte ein kontrastiver Gebrauch, der allein der Selbstvergewisserung des Dichterischen diente, nicht hervorbringen. Der Gebrauch, wie er sich in Hegels Vorlesungen, vornehmlich aber in denen zur Ästhetik, nachweisen lässt, schließt an diese unscharfe Begriffsgeschichte an. Dass Hegel ihn unreflektiert übernimmt, will nicht sofort einleuchten. In seinen für den Druck autorisierten Schriften wird man das Schlagwort von der ›Prosa des Lebens‹ denn auch nicht finden. Wenn es dafür in den Vorlesungen fällt, könnte dies an dem Genre selbst liegen, das zu stärkerer Veranschaulichung tendiert als die wissenschaftliche Abhandlung. In den Vorlesungen zur Ästhetik ist es nur bedingt möglich, eine von Hegel autorisierte Bestimmung des Prosaischen zu finden. Der Hauptgrund dafür ist in jener »Verflechtung von Hegelschem
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das Schlagwort von der ›Prosa des Lebens‹ nur brieflich. Während der Abfassung von Über naive und sentimentalische Dichtung schreibt er am 4.11.1795 an Herder von der »Uebermacht der Prosa«, welche die Poesie anstecke und sie zugrunde richte (Schillers Werke. Nationalausgabe. Band 28. Herausgegeben von Norbert Oellers. Weimar 1969, S. 98). An Körner schreibt er am 18.2.1802: »die Prosa des wirklichen Lebens hängt sich bleischwer an die Phantasie« (Schillers Werke. Nationalausgabe. Band. 31. Herausgegeben von Stefan Ormanns. Weimar 1985, S. 105); im Brief an Wilhelm von Humboldt vom 18.8.1803 fällt die Wendung »Prosa des Lebens« (Schillers Werke. Nationalausgabe. Band 32. Herausgegeben von Axel Gellhaus. Weimar 1985, S. 63). – Das Gefühl einer Entwertung des Dichterwortes aufgrund eines durch den technischen Fortschritt bedingten inflationären Gebrauchs der schriftlichen Rede dürfte den Reiz des Prosa-Wortes als kulturkritisches Schlagwort erhöht haben. Die medien- und kulturkritischen Implikationen der Opposition in einem Vergleich mit Benjamins ›Aura‹ reflektiert Sebastian, Thomas: Der Gang der Geschichte. Rhetorik der Zeitlichkeit in Hermann Brochs Romantrilogie ›Die Schlafwandler‹. Würzburg 1995 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 160), S. 25-36. Hegel führt diese Aspekte zusammen, wie eine Mitschrift von 1820/21 zur Vorlesung über Ästhetik belegt: »Die Poesie ist von jeher die erste Lehrerinn der Menschheit gewesen, die Art, wie der objective Inhalt, die höchsten Ideen, an die Vorstellung gebracht worden sind. Die Poesie ist der Zeit nach älter als die Prosa. Denn daß die Prosa da sey, dazu gehört, daß der Gedanke sich für sich setze, das Abstrakte sich losgerissen habe von dem Sinnlichen selbst, daß die Vorstellung sich losreiße, sich dem Daseyn des Unmittelbaren gegenüber constituiere« (Ästh. 1820/21, 291).
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und Hothoschem Gedankengut«19 zu suchen, die seitens der (sehr spät) einsetzenden philologischen Hegel-Kritik in diversen Forschungsarbeiten und Editionen kenntlich gemacht wurde.20 Vor diesem Hintergrund wird die Autorschaft jener Sätze der Ästhetik fragwürdig, die den Kampf zwischen Poesie und Prosa beschwören: Da nun aber die poetische und prosaische Vorstellungsweise und Weltanschauung in ein und demselben Bewußtsein zusammengebunden sind, so ist hier eine Hemmung und Störung, ja sogar ein Kampf beider möglich, den, wie z. B. unsere heutige Poesie beweist, nur die höchste Genialität zu schlichten vermag. (Ästh. III, 282)
Der spätere Kunsthistoriker Hotho verstärkt gern eine weltimmanente Tatsache des sozialen, politischen und ästhetischen Lebens durch das Beiwort ›prosaisch‹ oder durch ihre Genitivierung mittels des Nomens ›Prosa‹.21 Am klarsten formuliert Hotho das agonale Kunstprinzip in der _____________ 19
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Collenberg-Plotnikov, Bernadette: Einleitung. Hothos Vorstudien für Leben und Kunst als Entwurf einer ›spekulativen Kunstgeschichte‹; in: Hotho, Heinrich Gustav: Vorstudien für Leben und Kunst (1835). Herausgegeben und eingeleitet von Bernadette CollenbergPlotnikov. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung. Abteilung I: Texte 5), S. IX-LXXXV, hier S. XI. In den letzten drei Jahrzehnten sind mehrere Versuche unternommen worden, diese ›Verflechtung‹ zu entwirren. Ein Ergebnis der vergleichenden Analyse von Vorlesungsnachschriften und Hothos Edition ist, dass Hegel in seinen Vorlesungen mitnichten die Gegenwartskunst, die das alltägliche Leben zum Gegenstand hat, durchweg abwertet. Ein solcher Eindruck entsteht nur auf Grundlage der Ästhetik-Redaktion Hothos, wo die große Kunst in geschichtlich vergangenen Epochen angesiedelt ist und als einziger Gegenstand der Kunstrezeption empfohlen wird. Hegel weist der Gegenwartskunst – ob nun in Oper, Genremalerei oder Goethes Divan-Dichtung – vielmehr eine selbstreflexive Funktion für die Kultur zu, da sie das Allgemein-Menschliche behandele; vgl. Gethmann-Siefert, Annemarie: Schöne Kunst und Prosa des Lebens. Hegels Rehabilitierung des ästhetischen Genusses; in: Kunst und Geschichte im Zeitalter Hegels. Herausgegeben von Christoph Jamme unter Mitwirkung von Frank Völkel. Hamburg 1996 (Hegel-Deutungen 2), S. 115150. In seiner Fortsetzung von Hegels Ästhetik-Vorlesung aus dem Jahr 1833 definiert er das Prosaische im Kontext des ›Naturschönen‹, das er wie Hegel dem Kunstschönen gegenüberstellt. Die menschliche Gestalt als Teil des Naturschönen gelange notwendig in ihrer Entwicklung zum Hässlichen. Aber auch durch den ›Willen der Individuen‹ verliere der geistige Inhalt seine Schönheit und werde ›prosaisch‹. Das Prosaische, so Hotho, besteht darin, »daß die Zustände der geistigen Wirklichkeit dasjenige auseinanderfallen lassen, dessen Einheit das absolute Prinzip der Schönheit ausmacht. Jene Zustände sind das Allgemeine, das sich im Individuum verkörpert« (Hotho: Vorlesungen über Ästhetik (Anm. 7), S. 65). Das Prosaische manifestiere sich erstens in der ›Familie‹, im ›Gesellschaftsleben‹ und im ›Staatsleben‹ immer als äußere, starre Regel, die dem Individuum die ursprüngliche Freiheit nimmt. Zweitens meine ›prosaisch‹ die Entfremdung des Individuellen vom ›Allgemeinen‹, wenn dieses keine Bedeutung mehr habe, bzw. drittens ein nur relatives Verknüpfen beider Momente (ebd., S. 65f.). Hotho ordnet all das der Prosa zu, was den Menschen in seinem wirklichen Dasein betrifft, um zu zeigen, dass die Schönheit in Natur und im eigentlichen Leben keine »dauernde Wohnstätte« hat, sondern nur als »sich wissende Schönheit« in der Kunst (ebd., S. 66f.).
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Interpretation von Goethes Wanderjahren aus dem Jahre 1829, die in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik erschienen ist. Schon der Goethe/ Schiller-Briefwechsel (1828/29) hatte die Zeitgenossen mit Schillers Wort vom Schwanken zwischen ›poetischer und prosaischer Stimmung‹ in den Lehrjahren22 bekannt gemacht. Hotho sieht angesichts der modernen prosaischen Weltordnung die Entwicklung der Kunst als Kampf zwischen der ›Poesie des Herzens‹ und der ›Prosa der Welt‹: In Goethes Jugend, so Hotho, »galt es erst durch den Kampf gegen die für Poesie gehaltene Prosa der Gegenwart und nächsten Vergangenheit eine deutsche Poesie wieder hervorzulocken«.23 Hotho arbeitet an Goethes Jugendwerk den »Kampf gegen die ganze vorhandene Wirklichkeit«24 heraus. Die Welt deutscher Prosa sei der harte Fels, »an welchem die Woge eines tiefen, gewaltsam aufbrausenden, wild sich kräuselnden Gemüths machtlos zerschellt«.25 In den Wanderjahren jedoch komme es zu einer Versöhnung: Denn hier erscheint die Sorge für das Bestehen, den Nutzen, das Aufblühen bürgerlicher Verhältnisse, für ihr höchstes und vollstes Gedeihn der vornehmlichste Zweck. Die Poesie des Lebens soll sich friedlich, erheiternd und verschönend mit dieser tüchtigen Nützlichkeit verbinden.26
Dennoch sei der ursprüngliche ›Kampf‹ nicht gänzlich aus Goethes Blick gerückt: »Goethes poetischer Sturm geht eigentlich […] nicht gegen den Inhalt jener Verhältnisse, sondern nur gegen ihre prosaische, geistlos moralische Form«.27 Goethes Protagonist Wilhelm Meister sei jenes »poetische Gemüth, das nach […] tiefster Versöhnung aller poetischen mit den prosaischen Lebensanforderungen hinzustreben sich getrieben fühlt«.28 Auch in den autobiographischen Kunstbriefen Vorstudien für Leben und Kunst von 1835 gebraucht Hotho die Kampf-Metapher zur Darstellung des Verhältnisses zwischen Poesie und Prosa:29 Im Gegensatz zur Wander_____________ 22
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Vgl. den Brief vom 20.10.1797, worin Schiller in den Lehrjahren »ein sonderbares Schwanken zwischen einer prosaischen und poetischen Stimmung« bemerkt (Friedrich Schiller an Johann Wolfgang Goethe, 20.8br.1797; in: Schillers Werke. Nationalausgabe. Band 29. Herausgegeben von Norbert Oellers. Weimar 1978, S. 148-150, hier S. 149). Hotho, Heinrich Gustav, [Besprechung zu] Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. Zweite Ausgabe. Goethe’s Werke; vollständige Ausgabe letzter Hand. Stuttgart und Tübingen in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung; in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik (1829) Band 2, Sp. 863-876 und Sp. 881-891, hier Sp. 864. Hotho: [Besprechung zu] Wilhelm Meisters Wanderjahre (Anm. 23), Sp. 865. Hotho: [Besprechung zu] Wilhelm Meisters Wanderjahre (Anm. 23), Sp. 865. Hotho: [Besprechung zu] Wilhelm Meisters Wanderjahre (Anm. 23), Sp. 870. Hotho: [Besprechung zu] Wilhelm Meisters Wanderjahre (Anm. 23), Sp. 870. Hotho: [Besprechung zu] Wilhelm Meisters Wanderjahre (Anm. 23), Sp. 872. Zwar betont Hotho in der Karl Rosenkranz gewidmeten Vorrede zu den Vorstudien für Leben und Kunst die Notwendigkeit der Prosa für die Gegenwart (Hotho, Heinrich Gustav: Vorstudien für Leben und Kunst (1835). Herausgegeben und eingeleitet von Bernadette Collenberg-Plotnikov. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Spekulation und Erfahrung. Abtei-
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jahre-Interpretation ist die Semantik des Prosaischen und der Prosa für Hothos ästhetische Ansichten inhaltlich-pejorativ bestimmt.30 Hotho akzentuiert vor allem eine Seite des Prosa-Begriffes. Sie situiert sich auf Ebene des ›Weltzustandes‹, und Hegel hat eine klare Beschreibung davon schon recht früh gegeben (ohne jedoch das Zeitgeist-Wort ›Prosa‹ zu nennen). In der Differenzschrift von 1801 lautet der Konflikt: Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet, und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.31
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lung I: Texte 5), S. 5) und hält es für eine Torheit, »von der unmittelbaren Gegenwart des Daseins auch außerhalb der Kunst eine durchweg poetische Beseelung zu fordern« (ebd.). Dennoch besteht der Zweck seiner Schrift darin, die Aufgabe von Poesie und Wissenschaft als den Kampf zwischen Poesie und Prosa sowie den Versuch ihrer Versöhnung darzustellen (ebd., S. 6). Die Veranschaulichung dieser Tendenz beginnt mit Mozarts Don Giovanni (Hotho: Vorstudien für Leben und Kunst (Anm. 29), S. 16-18): »Von seinen Lippen klingt das Zauberwort einer Poesie des Lebens, die aller Prosa entlastend, wie auf leichten Flügeln, weit über den Druck des Daseins forthebt; aber von dem erdichteten Gipfel plötzlich niedergesunken fühlen sich die so lieblich Gereizten zerschmettert auf dem harten Felsboden wirklicher Schmerzen« (ebd., S. 17, vgl. auch S. 27). Im Figaro veredele Mozart das »prosaisch lose Getreibe« Beaumarchais’ zu einer Poesie, welche, da die Liebe der Grundklang aller Gemüter ist, jede Schuld wieder reinigt und versöhnt« (ebd., S. 54). Um zu beschreiben, wie sich seine an Mozart orientierten künstlerischen Versuche ausnahmen, wählt Hotho folgendes Bild: »Erschreckt fielen mir die wächsernen Flügel des Ikarus ein, und da ich ein Meer der Prosa sich immer weiter vor mir ausbreiten sah, hemmte ich so schnell als möglich den abenteuerlichen Flug« (ebd., S. 114). Gegenüber der romantischen »Apotheose der Poesie« hegt Hotho Sympathien. Bevor sich Kunst, Religion und Poesie verschwistern, müsse aber, so das Programm des Novalis, »alles in der Welt prosaisch Geordnete und Erstarrte zu einem zweiten Chaos zusammenbrechen« (ebd., S. 118). Es ist die agonale Stellung der Kunst gegenüber der Welt (d. h. der Prosa), die sie zu ihren höchsten Leistungen treibe. In der Gegenwart herrsche die »kahlste Prosa der Aufklärung« (ebd., S. 60), die Evokation des Mittelalters verschwinde vor »Maschinenherrschaft und Fabrikenprosa« (ebd., S. 175). Besonders die deutsche Poesie sei erstarkt im Kampfe gegen die Prosa der Außenwelt. Die neueste Zeit sei im Inneren prosaisch, und die Kunst vermöge »nur nach Bekämpfung dieses ursprünglichen Feindes […] wieder zu erstehen« (ebd., S. 206). Das letzte Drittel der autobiographischen Kunstbriefe ist darum bemüht, »den Streit von Prosa der Außenwelt und Poesie des Gemütes« (ebd., S. 207) am Verlauf der deutschen Literaturgeschichte zu beleuchten. Ludwig Tiecks ironische Kritik entlarve nicht nur das Wesen der Prosa, sondern schaffe in den besten Momenten »lieblichste Poesie der Empfindung« (ebd., S. 277). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801). In: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Band 2: Jenaer Schriften. 1801-1807. Frankfurt/M. 1986 (stw 602), S. 7138, hier S. 22; Peter Szondi (Hegels Lehre von der Dichtung; in: Szondi, Peter: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Herausgegeben von Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt/M. 1974 (stw 40), S. 267-511, hier S. 333) sieht diese Passage bei Hegel in Parallele zu Marx’ Begriff der ›Arbeitsteilung‹ und weist auf die gleiche Problematik auch in Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung und in Goethes Wilhelm Meister hin (ebd.).
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Man könnte ergänzen: ›und schwindet das Bedürfnis der Poesie‹. In der Ästhetik bestimmt sie Hegel u. a. als ein Wissen, welches das Allgemeine noch nicht von seiner lebendigen Existenz im einzelnen trennt, Gesetz und Erscheinung, Zweck und Mittel einander noch nicht gegenüberstellt und aufeinander dann wieder räsonierend bezieht, sondern das eine nur im anderen und durch das andere faßt. (Ästh. III, 240)
Schon 1823 hieß es in einer Vorlesungsmitschrift Hothos zur Ästhetik: »Erst mit der absoluten Freiheit und der absoluten Religion tritt die eigentliche Prosa ein, denn zu ihr gehört die freie Subjektivität des Individuums« (PdK 1823, 125). Vom prosaischen ›Weltzustand‹ ausgehend, lassen sich verschiedene Verwendungsweisen ableiten.32 Ob er allerdings, wie von Hotho intendiert, von Hegel an die oberste Stelle in der Bedeutungshierarchie von ›Prosa‹ gesetzt worden ist, erscheint mir zweifelhaft. Hothos polemische Einengung von Hegels Prosa-Begriff auf den ›Weltzustand‹ erklärt einmal die suggestive Aufwertung der Poesie für die Gegenwart (immerhin war Hotho nicht Philosoph, sondern Kunsthistoriker und hatte damit ein größeres Interesse, die Kunst in ihr Recht zu setzen, als Hegel). Die polemisch bedingte Verengung Hothos erklärt aber auch die Verkürzung des Prosa-Begriffes in seiner späteren Rezeption.33 Tatsächlich jedoch bildet _____________ 32
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Vgl. ausführlich, vor allem im Kontext der französischen Diskussion des 18. und 19. Jahrhunderts Nies, Fritz: Poesie in prosaischer Welt. Untersuchungen zum Prosagedicht bei Aloysius Bertrand und Baudelaire. Heidelberg 1964 (Studia Romanica 7), S. 12-28. – Mit dem prosaischen ›Weltzustand‹ ist nach Nies zweitens eine prosaische, verstandesmäßige Auffassungsform verbunden, die drittens auf Zweckmäßigkeit ausgerichtet ist. Die prosaische Auffassungsform wird viertens mit der historischen Epoche der Moderne gleichgesetzt, so dass Wirklichkeit im Unterschied zur Antike nicht poetisch, sondern prosaisch begriffen ist (›Wirklichkeit ist Prosa‹, Grillparzer). Eng damit verbunden ist fünftens die Auffassung von der Prosa als Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit. Daraus wiederum ergibt sich sechstens ein prosaischer Stil, zu dem im Unterschied der moderne poetische Stil den außergewöhnlichen, nicht alltäglichen, vor allem aber uneigentlichen metaphorischen Ausdruck favorisiert. In vormoderner, antiker Zeit waren Poesie und Prosa eins, d. h. die Poesie musste sich nicht polemisch behaupten, sondern war reines Hervorbringen. Die formale Unterscheidung in gebundene und ungebundene Rede spielt siebentens eine untergeordnete Rolle, da die differentia specifica in der Form der Auffassung liegt. – Versteht man Poesie formalistisch im Sinne Roman Jakobsons (als Realisierung des Äquivalenzprinzips auf der Sequenz), dann wäre eine Sprache, nur weil sie ungebunden ist, nicht notwendig Prosa. Auch Dichtung, die nicht in Versen abgefasst ist, gehorcht auf einer höheren als der metrischen Ebene bestimmten Wiederholungsmustern und unterliegt damit Zwängen. Insofern trifft die Definition der Poesie als gebundener Rede völlig auf Novellen oder Romane zu. Wahre ›Prosa‹ liegt erst dann vor, sobald die Rede tatsächlich nur nach vorn gerichtet (prosa) verläuft und keine ihrer Elemente sich wiederholen bzw. wenn die Wiederholungen kontingent sind. Szondi schreibt: »Nun gilt es noch zu erkennen, daß es sich dabei für Hegel weder um einen gänzlich anderen Prosa-Begriff, noch etwa um eine bloß metaphorische Verwendung des Begriffs aus der Poetik handelt, sondern um einen und denselben Begriff, der dieselbe
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der ›Weltzustand‹ nicht den eigentlichen semantischen Ausgangspunkt, sondern nur eine konkrete Ableitung von einer sehr allgemeinen Bedeutung, die mir bislang zu wenig beachtet worden zu sein scheint, aber maßgeblich für alle weiteren Verwendungsweisen ist.
4. Prosa als ›Logos‹ Wenn Hegel weniger der formalen Bedeutung des Wortes Aufmerksamkeit schenkt als vielmehr eine Auffassungsweise akzentuiert, versteht er das Wort nicht in seiner lateinischen Bedeutung als fortschreitende, auf keiner Wiederholungsstruktur basierende Rede (oratio soluta). Für Hegel ist Prosa vielmehr eine mögliche (latinisierte) Form des griechischen λόγος. Prosa, ließe sich verkürzen, ist die Form der Vernunft. Das Allgemeine Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften von 1833 führt dazu aus: »Wiefern λόγος auch die Vernunft bedeutet, könnte man den Philosophen als einen Darsteller und Entwickler der Ideen und Principien der Vernunft einen Logographen nennen«.34 ›Logographie‹ meint aber auch das Schreiben von Erzählungen, prosaischen Reden, ja Schrift überhaupt. Die Sprachlichkeit ist dabei mitgedacht. Wenngleich, wie Rüdiger Bubner betont, in Hegels Wissenschaft von der Logik die Sprache keine explizite Berücksichtigung erfährt, »weil sie unter der Last der Rekonstruktion der Metaphysik als Theorie des Absoluten verschwindet«,35 kommt sie implizit und ungewollt im Konzept der ›Prosa‹ wieder zum Vorschein. Der Zusammenhang von Prosa und Logos ist Hegel möglicherweise durch Friedrich Creuzer vermittelt worden, dessen Werk Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung von 1803 er schon für die Phänomenologie des Geistes rezipiert hat.36 Die zentrale Stelle bildet, ausgehend von antiken Quellen, die Umschreibung des ›pezos logos‹ (der _____________ 34
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Tatsache erfassen soll – eine Form sowohl des allgemeinen Weltzustandes, wie Hegel sagen würde, als auch der Kunst« (Szondi: Hegels Lehre von der Dichtung (Anm. 31), S. 488). Krug, Wilhelm Traugott: ›Logographie‹; in: Krug, Wilhelm Traugott: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte. Faksimile-Neudruck der zweiten, verbesserten und vermehrten Auflage Leipzig 1832-1838. Zweiter Band: F – M. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969, S. 747. Bubner, Rüdiger: Von der Sprache zur Logik und zurück; in: Von der Logik zur Sprache. Stuttgarter Hegel-Kongreß 2005. Herausgegeben von Rüdiger Bubner und Gunnar Hindrichs. Stuttgart 2007 (Veröffentlichungen der Internationalen Hegel-Vereinigung 24), S. 1527, hier S. 24. – Bubners These für Hegel lautet: »Die Sprache ist das Werk des Verstandes, das Werk der Vernunft aber ist die Spekulation« (ebd., S. 22). Hier zitiert nach Creuzer, Friedrich: Die historische Kunst der Griechen in ihrer Entstehung und Fortbildung. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage, besorgt von Julius Kayser. Leipzig – Darmstadt 1845.
Hegels Literaturbegriff und die ästhetische Erfahrung des Absoluten
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herabgestiegenen Rede). Durch verschiedene Zeichen gebe sie zu erkennen, so Creuzer, dass sie von jener ideellen Höhe der Phantasie herabgestiegen sei und den Boden der Erfahrung betrete, dass sie in die mannigfaltigen Weltverhältnisse eingehe und sich dem Leben nähere, dass sie Bedürfnisse befriedige und vorgesetzte Zwecke erfülle.37
Das Verständnis der Prosa als Vernunft ist nicht originell.38 Hegels Gebrauch ist allerdings konsequent, und alle seine semantischen Ableitungen von Prosa haben ihren Grund in der Vernunft. Wie das obige Zitat aus der Differenzschrift zeigt, ist mit dem prosaischen, entzweiten Zustand der Welt das Bedürfnis der Philosophie immer schon verbunden. Prosa der Welt ist also eine Möglichkeit für die Freiheit des Denkens. Neben der literarisch-formalen Verwendung für die ungebundene Rede und der Bezeichnung des modernen ›Weltzustandes‹ intensiviert Hegel mit ›Prosa‹ oder dem ›Prosaischen‹ eine Tätigkeitsform des Bewusstseins – einen ›Stil des Begreifens‹.39 Gegenüber der ›Poesie der Vorstellung‹ steht die ›Prosa des Denkens‹. Die Kunst, auf ihrer höchsten Stufe, erreiche diese sogar (Ästh. I, 123). Die Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, die Hegel neunmal gehalten hat und die bis in das Jenenser Wintersemester von 1805/06 zurückgehen,40 geben ein Beispiel für die zentrale Bedeutung von Hegels Gebrauch. Hegels Geschichte der Philosophie beruht zu einem großen Teil auf Diogenes Laertius’ Leben und Lehren der Philosophen. Die ›Prosa‹ taucht darin mit dem Philosophen Anaxagoras auf, der das Licht der Vernunft in die Welt gebracht habe und mit dem die antike Aufklärung einsetze. Anaxagoras wurde, wie nach ihm Sokrates, angeklagt, die Welt entgöttert zu haben. Hegel schreibt: »[E]s tritt der Gegensatz der Prosa des Verstandes gegen die poetisch religiöse Ansicht ein. Bestimmt wird […] erzählt, Anaxagoras habe die Sonne und die Sterne für glühende Steine gehalten«.41 Hegel verweist für diese Überlieferung auf Diogenes Laertius, nach _____________ 37 38
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Creuzer: Die historische Kunst (Anm. 36), S. 143. Wielands Übersetzung der Shakespeare-Wendung »neither rhyme nor reason« (As you like it, 3. Akt. 2. Szene) mit »weder Prose noch Reimen« (Shakespeare, William: Wie es euch gefällt; oder, die Freundinnen; ein Lustspiel. In: Wielands Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 2. Abteilung: Übersetzungen. 1. Band: Shakespeares theatralische Werke. Erster und zweiter Teil. Herausgegeben von Ernst Stadler. Berlin 1909, S. 180-242, hier S. 218) erinnert an den konventionellen Charakter einer solchen Bedeutung. Vgl. Heller, Erich: Der Dichter im Zeitalter der Prosa; in: Heller, Erich: Im Zeitalter der Prosa. Literarische und philosophische Essays. Frankfurt/M. 1984, S. 9-29, hier S. 10. Allerdings sind die erhaltenen Skripte Hörermitschriften aus den späteren Berliner Jahren. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Herausgegeben von Dr. Carl Ludwig Michelet. Erster Theil. Zweite verbesserte Auflage. Berlin 1840, S. 351.
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dessen Worten Anaxagoras gesagt hat, dass sich der ganze Himmel aus Steinen zusammensetze. Unmittelbar im vorausgehenden Satz steht bei Diogenes ein in diesem Kontext merkwürdiger Hinweis: »Anaxagoras hat auch zuerst ein geschriebenes Buch herausgegeben«.42 Hegel integriert die Tat des Anaxagoras in seine dualistische Vorstellungswelt von der ›Prosa des Verstandes‹ und der ›Poesie der religiösen Ansicht‹. Er begreift mit ihm allgemein das Wirken der Naturphilosophen. Sie ›entgötterten die Natur‹ und zogen die poetische Ansicht »zur prosaischen herab«.43 Für Hegel entsprach der »Uebergang solcher mythischen Ansicht zur prosaischen« dem neuen Bewusstsein der Athener, bei denen der Geist zum Bewusstsein seiner selbst gekommen sei. In den Vorstellungen der Philosophen seit Thales sei das ›Gemeinschaftliche‹, daß die Natur, wie man es nennt, durch sie entgöttert worden sei, daß die schöne Poesie, Phantasie der Griechen zur Prosa herabgesetzt worden sei oder daß sie diese Gegenstände, Gestirne usf. erklärt haben für bloße Dinge, wie wir sie auch dafür halten; d. h. sie sind uns Dinge, dem Geist äußerliche Gegenstände, geistlose Gegenstände.44
Hegel leitet im Anschluss daran das Denken etymologisch von ›Ding‹ ab. Das Denken – wo »der Geist sich als die wahrhaft seiende Identität seiner und des Seienden«45 wisse – setze Vorstellungen, die man »göttlich oder poetisch« nennt, zu Dingen, Geistlosem, Prosaischem herab.46 Die Prosa der Welt ist die notwendige Folge, wenn der Geist verinnerlicht wird. Damit aber wird implizit die Prosa zur sprachlichen Form der Philosophie erklärt. _____________ 42
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Diogenes Laertius: Von den Leben und den Meinungen berühmter Philosophen. Aus dem Griechischen von D. L. Aug[ust Christian] Borheck. Erster Band. Wien – Prag 1807, S. 105. – Nach Otto Apelt ist Anaxagoras der Erste gewesen, »der ein Buch in Prosa herausgab« (Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. 1. Band: Buch I-VI. Übersetzt aus dem Griechischen von Otto Apelt. Berlin 1955 (Philosophische Studientexte), S. 78). Fritz Jürß, ausgehend von »βιβλίον ἐξέδωκε συγγραφαῆς«, schreibt, Anaxagoras habe als erster »Aufzeichnungen« von Metrodor von Lampsakos herausgebracht, »der sich als erster mit der Naturkunde Homers beschäftigte« (Diogenes Laertios: Leben und Lehre der Philosophen. Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Fritz Jürß. Stuttgart 1998 (rub 9669), S. 96), und bezeichnet die Stelle als ›schwierigen Passus‹, wobei er auf Marcello Gigantes Vite dei filosofi (Rom – Bari 1962) hinweist, der ›ἔν‹ bzw. ›ὅλον‹ ergänzt. Daraus kann man machen: »Anaxagoras habe sein Werk in einer vollständigen Buchrolle – ohne Unterteilung – publiziert« (ebd., S. 515). Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 1 (Anm. 41), S. 352. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Teil 2: Griechische Philosophie. I. Thales bis Kyniker. In: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Band 7. Herausgegeben von Pierre Garniron und Walter Jaeschke. Hamburg 1989, S. 97. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 2 (Anm. 44), S. 97. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 2 (Anm. 44), S. 97.
Hegels Literaturbegriff und die ästhetische Erfahrung des Absoluten
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5. Der Anfang der Literatur Im Erkenntnisprozess des Geistes mit sich selbst folgt auf das Ende der Kunstreligion der Anfang der Philosophie. In diesem Sinne ließe sich die Bedeutung der Differenz von Poesie und Prosa formalisieren: Das Ende der Poesie wäre dann der Anfang der Prosa. Eine solche Zuspitzung geht über Hegel schon allein deshalb hinaus, weil, wie gesehen, ›Prosa‹ nicht wirklich ein von Hegel reflektierter Begriff und sein Gebrauch nicht immer autorisiert, sondern zunächst ein Schlagwort des Zeitgeistes ist, welches jedoch im Gebrauch des Systemdenkers Hegel seinen polemischen Zug verliert. Dennoch scheint mir ein solches Verhältnis der beiden Seiten des Literaturbegriffs im Werk angelegt zu sein. Im gegenwärtigen Verständnis ist die Opposition von Poesie und Prosa, die den ›Literatur‹-Begriff um 1800 markierte, obsolet. Weder führt die Behauptung des modernen, ausdifferenzierten Weltzustandes notwendig dazu, einen poetischen dagegenzusetzen, noch würde man auf Ebene der ›Prosa‹ den Unterschied zwischen Poesie und Prosa als Ausdruck zweier verschiedener Bewusstseinszustände deuten wollen. Die modernen psychologischen Wissenschaften boten solchen Spekulationen Einhalt. Jede Bestimmung des Unterschiedes wird daher von einer formalen Beobachtung ihren Ausgang nehmen müssen.47 Die Scheidung einer poetischen von einer prosaischen Betrachtungsweise kann dennoch als ein heuristisches Hilfsmittel der individualpsychologischen oder textsortenspezifischen Analyse von Literatur dienlich sein, jedoch bliebe ihre geschichtsphilosophisch hegelianische Deutung zu pauschal. Innerhalb von Hegels metaphysischer Kunstauffassung hat sich gezeigt, dass die Differenz von Poesie und Prosa die Systemphilosophie stabilisiert und dazu beiträgt, einer eigentlichen Kunstreligion den Möglichkeitsraum in Gegenwart und Zukunft zu verschließen. Andererseits ist für Hegel die Möglichkeit ihrer Aufhebung (als des Übergangs der Poesie in die ›Prosa des Denkens‹) nicht völlig unbekannt gewesen. Die eigentliche Reflexion in einem Philosophie und Dichtung zusammenführenden Literaturbegriff unterblieb jedoch. Die Dichtkunst, die für Hegel wie die Religion in der sinnlichen ›Vorstellung‹ gründet, ist nur einmal probates und gegenüber der Philosophie privilegiertes Mittel zur Erfahrung des Absoluten gewesen, wobei in diesem frühen Fall das Dichten noch als Form des Anschauens verstanden _____________ 47
Giorgio Agamben z. B. bestimmt die ›Idee der Prosa‹ negativ, in der Unmöglichkeit des Enjambements (vgl. Agamben, Giorgio: Idee der Prosa. Aus dem Italienischen von Dagmar Leupold und Clemens-Carl Härle. Nachwort von Reimar Klein. Mit farbigen Abbildungen. Frankfurt/M. 2003 (bibliothek suhrkamp 1360), S. 21-24).
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Alexander Nebrig
wird. In dem Hölderlin gewidmeten Gedicht Eleusis, das im August 1796 entstand, beschreibt Hegel mit dichterischen Mitteln die Erfahrung des Absoluten als Auflösung des Ich. Bezeichnenderweise sind die Verse im Manuskript gestrichen: (Der Sinn verliert sich in dem Anschaun, Was mein ich nannte, schwindet, Ich gebe mich dem Unermeßlichen dahin, Ich bin in ihm, bin alles, bin nur es. Dem wiederkehrenden Gedanken fremdet, Ihm graut vor dem Unendlichen, und staunend faßt Er dieses Anschauns Tiefe nicht. Dem Sinne nähert Phantasie das Ewige, Vermählt es mit Gestalt).48
Als Philosoph wird Hegel die sinnliche Anschauung der Kunst sowie die poetisch-religiöse Vorstellung – jene »synthetische Verknüpfung des selbstbewußten und des äußern Daseins« – gegen die Reinheit des begrifflichen Denkens ausspielen,49 wofür die Aufspaltung des Begriffs ›Literatur‹ in Poesie und Prosa eine nicht unbedeutende strukturelle Voraussetzung darstellt.
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Eleusis. An Hölderlin (August 1796); in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Band 1: Frühe Schriften. Frankfurt/M. (stw 601), S. 200-233, hier S. 231. – Manfred Züfle (Prosa der Welt. Die Sprache Hegels. Einsiedeln 1968) hat Hegels philosophische Sprache auf ihren Zusammenhang mit der Poesie untersucht; zu Eleusis vgl. ebd., S. 269-301. Hegel: Phänomenologie des Geistes (Anm. 14), S. 475. – Dieses Zitat entstammt dem Kapitel zur ›Kunstreligion‹, die geschichtlich zwischen ›Naturreligion‹ und ›offenbarter Religion‹ steht. Hegel erörtert das »geistige Kunstwerk« (ebd., S. 474-488) und formuliert den Unterschied zwischen Poesie und Philosophie sehr genau: »Es ist nicht mehr das wirkliche Tun des Kultus, sondern ein Tun, das zwar noch nicht in den Begriff, sondern erst in die Vorstellung, in die synthetische Verknüpfung des selbstbewußten und des äußern Daseins erhoben ist. Das Dasein dieser Vorstellung, die Sprache, ist die erste Sprache, das Epos als solches, das den allgemeinen Inhalt, wenigstens als Vollständigkeit der Welt, ob zwar nicht als Allgemeinheit des Gedankens enthält« (ebd., S. 475).
MARCO CASTELLARI
»Religion ist Liebe der Schönheit« Natur- und Kunstreligion in Hölderlins Hyperion Denn lange schon steht offen Wie Blätter, zu lernen, oder Linien und Winkel Die Natur Friedrich Hölderlin: Griechenland Die Vorrede zur vorletzten Fassung von Friedrich Hölderlins Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland, die wohl bis Ende 1795 entstanden ist,1 stellt unter anderem eine vorbeugende Verteidigungsrede dar, in der ›Der Herausgeber‹ den Leser ausdrücklich bittet, die darauf folgenden Briefe für nichts weiter, als für notwendige Prämisse anzusehn, und sich mit guter Hoffnung zu trösten, wenn man z. B. über den Mangel an äußerer Handlung gähnen und auch das Wenige, was von dieser Seite vielleicht befriedigen könnte, planlos, unnatürlich finden möchte. (DKV II, 256)
Seiner Sache etwas gewisser, sollte der nicht namentlich gezeichnete Vorredner zum 1797 erschienenen ersten Band der endgültigen Fassung solche excusationes in einen poetologisch strikteren Rahmen einfügen und dem Leser ex negativo die richtige Rezeptionshaltung aufzeigen. Die berühmten Worte lauten: Ich verspräche gerne diesem Buche die Liebe der Deutschen. Aber ich fürchte, die einen werden es lesen, wie ein Compendium, und um das fabula docet sich zu
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Da noch im Brief vom 15. Mai 1796 an Cotta von einem Anfang des Manuskripts die Rede ist, den der Verleger schon vorliegen hat und Hölderlin zurück verlangt, um eine Kürzung des ganzen Romans vorzunehmen, gehen sowohl Friedrich Beißner (Stuttgarter Ausgabe) als auch Jochen Schmidt (DKV) davon aus, dass Hölderlin noch in jenem Frühling 1796 an der vorletzten Fassung arbeitet, mit der er im August 1795 begonnen hat. Dietrich Sattler und Michael Knaupp, die Herausgeber der Hyperion-Bände in der Frankfurter Ausgabe, sehen hingegen den Herbst 1795 als terminus ad quem. Die Vorrede stammt jedenfalls höchstwahrscheinlich aus den ersten Nürtinger Monaten, in denen Hölderlin durch den Rückgriff auf die in den mittleren Entstehungsstufen aufgegebene Briefform den entscheidenden Schritt in Richtung auf die endgültige Romanfassung macht. – Zur Entstehungs- und Editionsgeschichte der verschiedenen Romanfassungen vgl. Castellari, Marco: Friedrich Hölderlin. Hyperion nello specchio della critica. Milano 2002 (Germanistica Critica Letteraria), S. 39-52.
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Marco Castellari
sehr bekümmern, indes die andern gar zu leicht es nehmen, und beede Teile verstehen es nicht. Wer bloß an meiner Pflanze riecht, der kennt sie nicht, und wer sie pflückt, bloß, um daran zu lernen, kennt sie auch nicht. Die Auflösung der Dissonanzen in einem gewissen Charakter ist weder für das bloße Nachdenken, noch für die leere Lust. (DKV II, 13)2
Vom »gewissen Charakter« des Protagonisten, dem die »Auflösung der Dissonanzen« in Aussicht gestellt ist, heißt es im Folgenden nur, aber prägnant, dass er ein ›elegischer‹ sei (vgl. DKV II, 13). Viel ausführlicher und auf die möglichen Reaktionen seiner Leser bedachter hat ›der Herausgeber‹ der zwei Jahre davor verfassten Vorrede den fiktiven Erzähler und Protagonisten des Briefromans beschrieben: Auch wird man manches Unverständliche, Halbwahre, Falsche in diesen Briefen finden. Man wird vielleicht sich ärgern an diesem Hyperion, an seinen Widersprüchen, seinen Verirrungen, an seiner Stärke, wie an seiner Schwachheit, an seinem Zorn, wie an seiner Liebe. Aber es muß ja Ärgernis kommen. – (DKV II, 256)3
Der weitere Wortlaut dieser Vorrede spezifiziert dann, inwiefern solche ›Widersprüche‹ und ›Verirrungen‹ als notwendige Etappen der ›exzentrischen Bahn‹ zu betrachten sind, die nicht nur Hyperion, sondern wir alle durchlaufen müssen, da »kein anderer Weg […] von der Kindheit zur Vollendung« (DKV II, 256) möglich ist. Das mathematisch-astronomische Bild der ›exzentrischen Bahn‹ wird schon in der Vorrede zum Fragment von Hyperion (1794) im anthropologischen Sinne verwendet,4 und die Frage, ob und wie es als Schlüsselwort für die Gesamtkonzeption des Romans zu _____________ 2
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Die Anspielung auf die Formel der Ars poetica (»aut prodesse volunt aut delectare poetae«) ist somit in eine für Hölderlin typische weder/noch-Struktur umgewandelt, welche wohl die Schlussformel »sondern beedes in Einem« impliziert (so etwa im Aufsatz Über Religion; in: DKV II, 563-569, hier 568; vgl. dazu Franz, Michael: Theoretische Schriften; in: Kreuzer, Johann (Hrsg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart – Weimar 2002, S. 224-246). – Die negativ besetzten Attribute ›bloß‹ und ›leer‹ würden dann entfallen; der ideale Leser sollte zugleich ›riechen‹ und ›lernen‹, sowohl über die ›Auflösung der Dissonanzen‹ nachdenken als auch wertvolles Vergnügen daran haben. Nur ist hier, anders als in der horazischen Formel, ein solcher harmonischer Ausgleich zumindest in der Gegenwart nicht zu erringen, vielleicht gar überhaupt nur im Reich des Unmöglichen verankert. Auch das Christus-Wort »Es mus ja ergernis komen« kann im poetologischen Sinne gelesen werden (›Ärgernis‹ als notwendige Dissonanz auf dem Weg zur Auflösung); eine Verbindung zum ursprünglichen Zitatkontext (Mt 18, 1-7) unter ebenfalls stark gewandeltem Vorzeichen könnte auch der im weiteren Wortlaut der Vorrede angesprochene Kindheitsdiskurs herstellen (»Warlich ich sage euch | Es sey denn | das jr euch vmbkeret | vnd werdet wie die Kinder | so werdet jr nicht ins Himelreich komen«). »Die exzentrische Bahn, die der Mensch, im Allgemeinen und Einzelnen, von einem Punkte (der mehr oder weniger reinen Einfalt) zum andern (der mehr oder weniger vollendeten Bildung) durchläuft, scheint sich, nach ihren wesentlichen Richtungen, immer gleich zu sein« (DKV II, 177).
Natur- und Kunstreligion in Hölderlins Hyperion
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verstehen sei, hat bekanntlich die Hyperion-Forschung lange beschäftigt, genauso wie sein Verhältnis zur bereits erwähnten musikalischen Metapher der ›Auflösung der Dissonanzen‹, die es in der Vorrede der endgültigen Fassung ersetzt.5 Beiden Gedankenfiguren gemeinsam ist jedenfalls die vereinigungsphilosophische Vorstellung, welche die Vorrede zur vorletzten Fassung, das Erlebnis des Hyperion verallgemeinernd, mit Formulierungen erörtert, die brieflichen und theoretischen Äußerungen Hölderlins ähneln und berühmte Passagen des Briefromans vorwegnehmen, unter anderem den immer wieder (auch im Titel meines Beitrags) zitierten ›Athenerbrief‹. Die exzentrisch-dissonante Bedrängnis des Helden (wie aller Menschen) ist dadurch bedingt, dass wir uns »vom friedlichen Εν και Παν der Welt« losgerissen haben – aus diesem Verlust, aus dieser jedem Bewusstsein vorausgegangenen Trennung, entspringen sowohl der gegenwärtige »Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt« als auch das »Ziel all’ _____________ 5
Ich werde im Folgenden nur auf ausgewählte Studien Bezug nehmen, die für den Gedankengang dieses Beitrags von Belang sind. Für eine Erörterung der über 200 Jahre langen Rezeptionsgeschichte des Hyperion von den ersten Rezensionen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts verweise ich auf Castellari: Friedrich Hölderlin (Anm. 2). – Die seit den 1960er Jahren vorherrschende Interpretationslinie des Romans als klassischer Umsetzung (früh-) idealistischer Philosophie in die künstlerische Geschlossenheit einer Zwei-EbenenStruktur, welche die gelingende Entwicklung des erzählenden Hyperion über die Dissonanzen des erlebenden Hyperion hinaus bis zur Erlangung existentieller und dichterisch fruchtbarer Ruhe ermöglicht, resümiert Ryan, ohne jedoch über die Ergebnisse der eigenen – zugegeben Epoche machenden – Monographie aus dem Jahr 1965 hinauszublicken (vgl. Ryan, Lawrence: Hyperion oder Der Eremit in Griechenland; in: Kreuzer, Johann (Hrsg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart – Weimar 2002, S. 176-197). – Unter den seitdem erschienenen Untersuchungen sind zwei sich ergänzende Studien besonders hervorzuheben: Bay, Hansjörg: ›Ohne Rückkehr‹. Utopische Intention und poetischer Prozeß in Hölderlins Hyperion. München 2003, die sich gerade gegen benanntes teleologisches Entwicklungsprinzip auf eine poststrukturalistisch geschulte Suche nach Aporien und Brüchen in Hyperions Lebens- und Schreibensweg macht, und Stiening, Gideon: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman ›Hyperion oder der Eremit in Griechenland‹. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 105), die ihrerseits eine transzendentalphilosophische Lektüre anhand neuester Forschungen in Sachen ›Hölderlin und Idealismus‹ durch detaillierte Textanalyse zu erneuern versucht. – Einzelne wichtige Impulse konnten auch weitere Dissertationen geben, insbesondere Bassermann-Jordan, Gabriele von: ›Schönes Leben! Du lebst, wie die zarten Blüthen im Winter …‹. Die Figur der Diotima in Hölderlins Lyrik und im Hyperion-Projekt. Theorie und dichterische Praxis. Würzburg 2004 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 473) sowie Feil, Doris: Stufen der Seele. Erkenntnistheoretische Darstellung in Goethes ›Werther‹ und Hölderlins ›Hyperion‹. Oberhausen 2005 (Beiträge zur Kulturwissenschaft 5). – Eine heilsame Rekontextualisierung des Hyperion in den romanästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts findet sich – notwendigerweise knapp – in Reitani: La ›terra incognita del romanzo‹ (Anm. *); gerade auch im Hinblick auf die musikalische Metapher der ›Auflösung der Dissonanzen‹ kann auf Reitanis Edition und Kommentar der HyperionTexte im zweiten Band der von ihm herausgegebenen italienischen Hölderlin-Ausgabe nur gespannt gewartet werden.
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unseres Strebens«, besagten Widerstreit »zu endigen, […] uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unendlichen Ganzen« (DKV II, 256). Dorthin, »wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist«, gelangen aber »weder unser Wissen, noch unser Handeln«: Der »Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft«, das »Sein, im einzigen Sinne des Worts« (DKV II, 256), ist dem Denken uneinholbar. Dass er eine »Ahndung von jenem unendlichen Frieden« (DKV II, 256f.) hat, der sich nur im Modus der Abwesenheit denken und erleben lässt, und dass er nach der Vereinigung eifert, ohne sie je theoretisch oder praktisch erfahren zu können, verdankt der Mensch allein, wie es im Brief vom 24. Februar 1796 an Friedrich Immanuel Niethammer heißt, seinem »ästhetischen Sinn« (DKV III, 225). Es ist die ebendort erwähnte ›intellektuale Anschauung‹, die dem Menschen den Zugang zur Ganzheit des Seins ermöglicht.6 Diese intuitive Fähigkeit der Wahrnehmung erfasst die in der Immanenz der Welt bzw. der Natur situierte Ganzheit: Wie die Vorrede zur vorletzten Romanfassung auf dem Höhepunkt des pathetisch aufgeladenen Schlussteils verkündet, ist nämlich »jene unendliche Vereinigung, jenes Sein […] vorhanden – als Schönheit« (DKV II, 257).7 Neben den bereits erwähnten Anklängen an Formulierungen, die in Briefen Hölderlins an Friedrich Schiller (4. September 1795) und an Friedrich Immanuel Niethammer (24. Februar 1796) auftauchen,8 sind hier _____________ 6 7
8
Vgl. auch die allererste Verwendung des Begriffs in Hölderlins fragmentarischem Aufsatz von 1795 ›Urteil und Sein‹ (DKV II, 502f.; in anderen Ausgaben unter abweichenden Titeln, die der abweichenden Reihenfolge der Textpartien entsprechen). Zur ›Säkularisation des Schönen‹ in Hölderlins Werk vgl. Schröder, Thomas: Poetik als Naturgeschichte. Hölderlins fortgesetzte Säkularisation des Schönen. Lüneburg 1995 (Kritische Studien 7). – Schröder konstatiert im Hyperion »eine Aufwertung der schon fast verloren geglaubten Bedeutung von Kunst in der Neubestimmung ihres Verhältnisses zur Religion« (ebd., S. 67). »[…] ich suche zu zeigen, daß die […] Vereinigung des Subjekts und Objekts in einem absoluten – Ich oder wie es man nennen will – zwar ästhetisch, in der intellektualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich ist, wie die Annäherung des Quadrats zum Zirkel […]« (Friedrich Hölderlin an Friedrich Schiller, 4. September 1795; in: DKV III, 203f., hier 203); außerdem: »in den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subjekt und dem Objekt, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, – theoretisch, in intellektualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn, und ich werde meine philosophischen Briefe ›Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen‹ nennen. Auch werde ich darin von der Philosophie auf Poësie und Religion kommen« (Friedrich Hölderlin an Immanuel Niethammer, 24. Februar 1796; in: DKV III, 224-226, hier 225). – Zur verschiedenartigen Bedeutung von ›theoretisch‹ in den beiden, kaum sechs Monaten von einander entfernten Briefen sowie zum Verhältnis von ›theoretisch‹ zu ›ästhetisch‹ bzw. zum Begriff der ›intellektualen Anschauung‹ vgl. den Kommentar des Herausgebers (DKV III, 842). – Zur Begriffsgeschich-
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Entsprechungen zu manchen Gedankengängen des in der Handschrift Georg Wilhelm Friedrich Hegels überlieferten Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus unüberhörbar, das einer Rekonstruktion zufolge gerade den Gesprächen zwischen Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Hölderlin um 1795/96 viel verdankt.9 Selbst die Wendung ins UtopischPolitische der Vorrede – »es wartet, um mit Hyperion zu reden, ein neues Reich auf uns, wo die Schönheit Königin ist« (DKV II, 257) – fehlt in den Episteln und Skizzen nicht: Um mit Hölderlin zu reden, ist wohl auf die ›ästhetische Kirche‹ als ›Ideal aller menschlichen Gesellschaft‹ (vgl. DKV III, 358) des etwas späteren Briefs an den Bruder Karl vom 4. Juni 1799 hinzuweisen. Eine regelrechte Religion der Schönheit ist dann natürlich im Hyperion selbst zu finden. Wie ich zeigen möchte, kann der Briefroman – zumindest in der endgültigen Fassung, auf die ich mich im Folgenden konzentriere10 – sogar als Evangelium, als heilige Schrift dieser »neue[n] Religion« (so der Wortlaut des Systemprogramms, DKV II, 577), betrachtet werden und Hyperion als deren Priester.11 Genauer genommen handelt es sich dabei in erster Linie um eine pantheistische Naturreligion, der antike Traditionen (vor allem die der mittleren Stoa) ebenso wie zeitgenössische Strömungen (Spinozismus, Kultur der Empfindsamkeit, rousseauistischer Naturkult) ihr Gepräge verleihen: Die Schönheit ist Manifestation der göttlichen Natur, deren vollkommen immanente Ganzheit dem Menschen, wie bereits erörtert, nur ästhetisch erfahrbar ist. »Der Hyperion«, resümiert Jochen Schmidt, »ist das einzige Werk der europäischen Literatur, das die pantheistisch-stoischen Denkmuster systematisch in einen großen narrativen Zusammenhang einwebt«.12 Die Ablösung der Transzendenz durch Immanenz, der kompensatorisch die Ver_____________ 9 10
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te und zur Einbettung im zeitgenössischen Diskurs der Erkenntnistheorie vgl. Alessandro Costazzas Beitrag im vorliegenden Band (S. 73-88). Vgl. DKV II, 575-577 sowie den Beitrag von Markus Ophälders im vorliegenden Band, S. 141-158. Aus Platzgründen unberücksichtigt bleiben muss eine Auseinandersetzung mit Formen von »Personenkult individueller Autorschaft« (Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult; in: Georgia Augusta 5 (2007), S. 124-133, hier S. 124), die im Fragment von Hyperion mit Homer (Besuch der ›Grotte Homers‹ und Anbetung der ›Marmorbüste des göttlichen Sängers‹; vgl. DKV II, 192-196), in der Vorrede zur vorletzten Fassung mit dem »heilige[n] Plato« getrieben werden (DKV II, 257). Zum Hyperion als »gospel of unification through beauty« vgl. Gaskill, Howard: Hölderlin’s Hyperion. Durham 1984 (Durham Modern Languages Series GM 1), S. 64. – Auf diese mitnichten angejahrte Analyse sei auch für die Erörterung der Erlösungsfunktion der Dichtung bei Hyperion und im Hyperion hingewiesen. Schmidt, Jochen: Stoischer Pantheismus als Medium des Säkularisierungsprozesses und als Psychotherapeutikum um 1800. Hölderlins Hyperion; in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 183-204, hier S. 187.
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göttlichung der Allnatur entspricht, durchdringt leitmotivisch den ganzen Roman – die Formel ἓν καὶ πᾶν ertönt in den drei Anaphern »Eines zu sein mit Allem« (DKV II, 16) des zweiten Briefs; mit der Losung vom ›Gott in uns‹ trennen sich Hyperion und sein Erzieher Adamas und umarmen sich die heroischen Freunde Hyperion und Alabanda (vgl. DKV II, 25 und 37); ekstatische Ganzheitserfahrungen der Allnatur in der »Sprache Eines Wohlseins« (DKV II, 59) gehen der Begegnung mit Diotima voran, die von Hyperion dann als »das Göttliche, das mir erschien« (DKV II, 60) bezeichnet und in deutlicher Wiederaufnahme der Gedanken der Vorrede als Epiphanie eines immanenten Göttlichen und zugleich als Antizipation eines kommenden Reichs der Schönheit begeistert begrüßt wird: Ich hab’ es Einmal gesehn, das Einzige, das meine Seele suchte, und die Vollendung, die wir über die Sterne hinauf entfernen, die wir hinausschieben bis an’s Ende der Zeit, die hab’ ich gegenwärtig gefühlt. Es war da, das Höchste, in diesem Kreise der Menschennatur und der Dinge war es da! Ich frage nicht mehr, wo es sei; es war in der Welt, es kann wiederkehren in ihr, es ist jetzt nur verborgner in ihr. Ich frage nicht mehr, was es sei; ich hab’ es gesehn, ich hab’ es kennen gelernt. O ihr, die ihr das Höchste und Beste sucht, in der Tiefe des Wissens, im Getümmel des Handelns, im Dunkel der Vergangenheit, im Labyrinthe der Zukunft, in den Gräbern oder über den Sternen! wißt ihr seinen Namen? den Namen deß, das Eins ist und Alles? Sein Name ist Schönheit. Wußtet ihr, was ihr wolltet? Noch weiß ich es nicht, doch ahn’ ich es, der neuen Gottheit neues Reich, und eil’ ihm zu und ergreife die andern und führe sie mit mir, wie der Strom die Ströme in den Ozean. Und du, du hast mir den Weg gewiesen! Mit dir begann ich. Sie sind der Worte nicht wert, die Tage, da ich noch dich nicht kannte – O Diotima, Diotima, himmlisches Wesen! (DKV II, 61f.)
Solche begeisterten Passagen sind in den Erinnerungen des erzählenden Eremiten Hyperion jedoch kontrapunktisch zu gegensätzlichen Momenten der Verzweiflung gesetzt, in denen keine gefühlvolle Erfahrung des Göttlichen in der Immanenz verkündet wird, sondern »die schreiende Wahrheit« der Nichtigkeit alles Seienden (DKV II, 55), der Tod der Geliebten und das Scheitern der revolutionären Hoffnungen, die übrigens auch im Rahmen des naturreligiösen Schönheitskults verwurzelt sind.13 Zwar gelangt der schreibende Hyperion gerade dadurch, dass er die Widersprüche seines Lebens aus dem Eremitentum resümiert und den _____________ 13
»[…] die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen« – so rechtfertigt Hyperion vor der zweifelnden Diotima die eigene Entscheidung, sie zu verlassen und zusammen mit Alabanda in den Freiheitskampf aufzubrechen (DKV II, 108). Mit ähnlichen Worten bezeichnet der den Krieg erlebende Hyperion in einem Brief an Diotima sein ›Ziel‹: »[…] wo der junge Freistaat dämmert und das Pantheon alles Schönen aus griechischer Erde sich hebt« (DKV II, 120).
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letzten Brief Diotimas in seinen drittletzten Brief an Bellarmin eingearbeitet hat, zu der Einsicht, dass »der Schmerz« wert ist, »am Herzen der Menschen zu liegen«, denn selbst die »heilige Natur« leidet, und »ohne Tod ist kein Leben« (DKV II, 164).14 Zwar integriert Hyperion damit noch einmal und wohl endgültig in seinen Schönheitsbegriff das »große Wort, das εν διαφερον εαυτῳ (das Eine in sich selber unterschiedne) des Heraklit«, das er schon als erlebender Hyperion als »Wesen der Schönheit« in der Athenerrede besungen hat (vgl. DKV II, 92); diese modernste Auffassung, der zufolge, wie es bei Jochen Hörisch heißt, »Paradoxien und Aporien, Zirkel und Widersprüche […] nicht als Risse [erscheinen], die es um jeden Preis zu vermeiden gilt, sondern als rätselhafte Anzeichen des Schönen«, ist jedoch eine »poetische Logik«,15 die nur in dem Ausnahmezustand der Begeisterung, in der Kunst also, ja in der Dichtung, erscheinen kann und ständig dem »heulende[n] Nordwind« der Gegenwart ausgesetzt bleibt, der »über die Blüten unsers Geistes« fährt und sie »im Entstehen« versengt.16 Schon im zweiten Brief hat es unmissverständlich geheißen: O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt, und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein mißratener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß, und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab. (DKV II, 16f.)
Die ewige und unendliche Allnatur kann vom Menschen nur im zeitlichen und endlichen Modus der ›intellektualen Anschauung‹ als Ganzes erfahren werden. Nach der unumgänglichen Erschöpfung des Enthusiasmus, des ›In-Gott-Seins‹,17 ist die Trennung, die Exzentrik, die Dissonanz wieder da und der Mensch erneut mit seiner kreatürlichen Begrenztheit konfrontiert: _____________ 14
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Dieser Brief gilt mindestens seit Lawrence Ryan als Höhepunkt der Bewusstseinsentwicklung des erzählenden Hyperion, d. h. explizit als Aufhebung der Exzentrizität, als »Versöhnung der ›Dissonanzen‹«, der die »Berufung Hyperions zum Dichter« folge, und – sogar werkextern! – als Begründung des Dichterberufs von Hölderlins selbst (Ryan, Lawrence: Hölderlins Hyperion. Exzentrische Bahn und Dichterberuf. Stuttgart 1965 (Germanistische Abhandlungen 7), S. 5 und 7). – Dadurch werden der politisch glühende vorletzte Brief (die so genannte ›Scheltrede an die Deutschen‹) und der so genannte ›Naturhymnus‹, dessen vielschichtige Wiedergabe aus der Distanz den Roman abschließt, als bloße Relikte einer glücklicherweise überholten, exzentrischen Lebensphase entwertet. Den seit Ende der 90er Jahre stärker hervortretenden Gegenlektüren möchten meine Ausführungen aus einer beschränkten thematischen Perspektive Beistand leisten. Hörisch, Jochen: Die ›poetische Logik‹ des Hyperion – Hölderlins Versuch einer Umschreibung der Regeln des Diskurses; in: Friedrich Hölderlin. Neue Wege der Forschung. Herausgegeben von Thomas Roberg. Darmstadt 2003, S. 205-226, hier S. 220. So aus der Perspektive des erzählenden Hyperion im vierten Brief (DKV II, 23). Zur Stabilisierung des revolutionären Enthusiasmus in Formen der Kunst- und der Nationalreligion vgl. Essbach, Wolfgang: Der Enthusiasmus und seine Stabilisierung in Kunstreligion und Nationalreligion. Vortrag zum 34. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena: Unsichere Zeiten, Oktober 2008
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Auf dieser Höhe steh’ ich oft, mein Bellarmin! Aber ein Moment des Besinnens wirft mich herab. Ich denke nach und finde mich, wie ich zuvor war, allein, mit allen Schmerzen der Sterblichkeit, und meines Herzens Asyl, die ewigeinige Welt, ist hin; die Natur verschließt die Arme, und ich stehe, wie ein Fremdling, vor ihr, und verstehe sie nicht. (DKV II, 16)
Selbst der Zustand des Ruhigseins, in dem sich zu befinden der erzählende Hyperion im drittletzten Brief behauptet,18 darf keineswegs als die endgültig eingetretene »Auflösung der Dissonanzen« betrachtet werden, wie sie die Vorrede in Aussicht gestellt hat. Noch weniger ist dieser Zustand mit einer »durch ein höchstes, alles umgreifendes Bewußtsein erlangte[n] Ruhe« zu verwechseln,19 da selbst jene Einsicht in die Ganzheit des Daseins – und es könnte ja auch nicht anders sein, da es die »Auflösung der Dissonanzen […] weder für das bloße Nachdenken, noch für die leere Lust« gibt (DKV II, 13) – eine bloß momentane Wirkung einer ›intellektualen Anschauung‹ ist, in diesem Fall ausdrücklich der dichterischen Leistung von Hyperion selbst: »und du fragst, mein Bellarmin! wie jetzt mir ist, indem ich dies erzähle?« (DKV II, 164; Hervorhebung M. C.). Nur konsequent folgen diesem drittletzten Brief, welcher immer noch den meisten Interpreten zu rasch als allversöhnender Endpunkt der Bewusstwerdung Hyperions gilt, weitere exzentrische Momente auf Seiten des erlebenden, aber auch des erzählenden Hyperion: zuerst die Zeitdiagnose der so genannten ›Scheltrede an die Deutschen‹ im vorletzten Brief, in welchem der erzählende Hyperion seinem deutschen Briefpartner Bellarmin von den eigenen Erfahrungen im Land der »Barbaren von Alters her« berichtet (DKV II, 168); dann, im allerletzten Brief, die berühmte Naturvision und -ekstase, die Hyperion kurz vor der Abreise nach Griechenland, also noch im deutschen Frühling erlebt hat und vom Erzähler mit deutlich distanzierenden Zeichen referiert wird, indem er ein letztes Mal auf die Flüchtigkeit jener durch Schönheitsbegeisterung erfolgten An_____________
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›http://soziologie.uni-freiburg.de/personen/essbach/online_publikationen/Essbach_Enthusiasmus.pdf‹ (letzter Zugriff: 01.09.2009). – Dort (S. 6) findet sich auch der Hinweis auf Wielands Unterscheidung zwischen ›Schwärmerei und Enthusiasmus‹ im gleichnamigen Text, die auffällige Ähnlichkeiten mit dem Diskurs über Begeisterung in Hölderlins Roman aufweist. Die berühmte Passage folgt dem letzten Brief Diotimas und dem Brief Notaras mit der Nachricht vom Tod der Geliebten: »So schrieb Notara; und du fragst, mein Bellarmin! wie jetzt mir ist, indem ich dies erzähle? | Bester! ich bin ruhig, denn ich will nichts bessers haben, als die Götter. Muß nicht alles leiden? Und je trefflicher es ist, je tiefer! Leidet nicht die heilige Natur? O meine Gottheit! daß du trauern könntest, wie du selig bist, das konnt’ ich lange nicht fassen. Aber die Wonne, die nicht leidet, ist Schlaf, und ohne Tod ist kein Leben. Solltest du ewig sein, wie ein Kind und schlummern, dem Nichts gleich? den Sieg entbehren? nicht die Vollendungen alle durchlaufen? Ja! ja! wert ist der Schmerz, am Herzen der Menschen zu liegen, und dein Vertrauter zu sein, o Natur! Denn er nur führt von einer Wonne zur andern, und es ist kein andrer Gefährte, denn er« (DKV II, 164). So noch Jochen Schmidt im Kommentar der DKV-Ausgabe (DKV II, 962f.).
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schauung hinweist (»Worte sprach ich, wie mir dünkt, aber sie waren, wie des Feuers Rauschen, wenn es auffliegt und die Asche hinter sich lässt −«; DKV II, 174).20 Hinter dem abrupt-nüchternen »So dacht’ ich. Nächstens mehr« (DKV II, 175), mit dem die Vision schwindet und der Roman schließt, stecken womöglich weitere ›Widersprüche‹ und ›Verirrungen‹, die den Charakter Hyperions laut der eingangs zitierten Vorrede zur vorletzten Fassung kennzeichnen – jene ›Extreme‹, die der neugriechische Held wie auch alle Menschen nur zeitweilig, in den Erscheinungen der Schönheit, nicht als ›Widerstreit‹, sondern als ›Frieden‹, als eine in sich selber unterschiedene Ganzheit erfahren kann (vgl. DKV II, 256).
* Dass nun die sowohl theoretisch in den Vorreden und manchen anderen Texten Hölderlins erörterte als auch in der poetischen Praxis Hyperions und des Hyperion erprobte ›intellektuale Anschauung‹ der immanenten Gottheit in der Schönheit und durch sie auch Funktionen und Formen der traditionellen Religion übernimmt, ist selbst aus den wenigen zitierten Passagen klar. Sowohl die ständige »Rückholung des einst ›über den Sternen‹ Angesiedelten in die ›Welt‹, in die ›Natur‹«21 im Sinne eines modernen Pantheismus als auch die Herausbildung einer neuen Natur- und Schönheitsreligion sind durch deutliche Transformationen übernommener religiöser Redeweisen gekennzeichnet. Jochen Schmidt hat überzeugend erläutert, wie im Roman die »einst auf den transzendenten Gott bezogenen Aussagen […] sich nun auf die ›Natur‹, die ›Welt‹ und den Menschen« beziehen – auf seine Studie sei für die vielen diesbezüglichen Belege biblischer Kontrafakturen hingewiesen.22 Es genügt hier anzufügen, dass selbst die Rede vom notwendigen »Ärgernis« (vgl. DKV II, 256), um die erwünschte Wirkung von Hyperions widersprüchlichem Charakter und wohl auch von seinen pantheistischen Ansichten auf die Leser zu bezeichnen,23 sowie die _____________ 20 21 22 23
Zur Naturvision als literarisierte ›intellektuale Anschauung‹ und zu deren Verhältnis zum entsprechenden Begriff bei Schelling vgl. Stiening: Epistolare Subjektivität (Anm. 5), S. 270-295. Schmidt: Stoischer Pantheismus (Anm. 12), S. 187. Schmidt: Stoischer Pantheismus (Anm. 12), S. 190. Ausdrücklich Bezug auf die mögliche Reaktion der Leser auf häretische Vorstellungen nimmt Hölderlin in einer Fußnote, die neben der Vorrede und einer Datumsangabe im zweiten Buch die einzige Intervention des Verfassers in Hyperions Erzählung darstellt: »Es ist wohl nicht nötig, zu erinnern«, so der auktoriale Kommentar zur pantheistisch begründeten Leugnung der Existenz eines transzendenten Gottes von Seiten Hyperions, »daß
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Metapher vom »Frieden alles Friedens, der höher ist, denn alle Vernunft« (DKV II, 256), auf das Neue Testament anspielen und in der Vorrede zur vorletzten Fassung für die pantheistischen Anschauungen transformierend reaktiviert werden.24 Die Natur- und Schönheitsreligion entwickelt darüber hinaus eigene Rituale – die begeisterte Prosahymne an den Äther (DKV II, 59) und die verschiedenen Formen der Diotima-Verehrung wären hier ebenso zu erwähnen wie natürlich der abschließende Naturhymnus. Sakrale Züge trägt auch die zensierte Erzählung des Liebesaktes zwischen Diotima und Hyperion u. v. a. m. (vgl. DKV II, 81-83). Als besonders eindrucksvolles Beispiel verweise ich hier auf die Szene, in der Hyperion und Diotima ihren Liebesbund mit einem regelrechten Gebet an die neue Gottheit besiegeln: So fiel ich auf ein Knie; mit großem Blick, errötend, festlichlächelnd sank auch sie an meiner Seite nieder. Längst, rief ich, o Natur! ist unser Leben Eines mit dir und himmlischjugendlich, wie du und deine Götter all’, ist unsre eigne Welt durch Liebe. In deinen Hainen wandelten wir, fuhr Diotima fort, und waren, wie du, an deinen Quellen saßen wir und waren, wie du, dort über die Berge gingen wir, mit deinen Kindern, den Sternen, wie du. Da wir uns ferne waren, rief ich, da, wie Harfengelispel, unser kommend Entzücken uns erst tönte, da wir uns fanden, da kein Schlaf mehr war und alle Töne in uns erwachten zu des Lebens vollen Akkorden, göttliche Natur! da waren wir immer, wie du, und nun auch da wir scheiden und die Freude stirbt, sind wir, wie du, voll Leidens und doch gut, drum soll ein reiner Mund uns zeugen, daß unsre Liebe heilig ist und ewig, so wie du. (DKV II, 113)25
Hier wie anderswo übernimmt die Naturreligion nicht nur die Formen eines – Schmidts Kommentar zufolge – ›säkularisierten Gottesdienstes‹, der an in der Zeit der Französischen Revolution gebräuchliche Kulte immanenter Werte erinnert (DKV II, 1046), sondern auch typische Trostfunktionen der (christlichen) Religion: Die Liebenden ahnen und über_____________
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derlei Äußerungen als bloße Phänomene des menschlichen Gemüts von Rechts wegen niemand skandalisieren sollten« (DKV II, 19). – Jochen Schmidt interpretiert dies als »salvierende Fußnote […], um sich gegen die Zensur zu schützen«, und verweist auf ein nichtsdestotrotz erlassenes Verbot der k. u. k. Bücherzensur in Wien, das bestätige, »daß der Hyperion im ganzen entschieden pantheistisch konzipiert ist und es sich also auch hier in Wahrheit um die Meinung des Autors handelt« (DKV II, 978). Zum ›Ärgernis‹ (Mt 18, 7) vgl. auch Anm. 3. – Die Anspielung auf das Pauluswort (»der friede Gottes | welcher höher ist | denn alle vernunfft«; Phil 4, 7) dient in der Vorrede vor allem dem Kontrast mit dem »ewigen Widerstreit«, der die gegenwärtige Befindlichkeit des Menschen ausmacht. Bei diesem säkularisierten – genauer gesagt: in einen immanent naturreligiösen Diskurs übertragenen – Ritus sind Diotimas Mutter und weitere Freunde anwesend, die explizit als Trauzeugen agieren: »Ich zeug es, sprach die Mutter. | Wir zeugen es, riefen die andern« (DKV II, 113).
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spielen zugleich eine Trennung, die sich im weiteren Handlungsverlauf als endgültiger Abschied erweisen soll und dementsprechend im letzten Romanteil den Briefschreiber Hyperion zu einer noch gründlicheren Mobilisierung von Tröstungsmaßnahmen führt, die schon hier durchaus präsent sind und die Ahnung von Diotimas Tod in den Kreislauf der keine endgültige Trennung leidenden Natur zu integrieren versuchen.26 Es gehört nun jedoch zur Vorstellung der ›intellektualen Anschauung‹ und auf allgemeinerer Ebene zu dem den Roman durchziehenden Wechsel von Exzentrik und Zentriertheit, dass solche Tröstung vorübergehend ist, dass »nur in Stunden der Begeisterung alles innigst übereinstimmt« (DKV II, 92), so dass umgekehrt in Stunden der dejection die immanente Gottheit und die damit verbundene Zuversicht in die »unendliche Vereinigung« (DKV II, 257) dem Menschen unerfahrbar bleiben. Dann bietet auch die Allnatur keine Linderung mehr, geschweige denn Heil: Es ist umsonst, ich kann’s mir nicht verbergen. Wohin ich auch entfliehe mit meinen Gedanken, in die Himmel hinauf und in den Abgrund, zum Anfang und an’s Ende der Zeiten, selbst wenn ich ihm, der meine letzte Zuflucht war, der sonst noch jede Sorge in mir verzehrte, der alle Lust und allen Schmerz des Lebens sonst mit der Feuerflamme, worin er sich offenbarte, in mir versengte, selbst wenn ich ihm mich in die Arme werfe, dem herrlichen geheimen Geiste der Welt, in seine Tiefe mich tauche, wie in den bodenlosen Ozean hinab, auch da, auch da finden die süßen Schrecken mich aus, die süßen verwirrenden tötenden Schrecken, daß Diotima’s Grab mir nah ist. Hörst du? hörst du? Diotima’s Grab! […] Lieber Bruder! ich tröste mein Herz mit allerlei Phantasien, ich reiche mir manchen Schlaftrank; und es wäre wohl größer, sich zu befreien auf immer, als sich zu behelfen mit Palliativen; aber wem geht’s nicht so? (DKV II, 69f.)
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Auch in diesem Fall gesellen sich also zur Begeisterung unheilvolle Ahnungen: »Diotima stand, wie ein Marmorbild und ihre Hand starb fühlbar in meiner. […] Du wirst sie töten, rief Notara. Siehe, wie sanft sie ist, und du bist so außer dir. | Ich sahe sie an und Tränen stürzten mir aus brennendem Auge« (DKV II, 113f.). – Der Abschied, der sich, wie der Erzähler weiß, als ein endgültiger erweisen wird, ist auch aus der Sicht der erlebenden Figuren mit Todeszeichen übersät, die mit der Zuversicht auf das Fortleben im Kreise der Allnatur alternieren: »Ewiges war in uns, über uns. Zart, wie der Äther, umwand mich Diotima. Törichter, was ist denn Trennung? flüsterte sie geheimnisvoll mir zu, mit dem Lächeln einer Unsterblichen. | […] Vollendete! rief ich, ich spreche wie du. Am Sternenhimmel wollen wir uns erkennen. Er sei das Zeichen zwischen mir und dir, so lange die Lippen verstummen. | Das sei er! sprach sie mit einem langsamen niegehörten Tone – es war ihr letzter. Im Dämmerlichte entschwand mir ihr Bild und ich weiß nicht, ob sie es wirklich war, da ich zum letztenmale mich umwandt’ und die erlöschende Gestalt noch einen Augenblick vor meinem Auge zückte und dann in die Nacht verschied« (DKV II, 114f.).
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* Vor diesem Hintergrund ist m. E. auch das Verhältnis von Kunst und Religion in Hölderlins Roman zu lesen.27 Im ›Athenerbrief‹, der bekanntlich den Schluss des ersten Bandes und einen Höhepunkt von Hyperions Erlebnissen darstellt, wird dieses Verhältnis in einer typischen Überlagerung von begeistertem Rückblick auf die Vergangenheit, allgemeiner Rede über die Bewandtnis des menschlichen Lebens und utopischem Entwurf erörtert. »Das erste Kind der menschlichen, der göttlichen Schönheit ist die Kunst« (DKV II, 90), heißt es in den Worten, mit denen sich der erlebende Hyperion an die mit ihm nach Athen überschifften Freunde wendet – wobei hier hauptsächlich bildende Kunst gemeint ist und göttliche Schönheit nichts anderes sein soll als die ästhetisch erfahrene Ganzheit der Allnatur. »Der Schönheit zweite Tochter«, fährt er fort, »ist Religion. Religion ist Liebe der Schönheit« (DKV II, 90). Kunst und Religion werden also – um Formulierungen aus dem schon erwähnten Brief Hölderlins an den Bruder zu benutzen, die auch an andere Romanstellen erinnern – als parallele Formen der »menschlichen Tätigkeit« betrachtet, die »in den Ozean der Natur laufen, so wie sie von ihm ausgehen« (DKV III, 357). Gemeint ist also auch im etwas steifen Wortlaut des ›Athenerbriefs‹ die pantheistische Naturreligion – der Parallelismus mit der Kunst sowie die vereinigungsphilosophisch zentrale Formel der ›Liebe‹ bekräftigen die im zweifachen Nennen von ›Schönheit‹ begründete Sakralisierung der ästhetischen Erkenntnis, der wir schon in der Vorrede zur vorletzten Fassung begegnet sind. Weit mehr als eine Schwester der Kunst ist Religion also selbst eine künstlerische – genauer: poetische – Form der Erfassung des Göttlichen (eben ›Liebe der Schönheit‹), und das zeigt besser als die ›Athenerrede‹ der Roman als Ganzes. Der ›Athenerbrief‹ selbst verlegt bald den Schwerpunkt von der Vergangenheit – das alte Athen erscheint Hyperion bezeichnenderweise »wie ein unermeßlicher Schiffbruch«28 – auf die _____________ 27
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Man könnte Hölderlins Roman am Schnittpunkt von Spinozismus und kunstreligiösen Diskursen situieren. Die »Religion unserer größten Denker, unserer besten Künstler […], die verborgene Religion Deutschlands«, wie Heinrich Heine an berühmter Stelle den Pantheismus spinozistischen Gepräges der Kunstperiode bezeichnete (Heine, Heinrich: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland; in: Heine, Heinrich: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band III: Schriften zu Literatur und Politik I. Nach dem Text der Ausgaben letzter Hand. Mit Anmerkungen von Uwe Schweikert. 3. Auflage. Düsseldorf – Zürich 1996, S. 395-520, hier S. 455f.), und die »Kunst als die moderne Religion der Gebildeten« (Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006 (Palaestra 323), S. 10) erfahren hier eine zeitweilige Vereinigung. So lautet der vollständige Vergleich: »Wie ein unermeßlicher Schiffbruch, wenn die Orkane verstummt sind und die Schiffer entflohn, und der Leichnam der zerschmetterten Flotte
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Gegenwart und die Zukunft. Die Antike ist ein »Torso«, den »der Künstler […] sich leicht« ergänzt (so Diotima; DKV II, 96), und die ›Trümmer von Athen‹ zeigen sich als ein »Brachfeld«, auf dem Hyperion wie ein »Ackersmann« zu stehen behauptet (DKV II, 101). Aus dieser Erkenntnis, die eine vollauf moderne ist,29 entspringt Hyperions Aufgabe, die auf dieser Höhe Diotima mit den Worten verkündet: »Du wirst Erzieher unsers Volks […] sein« (DKV II, 100). Damit ist wohl schon hier eine ästhetische, dichterische Erziehung gemeint, die als einziger Weg zur Erfahrung des ›Seins‹, »im einzigen Sinne des Worts«,30 auch die religiösen, politischen und philosophischen Ebenen umfasst, und Hyperion selbst verweist auf sein – noch unreifes – Künstlertum: »Ich bin ein Künstler, aber ich bin nicht geschickt« (DKV II, 100). Die Schlussworte des Briefes, welche die damaligen Gedanken des erlebenden Hyperion wiedergeben, entwerfen als (freilich nur ›in unendlicher Annäherung‹ erreichbares) Ziel dieser Aufgabe das ›neue Reich‹, »wo die Schönheit Königin ist« (wie es in der Vorrede zur vorletzten Fassung noch geheißen hat; DKV II, 257): »Es wird nur Eine Schönheit sein; und Menschheit und Natur wird sich vereinen in Eine allumfassende Gottheit« (DKV II, 101). Nachdem, wie der hier nicht eingreifende erzählende Hyperion in den Briefen des zweiten Bandes berichtet, die exzentrische Bahn seines Lebens das Scheitern des Befreiungskrieges und den Verlust sowohl von Alabanda als auch von Diotima mit sich gebracht hat, wird Hyperions Bestimmung präzisiert, und zwar gerade in den letzten Worten des letzten Briefs der sterbenden Diotima:
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unkenntlich auf der Sandbank liegt, so lag vor uns Athen, und die verwaisten Säulen standen vor uns, wie die nackten Stämme eines Walds, der am Abend noch grünte, und des Nachts darauf im Feuer aufging« (DKV II, 96). »Hölderlin è un uomo del tardo Settecento e la sua scoperta del classico è originata dalla modernità« (›Hölderlin ist ein Mann des späten 18. Jahrhunderts und die Moderne hat seine Entdeckung des Klassischen hervorgebracht‹): Diese Worte Luigi Reitanis, die angesichts der allzu antikisierenden bzw. unzeitgemäß aktualisierenden Versuchungen mancher Hölderlin-Forscher nie genug betont werden können, gelten auch für den neugriechischen Eremiten und dessen Verhältnis zur Antike (Reitani, Luigi: Il nome di Alabanda: Hölderlin, Wieland e il genere delle pietre preziose; in: Bollettino dell’Associazione Italiana di Germanistica 2 (2009), S. 1-15, hier S. 5). – Zur dissonanten Bewandtnis des Helden im Hyperion und in der zeitgenössischen Diskussion als ›segnatura della modernità‹ vgl. auch Reitani: La ›terra incognita‹ del romanzo (Anm. *), S. 5; zum Hyperion als Text ›an der Schwelle zur Moderne‹ vgl. Bay: ›Ohne Rückkehr‹ (Anm. 5), S. 404, der jedoch Gefahr läuft, Hölderlins Position mit späteren Moderne- und Postmodernebegriffen zu verwechseln – eine Gefahr, die mindestens seit Vietta besteht (vgl. Vietta, Silvio: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992, S. 53-71). So in der Vorrede zur vorletzten Fassung (DKV II, 256).
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Trauernder Jüngling! bald, bald wirst du glücklicher sein. Dir ist dein Lorbeer nicht gereift und deine Myrten verblühten, denn Priester sollst du sein der göttlichen Natur, und die dichterischen Tage keimen dir schon. (DKV II, 163)
Der ›Lorbeer‹, d. h. der Tatenruhm, und die ›Myrte‹, d. h. die Liebeserfüllung, sind im Keim erstickt worden. Hyperion leistet der Natur priesterlichen Dienst – und zwar als Dichter im Verfassen der Briefe, die, wie Diotimas Worte genau antizipieren, bald entstehen sollen. Priestertum und Dichtertum sind hier als Synonyme zu verstehen31 und kennzeichnen ein durchaus kunstreligiöses, besser: dichtungsreligiöses Programm.32 Schon in der ›Athenerrede‹ war die »Dichtung eines unendlichen göttlichen Seins« als Anfang und Ende der Philosophie bezeichnet worden (DKV II, 91) – hier wird in genauer Entsprechung mit einigen brieflichen Äußerungen Hölderlins und als logische (poetisch logische)33 Erweiterung der früheren Romanstelle die Dichtung als die Dimension überhaupt bezeichnet, in der die Allnatur, das »Sein, im einzigen Sinne des Worts« (DKV II, 256) als Schönheit vorhanden ist, und zwar in seiner charakteristischen Form des ›Einen in sich selber unterschiednen‹ (vgl. DKV II, 92). _____________ 31
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Man wäre versucht, ein solches Programm mit antiken Verhältnissen zu vergleichen, als es »so etwas wie Indifferenz von Poesie und Religion gegeben zu haben« scheint (Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 27), S. 72). In diesem Sinne wäre Hyperions Dichtertum als naturreligiöses Priestertum gerade die Negation der Kunstreligion, da keineswegs auf Konkurrenz, geschweige denn auf Autonomieästhetik begründet. Dadurch würde man aber allzu rasch das anvisierte Ergebnis eines Prozesses mit einem Zustand verwechseln sowie über die erörterte Auffassung der ›intellektualen Anschauung‹ hinwegblicken, die einen alleinig ästhetischen und momentanen Einblick in das immanente Göttliche postuliert. Hyperion ist somit die ausgesprochen moderne Version eines vates, der pantheistische Erfahrungen begeistert verkündet und zugleich ihr Schwinden beim Einbruch der Nüchternheit beklagt – zu Hölderlins Integration der in Klopstocks religiöser und weltlicher Dichtung noch getrennten vates-Traditionen in den Tübinger Hymnen, die dem Hyperion-Projekt unmittelbar vorausgingen, vgl. Vöhler, Martin: Frühe Hymnen; in: Kreuzer, Johann (Hrsg.): Hölderlin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart – Weimar 2002, S. 290-308, hier v. a. S. 293-295. Von Kunstreligion ist in der Hyperion-Forschung kaum die Rede, weil man offenbar Wert darauf legt, weniger mögliche Berührungspunkte aufzuzeigen als den Unterschied zu zeitgenössischen kunstreligiösen Entwürfen zu betonen – man denke nur an Wilhelm Heinrich Wackenroders und Ludwig Tiecks Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, 1797 zeitgleich mit dem ersten Hyperion-Band erschienen, oder an Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Reden über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, die 1799 wie der zweite Hyperion-Band veröffentlicht wurden (zur Schnittmenge zwischen Hölderlin und der Frühromantik vgl. Roth, Stefanie: Friedrich Hölderlin und die deutsche Frühromantik. Stuttgart 1991). – Eine Auseinandersetzung mit Hölderlins Roman fehlt auch in Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion (Anm. 27); Hölderlin taucht in der diesbezüglichen Forschung eher als virtueller Mitverfasser des Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus oder als Autor des fragmentarischen Aufsatzes Über Religion auf, der meist in Herders Spuren erörtert wird. Vgl. oben, Anm. 32.
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Die Briefe, die der alte Hyperion an Bellarmin schreibt, indem er die ›Extreme‹ seines Lebens, seine ›Dissonanzen‹, durchläuft, sind ein Evangelium der Natur- und Schönheitsreligion, die der Wortlaut des Romans selbst als Säkularisierung der christlichen Religion darstellt. Im dichterischen Akt, anders als im ›Wissen‹ und im ›Handeln‹, erlangt Hyperion momentan jene Erfassung der Ganzheit, die damit in seiner Dichtung selbst als Schönheit vorhanden ist. So erfährt der zum Dichter gewordene Held in der ›intellektualen Anschauung‹ seiner sonst getrennt erlebten und gedachten Erlebnisse und Reflexionen unbezweifelbar einen Augenblick der Einsicht in das »Sein, im einzigen Sinne des Worts«, d. h. in die »göttliche Natur« (DKV II, 255 und 113). Die ›Ruhe‹, die aus dieser momentanen Einsicht entspringt, ist auch nur ephemer, was ihren Wert keineswegs schmälert – es sei denn, man wollte sie um jeden Preis antiken Formen der tranquillitas animi gleichsetzen oder ihren enthusiastischen Ursprung systematisch-philosophischen Sorten begrifflicher Erkenntnis assimilieren. Ein ähnliches natur- und kunstreligiöses Erlebnis wird auch dem Leser der dichterischen Briefe Hyperions im ästhetischen Akt zuteil34 – dem fiktiven (Bellarmin) sowie den wirklichen Lesern, wenn sie sich vom Roman ›begeistern‹ lassen, und zwar so lange, als die Begeisterung da ist. In diesem des baldigen Einbruchs der Exzentrik bewussten Sinne gewährt die Dichtung »in Stunden der Begeisterung« die dem ›Denken‹ und dem ›Handeln‹ uneinholbare ganzheitliche Intuition des in der Welt situierten Göttlichen. In Hölderlins fragmentarischem Aufsatz Über Religion heißt es: »So wäre alle Religion Ihrem Wesen nach poëtisch« (DKV II, 568).
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Bei Schleiermacher bezieht sich »›Kunstreligion‹ […] zunächst vor allem auf diejenigen Eigenschaften eines Kunstwerkes, die prinzipiell jederzeit geeignet sein können oder sollen, dem Rezipienten mithilfe künstlerischer Verfahren Erfahrungen zu eröffnen, wie sie ansonsten der Religion vorbehalten waren – sei es in der Rezeption des Werkes selbst, sei es durch dieses hindurch, etwa im Sinne einer Sensibilisierung für Erfahrungen Gottes in der Natur, in der Liebe, in anderen Kunstwerken usf.« (Detering: Kunstreligion und Künstlerkult (Anm. 10), S. 126). – Bei Hölderlin, so ließe sich paraphrasieren, ist die mithilfe der ›intellektualen Anschauung‹ eröffnete momentane Erfahrung eines immanenten Göttlichen (= Liebe, = Natur) der Kunst/Dichtung bzw. einer ›poetischen Religion‹ vorbehalten.
ARNALDO DI BENEDETTO
»quasi che un dio« Vittorio Alfieris Auffassung vom Dichter Bietet es sich an, bei einer Tagung zur ›Kunstreligion‹ auch über Vittorio Alfieri zu sprechen? In Italien hat die ›religione dell’arte‹ vor der Phase des Ästhetizismus immerhin nur eine geringe oder gar keine Rolle gespielt. Mit Blick auf die italienischen Romantiker gilt es in diesem Zusammenhang eher an die bewusste Preisgabe der Kunst an die Politik zu denken, zu der sich Giovanni Berchet in der Vorbemerkung der Fantasie bekennt.1 Was schließlich den größten der italienischen Romantiker angeht, so gilt es an seinen wunderbaren, gelegentlich freilich missverstandenen Brief vom 2. Juni 1832 an Marco Coen zu erinnern.2 Der junge Mann hatte sich an Alessandro Manzoni gewandt und gehofft, dessen Unterstützung für seine von der Familie abgelehnten Ambitionen als Dichter zu erhalten. Weit entfernt davon, ihn darin zu ermutigen, wurde Coen von Manzoni vielmehr dazu ermahnt, sich nützlicheren Tätigkeiten zu widmen. – Zahlreiche Hinweise über das gesamte Werk hinweg lassen dennoch vermuten, dass Alfieri einen höheren Begriff von der Poesie gehabt hat.
I Della tirannide (deutsche Erstübersetzung: Von der Tyranney, Kehl 1789), Alfieris erstes politisches Traktat, ist 1777 in Siena, d. h. am Anfang seiner Dichterlaufbahn, entstanden. 1787 in Colmar tiefgreifend überarbeitet, kam es im nahen Kehl zwischen 1788 und 1790 zum Druck (Alfieris Vita IV 18 gibt 1789 an). Die falsche Angabe 1809 erklärt sich möglicherweise damit, dass die tatsächliche Publikation bzw. der Vertrieb des Werks erst für dieses Jahr vorgesehen war. Übrigens ist Della tirannide nicht das einzige Werk Alfieris, das erst deutlich nach seiner Drucklegung veröffent_____________ 1 2
Berchet, Giovanni: Le Fantasie; in: Berchet, Giovanni: Opere. A cura di Egidio Bellorini. Volume primo: Poesie. Bari 1911 (Scrittori d’Italia 18), S. 51-97, hier S. 51-71. Alessandro Manzoni a Marco Coen, 2 giugno 1832; in: Tutte le opere di Alessandro Manzoni. A cura di Alberto Chiari e Fausto Ghisalberti. Volume settimo: Lettere. A cura di Cesare Arieti. Tomo primo. Milano 1970 (I classici Mondadori), S. 664-671.
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licht wurde, weil man offenbar einen günstigeren Zeitpunkt abwarten wollte.3 Den Schlusspunkt unter diesen Band setzt ein Protesta (›öffentliche Erklärung‹) dell’autore betiteltes Sonett.4 Wie das Eröffnungssonett ist es mit Sicherheit aus Anlass der Drucklegung des Traktats verfasst worden und gehört gewiss nicht zu den schlechteren des piemontesischen Dichters, der sich darin zur glühenden Leidenschaftlichkeit seines TyrannenHasses bekennt. Das erste Terzett verdichtet die angsterfüllten Worte, die zuvor schon Mirra, der Heldin der gleichnamigen Tragödie (wohl eine seiner besten), in den Mund gelegt worden waren, um den düsteren Ursprung der inzestuösen Leidenschaft des Mädchens auszudrücken. Die zyprische Prinzessin sagt: »Irato un Nume, | Implacabile, ignoto, entro al mio petto | Si alberga […] | […] Nè dì, nè notte, io non trovo mai pace, | Nè riposo, nè loco […]« (›Zürnend haust ein Gott, unerweichlich, unbekannt, in meiner Brust […] | nicht tags und nicht nachts finde ich je Frieden, weder Ruhe noch Zuflucht‹).5 In gleicher, gewiss schroffer Weise gibt Alfieri der eigenen politischen Leidenschaft Ausdruck: »Un Dio feroce, ignoto un Dio, da tergo | Me flagellava infin da quei primi anni, | A cui maturo e impavido mi attergo« (›Ein wütender Gott, ein unbekannter Gott, hat meinen Rücken seit jenen ersten Jahren gegeißelt; nun wende ich mich reif und furchtlos von ihm ab‹; DT 109). Im zweiten Terzett heißt es: »Nè pace han mai, nè tregua, i caldi affanni | Del mio libero spirto, ov’io non vergo | Aspre carte in eccidio dei tiranni« (›Nicht Ruhe kennt, nicht Entspannung je das heiße Bemühen meines freien Geistes, wenn ich nicht herbe Blätter beschreibe zur Ausrottung der Tyrannen‹; DT 109). Ähnlich wie die unglückliche junge Prinzessin wird der ›freie‹ Schriftsteller von einer irrationalen Kraft beherrscht. Bei Alfieri, so heißt es oft (und wohl zu sehr vereinfachend), stehen wir gelegentlich an der Grenze zur Entdeckung der unbewussten Triebe. Nach der Lektüre einiger Tragödien benennt schon Giuseppe Parinis Sonett Tanta giá di coturni von 1783 das »cupo, ove gli affetti han regno« (›das Düstere, wo die Affekte herr_____________ 3 4 5
Aus mehreren Gründen haben die Herausgeber der postumen Ausgabe von Alfieris Misogallo die falsche Angabe ›Londra 1799‹ beibehalten und das tatsächliche Druckjahr 1814 unterdrückt. Alfieri, Vittorio: Della tirannide. Libri due. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume terzo: Scritti politici e morale. Volume primo. A cura di Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 1-109, hier S. 109 (im Folgenden unter der Sigle ›DT‹ zitiert). Alfieri, Vittorio: Mirra. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume Ventitreesimo: Tragedie. Edizione critica. Volume XVIII. Testo definitivo e redazioni inedite. A cura di Martino Capucci. Asti 1974, S. 61.
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schen‹),6 d. h. die finstersten Tiefen der menschlichen Seele, als den Ursprung von Alfieris Dichtung. Und Ranieri de’ Calzabigi spricht in seiner Antwort auf einen Brief des Alfieri-Gegners Alessandro Pepoli (freilich ohne über die Eleganz des lombardischen Poeten zu verfügen) davon, »che i suoi pensieri sono profondi, sono espressivi, sono (per così spiegarmi) a forza svelti alla natura più concentrata« (›dass seine Gedanken tief sind, ausdrucksvoll, der innersten Natur (um mich so zu erklären) gewaltsam entrissen‹).7 Daher erscheint in einigen von Alfieris Stücken bekanntlich sogar der Tyrann in unseliger Einsamkeit als Opfer seiner selbst und der eigenen unstillbaren, grenzenlosen und unbeherrschbaren Machtbesessenheit. In diesem Zusammenhang hat es bereits bei Benedetto Croce geheißen: »Sono colpevoli i suoi tiranni? Non si oserebbe affermarlo; o non piú colpevoli, certo, di chi ha la disgrazia di essere preso da un’infezione, dall’idrofobia o dal tetano« (›Sind seine Tyrannen schuldig? Man möchte das kaum so behaupten, und gewiss tragen sie keine größere Schuld als einer, der das Unglück gehabt hat, sich mit Tollwut oder Wundstarrkrampf anzustecken‹).8 Auf einer Situation dieser Art fußt auch Saul, die komplexeste aller Tragödien Alfieris. Wir befinden uns hier in einem Bereich, der manchen Gemälden Johann Heinrich Füsslis entspricht. Das Traktat Della tirannide trägt die Widmung »Alla Libertà« (DT 7). Diese Widmung ist so provokativ, wie die Widmungen Alfieris nun einmal provokativ – oder wenigstens innovativ – sind und jedenfalls ganz anders als die seinerzeit üblichen. Mit Blick auf die ›arkadischen‹ Literaten des frühen 18. Jahrhunderts hat die englische Schriftstellerin und Historikerin Vernon Lee (d. i. Violet Paget) 1887 in ihrem schönen Buch Studies of the Eighteenth Century in Italy ironisch »these poetasters, priests, and lawyers, living for the most part of dedications« erwähnt.9 Solche Widmungen haben auch dem Zweck gedient, den Druck der Werke zu erleichtern, und Alfieri will diesem Brauch nun ein Ende machen: »Soglionsi per lo più i libri dedicare alle persone potenti, perché gli autori credono ritrarne chi lustro, chi protezione, chi mercede« (›Bücher werden in der Regel mächtigen Personen gewidmet, weil die Verfasser glauben, sich damit Ansehen, _____________ 6 7 8 9
Parini, Guiseppe: Opere IV: Poesie. A cura di Egidio Bellorini. Volume Secondo: Opere drammatiche, sonetti e poesie varie. Bari 1929 (Scrittori d’Italia 119), S. 267f., hier S. 267. Risposta del consigliere di s. m. imperiale Ranieri De’Calsabigi alla lettera scrittagli dall’autore sopra le prime quattro tragedie del signor Conte Alfieri; in: Teatro del Conte Alessandro Pepoli. Tomo II. Venezia 1787, S. 1-31, hier S. 9. Croce, Benedetto: Alfieri; in: Croce, Benedetto: Scritti di storia letteraria e politica XVIII: Poesia e non poesia. Note sulla letteratura europea del secolo decimonono. VII edizione. Bari 1964, S. 1-14, hier S. 4. Lee, Vernon: Studies of the Eighteenth Century in Italy. Reprint of the 1887 Edition. London 1978 (Da Capo music reprint series), S. 17.
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Protektion oder Lohn zu erwerben‹; DT 7), schreibt er in Della tirannide. Es komme sogar vor, dass Werke, die auf mehr oder weniger offene Weise von den »più sacri e più infranti diritti« (›den heiligsten und unverbrüchlichsten Rechten‹; DT 7) der ›Freiheit‹ – die hier als personifizierte Widmungsträgerin angeredet wird – sprechen, »portano spesso in fronte il nome o di un principe, o di alcun satellite; e ad ogni modo pur sempre, di un qualche tuo fierissimo naturale nemico« (›auf ihrer Titelseite den Namen eines Fürsten oder eines Höflings tragen, d. h. auf jeden Fall eines deiner erbittertsten Feinde von Natur aus‹; DT 7). Im Grunde hatte schon Giuseppe Parini diesen Weg gebahnt, als er seinem ironischen Pseudo-Lehrgedicht Il mattino (1763) die Widmung Alla Moda voranstellte.10 Das erste Buch von Del principe e delle lettere (1795), des nächsten Traktats aus Alfieris Feder, das unter anderem die alte, doch keineswegs schon obsolete Figur des Dichters oder Schriftstellers als Höfling bzw. als Schützling der Mächtigen zu Grabe tragen wollte (noch Saverio Bettinelli hat dieses Konzept, in Opposition zu Alfieri, verteidigt, so wie viele Italiener die Größe der französischen Tragödie mit der herausgehobenen Rolle Ludwigs XIV. erklärten) und Zuspruch vom befreundeten André Chénier erfuhr, ist in paradoxer Ironie denjenigen Fürsten gewidmet, die die Literatur gerade nicht protegieren (»Ai principi, che non proteggono le lettere«).11 Seinem Prinzip des ›je schlimmer, desto besser‹ entsprechend hat Alfieri in Della tirannide sogar folgende These aufgestellt: lieber grausame, ungerechte, habgierige und ehrvergessene Tyrannen als die zumeist gemäßigten der Gegenwart, die der Menge weniger verhasst sind und deren Handlungen zwar immer noch auf Willkür beruhen, jedoch von scheinbarer Rechtmäßigkeit bemäntelt werden (DT 98-101). Auf seine Weise hat Alfieri also einen Beitrag zum Untergang der Figur ›Hofschriftsteller‹ geleistet. Das zweite Buch von Del principe e delle lettere ist denn auch, in antithetischer Parallele und frei von Ironie, den »pochi letterati« (DP 137) gewidmet, »che non si lasciano proteggere« (›den wenigen Literaten, die sich nicht protegieren lassen‹; DP 137). Das dritte Buch wiederum – »Alle ombre degli antichi liberi scrittori« (›Den Schatten der freien Schriftsteller des Altertums‹; DP 197) – hebt die Unzeitgemäßheit, die der Autor so gern für sich in Anspruch nimmt, bzw. die erneuerte Aktualität der ›antichi liberi scrittori‹ hervor (wir befinden uns nun einmal im Zeit_____________ 10 11
Parini, Giuseppe: Il mattino. Poemetto (1763); in: Parini, Giuseppe: Il Giorno. Volume primo. Edizione critica. A cura di Dante Isella. Parma 1999 (Biblioteca di scrittori italiani), S. 1-43, hier S. 3. Alfieri, Vittorio: Del principe e delle lettere. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume terzo: Scritti politici e morale. Volume primo. A cura di Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 111254, hier S. 117 (im Folgenden unter der Sigle ›DP‹ zitiert).
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alter des Neoklassizismus), die in seinen Augen so sehr von denen der Neuzeit abstechen: Se io ardisco pur supplicarvi di rimirarmi con benigno occhio, e di scevrarmi dalla moderna turba dei letterati, una tale audacia in me nasce soltanto dalla mia propria coscienza; che se il destino mi volle pur nato in queste moderne età, per quanto in mio potere è stato, io sono tuttavia sempre vissuto col desiderio e con la mente nelle età vostre, e fra voi. (DP 199)12
Im 9. Kapitel desselben Buches vernichtet Alfieri den Aufklärungsmythos der drei großen ›Literaturepochen‹ (unter Augustus, Leo X. und Ludwig XIV.), ›protegierter‹ Epochen par excellence, und erklärt, dass der Ursprung aller späteren Literatur im freien Athen gelegen habe und die Modernen nichts als dessen »figli […] (ancorché spurj)« (›freilich illegitime Kinder‹; DP 241) seien. In der Widmung von Della tirannide formuliert Alfieri überdies ein Prinzip, das den ersten Generationen seiner Leser den Schlüssel zum Verständnis seines literarischen Werkes zu liefern schien: »che per nessun’altra cagione scriveva, se non perchè i tristi miei tempi mi vietavan di fare« (›dass ich aus keinem anderen Grunde geschrieben habe denn aus dem, dass mir meine elende Gegenwart das Handeln verwehrte‹; DT 7). Normativ und unpersönlich formuliert wiederholt der Autor diesen Gedanken im Traktat selbst: Ein ›freier Mann‹, der in Zeiten der Tyrannei lebt und ›keinerlei Möglichkeit besitzt, für seine Taten Ruhm zu ernten‹ (»non potendo […] assolutamente acquistare la gloria del fare«), ›muss voll Eifer, Hitze und Unerschütterlichkeit nach Ruhm für sein Denken, sein Sagen und sein Schreiben streben‹ (»ricerchi, con ansietà, bollore ed ostinazione, quella del pensare, del dire, e dello scrivere«; DT 90). Es gilt dabei nicht zu vergessen, dass das damalige Europa in Alfieris Augen beinahe überall tyrannisch regiert wurde, so dass er sich mit seinen politischen Traktaten an das gesamte Europa, nicht bloß an Italien allein, wenden wollte. Auch im Sonett Uom, cui nel petto von 1788 heißt es, dass dem Mann, in dessen Brust »irresistibil ferve | Vera di gloria alta divina brama« (›das hohe und göttliche Sehnen nach wahrem Ruhm auf unwiderstehliche Weise glüht‹),13 kein anderer Ausweg bleibe, als die eigene, von Tyrannei befleckte Heimat zu verlassen. Weil er aber sein ›Nest‹ (»nido«), sein _____________ 12
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›Wenn ich es aber wage und Euch bitte, mich mit Wohlwollen zu betrachten und vom großen Haufen der modernen Schriftsteller zu unterscheiden, dann erwächst diese Kühnheit allein aus meinem Bewusstsein: dass es zwar vom Schicksal gewollt war, dass ich in die moderne Zeit hineingeboren wurde, und mit meinem Streben und mit meinem Geist doch immer in Eurer Zeit und unter Euch gelebt habe, soweit es in meinen Kräften stand‹. Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume IX: Rime. Edizione critica. A cura di Francesco Maggini. Asti 1954, S. 156).
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Vaterland also, weder vergessen noch ›mit der Klinge befreien‹ kann, ehrt er ›mit der Feder zugleich sich selbst und lässt die Seinen ihre Sklaverei erkennen‹ (»Liberarlo con brando non gli è dato; | Con penna dunque in un se stesso onora | E a’ suoi conoscer fa lor servo stato«).14 In vergleichbarer Weise betont der Dichter in der Selbstreflexion eines Briefes von 1787, er habe sein unseliges Schicksal, dorthin geworfen zu sein, wo er nicht hätte leben sollen, nur durch das Schreiben als freier Mann lindern können. Alles Handeln sei ihm jedoch verwehrt gewesen: […] et voulant corriger mon sort, qui m’a fait naître si mal à propos où je ne l’aurai pas du, puisqu’il m’est absolument interdit d’agir, il ne me reste qu’à écrire en homme libre.15
Auf solche Aussagen stützen sich die Urteile über Alfieris Werk, wie sie Saverio Bettinelli, Madame de Staël, August Wilhelm Schlegel, Giacomo Leopardi und andere mehr gefällt haben. Als »politico che vuol far il poeta« (›Politiker, der Dichter spielen möchte‹) bezeichnet ihn Bettinelli mit relativierender Absicht in einem Brief von 1790 an den Kanonikus Ignazio De Giovanni – in der Tat ein Verriss von Alfieris Dichtung.16 »[M]ehr politisch und moralisch als poetisch« sei er inspiriert, meint Schlegel in den Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, einem der Schlüsseltexte für die italienische Romantik und nicht nur für diese; seine Tragödien seien daher »mehr wie Handlungen des Mannes als wie Werke des Dichters«17 zu loben. Von Leopardi führe ich allein den folgenden Passus aus Il Parini, ovvero della gloria an: […] veggiamo che i più degli scrittori eccellenti, e massime de’ poeti illustri, di questa medesima età; come, a cagione di esempio, Vittorio Alfieri; furono da principio inclinati straordinariamente alle grandi azioni: alle quali ripugnando i tempi, e forse anche impediti dalla fortuna propria, si volsero a scrivere cose grandi.18
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Alfieri: Rime (Anm. 13), S. 156. Vittorio Alfieri a Van Russel, 26 giugno 1787; in: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume XIV: Epistolario. A cura di Lanfranco Caretti. Volume I (1767-1788). Asti 1963, S. 362364, hier S. 363. Bettinelli, Saverio: Lettera diretta al signor canonico De Giovanni del Collegio delle Arti Liberali in Torino sulla nuova edizione delle tragedie del C. Alfieri; in: Illuministi italiani. Tomo II: Opere di Francesco Algarotti e di Saverio Bettinelli. A cura di Ettore Bonora. Milano – Napoli 1969 (La letteratura italiana 46, 2), S. 1174-1183, hier S. 1179 und S. 1783. Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. In: Schlegel, August Wilhelm: Kritische Schriften und Briefe V. Herausgegeben von Edgar Lohner. Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1966 (Sprache und Literatur 33), S. 242. – Zu Bettinellis Einschätzung vgl. Binni, Walter: Il giudizio del Bettinelli sull’Alfieri; in: Binni, Walter: Studi alfieriani II. A cura di Marco Dondero. Modena 1993 (Studi e documenti 7), S. 267-273. Leopardi, Giacomo: Il Parini, ovvero della gloria; in: Leopardi, Giacomo: Poesie e prose. A cura di Rolando Damiani e Mario Andrea Rigoni con un saggio di Cesare Galimberti.
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Leopardi schloss sich später dem kritischen Urteil an,19 wie es Madame de Staël im 7. Buch ihres Romans Corinne ou l’Italie formuliert hat: Alfieri […] étoit né pour agir, et il n’a pu qu’écrire: son style et ses tragédies se ressentent de cette contrainte. Il a voulu marcher par la littérature à un but politique: ce but étoit le plus noble de tous sans doute; mais n’importe, rien ne dénature les ouvrages d’imagination comme d’en avoir un.20
Auch Manzoni – in seiner Jugend ein Alfierianer (und Parinianer dazu) – reiht sich in diese Front ein, wenn er Alfieris Theater als eine ›rettorica in dialoghi‹ definiert.21 Das Vorbild des piemontesischen Dichters hat auch den besonneneren Foscolo beeinflusst, der sich im Sonett A se stesso (1800) auf ähnliche Weise darstellte: »A chi altamente oprar non è concesso | Fama tentino almen libere carte« (›Wem hohes Handeln nicht vergönnt ist, | dem soll wenigstens freies Schreiben Ruhm gewähren‹).22
II Einerseits haben wir also – in Della tirannide – eine unbedingte Erklärung der Unabhängigkeit des freien Schriftstellers. Andererseits erweist sich die Literatur in Zeiten der Tyrannei – oder zumindest diejenige Literatur, die der Rede wert ist – als bloße Ersatzhandlung. Der ›liber’uomo‹ stellt eine Ausnahme dar und ›beschreibt herbe Blätter‹ doch nur deshalb, weil er nicht handeln kann. Literatur als Notbehelf also. In Del principe e delle lettere – komplexer, wenngleich weniger einheitlich als das vorhergehende Traktat23 – heißt es, dass die Fürsten ›Schriftsteller par excellence‹ wären, weil sie eine »totale indipendenza« (›totale Unabhän_____________
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Volume secondo: Prose. A cura di Rolando Damiani. Milano 1988 (I meridiani), S. 84-115, hier S. 85 (›wir sehen, dass die herausragenden Schriftsteller, insbesondere die bedeutenden Dichter, jener Zeit wie Alfieri, um ein Beispiel zu nennen, zumeist aus Prinzip ganz ungemein nach großen Taten strebten; weil ihnen die Zeitläufte dies verweigerten und vielleicht auch, weil ihre eigenen Glücksumstände dem zuwider liefen, wandten sie sich dem Schreiben großer Dinge zu‹). Leopardi, Giacomo: Zibaldone di pensieri. Edizione critica e annotata. A cura di Giuseppe Pacella. Volume seconda. Milano 1991, S. 2556 (Zibaldone 4483f.). Staël, [Anne Louise Germaine] Madame de: Corinne ou l’Italie. Tome 1. Une édition féministe de Claudine Herrmann. [Paris] 1979, S. 176f. Tommaseo, Niccolò: Colloqui col Manzoni; in: Colloqui col Manzoni di N. Tommaseo, G. Borri, R. Bonghi seguiti da Memorie manzoniane di Cristoforo Fabris, con introduzione e note di Giovanni Titta Rosa. 42 tavole fuori testo. Milano 1954, S. 37-170, hier S. 110. Foscolo, Ugo: A se stesso; in: Foscolo, Ugo: Le poesie. Introduzione, note e commenti di Marcello Turchi. IX edizione. [Milano] 1995 (I grandi libri Garzanti 82), S. 40f., hier S. 41. Vgl. Croce, Benedetto: Sul trattato ›Del principe e delle lettere‹ di Vittorio Alfieri; in: Croce, Benedetto: Saggi filosofici XII: Discorsi di varia filosofia. Volume secondo. II edizione. Bari 1959, S. 240-251.
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gigkeit‹; DP 139) genießen und ›niemanden zu fürchten haben, der mächtiger wäre als sie selbst‹ (»non-timore di verun altro individuo più potente di loro«; DP 139).24 Dass es sich dennoch anders verhält, liegt in ›ihrer angeborenen Aversion‹ (»innata loro avversione«; DP 139) gegen die Wahrheit begründet – gegen eine Wahrheit, die ihnen unweigerlich Abbruch tun müsste und nur von dem erkannt und ausgesprochen werden kann, der über diejenige ›Neigung zur Großmut‹ (»indole generosa«; DP 140) verfügt, wie sie Tyrannen nicht eignet. Die Liebe zur Wahrheit unterscheidet die weit ›edlere‹ und ›rechtmäßigere‹ Unabhängigkeit des Schriftstellers von der des Fürsten. Der Dichter – da es doch zuallererst um diesen geht – bringt das Höchste der Menschheit zum Ausdruck, der Tyrann hingegen das Niedrigste, weil seine potenzielle Freiheit in Verworfenheit mündet, da er die Wahrheit nicht liebt. ›Das Schreiben der Wahrheit ist ein unablässiger Angriff auf die, die in der Lüge leben‹ (»lo scrivere il vero è un continuo oltraggiare chi vive del falso«; DP 154) – so steht es auch im Traktat zu lesen. Unzweifelhaft kommt es zwischen Fürst und Dichter zu einer besonderen Spiegelung, wobei sich letzterer in ersterem verzerrt abbildet. Freilich berühren sich beide Extreme gelegentlich, und wenn der Tyrann Saul auf sehr indirekte Weise die autobiographischste Figur in Alfieris Theater verkörpert, so ist der von ›absoluter Herrschaft befleckte‹ Friedrich II. von Preußen zwar ein Tyrann, wäre aber seiner außergewöhnlichen Tugenden wegen vielleicht gar würdig gewesen, ›nicht als König geboren zu werden‹ (»Costui macchiato di assoluto regno […] non nascer re forse era degno«).25 Als Widerspiel des Tyrannen ist der Dichter zwar auf andere Weise, jedoch ebenfalls dem ›Haufen der NichtMenschen‹ (»turba di non-uomini«; DP 140) entgegengesetzt, die immer in der Überzahl sind (im Dialog La virtù sconosciuta werden sie als »nati-morti« (›Totgeborene‹) definiert).26 Was aber erlaubt es dem echten Dichter, über seinen Charakter und seine wahre Berufung hinaus, eine solche Unabhängigkeit zu genießen? Alfieri betont, dass diese Unabhängigkeit allein der Adelskaste ihrer ökonomischen Autonomie wegen vergönnt sei: _____________ 24
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Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Die Bemerkung zur ›Angst-Freiheit‹ des Tyrannen steht im Widerspruch zu einem Kapitel in Della tirannide, das der geradezu kanonischen Angst des Tyrannen gewidmet ist, die sich von der seiner Untertanen nicht unterscheiden soll; vgl. Di Benedetto, Arnaldo: La vicendevole paura; in: Di Benedetto, Arnaldo: Le passioni e il limite. Un’interpretazione di Vittorio Alfieri. Nuova edizione riveduta e accresciuta. Napoli 1994 (Collana di testi e di critica 30), S. 125-133. Alfieri: Rime (Anm. 13), S. 137 (Il gran Prusso tiranno). Alfieri, Vittorio: La virtù sconosciuta. Dialogo. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume terzo: Scritti politici e morale. Volume primo. A cura di Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 255-284, hier S. 260.
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Io perciò consiglierei di farsi scrittori a quei pochi soltanto, che non hanno bisogno, o non vogliono migliorare il loro stato quanto alla ricchezza: e, a chi non si trova in queste circostanze, consiglierei pur sempre di prescegliere ogni altra arte a quella dello scrivere. (DP 151)27
Natürlich lassen sich diese Worte leicht als Übertreibung begreifen. In einem gewissen Sinn, so hat (unter anderem) Croce eingewendet, ist jeder Mensch einer Art von Schutz bedürftig. Man kann aus diesem Gedanken aber auch einen unheilbaren Klassen-Instinkt des piemontesischen Dichters herauslesen, den sein großer Zeitgenosse und Höfling Goethe bekanntlich als »stockaristokratisch« qualifiziert hat,28 und vielleicht hätte es im Italien des späten 18. Jahrhunderts auch andere Lösungen gegeben. Immerhin hat sich Alfieri nie von seiner Verdammung der Aristokratie in einem Kapitel von Della tirannide distanziert (DT 58-66); wie es bei ihm heißt, verschenkt der Adel beinahe immer die eigene politische Unabhängigkeit, weil ihm die Knechtschaft nun einmal eingefleischt sei.29 Die Würde des unabhängigen Schriftstellers, insbesondere die des Dichters, übertrifft die des bildenden Künstlers und des Musikers bei weitem (DP 180-187). Damit aber noch nicht genug. Sie wird nun sogar noch über die des Helden der Tat gestellt, wenngleich aus anderen Gründen. _____________ 27 28
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›Ich würde daher nur den Wenigen raten, Schriftsteller zu werden, die keine Bedürfnisse haben oder sich nicht bereichern wollen: Wer sich hingegen nicht in solchen Umständen befindet, dem könnte ich nur zu jedem anderen Handwerk als dem Schreiben raten‹. Johann Wolfgang Goethe an Carl Friedrich Zelter, 3. 12. 1812; in: Goethe, Johann Wolfgang: Napoleonische Zeit. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 10. Mai 1805 – 6. Juni 1816. Teil II: Von 1812 bis zu Christianes Tod. Herausgegeben von Rose Unterberger. Frankfurt/M. 1994 (Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke II 7 (34) = Bibliothek deutscher Klassiker 101), S. 133-137, hier S. 135. – Zu Goethe und Alfieri vgl. Di Benedetto, Arnaldo: Nelle ›regioni boreali‹. Varia fortuna di Alfieri in Germania; in: Di Benedetto, Arnaldo: Il dandy e il sublime. Nuovi studi su Vittorio Alfieri. Firenze 2003 (Saggi di ›Lettere italiane‹ 58), S. 117-135, hier S. 117-127; sowie Di Benedetto, Arnaldo: Alfieri fuori di casa; in: Di Benedetto, Arnaldo: Fra Germania e Italia. Studi e flashes letterari. (Con una breve appendice su Alfieri a Londra e Alfieri e la Francia). Firenze 2008 (Villa Vigoni. Studi italo-tedeschi 11), S. 9-37, hier S. 25-28. – Als »intensely patrician stoic« figuriert Alfieri bei oben erwähnter Vernon Lee ( The Countess of Albany. With Portraits. Second Edition. London – New York 1910, S. 162). Die Idee des Schriftsteller-Aristokraten, wie sie Alfieri konzipiert hat, wird bekanntlich auch von Pietro Giordani und dem jungen Leopardi geteilt. In diesen Zusammenhang gehört auch Silvio Pellicos Klage darüber, seines Lebensunterhalts wegen gezwungen zu sein, als Hofmeister im Mailänder Haus der Familie Porro Lambertenghi zu arbeiten: »Senza i denari d’una Stael, o almeno d’Alfieri, il letterato non può che infamarsi per vivere« (Silvio Pellico al fratello Luigi, 15 settembre (1816); in: Pellico, Silvio: Lettere milanesi (1815-’21). A cura di Mario Scotti. Torino 1963 (Giornale storico della letteratura italiana. Supplemento 28), S. 63-66, hier S. 65: ›Ohne das Geld einer de Staël oder wenigstens eines Alfieri muss sich der Schriftsteller notwendig entwürdigen, wenn er leben will‹).
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Das 1783 begonnene Traktat Del principe e delle lettere ist in Kehl zugleich mit Della tirannide unter der falschen Jahresangabe 1785 publiziert worden. Unter den neuen Gedanken dieses Werkes gilt es auch die Unterscheidung zwischen einer ›Eleganz des Ausdrucks‹ und einer ›Erhabenheit und Kraft des Denkens‹ hervorzuheben (»la eleganza del dire, che non la sublimità e forza del pensare«; DP 121). Diese Distinktion zwischen ›Eleganz‹ und ›Erhabenheit‹, die sicherlich auf Peri hypsous des Pseudo-Longinos und auf ähnliche Unterscheidungen zurückgeht, wie sie in den Artikeln Génie und Sublime der Encyclopédie vorkommen, findet sich auch in anderen Traktaten des 18. Jahrhunderts. Es ist nicht der einzige Begriff in Alfieris Schriften, den er dem antiken Autor verdankt, dessen Werk sich nicht in einem bloßen Traktat zur Rhetorik erschöpft.30 Wenn der Pseudo-Longinos das Erhabene als Widerhall einer großen Seele beschreibt, dann hebt Alfieri seinerseits hervor, dass kein Schriftsteller über ›erhabene Dinge‹ schreiben könne, solange ihm keine ›wahrhaft erhabene Seele‹ eigen ist (DP 154160). Weitere Stellen vergleichbarer Art ließen sich anführen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es jedoch nicht um die Berührungspunkte zwischen Alfieris Auffassung und Peri hypsous, wobei die Beziehung von Seiten des piemontesischen Dichters keineswegs bloß rezeptiv war; es kommt auch nicht darauf an, seine Affinitäten und Differenzen zu anderen Erhabenheitstheorien herauszustreichen, wie sie im 18. Jahrhundert formuliert worden sind.31 In Del principe e delle lettere heißt es, dass der ›wahre Schriftsteller‹ aus einer »necessità di sfogo« (›Notwendigkeit des Überflusses‹) heraus aktiv wird, anstatt einer »necessità di bisogno« (›Notwendigkeit der Bedürfnisses‹; DP 138) zu folgen. Ganz direkt und nicht mehr durch eine unpersönliche und theoretische Redeweise vermittelt, erklärt Alfieri auch in seiner Vita die eigene zähe Beständigkeit im Schreiben _____________ 30
31
Vgl. die schönen Ausführungen zu Peri hypsous von Abrams, M[eyer] H[oward]: The Mirror and the Lamp: Romantic Theory and the Critical Tradition. New York 1958 (Norton Library 102), S. 134-136. – Vgl. auch die elegante Einführung von Giulio Guidorizzi in: Anonimo: Il sublime. A Cura di Giulio Guidorizzi. Milano 1991 (Classici Greci e Latini 5), S. 7-28, insbesondere S. 7-22. Die Bezüge zu Peri hypsous habe ich bereits in Alfieri e le passioni (Di Benedetto, Arnaldo: Alfieri e le passioni; in: Giornale storico della letteratura italiana 158 (1981) 593, S. 321343) sowie in Le passioni e il limite (Anm. 24) diskutiert. – Über die zwei Artikel aus der Encyclopédie hinaus hat Alfieri mit hoher Wahrscheinlichkeit auch das Kapitel ›Du sublime‹ in De l’homme (VIII, 14) von Claude-Adrien Helvétius gekannt, wo dem Erhabenen das Schöne gegenübergestellt wird (von Helvétius war ihm De l’esprit vertraut); denkbar ist zudem, dass Alfieri die dem Erhabenen gewidmeten Seiten in Saverio Bettinellis Dell’Entusiasmo delle belle arti gekannt hat. Schwierig ist demgegenüber (obwohl es gelegentlich, wenngleich ohne Beleg, versucht wird), die Bekanntschaft mit Edmund Burkes berühmter Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful nachzuweisen, die schon in ihrem Erscheinungsjahr 1757 ins Französische übersetzt worden war.
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aus schlichter Liebe zur Kunst heraus und als reine Herzensergießung.32 Den wahren Schriftsteller mache es aus, unter dem Druck des »forte sentire« (›heftigen Empfindens‹; DP 202) den »impulso naturale« (›natürlichen Antrieb‹; DP 224) in Tätigkeit umzusetzen, den Alfieri dem »impulso artificiale« (›künstlichen Antrieb‹; DP 228) gegenüberstellt; letzterer bringt bestenfalls elegante und mittelmäßige Schriftsteller hervor, die nur mit »mezzo ingegno e il debile impulso« (›halbem Talent‹ und ›schwachem Drang‹; DP 147) begabt seien. Das deckt sich mit der Auffassung vieler Theoretiker des 18. Jahrhunderts, die einen Ansatz des Pseudo-Longinos weiterentwickelt haben: die Unterscheidung zwischen Genie und Talent (zu diesen Theoretikern gehört auch Bettinelli in Dell’Entusiasmo delle belle arti). Ein Sonett Alfieris (Bella, oltre l’arti tutte…) von 1795 definiert die Poesie als »del forte sentir più forte figlia« (›der starken Empfindung noch stärkere Tochter‹).33 Damit noch nicht genug. Das ›im hohen Ton von hohen Dingen Sprechen‹ (»dire altamente alte cose«) bedeutet, dem Verfasser des Del principe e delle lettere zufolge, un farle in gran parte; e […] per lo più chi ben disse, in parità di circostanze, di tanto avrebbe superato chi ben fece, di quanto dovea il dicitore aver avuto un ben maggior impulso per darsi interamente ad esaminare, conoscere, innovare, o rettificare una cosa, da cui, non potendola egli eseguire, niuno altro frutto per allora sperava, che la semplice gloria dell’averla ben ideata, e ben detta. (DP 157)34
Homer ist ein Achill und ein Agamemnon; mehr noch ist er aber ein Schriftsteller, der Figuren wie diese zu erschaffen weiß. Im »scrittore grande« (›großen Schriftsteller‹) »ci è per lo più l’eroe di cui narra, e ci è di più il sublime narratore« (›steckt zumeist der Held, von dem er erzählt, und zudem noch der erhabene Erzähler selbst‹; DP, 158). Und weiter: […] se un eccellente scrittore vuol dipingere un eroe, lo crea da sè; dunque lo ritrova egli in sè stesso. […] Onde io nell’esecutore di una impresa sublime ci vedo un grand’uomo; ma nel sublime inventore e descrittore di essa, a me pare di vedercene due. (DP 158)35
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Vita di Vittorio Alfieri da Asti. Scritta da esso. Testo e Concordanze a cura di Stefania De Stefanis Ciccone e Pär Larson. Viareggio – Lucca 1997, S. 101 (Epoca quarta. Capitolo decimosettimo). Alfieri: Rime (Anm. 13), S. 229. ›[…] sie zum großen Teil zu schaffen; wer etwas gut zur Sprache bringt, wird – den Umständen entsprechend – zumeist den übertroffen haben, der etwas gut tut, weil der, der es sagt, eines umso größeren Impulses bedarf, um sich gänzlich dem Untersuchen, Erkennen, Erneuern oder Verbessern einer Sache zu widmen, von der er – weil er sie nicht ausüben kann – keinen anderen Nutzen zu erhoffen hat, als den schlichten Ruhm, sie gut erdacht und gut ausgedrückt zu haben‹. ›Wenn ein herausragender Schriftsteller einen Helden malen will, dann schafft er ihn aus sich heraus; er findet ihn also in sich selbst. […] Im Täter einer erhabenen Unternehmung sehe ich also einen großen Mann; im erhabenen Erfinder und Beschreiber dieses großen Mannes sehe ich aber beide‹.
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Der große Dichter hat also die Seele eines Helden der Tat: Ihn treibt der gleiche ›Impuls‹ an wie die Heroen und auch wie die christlichen Märtyrer und Heiligen: wie jene Heiligen und Märtyrer, die – in den Augen des nicht gläubigen Alfieri – von einer entweihenden Aufklärungspublizistik zu Unrecht belächelt werden, weil diese die großmütige Selbstlosigkeit, von der jene beseelt waren, nicht zu begreifen vermag. Die vom Dichter gestaltete Welt der Heroen findet er in sich selbst. Allgemeiner gesagt: Der »scrittore sublime« (›erhabene Schriftsteller‹) findet »tutto in sé stesso, ed in sé solo« (›alles in sich selbst und in sich allein‹; DP 179): Diese Auffassung liegt auf einer Linie mit bestimmten Ästhetiken des 18. Jahrhunderts, denen es um die Produktivität oder Kreativität des poetischen Genies ging und die daher den mimetischen bzw. (hinsichtlich der Natur wie der literarischen Muster) ›vervollkommnenden‹ (›perfezionatore‹) Charakter der Dichtung abstritten; die im 18. Jahrhundert weithin verbreitete MimesisTheorie hallt allerdings auch in Del principe e delle lettere nach.36 Folgerichtig hätte auch Petrarca, wie Alfieri später in einem Brief an seinen Freund Tommaso Valperga di Caluso schreiben wird (25. November 1799), »eternato la sua gatta, se ne avesse voluto scrivere, quanto la sua Laura« (›genau wie seine Laura auch seine Kätzin verewigt, wenn er über sie hätte schreiben wollen‹).37 ›In den Händen des Genius ist nichts belanglos‹ (»nulla è insignificante nelle mani del genio«)38 formuliert in analoger Weise ein Aphorismus Johann Heinrich Füsslis. In seiner Hochschätzung des Dichters (wie überhaupt des unabhängigen ›Literaten‹), an der er festhalten sollte und die sich im Laufe der Zeit höchstens noch verstärkte, scheint sich Alfieri – keineswegs als Einziger in seiner Zeit – auf einen gewissen Romantizismus hin zu bewegen.39 Diesem Romantizismus in _____________ 36
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Auch Meyer Howard Abrams bemerkt: »Even the reputedly radical proponents of ›original genius‹ in the second half of the century [das 18. Jahrhundert; A. D. B.] commonly found that a work of genius was no less an imitation for being an original« (Abrams: The Mirror and the Lamp (Anm. 30), S. 12). Vittorio Alfieri a Tommaso Valperga di Caluso, 25 novembre 1799; in: Alfieri, Vittorio: Epistolario. A cura di Lanfranco Caretti. Volume III (1799-1803). Asti 1989, S. 39-42, hier S. 42. Füssli, Johann Heinrich: Aforismi sull’arte. Traduzione di Giovanna Franci. Con uno scritto di Claudio Strinati. Milano 2000 (Carte d’artisti 6), S. 22. Der Abwertung von Alfieris Auffassung, wie sie Paul Sirven in Vittorio Alfieri formuliert und René Wellek aufgegriffen hat, kann ich nicht folgen (vgl. Wellek, René: A History of Modern Criticism 1750-1950. Volume I: The Later Eighteenth Century. Cambridge – London – New Rochelle – Melbourne – Sydney 1981, S. 136f.). – In Italien hat, in anderem Zusammenhang, Ludovico di Breme 1817 in spinozistischen Begriffen betont, dass der Dichter nicht die natura naturata nachahmt, sondern natura naturans, und folglich ein schöpferischer Geist ist. Breme hat in seinem Grand Commentaire, aber auch schon in der Rede Intorno all’ingiustizia di alcuni giudizi letterari italiani (1816) hervorgehoben, dass es zwar gelte, die Natur nachzuahmen, aber in der Art eines Wettkampfs mit ihr (vgl. Breme, Ludovico di: Intorno all’ingiustizia di alcuni giudizi letterari italiani. Discorso; in: Manifesti
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einem weiten Sinn, der im ebenfalls romantischen Alessandro Manzoni seinen Gegner finden sollte, wird sich immerhin Leopardi anschließen, der Vertreter einer antimimetischen Theorie der schöpferischen Poesie, bei dem es dann sogar heißt: »il poeta non è imitatore se non di sé stesso« (›Der Dichter ist höchstens der Nachahmer seiner selbst‹).40 Die anderen Künste und die Wissenschaften haben, wie in Del principe e delle lettere zu lesen steht, keinen Teil an der spezifischen Eigenschaft der Poesie, und wenn jenen die Protektion der Fürsten sogar zum Vorteil gereichen kann (zumindest zu Beginn), dann wird allein die Poesie dadurch zur Gänze und auf alle Zeit beschädigt. An Stellen wie den oben zitierten identifiziert sich der freie Schriftsteller mit dem Genie – dieser im 18. Jahrhundert neu entstandene Begriff ist in Alfieris Wortschatz zwar nur im herkömmlichen Sinn von ›Einstellung‹ (»attitudine«), ›Gestimmtheit‹ (»predisposizione«) und ›Berufung‹ (»vocazione«) präsent,41 ihm aber dennoch gut vertraut. Gleiches gilt für das korrelierende Konzept – und auch den Terminus – der ›Originalität‹. »Chi molto legge prima di comporre, ruba senza avvedersene, e perde l’originalità, se l’avea« (›Wer viel liest, bevor er selber schreibt, merkt gar nicht, wie er zum Dieb wird, und verliert die Originalität, sofern er sie überhaupt besessen hat‹)42 – so heißt es z. B. in der Vita, und in anderem Zusammenhang: »io sempre ho preferito originale anche tristo ad ottima copia« (›selbst ein schlechtes Original habe _____________
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romantici e altri scritti della polemica classico-romantica. A cura di Carlo Calcaterra. Nuova edizione ampliata a cura di Mario Scotti. Torino 1979 (Classici italiani 79), S. 99-142, hier S. 132 und Breme, Ludovico di: Dal ›Gran Commentaire‹; in: Manifesti romantici e altri scritti della polemica classico-romantica. A cura di Carlo Calcaterra. Nuova edizione ampliata a cura di Mario Scotti. Torino 1979 (Classici italiani 79), S. 150-180, hier S. 153). – Die Begriffe ›creazione‹ und ›creare‹ spielen auch in Saverio Bettinellis Dell’Entusiasmo delle belle arti (1769, 2. Teil 1780) eine Rolle. Leopardi: Zibaldone di pensieri (Anm. 19), S. 2470 (Zibaldone 4372f.). Vgl. »›s’egli ha veramente quel genio, che voi gli supponete, quel genio lo infiammerà e lo costringerà più assai al far versi, che non la necessità, o il garrire del padre, allo studiare e professare le leggi‹« (›wenn er jenes Genie, das ihr ihm zuschreibt, wirklich besitzt, dann wird es ihn entflammen und viel stärker zum Versemachen treiben, als der Zwang der Umstände, oder das Drängen des Vaters, ihn dazu bringen kann, die Gesetze zu studieren und sie zum Beruf zu machen‹; DP 147). − Zu Beginn des zweiten Teils des Traktats Dell’ Entusiasmo delle belle arti (der dem Artikel Génie der Encyclopédie verpflichtet ist) betont Bettinelli, dass die italienische Sprache noch keinen eigenen Begriff festgelegt habe für das, was in anderen europäischen Sprachen ›Genie‹ heißt; er selbst verwendet den Begriff bewusst als Fremdwort (Bettinelli, Saverio: Dei Geni (Dell’Entusiasmo, II). A cura di Alessandro Serra. Modena 1986 (Strumenti 2), S. 25). – Bettinelli definiert die ›Genies‹ als »anime elevate a vedere rapidamente cose inusitate e mirabili, passionandosi e trasfondendo in altrui la passione« (ebd., S. 26: ›hoch stehende Seelen, die blitzschnell Ungewöhnliches und Wunderbares wahrzunehmen vermögen‹, die die sich in leidenschaftliche Erregung versetzen und diese Leidenschaft auf andere übertragen‹). Alfieri: Vita (Anm. 32), S. 84 (Epoca terza. Capitolo duodecimo).
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ich immer der besten Kopie vorgezogen‹).43 In seiner Kritik der Urteilskraft bezeichnet z. B. Immanuel Kant die Originalität als »erste Eigenschaft« des Genies.44 Auch Goethe hat, unter Vermeidung jeder politischen Implikation, in einer 1827 in Kunst und Alterthum veröffentlichten Maxime das Genie an die Wahrheitsliebe gebunden: »Das erste und letzte was vom Genie gefordert wird ist Wahrheitsliebe«.45 Autoren von diesem Schlag – und nur solche – können Alfieri zufolge »un nuovo secolo letterario« (›eine neue literarische Epoche‹; DP 242) begründen, und sie werden sogar »più forti e feroci dei Greci« (›stärker und heftiger noch als die Griechen‹; DP 243) sein, weil sie unter ganz anderen und ungünstigeren Umständen schreiben. Der einzige Schriftsteller, den Alfieri ernst zu nehmen vermag, ist – wie gezeigt – der ›erhabene‹ Schriftsteller, d. h. die Ausnahmeerscheinung des Genies. Das sollten auch alle diejenigen bedenken, die den immer widerständigen Piemonteser der ›Jugend von heute‹ (und nicht nur der Jugend) dadurch nahebringen wollen, dass sie auf seine Autobiographie und die dortigen Erzählungen von seinem jugendlichen Aufbegehren verweisen, das dem ›ihren doch so ähnlich‹ sei (wie mancher unbedachte Spezialist und Popularisator sagt). Die Vita ist nun einmal die Geschichte einer Ausnahme: »esser primo fra gli ottimi, o […] non esser nulla« (›unter den Besten der Erste sein, oder […] gar nichts sein‹; DP 225), wie es in Del principe e delle lettere heißt. Die Vita erzählt im Kern das stufenweise Aufblühen aus sich heraus und schließlich die Einsicht in die unbezweifelbare Berufung zum Dichter. Das macht das Grundgerüst von Alfieris Autobiographie aus, obwohl sie sich darauf nicht beschränkt und auch ihre selbstironische (nicht aber selbstentwürdigende) Dimension nicht übersehen werden darf. In erzählerischer Form illustriert die gewissermaßen auf Realerfahrung gründende Vita die in Del principe e delle lettere formulierte Regel: Il primo obbligo dunque di chi si destina scrittore, egli è d’imparare a conoscere in sè stesso questo sublime impulso, e, conosciuto, a dirigerlo. (DP 227)46
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Alfieri: Vita (Anm. 32), S. 77 (Epoca terza. Capitolo duodecimo). Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Herausgegeben von Karl Vorländer. Unveränderter Neudruck der Ausgabe von 1924. Hamburg 1963 (Philosophische Bibliothek 39 a), S. 161 (§ 46). Goethe, Johann Wolfgang: Maximen und Reflexionen. In: Goethe, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Wanderjahre – Maximen und Reflexionen. Herausgegeben von Gonthier-Louis Fink, Gerhart Baumann und Johannes John. München – Wien 1991 (Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe 17), S. 715-953, hier S. 786. ›Erste Pflicht dessen, der sich zum Schriftseller bestimmt, ist es, in sich selbst jenen erhabenen Impuls erkennen zu lernen, und ihn, einmal erkannt, auch zu steuern‹.
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Die Vita erzählt, wie ein Genie das eigene Genie entdeckt, oder um mit Nietzsches Ecce homo zu sprechen: ›wie man wird, was man ist‹. Wenn für den Kant der Kritik der Urteilskraft ebenso wie für den Schelling der Philosophie der Kunst das Genie einzig »ein Talent zur Kunst« ist,47 dann schränkt Alfieri das allein auf die Dichtung ein.48 Allerdings fehlt es bei ihm nicht an Unschärfen, und gelegentlich »sembra confondere nella stessa categoria di scrittori Machiavelli e Montaigne, Bayle e Montesquieu e Locke, e Dante, Virgilio e Orazio« (›scheint er sogar Schriftsteller wie Machiavelli und Montaigne, Bayle und Montesquieu und Locke, Dante, Vergil und Horaz in ein und derselben Kategorie zusammenzufassen‹);49 unbeschadet dessen bleibt es aber wahr, dass ihm bei ›seiner Vorstellung vom idealen Schriftsteller zuallererst die Dichter vor Augen stehen‹ (»ha pur sempre presenti, delineando il suo scrittore ideale, più che altri, i poeti«).50 Noch in Del principe e delle lettere sind es die Dichter, und nur sie, die »la prima classe di letterati« (›den obersten Rang der Literaten‹; DP 184) bilden. Auch die Auffassung vom Dichter als einem Ausnahmemenschen sollte schließlich, im Guten wie im Schlechten, von der Romantik übernommen werden – selbst von der alles in allem moderaten Romantik in Italien – und sich bis in die Gegenwart halten. Im berühmtesten der so genannten manifesti der Romantik von 1816, Giovanni Berchets Lettera semiseria, steht dort, wo es um die Theorie der ›aktiven Neigung zur Poesie‹ (der nur Wenigen vorbehaltenen Fähigkeit Poesie hervorzubringen) geht, unter anderem zu lesen: La natura, versando a piene mani i suoi doni nell’animo di que’ rari individui ai quali ella concede la tendenza poetica attiva, pare che si compiaccia di crearli differenti affatto dagli altri uomini in mezzo a cui li fa nascere. Di qui le antiche favole sulla quasi divina origine de’ poeti, e gli antichi pregiudizi sui miracoli loro, e l’»est deus in nobis«.51
In Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759) hat es geheißen: »Hence genius has ever been supposed to partake of something _____________ 47 48 49 50 51
Kant: Kritik der Urteilskraft (Anm. 44), S. 172 (§ 49). Zur Entwicklung des Genie-Begriffs in romantischer Zeit vgl. D’Angelo, Paolo: L’estetica del romanticismo. Bologna 1997 (Lessico dell’estetica 9), S. 115-122. Fubini, Mario: Vittorio Alfieri (Il pensiero – La tragedia). Firenze 1953 (Bibliotheca sansoniana critica 16), S. 59. Fubini: Vittorio Alfieri (Anm. 49), S. 59. – Fubini spielt konkret auf Del principe e delle lettere II 9 an). Berchet, Giovanni: Lettera semiseria Poesie. A cura di Alberto Cadioli. Milano 1992 (Biblioteca universale Rizzoli 864. I classici della BUR), S. 72 (›Indem die Natur aus vollen Händen ihre Gaben in die Brust derjenigen seltenen Individuen ergießt, denen sie die aktive Neigung zu Poesie mitteilt, scheint sie ihre Freude daran zu haben, sie ganz anders zu erschaffen als die anderen Menschen, unter denen sie sie zur Welt kommen lässt. Hierin wurzeln die antiken Erzählungen vom göttlichen Ursprung der Dichter, der antike Aberglauben von ihren Wundertaten und das ›est deus in nobis‹).
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divine«.52 Das geht nicht über die Auffassung hinaus, die auch der Mailänder Romantiker Manzoni vertritt: Die Ausnahmeerscheinung des poetischen Genies hat ganz natürliche, nämlich psychologische, Ursachen. Auch Young nimmt hierzu an, das ›Original‹ erwachse »spontaneously from the vital root of genius«.53 René Wellek kommentiert dies folgendermaßen: »The poet’s imagination ceases to be a constructive combinatory faculty and becomes the creator of a second world«.54 Für Johann Georg Hamann, den von Goethe im höchsten Maß bewunderten Philosophen in Königsberg, ahmt der Dichter die göttliche Schöpfung nach, insofern als die Welt die Sprache Gottes ist, und übersetzt also »aus einer Engelssprache in eine Menschensprache«.55
III Vor diesem Hintergrund lässt sich begreifen, wie Alfieri zur folgenden Hyperbel gelangen konnte: Lo scrivere, è una necessità di bisogno in molti; e questi per lo più non possono essere veramente scrittori, né io li reputo tali: lo scrivere, è una necessità di sfogo in alcuni; e questa, ben diretta, modificata, e affatto scevra di ogni altro bisogno, può spingere l’uomo a essere quasi che un Dio.56 (DP 138; Hervorhebung A. D. B.)
Im selben Kapitel wird die Literatur als »il più nobile, il più elevato, il più sacro, e quasi divino ufficio« (›das edelste, höchste, heiligste und beinahe göttliche Amt‹; DP 139) definiert. Darüber hinaus heißt es, dass der ›natürliche‹ Impuls ein ›göttlicher‹ sei und das Schreiben eine ›göttliche Kunst‹ (DP 161-168). Mag es sich hier um rhetorische Übertreibungen handeln, so gilt es sie doch nicht zu unterschätzen. Der Pöbel wird zwar, wie in einem Sonett von 1790 (Poeta, è nome…) zu lesen steht, die falschen Poeten schätzen, die »vuoti | Armonïosi incettator d’oblio« (die ›leeren, wohlklingenden Hascher der Vergessenheit‹);57 abgesehen von Gott aber _____________ 52 53 54 55 56
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[Young, Edward]: Conjectures on Original Composition. In a Letter to the Author of ›Sir Charles Grandison‹. The second Edition. London 1759, S. 27. Young: Conjectures (Anm. 52), S. 12. Wellek: A History of Modern Criticism I (Anm. 39), S. 110. Hamann, Johann Georg: Aesthetica in nuce. In: Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. II. Band: Schriften über Philosophie / Philologie / Kritik 1758-1763. Wien 1950, S. 195-217, hier S. 199. ›Schreiben ist für viele eine Notwendigkeit, die im Mangel gründet; diese können zumeist keine wahren Schriftsteller sein, und ich achte sie auch nicht als solche: In manchen ist Schreiben aber eine Notwendigkeit, die im Überfluss gründet; wenn diese wohl geregelt, geordnet und von aller anderen Bedürftigkeit frei gehalten wird, dann kann sie den Menschen beinahe zu einem Gott erhöhen‹. Alfieri: Rime (Anm. 13), S. 212.
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weiß allein ein anderer wahrer Poet die von »furor natio« (›angeborener Leidenschaft‹)58 beseelten Dichter zu begreifen und zu beurteilen. Einer der besten Interpreten Alfieris hat diese Stelle mit einem berühmten Passus in Herders Briefen zu Beförderung der Humanität in Verbindung gebracht (»Auch die Kritik ist ohne Genius nichts. Nur ein Genie kann das Andre beurteilen und lehren«59), nicht ohne zugleich darauf zu verweisen, dass sich Alfieri nicht um das Kritiker-Genie bekümmert, sondern nur darauf zielt, ›jene privilegierten Wesen, die die Dichter sind, vom Rest der Menschheit abzutrennen‹ (»isolare dal resto dell’umanità quegli esseri privilegiati, che sono i Poeti«):60 Ben può sentenza il volgo dar su i vuoti Armonïosi incettator d’oblio, Di baje pregni, e al vero Apollo ignoti: Ma prezzar quelli, che il furor natio Sforza a dir carmi a Verità devoti, Non l’osi, no, chi non è Vate, o Iddio.61
In analoger, wenngleich weniger exaltierter Weise wird Giacomo Leopardi im Zibaldone schreiben, dass ›es nur den wahren Poeten und wahren Philosophen gegeben ist, an Werken der Poesie und Philosophie Geschmack zu finden und sie wenigstens einigermaßen wertschätzen zu können‹ (»il gustare, e potere anche mediocremente estimare il valor delle opere di poesia e di filosofia, non è che de’ veri poeti e de’ veri filosofi«).62 Dem ›erhabenen‹ Dichter gilt – im Kern und indirekt – auch der Satz in einem Brief vom 10. Dezember 1796, der allerdings auf einen ganz anderen Anlass bezogen ist (auf den Tod Mario Bianchis, des Geliebten von Teresa Regoli Mocenni): Viva dunque l’ignoranza e la poesia, per quanto elle possono stare insieme: imaginiamo, e crediamo l’imaginato per vero: l’uomo vive d’amore, l’amore lo fa Dio; che Dio chiamo io l’uomo vivissimamente sentente […].63
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Alfieri: Rime (Anm. 13), S. 212. Herder, Johann Gottfried: Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Martin Bollacher u. a. Band 7: Briefe zur Beförderung der Humanität. Herausgegeben von Hans Dietrich Irmscher. Frankfurt/M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker 63), S. 569 (106. Brief). Fubini: Vittorio Alfieri (Anm. 49), S. 62; vgl. auch Wellek: A History of Modern Criticism I (Anm. 39), S. 184f. Alfieri: Rime (Anm. 13), S. 212. Leopardi: Zibaldone di pensieri (Anm. 19), S. 1772 (Zibaldone 3385). Vittorio Alfieri a Teresa Regoli, 10 dicembre 1796; in: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume XV: Epistolario. A cura di Lanfranco Caretti. Volume II (1789-1798). Asti 1981, S. 197f., hier S. 198 (›Ein Hoch also auf die Unwissenheit und auf die Poesie, insofern sie miteinander bestehen können: Wir imaginieren etwas und halten das Imaginierte dann für wahr: Der Mensch lebt von der Liebe, die Liebe macht ihn zu Gott, denn einen Gott nenne ich den im höchsten Maß empfindenden Menschen‹).
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Der im höchsten Maß empfindende Mensch ist par excellence kein anderer als der Dichter. Und auch hier findet sich ein Gedanke angedeutet, der dem vom Dichter als einem Schöpfer nahe kommt: »imaginiamo, e crediamo l’imaginato per vero« (›Wir entwickeln Vorstellungen und halten diese Vorstellungen für wahr‹).64
IV Vom Heros der verhinderten Tat dazu zu gelangen, als Dichter-Held zu wirken – darin erreicht die Menschheit ihren Gipfelpunkt: den ›Übermenschen‹, um einen zwar nicht in Italien, jedoch in der Kultur Deutschlands gängigen Begriff zu benutzen. Der große Schriftsteller, so steht in Del principe e delle lettere zu lesen, ist »maggiore d’ogni altro uomo« (›größer als jeder andere Mensch‹; DP 158). Hierin kulminiert Alfieris Auffassung vom Dichter. Der Rückgriff auf das ›forte sentire‹ und auf den ›impulso naturale‹ erklärt, warum er die Trennung von Werk und Autor bestreitet; er hat also die Meinung zurückgewiesen, derzufolge – um es mit seinen eigenen Worten zu sagen – ›der Leser das Buch beurteilen muss und nicht den Menschen‹ (»il lettore dee giudicare il libro e non l’uomo«; DP 170). An sich ist das eine geradezu sakrosankte Unterscheidung, auch wenn sie hier vielleicht zu grobschlächtig formuliert wird. Seinerzeit hat Benedetto Croce in diesem Zusammenhang Unabweisbares geschrieben.65 Halten wir uns aber lieber streng an den Blickwinkel Alfieris, weil dieser uns hier zuallererst interessieren muss. Für ihn bilden der große Mann und die wahre Dichtung ein untrennbares Ganzes, weil zum ›Schreiber erhabener Dinge‹ ein ›höchst erhabenes Gemüt‹ gehört (»lo scrittore di cose sublimi debba essere di sublissimo animo«; DP 158), wie gezeigt worden ist: Seine Kunst ist die Ergießung einer höheren Seele. Ohne die tiefreichenden theoretischen Implikationen dieser Frage ausloten zu wollen, mag doch ein vorläufiges Urteil über jene Ablehnung erlaubt sein: Alfieri hat einer Halbwahrheit eine andere Halbwahrheit entgegengesetzt. Dahinter steht allerdings ein Bedürfnis nach Kohärenz, das den Bereich des Ästhetischen bei weitem transzendiert. Es ist die Kohärenz des indischen Philosophen Calano aus der Komödie I Troppi, eines spöttischen Selbstmörders, der im Finale des Stückes tut, was die opportunistischen und feigen Redner Athens nur predigen, aber nicht in die Tat umsetzen:
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Vittorio Alfieri a Teresa Regoli (Anm. 63), S. 198. Vgl. Croce: Sul trattato (Anm. 23), S. 249-251.
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»Quel che voi dite, il fa« (›Was ihr sagt, das tut er‹),66 bemerkt der Höfling Clito im 4. Akt über ihn. Auch die Philosophen werden hier wieder den ›Literaten‹ zugerechnet, ja, sie sind sogar deren wichtigste Vertreter nach den Poeten (vgl. DP 180-187). Dem in Alfieris Komödien, die in die letzte Phase seiner Laufbahn gehören, allgegegenwärtigen Skeptizismus zum Trotz und in Übereinstimmung mit seiner Selbstwahrnehmung als Achill und Thersites zugleich (also als Held wie als Antiheld) bleibt in La Finestrina – einer Komödie, die die falsche Größe der herausragendsten historischen Persönlichkeiten dadurch demaskieren will, dass eine Öffnung (das titelgebende ›Fenster‹) in der Brust die tatsächlichen – »nei più astrusi nascondigli del cuor dell’uomo« (›in den dunkelsten Winkeln des menschlichen Herzens‹)67 – verborgenen Absichten zu lesen erlaubt, kann sich als einziger Homer, der unabhängige Dichter, einigermaßen retten. Homer ist freilich eine Figur, die im ersten Entwurf bzw. in der ›idea‹ des Werks noch gar nicht vorgesehen war. An »Omero si metta in evidenza la superiorità dell’arte sua« (›an Homer muss die Überlegenheit seiner Kunst deutlich werden‹),68 heißt es in der Prosa-Fassung der Komödie. Hinzu kommt, dass Homer »fa vedere che quella poca perfettibilità possibil nell’uomo è reperibile nel Poeta, ogni qual volta egli sia indipendente, e pasciuto del suo« (›zeigt, dass sich das bisschen Vervollkommnungsfähigkeit, das dem Menschen möglich ist, im Dichter finden lässt, wann immer dieser unabhängig ist und von sich selber zehrt‹).69 Zur Schluss-Szene heißt es dort: Omero interpellato da Mercurio, dà conto, e dimostra, che i Poeti, ed egli specialmente, apritori di gran finestre altrui, son per lo più i soli, che possano con meno scapito spalancare la loro propria.70
In einem Brief an den Freund Valperga di Caluso von 1800, ungefähr zeitgleich also mit den ersten Notizen zu La Finestrina, findet sich folgender Satz: »I veri Letterati, che non fanno bottega del loro sapere, son vera_____________ 66 67 68 69 70
Alfieri, Vittorio: I Troppi. Commedia III. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume XI: Commedie. A Cura di Fiorenzo Forti. Volume II: I Troppi – L’Antidoto. Testo definitivo e redazioni inedite. Asti 1953, S. 1-118, hier S. 87. Alfieri, Vittorio: La Finestra. Idea. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume XII: Commedie. A cura di Fiorenzo Forti. Volume III: La Finestra – Il Divorzio. Testo definitivo, idee, stesure, prime verseggiature. Asti 1958, S. 59-63, hier S. 62. Alfieri: La Finestra. Commedie V. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume XII: Commedie. A cura di Fiorenzo Forti. Volume III: La Finestra – Il Divorzio. Testo definitivo, idee, stesure, prime verseggiature. Asti 1958, S. 71-97, hier S. 85. Alfieri: La Finesta (Anm. 68), S. 92. Alfieri: La Finestra (Anm. 68), S. 97 (›Der von Merkur befragte Homer bezeugt und macht deutlich, dass die Dichter, und insbesondere er selbst, die bei Anderen die Fenster zu öffnen wissen, zumeist die einzigen sind, die ihre eigenen Fenster ohne größeren Schaden weit aufmachen dürften‹).
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mente i Re di questo mondo« (›Die wahren Literaten, die ihr Wissen nicht zu Markte tragen, sind wahrhaft die Könige dieser Welt‹).71 Und in einer Anmerkung zur vorletzten Szene der Vers-Fassung von La Finestrina schreibt Alfieri: »I Poeti sono i più puri di tutti i Grandi, quando scrivon per se, e del suo, e non pasciuti dai grandi« (›Die Dichter sind die reinsten unter allen Großen, wenn sie für sich selbst und aus sich heraus schreiben und nicht von den Großen gefüttert werden‹).72 (Aus dem Italienischen übersetzt von Albert Meier)
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Vittorio Alfieri a Tommaso Valperga di Caluso, 21 aprile 1800; in: Epistolario III (Anm. 37), S. 67-70, hier S. 68. Alfieri, Vittorio: La Finestra. Commedia V. Morali-fantastica dalla favola [verseggiatura]. In: Opere di Vittorio Alfieri da Asti. Volume XII: Commedie. A cura di Fiorenzo Forti. Volume III: La Finestra – Il Divorzio. Testo definitivo, idee, stesure, prime verseggiature. Asti 1958, S. 133-206, hier S. 203, Anm. 162. – Zur langen literarischen und bildkünstlerischen Motivtradition des ›Fensters‹ vgl. Rigoni, Maria Andrea: Una finestra aperta sul cuore. (Note sulla metaforica della ›Sinceritas‹ nella tradizione occidentale); in: Lettere italiane 26 (1974) 4, S. 434-458. Im 18. Jahrhundert taucht es auch bei Gasparo Gozzi auf. Zu den denkbaren Quellen Alfieris zählt sicher Vitruv (Vorwort zum dritten Buch De architectura), bei dem das Fenster allerdings nicht nur Schuftigkeiten, sondern auch geheime Tugenden erkennen lässt; dass Alfieri ein Wort wie ›finestrato‹ verwendet, scheint in der Tat auf Vitruvs pectora fenestrata zu verweisen.
GIOVANNA CORDIBELLA Kunstreligion in der italienischen Romantik? Der Fall Alessandro Manzoni im Kontext des frühen Mailänder romanticismo ›Religione dell’arte‹: Begriffsgeschichte und Vorüberlegungen Im Vergleich zur literarischen und ästhetischen Tradition Deutschlands taucht der Begriff ›Kunstreligion‹ (›religione dell’arte‹) in Italien spät auf: Erst um 1850 lassen sich eindeutige Belege für seine Verwendung nachweisen. In dieser Zeit ist nicht nur eine intensivere Rezeption philosophischer Schriften wie der Phänomenologie des Geistes und der Ästhetik Hegels zu beobachten, deren Übersetzung (zuerst ins Französische)1 die entsprechende Begrifflichkeit der italienischen Diskussion zugänglich macht (die Formel ›religione dell’arte‹ wird z. B. von Francesco De Sanctis, einem Vertreter des frühen Hegelianismus, schon in neapolitanischen Vorlesungen der Jahre 1845-1846 verwendet).2 Auch im italienischen Literaturdiskurs zeichnen sich, noch bevor im fin de siècle eine massive Ästhetisierung einsetzt, Konturen einer eigenen Konzeptualisierung des Terminus ab. Erste Anzeichen dafür findet man bei Giosuè Carducci, der als Dichter und Philologe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine der zentralen Figuren des literarischen Lebens in Italien war. Im Jahr 1853 beruft er sich in einer Rede vor den Mitgliedern der Accademia dei Filomusi _____________ 1
2
Vgl. Cours d’esthétique, par W[ilhelm].-Fr[iedrich]. Hegel. Analysé et traduit par M[agloire] Ch[arles] Bénard. 4 tomes. Paris – Nancy 1840-1851; La filosofia dello spirito di Giorgio G. F. Hegel (Ordinata da Giovanni Schulze). Illustrata da Ludovico Boumann. Traduzione dall’originale per A[lessandro] Novelli. Neapel 1863; Estetica di Giorgio G. F. Hegel. Ordinata da H[einrich] G[ustav] Hotho: Traduzione dall’originale per A[lessandro] Novelli. 4 Volumi. Neapel 1863-1864. – Siehe auch: Il primo hegelismo italiano. A cura di Guido Oldrini. Prefazione di Eugenio Garin. Firenze 1969. De Sanctis verwendet den Begriff mit Bezug auf die griechische Antike (»Presso i Greci ci fu la religione dell’arte«) und greift so die Formulierung ›Religion der Kunst‹ auf, die Hegel u. a. in den Vorlesungen über Ästhetik verwendet hat; vgl. De Sanctis, Francesco: Dello stile e la sua divisione; in: Opere di Francesco De Sanctis. A cura di Carlo Muscetta. Volume III: Purismo illuminismo storicismo. Lezioni. Tomo secondo. A cura di Attilio Marinari. Torino 1975, S. 1204-1246, hier S. 1230.
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emphatisch auf das »santissimo Sacerdozio delle lettere« (›hochheilige Priestertum der Literatur‹),3 um Jahre später von seiner »religione per la grande arte pura« (›Religion für die große, reine Kunst‹)4 zu sprechen. Diese Äußerungen, die im Kontext von Carduccis Tendenz einer entschiedenen Überhöhung und Sakralisierung der Kunst stehen, deren andere Seite eine vehemente Kritik an der institutionalisierten christlichkatholischen Religion ist, blieben nicht ohne Resonanz bei den Zeitgenossen.5 Davon ausgehend entwarf Renato Serra in seiner bekannten Gedenkrede auf den Dichter das wirkmächtige Porträt Carduccis als Priester einer »religione delle lettere« und beschreibt sein Leben als der »religione dell’arte« gewidmet.6 Spätestens damit ist das Äquivalent zum deutschen Terminus ›Kunstreligion‹ auch im philologischen Diskurs Italiens etabliert. Im Folgenden soll die Perspektive aber nicht auf die Geschichte des Begriffs reduziert werden. Dass die »Entdifferenzierung von Kunst und Religion« – wie Ernst Müller betont hat – »ihr theoretisches Zentrum zunächst in Deutschland«7 gehabt hat und dass der zusammengesetzte, bedeutungsvariable terminus technicus ›Kunstreligion‹ in Deutschland geprägt wurde, ist bekannt. Hier wird stattdessen die Frage gestellt, ob sich in Italien – trotz der Verspätung bei der Aneignung und Verwendung des Terminus ›religione dell’arte‹ – nicht doch schon um 1800 Phänomene beobachten lassen, die gewisse Analogien zu denen im deutschen Kontext aufweisen. Kann man für die Zeit um 1800 auch in Bezug auf Italien von _____________ 3 4 5
6
7
Carducci, Giosue: Della Italia. Discorso inaugurale; in: Edizione nazionale delle opere di Giosue Carducci. Volume Quinto: Prose giovanili. Bologna 1941, S. 34-76, hier S. 34 (Übersetzung G. C.). Giosue Carducci a Enrico Nencioni, 7 decembre 1879; in: Opere scelte di Giosue Carducci. Volume secondo: Prose, commenti, lettere. A cura di Mario Saccenti. Torino 1993 (Classici italiani 52), S. 764f., hier S. 765 (Übersetzung G. C.). Zu den ersten Untersuchungen, die Carduccis ›religione‹ als »la grande Arte pura« behandeln, zählt Nencioni, Enrico: Giosuè Carducci [Fanfulla della Domenica, 1880, 10]; in: Saggi critici di letteratura italiana di Enrico Nencioni. Preceduti da uno scritto di Gabriele D’Annunzio. Firenze 1898, S. 337-350, hier S. 347. Serra, Renato: La commemorazione di Giosuè Carducci; in: Scritti di Renato Serra. A cura di Giuseppe De Robertis e Alfredo Grilli. Volume II. Firenze 1958, S. 609-628, hier S. 626. − Wie Ezio Raimondi bemerkt hat, ist es nicht auszuschließen, dass Serras Erwähnung einer ›religione delle lettere‹ im Portrait Carduccis auch dem Begriff einer ›religion littéraire‹ geschuldet ist, den Sainte-Beuve in De la tradition en littérature et dans quel sens il la faut entendre. Leçon d’ouverture à l’Ecole Normale. 12 avril 1858 (1) formuliert hat (in: Causeries du Lundi par Sainte-Beuve, C.-A. Tome quinzième. 3. édition. Paris o. J., S. 356-382, insbesondere S. 368); vgl. Raimondi, Ezio: Un europeo di provincia: Renato Serra. Bologna 1993 (Saggi 406), S. 67, Anm. 13. Müller, Ernst: Ästhetische Religiosität und Kunstreligion. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004 (Literaturforschung), S. XVII.
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jener »Amphibolie (Verwechselbarkeit, Doppeldeutigkeit) des Ästhetischen und Religiösen«8 sprechen, die sich als Folge der Säkularisierung in anderen nationalen Kontexten herausgebildet hat? Wie gestaltet sich die Ausdifferenzierung und wechselseitige Konturierung von ›Kunst‹ und ›Religion‹? Sind Ansätze einer Synthese oder gar kunstreligiöse Konzepte und Praktiken zu beobachten? Sicher haben solche Fragestellungen in Italien schon für Poetiken des späten 18. und auch für die präromantischen des frühen 19. Jahrhunderts eine gewisse Relevanz – zu nennen wären hier u. a. Ugo Foscolos Ansätze zu einer Sakralisierung der Kunst,9 die um 1810 in der humoristischen Figur des Literaten, Ex-Priesteranwärters (und von mehreren Interpreten als alter ego Foscolos gelesenen) Didimo Chierico eine ironische Modulierung erfahren.10 Meine Überlegungen werden sich allerdings auf den italienischen romanticismo, und hier besonders auf Alessandro Manzoni als einen seiner zentralen Protagonisten konzentrieren. Zwei Aspekte sind dabei entscheidend: 1) dass in Deutschland um 1800 im Umfeld der romantischen Kunsttheorien verschiedene kunstreligiöse Konzeptionen entwickelt werden; 2) die Tatsache, dass die deutsche Romantik auf die romanischen Literaturen, und damit – vor allem über die französische Vermittlung – auch auf die italienische Literatur eine gewisse Wirkung ausgeübt hat. Der romanticismo, soweit er – trotz seiner relativen Verspätung – als ein der deutschen Romantik verwandtes Phänomen verstanden werden kann, stellt ein wichtiges Untersuchungsfeld für die mögliche Entstehung der Kunstreligion in Italien dar. Deshalb müssen einerseits die Berührungspunkte mit der deutschen Romantik beachtet, andererseits und mehr noch aber auch die Unterschiede betont werden. Im Mittelpunkt meiner Ausführungen steht die frühe italienische Romantik. Es geht dabei um die ersten Manifeste, die im Rahmen der Polemik zwischen Klassikern und Romantikern verfasst wurden, und insbesondere um die Schriften der Gruppe des Conciliatore – diejenige Zeitschrift, die im September 1818 in Mailand von Literaten und Intellektuel_____________ 8 9 10
Müller: Ästhetische Religiosität (Anm. 7), S. IX. Vgl. u. a. Flora, Francesco / Nicastro, Luciano: Storia della letteratura italiana. Volume III: L’Ottocento e il Novecento. Milano 1940, S. 32f. Vgl. Mario Fubinis Erläuterung zur Notizia intorno a Didimo Chierico (Fubini, Mario: Ortis e Didimo. Ricerche e interpretazioni foscoliane. Milano 1963, S. 176): »[…] è facile scorgere in Didimo, fedele all’abito del sacerdote pur avendo rinunciato alla carriera sacerdotale, una allegoria di Ugo votato al sacerdozio delle lettere« (›es fällt leicht, in Didimo, der dem Priestergewand treu bleibt, obwohl er auf die Priester-Laufbahn verzichtet hat, eine Allegorie auf Foscolo zu sehen, der sich dem Priestertum der Literatur gewidmet hat‹, Übersetzung G. C.). – Foscolo hat die Notizia im Anhang zu seiner eigenen Übersetzung von Laurence Sternes Sentimental Journey publiziert, wobei er die Übersetzung der fiktiven Figur Didimo Chierico zuschreibt.
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len wie Giovanni Berchet, Pietro Borsieri, Ludovico di Breme und Ermes Visconti gegründet wird und deren Publikation die österreichische Zensur im Oktober 1819 verbietet. Gerade diese erste Phase des romanticismo ist bekanntlich für Manzoni von Bedeutung, der enge Kontakte zur Gruppe des Conciliatore hatte, obwohl er selbst in der Zeitschrift nicht veröffentlichte. Die Konstellation der hier behandelten Autoren macht es erforderlich, im Folgenden ein wichtiges Spezifikum der frühen italienischen Romantik zu berücksichtigen: Es handelt sich um einige bereits nachgewiesene Übereinstimmungen mit dem Gedankengut der – insbesondere lombardischen – Aufklärung, von deren radikaleren materialistischen und religionskritischen Aspekten sich die Mailänder romantici gleichwohl distanzieren.11 Daneben bildet die Tradition der Aufklärung (nicht nur der lombardischen) auch eine zentrale Komponente der kulturellen Prägung Manzonis. An diesem Punkt genügt es, an seine intensiven Kontakte zu den Kreisen der idéologues während seiner Zeit in Frankreich zu erinnern.12 Allerdings war damals in diesen Diskussionszirkeln bereits eine nachdrückliche kritische Revision der aufklärerischen Grundlagen in Gang und ergab ein kulturelles Klima, das nicht ohne Auswirkungen auf Manzonis intellektuelle Biographie bleiben sollte. Auch unter dem Eindruck dieser Diskussionen wird er – nach seiner Konversion zum Katholizismus im Jahr 1810 – eine eigene Position zum Kunst/Religion-Problem entwickeln. Im Folgenden werden also zunächst einige Aspekte der frühen italienischen Romantik skizziert, um die produktive Spannung zwischen Kunst und Religion zu beschreiben, die sie – trotz großer Heterogenität der verschieden Positionen – charakterisiert. Es folgt ein zweiter Teil, der sich mit Manzoni beschäftigt: zuerst eine Analyse seiner Lettera sul Romanticismo, die einen Anschluss an die vorher betrachteten Diskussionen darstellt, und anschließend Überlegungen zur Entwicklung des Verhältnisses zwischen Kunst und Religion von den Inni sacri bis zum philosophischen Traktat Dell’ invenzione.
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Vgl. Raimondi, Ezio: Romanticismo italiano e romanticismo europeo. Milano 1997 (Testi e pretesti), S. 42f.; Puppo, Mario: Poetica e critica del romanticismo italiano. Roma 1985 (Nuova universale Studium 47), S. 14f. Vgl. u. a. Gabbuti, Elena: Il Manzoni e gli ideologi francesi. Studi sul pensiero e sull’arte di Alessandro Manzoni con saggi di manoscritti inediti. [Prefazione di Vittorio Rossi]. Firenze 1936 (Pubblicazioni della Scuola di filologia moderna della R. Università di Roma 1).
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Gegen ›heidnische‹ Mythologie – für Moralisierung der Kunst: Ästhetische Heteronomie im Programm des Conciliatore In Italien entzündet sich die Polemik zwischen den Klassikern und den Romantikern bekanntlich im Jahr 1816 an der Publikation der Übersetzung von Madame de Staëls Essay De l’esprit des traductions. Madame de Staël richtete sich an »la belle Italie« und forderte eine verstärkte Übersetzung zeitgenössischer – insbesondere englischer und deutscher – Autoren mit dem Ziel, die italienische Literatur zu erneuern und veraltete Gepflogenheiten aufzugeben: »pour s’affranchir de certaines formes convenues« wie etwa dem häufigen Gebrauch der »images tirées de la mythologie ancienne«.13 Dieser Aufsatz wurde als Provokation rezipiert und polarisierte die Diskussion in zwei Lager, die sich in einer Art verspäteter ›Querelle des anciens et des modernes‹ gegenüberstanden. Auf der einen Seite befanden sich die classicisti, die die Notwendigkeit bekräftigten, eine nationale literarische Identität zu bewahren, und den Vorbildcharakter der antiken Mythologie verteidigten (sie wurde um 1800 auch von Autoren wie Alfieri und Foscolo im Umfeld des so genannten preromanticismo verwendet). Auf der anderen Seite standen die romantici, die sich gerade durch den Ausbruch der Polemik dazu anregen ließen, eine eigene Programmatik zu entwickeln. Es ist schon oft darauf hingewiesen worden, dass die italienischen Frühromantiker (mit einigen Ausnahmen) über kein ausgeprägtes philosophisches Reflexionsniveau verfügten.14 Obwohl ihre Positionen überaus heterogen und nicht immer kohärent sind, lassen sich doch die folgenden Leitaspekte der poetologischen Reflexionen isolieren, die den Problemzusammenhang von Kunst und Religion betreffen: 1) Im Gegensatz zu den klassizistischen Poetiken wird eine ästhetische Orientierung auch an christlichen Formen und Motiven propagiert – einige Mitglieder der Gruppe um den Conciliatore denken in diesen Jahren über den möglichen italienischen Beitrag zu einer »poesia cristiano-europea«15 nach. _____________ 13
14 15
Staël-Holstein, Anne Louise Germaine Baronne de: D l’esprit des traductions (I); in: Œuvres inédites de Mme la Baronne de Staël publiées par son fils. Tome troisième: Mélanges. Paris 1821, S. 335-347, hier S. 343; vgl. die italienische Übersetzung Sulla maniera e l’utilità delle traduzioni von Pietro Giordani (1816); in: Manifesti romantici e altri scritti della polemica classico-romantica. A cura di Carlo Calcaterra. Nuova edizione ampliata a cura di Mario Scotti. Torino 1979 (Classici italiani 79), S. 83-92, hier S. 89. Vgl. u. a. Puppo: Poetica e critica del romanticismo italiano (Anm. 11), S. 16. In einem Brief an Diodata Salluzzo vom 27. Mai 1816 formuliert Ludovico di Breme: »Ove sia stabilita una ragione poetica moderna, un sistema d’arti ideali oltre il greco ed il romano, entriamo noi necessariamente a figurarvi in prima linea, e noi, maestri già nell’imitazione di quegli antichi imitatori della natura, e precettori dell’Europa in quell’arte subalterna, faremo
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2) Nur in Einzelfällen werden dem Kunstwerk und dem Künstler göttliche, schöpferische oder prophetische Qualitäten zugeschrieben; in der Regel kommen diese Attribute freilich nicht zur Sprache, auch wenn sie nicht ausdrücklich in Frage gestellt werden. 3) Das Postulat der Kunstautonomie ist der italienischen Frühromantik fremd; programmatisch bleibt das Schöne – in Kontinuität mit der Tradition der lombardischen Aufklärung – dem Nützlichen untergeordnet. 4) Die Formulierung ›religion littéraire‹ wird nur metaphorisch verwendet (und noch dazu von Ludovico di Breme als demjenigen Autor, der mit den europäischen Debatten wohl am besten vertraut ist). ad 1) Einhellig ist die Kritik der frühen italienischen Romantiker an der Verwendung ›antiker Mythologie‹. Geteilt wird dabei vor allem eine geschichtsphilosophische Sicht auf die Entwicklung der Künste, die sich ausdrücklich auf das Konzept eines kulturellen Fortschritts bezieht. Wenn die Literatur von der Veränderung der Kulturen und der Zivilisationen abhängt, dann erscheint für die Modernen die Perpetuierung des antiken mythologischen Repertoires unangebracht, weil es seine Poetizität verloren habe. ›Die Mythologie‹ – so schreibt Ludovico di Breme 1818 – ›ist bestenfalls eine Ansammlung von Formeln, eine Art Fachsprache, und damit ist es gut: aber sie ist keine Poesie mehr‹.16 Dasselbe Argument wird wieder aufgenommen bei Ermes Visconti, der in seinen Idee elementari sulla poesia romantica (1818 im Conciliatore erschienen) auch den heidnischen Charakter der antiken Mythologie hervorhebt – als Themen, die der romantischen Literatur eigentümlich sind, nennt er »le immagini, riflessioni e racconti desunti dal cristianesimo« (›die vom Christentum abgeleiteten Bilder, Reflexionen und Geschichten‹).17 Gleichfalls ist es von Belang, dass _____________
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poi la prima comparsa campeggiando da assoluti originali ed esemplari in fatto di poesia cristiano-europea« (in: Breme, Ludovico di: Lettere. A cura di Piero Camporesi. Torino 1966 (Nuova universale Einaudi 73), S. 329-331, hier S. 330 (›Wo eine moderne Ordnung der Poesie etabliert wird, ein System idealer Künste über die der Griechen und der Römer hinaus, da müssen wir notwendigerweise im ersten Glied zu stehen kommen, und wir – Lehrmeister schon hinsichtlich der Nachahmung der Naturnachahmer aus der Antike und Erzieher ganz Europas in dieser subalternen Kunst – werden dann unseren Auftritt als absolute Originale und Vorbilder einer christlich-europäischen Dichtung haben‹, Übersetzung G. C.). »La mitologia è, al più, un corredo di formule, una lingua tecnica, ecco tutto: ma non è più poesia« (Breme, Ludovico di: Osservazioni su ›Il Giaurro‹ (1818); in: Manifesti romantici e altri scritti della polemica classico-romantica. A cura di Carlo Calcaterra. Nuova edizione ampliata a cura di Mario Scotti. Torino 1979 (Classici italiani 79), S. 187-252, hier S. 197). Visconti, Ermes: Idee elementari sulla poesia romantica (1818); in: Manifesti romantici e altri scritti della polemica classico-romantica. A cura di Carlo Calcaterra. Nuova edizione ampliata a cura di Mario Scotti. Torino 1979 (Classici italiani 79), S. 577-619, hier S. 603 (Übersetzung G. C.).
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sich Visconti in diesem Kontext auch polemisch auf die Lyrik des frühen Manzoni bezieht, besonders auf das mythologische Gedicht Urania, das vor der Konversion und vor dem Beginn der Auseinandersetzung mit der Romantik in Italien publiziert wurde und worin der zeitgenössische Neoklassizismus noch deutlich zu spüren ist: »Cessiamo adunque dall’ impinguare il catalogo de’ poemi e dei drammi fondati sui miracoli de’ numi Pagani, come la Semele di Schiller, e l’Urania di Manzoni […]«.18 Die Erwähnung Manzonis, der in diesem Jahr – 1818 – die eigene Poetik schon radikal neu definiert hatte und sich den Positionen der Romantiker annäherte, hat auch die Funktion, eine Wende zu unterstreichen, die sich am Horizont der italienischen Literatur abzeichnete. Zudem sind direkte Auswirkungen auf die Rezeptionsmodi zeitgenössischer europäischer Autoren bemerkbar. Ein Beispiel dafür ist die Rezension Silvio Pellicos zur italienischen Übersetzung von Schillers Maria Stuart, in der die Bedeutung religiöser Themen gerade im modernen Drama angesprochen wird – in einer Zeit, in der »l’incivilimento ha purgata la scena dalle sozzure dell’ antichità« (›die Zivilisierung unsere Bühnen von den Schändlichkeiten der Antike gereinigt hat‹).19 Neben den Schriften Madame de Staëls und Friedrich Bouterweks zirkulierten in Italien um diese Zeit – zunächst in französischer Übersetzung und dann, seit 1817, in der italienischen von Giovanni Gherardini – bereits die Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur von August Wilhelm Schlegel, einer der damals am meisten rezipierten Texte der deutschen Romantik.20 Die Passage, in der Schlegel bekräftigt, dass die »Religion […] die Wurzel des menschlichen Daseins«21 sei, war sicherlich vielen der italienischen Romantiker bekannt, ebenso die grundlegende Unterscheidung zwischen dem »Geist der gesamten antiken Poesie und Kunst« und dem »der modernen«22 in der ersten Vorlesung: Die Basis der roman_____________ 18
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Visconti: Idee elementari sulla poesia romantica (Anm. 17), S. 583f. (›Machen wir also Schluss mit der immer weiteren Ansammlung von Gedichten und Dramen, die auf den Wundern der heidnischen Götter begründet sind, wie die Semele von Schiller und die Urania von Manzoni‹, Übersetzung G.C.). Pellico, Silvio: ›Maria Stuarda‹. Tragedia di Schiller, ›recata per la prima volta del tedesco in italiano da Pompeo Ferrario‹ (Milano 1819); in: Opere Scelte di Silvio Pellico. A cura di Carlo Curto. Terza edizione riveduta e accresciuta. Torino 1968 (Classici italiani 80), S. 299-315, hier S. 313 (Übersetzung G.C.). Vgl. Destro, Alberto: Le ›Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur‹ di August Wilhelm Schlegel e le origini del romanticismo italiano; in: Riflessi europei sull’Italia romantica. A cura di Annarosa Poli e Emanuele Kanceff. Volume primo. Moncalieri 2000 (Civilisation de l’Europe 7), S. 61-71. Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. In: Schlegel, August Wilhelm: Kritische Schriften und Briefe. Herausgegeben von Edgar Lohner. Band V. Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1966 (Sprache und Literatur 33), S. 23. Schlegel, A. W.: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur I (Anm. 21), S. 22.
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tischen Künste (die ihren Ursprung im Mittelalter haben) liegt Schlegel zufolge im Christentum – dieser »ebenso erhabene[n] als wohltätige[n] Religion«, die »die erschöpfte und versunkene alte Welt wiedergeboren«23 habe. Die Vorlesungen Schlegels sind bekanntlich auch für Manzonis poetologische Überlegungen zum Drama ein zentraler Referenztext.24 ad 2) An diesem Punkt gilt es die Frage zu stellen, ob auch in der italienischen Romantik der Typus des autonomen Dichters erscheint, der aufgrund besonderer Inspiration Zugang zum Numinosen gewinnt. In den Manifesten und Schriften des romanticismo werden dem Künstler bzw. dem Kunstwerk selten göttliche, schöpferische oder prophetische Qualitäten zugestanden. Beachtenswert sind in dieser Hinsicht die Schriften Ludovicos di Breme, eines Autors, der internationale Kontakte (u. a. zu August Wilhelm Schlegel und Madame de Staël) pflegte und dessen Beiträge zur Debatte sich durch Klarheit der Reflexion und theoretisches Interesse auszeichnen. Vor allem müssen die Osservazioni su »Il Giaurro« aus dem Jahr 1818 behandelt werden, die neben anderen Reaktionen der Zeitgenossen auch eine polemische Antwort von Giacomo Leopardi provoziert haben, der damals freilich nur eine Randfigur auf Seiten der classicisti war.25 Ludovico di Breme formuliert eine Poetik des Erhabenen und des Pathetischen, indem er sich ausdrücklich auf Pseudo-Longin beruft und in der Innerlichkeit der Menschen die Existenz eines »Vero infinito« (›unendlichen Wahren‹) anerkennt;26 überdies hebt er die »molto vasta sfera d’immaginazioni« (den ›sehr weiten Imaginationsraum‹) der Modernen hervor. Diese bestimmen sich – Breme zufolge – über ihre ›spirituellen und asketischen Religionen, dank derer, während die Antiken ihre Götter elend und irdisch darstellten, wir die Menschen himmlisch machen‹.27 In diesen Äußerungen wird also eine Verbindung zwischen ›spirituellen Religionen‹, Potenzierung der modernen Imagination und Innerlichkeit sowie eine Erhöhung des Menschen zu einer Dimension des Göttlichen durch die Kunst sichtbar – eine enge Korrelation, die im _____________ 23 24 25
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Schlegel, A. W.: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur I (Anm. 21), S. 24. Vgl. u. a. Puppo, Mario: La ricezione di Schlegel da parte di Manzoni; in: Goethe e Manzoni. Rapporti tra Italia e Germania intorno al 1800. A cura di Enzo Noè Girardi. Firenze 1992 (Villa Vigoni. Studi italo-tedeschi 2), S. 91-96. Der Aufsatz Discorso di un italiano intorno alla poesia romantica (1818), den Leopardi als Antwort auf Ludovico di Breme verfasst hat, blieb zu Leopardis Lebzeiten unveröffentlicht. − Für eine Untersuchung der Position Leopardis im zeitgenössischen Debattenzusammenhang vgl. u. a. Bonavit, Riccardo: Descrizione di una battaglia. Leopardi e la querelle classico-romantica; in: Antichi e Moderni I (1998), S. 21-73. Breme, Ludovico di: Osservazioni su ›Il Giaurro‹ (Anm. 16), S. 196 (Übersetzung G. C.). »[…] religioni […] spirituali e ascetiche, mercè di cui, laddove gli antichi rendevano miseri e terreni i loro Dei, noi rendiamo celesti gli uomini« (Breme, Ludovico di: Osservazioni su ›Il Giaurro‹ (Anm. 16), S. 196).
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weiteren Zusammenhang einer modernen Poetik des Erhabenen anzusiedeln ist. Bremes Position in der Debatte zwischen Klassikern und Romantikern bleibt, auch wenn sie große Aufmerksamkeit erregt und intensiv rezipiert wird, dennoch vergleichsweise isoliert. Bezeichnend ist hierfür ein Artikel Pietro Borsieris, der im Jahr der Publikation von Ludovico di Bremes Osservazioni im Conciliatore erschien. Es handelt sich um eine polemische Reflexion, die der Argumentation in der Vorlage entgegenläuft. Borsieris Thema ist das Verhältnis zwischen Dichtung und Prophetie, was bereits im Titel pointiert wird: Sullo spirito profetico de’ poeti. In sarkastisch-kritischem Ton verweigert Borsieri den modernen Dichtern die Anerkennung eines prophetischen Vermögens, das ausschließlich den antiken zugestanden wird: I primi poeti furono venerati dagli antichissimi popoli come uomini ispirati e santi […]. Però quando Orfeo invocava una deità che lo ispirasse, egli infondeva nelle sue parole tutta la sacra autorità di una potenza soprannaturale […]. Così a poco a poco i poeti persuadettero di avere un intimo commercio con qualche iddio che a loro disserrava la magica scena del futuro, e li costituiva profeti sulla terra. […] Se non che ai nostri tempi la poesia ha cessato affatto di essere una potenza sociale come a quelli d’Orfeo, e di risentirsi dell’influenza di uno spirito celeste […]. E nondimeno si vantano ancora i verseggiatori […] di essere rapiti dal delfico furore […]. Davvero nell’udirli io perdono al volgo se ride schernevolmente sul viso a questi profeti del passato […].28
Markiert wird hier einmal mehr die konstitutive Differenz zur Antike, in diesem Fall mit der Betonung des veränderten Status des modernen Dichters, der für Borsieri eben kein Prophet ist und sich also der Funktion als Medium des Höchsten und Absoluten entzieht (dennoch ist nicht zu übersehen, dass der Anlass für den Artikel in der zeitgenössischen Polemik zu verorten ist – es geht in erster Linie um eine Kritik am Habitus der neoklassischen ›Versschmiede‹). Die zwei angeführten Beispiele verdeutlichen die Heterogenität der Positionen, die die romantici in Bezug auf das _____________ 28
[Borsieri, Pietro:] Sullo spirito profetico de’ poeti; in: Il Conciliatore. Foglio scientificoletterario. A cura di Vittore Branca. Volume I – Anno I (3 settembre 1818 – 31 dicembre 1818). Prima ristampa. Firenze 1965, S. 138-141, hier S. 138 (›Die ersten Dichter wur-den von den ältesten Völkern als inspirierte und heilige Menschen verehrt […]. Als Orpheus eine Gottheit anrief, die ihn inspirierte, legte er in seine Worte tatsächlich die ganze heilige Autorität einer übernatürlichen Macht […]. So schufen die Dichter nach und nach die Überzeugung, in einem besonders engen Austausch mit einigen Göttern zu stehen, die ihnen den magischen Verlauf der Zukunft enthüllten und sie zu Propheten auf Erden machten. […] In unserer Gegenwart dagegen ist die Poesie nicht länger eine kollektive Macht wie zu Orpheus’ Zeiten und sie steht nicht länger unter dem Einfluss eines himmlischen Geistes […]. Und nichtsdestotrotz rühmen sich die Verseschmiede weiterhin […], von delphischem Furor gepackt zu sein […]. Wirklich, wenn ich sie höre, vergebe ich dem Volk, das diesen Propheten der Vergangenheit verächtlich ins Gesicht lacht […]‹; Übersetzung G. C.).
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Fungieren des Dichters als Medium Gottes, auf die Interpretation der Dichtung als Offenbarung sowie auf die religiöse Erhöhung des Künstlers bzw. des Kunstwerks haben. Diese Zuschreibungen werden von einzelnen Autoren formuliert oder auch nur angedeutet und sind mit Blick auf die Gesamtheit der zeitgenössischen Manifeste und Diskussionen eindeutig marginal. ad 3) Ein weiterer wichtiger Aspekt, der damit in enger Verbindung steht, ist den frühen Programmen der italienischen Romantik gemeinsam: die Funktionalisierung des Schönen zugunsten des Nützlichen. Das Programm des Conciliatore – in dieser Hinsicht sehr eindeutig – wurde von Pietro Borsieri in der Nachfolge der aufklärerischen Zeitschrift Il Caffè verfasst,29 die um die Mitte des 18. Jahrhunderts ebenfalls in Mailand von Cesare Beccaria und den Brüdern Verri herausgegeben worden war. Wie für ihre aufklärischen Vorläufer ist es auch für die Gruppe der Mailänder Romantiker die »utilità generale« (›allgemeine Nützlichkeit‹),30 die den Sinn von ›Schriften und Büchern jeder Art‹, auch der »belle lettere«, begründen muss. Dasselbe Prinzip ist auch in anderen Manifesten und Schriften zu finden, so in den bereits zitierten Idee sulla poesia romantica von Visconti, wo der ›Zweck der Dichtung‹ dem grundlegenden Ziel des »perfezionamento dell’umanità« (›Vervollkommnung der Menschheit‹)31 untergeordnet wird. Der Kunst wird also eine Funktion bei der gesellschaftlichen und kulturellen Vervollkommnung zuerkannt, manchmal sogar ein expliziter moralischer und pädagogischer Zweck. Deshalb ist das Prinzip der Kunstautonomie kein sehr nahe liegender Gedanke für die frühe italienische Romantik – ganz im Gegensatz zur deutschen, in der das Autonomiepostulat bekanntlich eine Voraussetzung für die Profilierung des Begriffs ›Kunstreligion‹ darstellt.32 Auch für Manzoni spielt das Konzept der Nützlichkeit der Kunst eine große Rolle. So findet man zum Beispiel in den sogenannten Materiali estetici um 1817 die Notiz, dass die »belle lettere« nützlich sein und »come un ramo delle scienze morali« (›als ein Zweig der Moralischen Wissenschaften‹)33 betrachtet werden sollten. _____________ 29 30 31 32 33
Vgl. Spaggiari, William: Il programma del ›Conciliatore‹; in: Idee e figure del ›Conciliatore‹. Gargano del Garda (25-27 settembre 2003). A cura di Gennaro Barbarisi e Alberto Cadioli. Milano 2004 (Quaderni di Acme 63), S. 71-97, insbesondere S. 88f. [Borsieri, Pietro:] Programma (1818); in Il Conciliatore. Foglio scientifico-letterario. A cura di Vittore Branca. Volume I – Anno I (3 settembre 1818 – 31 dicembre 1818). Prima ristampa. Firenze 1965, S. 3-10, hier S. 6 (Übersetzung G. C.). Visconti: Idee elementari sulla poesia romantica (Anm. 17), S. 599 (Übersetzung G. C.). Vgl. u. a. Müller: Ästhetische Religiosität (Anm. 7), S. 149-192. Manzoni, Alessandro: Materiali estetici; in: Tutte le opere di Alessandro Manzoni. A cura di Alberto Chiari e Fausto Ghisalberti. Volume quinto: Scritti linguistici e letterari. Tomo terzo: Scritti letterari. A cura di Carla Riccardi e Biancamaria Travi. Milano 1991 (I classici Monadori), S. 3-51, hier S. 20 (Übersetzung G. C.).
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ad 4) Es bleiben noch einige Äußerungen Ludovico di Bremes zu bedenken, dessen Schriften auch sprachlich – d. h. in metaphorischen Formulierungen – eine gewisse Tendenz zu einem religiös überhöhten Kunstbegriff zeigen. Man muss zum Mindesten auf die Verwendung des Terminus ›religion littéraire‹ in seinem Grand Commentaire verweisen, der 1817 in Genf in französischer Sprache publiziert wurde. In diesem Pamphlet resümiert Breme die Polemik zwischen classici und romantici und bezeichnet die Angriffe des Lagers der classici auf Madame de Staël als »réfutations« des »saint-office classique«,34 womit er eine Analogie zwischen dem Tribunal der Inquisition und der Opposition der Klassiker gegen die Autorin des Essays De l’esprit des traductions herstellt. In Fortführung dieser metaphorischen Konstruktion erklärt Breme, dass Madame de Staël eine ›literarische Religion des wahren und zeitgenössischen Denkens und Fühlens‹ predige. Hier der vollständige Passus: Les ouvrages de Madame de Staël prêchent la religion littéraire de la pensée et des sentiments vrais et contemporains: ils consacrent à la gloire la seule imagination productive, non cette imagination de commande qui imite servilement la verve d’autrui […].35
Breme greift einmal mehr die servile Nachahmung der antiken Dichter an, um im Gegenzug die Notwendigkeit einer ›imagination productive‹ zu bekräftigen. Eindrucksvoll ist auch sein Porträt Madame de Staëls als Predigerin einer modernen ›literarischen Religion‹, die seiner Auffassung nach in Italien viele Anhänger hatte. Um nochmals zu resümieren: Vor allem in diesem metaphorischen Gebrauch ist in den Schriften und Manifesten der frühen italienischen Romantiker eine klare religiöse Überhöhung des ästhetischen Kunstbegriffes festzustellen. Dominant hingegen ist die Forderung nach einer Ästhetisierung der Religion und einer Moralisierung der Kunst, die auch bei Manzoni eine zentrale Stelle einnimmt.
Manzonis Funktionalisierung der Kunst im Zeichen der Religion Als Anschluss an das, was bislang ausgeführt wurde, eignet sich keine der Schriften Manzonis besser als der Brief Sul romanticismo, der im September 1823 an den Marchese Cesare D’Azeglio geschrieben wurde. Die Schrift, die eine luzide Bilanz der italienischen Romantik darstellt, sollte ein pri_____________ 34 35
Breme, Ludovico di: Grand Commentaire (1817). A cura di Giovanni Amoretti. Milano 1970 (Scrittori italiani. Sezione letteraria), S. 155. Breme, Ludovico di: Grand Commentaire (Anm. 34), S. 160.
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vates Dokument bleiben, wurde aber bald ohne Autorisierung gedruckt; 1871 entschied sich Manzoni schließlich nach qualvoller Revision, sie doch in seine Opere aufzunehmen. Im Brief werden wichtige Koordinaten von Manzonis Positionierung im Verhältnis zum frühen italienischen romanticismo bestimmt, für die folgende Aspekte von besonderer Bedeutung sind: Manzoni teilt die romantische Abneigung gegen die Verwendung der antiken, heidnischen Mythologie, die in seinen Augen eine Form von »idolatria«36 darstellt. Dem »sistema romantico«37 wird darüber hinaus die Funktion zugeschrieben, »con le parole, allo scopo del cristianesimo« (›mit Worten zum Ziel des Christentums‹)38 beizutragen, weil es zum einen die ›Literatur von den heidnischen Traditionen‹ befreit und zum anderen »il vero, l’utile, il bono, il ragionevole« (›das Wahre, das Nützliche, das Gute und das Vernünftige‹)39 als Betätigungsfeld und Ziel der Kunst bestimmt habe. (Manzoni bezieht sich übrigens erst bei der letzten Redaktion des Briefs auf das ›Christentum‹, nachdem er zuvor nur allgemein von ›Religion‹ gesprochen hatte40 – diese Korrekturen enthüllen die zunehmend orthodoxere Entwicklung von Manzonis Katholizismus). Bekräftigt wird schließlich die Vitalität und Wirkmächtigkeit des ›romantischen Systems‹, das für Manzoni ›Schritt für Schritt in alle ästhetischen Theorien eindringt‹ (»invade a poco a poco tutte le teorie dell’estetica«).41 Bereits an diesem Punkt lässt sich festhalten, dass die Beziehung zwischen dem Ästhetischen und der Religion für Manzoni kein Konkurrenzverhältnis darstellt und auch nicht in Richtung auf eine Konzeption der Kunst als Ersatzreligion geht, sondern dass sie weit mehr einen Extremfall von Kooperation darstellt, wenn nicht geradezu eine im vollen Wortsinn instrumentale Unterordnung der Kunst unter die Religion. Das gilt natürlich noch nicht für die frühen Schriften Manzonis, aber doch für diejenigen nach seiner Konversion, die auch eine immer distanziertere und kritischere Position Manzonis gegenüber der Aufklärungstradition markieren. Besonders deutlich sind in diesem Zusammenhang einige Bemerkungen aus dem zweiten Teil der Osservazioni sulla morale cattolica, verfasst in den Jahren 1819/20. Manzoni erkennt im »spirito del tempo« (›Geist der _____________ 36
37 38 39 40 41
Manzoni, Alessandro: Sul romanticismo. Lettera al Marchese Cesare D’Azeglio; in: Edizione nazionale ed europea delle opere di Alessandro Manzoni. Testi criticamente riveduti e commentari. Promossa da Giancarlo Vigorelli. Volume 13. Premessa di Pietro Gibellini. A cura di Massimo Castoldi. In appendice ›Memoriale sul Romanticismo, Notizia sul Romanticismo in Italia, Riflessioni sul Bello‹ di Ermes Visconti. Milano 2008, S. 3-190, hier S. 19. Manzoni: Sul romanticismo (Anm. 36), S. 30. Manzoni: Sul romanticismo (Anm. 36), S. 47 (Übersetzung G. C.). Manzoni: Sul romanticismo (Anm. 36), S. 47 (Übersetzung G. C.). Vgl. Manzoni: Sul romanticismo (Anm. 36), S. 46, besonders die Anm. 1 des Herausgebers. Manzoni: Sul romanticismo (Anm. 36), S. 52.
Der Fall Alessandro Manzoni im Kontext des frühen Mailänder romanticismo
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Zeit‹),42 der ›die menschliche Vernunft ehrt‹ (»onora la ragione umana«),43 eine Tendenz zur Säkularisierung, um in seiner philosophischen Schrift die zentrale Stellung der katholischen Religion zu bekräftigen und sich gegen die Verbreitung der »filosofia miscredente« (›Philosophie des Unglaubens‹)44 zu wenden. Neben der Debatte um die Romantik muss also die Wende in Manzonis Poetik auch im Kontext einer radikalen Revision des Gedankenguts der Aufklärung gelesen werden, die klare Überlegungen zur Umwertung der Religion in Folge der aufklärerischen Religionskritik einschließt. Um 1810 sind also die Zeiten des mythologischen Gedichts Urania, das Visconti hart attackiert hatte, endgültig vorbei. Es beginnt eine neue Phase in Manzonis Schreiben, die von äußerst differenzierten und komplexen Entwicklungen gekennzeichnet ist, wie sich auch auf der Ebene der poetologischen Reflexion zeigt. Im Folgenden werden einige Stationen dieser Entwicklung skizziert. Nach der Konversion beginnt Manzoni an einer Lyrik zu arbeiten, die auf neoklassische Formen verzichtet: die Inni sacri. Der nur teilweise verwirklichte Plan sieht vor, in zwölf Hymnen die Festlichkeiten zu thematisieren, die im liturgischen Kalender das sich zyklisch erneuernde christliche Mysterium markieren. Manzoni verabschiedet sich von seiner früheren, eher subjektivitätsbetonten Lyrik zugunsten einer Nachahmung der vielstimmigen Choralität der ecclesia. Der Dichter der Inni macht sich coram populo zum Deuter und Vermittler des biblischen und liturgischen Worts, wobei er sich nicht an einer Poetik des ›christlichen Wunderbaren‹ orientiert. Dafür spricht auch seine Distanzierung vom »cattolicesimo estetizzante di uno Chateaubriand che nella Francia postrivoluzionaria si fa banditore di una religiosità scenografica pronta a integrarsi nel sistema del regime napoleonico« (›ästhetisierenden Katholizismus eines Chateaubriand, der im postrevolutionären Frankreich zum Verkünder einer effektheischerischen Religiosität wird, die sich bereitwillig in das System des napoleonischen Regimes eingliederte‹).45 Der Dichter der Inni sacri tritt hauptsächlich als heteronomer Mittler eines göttlichen Wortes auf, dessen Evangelisierung und Transmission an die Leser und Zuhörer in dieser sakralen Dichtung explizit wird. Auch in der Orientierung an der Gattung Drama, die sich zeitgleich zu den Inni vollzieht – und ebenso in der darauf folgenden Orientierung hin _____________ 42 43 44 45
Manzoni, Alessandro: Sulla morale cattolica. Seconda parte (1819-1820). In: Manzoni, Alessandro: Scritti filosofici. Introduzione e note di Rodolfo Quadrelli. Seconda edizione. Milano 1988 (I classici della BUR. L 103), S. 259-314, hier S. 267 (Übersetzung G. C.). Manzoni: Sulla morale cattolica II (Anm. 42), S. 267. Manzoni: Sulla morale cattolica II (Anm. 42), S. 307 (Übersetzung G. C.). Tellini, Gino: Manzoni. Roma 2007 (Sestante 13), S. 75 (Übersetzung G. C.).
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zum Roman – verfolgt Manzoni programmatisch ein Ziel: wenn nicht unmittelbar der Evangelisierung, so doch der moralischen Erbauung, die sich in eine bestimmte Ordnung religiöser Werte einschreibt. Im Gegensatz zur Verdammung des Unmoralischen der Tragödie, wie sie im Anschluss an Augustinus auch französische Moralisten wie Pierre Nicole und Jacques Bénigne Bossuet formuliert haben, entwirft Manzoni in der Theorie ein ›ehrbares‹ Drama, das nicht ›schädlich‹, sondern ›nützlich‹ ist, indem es – so kann man in den Materiali estetici lesen – mit der ›Darstellung der tiefen Schmerzen und der unendlichen Schrecken […] Eindrücke hinterlassen möge, die uns der Tugend annähern sollen‹.46 Das ist das Konzept eines historischen und christlichen Dramas, wie es in den Tragödien Conte di Carmagnola (1820) und Adelchi (1822) realisiert werden wird. Das Verhältnis von Geschichte und Religion bestimmt auch Manzonis Auseinandersetzung mit dem Roman, der in seiner langen Genese – von Fermo e Lucia (1823) bis zur letzten Fassung der Promessi Sposi (1842) – ein komplexes und polyphones System von Charakteren entwickelt, die in einer geschichtlich-kontingenten und sogar grausamen Wirklichkeit jeweils individuelle Orientierung im christlichen Glauben und in der christlichen Moral suchen – mit durchaus unterschiedlichem Erfolg. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass Manzoni – trotz des großen Erfolges der Promessi Sposi – sehr bald die Gattung radikal in Frage stellt. Er spricht poetologisch dem historischen Roman jegliche Berechtigung ab, weil es unmöglich sei, Geschichte und Erfindung – ›vero‹ und ›invenzione‹ – im Roman zu vereinen. Im späten – 1850 entstandenen – Dialog Dell’invenzione gibt Manzoni seine endgültige Antwort auf eine Frage der Ästhetik, die er über Jahrzehnte reflektiert und zuletzt im Essay Del romanzo storico behandelt hat, wo er die Überlegenheit des historisch Wahren gegenüber der ästhetischen Erfindung behauptet. In Dell’invenzione bietet Manzoni unter dem Einfluss der Philosophie von Antonio Rosmini eine Lösung für diese Dichotomie: Die Kunst repräsentiere nicht das Wirkliche, sondern die Idee, die von Gott ausgeht. Ideen werden also nicht vom Dichter erfunden (›inventate‹), sondern vielmehr gefunden (›trovate‹). Bevor der Dichter sie entdeckt, haben sie bereits existiert, und zwar im Geist Gottes: L’inventare non è altro che un vero trovare; perché il frutto dell’invenzione è un’idea, o un complesso d’idee; e l’idee non si fanno, ma sono, e sono in un modo loro. […] | [l’idea] prima di venire in mente a un uomo qualunque, era ab eterno in mente di Dio.47
_____________ 46 47
»La rappresentazione dei dolori profondi e dei terrori indeterminati […] lascia impressioni che ci avvicinano alla virtù« (Manzoni: Materiali estetici (Anm. 33), S. 15). Manzoni, Alessandro: Dell’invenzione. Dialogo. In: Edizione nazionale ed europea delle opere di Alessandro Manzoni. Testi criticamente riveduti e commendati. Diretta da
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Manzonis frühere Ansicht, dass Dichtung eine nützliche und im christlichen Sinne moralisierende Funktion ausüben könne, weicht der Sicht, dass Wirklichkeit und Ideal voneinander getrennt seien. Dem Manzoni von Dell’invenzione zufolge kann dichterische Erfindung nur ein Entdecken, kein Ergänzen der an sich schon vollkommenen Ideen Gottes sein. Das Verhältnis zwischen Religion und Kunst wird nochmals, nun in dezidiert philosophischer Perspektive, neu bestimmt. Die Kunst als ein Weg zur Entdeckung der Ideen Gottes wird dabei in gewisser Weise wieder aufgewertet, bleibt insgesamt aber der letztlich religiösen Wahrheit dieser Ideen untergeordnet, die im Geist Gottes seit Anbeginn existieren.
Schlussbemerkungen Gibt es also in Italien im Kontext des romanticismo ein Phänomen, das der in Deutschland zu beobachtenden Kunstreligion vergleichbar ist? Zwei Punkte gilt es in diesem Zusammenhang zu bemerken. Zum einen: Es gibt im Rahmen des italienischen romanticismo nichts, was der begrifflichen und konzeptionellen Tragweite der in Deutschland um 1800 sich formierenden ›Kunstreligion‹ vergleichbar wäre. Eine ähnlich »emphatische[ ] Bezugnahme von Kunst auf ›Religion‹ mit dem Ziel (oder jedenfalls dem Ergebnis) eines andersartigen, jedoch zumindest gleichberechtigten Zugangs zu einem Numinosen«,48 wie Heinrich Detering formuliert, ist in der italienischen Literatur nicht zu beobachten. Man kann nicht behaupten, dass die Kunst in den literarischen und ästhetischen Diskussionen, die in Italien um 1820 geführt werden, zentrale Funktionen der Religion substituiert hätte oder an ihre Stelle getreten wäre. Weder die starke Betonung der Autonomieästhetik noch die Umdeutung des Künstlers zum Propheten und die damit einhergehende Umfunktionalisierung der Kunst als exklusiver Weg zur Transzendenz sind im italienischen Kontext feststellbar. Grund hierfür ist die gegenüber Deutschland vollkommen andere Ausgangssituation in Italien. Das bis weit in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts sichtbare Fortwirken aufklärerischer Poetiken und ein klassizistisches Erbe führen, im Einklang _____________
48
Giancarlo Vigorelli. Volume 16: Dell’invenzione e altri scritti filosifici. Premessa di Carlo Carena. Introduzione e note di Umberto Muratore. Testi a cura di Massimo Castoldi. In appendice Le Stresiane di Ruggero Bonghi. Milano 2003, S. 165-252, hier S. 207 (›Das Erfinden ist nichts anderes als ein wahres Finden; denn die Frucht der Erfindung ist eine Idee, oder ein Komplex von Ideen; und die Ideen werden nicht gemacht, sondern sie sind, und sie sind in einer für sie spezifischen Art. […] bevor sie einem beliebigen Menschen in den Sinn kam, [war die Idee] ab eterno im Geist Gottes‹, Übersetzung G. C.). Detering, Heinrich: Kunstreligion und Künstlerkult; in: Georgia Augusta 5 (2007), S. 124133, hier S. 124.
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mit der selektiven Rezeption der deutschen und englischen Romantik, zu einer ganz eigenen Ausprägung des romanticismo, in der sich ein Konzept wie die Kunstreligion nicht ausbilden kann. Zum anderen: Ein Vergleich der italienischen mit der deutschen Literatur unter dem Vorzeichen der Kunstreligion kann dennoch produktiv sein, da er bestimmte Phänomene in den Vordergrund zu rücken vermag, die bei einer Beschränkung auf den italienischen Literaturkontext weniger sichtbar sind. Legt man das Konzept ›Kunstreligion‹ als Suchbild an italienische Debatten an, so wird dabei manches deutlich, was auf Verschiebungen im Verhältnis von Religion und Kunst hindeutet. Auch wenn sich keineswegs davon sprechen lässt, dass die Kunst in diesen Programmen der italienischer Romantik zentrale Funktionen der Religion übernimmt, so lässt sich doch festhalten, dass bestimmte Teilqualitäten beider Systeme diskutiert und neu austariert werden. Manzonis vehemente Verteidigung des Primats der Religion gegenüber Kunst und Literatur seit seiner Konversion ist ein Indiz dafür, dass einstmals stabile funktionale Zuschreibungen in eine Krise geraten sind und zu ihrer Stabilisierung besonderer Affirmation bedürfen. Anstatt die Autonomisierungsbestrebungen der Kunst emphatisch zu begrüßen, begegnen ihnen italienischen Autoren um 1820 eher mit Gesten der Abwehr und der Negation. Insofern verdeutlicht der Blick auf Italien aus der Perspektive der Kunstreligion eine Veränderung im Verhältnis von Kunst und Religion, die gegenüber den deutschen Beispielen zwar ganz andere Ausformungen annimmt, aber genau durch die deutsche Optik besser sichtbar wird.
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Das bittere Leiden an der Kunst Über die Sinnbildkunst in Clemens Brentanos Das bittere Leiden unsers Herrn Jesus Christi Für Wolfgang Frühwald zum 75. Geburtstag Er sei der ›umstrittenste Film aller Zeiten‹1 – so bewertet ihn 2006 das Magazin Entertainment Weekly in seiner Liste der 25 kontroversesten Filme. Mit einem Einspielergebnis von mehr als 600 Millionen Dollar gehört er zugleich zu den 30 kommerziell erfolgreichsten Filmen der USA. Er hat das drittbeste Einspielergebnis aller Filme in den Vereinigten Staaten in den ersten 12 Tagen erzielt; die DVD-Version wurde am ersten Verkaufstag mehr als 2,5 Millionen Mal verkauft; das Guinness Buch der Rekorde (Hamburg) führt ihn in seiner Ausgabe für 2006 als erfolgreichsten religiösen Film aller Zeiten. Die Rede ist von Mel Gibsons Film The Passion of the Christ; 2004 kam er in die Kinos der Welt. Sein Thema sind die letzten Tage im Leben Christi von seiner Verhaftung im Garten Gethsemane bis zur Auferstehung am Ostermorgen. Ob Gibsons Film wirklich der ›umstrittenste Film aller Zeiten‹ ist, mag man bezweifeln, aber Streit hat er auf sich gezogen, und auf einen solchen Streit hin war er angelegt. Der Film überschreitet das Maß der Gewaltdarstellung, wie es Bibelfilme bis dahin gekannt haben. Eine ganze Viertelstunde lang wird in diesem 127-minütigen Film allein nur die Geißelung Christi gezeigt, und das so nah und so auf Realismus hin bebildert, dass sich dem niemand entziehen kann. Die Engführung von Darstellungsweisen des Actionfilms mit solchen des Heiligen, die Ausführlichkeit und Drastik der Gewalt, die Gefahr des Antisemitismus – sie alle widersprechen den Darstellungskonventionen des Hollywood-Kinos. Neu sind sie in dieser Zusammenstellung aber nur im Hollywood-Kino – man denke an die Bilder des Gekreuzigten bei Matthias Grünewald oder an die _____________ 1
Bierly, Mandi u. a.: The 25 Most Controversial Movies of all Time; in: Entertainment Weekly 882 (16. Juni 2006).
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Passionsspiele überall auf der Welt, bei denen die Wundmale nicht nur aufgemalt, sondern auch zugefügt werden.2 Das Heilige und die Gewalt schließen sich auch im Rahmen des Spiels und der Kunst zusammen. Allerdings gehören sie bei Grünewald oder in den philippinischen Passionsspielen einer Welt vor der Kunst an, in der alles noch das bedeutet, was es sinnbildlich zeigt. Dort gelten weder Autonomiepostulat noch Ästhetik- oder Polyvalenzkonvention, wohl aber der Glaube, dass das Gezeigte auf die Gewissheit des Gnadengerichts verweist. Die Gewalt geht im Heiligen letztlich auf, so dass weder das Bild Grünewalds noch das Passionsspiel Kunst sind, sondern Sinnbilder des Heiligen. In einer Welt mit entreferenzialisierten Darstellungskonventionen gibt es genau genommen keine Sinnbilder mehr, sondern nur Kunst. Gibsons Film musste daher wegen seines Erscheinungsortes – des Kinos – als Kunst gelten. Und hier verstößt er nicht nur gegen die Konventionen seines Genres, sondern vor allem gegen die Konvention, nur Kunst zu sein. Gibsons Provokation will seinen Film zu etwas machen, was er im System der Kunst nicht mehr sein kann: ein Sinnbild. Daher orientiert er sich für sein Drehbuch auch nicht an der historischen Realität, sondern an der christlichen Ikonographie, an den Stationen des Kreuzwegs und an dem Passionsspiel. Das steht vielfach im Gegensatz zu Filmen wie Franco Zeffirellis Jesus of Nazareth (1977), Martin Scorseses The Last Temptation of Christ (1988) oder auch den Zurückhaltungen, die sich Genre-Filme wie Ben Hur, vor allem in seiner legendären Fassung von 1959, bei der Darstellung der Leiden Christi auferlegt haben. Seinem Anspruch nach ist Mel Gibsons Film nicht für Kinozuschauer, sondern für Gläubige gedreht. Ihn sollen aber nicht die Gläubigen der Kunst, sondern die der Religion sehen und durch das filmische Sinnbild der Passion im Glauben bestärkt werden. Wie viele der Zuschauer dieses Films keine habituellen Kinogänger waren, lässt sich freilich schwer abschätzen. Die Catholic League for Religious and Civil Rights soll mehr als 1.000 Kinokarten vorab erworben und unter dem Einkaufspreis weiter verkauft haben. Eine Vorversion des Films wurde etwa 10.000 Geistlichen gezeigt. Die von Europa als unvermeidliche Peinlichkeit der großen USA belächelten religiösen Gruppierungen haben wohl für die Verbreitung des Films gerade auch dort gewirkt, wo man dem Kunstmedium Film skeptisch gegenübersteht. Der Film dürfte die Grenzen der Milieus und sozial-religiösen Gruppierungen übersprungen haben – in welchem Ausmaß auch immer. Mel Gibson war das nur recht, _____________ 2
So etwa auf den Philippinen, wo es im Rahmen von Passionsspielen immer wieder zu tatsächlichen Kreuzigungen kommt, vgl. Moser, Maria Katharina: Representations of the Suffering. Confronting Mel Gibson’s The Passion of the Christ and Rituals of Self-Flagellation and Crucifixion in the Philippines; in: Journal of the European Society of Women in Theological Research 13 (2005), S. 153-168.
Clemens Brentanos Das bittere Leiden unsers Herrn Jesus Christi
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denn wenn er ein Ziel verfolgt hat, dann das, durch seinen Film nicht in der Kunst, sondern im Glauben zu bestärken. Bald schon nachdem der Film in die Kinos gekommen war, ist darauf hingewiesen worden, dass Gibson eine seiner Vorlagen in Clemens Brentanos Aufzeichnungen Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi hat, erstmals 1833 im Druck erschienen. Gibson folgt Brentano vergleichsweise genau in der Abfolge der Szenen, wo diese über die Kreuzwegstationen hinausgehen. Die Geißelung Christi etwa wird schon bei Brentano in derjenigen drastischen Bildlichkeit beschrieben, die dann auch bei Gibson in Szene gesetzt ist: Das zweite Paar der Geißelknechte fiel nun mit neuer Wuth über Jesum her, sie hatten eine andere Art Ruthen, welche kraus, wie von Dornen waren, und in denen hie und da Knöpfe und Spornen befestigt erschienen. Unter ihren wüthenden Schlägen zerrissen alle die Schwielen seines heiligen Leibes, sein Blut spritzte in einem Kreise umher, die Arme der Henker waren davon besprengt. Jesu jammerte und betete und zuckte in seiner Qual. […] Die beiden folgenden Schergen schlugen Jesum mit Geißeln. Es waren dieses an einem eisernen Griffe befestige kleine Kletten oder Riemen, an deren Spitzen eiserne Haken hingen, und sie rissen ihm damit ganze Stücke Fleisch und Haut von den Rippen. O, wer kann den elenden gräulichen Anblick beschreiben! Aber sie hatten des Gräuels nicht genug, und lösten die Stricke auf, und banden Jesum herum mit dem Rücken gegen die Säule, und weil er so erschöpft war, daß er nicht mehr stehen konnte, banden sie ihn mit dünnen Stricken über die Brust, unter den Armen und unter den Knieen an die Säule, und seine Hände schnürten sie hinter die Säule in deren Mitte fest. Er war schmerzlich zusammengezogen, mit Blut und Wunden bedeckt, seine gekreuzten Lenden und die zerrissene Haut seines Unterleibes verhüllten seine Blöße. Wie wüthende Hunde tobten die Geißeler mit ihren Hieben, und einer hatte eine feinere Ruthe in der linken Hand und zerpeitschte ihm sein Anlitz damit. Es war keine heile Stelle mehr an dem Leibe des Herrn, er sah die Geißeler mit seinen bluterfüllten Augen an, und flehte um Erbarmen, aber sie wütheten um so ärger, und Jesus jammerte immer leiser: ›wehe!‹3
Bei allen Ähnlichkeiten zwischen Brentano und Gibson sind doch die historischen Konstellationen verschieden, auf die beide antworten. Brentanos Programm einer Religion jenseits der Kunst, wie er es geradezu rücksichtslos gegen andere wie gegen sich selbst zu leben versucht hat, reagiert _____________ 3
Brentano, Clemens: Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Augustinerin des Klosters Agnetenberg zu Dülmen († 9ten Februar 1824). Nebst dem Lebensumriß dieser Begnadigten. Durch die Mittheilungen über das letzte Abendmahl vermehrte zweite Auflage In: Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald und Detlev Lüders. Band 26: Religiöse Werke V. Herausgegeben von Bernhard Gajek. Stuttgart – Berlin – Köln – Mainz 1980, S. 248f. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Sigle ›BL‹ zitiert.
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auf andere Entwicklungen als Gibsons Film. Um diese historischen Besonderheiten eines sehr radikalen und programmatischen Anfangs der Kunstreligion soll es im Folgenden gehen. Erst dann kann man zeigen, dass Gibson bei seinem Versuch, aus der Kunst in die Religion zu wechseln, in der Nachfolge Brentanos steht. Brentano ist wohl der erste, mindestens aber der radikalste Autor, der das Programm einer Überwindung der Kunst durch Religion umsetzt. Und das hat Nachahmer bis heute gefunden.
1. Das Ende des konfessionellen Zeitalters und der Anfang der Kunstreligion Anders als es das Erzählmuster von der Säkularisierung durch Industrialisierung und Urbanisierung – durch die Auflösung der ›alten Ordnung‹ – will, war schon im Alten Reich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, damit weit vor der Französischen Revolution, trotz Kirchenzucht und Ständestaat die abnehmende Teilnahme gerade auch der beleseneren Bevölkerungsschichten an kirchlichen Handlungen nicht mehr zu übersehen. Die Klagen der preußischen Pastoren gegenüber ihren Konsistorien über mangelnde Teilnahme am Gottesdienst füllen bereits vor 1789 die Akten. Das hat mit Industrialisierung, Verbürgerlichung oder Urbanisierung nichts zu tun, dagegen viel mit den veränderten Machtverhältnissen und letztlich mit den Folgen, die gerade die Konfessionalisierung mit sich gebracht hatte. Denn in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts war mehr als deutlich geworden, dass die Religion nicht die gesellschaftliche Ordnung zu sichern vermochte, im Gegenteil. Der Aufstieg des Staates war nicht zuletzt Folge der Konfessionsstreitigkeiten und der nicht abzuschließenden Verschiebung von Konfessionsgrenzen und Bekenntnissen der Bevölkerung sowie den daraus erwachsenden Spannungen, die erst das Primat des Staates zu beruhigen gewusst hat. Mit dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 und dann mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurden die geistlichen Fürstentümer bereits vor dem Ende des Alten Reiches aufgelöst. Auch die Parität der Konfessionen galt von nun an als festgeschrieben; das konfessionelle Zeitalter mit seinen gegenseitigen Hegemonieansprüchen der Bekenntnisse war damit auch formell beendet. Der Paragraph 32 des Allgemeinen Landrechts sagt es denn auch mit Bestimmtheit: »Die Privatund öffentliche Religionsübung einer jeden Kirchengesellschaft ist der
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Oberaufsicht des Staats unterworfen«.4 Nach der in den deutschen Territorien leitenden Kollegial-Theorie sollten von nun an Konfessionalität und Kirche allein auf dem Willen der Mitglieder zu gemeinsamer religiöser Erbauung beruhen.5 Damit war nicht die Trennung von Staat und Kirche wie etwa in Frankreich, wohl aber die Unterordnung des kirchlichen Bereichs unter die Staatszwecke schon vor dem Ende des Alten Reiches vollzogen. Die Säkularisation schien nicht mehr aufzuhalten zu sein. Tatsächlich kam es dann doch anders, und das lag nicht zuletzt gerade an jener Loslösung der Religion aus den Funktionszusammenhängen des konfessionellen Zeitalters, die auf den ersten Blick für den Niedergang kirchlich verfasster Konfessionalität verantwortlich gemacht wird. Mit dem Zusammenbruch des Alten Reiches in der Schlacht von Jena und Auerstedt 1806, mehr aber noch durch die Auflösung des Zusammenhangs von Konfession und Territorium wurde Religion zu einer vergleichsweise frei disponiblen Sinnordnung. Der Aufstieg religiöser Erneuerungsbewegungen nach 1800 markiert diesen Funktionswandel. Bislang am Rande der Gesellschaft, dringen etwa die ›Stillen im Lande‹ ins Zentrum der Gesellschaft vor. Jung-Stillings Anhängerin Juliane von Krüdener, die prominent genug war, um von Angelika Kauffmann 1786 portraitiert zu werden, und mit Jean Paul Briefe gewechselt hat, ist ein besonders gut sichtbares Beispiel der neuen Religiosität nach 1800.6 Juliane von Krüdener war Romanautorin, die mit ihrem halb autobiographischen, an Goethes Werther angelehnten Liebesroman Valérie von 1803 eine wahre Lese-Mode ausgelöst hatte, und zugleich einflussreiche Erneuerin der Religion. Freundschaftlich mit Zar Alexander I. verbunden, den sie auf dem Wiener Kongress vertrat, hatte sie den Text für das _____________ 4
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Hauptbestimmungen des Staatskirchenrechts des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten vom 5. Februar 1794 (Zweite Amtliche Ausgabe in vier Bänden, Berlin 1804); in: Huber, Ernst Rudolf / Huber, Wolfgang: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskirchenrechts. Band 1: Staat und Kirche vom Ausgang des Alten Reichs bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution. Berlin 1973, S. 5. Vgl. Friedrich, Martin: Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert. Göttingen 2006 (Zugänge zur Kirchengeschichte 8; UTB 2789), S. 31-36. Das Bild befindet sich heute im Louvre, Richelieu B, M.I. 245; vgl. auch Berger, Dorothea: Jean Paul und Frau von Krüdener im Spiegel ihres Briefwechsels. Wiesbaden 1957 bzw. Jean Paul: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften begründet und herausgegeben von Eduard Berend. Vierte Abteilung: Briefe an Jean Paul. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Norbert Miller. Band 2: Briefe an Jean Paul 1794-1797. Text mit 13 Abbildungen. Herausgegeben von Dorothea Böck und Jörg Paulus. Berlin 2004, Nr. 135, 139, 146, 147, 152, 162, 176, 198 (S. 229-232; 235f.; 244f.; 246; 253f.; 266-268; 294f.; 331).
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europäische Friedensmanifest vorgeschrieben, das dann auch der österreichische Kaiser und der preußische König 1815 unterzeichnen sollten: Ihre Majestäten […] erklären feierlich, daß der gegenwärtige Akt nur den Zweck hat, im Angesicht der ganzen Welt ihren unerschütterlichen Beschluß zu bekunden, zur Richtschnur ihres Verhaltens im Innern ihrer Staaten wie nach außen nur die Vorschriften dieser heiligen Religion, die Vorschriften der Gerechtigkeit, der Liebe und Friedseligkeit zu nehmen […]. In Gemäßheit der Worte der Heiligen Schrift, welche allen Menschen befiehlt, sich als Brüder zu betrachten, werden die drei Monarchien vereinigt bleiben durch die Bande einer wahren und unauflöslichen Brüderlichkeit […] sie werden sich ihren Untertanen und Armeen gegenüber als Familienväter betrachten und dieselben im Geiste der Brüderlichkeit lenken, um Religion, Frieden und Gerechtigkeit zu schützen.7
Eine betont ökumenisch aufgefasste Religion sollte wieder die Richtschnur im Zusammenleben der Völker sein, was Vertreter des alten Konfessionalismus wie Papst Pius VII. provozieren musste, denn dieser Ökumenismus relativierte die Wahrheit des Bekenntnisses. Doch blieben diese Ökumene und die christliche Begründung der Politik letztlich ohne jede realpolitische Relevanz für das 19. Jahrhundert,8 waren aber Symptome des Funktionswandels von Religion gerade in dieser sakralisierenden Übersteigerung der politischen und gesellschaftlichen Ordnung. Der wachsenden Amalgamierung von Nationengründung und Religion entsprach es, wenn Juliane von Krüdener in Napoleon den in der Offenbarung des Johannes benannten Engel des Abgrundes – den Antichrist – erblickt haben will und sich selbst bei ihren großen Auftritten als Prophetin der Heiligen Allianz oder gar als das ›Sonnenweib‹ gefeiert hat. Im Hungerjahr 1816 verschenkte sie ihr gesamtes Vermögen an die Armen und machte ihr Landhaus in Württemberg zu einem geistigen Zentrum. Sie bereiste zwischen 1816 und 1818 Baden, das Elsass und die Nordschweiz, ging dabei ganz in der biblischen Rolle der Frau als Erretterin des Volkes auf, heilte Kranke und betrieb eigenhändig Suppenküchen für die durch die Napoleonischen Kriege verheerte Bevölkerung. Sie predigte vor Tausenden so erfolgreich, dass sie schließlich von der Obrigkeit nach Russland abgeschoben wurde.9 Religion wurde hier zu einer _____________ 7
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Die ›Heilige Allianz‹ vom 26. September 1815 / 14. September 1815 (nach alter russischer Zählung); in: Geschichte in Quellen. Unter Beratung von Helmut Beumann, Fritz Taeger † und Fritz Wagner herausgegeben von Wolfgang Lautemann und Manfred Schlenke. [Band 5:] Das bürgerliche Zeitalter 1815-1914. Bearbeitet von Günter Schönbrunn. München 1980, S. 27. Ghervas, Stella: Réinventer la tradition. Alexandre Stourza et l’Europe de la SainteAlliance. Paris 2008 (Histoire Culturelle de l’Europe 9). Vgl. Hieber, Petra: Auf der Suche nach dem Glück. Juliane von Krüdener-Vietinghoff (1764-1824): Selbstwahrnehmung im Spannungsfeld gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt/M. – Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1995 (Menschen und Strukturen 8).
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ernsthaften Angelegenheit, die das eigene Leben wie das der Völker wenden sollte – Vorstellungen, die der Zeit vor 1800 noch fremd gewesen waren. Um 1800 war also Religion mehr als ein Thema. Es war ein Sinnmuster, das das eigene Leben, die Liebe, aber auch die Gesellschaft umfassend zu deuten und zu ändern verstand, gerade weil es aus den konfessionellen Einengungen entlassen war. Und das veränderte die Gesellschaft nicht nur in den deutschen Ländern. Massenmitgliedschaften in frei gegründeten kirchlichen Vereinen finden sich in den protestantischen Ländern und mehr noch in den katholischen Gebieten bzw. Ländern von Irland bis nach Italien10 und zwar mit weitreichenden Auswirkungen auf die entstehende politische Landkarte.11 Wenn in der Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert so viel von der Ästhetisierung und Verbürgerlichung der Lebenswelt die Rede ist,12 und das mit guten Gründen, dann gehört zu diesen Modernisierungsprozessen eben auch die Religion. Gerade sie ist Teil nicht zuletzt auch einer Ästhetisierung der Lebenswelt, wie sie dem Konfessionellen Zeitalter noch ganz fern gelegen hatte. Die Kirchenagende und Kirchenunion in Preußen, die Versuche auf dem Wiener Kongress eine deutsche Nationalkirche in febronianischem Geist zu errichten, die Reden der Intellektuellen wie Fichte oder Arndt und die Unionsbestrebungen von unten etwa in der Pfalz oder in Rheinhessen oder der Aufruf des preußischen Königs von 1817 aus Anlass der 300Jahrfeier zu Luthers Thesenanschlag, die lutherische und die reformierte Kirche in den preußischen Landen zu einer ›evangelisch-christlichen‹ zu vereinigen, belegen wie breit die Bewegung war, die der Religion einen neuen Platz in der Gesellschaft zuweisen wollte.13 Das vielleicht schlagendste Beispiel dafür ist die Agende des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. von 1822. Mit ihr plante und exe_____________ 10 11
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Vgl. Hürten, Heinz: Kurze Geschichte des deutschen Katholizismus 1800-1960. Mainz 1986; Schatz, Klaus: Zwischen Säkularisation und Zweitem Vatikanum. Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1986. Klassisch dazu die Studien von Bergsträsser, Ludwig: Der politische Katholizismus. Zwei Bände in einem Band. Nachdruck der Ausgabe München 1921-23. Hildesheim – New York 1976 (Der deutsche Staatsgedanke. Reihe 2: Die Parteien und der Staat III, 1. 2) oder Fischer, Fritz: Der deutsche Protestantismus und die Politik im 19. Jahrhundert; in: Historische Zeitschrift 171 (1951), S. 473-518; neuerdings dazu Scheidgen, Hermann-Josef: Der deutsche Katholizismus in der Revolution von 1848/49. Episkopat – Klerus – Laien – Vereine. Köln – Weimar – Wien 2008 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 27) bzw. Kaiser, Jochen-Christoph: Politischer Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Ausgewählte Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Herausgegeben von Rolf-Ulrich Kunze und Roland Löffler. Konstanz 2008 (Studien zur Geschichte des 20. Jahrhunderts 1). Nipperdey, Thomas: Wie das Bürgertum die Moderne fand. Stuttgart 1998 (rub 17014). Maurer, Michael: Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. München 1999 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 51), S. 49-51.
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kutierte der König nichts Geringeres als den Versuch einer Union der evangelischen Konfessionen. Dabei stellte er alle dogmatischen Fragen hinten an, die für das konfessionelle Zeitalter so bestimmend waren, und entwarf, während vor seinem Schreibtisch Caspar David Friedrichs Abtei im Eichswald stand, eine Kirchenagende mit einer Liturgie, die altlutherisch sein sollte, in Wirklichkeit aber noch die Liturgie der römisch-katholischen Kirche in den Schatten stellte, so aufwendig und zeremoniell überladen geriet der Entwurf. Verbindlich für die Liturgie vorgesehen war unter anderem ein Männergesang, der von Kosaken ausgeführt werden sollte, die dem König vom russischen Zaren ›geschenkt‹ worden waren. Sie sollten in Berlin in russisch aussehenden Holzhäusern wohnen, die wiederum zu einem orthodoxen Kreuz angeordnet waren.14 Es mag kaum verwundern, dass sich eine solche grotesk übersteigerte Ästhetisierung der Religion, die zugleich den vormodernen Ständestaat und die Leibeigenschaft festschrieb, in der Wirklichkeit nicht recht umsetzen ließ.15 Aber das Beispiel macht gerade in seiner Übersteigerung deutlich, wie Religion die Kunst braucht, um im Staat die vergesellschaftende Wirkung zu entfalten, die man ihr zuschrieb. Und Kunst braucht Religion, um gesellschaftlich bedeutsam sein zu können. Das ist das neue Muster des 19. Jahrhunderts und auch das Muster Clemens Brentanos.
2. Brentano und das romantische Christentum Clemens Brentano lebte inmitten dieser ästhetischen und zugleich bürgerlichen Sakralisierung der Gesellschaft um 1800.16 Eigentlich am 9. September 1778 geboren, feiert er stets am 8. September seinen Geburtstag, d. h. am Feiertag von Mariae Geburt – ›Maria‹ war dann auch sein literarisches Pseudonym. Im Kreis um seinen Schwager Savigny und die Brüder _____________ 14
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Zur musikalischen Ausgestaltung der Fassung von 1822 und 1895 vgl. Herbst, Wolfgang (Hrsg.): Evangelischer Gottesdienst. Quellen zu seiner Geschichte. 2., völlig neubearbeitete Auflage von ›Quellen zur Geschichte des evangelischen Gottesdienstes‹. Göttingen 1992, S. 170-190. Schubert, Anselm: Christliche Klassik. Friedrich Wilhelm III. und die Anfänge der Preußischen Kirchenagende von 1822; in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 119 (2008), S. 178202. Vgl. Schmidt, Hans-Walter: Erlösung der Schrift. Zum Buchmotiv im Werk Clemens Brentanos. Wien 1991; Benzi, Laura: Resakralisierung und Allegorie im Spätwerk Clemens Brentanos. Das Märchen von Gockel, Hinkel und Gackeleia (1838) und Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi‹ (1833). Bern – Berlin – Bruxelles – Frankfurt/M. – New York – Oxford – Wien 2002; Landfester, Ulrike: Kreuzungen. Körperbild und Textproduktion in Clemens Brentanos Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi (1834) und Gockel, Hinckel und Gackeleia (1838); in: Landfester, Ulrike / Simon, Ralf (Hrsgg.): Gabe, Tausch, Verwandlung. Übertragungsökonomien im Werk Clemens Brentanos. Würzburg 2009, S. 227-250.
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Gerlach war er, der selbst katholischer Herkunft war, von den Vorstellungen des Berliner Neupietismus umgeben. Savigny und Gerlach waren in der Gesetzgebungskommission und in Funktionen als preußische Staatsräte von Vorstellungen geleitet, einen christlichen Staat befördern zu können.17 Um 1816 war dieses Projekt wiederum zeittypisch betont interkonfessionell ausgerichtet. Brentano und Savigny hatten schon 1808 den Landshuter (und also katholischen) Theologieprofessor Johann Michael Sailer – als Kollegen Savignys – kennen- und hochschätzen gelernt. Die Nachrichten von der wunderbaren Erneuerung des christlichen Lebens in Niederbayern und Schwaben durch die Schüler Sailers, wie sie der Landshuter Medizinstudent und zum romantischen Katholizismus konvertierte Johann Nepomuk Ringseis18 nach Berlin meldete, schrieb Brentano eigenhändig ab und ließ sie in Berlin zirkulieren. Religion war hier überall mit den Händen zu greifen, und Brentano hat nicht sehr viel enthusiastischer zugegriffen als andere. Bernhard Gajek hat in seinen Forschungen zu Brentano auf die spezifische Verschränkung von pietistischem Millenarismus und romantischer Erwartung an die Verwandlung ins Wunderbare hingewiesen, die für Brentano wie für seine Umgebung so bestimmend war.19 Nach außen hin sichtbar wird diese romantische Naherwartung, als im März 1818 Adolf von Thadden und Leopold von Gerlach, durch Savigny an Sailer empfohlen, eigens nach Süddeutschland aufbrechen, um sich von den unerhörten Nachrichten selbst zu überzeugen. Ein neues, romantisches Christentum jenseits der Konfessionen schien möglich zu sein. Und das hat viele damals inspiriert. Die neue romantische Religion setzte in der Tradition des Pietismus beim Einzelnen an. Mit den romantischen Führungseliten dieser Jahre teilte der süddeutsche Katholik Brentano die pietistische Vorstellung, dass der Gläubige erst nach einer Generalbeichte und der contritio – »die das ganze Wesen des Menschen erschütternde Reue«,20 wie es im katholischen Herder Conversations=Lexikon von 1857 heißt – innerlich so leer sei, dass _____________ 17
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Vgl. Gajek, Bernhard: Der romantische Dichter und das Christentum. Clemens Brentanos religiöse Schriften; in: Clemens Brentano 1778-1842 zum 150. Todestag. Herausgegeben von Hartwig Schultz. Bern – Berlin – Frankfurt/M. – New York – Paris – Wien 1993 (Memoria), S. 109-131, hier S. 110. Ringseis, Johann Nepomuk: Erlebnisse aus der bayrischen Erweckungsbewegung. Herausgegeben und eingeleitet von Herbert Kadel. Marburg 1981 (Schriften der Universitätsbibliothek Marburg 11). Vgl Gajek: Der romantische Dichter und das Christentum (Anm. 17), S. 110. ›Zerknirschung‹; in: Herders Conversations=Lexikon. Kurze aber deutliche Erklärung von allem Wissenswerthen aus dem Gebiete der Religion, Philosophie, Geschichte, Geographie, Sprache, Literatur, Kunst, Natur= und Gewerbekunde, Handel, der Fremdwörter und ihrer Aussprache. Fünfter Band: S. bis Zytomierz und Nachträge. Freiburg/Br. 1857, S. 778.
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Gott in ihm neugeboren werden könne. Wie ökumenisch-romantisch man dabei dachte, mag der Umstand erhellen, dass auch der Katholik Sailer ein vergleichbares Konzept der persönlichen Erweckung favorisiert hat: »Um zu überzeugen, sey du selbst überzeugt; um zu rühren, sey du selbst gerührt«, 21 lautet hier der Grundsatz. Es ist also ganz der Ton der Zeit, wenn Brentano am 15. Februar 1815 gegenüber Wilhelm Grimm das folgende Bekenntnis – nicht sein letztes – ablegt: Ich weiß nicht, lieber Wilhelm, ob ich noch zu Ihren Freunden gehöre, denn mir ist oft, ja meist, als gehöre ich nicht mehr zu den Lebendigen. Mein ganzes Leben habe ich verloren, theils in Irrthum, theils in Sünde, theils in falschen Bestrebungen. Der Blick auf mich selbst vernichtet mich, und nur wenn ich die Augen flehend zu dem Herrn aufrichte, hat mein zitterndes, zagendes Herz einigen Trost. […] meine Sündenkluge Vernunft ist niedergeworfen von dem Glauben […]. Meine dichterischen Bestrebungen habe ich geendet, sie haben zu sehr mit dem falschen Wege meiner Natur zusammengehangen, es ist mir alles mislungen, denn man soll das Endliche nicht schmücken mit dem Endlichen, um ihm einen Schein des Ewigen zu geben; jedes, auch das gelungenste Kunstwerk, dessen Gegenstand nicht der ewige Gott und seine Wirkung ist, scheint mir ein geschnitztes Bild, das man nicht machen soll, damit es nicht angebetet werde.22
Daran ist genau besehen kein Wort wahr, was denn auch der Bruder Jacob Grimm in seiner Reaktion bemerkt: Brentano scheint sich umgeändert zu haben und in völliger Reue zu leben, doch ist er noch in der Art, die Dinge auszuschmücken, sowie im Planmachen und Vorlegen ganz der Alte.23
Das exaltierte Sündenbekenntnis stand nicht nur für die Grimms im eklatanten Widerspruch zu Brentanos ganz irdischem Werben um die Berliner Pastorentochter Luise Hensel. Das war in diesen Jahren zwischen 1816 und 1818 Stadtgespräch und wurde von Brentano ebenso lustvoll wie selbstquälerisch als Skandal mit der Aufforderung inszeniert, die Pfarrerstochter Luise solle zum Katholizismus konvertieren, was sie 1818 auch _____________ 21
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Sailer, Johann Michael: Anleitung für angehende Prediger; in: Johann Michael Sailer’s sämmtliche Werke, unter Anleitung des Verfassers herausgegeben von Joseph Widmer. Theologische Schriften. Vorlesungen aus der Pastoraltheologie. Neue, revidirte und vermehrte Ausgabe. Siebenzehnter Theil: Vorlesungen aus der Pastoraltheologie. Herausgegeben von Johann Michael Sailer. Zweiter Band. Fünfte, revidirte und vermehrte Auflage. Sulzbach 1835, S. 3-176, hier S. 96; vgl. dazu Bungert, Hans (Hrsg.): Johann Michael Sailer. Theologe, Pädagoge und Bischof zwischen Aufklärung und Romantik. Vortragsreihe der Universität Regensburg. Regensburg 1983 (Schriftenreihe der Universität Regensburg) sowie Saul, Nicholas: ›Prediger aus der neuen romantischen Clique‹. Zur Interaktion vom Romantik und Homiletik um 1800. Würzburg 1999, S. 31-71. Clemens Brentano an die Brüder Grimm, 15. Februar 1815; zitiert nach Steig, Reinhold: Clemens Brentano und die Brüder Grimm. Mit Brentanos Bildnis. Stuttgart – Berlin 1914, S. 201. Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, 28. Februar 1815; zitiert nach: Steig: Clemens Brentano und die Brüder Grimm (Anm. 22), S. 207.
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tat.24 Damit aber war zugleich die Eheschließung mit dem schon zweimal geschiedenen Clemens Brentano unmöglich geworden. Die Einheit im Glauben hat die Einheit im bürgerlichen Leben gerade unmöglich gemacht, und eben das war hier gewollt. Ungeachtet aller Exaltiertheiten entsprach es ganz dem romantischen gesteigerten Ton, dem die deutsche Lyrikgeschichte so unerhörte Liebesgedichte Brentanos verdankt wie O schweig nur Herz oder auch Ich bin durch die Wüste gezogen.25 Die Verschränkung von erotischem Werben und neupietistischer Zerknirschung, napoleonistischen Phantastereien und christlichen Staatsideen war nicht nur bei Brentano eher zeittypisch denn befremdlich, weil die konfessionelle Religion längst aus dem gesellschaftlichen Sicherungsgefüge entlassen und für artifizielle Umbauten jedweder Art freigegeben war. Das romantische Christentum war zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter den gesellschaftlichen Eliten eine so verbreitete Erwartung, dass Brentano hier nur einer unter vielen ist. Und doch unterscheidet sich Brentano in der Radikalität, mit der er die Verknüpfung von Verbürgerlichung und romantischer Religiosität hinter sich lässt, ja geradezu programmatisch aufzukündigen scheint. In dieser Entschiedenheit ist er vielleicht nur mit dem Aufbruch der Nazarener nach Rom 1810 vergleichbar, die freilich nach 1820 bereits damit begonnen haben, Kunst und Verbürgerlichung wieder zusammen zu führen und als Direktoren an den deutschen Kunstakademien die kulturelle Vergesellschaftung voranzutreiben. All das wollte Brentano immer weniger. Die romantische Kunst selbst wurde ihm zum Problem: »Meine dichterischen Bestrebungen habe ich geendet«, hatte er 1815 an Wilhelm Grimm geschrieben. Er nennt sich schon länger bevorzugt einen ›Schreiber‹, und Poesie will er schon lange nicht mehr schreiben. Nicht Kunstreligion, sondern nur noch Religion zu betreiben, danach schien sein Sinn nach der Auflösung seines Berliner Hausstandes 1818 zu stehen. Das ist zweifellos ein romantisches Projekt der eigenen Selbstüberbietung, getrieben von dem Versprechen nach einem Wunderbaren, das aller Kunst voraus liegt. Es unterscheidet sich von früheren kunstreligiösen Projekten etwa der Frühromantik in der Bestimmtheit, mit der hier Kunst zugunsten von Religion getilgt wird. Brentanos Versuch, nicht Dichter, sondern nur ein Schreiber zu sein, kehrt das romantische Kunstprogramm um, das im 252. Athenäums_____________ 24 25
Stambolis, Barbara: Luise Hensel (1798-1876). Frauenleben in historischen Umbruchszeiten. Köln 1999 (Paderborner Beiträge zur Geschichte 8), S. 31-34. Hasenpflug, Kristina: Clemens Brentanos Lyrik an Luise Hensel. Mit der historisch-kritischen Edition einiger Gedichte und Erläuterungen. Frankfurt/M. − Berlin – Bern – New York – Paris – Wien 1999 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I: Deutsche Sprache und Literatur 1707).
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Fragment so emphatisch benannt worden ist, das der Autonomie der Kunst: Eine Philosophie der Poesie überhaupt aber, würde mit der Selbständigkeit des Schönen beginnen, mit dem Satz, daß es vom Wahren und Sittlichen getrennt sei und getrennt sein solle, und daß es mit diesem gleiche Rechte habe.26
Statt Literatur zu dichten nur die Wahrheit der Religion aufzuzeichnen, bindet das Schöne wieder an das Wahre und Sittliche zurück, ja mehr noch bestreitet das neue Selbstverständnis Brentanos dem Anspruch nach, dass das Schöne überhaupt der Aufmerksamkeit und des Aufschreibens wert sei. Kunst ganz in Religion zu verwandeln, die das Schöne nicht mehr kennt, sondern ganz dem nicht mehr schönen Leiden hingegeben ist, ist die Aufgabe jener Betrachtungen der »gottseligen Anna Katharina Emmerick« über das »bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi«, die Brentano über so viele Jahre in der Dülmener Abgeschiedenheit aufgezeichnet hat. »Und so muß denn auch jeder Kunstspiegel ein Spiegel der Finsterniß seyn, der anderes spiegelt als den Weg, das Licht und die Wahrheit«, schrieb er 1824 in einem Brief: Alles aber, was dieses nicht ist, was ableitet, hinhält, verlockt von ihm hinweg, in der Kunst wie im ganzen Leben, sey fern von mir […], denn es ist des Teufels Versuchung.27
Wie aber gibt ein romantischer Dichter es auf, Kunst zu betreiben und sich stattdessen der Religion zu verschreiben?
3. Der Schreiber und sein heiliges Buch Brentano hatte schon 1816 durch Stolberg und Gerlach von jener stigmatisierten Nonne in Dülmen gehört, darüber aber zunächst nur ironische Bemerkungen verloren. Nach der Generalbeichte seines Bruders Christian legte auch der fast 40-jährige Clemens Brentano 1817 bei dem Berliner Propst Ambrosius Tauber eine nicht erhaltene Generalbeichte ab – notiert _____________ 26
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Schlegel, Friedrich: Athenäums-Fragmente; in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Herausgegeben von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abteilung. Zweiter Band: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Herausgegeben von Hans Eichner. München – Paderborn – Wien – Zürich 1967, S. 165255, hier S. 207. Clemens Brentano an Friedrich Böhmer, 8. Februar 1824; zitiert nach: Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Christoph Perels, Hartwig Schultz. Band 27, 2: Religiöse Werke V, 2: Erläuterungen und Lesarten. Herausgegeben von Bernhard Gajek und Irmgard Schmidbauer. Stuttgart – Berlin – Köln 1995, S. 113.
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auf »10 Bogen eng geschrieben […] ein ungeheurer Sündenhaufen«.28 Wie schon sein Bruder vor ihm, verlässt Clemens Brentano in Folge der Generalbeichte am 14. September 1818 Berlin, reist gegen massive Widerstände verschiedener Seiten nach Dülmen und sucht am 24. September sogleich die Nonne in ihrem kleinen Zimmer auf. Fünf ganze Jahre sollte er bleiben. Das Kloster der Emmerick war bereits 1811 der Säkularisation zum Opfer gefallen. Eine staatliche Kommission überprüfte für die preußische Regierung in Berlin die Glaubwürdigkeit der Nachrichten über die als Heilige verehrte Nonne. Damit war die religionspolitische Situation mehr als deutlich umschrieben. Brentano begann nach seiner Ankunft sogleich ein Tagebuch zu führen und schrieb umfangreiche Briefe, besonders an Luise Hensel, über alles und wirklich fast alles noch so Beiläufige, was er nun erlebt oder zu erleben behauptet.29 Dabei fällt auf, wie sehr er immer wieder den Abstand zur modernen Literatur betont. Schon am zweiten Tag, einem Freitag, habe er nicht nur der Emmerick »Wunden bluten sehen«,30 schreibt er an Luise Hensel, sondern sei auch an einem Ort »ohne alle Kunst und Wissenschaft, wo man von keinem Dichter ein Wort weiß […]. In ganz Dülmen ist wohl kein Roman und gewissermaßen keine Mode«.31 Brentano selbst hatte nur solche Bücher wie Giambattista Basiles Pentameron (1634-36) dabei – Bücher, die keine moderne Literatur waren. Seine Berliner Bibliothek hatte er versteigert, um gleich danach freilich wieder mit dem Büchersammeln zu beginnen. Er las der Nonne aus den mystischen Schriften eines Tauler, Seuse und Meister Eckart vor und gibt vor, die Emmerick sei ihrerseits ganz unbelesen. Er selbst verstand seine Rolle als die eines bloßen Biographen der »Gottseligen«, der nichts als die wahren Glaubensdinge sammelt und verzeichnet – und sei es selbst der Blutgrind der Stigmata. Kein anderes Buch will er in diesen Jahren aufgeschlagen haben als eben religiöse Bücher. Hier am Bett der stigmatisierten Nonne schien alle Kunst geendigt zu haben und das Leben ganz in Religion aufgegangen zu sein. Am Ende waren mehr als 16.000 _____________ 28 29 30
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Achim von Arnim an Johann Nepomuk Ringseis, 25. April 1817; zitiert nach: Pfülf, Otto: Achim von Arnim im Spiegel seiner Briefe; in: Stimmen aus Maria-Laach 67 (1904), S. 402418, hier S. 410. Mathes, Jürg: Ein Tagebuch Brentanos für Luise Hensel; in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1971), S. 198-310. Clemens Brentano an Luise Hensel, 22. bis 25. September 1818; in: Brentano, Clemens: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Ulrike Landfester, Christoph Perels, Hartwig Schultz. Band 33: Briefe V: 1813-1818. Herausgegeben von Sabine Oering. Stuttgart – Berlin – Köln 2000, S. 325-331, hier S. 330. Clemens Brentano an Luise Hensel, 1. bis 9. Oktober 1818; in: Brentano, Clemens: Briefe V (Anm. 30), S. 331-351, hier S. 333.
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Folioseiten über unendliche Kleinigkeiten und viele große Visionen aus dem Leben der Nonne aufgezeichnet worden, alles Texte, die die Germanistik mehr als ein Jahrhundert nicht beachtet hatte, weil sie keine Literatur im modernen Sinn waren, bis Wolfgang Frühwald in seiner Habilitationsschrift das Spätwerk Brentanos aufgewertet und die entsprechenden Bände in der Frankfurter Brentano-Ausgabe angestoßen hat.32 Erst Wolfgang Frühwalds Forschungen und dann auch die Arbeiten vor allem von Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Bernhard Gajek, Christoph Perels und Hartwig Schultz haben im philologischen Detail gezeigt, wie sehr Brentano – weit mehr als nur ein Schreiber – eben der romantische Dichter blieb, der kalkuliert die Visionen und Wunden der Nonne herbeigeschrieben und dabei umfangreich aus der frühneuzeitlichen Erbauungsliteratur zitiert hat. Und das so sehr, dass der Seligsprechungsprozess der Nonne am Ende des 19. Jahrhunderts gerade auch wegen der biographischen Unzuverlässigkeit Brentanos eingestellt werden musste.33 Aus der heute zugänglichen handschriftlichen Überlieferung, wie sie der Frankfurter Brentano-Ausgabe zugrunde liegt, kann man ablesen, wie Brentano in der anschließenden Regensburger Zeit 1832/33 seine eigenen Dülmener Aufzeichnungen ausgeschnitten, neu aufgeklebt und um diese Aufzeichnungen herum Exzerpte religiöser Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit hinzugefügt hat. Diese Literatur reicht von apokryphen Schriften bis zu Martin von Cochems Leben JesuDarstellung aus dem Jahr 1677, einer der Hauptquellen Brentanos, von legendarischen Heiligenviten bis zu Karten, Reise- und Pilgerberichten aus der Frühen Neuzeit, die zur dichten Schilderung der Handlungsorte herangezogen werden.34 Erst durch sie sind die Gesichte der Emmerick zum realistischen Effekt geworden, der dicht und detailliert das Heilige geradezu herbeischreibt. Das alles sieht nur dann wie Kunst aus, wenn man Brentanos Arbeitsweise kennt. Aber für den Nicht-Philologen ist und war dies nicht zu erkennen. Und so verwundert es denn auch nicht, dass Brentanos Bittere _____________ 32
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Frühwald, Wolfgang: Das Spätwerk Clemens Brentanos (1815-1842). Romantik im Zeitalter der Metternich’schen Restauration. Tübingen 1977 (Hermaea. Germanistische Forschungen. N.F. 37); dann auch Emmerick und Brentano. Dokumentation eines Symposions der Bischöflichen Kommission »Anna Katharina Emmerick« Münster 1982. Herausgegeben im Namen der Bischöflichen Kommission »Anna Katharina Emmerick« von Clemens Engling, Heinrich Schleiner und Basilius Senger. Dülmen 1983. Vgl. Mathes, Jürg: Ein Bericht Clemens Brentanos aus Anlaß der staatlichen Untersuchung Anna Katharina Emmericks im Jahre 1819; in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1972), S. 228-276; erst 2004 wurde Anna Katharina Emmerick durch Papst Johannes Paul II. selig gesprochen. Ein Quellenverzeichnis, der von Brentano benutzten Literatur bietet Brentano: Sämtliche Werke und Briefe 27, 2 (Anm. 27), S. 19-27.
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Leiden bald schon nach seinem Erscheinen zur Erbauungsliteratur wurde und vielfach ohne seinen Namen bis heute in den Schriftenständern der Wallfahrtskirchen steht, im bildungsbürgerlichen Kanon aber nicht vorkommt. Diese Literatur will keine Kunst sein – ja der Begriff Literatur passt hier nur in dem weiten, vormodernen Sinne noch. Zu Lebzeiten Brentanos war aus dem Emmerick-Projekt einzig das Bittere Leiden als Buch von ihm selbst in den Druck gegeben worden. Die Biographie der Emmerick, aber auch die Aufzeichnungen für die Lehrjahre Jesu und das Leben Mariae wurden erst postum publiziert, letzteres nicht zufällig 1852 im Umfeld der Erhebung der Unbefleckten Empfängnis Mariens zum Dogma 1854. Das bittere Leiden war ein romantisches Vorhaben der Übersteigerung von Kunst in Religion, war der Versuch, die eigene Romantik ins Wunderbare zu heben und damit den eigenen Projektcharakter des Vorhabens zum Verschwinden zu bringen. Dazu musste die Poesie wieder eine Sinnbildkunst im frühmodernen Sinne werden, der sich nicht ansehen lässt, wie kalkuliert die Naivität ist, die der Schreiber hier an den Tag legt. Darin gleicht das Unterfangen dem Sammeln von Volksliedern oder Märchen, die alle keine Kunst sind und doch dem romantischen Versprechen genügen, dass aller Kunst das Wunderbare, selbst nicht mehr zu Sagende vorausliegt. Dieser romantischen Logik folgt auch Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Schon das Syntagma im Titel verwendet, wie die Frankfurter Ausgabe nachweist,35 ältere, nichtliterarische Zitate aus Tauler, dessen Predigten in einer plattdeutschen Ausgabe der Emmerick durch Brentanos Bruder Christian schon vertraut waren. Vor allem findet hier Heinrich Seuses Büchlein der ewigen Weisheit Verwendung, das in Brentanos Bibliothek zu finden war. Brentano kannte die Titelwendung durch den Übersetzer des Büchleins und Freund Melchior von Diepenbrock in Regensburg. Ihm ist denn auch das Bittere Leiden gewidmet, darüber hinaus auch dem Übersetzer des Johannes vom Kreuz, dem Regens des KlerikalSeminars in Regensburg Gallus Schwab. Keiner von ihnen ist Dichter, sondern beide sind sie Geistliche. Der Ton ist forciert erbaulich, um nicht zu sagen altfränkisch: »Den beiden deutschen Erneuerern der Schriften der heiligen Henricus Suso, Johannes a Cruce und Theresia a Jesu weihet diese Blätter dankbar für Herberge, Muße und Trost ein Pilger« (BL 3). Es wollen dies auch nur nachgeschriebene ›Betrachtungen‹ – so die Selbstbezeichnung – sein. Aber schon das Widmungsgedicht an die beiden Übersetzer ist eine für Brentano so typische Mischung aus naivem Volkston und altertümelndem Sprachduktus, allegorisch-autobiographischer Selbstüberhöhung und romantischer Erlösung. Er sei nur ein ›Pilger‹: _____________ 35
Brentano: Sämtliche Werke und Briefe 27, 2 (Anm. 27), S. 174ff.
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Und für euch der Pilger aufgesetzet. In der Hand den Wanderstab Legt er scheidend nieder euch die Gabe Zwischen zweier Hirten Grab, Daß man seiner ein Gedenken habe. Herr, bei dir allein ist Ruh’, Wie die Jünger einst zu dir auf Erden Sagten, sprichst zum Pilger du: Bleib’ bei mir, denn es will Abend werden! (BL 5)
Der Autor nennt sich hier nicht bei seinem bürgerlichen Namen. Hier kümmert es nur, dass die »gottselige Anna Katharina Emmerick« spricht und kein Dichter. Das romantische Phantasma vom sich selbst zum Verschwinden bringenden Autor setzt dann auch die Einleitung der ›Betrachtungen‹ fort. Aufgabe der Einleitung ist es, die nachfolgende Leben Jesu-Darstellung zu authentifizieren, ohne dabei Historiographie sein zu wollen. Daher ist die Einleitung weitgehend identisch mit dem »Lebensumriß der Erzählerin«. Wieder spricht nur ein Schreiber der »Gottseligen«. Die folgenden Betrachtungen wollen nichts, als sich demüthig den unzählig verschiedenen Darstellungen des bittern Leidens durch bildende Künstler und fromme Schriftsteller anschließen, und höchstens für vielleicht eben so unvollkommen aufgefaßte und erzählte, als ungeschickt niedergeschriebene Fastenbetrachtungen einer frommen Klosterfrau gelten, welche solchen Vorstellungen nie einen höheren als einen menschlich gebrechlichen Werth beilegte, und daher einer fortwährenden inneren Mahnung zur Mittheilung nur aus Gehorsam gegen den wiederholten Befehl ehrwürdiger Gewissensführer mit Selbstüberwindung Folge leistete. (BL 13)
Nicht nur die Nonne erzählt unvollkommen, auch ihr Schreiber ist »ungeschickt« bei seiner Niederschrift. Brentano ist Emmerick – beide sind gebrechliche menschliche Wesen, die auf einen ihnen vorausliegenden Sinn verweisen, den sie zugleich nicht angemessen auszudrücken vermögen. Alles soll hier Sinnbild sein, das herzustellen ein Leiden ist, aber ein Leiden, das wiederum Sinnbild für die Nachfolge Christi ist. Von der ersten Seite an wird darum auch immer wieder daran gezweifelt, ob die Betrachtungen überhaupt publiziert werden dürfen. Es seien andere, fromme Leute gewesen, die den Schreiber ermutigt hätten, das dann doch zu tun. Und weil dies kein Buch des modernen Literaturbetriebs sein will, sondern ein frommes Sinnbild, kommt der Verkaufsertrag denn auch einer ›milden Anstalt‹ zugute, wie es schon das Titelblatt ausweist. Und tatsächlich hat Brentano seinen Sulzbacher Verleger Johann Esaias von Seidel, den damals beherrschenden Verleger am Markt für religiöse Literatur, immer wieder bedrängt, an den Verkauf zugunsten der Armenund Krankenpflege-Anstalt St. Joseph in Regensburg zu denken.
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Wie die fromme Klosterfrau selbst weiß auch der Autor kaum, welche Gesichte ihr da begegnen und von ihm aufgeschrieben werden. Und doch scharen sich die Gläubigen um sie. Beide sind sie Medium: […] jetzt ganz einfältig, kindlich, wehrlos und unbedeutend, dann aber wieder ganz erleuchtet, scharfsinnig, heldenmüthig und überwiegend, beides aber bewußt- und absichtslos, in Jesu Christo allein stark, in aller Demuth, nicht zu scheinen, sondern immer zu seyn. (BL 14)
Kunst hört dort auf, wo sie Überwältigung ist. Dies soll ein Buch non manu facit sein, nicht Kunst, sondern wie die Sixtina des Raffael in der Deutung Wackenroders etwas, das sich durch das Heilige selbst niederschreibt. Irdische Speise brauchen die nicht mehr, die in der Überwältigung leben und schon nicht mehr in der irdischen Zeit: ›Wo sind wir an der Zeit?‹ und fuhr auf die Antwort: ›am 14. Januar‹ fort, ›ach, daß ich so gar nichts mehr vermag, noch einige Tage, so hätte ich das Leben [Christi, G. L.] ganz erzählt!‹ Diese Worte waren um so überraschender, da sie nie zu wissen schien, in welchem Lehrjahre des Herrn ihr Schauen begriffen war. (BL 56)
Das ganze unbewusste Wesen der Gottseligen, ihr Leiden in der Nachfolge Christi, ist immer auch das Leiden ihres Schreibers, der bis zur Besinnungslosigkeit an ihrer Seite wacht. Seinen »ernstesten Beruf«36 nennt er seinen Dienst, nur niederzuschreiben, was jene sieht, eine Verdopplung des Mediums und darin dann auf wundersame Weise mit all den Heiligen verbunden, auf die er ständig verweist. Und damit nicht genug des Verweisens. Der Schreiber interpretiert die Visionen der Nonne nicht, sondern sieht in ihnen wiederum nur Verweise, die er dann ergänzend zwischen die Erzählung der Emmerick einschiebt. Dies in der Geschichte der Emmerick habe Ähnlichkeiten »mit der Kindheit der ehrwürdigen Anna Garzias a St. Bartholomäo, und Dominica del Paradiso« (BL 15), jenes mit »den Geschichten der S. Sybillina von Pavia, Ida von Löwen, Ursula Benincasa« (BL 16). Alles scheint mit allem verbunden zu sein und ist darin immer Verweis, nie die Sache des Heils selbst. Natürlich spricht die Klosterfrau auch »gewöhnlich niederdeutsch, im ekstatischen Zustande oft auch eine reinere Mundart« (BL 112). Und ihr Schreiber erbittet nichts zum Lohn als ein Gebetsalmosen seiner Leser. Eine Kette des _____________ 36
»Ach, mein armes Leben ist eine (zusammenhängende) Kette von verzweifelten Ereignissen, die mich langsam abwürgt. Dies letzte Glied dringt ins innerste Leben; denn ich weiß nicht mehr, wo ich mein Haupt niederlegen soll, und bin doch durch die feierlichsten Gelübde gebunden, denen ich nur mit Zittern und Zagen entsagen kann. Aber ich kann es nicht, nein, nie ganz; denn es ist ein ernstester Beruf, und ich bange, es erwarte mich eine schreckliche Rechenschaft, so ich ihn auf so unendlich dünne Gründe des Feindes ganz aufgebe« (Clemens Brentano an Fürst und Fürstin Salm, [Berlin, Anfang 1819]; in: Dichter über ihre Dichtungen: Clemens Brentano. Herausgegeben von Werner Vordtriede in Zusammenarbeit mit Gabriele Bartenschlager. München 1970, S. 211f., hier S. 211).
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Heiligen, Einfachen und kaum Bewussten wird hier gespannt und umgibt die Erzählung von den letzten Stunden Jesu, als würden hier nur die Visionen eines frommen Bauernmädchens aufgeschrieben sein. Und doch ist alles hier schon kunstvoll in ein naives Licht gesetzt, bevor die eigentlichen ›Betrachtungen‹ beginnen. Auf fast 400 Seiten werden dann die letzten Stunden Jesu erzählt, betont einfach, strikt chronologisch berichtend und die einzelnen Stationen sinnfällig vor Augen stellend. Alles ist auf eine realistische Dichte hin angelegt, die die Überwältigung bis zur Paradoxie des Unerzählbaren treibt. So sieht etwa die Nonne Einzelheiten jenes Baums vor sich, an dem sich Judas erhängt: Da nahm Judas verzweifelnd seinen Gürtel, und hängte sich an einen Baum, der in mehreren Stämmen*) aus dem Boden dort in einer Vertiefung wuchs, und als er hing, platzte sein Leib und sein Eingeweide schüttete sich auf die Erde. (BL 211)
Das ist nicht nur mit der immer wiederkehrenden Lust am grausamen Realismus erzählt. Dramaturgisch ungeschickt wird vielmehr die Aufmerksamkeit vom eigentlichen Handlungsgeschehen betont auf ein nebensächlich erscheinendes Detail – die Zahl der Stämme des Baumes – verschoben und die Fußnote angefügt: »*)Die Erzählende beschrieb noch die Gestalt dieses Baumes sehr detaillirt, aber sie war so krank und schwach, daß es nicht aufgefaßt werden konnte«. Das lenkt nicht nur vom Geschehen ab, sondern ist offensichtlich auch noch unstimmig, denn die Emmerick erzählt ja von diesem seltsamen Baum. Wer es nicht auffassen kann, ist ihr Zuhörer Brentano. An ihm liegt es, dass die Beschreibung im rätselhaft Unvollständigen verbleibt. Er scheint krank und schwach zu sein, als wäre er die Erzählerin. Hier wechseln die Nonne und ihr Schreiber einmal mehr die Rollen. Die gottselige Erzählerin tritt weitgehend zurück hinter die Erzählung des Passionsgeschehens, und doch ist sie fast allwissend und nur gelegentlich unsicher, ob beispielsweise einer der barmherzigen Kriegsknechte, die Jesus vor die Hohen Priester bringen, das Wasser aus einem Brunnen in Siloe oder in Rogel mit »einer aus Bast gewundenen Düte, wie die Soldaten und Wanderer häufig als Trinkgefäß hier zu Lande bei sich tragen« (BL 162), für Jesus geschöpft hat. Das ist der naiv sich gebende Realismus, der viele, gerade auch die von einem gebildeten Erzähler ausgelassenen Dinge berichtet und dabei zugleich die eigene Unsicherheit immer wieder herausstellt. Das erhöht den realistischen Effekt und ist doch kalkulierte Naivität, die sich auch der gelehrten Fußnote noch zu bedienen weiß. Nicht anders fällt etwa die Schilderung des das Kreuz tragenden Jesus aus, wenn noch Nebensächlichkeiten wie das etwas anders herunterhängende Kreuz beschrieben werden:
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Unsern Herrn hatten die Schergen unterdessen wieder aufgerissen [nach dem zweiten Fall unter dem Kreuz], und das Kreuz auf eine andere Art auf seine Schulter gelegt. Die oben aufgebundenen Kreuzarme waren locker geworden, und einer derselben neben dem Kreuz in den Strickschlingen heruntergesunken; diesen umfaßte jetzt Jesus mit dem Arm, und so hing nun der Kreuzstamm hinten etwas mehr zur Erde. (BL 295)
Doch zielen diese ›Betrachtungen‹ nicht auf einen Realismus. Im Gegenteil ist der Realismus einer Rhetorik des Füllsels verpflichtet, die in immer neuen Windungen noch das Beiläufigste herausstellt wie etwa das Material eines Trinkgefäßes einer Nebenfigur wie des barmherzigen Soldaten, die nur in der apokryphen Überlieferung zu finden ist. Eigene Kapitel über das Aussehen Mariens und Maria Magdalenas oder über die Örtlichkeiten Jerusalems, die Jesus vom Kreuz aus gesehen haben musste, sind eingeschoben, auch sie betont gegen die Dramaturgie des Handlungsablaufs (BL 264f. und 362-366). Dadurch wird das Bild überkohärent und übervoll, damit es so zum ungeschickt-naiv erzählten Sinnbild und nicht zum Bild wird. Erzählt ist es gegen die kirchliche Dogmatik als Offenbarung: Ihr Beichtsvater habe ihr verboten, Häußer, Wege, Steine, Orte zu beschreiben, denn das gehöre nicht zur Sache […]. Der Pilger sagt ihr: daß diese Dinge ihm die Hauptsache seyen in der Erzählung.37
Und so können die sehende Nonne und ihr Schreiber nicht anders als eben noch die Bartstoppeln der Henkersknechte aufzuzählen. Es ist Gott selbst, der hier spricht und sich der ungeschickten Medien Emmerick und Brentano bedient. Deshalb auch wird das geschaute Geschehen weder von der Nonne noch von ihrem Schreiber interpretiert. Die schiere Präsenz des Sprechens bzw. Niederschreibens genügt. Die Nonne weiß oft genug nicht, was das bedeutet, was sie sieht. Sie gibt gelegentlich Andeutungen über die Geschichte hinaus, die etwas von den geheimnisvollen Bezügen jedes Details der Erzählung erahnen lassen: Als es heller ward, erschien der Leib des Herrn am Kreuze bleich, schwach, wie ganz verschmachtet, und weißer als vorher, so sehr war er verblutet. Er sagte auch, ich weiß nicht, ob betend und mir allein vernehmlich, oder ob halblaut: ›ich bin gepreßt, wie der Wein, der hier zuerst gekeltert worden, all mein Blut muß ich geben, bis das Wasser kommt, und die Hülsen weiß werden, es soll aber kein Wein mehr hier gekeltert werden‹. Ich sah später in Bezug auf diese Worte ein Bild, wie Japhet hier auf dieser Stelle den Wein gekeltert, das ich später erzählen will. (BL 342)
_____________ 37
Tagebucheintrag vom März 1823; zitiert nach: Brentano: Sämtliche Werke und Briefe 27, 2 (Anm. 27), S. 64.
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Alles ist hier Sinnbild und will als ein solches aufgefasst sein. Was es bedeutet, kümmert wenig, denn die Heiligkeit des Geschehens bürgt für allen Sinn, so unverständlich die Ereignisse auch immer erscheinen mögen. Dieser romantischen Emblematik entspricht es dann auch, dass die Betrachtungen der Stationen des Kreuzweg-Geschehens nur selten angehalten sind durch »Unterbrechung der Passionsbilder« (BL 273-276) oder eine »Reflection über diese Betrachtung [Ecce Homo, G. L.]« (BL 400-404). Sie sind Betrachtungen jener Betrachtungen, die ja das ganze Buch sein soll, Vermehrfachung und Amplificatio des Sinns wie eine Inscriptio oder Subscriptio in der Emblematik. Auch das Passionsgeschehen ist ja eine Fastenbetrachtung, damit eine Einübung in die Nachfolge, eben Sinnbild und nicht Bild der Passion. So sind die Betrachtungen der Betrachtungen Verweise auf Verweise, ungeschickt angeordnet und so glaubwürdig, dass es den nicht-philologischen Lesern erscheint, als würden sie ein Erbauungsbuch in der Hand halten, das auch aus dem 17. Jahrhundert stammen könnte. Entsprechend schließt das Buch auch nicht mit einer dramaturgisch geschickten Apotheose des Auferstandenen, sondern mit einem »Schluss dieser Fastenbetrachtungen« (BL 444), der bei einem nur apokryph überlieferten Detail stehen bleibt, der Frau des Pilatus. Als Bild hat diese Betrachtung keine Bedeutung, als Sinnbild dagegen schon: Am Donnerstage nach Ostern sagte sie: heute sah ich, daß Pilatus seine Frau vergeblich suchen ließ. Ich sah hierauf, daß sie heimlich in Lazari Haus zu Jerusalem versteckt ist. Sie wird dort nicht vermuthet, denn es sind jetzt gar keine Frauen dort, und nur Stephanus, der Jüngling, der als Jünger noch nicht sehr bekannt ist, geht manchmal aus und ein, und bringt ihr Nahrung und Nachrichten, und bereitet sie zur Erkenntniß vor. Stephanus ist mit Paulus verwandt, er ist ein Bruderssohn des Vaters Pauli. Simon von Cyrene kam nach dem Sabbath zu den Aposteln, Aufnahme und Taufe begehrend. Hiermit schloß sich die Mittheilung dieser Betrachtungen, welche vom 18ten Februar bis zur Woche nach Ostern, 6ten April 1823 gedauert hat. (BL 445)
Das ist bewusst kein dramaturgisch befriedigendes Ende, noch weniger wenn man die dann noch nachgeschobenen einzelnen Betrachtungen einbezieht. Aber dieses Buch soll eben kein Werk sein, sondern eine Fastenbetrachtung und hat daher eine klare Funktion für denjenigen, der außerhalb des Kunstsystems dieses Buch liest. Dann bereitet es seine Leser auf die Nachfolge Jesu vor. Wie im Sinnbild der Frau des Pilatus, die das bittere Leiden gesehen hat und darüber zum Glauben gekommen ist, so auch muss der Leser Jesus nachfolgen. Nur das sagen diese Betrachtungen in immer neuen Sinnbildern demjenigen, der keine Kunst sucht.
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4. Zur Kritik der Kunstreligion Eine Nonne, die von romantischer Poesie nichts weiß, und ihr Schreiber, der von romantischer Poesie nichts mehr wissen will: Daraus wird ein Buch als ein Sinnbild – den einen ein Werkzeug des Glaubens, den anderen ein romantisches Kunstwerk, das seinen Autor und seinen eigenen Werkcharakter negiert. Das ist die nicht unproblematische romantische Okkupation der einfachen Frömmigkeit und ihrer Ausdrucksweisen durch die verunsicherten kulturellen Eliten der Zeit nach 1800. »Herr Jesus, was soll ich tun!? Meine Verantwortung ist entsetzlich, die Stimme Gottes ist laut an mich ergangen«,38 schreibt Brentano 1819 an den Theologen Bernhard Overberg. Für ihr eigenes Unbehagen an der Ästhetisierung der entstehenden bürgerlichen Welt nutzten sie die Sinnmuster und Ausdrucksformen einer ihnen längst fremd gewordenen Welt, die sie nur dem Schein nach erneuern. Keine der im romantischen Geist gesammelten frommen Betrachtungen, kein Volkslied oder Märchen hat jene Welt erhalten, der sie entnommen sind, sondern nur die kulturell reicher gemacht, die es ehedem schon sind. Das gilt für Clemens Brentano wie für seinen späten Nachahmer Mel Gibson. Ihr Wunsch, dem Unbehagen an der Kunst in einer neuen Sinnbildkunst zu entkommen, beschleunigt nur die Auflösung jener Ausdrucksformen, deren sich die modernen Künstler bedienen. Auf der Rückseite des Wunsches kein Autor mehr zu sein, kein Werk mehr zu schreiben und keine Kunst mehr zu betreiben, sondern nur noch der Religion zu dienen, kehrt die spezifisch moderne Ästhetisierung nur wieder. Ob dies ein unvermeidliches Schicksal moderner Kunst ist, an der man leiden kann und sich in diesem Leiden dann stilisiert, wie es Brentano und dann noch viele nach ihm tun sollten, kann man bezweifeln. Zu erwarten ist freilich, dass dieses Sinngebungsmuster einmal mehr wiederkehren wird, wenn Gibsons Film Resurrection für Pfingsten herauskommen soll, – für welches Pfingsten allerdings, davon gibt es bisher nur Ahnungen.
_____________ 38
Clemens Brentano an Bernhard Overberg, Berlin, 23. März 1819; in: Dichter über ihre Dichtungen. Clemens Brentano (Anm. 36), S. 211f., hier S. 212.
ALAIN MUZELLE
Das Bild des Künstlers im Werk Wackenroders und E.T.A. Hoffmanns Unter der Jahresangabe 1797 sind bei Unger in Berlin Wilhelm Heinrich Wackenroders freilich schon im Herbst 1796 ausgelieferte Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders erschienen: eine Sammlung von 14 Prosaaufsätzen und drei lyrischen Einlagen, die – noch bevor Friedrich Schlegel den Begriff geschmiedet hat – als ein Produkt der ›Sympoesie‹ betrachtet werden können, da sie die Frucht einer freundschaftlichen Zusammenarbeit Wackenroders mit Ludwig Tieck bilden. Raphaels Erscheinung, der erste Aufsatz dieser Sammlung, von dem zu erwarten ist, dass er als einleitende Geschichte den Grundtenor des ganzen Werks vorgibt, bietet uns eine aufschlussreiche und programmatische Interpretation des berühmten Satzes des Malers aus Urbino an: Essendo carestia di belle donne, io mi servo di certa idea che me viene al mente.
Diesen Satz übersetzt Wackenroder wie folgt: Da man so wenig schöne weibliche Bildungen sieht, so halte ich mich an ein gewisses Bild im Geiste, welches in meine Seele kommt.1
Der Klosterbruder erklärt den Lesern, er habe in seinem Kloster einige Blätter von der Hand des Architekten und Malers Bramante entdeckt, die den Schlüssel zum richtigen Verständnis dieses Satzes liefern. Er zitiert in deutscher Übersetzung den Text, in welchem Bramante von einem Gespräch mit seinem Freund Raphael berichtet, in dessen Verlauf der Maler ihm sein Künstlergeheimnis enthüllt hat. Auf die Frage des Bramante, »von woher er denn in aller Welt die unvergleichliche Schönheit, die rührenden Mienen und den unübertrefflichen Ausdruck in seinen Bildern der heiligen Jungfrau entlehnt habe« (H 57), antwortet Raphael (und fällt dabei auf anachronistisch empfindsame Weise dem Freund mit Tränen um den _____________ 1
Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797). In: Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Band I: Werke. Herausgegeben von Silvio Vietta. Heidelberg 1991, S. 51-145, hier S. 56. – Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter Angabe der Sigle ›H‹ zitiert.
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Hals), die Mutter Gottes selber habe ihm durch eine Wundererscheinung das Urbild zu seinen Werken geoffenbart. Er habe nämlich von Jugend an den Wunsch gehegt, die Jungfrau Maria zu malen, sei jedoch mit seinen Arbeiten nie zufrieden gewesen, da sich seine dunkle Ahnung nie in ein klares Bild auflösen wollte. Schließlich habe er sich doch entschlossen, ein neues Gemälde zu beginnen, sei mitten in der Nacht aus einem Traum erwacht, in dem er zur Jungfrau betete, und habe die erwünschte und solange vergeblich gesuchte Antwort gefunden: In der finsteren Nacht sey sein Auge von einem hellen Schein an der Wand, seinem Lager gegenüber, angezogen worden, und da er recht zugesehen, so sey er gewahr geworden, daß sein Bild der Madonna, das, noch unvollendet, an der Wand gehangen, von dem mildesten Lichtstrahle, und ein ganz vollkommenes und wirklich lebendiges Bild geworden sey. Die Göttlichkeit in diesem Bilde habe ihn so überwältigt, daß er in helle Thränen ausgebrochen sey. Es habe ihn mit den Augen auf eine unbeschreiblich rührende Weise angesehen, und habe in jedem Augenblick geschienen, als wolle es sich bewegen; und es habe ihn gedünkt, als bewege es sich auch wirklich. Was das wunderbarste gewesen, so sey es ihm vorgekommen, als wäre dies Bild nun grade das, was er immer gesucht, obwohl er immer nur eine dunkle und verwirrte Ahndung davon gehabt. Wie er wieder eingeschlafen sey, wisse er sich durchaus nicht zu erinnern. Am andern Morgen sey er wie neugeboren aufgestanden; die Erscheinung sey seinem Gemüth und seinen Sinnen auf ewig fest eingeprägt geblieben, und nun sey es ihm gelungen, die Mutter Gottes immer so, wie sie seiner Seele vorgeschwebt habe, abzubilden, und er habe immer selbst vor seinen Bildern eine gewisse Ehrfurcht gefühlt. (H 57f.)
Diese Deutung des Raffael-Zitats ist zuerst deshalb so aufschlussreich, weil sie als Ergebnis eines eindeutigen Spiels des Dichters mit seinen historischen Quellen, insbesondere mit Giorgio Vasaris Le Vite de’ più eccellenti pittori, scultori, e architettori (1550/68), zu betrachten ist. Zum einen handelt es sich bei dieser angeblichen Entdeckung eines Zeugnisses von Bramante um reine Fiktion (das Wort des realen Raffael bezog sich in Wahrheit keineswegs auf die Jungfrau Maria, sondern auf die mythologische Gestalt der Galatea); zum anderen kommt die vorgeschlagene Übersetzung des Zentralbegriffs ›idea‹ durch ›Bild‹ einer Abweichung vom originalen Sinn gleich. Wie Erwin Panofsky in seinem berühmten Werk dieses Titels (Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Leipzig 1924) herausgearbeitet hat, gehört ›idea‹ nämlich zu den Hauptbegriffen der Kunsttheorie der italienischen Renaissance, die tief von der platonischen Philosophie beeinflusst ist: Das Kunstwerk entsteht nicht allein aus einer exakten Nachahmung der Natur, sondern auch durch die Konkretisierung einer Idee, die der Künstler in seinem Geist findet und worin er die perfekte Schönheit erkennt. Es gilt also für den Renaissancekünstler, an beiden Grundsätzen zugleich – an der imitatio wie an der Vollkommenheit – festzuhalten, was für einen Raffael unproblematisch ist, weil er noch
Das Bild des Künstlers im Werk Wackenroders und E.T.A. Hoffmanns
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an die harmonische Verbindung von Natur und Idee glauben kann. Indem nun in Wackenroders Übersetzung von einem Bild gesprochen wird, vollzieht sich gleichsam eine Romantisierung des historischen Raffael, indem die Rolle der Phantasie, dieses Denkens in Bildern, in den Vordergrund gerückt wird. Auffälliger noch ist die in der Erzählung herrschende christliche Atmosphäre, die sich schon im Titel des Werks ankündigt und hier bereits dadurch illustriert wird, dass die keusche Jungfrau Maria die heidnischsinnliche Galatea verdrängt. Diese christliche Religiosität ist allerdings durch einen gewissen Synkretismus gekennzeichnet, da sich zur katholischen Verehrung der Mutter Gottes ein eindeutig pietistischer Zug gesellt, der sowohl in der ganzen Inszenierung der Geschichte als auch im verwendeten Wortschatz zur Geltung kommt. Die ständige Unruhe des Künstlers, der nach der Gestaltung des Idealbilds strebt, sein Suchen in der Finsternis, die wunderbare Erleuchtung mitten in finsterer Nacht, sein Ausbruch in helle Tränen, sein Gefühl beim Erwachen, neugeboren zu sein – dies alles trägt dazu bei, der Wundererscheinung den Charakter eines Durchbrucherlebnisses zu verleihen. Somit wird der neugeborene Raphael gleichsam zum wahren, erweckten Christen, der aber nur indirekt von diesem seinem wunderbaren Erlebnis zeugt, denn niedergeschrieben wird es zuerst von seinem Freund Bramante und dann vom Klosterbruder einer möglichst breiten Leserschaft verkündet, was den Herzensergießungen übrigens auch den Charakter eines Evangeliums verleiht. In dieser Künstlergeschichte, die sich auch an die Wundergeschichten der Legenda aurea anlehnt, entwirft Wackenroder also ein Bild des Künstlers als ein göttlich eingeweihter Schöpfer, ja als ein Kunstheiliger, wie es im Vorwort heißt2 und wie es die Anlehnung an das Werk des Jacobus de Voragine ohnehin suggeriert. In den ersten Absätzen dieses einleitenden Aufsatzes, in denen der Klosterbruder von seinem Verhältnis zur Kunst spricht und die spöttischen Rationalisten scharf kritisiert, die der künstlerischen Tätigkeit jegliche göttliche Dimension absprechen, definiert er selber die künstlerische Schöpfung als Produkt »göttliche[r] Eingebung« (H 56) bzw. als Ergebnis eines Kunstenthusiasmus himmlischen Ursprungs, so dass das darauffolgende Zeugnis des Bramante in diesem Zusammenhang die Rolle eines bestätigenden Beispiels spielt. Dadurch knüpft der Klosterbruder an die platonische und neuplatonische Interpretation der schöpferischen Begeisterung an, welche diese als raptum mentis betrachtet: als einen geistigen Zustand, in dem der Künstler zu einer Erkenntnis gelangt, die dem Menschen sonst unerreichbar bleibt. Infolge_____________ 2
»Aber immer dachte ich mit einem stillen, heiligen Schauer an die großen, gebenedeyten Kunstheiligen« (H 53).
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dessen ist diese Begeisterung als Ausdruck der Gegenwart Gottes im Künstler, der Künstler als Medium Gottes und die Kunst selber als Wort Gottes zu verstehen, das durch das Kunstwerk mitgeteilt wird. Hieraus erklärt sich auch die Ehrfurcht, die Raphael vor seinen eigenen Produktionen empfindet. Dass der Klosterbruder hier diese altgriechische Kunsttheorie christlich formuliert, kann nicht erstaunen: Seit der Renaissance ist die Christianisierung solcher Theorien selbstverständlich geworden – man denke nur an die Rolle des bedeutenden Florentiner Humanisten Marsilio Ficino, der es sich zum Hauptanliegen gemacht hat, eine Synthese von Neuplatonismus und Christentum zu realisieren. Die einleitende Geschichte der Herzensergießungen hat offensichtlich die zeitgenössischen Leser tief beeindruckt – allein deshalb schon, weil sie von der Faszination zeugt, die Raffaels Sixtinische Madonna auf die Romantiker ausübt, die alle nach Dresden pilgern, um das Gemälde dort im Zwinger zu bewundern. Zugleich wird in einem absichtlich naiv formulierten Text, der auch in dieser Hinsicht an die Legenda aurea anknüpft, eine Kunsttheorie kurz und bündig zu Wort gebracht, die den Künstler als Ausnahmemenschen zum Auserwählten erklärt und ihm die Rolle eines Heiligen zuweist. Allerdings versteckt sich hinter dieser gloriosen Darstellung des Künstlers, dem es gegeben sei, in Ausnahmezuständen mit Gott in Berührung zu kommen, auch der Gedanke, dass er innerhalb der Gesellschaft eine abgesonderte Stellung einnimmt, weil seine Kunst ihn vom Leben trennt – Wackenroders Musikergestalt Joseph Berglinger wird davon zu berichten wissen.
* E.T.A. Hoffmann greift auf Wackenroders Künstlergeschichte zurück, als er in seiner Nachtstücke-Erzählung Die Jesuiterkirche in G. (1816/17 entstanden) die Lebensgeschichte des Malers Berthold gestaltet. Die in den ersten Satz der Erzählung eingefügte Anspielung auf Shakespeares Sturm3 dient wohl dazu, die Gestalt als einen neuen Ariel zu definieren, den beschwingten Geist, den die Hexe Sycorax in »einer Fichte Spalt« ver_____________ 3
»In eine elende Postchaise gepackt, die die Motten, wie die Ratten Prospero’s Fahrzeug, aus Instinkt verlassen hatten, hielt ich endlich, nach halsbrechender Fahrt, halbgerädert, vor dem Wirtshause auf dem Markte in G.« (Hoffmann, E.T.A.: Die Jesuiterkirche in G; in: Hoffmann, E.T.A.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Ursula Segebrecht. Band 3: Nachtstücke – Klein Zaches – Prinzessin Bambrilla – Werke 1816-1820. Herausgegeben von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt/M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 7), S. 110-140, hier S. 110. – Dieser Text wird im Folgenden unter Angabe der Sigle ›J‹ zitiert.
Das Bild des Künstlers im Werk Wackenroders und E.T.A. Hoffmanns
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schlossen hatte, wo er »ein Dutzend Jahre«4 eingeklemmt bleiben musste, bis ihn Prospero aus seiner Gefangenschaft befreite. In seinem Künstlerleben erinnert Berthold aber zuallererst an Ludwig Tiecks Franz Sternbald. Als junger deutscher Maler reist er nämlich nach Italien, um sich weiter zu bilden. Nach mehreren Episoden, in denen er in die Kunst der Landschaftsmalerei eingeführt wird (zuerst durch den klassizistischen Jakob Philipp Hackert, dann durch einen Vertreter der romantischen Schule, den wunderlichen Maltheser) aber noch bevor er sich zum Historienmaler im Stile der Nazarener entwickelt, beschließt er die heilige Gestalt der Katharina von Alexandrien darzustellen5 und sieht sich bald mit demselben Problem wie Wackenroders Raphael konfrontiert: ›Ich mühte mich, das, was nur wie dunkle Ahnung tief in meinem Innern lag, […] hieroglyphisch darzustellen, aber die Züge dieser Hieroglyphen-Schrift waren menschliche Figuren, die sich in wunderlicher Verschlingung um einen Lichtpunkt bewegten. – Dieser Lichtpunkt sollte die herrlichste Gestalt sein, die je eines Bildners Fantasie aufgegangen; aber vergebens strebte ich, wenn sie im Traume von Himmelsstrahlen umflossen mir erschien, ihre Züge zu erfassen. Jeder Versuch, sie darzustellen, mißlang auf schmähliche Weise, und ich verging in heißer Sehnsucht.‹ – Florentin bemerkte den bis zur Krankheit aufgeregten Zustand des Freundes, er tröstete ihn, so gut er es vermochte. Oft sagte er ihm, daß dies eben die Zeit des Durchbruchs zur Erleuchtung sei; aber wie ein Träumer schlich Berthold einher, und alle seine Versuche blieben nur ohnmächtige Anstrengungen des kraftlosen Kindes. (J 133)
Und es kommt tatsächlich zu diesem erwünschten Durchbruch, der mit Raphaels Erscheinung auffällig verwandte Züge aufweist. Der von Sehnsucht geplagte Berthold arbeitet eines Tages in einer Grotte im Park einer Villa unfern Neapels: [Er] weinte heiße Tränen, daß der Stern des Himmels seine dunkle Bahn erleuchten möge; da rauschte es im Gebüsch, und die Gestalt eines hochherrlichen Weibes stand vor der Grotte.
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Shakespeare, William: Der Sturm. In: Shakespeare, William: Sämtliche Dramen. Band I: Komödien. Vollständige Ausgabe. Übersetzt von August Wilhelm von Schlegel, Dorothea Tieck, Wolf Graf Baudissin und Nicolaus Delius (Perikles), nach der 3. Schlegel-TieckGesamtausgabe von 1843/44. Verantwortlich für die Textrevision: Siegfried Schmitz. Mit Kommentaren von Werner Habicht, Dieter Mehl, Berta Moritz-Siebeck (unter Mitarbeit von Volker Schulz), Wolfgang Riehle und Wolfgang Weiß. Gesamtredaktion des Kommentarteils: Dieter Mehl. Mit einem Vorwort von Wolfgang Clemen. München 1976, S. 2993, hier S. 41 (I, 2). Dass Berthold eine Heiligengestalt malen will, die Raffael zum Gegenstand eines seiner berühmtesten Gemälde gemacht hat, erweist sich hier als doppelt aufschlussreich: Bestätigt wird dadurch einerseits, dass der junge Künstler zum Schüler der Nazarener werden soll; andererseits entsteht auf diese Weise eine weitere, implizite Verbindung mit Wackenroders Aufsatz (die Herzensergießungen haben übrigens einen gewichtigen Einfluss auf die Mitglieder des Lukasbundes ausgeübt).
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›Die vollen Sonnenstrahlen fielen in das Engelsgesicht. – Sie schaute mich an mit unbeschreiblichem Blick. – Die heilige Katharina – Nein, mehr als sie – mein Ideal, mein Ideal war es! – Wahnsinnig vor Entzücken stürzte ich nieder, da verschwebte die Gestalt freundlich lächelnd! – Erhört war mein heißestes Gebet!‹ Florentin trat in die Grotte, er erstaunte über Berthold, der mit verklärtem Blick ihn an sein Herz drückte. – Tränen stürzten ihm aus den Augen – Freund – Freund! stammelte er: ich bin glücklich – selig – sie ist gefunden – gefunden! Rasch schritt er fort, in seine Werkstatt – er spannte die Leinwand auf, er fing an zu malen. Wie von göttlicher Kraft beseelt, zauberte er mit der vollen Glut des Lebens das überirdische Weib, wie es ihm erschienen, hervor. – (J 133f.)
Nicht nur, dass der Maler durch diese Vision, die auf sein Gebet folgt, gleichsam enthemmt wird und nun die keusche Heiligengestalt darstellen kann. Der ›unbeschreibliche Blick‹ der Katharina ist mit Marias Augen vergleichbar, die Raphael auf ›unbeschreiblich rührende‹ Weise anschauen. Auch hier fehlen die heißen Tränen nicht; auch hier steht der Maler ursprünglich in der Finsternis, wodurch die Ausstrahlungskraft der Vision gesteigert wird. Selbst in der Wahl der Grotte als Handlungsraum ist ein weiterer Berührungspunkt zu erkennen, da diese Anspielung auf das Höhlengleichnis vom Einfluss des Platonismus und des Neuplatonismus auf die Kunstauffassung Hoffmanns zeugt. Was der Maler, der seinen Blick bereits gegen die Öffnung der Höhle gerichtet hat, im vollen Lichte außerhalb dieser Höhle sieht, kann also mit einer platonischen Idee verglichen werden, die ihm aber als Frauenbild erscheint und natürlich in eine christliche Vision verwandelt wird. Mehr noch: Was er von der Außenwelt durch die Höhlenöffnung zu sehen bekommt, ist der in Raphaels Kammer hell beleuchteten Wandfläche vergleichbar, die der Kontur eines Gemäldes entspricht, wo sich ja die Gestalt der Madonna zu bewegen scheint. – Eine solche Treue zum Modell verrät wohl die Absicht Hoffmanns, sich mit Wackenroder auseinanderzusetzen. Denn nun weicht Bertholds Geschichte von der Raphaels auffällig ab: Was für den italienischen Maler endgültige Eroberung der Meisterschaft und Bestätigung seiner Auserwähltheit ist, wird für Berthold zum Beginn eines tragischen Leidensweges. Da er das lang gesuchte Idealbild nun darstellen kann, entwickelt er eine eifrige schöpferische Tätigkeit und lenkt die Aufmerksamkeit der Kunstkenner auf sich. Doch alle meinen, dass das sogenannte Idealbild des Malers in Wirklichkeit das Porträt einer für ihre Schönheit berühmten Aristokratin der Stadt wäre. Umsonst empört sich der deutsche Künstler, als suggeriert wird, er wäre in diese Frau verliebt. Eines Tages, als die Stadt Neapel wegen des Einmarsches der französischen Revolutionstruppen in Aufruhr gerät und das Volk die Paläste des geflohenen Adels plündert, rettet Berthold einer Dame das Leben und muss erschüttert erkennen, dass sein Idealbild vor ihm steht, woraufhin er in Ohnmacht fällt. Als Berthold wieder zu sich kommt, erklärt ihm die
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Prinzessin Angiolina, sie wolle aus Dankbarkeit seine Frau werden. Das Glück der beiden ist aber von kurzer Dauer: Sehr schnell, da der Maler nun mit seinem Idealbild lebt, erlahmt seine schöpferische Kraft. Ein letztes historisches Gemälde, Maria und Elisabeth mit den Knaben Christus und Johannes in einem schönen Garten auf einem Rasen sitzend, bleibt unvollendet. Bertholds wachsende Verzweiflung kippt in immer brutalere Aggressivität gegen seine Frau und ihr Kind um. Er reist mit beiden ab und taucht später in einer anderen Stadt allein auf, wo er sich von nun an dürftig durch Wandmalerei nährt. Was aus Frau und Kind geworden ist, will er nicht verraten, und der Erzähler der Novelle, der reisende Enthusiast, drückt, als er diese ganze Geschichte erfährt, seine Überzeugung aus, Berthold habe beide ermordet, was aber der Jesuit, der ihm Bertholds Geschichte erzählt hat, bezweifelt. Als der reisende Enthusiast den Maler unvermittelt danach fragt, weist dieser die Anklage empört zurück, droht sich selbst zu ermorden und den Erzähler mit in den Tod zu nehmen. So entfernt sich dieser schnellstens, ohne das Rätsel gelöst zu haben. Ein paar Monate später erfährt er durch den Jesuiten aus G., Berthold habe kurz danach sein letztes, unvollendet gebliebenes Gemälde auf glänzende Weise vollendet und sich dann höchst wahrscheinlich ertränkt. Wie lässt sich diese tragische Laufbahn deuten? Täuscht sich der Maler, als er glaubt, Gott habe durch ein Wunder sein Gebet erfüllt? In der Tat ist er mit einer echten, irdischen Frau konfrontiert worden, auch wenn diese Prinzessin Angiolina heißt. Insofern weicht Bertholds Geschichte schon dadurch von Raphaels Abenteuer entscheidend ab, wo die himmlische Identität der Erscheinung außer Zweifel steht. Bei Hoffmann kann der mit einem Körper belastete Mensch unmöglich mit der geistigen Sphäre direkt in Berührung kommen – das Wunderbare kann nur indirekt erscheinen, indem es als Wunderliches irdische Züge annimmt. In der Rahmenhandlung des Novellenzyklus Die Serapions-Brüder, als sich die Brüder über die Gestalt des Einsiedlers Serapion unterhalten, wird der Hauptbegriff der »Duplizität […], von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist«,6 klar definiert: Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit, in dem vollendetsten Glanze des regesten Lebens zu schauen, aber es ist unser irdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt. Die innern Erscheinungen gehen auf in dem
_____________ 6
»Armer Serapion, worin bestand dein Wahnsinn anders, als daß irgend ein feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizität geraubt hatte, von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist« (Hoffmann, E.T.A: Die Serapions-Brüder. In: Hoffmann, E.T.A: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen, Friedhelm Auhuber, Hartmut Mangold und Ursula Segebrecht. Band 4. Herausgegeben von Wulf Seegebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. Frankfurt/M. 2001 (Bibliothek deutscher Klassiker 175), S. 68.
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Kreise, den die äußeren um uns bilden und den der Geist nur zu überfliegen vermag in dunklen geheimnisvollen Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bilde gestalten.7
Es gilt also für den Menschen, insbesondere natürlich für den Künstler, der um diese Dualität der Welt weiß oder wissen sollte, die irdischen Zeichen und Hieroglyphen aufzuspüren und richtig zu deuten, um die Gegenwart des Wunderbaren in seiner Welt zu erkennen. Dies aber heißt, dass der Mensch, wie etwa Theodor – eine andere Gestalt Hoffmanns, die im Nachtstück Das öde Haus die Rolle des Erzählers übernimmt – feststellt, in seiner eifrigen Suche nach Erkenntnis des Wunderbaren immer Gefahr läuft, sich selbst zu ›mystifizieren‹.8 Berthold ist ohne Zweifel das Opfer einer solchen Selbstmystifikation. Es erweist sich jedoch als problematisch, mit Sicherheit zu bestimmen, worin diese eigentlich besteht, da sich zwei mögliche Interpretationen anbieten: Entweder hat sich Berthold völlig getäuscht, indem er sein Erlebnis als Wunder missdeutet; die Gestalt, die er für eine heilige Erscheinung hielt, wäre dann einzig und allein eine reale Frau, deren reine Schönheit seine schöpferische Phantasie entzündet hat. Oder (und aufschlussreicher): Der Maler hat sich nur zum Teil getäuscht und ist zwar mit dem Wunderbaren konfrontiert worden, doch nur indirekt dank der Vermittlung einer irdischen Gestalt. Er hätte in diesem Fall zwar eine Frau gesehen, doch durch diese Frau hindurch wäre ihm die wunderbare, göttliche Botschaft mitgeteilt worden. In letzterem Fall würde Berthold vor allem zeigen, dass er seinen Sinn für die ›Duplizität der Welt‹ nicht ausgebildet hat. Und dies erweist sich erneut, als er erkennen muss, dass sein Idealbild ein irdisches Leben führt. Denn nun begeht er einen zweiten Hauptfehler, indem er die Prinzessin zur Frau nimmt, sie dadurch also ihrer geistigen, ihn künstlerisch befruchtenden Dimension frevlerisch beraubt. Kein Wunder also, wenn seine schöpferische Kraft sehr schnell erlahmt. Damit ist aber die Liste von Bertholds Missgriffen noch nicht erschöpft, da er in seiner ihn verblendenden Verzweiflung nun Angiolina für sein künstlerisches Unglück verantwortlich macht: Aus der Engelsgestalt wird in seinen Augen eine teuflische Ver_____________ 7 8
Hoffmann: Die Serapions-Brüder (Anm. 6), S. 68. »Ihr wißt es ja alle, […] wie ich mich von jeher als Geisterseher geberdete und wie mir nur einer wunderbaren Welt seltsame Erscheinungen ins Leben treten wollten, die ihr mit derbem Verstande wegzuleugnen wußtet! — Nun! zieht nur eure schlauen spitzfündigen Gesichter, wie ihr wollt, gern zugestehen darf ich ja, daß ich oft mich selbst recht arg mystifiziert habe […]« (Hoffmann, E.T.A: Das öde Haus; in: Hoffmann, E.T.A.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Ursula Segebrecht. Band 3: Nachtstücke – Klein Zaches – Prinzessin Brambilla – Werke 1816-1820. Herausgegeben von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt/M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker 7), S. 163-198, hier S. 167.
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sucherin, die ihn in den Abgrund stürzen wollte.9 Er fühlt sich also – der Erzähler hat das, so scheint es, durch sein anfängliches Shakespeare-Zitat andeuten wollen – in derselben Situation wie der beschwingte Ariel, nachdem ihn die böse Sycorax »in einer Fichte Spalt«10 verschlossen hat. Was aus Angiolina und dem Kind geworden ist, bleibt rätselhaft. Zwar erscheint die These, wonach sie von Berthold ermordet wurden, durchaus plausibel; die letzten Nachrichten, die der Erzähler über den Maler bekommt, dürften jedoch eher die Vermutung nahelegen, dass Berthold, wie er es vor dem ihn anklagenden Erzähler in wilder Empörung behauptet hat, kein Mörder, sondern nur ein tragisches Opfer der Weltduplizität ist. Nach Jahren der schöpferischen Hemmung vollendet nämlich der Maler sein über Jahre unfertig gebliebenes Gemälde. Dieser letzte schöpferische Akt darf wahrscheinlich als Antwort des Künstlers auf die Anklage des Erzählers gedeutet werden, der also einem neuen Prospero gleich, doch auf paradoxe und rätselhafte Weise den gefangenen Geist Bertholds aus seiner Gefangenschaft befreit und so den Schöpfer enthemmt hätte. Die Tatsache, dass Berthold die meisterhafte Vollendung des Gemäldes gelingt, indem er sich selbst in der Gestalt einer betenden Figur porträtiert, darf wohl als Beleg dafür gelten, dass er kein Schuldiger im mörderischen Sinne des Wortes ist.11 Letzten Endes mündet diese Künstlerlaufbahn jedoch in den Freitod. Was Berthold dadurch auf tragische Weise zum Vorschein kommen lässt, ist der ambivalente Status des Künstlers im Werk E.T.A. Hoffmanns. * _____________ 9
10 11
»›[…]Aber Herr! – wenn man nach dem Höchsten strebt – nicht Fleischeslust, wie Titian – nein das Höchste der göttlichen Natur, der Prometheusfunken im Menschen – Herr! – es ist eine Klippe – ein schmaler Strich, auf dem man steht – der Abgrund ist offen! – über ihm schwebt der kühne Segler und ein teuflischer Trug läßt ihn unten — unten das erblicken, was er oben über den Sternen erschauen wollte!‹« (J 117). Shakespeare: Der Sturm (Anm. 4), S. 41 (I, 2). Natürlich könnte man die Tatsache, dass Berthold, als ihm schließlich die Ergänzung seines letzten Gemäldes gelingt und er sein eigenes Bildnis im Hintergrund des Werks vollendet, als Ausdruck der Buße deuten, da er sich in betender Haltung darstellt. Zweideutig und rätselhaft bleibt immerhin, worauf sich diese büßende Haltung beziehen könnte: Versündigt hätte er sich ja allein dadurch schon an Frau und Kind, dass er sie irrtümlich für seine künstlerische Lähmung verantwortlich gemacht und in seiner wachsenden Verzweiflung immer roher behandelt hat. Offen bleibt also bis zuletzt, ob Berthold, falls er seine Schuld erkennt und bekennt, diese seine Rohheit meint oder ob er dadurch tatsächlich zugibt, er habe beide ermordet. Dass dieses Rätsel weder vollständig gelöst wird noch gelöst werden kann, mag wohl manche Leser irritieren, entspricht jedoch einer Hauptabsicht der phantastischen Gattung, die Hoffmann in diesem Nachtstück illustriert. Durch diesen absichtlichen Verzicht auf eine lückenlose Darstellung der Lebensgeschichte Bertholds entsteht ja ein verwirrendes, verunsicherndes Werk, das dem rationalen Anspruch auf eine eindeutige Aufklärung aller noch bestehenden Rätsel nicht Genüge zu tun braucht.
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Zwar zeigt die Gestalt des Kapellmeisters Joseph Berglinger im letzten Aufsatz der Herzensergießungen, dass auch der frühromantische Dichter um den Preis weiß, den der Künstler dafür bezahlt, dass er ein Auserwählter ist. Die Kunst, die ihn erhebt, verurteilt ihn zugleich zur Absonderung und Einsamkeit, indem sie ihn mit dem Leben entzweit: Diese bittere Mißhelligkeit zwischen seinen [sic!] angebohrnen ätherischen Enthusiasmus, und dem irdischen Antheil an dem Leben eines jeden Menschen, der jeden täglich aus seinen Schwärmereyen mit Gewalt herabziehet, quälte ihn sein ganzes Leben hindurch. (H 133)
Berglinger leidet unter dem erniedrigenden Prosaismus eines Hoflebens, wo man für seine ernsten Kompositionen offensichtlich kein Verständnis hat. Wozu Künstler in dürftiger, spätaufklärerischer Zeit sein? – so könnte ja, wenn man Wackenroders Zeitgenossen Hölderlin in leichter Abwandlung zitieren darf, seine ernüchterte Fragestellung lauten. Berglinger wird von Krisen der Verzweiflung angesichts der Wirkungslosigkeit seiner Musik heimgesucht, und darüber hinaus erlebt er einem Mystiker gleich Phasen der Ferne Gottes. Kurz vor seinem Tode gelingt ihm jedoch der künstlerische Durchbruch, als er nach der Bestattung des Vaters ein Osteroratorium komponiert, das, so versichert es der Erzähler, »ewig ein Meisterstück bleiben wird« (H 144). Gleichzeitig erweist sich in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Joseph sich ausgerechnet durch eine Passionsmusik als Künstler behauptet, als besonders sinnvoll. Durch seinen Leidensweg kann sich Berglinger, der bereits als Kind vom Motiv der Kreuzigung Christi und von der Pietà-Gestalt, wie sie die Verse des Stabat mater besingen,12 tief beeindruckt worden ist, mit der Gestalt des leidenden Messias leicht identifizieren. Dies überzeugt umso mehr, als die Nachahmung Christi in den pietistischen Kreisen, deren Einfluss auf das Welt- und Kunstgefühl seines Schöpfers Wackenroder13 wohl bekannt ist, eine bestimmende Rolle spielt.14 Darüber hinaus entspricht dieses _____________ 12
13
14
»Oftmals sagte er sich die auswendig-behaltenen, so lieblichen und rührenden Worte des geistlichen Oratoriums vor, welches das erste gewesen war, das er gehört und welches einen vorzüglich tiefen Eindruck auf ihn gemacht hatte: Stabat Mater dolorosa / Juxta crucem lacrymosa […]« (H 135). Auffälligerweise vermischen sich bei Berglinger Marienkult und pietistischer Einfluss, so dass er mit Raphael verwandt erscheint, wie diesen der erste Aufsatz des Werks anachronistisch charakterisiert hat. Dies gilt auch für den Klosterbruder selbst, der als Erzähler genauso wie die beiden Künstlergestalten dem Schöpfergeist Wackenroders entsprungen ist, bei dem ja – wie bei Novalis – Frömmigkeit pietistischen Ursprungs und katholische Marienverehrung scheinbar unproblematisch koexistieren. Vielleicht könnte hier ein Blick auf die Komposition der Herzensergießungen diese Analyse bestätigen: Joseph Berglinger steht ja als 14. Aufsatz im Werk. Nun verweist diese besondere Zahl in der christlichen Zahlensymbolik auf den Kreuzweg Christi, der bekanntlich 14 Stationen umfasst. Denkt man an die Bedeutung, welche Romantiker wie Wackenroder dem christlichen Gedankengut und dessen Symbolik beimessen, so dürfte es wohl möglich sein,
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klagende Meisterstück, wodurch er seine Existenz zugleich krönt und resümiert, auch seiner historisch bedingten Situation als alleinstehender Künstler in einem rationalistisch-prosaischen Zeitalter, durch Jahrhunderte entfernt vom ›goldenen Zeitalter‹ der Kunst, das der Klosterbruder in den vorangegangenen Aufsätzen mit spürbarer Sehnsucht heraufbeschworen hat. Doch der Hoffmannsche Künstler befindet sich in einer noch heikleren Lage. Weil er seiner Auserwähltheit wegen im bürgerlichen Leben eine Außenseiterposition einnimmt, ja oft ausgelacht und verachtet wird, ist ihm die Opposition zwischen Kunst und Leben schmerzlich vertraut. Aufgrund der Duplizität der Welt, mit welcher er als Künstler am unmittelbarsten konfrontiert ist, wird er darüber hinaus von Natur aus (also nicht wegen seiner historisch bedingten Situation) dazu verurteilt, die diesseitige Welt, in der er als Mensch eingeschachtet ist, zu entziffern, um die vom Bürger unbemerkte Erscheinung des Wunderbaren in den Kleidern oder hinter der Maske des Wunderlichen zu erkennen. Somit ist der Künstler einer doppelten Qual ausgesetzt: Einerseits kann er der tragischen Selbsttäuschung zum Opfer fallen und mit dem Scheitern konfrontiert werden; andererseits leidet er unter den irdischen Fesseln, die er seinem menschlichen Wesen nach tragen muss und von denen er seine Phantasie nie völlig befreien kann, ohne dem Wahnsinn zu verfallen, wobei die Geschichte des Einsiedlers Serapion als warnendes Beispiel fungiert. Dass die göttliche Dimension der Kunst von Hoffmann immer wieder behauptet wird, kann nur zur Steigerung dieser Qualen beitragen. In den Herzensergießungen werden die porträtierten Maler aus dem ›goldenen Zeitalter‹ der Kunst als Auserwählte Gottes vom Klosterbruder zelebriert, so dass die Passionsgeschichte Berglingers eine relativierende, zeitbedingte Ausnahme bildet und keiner endgültigen Definition des Künstlerstatus entspricht. In der Welt Hoffmanns gestaltet sich das Künstlerschicksal so gut wie unausweichlich als Martyrium.
_____________ diesen Entschluss des Dichters, die Berglinger-Erzählung mit dieser bestimmten, sinnvollen Zahl in Verbindung zu setzen, als versteckten Hinweis auf die Nähe des Komponisten zur Gestalt des Leidensmanns zu interpretieren.
Personenregister Adler, Adolph Peter (1812-1869) 61 Adorno, Theodor W. (1903-1969) 133, 144, 145 Agamben, Giorgio (*1942) 177 Alexander I., Zar von Russland (17771825) 235, 238 Alfieri, Vittorio (1749-1803) 195-214, 219 Anaxagoras (499-428 v. Chr.) 175, 176 Aristoteles (384-322 v. Chr.) 32, 94, 105, 108 Arnim, Achim von (1781-1831) 243 Arndt, Ernst Moritz (1769-1860) 237 Auerochs, Bernd (*1960) 17, 20, 24, 25, 30, 43, 44, 76, 77, 85, 87, 103, 112, 115, 117-120, 127, 190, 192 Augustinus, Aurelius (354-430 n. Chr.) 106, 107, 228 Augustus (63 v. Chr.-14 n. Chr.) 199 Averroës (1126-1198) 32
Bianchi, Mario (gest. 1796) 211 Blanckenburg, Friedrich von (1744-1796) 80, 81, 85 Bloch, Ernst (1885-1977) 158 Bodmer, Johann Jakob (1698-1783) 77, 94 Böhme, Jakob (1575-1624) 42 Böhmer, Friedrich 242 Borsieri, Pietro (1788-1852) 218, 223, 224 Bossuet, Jacques-Bénigne (1627-1704) 228 Bouterwe(c)k, Friedrich (1766-1828) 221 Brecht, Bertolt (1898-1956) 135 Breitinger, Johann Jacob (1701-1776) 31, 32, 35, 77, 94, 109, 110 Breme, Ludovico di (1780-1820) 206, 207, 218- 220, 222, 223, 225 Brentano, Christian (1784-1851) 242, 245 Brentano, Clemens (1778-1842) 231-251 Bubner, Rüdiger (1941-2007) 174 Burke, Edmund (1729-1779) 204
Baeumler, Alfred (1887-1968) 81, 92 Basile, Giambattista (1575-1632) 243 Batteux, Charles (1713-1780) 82 Baumgarten, Alexander Gottlieb (17141762) 73-88, 89-102 Baumgarten, Siegmund Jakob (1706-1757) 93 Bayle, Pierre (1647-1706) 34, 209 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de (1732-1799) 172 Beccaria, Cesare (1738-1794) 224 Beethoven, Ludwig van (1770-1827) 14, 148 Bellori, Giovanni Pietro (1613-1696) 77 Benincasa, Ursula (1547-1618) 247 Benjamin, Walter (1892-1940) 29, 169 Berchet, Giovanni (1783-1851) 195, 209, 218 Bettinelli, Saverio (1718-1808) 198, 200, 204, 205, 207 Beuys, Joseph (1921-1986) 14
Calderón de la Barca, Pedro (1600-1681) 107, 108, 138 Calzabigi, Ranieri de’ (1714-1795) 197 Carducci, Giosuè (1835-1907) 215, 216 Casaubon, Isaac (1559-1614) 47 Cassirer, Ernst (1874-1940) 92 Chatterton, Thomas (1752-1770) 14 Chénier, André (1762-1794) 198 Collins, Anthony (1676-1729) 34 Cotta, Johann Friedrich (1764-1832) 179 Creuzer, Friedrich (1771-1858) 174, 175 Croce, Benedetto (1866-1952) 197, 201, 203, 212 Cudworth, Ralph (1617-1689) 40 D’Azeglio, Cesare Taparelli (1763-1830) 225, 226 Dante Alighieri (1265-1321) 41, 107, 209 De Sanctis, Francesco (1817-1883) 215 Descartes, René (1596-1650) 108
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Personenregister
Diderot, Denis (1713-1784) 82, 83 Diepenbrock, Melchior Ferdinand Joseph (1798-1853) 245 Diogenes Laertius (vermutl. 2./3. Jh. n. Chr.) 175, 176 Dubos, Jean-Baptiste, Abbé (1670-1742) 82 Dürer, Albrecht (1471-1528) 77, 141 Durkheim, Emile (1858-1917) 13, 14 Eckart (d. i. ›Meister Eck(h)art‹; um 12601328) 243 Eckermann, Johann Peter (1792-1854) 56, 57, 137 Eichendorff, Joseph Freiherr von (17881857) 128 Eliade, Mircea (1907-1986) 47 Emmerick, Anna Katharina (1774-1824) 242-249 Epikur (341-270 v. Chr.) 105 Euripides (480/485-406 v. Chr.) 138 Fénelon, François (d. i. François de Salignac de la Mothe-Fénelon; 16511715) 47 Fichte, Johann Gottlieb (1762-1814) 24, 30, 37-43, 74, 75, 172, 237 Ficino, Marsilio (1433-1499) 47, 256 Foscolo, Ugo (1778-1827) 201, 217, 219 Franz I., Kaiser von Österreich (17681835) 236 Friedrich, Caspar David (1774-1840) 238 Friedrich II., König von Preußen (17121786) 202 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen (1770-1840) 237, 238 Füssli, Johann Heinrich (1741-1825) 197, 206 Gerard, Alexander (1728-1795) 82 George, Stefan (1868-1933) 14, 127 Gerlach, Ernst Ludwig (1795-1877) 239 Gerlach , Ludwig Friedrich Leopold (1790-1861) 239, 242 Gherardini, Giovanni (1778-1861) 221 Gibson, Mel (*1956) 231-234, 251 Gigantes, Marcello (1923-2001) 176 Giordani, Pietro (1774-1848) 203, 219 Giovanni, Ignazio De 200
Goethe, Johann Wolfgang (1749-1832) 16, 17, 22, 45-58, 75, 77, 110, 115, 117, 121, 122, 124, 128, 136-142, 148, 168, 170, 171, 172, 181, 203, 208, 210, 222, 235 Gottsched, Johann Christoph (1700-1766) 94, 82 Gozzi, Gasparo, Conte (1713-1786) 214 Grimm, Jacob (1785 bis 1863) 240 Grimm, Wilhelm (1786-1859) 240, 241 Grünewald, Matthias (um 1480-1528) 231, 232 Guyon du Chesnoy, Jeanne Marie (16481717) 47, 49 Habermas, Jürgen (*1929) 128 Hackert, Jakob Philipp (1737-1807) 257 Haller, Albrecht von (1708-1777) 53 Hamann, Johann Georg (1730-1788) 5971, 210 Hamann, Johann Michael (1769-1813) 70 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (17701831) Hegel, Immanuel (1814-1891) 164 Heidegger, Martin (1889-1976) 101 Heine, Heinrich (1797-1856) 190 Hellingrath, Norbert von (1888-1916) 14 Helvétius, Claude-Adrien (1715-1771) 204 Hensel, Luise (1798-1876) 240, 241, 243 Herbert of Cherbury, Edward Lord (15821648) 41 Herder, Johann Gottfried (1744-1803) 8, 15, 47, 60, 76-78, 83, 169, 193, 211, 239 Hobbes, Thomas (1588-1679) 34 Hölderlin, Friedrich (1770-1843) 8, 14, 39, 73, 74, 76, 77, 86-88, 149, 151, 178, 179-194, 262 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (1776-1822) 253-263 Hofmannsthal, Hugo von (1874-1929) 124 Horaz (d. i. Quintus Horatius Flaccus; 658 v. Chr.) 32, 180, 209 Horkheimer, Max (1895-1973) 144 Hotho, Gustav Heinrich (1802-1873) 162, 164, 167, 170-173, 215 Humboldt, Alexander von (1769-1859) 108 Humboldt, Wilhelm von (1767-1835) 169
Personenregister Ida von Löwen (ca. 1210-ca. 1290) 247 Jahnn, Hans Henny (1894-1959) 14 Jacobus da Voragine (um 1230-1298) 255 Jean Paul (d. i. Richter, Johann Paul Friedrich; 1763-1825) 135, 235 Jauß, Hans Robert (1921-1997) 63 Johannes Paul II. (d. i. Karol Józef Wojtyła; 1920-2005) 244 Johannes vom Kreuz (1542-1591) 245 Jung-Stilling (d. i. Jung, Johann Heinrich; 1740-1817) 235 Kant, Immanuel (1724-1804) 36, 37, 67, 75, 97, 98, 106, 143, 208 Kauffmann, Angelika (1741-1807) 235 Keats, John (1795-1821) 17 Kierkegaard, Sören (1813-1855) 59-67, 159 Klettenberg, Susanna Katharina von (1723-1774) 45, 46, 54 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724-1803) 15-17, 61, 62, 68, 69, 94, 192 Knebel, Karl Ludwig von (1744-1834) 137 Körner, Christian Gottfried (1756-1831) 169 Kondylis, Panajotis (1943-1998) 35 Konrad, Joachim (1903-1979) 127, 132 Krüdener, Juliane von (1764-1824) 235, 236 Lee, Vernon (d. i. Violet Paget; 1856-1935) 197, 203 Leibniz, Gottfried Wilhelm (1646-1716) 79, 82, 92, 93, 97, 108, 109 Lenz, Jakob Michael Reinhold (1751-1792) 77, 81 Leo X. (d. i. Giovanni de’ Medici; 14751521) 199 Leonardo da Vinci (1452-1519) 77 Leopardi, Giacomo (1798-1837) 83, 200, 201, 203, 207, 211, 222 Lessing, Gotthold Ephraim (1729-1781) 36, 37, 41, 77, 80, 81, 82 Locke, John (1632-1704) 33-35, 209 Lomazzo, Giovanni Paolo (1538-1600) 77 Ludwig XIV., König von Frankreich und Navarra (1638-1715) 199 Luhmann, Niklas (1927-1998) 112 Lukács, Georg (1885-1971) 165
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Luther, Martin (1483-1546) 20, 48, 49, 54, 237, 238 Machiavelli, Niccolò (1469-1527) 209 Macpherson, James (1736-1796) 16 Maimonides, Moses (d. i. Moses ben Maimon; 1135-1204) 32 Mann, Thomas (1875-1955) 124 Manzoni, Alessandro (1785-1873) 195, 201, 207, 210, 215-230 Maria Theresia von Jesu (d. i. Gerhardinger, Karolina; 1797-1879) 245 Martin von Cochem (1634-1712) 244 Meier, Georg Friedrich (1718-1777) 93, 94, 126, 127 Mendelssohn, Moses (1729-1786) 60, 69, 79, 81, 96 Metrodor von Lampsakos (5. Jh. v. Chr.) 176 Meyer, Johann Heinrich (1760-1832) 137, 139, 140 Michelangelo Buonarroti (1475-1564) 77 Milton, John (1608-1674) 15 Montaigne, Michel Eyquem de (15331592) 34, 209 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat (1689-1755) 158, 209 Moritz, Karl Philipp (1756-1793) 8, 41, 64, 76, 79, 83-87, 121-123 Moser, Friedrich Karl von (1723-1798) 69 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791) 172 Nadler, Josef (1884-1963) 59, 69, 210 Napoleon Bonaparte (1769-1821) 147, 148, 203, 227, 236, 241 Nencioni, Enrico (1804-1896) 216 Nicole, Pierre (1625-1695) 228 Niethammer, Friedrich Immanuel (17661848) 147, 182, 183 Nietzsche, Friedrich (1844-1900) 7, 80, 101, 132, 149, 159, 162, 209 Novalis (d. i. Hardenberg, Friedrich Leopold von; 1772-1801) 14, 17-20, 41, 74, 76, 103-113, 115, 117, 165, 167, 172, 262
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Personenregister
Opitz, Martin (1597-1639) 48, 66 Otto, Rudolf (1869-1937) 13 Overbeck, Johann Friedrich (1789-1869) 135 Overberg, Bernard (1754-1826) 251 Panofsky, Erwin (1892-1968) 77, 254 Parini, Giuseppe (1729-1799) 196-198, 200, 201 Pellico, Silvio (1789-1854) 203, 221 Pepoli, Alessandro Ercole, Conte (17571796) 197 Perels, Christoph (*1938) 242-244 Petersdorff, Dirk von (*1966) 11, 21 Petrarca, Francesco (1304-1374) 206 Penzoldt, Ernst (1892-1955) 14 Pius VII. (Luigi Barnabà Niccolò Maria Chiaramonti; 1742-1823) 236 Platen, August von (1796-1835) 168 Platon (ca. 427-ca. 347 v. Chr.) 40, 61, 77, 86, 105, 106, 110, 145, 152, 254-256, 258 Porro-Lambertenghi Luigi (1780-1860) 203 Pseudo-Longinos 204, 205, 222 Raffael (d. i. Raffaello Santi/Sanzio da Urbino; 1483-1520) 247, 254-257 Reinbeck, Johann Gustav (1683-1741) 94 Resewitz, Friedrich Gabriel (1729-1806) 79, 81 Riemer, Friedrich Wilhelm (1774-1845) 56, 57 Ringseis, Johann Nepomuk (1785-1880) 239, 243 Rosenkranz, Karl (1805-1879) 59, 154, 171 Rosenzweig, Franz (1886-1929) 151 Rosmini, Antonio (1797-1855) 228 Rousseau, Jean-Jacques (1712-1778) 47, 49, 50, 126, 183 Sailer, Johann Michael (1751-1832) 239, 240 Sainte-Beuve, Charles-Augustin (18041869) 216 Saint-Lambert, Jean-Franςois de (17161803) 83 Saluzzo Roero, Diodata (1774-1840) 219 Savigny, Friedrich Carl von (1779-1861) 238, 239
Schadow, Johann Gottfried (1764-1850) 14 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775-1854) 7, 8, 30, 39, 41, 74-77, 86-88, 145, 151, 165, 173, 183, 187, 209 Schiller, Friedrich (1759-1805) 36, 37, 44, 75, 76, 121, 137, 139, 140, 152, 168, 169, 171, 173, 182, 184, 186, 221 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst (1768-1834) 7, 12, 14, 15-27, 60, 65, 87, 88, 89-102, 143 Schlegel, August Wilhelm (1767-1845) 17, 76, 137, 138, 200, 220-223 Schlegel, Friedrich (1772-1829) 17-24, 39, 41-43, 76, 137-141, 165, 167, 253 Schwab, Gallus (1779-1837) 245 Scorsese, Martin (*1942) 232 Seidel, Johann Esaias (1758-1827) 246 Serra, Renato (1884-1915) 216 Seuse, Heinrich (um 1295-1366) 243, 245 Shaftesbury (d. i. Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury; 1671-1713) 19, 34, 66, 77, 85 Shakespeare, William (1564-1616) 61, 138, 175, 256, 257, 261 Shelley, Percy Bysshe (1792-1822) 17 Sibyllina von Pavia (d. i. Biscossi, Sibyllina; 1287-l367) 247 Šklovskij, Viktor Borisovič (1893-1984) 162, 163 Sokrates (um 469-399 v. Chr.) 33, 67, 68, 69, 152, 175 Spangenberg, Augusts Gottlieb (17041792) 51, 52 Spinoza, Baruch de (1632-1677) 21, 22, 30, 34, 40, 41, 44, 76, 87, 183, 190, 206 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de (1766-1817) 200, 201, 203, 219, 221, 222, 225 Steiner, George (*1929) 116 Sterne, Laurence (1713-1786) 174, 217 Stirner, Max, (d. i. Schmidt, Johann Caspar; 1806-1856) 147 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold zu (1750-1819) 242 Strabo (ca. 63 v. Chr.-ca. 20 n. Chr.) 33 Sulzer, Johann Georg (1720-1779) 77, 82, 85
Personenregister Tauler, Johann (um 1300-1361) 243, 245 Thadden, Adolf von (1796-1882) 239 Thales von Milet (ca. 624-546 v. Chr.) 176 Tieck, Ludwig (1773-1853) 19, 111, 117, 172, 192, 253, 257 Toland, John (1670-1722) 32, 33, 34 Valperga di Caluso, Tommaso (17371815) 206, 213, 214 Vasari, Giorgio (1511-1574) 254 Vergil (d. i. Publius Vergilius Maro; 7019 v. Chr.) 209 Verri, Alessandro (1741-1816) 224 Verri, Pietro (1728-1797) 224 Vespucci, Amerigo (1454-1512) 108 Vietta, Silvio 19, 117, 123, 135, 191, 253 Visconti, Ermes (1784-1841) 218, 220, 221, 224, 226, 227 Vitruv (d. i. Marcus Vitruvius Pollio; ca. 55. v. Chr.-14 n. Chr.) 214 Voltaire (d. i. François Marie Arouet; 1694-1778) 33, 34 Wackenroder, Wilhelm Heinrich (17731798) 19, 115-133, 135, 143, 247, 253-263 Wagner, Ernst (1769-1812) 135 Wagner, Richard (1813-1883) 15, 127 Warburton, William (1698-1779) 33 Warens, Françoise-Louise de (1699-1762) 47 Wellek, René (1903-1995) 206, 210, 211 Whitman, Walt (1819-1892) 17 Wieland, Christoph Martin (1733-1813) 94, 175, 186, 191 Wilkins, John (1614-1672) 108 Wolff, Christian (1679-1754) 92, 93, 97, 99, 109, 110 Young, Edward (1681-1765) 82, 168, 209, 210 Zeffirelli, Franco (d. i. Corsi, Gianfranco; *1923) 232 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von (17001760) 45-58 Zuccari, Federico (1542-1609) 77
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Autorinnen und Autoren PD Dr. Bernd Auerochs, Friedrich-Schiller-Universität Jena Dr. Stefanie Buchenau, Université de Paris VIII Prof. Dr. Remigius Bunia, Freie Universität Berlin Dr. Marco Castellari, Università degli Studi di Milano Dr. Giovanna Cordibella, Universität Bern Prof. Dr. Alessandro Costazza, Università degli Studi di Milano Prof. Dr. Heinrich Detering, Georg-August-Universität Göttingen Dr. Christoph Deupmann, Universität Karlsruhe (TH) Prof. Dr. Arnaldo Di Benedetto, Università degli Studi di Torino Prof. Dr. Gérard Laudin, Université de Paris − Sorbonne, Paris IV Prof. Dr. Gerhard Lauer, Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Albert Meier, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Prof. Dr. Alain Muzelle, Université Nancy II Dr. Alexander Nebrig, Humboldt-Universität zu Berlin Dr. Markus Ophälders, Università degli Studi di Milano Prof. Dr. René-Marc Pille, Université Paris 8 Vincennes-Saint-Denis Dr. Marco Rispoli, Università degli Studi di Padova Dr. Stefania Sbarra, Università degli Studi di Venezia