Paramoderne: Anselm Feuerbachs »Gastmahl des Plato« und die Tragödie der Kunstreligion [1 ed.] 9783412527112, 9783412527099


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Paramoderne: Anselm Feuerbachs »Gastmahl des Plato« und die Tragödie der Kunstreligion [1 ed.]
 9783412527112, 9783412527099

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Paramoderne Anselm Feuerbachs »Gastmahl des Plato« und die Tragödie der Kunstreligion

Florian Arnold





Florian Arnold

Paramoderne Anselm Feuerbachs »Gastmahl des Plato« und die Tragödie der Kunstreligion

Böhlau Verlag wien köln



© 2023 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildungen: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869: Öl auf Leinwand, 295 x 598 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe – Foto: © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Korrektorat: Dore Wilken Satz: Bettina Waringer, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52711-2





Dem gelingenden Scheitern der Liebe





Inhalt

Paralog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



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1 Vater unser oder Die Kunst der Gläubiger .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Amor marmoris oder Die Kunst der Einbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Le peintre philosophe oder Die Kunst der Verspätung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

4 Akademismus oder Die Kunst des Begehrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5 Forever young oder Die Kunst des Scheiterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231



Paralog

Zeitgenossenschaft muss nicht immer bedeuten, dass man etwas teilt oder gemeinsam genießt; sie kann zu Überwerfungen führen, selbst verwerflich werden, sobald der wechselseitige Nutzen in Zweifel gerät. Das scheint in der Frage zeitgenössischer Kunst heute im Besonderen dort virulent, wo gegensätzliche Auffassungen sich nicht mehr zu einem Ganzen von Gegenteilen integrieren lassen, sondern sich radikalisieren und auseinanderstreben oder gar aufeinanderprallen. So etwa in dem »neuen Ost-West-Konflikt« zwischen einer ›kulturessentialistischen‹ Kunst Neo Rauchs und der ›hyperkulturellen‹ Kritik Wolfgang Ullrichs.1 Hatte der eine den anderen verbal ins braune Eck geschoben, malte der andere den einen als Anbräuner. Der Streit sorgte für Aufsehen ohne Nachsehen. Ullrichs spätere buchlange Aufrechnung der Debatte, die den Titel trägt Feindbild werden und in der Absicht aufgesetzt wurde, sich dagegen zu verwahren, zeigte in der Bilanz lediglich die Vergeblichkeit einer Vermittlung. Es war schon längst geschehen und womöglich sogar aus gutem Grund: Man kann auf verschiedene Weise nachtragend sein, aber gibt es nicht auch eine Überheblichkeit der nachträglichen Vermittlung? Wir leben in einer Zeit der Zuspitzungen, Anschuldigungen und Widerrufe; die Verurteilungen sitzen locker, die Vorurteile fest. Warum – bei allen Bekenntnissen zur Einseitigkeit der eigenen Auffassung – dann dem ›Feind‹ dennoch nicht in die Augen sehen und die eigene Wahrheit darin gespiegelt sehen wollen? Ein heißer Sonntag, ausgefüllt mir der Lektüre ausfälliger Reaktionen wurde dem Kritiker Ullrich zur augenöffnenden Erfahrung: »Ich kam mir als bloße Projektionsfläche vor, fühlte mich geradezu immateriell, durchlässig für die verbalen Geschosse, die auf mich – oder eben doch nur auf ein Feindbild-Phantom – gefeuert wurden. […] Zugleich wurde mir klar, dass diese Empfindung nicht ungefährlich ist: Würde ich, wenn ich mich für unbeteiligt und damit auch unverwundbar halte, nicht auch leichtsinnig, unaufmerksam werden?«2

Paralog

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Nicht anders dürfte es Rauch ergangen sein, wenn auch der initiale Text Ullrichs keine persönlichen Beschimpfungen enthielt und sich stattdessen um Objektivität bemühte. Aber spürt man der von Ullrich geschilderten Gefahr noch einmal etwas weiter nach: Ist es im Kern nicht gerade diese vermeintlich unbeteiligte, unverwundbare Leichtsinnigkeit, die nun in der Opferposition Erfahrung von dem wird, was umgekehrt schon zum kultivierten Habitus des ›Schreibtischtäters‹ geworden ist? Auch mit Blick auf die anhaltende Frage in Ullrichs lehrreichen Ausführungen, wen der Anbräuner nun darstelle, den Kritiker, den Künstler oder jemand Dritten, verhärtet sich nur der Verdacht, dass der Unwille, Feindbild zu werden, eine ungewollte Konfrontation mit dem eigenen Geschäft bedeuten könnte, selbstlos Feindbilder aufzubauen und dabei Neutralität mit Unbekümmertheit zu verwechseln. Führte hier eine ›Ohrfeige‹ zum Aufmerken, dass sich gerade in Fragen politischer Zuschreibungen eine Dialektik der Feindbildung nicht vermeiden lässt, dass das ›Feindbild‹ der Anbräuner den Konflikt also nicht erst heraufbeschworen, sondern bloß besiegelt hat? Dass die meisten Feindbilder Überzeichnungen sind, reizt zur Reaktion und fordert im Ernstfall die Auseinandersetzung. Der Konfrontation stattdessen auszuweichen, ist, wenn nicht schon Ausdruck der vorausgesetzten Unterlegenheit oder Überlegenheit, das eigentliche Problem. Man betrügt sich um eine Zeitgenossenschaft abseits der wechselseitigen Einverständnisse und verrät die Auseinandersetzung mit dem, was man schon längst geworden ist, und zwar durch sich selbst nicht weniger als durch seine »Freunde« und »Feinde«. Ullrich und Rauch, letztlich erst beide zusammen, haben diese offene Auseinandersetzung für die zeitgenössische Kunst in Deutschland und ihre Zukunft eröffnet: »Natürlich wünsche ich mir eine andere Zukunft: eine Zukunft, in der man Rauchs Gemälde würdigen wird, weil es – qua Bild – dazu beitragen konnte, einen spezifischen Ost-West-Konflikt sichtbarer zu machen.«3 – Aber, um auf unsere Frage zurückzukommen: Was bedeutet unter heutigen Zeitgenossen noch »eine« gemeinsame Zukunft? Liegt das Problem nicht schon in den unterschiedlichen Auffassungen von Gewesenem, wie hier zwischen der Vergangenheit der BRD und der DDR? Und erstreckt sich nicht zuletzt dieser zeitgenössische Konflikt damit sogar bis in das innere Zeitbewusstsein der modernen Kunst und ihrer Kritik? Insbesondere Rauchs Gemälde sind seit den frühen 1990er Jahren für den desorientierten Zeitsinn ihrer Apokatastasen ebenso berühmt wie berüchtigt. Anläss­lich einer Retrospektive 2017 bemerkte er einmal: »Alles vollzieht sich gleichzeitig, d.h. man muss sich die Realität wie einen unendlich in alle Richtungen sich entwickelnden Ornament-Teppich vorstellen, auf dem wir unterwegs sind. Diese Durcheinanderverwobenheit der Zeitebenen – das ist so sehr Pro-

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gramm geworden, dass ich da gar nicht mehr rauskomme.«4 Das dürfte nicht nur ihm oder den Betrachtern seiner Bilder so ergehen. Es kann auch als eine Zeitdiagnose gelten, nimmt man den Namen dieser Retrospektive, die man zugleich eine Prospektive auf die Gegenwart nennen könnte, beim Wort: »Dromos« sind im Altgriechischen »Korridore«, »Alleen« oder »Läufe«, die im Wortgebrauch der Archäologie u. a. Zugänge zu Grabkammern oder Tempeln bezeichnen, die nicht selten gesäumt sind von Sphingen – mithin Durchgangsarchitekturen, die ein rätselhaft-tödliches Verhältnis zur Zeit als solcher, und zwar im Raum unterhalten. Sie bilden gleichsam Bahnen zu einer jenseitigen Form von Zeitlichkeit, zu einer numinosen Unzeitlichkeit oder, um einem verwehten Wort die Ehre zu geben: zur Ewigkeit. – Das Neue Testament fasst sie als »Lebensläufe«. Ohne den Weg nun bis an sein Ende auf sich zu nehmen, lohnt es sich schon, bei diesen Zeitgängen vorerst zu verweilen und auf etwas aufmerksam zu werden, was man, eine Archäologie unserer Gegenwart betreffend, Paramodernität oder die Paramoderne nennen kann: Verschiedene Zeitfäden, so ließe sich Rauchs Gedanke fortspinnen, haben sich zu einer Textur verwoben, die wie ein Teppich hervortretende Musterungen, Ornamente oder auch Figuren simultan zum Vorschein bringt. Die Zeit wird zu einem Tableau, und was vormals früher oder später war, ordnet sich zu neuen Verhältnissen auf den Oberflächen einer nicht minder temporalen wie lokalen Gegenwart. Spricht Rauch einerseits davon, auf Teppichen unterwegs zu sein, kommen wir andererseits vor seinen Leinwänden wie vor Wandteppichen zu stehen. Ihnen eignet schon auf den ersten Blick eine Form von Bewegung, die nicht mehr dem linearen Zeitverlauf einer Geschichte, etwa im Sinne des wortverwandten Dramas, folgt, sondern verschiedene Handlungsaspekte isoliert und derart rekomponiert, dass sie als Dromoi die Zeit und ihre Aufhebung zugleich behandeln, verhandeln, ja selbst handeln lassen. In diesen albtraumartigen Bildräumen öffnen sich Zeitkorridore, die, indem wir den Regungen unserer Einbildungskraft folgen, gleichermaßen von uns weg- wie auf uns zurückführen und dadurch ein Unterwegs-Sein, ein Unterwegs-Werden erfahrbar machen. Nichts scheint festgelegt bei diesen Wandelgängen, sähe man beiseitetretend nicht eine Verortung und Verzeitigung am Werk, die wie ein hieroglyphisches ›Präfix‹ den Bedeutungsspielraum rahmt: para.5 In den Zeitläufen dieser para-temporären Kunst drückt sich ein Bewusstsein von Modernität aus, das Antiquiertes und Futuristisches, aber auch Ewiges neben- und gegeneinanderstellt. Schaut man von hieraus zurück, wo dieses paramoderne Bewusstsein im Morgengrauen erstmals aufdämmert, stößt man auf eine andere, im besten Sinne unzeitgemäße Gestalt der modernen Kunstge-

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schichte: auf Anselm Feuerbach. Schon bei ihm wird zum ersten Mal der zeitlösende Korridor der Moderne durchschritten, werden Anfang und Ende der Läufte zu einem Bild: zum Gastmahl des Plato. Die folgenden Kapitel sind demnach als Anläufe und Vorläufe, Verläufe und Überläufe von Deutungen dieses Gemäldes konzipiert. Indem sie dabei speziell die philologischen (Kap.  2), philosophischen (Kap.  3) und psychoanalytischen (Kap. 4) Aspekte herausarbeiten, stehen sie zugleich auf eine Weise für sich, dass sie ihrerseits, im Sinne von »para«, bei- und gegeneinander ein Gebilde hervorleuchten lassen: die Konstellation der Paramoderne – und zwar im Rahmen neuhumanistischer sowie zeitgenössischer Kunstauffassungen (Kap.  1 und 5). Zugleich nähern sich Kap. 2 bis 4 den abgebildeten Hauptfiguren (Agathon, Sokrates, Alkibiades direkt oder indirekt über Apollon, Eros, Dionysos) mit einer jeweiligen Schwerpunktsetzung in ihrem Beziehungsgefüge und setzen es im selben Zug ins Verhältnis zu bestimmten ›Familienangehörigen‹ (Vater, Onkel, Stiefmutter/ Musen) von erkennbarem Einfluss auf Feuerbachs Schaffen. – Folgt man dagegen dem linearen Ablauf der fünf Kapitel, tritt in eins die Tragödie der deutschen Kunstreligion ins Bild, wie sie sich in fünf Akten (Exposition, Komplikation, Klimax, Peripetie, Katastrophe) vor dem Hintergrund einer mythisch-philosophischen Antike, dem Mittelgrund eines akademisch-sezessionistischen 19. Jahrhunderts und im Vordergrund unserer paramodernen Gegenwart abspielt. Wer will, mag in dieser sich andeutenden Figuration des Tragischen, der sich unweigerlich Momente des Satirischen, Komischen und Ironischen, aber auch Dialogischen beimischen, das passende Sternenbild zur paramodernen Konstellation erkennen. Unter dem ›Sternenzelt‹ von heute kommen jedoch nicht nur immer mehr Ansichten von Künstlern, Kritikern und Kunstliebhabern zusammen, sondern auch immer weniger überein. Als ›Himmelsguckerei‹ bleibt so auch die vorliegende Theorie wohl nur ein weiterer Zug im modernen Spiel mit dem Ernst.

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Paralog

Anmerkungen 1

Wolfgang Ullrich: Feindbild werden. Ein Bericht, Berlin 2020.

2

Ebd., S. 111.

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Ebd., S. 137.

4

Transkript der 3sat-Dokumentation von Kerstin Edinger: Neo Rauch — Vom albtraumhaften Rausch des Malens zur Ausstellung: Neo Rauch Dromos Malerei 1993—2017 im Museum de Fundatie (Niederlande) vom 21. Januar 2018 bis 03. Juni 2018. — Vgl. auch die ähnlich lautenden Bemerkungen im entsprechenden Ausstellungskatalog, erschienen bei Hatje Cantz 2017, S. 124 f.

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So etwa auch der schlichte Titel von Rauchs Ausstellung aus dem Jahr 2007 im MaxErnst-Museum Brühl sowie im Metropolitan Museum of Art in New York.

Paralog

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Abb. 1: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869. Öl auf Leinwand, 295 x 598 cm. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

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1 Vater unser oder Die Kunst der Gläubiger »Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.« (Mt. 6,6)

1.1 Familienaufstellung »nomen erat omen compositum ex igne et rivo« (Grabinschrift Johann Hartmann Feuerbachs – eines Vorfahren aus dem 17. Jahrhundert)1

»Der Übergang von der ausgelassensten Freude zu der schrecklisten Traurigkeit und von dieser zu jener ist oft so schnell, daß ich in dieser Minute einem Bacchanten und in dieser einem Anachoreten gleiche. Der einzige Grund hievon liegt in meinem Ideal. Kann ich meine Gedanken von diesem losreißen, so bin ich äußerst vergnügt, aber auch nur der flüchtigste Blick, den ich darauf werfe, führt eine so große Menge von unangenehmen Vorstellungen mit sich, daß mich sogleich die größte Traurigkeit überfällt. Blickt aber durch das Dunkel meiner Melancholie auch nur ein kleiner Strahl von Hoffnung, daß ich mein Ideal und durch die Erreichung desselben die Unsterblichkeit erlangen kann, so werde ich sogleich wieder aus meinem Schlummer geweckt, die Phantasie malt meine Hoffnung mit den schönsten Farben aus, erhebt den Wunsch zur Wirklichkeit und läßt mich schon im voraus die Freuden genießen, die ich dereinst in Zukunft genießen zu können glaube.« (Tagebucheintrag am 16. April 1795 von Paul Johann Anselm Feuerbach – dem Großvater)2 »Und euch, ihr spekulativen Theologen und Philosophen, rate ich: macht euch frei von den Begriffen und Vorurteilen der bisherigen spekulativen Philosophie, wenn ihr anders zu den Dingen, wie sie sind, d.h. zur Wahrheit kommen wollt. Und es gibt keinen anderen Weg für euch zur Wahrheit und Freiheit, als durch

1.1 Familienaufstellung

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den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart.« (Ludwig Feuerbach – der Onkel)3 »Sei mir gegrüßt, du letzter Monat im Jahr. Die Felder sind mit Schnee bedeckt, der Strom wälzt seine Schollen Eis dem Meere zu. – Vorüber, vorüber! Warst mir von jeher der liebste Monat im Jahr mit deinen goldenen Früchten und Lichtern. Kommst du nicht wieder – nie wieder? […] Einsam bin ich, krank und verwaist. – Ja, du kehrst wieder, aber anders. Sie haben Dich gekreuzigt, Dein Festgewand ist Blut und dein Kranz ist die Dornenkrone.« (Aus dem Tagebuch des Jahres 1819 von Anselm Feuerbach – dem Vater)4 »Das halten dann dumme Leute oft für Verzweiflung, und es ist nichts, als daß ich mich innerlich meiner äußeren Personage gegenüberstelle, aber ein wenig höher, so daß ich drüber wegschauen kann. Wie gesagt, am Christkindchen wars ganz anders, da dachte ich – so mit Lichtern und Freuden feiert man die Geburt, aber in jedem Jahr und in jedem Leben kommt der Charfreitag hinterdrein und das Kreuz ragt weit, weit über die geputzten Christbäumchen hin. Glücklich der, der im Kreuz sein Heil zu finden weiß.« (Weihnachtsbrief 1841 an Christian Heydenreich von Henriette Feuerbach geb. Heydenreich – der Stiefmutter)5 »Kreuzigt mein Gott sein Kind, so wird es stille halten.« (Amalie Feuerbach geb. Keerl – die leibliche Mutter)6 *

Abb. 2: Jakob Wilhelm Roux, Amalie Feuerbach auf dem Totenbett, 1830. Bleistift und Kreide auf Papier, 39 x 50 cm. Museum Geburtshaus Anselm Feuerbach, Speyer.

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1 Vater unser

»Alle Leute fragen mich: ›Sind Sie verwandt mit dem Archäologen Feuerbach?‹ ›Das ist mein Vater; der Philosoph mein Onkel, der Staatsmann mein Großvater.‹ Nun sagt man: ›Wenn da nichts aus Ihnen wird, dann muß man an der Welt verzweifeln.‹« (Brief aus dem Jahr 1846 aus Düsseldorf an die Eltern)7 »Wie kommt es, daß meine Bilder in wahrhaft majestätischer abweisender Ruhe dastehen, und der, der sie geschaffen, ist ein schwankendes Rohr! Mir ist mein Leben wie ein Traum manchmal, oft sehe ich hundert Jahre voraus und wandle durch alte Galerien und sehe meine eigenen Werke in stillem Ernst an den Wänden hängen. Ich bin zu Großem berufen, das weiß ich jetzt, mein Leben wird erst zur Ruhe kommen, wenn ich tot bin, Leiden werde ich immer haben, aber meine Werke werden ewig leben.« (Brief vom 2. November 1855 aus Venedig an Henriette Feuerbach)8 »… ich als Künstler müßte Vermögen haben, sonst muß ich um die Hausmiete malen, und übergroße Anstrengung könnte den Tod und nicht das Irrenhaus – in dem ich seit meiner Kindheit bereits lebe – herbeiführen.« (Brief vom 23. März 1868 aus Rom an Henriette Feuerbach)9 *

Abb. 3: Anselm Feuerbach, Leichenzug eines Hofnarren, 1877. Aquarell auf Papier, 51 x 69 cm. Historisches Museum der Pfalz, Speyer.

1.1 Familienaufstellung

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1.2 Patron Anselm Feuerbachs Gastmahl des Plato ist das Testament der deutschen Kunstreligion. Es zeugt von deren ideellem Aufstieg und Abstieg im Glauben des Bildungsbürgertums und ist selbst schon vorbelastet mit dem realen Erbe einer Familiendynastie voll von manischen Ambitionen und deprimierenden Enttäuschungen. Anselm Feuerbach – seinen Zeitgenossen eine Geißel, sich selbst ein Kreuz? Muss man heute überhaupt noch mit einer solchen Kunst fertigwerden? Kann man überhaupt noch etwas anfangen mit ihr? – Beginnen wir mit einer froheren Botschaft: Seit Leonardo da Vincis Salvator mundi am 15. November 2017 bei Christie’s in New York für die Summe von 400 Mio. US-Dollar (+ 50,3 Millionen US-Dollar Aufgeld) seinen Eigentümer wechselte, scheint das Ansehen der Kunst, zumindest was ihre Wertschöpfung ex nihilo betrifft, nochmals beträchtlich vermehrt. Dass bei dieser greatest art auction story ever told manche Episoden einer historisch-kritischen Überprüfung nicht ohne weiteres standhalten (so in der Frage der tatsächlichen Urheberschaft Leonardos) mag den menschlichen Anteilen des Geschehens geschuldet sein; ohne Zweifel offenbart sich in diesem Auktionswunder jedoch eine Macht, welche die Kunstgemeinde in Staunen versetzen musste. Der Glaube an die Kunst zahlt sich aus, mögen böse Zungen auch behaupten, dass Spekulanten ihr teuflisches Spiel mit ihm treiben. Im Fall des Salvator mundi darf sich allem Anschein nach nun der Kronprinz des saudischen Königshauses Mohammed bin Salman al-Saud glücklich schätzen, die Unbezahlbarkeit der Kunst in ihrer globalen Glorie gefestigt zu haben, scheint doch der Glaube an den christlichen Messias höchstselbst wohl kaum Anlass zum Kauf gewesen zu sein. Stattdessen gilt auch hier: Geld regiert die Welt, aber erst seine Transfiguration in Kunstwerte verspricht Erlösung – sogar vom schnöden Mammon. Gott vergelt’s? Was Unbeteiligten nur ein verdutztes Kopfschütteln abverlangt, stößt bei der Orthodoxie der Kunstreligion auf Entrüstung: Bedeutet die hemmungslose Kapitalisierung der Kunst nicht gerade eine Versündigung an ihrem wahren Anliegen? Wären die Händler des Kunstmarktes nicht eigentlich aus dem Tempel zu vertreiben? Ja, hat man es – schlimmer noch als bei einem Bildersturm – in diesen Fällen nicht mit der Anmaßung von Kunstketzern zu tun? – Auch wer mit einem derartigen Zelotentum nicht sympathisiert, dürfte sich in den letzten Jahrzehnten bisweilen gefragt haben, was die Kunst letztlich noch wert ist über ihre Auktionspreise hinaus, und zumindest in Verlegenheit darüber geraten, dass sich diese Frage überhaupt stellt. Spätestens seit Andy Warhols Bekenntnis zur business

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1 Vater unser

art als »step that comes after art«10, scheint etwas faul im State of the Art. Dass Ironie dabei eine Rolle spielt, bei Warhol und seinen Nachfolgern wie schon bei seinem überragenden Vorgänger Duchamp, tut nur insofern etwas zur Sache, als damit bloß auf andere Weise bestätigt wird, dass nicht mehr allein den eigenen Aussagen, sondern gleichermaßen den eigenen Tätigkeiten kaum noch zu trauen ist. Wer aber wollte dagegen ernsthaft bezweifeln, dass die Kunst heute zu einem lukrativen Geschäft geworden ist (wenn auch nur marginal für die Künstlerinnen selbst) und dass das art business sich durch die business art sogar neue Märkte zu erschließen vermochte? Ein bisschen Ironie schadet nie, reimt sich sogar auf eine Kunstphilosophie, die den Erlöser erlöst, indem sie sich aus den allzu hehren Ansprüchen einer strenggläubigen Kunstreligion endlich selbstmächtig freikauft. Erfolgsunternehmer wie Jeff Koons oder Damian Hirst machen es vor. Zum Bestseller taugt zum Beispiel ein geschicktes Sich-Ein- und Rauskaufen bei den eigenen Versteigerungen, wie es Hirst meisterhaft beherrscht. Verstiegenheit oder gar Betrug könnte man dies wohl nur nennen, wenn man die Selbstregulierung des Marktes zu ernst nehmen und darüber gerade aus dem Auge verlieren würde, wie sich die Tradition künstlerischer Selbstbestimmung auch in der Marktpreisbildung noch behauptet. Und ist es nicht genau diese ›Intervention‹, die mit ihrem Marktwert ironischerweise zugleich ihren Kunstwert in die Höhe treibt? Selbst aus ökonomischer Perspektive betrachtet: Welcher Spekulant träumte nicht insgeheim davon, die Kurse selbst festlegen zu können? Ist Spekulantenkunst also nur um den Preis von Hirsts Kunst der Spekulation zu haben? For the love of god! Die business art hat nicht nur den Kunst-, sondern ebenfalls den Marktglauben schon längst hinter sich gelassen. Wenn man nun aber die sündhaft teure Dekoration nicht für bloßes Blendzeug eines Trickbetrügers halten möchte, warum dann ausgerechnet für Kunst? – Anscheinend, weil wir immer noch fest an die Kunst glauben wollen, ja glauben müssen, soll die Rechnung für den Gaukler aufgehen und sollen wir dabei wenigstens zum Teil auch auf unsere Kosten kommen.11 Kaum anders verhält es sich mit Koons und seinen Kitsch-Ikonen, diesen Icons unseres gelobten Landes der Werbeindustrie. »Make.belief« wäre wohl auch der passende Werbeslogan für ein Kunstverständnis, das sich von dem Selbstverständnis eines Personal Coaches kaum noch unterscheidet. Scheint es Koons doch ernsthaft darum zu gehen – und Ironie, wie gesagt, ist der eigentliche Ernst einer postmodernen Gesellschaft12 – seine Rezipienten wie Klienten in ihrem Lebenstraum zu bestärken, dass auch sie es schaffen können. Sie müssen nur fest daran glauben. Einmal davon abgesehen, dass derartige Motivationssprüchlein und das dazugehörige Kunstmerchandising heute so sehr in die Jahre

1.2 Patron

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gekommen sind, dass sie schon wieder als Retrotrend der 1990er durchgehen: Was heißt hier noch Schaffen, wo künstlerische Kreativität sich als buchstäbliches »Investment«-Kapital entpuppt; was noch Glauben, wo nichts mehr zu holen, nur weiter auszuhöhlen ist – außer ein »Fake it till you make it« in der Kunst wie im Leben? Aber selbst dort, wo sich die business art nicht durch zynische Spekulationen oder zweckoptimistische Trainings selbst übertrifft, man zwar mit dem Kunstspektakel seine Geschäfte macht, aber an der Kunst jenseits ihrer Selbstvermarktung letztlich festhält, etwa bei Gerhard Richter, scheint die wundersame Vermehrung des Kunstkapitals nicht ohne Effekt geblieben zu sein. Wie soll man sich auch nach allen Regeln der Kunst noch verteidigen können, wenn der Kunstmarkt einen einfach immer gewinnen lässt? Manchmal könnte man meinen, Richter wäre ungewollt zum Schutzpatron des Kunstmarktes berufen – gegen all die bösen Anfechtungen der Kunstmarktkritik. Die euphorisierte Ratlosigkeit am Abgrund des gegenwärtigen Kunstwollens kommt jedoch erst dadurch vollends zum Ausdruck, dass man sich über diese Kluft zwischen Suggestion und Wirklichkeit zugleich hinwegzuheben hofft, indem man die realen Höchstpreise als bescheidene Huldigung gegenüber einem überragenden Werk rechtfertigt. So hat man gerade Richter schon alles (noch) Mögliche unterstellt, um bei den steigenden Preisspiralen nicht ins Schwindeln zu geraten, was den idealen Kunstwert seiner Werke anbelangt (auch wenn unbezahlbar noch mal etwas anderes ist als nicht bezahlbar). Und in der Tat ist es die rätselhafte Bandbreite seines Schaffens, die zugleich alle wesentlichen Kunstmarktsegmente abdeckt, um darauf die Geschichte der Nachkriegskunst in rotierenden Diaprojektionen nochmals abzubilden. Figürlichen Gemälden wie erneut ausgemalten, verblassten Erinnerungen stehen Abstraktionen gegenüber, die dem Zufall seine verdeckten Algorithmen abzuschauen scheinen, indem sie unerwartete Farbfährten verfolgen oder die Aleatorik eines virtuellen Malkastens kontemplieren. Bringt das Figürliche die Erinnerung wieder, dass die realistische Malerei (etwa der eigenen DDR-Zeit) bereits in der Vergangenheit dem Dokumentarischen der Fotographie geopfert wurde, um heute dagegen eine gespensterhafte Wiederauferstehung im Analogen zu erleben, inklusive ihrer Sujets, spielen die Abstraktionen nochmals das moderne Aufklärungs- und Aufrüstungsprojekt des Westens durch, um die malerische Autoreflexivität des Materials bis zur Autonomie künstlerischer Systeme, ja bis zur quasi-künstlichen Intelligenz künstlerischer Kreativität zu treiben. Was jedoch diese divergenten Tendenzen des Zeitalters noch verbindet, gerade in der Person Richters, bleibt in dem Maße

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1 Vater unser

Rätsel wie es paradoxerweise schon Teil der Lösung ist: Kunst, wo sie sich noch mit Emphase ausspricht, ist zum Ausdruck ihrer eigenen Aporie geworden. Wenn eines, dann scheint diese Unsicherheit sicher, dieses oft beschworene, dunkle Gefühl: schaffen zu müssen, ohne in letzter Instanz rechtfertigen zu können oder verantworten zu wollen, warum man es noch sollte. Es ist eine wissende Unwissenheit, die gelernt hat, dass ihr nichts mehr zu wünschen übrigbleibt, weil ihr schon alles möglich geworden ist. Man könnte sie eine sokratische Unwissenheit nennen, von einer sokratischen Aporie der Kunst sprechen, bei der man allein noch auf die innere Stimme hörte, ohne zu verstehen, worauf sie eigentlich im Positiven hinauswollte. – Aber was soll man von diesem Daimonion heute noch halten? Ist es die letzte Genieflause, ein aufrechtes Künstlergewissen oder bloß der Schalk im Nacken? Auch hierbei wäre letztlich zu fragen, wie viel sokratische Ironie neben mäeutischem Ernst im Spiel ist, d.h., ob nicht doch noch irgendeine Idee der Kunst, wie auch immer sie geartet sein mag, bieder oder maliziös, im Hintergrund die Fäden zieht. Der bestellte Schierlingsbecher hatte Sokrates eine tödliche Frist gesetzt, aber seit sein Denken in Platon wiederauferstanden ist, war es nicht mehr totzukriegen. Doch wollte man auch mit der Kunst kurzen Prozess machen: Wie könnte man heute noch anders mit ihr fertigwerden, als an sie zu glauben – gerade weil sie bereits tot scheint?

1.3 Paternoster Ist die Kunst also am Ende – oder schon darüber hinaus? Sollte man Bestürztheit zeigen und im Sinne eines alarmierten Kulturpessimismus ihren Niedergang beklagen? Oder sollte man sich eher stoisch geben und es vielmehr zuversichtlich dem Zufall überlassen, ob sie sich nochmals aufrappeln wird? Gegen beide Haltungen lässt sich heute leicht einwenden, dass sie noch zu sehr dem Bild eines möglichen Niveauaufstiegs und -abstiegs verhaftet sind. So hat in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem Wolfgang Ullrich dafür plädiert, das eigene Erwartungsmanagement in Sachen zeitgenössischer Kunst zu revidieren und drohenden Enttäuschungen dadurch vorzubeugen, dass man die Sache von vorneherein ›tiefer hängt‹.13 Doch auch in diesem Fall eines proaktiven Disengagements scheint das Problem eher verschoben als behoben, scheint sich ein tatsächlicher Glaube an die Kunst doch nicht einmal mit ihr aus der Welt schaffen zu lassen, egal ob es sich dabei nun um einen kindlichen, dogmatischen, enttäuschten oder wiedererwachten Glauben handeln mag. In dieser Frage Agnostiker zu sein oder

1.3 Paternoster

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›unmusikalisch‹, ist selbst nichts weniger als eine Gnade, die eben nicht allen zuteilwird, erst recht nicht jenen, die sich mit solchen Fragen überhaupt herumschlagen. Vorschläge dagegen wie der, unsere nicht erst seit 9/11 unverkennbare »Verletztbarkeit« als »Ecce homo« der »Spaßgesellschaft« zu kontemplieren, dennoch heroisch weiterzumachen und sich zu Konsumfreude und »Oberflächlichkeit« zu bekennen – an derartige Vorschläge scheint letztlich auch Ullrich nicht mehr recht glauben zu können.14 Stattdessen ist in der gegenwärtigen Lage – nach einer anhaltenden Reihe von weiteren Spaßbremsen wie der Coronakrise, dem Ukrainekrieg, der nahenden Klimakatastrophe oder auch der Migrations­ misere – die Frage nur um so aufsässiger geworden: Was können wir inmitten einer ästhetisierten Lebenswelt mit der Kunst überhaupt noch anfangen, wenn uns das verheißene »Glück der Banalität«15 weiterhin von der Realität hartnäckig verweigert wird? Etwas wehmütig im Rückblick auf vergangene künstlerische Freuden und doch zugleich zuversichtlich angesichts der bereits bestandenen und noch kommenden Herausforderungen anderer ästhetischer Praktiken wie dem Design könnte man auf die Idee verfallen, sich gar nicht länger mit der richtigen Hängung aufhalten zu wollen: warum es stattdessen nicht einfach sein lassen und Kunst gleich ganz abhängen? Schiene damit doch zumindest mehr Platz geschaffen, im Kopf wie an den Wänden. Oder warum genau sollte man gerade dieses Vorgehen nach den ganzen Ideenrevolutionen, den ganzen eingerissenen Wänden und Überbietungsgesten noch als überstürzt bezeichnen? Aber wer auch nicht mit solchen Umsturzgedanken – als einer letzten Hommage an die Avantgarde – sympathisiert, findet sich vor dem Problem wieder, dass das moderne Aufstiegsunternehmen Kunst im Bewusstsein seiner Produzenten und Gläubiger auch in seinem Gesundschrumpfen noch von den Qualitätsstandards und Versprechungen der Hochzeit zehrt. Um eine Depotenzierung des Kunstanspruches heute nicht nur als baren Verlust und indirekten Gewinn der Konkurrenz verbuchen zu müssen, sondern als Anreiz für deren Weiterentwicklung, scheint mehr als ein Rückbau des ehemaligen Ausgangsniveaus gefordert. Mit anderen Worten, die auch die von Warhol & Co. sein könnten: Allererst eine gewisse Fallhöhe macht den tatsächlichen oder bloß scheinbaren Fall zu einem beachtenswerten Ereignis und dieses Ereignis wiederum erst zu einem ertragreichen Spekulationswert in Aussicht auf kommende Zeiten. Das gilt selbst für den Übervater des Understatements, Marcel Duchamp, wenn dieser 1964 in einer letzten Volte gegen seine Plagiatoren wie Warhol oder auch Yves Klein durch eine kunsthandwerkliche Replica-Edition seiner Readymade-Klassiker (für die Galleria Schwarz) seinen eigenen Niveauverfall im selben Zug herstellt wie

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ausbeutet, indem er seinen eigenen Kunstmarktwert – nicht zuletzt als Kunstmarktkritiker – gewinnbringend kommodifiziert.16 Aber egal nun, ob bei einer Unter- oder Überbietung des aktuellen Kunstkurses, egal auch, ob durch eine Spekulation auf sein zukünftiges Steigen oder Sinken, in allen Fällen lässt sich die Erfolgsspanne der Kunst auch heute noch gemäß einer Skala bestimmen, die traditionelle Grenzwerte aufweist: Führt das Tieferhängen letztlich zu einem Kunstbegriff, dessen etablierte Grenzen gegenüber einem profanen Funktionalismus (in Handwerk und Design, aber auch im Sinne ihrer Politisierung oder sozialen Instrumentalisierung) sich so lange verflüchtigen, bis sie sich gänzlich auflösen, ist es in der anderen Richtung gerade das Beharren auf dieser Trennung, das Umhegen eines heiligen Bezirks der Autonomie, der sich ab einem gewissen Grad an Hermetik kaum noch von religiösen Mysterien unterscheiden lässt. Hier scheint dem Über- und Unterbieten der traditionellen Ansprüche samt ihrem (Un-)Glauben ein Rahmen gesetzt, in dem die Fahrstuhlkurse ihre Zyklen durchlaufen wie ein Paternoster. Zwischen den Extremen des Ästhetizismus einerseits und des Avantgardismus anderseits erstreckt sich so eine Spanne von Gestaltungsauffassungen, die man ehemals noch Kunst zu nennen pflegte. Und doch ist es kaum verwunderlich, dass nicht erst im Zuge digitaler Designpraktiken, sondern schon zu Beginn der von Heinrich Heine bewitzelten ›Kunstepoche‹ diese Spanne zugleich als eine Spannung erfahrbar wurde gemäß ihrer konstitutiven Ambivalenz: les extrêmes se touchent. Denn diese Ambivalenz als umlaufender Umschlag der künstlerischen Extreme von Ästhetizismus und Avantgardismus drückte sich in ihrem modernen Anfang zugleich als Vorahnung ihres vorgezeichneten Endes aus. Dieses, die moderne Kunst seit ihren Anfängen begleitende Gerücht von ihrem Ende hat darum gerade Anlass geboten, Neuanfänge in steigender Frequenz zugleich als sich erneuernde Abschlüsse zu kommentieren, und zwar quasi den gesamten modernen Kunstdiskurs hindurch von Hegel bis Danto. Während Ersterer jedoch das Ende noch als philosophische Aufhebung dachte, reicht es bei Letzterem nur noch zu einer philosophischen Abmoderation der Kunst; oder in den treffenden Worten Ullrichs: »Folge einer Überschätzung […] sind kulturkritische Diagnosen eines ›Ende der Kunst‹, Ausdruck einer Bagatellisierung ist es hingegen, wenn Danto zu derselben Diagnose gelangt. Es stellt nämlich eine Verkürzung dar, wenn er so tut, als sei die Kunst der letzten Jahrzehnte vornehmlich dazu geeignet gewesen, die Frage nach dem Wesen der Kunst zu stellen.«17 Wie wir schon gesehen haben, liefern bloße Fragen unter bestimmten Umständen schon ungewollte Antworten. Denn indem die Kunst etwa der Pop-Art die »Konsumgesellschaft, die Massenmedien, die Mechanismen der Mythisierung«18

1.3 Paternoster

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erhellt, strahlen diese gleichsam auf sie zurück, sodass sie im Spiegel des kapitalistischen Tagesgeschäftes zugleich ihr eigenes reflektiert sieht (bis zum Narzissmus getrieben dann bei Koons). Das war zwar nie wirklich anders, gilt aber heute mehr denn je für ein Kunstverständnis, das von solchen Essentialismen wie der Frage nach ihrem »Wesen« lieber nichts mehr wissen will. Die daraus resultierenden Aporien aber suspendieren die Probleme nicht einfach, sondern verschärfen sie noch. Genau das war schon die sokratisch-platonische Lektion, auch wenn wir es eher für ein Missverständnis halten, die Kunst derart ernst zu nehmen und wir sie stattdessen ironisch-leicht gehandhabt sehen wollen. Denn was sich in dieser betont entspannten Haltung bekundet, ist keine Bagatellisierung oder selbst eine Bagatelle, sondern eine gewisse Leichtfertigkeit (des Unverkrampften, Ephemeren, Unabschließbaren oder auch Haltlosen, Provokativen, Poserhaften etc.), die zu keinem wirklichen Ende mehr kommt, geschweige denn zu Antworten, die sie längerfristig selbst noch verantworten wollte. Man könnte diese Leichtfertigkeit, wie es letztlich auch Danto tut, mit der Freiheit der Kunst verwechseln, sähe dann aber nur Gespenster eines bereits Verschiedenen. Eine bloß negative Freiheit der Kunst – mag sie sich auch selbst ironisch unter Vorbehalt stellen – negiert zuletzt ihre eigene Autonomie, und zwar nicht weniger als es eine direkte Affirmation heteronomer Umstände täte. Es gilt darum erneut zu verstehen, dass die beanspruchte Autonomie der modernen Kunst nicht einfach nur eine Freiheit unter anderen, sondern in ihrer bestimmten Negation zugleich die prekäre Opposition schlechthin darstellt wider die Zumutung von Äußerlichkeiten oder gar einen vermeintlich alternativlosen Sachzwang. Das muss nicht adventistisch klingen oder revolutionär, ruft aber nochmals den heute allzu selbstverständlichen Umstand in Erinnerung, dass es vornehmlich ›die Kunst‹ war, die in der Moderne den ideellen Spielraum der Autonomie kultiviert hat. Ihr Gesetztsein selbst, ihre eigentümliche Positivität als sich bestimmende Negation, bildet zugleich das ideale Gesetz einer anspruchsvollen Freiheit in der konkreten Anschauung und ist damit nicht weniger als das spielerische Vorbild moderner Autonomievorstellungen. Es geht also nicht bloß um eine Überschätzung oder Bagatellisierung der Kunst, sondern um ihren Begriffswandel, der zugleich einen Wesenswandel der Kunst im Spannungsverhältnis zu ihren Umständen darstellt: Die Kunst hat nicht einfach aufgehört, sie geht auch nicht bloß weiter, noch fängt sie erneut an, sondern sie hat sich zunehmend den Grenzen ihrer eigenen Definitionen genähert, um sie aufs Spiel zu setzen; man könnte sagen: Sie hat sich ihren möglichen Enden ausgesetzt und ist dabei bisweilen verloren gegangen, vielleicht auch dahingeschieden. Man denke nur an die anhaltenden Grenzstreitigkeiten mit ihrem

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Intimfeind, einer sogenannten ›angewandten‹ Kunst, dem sie dort zu erliegen droht, wo sie entweder schon als business art im Sinne einer unkonventionellen Geschäftsmodellierung durchgeht (und damit der Kreativwirtschaft vorgreift) oder nur noch als Unart eines selbstzweckhaften Designs der Heteronomie des bloß Dekorativen anheimfällt. Vielleicht sollte man darum – und in der wohlmeinenden Absicht, die Grenze von Kunst und Design im weitesten Sinne noch aufrecht zu erhalten – eher von einem umfassenderen Begriff der Gestaltung sprechen, wie er schon der Idee des Gesamtkunstwerks zugrunde lag und insbesondere im Bauhaus, aber auch der russischen Avantgarde zum Tragen kam, um am deutlichsten bei Joseph Beuys zur sozialen Frage eines erweiterten Kunstbegriffs zu werden. Damit wäre dann auch die Frage nach dem Wesen der Kunst besser zu umreißen, statt sie – und zwar zum Nachteil der Kunst selbst – bloß weiter aufzuweichen: Welche Form von Gestaltung ist Kunst also (im Unterschied zum Design)? Wollte man dafür ein Kriterium namhaft machen, das es zudem schon einmal erlaubt hat, von Kunst im emphatischen Sinne zu sprechen, dann ist es wohl besagter Autonomieanspruch, der in seiner Bedeutung erstmals vom deutschen Neuhumanismus durchbuchstabiert wurde. Allen voran Friedrich Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung verankerten das Autonomiepostulat19 tief im Inneren einer als entfremdet erfahrenen, funktionalistischen Gesellschaft der Moderne, um auf diese Weise eine Wiederversöhnung aller gesellschaftlichen Gegensätze im Zeichen eines »ästhetischen Staates«20 in Aussicht zu stellen. Der Begriff der Freiheit wurde dabei nicht einfach auf die Kunst übertragen, sondern angesichts einer sich selbstzerfleischenden Französischen Revolution bestimmte Schiller die Freiheit in Erscheinung vielmehr als Schönheit – mithin das Ästhetische umgekehrt als notwendiges Propädeutikum des Politischen. Doch gilt ihm die politische Freiheit im zweiten Brief seiner Abhandlung noch als das »vollkommenste aller Kunstwerke«21, scheint im letzten Brief hingegen nicht mehr so klar, ob der »Staat des schönen Scheins« lediglich ein Übergangsstadium oder selbst schon die Endstation aller Freiheitssehnsüchte darstellt. – Wäre, was Letzteres betrifft, mehr also nicht drin und die Schönheit schon das höchste der Gefühle? Zumindest inmitten einer von Nutzen und Nöten bestimmten Gesellschaft scheint Schillers Freiheit zur Utopie einer Bildungsgemeinschaft von Kunstgläubigen werden zu müssen, die er entsprechend als »die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln«22 anspricht. – Oder wäre dagegen, was den »Staat des schönen Scheins« als Übergangsstadium betrifft, gerade mit einer Kunst als bürgerlichem Befreiungswerkzeug Politik zu machen?

1.3 Paternoster

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Damit haben wir erneut jene Extreme vor Augen, welche die Kunst in der modernen Gesellschaft zwischen Ästhetizismus und Avantgarde, Selbstzweck und Mittel in einer Dauerspannung erhalten. Und das hat seinen Grund darin, dass erst dieses gespannte Verhältnis zum Funktionalismus nicht nur im Politischen, sondern auch im Ästhetischen, d.h. zur ›angewandten‹ Kunst, jene Repulsionsenergien freisetzt, die den Autonomieanspruch aufladen. Denn bezeichnenderweise entstand der Anspruch einer ›freien Kunst‹ erst in der Frühindustrialisierung, zu Zeiten also der ›Entdeckung‹ des Designs, und radikalisierte damit wiederum die ›Entdeckung‹ der Kunst als nicht mehr allein handwerkliche, sondern den artes liberales gleichgestellte Praxis seit der Renaissance. Wie genau aber entwickelte die Kunst diese autonome Eigenform von Gestaltung zwischen Handwerk und Design, die heute noch im positiven wie im negativen Sinne von sich reden macht? Die Antwort auf diese Frage wird im Folgenden lauten: Kunst im emphatischen Sinne ist heute nur noch dann der Rede wert (in Absetzung vom Design), wenn man sie weiterhin in der Tradition einer ›Kunstreligion‹ versteht, an deren Überwindung man auch gegenwärtig noch laboriert, ohne mit ihr und sich selbst endgültig fertiggeworden zu sein. Schon Walter Benjamins Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit arbeiteten sich an der Einsicht ab, dass sich Kunst nicht in Gebrauchszusammenhänge etwa einer sozialen Revolution einspannen lässt, ohne ihrer Aura verlustig zu gehen und damit eben aufzuhören, Kunst zu sein. Der Konstruktivismus und Produktivismus eines Alexander Rodtschenko, um nur ein Beispiel zu nennen, hatte bereits einen recht deutlichen Begriff davon. In solchen Fällen könnte man heute ebenso gut von Social Design sprechen. Dass man in ähnlichen Fällen jedoch immer noch den Status der Kunst samt seiner Aura für sich reklamiert, hat weniger mit dem Glauben an sie als mit dem Bannstrahl gegen ihre vermeintlichen Irrlehren zu tun. Doch gibt es heute wirklich noch einen triftigen Grund, sich für das Design als gleichermaßen form- wie funktionsbewusstes Metier zu schämen? Selbst sich vom Glauben an eine alleinseligmachende Kunst loszumachen, erfordert keinen Exorzismus der eigenen Besessenheit mehr – diese Zeiten sind längst vorbei, auch wenn ihre Kritik sie weiterhin heraufbeschwört –, sondern sie erfordert einen bloßen Austritt und die bunte Welt ästhetischer Praktiken liegt vor einem. – Interessanter scheint vielmehr die Frage, wie man weiterhin und wieder an die Kunst glauben kann, obwohl dieser Glaube heute beständig auf die Probe gestellt wird – und zwar auf die Probe gestellt nicht allein von ihrer gegenwärtigen Realität, sondern glei-

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chermaßen von den Idealen ihrer verabschiedeten Vergangenheit und erwarteten Zukunft. Was das bedeutet und warum dem in gewisser Weise, in einer paramodernen Weise schon immer so gewesen ist seit 250 Jahren, das zeigt sich geradezu paradigmatisch an den entsprechenden Höhen und Tiefen im Werk Anselm Feuerbachs, insbesondere an seinem Gastmahl des Plato.

1.4 Konstellationen des Scheiterns Feuerbach zählt zu jenen Künstlergestalten des 19.  Jahrhunderts, deren Œuvre eine eher außergewöhnliche Rezeption erfahren hat, geprägt von schrillem Jubel, Totschweigen, aber auch pedantischer Aufarbeitung. Von Hause aus mit den besten Kontakten in führende Kreise war es ihm dennoch nicht beschieden, unter den Zeitgenossen jene Stellung einzunehmen, auf die er allzu selbstverständlich glaubte Anspruch erheben zu können. Erst postum und nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines von seiner Stiefmutter Henriette Feuerbach stark stilisierten Vermächtnisses avancierte er zu einem der Lieblingskünstler des wilhelminischen Kaiserreichs, um nach dem Ersten Weltkrieg bereits deutlich an Ansehen einzubüßen und nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu gänzlich in den Geschichtsbüchern zu verschwinden. Nur ein neu erwachtes Interesse ab Mitte der 1970er Jahre im Zuge einer postmodernen Revision der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, darunter auch der Bedeutung Feuerbachs als Deutsch-Römer, sollte ihn zumindest museal rehabilitieren, wenngleich nicht mehr an die ehemalige Breitenwirkung anknüpfen lassen. Spätestens nach der Wende scheint sein Werk vor allem Gegenstand der Liebhaberei und Heimatpflege, weniger eines zukunftsträchtigen Diskurses. Das hat seine Gründe: War es im Wilhelminismus ein von Chauvinismen nicht freies Propagandieren deutscher Kunst und zur Nazizeit hingegen die nur bedingte Möglichkeit, Feuerbachs Werk für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, konnte die westdeutsche Nachkriegsmoderne der Spät- und Postavantgarde schlicht nichts mit ihm anfangen, bis endlich die historische Bestandaufnahme einer saturierten BRD auch an ihm nicht mehr achtlos vorbeigehen konnte, sei es auch nur, um den Kanon zu komplettieren. Dass nach dem Mauerfall die figürliche Malerei erneut ihren Einstand feierte, ohne besondere Notiz von Feuerbach zu nehmen, hat nicht zuletzt mit einem internationalisierten Kunstmarkt zu tun, der sich lieber direkt mit der figürlichen Malerei der östlichen Hemisphäre versorgte, und vor allem damit, dass sich bis heute, und zwar seit Feuerbachs Lebzeiten

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eigentlich kein Maler von Weltrang, erst recht nicht der künstlerischen Moderne, zu seinem Einfluss bekannt hat. – Alles in allem keine vielversprechende Bilanz für die Zukunft. Warum sich also erneut mit ihm beschäftigen? Die Gründe hierfür wiederum sind weniger welche einer noch ausstehenden Zukunft als des unvergänglich Gewesenen. Schon ein kurzer Blick auf den etappenreichen Lebensweg Feuerbachs lässt deutlich werden, dass wir es bei ihm mit einer Gestalt zu tun haben, in die gleichsam der Zeitgeist gefahren ist, um ihr an einem bestimmten Punkt ihres Werdegangs wieder zu entfleuchen und anderem Platz zu machen. Ausgebildet an den wesentlichen Institutionen des deutschen Akademismus der 1840er Jahre, Düsseldorf und München, kam Feuerbach bereits mit knapp 16 Jahren in die Obhut des Akademiedirektors und ehemaligen Nazareners Wilhelm von Schadow und wurde daselbst mit der Historienmalerei eines Carl Theodor Lessing und später in München mit dem Schaffen Moritz von Schwinds, Karl Schorns, aber auch des Wieners Carl Rahl persönlich bekannt. Daran kein Genügen findend war die nächste Etappe Antwerpen, die Mode belgischer Sensationsmalerei in ihrem Zentrum aufsuchend, und ein mehrjähriger Aufenthalt im lang ersehnten Paris, in dem er sich niederließ, um zunächst auf eigene Faust, dann als abermaliger Schüler im Privatatelier Thomas Coutures, dessen Römer der Verfallszeit im Salon von 1847 für Begeisterungsstürme gesorgt hatte, seine Ausbildung zu vollenden. Vor Ort kam er zugleich mit der nächsten, die Geschicke der europäischen Malerei bestimmenden Generation französischer Maler in Verbindung, unter anderem mit dem frühen Édouard Manet (als einem weiteren Schüler Coutures), und nahm zugleich die Veränderung, die von Gustave Courbet ausging, genau zur Kenntnis. Feuerbach wäre gerne länger in Paris geblieben, und es lässt sich nicht sagen, welchen Gang seine Karriere genommen hätte. Aber die gehäuften Schulden und eine fatale Liebesbeziehung zwangen ihn zur Flucht zurück nach Deutschland, wo er für die nächsten Jahre sein Glück in Karlsruhe suchte, als Jungmeister und galanter Sonderling zugleich bewundert und beargwöhnt. Daselbst fand er sich in der Nähe der neu gegründeten Karlsruher Akademie wieder, als deren Direktor sein und Arnold Böcklins Düsseldorfer Lehrer Wilhelm Schirmer inzwischen amtierte. Der entscheidende Schritt seines Werdegangs war aber allererst mit einem Italienstipendium für die Jahre 1855/56 getan, das ihn zunächst zu Kopierzwecken der Assunta Tizians nach Venedig führte, um ihn durch eine schicksalhafte Wendung über den Umweg Florenz für knapp anderthalb Jahrzehnte nach Rom zu verschlagen. Hier entstanden die ›Feuerbachs‹, die ihn letztlich berühmt machen sollten, bevor er – nach regelmäßigen Zwischenaufhalten in Heidelberg bei seiner Stiefmutter sowie gelegentlichen Abstechern nach Berlin und München –

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einem Ruf als Professor der Historienmalerei an die Wiener Akademie folgte. Das kulturelle Großprojekt der Wiener Ringstraße hatte ihn gelockt, die Beerdigung eines Akademiekollegen ihm dann jedoch eine bedrohliche Lungenentzündung eingebracht, deren Spätfolgen seine letzten Projekte wie den Titanensturz als Deckengemälde für die neue Wiener Akademie überschatteten. Nach einem langem Hin und Her quittierte er den Dienst, um sich in seinen letzten Lebensjahren erneut in Venedig statt, wie zunächst geplant, nochmals in Rom niederzulassen. Er sollte dort am Anfang des Jahres 1880 sterben. Vergegenwärtigt man sich die Reiseroute dieses mit 16 Jahren in die Kunstwelt aufbrechenden und mit 50 Jahren schon wieder daraus scheidenden Sohnes einer der wichtigsten bildungsbürgerlichen Dynastien der deutschen Provinz, so scheint seine Unrast und Lernbegierde eigentlich keine Station von Rang in der Malerei des 19.  Jahrhunderts ausgelassen zu haben. Im Gegenteil versammelt sich in Feuerbachs Biographie nicht einzig die deutsche Malerei, sondern auch die belgische, französische und italienische wie in einem Reisebuch auf dem Weg zu einem eigenen Stil. Dass er ihn erst bei seinem ersten Venedigaufenthalt fand, könnte angesichts seiner Pariserfahrung verwundern, erklärt sich aber aus einer bewussten Opposition gegen die aufkeimende Moderne einerseits und den herkömmlichen Akademismus andererseits. In einer Art selbstgewähltem Zeitgeistexil, als Dauergast in der ewigen Stadt Rom, lebte er so seiner Kunst klassischer Mythen, romantischer Sehnsüchte und eines realistischen Karnats. Ihn nun den herausragenden Solitär zu nennen, ginge jedoch insofern fehl, als derartige Ausnahmen – parallel zur Philosophie (Kierkegaard, Schopenhauer, Nietzsche) – durchaus die Regel einer von Geniegedanken getragenen Kultur des Bildungsbürgertums darstellten. Was Feuerbach dennoch von seinen Freunden und Konkurrenten unter den Deutsch-Römern von Rang, etwa Arnold Böcklin und Hans von Mareés, letztlich unterscheidet, ist seine unmittelbare Herkunft aus jener Geistesaristokratie, die bei den Feuerbachs seit der großväterlichen Generation auf das engste mit den Geschicken und Revolutionen der deutschen und europäischen Kultur verbunden war. Während der Großvater als Jurist und Staatsmann das Strafrecht nicht allein in Bayern revolutionierte und nebenbei das »Kind Europas«, Kaspar Hauser, in seinen Schutz nahm, galt sein Onkel Ludwig Feuerbach schon zu Lebzeiten als philosophischer Prometheus, der im Rückblick den Weg vom Deutschen Idealismus Hegels zum Historischen Materialismus eines Marx und Engels geebnet hat. Aber selbst Feuerbachs Vater, heute kaum noch bekannt, war als Altphilologe und Archäologe seinen Zeit- und Zunftgenossen eine Berühmtheit, der durch seine stilvolle Verschmelzung von wissenschaft-

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licher Präzision und literarischer Eleganz zeitweise als ein würdiger Nachfolger Winckelmanns und Lessings gehandelt wurde. Wie sich im Detail noch zeigen wird, spielen diese jeweiligen Familienbeziehungen alle ihre Rolle im Schaffen Feuerbachs. Was aber im Allgemeinen bei ihm gleichsam zur Aufführung kommt, ist ein klassisches Stück deutscher Geistesgeschichte, das uns vor Augen führt, was es mit der Kunstreligion im Wesentlichen auf sich hat, und zwar in Auseinandersetzung nicht zuletzt mit ihrem Ende. So tut man gut daran, sich in diesem Kontext nochmals die Worte Hans Beltings in Erinnerung zu rufen, als in den ersten Wendejahren die Frage nach dem Erbe einer deutschen Kunst erneut zur Diskussion stand: Die neue Kunstreligion hat bald ebenso viele Glaubenskämpfe ausgelöst wie einstmals die echte Religion. Es ging dabei nicht mehr allein um deutsche Kunst, weil schon die schiere Existenz der Kunst nach einer Rechtfertigung zu verlangen schien, die nur mit größten theoretischen Mühen zu leisten war. Auf diese Weise war man bald an dem Punkt, wo man über Kunst an sich nachdachte und sie zum reinen Begriff ihrer selbst verklärte, der oberhalb jeder nationalen Wesensart angesiedelt war. Der Begriff entlastete alle, die sich mit dem ungetrübten Kunstgenuß schwer taten, von dem Verdacht bloß sinnenhaften Verhaltens und befreite sie zum Denken über Kunst. Hier äußert sich eine deutsche Eigenart, die noch heute auf internationalen Kongressen über Kunst von Ausländern bemerkt wird.23

Was Belting im Rückblick auf das wacklige Unternehmen einer Selbstfindung deutschen Geistes in der Kunstgeschichtsschreibung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Sprache bringt, gewinnt gerade durch die Verlegenheit um eine zweifelsfreie Empirie (Deutsche Renaissance? Deutsche Gotik? Der schon wieder ›entartete‹ Expressionismus etc.) zugleich seinen ideellen, d.h. seinen nicht weniger kunstphilosophischen als kunstreligiösen Charakter. Genau diese Entlastung durch den Begriff, von der Belting spricht, scheint heute vor allem als Belastung eines Kunstbegriffs verstanden zu werden, der sich immer noch nicht von seinen früheren Kultformen lösen will. Damit ist nun nicht gemeint, dass die Brücken zwischen der Kunst und ihrer philosophischen Interpretation heute abgebrochen wären; eher das Gegenteil scheint der Fall, sodass man Arnold Gehlens Diagnose von der »Kommentarbedürftigkeit«24 zeitgenössischer Kunst mehr denn je beipflichten zu müssen meint. Worauf hier stattdessen gezielt wird, rückt jene Gestalt von Kunst-Philosophie erneut in den Blick, die im Lichte des aufsteigenden und untergehenden Autonomiebegriffs – gewissermaßen von Schiller bis Adorno – eine Wahlverwandtschaft begründete, die erst mit

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dem abrupten Wandel der Diskursbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg in Misskredit geraten sollte; jene Wahlverwandtschaft nämlich von Kunst und Philosophie, die sich in einer Synthese von Anschauung und Denken im Medium einer idealistischen Geistesgeschichte als Prozess und Resultat selbstbestimmter Persönlichkeitsbildung zugleich als Seelenverwandtschaft mit den Humanismen aller Zeiten und als Glauben an die ewige Wahrheit der kalokagathia wiederzuerkennen gibt. Dass sich auch diese Traditionslinie nicht geradehin ausziehen lässt, wie schon der kurze Seitenblick auf die Geschichte des Deutschen Idealismus aus der Perspektive einer negativen Dialektik oder auf einen allzu menschlichen Neuhumanismus mit den Augen Nietzsches belehrt, hindert hier jedoch nicht, einen weiterhin lebendigen Anspruch aufrechtzuerhalten, welcher der Kunst einen eher außergewöhnlichen Status zubilligt – und sei es auch nur, um das Maß ihres Scheiterns daran seinerseits erst ermessen zu können. Dementsprechend scheint es eher ideenlos, dem Scheitern auf eine Weise Abhilfe zu leisten, die die Ansprüche mit Verweis auf die gegenwärtigen, bereits erwähnten Umstände schlichtweg preisgibt; dagegen aber umso reizvoller, einen ungewollten Märtyrer dieser bildungsbürgerlichen Kunstreligion in den Blick zu nehmen, um an seiner Kunst und seinem Leben, den Erfolgen und Niederlagen, den Euphorien und Depressionen etwas hervorleuchten zu lassen: Solange diese Ansprüche noch Anklang finden, ist die sogenannte Kunstreligion auch in unserer Zeit noch nicht gänzlich überholt, und zwar aus dem einfachsten, ihrem innersten Grund, dass der bloße Ablauf der Zeiten noch keinen Maßstab für sie abgibt. Im Gegenteil lassen sich das Fortlaufen in die verhangenen Zukünfte des Avantgardismus nicht weniger als die willentlichen Kreisbahnen postmoderner Zeitgenossenschaft erst vor dem Hintergrund einer zeitlösenden Idealität ihrerseits als scheiternde Versuche von deren Überwindung oder Verwindung deuten. Mit anderen Worten geht es darum, die modernen Bewegungen weniger mitzumachen als selbst innezuhalten und die sich durch sie abzeichnenden Figuren und Gestalten ihrer Bewegtheit wiedererkennen zu lernen als Ideen einer allzu leicht verkannten Idealität. Was sich an und mit Feuerbach im Besonderen studieren lässt, ist dementsprechend kein Verpassen, eher ein Abpassen der modernen Kreisläufe, Diskurse, aber auch Revolutionen (im ursprünglichen Wortsinn), das sie abgleicht mit einer inständigen Gegenwart, für welche die Tradition den Begriff des nunc stans bereithält. – Stillstand also? – Es wäre schon viel gewonnen, wenn man sich in den Stand setzte, diese Stille, die kein einfaches Aussetzen eines lärmenden Betriebs ist, überhaupt zu erfahren; aber mehr noch geht es hier umgekehrt um eine andere Art des Bewegt-Seins, Bewegt-Werdens – gewis-

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sermaßen inmitten eines »rasenden Stillstands«25. Gemeint ist eine Gegenwärtigkeit, die in den Zeitläufen nicht einfach wiederkehrt, sondern die ewige Wiederkunft selbst darstellt in jedem noch so flüchtigen Augenblick. In ihr kommt etwas zum Vorschein, das in dem bezeichnenden Verhältnis eines gleichzeitigen »Bei« und »Gegen« zu den Zeitbahnen der Modernität steht und dadurch Konstellationen im Sinne Walter Benjamins sichtbar werden lässt, deren Deutung zugleich Orientierung über den eigenen Standpunkt als einen para-modernen gewährt: Während die Phänomene durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeit, ihre Differenzen Umfang und Inhalt der sie umfassenden Begriffe bestimmen, ist zu den Ideen insofern ihr Verhältnis das umgekehrte, als die Idee als objektive Interpretation der Phänomene – vielmehr ihrer Elemente – erst deren Zusammengehörigkeit zueinander bestimmt. Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich. Und zwar liegen jene Elemente, deren Auslösung aus den Phänomenen Aufgabe des Begriffes ist, in den Extremen am genausten zutage. Als Gestaltung des Zusammenhanges, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben.26

Diese »Gestaltung des Zusammenhanges« nicht aus dem Blick zu verlieren, und gerade im »Einmalig-Extremen« Konstellationen ausfindig zu machen, kennzeichnet umgekehrt ein paramodernes Selbstbewusstsein, das die ideellen, ideenhaften, idealistischen Deutungsansprüche weder fallen lässt noch überdehnt. Vielmehr tritt ihm das Aporetische in einem Übermaß entgegen wie dem Anblick des Nachthimmels die Unzählbarkeit der Sterne. Und dennoch lösen sich vor diesem Hintergrund einzelne Figuren, verdichten sich zu Mythen, werden zum Richtmaß und konfigurieren so ein überwölbendes ideelles Panorama. Das macht ihre Gegenzeitigkeit bei ihrem gleichzeitig innigen Verhältnis zu den Zeitläufen aus und erlaubt uns umgekehrt, die Kunst Feuerbachs, insbesondere sein Gastmahl des Plato, als Para-Phänomen, als bei- und nebenleuchtenden Anschein eines modernen Ideenhimmels zu deuten: In ihr kommt nicht nur ein »Einmalig-Extremes« zum Vorschein, das um die Spitzenposition unter den modernen Ismen konkurrierte, sondern ein Gesamtbild wird als Halo sichtbar. In ihm umreißt sich das gewesene und künftige Einst der Extreme, das sie ideell umspannt. Diese Idealität ist als dieselbe Spannung am Werk, die sich zu »Vertikalspannungen« (Peter Sloterdijk) aufzieht, als derselbe Halo, der gerade in den Halluzinationen eines ›Dranges zum Höheren‹ widerscheint. Seit Platons Gastmahl reizt sie den Eros zu seinen Liebesspielen zwischen Sein und Schein. Von ihm waren

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selbst die Avantgarden noch beseelt, auch wenn sie diese ›höhere‹ Aufgabe und hehren Ansprüche adventistisch in die Horizontale verlagerten, um auf Erden zu greifen, was allein am Firmament schimmert. In diesem Sinne könnte man sogar einer tiefer hängenden Moderne noch attestieren, dass ihre Entspannungsübungen – mehr als wohlgemute Erschlaffung oder leerlaufende Ertüchtigungen – einen Abglanz an sich tragen: Es nicht alles Ware, was glänzt. Schon ein bewusstes Scheitern an den eigenen Idealen ist eine wahre Kunst für sich.

1.5 Paragone der Väter Kann man in der Selbstunterbietung der Kunst gewissermaßen die Gefahren einer sich in business art und Warenästhetik totlaufenden Avantgarde und Postavantgarde erblicken, gleichsam eine Unterspannung, droht im anderen Extrem eine Überspannung des Anspruchs, indem die Kunst selbst zum Leben in einem Elfenbeinturm wird. Der Ästhetizismus des ausgehenden 19.  Jahrhunderts ist nicht von ungefähr mit einer Dekadenz assoziiert, die den Künstler, etwa bei Joris-Karl Huysmans’ À rebours oder dem frühen Stefan George des Algabal, nur als Autokraten in einem Reich imaginieren kann, das gegen alle Widerstände, auch die inneren, letztlich mit Gewalt aufrechterhalten werden muss. Das Scheitern in diesen Fällen ist nicht nur eines am äußeren Leben (oder was man allgemein darunter versteht), sondern mehr noch eines am eigenen Anspruch künstlerischer Autonomie, insofern sie gerade Freiheit von allem Zwang, auch der Gewalt der bedingungslosen Selbstbehauptung verlangte. Mit Letzterer aber schleicht sich der sklavischste und zugleich kunstfernste aller Triebe, der der Selbsterhaltung, durch die vergoldete Hinterpforte wieder ein. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Rede eines l’art pour l’art im Sinne der bürgerlichen Kunstreligion erst ihr Profil. Diese Formel selbst taucht erstmals am Anfang des Jahrhunderts, und zwar im direkten Umfeld der Weimarer Klassik auf, wie dem Tagebuch des Reisebegleiters und Lebensgefährten der Madame de Staël, Benjamin Constant, zu entnehmen ist, nachdem beide am 11. Februar 1804 Schiller einen Besuch abgestattet und sich anschließend zu einem Studium kunstphilosophischer Schriften von Kant und Schelling zurückgezogen hatten. So notierte Constant: »L’Art pour l’Art est sans but; tout but dénature l’Art.«27 Die Kunst dient von sich aus keinem ihr fremden Zweck. Wie Ullrich zu Recht herausstellt, meinte diese Wendung aber ebenso wenig eine Denaturierung im anderen, ästhetizistisch-extremistischen Sinne einer »Abkapslung, Gleichgültigkeit gegenüber der ›anderen‹ Welt und den in ihr herrschenden Bedürfnissen. Für die

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Philosophen des Deutschen Idealismus hingegen folgte aus der ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹«, wie es Kant in seiner Kritik der Urteilskraft formuliert hatte, »im Gegenteil eine gesteigerte Wirksamkeit – und damit gesellschaftliche Relevanz – der Kunst«, nämlich als ästhetische Erziehung zur Autonomie im Sinne Schillers.28 Dass das Programmwort des l’art pour l’art danach wahrscheinlich erstmals durch den Hegelkenner und -übersetzer Victor Cousin Eingang in den öffentlichen Diskurs, und zwar in Frankreich gefunden hat, 1818 anlässlich einer Vorlesung und 1836 durch deren Publikation, lässt nicht nur die französische Rezeptionslinie von Théophile Gautier über Charles Baudelaire bis Stéphane Mallarmé hervortreten, sondern im Gegenzug auch den davon verschiedenen Charakter der deutschen Kunstreligion deutlicher hervortreten, die selbst noch in Nietzsches Tragödienschrift im Grunde eine Ethik im Sinne eines Ethos ist. Was im Ästhetizismus am Ende gleichsam als Betäubungsmittel gegen die Moderne zur Anwendung kam, die Kunstautonomie, diente am Anfang des 19. Jahrhunderts noch zur charakterlichen Stärkung. Die Rede vom Scheitern am Anspruch der Kunstreligion bezieht sich somit nicht allein auf die ästhetische Autonomie des Kunstwerks, sondern erstreckt sich gleichermaßen auf einen Lebensentwurf im Geist der Weimarer Klassik sowie dessen Aufnahme im Deutschen Idealismus und der Frühromantik in Jena. Dass es primär diese, und man müsste präzisieren: literarisch-philosophische Kunstreligion war, der Feuerbach sein ganzes Leben lang anhing (auch wenn er gegen Ende dem Dandyismus persönlich nicht fernstand), hat auch einen Grund darin, dass seine Familienbande bis an diesen Ort und in diese Zeit zurückreichen. So war es der buchstäbliche Groß-Vater Feuerbachs (in familiärer, ideeller, aber auch psychologischer Hinsicht), der an der Universität Jena ab 1792 bis 1802 nicht nur seine Studienjahre zubrachte, sondern daselbst, zuletzt als doppeltpromovierter Philosoph und Jurist eine außerordentliche Professur für Lehnsrecht bekleidete.29 Das hatte von sich aus zur Folge, dass er in den kleinen Verhältnissen vor Ort geradezu alle Geistesgrößen aus nächster Nähe kannte und, nachdem er es selbst zum Appellationsgerichtspräsidenten in Ansbach samt persönlicher Nobilitierung gebracht hatte, auch von allen noch gekannt wurde. Entsprechend wuchs auch der gleichnamige Vater Anselms, der Liebling unter den acht Geschwistern und von den Talenten her begabteste Sohn des Großvaters, gleichsam unter den Augen der gelehrten Öffentlichkeit auf. Dass ihm bei gleichen geistigen Anlagen jedoch eine solche Karriere wie die seines Vaters verwehrt blieb, er stattdessen zunächst als Professor am humanistischen Gymnasium in Speyer und später als relativ minderbegüterter Professor an der Universität Freiburg sein Leben fristete, hat wiederum mit einem doppelten Erbe

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seines Vaters zu tun, das wie ein Fluch auf der gesamten Familie lastete, sich auf die Familienangehörigen jedoch unterschiedlich auswirkte: Zum einen ist es ein geradezu sprichwörtliches feuer-bachartiges Wesen, das als Wechsel von himmlischen Hochgefühlen und höllischer Zerknirschung oder in psychologischer Terminologie: von Manie und Depression die einzelnen Lebensläufe bewegte (siehe die »Familienaufstellung« am Anfang dieses Kapitels). Zum anderen aber wog dieses Schicksal besonders schwer auf den Schultern des Erstgeborenen, der in der denkbar zerfahrenen Familiensituation eines in aller Öffentlichkeit fremdgehenden Vaters sich darum Abb. 4: Anonym, Paul Johann Anselm Ritter bemühen musste, die Interessen sei- von Feuerbach, undatiert: Lithografie nach ner Geschwister und leiblichen Mutter dem Gemälde von Johann Lorenz Kreul, gegenüber dem zweiten väterlichen gedruckt von Selb. Stadtarchiv Ansbach. Hausstand samt der Geliebten und zwei unehelichen Halbgeschwistern zu vertreten. Zu einem wirklichen Aufbegehren kam es nie, auch der ansonsten kampfeslustige Bruder Ludwig brach zu keiner Zeit endgültig mit seinem Vater, wohingegen dessen Launen bisweilen gänzlich außer Kontrolle gerieten.30 Dass der Großvater (Abb. 4) zu allem Überfluss nicht nur die befreiende Heirat zwischen seinem Ältesten und der leiblichen Mutter unseres Malers, Amalie Keerl, mit Wohlgefallen betrachtete, sondern gleichermaßen diese selbst, dürfte die Lage nicht besser gemacht haben; ist aber in einer anderen Hinsicht noch interessant, die eher das geistige Klima der Familie betrifft: Zum frühen Tod der nach einer glimpflich überstandenen Geburt des Malers Feuerbach zuletzt doch an Schwindsucht verstorbenen Mutter äußerte sich der Großvater gegenüber seinem Sohn mit den Worten: »Lieber armer Anselm! Besorge nicht beim Anblick dieser Zeilen, daß ich komme, Dich zu trösten, der ich selbst des Trostes bedürfte. Der Engel, der eine kurze Strecke Dich durch das Leben begleitete, ist nicht bloß Dir gestorben.«31 Dass es sich dabei nicht nur um eine verunglückte, im schlimmsten Sinne trostlose Rhetorik handelt, wird am Ende desselben Briefes deutlich:32

1.5 Paragone der Väter

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»Als ich im verwichenen Frühjahr bei Euch war und die sich stets gleiche gottergebene Heiterkeit Amaliens nach dem unmittelbar vorher erlittenen Verlust der geliebten Schwester bewunderte, da erschien sie mir ein übermenschliches Wesen, und ich dachte damals und späterhin noch öfter bei mir im Stillen, was ich mir, wenn so diese Gedanken unwillkürlich kamen, als Aberglauben wieder auszureden suchte.«33 Sprechend sind diese Zeilen, weil sie zu den wenigen Dokumenten gehören, die uns ein Charakterbild von Feuerbachs leiblicher Mutter verschaffen, ein Bild, das uns – nach der Einschätzung anderer Zeitgenossen wie der Forschung – Amalie als Inbegriff einer ›schönen Seele‹ und durch gewisse äußerliche Ähnlichkeiten gerne auch als romantische Seelenverwandte von Novalis’ jung verstorbener Verlobten vorstellt.34 Wenn also von Anspruch und Scheitern der Kunstreligion die Rede ist, erweisen sich diese mit dem Zeitgeist einherwandelnden, zwischen Himmel und Hölle wankenden Gemüter der Familie Feuerbach als mit allen Wassern gewaschen, allen Feuern gebrannt, endlich mit allen Ölen gesalbt. Sie haben sich der idealistischen Kunstreligion buchstäblich mit Leib und Seele verschrieben, sodass nicht zuletzt auch das persönliche Schicksal des Malers gleichsam als ein Mikrokosmos dieses vergeistigten Makrokosmos verstanden werden kann. Wenden wir unseren Blick auf diesen selbst, gilt es jedoch einen wesentlichen Unterschied zu beachten: Bei einem ererbten Temperament, das es ihm persönlich und seinen Mitmenschen zwar nicht gerade leicht, aber niemals unmöglich gemacht hat, seine Ambitionen zu verfolgen, scheint sein Scheitern nochmals von anderer Art gewesen zu sein als das seines Vaters. Ferner genoss er zu Lebzeiten nie dasselbe unangefochtene Ansehen, wie es die Zeitgenossen, wenn auch bisweilen zähneknirschend noch dem Großvater entgegengebracht hatten. Haben wir es bei ihm also überhaupt mit einem tatsächlichen Scheitern, und überdies mit einem Scheitern repräsentativ für die idealistische Kunstreligion zu tun? Wie Sigrun Paas zu seinem 175. Geburtstag treffend resümierte, kann ein ›Verkanntwerden‹ nicht gleichbedeutend mit einem ›Scheitern‹, jedenfalls nicht mit dem Scheitern seines Werkes an der ablehnenden Umwelt, gleichgesetzt werden […]. Feuerbach ist schlechtenfalls gescheitert in seinem Streben nach Geld, Reichtum und Unabhängigkeit, nicht einmal aber in seiner Ruhmsucht selbst, denn seine Berufung nach Wien – die er persönlich löste, weil er es nicht ertrug, sich mit der Bürokratie einzulassen – oder seine mögliche Berufung als Akademiedirektor nach München zeigen, dass sein Name und sein Werk sich im Bewusstsein der Kunstszene schon zu seinen Lebzeiten verankert hatten, wie im-

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1 Vater unser

mer auch die Kritik auf seine Bilder reagierte, trotz seiner langen Abwesenheit in Italien, und wegen des unermüdlichen Wirkens seiner [Stief-]Mutter für ihn. Freilich konnte er nicht den Triumph eines Makart oder Piloty auskosten, doch hat dies mit der inneren Konsequenz seines Werkes, von der er immer überzeugt blieb, nichts zu tun.35

Die für sein künstlerisches Schaffen wesentliche Entscheidung, sich in Rom niederzulassen, und zwar zu der Zeit, als der Wellenkamm der Nazarener schon gebrochen war und ihr Personal stattdessen in die deutschen Kunstakademien zurückflutete, mochte seine Chancen in der Heimat nicht gerade erhöht haben. Dennoch lag es in der erwähnten »inneren Konsequenz seines Werkes«, sein im Grunde humanistisches Bildungsprogramm an der Quelle zu verjüngen und der übernommenen Kunstreligion vor Ort seinen Dienst zu erweisen. Von einem Scheitern in äußerlicher Hinsicht kann also kaum die Rede sein. Aber auch das Verkannt-Sein scheint nur ein leidlich besserer Begriff, da bei allen launigen Selbstzweifeln Feuerbachs zuletzt eher die Befürchtung oder auch die Klage den Ton angibt, es sei der Zeitgeist, nicht er, der seine Ideale verrate. Verkannt scheint also eher seinerseits die ihm bereits gezollte Anerkennung seiner Zeitgenossen, wo sie nicht die eigenen, der Sache nach hochfliegenden Erwartungen erfüllte. Aber mit dem Bewusstsein des Möglichen wächst zugleich das des Unmöglichen. Was Feuerbach seinen Vätern letztlich voraushaben sollte, ist die Einsicht in die Vergeblichkeit des kunstreligiösen Anspruchs, der dadurch schon wieder an Zuversicht gewinnt, dass er sich weder von selbst verwirklicht noch überhaupt nicht verwirklichen lässt, sondern als eine Frage des Zeitgeistes nur mit der Insistenz auf die eigene Existenz beantwortet werden kann, insbesondere wo man sich in einer gewissen Distanz oder gar Opposition zu ihm wiederfindet. Mit anderen Worten geht es darum, die Enttäuschung und Ernüchterung ihrerseits daran scheitern zu lassen, dass man etwas mit der Kunst fertigzubringen vermag und sei es auch ihr Ende. Das kann aber erst in dem, einem paramodernen Bewusstsein geschehen, dass man nicht mehr an eine bestimmte Zukunft glaubt, sondern nur noch mit irgendeiner Zukunft rechnet, die vielleicht, unerwarteter und unwahrscheinlicher Weise eins mit der eigenen, schon gelebten Gegenwart werden könnte – oder eben auch nicht. Sich stattdessen um die eigenen Ansprüche zu bringen, sei es auch nur um den Burgfrieden mit den Zeitgenossen zu wahren, verwechselt das Nachgeben mit der Hingabe, nachlässige Heteronomie mit gelassener Autonomie. Nennen wir es die Aufgabe der Vergeblichkeit oder den paramodernen Glauben an die Kunstreligion.

1.5 Paragone der Väter

39

So lässt sich schon der junge Düsseldorfer Student gegenüber seinen Eltern vernehmen: Es tauchen mir oft wunderliche Ideen auf, Träume, Phantasien, ich fürchte mich vor der Nüchternheit und Hohlheit, die die jetzige Welt regiert, man muß sich zurückflüchten zu den alten Göttern, die in seliger, kräftiger, naturwahrer Poesie den Menschen darstellen, wie er sein sollte; in die Zukunft flüchten geht auch nicht, denn welche Zukunft steht denn unseren Geld- und Maschinenmenschen bevor; man könnte Heilige malen, allein die sind jetzt so fade wie faule Äpfel; man kann sie malen, aber nur keine schmachtenden Engel, keinen blondgelockten, gekräuselten Christus als Opferlamm […].36

Es sind die Worte eines Sechzehnjährigen aus bildungsbürgerlichem Haus, der noch seinem Heimweh nachgibt; und doch spricht aus ihnen zugleich ein paramodernes Bewusstsein, das letztlich weniger vor der Gegenwart flüchtet als sie in Augenschein nimmt und abwägt, um sie für zu leicht zu befinden. Ähnliches verlautet auch noch aus den Aufzeichnungen der 1870er Jahre, etwa wenn Feuerbach der deutschen Kunstkritik vorhält: Der einzige wahre Kritiker ist der gebildete Künstler selbst. […] Bezahlte & unbezahlte Kritiker sind aufdringliche Dolmetscher ihres eigenen Ichs. Um gute Kritiker zu sein, müssten sie denselben langen mühseligen Bildungsweg eines Künstlers gehen und wenn sie ihn gegangen wären, würden sie, anstatt zu schwätzen od. zu schreiben, selbst produciren müssen od. würden, wenn das Talent mangelt – das Maul halten, was überhaupt das beste bei Betrachtung eines Kunstwerkes ist.37

Durch alle bittere Polemik hindurch formuliert sich auch hier noch ein Anspruch, der sich gerade nicht gemein machen will mit den geschmeidigen Selbstverständlichkeiten des Alltags, auch nicht seinen aparten Gefälligkeiten oder beiläufigen Beobachtungen. Es ist nicht der zufällige Anblick, den die Leinwand fixiert, vielmehr die erklommene Aussicht eines langen Bildungsweges, dessen Kritik, wo sie taugt, doch zu nichts anderem führt als zu diesem stillen Verweilen – einem Verweilen, das die Worte nicht mit autoritärer Gewalt abschneidet,38 sondern auf andere Weise tatsächlich zum Schweigen bringt, indem es sie gleichsam zu ihrer eigenen inneren Stille zurückführt, indes alles Gerede sich erübrigt. Es ist also letztlich nicht ein Geniegebaren, das auf Überraschung oder Übertölpelung zielt,

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1 Vater unser

sondern vielmehr eine Einladung dazu, das Lautlose nicht zu überhören, das Unsichtbare nicht zu übersehen und das Erinnern nicht zu vergessen. Doch klingt das nicht allzu sehr wie eine ›Andacht zum Kleinen‹, wie ein die eigenen Ursprünge verklärendes Epigonentum (ohne Adalbert Stifter damit Unrecht tun zu wollen)? – Stempelt es zumindest Feuerbach letztlich nicht zum Spätgeborenen einer Kunstreligion, an der man festhält wie an der eigenen Familiendynastie? Gustav Radbruch, der Staatsmann und Rechtsphilosoph, der über den Großvater der Feuerbachs die bis heute gültige Biographie verfasst hat, drückte das an anderer Stelle einmal so aus: »Segen und Unsegen der dritten Generation wirken sich in Anselm Feuerbachs Kunst darin aus, daß sie weniger auf ›Urerlebnis‹ beruht als auf ›Bildungserlebnis‹: es ist schon ein vorgeformter Stoff, den Feuerbach in malerischer Form gestaltet.«39 Erik Jayme hat schon mit Verweis auf Feuerbachs Lehrjahre in Paris dagegen Einspruch erhoben40 und wir haben die bewusste Entscheidung für das Zeitgeistexil betont. Aber fragen wir unsererseits hier nach dem »Segen« des Nachgeborenen. Einmal davon abgesehen, dass die leiblichen Väter zwar die Söhne machen, aber erst die Söhne die ideellen Väter: Ist es nicht gerade die Anreicherung von »Urerlebnissen« mit ihrer Wirkungsgeschichte, die aus singulären Ereignissen in einer wiedererkennenden Wiederholung und Differenzierung jene Bildungsereignisse erst zu schaffen vermögen, welche die Flüchtigkeit des Augenblicks zu jener Ewigkeit des Einst verdichten, zu einer zeitenlösenden anamnesis der Gegenwart? – Man könnte es als eine Versöhnung der Väter im Enkel beschreiben, was den Epigonen Feuerbach, wenn das Wortverwirrspiel erlaubt ist, als »Paragonen«, als Prüfstein und Beigeborenen, von Kunst, Religion und Philosophie innerhalb der deutschen Bildungstradition erscheinen lässt. Was sich derart zusammenfügt nicht ohne Spannungen, hat auch in seinem Werk Ausdruck gefunden, ist Konstellation geworden, allen voran im Gastmahl des Plato.

1.6 Eros am Werk Das Gastmahl des Plato, nacheinander in zwei Fassungen 1869 und 1873 ausgeführt, galt Feuerbach selbst als sein wichtigstes Werk. Seine lange Vorgeschichte voll von Enttäuschungen, aber auch Verheißungen, hat schon vielerorts eine ausführliche Darstellung gefunden. Im Resümee ist es die Geschichte eines sich über Jahre hinziehenden Kompositionsprozesses, der sich ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Werkentwurf verdichtet, von dem nur noch das Wie, nicht

1.6 Eros am Werk

41

mehr das Dass seiner Realisierung fraglich bleibt. Dass Feuerbach sein Vorhaben letztlich trotz der schwierigen Finanzierungslage umsetzt, bestätigt nur den Eindruck, der sich rasch beim Lesen einschlägiger Passagen einstellt. So heißt es an einer Stelle: »Wäre das Gastmahl nicht, so könnte ich glücklich sein; aber es macht sich breit und drängt sich vor und verengt in mir das Denken. Es nährt sich von meinem Herzblut und greift mir ins innerste Leben. Wenn ich an das Machen auf der Leinwand denke, so ist das die pure Seligkeit.«41 In feuer-bachscher Manier, sogar noch stärker schwankend von einem Satz zum nächsten, sehen wir Feuerbach (in den Augen Henriettes) mit seiner Idee wie Jakob mit dem Engel ringen. Und er sollte gesegnet werden, wenn auch erst nach Jahren der Auseinandersetzung: »Das große Bild ist tadellos, aber es braucht den vollen Übermut der Existenzfreudigkeit. Ich kann den Maler vom Menschen nicht trennen, so warten wir eben ab.«42 Was er schon im Januar 1861 als sein »Denkmal«43 angekündigt hatte und was er während der zwar finanziell auskömmlichen, aber künstlerisch dürftigen Jahre im Dienst des Grafen Friedrich Adolf von Schack als Wende herbeisehnte, kam letztendlich doch zustande: Am 16. April 1869 signierte er das Gemälde44 und meinte, sich mit ihm verewigt zu haben. Er sollte zumindest in der Hinsicht Recht behalten, dass auch die Nachwelt es als ein Hauptwerk der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts einstuft, das nicht nur durch sein Format, sondern auch durch sein Sujet Aufmerksamkeit heischt. Wie der für den Laien eher missverständliche Name anzeigt, geht es nicht um ein historisches oder mythisches, sondern um ein literarisches Ereignis, den platonischen Dialog Symposion aus dem ersten Viertel des vierten vorchristlichen Jahrhunderts. Also um ein fiktives Ereignis? – Nicht ganz. Wie die Rahmenhandlung des Dialogs selbst suggeriert, haben wir es mit der Schilderung eines tatsächlichen, historisch ausweisbaren Zusammentreffens einer Männergruppe der attischen Oberschicht zu tun, die nach der siegreichen Teilnahme des Gastgebers Agathon am alljährlichen Tragödienwettbewerb der Dionysien des Jahres 416 v. Chr. der Einladung gefolgt sind, sich am nächsten Abend zwecks eines Umtrunks bei ihm einzufinden. Gegenstand des Dialogs selbst aber sind die gehaltenen Reden, darunter auch eine des Sokrates, die allesamt um die Frage nach dem Erotischen, insbesondere der Knabenliebe kreisen, um dem Gott Eros zu huldigen. Nimmt man zunächst auch nur diese Aspekte wahr, wird bereits deutlich, dass neben literarischen auch mythische, ebenso historische, aber auch philosophische Momente zum Tragen kommen, die nicht ohne weiteres voneinander zu trennen sind. All diese Aspekte sind wiederum kennzeichnend für jene von Pla-

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1 Vater unser

ton selbst zur Meisterschaft gebrachten Meta-Gattung des philosophischen Dialogs, der Momente aller anderen literarischen Gattungen und Metiers (Mythos, Rhetorik, Tragödie, Komödie, Satyrspiel, Lyrik, Epik etc.) in sich ›aufhebt‹. Es gibt kein besseres Wort als Aufhebung in diesem Kontext, weil dieser Begriff, wenn auch nicht namentlich, im platonischen Symposion erstmals eingeführt wird, indem Platon zugleich die Frage verhandelt, in welchem Verhältnis die Reden und Redeweisen zum philosophischen Dialog, zum philosophischen Logos überhaupt stehen. Das geschieht dabei jedoch nicht in Redewechseln, wie man sie sonst von Platon kennt, sondern in einem ausgesprochen literarisch-künstlerischen, geradezu performativen Setting, in dem die meisterhafte Dramaturgie auf eben jenen Augenblick zusteuert, den Feuerbach in seinem Werk festgehalten hat: Die unerwartete Ankunft des Alkibiades unter den soeben von Sokrates’ Beitrag in Bann geschlagenen Zuhörern. Bezeichnenderweise hatte Sokrates kurz zuvor noch einen quasi-mythischen Bericht von seiner Einweihung in die Geheimisse des Eros durch die mysteriöse Priesterin Diotima gegeben, um nun zu einem sokratischen Gespräch mit Aristophanes anzusetzen – doch die musizierende, singende und tanzende Horde um den berauschten Schönling platzt ihm mittenrein. Vorgeführt finden wir also schon bei Platon ein besonderes Spannungsverhältnis, das zwischen den Polen der Kunst und der Philosophie waltet und dabei auf suggestive Weise die Frage nach der Wirklichkeit der Ereignisse aufwirft, einer Wirklichkeit, die sich sowohl inhaltlich als auch formal mit der Gegenwart des Schönen verbindet. Denn es geht um elementare Fragen, die auch die Philosophie in ihrem Wesen berühren: Was ist Schönheit? Wer ist Eros? Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Und welche Rolle spielt dabei das dichterische, mythische, philosophische Sprechen? – Was der platonische Dialog des Gastmahls dabei jedoch nicht direkt zu zeigen vermag, wird stattdessen von Feuerbach ins Werk gesetzt: die körperlich-bildliche Gestalt, die künstlerische Vergegenwärtigung des Schönen und des Eros und nicht zuletzt die Wirklichkeit der Idee, des Ideals in Auseinandersetzung mit ihrem Ursprung im platonischen eidos als Gesehenem, als Gesicht. Schon aus dieser Perspektive kommt zum Vorschein, was die Idee Feuerbachs gewesen sein dürfte, dieses Sujet zu ergreifen. Nicht anders verhält es sich auch in unserem Fall, wenn es darum geht, sich vom Begriff und Wesen der Kunstreligion ein Bild zu machen. Einfach gesagt: Feuerbachs Gastmahl des Plato ist dieses Bild. Eine Auseinandersetzung mit ihm verspricht darum zugleich mehr als etwa seine bloße Einordnung in das Œuvre Feuerbachs oder eine Bestandsaufnahme der Historienmalerei zu Anfang des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts; sie entspricht einer Aufarbeitung und Neusichtung, sagen wir mit Platon: einer

1.6 Eros am Werk

43

Wiedererinnerung der Kunstreligion. – Ob sie in diesem Zuge erneut lebendig wird oder sich in allen Ehren endgültig verabschiedet, wird erst die Auseinandersetzung selbst zeigen können. An dieser Stelle kann zunächst nur der Blick dafür geschärft werden, dass Feuerbachs Gastmahl des Plato gleichsam die Summe dessen bildet, womit auch heute noch zu rechnen ist, wenn es um die Frage geht: Kunstreligion oder Design? Wir werden im Einzelnen noch sehen, wie sich die Geschicke der Kunstreligion mit Feuerbachs Gastmahl des Plato auf direkte und indirekte Weise verknüpfen, angefangen etwa bei Winckelmanns platonischem Klassizismus, fortschreitend über Nietzsches anti-sokratischen Ästhetizismus und noch weit darüber hinaus. Nur eine Episode mag an dieser Stelle noch verdeutlichen, wie nah beieinander Anspruch und Verhängnis der deutschen Kunstreligion, aber auch Bekanntheit und Verkanntheit ihrer Motive in der Wirkungsgeschichte dieses Gemäldes liegen. Daniel Kupper hat sie pointiert zusammengefasst: In der Zeit des Nationalsozialismus betrachtete die offizielle Kunstgeschichte Feuerbachs Werk als deutsches Kulturgut, das sich nahtlos in eine deutsche Tradition seit Albrecht Dürer einreihen ließ. […] Adolf Hitler beanspruchte sogar Feuerbachs erste Fassung des Gastmahls für sein Zimmer in der Reichskanzlei. Im Auftrag Hermann Görings wurde das Gemälde nach Berlin verbracht. Allerdings gelang es dem späteren Direktor der Karlsruher Kunsthalle, Kurt Martin, durch einen gezielten Hinweis auf den anfechtbaren Lebenswandel des Alkibiades diesen ›Kunstraub‹ in letzter Minute zu verhindern. Hitlers Abneigung gegen Homosexualität führte dazu, daß das Bild sofort wieder nach Karlsruhe geschickt wurde.45

Es ist anzunehmen, dass es an solch prominenter Stelle das Ende des Zweiten Weltkriegs nicht überlebt hätte. Hieran mag man zumindest schon erahnen können, inwiefern die Dreifaltigkeit des Wahren, Schönen und Guten, wie sie uns sowohl in Platons Symposion als auch Feuerbachs Gastmahl durch Sokrates, Alkibiades und Agathon entgegentritt, ihre Unsterblichkeit, bei allem Überschwang und Elend, letztendlich der Dämonie eines findigen Bedürfnisses verdankt: dem Geschick des Eros – in Gestalt seiner Anhänger.

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1 Vater unser

Warum huldigest du, heiliger Sokrates, Diesem Jünglinge stets? kennest du Größers nicht? Warum siehet mit Liebe, Wie auf Götter, dein Aug’ auf ihn? Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste, Hohe Jugend versteht, wer in die Welt geblickt, Und es neigen die Weisen Oft am Ende zu Schönem sich.46

Anmerkungen 1

Vgl. Hans-Martin Sass: Ludwig Feuerbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1978, S. 7.

2

Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke, Bd. 12: Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken veröffentlicht von seinem Sohne Ludwig Feuerbach, hg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1976, S. 32.

3

Vgl. Sass: Ludwig Feuerbach a. a. O., S. 7.

4

Anselm Feuerbach: Nachgelassene Schriften in vier Bänden, erster Band: Anselm Feuerbach’s Leben, Briefe und Gedichte, hg. v. Henriette Feuerbach, Braunschweig 1853, S. 22.

5

Hermann Uhde-Bernays (Hg.): Henriette Feuerbach. Ihr Leben in ihren Briefen, Berlin/ Wien 1913, S. 70 [= HFB im Folgenden].

6

Zitiert nach Theodor Spoerri: Genie und Krankheit. Eine psychopathologische Untersuchung der Familie Feuerbach, Basel/New York 1952, S. 46.

7

G. J. Kern/Hermann Uhde-Bernays (Hg.): Anselm Feuerbachs Briefe an seine Mutter. Zwei Bände, Berlin 1911, hier Bd. I, S. 113 [= AFB I oder II].

8

AFB I, 382 f.

9

AFB II, 208.

10 Andy Warhol: The Philosophy of Andy Warhol (From A to B. & Back again) New York/ Orlando 1975, S. 92. 11

Vgl. Wolfgang Ullrich: An die Kunst glauben, Berlin 2011, S. 65: »Sosehr [sic!] die Erhabenheit des Kunstmarktes als Verfallsform einer echten Transzendenz erscheinen mag, die die Kunst einmal zu schaffen vermochte, so sehr zeugt es also zugleich von wohltuend erlösungsunbedürftigen Verhältnissen, dass man sich mit so wenig begnügt. Wie glücklich muss eine Gesellschaft sein, in der eine ›ars abscondita‹ selbstverständlich geworden ist? […] In der es gleichgültig ist, ob man an die Kunst glaubt oder ob man einfach vergessen hat, noch etwas von ihr zu erwarten?« — Oder in der man eher vergessen hat, dass man im Grunde immer noch an sie glaubt …

12

Richard Rorty: Contingency, Irony, and Solidarity, Cambridge 1989.

13

Wolfgang Ullrich: Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst, Berlin 2012.

Anmerkungen

45

14

Ebd., S. 62 f.

15

Ebd., S. 65.

16

Vgl. David Hopkins: »Sameness and Difference: Duchamp’s Editioned Readymades and the Neo-Avant-Garde«, in: Avant-Garde/Neo-Avant-Garde, hg. v. Dietrich Scheunemann, Amsterdam/New York 2005, S. 92—107, bes. S. 104 f.: »Duchamp’s editioned readymades literally mimic the processes of artistic commodification. He commodifies his own previous critique of the commodity form in its relation to art — whilst preserving, courtesy of the ›infra-thin‹ thematics of the relation between cast and mould, an ironic distillation of the artistically ›unique‹. To that extent critique inheres in the very signifiers of capitulation. Difference is installed in sameness.« — Allein, welche »difference«? Die Differenz des »infra-thin« in der »sameness« ist selbst keine andere als die einer wahrhaft vollendeten Kunst des Marketings. Warum glauben wir aber, dass ein Konzept wie das »infra-thin« als künstlerische Differenz, das sich gerade gar nicht mehr von der realen kommerziellen Praxis unterscheidet, ja, sie sogar kreativ neu erfindet, per se schon ein kritisches sein muss? — Weil wir trotz allem abschwören und gerade in diesem Schwören noch an die Kunstreligion glauben?

17

Wolfgang Ullrich: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt a.  M. 2005, S. 250 f.: »Im Unterschied zu anderen ›Ende der Kunst‹-Proklamateuren wird Danto nicht Opfer eines überzogenen Kunstbegriffs, an dem gemessen fast alles, was an Kunst entsteht, als gescheitert oder dürftig erscheinen muß. Er geht nicht von einer idealisierten Vergangenheit aus, sondern analysiert die Debatten und Vorgänge der gegenwärtigen Kunstwelt. Daß er dort eher philosophische als künstlerische Fragen verhandelt sieht, […] belebt […] einen uralten Paragone zwischen Kunst und Philosophie: Seit Platon neigten Philosophen dazu, die Kunst entweder zu überschätzen und dann als das große Andere […] zu mystifizieren — oder aber zu bagatellisieren. Folge einer Überschätzung […] sind kulturkritische Diagnosen eines ›Ende der Kunst‹, Ausdruck einer Bagatellisierung ist es hingegen, wenn Danto zu derselben Diagnose gelangt. Es stellt nämlich eine Verkürzung dar, wenn er so tut, als sei die Kunst der letzten Jahrzehnte vornehmlich dazu geeignet gewesen, die Frage nach dem Wesen der Kunst zu stellen. Schon die Pop-art […] hat genauso dazu beigetragen, die Konsumgesellschaft, die Massenmedien oder die Mechanismen der Mythisierung und des Starkults zu erhellen, auch wenn sie — zugegeben — dazu eher die Impulse lieferte […]. Dennoch: Die Fragen, die von der Kunst eröffnet werden, sind vielfältiger, als es Dantos Aussagen vermuten lassen.«

18 Ebd. 19

Vgl. Friedrich Schiller: Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Sämtliche Werke, München 2004, Bd. V., S. 570—669, insb. S. 572: »[D]ie Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschriften empfangen. Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Idol der Zeit, dem alle Kräfte fronen und alle Talente huldigen sollen.«

20 Vgl. ebd., S. 667 ff. 21

Ebd., S. 572.

22 Ebd., S. 669.

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23 Hans Belting: Die Deutschen und ihre Kunst. Ein schwieriges Erbe, München 1992, S. 74 f. 24 Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a. M. 1960, S. 16 ff. 25 Paul Virilio: Rasender Stillstand. Essay, München 1992. 26 So Walter Benjamin in seiner »Erkenntniskritischen Vorrede« zum Ursprung des deutschen Trauerspiels (ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I, 1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, S. 207—430, hier S. 214 f.). 27 Vgl. hierzu und im Folgenden das Kapitel »L’art pour l’art. Die Verführbarkeit eines ästhetischen Rigorismus« in Ullrichs: Was war Kunst? a. a. O., S. 124 ff. 28 Ullrich (ebd. S. 125) hingegen fährt an der zitierten Stelle fort mit den Sätzen: »Was auf nichts Bestimmtes festgelegt ist, kann überall einspringen und universal als Joker fungieren. Für jeden Rezipienten und in jeder Situation gibt sich das Kunstwerk anders; es vermag jeweils da zu helfen, wo die Not am größten ist.« — Das ist nicht falsch, scheint jedoch zu einseitig auf das Objekt des Kunstwerks bezogen und unterschlägt den damit einhergehenden Bildungseffekt einer Autonomisierung auf der Subjektseite. 29 Vgl. Eberhard Kipper: Johann Paul Anselm Feuerbach. Sein Leben als Denker, Gesetzgeber und Richter, Köln/Berlin/Bonn/München 1989, S. 18 ff. 30 So wird etwa von einem Wutausbruch des Vaters mit gezücktem Degen berichtet, vor dem sich die Kinder nur noch aus dem Fenster retten konnten. Die nüchterne Bilanz dieses Verhältnisses zog Henriette Feuerbach in der Biographie ihres verstorbenen Gatten: »Die Autorität des Vaters war eine große und völlig unbestrittene. Möglich, daß sie nicht immer so günstig einwirkte, als man von so viel Geist, Erfahrung und vorsorglicher Liebe erwarten durfte. Die Söhne hatten nicht Zeit, für sich selbst zu prüfen und zu wählen, ehe des Vaters allumfassende Uebersicht schon Alles geordnet und bestimmt ihnen vorlegte. Es blieb nichts übrig, als ohne Schwanken und Besinnen den angewiesenen Fußstapfen zu folgen. […] Die eigenthümliche Mischung von tiefster Hochachtung, Zärtlichkeit und zugleich ängstlicher Furcht […] hat auf Anselm nicht immer wohltätig gewirkt. Sein weiches und nur allzuleicht an sich selbst verzagendes Gemüth hätte vielleicht eher der Bildung und Stärkung des eigenen Willens bedurft, um zum Widerstande gegen seine krankhaft gereizte Fantasie die nöthige Kraft zu gewinnen.« (Henriette Feuerbach (Hg.): Anselm Feuerbach’s Leben, Briefe und Gedichte, a. a. O., S. 15) 31

Ebd., S. 48.

32 Aber auch der Aufmunterungsversuch (ebd., S. 49): »Lebe indessen wohl, d.h. ertrage mit männlicher Fassung Dein hartes Geschick. Dignum Deorum spectaculum vir fortis mala cum fortuna«, hat es in sich, handelt es sich bei diesem Blindzitat aus Senecas Schrift De providentia doch um einen Ausspruch, zu dessen Veranschaulichung gerade ein heroischer Selbstmord (der Catos) gepriesen wird (vgl. Seneca: Schriften zur Ethik. Die kleinen Dialoge. Lateinisch-Deutsch, hg. u. übers. v. Gerhard Fink, Düsseldorf 2008, S. 12). 33 Ebd., S. 50. 34 So Spoerri, Genie und Krankheit, a. a. O., S. 45. 35 Sigrun Paas: »Gedanken zum ›Vermächtnis‹ von Anselm Feuerbach«, in: Zum 175. Geburtstag von Anselm Feuerbach (1829—1880), hg. v. Stadtverwaltung Speyer, Speyer 2006, S. 9—37, hier S. 27. 36 AFB I, 93 — Brief vom Juli 1846.

Anmerkungen

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37 Daniel Kupper (Hg.): Anselm Feuerbachs ›Vermächtnis‹. Die originalen Aufzeichnungen, Berlin 1992, S. 160. 38 Vgl. Ullrich: Tiefer hängen, a. a. O., Kap. 1: Vor dem Fürsten, S. 13—32. 39 Gustav Radbruch: Die Feuerbachs — Eine geistige Dynastie, in ders: Gesamtausgabe, Bd. 6, Heidelberg 1997, S. 348. 40 Erik Jayme: »Feuerbach und Frankreich«, in: Stadtverwaltung Speyer (Hg.): Zum 175. Geburtstag, a. a. O., S. 38—77, hier S. 39. 41 Vgl. Henriette Feuerbach (Hg.): Ein Vermächtnis von Anselm Feuerbach, Berlin 1913, S. 199 f. Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass die im Vermächtnis als aus einem Brief vom Juni 1864 entnommene Passage in der Briefausgabe von Uhde-Bernays nicht ausfindig zu machen ist. Ob es sich um einen unterschlagenen, verlorenen, verbrannten oder von Henriette untergeschobenen Brief handelt, ist aufgrund der Quellenlage darum nicht eindeutig zu entscheiden. Zur Veröffentlichungsgeschichte des von Henriette sogenannten Vermächtnis siehe bei Daniel Kupper (Anselm Feuerbachs »Vermächtnis«, a.  a.  O.) die »Einleitende Vorbemerkung« (ebd., S.  13  ff.) und Dokumentation (ebd., S. 210 ff.). Dass hier dennoch diese Stelle herausgegriffen wurde, hat mit ihrer Pointierung ähnlich klingender, aber an diversen Orten verstreuter Passagen zu tun. 42 AFB II, 217 — Brief aus Rom vom 27. Sept. 1868. 43 Vgl. AFB II, 21 — Brief vom 25. Januar 1861: »Aber früher oder später werde ich noch ein Werk machen, als Denkmal, nächstes Jahr oder längstens in zwei Jahren will ich das Symposion groß malen, und dann kann mich meinetwegen der Teufel holen, es ist alles eins.« 44 AFB II, 230. 45 Daniel Kupper: Anselm Feuerbach, Hamburg 1993, S. 123 f. 46 Friedrich Hölderlin: Sokrates und Alcibiades, in: ders. Sämtliche Werke, Bd. I,1, hg. v. Friedrich Beißner, Stuttgart 1946, S. 260.

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1 Vater unser

2 Amor marmoris oder Die Kunst der Einbildung »Was man aus Büchern und Nachdenken sich mühsam aufbaut, das Bewußtsein und Verständnis dessen, was schön ist, ich kann auch sagen klassisch, und zwar im rechten alten und guten Sinn – das ist bei ihm zur freien Tat geworden.«1

2.1 Classicität Meine Geburt, welche am so u. so vielten in Speier erfolgte, ist als ein vierfaches Unglück zu betrachten. Erstens, daß ich überhaupt geboren wurde [.] Zweitens, daß ich als wahrhaftige Künstlerseele in Deutschland das Licht der Welt erblickte. Drittens, daß gerade mein Vater ein deutscher Professor sein mußte. Und viertens, daß die Seele meines Vaters damals ein Kunstwerk, an welchem er schrieb, erfüllte und mir so zu sagen die Classicität mit der Muttermilch eingetränkt wurde, eine Classicität, auf menschlich Wahres & Großes gerichtet, die dann auch mein ganzes Leben zu einem hoffnungslosen Kampfe gegen Brutalität, Engherzigkeit & Schwatzseeligkeit gestaltete. Meine Mutter, eine stille, schöne Frau starb bald nach meiner Geburt.2

In den berühmten Anfangssätzen des ersten Kapitels von Feuerbachs Wahrheit ohne Dichtung drückt sich tatsächlich ein »Vermächtnis« aus, wie seine Stiefmutter Henriette Feuerbach nach seinem Tod die von ihm hinterlassenen Aufzeichnungen zu ›verbessern‹ wusste.3 Was zunächst als postume Verteidigung und Vermarktung Feuerbachs von Seiten der Stiefmutter gedacht war, gleichsam als Appell an die Zeitgenossen, den Propheten auch im eigenen Land endlich gelten zu lassen, – dieses Erbe, das von den folgenden Generationen zunehmend pflichtschuldig angenommen wurde, entsprach gewissermaßen schon einem

2.1 Classicität

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übernommenem, und zwar jenem, das von der vorangegangenen, namentlich der Elterngeneration auf Feuerbach übergegangen war. Die drastischen Worte dieser Eröffnung zeugen nicht allein von einem charakterlichen Hang zur Polemik in vielerlei Hinsicht, sondern spannen zugleich den Bogen einer Existenz von der Geburt bis zum mütterlichen Tod und dem eigenen Todeswunsch, einer Existenz, deren »Künstlerseele« alles andere als harmonisch gestimmt sein wollte. Man merkt es schon dem ersten Satz an, dass hier eine Hinfälligkeit das Wort führt, durch die hindurch zugleich die Botschaft vernehmbar bleibt, wider alle widrigen Umstände ein namhaftes Werk hinterlassen zu haben. Im »Vorwort 1878«, ca. zwei Jahre vor seinem Tod am 4. Januar 1880, hatte es schon geheißen: »Gegenwärthiges Bruchtheil aus meinem Leben ist im Frühjahr 1876 nach schwerer Krankheit, in der Reconvaleszenz, niedergeschrieben. Den Wenigen, welche sich die Mühe gegeben, meiner künstl. Entwicklung einige Aufmerksamkeit zu schenken, sind vielleicht diese Zeilen nicht uninteressant.«4 Und es ist die herausgekehrte Ecce homo-Geste, die zugleich verständlich werden lässt, dass Feuerbach sich berufen meinte, vor der Welt Zeugnis abzulegen von einer künstlerischen Sendung. Zwar wollte er kein Märtyrer sein, schenkt man seinen überlieferten Beteuerungen Glauben,5 aber der Rückblick auf die eigene Genese und Genesung, im Vorwort aus dem Jahr 1876 ist von einem »Selbstreinigungsbedürfniss«6 die Rede, kommt nicht ohne stilisierte Tragik aus – oder eher Tragikomik? Der Tonfall jedenfalls ist kulturpessimistisch und trifft auf zeitgenössische Resonanzen, sei es in der grassierenden Schopenhauermode nach 1848 oder in Friedrich Nietzsches Silen-Mythe aus dessen erster Schrift Die Geburt der Tragödie7 sowie in dessen letzter Schrift Ecce Homo. Nicht ganz unpassend könnte man von einem Leitmotiv, ja ›Leidmotiv‹ sprechen, an dem sich die (vermeintlich) verstoßenen und verkannten Genies eines dem Untergang geweihten Bildungsbürgertums in Zeiten der heraufziehenden Massengesellschaft gegenseitig wiedererkennen mochten. Wie Feuerbach weiß, sind dies jedoch schon Nachklänge, Ausklänge jener metaphysischen Melodie, die als Wiederbelebungsversuch der antiken Kunstreligion bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte, um für knapp 150 Jahre als Neuhumanismus nicht nur in Deutschland den Ton anzugeben. So ist es auch nur ein bedingter Zufall, dass Feuerbach auf seinen Vater als einen deutschen Professor – und wie zu ergänzen ist: der Philologie und Altertumskunde – zu sprechen kommt und zugleich das Deutschsein namhaft macht, wo es um sein künstlerisches Vermächtnis oder wohl eher sein Verhängnis geht. Denn seinen schicksalhaften, »hoffnungslosen Kampfe gegen Brutalität, Engherzigkeit & Schwatzseeligkeit« trägt er als gebürtiger Deutscher zugleich gegen sein Va-

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terland aus, und zwar gleichsam in der Muttersprache der »stille[n], schöne[n]«, der klassischen Künste – nämlich als Verfechter einer »Classicität«, die sich »auf menschlich Wahres & Großes« richtet, als Wahlitaliener in der Tradition Johann Joachim Winckelmanns oder mit einem Wort: als Deutsch-Römer.8 Was es damit genauer auf sich hat, wie ihn, den Künstler, diese deutsch-römische »Muttermilch« der »Classicität« zugleich nähren und vergiften konnte, weist zurück auf die Geburt der Antikenbegeisterung aus dem ruinösen Geist einer ewigen Stadt. Hier hatte nicht nur mit Winckelmann angesichts der überkommenen Kunstwerke aus Antike und Renaissance die deutsche Kultur als Kunstreligion das Licht der Welt erblickt, sondern, angesichts eines der leuchtendsten Kunstwerke daselbst, dem Apollo von Belvedere, sollte zugleich Feuerbachs Vater seinen persönlichen Untergang endgültig in die Augen sehen und, heimgekehrt nach Freiburg, sich dem vernichtenden Trübsinn seiner trostlosen Professoren­ existenz bis zur seelischen Selbstzersetzung ergeben. Wie wir angesichts dieser Schicksalsbahn der deutsch-römischen Kunstreligion wiederum beobachten werden, leistete hierbei auch der platonische Sokrates seine berühmten Hebammendienste, und zwar nicht ohne seine Zöglinge zugleich das Sterben zu lehren. Oder in den Worten August von Platens, eines anderen Deutsch-Römers und Freundes der Feuerbach-Familie: Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, Ist dem Tode schon anheimgegeben, Wird für keinen Dienst auf Erden taugen, Und doch wird er vor dem Tode beben, Wer die Schönheit angeschaut mit Augen! …

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Warum sollte denn ich verzweifeln, daß unser liebes Vaterland nicht auch einmal den Geschmack besitzen möchte, wenn uns der Umgang mit diesen herrlichen Stücken ebenso gemein gemacht würde; wenn wir von der Geburt an sogleich zu solchen Werken geführt und gleichsam mit der ersten Milch uns die hohen Schönheiten derselben entdeckt und dadurch unser Geist nur das Schöne zu fühlen bereit wurde.9

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In seinem Dankesschreiben an die Akademie in Augsburg vom 28.  November 1756, abgesandt aus Rom, wo sich Winckelmann nunmehr schon seit knapp einem Jahr niedergelassen hatte, findet sich eine Programmatik skizziert, die nicht nur ihm allein zur Lebensaufgabe werden sollte. Nach dem Aufsehen erregenden Erfolg seiner kleinen, in nicht mehr als ein paar Dutzend Exemplaren gedruckten Schrift Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst von 1755, der er schon im darauffolgenden Jahr eine zweite vermehrte, bald ins Französische und Englische übersetzte Auflage folgen ließ, war Winckelmann zu einer europäischen Berühmtheit gelangt, die ihm, dem ehemaligen Konrektor in der Provinz und Hausbibliothekar, alsbald auch Einladungen zu Mitgliedschaften in verschiedenen gelehrten Vereinigungen und illustren Akademien im deutschen Sprachraum eintrug. Mochten diese Vereinigungen auch zunächst nach französischem Vorbild gegründet worden sein, so schien sich doch bald auch in ihren Reihen eine Emanzipationsbewegung abzuzeichnen, die einer in Obhut genommenen deutschen Kultur nunmehr ein eigenwüchsigeres Gedeihen ermöglichen sollte. Winckelmann begrüßte diese Entwicklung nicht nur, sondern war willens, von Rom aus selbst tatkräftig daran mitzuwirken, und wie weitere Passagen des Briefes belegen, mit einem erhitzten Kopf, der sich zugleich für seine Kühnheit entschuldigen zu müssen meinte. Es war ihm durchaus ernst mit der Hebung des nationalen Geschmacks, so ernst, dass er seinen eigenen Lebensweg wohl als Paradigma eines kulturellen Aufbruchs verstand, der von Rom – oder zumindest von einer profunden Auseinandersetzung mit antiken Reliquien – seinen Ausgang nehmen sollte. Er selbst war seit Schultagen auf den Geschmack gekommen, hatte in der Folgezeit durch anhaltende Lektüre der antiken Klassiker und durch mannigfache Besuche der öffentlichen Kunstsammlungen in Dresden diesen Geschmack an den »hohen Schönheiten« weiter kultiviert und sich so gewissermaßen erst nachträglich, doch dann ein entbehrungsreiches Leben lang von der »ersten Milch«, von der ›Muttermilch der Classicität‹ genährt, ohne dass sie ihm – wie Feuerbach ein Jahrhundert später – jemals sauer geworden wäre. Im Gegenteil sollte sie ihn darin bestärken, sogar eine Konversion zum Katholizismus in Kauf zu nehmen, um sich als Enddreißiger endlich auf den Weg machen zu können in die Stadt aller antiken Verheißungen. Hier in Rom ging es um mehr, als dass der »Geist nur das Schöne zu fühlen bereit« würde, sondern hier sollte tatsächlich und tagtäglich fühlbar werden, was dieses Schöne ihm und er von diesem Schönen wiederum anderen zu geben fähig war. Was ihm so, auf seinen Erkundungen in dem gleichsam größten Freilichtmuseum der Welt, zur ästhetischen Offenbarung von Angesicht zu Angesicht

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wurde, verstand er umgekehrt als Sendungsauftrag – durchaus auch im postalischen Sinne –, wie aus einer weiteren Stelle des Briefes an seine akademischen Gesinnungsgenossen jenseits der Alpen hervorgeht: »Diese meine Schuldigkeit aber und mein Vorsatz sind so schwer zu erfüllen: es ist leicht, aber auch sehr schwer von der Kunst zu schreiben. Die Welt ist überhaupt mit Büchern angefüllt, aber in das Wesen der Kunst hat sich fast niemand hineingewagt; es scheint alles überflüssig, was nicht unmittelbar dahin geht […].«10 – Und dennoch war zeitlebens kein anderer Weg mehr zurück von der ideellen in die reelle Heimat für diesen ersten Deutsch-Römer, für diesen Geschmacksrichter und ästhetischen Erzieher, als die Übermittlung und Vermittlung seiner Erfahrung zwischen den unterschiedlichen Welten – der Kunst und Literatur, Italiens und Deutschlands oder auch der Alten und Modernen. Dass er sich nie als Römer allein verstand, noch von den Römern als solcher verstanden wurde,11 mochte ihn kaum bekümmern; es bestätigte nur auf andere Weise seine exzentrische Lebensbahn, auf der er sich aus den bescheidensten Verhältnissen tiefster Provinz herausgekämpft hatte, um über allerlei zeitgenössische Konventionen hinweg in der zeitlosesten aller Städte zu einem Kosmopoliten par excellence zu werden. Man könnte es auch so sagen: Wo sonst sollte sich dieser homme de lettres, der sein bisheriges Leben fast ausschließlich und mit Bedacht in Bibliotheken und Studierstuben zugebracht hatte, ein Zuhause finden außer in Rom, zwischen den täglich gewahrten und seit Jahrhunderten verwahrten Beständen einer Jahrtausende währenden Überlieferung? Paris als Brennpunkt einer modisch-mondänen Gegenwart schien ihm keine Alternative, noch weniger die dem Zeitgeist bloß nachlaufenden Verhältnisse in den deutschen Fürstentümern. Stattdessen lockte ihn Rom als die einzige Aussicht darauf, den eigenen angelesenen Phantasien auf den Grund zu gehen und inmitten der in den Tag ragenden Ruinen und der vergrabenen Zeitläufe der Vergangenheit auf eine eigene, eine andere Zukunft zu stoßen. Und die Götter waren ihm hold: Allein hier tat sich eine nicht minder originelle als originäre Spur auf, eine Spur, die ihn auf die ewigen Bahnen des Klassizismus führen sollte. Diese Ahnung musste ihn schon geleitet haben, als er noch in Dresden den berühmten Satz der oben erwähnten Schrift formulierte, dabei bereits eine Brücke schlagend zwischen der eigenen Zukunft und Herkunft: »Der eintzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl verstehen gelernet, gilt auch von den Kunst-Wercken der Alten, sonderlich der Griechen.«12 Man hat in diesem Satz zurecht die Umformulierung eines Programms erblickt: Entgegen aller bisherigen Antikenverehrung, wie sie etwa den Romprei-

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sen der Académie royale de peinture et de sculpture zugrunde lag und bei der Querelles des Anciens et des Modernes in die Waagschale geworfen wurde, findet sich bei Winckelmann erstmals der Appell, nicht mehr allein zu den Alten zurückzukehren, sondern über diesen vagen Klassizismus der Neuzeit hinaus auf die speziell griechischen Anfänge zurückzugehen. Gerade diese gilt es für Winckelmann, wider ihre (vermeintlich) römische Überformungen, erneut freizulegen, und zwar in der Absicht, sowohl ein Gegengewicht zu den Modernen als auch zu den französischen Klassizisten zu bilden. Dieser Philhellenismus aber sollte in der Folge vor allen den deutschen Neuhumanismus prägen und ihm erst ein Eigengewicht verschaffen. So ruft Winckelmann nicht von ungefähr Homer als den Urvater der griechischen Literatur auf, scheint in der Erschließung der Ilias und Odyssee doch zugleich eine urgriechische Lebenswelt ans Licht zu treten, die von dem Ruhm Vergils und seiner Aeneis bisher in den Schatten gestellt wurde. Das heißt nun nicht, dass Winckelmann sich gerade auf die griechische Archaik habe berufen wollen. Das wird vielmehr erst der nächste Zug innerhalb eines Überbietungsspiels der Anfänge sein, wie es im 19. Jahrhundert bei Nietzsche in Mode kam. Doch Winckelmann bleibt derjenige, der dieses Spiel eröffnet und den groben Regelrahmen dafür gesetzt hat. Insbesondere die antike Kunstgeschichte wies nicht allein eklatante Überlieferungslücken auf, sondern ermangelte überhaupt einer durchgehenden Systematik, die es erst erlaubt hätte, genauere und gesicherte Zuschreibungen vorzunehmen. Hier tätig zu werden, gab es keinen besseren Ort als Rom mitsamt seinen anhaltenden Ausgrabungen, keine bessere Zeit als die eines an den jüngsten Funden in Pompeji und Herculaneum neu erwachten archäologisch-philologischen Interesses, vor allem aber keinen besseren Kopf als den Winckelmanns, der angefüllt mit erlesenem Wissen aus einer der bestausgestatteten Bibliotheken13 seiner Zeit nun seinen Sehnsüchten frönen konnte. Wenn einer, dann hatte er verstehen und bewundern gelernt, und zwar in einer Unersättlichkeit und Hingabe, die ihn durch die stets neu gewonnenen Erkenntnisse andauernd dazu nötigte, seine Schriften zu überarbeiten oder, sofern sie schon im Druck waren, sie mit nachgereichten Erweiterungen, Ergänzungen und Korrekturen zu versehen. So auch im Falle der Gedancken, aber auch seines Hauptwerks, der Geschichte der Kunst des Alterthums, die er selbst als Erfüllung eines kunstwissenschaftlichen Desiderats verstand. Doch verweilen wir noch etwas bei der erstgenannten Schrift. Lässt man sich einmal darauf ein, wirklich verstehen zu wollen, verstehen zu lernen, was Win­ ­ ckelmann seinerseits unter der geforderten »Nachahmung der Alten«,

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»sonderlich der Griechen« und insbesondere auch im Hinblick auf ihre »KunstWercke« verstand, dann stößt man unversehens auf eine umfassendere Herangehensweise, als man es für eine ›ästhetische‹ Abhandlung vielleicht erwarten könnte. Winckelmann geht es nicht allein um griechische Kunstwerke, die er seinen Zeitgenossen zur Nachahmung empfiehlt, sondern um eine glücklichere Weltanschauung, die er als griechische zu erkennen meinte. Das wird sowohl an seinen ausschweifenden Schilderungen des griechischen Lebens sichtbar, das ihm – neben dem Klima – unverzichtbar für die Meisterschaft der griechischen Künste galt, als auch an jenem berühmten Diktum, das über Jahrhunderte zu einem Kennwort seiner Anhängerschaft werden sollte: »Das allgemeine und vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und eine stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele.«14 Mag die Rede von »edler Einfalt« und »stiller Grösse« auch schon Vorprägungen gekannt haben,15 so kommt hier doch spätestens mit dem Meeresgleichnis eine Spannung zwischen Latentem und Manifestem ins Spiel, die dem Statuenhaften der Formel Leben einhaucht. Steigt man an diesem Punkt einmal nicht auf die im Text folgende Charakterisierung der Laokoon-Gruppe ein, die seit Lessings gleichnamiger Publikation eine anhaltende Wirkungsgeschichte entfaltet hat, sondern hält man zunächst an dieser allgemeineren Beschreibung als einer solchen fest, ohne sie als bloße Einleitung zu behandeln, dann lässt sich mit Blick auf Winckelmanns persönliche Motive seiner Griechenverehrung eine Wiederentdeckung machen, die gleichsam unter die versteinerte Haut geht. Spätestens seit Wolfgang von Wangenheims sensibler Studie Der verworfene Stein16 besteht kein Zweifel mehr daran, dass die Ausführungen Winckelmanns, nicht zuletzt an dieser Stelle, sich als antike Bruchstücke einer confession lesen lassen. So ist es schon seit Längerem ein offenes Geheimnis, dass Winckelmanns Schriften von seinen sexuellen Vorlieben widerhallen. Hinzu kommt noch, dass auch pädophile Momente hineinspielen, wie nicht zuletzt durch eine Anekdote bei Casanova (die uns noch beschäftigen wird) belegt ist, der Winckelmann in Rom persönlich kennen und schätzen gelernt hat. Und dennoch würde man ­Winckelmann und seinem Anliegen kaum gerecht, konstatierte man dies nur abermals oder nähme es umgekehrt sogar zum Anlass, sein ganzes Sinnen und Trachten vorderhand zu verurteilen oder zu tabuisieren. Denn es war gerade diese nicht gänzlich sublimierte sexuelle Energie, die in seine Auseinandersetzung mit den griechischen Kunstwerken eingeflossen ist und die seinen Zeitge-

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nossen Eindruck machte und weder mit einer reizenden Galanterie noch einer derben Pornographisierung verwechselt werden darf. So spräche man wohl besser von einer Erotisierung, nähme man diesen Wortgebrauch (wie auch den der Pädophilie oder Päderastie) bei seinem griechischen Wortsinn, um zugleich darauf aufmerksam zu machen, welche Form von edler Einfalt und stiller Größe seinen Geist entzückte, während er die göttergleichen Marmorkörper in ihrer Vollkommenheit studierte. Denn was ihn dabei im Besonderen rühren mochte, zeigt sich an einer weiteren Stelle in dem kleinen Traktat, an der Winckelmann seine Formel abermals aufgreift: »Die edle Einfalt und stille Grösse der Griechischen Statuen ist zugleich das wahre Kennzeichen der Griechischen Schriften aus den besten Zeiten; der Schriften aus Socrates Schule, und diese Eigenschaften sind es, welche die vorzügliche Grösse eines Raphaels machen, zu welcher er durch die Nachahmung der Alten gelanget ist.«17 Nicht allein den bildnerischen Kunstwerken, sondern gleichermaßen den Schriften der Griechen gilt seine Verehrung; und nimmt man hinzu, dass ein gewisser Name allenthalben im Haupttext oder auch in den Anmerkungen fällt, so leidet es keinen Zweifel, dass mit den »Schriften aus Socrates Schule« letztlich die Dialoge Platons gemeint sind. Was Raphael wiederum hier zu suchen hat oder vielmehr gefunden haben soll, gehört zu den Standardreferenzen der Kunstwissenschaft noch heutiger Tage;18 und gerade Winckelmann scheint der Eingemeindung Raphaels unter die (Neu-)Platoniker selbst Vorschub geleistet zu haben, wenn er etwa an einer Stelle seiner Gedancken schreibt: »Die Kenner und Nachahmer der Griechischen Wercke finden in ihren Meister-Stücken nicht allein die schönste Natur, sondern noch mehr als Natur; das ist, gewisse Idealische Schönheit derselben, die, wie uns ein alter Ausleger des Plato [d.i. Proclus in seinem Timaios-Kommentar; Anm. FA] lehret, von Bildern bloß im Verstande entworffen, gemacht sind.«19 An dieser Stelle ist nun dreierlei bemerkenswert: Erstens deutet die sich wiederholende Wortwahl von »Kennzeichen«, »Meister-Stücken« oder »Nachahmung« auf einen intratextuellen Bezug der drei letztgenannten Stellen, und zwar so, als ob die fortwährende Selbstnachahmung in der Wortwahl dieser Passagen zu einem Kennzeichen für das eigentliche Meisterstück Winckelmanns würde, nämlich zweitens einer platonischen ›Idealisierung‹ des Sinnlichen erneut Bahn zu brechen, durch die sich die körperliche Natur in ihrem Wesen schon immer überboten weiß, doch erst durch die idealische Darstellung des Künstlers auch überboten sieht. Das bedeutet jedoch drittens, dass die eigentliche Erotisierung der griechischen Kunstwerke durch Winckelmanns Augen vielmehr eine Offenba-

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rung im Blick hat, die weniger realer Wollust als einem idealen Wesen entspricht und dennoch erst im steinernen Fleisch lebendig zum Vorschein kommt. Winckelmann, der den Gedanken hegte, beizeiten selbst eine Platon-Übersetzung vorzulegen, hatte eine intime Verbindung zum Lebensstil der Platoniker in sich rege gefühlt, die er als »sokratischen Weg« (siehe unten) bezeichnete. Sokrates galt ihm hierbei als Protagonist der platonischen Dialoge Charmides, Lysis oder auch Phaidros, allen voran aber des Symposions, der sich im Umgang mit den Söhnen Athens nicht nur an ihrer Schönheit sinnlich berauschte, sondern, wie wir noch im Einzelnen sehen werden, im Grunde dort, wo es zur Sache ging, eine bezeichnende Enthaltsamkeit an den Tag legte, um stattdessen darauf hinzuwirken, die ihm ergebenen Jünglinge auf seinen Weg, den Weg des philosophischen Eros, der platonischen Liebe zu locken. Sich in eine Traditionslinie mit diesem »Typ Sokrates«20 stellend attestierte Winckelmann, der Päderast im Wortsinn eines pädagogischen Eros, sich selbst einen »angeborne[n] seltene[n] Schulmeistertrieb«,21 der nicht allein auf Bekanntschaft, sondern auf eine ›heroische Freundschaft‹ zielte;22 und stiftete auf diese Weise, wenn auch nicht unmittelbar, so doch gleichsam im neu erwachten sokratischen Geist, zugleich eine neue Tradition innerhalb der Antikenverehrung, die sich im deutschen Philhellenismus noch bis zu Stefan George und seinem Kreis durchhalten sollte. In diesem Geist schreibt Winckelmann am 18. Februar 1764 von Rom aus an Christian Ludwig von Hagedorn in Sachsen: Meine Absicht wäre gewesen, wenn mir die für mich bestimmte Stelle, wie man mir hat wollen glauben machen, wäre förmlich gewiß gemacht worden, meinem innern Beruf zu folgen, welcher auf den Unterricht junger Leute geht, und dieser als ein wahres Opfer für das mir geliebte Vaterland, ohne alle Absicht; denn hier, wo die Erziehung in den Pfaffen Händen ist, kann ich auf diesem sokratischen Wege nicht nützlich sein.23

Es ist bekannt, und war es auch manchem seiner Zeitgenossen, denen er sich eröffnete, dass dieser »inner[e] Beruf« ihn beizeiten nicht davon abhielt, vom »sokratischen Weg« abzukommen. Doch selbst noch von Casanova in flagranti erwischt, mochte er sich darauf hinausreden, dass es weniger seine Schande sei, sich mit Jünglingen befriedigen zu wollen, als es nicht in einer Weise zu vermögen, wie es den Griechen und ihren Göttern angestanden hätte.24 Derartige Bemerkungen und andere Begebenheiten schon in seiner vorrömischen Zeit zeugen davon, dass Winckelmann seine Faszination für das griechische Kunst- und Liebesleben weder auseinanderhalten wollte noch konnte. Sein Begehren stand

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freilich unter Strafe und doch hatte er niemals davon abgelassen, noch ihm wohl jemals gänzlich nachgegeben.25 Doch, wie gesagt, hier geht es nicht darum zu richten. Worauf stattdessen das Augenmerk liegt, ist die innere Verfasstheit von Winckelmanns spezieller Wiederbelebung des Klassizismus und die darin wirksame Wesensidentität von Erotik und Kunstgenuss: Es geht um ein Ethos im griechischen Sinne, das ihn angesichts der ihn umstellenden antiken Torsi zum Visionär einer neuen deutsch-römischen Ästhetik, einer philosophisch-erotischen Kunstreligion hat werden lassen, von der auch die Spannung zwischen Latenz und Manifestation, Entblößung und Verkleidung in Feuerbachs Gastmahl des Plato noch zehrt. Denn, wie bereits angedeutet, ist es diese Spannung, die durch das griechische Kunstwerk nicht allein zu einem inneren geistigen Leben erweckt, sondern gleichermaßen zu jenem äußerlichen, äußerst sinnlichen von Anspannung und Entspannung. Diese Spannungen konnten sich bei Winckelmann bis zu freudigen Tränen im Augenblick des schönen Scheins steigern. Die angerufene »edle Einfalt« und »stille Grösse« dieser Anblicke ist jedoch nicht weniger ein unscheinbares Hin und Her zwischen den sinnlich-geistigen Polen, eine Vibration – einer Saite vergleichbar, deren Schwingungen zugleich in Resonanz versetzen, wer sie anrührt. Was ausklang in den gesetzten Kunstwerken, schwingt nach in ihrer ästhetischen Erfahrung, gewinnt erneuten, bisweilen verstärkten Anklang in ihren Rezipienten. In diesem Sinne hat Goethe in seiner späten Würdigung Winckelmanns das Verhältnis von Freundschaft und Schönheit nicht ausgespart, es vielmehr ins Zentrum seines biographischen Essays gerückt und dabei diese Vibration im Augenblick zum Ausdruck gebracht: Wenn aber jenes tiefe Freundschaftsbedürfnis sich eigentlich seinen Gegenstand erschafft und ausbildet; so würde dem alterthümlich gesinnten dadurch nur ein einseitiges, ein sittliches Wohl zuwachsen, die äußere Welt würde ihm wenig leisten, wenn nicht ein verwandtes gleiches Bedürfniß und ein befriedigender Gegenstand desselben glücklich hervorträte; wir meinen die Forderung des sinnlich Schönen und das sinnlich Schöne selbst: denn das letzte Product der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben, und selbst ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im Vollkommnen zu verweilen und dem hervorgebrachten Schönen eine Dauer zu geben. Denn genau genommen kann man sagen, es sei nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei.26

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Diese Vergänglichkeit war Winckelmann zur bitteren Erfahrung seines Lebens geworden, indem er immer gerade in jenen Freunden keine anhaltende Zuneigung und seelische Öffnung fand, in die er sich vor allen anderen buchstäblich verguckt hatte. Goethe weiter: Dagegen tritt nun die Kunst ein, denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft und sich endlich bis zur Production des Kunstwerkes erhebt […]. Ist es einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste hervor: denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles Herrliche, Verehrungs- und Liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen Lebens- und Tatenkreis ab und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das Vergangene und Künftige begriffen ist.27

Man darf in diesen mehr oder weniger verdeckten phallischen Passagen getrost das Heiligtum der deutsch-römischen Kunstreligion erblicken, deren Stifter von seinem Hohepriester Goethe postum ein literarisches Denkmal errichtet wurde. Das Kunstwerk in dieser Sicht ist nicht allein abermalige künstlich-künstlerische Steigerung einer bereits im Menschen auf den Gipfel getriebenen Natur, sondern zugleich Verklärung aller Kräfte, Verewigung der Gegenwart und Vergötterung der menschlichen Gestalt. Im direkten Anschluss bemüht Goethe Phidias’ olympische Zeusstatue, um für die damaligen und den einen heutigen Griechen zu konstatieren: Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zum Gott zu erheben. Man erblickte die höchste Würde, und ward für die höchste Schönheit begeistert. […] Für diese Schönheit war Winckelmann, seiner Natur nach, fähig, er ward sie in den Schriften der Alten zuerst gewahr; aber sie kam ihm aus den Werken der bildenden Kunst persönlich entgegen, aus denen wir sie erst kennen lernen, um sie an den Gebilden der lebendigen Natur gewahr zu werden und zu schätzen. […] So finden wir Winckelmann oft in Verhältnis mit schönen Jünglingen, und niemals erscheint er belebter und liebenswürdiger als in solchen oft nur flüchtigen Augenblicken.28

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Winckelmann, der warmherzige Cicerone und leicht entflammbare Pädagoge, tritt hier selbst als ein Erleuchteter in Erscheinung, gleichsam vom Strahlenglanz göttergleicher Schönheit ins rechte Licht gerückt. Im Schatten dieser Glorifizierung aber verdient ein anderes Moment Erwähnung, das mit der Sensibilität Winckelmanns für das Schöne und mit dem Schönen selbst als Erscheinung zusammenhängt. Über die ›Fähigkeit‹ für das Schöne hat sich Winckelmann selbst geäußert: Seine Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst und dem Unterrichte derselben setzt mit einer Widmung ein, die man wohl besser als eine Liebeserklärung an einen seiner verehrtesten, doch zu seinem Leidwesen nicht intimsten Freunde bezeichnen müsste, worin es rundheraus heißt: »Der Inhalt ist von Ihnen selbst hergenommen. […] Ihre Bildung ließ mich auf das, was ich wünschte, schließen, und ich fand in einem schönen Körper eine zur Tugend geschaffene Seele, die mit der Empfindung des Schönen begabt ist.«29 Entsprechend liest sich die gesamte Abhandlung ihrem Titel gemäß als indirekte Lobpreisung eines bestimmten Schönheitssinns sowie als latenter Tadel für die sträflich versäumte Selbstüberantwortung des Geliebten in die Obhut des Liebenden. Von der Empfindung des Schönen heißt es dann nicht weniger doppeldeutig: »Das wahre Gefühl des Schönen gleicht einem flüssigen Gipse, welcher über den Kopf des Apollo gegossen wird und denselben in allen Teilen berührt und umgibt. Der Vorwurf dieses Gefühls ist nicht, was Trieb, Freundschaft und Gefälligkeit anpreisen, sondern was der innere feinere Sinn, welcher von allen Absichten geläutert sein soll, um den Schönen willen selbst empfindet.«30 – Man sieht Winckelmann in den beiden Sätzen gewissermaßen einen Schritt vor tun in Sachen einer körperlich-erotischen Annäherung und zwei Schritte wieder zurück: und zwar noch hinter die zeitgenössischen Konventionen auf die abstrakte Metaebene eines platonischen Gesprächs: »Sie werden hier sagen, mein Liebster, ich stimme mit Platonischen Begriffen an, die vielen diese Empfindung absprechen könnten; Sie wissen aber, daß man in Lehren, wie in Gesetzen, den höchsten Ton suchen muß, weil die Saite von selbst nachläßt: ich sage, was sein sollte, nicht, was zu sein pflegt […].«31 Schien Winckelmann etwa die vorherige Passage selbst derart übergriffig, dass er sich im nächsten Moment wieder rausreden musste? (Die unmittelbar nachgeschobene Verneinung ist wohl als freudianische zu werten.) Jedenfalls lässt sich auch der letzte Satz des letzten Zitats abermals als unterschwelliger Ausdruck der Diskrepanz von Winckelmanns Wunschvorstellung und der sich ihm entziehenden Wirklichkeit lesen. Was stattdessen von dem Liebsten zurückbleibt – den er im Übrigen tatsächlich nie wieder sehen sollte, auch ein Dankes-

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schreiben für die Widmung ist nicht überliefert – ist ein zwar umfassender, doch bloßer Gipsabdruck, ein Abbild, des apollinischen Urbilds. Allein die Saite, um Gesagtes wieder aufzugreifen, vibriert weiter in Winckelmann. Auch wenn es ihm, wie er gegenüber dem Vater eines aufnahmebereiteren Zöglings beteuert, besser dünkt, mit Sokrates gesprochen, »auf das Herz der Jünglinge [zu] schreiben als auf Papier«,32 so tut er es nun trotzdem in einer Weise, die zumindest der eigenen Begeisterung nicht ermangelt, selbst wo sie sich vorerst nicht zu übertragen und weiteren Anklang zu finden vermag. Denn es reicht schon fürs Erste, so scheint es, diese Schwingungen gleichsam aufzuspeichern, um jedem geneigteren Leser dieselben Resonanzerfahrungen widerfahren zu lassen, die sich ihm selbst eingestellt haben, sei es angesichts der Schönheit einer natürlichen oder künstlichen Gestalt – von Urbild zu Abbild zu Abbild usf. Goethe hat dieses Phänomen der Winckelmann-Lektüre gegenüber seinem eigenen Resonanzkörper Eckermann einmal folgendermaßen beschrieben: »Man trifft ihn mitunter in einem gewissen Tasten; allein, was das Große ist, sein Tasten weist immer auf etwas hin […]. Man lernt nichts, wenn man ihn liest, aber man wird etwas.«33 – Doch Goethe hier beim Wort genommen: Zu was wird man? Wodurch und woher? Es war von Apollo die Rede, und dies wohl nicht ohne Grund, zieht man in Erwägung, dass Winckelmann vor allem einen besonderen fast täglich vor Augen gehabt haben dürfte: »das Wunder der Kunst«, den »vatikanischen Apollo«34 – oder in den Worten des zutraulicheren Zöglings Heinrich Füßli an Leonhard Usteri: Winckelmanns eigenen »Schutzgott«. »Aber nach und nach erhebt sich sein Geist und ergießt sich über sein ganzes Gesicht aus, seine Augen werden blinkender, und er scheint begeistert wie sein Schutzgott, der vatikanische Apollo; und in diesen Entzückungen, worein ich mit hingerissen werde, irren unsere Augen auf idealischen Schönheiten herum, sehen aber nur das Gröbste, das übrige empfindet die Seele.«35 Diese Begeisterungsfunken, die im Bestfall zu Flächenbränden werden, sind nicht nur sokratisch im Sinne des platonischen Ion36; sie deuten zugleich auf eine Erotik geistiger Befruchtung, wie im Symposion dargestellt (worauf wir noch ausführlich zu sprechen kommen werden, siehe Kap. 4), die hier (jedoch) im Zeichen Apollos steht (statt des Dionysos). Der vatikanische Apollo erweist sich auch an dieser Stelle und auf eine ergreifendere, innerlich bildende Weise als das von Winckelmann ertastete und umfasste Urbild; als dessen erstes Abbild, Abguss und Mittler er selbst wiederum Gestalt gewinnt für seine Verehrer und Nachahmer. Die zentrale Frage kann also nur lauten: Was macht den vatikanischen Apollo zu jenem Götterbild, das Winckelmanns Kunstreligion im Herzen

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ergreift und in einem Maße inspiriert, dass ihre Fackel der Begeisterung bis in die Gegenwart Feuerbachs weitergereicht wurde? Oder in den Worten Goethes: Was ist es an diesen Kunstwerken, das den »Menschen zum Gott« erhebt, ihn die »höchste Würde« erblicken und ihn sich »für die höchste Schönheit« begeistern lässt? – Wohlgemerkt, Goethe hatte bei der Abfassung dieser Gedanken Phidias’ Göttervater Zeus vor dem inneren Auge, wie dieser in übermenschlicher Gestalt thronend und in sich verharrend die Unerschütterlichkeit der von ihm geschaffenen Ordnung verbürgte. – »Aber das Abstrakte und bloß Schöne ist von dem Ausdrucke in der Schönheit wohl zu unterscheiden.«37 – Der vatikanische Apollo scheint für Winckelmann dagegen einen vollkommeneren Anblick zu gewähren, und zwar gemäß einer ›Voll-Kommenheit‹, die Winckelmann gewissermaßen wörtlich nimmt, indem in ihr alle einzelnen Aspekte des Schönen in einer das bloße Gesamt letztlich überragenden »höchsten Idee menschlicher Schönheit« zusammenkommend sich vollenden sollen.38 So heißt es entsprechend an einer berühmten Stelle seiner Geschichte der Kunst des Alterthums, die er der Beschreibung des vatikanischen Apollo widmet: Die Statue des Apollo ist das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums, welche der Zerstörung derselben entgangen sind. […] Über die Menschheit erhaben ist seine Gestalt, und seine Stellung zeugt von der ihn erfüllenden Größe. […] In allen uns übrigen Bildern des Vaters der Götter, welche die Kunst verehrt, nähert er sich nicht der Größe, […] wie hier in dem Gesichte des Sohnes, und die einzelnen Schönheiten der übrigen Götter treten hier wie bei der Pandora in Gemeinschaft zusammen.

In ihm dargestellt aber ist ein lässiger Triumpf, wie Winckelmann annimmt, über Python, durch den Apollo zum Stiftungsgott des delphischen Orakels avancierte, dem mächtigsten Heiligtum der griechischen Antike. »Von der Höhe seiner Genügsamkeit geht sein erhabener Blick, wie ins Unendliche, weit über seinen Sieg hinaus: Verachtung thront auf seinen Lippen, und der Unmut, welchen er in sich zieht, bläht sich in den Nüstern seiner Nase und tritt bis in die stolze Stirn hinauf. Aber der Friede, welche in einer seligen Stille auf derselben schwebt, bleibt ungestört […].«39 Wem gilt dieser Unmut? – Behauptet sich dieser triumphale Blick nicht letztlich gegen alles und alle, die sich mit ihm messen wollen, schon gegen jeden Blick, der ihm nur begegnet? – Die Gesichtszüge dieses Unnahbaren und seine Körpersprache einer arretierten Bewegung sind beredt. Er tritt dem Betrachter entgegen in einer noch weitaus verdichteteren Gegenwart, als sie der über allen

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Zeiten ruhende Zeus verkörpert: Der Apollo von Belvedere erscheint als die sich jäh lösende Spannung eines Anblicks, der den Betrachter im selben Augenblick schon tödlich getroffen hat – dabei im Begriff, seines Sieges gewiss, erneut zu entschwinden. Was bleibt, ist ein prangender Pfeil im Fleisch. – Im vatikanischen Apollo klingt die Saite als vibrierende Sehne. Es ist die aus- und aufgelöste Spannung der ästhetischen Erfahrung selbst, ein durchdringender Augenblick des schönen Scheins, eine Theophanie: … Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe, Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen, Zu genügen einem solchen Triebe: Wen der Pfeil des Schönen je getroffen, Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe! …

2.3 Apollinische Attraktion Mein ganzes Ich ist erschüttert, das können Sie dencken, Mann, und es fibriert noch viel zu sehr, als daß meine Feder stet zeichnen könnte. Apollo von Belvedere, warum zeigst du dich in deiner Nacktheit, daß wir uns der unsrigen schämen müssen?40

Es ist nicht allein Winckelmann zu danken, dass sich Goethe in einem Brief an Herder während seines Straßburger Aufenthalts zu solch hohen Tönen hinreißen lässt. Wie der Kontext des Briefes nahelegt, handelt es sich um eine Art Liebesgeständnis, das Goethe gegenüber seinem älteren Freund und Mentor ablegt; um eine vorbehaltlose Eröffnung, wie schon der erste Satz des Schreibens unterstreicht, im Sinne stürmischer und drängender Empfindung.41 Dass der Apollo von Belvedere darin auftaucht und zudem noch nackt, lässt zugleich eine Erotik aufscheinen, die sich in den Bahnen von Winckelmanns ›sokratischem Weg‹ bereits vorgezeichnet und hier in dem jungen, leicht entflammbaren Goethe einen würdigen Nachfolger gefunden hat. Es wäre also verfehlt, in dem Aufbegehren der neuen Kraftgenies und Kerls gegen den von Winckelmann inspirierten, etwas gepuderten Klassizismus eines Salomon Gessner oder Christoph Martin Wieland einen durchgehenden Bruch zu erkennen; vielmehr hatte insbesondere

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Abb. 5: Anonym, Apollo von Belvedere, 1855. Stich der zweiten Auflage von Anselm Feuerbach: Der Vaticanische Apollo. Stuttgart/Augsburg 1855.

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Herder die neue Körpersprache der Antiken mit Winckelmann übersetzen gelernt42 und diese sein späteres Umfeld, allen voran Goethe, mit Eifer gelehrt. Nun wäre es durchaus reizvoll, die homoerotischen Erschütterungen von Goethes bebendem Enthusiasmus weiter zu verfolgen,43 gerieten wir damit nicht zu weit ab vom eigentlichen Gedankengang im Folgenden. Was sich an dieser kleinen Abzweigung dagegen beobachten lässt, bekräftigt nicht nur ein weiteres Mal die von Winckelmann neu ­entdeckte Sinnlichkeit der Griechenverehrung, die Goethe – ebenso wie sein Vorgänger – bereit ist, ohne Umschweife auf das verehrte oder geliebte Gegenüber zu projizieren, sondern verweist auch auf das oben bereits herausgestellte Spannungsverhältnis nochmals von einer anderen Seite her. Was hier unkontrollierbar »fibriert«, ist nicht die »Feder« im Schaft eines Pfeils, sei er nun von Apollo oder Eros entsandt (wer kann das im Affekt immer unterscheiden), sondern eine Schreibfeder, die angesichts des Geschauten ihren Dienst beinahe zu verweigern scheint. Freilich, zu der Zeit als Goethe seinen Brief verfasste, im Jahr 1771, kannte er den Apollo lediglich von Abgüssen her, doch auch die spätere Visite in Rom mag zwar im Ton gemäßigter ausfallen, lässt aber im Grunde eine nicht weniger durchschlagende Empfindung durchscheinen: »In St.  Peter habe ich begreifen lernen, wie die Kunst sowohl als die Natur alle Maßvergleichung aufheben kann. Und so hat mich Apoll von Belvedere aus der Wirklichkeit hinausgerückt. Denn wie von jenen Gebäuden die richtigsten Zeichnungen keinen Begriff geben, so ist es hier mit dem Original von Marmor gegen die Gipsabgüsse, deren ich doch sehr schöne früher gekannt habe.«44 – Der vatikanische Apollo hat von seiner Wucht auch im Original nichts eingebüßt; im Gegenteil hält er auch für den um knapp 15 Jahre gealterten Rompilger noch eine Art Offenbarung bereit, die blendender nicht ausfallen könnte. Er verkörpert eine göttliche Erscheinung, die aus der »Wirklichkeit hinausrückt«, ähnlich wie schon Winckelmann bei seiner Schilderung bemerkt hatte,45 und verleitet doch zu allgemeineren Betrachtungen im Sichtkreis ästhetischer Erleuchtung. Man sieht sich genötigt, über ihn zu schreiben und sei es auch weniges, oder nur so viel, dass man ihn nicht zu beschreiben vermöchte. Letztlich ist es die Schreibfeder, die Schreibkunst, die diesem Hauptexponat der deutschen Kunstreligion seinen Platz im Museion angewiesen und die sich noch vor allen anderen Künsten in seiner Nachahmung versucht hat. Das verdient Beachtung und hat bereits Beachtung gefunden seit Winckelmanns enthusiasmiertem Ausruf: »Wie ist es möglich, es zu malen und zu beschreiben. Die Kunst selbst müßte mir raten und die Hand leiten, die ersten Züge, welche ich hier entworfen habe, künftig auszuführen.«46 So etwa durch Lessings bahnbrechenden Essay zur benachbarten Laokoon-Gruppe oder auch durch die für

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das Verständnis von Feuerbachs Gastmahl unabdingbare Schrift seines Vaters Anselm Feuerbach sen.: Der Vaticanische Apollo. Eine Reihe archäologisch-ästhetischer Betrachtungen. Denn die erwähnte Spannung ist zugleich die eines Paragon verschiedener künstlicher Ausdrucksmedien und deren unterschiedlicher Evokationskraft in Absicht einer ästhetischen Theophanie. Nun ließe sich an dieser Stelle jedoch einwenden, dass Lessing schon wegen seiner Kritik Winckelmanns47 nicht unter die Deutsch-Römer zu zählen wäre, hätte sich Lessings Witz und schriftstellerische Standesehre doch niemals dazu herablassen können, vor einer Marmorstatue, geschweige denn vor ihrem Gipsabdruck, in die Knie zu Abb. 6: J. L. Raab, Anselm Feuerbach, 1853. gehen. Im Gegenteil, gerade Lessing sollte Stich aus Anselm Feuerbach’s Leben, Briefe einen Primat der Dichtung gegenüber den und Gedichte, hg. v. Henriette Feuerbach, bildenden Künsten behaupten; ja mehr noch: Braunschweig 1853. Nach dem Gemälde von Anselm Feuerbach: Bildnis des Vaters, 1846. Öl die verschiedenen Künste auf ihre jeweilige auf Leinwand, 75 x 58 cm. Privatbesitz. mediale Verfassung begrenzen und somit zugleich die vom neuzeitlichen Humanismus geebneten Pfade des Ut pictura poesis-Diskurses als gelehrten Irrweg ausweisen. Mochte die auf die antiken Autoritäten Aristoteles und Horaz zurückdatierte Auffassung der Humanisten, alle Kunst und Dichtung verbinde im Grunde dasselbe Anliegen, und zwar einer idealisierten Darstellung menschlicher Handlungen,48 auch noch seinen (verfeindeten) Zeitgenossen Voltaire zu dem Aperçu verleiten, »daß die Malerei eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Malerei sei«, wie Lessing kolportiert;49 ihm selbst schien es dagegen an der Zeit, mit der barocken Allegorie (für die auch Winckelmann sich noch begeistert hatte)50 Schluss zu machen und in den bildenden Künsten stattdessen zur klassischen »Nachahmung schöner Körper«51 zurückzukehren. Dass er dabei die nackte menschliche Gestalt als höchste Form der Schönheit vor Augen hatte52, erweist ihn gewissermaßen schon dem Sujet nach als Gesinnungsgenossen Winckelmanns gegen das akademisch strenge Decorum der Franzosen und die liebhaberisch freie Stoffwahl der Engländer.53 Dass er aber gewissermaßen formell auch unter die Parteigänger Winckelmanns zu zählen ist, ergibt sich aus einer Schreibhaltung, die sich erst im Rückblick als

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regelrechtes Genre insbesondere im deutschsprachigen Raum entfalten sollte: die essayistische Schreibhaltung einer altphilologischen Artistik. Was darunter zu verstehen ist, hat nicht nur mit einer Vorliebe für die ›ewige Jugend‹ der antiken Dichtung zu tun. Es ist vielmehr eine literarische Essayistik, die sich an der bildenden Kunst selbst bildet und profunde Gelehrsamkeit mit nicht weniger gewagten als erwogenen Spekulationen kombiniert.54 Für ­Winckelmann und Lessing, aber auch Feuerbach sen. gilt Karl Heinz Bohrers Beobachtung: »Das Gewagte […] unterscheidet sekundäre Kunstschriftstellerei einerseits und primäre Setzungen im Reflex auf Kunst andererseits.«55 Wo dergestalt nicht bloß der Begriff zur Reflexion der Anschauung, sondern das Wort zum Reflex des Bildes wird, besteht das Wagnis in einer genuinen Übertragungsleistung, die das ästhetische Spannungsverhältnis von Wort und Bild zugleich als ein leiblich-geistiges sowie subjektiv-objektives von Hingabe und Gegengabe erfahrbar werden lässt, ohne dabei zu einem Abschluss des Austauschs zu kommen. Vielmehr kommt es zu einer wechselseitigen Öffnung, auf die sich auch Lessing bereitwillig einlässt und die in der neo-paganen Andacht eines Winckelmann sogar zur Offenbarung gesteigert wird. Klaus Schneider hat es auf den Punkt gebracht: »Winckelmanns Beschreibungen der Götterstatuen sind mehr als kunsthistorische Interpretationen, sie versuchen in hieratischem, hymnenartigem Stil […] das Ereignis einer göttlichen Epiphanie, als welche die Schau der Götterstatuen Winckelmann erschien, wiederzugeben […].«56 Winckelmann selbst hätte wohl mit gewissen Missverständnissen von ›pindarischem Stil‹ gesprochen und damit dennoch deutlich den Punkt bezeichnet, an dem sich die Spannungen auf- und entladen, nämlich den Berührungs- und Umschlagspunkt eines von Platons erstmals ausbuchstabierten Enthusiasmus. An Goethes stotternder Erschütterung und Winckelmanns redseligen Liebkosungen trat schon hervor, wie der Apollo von Belvedere gleichsam an die erogenen Zonen ästhetischer Erfahrungen rührt. Erinnert sei nochmals an Winckelmanns Umschließungsphantasie von dessen Gestalt, die sich ihm im selben Zug wie einem Abguss einprägen sollte. Doch scheint es noch einen letzten Schritt in der Durchdringung dieses Zusammenhangs zu bedürfen, um an den besagten Punkt vorzustoßen, den auch Lessing letztlich im Blick hat, auch wenn er darüber nur in Andeutungen spricht; gemeint ist der unbewusste Übertragungsort des Enthusiasmus, das Medium dieser wort-bildlichen, leib-geistigen, subjektobjektiven Interpenetrationen: die Einbildungskraft. Um diese Verhältnisse greifbarer zu machen, um sowohl Winckelmanns Willen als auch die Rede von einer altphilologischen Artistik einzulösen, und nicht zuletzt, um Feuerbachs Gastmahl in seiner angedeuteten Plastizität herauszu-

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präparieren, empfiehlt es sich, das Hauptwerk seines Vaters näher in den Blick zu nehmen. Wie kein anderes Werk jener Tradition zeugt dieser literarische Apollo von der Absicht seines Autors, sich von ›der Kunst selbst die Hand leiten‹ zu lassen – angesichts der Wirkungsmacht und Wirkungsgeschichte seines plastischen Ebenbilds. Feuerbach sen. hatte seinen Vaticanischen Apollo seinerzeit als »Kunstwerk«57 entworfen und als solches ist er von seinen Zeitgenossen auch aufgefasst, bejubelt und letztlich wieder vergessen worden.58 Dabei sollte er nicht allein Winckelmanns Erbe antreten und um wesentliche Aspekte bereichern, sondern selbst, und zwar in der Anverwandlung durch Feuerbach jun. auch auf die Zukunft wirken, gleichsam übertragen werden. Andere Zwischenstationen laufen etwa über Nietzsche59 und überhaupt scheint die Bedeutung dieser Schrift für die Zeitgenossen insbesondere darin bestanden zu haben, dass sie eine Art Scheitelpunkt altphilologischer Artistik darstellte, während der deutsche Philhellenismus schon wieder im Begriff war, sich entweder in positivistischen Pedanterien oder allzu erbaulichen Spekulationen zu verlieren. Winckelmann die Ehre erweisend, findet sich so zu Anfang des Buches ein ausführliches Zitat von dessen Beschreibung des Apollo von Belvedere. Es dient als Ausgangspunkt einer Sichtung und Beurteilung der Rezeptionsgeschichte der berühmten Statue und zeichnet den Entwicklungsbogen nach von einer ungetrübten Verehrung über eingehendere kritische Studien bis hin zu einer abflauenden Begeisterung, die mit der zunehmenden Popularisierung dieses Vorzeigeobjekts für Romtouristen Hand in Hand geht. So könnte man fragen: Spricht Letzteres nicht für den gehegten Verdacht, dass der Apollo in Affekt und Bewegung dem klassizistischen Ideal »edler Einfalt« und »stiller Größe« im Grunde widerspricht und nur darum, schon auf den ersten Blick, auch die Massen ohne tieferen Verstand in den Bann zu schlagen vermag, wobei der zweite Blick des Kenners durchaus auf Mängel stoßen muss? Doch so fragte sich Feuerbach sen. bereits selbst, um es sodann auf sich zu nehmen, der Skulptur abermals Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er das postulierte Ideal Winckelmanns in Zweifel zog: »Hört ein Bildwerk schon dann auf, in griechischem Geiste gedacht zu sein, wenn der Ausdruck in höherem Grade beseelt, die Stellung bewegt ist, in der ganzen Anlage sich ein gewisses Hinneigen zur Einbildungskraft des Beschauers kund gibt?«60 – Die Antwort lautet Nein und die restlichen 360 Seiten sollte Feuerbach sen. darauf verwenden, nicht nur im Detail nachzuweisen, worauf sich die berechtigte Faszination gründet, sondern darüber hinaus das kulturelle Umfeld im Geiste des Leser wiedererstehen lassen, um dem Apollo von Belvedere darin seinen angestammten Platz zurückzuerstatten.

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Ungeachtet der strittigen Hauptthese des älteren Feuerbach, der Apollo sei nach der zentralen Szene der Eumeniden des Aischylos und für den Palast des Nero, den »gekrönten Orest«, gefertigt, ist es wiederum die Einbildungskraft des Autors, die nicht weniger Eindruck auf den Leser macht als der Apollo auf die Einbildungskraft seines »Beschauers«. Auch die letzten beiden Sätze des Buches bestärken nur eine Geste, die man wohl nicht treffender als wortwörtliche EinBildung ästhetischen Scheins in das alltägliche Sein bezeichnen könnte: »Als integrirenden Theil eines architektonischen Ganzen haben wir unsern Apoll schon früher erkannt. Und wohl stimmt es zu der tief ergreifenden Wirkung, welche die Statue ausübt, wenn dieser drohende Arm einst im ernstesten Sinne in die Wirklichkeit hinüberreichte.«61 Gemeint ist damit vordergründig die dramatische Vertreibung der Furien, der Rachegöttinnen, aus dem Apollo-Heiligtum durch den Gott selbst, in das sich Orest, der Muttermörder, bei Aischylos gerettet hatte und die Nero wiederum Trost für sein eigenes Schicksal gespendet haben dürfte; hintergründig aber drückt sich darin nicht weniger eine Verwobenheit der Künste mit der Realität aus, die wiederum Lessings Medienkritik der Poesie und Malerei in einer entscheidenden Hinsicht revidiert: Die antike Plastik, so die Auffassung von Feuerbach sen., sei stets »integrirende[r] Theil eines architektonischen Ganzen« gewesen und derart stets schon in einen größeren Medienverband eingebunden worden, um als Ganzes auf die Wirklichkeit einzuwirken. Das widerspricht seinem Vorgänger nicht bis ins Letzte,62 verschiebt aber den Akzent von der allgemeinen Wirkungsmacht antiker Kunst bei Winckelmann, über deren mediale Differenzierung bei Lessing, hin zu einer Resynthese ausnahmslos aller Künste im Sinne einer komplexeren Einheit oder kurz: eines antiken Gesamtkunstwerks. Was ist darunter nun genauer zu verstehen? Es scheint hilfreich, zunächst deutlich zu machen, wie das antike Gesamtkunstwerk sich von den modernen zeitgenössischen Opern, aber auch von der späteren Realität der späteren wagnerianischen ›Kunstwerke der Zukunft‹ unterscheidet.63 Schon die Differenz zwischen der griechischen Tragödie und der Oper deutet auf ein Moment hin – das neben technischen und künstlerischen Neuerungen – vor allem den Zuschauer betrifft: Er tut mit oder geht mit, bei hellstem Tageslicht unter freiem Himmel und bei voller leiblicher Präsenz, anstatt bei Kerzenschein Sottisen und Bonmots zum Besten zu geben64 oder bei Dämmerlicht zum bloßen Auge des Unbewussten zu werden. Das gilt umso mehr für den Umgang mit den antiken Plastiken: Je fester die Statue in sich selbst begründet war, mit desto grösserer Unbefangenheit durfte sie sich nach aussen kehren, und sich allen Bedingungen fügen, welche

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das Wechselverhältniss einer griechischen Statue und eines griechischen Beschauers mit sich bringen mochte. Es ist ganz in der Ordnung, wenn die Statue auch ausserhalb der heiligen Tempelzelle nicht in sich selbst vereinsamt steht, wenn sie überall in nähere Berührung, in heitere Harmonie mit der sie umgebenden Wirklichkeit treten sollte, von wannen ja der Funken ihrer Beseelung zu erwarten stand. […] Wie der Tempel, so sollte auch der Markt des bewegten Volkes, sollten Berg und Thal sich des Schmuckes der Kunst erfreuen, die Natur selbst in ihr an höherer Bedeutung gewinnen, ja das ganze Gebiet des griechischen Lebens zu einem einzigen grossen poetischen Kunstwerk erhoben werden. Wie das Göttliche zur Kunstform herabgestiegen war, so neigte sich die Kunst der Wirklichkeit entgegen, und diese hob sich zur Kunst hinauf, wie das Sachliche des Gottesbildes zur Idee. […] In dieser Welt lag für den Griechen schon die zweite. Sein Jenseits war die zur Kunst verklärte Wirklichkeit.65

… wohlgemerkt: nicht die zur Wirklichkeit verklärte Kunst. Das ist der zweite wesentliche Unterschied und zugleich der zwischen einem wirklichen Mythenbewusstsein und einem mythischen Wirklichkeitsbewusstsein (etwa des Ästhetizismus). Selbst der gestaltgewordene Gott der Tempelbildnisse war nur räumlich und zeitlich entrückt, nicht der Wirklichkeit selbst, sodass er vor Ort – auf dem Markt, dem Schlachtfeld oder in seinen Tempeln – beizeiten durchaus anwesend sein konnte. In den Augen Feuerbachs ist das plastische Kunstwerk die Wahrheit selbst in Gestalt, »nicht etwa blos das Symbol eines abstrakten Begriffs, […] vielmehr der sichtbare Olympier selbst, seine körperliche Hülle«.66 Entsprechend habe die »höchste Aufgabe der griechischen Kunst« darin bestanden, die »Homerischen Gebilde in ihrer ganzen Herrlichkeit und Naturwahrheit hinzustellen, wie sie dem geistigen des Dichters vorgeschwebt hatten«.67 Damit hat sich aber zugleich ausgesprochen, dass die naturwahre Gestalt, die »körperliche Hülle« nicht schon dasselbe ist wie das (von Feuerbach sen. sogenannte) »Lebensprincip«,68 das lediglich vor dem äußeren Auge erscheint – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Diese Erscheinung seinerseits meint weder Sein noch Nichts, sondern Werden, den Wandel einer göttlichen Natur, und hat darin doch Teil an der allgemeinen physis, der die poesis lediglich eine Selbststeigerung, keinen Gegensatz bedeutet. In anderen Worten ist das Erscheinen selbst unvermittelter Ausdruck des »Lebensprincips«, das sich jedoch über diesen seinen Ausdruck, seine Erscheinung, vermittelt. Wem? – Einem Dritten und darüber letztlich wieder mit sich selbst: Dieselbe dichtende Kraft, welche die Idee der Götter zuerst in’s geistige Dasein gerufen, im Bildner dann sie zur sinnlichen Erscheinung geführt hatte, sie musste

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sich im Beschauer zum drittenmale thätig erweisen, um das plastische Bild wieder in den lebendigen Urquell der Dichtung zu tauchen. Sie verwandelte das Sein des Räumlichen in das Werden der Zeit, die Ruhe in Bewegung, schuf die tastbare Körperlichkeit zur Seele und Empfindung um, und führte den Gott aus dem engen Gefässe sinnlicher Umgrenzung zur Unendlichkeit der Idee zurück. Nun erst lebte das Bild; aber es war ein Leben in der Einbildung. Es war kein auf sich selbst beruhendes, in sich selbst geschlossenes Leben, sondern dichterische Bewegung in der Seele des Beschauers. Aus einem blos Sinnlichen war das plastische Bild in dem geistigsinnlichen Medium der Poesie, ein Sinnlichgeistiges geworden.69

Fragt man sich demnach, was das Poetische dieses »einzigen grossen« Kunstwerks, des antiken Gesamtkunstwerks ausmacht, von dem Feuerbach sen. zuvor gesprochen hatte, dann stoßen wir an dieser Stelle auf »den lebendigen Urquell der Dichtung«, gleichsam das »Lebensprincip« der Künste, auf die »dichtende Kraft« oder kurzum: abermals auf die Einbildungskraft. Es ist dabei vielleicht nicht unwichtig zu erwähnen, dass Feuerbach sen. sie kurz vorher noch indirekt von der »Phantasie«70 abgrenzt und das wohl aus dem Grund, weil er in der Einbildung zugleich jene Kraft erblickt, die sich vermittelt, die sich überträgt, sich anderem ein-bildet, anstatt einem Subjekt nur etwas vorzustellen. In anderen Worten: Die Einbildungskraft ist der allgemeine Umschlagspunkt aller Künste, der Einheitsgrund des Gesamtkunstwerks und seines Medienverbandes, letztlich das Übertragungsmedium schlechthin des Enthusiasmus: So wird das Werk eines Dichters im Werden desselben genossen und begriffen; es wirkt als Gestaltung, nicht als Gestalt, nicht als einzelner in sich geschlossener Moment eines Ruhenden, sondern als bewegte Reihenfolge von Momenten. Und wie die Einbildungskraft des Hörers nur dadurch zum Vollgenuss des poetischen Werkes gelanget, dass sie selbstthätig mitwirkend die Bilderreihe in ein Bild, die successive Entwicklung des Gedichtes unaufhörlich in die Summe einer Totalanschauung, eines einzigen ruhenden Moments zusammenfasst, die vorüberfliehenden luftigen Bilder zur Körperlichkeit verdichtet: so hatte der plastische Beschauer den umgekehrten Weg eingeschlagen; er hatte die ruhende Umgrenzung, das äusserliche Sein zur Bewegung des Bildes fortgeführt, im blossen Werke ein energisches successives Leben geweckt, um endlich alles in dem Sein, dem Bleibenden der Statue als ihr vollendetes Wesen, ihren geistigen Vollgehalt concentrirt zu finden.71

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Lessings Differenzierung in die raumbasierten Künste einerseits und die zeitbasierte Dichtung andererseits wird hier erneut zurückgenommen in den vermittelnden Einheitsgrund der Einbildungskraft, gleichsam in das Medium aller Medien. Was bei Lessing noch als mediale Divergenz erschien, erweist sich im Grunde als Komplementarität von Kunst und Dichtung. Diesem Übergang via Einbildungskraft entspricht aber zugleich derjenige zwischen Autor, Werk und Rezipient. Auf dieser Linie formuliert Feuerbach sen. die doppelte Aufgabe des Künstlers gegenüber dem »Beschauer«: [E]rstlich die Einbildungskraft desselben anzuregen, dann aber die angeregte wieder zu zügeln, und sie immer, auch in der freiesten Bewegung des Gedanken, bei der sinnlichen Anschauung des Bildes festzuhalten. Ward letzteres versäumt, so beschränkte sich freilich das ganze Wunder der Belebung auf den flüchtigen Blitz eines electrischen Funkens, mit dessen schnellem Verlöschen die Statue als eine hohle entseelte Puppe wieder zusammensank. Im entgegengesetzten Falle aber geschah es, dass die Einbildungskraft in dem Kunstgebilde nur ihre eigene neugewonnene Hülle empfand, und beide nun in einem gegenseitigen Austausch von Körper und Seele, von Ruhe und Bewegung zur vollkommensten Einheit sich ineinander verloren. – So war der Gott im engen Gehäuse seiner Statue, im beschränkten Raume des Tempels ein heimischer gewesen.72

Wir nähern uns erneut dem Apollo von Belvedere und bekommen mehr und mehr zu fassen, was ihn in den Augen des älteren Feuerbach als Theophanie qualifiziert. Die geschilderte positive Rückkopplung der Einbildungskraft, die sich im »gegenseitigen Austausch von Körper und Seele, von Ruhe und Bewegung« zugleich als eine sich hochschaukelnde Begeisterung erweist, macht zuletzt auch verständlich, unter welchen Voraussetzungen sich eine ästhetische Theophanie einstellen mag. Gelingt es dem Künstler, seine eigene Einbildungskraft im Kunstwerk derart Gestalt werden zu lassen, dass auch die Einbildungskraft des Betrachters in Schwingung versetzt wird, ohne sofort wieder aus dem Takt zu geraten, d.h. gelingt es, die Spannung der Einbildungskraft im Hin und Her der Übertragung aufrechtzuerhalten, so verdichtet sich gleichsam die Frequenz zu einer, jener bereits bekannten Vibration, bei der letztlich nicht mehr zu unterscheiden ist, wessen Einbildungskraft hierbei eigentlich im Spiel ist. Und im Grunde spielt es dort auch keine Rolle mehr, wo beide in der »vollkommensten Einheit sich ineinander« verlieren, Körper und Seele, Ruhe und Bewegung eins werden. Aus der ästhetischen Erfahrung eines Subjekts ist über die objektive Epiphanie der Statue eine Theophanie der Einbildungskraft geworden. – Misslingt es

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dem Künstler jedoch, folgt dem blitzartigen Auftakt ein ebenso plötzliches Aussetzen der Resonanz, indem sich die Einbildungskraft des Betrachters entweder in Abschweifungen verliert oder an mangelhaften, bisweilen effektheischenden Details aufhängt. In beiden Fällen jedoch stellt sich eine ästhetische Erfahrung ein – mag sich die Erscheinung auch im nächsten Augenblick wieder in Luft auflösen. Dieser erste Augenblick fordert darum unsere besondere Aufmerksamkeit, soll wiederum Feuerbachs Gastmahl in seiner eigenen ästhetischen Qualität gewürdigt werden. Werden wir uns klarer über die Verfassung dieses Augenblicks, indem wir ihn noch etwas eingehender anhand des vatikanischen Apollo studieren. Feuerbach sen. konstatiert bereits zu Anfang: Das erste, was wir bei dem Anblick desselben empfinden, ist Ueberraschung. Dieser Eindruck muss an sich schon für jede fernere Betrachtung entscheidend sein. Er muss mehr oder weniger auch den Empfindungen, welche ein längeres Beschauen erweckt, seine Farbe leihen, und kein Versuch, unsere Gefühle durch das Wort zum klaren Bewusstsein zu bringen, wird es verläugnen können, dass ihnen die Anregung eines überraschenden Momentes, eine Art Illusion zu Grunde lag.73

Und in der Tat haben wir selbst schon zu Ende des letzten Unterkapitels festgestellt, dass sich in diesem Apollo ein Moment des Erscheinens anmeldet, das uns nicht nur angeht, sondern geradezu angreift und trifft. Worauf es jetzt aber ankommt, ist, dieses Moment als einen bestimmten Anblick verstehen zu lernen, in dem sich eine spezifische Erscheinungsform der ästhetischen Erfahrung zeitigt, die wir der Sache und der Situation entsprechend das Apollinische nennen wollen. Arbeiten wir das noch etwas genauer heraus, indem wir uns zwei Momente deutlich machen. Erstens hat letztlich jedes Kunstwerk, sofern es diesen Namen verdient und als solches funktioniert, ein gewisses Überraschungsmoment an sich, durch das die ästhetische Erfahrung initiiert wird. Zweitens stellt Feuerbach sen. dieses Moment jedoch im Besonderen heraus, weil er damit zugleich, wir erinnern uns, das allzu eng gefasste klassizistische Ideal von »edler Einfalt« und »stiller Grösse« anhand des vatikanischen Apollo zu berichtigen trachtet. Schauen wir von hieraus nochmals auf Winckelmann zurück, können wir zugleich beobachten, inwiefern beide Momente zutreffend sind. In der bereits zitierten Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst und dem Unterrichte derselben geht Winckelmann an einer Stelle noch etwas genauer auf die für die Empfindung des Schönen erforderliche Beschaffenheit es inneren Sinnes ein, indem er drei Eigenschaften desselben namhaft macht: Er

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»muß fertig, zart und bildlich sein«. Es ist nicht nötig, alle drei Eigenschaften im Einzelnen aufzuarbeiten, um eine wesentliche Beobachtung machen zu können, die sich auf die erste und zweite Eigenschaft bezieht: Fertig und schnell muß derselbe sein, weil die ersten Eindrücke die stärksten sind und vor der Überlegung vorhergehen: was wir durch diese empfinden ist schwächer. Dieses ist die allgemeine Rührung, welche uns auf das Schöne zieht, und kann dunkel und ohne Gründe sein, wie mit allen ersten und schnellen Eindrücken zu geschehen pflegt, bis die Untersuchung der Stücke die Überlegung zulässt, annimmt und erfordert. […] Zart muß dieser Sinn mehr als heftig sein, weil das Schöne in der Harmonie der Teile besteht, deren Vollkommenheit ein sanftes Steigen und Sinken ist, die folglich in unsere Empfindung gleichmäßig wirkt und dieselbe mit einem sanften Zuge führt, nicht plötzlich fortreißt.74

Der Übergang des ersten überraschenden, schnellen und doch fertigen Moments zum zweiten Moment einer zarten Auffassung, die dem sanften Steigen und Sinken innerlich folgt, quasi in den Rhythmen der Harmonie mitschwingt, – dieser Übergang kommt mit dem letztlich überein, was wir bei Feuerbach sen. als Gelingen (des Kunstwerks als Übertragung der Einbildungskraft) kennengelernt und als apollinische (ästhetische) Erfahrung benannt haben. Wie wir jetzt noch deutlicher sehen, zeichnet sie sich durch einen überraschenden Auftakt aus, der sich dann jedoch allmählich und harmonisch entwickelt und dabei selbst einen Übergang der Vermittlung, wie Winckelmann andeutet, nicht zuletzt von Empfindung und Verstand darstellt. Man geht wohl nicht fehl, wenn man dieses Verhältnis mit Blick auf die Theorietradition der Ästhetik seit Edmund Burkes Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757 als Erfahrung des Schönen beschreibt. Es ist ein Schönes, das gewissermaßen in voller Blüte steht und doch schon seine Früchte ahnen lässt. Lessing hat in seinem Laokoon diesen Augenblick als den fruchtbarsten beschrieben75 und darin die Zustimmung nicht allein des älteren Feuerbach gefunden. Was damit gemeint ist, lässt sich auch so umschreiben, dass die bildenden Künste mit ihrem Hang zu räumlichen Verstetigungen des zeitlichen Wandels gut daran tun, nicht den Augenblick selbst des jeweiligen Ereignisses oder Affekts, bildlich gesprochen den der Befruchtung, festzuhalten, sondern jenen kurz davor, aus dem sich alles Weitere jedoch schon – oder wie man sagen müsste: allererst und überhaupt – im Geiste entfalten lässt. »Dem Beschauer die äusserste Stufe einer Gemüthsaufregung zeigen, heißt seiner Einbildungskraft ›die Flügel binden‹.[…] Der griechische Künstler indessen hatte kei-

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nen vernünftigen Grund, die Einbildungskraft des Beschauers in Fesseln zu legen, und einer Psyche die Flügel zu binden, von deren Gunst vielleicht der letzte noch fehlende Prometheusfunke zu erwarten stand.«76 – Dieser »Prometheusfunke« ist, wie zu erwarten, das »Lebensprincip« im Beschauer, durch das die Statue – bisweilen bis zur »vollkommensten Einheit« von Subjekt und Objekt – belebt und beseelt, letztendlich begeistert wird. Letzteres, die Begeisterung, legt dabei offen, dass gerade das Im-Geiste-Fortspinnen des Augenblicks diesen erst als einen ästhetischen qualifiziert, und zwar indem hier die Gegenwart durch die unmittelbare Vergangenheit und Zukunft angereichert wird;77 man könnte sagen, im Zuge dieser zeitlichen Verdichtung ein Quäntchen Ewigkeit preisgibt: Es ist etwas mehr als poetische Redensart, wenn Winckelmann von einem ewigen Frühlinge spricht, der die reizende Männlichkeit des vaticanischen Apollo bekleidet. Die Momente verschiedener Altersstufen sind in einen einzigen zusammengefasst, sie haben dadurch aufgehört, Momente der Zeit, des Wechsels, der Vergänglichkeit zu seyn. Dieser Apollo ist weder Kind noch Jüngling oder Mann, wohl aber alles diess zugleich […]. Unserer Einbildungskraft ist es rein unmöglich, sich einen zeitlichen Entwickelungsgang dieser Gestalt zu denken; oder an die Möglichkeit eines späteren Niedersteigens in menschliche Vergänglichkeit zu glauben. Der Apollino ist nur ein knabenhafter Jüngling; er kann zum Manne reifen und dann verblühen; der vaticanische Apollo steht vollendet da für immer, ein Augenblick hat ihn ins Daseyn gerufen, aber es war ein ewiger.78

Das erfordert hingegen vom Betrachter, dass er sich nicht nur in die momentane Lage hineinversetzt, sondern auch die Geschehnisse in ihrem Kommen und Gehen vor dem inneren Auge auf- und abzurufen vermag; es erfordert von ihm nicht weniger als einen ebenso frischen wie reifen Blick, der sich der erstrebten Formvollendung, dem Anflug überzeitlicher Klassizität nicht verschließt, sondern – Gleiches erkennt Gleiches – offen und aufmerksam bleibt für dieses ewige Knospen in den Verästelungen der Zeit. So ist diese Form der ästhetischen Erfahrung von uns auch nicht zufällig als apollinische bezeichnet worden, setzt sie doch voraus, dass der Rezipient dergleichen wie eine mythisch-urbildhafte Erinnerung (im Sinne der platonischen anamnesis) daran besitzen muss, was vor seinem äußeren Blick erblüht. Befruchtung und Ernte vollziehen sich demnach im Geist des Beschauers vor einem kanonischen Bildungshorizont, ohne den Kunstwerke wie der Apollo von Belvedere in ihre »Classicität« nicht erfahrbar werden,79 stattdessen der eigenen ewigen Frühlingshaftigkeit verlustig gehen und nur noch in der ›alten Frische‹ einer bloß flüchtigen Attraktion erscheinen.

2.3 Apollinische Attraktion

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Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass Feuerbach jun. diese Überlegungen zum fruchtbarsten Augenblick gekannt und bei seinen zumeist mythischen Sujets auch angewandt hat.80 Alles spricht dafür, dass hierin die Quelle seiner Naturauffassung und Darstellungsweise zu suchen ist, insbesondere dort, wo es ihm um den entscheidenden Unterschied zwischen Historien- und Genremalerei, zwischen monumental-ergreifender und anekdotisch-kitzelnder Vergegenwärtigung geht: Die Historienmalerei, gleichviel in welcher Größe sie auftritt, dokumentirt sich stets in der totalen Erschöpfung einer Darstellung. Sie darf nie episodisch schaffen, sondern ihre Gestaltungen bei aller Individualität müssen immer der Typus einer ganzen Gattung sein. […] Auch hier thut die Größe der Bildfläche nichts zur Sache, sondern typische Größe der Form & Gestaltung, Silhouette & Linie, gleichviel ob farbig od. grau und grau ist hier allein maßgebend.81

Was demnach die Historienmalerei vom Genre unterscheidet, ist die istoria, die sich letztlich allein durch den disegno entfalten lassen soll. Was an dieser Stelle hindurchscheint, ist eine genuine »Classicität«, die apollinische Schönheit eines Gesichtspunktes, die sich in der bis zur durchscheinenden Ewigkeit verdichteten Zeitlichkeit, Geschichtlichkeit, Mythenhaftigkeit des Augenblicks in eins offenbart als die reinste Blüte deutsch-römischer Kunstandacht: Es ist der »Typus einer ganzen Gattung«, die ›Idea‹ eines idealistischen Humanismus, die in der Linie von Raffael bis Cornelius auch bei Feuerbach noch hervorscheint. Der fruchtbarste Augenblick zeigt sich so ebenfalls bei Feuerbach jun. gleichsam in der reinsten Blüte der Zeichnung; einer Blüte jedoch – und hierin zeigt sich zugleich der Unterschied zu den Vorgängern und Nachfolgern –, die im Begriff ist, eher gepflückt zu werden denn befruchtet. »Jede gesetzliche Schranke in der Kunst ist durchbrochen und der Schlamm der Alltagsmenschen überflutet das poetische Gebiet. Hie und da steht noch eine Blume, allein sie muß sich täglich wegen ihrer Existens entschuldigen.«82 Es ist anzunehmen, dass Feuerbach jun. sich selbst für eine solche »Blume«, ja für die, vielleicht letzte deutsch-römische Blüte gehalten haben mochte. Im Rückblick aber wird man sagen müssen, dass es nicht mehr gefruchtet hat; dies weniger, weil man ihn abgeschnitten hätte, vielmehr weil er es selbst tat, um sich vor dem »Schlamm der Alltagsmenschen« zu verwahren. Auf welche Weise aber? Wäre in dieser Defloration klassischer, ewiger Jugendlichkeit etwa die reizende, doch bisher fruchtlose Paramodernität von Feuerbachs Werk zu sehen, nicht zuletzt der kühle Frühling seines Kolorits?

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… Ach, er möchte wie ein Quell versiechen, Jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen Und den Tod aus jeder Blume riechen: Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!

2.4 Dionysische Defloration Was mit dieser Defloration der klassischen Kunstblüte, der apollinischen Schönheit, gemeint ist, zeigt sich nirgends deutlicher als in der ersten Fassung von Feuerbachs Gastmahl des Plato. Heute besteht kein Zweifel mehr, dass Feuerbachs ›graue Periode‹ nicht von seinem Unvermögen zeugt, die venezianische Kolorierung, wie er sie etwa im Tod des Arentino (1854) mit Bravour vorgeführt hatte, beizubehalten;83 stattdessen hat man – neben der bereits erwähnten Bevorzugung des florentinischen disegno – unterschiedliche Erklärungen für das Farbkonzept gefunden, die alle ihr Wahres haben, selbst wo von einer »musealen Patina« die Rede ist, die Feuerbach seinen Bildern verliehen habe, um »das künstliche Alter« vorzutäuschen.84 Summarisch heißt es hierzu bei Ekkehard Mai: Graue Reliefmanier und blasse Tönung hielt man dem ›Gastmahl‹ vor, Farbmangel und Missfarbigkeit. Dabei hatte Feuerbach die Farben Grau und Violett mit Bedacht gewählt, entsprachen sie doch der plastischen Antike, die er schon beim Vater und dessen ›Apoll‹ beschrieben fand. Überdies hatte er bei Couture und den Franzosen und nicht zuletzt bei Rahl die Farbe Grau entdeckt. Sie sollte durch Verhaltenheit Sprachmittel seiner Botschaft und des Historienbildes sein.85

In der Tat fanden sich unter den zeitgenössischen Kritikern der Großen Internationalen Kunstaustellung in München 1869, wo das Bild erstmals ausgestellt wurde, einige, die das Kolorit rügen zu müssen meinten und sich dabei sogar einen sarkastischen Ton nicht verkneifen konnten. Andere mochten sich zwar für die Farbgebung nicht sonderlich erwärmen, würdigten aber die kompositorische Umsetzung des ambitionierten Entwurfs, und wieder andere meinten, nach anfänglichem Zögern, gerade in dieser gedeckten Farbgebung das richtige Medium zur Entfaltung der Komposition zu erblicken.86 Feuerbach jun. selbst sollte später in seinen autobiographischen Aufzeichnungen zu verstehen geben, was geradezu trivial, wenn auch nicht banal ist: »Das von hinten im Bilde hereinfal-

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lende Licht bringt alles in Halbschatten & gibt der Sache den nächtlich strengen Eindruck.«87 Wie auch im platonischen Text handelt es sich um eine Abend- und Nachtszenerie, in der die Dinge nicht nur eine andere Färbung erhalten, sondern auch die Verhältnisse selbst in ein gewisses Zwielicht getaucht werden. Hat das aber Bedeutung über eine Imitation der literarischen Szenerie hinaus? Und spielen dabei auch Überlegungen seines Vaters eine Rolle? Eine Bemerkung aus den Italienbriefen des älteren Feuerbach, die bisher unbeachtet geblieben ist, mag dem Leser ein Licht aufstecken. Nachdem er seinen Apollo im Vatikan schon mehrmals aufgesucht hatte,88 kehrte Feuerbach sen. am Weihnachtsabend zurück, um im Fackelschein die folgende Beobachtung zu machen: »Die Wirkung ist unglaublich, unbeschreiblich! Mein Apollo zeigte sich gleich göttlich von allen Seiten, was ich nicht erwartete. […] Die Nische des Gottes war halb erleuchtet; er selbst, wie ein Lichtwesen schwebend, leicht, gewaltig, voll Freiheit und Kraft, und doch fast wie körperlos!«89 – Einmal davon abgesehen, dass man die Szene als pagane Variation der weihnachtlichen Gottesgeburt lesen kann, scheint Feuerbach sen. hier eine ästhetische Begegnung von theophaner Qualität zu schildern, die durchaus mit den ehemaligen Lichtverhältnissen im Heiligtum vieler antiker Kultstätten übereingestimmt haben dürfte90 und auch Feuerbachs Kolorit nochmals anders sehen, gleichsam von innen leuchten lässt. Man kann diese kleine Anekdote gewissermaßen als indirekte und ungewollte, doch reale Veranschaulichung einer anderen Passage im Vaticanischen Apollo begreifen: »Darum war es auch nur ein Anflug von Karnation; denn vollständiges Kolorit hätte nicht in das Scheinleben der Statue, sondern in den Scheintod der Wachsfigur geführt.«91 – Man muss sich jedoch den gesamten Kontext vergegenwärtigen, um nicht das Wesentliche für Feuerbachs (sen. und. jun.) Antikenauffassung über eine Nebenbemerkung aus den Augen zu verlieren: In dieser schwankenden Bewegung zwischen Kunst und Wirklichkeit lag ein eigenthümlicher Reiz verborgen. Es war eine ächt poetische Stimmung, welche der einsame Wanderer empfinden mochte, wenn ihn das Bild des Pan in der stillen Grotte überraschte, […] oder in schattigen Hainen die Statuen der Nymphen, des Bacchus und seiner Begleiter an derselben Stelle entgegentraten […] und Horaz in dichterischer Verzückung glaubte, den Bacchus selbst gesehen zu haben! Die goldenen Diademe und Spangen aber, die eingesetzten Augen, die künstlichen Farbentöne der Statue und was sonst noch gegen das System einer abstracten Plastik verstossen mag, waren nichts als eine zarte Vermittlung des Ewigbleibenden in der Statue mit dem bunten Glanze der Erscheinung; sanfte Uebergänge aus dem geheimnisvollen Tempel der Kunst in das helle Gebiet der Wirklichkeit.

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Sie öffneten das Kunstwerk gegen die Einbildungskraft des Beschauers, lockten auch das blödere Auge durch den Zauber eines bunten Sinnenscheins in die ernste Betrachtung des höheren poetischen Scheines. Darum war es auch nur ein Anflug von Karnation; denn vollständiges Kolorit hätte nicht in das Scheinleben der Statue, sondern in den Scheintod der Wachsfigur geführt. Der Einbildungskraft war eine Stütze geboten, an der sie sich orientiren lernte; – aber sie habe sich nur in der ideellen Welt zurecht gefunden, so sinkt die bunte Irisbrücke hinter ihr zusammen, und überlässt sie dem poetischen Traume der höheren poetisch-plastischen Wirklichkeit. Wie leicht übrigens dieser Dichtungsprocess in der Einbildungskraft des griechischen Beschauers, deren Lebhaftigkeit wir uns nicht gross genug denken können, von Statten gehen musste, ergibt sich aus der ganzen Art und Weise des antiken Lebens. Wie Religion, so liessen auch Vaterland und Nationalstolz das Interesse für Werke der Kunst nie erkalten. In tausend Fasern war die Statue mit der griechischen Welt gleichsam verwachsen; für uns aber ist sie nur eine aus dem Zusammenhange eines grossen Lebensbuches herausgerissene Stelle, ein todtes, oft unverständliches Fragment.92

Das längere Zitat sei damit entschuldigt, dass erst anhand dieser Rahmung deutlich wird, wie all jene uns schon vertrauten Momente sich hier um die Frage der »Karnation« und des »Kolorits« lagern, während es im Ganzen wiederum das Ganze antiken Lebens und des »Lebensprincips« selbst vorm geistigen Auge des Lesers erstehen lässt. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass Feuerbach sen. die poetisch-plastische Einbildungskraft, von der er spricht, selbst besaß93 und dadurch jene ästhetischen Theophanien nicht nur zu erklären, sondern seinerseits heraufzubeschwören vermochte. Was dem Vater aber im Medium des Wortes recht war, konnte dem Sohn im Medium des Bildes nur billig sein. Dass beide Medien durch die Einbildungskraft ihrerseits vermittelt sind, haben wir schon erfahren; wie sich beide Sphären jedoch ineinander kongenial übersetzen lassen, der medialen Differenzen durchaus eingedenk, zeigen wiederum Feuerbachs (jun.) Bilder im Ausgang von Feuerbachs (sen.) Worten. Die Räumlichkeit der Skulptur, die Flächigkeit des Bildes und die Linearität des Wortes lassen je auf ihre Weise das Ganze ihrer Vermittlung aufscheinen. Wenn die Plastik von ihrer Schwesterkunst, der Malerei, den Schmuck der Farben borgte, oft durch die ganze Construction der Statue sich in die Fläche des Gemäldes verlor, so eignete sich die Malerei dagegen durch Hervorheben des menschlichen Organismus und fast gänzliche Ausschließung des Landschaftlichen, durch das reliefartige Nebeneinander der Figuren, den Charakter der Plastik an. In bei-

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den dann wieder das sichtliche Streben, sich zur Bewegung und Bedeutsamkeit der Poesie zu vergeistigen!94

Ohne damit behaupten zu wollen, dass der Sohn bloß die Ideen des Vaters ins Bild gesetzt habe, lässt sich doch für das künstlerische Schaffen des Ersteren bemerken, dass er gleichsam die Offenbarungen und Dogmen der deutschen Kunstreligion, die sich im Vaticanischen Apollo des Letzteren angesichts seines marmornen Urbilds bündeln, auf das Malerischste veranschaulicht. Der Geist der »Classicität« findet in Feuerbachs Kunst zu einem neuen »Scheinleben«; in Form, Karnation und Kolorit seiner Kunstwerke, allen voran in der Gestalt des Gastmahls, kommt es zu seiner erneuten und zugleich letzten Wiederbelebung. Welcher Art diese Wiederbelebung ist, ergibt sich bereits aus der suggestiven Schilderung des Vaters, ihrer durchkomponierten Dramaturgie und ihrer gedämpften Färbung95 sowie den abschließenden, im Ton nachtrauernden Worten: Es handelt sich gleichsam um eine Grabrede aus dem Mund eines Freundes und im Andenken des Gewesenen, bestrebt die Erinnerungen noch einmal zusammenzutragen, um sie der Nachwelt zu überliefern. Feuerbachs bildende Kunst dagegen verhält sich zu den letzten Grußworten des Vaters gleichsam wie das der Grabrede entsprechende Grabrelief: In Reliefs, den figurenreichen besonders, ist dichterische Composition und Bedeutsamkeit zum typischen Style dieser Kunst geworden. Die natürlichen Dimensionen des Raumes sind willkührlich einem inneren Bedürfnisse untergeordnet, die entferntesten Gegenstände auf eine Art zusammengerückt, wie dies nur dem Fluge der Gedanken, der Einbildungskraft des Dichters erlaubt ist. Statt einen einzigen Moment herauszuheben, ist oft die Handlung in einer ganzen epischen Reihe dem Auge gleichsam vorerzählt […]. Der Beschauer ist in eine durch und durch nach eignen innern Gesetzen construirte Welt versetzt.96

Wir haben bereits gesehen, wie es im fruchtbaren Augenblick (Lessings) zu einer raumzeitlichen Verdichtung der Ereignisse kommen soll, die in Kompositionen Feuerbachs des Jüngeren wie auch im Gastmahl zu Tage treten und darin eine gewisse Verwandtschaft zur antiken Reliefkunst im geschilderten klassischen Sinne aufweisen. Was hier jedoch als »willkührliche« Anpassung des Raumes an die Einbildungskraft des Künstlers und Betrachters und als »epische« Reihung noch zu einem surrealen Effekt führt, hat insbesondere im Gastmahl des Plato bereits eine kompositionelle Natürlichkeit gewonnen, bei der es tatsächlich für einen Moment so scheint, als ob linke und rechte Bildhälfte isoliert und doch

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zugleich verbunden wären. Mit anderen Worten: Was Feuerbachs Kunst hier gelingt, ist die räumliche Ausdehnung eines Zeitmoments zu einem erfüllten, vollends ausgefüllten, nicht nur fruchtbaren Augenblick, der die volle Spannbreite eines Ereignisses ermisst, ohne bloße Momentaufnahme, Foto, oder schon überblendende Bilderfolge, Film, zu sein. Stattdessen oszilliert der Blick des Betrachters gleichsam mit einer Geschwindigkeit, die jene in sich ruhende Vibration erzeugt, welche die Sehne weder erschlaffen noch reißen lässt: das nunc stans. Es scheint so, als ob man selbst eintreten könnte in die zeitenthobene Schwebe dieses Moments, in diese Resonanzräume einer in Schwingung versetzten Einbildungskraft. – Und doch befällt die ganze Szenerie immer wieder die Kälte einer Frage: Regiert die Gebärden der einzelnen Gruppen und Gestalten nicht dieselbe innere Distanz untereinander wie auch zu uns als ihrem insgeheimen Gast? Gerade jene »edle Einfalt« – ist sie nicht zu einer in sich verlorenen Einsamkeit geworden; jene »stille Grösse« – zu einem Verstummen der Götter? Als ob das Licht von seinen geworfenen Schatten zuletzt selbst getroffen würde und in der künstlichen Beleuchtung den letzten Halt suchte vor dem Heraufziehen der Nacht. Was spielt sich ab zwischen diesen Schatten- und Lichtgestalten, in diesem verewigten Zwielicht? Gehen wir mit Feuerbach sen. in der folgenden Passage noch einen Schritt weiter, dann durchschreiten wir gleichsam die Bildfläche und übertreten die Schwelle zum Inneren dieses Bildraums: Was wir dort gewahren, hat die letzte Vollendung und gedämpfte Pracht eines Grabmahls. Was sich darin auftut als erstes und letztes antikes Gesamtkunstwerk ist zugleich der Tod wie die Hoffnung der modernen Kunstreligion – die Wiedergeburt der Tragödie: Auf das lebhafteste erinnern die Reliefs des älteren Kunststyls an Darstellungen der griechischen Bühne. Die Göttergestalten namentlich haben auf jenen Werken in Bewegung und Geberdenspiel durchaus etwas theatralisches. Es sind die Gesten sehr markirt, und von ganz eigenthümlicher Zierlichkeit, die Schritte die eines Tänzers, und besonders die Art, wie die weiblichen Figuren das Gewand emporziehen, oder zu weiten Schwingungen wölben, unverkennbar Tanz- und Theaterattitüde. […] In gar manchem Punkte ist das Verhältnis des Drama zur Plastik, als ein Verhältniss der Wechselwirkung zu betrachten.97

Das Theatralische, von Feuerbach sen. noch als die lebendige Bündelung aller künstlerischen Medien in der Gesamtform der griechischen Tragödie verstanden, gewinnt dagegen mit seiner gewollten Fortsetzung im modernen Gesamtkunst-

2.4 Dionysische Defloration

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werk eine Affektiertheit, die bereits einen Verlust von Authentizität gegenüber dem antiken Vorbild anzeigt – oder wie man mit Blick auf die »zur Kunst verklärten Wirklichkeit« sagen müsste: dem antiken Gesamtkultwerk. So betritt der Beschauer im Zwielicht und der Dämmerung des Opernhauses gleichsam die Grablege des griechischen Dramas, um, in seinem Sitz versunken, alsbald selbst in Totenstarre zu verfallen und einer Beschwörung beizuwohnen, deren wiederbelebte Gestalten mit dem ersten Anflug von Tageshelle, der Götterdämmerung der Saalbeleuchtung, sich erneut verflüchtigen. In diesem Zwielicht aber wird auch die theatralische Kunst des Gastmahls erstmals fassbar und zu ihrem eigenen »Scheinleben« erweckt. In ihm verkörpert sich noch einmal das tragische »Geberdenspiel« antiker »Göttergestalten«, die reliefartig ihr Dahinscheiden durchlaufen, um am Schluss ihre Beschauer zurückzulassen wie einen tragischen Chor ohne Protagonisten. Doch noch dominieren sie die Szene, begegnen dem Beschauer in der statuarischen Erhabenheit einer nur abgeblassten Wirklichkeit. An diese Götter noch zu glauben, trotz ihres voraussehbaren Endes, bildet den Zwiespalt eines paramodernen Bewusstseins. Irgendwo zwischen moderner Kultur und antikem Kult, zwischen passiver Erwartung erlösenden Scheins und der aktiven Teilnahme am tragischen Untergang wird die Flucht der Götter selbst zur Theophanie. Sie ist festgehalten in Feuerbachs Gastmahl wie die versteinerte Spur der entflohenen Götter, wie der letzte Wink jenes unsterblichen, doch abgesetzten Gottes, der just seine Musen auf den Parnass zurückruft, bevor bald nur noch ihre Schatten die Museen bevölkern. In diesem Gott des ästhetischen Scheins, einer von Schönheit glänzenden Götterhelle, verklärt sich noch einmal die antike Szenerie, bevor sie gänzlich in einem neuen Dunkel versinkt. Was sich stattdessen einstellt, ist die moderne Götterdämmerung, was bereits heraufzieht, eine Götternacht, die sich nur noch vereinzelt und in vernichtender Plötzlichkeit98 erhellt. Erinnern wir uns an dieser Stelle nochmals der Beschreibungen, die Feuerbachs Vater der apollinischen Erfahrung des Schönen gewidmet hat, dem Gelingen und Misslingen einer sympathetischen Übertragung in der Einbildung (die ihrerseits Winckelmanns Fähigkeit der Empfindung des Schönen berühren), so erklärt sich fast von selbst, warum die Kritik des Sohnes vor allem dem »Makartismus« als der »pathologische[n] Erscheinung der Neuzeit« galt: Wenn Feuerbach jun. etwa gegen die bloße »Illumination« polemisiert, die alles »brauchbare zusammen trägt, um eine erträgliche Verblüffung zu erzielen«, und ihr stattdessen das wahrhaftige »Colorit« entgegensetzt als »das concentrirte, potenzirte Spiegelbild der uns umgebenden Dinge«, als »der verklärte Abglanz einer poetischen Seele«,99 dann zielt er letztlich auf jenes Misslingen, das auf den ersten Blick brilliert, um

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Abb. 7: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl (nach Plato), zweite Fassung, 1873/74. Öl auf Leinwand, 400 x 750 cm. Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie.

den zweiten ins Nichts zu führen. Vor allem eine blendende Farbenpracht und die nicht selten anzüglichen Sujets Makarts schienen Feuerbach zu bestätigen, dass der inszenierte Sinnenrausch per se nicht lange genug vorhält, um zu einer eingehenden Kontemplation einzuladen. »Nur im gründl. Studium der Natur ist ewiger Fortschritt denkbar. Im entgegengesezten Falle ist man auf Überbietung seiner selbst angewiesen und endigt in steter Wiederholung dessen[,] was man schon längst ausgesprochen hat.«100 Und dennoch ist es dieser Aufsehen erregende, sich selbst überbietende Duktus, von dem auch Feuerbachs zweite Fassung des Gastmahls nicht ganz frei geblieben ist (Abb. 7). Was wir bei diesen Illuminationen gewärtigen, ist die bis zum Äußersten getriebene Überraschung, eine schockhafte Erscheinung, das blitzhafte Aufleuchten und Verglimmen einer erhabenen Erfahrung, die dem Beschauer zugleich die Einsicht wie einen Einschlag beschert, dass auch das Schöne letztlich sterben muss, das »Menschen und Götter bezwinget«.101 Stattdessen ist es diese disruptive Gewalt selbst als brutale Wirklichkeit, die das harmonische Spiel der Einbildungen durchkreuzt, die vibrierende Stille mit einem schrillen Laut des Jauchzens oder des Leids zerreißt und uns nun – mehr aus Furcht denn aus Zuneigung – Bewunderung abverlangt. In ihr waltet ein anderer Gott, gähnt ein himmelschluckender Abgrund, gärt die ewige Wollust des Chaos. Sie untergräbt bereits die olympische Ordnung von Feuerbachs Gastmahl: Es ist das leiblich-erotische Moment, das mit der lasziven Figurierung des Alkibiades bis an die Grenze des Skandals getrieben wird. Seine durch die knappe Verhüllung noch gesteigerte Nacktheit hat dem Bild nicht geschadet; im Gegenteil, sie hat seine ästhetische Erfahrung um eine wesentliche Dimension erweitert – um das Erscheinen des Dionysos, das Dionysische.102 Mag sich der Effekt auf Feuerbachs Gemälde sowie im platonischen Dialog auch im nächsten Moment schon wieder verflüchtigen, so meint man doch an dieser Erscheinung, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick zu gewahren, dass mit Feuerbachs Gastmahl des Plato der Götterglaube seiner Väter, einer allzu ›platonischen‹ Griechenbegeisterung, der Katheder-Classicität oder des deutschrömischen Neuhumanismus, endgültig gestorben ist. – Doch vielleicht urteilen wir zu vorschnell. Vielleicht ist diese Kritik nicht weniger ein Missverständnis. Wer sich dagegen auf Feuerbachs Gastmahl des Plato tiefer einlässt, sieht sich durch dieses Grabrelief auf ein Geheimnis gestoßen, das der oft belächelte Neuhumanismus gleichsam mit ins Grab genommen hat. Wurde die »edle Einfalt« und »stille Grösse« der deutsch-römischen Phantasie, woran schon Feuerbach sen. zweifelte, nicht seit jeher zu statisch-statuarisch gedacht? – Als eine bloße Apotheose des Bildungsphilisters?

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Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.103

2.5 Interruptio Erinnern wir uns abschließend nochmals der Verwunderung, die Winckelmanns Auftreten unter den Trümmern der Alten bei ihren modernen Nachfahren hervorrief, dann zeigen sich bei genauerem Hinsehen in der Distanz der gebürtigen Römer, wie schon Behrenhorst bemerkte, zwei Seiten: zum einen die einer Bewunderung für den enormen Wissensschatz des Cicerone und zum anderen die einer Befremdung angesichts der damit einhergehenden Attitüde, schwankend zwischen kultureller Überheblichkeit, oberlehrerhaftem Auftreten einerseits und der Sehnsucht nach antiker Ursprünglichkeit, nach rein menschlicher, nicht humanistisch überhöhter Freundschaft andererseits. Wo Letzteres den Rompilger in den Spuren Winckelmanns erst gar nicht in den Sinn kam, mochten regelrechte Beschwerden über die römischen Verhältnisse kaum ausbleiben. So schien etwa Herman Riegel im Jahr 1868 »dieses versumpfte Rom« der Ort, »wo man […] nothwendig den Glauben an die Menschheit verlieren müßte. […] Niemand, der in der Gegenwart leben will, kann in Rom leben. Nur für den historischen Sinn ist Rom unvergleichlich.«104 – Auch Friedrich Pecht, seines Zeichens Maler und später einer der wichtigsten Rezensenten des jüngeren Feuerbach, konnte schon 1852 angesichts italienischer Art und Kunst nicht mehr an sich halten. Er sprach von »H-malerei«: »Eine solche ausschließliche Besetzung des Marktes durch französische schlüpfrige Bilder ist mir noch nirgend vorgekommen […]. Dieser Cynismus geht durch alles italienische Leben, durch ihre ganze neuere Kunst; es handelt sich bei diesen Bildern immer […] darum, die Sinne zu reizen, keineswegs das Gemüth zu ergreifen und zu erheben.«105 – Und schließlich auch Goethe sollte bereits in seinem WinckelmannDenkmal den zeitgenössischen Bericht eines Freundes einschalten (mutmaßlich Wilhelm von Humboldt), der ähnliche Töne anstimmte, wenn auch den Kontrast zwischen Wunsch und Wirklichkeit bewusster herausstellte: Rom ist der Ort, in dem sich für unsere Ansicht das ganze Alterthum in Eins zusammenzieht, und was wir also bei den alten Dichtern, bei den alten Staatsverfassungen empfinden, glauben wir in Rom mehr noch als zu empfinden, selbst anzuschauen. […] Es gehört allerdings das Meiste von diesem Eindruck uns und nicht dem Gegenstande; aber es ist nicht bloß der empfindelnde Gedanke, zu ste-

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hen, wo dieser oder jener große Mann stand, es ist ein gewaltsames Hinreißen in eine von uns nun einmal, sei es auch durch eine nothwendige Täuschung, als edler und erhabener angesehene Vergangenheit; eine Gewalt, der selbst, wer wollte, nicht widerstehen kann, weil die Öde, in der die jetzigen Bewohner das Land lassen, und die unglaubliche Masse von Trümmern selbst das Auge dahin führen. […] Nur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen muß das Alterthum uns erscheinen. […] Wir haben immer einen Ärger, wenn man eine halb versunkene [Ruine, Anm. FA] ausgräbt; es kann höchstens ein Gewinn für die Gelehrsamkeit auf kosten der Phantasie sein. Ich kenne für mich nur noch zwei schreckliche Dinge, wenn man die Campagna di Roma anbauen und Rom zu einer polizirten Stadt machen wollte, in der kein Mensch mehr Messer trüge.106

Alle diese Belege, denen man leicht weitere aus zwei Jahrhunderten DeutschRömertum an die Seite stellen könnte, teilen einen gewissen Bildungsdünkel, der einmal mehr ins Philisterhafte, das andere Mal eher ins Libertäre ausschlägt. Wir haben ihn oben als eine nicht zu übersehende, gewissermaßen vordergründige Seite der Winckelmanie beschrieben; und dennoch haben tiefere Grabungen zu Tage gefördert, dass in Winckelmanns Philhellenismus zugleich ein pädagogischer Eros rege war, der letztlich nicht auf Besserwisserei, sondern innigste, »heroische« Freundschaft abzielt. Letztere aber, vor allem durch ihre an Mensch und Marmor erfahrene Sinnlichkeit, bildet nun den denkbar schärfsten Kontrast zu der sublimen Verklemmtheit etwa eines Friedrich Pecht; und letztere erlaubt es uns erst zu ermessen, was wiederum dem Archäologen Feuerbach und seinem Maler-Sohn zu einem anderen realen Stück Romerfahrung wurde. In der Zeit nach seinem Romaufenthalt 1839/40 schreibt der frühere Autor des Vaticanischen Apollo: Ich zeigte einem namhaften, sonst hochverdienten und mir persönlich werthen Archäologen die Zeichnung eines Vasengemäldes, welches ich zum ersten Male edirt und er noch nicht gesehen hatte: die Sühnung des Orestes. Aber sein Auge überflog nicht die gefällige Anordnung des Ganzen; nicht die reizende Gruppe der schlummernden Furien, nicht das Ausdrucksvolle des schwermüthig harrenden Muttermörders, nicht die Schönheit des Apollon und der stille Reiz seiner Schwester war für ihn vorhanden. Sein erster Blick fiel sogleich auf das Schwein, welches Apollon zur Sühnung über das Haupt des Orestes hält, und an dieser Schweinerei blieb er haften; und mit dem Momente, wo seine mythische Bedeutung errathen war – und dazu brauchte es nur eines Momentes –, wurde das Blatt gleichgültig bei Seite gelegt.107

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Was Feuerbach sen. gegen Ende seiner Geschichte der griechischen Plastik seinen Studenten vorgetragen haben dürfte, zeugt weniger von gekränktem Stolz ob eines seltenen Fundstücks und einer gelungenen Handzeichnung nach dem Original, die ihm nicht gebührend gewürdigt schienen, als von einer geradezu klassisch zu nennenden déformation professionelle. Es ist das pointierte Psychogramm eines Kollegen, der das reine Schauen und Genießen, den ästhetischen Blick, über ein beflissenes Buchstabenstudium verlernt hat. Dabei ist es die hier mit Anmut geschilderte Geschichte selbst von der Sühnung des Orestes, die auf intrikate Weise die Heilung eines Verfolgungswahns beschwört, die dem betreffenden Kollegen gerade verwehrt bleiben sollte. Man kann diese kleine Anekdote nicht ernst genug nehmen, stellt sie doch eine anschließende Begebenheit jener Szene dar, die Feuerbach sen. zum Ausgangs- und Endpunkt seines Vaticanischen Apollo gemacht hatte. Als ob Apollo die Furien nicht mehr nur in Schach gehalten, sondern gänzlich überwunden hätte, vollendet sich mit dieser mythischen Szene zugleich das Schicksal eines anderen Getriebenen, dasjenige von Feuerbach sen. selbst. Was seinen Kollegen dagegen noch antreibt, sind – kurz gesagt – die Furien des akademischen Betriebs, unter denen das meist melancholische, aber in Glanzzeiten manische Naturell Feuerbachs ganz besonders gelitten hatte, vor allem, nachdem er aus Rom zurückgekehrt war. Es ist ein buchstäblich-flüchtiger Blick des Kollegen, selbst noch angesichts oder gerade wegen solcher Reize, der nur noch dort zu verweilen vermag, wo sich das nackte Phänomen blind packen und ins Theoriekorsett zwängen lässt. Auf Norm tailliert, ist so vorab schon gesehen, was es zu sehen gibt, und der Blick für Ausgesuchtes bereits auf erneuter Suche. Dagegen scheint Sühnung hier zu bedeuten, innezuhalten und die Erscheinung sich Zug um Zuge entfalten zu lassen, bis sich der Blick im Anblick selbst verliert – getroffen wie einst vom Apollo von Belvedere. Diese Betroffenheit aber, wir haben es bereits gesehen, ist die einer ästhetischen Erfahrung; mitnichten die einer philisterhaften Gelehrsamkeit, die bloß illustriert sieht, was geschrieben steht oder sich gesagt sein lässt, sondern einer ästhetischen Erfahrung, die von der Sache selbst in Bann geschlagen, bisweilen umfangen, erschüttert oder auch schockiert wird. Doch handelt es sich dabei nun um eine apollinische oder dionysische Erfahrung? – Die geschilderte Situation ist auch darum so erhellend, weil sie zugleich das Spannungsfeld blitzhaft aufleuchten lässt, in dem beide Sichtweisen sich halten, um sich doch für einen Augenblick zu versöhnen. Die Flüchtigkeit und Getriebenheit eines stets nur darüber hinweggehenden Blicks hat selbst etwas von einer dionysischen Mani, etwa von jener abgründigen Aufgeräumtheit der euri-

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pideischen Mänaden vor der Entdeckung ihres Entdeckers oder auch von dem nüchternen Rausch, den Platon gegen den Rhapsoden Ion in seinem gleichnamigen Dialog geltend macht. Und doch erlangt sie nie jene heilige Nüchternheit oder »profane Erleuchtung«108, die sich gleichsam erst mit dem Innehalten des Äußeren und wie Haut an Haut mit den Dingen ertasten lässt. Worüber Feuerbach sen. hier schreibt und doch nur schreibt, ist eine Erfahrung des Dionysischen, das sich mehr als sinnliche denn sinnhafte Erscheinung einstellt und damit den idealistischen Höhenflug und sei es auch noch den letztlich platonischen Enthusiasmus eines Winckelmann unterläuft. Gerade Winckelmann sieht Feuerbach in der Verantwortung, wenn er die Verirrungen einer allzu abstrakten, bedeutungssüchtigen und doch präsenzflüchtigen Interpretation der Antike durch das neuhumanistische Gelehrtentum geißelt: »Winckelmann hat zuerst die historische Interpretation auf die poetische hinübergeleitet. Natürlich und folgerichtig kam man dann auf die mythische, und endlich, nach unleugbar tieferer Erkenntniß des alten Religionswesens, auf die kirchliche oder die des Cultus.«109 Und das bedeutet für Feuerbach sen., mehr und mehr einem Hang zur Allegorie zu frönen. Es könnte verwunderlich scheinen, dass dieser sprachbegabte Ex-Theologe, der sich zunächst von der Archäologie abgewandt hatte, um sich in pietistischmystischer Manier zu zerknirschen, dann aber wieder das wissenschaftliche Heidentum annahm, – dass diese sensible Natur sich gegen Ende ihres Lebens eine Entsagung auferlegte, die nun nicht mehr die irdischen Freuden, sondern die »überschwänglich poetischen Interpretationen«110 und damit jede Form von Schwärmerei von sich weisen sollte. Aber liegt neben diesen Selbstschutzreaktionen nicht noch etwas anderes im Argen? – »Das Schlimme bei all’ diesen Extravaganzen ist, daß jede auf einem wahren, guten Grunde liegt. Der Mythus war wirklich der Hauptgegenstand der griechischen Kunst, rein Bedeutungsloses wurde niemals gebildet, auch das scheinbar Zufällige steht in organischer Verbindung mit dem Grundgedanken. Aber auch hier gilt der Spruch des Kleobulos: τò μέτρον ἄριστον.«111 – Aber wenn auch hier ›Mäßigung das Beste‹ sein soll, scheint nach all dem Bisherigen die Frage nunmehr unausweichlich: Woher noch das Maß nehmen? Welchem Weg noch folgen, wenn nicht dem »sokratischen«? Es gehört zu den modernen Umbrüchen nicht nur in der Ästhetik, sondern quasi zum Umbruch der Ästhetik selbst als Propädeutik des Ereignisses, dass die kalokagathia der im Tageslicht festumrissenen Göttergestalten mit ihnen in einer neuen Nacht versinken sollte; einer Nacht jedoch, die man als die des Dionysos dennoch heilig preisen mochte. Es ist diese Nacht der Götterferne, in der die Blitze zünden, um allein für einen kurzen Augenblick den Horizont des eigenen Ir-

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rens zu erhellen; eines Irrens zudem, das sich eher geblendet als erleuchtet sieht. Vor allem ist es allein eines, was diese Erschütterung, das Donnergrollen und Beben, noch zu deuten, wenn auch nicht mehr zu begreifen vermag. Es ist eine Deutung, die nicht intelligiert, schreibt oder sich von einer ›Wut des Verstehens‹ treiben lässt, sondern die aus dem inneren, verborgenen Zentrum der je eigenen Welt Fühlung aufnimmt mit den Schwingungen und Vibrationen; eine Deutung, die nicht räsoniert, sondern resoniert: die Deutung der »grossen Vernunft«,112 die Deutung des Leibes. Wäre das also der Weisheit letzter Schluss? Sieht so das Ende der DeutschRömer aus? – Wer hat noch Augen dafür? – amor marmoris * In Rom kaufte ich mir als häusliche Lare einen überaus gelungenen Bronzeabguß des reizenden pompejanischen Terrakottafigürchens ›Die Tänzerin‹ genannt. Es gehört zu den lieblichsten Gestalten, welche uns das Alterthum überliefert hat. In leichter Gewandung, welche die jugendlichen Formen zeichnet[,] tanzt sie, mit gesenktem Haupte, & in die Hüfte gestemmtem Arme den zierlichsten Pas de deux, den man sich erdenken kann. Erst einem deutschen, archäologischen Professor, war es vorbehalten, mich über die Bedeutung dieses anspruchslosen Figürchens aufzuklären! ›Es ist die im Wintersturme auf eisiger Höhe des Gebürges einherbrausende mänadische Bachantinn oder besser bachantische Mänadinn. Im schmerzlich wild bewegten Antlitze, liest man etc. etc.[‹] […] Obiges Beispiel genügt, eine Gattung zu charakterisiren, und ist der Gelehrtendünkel Ursache[,] wesshalb an eine deutsche Kunst nicht mehr zu denken ist. Der Professor belehrt & der echte Künstler lernt bis zum Todtenbette.113

Anmerkungen 1

Henriette Feuerbach an Michael Bernays in einem Brief vom 14. Mai 1860 aus Heidelberg (HFB 224).

2

Kupper, Anselm Feuerbachs »Vermächtnis«, a. a. O., S. 24.

3

Zur Veröffentlichungsgeschichte des von Henriette sogenannten Vermächtnisses siehe bei Kupper die »Einleitende Vorbemerkung« (ebd., S. 13 ff.) und Dokumentation (ebd., S. 210 ff.).

4

Ebd., S. 21.

Anmerkungen

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5

Nach den von Henriette aus ihren Erinnerungen notierten Äußerungen soll Feuerbach zur Zeit seiner Genesung gesagt haben: »Märtyrer — Unsinn! Niemand braucht ein Märtyrer zu sein. Es liegt nur im Blute. Man kann auch ohne Märtyrerthum zu Grunde gehen — mit Anstand.« (Ebd., S. 239)

6

Ebd., S. 22.

7

Da gibt der vom wissbegierigen König Midas gestellte Silen die allzu ehrliche Antwort: »Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich, dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Ersprießlichste ist? Das allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben.« (Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, in: Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, Bd. 1, S. 35. Im Folgenden durch KSA abgekürzt.)

8

Diese Bezeichnung wird im Folgenden eine Erweiterung erfahren, die sich über die kunstwissenschaftliche Definition hinaus (vgl. etwa Hubert Locher: Deutsche Malerei im 19. Jahrhundert, Darmstadt 2005, S. 159 oder Helmut Börsch-Supan: Die Deutsche Malerei von Anton Graff bis Hans von Marées. 1760—1870, München 1988, S. 481) auf einen kunstreligiösen Lebensentwurf bezieht, vor dessen Hintergrund erst die epochale Einordung von Feuerbach ihr volles Profil gewinnt. In diese Richtung deuten zumindest Christoph Heilmanns pointierte Einleitende Anmerkungen zur Kunst der Deutsch-Römer (in: »In uns selbst liegt Italien« — Die Kunst der Deutsch-Römer, hg. von dems., Ausstellungskatalog, München 1987, S. 11—18). Letztlich gilt, was Ludwig Curtius (den auch Heilmann zitiert) für diese besondere Wahlverwandtschaft bemerkt: »Die Idee Rom ist die unaufhörliche geschichtliche Verwirklichung der humanistischen Idee.« (Ders.: Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen. Stuttgart 1950, S. 302)

9

Johann Joachim Winckelmann: Ausgewählte Schriften und Briefe, hg. v. Walter Rehm, Wiesbaden 1948, S. 228.

10

Ebd., S. 229.

11

So berichtet Georg Heinrich von Behrenhorst am 12. April 1766 aus Rom über Winckelmann (ebd., S. 358): »Er ist ein Mann voller Feuer und kann nie in einer gewissen Folge reden, ohne sich aufzuregen. […] Winckelmann scheint beim Volke nicht beliebt zu sein, und einerseits dürfte dies ebensowohl sein barsches Wesen erklären, als andererseits die Herren Römer sich schämen, daß, nach ihrer Art zu denken, ein Vandale ihnen ihre Altertümer mit einer Gelehrsamkeit erklärt, die ihr Wissen so bei weitem übersteigt und sie in Erstaunen setzen muß.« — Dagegen findet sich bei Feuerbach ein Jahrhundert später umgekehrt eine amüsante Parteinahme für die Römer gegenüber den deutschen Bildungstouristen auf den Spuren Winckelmanns (vgl. Kupper, Anselm Feuerbachs ›Vermächtnis‹, a. a. O., S. 95 ff.), das wie folgt anhebt: »Das alte Ungeheuer, Deutschland, wirft täglich, dem Meere gleich die wunderlichste Menagerie auf italienischen Strand. Mit wenig Geld, von vornherein von seiner culturhistorischen Wichtigkeit überzeugt, tritt der Deutsche, fertig mit sich, einer tausendjährigen Culturepoche entgegen.«

12 Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, hg. von Max Kunze, Stuttgart 2013, S. 10. 13

In diesem Ruf zumindest stand die Bibliothek seines vormaligen Gönners Heinrich Graf von Bünau auf Schloss Nöthnitz.

14

90

Winckelmann, Gedanken, a. a. O., S. 27 f.

2 Amor marmoris

15 Vgl. das Nachwort von Max Kunze zu Winckelmanns Gedanken (a. a. O., S. 243), der Winckelmann einschlägige Kenntnisse sowie Anverwandlungen der zeitgenössischen Debatten in Frankreich bezeugt, bei denen sich schon Formulierungsansätze zu seinen Programmworten finden. 16

Wolfgang von Wangenheim: Der verworfene Stein. Winckelmanns Leben, Berlin 2005.

17

Winckelmann, Gedanken, a. a. O., S. 30.

18 Winckelmann zitiert die einschlägige Stelle selbst (ebd., S. 17), die sich in einem Brief von Raphael an den Grafen Baldassare Castiglione findet, und die immer wieder als Beleg herangezogen wird, um Raphael eine platonische Ideenschau als Quellgrund seiner Schöpfungen zu unterstellen: »›Da die Schönheiten […] unter dem Frauenzimmer so selten sind, so bediene ich mich einer gewissen Idee in meiner Einbildung.‹« — Dagegen hatte etwa schon Panofsky eingewandt, dass man diese Stelle eher als eine façon de parler zu verstehen habe, vgl. Ernst Cassirer: Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen/Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, hg. und mit einem Nachwort versehen von John Michael Krois, Hamburg 2008, S. 104 f. 19

Ebd., S. 11.

20 Zu Sokrates als Erotiker, der an diesem Erbe der aristokratisch-kriegerischen Erziehungsform festhält, vgl. Gernot Böhme: Der Typ Sokrates, Frankfurt a. M. 1992, S. 64 ff. 21

Vgl. Winckelmann, Ausgewählte Schriften und Briefe, a. a. O., S. 300.

22 So heißt es etwa in einem Brief vom 9. Juni 1762 an seinen Freund Berg (Winckelmann, Ausgewählte Schriften und Briefe, a. a. O., S. 267): »Freundschaft ohne Liebe ist nur Bekanntschaft. Jene aber ist heroisch und über alles erhaben […]. Alle Tugenden sind teils durch andere Neigungen geschwächt, teils eines falschen Scheines fähig; eine solche Freundschaft, die bis an die äußersten Linien der Menschlichkeit geht, bricht mit Gewalt hervor und ist die höchste Tugend, die jetzt unter den Menschenkindern unbekannt ist, und also auch das höchste Gut, welches in dem Besitze derselben besteht. Die christliche Moral lehrt dieselbe nicht, aber die Heiden beteten [sie] an und die größten Taten des Altertums sind durch dieselbe vollbracht.« 23 Ebd., S. 288. 24 Ausführlich zitiert und kommentiert bei von Wangenheim, Der verworfene Stein, a. a. O., S. 16 ff. 25 Wie Winckelmann bei Casanova weiter ausführt, bleibe bei ihm die Erektion aus — also nur schauen und genießen … 26 Johann Wolfgang von Goethe, Weimarer Ausgabe [Nachdruck], Weimar 1999, Bd. 53, S. 28 f. 27 Ebd., S. 29. 28 Ebd., S. 29 f. 29 Winckelmann, Ausgewählte Schriften und Briefe, a. a. O., S. 70. 30 Ebd., S. 76 f. 31

Ebd., S. 77.

32 Brief an Hans Rudolf Füßli vom 18. Februar 1764 aus Rom, vgl. ebd., S. 287. 33 Ebd., S. 367. 34 Ebd., S. 73. 35 Ebd., S. 348. 36 Vgl. Platon, Ion 532e—535a, wo Sokrates das Bild eines Magneten bemüht, um die Ket-

Anmerkungen

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tenübertragung des Enthusiasmus zu veranschaulichen. Interessanterweise ist es die Stadt Magnesia, in der sich der Kult des Dionysos auf das engste mit dem delphischen Apollo verbindet. Die Details würden hier den Rahmen sprengen, vgl. stattdessen Marcel Detienne: »Apollon und Dionysos in der griechischen Religion«, in: Die Restauration der Götter. Antike Religion und Neo-Paganismus, hg. von Richard Faber und Renate Schlesier, Würzburg 1986, S. 124—132, hier 125 ff. 37 Winckelmann, Ausgewählte Schriften und Briefe, a. a. O., S. 89. 38 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums, mit einer Einführung von Wilhelm Waetzoldt u. hg. von Reinhard Jaspert, Berlin 1942, S. 135 f. Winckelmann handelt hier über den Begriff des »allgemeinen Schönen«, und zwar im Kontext des zentralen Kapitels: »Von dem Wesentlichen der Kunst«. 39 Ebd., S. 300. 40 Goethe, Weimarer Ausgabe, a. a. O., Bd. 94, S. 264. 41

Ebd.: »Ich zwinge mich, Ihnen in der ersten Empfindung zu schreiben. Weg Mantel und Kragen!« — Dem korrespondiert der letzte Satz des Briefes: »Ich lese meinen Brief wieder. Ich muß ihn gleich siegeln; morgen kriegten Sie ihn nicht.«

42 Vgl. etwa Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit. Geschichte eines Glaubens, Leipzig 1936, S. 104 f., wo das eigentliche Erweckungserlebnis Herders inmitten des Mannheimer Antikensaals 1770 geschildert ist. 43 Vgl. etwa die selbst enthusiastische Darstellung dieses Freundesbundes von Max Kommerell: Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin, Berlin 1928, S. 64—110, als Kommerell noch in ähnlichen Verhältnissen zu Stefan George stand. Wie bei allen wissenschaftlichen Monographien aus der Reihe der Blätter für die Kunst war auch hier die Hand ›des Meisters‹ leitend, sodass sich Kommerells Text zugleich wie eine verkappte Selbstdarstellung des GeorgeKreises — und ein weiteres Dokument der Winckelmanie lesen lässt. 44 Goethe, Weimarer Ausgabe, a. a. O., Bd. 34, S. 212. 45 Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, a. a. O., S. 301: »Ich vergesse alles andere über dem Anblicke dieses Wunderwerks der Kunst, und nehme selbst einen erhabenen Stand an, um mit Würde anzuschauen. Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu heben wie diejenige, die ich wie vom Geiste der Weissagung aufgeschwellt sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos und in die lycischen Haine, Orte, die Apollo mit seiner Gegenwart beehrte: denn mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit.« 46 Ebd., S. 301 (siehe Zitat oben). 47 Schon das erste Kapitel seines Laokoon von 1766 (mit dem Untertitel: Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie) setzt ein mit einer eher würdigen Kritik als kritischen Würdigung von Winckelmanns Gedancken, die insbesondere anhand der Laokoon-Gruppe die Formel von »edler Einfalt« und »stiller Grösse« entfaltet hatten. Was Lessing bemängelt, bezieht sich denn auf den Geltungsbereich der Annahme, dass die Alten den »Parenthyrsos« (Winckelmann, Gedancken, a. a. O., S. 29), ein affektiertes Pathos, in allen Künsten verschmäht hätten. Wie Lessing nachweist, gilt dies nur eingeschränkt für die bildenden Künste und ihr Ideal des schönen menschlichen Körpers. Winckelmann, der von Lessings Schrift alsbald Kenntnis gewonnen hatte, bemerkt gegenüber seinem Brieffreund Schlabbrendorf schon am 16. August 1766: »Lessing […] schreibt, wie man geschrieben zu haben wünschen möchte […]. Es verdient derselbe also, wo man sich

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2 Amor marmoris

verteidigen kann, eine würdige Antwort. Wie es rühmlich ist, von rühmlichen Leuten gelobt zu werden, kann es auch rühmlich werden, ihrer Beurteilung würdig geachtet zu werden […].« (Winckelmann, Ausgewählte Schriften und Briefe, a. a. O., S. 311) Insbesondere die Würdigung des Stils verdient hier und im Folgenden Aufmerksamkeit. 48 So Aristoteles über die Dichtkunst, Poetik 1148a1 ff. An eher unrepräsentativen Stellen deutet Aristoteles eine Analogie von Dichtung und Künsten zumindest an. Horaz dagegen schien — in den Augen der Verteidiger — zu verallgemeinern: »Ut pictura poesis: erit quae si propius stes / te capiat magis, et quaedam, si longius abstes« — »Eine Dichtung ist wie ein Gemälde: es gibt solche, die dich, wenn du näher stehst, mehr fesseln, und solche, wenn du weiter entfernt stehst« (Vgl. Horaz. Epistola ad Pisones, Vers 361) — Dass es überhaupt zu dieser wirkungsmächtigen Auffassung kam, hat nicht zuletzt den Grund einer Gleichstellungsbestrebung der bildenden Künste, für die keine genuine Ästhetik von vergleichbarem Rang aus Antike oder Mittelalter überliefert ist. 49 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon/Briefe, antiquarischen Inhalts, hg. von Wilfred Barner, Frankfurt a. M. 2007, S. 14. 50 Vgl. Winckelmann, Gedancken, a. a. O., S. 49: »Der Pinsel, den der Künstler führet, soll im Verstand getunckt seyn […]: Er soll mehr zu dencken hinterlassen, als was er dem Auge gezeiget, und dieses wird der Künstler erhalten, wenn er seine Gedancken in Allegorien nicht zu verstecken, sondern einzukleiden gelernet hat.« — Welche Rolle die Allegorie für das Werk von Feuerbach dem Jüngeren spielt, wird uns später noch beschäftigen (siehe Kap. 5). 51

Ebd., S. 22. Ex negativo am Begriff des Hässlichen demonstriert, ebd., S. 169 ff.

52 Ebd., S. 59. — Vgl. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Altertums, a. a. O., S. 130: »Von diesem ersten vorläufigen Stücke gehen wir zum zweiten, von dem Wesentlichen der Kunst, das zwei Teile hat; der erste handelt von der Zeichnung des Nackenden, welcher auch die Tiere mitbegreift; der zweite von der Zeichnung bekleideter Figuren, und insbesondere von der weiblichen Bekleidung.« — Wie der weitere Textverlauf zeigt, nimmt die Idealisierung vornehmlich an der Schönheit des nackten, männlichen Körpers Maß. 53 Vgl. Rensselaer W. Lee: Ut pictura poesis: The Humanistic Theory of Painting, New York 1967, S. 20: »In the mid-eighteenth century Lessing was in the curious position of objecting not only to ut pictura poesis as it was exemplified in the historical painters, but also to those critics of the doctrine who […] approved an enlargement of the painter’s legitimate sphere of activity. Looking backward like the theorists of the Italian Renaissance to the authority of Aristoteles, and opposed to romantic tendencies in eighteenth-century criticism, he was, moreover, influenced by the rather narrow purism of Winckelmann’s tendency to identify beauty with Greek statuary. Believing that bodily beauty is the end of painting […] he could only think of landscape painting and still-life, whether painted by an artist of genius or not, as inferior forms of art.« — Feuerbach jun. war nicht zuletzt durch seine erste Lehrstätte, die Düsseldorfer Akademie, und ihren Direktor und seinen Lehrer Wilhelm von Schadow mit dieser Tradition auf das Engste vertraut (vgl. Ekkehard Mai: Anselm Feuerbach (1829—1880). Ein Jahrhundertleben, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 25). 54 So Lessings anlässlich Winckelmanns jüngst erschienener Geschichte der Kunst des Altertums: »Ich wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben. Bloß aus allgemeinen Begriffen über die Kunst zu vernünfteln, kann zu Grillen verführen, die man

Anmerkungen

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über lang oder kurz, zu seiner Beschämung, in den Werken der Kunst widerlegt findet. […] Was ihre Künstler getan, wird mich lehren, was die Künstler überhaupt tun sollen; und wo ein Mann die Fackel der Geschichte vorträgt, kann die Speculation kühnlich nachtreten.« (Lessing, Laokoon, a. a. O., S. 183) 55 Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a. M. 1981, S. 22. 56 Klaus Schneider: Die schweigenden Götter. Eine Studie zur Gottesvorstellung des religiösen Platonismus, Hildesheim 1966, S. 6. 57 Henriette Feuerbach hat in ihrer postum besorgten Ausgabe der Werke ihres Mannes, deren biographische Einleitung sie verfasst hat, folgende Zeilen von Feuerbach sen. an seinen Bruder Eduard überliefert, worin sich ersterer über die entstellenden Druckfehler der ersten Ausgabe von 1833 beklagt: »Bücher, welche langsam studirt werden wollen, schaden Druckfehler nicht. Meines aber ist ein Kunstwerk; es soll, wie dieses, genossen werden und jede Störung des Gemüthes zerstört die Wirkung und in ihr das Wesen des Kunstwerkes.« (Anselm Feuerbach: Nachgelassene Schriften, a. a. O., Bd. 1, S. 51) 58 Henriette Feuerbach hat eine Liste der Rezensionen erstellt, die nicht nur beträchtlich lang ist, sondern auch illustre Namen wie Friedrich Thiersch und Friedrich Creuzer (seinen ehemaligen akademischen Lehrer in Heidelberg) führt. Andere Berühmtheiten wie etwa Friedrich W. J. Schelling wandten sich postalisch an ihn, um ihre Bewunderung und ihren Dank auszudrücken (vgl. ebd., S. 52). 59 Nietzsche hat Feuerbach sen. nicht nur gelesen und exzerpiert, sondern dürfte sich nicht unwesentlich inspiriert gesehen haben zu seiner Geburt der Tragödie durch diese bereits vier Jahrzehnte zuvor veröffentlichte Schrift, in der es u. a. an einer Stelle, geradezu im nietzscheanischen Duktus avant la lettre heißt: »Die bacchische Begeisterung war ein Zustand der Seele, in welchem der Mensch am lebendigsten und klarsten zum Bewusstsein eines unauflöslichen Zwiespaltes seines eigenen Wesens kommen musste […]. Die Seligkeit des Gottes, deren der Mensch sich vermessen hatte, war sein böser Dämon geworden, der die Freiheit seines Willens gefangen nahm, jede Schranke des gewöhnlichen Lebens niederriss, alle Gesetze der Zucht und Sitte mit Füssen trat, und endlich, um die Fülle der frevelnden Lust ganz zu erschöpfen, oder die erschöpfte zu verjüngen, die Wollust des Schmerzes zu Hülfe rief. Diesem realen tragischen Unfug zu steuern, trat in Griechenland die Kunst persönlich in’s Mittel, indem sie den an sich nicht zu hebenden Widerspruch in den harmonischen Gegensätzen seines Bildes löste […]. Aber die Haltung der hohen Melpomene musste um so gemessener sein, je ausschweifender das Thun der Mänade gewesen war, an deren Stelle sie getreten, je ernsteren Sinnes das Geheimniss, welches sie von ihr überkommen hatte.« (Anselm Feuerbach: Der Vaticanische Apollo. Eine Reihe archäologisch-ästhetischer Betrachtungen, Stuttgart/ Augsburg 21855, S. 300 f.) — Damit ist im Grunde die Opposition von Dionysischem und Apollinischem bei Nietzsche schon ausgesprochen (abzüglich eines schopenhauerischen Weltwillens) und zugleich ein Hauptimpuls für Feuerbachs Gastmahl-Entwurf ausfindig gemacht. Beide hatten den Vaticanischen Apollo gelesen. Wir kommen im nächsten Kapitel ausführlich auf diese Opposition zu sprechen. 60 Ebd., S. 13. 61

Ebd., S. 373.

62 Auch wenn Feuerbach sen. etwa an einer Stelle Lessing offen kritisiert (ebd., S. 249 f.): »An sich ist nicht abzusehen, was den Kunstfreund nöthigen soll, in der Plastik und Poesie zwei durchaus heterogene Kunstsphären anzuerkennen, sobald von griechischer

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2 Amor marmoris

Plastik und griechischer Poesie die Rede ist. Beide erscheinen vielmehr, wenn wir nur jede moderne Theorie bei Seite legen, in dem engsten Verhältniss zu einander, und die Plastik namentlich ihrem eigentlichsten Wesen nach poetisch.« 63 Vgl. Richard Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft (1849), in: ders.: Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in zehn Bänden, hg. v. Dieter Borchmeyer, Frankfurt a. M. 1983, Bd. VI, S. 9—157, hier S. 28 f.: »Hier sieht denn der Geist, in seinem künstlerischen Streben nach Wiedervereinigung mit der Natur im Kunstwerke, sich zu der einzigen Hoffnung auf die Zukunft hingewiesen, oder zur traurigen Kraftübung der Resignation gedrängt. […] Der Gegenwart gegenüber aber verzichtet er auf das Erscheinen des Kunstwerkes an der Oberfläche der Gegenwart, der Öffentlichkeit, folglich auf die Öffentlichkeit selbst, soweit sie der Mode gehört. Das große Gesamtkunstwerk, das alle Gattungen der Kunst zu umfassen hat, um jede einzelne dieser Gattungen als Mittel gewissermaßen zu verbrauchen, zu vernichten zu Gunsten der Erreichung des Gesamtzwecks aller, nämlich der unbedingten, unmittelbaren Darstellung der vollendeten menschlichen Natur, — dieses große Gesamtkunstwerk erkennt er nicht als die willkürlich mögliche Tat des Einzelnen, sondern als das notwendig denkbare gemeinsame Werk der Menschen der Zukunft.« 64 Siehe auch Wagners Vergleich der griechischen Tragödie mit dem Theater seiner Zeit in Die Kunst und die Revolution von 1849 (Jubiläumsausgabe Bd. V, S. 290 f.). 65 Feuerbach: Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 270. 66 Ebd., S. 9 u. 21. — Vgl. auch Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft (Jubiläumsausgabe VI, S. 107): »Die Tragödie war somit die zum Kunstwerke gewordene religiöse Feier […].« 67 Feuerbach: Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 254. 68 Ebd., S.  256. — Vgl. auch den Begriff der »Natur« in den Reformschriften Wagners (etwa in: Das Kunstwerk der Zukunft Kap. 1.1 (Jubiläumsausgabe VI, 9 ff.). 69 Feuerbach: Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 256. 70 Ebd., S. 255 f.: »Auch kennen wir ja schon die Kraft, durch deren Vermittlung der Widerspruch der Idee und des Stoffes gehoben, und das Lebensprincip in der Statue vollendet ward. Ob der streng sondernde Kunstphilosoph sie als Phantasie bezeichnen, oder im Gegentheil diesem Seelenvermögen jedes Einmischen in den Kreis der bildenden Kunst verwehren würde, liegt ausser unserem Felde.« 71

Feuerbach, Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 261 f.

72 Ebd., S. 268 f. 73 Feuerbach, Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 10. 74 Winckelmann, Ausgewählte Schriften und Briefe, a. a. O., S. 80. 75 Lessing, Laokoon, a. a. O., S. 32: »Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholter maßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affects ist aber kein Augenblick der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden […].«

Anmerkungen

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76 Feuerbach, Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 52 77 Ebd. S. 65: »Auch von dieser Seite war auf die Einbildungskraft des Beschauers Rücksicht genommen worden. Sie sollte nicht im Augenblicke zum Ziele der Bewegung mit fortgerissen werden, sondern, bald sich demselben nähernd, bald sich von ihm entfernend, ungehindert zwischen Vergangenheit und Zukunft vor und rückwärts schweifen.« 78 Ebd., S. 115 f. 79 Dass ein positivistisches Geschichtsbewusstsein dazu noch nicht ausreicht, wusste auch schon Feuerbach jun.: »Man glaubt, daß Jemand [,] der einen pompejanischen pot de chambre besizt, auch selbstverständlich ein Verständniss z. B. für den Apoll von Bellvedere haben müsse.« (Vgl. Kupper, Anselm Feuerbachs ›Vermächtnis‹, a. a. O., S. 149) 80 Ein Beispiel sind die verschiedenen Medea-Darstellungen, deren zweite (Medea, zweite Fassung, 1870, Neue Pinakothek, München) noch dem lessingschen Prinzip folgt, wohingegen die dritte (Medea mit dem Dolche, 1871, Kunsthalle Mannheim) und vierte (Medea an der Urne, 1873, Privatbesitz) vielmehr nach der Tat ansetzen und stattdessen das innere Drama Medeas als eines der Schuld und Sühne ergründen. In Letzterer, zugleich dem letzten Gemälde des Themenkomplexes, das Feuerbach selbst für erschöpfend hielt, kommt die Tat selbst als fiktive Vasenmalerei und damit in einer mythischer Ferne zur Darstellung, die den tragischen Vorgang gänzlich ins Innere zu verlegen scheint und doch zugleich im kulturellen Gedächtnis verankert — wiederum inspiriert von einer anderen Lessinglektüre (vgl. Mira Hofmann: »Kopf der Medea« in: Anselm Feuerbach, hg. v. Historischen Museum der Pfalz Speyer, Ostfildern-Ruit 2002, S. 190 f.). 81

Kupper, Anselm Feuerbachs ›Vermächtnis‹, a. a. O., S. 133 ff.

82 Ebd., S. 146. 83 Schon Feuerbach selbst kommentiert diesen Umstand in sarkastischem Ton, ebd., S. 64. 84 Vgl. Michael Bringmann: »Deutsch-römische Kunst im Spiegel der zeitgenössischen Kritik«, in: Heilmann (Hg.): »In uns selbst liegt Italien«, a. a. O., S. 146—156, hier. 152 f., der die zeitgenössischen Stimmen u. a. zum Gastmahl gesammelt hat. 85 Mai, Anselm Feuerbach, a. a. O., S. 125. 86 So etwa auch Henriette Feuerbach (vgl. HFB 275), die zunächst noch als Befürchtung formuliert hatte, dass das Gastmahl im selben matten Blaugrau gehalten sein könnte wie die Iphigenie (ebd., S. 265). 87 Kupper (Hg.), Anselm Feuerbachs ›Vermächtnis‹, a. a. O., S. 72. 88 Vgl. Feuerbach, Nachgelassene Schriften, a. a. O., Bd. 1, S. 115. 89 Ebd., S. 123. 90 Vgl. Peter Berz: »Licht und Riß. Die Medien der Tempel«, in: Die Medien vor den Medien, hg. von Ana Ofak, München 2007, S. 123—159. 91 Feuerbach, Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 271. Vgl. Gabriele Maria Vogelberg: Künstler und Modell. Zwischen Imagination und Wirklichkeit. Untersuchung zum Modellkult zwischen 1860 und 1920, Frankfurt a. M. et al. 2005, S. 79. 92 Feuerbach, Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 270 ff. 93 Einblicke in die vielseitige, nicht zuletzt dichterische Begabung gewährt der erste Band seiner Nachgelassenen Schriften. Trotzdem bestätigt sich, was ein lebensmüder Feuerbach sen. gegenüber seiner späteren Biographin und Gattin bemerkte: »Als ich ein Knabe war, […] da legte ich meine Zeichnungen einem Maler vor — der sprach, das wird ein großer Künstler. Als Jüngling las ich meine Gedichte vor: — er wird ein großer Dichter, sagte man. Als ich meinen Apollo geschrieben hatte, hieß es: er ist ein großer

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2 Amor marmoris

Gelehrter. Was bin ich nun? — ein elender kranker Mensch.« (Feuerbach, Nachgelassene Schriften, a. a. O., Bd. 1., S. 63) 94 Feuerbach, Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 281 f. 95 Dass hier Feuerbach sen. selbstverständlich davon ausgeht, dass ein beträchtlicher Teil der griechischen Statuen — entgegen den Wunschvorstellungen einer geläuterten Gipsantike — koloriert waren, sei zumindest am Rande bemerkt. Ausführlich geht er andernorts darauf ein und kommt zu einer nüchternen Beurteilung am Ende seiner kritischen Würdigung der Polychromie der Griechen im Kontrast zur modernen Auffassung farbloser Plastik: »Was aber folgt aus allem Diesem für die heutige Kunst? Ich meine damit nur die Plastik! Einfach dieses: daß wir keine Griechen sind. Wir sollen daher nicht nachahmen wollen, was nur dem Griechen erlaubt und möglich war.« (Ders., Nachgelassene Schriften, a. a. O., Bd. 2, S. 66) 96 Feuerbach, Der Vaticanische Apollo, a. a. O., S. 277 f. 97 Ebd., S. 303. Vgl. auch die Beobachtungen zum Raum der Scene (ebd., S. 296): »Der wenig vertiefte Hintergrund lässt keine perspektivische Gruppirung zu. Die Figuren müssen wie die Statuen einer Gruppe neben einander treten.« 98 Zu dieser zentralen Kategorie der modernen Ästhetik siehe Bohrer, Plötzlichkeit, a. a. O., insbesondere Kap. 3 u. 4. 99 Kupper, Anselm Feuerbachs ›Vermächtnis‹, a. a. O., S. 117. 100 Ebd., S. 121. 101 Friedrich Schiller: Nänie, Vers 1. — Zur Bedeutung dieses Gedichts für Feuerbach, das Johannes Brahms nach dessen Ableben vertonte und Henriette Feuerbach widmete, siehe Jürgen Ecker: Anselm Feuerbach e L’Italia, Ausstellungskatalog, Turin 2000, S. 43 ff. 102 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Das Erscheinen des Dionysos. Antike Mythologie und moderne Metapher, Berlin 2015, etwa S. 11 f.: »Warum hat Dionysos in der modernen Literatur- und Kunsttheorie Apollon vertrieben? Die Antwort scheint einfach: Apollons Eigenschaft, das Apollinische, musste der Eigenschaft des Dionysos, dem Dionysischen, weichen, weil diese Eigenschaft einer romantischen Ästhetik entsprach, welche die idealistische Norm, die Apollon seit Platons Deutung vertrat, um 1800 endgültig überholt hatte. Das ist die kurze historische Erklärung. Sie wird aber erst wirklich sprechend, sieht man sich die ästhetische Ursache der modernen Karriere des Dionysos und des Dionysischen genauer an. […] Und da ragt die Ereignisqualität des plötzlichen Erscheinens vor allen anderen heraus, insofern sie nicht mehr nur begründet ist in der Epiphanie des Gottes, also einer theologischen Figur, sondern in einem Sichtbarwerden, das rätselhaft bleibt und nicht identifizierbar ist. Man kann das opake Ereignishafte des Erscheinens des Gottes das Dionysische nennen […].« 103 Schiller: Nänie, Vers 3 u. 4. 104 Zitiert nach Bringmann, Deutsch-römische Kunst im Spiegel, a. a. O., S. 148. 105 Ebd. 106 Goethe, Weimarer Ausgabe, Nachdruck, a. a. O., Bd. 53, S. 35 f. 107 Feuerbach, Nachgelassene Schriften, a. a. O., Bd. 2, S. 89. 108 Vgl. Walter Benjamin: »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, 1, hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1977, S. 295—310, hier S. 297. 109 Feuerbach, Nachgelassene Schriften, a. a. O., Bd. 2, S. 89. 110 Ebd., S. 90. 111 Ebd., S. 92. 112 Friedrich Nietzsche: KSA 4, 39. 113 Kupper, Anselm Feuerbachs ›Vermächtnis‹, a. a. O., S. 142 f.

Anmerkungen

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3 Le peintre philosophe oder Die Kunst der Verspätung »Mir scheint es lebensweiser, Philosoph zu sein, als welche zu malen.«1

3.1 Agathon – Hegels ›Trauer der Vollendung‹ Im Zentrum der Komposition steht die aufragende Statur des Hausherrn, der noch zu später Stunde die entblößten, tänzelnden, bereits betrunkenen Gäste mit offenen Armen empfängt, während wie geschirmt von seinem üppig wallenden Gewand eine im Gespräch versunkene Runde in seinem Rücken liegt. Agathon: halb sich stemmende Wand gegen den tobenden Andrang aus Musik und Manie, halb selbst ein vom Wein besprengter, siegesbekränzter Durchgang in die stille Schwere des Wortes; Agathon, der oder das ›Gute‹ zwischen der rauschenden Schönheit des Alkibiades und der in sich ruhenden Wahrheit des Sokrates – Agathon: die vermittelnde Mitte zwischen den Extremen, das klassische Medium einer allzu genau bemessenen Versöhnung? Man hat Feuerbach selbst seitens seiner Sympathisanten vorgeworfen, im Gastmahl des Plato »Gedankenmalerei par excellence« betrieben, als ein »verdrängter Cornelianer« einem »verspäteten Idealismus« gefrönt und das Portamento zur malerischen Phrase gemacht zu haben.2 Und tatsächlich scheint die Zeit nicht allein auf dem in die Dämmerung auslaufenden Tableau weit fortgeschritten, Agathons noch standhafte Pose seines vorgestrigen Triumphs schon müde geworden und die Färbung der ganzen Szenerie von der Blässe des Gedankens befallen. Doch was mit dem lärmenden Gefolge in die Unterhaltung der Umhersitzenden einbricht, ist zugleich ein neuer Klang, dessen Dissonanz eine entscheidende Wende des Geschehens wie ein Fanal ankündigt. Es ist ein durch-

3.1 Agathon

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Abb. 8: Ausschnitt (Agathon) von Abb. 1: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

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gehender Bruch, der zum einen den Rahmen der akademischen Malerei sprengen, zum anderen und nicht weniger auch den einstimmigen Abgesang auf die klassische Kunst im Ganzen wie ein schriller Schrei durchfahren sollte. Feuerbach, der »Malerphilosoph«3, hält diesen Bruch mit seinen Mitteln fest und hält ihm zugleich auf seine Weise stand. Das von Hegel prominent erklärte ›Ende der Kunst‹ gemäß ihrem klassischen Verständnis gerät bei ihm nicht zu einer ironischen Romantik oder einem nackten Realismus, obgleich Momente von beidem hineinspielen, sondern er bindet diese Enden abermals zurück an einen Anfang, der zugleich tiefer reicht in die moderne Restseele als ein Naturalismus der Triebe oder die Eskapaden der Phantasie: Man muss diesem niemals endenden Anfang und immer anfangenden Ende seinen Anteil an der Unendlichkeit zuerkennen und darum auch Feuerbach – wenngleich verspätet – einen Paramodernen nennen. Wie nirgendwo sonst in der deutschen, vielleicht auch europäischen Malerei laufen in Feuerbachs Gastmahl des Plato Anfang und Ende der Kunstphilosophie des 19. Jahrhunderts zusammen. Und wie nirgendwo sonst fügen sich die modernen Oppositionen zu einer Komposition, die weniger aus dem Rahmen fällt als diesen erst aufspannt, jenen speziell para-modernen Rahmen zwischen künstlerischer Erneuerung und Verewigung. Um deutlicher werden zu lassen, wie sich diese paramoderne Klassizität noch von den Geltungsansprüchen etwa der klassischen Moderne, aber auch der Postmoderne abhebt, lohnt es sich, besagtes ›Ende der Kunst‹ noch etwas genauer in den Blick zu nehmen. Rückblickend kann man bereits so viel erkennen, dass es sich bei diesem Ende immer nur um ein vorläufiges gehandelt hat, das wohl wie nichts anderes seit Anfang der Moderne den Begriff des Präfixes »post-« vergegenwärtigt.4 In der vielleicht berühmtesten Passage der hegelschen Vorlesungen über die Ästhetik heißt es: Uns gilt die Kunst nicht mehr als die höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft. […] In dieser Weise besteht das Nach der Kunst darin, daß dem Geist das Bedürfnis einwohnt, sich nur in seinem eigenen Innern als der wahren Form für die Wahrheit zu befriedigen. […] Ist aber der vollkommene Inhalt vollkommen in Kunstgestalt hervorgetreten, so wendet sich der weiterblickende Geist von dieser Objektivität in sein Inneres zurück und stößt sie von sich fort. Solch eine Zeit ist die unsrige. Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die trefflichen Götterbilder noch so trefflich finden und Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen – es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.5

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Hegels Kunstphilosophie hat Epoche gemacht – nicht allein bei seinen Zeitgenossen.6 Er hatte, seiner eigenen dreistufigen Systemlogik folgend, eine sich geschichtlich entfaltende Ästhetik entworfen, die sich über die Jahrtausende von der ägyptischen Kunst bis zur Kunst seiner Gegenwart, den Nazarener erstreckte, und die er in drei Hauptphasen unterteilte: die symbolische des Orients, die klassische der Antike und die romantische des Christentums als der noch andauernden. »Symbolisch ist die anfängliche Kunst wie auch die Kunst der Kinder da, wo sie das, was sie darstellen soll, nur unbeholfen andeutet. In der nachfolgenden klassischen Kunstform […] wird adäquat dargestellt, in der romantischen schließlich wird nur noch zitiert.«7 Die These vom ›Ende der Kunst‹ besagt dabei freilich kein faktisches Ende der Kunstproduktion (im Gegenteil hat sich ihre ironische Post-Produktion zu einer regelrechten Industrie ausgewachsen), sondern ihre ideelle Erledigung, die Überholung ihrer Bedeutung durch die Vollendungsstufen der Religion, im Sinne des Christentums, und der Philosophie, im Sinne von Hegels eigenem Sys­ tem.8 Datierte er den Untergang der antiken Kunstreligion auch schon auf den Eintritt des Christentums in die Weltgeschichte, also auf jenes Zeitalter, in dem Gott selbst in Christus Mensch und der Geist auf unvordenkliche Weise Wirklichkeit geworden war, so scheint sich doch erst mit Hegels nachreformatorischer, nachrevolutionärer Einsicht in das Heilsgeschehen die Rückkehr des Geistes zu sich selbst, in das Medium seines philosophischen Begriffs vollendet zu haben. Seit Hegel mochte keine Kunst mehr von sich behaupten, nicht schon das Gerücht ihres Endes vernommen zu haben, nicht das Ende eines Abbruchs zwar, aber einer Vollendung, die ihrer selbst zugleich überdrüssig geworden war in einer sie übersteigenden religiösen oder philosophischen Versöhnung. Eine Odyssee des Geistes schien damit zu Ende gegangen und zugleich aufgehoben in der durchdringenden Reflexion desselben Geistes in sich statt in seiner unbewussten Selbstveräußerung künstlerischer Ebenbilder. In einer solchen Zeit wie der Hegels, in der »unsrigen«, wandelt sich das »Pantheon«9 in ein Museum und, wie die Wendung will, beugt sich kein Knie mehr vor, sondern allein ein sinnierender Kopf noch über die idealischen Darstellungen einer endgültig menschlich gewordenen Götterwelt, um sie bloß noch im Spiegel der eigenen innigen »Reflexionsbildung«10 passieren zu lassen – sei es als sehnsüchtige Reminiszenz, als kurzweiliges Faszinosum oder als mit der Zeit verblassender Eindruck des schon Abgeleisteten. Man gewahrt es am eigenen Leib, begibt man sich ebenerdig, wie vorgesehen,11 auf die nötige Distanz. Vor Feuerbachs Gastmahl Platz nehmend mag man sich instinktiv in ebenjener Haltung wiederfinden, die nicht weniger zentral von einer durch Agathon halb

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verdeckten Figur eingenommen wird (in der man gegen den platonischen Plot Platon selbst12 hat eingefügt sehen wollen): Das Knie lässlich angewinkelt13 und mehr abwesend als anwesend beobachtend, was sich vor den Augen abspielt, darf man sich als Betrachter zugleich selbst abgebildet sehen. Doch was besagt nun dieses Ende der Kunst, wie es uns derart auch von Feuerbach vor Augen geführt wird? Dieses etwas unentschiedene Ende, an dem sich manche schon sattgesehen haben, vor dem andere weiterhin zerstreut verweilen und von dem einige erneut in Bann geschlagen werden, während sie in den Bildraum eindringen, gleichsam selbst verspätete Gäste? Hegel hat den geschilderten Übergang der ästhetischen Anschauung in eine neue »Prosa« der Wirklichkeit14 als eine mehr als konservatorische Aufhebung begriffen und ihn als Selbstüberwindung einer Kunst gedeutet, die nicht bei sich bleiben mochte, die an ihrem eignen Glauben irre werden musste, sobald die reale Offenbarung der göttlichen Innerlichkeit (des Christentums) das schimmernde Ideal äußerer Vollendung in den Schatten treten ließ. Hegel hat ferner von einer romantischen Ironie inmitten einer positivistischen Wirklichkeit gesprochen, die sich über die klassische Ausgewogenheit einer mythopoetischen, mythopolitischen Lebenswelt zugleich enttäuscht und erhaben wusste. Hegel hat endlich in diesem unaufhaltsamen Werdegang des Geistes, in dessen symbolischem Ausgang von sich selbst und romantischen Rückgang zu sich selbst, den klassischen Augenblick lediglich als den der unausweichlichen Umwendung qua Rückwendung dieses Geistes erblicken wollen, die bereits von der Trauer eines abermaligen Aufbruchs gezeichnet gewesen sei. Und doch hat Hegel bei dieser müßigen Vollendung ein augenblickliches Verweilen gesucht, das als einziger Fund der Kunst in den Jahrtausenden ihres Wandels sollte gelten können: der Augenblick ästhetischer Ewigkeit im Antlitz göttlicher Gestalt. Das reine Insichsein und die abstrakte Befreiung von jeder Art der Bestimmtheit würde zur Erhabenheit führen; indem das klassische Ideal aber zum Dasein, das nur das seinige, das Dasein des Geistes selber ist, heraustritt, so zeigt sich auch die Erhabenheit desselben in die Schönheit verschmolzen und in sie gleichsam unmittelbar übergegangen. Dies macht für die Göttergestalten den Ausdruck der Hoheit, der klassisch schönen Erhabenheit notwendig. Ein ewiger Ernst, eine unwandelbare Ruhe thront auf der Stirn der Götter und ist ausgegossen über ihre ganze Gestalt.15

Man muss sich fragen: Ist es nicht genau diese »klassisch schöne Erhabenheit«, das im Ideal heraustretende »reine Insichsein«, letztlich der »ewige Ernst«, die

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nicht allein die Mitte, den Scheitel- und Umschlagspunkt der hegelschen Konzeption des Klassischen, sondern gleichermaßen des feuerbachschen Bildgeschehens darstellen, und zwar in der Statur, genauer: in der Statue Agathons?16 Denn von ihr ließe sich sagen, was nach Hegel für die paradoxe, mehr und weniger lebendige Präsenz der klassischen Skulptur überhaupt gilt: »Es ist wie das Wandeln eines unsterblichen Gottes unter sterblichen Menschen.«17 Nimmt man diesen ruhenden Durchgangspunkt in Feuerbachs Komposition nun von weitem in Augenschein, erkennt man ihn zugleich als apollinisches Ideal18 in der Wechselwirkung mit zwei Gestalten ähnlich mythischen Schlags: zur Linken Alkibiades samt Gefolge als Symbolisierung des orientalischen Weingottes Dionysos und zur Rechten, in seinem Rücken, Sokrates als satyrhaftes Doppelwesen aus Mensch und Dämon (wie Platons Dialog ihn schildert) quasi als komischer Abgesang auf die Hoheit der beiden Göttergestalten, seiner beiden Götterlieblinge, mit denen er in der Folge des Dialogs auf ironische Weise anbändelt. Doch gehen wir noch etwas näher heran, schauen wir dieser Zentralgestalt im Fluchtpunkt des Gemäldes selbst in die Augen. Was sich aus innigster Nähe gewahren lässt, deutet sich selbst und dadurch schon über sich hinaus: Die Gesamtkomposition verflüchtigt sich und der Teint, das Antlitz, die Augen werden blass und kalt wie die durchscheinende Haut eines kolorierten Marmors; das Ideal scheint zur Pose erstarrt, Apollon anstatt zu erscheinen zu entweichen.19 Oder in den Worten Hegels, der ein Auge für Götterdämmerungen hatte: Das Veränderliche und Zufällige der empirischen Individualität ist zwar in jenen hohen Bildern der Götter getilgt; was ihnen aber fehlt, ist die Wirklichkeit der für sich seienden Subjektivität in dem Wissen und Wollen ihrer selbst. Äußerlich zeigt sich dieser Mangel darin, daß den Skulpturgestalten der Ausdruck der einfachen Seele, das Licht des Auges abgeht. Die höchsten Werke der schönen Skulptur sind blicklos, ihr Inneres schaut nicht als sich wissende Innerlichkeit in dieser geistigen Konzentration, welche das Auge kundgibt, aus ihnen heraus. Dies Licht der Seele fällt außerhalb ihrer und gehört dem Zuschauer an, der den Gestalten nicht Seele in Seele, Auge in Auge zu blicken vermag.20

Die Götterstatuen der Griechen – für Hegel »die Ideale an und für sich, die für sich seienden, ewigen Gestalten, der Mittelpunkt der plastischen klassischen Schönheit«,21 ermangeln letztlich der Seele eines wahrhaft inkarnierten Wissens und Wollens ihrer selbst, das auch den Blick eines menschlichen Gegenübers erwidern könnte. Was wir in ihnen erblicken, ist das »Schattenreich« des Ideals, »Geister, die in ihm erschienen, abgestorben dem unmittelbaren Dasein,

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abgeschieden von der Bedürftigkeit der natürlichen Existenz«22. Was sie erblicken, »in ihrem ewigen Beruhen in sich, in dieser Schmerzlichkeit des göttlichen Friedens«,23 ist dagegen ihre eigene Seligkeit, eine Seligkeit, die bereits um sich selbst und ihren eigenen unwirklich-idealen Leib trauert: »Dies ist innerhalb der geistigen Hoheit der Hauch und Duft der Trauer, den geistreiche Männer in den Götterbildern der Alten selbst bei der bis zur Lieblichkeit vollendeten Schönheit empfunden haben. Die Ruhe göttlicher Heiterkeit darf sich nicht zur Freude, Vergnügen, Zufriedenheit besondern, und der Frieden der Ewigkeit muß nicht zum Lächeln des Selbstgenügens und gemütlichen Behagens herunterkommen.«24 – Wie alle Trauer mit einem Ende fertigwerden muss, so ist es hier nichts weniger als das der Vollendung.25 Es ist der »Frieden einer Ewigkeit« im Schattenreich, das noch nicht Himmel oder Hölle, das vielmehr ein Gefilde seliger Versunken- und Vergessenheit ist, unzugänglich den Lebenden und bevölkert von den Untoten des Ruhms. Schon der blutleere Schatten Achills bei Odysseus’ Besuch in der Unterwelt hat darüber Klage geführt und Hegels Zeitgenossen mochten in diesen Trauergesang insoweit einstimmen, als sich in ihm gleichermaßen die bloße Gewesenheit der antiken Götterwelt kundtat: Es ist in neuerer Zeit häufig die Klage über den Untergang der klassischen Kunst zu vernehmen, und die Sehnsucht nach den griechischen Göttern und Helden ist mehrfach auch von Dichtern behandelt worden. Diese Trauer ist dann vornehmlich im Gegensatze gegen das Christentum ausgesprochen, von dem man zwar zugeben wollte, daß es die höhere Wahrheit enthielte, doch mit der Einschränkung, daß in Rücksicht auf den Standpunkt der Kunst jener Untergang des klassischen Altertums nur zu bedauern sei.26

Was damit genauer gesagt ist, klärt sich im Folgenden. Unter den Dichtern führt Hegel in der Folge Friedrich Schiller und seine Götter Griechenlands an, um in dieser Elegie zugleich eine Entsagung herauszuhören, welche die klassische, still in sich ruhende Schönheit bereits in eine moderne, romantische, christliche Vermittlung Gottes mit sich selbst verwandelt (in der erstorbenen und wiederauferstandenen Wirklichkeit Christi) als der mehr wahren, auch blutigen, denn schönen »Versöhnung mit sich selbst«27. Und auch Feuerbach und seine Figuren tragen noch an dieser Trauer der Entsagung: einer paradoxen, weil romantischen Sehnsucht nach klassischer Vollendung,28 sodass man etwa von seinen drei Fassungen der Iphigenie (Abb. 9), insbesondere der zweiten, letztendlich nicht mehr zu sagen vermag, ob sie das Land der Griechen noch mit der Seele sucht,29 oder

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Abb. 9: Anselm Feuerbach, Iphigenie, zweite Fassung, 1871. Öl auf Leinwand, 192,5 x 126,5 cm. Staatsgalerie Stuttgart.

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ob sie es mit der neu gefundenen, der christlichen Seele bereits aufgegeben, aufgehoben hat im Bewusstsein der verspäteten Geburt. Nicht zuletzt aus dieser Spannung leben die Werke Feuerbachs im Umkreis seines Gastmahls und sie behaupten sich dabei gegen eine heillose Erstarrung des bloß Idealischen gerade dadurch, dass sie ihren eigenen Tod, den Tod der Kunst sterben und sich auf diese Weise ihrem vom Schicksal beschiedenen Untergang letztlich beugen, nämlich dem Untergang auch ihrer Vermenschlichung:30 Ist es aber das Bewußtsein der Wahrheit, worum es sich handelt, so ist die Schönheit der Erscheinung und die Darstellung das Nebensächliche und Gleichgültigere, denn die Wahrheit ist auch unabhängig von der Kunst für das Bewußtsein. […] Auf der anderen Seite jedoch enthält der religiöse Inhalt zugleich in sich selber das Moment, durch welches er sich nicht nur der Kunst zugänglich macht, sondern in gewisser Beziehung auch bedarf. In der religiösen Vorstellung der romantischen Kunst […] bringt es der Inhalt selbst mit sich, den Anthropomorphismus auf die Spitze zu treiben, indem eben dieser Inhalt das Zusammengeschlossensein des Absoluten und Göttlichen mit der als wirklich erschauten und deshalb auch äußerlich, leiblich erscheinenden menschlichen Subjektivität zu seinem Mittelpunkt hat und das Göttliche in dieser seiner an die Bedürftigkeit der Natur und der endlichen Erscheinungsweise gebundenen Einheit darstellen muß.31

Indem Feuerbach seine idealistischen Werke ins Leben ruft, setzt er sie nicht nur den Tücken der materiellen und menschlichen Realitäten aus, sondern bringt ihre »Schönheit« letztendlich der »Wahrheit« gleichsam zum Opfer dar. Dieser, ihnen schon einwohnende Tod ist nicht nur Grund der aus ihnen sprechenden ›Trauer der Vollendung‹, sondern zugleich Ausdruck der »Wahrheit« (der »romantischen« Wahrheit), dass sie gleichsam erst als ins Leben zurückgerufene ewig lebendig bleiben. Als paramoderne Kunstwerke sind sie schon auf ihr eigenes Ende hin entworfen, realisiert und rezipiert. Sie gehen dergestalt in ihren eigenen Tod, vollbringen selbst das Ende der Kunst und behaupten eben dadurch ihr Fortleben – auch jenseits ihrer religiösen oder philosophischen Aufhebung – als stetig wiedererstehende Kunst. Diese romantische Verendlichung klassischer Kunst also, deren auch die religiöse Unendlichkeit noch »bedarf«, geschieht bei Feuerbachs Gastmahl des Plato schon im Bewusstsein ihrer philosophischen Verklärung, im Bewusstsein vom »Zusammengeschlossensein des Absoluten und Göttlichen mit der als wirklich erschauten und deshalb auch äußerlich, leiblich erscheinenden menschlichen Subjektivität«.

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Abb. 10: Ausschnitt (Sokrates) von Abb. 1 Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

Worin offenbart sich aber der religiöse Kunstbedarf noch nach dem Tod der antiken Kunstreligion? Folgen wir den Spuren des hegelschen Gedankens, führen sie uns – wie durch Feuerbachs Gastmahl veranschaulicht – letztlich auf die um den Philosophen Sokrates versammelte Gemeinde. Spitzen wir den romantischen Anthropomorphismus nun noch etwas weiter zu, so weit, bis gleichsam

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die hegelsche Spitze gegen den gemeinen Menschen und seine Natur bricht, dann wird nachvollziehbar, warum seine junghegelianischen Nachfolger in ihrem radikalisierten Kritikverständnis auch vor der Religion nicht mehr Halt machen wollten. Es war zu Anfang von einem Bruch die Rede, der sich in Hegels Rede vom ›Ende der Kunst‹ als Übergang vom Klassischen zum Romantischen (oder wie man auch sagen könnte: von den anciens zu den modernes) abzeichnete und der sich durch Feuerbach in der Übergangsfigur Agathons – zwischen Alkibiades und Sokrates, zwischen traditionellem Schönheits- und neuerlichem Wahrheitskult – ins Bild gesetzt sieht. Was es jetzt in Augenschein zu nehmen gilt, ist dieser Bruch selbst als Umbruch und Übergang, jedoch nicht mehr im Geiste Hegels, d.h. in seinem Sinn einer idealen Selbstentfaltung des Weltgeistes bis zur ›Romantisierung‹ von allem und nichts (etwa bei Novalis), sondern als unvordenklicher Umschlag in eine post-idealistische, quasi-materialistische Wirklichkeit – als Revolution. Ein gewisser Bedarf, der durch diesen Umschlag – nicht zuletzt als revolutionärer Umbruch des Vormärz – zum Vorschein kommt, äußert sich erstmalig und wirkungsmächtig in Ludwig Feuerbachs Gedanken, auch noch mit dem göttlichen Geist der hegelschen Religionsphilosophie Schluss zu machen, um ihn wieder durch den irdischen Geist des Menschen zu ersetzen, durch eine sensualistische, ästhetische Anthropologie. Der religiöse Bedarf im Nachgang der antiken Kunstreligion und am Ende aller Geistromantik, so scheint es, ist einer nach dem Menschen, dem Menschen als neuem göttlichen Ideal – nicht allein der Kunst.

3.2 Sokrates – Ludwig Feuerbachs Verwindung des Erinnerns Als kompositorisches Zentrum in der rechten Bildhälfte, als Schnittpunkt der Blickachsen der um ihn versammelten Jünger, zeigt sich Sokrates gebeugt von einer Gedankenlast, die ihn in sich selbst versenkt und gerade dadurch der allgemeinen Teilnahme versichert. Sokrates, der reflektierteste aller Sophisten, belehrend vor allem durch seine Unwissenheit, offenbarte sich als der erste Weise eines neuen Menschenschlags: Er hatte sich die delphische Devise gnothi seauton zum persönlichen Credo erwählt und sollte, wie alle Philosophen in seiner Folge, die Welt auf den Kopf stellen. Man mag rätseln, was durch seinen Kopf geht, während er so dasitzt; doch dieser Steinmetz von Berufswegen hat, gerade wie er coram publico so dasitzt, sich selbst zu einem neuen Lebensideal in

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Fleisch und Blut durchgebildet, das vielen noch heute zum Vorbild dient, die sich dem Charisma dieses Menschenbildners überantworten. – Ist es dieser Sokrates in seiner sagenhaften Hässlichkeit – von der Nietzsche einmal behauptete, dass sie schon »an sich ein Einwand, […] unter Griechen beinahe eine Widerlegung« sei32 – der die eigentliche Wahrheit eines durchschauten Schönen darstellt? Ist es seine Art zu denken, das dialogische Philosophieren, das der Kunst ihr Ende setzen sollte? Man täte Feuerbach Unrecht, hielte man die Sujetwahl des Gastmahls für unAbb. 11: A. Neumann, Ludwig Feuerbach, 1875. Holzinformierte Willkür, die sich etwa allein stich, 17,5 x 16 cm. Privatbesitz. aus der Überlegung ergäbe, dem Bacchusgefolge ein Gegengewicht zu schaffen.33 Die um das Gravitätszentrum gelagerte Sitzgruppe ist freilich mehr als ein Gegengewicht, sie ist der Gegenpol und zugleich das Telos einer istoria, die der sich senkenden, gleichsam versenkenden Bilddiagonale zu ihrem neuen Ruhepunkt folgt. Was es mit dieser Abwärtsbewegung auf der Ebene des Symposion als platonischen Dialogs auf sich hat (und inwiefern er ihr gar zu widersprechen scheint), wird uns erst im nächsten Kapitel beschäftigen können. Vorderhand ist hier von Interesse, wie sich diese neuerliche Erdung des Götterideals von der Bildidee Feuerbachs her verstehen lässt und zwar inmitten der Gedankenwelt seiner Zeitgenossen, allen voran der zeitgemäßen seines Onkels und der eher unzeitgemäßen seines unbekannten Bruders im Geist, derjenigen Nietzsches. Wie schon angedeutet, markiert Ludwig Feuerbachs Schrift Das Wesen des Christentums aus dem Jahr 1841 einen epochalen Einschnitt, von dem auch sein Neffe nicht unberührt geblieben ist.34 Ludwig Feuerbachs Projektionsthese, wonach der Glaube an Gott nur ein fehlgeleiteter Glaube an den Menschen sei, der folglich durch das Labyrinth philosophischer und theologischer Spekulationen erst wieder zu den Offenbarungen seiner körperlich-sinnlichen Natur zurückzufinden habe, dürfte seinen Neffen nicht gänzlich überzeugt haben,35 unterstrich jedoch nur auf andere Weise den göttergleichen Stellenwert menschlicher Gestalt in seinen Werken. Was beide im Grunde miteinander verbindet, ist mehr als

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das Familienband mitsamt dem feuerbachschen Wechselbad der Gefühle; es ist ein bewusstes oder unbewusstes Einvernehmen zwischen Künstler und Philosoph, das sich einmal in einer Nebenbemerkung des Letzteren ausdrücken sollte, deren Bedeutung für die Geistesgeschichte des 19. Jahrhundert wegweisend ist. In einer Passage des erwähnten Werks heißt es: Wem die Natur ein schönes Wesen ist, dem erscheint sie als Zweck ihrer selbst, für den hat sie den Grund ihres Daseins in sich selbst, in dem entsteht nicht die Frage: warum ist sie? Der Begriff der Natur und Gottheit unterscheidet sich nicht in seinem Bewußtsein, seiner Anschauung von der Welt. Die Natur, wie sie in seine Sinne fällt, ist ihm wohl entstanden, erzeugt, aber nicht erschaffen im eigentlichen Sinne, im Sinne der Religion, nicht ein willkürliches Produkt, nicht gemacht. Und mit diesem Entstandensein drückt er nichts Arges aus; die Entstehung hat für ihn nichts Unreines, Ungöttliches an sich; er denkt sich seine Götter selbst als entstanden. Die zeugende Kraft ist ihm die erste Kraft: er setzt als Grund der Natur daher eine Kraft der Natur – eine gegenwärtige, in seiner sinnlichen Anschauung sich betätigende Kraft als Grund der Dinge. So denkt der Mensch, wo er sich ästhetisch oder theoretisch – denn die theoretische Anschauung ist ursprünglich die ästhetische, die Ästhetik die prima philosophia – zur Welt verhält, wo ihm der Begriff der Welt der Begriff des Kosmos, der Herrlichkeit, der Göttlichkeit selbst ist.36

Die gesamte Passage atmet nicht nur den Geist Goethes, liest sich nicht nur wie eine weitere Hommage an den im feuerbachschen Familienkreis allerseits verehrteren Klassiker, sondern pointiert dessen Weltanschauung des Urphänomens zugleich auf eine Weise, deren Beiläufigkeit allzu leicht übersehen lässt, wie geläufig diese grundstürzende Einsicht dem zeitgenössischen Bildungsbürgertum war. Die theoretische Anschauung als »ursprünglich« ästhetische, die Ästhetik als »prima philosophia« zu fassen, bekräftigte zum einen die bei Alexander Baumgarten erstmals sprießende Disziplin der Ästhetik als modernen Stammbaum der Philosophie und legte zum anderen zugleich deren gemeinsame Wurzel mit den Künsten im Deutschen (Post-)Idealismus seit Kant offen: Die Natur in ihrer Schönheit ist fragloser Selbstzweck, im Bewusstsein ihrer Betrachter ununterschieden vom Göttlichen, ja sogar Mutter der Götter und darin zuletzt erste und zeugende Kraft auf dem Grund der Welt wie in allen ihren Kreaturen – einschließlich des sie betrachtenden Menschen. Den ganzen Kosmos der natura naturata durchzieht also eine natura naturans, die in der Anschauung des Menschen ihrer selbst gewahr, ästhetische theoria wird, eine sinnlich-sinnhafte Schau.

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Nimmt man noch hinzu, dass Ludwig Feuerbach diese Auffassung der Natur bereits für die alten Griechen reklamierte, um sie als Opposition gegen den einseitig praktischen Standpunkt ihrer modernen Instrumentalisierungen ins Feld zu führen, ergänzt sich das Naturbild zu einem Menschenbild, das ein paganes Naturschönes (im Sinne Goethes) gegen ein mosaisches37 Kunstschönes (nicht zuletzt im Sinne Hegels) ausspielt.38 Deutlicher wird Ludwig an späterer Stelle desselben Kapitels: Was man ansieht, achtet man; Anschauung ist Anerkennung. […] ›Aber die Heiden beteten ja die Naturgegenstände an.‹ Allerdings; allein die Anbetung ist nur die kindliche, die religiöse Form der Anschauung. Anschauung und Anbetung unterscheiden sich nicht wesentlich. Was ich anschaue, vor dem demütige ich mich, dem weihe ich das Herrlichste, was ich habe, mein Herz, meine Intelligenz zum Opfer. Auch der Naturforscher fällt vor der Natur auf die Knie nieder, wenn er eine Flechte, ein Insekt, einen Stein selbst mit Lebensgefahr aus der Tiefe der Erde hervorgräbt, um ihn im Lichte der Anschauung zu verherrlichen und im Andenken der wissenschaftlichen Menschheit zu verewigen. Naturstudium ist Naturdienst, Götzendienst im Sinne des israelitischen und christlichen Gottes, und Götzendienst nichts als die erste Naturanschauung des Menschen; denn die Religion ist nichts andres als die erste, darum kindliche, volkstümliche, aber befangene, unfreie Natur- und Selbstanschauung des Menschen.39

Das Auf-die-Knie-nieder-Fallen ist hierbei freilich nicht nur Anspielung, sondern entschiedene Zurückweisung des hegelschen Diktums, indem eine in dessen Augen nicht mehr anbetungswürdige Kunst mit einer in den Augen Ludwig Feuerbachs allein anbetungswürdigen Natur in innigste Verbindung gesetzt wird, und zwar mit dem Ziel, selbst Wissenschaft und Philosophie noch an einen Anschauungskult als der Urform des Religiösen ›zurückzubinden‹.Aus dem »Götzendienst« wird so ein »Naturdienst«, der sich als der wahre Gottesdienst erweist, ein Gottesdienst, der – nach Ludwig Feuerbachs materialistischem Umsturz des hegelschen Geistes – im Grunde nie etwas anderes als ein Menschendienst gewesen sein soll. »Anschauung ist Anerkennung«, Anerkennung in diesem Sinne aber zugleich die revolutionäre Erkenntnis eines kosmischen Anthropomorphismus, dessen Geistprojektionen sich nur vermeintlich über die anschauliche Welt hinweg in himmlische Höhen erheben.40 An einer Parallelstelle aus den zwei Jahre später veröffentlichten Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie von 1843 nimmt Feuerbach diese Überlegungen (u. a. zum Mono- und Polytheismus) erneut auf, um sie auf die Frage der Kunst zuzuspitzen:

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Der augenfällige Beweis, daß der absolute Geist der sogenannte endliche, subjektive Geist ist, also jener nicht von diesem abgesondert werden kann und darf – ist die Kunst. Die Kunst geht aus dem Gefühl hervor, daß das diesseitige Leben das wahre Leben, das Endliche das Unendliche ist – aus der Begeisterung für ein bestimmtes, wirkliches Wesen als das höchste, das göttliche Wesen.41

Und nachdem er in unterschwelliger Auseinandersetzung mit Hegel das Wesen der griechischen Kunst als die menschliche Plastik bestimmt und davon das Chris­ tentum (als im Wesentlichen kunstlos, weil an dem Widerspruch zwischen Menschenwahrheit und Gottesprojektion leidend) abgesetzt hat, fährt er fort: Die Kunst kann aber nur das Wahre, Unzweideutige darstellen. Das entschiedene, zu Fleisch und Blut gewordene Bewußtsein, daß das Menschliche das Göttliche, das Endliche das Unendliche, ist die Quelle einer neuen Poesie und Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen wird. Der Glaube an das Jenseits ist ein absolut unpoetischer Glaube. Der Schmerz ist die Quelle der Poesie. Nur wer den Verlust eines endlichen Wesens als einen unendlichen Verlust empfindet, hat die Kraft zu lyrischem Feuer. Nur der schmerzliche Reiz der Erinnerung an das, was nicht mehr ist, ist der erste Künstler, der erste Idealist im Menschen. Aber der Glaube an das Jenseits macht jeden Schmerz zum Scheine, zur Unwahrheit.42

Diese Bemerkungen sind in dreierlei Hinsicht von Bedeutung für das Schaffen seines Neffen. Zunächst führt Ludwig Feuerbach vor, wie wesentlich die Kunst für die Erkenntnis der Wahrheit ist, für eine im Wesentlichen ästhetische Erkenntnis der Wahrheit. Gegen einen sinnenfernen Idealismus formuliert: »Die Kunst ›stellt die Wahrheit im Sinnlichen dar‹ – das heißt richtig erfaßt und ausgedrückt: Die Kunst stellt die Wahrheit des Sinnlichen dar.«43 Damit hängt zweitens zusammen, dass Feuerbachs Vorstellungen einer »neuen Poesie und Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen wird«, sich nicht zuletzt darin als revolutionär versteht, dass ein gewisses französisches Zeitkolorit auf sie durchfärbt: Dem Junghegelianer mochte es einleuchten, dass allein durch eine Allianz mit dem fortschrittlichen Geist der Franzosen ein neues Zeitalter sowohl denkbar als auch gestaltbar wäre. So heißt es an anderer Stelle allgemein: »Nur da […], wo sich mit dem Wesen die Existenz, mit dem Denken die Anschauung, mit der Aktivität die Passivität, mit dem scholastischen Phlegma der deutschen Metaphysik das antischolastische, sanguinische Prinzip des französischen Sensualismus und Materialismus vereinigt, nur da ist Leben und Wahrheit.«44

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Nicht anders war es seinem Neffen bei dessen Parisaufenthalt ergangen, der diesem rückblickend als notwendiger Schritt zur Befreiung von der deutschen »Spitzpinselei«45 und auf dem Weg zu einem eigenständigeren Schaffen erschienen war – ein Schritt, den er inmitten der Pariser Bohème der Jahrhundertmitte tat, angesichts der Sprünge eines Courbets, Manets oder auch Baudelaires. In einem Brief vom 4.  Juli 1852 aus Heidelberg, also auf Heimaturlaub von Paris, schreibt Feuerbach an C. Schmidt: Ich möchte sagen, wir besäßen in Deutschland den Geist der Kunst, die Belgier die Wirklichkeit, den Körper, die Franz(osen) beides zusammen, das rein malerische. Sie werden es natürlich finden, daß die Franzosen frei von aller tieferen philosophischen Grübelei in ihrem raschen Fassungsvermögen, glücklicherem leichteren Sinn, über beide Schulen einen momentanen Vortheil und Fortschritt errungen haben, quasi eine Kunstrevolution hervorgerufen haben, deren Wirkung sich anzueignen und fortzubilden und zum bleibenden zu gestalten, gewiß die schöne Zukunft der deutschen Kunst sein wird.46

Dieser Zukunft entgegen sollte ihn sein Weg jedoch in ein an Urbanität deutlich zurückstehendes – oder wie man auch sagen könnte: gegen die Pariser Modernität buchstäblich geweihtes – Rom führen, das ihm erst in seinen letzten Jahren allzu eng wurde. Die ewige Stadt strahlte die Ruhe und Wärme, bisweilen auch den Stillstand und die Mittagshitze einer von Ruinen gespickten Dorflandschaft aus und mochte den besten Seiten der deutschen Provinzialität dadurch ein Stück näherkommen. Wir haben die Freuden und Leiden des Deutsch-Römertums im vorherigen Kapitel schon in den Blick genommen. Kommen wir hier stattdessen auf ein drittes Moment zu sprechen, das sich als erhellend erweist für die lust- und leidvolle Zerrissenheit des Gastmahls. Es sind die Ausführungen des Onkels, dass eine Kunstproduktion, die sich von der verkehrten Welt christlicher Jenseitsvorstellungen löse, auf die Diesseitigkeit des Schmerzes verwiesen sei, der von Ludwig Feuerbach mit einem als unendlich empfundenen Verlust eines endlichen Wesens assoziiert wird. Kunst nach diesem Verständnis verrichtet ihren Dienst am Menschen, am verstorbenen und lebenden, gleichsam als Trauerarbeit – als ästhetische Durcharbeitung einer Trauer, die auch schon bei Hegel der vollendeten Verkörperung des Göttlichen anhaftete, einer Trauer über die eigene Vergänglichkeit bzw. Vergangenheit als tiefsitzendem Stachel jeder leibhaftigen Seligkeit. Wir haben sie mit Beat Wyss die ›Trauer der Vollendung‹ genannt und stoßen nun auf ihre Bewältigung durch die Verwindung des Erinnerns. Erst die Erinnerung vergegenwärtigt Vergänglichkeit, indem sie

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am Vergangenen einerseits festhält und anderseits uns im selben Augenblick an das Vergehen schon im Diesseits gemahnt. Der »Glaube an das Jenseits«, um dieses Diktum Feuerbachs erneut zu zitieren, »macht den Schmerz zum Scheine«, zu einer Augenwischerei, die nur auf illusorisch verdrängende Weise wahrnimmt, was sie im Grunde nicht wahrhaben will. Von hieraus betrachtet erinnern Feuerbachs Gemälde nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer erstrebten Idealität an die Vergänglichkeit des Diesseitigen. Allen voran das Gastmahl scheint schon koloristisch von einem Trauerflor bedeckt, der nur umso deutlicher hervorscheinen lässt, was er verbirgt. Denn er birgt gleichsam die Einsicht, lediglich der Schleier der Maya zu sein, hinter dem sich im Grunde nichts anderes als vor ihm verbirgt: der menschliche Selbstbehauptungswille – im Widerstreit mit seiner Endlichkeit, seinen Trieben und seinen Illusionen. »Ehrlich und redlich ist aber nur die Philosophie, wenn sie die Endlichkeit ihrer spekulativen Unendlichkeit eingesteht – eingesteht also, daß z.B. das Geheimnis der Natur in Gott nichts anderes als das Geheimnis der menschlichen Natur, daß die Nacht, die sie in Gott setzt, um aus ihr das Licht des Bewußtseins zu erzeugen, nichts ist als ihr eignes dunkles, instinktartiges Gefühl von der Realität und Unentbehrlichkeit der Materie.«47 An diesem Punkt angelangt, tut sich der Abgrund eines Unbewussten auf, das seit Schellings mystisch-okkulten Spekulationen einen Gegenpol zu Hegels absolutem Idealismus bildete und noch nach dem Scheitern der revolutionären Hoffnungen von 1848/49, die auch Ludwig Feuerbach geteilt, gar genährt hatte,48 in Arthur Schopenhauers metaphysischem Pessimismus zu spätem Ansehen und umfassender Anerkennung kommen sollte. Als wir zu Anfang die Figur des Sokrates betrachteten, meinten wir ihn als Einlösung des Anspruches einer Überwindung der Kunst in der Philosophie erkennen zu sollen. Was sich jetzt jedoch zeigt, wenn wir abermals von Ludwig Feuerbach unseren Blick auf ihn richten, ist eine seltsame Zwischenstellung, die ihn erst recht im Spannungsfeld der verschiedenen Blicke und Blickwinkel zeigt. Mochte Ludwig Feuerbach Hegels Geistphilosophie auch dadurch zugleich überwie unterboten haben, dass er auf den Menschen im Zentrum der Ideenwelt wies, so entpuppte sich doch auch dieses menschliche Zentrum, die menschliche Endlichkeit, gewissermaßen als dezentriert von anderen Mächten, wenngleich durch ein »dunkles, instinktartiges Gefühl«. Was uns also in Anselm Feuerbachs Sokrates vor Augen steht, ist ein in sich versunkenes Beobachten, das sich selbst erneut zu einem Rätsel wird, sobald es in den eigenen Tiefen auf seine eigenen Abgründe stößt. Von Gott über den Menschen zum Unbewussten führt so der Weg einer philosophischen Aufklärung, die von einer doppeldeutigen Ent-Täuschung nicht mehr zu unterscheiden ist. Denn

3.2 Sokrates

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Abb. 12: Ausschnitt (Alkibiades) von Abb. 1 Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

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mochte Ludwig Feuerbach noch im Sinn haben, den hegelschen Gottesdienst bloß in einen sinnenfreudigen Menschendienst zu verwandeln, so zieht nun eine neue »Nacht« herauf, die jede Form von aufgeklärter Humanität als Romantik entlarvt und die sokratische Besonnenheit erneut in die hermetische Dunkelheit des Symbolismus stürzt, gleichsam in einen hegelschen Orientalismus am Fin de Siècle. Sokrates ist so selbst zu einem Symbol geworden, das es mit Nietzsche nun zu deuten gilt als Symptom, als Symptom des Sokratismus.

3.3 Alkibiades – Nietzsches ästhetische Rechtfertigung Umrankt von einer Schar leicht bekleideter Anhängerinnen, die sich in den Bildraum windet, schreitet eine androgyne Gestalt die Treppenstufen hinab, der wie gebannt verharrenden Männergesellschaft entgegen. Mit dem rechten Arm gestützt auf die Schultern einer Bacchantin und mit dem linken sich streckend zum überschwänglichen Gruß, wirft sich Alkibiades in die lässig-reizende Pose eines Verführers, der seiner Wirkung gewiss ist. Unter dem geschwungenen Gewand, das nur noch auf der Hüfte haftet, im Begriff, ihn gänzlich zu entblößen, entbirgt sich die Nacktheit eines Gottes, der inmitten mäandernder Körpermassen zur leibhaften Erscheinung wird.49 Es ist Dionysos, in dessen symbolhafter Gestalt Alkibiades die Schwelle übertritt, und durch dessen Form- und Farbengewoge der ruhig-ausbalancierten Komposition taumelnd ein Stoß versetzt wird. Flankiert von Amoretten scheint das Bildgeschehen ins Überwirkliche übersetzt und seine Betrachter mögen kaum noch zu entscheiden, ob sie zu vorgerückter Stunde ein Traumgesicht heimsucht oder nur der Rausch sein Spiel mit ihnen treibt. Die Frage drängt sich förmlich auf: Ereignet sich mit diesem Einbruch in die Szenerie ein Abbruch des Bisherigen oder vielmehr ein Aufbruch des Kommenden? Feuerbachs Beschäftigung mit dem Phänomen des Dionysischen reicht weit zurück in seiner Künstlerbiographie.50 Bereits in seinen Düsseldorfer Lehrjahren geht er mit einem Sujet schwanger, das Bacchus zunächst auf hoher See als blinden Passagier eines Piratenschiffs in dem Moment seiner Offenbarung unter der Besatzung zeigen sollte.51 Mochte es aus verschiedenen Gründen auch nicht zur Ausführung kommen, so ebbte Feuerbachs Faszination für diesen Gott jedoch nicht ab, im Gegenteil wurde er zu seinem stillen Begleiter auf dem Weg seiner Reife. Dass dieses Thema zum kompositorischen Ausgangspunkt des Gastmahls wurde, kann darum kaum als Zufall ausgelegt werden, sondern folgt einer inneren Logik, ja legt geradezu Zeugnis ab von einer Idee, die zu einer zentralen Triebkraft von Feuerbachs Schaffen wurde – einer Triebkraft, wie die Entstehungszeit

3.3 Alkibiades

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des Gemäldes nahelegt, nicht allein seines Schaffens. So geschah es auch nicht von ungefähr, dass man in Feuerbachs Hauptwerk eine Parallelaktion zu Nietzsches Erstlingswerk aus dem Jahr 1871 Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik hat sehen wollen;52 und bei einer genaueren Lektüre verstärkt sich der Eindruck nur, dass hier ein zweiter wesentlicher Einschnitt in dem an Revolutionen und Revolten nicht armen 19. Jahrhundert sowohl in malerischer als auch philosophischer Hinsicht letztgültige Gestalt gewonnen hatte: Beide wussten sich von einem Unbewussten getrieben, das erst im Zwielicht der Vernunft sichtbar wurde. War es zunächst Ludwig Feuerbach gewesen, wie wir gesehen haben, der das Fanal zu einem Umsturz der hegelschen ›Kathederphilosophie‹ gegeben hatte, bevor sich die gehegten Hoffnungen mit der Revolution von 1848 vorerst zerschlugen, so schien fortan Schopenhauers pessimistische Philosophie, die er bereits 1819 in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung niedergelegt hatte, insgesamt geeigneter dazu, dem gebrochenen Optimismus des Bürgertums auch metaphysisch Ausdruck zu verleihen.53 Während Ludwig Feuerbach und seine liberalen, anarchistischen oder auch kommunistischen Kampfgenossen noch auf die inhärente Selbstverwirklichungs- und Selbstaufklärungstendenz der Vernunft setzten, hielt es der dezidierte Feind und Zeitgenosse Hegels dagegen mit dem dunklen Triebleben eines kosmischen Willens, der jede vernünftige Teleologie – einschließlich eines ›Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit‹ – als trügerische Vorstellung zu entlarven schien. Die Wirkungsgeschichte von Schopenhauers Philosophie drückt sich in einer eigenen deutschsprachigen Tradition (kultur-)pessimistischen Denkens aus, das vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer regelrechten Mode unter Intellektuellen, Dichtern und Künstlern wurde,54 die im Einzelnen sogar noch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, bis zu Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen und Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes andauern sollte. Als herausragende Gestalt, die den Werdegang der deutschen Geistesgeschichte von Ludwig Feuerbach zu Arthur Schopenhauer exemplarisch miterlebt und selbst mitvollzogen hat, wäre abermals Wagner zu nennen, der nicht nur seine bereits erwähnte Programmschrift Das Kunstwerk der Zukunft von 1850 Ludwig Feuerbach widmete, sondern sich in späteren Jahren, als Schopenhauer nunmehr unangefochten dessen Platz einnahm, sich deutlich über seine damaligen Umstände aussprach: Aus der damals mich lebhaft anregenden Lektüre mehrerer Schriften Ludwig Feuerbachs hatte ich verschiedene Bezeichnungen für Begriffe entnommen, welche

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ich auf künstlerische Vorstellungen anwendete, denen sie nicht immer deutlich entsprechen konnten. Hierin gab ich mich ohne kritische Überlegung der Führung eines geistreichen Schriftstellers hin, der meiner damaligen Stimmung vorzüglich dadurch nahe trat, daß er der Philosophie […] den Abschied gab, und dafür einer Auffassung des menschlichen Wesens sich zuwendete, in welcher ich deutlich den von mir gemeinten künstlerischen Menschen wiederzuerkennen meinte.55

Interessant an diesem Beleg für die Kehren der deutschen Geistesgeschichte ist im vorliegenden Kontext zweierlei: Erstens der Hang Wagners wie so vieler anderer Künstler im Fahrwasser einer (post-)idealistischen Ästhetik, sich philosophischer Begriffe als ästhetischer Schemata zu bedienen, und dabei gleichwohl zweitens den Typus ›Künstler‹ vielmehr als Überwindung der Philosophie zu verstehen statt wie umgekehrt Hegel die Philosophie als Aufhebung der Kunst. Beides trifft auch auf Anselm Feuerbach zu und deutet über eine gewisse Affinität zur Musik nicht allein auf Schopenhauer zurück, sondern gleichermaßen auf eine andere Gestalt voraus, deren »Führung« sich Wagner abermals zumindest zeitweise anvertraute: Nietzsche.56 Erst dieser selbsternannte Zögling Schopenhauers mochte zu einer Eigenständigkeit im Denken gelangen, die ihm bald erlauben sollte, auch die abgeklärte Vernunft einer selbst-erlösenden Willensmetaphysik im Sinne seines Meisters noch als ein pathologisches und nicht minder philosophisches Problem ersten Ranges zu behandeln: Drückte nicht auch Schopenhauers Verneinung des Willens letztendlich eine metaphysische Entfremdung der Philosophie vom Leben selbst aus? War nicht auch hier noch etwas von dem zu spüren, was er schon zu Anfang seines Denkwegs und in vermeintlicher Übereinstimmung mit Schopenhauer als das Problem des »Sokratismus« bestimmt hatte? – Was Nietzsche unter diesem Kampfbegriff verstanden wissen wollte, nicht zuletzt als Selbstdiagnose des akademischen Geistes, formuliert er pointiert an folgender Stelle einer eigenen denkbiographischen Rückschau: Ist Pessimismus nothwendig das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte? […] Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen? Was, aus ihm geboren, die Tragödie? – Und wiederum: das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen – wie? Könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der

3.3 Alkibiades

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Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein? Und die ›griechische Heiterkeit‹ des späteren Griechenthums nur eine Abendröthe?57

In dem Versuch einer Selbstkritik, den Nietzsche der Neuausgabe seiner frühen Tragödien-Schrift im Jahre 1886 voranstellte, verdichtet sich rückblickend das Phänomen des Sokratismus zu dem eigentlichen Reibungspunkt seiner Kritik an dem diagnostizierten Nihilismus des Zeitgeistes. Gegen einen »Pessimismus der Stärke«, eine »intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins«,58 dem Nietzsche bei der Geburt der Tragödie nachgeforscht hatte, erhob sich mit dem Sokratismus eine schicksalhafte Gegenbewegung, deren Auswirkungen Nietzsche noch bei seinen Zeitgenossen wiedererkennen zu können meinte. Wider die Siegergeschichte der Philosophie erkennt Nietzsche im Aufkommen des Sokratismus, dem Inbegriff eines aufklärerischen Rationalismus, mitnichten die letztgültige Überwindung archaischer Verhältnisse durch eine neue Zivilisationsstufe, sondern umgekehrt vielmehr eine heitere Verwesung nach der eigentlichen Reife des Griechentums, einen Niedergang tragischer Lebensweisheit, wie er im Phänomen des Dionysischen zum Ausdruck gekommen sei. Schon in der ersten Auflage hatte es mit Blick auf die entscheidende Entwicklung der griechischen Tragödie geheißen: »Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske: die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt Sokrates. Dies ist der neue Gegensatz: das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde.«59 – Dieser neue Gegensatz, den schöpferisch-tragischen zwischen Dionysischem und Apollinischem ersetzend, diente nicht nur bereits Platon (der in seiner Jugend selbst Tragödien gedichtet haben soll, bevor er sich Sokrates anschloss) als effektreiche Grundspannung seines Gastmahls, sondern ist gleichermaßen für dasjenige Feuerbachs aktuell geblieben. Der Sieg des Tragödiendichters Agathon, der sich als Erfinder mythenfreier Plots in der neu gelegten Spur seines Freundes Euripides bewegte, war, wenn überhaupt, ein zu später Sieg für die Dichtung; er vermochte die Aufhebung des Tragischen im sokratischen Geist der Philosophie nicht mehr abzuwenden: Der Ausgang des platonischen Dialogs im Morgengrauen, der einzig noch Sokrates im Gespräch mit Agathon und Aristophanes schildert, die sich beide, betrunken und übernächtigt zugleich, gezwungen sehen, dem trinkfesten Sokrates in seinem Ansinnen recht zu geben, dass

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Tragödie und Komödie in einer höheren Ausdrucksform zu überwinden wären, – der platonische Dialog selbst also, gab schon beredt Zeugnis davon ab, dass mit Sokrates ein neuer Tag angebrochen war.60 In einer nachgelassenen Schrift Nietzsches mit dem Titel Socrates und die Tragoedie aus dem Abfassungszeitraum der Geburt der Tragödie heißt es mit Blick auf die schon antike Modernität des Sokratismus: »Um Euripides liegt […] ein modernen Künstlern eigenthümlicher Schimmer: sein fast ungriechischer Kunstcharakter ist am kürzesten unter dem Begriff des Sokratismus zu fassen. ›Alles muß bewußt sein, um schön zu sein‹ ist der euripideische Parallelsatz zu dem sokratischen ›alles muß bewußt sein, um gut zu sein.‹ Euripides ist der Dichter des sokratischen Realismus.«61 Dieser Grad an Reflektiertheit im sokratischen Dialog, aber auch in der euripideischen Tragödie, dürfte manchem Zeitgenossen als hypertroph erschienen sein, und auch heute noch, wenn Sokrates etwa zu einem anthropologischen Typus erklärt wird, ist von einem »Standpunkt der Bewußtheit« die Rede, dessen asketischer Willen zum Wissen nur schwerlich einen Willen zur Macht verberge.62 Nietzsche aber war als Erstem dieses Überbewusstsein verdächtig geworden, indem er darin gerade einen unbewussten Trieb zu erkennen meinte, durch den sich das alldurchwaltende Leben eine neue, allzu nüchterne Gestalt gegeben haben mochte. Und wie Nietzsche an einer weiteren Parallelstelle bemerkt, ist es ein neuer Realismus von Sophismen und Psychologismen, der wie ein Pharmakon als Heilmittel und Gift zugleich die klassische Tragödie nicht weniger abtreibt als antreibt: »Diese Erregungsmittel sind kühle paradoxe Gedanken – an Stelle der apollinischen Anschauungen – und feurige Affecte – an Stelle der dionysischen Entzückungen – und zwar höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Aether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte.«63 Vulgo: Die Tragödie wird durch Euripides und seinen »Zuschauer«64 Sokrates menschlicher, allzu menschlich, und geht dabei ihres göttlichen Prinzips verlustig: der widerstreitenden Versöhnung von Dionysos und Apollon als der Wesenslogik des griechischen Kosmos. Anselm Feuerbach dürfte es – angesichts einer von ihm auf ähnliche Weise als affektierte Gedankenmalerei kritisierte Produktion seiner Münchner und Wiener Kollegen (vor allem Schorn, Piloty, Makart)65 – ähnlich ergangen sein wie dem unzeitgemäßen Kritiker Nietzsche: Diese eklatante Behandlung und Manier hatte ich mir nicht geträumt. […] Stoffe, schimmernd – nur Wärme fehlt. – […] Wie würde mein Bild aussehen, wenn es Schornisch gemalt wäre? Was würde Vater sagen, wenn ein Bild käme, so recht geschaffen für die moderne Welt? – Die Technik dort hat mich fast kleinmütig ge-

3.3 Alkibiades

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macht, dagegen die Bilder kalt gelassen. Ich ging weg zu meinem Bilde, und ganz klar stand mir mein Verhältnis zur jetzigen Malerei: Jenes sind Maler, und du bist Künstler.66

Was Feuerbach also vermisst (in gewisser Übereinstimmung mit Nietzsches Sokratismus-Diagnose), ist ein charakterfestes, quasi instinktives Ethos abseits moralischer Kalkulationen, konstruierter Tragik und technisch-blendender Brillanz. Was die eigentliche Kunst der »Künstler« dagegen ausmacht, zeigt sich für Nietzsche und Feuerbach gleichermaßen als eine spannungsgeladene Ruhe, als eine widerstrebende Fügung eines dionysischen Abgrunds und einer apollinischen Schwebe, die uns gleich noch eingehender beschäftigen muss. Denn mit Blick auf die Frage oder vielmehr das Problem der Modernität waren sich freilich nicht nur Feuerbach und sein Vater darin einig (siehe Kap. 2), dass allein an den Griechen erneut zu erfahren sei, wie sich Kunst und Leben abermals in ein Ganzes fügen ließen. So konstatiert auch Nietzsche, und zwar mit direktem Bezug auf Anselms Vater, seinen »geistvollen« Fachkollegen, dass das antike Drama adäquat nur als »Gesammtkunst«67 vorstellbar sei: »Sicher ist, daß wir einem solchen Kunstwerke gegenüber erst lernen müßten, wie man als ganzer Mensch zu genießen habe: während es zu befürchten ist, daß man, auch hingestellt vor ein derartiges Werk, es sich in lauter Stücke zerlegen würde.«68 Im Zuge dessen malt sich Nietzsche aus, welche Eindrücke ein zeitgenössischer Beobachter, einmal in ein antikes Theater versetzt, gewinnen könnte und gibt damit zugleich indirekt Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von dionysischem Abgrund und apollinischer Schwebe: »[A]lle Blicke hingerichtet auf eine in der Tiefe wunderbar sich bewegende maskirte Männerschaar und ein paar übermenschliche große Puppen, die auf einem langen schmalen Bühnenraum im langsamsten Zeitmaße auf und niederschreiten. Denn wie anders als Puppen müssen wir jene Wesen nennen, die auf den hohen Stelzen der Kothurne stehend, mit riesenmäßigen den Kopf überragenden stark bemalten Masken vor dem Gesicht, […] sich kaum bewegen können […].«69 – Die anschließenden Schilderungen der Szenerie sowie der Zuschauerränge, einschließlich der gesamten Aufführungspraxis im kultischen Rahmen Athens, laufen auf die Pointe hinaus, dass es gerade nicht Sinn der Tragödie gewesen sein kann, durch möglichst naturalistische Darstellungen dem Wesentlichen näherzukommen; vielmehr umgekehrt, zeitigt der gesamte, vermeintlich künstliche Aufbau paradoxerweise erst den Effekt, Dichter, Schauspieler, Zuschauer zu einem Gesamtkunstwerk des Lebens zu vereinigen. Erst wo die Spannung zwischen Kunst und Leben derart ausgereizt wird, scheint allen voran die Tragödie durchsichtig zu werden auf die

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wahren Ungründe der menschlichen Existenz und ihrer widerstreitenden Prinzipien. Oder mit anderen Worten: Erst im grellsten Mittagslicht des Apollon tritt Dionysos selbst auf die Szene, indem unter der puppenhaften Maske der Kunst die verborgene Urgewalt des Lebens in ihrer schicksalhaften Übermacht zum Vorschein kommt. So heißt es an einer Stelle der Tragödienschrift: Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte, und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne, Prometheus, Oedipus usw. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische ›Idealität‹ jener berühmten Figuren. […] Um uns aber der Terminologie Plato’s zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu reden: der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum: und dass er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleichnishafte Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott […].70

Allererst die Maske bildet diejenige Rahmung, die den Übergang von Leben und Kunst zugleich ermöglicht wie verunmöglicht – so auch bei der zweiten Fassung des feuerbachschen Gastmahls (siehe Abb. 7), die gerade den unter anderem mit Theatermasken verzierten Rahmen selbst mit ins Bild setzt.71 Warum die platonisch-feuerbachsche Szenerie der ersten Fassung dagegen in einer dämmernden Unbestimmtheit gehalten ist, wird uns später noch beschäftigen. Stattdessen kommt es an dieser Stelle darauf an, sich vollends klar darüber zu werden, was sich noch hinter Dionysos selbst als dem traditionellen Gott der Masken verbirgt und welche Rolle genau dabei die apollinische Verklärung innerhalb dieses kosmischen Dramas spielt. Folgt man Nietzsche, entpuppt sich die Tragödie letztlich als ein Maskenspiel des Dionysos, hinter dem sich seinerseits, wie unschwer zu erkennen, Schopenhauers Metaphysik des einen Urwillens verbirgt, der sich individuiert, um sich im Laufe des Geschehens wieder zu entindividualisieren – sei

3.3 Alkibiades

123

es durch einen tragischen Tod oder ein tragisches Erschauern, das beim Vorbeigang des Gottes alle Teilnehmer ergreift. Über eine Reinszenierung schopenhauerscher Theoreme im antiken Gewand jedoch hinaus ruft Nietzsche in Apollo ein zweites göttliches Prinzip an, dessen Zutat nicht ein bloßer Schein der Versöhnung, also Verdrängung sein soll, sondern eine buchstäbliche »Idealisierung«, die der Individualisierung des Willens erst jenen verklärenden Glanz verleiht, der aus dem Schein eine Erscheinung, aus dem besinnungslosen Rausch einen bedeutungsvollen Traum macht. Hatte Nietzsche bereits zu Anfang seiner Schrift eine Sphärenunterteilung zwischen Rausch und Traum vorgenommen,72 so lässt sich an dieser Stelle zudem eine Einsicht gewinnen, die zugleich tiefer dringt, als das durchaus alltägliche Spiel einer (Ent-)Individualisierung des Willens in der Welt als Vorstellung: Der künstlerisch apollinische Traum, gewissermaßen der Traum des Traumes als die Erscheinung des »Scheins des Scheins«,73 ist bereits (Selbst-)Verarbeitungsstufe dritter Ordnung eben jener Urgewalt, die durch ihn, den apollinischen Kunstraum, zur göttlichen Urgestalt des Dionysos umgemodelt wird und dadurch ein klärendes Licht in den dunklen Abgrund der Triebe wirft. Erst auf diesem Umweg nämlich wird nicht nur das grundsätzlich tragische Geschehen der Welt deutbar, sondern mehr noch: ihr Grund, der Abgrund selbst – und zwar auf eine den gesamten Menschen- und Götterkosmos durchmessende, symbolische Weise: »Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich [sic!] des Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichen Cultus der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus.«74 – Folgen wir der Logik dieses (Un-)Gedankens bis auf die Wurzeln seines Triebes, dann stoßen wir zuletzt auf einen Willen, der nicht bloß blind und leidvoll das Werden und Vergehen seiner Individuierungen durchläuft, sondern darin zugleich eine spezifische, eine ästhetische Lust verschenkt und verkostet: die ästhetische Lust des Erhabenen. Galt Hegel das Erhabene noch als überwundene Vorstufe des klassischen Ideals, der inneren und äußeren Harmonie des Schönen, so schreibt sich spätestens mit Nietzsches tragischer Erkenntnis die Kunst des Symbolischen, wie sie Hegel in den nicht-menschlichen Darstellungsweisen insbesondere der monumentalen Architekturen des Orients (etwa in den ägyptischen Pyramiden) verkörpert sah, erneut in die Geschichte der modernen Ästhetik ein, und zwar aus dem Innersten der klassischen Kunst selbst heraus: Dionysos, der aus dem Osten eingewanderte Gott, ist nach Nietzsche Grund wie Abgrund zugleich der griechischen Götterschar, indem erst die Auseinandersetzung mit seiner allgegenwärtigen, realen Fremde umgekehrt den Olympiern die idealische Bestimmtheit ihrer eigentli-

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3 Le peintre philosophe

chen Gestalt gewährt – allen voran Apollo, dem fernhintreffenden Schützen und Führer der Musen, dem kunstfertigen Krieger am Bogen und stets siegreichen Künstler der Lyra. Dionysos und Apollo gehören wie Gegensätze zusammen, die nicht nur durch die Tempelarchitektur zu Delphi als solche verbürgt sind, sondern auch in Feuerbachs Gemälde eine innige Verbindung unterhalten, indem sowohl das Haupt des Alkibiades als auch das des Agathon näher betrachtet gewisse androgyne Züge aufweisen, die auf dasselbe Modell Feuerbachs, Lucia Brunacci, zurückgehen dürften.75 – Also alles nur Masken, bloße Modelle eines Gottes? Vielmehr einer göttlichen Aus-einander-setzung im Sinne Heraklits: »πόλεμος πάντων μὲν πατήρ…«76 Erst in ihrer beider Widerstreit, der sich bis in die jeweils triebhaften Abgründe und symbolischen Höhenlagen erstreckt, bekundet sich eben jene polemische Harmonie, ohne die nach Nietzsche nicht nur die Kunst, sondern das Leben selbst entweder zum Tod eines ewig ruhenden Ideals erstarrt oder umgekehrt der bloßen Barbarei des Rauschs, der schieren Selbstauflösung verfällt. Allererst in diesem erhaben-schönen Sinne lässt sich also davon sprechen, »dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint: in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt«77 – »während freilich unser Bewußtsein über diese unsere Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf der Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben«78. Alles also Theater, ein bloßes Schauspiel der Sterblichen zur Erheiterung der Unsterblichen? – Nicht ganz, vermögen sich doch auch die Götter nicht der einen Auseinandersetzung, dem herakliteischen polemos als dem Schicksal aller zu entziehen: »…  πάντων δὲ βασιλεύς, καὶ τοὺς μὲν θεοὺς ἔδειξε τοὺς δὲ ἀνθρώπους, τοὺς μὲν δούλους ἐποίησε τοὺς δὲ ἐλευθέρους.«79 Kommen wir von hieraus abermals auf das Gastmahl Feuerbachs zurück, scheint die Schlacht schon geschlagen – und verloren. Allem Anschein nach kommt Dionysos-Alkibiades bereits zu spät. Das Licht des Tages ist erloschen, Apollo-Agathon zu einem statuarischen Ideal erstarrt und die hegelsche Eule der Minerva schon im Flug auf der Flucht in die Logoi. Sokrates, so scheint es, beherrscht die Szene und würdigt den berauschten Ankömmling keines Blickes mehr, kehrt ihm buchstäblich den Rücken zu. – Doch wir müssen noch etwas genauer hinsehen, um tatsächlich gewahr zu werden, ob wir nicht einer jener Täuschungen aufsitzen, durch welche die Kunst des Lebens ihr teils tragisches, teils komisches Spiel mit uns spielt. Für einen Augenblick, einen kunstvoll ewigen, scheint diese vor uns ausgebreitete Welt wie stillgestellt, gebannt, angespannt,

3.3 Alkibiades

125

zugleich betrauert und verklärt: Die kompositorischen Gegensätze halten sich die Waage. Und dennoch gewinnt angesichts dieser Lage eine Frage nur umso mehr an Gewicht: Gewärtigen wir einen Abbruch des Bisherigen oder vielmehr einen Aufbruch des Kommenden? Was aber ist bisher überhaupt geschehen und wozu wird es noch kommen bei diesem Symposion? Sind wir, samt allen Anwesenden, schon verspätet? Oder ist es eher umgekehrt noch zu früh, das zu entscheiden?

Anmerkungen 1

AFB II, 167. – Brief aus Rom an die Mutter vom 27. April 1866.

2

Carl Neumann: Der Maler Anselm Feuerbach. Gedächtnisrede bei der Jahrhundertfeier für Feuerbach in der Universität Heidelberg am 16.6.1929, Heidelberg 1929, S. 11 ff.

3

Vgl. Jürgen Ecker: »Motive des Scheiterns und der Erlösung im Werk Anselm Feuerbachs«, in: Zum 175. Geburtstag von Anselm Feuerbach a. a. O., S. 78—91, S. 86.

4

Vgl. Eva Geulen: Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt a. M 2002.

5

G. W. F Hegel: Vorlesungen über Ästhetik I, S. 141 f., Bd. 13 der Werke, neu edierte Ausgabe von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1970. Im Folgenden abgekürzt durch Ästhetik I oder II (wobei es sich um den Bd. 14 der Werke handelt) samt Seitenziffer.

6

Wie für viele andere Künstler belegt, geht Ekkehard Mai (Anselm Feuerbach (1829— 1880), a. a. O.) zurecht auch im Falle Feuerbachs von einer Bekanntschaft mit Hegels Thesen aus, die ihm insbesondere durch seinen Onkel Ludwig Feuerbach vertraut gewesen sein dürften (ebd., S. 103). Aber auch schon bei seinem Vater ließe sich leicht ein Einfluss von Hegels Ästhetik nachweisen.

7

Wolfram Hogrebe: Beuysianismus. Expressive Strukturen der Moderne, München 2011, S. 75. — Nebenbei bemerkt: Was Hogrebe Beuysianismus nennt, umkreist den Befund, dass wir den hegelschen Zyklus gegenwärtig abermals durchlaufen, beginnend bei einer neuen symbolischen Phase eines bis zur Unbestimmtheit erweiterten Kunstbegriffs.

8

Kunst, Religion und Philosophie bilden demnach die drei Formen eines absoluten Geistes, der sich in ihnen auf jeweils spezifische Weise, im Medium der Anschauung, der Vorstellung und des Begriffs, reflektiert und für sich selbst offenbart. Wie aus diesen kunstphilosophischen Reflexionen quasi von selbst hervorgeht, ist es die Philosophie, in welcher der Geist sich in seiner eigentlichen Form, der des Begriffs, letztgültig begreifen und durch die er vollends zu sich selbst kommen soll. Während nach Hegel aber in den Vorstellungen der Religion zumindest schon der Inhalt des Geistes voll entwickelt sei, d.h., der Geist sich selbst anbete im heiligen Geist der Glaubensgemeinde, verharre der Geist im Kunstwerk noch in einem unzureichenden, weil allzu verdinglichten Verhältnis zu sich selbst.

9

Hegel, Ästhetik II, 130.

10

Hegel, Ästhetik II, 24.

11

Vgl. Henriette Briefe, S. 421: »Dem Gastmahl muß man auf ebenem Boden wie in guter Gesellschaft gegenübertreten, sonst kennt man es nicht. So ist die Meinung meines

126

3 Le peintre philosophe

Sohnes gewesen.« Diese Bemerkung, auf die zweite Fassung in der Berliner Nationalgalerie gemünzt, gilt wohl gleichermaßen für die erste Fassung in Karlsruhe. 12

So Reinhard Brandt in seiner etwas launigen und stellenweise falsch informierten Skizze Anselm Feuerbach: Das Gastmahl des Plato (in ders: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte, Köln 2000, S. 395–401, hier S. 400), der diese Figur als Zitat aus JacquesLouis David Der Tod des Sokrates (1787) identifiziert. — Die Personenzuordnung in Feuerbachs Gemälde ist Gegenstand bis heute anhaltender Diskussionen. Am eingehendsten hat sich Heinrich Meier (»Einführung in das Thema des Abends«, in: Seth Bernardete: On Plato’s Symposium, München 1994, S. 7—27) damit beschäftigt und sich um eine erschöpfende Zuordnung bemüht, wobei sich Platon etwa in der gebannt lauschenden und das Bildgeschehen quasi zurückschauenden Jünglingsgestalt ganz zur Rechten dargestellt finden soll. Gesichert scheinen jedoch nur die Hauptgestalten (Alkibiades, Agathon und Sokrates) neben Aristophanes, der nach der geschilderten Situation im platonischen Dialog gerade im Gespräch mit Sokrates begriffen gewesen sei, als Alkibiades in den Raum platzte. Bei allem anderen sind Hilfskonstruktionen von Nöten, die man annehmen kann, aber nicht muss, etwa die Schlange des Äskulap als Verzierung des Kandelabers zur linken, die Eryximachos als liegende Figur im Vordergrund ausweisen soll (ebd. S. 16/17). Unbeachtet bleibt dabei, dass auch der rechte Kandelaber eine Verzierung aufweist: eine Chimäre (Sphinx?), die sich (vorerst) nicht zuordnen lässt.

13

Donat de Chapeaurouge (»Dauerhaftigkeit der Kunst gegen die Flüchtigkeit des Lebens. Feuerbachs ›Gastmahl des Platon‹«, in: Das 19. Jahrhundert und die Restaurierung. Beiträge zur Malerei, Maltechnik und Konservierung, hg. v. Heinz Altdörfer, München 1987, S. 71—75) hat im Rückgriff auf Carl Sittls Gebärden der Griechen und Römer dieser Haltung sogar eine apotreptische Geste ablesen wollen (ebd., S. 74): »Der Mann in der Mitte des Bildes verstärkt so die Seite des Hausherrn, die nun der ›bacchischen‹ Seite Paroli zu bieten vermag.« Aber auch wenn man nicht so weit gehen will: Eine gewisse Distanzierung, die man vielleicht auch ein ›interesseloses Wohlgefallen‹ nennen könnte, scheint unverkennbar. Womöglich kommt dem eine tagträumerische Versonnenheit am nächsten, wie sie Feuerbach mit Ricordo di Tivoli (1867) und ebenfalls einer das Knie anwinkelnden Figur ins Bild gesetzt hat. »L’arte di Anselm Feuerbach si basa infatti sulla rievocazione.« (Ecker: Anselm Feuerbach e L’Italia, a. a. O., S. 44) Wäre Feuerbachs Gastmahl des Plato demnach als Erinnerung einer Erinnerung zu verstehen, die sich im Bild an sich selbst erinnert? Die platonische Lehre von Wiedererinnerung (anamnesis) und Metempsychose lehrt im Wesentlichen dasselbe.

14

Hegel, Ästhetik I, 197.

15

Hegel, Ästhetik II, 84.

16 Vgl. Meier: »Einführung in das Thema des Abends«, a. a. O., S. 15: »Feuerbach zeigt ihn uns in seiner statuarischen Schönheit, so gut gebaut wie Agathons Rede, mit einem imposanten Äußeren und einer wie gefroren wirkenden Geste, die die Hohlheit seiner von den Sophisten Gorgias und Prodikos beeinflußten Rhetorik widerspiegelt.« — Seine göttergleich statuenhaft isolierte Gestalt wird dadurch noch unterstrichen, dass er wie Alkibiades samt seinem Gefolge (außer der Tambourin-Spielerin) und der Sitzfigur im Bildhintergrund nicht auf dem verbindenden musivischen Pflaster steht. Zur Bedeutung des musivischen Pflasters vgl. Ecker, »Motive des Scheiterns und der Erlösung«, a. a. O., S. 78—91, S. 87 f. u. 90. 17

Hegel, Ästhetik II, 84.

Anmerkungen

127

18

Dieser Punkt ist zu betonen, da man immer wieder auf die fälschlicherweise Nietzsche zugeschriebene Identifikation Apollons mit Sokrates in der Forschung trifft. Bei Platon ebenso wie bei Nietzsche ist Sokrates dagegen als ›Aufhebung‹ von Dionysos und Apollo gefasst, wenn auch bei Ersterem affirmativ, bei Letzterem kritisch. Dass Apollo als Gott der Musen jedoch zweifellos eine wichtige Rolle für das Selbstverständnis Feuerbachs als Künstler spielt, legt sich nicht nur von der Schrift seines Vaters her nahe, sondern lässt sich etwa durch das zeitgleich entstandene Bild Orpheus und Eurydike (1869) verdeutlichen, auf dem Ersterer eine Kythara mit sich führt, die den im Sängerwettstreit Apollo unterlegenen und darum geschundenen Marsyas zeigt. Der dargestellte Orpheus, so der Konsens in der Forschung, fungiert zugleich als eine Selbstdarstellung Feuerbachs mit apollinischen Zügen, und zwar im Verhältnis zu einer sich verflüchtigenden Eurydike als verflossene Anna Risi (vgl. jüngst Mai: Anselm Feuerbach, a. a. O., S. 114 f.).

19

Vgl. Heinrich Theissing: »›Ewigkeit der Kunst‹. Zu Anselm Feuerbachs Schaffen und Denken«, in: Anselm Feuerbach. Gemälde und Zeichnungen, München/Berlin 1976, S. 64—98, S. 91: »Denn in der Gemessenheit seiner Haltung und im Attribut der Trinkschale scheint Agathon Dionysos wie Apoll zu dienen, aber seine Miene bleibt ohne Begeisterung leblos glatt, und seine Schönheit ist tote Drapierung. Auf diese Weise wird letztlich Feuerbachs Kunstwollen von ihm selbst infrage gestellt.« — Auch Theissing lässt an dieser Stelle (und nur an dieser) den Namen Apollos kurz fallen, ohne die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu ziehen.

20 Hegel, Ästhetik II, 131 f. — Vgl. auch Hegel, Ästhetik II, 21: »Durch das Auge sieht man dem Menschen in die Seele, wie durch seine ganze Bildung überhaupt sein geistiger Charakter ausgedrückt wird.« 21

Hegel, Ästhetik II, 92.

22 Hegel, Ästhetik I, 207. 23 Hegel, Ästhetik II, 87. 24 Hegel, Ästhetik II, 85. 25 Vgl. die umfängliche Darstellung bei Beat Wyss: Trauer der Vollendung. Zur Geburt der Kulturkritik, Köln 1997. 26 Ästhetik II, 113. 27 Hegel, Ästhetik II, 115. 28 Ähnlich Herbert von Einem: »Gedanken zu Anselm Feuerbach und seiner Iphigenie«, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 18 (1964), S. 127—140, oder jüngst Mai: Anselm Feuerbach (1829—1880), a. a. O., S. 152: »Doch war sein Klassizismus nur Vorstellung und Sehnsucht nach der Klassik, nicht diese selbst, hieß und heißt es bis heute. Dass dies nicht nur Flucht vor der Gegenwart, sondern Opposition aus progressiven Gründen war, er dadurch Zeitgenossenschaft in Zeitempfinden überführte, bleibt nachzutragen.« — Wir werden später sehen, dass gerade darin eine klassische Aktualität zum Ausdruck kommt, die zeitgenössischer war und ist als die Moderne je sein konnte oder auch nur sein könnte. 29 Iphigenie auf Tauris, Verse 12—15 in: Goethe, Weimarer Ausgabe, a. a. O., Bd. 10, S. 3: »Und an dem Ufer steh’ ich lange Tage / Das Land der Griechen mit der Seele suchend, / Und gegen meine Seufzer bringt die Welle / Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.« 30 Hegel, Ästhetik II, 86. 31

128

Hegel, Ästhetik II, 149.

3 Le peintre philosophe

32 Nietzsche, KSA 6, 68. 33 Vgl. die Selbstaussage Feuerbachs in Kupper, Anselm Feuerbachs »Vermächtnis«, a. a. O., S. 72. De Chapeaurouge (Dauerhaftigkeit der Kunst, a. a. O., S. 72) geht etwas zu sicher davon aus, dass das Bildthema des Symposions durch seinen Düsseldorfer Lehrer Wilhelm von Schadow inspiriert gewesen sei. In Fällen wie dem platonischen Symposion scheint es dagegen allgemein schwierig, eine erstmalige Inspirationsquelle ausfindig machen zu wollen, zudem noch wie hier gegen die Selbstaussage des Künstlers: Das Gastmahl gehörte schlicht zum humanistischen Kanon der Gymnasialbildung und durfte darüber hinaus im Haus der Eltern, dem Haushalt eines Altphilologieprofessors, nicht nur einmal Thema gewesen sein. Das schließt freilich nicht aus, eher im Gegenteil, dass Feuerbach sich mit von Schadow darüber ausgetauscht haben könnte. 34 Vgl. Jürgen Ecker: »Motive des Scheiterns und der Erlösung im Werk Anselm Feuerbachs«, in: Zum 175. Geburtstag von Anselm Feuerbach a. a. O., S. 78—91, der bereits auf den mutmaßlichen Einfluss Ludwig Feuerbachs auf seinen Neffen eingeht (ebd., S. 83 ff.). 35 Vgl. etwa die Kritik aus Feuerbachs Elternhaus an dem Werk seines Onkels (HFB, 67). 36 Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Nach der dritten Auflage von 1849, Stuttgart 2002, S. 184 f. 37 Das zwölfte Kapitel, dem die Passagen entnommen sind, trägt den Titel: Die Bedeutung der Kreation im Judentum und zielt in der besagten Opposition letztlich darauf ab, allen mosaischen Monotheismen einen egoistischen »Utilismus« (ebd., 191) nachzuweisen. Demgegenüber heißt es vom Polytheismus: »Die Wissenschaft entsteht daher, wie die Kunst [!], nur aus dem Polytheismus, denn der Polytheismus ist der offne, neidlose Sinn für alles Schöne und Gute ohne Unterschied, der Sinn für die Welt, für das Universum.« (Ebd., S. 187 f.) 38 Zu den Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Goethe und Hegel auf der Basis ihrer wohlwollenden Auseinandersetzung und als Basis der ihnen nachfolgenden vgl. Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 17 ff. Goethe ging dabei so weit, sich heiter-ironisch als unphilosophischen Kopf auszugeben, um nur allzu deutlich werden zu lassen, dass sein erdentreuer Pantheismus und eine materialgesättigte Geistphilosophie vom Schlage Hegels sich letztlich distanziert gegen(einander)überstehen mussten. 39 Feuerbach: Das Wesen des Christentums, a. a. O., S. 189 f. 40 Vgl. die Einleitung der Herausgeber, Walter Jaeschke und Werner Schuffenhauer zu Ludwig Feuerbach: Entwürfe zu einer Neuen Philosophie, Hamburg 1996, S. XI—LXI, wo es u. a. heißt (S. XXI): »Philosophiegeschichtlich gesehen ist dies der Bruch mit der in Hegel kulminierenden klassischen deutschen Philosophie und überhaupt mit der spekulativen Philosophie der Neuzeit seit Descartes und Spinoza. Ihr Vernunftparadigma mache zwar das Jenseits der gemeinen Theologie zum Diesseits, aber um ihrer unüberwundenen theologischen Implikate willen entfremde sie nun den Menschen dieses Diesseits: Sie beseitige zwar das frühere Jenseits, doch mache sie nun das Diesseits der wirklichen Welt zum neuen Jenseits. Das wirkliche Diesseits hingegen ist für Feuerbach der Mensch in seiner Natürlichkeit und Sinnlichkeit.« 41

Ebd., S. 7.

42 Ebd., S. 8. 43 Ebd., S. 14.

Anmerkungen

129

44 Ebd. 45 Kupper, Feuerbachs »Vermächtnis«, a. a. O., S. 52: »Nicht genug kann ich dem Meister [d. i. Thomas Couture; Anm. FA] danken, welcher mich von der deutschen Spitzpinselei zu heiterer, pastoser und größerer Behandlung & Anschauung führte.« — Erik Jayme (»Feuerbach und Frankreich«, in: Zum 175. Geburtstag von Anselm Feuerbach a. a. O., S. 38—77, hier S. 39) hat in seiner ausführlichen Darstellung die wesentlichen Lektionen aus Feuerbachs Pariser Lehrjahren wie folgt zusammengefasst: »Zu seinen aus Paris mitgebrachten Erfahrungen gehören die unmittelbare Naturanschauung, der freie pastose Auftrag der Farbe, das subjektive Verhältnis zur Geschichte und Tradition und der französisch gebrochene, selektive Blick auf Italien.« 46 C. Lang: Drei Briefe des Malers Anselm Feuerbach (1829—1880), in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Jahrgang 1908, München, den 17. März, Nr. 42, S. 329 ff., hier S. 331. 47 Ebd., S. 10. 48 Ludwig Feuerbach hegte im Jahr 1848 selbst die Absicht, nach Paris umzusiedeln, blieb aber auf seiner Zwischenstation in Heidelberg hängen, wo er zwar seine berühmten Vorlesungen über das Wesen der Religion hielt, danach aber zurück auf sein dörfliches Anwesen Bruckberg zog. Im Rückblick erwies sich dieses halb ungewollte Einschwenken auf die gewohnten Bahnen als der Anfang vom Ende seines Schaffens und seines Ruhms. 49 Vgl. Meier, »Einführung in das Thema des Abends«, a. a. O., S. 15, wozu Achim Kuch (»Zum Dionysischen in Anselm Feuerbachs ›Gastmahl des Plato‹ — zugleich der Versuch einer Reinterpretation«, in: Zum 175. Geburtstag von Anselm Feuerbach (1829— 1880), hg. v. Stadtverwaltung Speyer, Speyer 2006, S. 92—114, S. 109) bemerkt: »Des Alkibiades Eintreten wird nicht wie die Epiphanie eines Gottes geschildert, sie ist seine Epiphanie.« 50 Vgl. Julius Allgeyer: Anselm Feuerbach. Zweite Auflage auf Grund der zum ersten Mal benützten Originalbriefe und Aufzeichnungen des Künstlers. Aus dem Nachlasse des Verfassers herausgegeben und mit einer Einleitung begleitet von Carl Neumann, Berlin/ Stuttgart 1904, erster Band, S. 102 f. u. 127 f. (= Allgeyer I oder II im Folgenden). Vgl. auch Leopold Zahn: Im Schatten Apolls. Anselm Feuerbach und das XIX. Jahrhundert, Berlin 1940, darin das Kapitel: Apollo und Dionysos, S. 238—243. 51

Vgl. Allgeyer I, 127 f. — Bei der Schilderung Allgeyers ist auffällig, dass diese unausgeführte Idee schon gewisse Ähnlichkeiten mit dem Gastmahl in der Komposition aufweist.

52 So etwa Zahn: Im Schatten Apolls, a. a. O., S. 240. 53 Anselm Feuerbachs eigenes Verhältnis zu Schopenhauer ist lediglich an einer Stelle belegt, die sich zugleich auf sein sich verschlechterndes Verhältnis zu Conrad Fiedler und Hans von Marées bezieht. In einem Brief aus Rom vom 11. Oktober 1868 an seine Mutter, zu einer Zeit, in der Feuerbach das Gastmahl zu vollenden im Begriff ist, heißt es: »Da ich im Umgang abends nur auf Marées angewiesen bin — der nebenbei gesagt die Schopenhauerische Philosophie zu seinem eigenen Vorteil benutzt hat, wie vorauszusehen war — so kannst Du Dir denken, daß mein menschliches Leben zu Unmöglichkeiten führt.« — Sein Biograph Allgeyer, der diese Passage überliefert, führt dazu im Folgenden aus, dass es nach Feuerbachs eigener Vermutung das geteilte Interesse von Fiedler und Marées an Schopenhauers Philosophie des Pessimismus gewesen sei, die eine zunehmende Entfremdung zur Folge hatte. Allgeyers anschließende Verteidigung Feuerbachs trägt gewisse nietzscheanische Züge, wie wir noch sehen werden: »Dingen, von denen er keinerlei Förderung für seine Kunst zu erhoffen vermochte, ging er gerne

130

3 Le peintre philosophe

geflissentlich aus dem Wege, zumal theoretische Erörterungen über die Philosophie des Pessimismus mögen um so weniger nach seinem Sinn gewesen sein, als sie ihm eindringlich genug vom Leben praktisch demonstriert worden war.« (Vgl. Allgeyer II, 107 f.) 54 Vgl. Frederic C. Beiser: Weltschmerz. Pessimism in German Philosophy 1860—1900, Oxford 2016. 55 Wagner: Einleitung in den vierten Band [der »Gesammelten Schriften und Dichtungen«], in: Jubiläumsausgabe VI, S. 194. 56 Dass Feuerbach nicht zuletzt aus Gründen persönlicher Bekanntschaft eher der BrahmsFraktion zugeschlagen wird (erinnert sei nochmals an Brahms Nänie), scheint dadurch noch bekräftigt, dass Feuerbachs Urteile über Wagner meistens verächtlich ausfallen. Er sah in ihm vor allem einen mystischen Impresario und musikalischen Schausteller. Dieses Urteil aber, indem es sich mit der Einschätzung des späten Nietzsche deckt, sollte nicht verkennen lassen, dass die Übergänge zwischen Faszination und Abstoßung bisweilen fließende sein können: Sein Intimus Allgeyer etwa war zeitweise glühender Wagnerianer und der Bayreuth-Dirigent Hermann Levi zählte zu Feuerbachs engerem Bekanntenkreis. 57 Nietzsche, KSA I, 12. 58 Ebd. 59 Nietzsche, KSA I, 83. 60 Wir kommen auf diese Situation in Kap. 5 nochmals zurück, wenn es um die eingehende Charakterisierung eines paramodernen Bewusstseins geht. — Erwähnenswert scheint hier jedoch, dass diese letzte Szene zugleich die durch das Hereindrängen von Alkibiades abgebrochene Unterhaltung zwischen Sokrates und Aristophanes wieder aufnimmt, deren letzter Augenblick auch von Anselm Feuerbach festgehalten wurde. Dabei scheint nicht unerheblich, worauf auch Kuch (»Zum Dionysischen«, a. a. O., S. 98) speziell im vorliegenden Kontext hingewiesen hat, dass neben Agathon, der den Tragödienwettbewerb im Jahr 416 v. Chr. gewann, Aristophanes zeitgleich in der Sparte Komödie den Lorbeer davontrug. 61

Nietzsche, KSA I, 540.

62 Böhme: Der Typ Sokrates, a. a. O., S. 89 sowie S. 77 f. 63 Nietzsche, KSA I, 84. 64 Nietzsche, KSA I, 87: »Demgemäss darf uns Euripides als der Dichter des aesthetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener zweite Zuschauer, der die ältere Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der Herold eines neuen Kunstschaffens zu sein.« 65 Vgl. Kupper, Feuerbachs »Vermächtnis«, a. a. O., S. 135: »Aus Mangel an Bildung hat uns die Pilotyschule durch ein halbes Lustrum lebensgroße, theatralische Genrebilder unter der Firma Historie eingeschwärzt und das dumme Publicum steht heute noch da und gafft. […] Wenn ich den schönsten Münchner Sackträger in die Tunika stecke und lasse ihn Cäsar ermorden [,] so habe ich noch lange keinen Brutus geschaffen.« 66 AFB I, 201 — Brief vom Frühjahr 1849 aus München an seine Eltern. 67 Nietzsche, KSA I, 518. 68 Nietzsche, KSA I, 519. 69 Ebd. 70 Nietzsche, KSA I, 71 f.

Anmerkungen

131

71

Vgl. auch Theissing (›Ewigkeit der Kunst‹, a. a. O., S. 92), der den gemalten Rahmen der zweiten Fassung in Analogie zur platonischen Rahmenerzählung als Fiktionsmarker versteht, der einerseits die Realität auf Abstand hält und andererseits die poetische Einbildungskraft des Betrachters zur Immersion einlädt; ebenso Keisch: Um Anselm Feuerbachs ›Gastmahl‹, a. a. O., S. 7.

72 Vgl. Nietzsche, KSA I, 26. 73 Nietzsche, KSA I, 37. 74 Nietzsche, KSA I, 73. 75 Vgl. Janina Majerczyk: »Im Schatten Nannas. Lucia Brunacci«, in: Nanna. Entrückt. Überhöht. Unerreichbar. Anselm Feuerbachs Elixier einer Leidenschaft, Katalog zur Ausstellung: Nanna. Anselm Feuerbachs Elixier einer Leidenschaft, Wiesbaden 2014/ Feuerbachs Musen — Lagerfelds Models, Hamburg 2014, hg. v. Peter Forster, Peterberg 2013, S. 185—207, hier S. 189 ff. — Die damit einhergehende Verschmelzung der Geschlechter bringt nur die eine Seite einer Ambivalenz zum Vorschein, den Eros, die Liebe, deren andere Seite Eris, der Streit, bei Feuerbach vor allem in den Bildern der Amazonenschlacht Ausdruck gefunden hat. Dass beide zusammengehören, hat er selbst zumindest für die zweite Fassung des Gastmahls deutlich ausgesprochen (vgl. den Brief aus Rom vom 22. November 1872, abgedruckt in AFB II, 268 f.; vgl. auch Mai: Anselm Feuerbach, a. a. O., S. 142), wie er überhaupt gerne an zwei gegensätzlichen Sujets gleichzeitig gearbeitet hat, um sich bei dem einen von dem anderen zu erholen. 76 Heraklit S 22, B 53; zitiert nach Heraklit: Fragmente, hg. v. Bruno Snell, München 1965, S. 18/19: »Krieg ist aller Dinge Vater …« 77 Nietzsche, KSA I, 152. 78 Nietzsche, KSA I, 47. 79 Heraklit S 22, B 53, a. a. O., S. 18/19: »… aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die andern als Menschen, — die einen läßt er Sklaven werden, die anderen Freie.«

132

3 Le peintre philosophe

4 Akademismus oder Die Kunst des Begehrens »Der Verlust meines Modells, was für den Künstler die Seele ist, läßt sich hart fühlen; würde die Welt nur halb meine Noblesse haben, so würden solche gemeine Geschichten nicht passieren.«1

4.1 Auf der Schwelle Beginnen wir noch einmal von vorne und betreten wir erneut den Bildraum, wie es die Gruppe um Alkibiades vormacht, indem sie zur Linken, der Leserichtung des Blickes folgend,2 die Bildschwelle übertritt und die drei Stufen hinabtaumelt. Es ist diese Schwelle, mit deren Übertritt ein Prozess initiiert wird, der unterschwellig das Phantasma der Bilderzählung, der narrativen Imagination durchquert. Von links nach rechts, vom Dionysischen über das Apollinische zum Sokratischen, durchläuft der Blick – oder soll man sagen: unterläuft dem Blick? – seine Sublimierung. Diese Schwelle also bildet den Rahmen eines Imaginären, das Realität und Fiktion, letztendlich sich selbst in der Schwebe einer bestimmten Unbestimmbarkeit aufhebt, die man als ästhetische Erfahrung zu fassen versucht hat. Als Schwellenerfahrung bildet sie denjenigen Rahmen, der den selbst unhintergehbaren Unterschied des Realen zum Imaginären markiert und damit zugleich seine Deutung im Register des Symbolischen provoziert: Alkibiades ist das Symbol des Dionysischen, der verspätete Ausläufer einer Erhabenheit, die sich anschickt, erneut herabzusteigen in die erstarrte Konkretheit des Klassischen und sich zu verlaufen in den romantischen Weiten eines philosophischen Gesprächs. Mit anderen Worten vollzieht sich hier eine Bewegung der Sublimation, von der zunächst nicht zu sagen ist, ob sie im platonischen Eros zur Ruhe kommt oder ob sich das

4.1 Auf der Schwelle

133

zunächst nackte, logisch mehr und mehr investierte Begehren nicht abermals Bahn bricht in seiner radikalen Bindungslosigkeit. Erzählt das Gastmahl des Plato die Transformation des Triebes, eine Verklärung des Dämonen Eros selbst zum ›Gott der Philosophen‹? Oder harrt dieser Erlösung abermals eine Auflösung im bloßen Wechsel der Triebobjekte, eine polymorph-amouröse Neubesetzung im dionysischen Maskenspiel? Wir werden noch sehen, inwiefern Tücke und Widerspenstigkeit des Eros bei Feuerbach eine spezielle Bindungsfähigkeit entwickeln, die im Ziel des Begehrens zugleich dem Begehren selbst treu bleibt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das platonische Symposion Eros huldigt, ein Geheimnis zudem, das am Anfang des europäischen Diskurses der Sublimation steht. Und dennoch meint man seiner ständigen Wiedererinnerung ablesen zu können, dass man mit ihm nie gänzlich hat fertigwerden können – oder wollen. Im Gegenteil hat Platon hier etwas auszusprechen vermocht, das fortan zwar jedem bekannt gewesen sein dürfte, der sich mit den Triebkräften der Kultivierung befasste, erkannt jedoch schien dabei nur in den seltensten Fällen, was man sich mit dieser sublimen Form der Erotik eigentlich eingehandelt hatte. Selbst Sigmund Freud, in dessen Psychoanalyse die Sublimation gewissermaßen das begehrte Therapieziel darstellt, sollte sich in seinen essayistischen Streifzügen niemals erschöpfend mit dieser entscheidenden Wende im Schicksal der Sexualtriebe beschäftigen. So gilt für ihn zwar: »Die Triebsublimierung ist ein besonders hervorstechender Zug der Kulturentwicklung, sie macht es möglich, daß höhere psychische Tätigkeiten, wissenschaftliche, künstlerische, ideologische, eine so bedeutende Rolle im Kulturleben spielen.«3 Doch unklar bleibt bei allen weitergehenden Analysen zuletzt doch, wie sich dieses erotische Geheimnis zu seiner theoretischen Entdeckung verhält. So liest man noch im Trieb-Einmaleins der Selbstanalyse: »In der psychoanalytischen Literatur greift man häufig auf den Sublimierungsbegriff zurück; er stellt in der Tat den Hinweis auf eine Forderung der Doktrin da, von der man schlecht sehen kann, wie man auf sie verzichten soll. Das Fehlen einer zusammenhängenden Theorie bleibt eine Lücke im psychoanalytischen Denken.«4 Ein Grund hierfür dürfte ein einfacher und letztlich unauslotbarer sein: Sublimation ist der blinde Fleck im Auge der Theoriebildung selbst, genauer: jener platonischen theoria am Anfang der abendländischen Wissenschaft, die wir allgemein mit ihrer wirkungsmächtigen Institutionalisierung und Professionalisierung im Zuge der platonischen Akademiegründung verbinden. Während die Morgenröte eines ›Willens zum Wissen‹ heraufzog, sollte seine eigene Entstehung dabei wieder in die Nacht eines Vergessens zurücksinken, das uns allen auf andere Weise allzu vertraut ist: die Nacht der eigenen Geburt. Denn auch hier stellt sich

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4 Akademismus

die Frage: Wie hätte der theoretische Eros seiner eigenen Geburt beiwohnen können – es sei denn im mythischen Rückblick? Eine wesentliche Rolle im Dialoggeschehen des platonischen Symposions nimmt darum die Figur der Priesterin aus Mantineia ein, Diotima, die Sokrates die Geburt des Eros als einen Kunstmythos schildert. Und es wird noch zu sehen sein, welche Rolle wiederum diese ihrerseits mythische Gestalt für die Bildschöpfung Feuerbachs spielt, wenn es darum geht, den von ihm festgehaltenen Moment, den entscheidenden innerhalb des Dialogs, zu entschlüsseln. Diotima, die weise Lehrerin des Sokrates, wird uns auf Feuerbachs eigene Inspirationsquelle führen und dabei auf die Frage stoßen lassen, wie sich ein Bündel aus Muse, Mutter und Modell auf ihn und sein Schaffen ausgewirkt haben könnte – auf ihn gleichsam als Mündel. So scheint hier von vorneherein eine Erotik am Werk, die zugleich in die Abgründe dieses Werks wie auch darüber hinaus, auf seinen repräsentativen Status für eine sogenannte akademische Malerei und deren Grenzbereiche deutet. Schon Nikolaus Pevsner hatte in seinem Standardwerk über die Geschichte der Kunstakademien darauf hingewiesen, dass die ersten künstlerischen Akademiegründungen der italienischen Renaissance im Übergang zum Manierismus nicht nur dem Namen nach von einem (Neo-)Platonismus geprägt waren, der mit gewissen Historisierungs- und Systematisierungsbestrebungen einherging. Als Marsilio Ficino, die Stifterfigur des sogenannten Renaissance-Platonismus, im Florenz der 1470er Jahre eine humanistische Lese- und Lehrgemeinschaft unter dem sinnfälligen Titel einer Accademia Platonica auf seinem Landgut versammelte, begründetet er zugleich eine neuzeitliche Tradition, die in der gleichen Stadt und auf Betreiben von Giorgio Vasari im Jahr 1563 zur ersten Kunsthochschule avant la lettre, der Accademia del Disegno, führen sollte.5 Wie Platon die ungeschriebenen Lehren seines verehrten Lehrers in einen systematischen, institutionellen Zusammenhang überführte, in etwa so lässt sich auch die Akademiegründung Vasaris im Rückblick auf das Leben und Schaffen der von ihm verehrten Künstler der jüngsten Vergangenheit verstehen: Es geht um die Heranziehung von Schülern zu zukünftigen Meistern im Dienste einer außerordentlichen, von Zunftzwängen befreiten Profession. Und auch Vasari sollte zumindest insofern Erfolg damit haben, dass die Akademie auch bis zu Feuerbachs Zeiten (und gewissermaßen bis heute) entweder als Hort oder Abort, jedenfalls als sichtbarste Stätte der wahren bildenden Künste und ihrer Ausbildung wahrgenommen wurde. Was ein Künstler nicht nur können, sondern der (platonischen) Idee nach auch wollen sollte, schien hier lern- und lehrbar geworden. Wären Akademismus, platonischer Eros, Sublimation demnach auch die fol-

4.1 Auf der Schwelle

135

genreichste Schule des Begehrens der Künste? – Ein gewisses parakademisches Begehren, das sich nicht allein in der Malerei entfaltet, wird Feuerbachs Antwort darauf sein. Behelfen wir uns dabei zunächst mit einer Skizze, die in groben Zügen verdeutlicht, was uns mit Feuerbachs Vergegenwärtigung von Platons Mythos eigentlich vor Augen steht, und zwar, indem wir uns anhand von Freuds Schriften langsam einem Verständnis dessen nähern, was wir eine Kunst der Ent-Sublimierung nennen werden. Dabei kann man schon zu Anfang kaum übersehen, dass auch Freuds talking cure im Wesentlichen nur wiedervergegenwärtigen sollte, was Platons fiktives Gespräch, im Zwielicht von Mythos und Logos, erstmalig durchgearbeitet hatte.

4.2 Sokrates’ Freud und Leid

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, sich bei anhaltender Versagung der Befriedigung gesund zu erhalten, erstens, indem man die psychische Spannung in tatkräftige Energie umsetzt, welche der Außenwelt zugewendet bleibt und endlich eine reale Befriedigung der Libido von ihr erzwingt, und zweitens, indem man auf die libidinöse Befriedigung verzichtet, die aufgestaute Libido sublimiert und zur Erreichung von Zielen verwendet, die nicht mehr erotische sind und der Versagung entgehen.6

Die Versagung von Befriedigungen gehört zu den Grunderfahrungen jeder Individuation, ja mag unter einer entwicklungspsychologischen Perspektive gar den Ausschlagpunkt für den Aufbau eines Triebhaushaltes abgeben, der sich als höherstufiges System gegen seine Umwelt zu behaupten lernt. Eine anhaltende Abfuhr von Triebenergien erscheint dagegen weniger als aussichtreiche Befriedigung, denn als blinde Triebmechanik, die mit Blick auf die lebensweltlichen Anforderungen nicht selten zu fatalen Regressionen führt. Was über den Umweg der Unlust erkauft wird, schafft erst jene Befriedigung, die auch die eigensinnigsten Wünsche noch einzuspannen versteht: Es ist der Spielraum eines nicht weniger leid- wie lustvollen Aufschubs, der jede menschliche Institution kennzeichnet als eine auf Dauer und Distanz gestellte. Derartige Institutionen, wie sie sich als Monumente unterwegs zur Zivilisation aufreihen, sind in diesem Sinne nicht allein Ursachen, sondern ebenso Wirkungen von Versagungen: Sie versagen nicht nur Befriedigung, sondern befrieden im selben Zuge dieses Versagen durch eine Auf-

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4 Akademismus

speicherung und Mehrung der vorhandenen Energien. Sie schaffen also nicht nur Ersatz, der noch aufzurechnen wäre mit den Entsagungen, sondern sie versetzen das Begehren zugleich in die Lage, die Außenwelt auf lange Sicht nicht weniger sich anzupassen als umgekehrt. Mit anderen Worten: Kultur gerade befriedigt, indem sie das Umschlagverhältnis von Lust und folgender Unlust im selben Zug umkehrt wie ausdehnt und die eigene Natur dadurch längerfristig bei Laune hält. Man könnte dies für eine Trivialität halten, die zudem noch bei manchen institutionellen Ausprägungen eine zurecht streitbare ist, wüsste man nicht genauso gut, auch aus eigener leidvoller Erfahrung, dass jede Lust unter den genannten Prämissen keine Ewigkeit wollen kann, ohne denjenigen unlustigen Umweg einzuschlagen, den Menschen ihr Leben nennen. Pure Lust ist nichts, das Menschen vorbehaltlos erstreben (oder auch nur als solches begehren) könnten, sofern ihr eigenes Lustempfinden von vorneherein durchkreuzt ist von den Anforderungen ihrer Selbsterhaltung. Das mischt umgekehrt jeder reinen Lust einen Wermutstropfen Vergänglichkeit bei und lässt jenen Todeswunsch erst auf den Geschmack kommen, für den gerade Freuds spätere Schriften berühmt geworden sind; gemeint ist freilich der Todestrieb, der letztlich und buchstäblich zu Nichts führt, oder zumindest zu nichts, das von höherstufigem, organischem Bestand wäre.7 Genau um diesen Bestand geht es dort nun aber, wo im Zuge der Versagung die Sublimation als Entsagung eine neue Ökonomie des Begehrens eröffnet, eine neue Dimension von Wirklichkeit also, in der sich vielleicht unerwarteterweise leben und – bisweilen unverhofft – sogar besser leben lässt. Eine gewisse Art von Modifikation des Ziels und Wechsel des Objekts, bei der unsere soziale Wertung in Betracht kommt, zeichnen wir als Sublimierung aus. […] Die Sexualtriebe fallen uns auf durch ihre Plastizität, die Fähigkeit, ihre Ziele zu wechseln, durch ihre Vertretbarkeit, indem sich eine Triebbefriedigung durch eine andere ersetzen läßt, durch ihre Aufschiebbarkeit, von der uns eben die zielgehemmten Triebe ein gutes Beispiel gegeben haben. Die Eigenschaften möchten wir den Selbsterhaltungstrieben absprechen und von ihnen aussagen, daß sie unbeugsam, unaufschiebbar, in ganz anderer Weise imperativ sind und zur Verdrängung wie zur Angst ein ganz anderes Verhältnis haben.8

Die Sublimierung umgeht das bloße Und-so-weiter, indem sie dem Sexualtrieb neue Triebobjekte als Qual der Wahl und damit überhaupt als Freiheit anheimstellt, wie getrieben die Betroffenen dabei auch sein mögen. Es sind also die Sex­ ualtriebe nach Freud, die einer Neuanpassung im Wechselspiel mit den Selbsterhaltungstrieben bedürfen; und doch sind allein sie es, die dadurch auch einer

4.2 Sokrates’ Freud und Leid

137

gewissen Plastizität überhaupt fähig sind. Dabei bleibt jedoch zu beachten, dass Freud hier für die Sublimation zugleich eine Form von Resignation konstatiert, die bereit ist, Ansprüche aufzugeben, sobald die Versagung unbeugsam scheint, anstatt es auf Biegen und Brechen darauf ankommen zu lassen, doch irgendwie Befriedigung in und an der Außenwelt, also eine gewünschte Triebabfuhr zu erreichen. Freud spricht bei letzterem Fall von einem »erzwingen« (siehe oben) und deutet in diesem Kontext auf die Herausbildung von Neurosen als dem Versuch, der Versagung nicht nur auszuweichen, sondern diese selbst zu verdrängen. Das Resultat sind gewisse Ticks, die aus einem spannungsreichen Konflikt mit dem eigenen narzisstischen Ichideal erwachsen, durch das sich der Neurotiker im Zwiespalt einer Unterwerfung und eines gleichzeitigen Aufbegehrens befindet. Das eigene Ideal, das als »Gewissen«9 zu uns spricht, erweist sich als zu strenger Richter über die eigene Objektwahl und überhaupt die Libido. Mit Schiller gesprochen, wird der Neurotiker zum Sklaven seines eigenen Ideals. Das gilt aber nicht allein für den pathologischen Grad der Neurose, sondern nach Freud für alle von ihm sogenannten »Idealisten«, die letztendlich nicht dazu bereit seien, das Realitätsprinzip voll und ganz anzuerkennen, indem sie nach den realen Gegebenheiten handelten. Man findet gerade bei den Neurotikern die höchsten Spannungsdifferenzen zwischen der Ausbildung des Ichideals und dem Maß von Sublimierung ihrer primitivsten libidinösen Triebe, und es fällt im allgemeinen viel schwerer, den Idealisten von dem unzweckmäßigen Verbleib seiner Libido zu überzeugen, als den simplen, in seinen Ansprüchen genügsam gebliebenen Menschen. Das Verhältnis von Idealbildung und Sublimierung zur Verursachung der Neurose ist auch ein ganz verschiedenes. Die Idealbildung steigert, wie wir gesehen haben, die Anforderungen des Ichs und ist die stärkste Begünstigung der Verdrängung; die Sublimierung stellt den Ausweg dar, wie die Anforderung erfüllt werden kann, ohne die Verdrängung herbeizuführen.10

Was der Neurotiker nicht wahrhaben will, ist im Grunde, dass sich sein infantiler Primärnarzissmus11 durch seine Ichidealbildungen nicht mehr erfolgreich wiederherstellen lässt (wie es etwa Eltern nochmals im Verhältnis zu ihren Kindern vergönnt ist). Die Spannung lässt sich nicht auflösen, sondern verschärft sich vielmehr nur mit jedem Scheitern an der Welt als einem Scheitern an den eigenen überzogenen Ansprüchen: »Diesem Idealich gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoß. […] Der Narzißmus erscheint auf dieses

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4 Akademismus

neue ideale Ich verschoben, welches sich wie das infantile im Besitz aller wertvollen Vollkommenheiten befindet. Der Mensch hat sich hier, wie jedesmal auf dem Gebiete der Libido, unfähig erwiesen, auf die einmal genossene Befriedigung zu verzichten.«12 Mit der Sublimierung ist – im Unterschied zur idealistischen Verdrängung – zumindest ein Ausweg gewiesen, wie sich mit der Außenwelt ins Benehmen zu setzen wäre, ohne an der ewigen Wiederkehr des Verdrängten letztendlich zuschanden zu werden. Dieser Ausweg ist für Freud, wie schon angedeutet, nicht zuletzt durch eine gewisse Resignation gegenüber den praktischen Weltverbesserungsabsichten gebahnt und führt, wie wiederum sein ganzer Ansatz nahelegt, stattdessen auf den distanzierten Objektivismus des Wissenschaftlers. Man könnte dieses Refugium – statt als bloßes Selbsttäuschungsmanöver des Unbewussten – auch als ein bewusstes Enttäuschungsmanöver verstehen, dem gerade zu einer genuin therapeutischen Aufgabe wird, sich keine Illusionen mehr zu machen, indes die Idealisten, darunter auch die Künstlerinnen und Künstler nach Freud, das Alltagsleid zu ihrem Alltagsgeschäft machen. Immerhin ist Freud selbst so viel Realist, sich auch über die Erfolgsquote keine Illusionen zu machen: »Die Bewältigung durch Sublimierung, durch Ablenkung der sexuellen Triebkräfte vom kulturellen Ziel weg auf höhere kulturelle Ziele gelingt einer Minderzahl, und wohl auch dieser nur zeitweilig, am wenigsten leicht in der Zeit feuriger Jugendkraft.«13 – Was aber sind dann diese »höhere[n] kulturelle[n] Ziele«, die zudem nur einer »Minderzahl« erreichbar scheinen? Und in welchem Verhältnis stehen sie zu den vormaligen, nun umgelenkten Trieben? Im Hinblick auf Feuerbachs Gastmahl des Plato könnte man meinen, die drei Formen des Sexualtriebs und seiner Umsetzung dort bereits vorgeführt zu finden: Während die Gruppe um Alkibiades im hemmungslosen Ausagieren einen dionysischen Rausch als primären Narzissmus demonstriert, versteift sich Agathon in der Mitte zum Denkmal einer narzisstischen Ichidealbildung, die gerade etwas unwillig einem Sexualisierungsschub entgegensieht, schwankend zwischen Regressionslust, Gastgeberpflichten und Scham. Als drittes und geglücktes Resultat der Sublimierung gewahren wir dagegen Sokrates und seine »Minderzahl« an Gleichgesinnten, gleichsam den Akademiker in spe, der sich zuletzt und gänzlich ernüchtert bloß noch der reinen Betrachtung des Erotischen in Ideal und Praxis hingibt. Würde also auch aus freudianisch-psychoanalytischer Perspektive an die Stelle der dionysischen Erhabenheit des Rauschs und seiner apollinischen Verklärung im klassischen Schönen letztlich die Ernüchterung des Sokratismus treten – wenn auch nun als sokratische Sublimierung der Theorie?

4.2 Sokrates’ Freud und Leid

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Nietzsche, als Vorgänger Freuds, sollte uns hierbei zumindest etwas skeptisch gestimmt haben. Man denke an die angelegentlichen Bemerkungen des Sokrates bezüglich seiner eigenen Praxis der Theorie: Philosophieren heiße sterben lernen14, und übersehe in diesem Kontext auch nicht Freuds eigenen Gesinnungswandel angesichts der Anfälligkeit einer vita contemplativa der europäischen Intelligenz gegenüber dem Zerstörungswillen, wie ihn der Erste Weltkrieg hatte zu Tage treten lassen. In einem zentralen metapsychologischen Text der 1920er konstatiert Freud für das Ich: »Zwischen beiden Triebarten (Eros und Thanatos; Anm. FA] hält es sich nicht unparteiisch. Durch seine Identifizierungs- und Sublimierungsarbeit leistet es den Todestrieben im Es Beistand zur Bewältigung der Libido, gerät aber dabei in Gefahr, zum Objekt der Todestriebe zu werden und selbst umzukommen. Es hat sich zu Zwecken der Hilfeleistung selbst mit Libido erfüllen müssen, und wird dadurch selbst Vertreter des Eros und will nun lieben und geliebt werden.«15 Was Freud hier einen Absatz zuvor sowohl auf den »Arzt in einer analytischen Kur« als auch den Staatsmann bezieht, der »bei guter Einsicht sich doch in der Gunst der öffentlichen Meinungen behaupten will«, scheint nicht weniger sprechend für die platonische Liebe und die Begehrlichkeiten des Sokratismus, insbesondere für die sokratische Apologie und ihre tödlichen Folgen. Schauen wir also noch einmal genauer hin, was es mit der Sublimierung der Theorie auf sich hat, und tun wir dies, wie bereits angekündigt, im Spiegel des platonischen Dialogs selbst. Wenn wir wirklich verstehen wollen, was Sublimierung nicht nur zustande bringt, sondern wie sie selbst zustande kommt, scheint es geboten, sich anhand des Textes von Platons Symposion zu vergegenwärtigen, welchem Schicksal Eros unterworfen ist und welchen Zielen er sich unterwirft – nicht zuletzt auch als Eros des Analytikers. Erweist man der Psychoanalyse die Ehre, sie auf sich selbst anzuwenden, ist es nicht nur eine ›freie‹ Assoziation, dass das platonische Symposion für den Analytiker in etwa das bedeutet, was die Tragödie des Ödipus für den Analysanden. An dem Triebschicksal des Eros im platonischen Gespräch lässt sich nicht zuletzt auch das therapeutische Begehren der Psychoanalyse als das späte Erbe der sokratischen Mäeutik studieren – ein sich schulendes, sublimes Begehren des Parakademismus.

4.3 Ideal(durch)bildung Was es mit den Triebschicksalen des Eros im Symposion auf sich hat, lässt sich auch im platonischen Text nicht anders als von links nach rechts, Zeile um Zeile,

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Seite für Seite nachvollziehen. In diesem Sinn kann es hier nur darum gehen, zumindest die entscheidenden Etappen des Handlungs- und Dialoggeschehens zu skizzieren, auch wenn auf Vollständigkeit dabei freilich kein Anspruch erhoben werden kann. Es muss letztlich bei Akzentsetzungen bleiben; Akzentsetzungen jedoch, die verdeutlichen dürften, dass Feuerbachs Komposition im Wesentlichen verdichtet und finalisiert, was sich an Entwicklungen vollzogen hat bis zum Eintritt des Alkibiades. Das fängt im Grunde schon damit an, dass Feuerbach eine quasi fiktive Gesprächssituation zum Sujet eines Historienformats erwählt16: Was genau ist das Geschichtsträchtige dieses Dialogs, das Feuerbach es im vollen Bewusstsein eines Hauptwerks (gleich zweimal) ins Bild zu bannen müssen meinte? Die bisherigen Überlegungen sollten zumindest nahegelegt haben, dass hier ein Zusammenhang zum Vorschein kommt, der über bloß Historisches bereits hinausreicht. Eher im Sinne von Aristoteles’ Poetik illustriert hier die Kunst gegenüber der Geschichte nicht die Kontingenz des tatsächlichen Geschehens, sondern versucht die Notwendigkeit, wie es hätte sein sollen, sichtbar zu machen. Es geht um eine im besten Sinne stilisierte Handlung innerhalb eines bis heute kanonischen Textkorpus, der weniger Politik- als Ideengeschichte geschrieben hat und das auch noch im Medium von protreptischen, also Werbeschriften für die platonische Akademie als Mutter aller Akademien, Universitäten und sonstigen Kulturinstitutionen desselben Zuschnitts. Mit anderen Worten: Es geht um ein Bildungsereignis von kaum zu unterschätzender Bedeutung und dessen bildliche Wiedervergegenwärtigung, gleichsam um eine andere Art von Staatsakt: den Gründungsakt der Gelehrtenrepublik in seinen Auswirkungen vom nachklassischen Athen bis zum ›Land der Dichter und Denker‹ des 19. Jahrhunderts. Feuerbach tradiert eine Gedenkkultur, die sich eher im Sehnsuchtsland einer idealen Antike beheimatet fühlt als in den Modernisierungsgebieten einer transnationalen Industrialisierung. Wir haben bereits im Einzelnen beobachtet (siehe Kap. 2), wie Feuerbach die Geschichte der Deutsch-Römer auf seine Weise fortund umschreibt. Nun sollte nicht verwundern, dass auch schon Platons Text eine Erinnerung wachhält, wenngleich eine besonders einschneidende: das zugleich traumatische wie zündende Ereignis von Sokrates’ Hinrichtung. Entsprechend ist es auch hier, wie in vielen anderen Dialogen Platons, eine verschachtelte Rahmenhandlung,17 die vor allem eines zu verstehen gibt, und zwar, dass es sich um eine Wiedererinnerung handelt, deren Lücken in der Wiedergabe weniger von Vergesslichkeit und Vergänglichkeit als von den Freiräumen der Legendenbildung zeugen, gleichsam von der Freilegung einer ewigen Gestalt.

4.3 Ideal(durch)bildung

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So sticht ein Moment in der anfänglichen Rahmenerzählung besonders heraus: Sokrates macht sich mit Aristodem, den er kurzerhand mit einlädt, Agathon aufzusuchen, auf den Weg, um unterwegs jedoch von seinen eigenen Gedanken eingeholt zu werden. Er schickt daraufhin Aristodem als seinen Boten voraus, während er selbst noch auf der Strecke bleibt. Als Sokrates endlich eintrifft, ist die Festgesellschaft bereits beim Essen angelangt, harrt seiner Ankunft aber in freudiger Erwartung. Als der andere Protagonist des Geschehens verspätet sich Sokrates ebenso wie Alkibiades, wenngleich angekündigt, und markiert damit gleichfalls einen wesentlichen Einschnitt im Ablauf des Abends. Man wechselt von der Speise zum Umtrunk, der diesmal jedoch nüchterner ausfällt als am Vorabend, dem Abend des Tragödiensiegs Agathons, und beschließt auf Anregung von Phaidros, reihum Reden zu halten zu Ehren des Eros. Das letzte Wort gebührt Sokrates, der im Unterschied zu allen anderen jedoch abermals eine Erinnerung wiedergibt an ein Gespräch mit Diotima. Man ist versucht, den Grund seiner Verspätung gerade in dieser Erinnerung zu erblicken, die ihn unterwegs übermannt hat und ihn, wie oft berichtet wird, äußerlich zwar abwesend erscheinen lässt, innerlich aber mit anderen Sphären in Kontakt bringt. Zieht man zudem in Erwägung, dass durch das Gespräch mit Diotima erneut ein Rahmen innerhalb des bereits gerahmten Dialogs eröffnet wird, Diotima zu allem Überfluss Sokrates einen Mythos erzählt und das seltsame Beiseitetreten des Sokrates auf dem Hinweg selbst zugleich wie ein Heraustreten aus dem alltäglichen Geschehen erscheint, dann wird aus der Verschachtelung eine Verpackung, deren Inneres ein Kleinod birgt … Tritt hier nicht bereits eine unterschwellige Verbindung zum quasi mythischen Auftreten des Dionysos in Gestalt des Alkibiades zu Tage? Wie dem auch sei, die mit der Ankunft des Sokrates bald anhebenden Reden stellen uns Eros als ein Wesen vor, über das kaum Einigkeit besteht, ob es zu den Göttern oder zu den Dämonen zählt. Und genau diese Fragwürdigkeit wird auch Alkibiades in der nachfolgenden Szene in ein entsprechendes Licht setzen. Doch bevor es dazu kommt, macht der Ideengeber Phaidros den Anfang mit einer Rede, an der eine Sache sofort ins Auge springt: Dieser nämlich stellt die Frage nach dem Ursprung des Eros, um sich darauf mit der Antwort vorzuwagen, dass Eros nach Hesiod eigentlich zu den zwei allerfrühesten Göttern gehöre: »Phaidros habe zuerst geredet und er sei davon ausgegangen, ein großer Gott sei Eros und zu bewundern bei Menschen und Göttern, in vielen Dingen, aber nicht zum wenigsten wegen seines Ursprungs. Denn unter den Göttern am ältesten zu sein ist ruhmvoll. Das aber ist bezeugt: Denn Eltern des Eros gibt es […]. Zuerst

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wurde das Chaos, aber danach ›Breitbrüstig Gaia, allen ewig sicherer Sitz / Und Eros.‹«18 Als weiterer Gewährsmann für das ehrwürdige Alter des Eros nennt Phaidros Parmenides, und noch andere folgen, um auf einen gewissen Punkt zu insistieren: »Ursprung« im griechischen Original meint die archē und damit einen Zentralbegriff nicht nur des platonischen Denkens, den man in seiner Einheit nach drei Bedeutungshinsichten zu übersetzen hat: Anfang, Prinzip und Herrschaft. Wenn Phaidros selbst also mit seiner Lobrede auf den Ursprung des Eros den Anfang macht, gibt er zugleich das Prinzip der folgenden Reden vor und beherrscht damit gewissermaßen schon im Voraus das weitere Geschehen. Denn wie sich nun reihum zeigt, formieren sich die verschiedenen Einlassungen der Anwesenden zu einer Art dramaturgischen Beschwörung des Eros innerhalb eines von Phaidros gesetzten Rahmens, der jedoch nach der abschließenden Rede Agathons, der Mitte des platonischen Textes (und Feuerbachs Gemälde), von Sokrates (und später Alkibiades) gesprengt wird. Doch gehen wir zunächst einmal weiter. Als nächster, den Apollodor noch erinnert, kommt Pausanias an die Reihe, der die von Phaidros angenommene Einheit kritisiert, indem er sie spaltet: Wir alle wissen ja, daß keine Aphrodite ohne Eros ist. Also wenn sie eine – wäre Eros Einer. Da es aber zwei sind, müssen notwendig zwei Eroten sein. Sind es nicht sicherlich zwei Göttinnen? Die eine ist älter und mutterlos, Uranos’ Tochter, wir nennen sie auch die Himmlische. Die andere jüngere, Zeus und Diones Tochter, wir nennen sie auch die Bürgerliche. So ist es notwendig und richtig, Eros, den Begleiter der einen, bürgerlich zu nennen, den anderen himmlisch.19

Diese Spaltung des Eros zielt darauf ab, die ›niederen‹ sinnlichen Gelüste von einem ›höheren‹ Ideal der Erotik zu trennen. Anders formuliert: Während der »bürgerliche«20 Eros für die einfache Abfuhr des Sexualtriebes steht, verkörpert der »himmlische« Eros im Resultat dagegen eine narzisstische Idealbildung, wie sie sich unter anderen von der letzten Bemerkung des Pausanias her nahelegt: »Und aus demselben Grund ist dennoch die Täuschung schön, wenn man sich einem Guten hinzugeben glaubt, um selbst durch die Freundschaft des Liebhabers besser zu werden, es sich aber zeigt, daß jener schlecht ist und keine Tugend besitzt.«21 Dass diese Verklärung eines narzisstischen Selbstbetrugs im Zeichen eines himmlischen Eros nicht die volle Zustimmung der Zuhörer finden kann, mag schon dadurch deutlich werden, dass Aristophanes, der als nächster am Zuge wäre, sich

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mit einem Schluckauf rumzuschlagen hat,22 der ihn wiederum dazu veranlasst, Eryximachos den Vortritt zu lassen. Dieser fährt fort, indem er seinerseits Pausanias das zwiespältige Lob ausspricht, zwar einen »schönen Anlauf« genommen, die Rede aber »nicht befriedigend zu Ende« geführt zu haben, sodass er sich nun selbst darum bemühe, sie zu vollenden.23 Was folgt, ist eine seiner Profession als Arzt angemessene Darstellung des himmlischen Eros im Sinne eines kosmischen Prinzips der Harmonie. Entsprechend durchziehen pythagoreische Motive seine Rede und weisen ihn als intimen Kenner jener esoterischen Gemeinschaft aus, die in allen Entitäten ein nach Zahlen bestimmbares musikalisch-mathematisches Harmonieverhältnis am Werk sahen. Der »bürgerliche« Eros tritt jenem gegenüber in den Hintergrund und scheint stillschweigend eher zu einem Antagonisten umgedeutet zu werden. Entscheidend ist hierbei jedoch eine Behandlung des Themas, die in Inhalt und Form zur Deckung kommt: Sie ist im pythagoreischen Sinne »logisch«, indem sie dem Verhältnis aller Harmonien bzw. der Harmonie aller Verhältnisse nachspürt. Dem Einheitsgrund der archē und dessen Spaltung folgt also eine erneute Harmonisierung des Entzweiten im Medium des Logos, ihrerseits nun jedoch gefolgt durch den Kugelmenschen-Mythos aus dem spöttischen Mund des wiederhergestellten Aristophanes. Für die hiesigen Belange ist es nicht erforderlich, den berühmten Mythos abermals im Detail zu entfalten. Stattdessen mögen die Hinweise genügen, dass Aristophanes erstens Eryximachos für seinen ihm erteilten, letztlich heilsamen Rat dem Gelächter preisgibt, scheint doch »das Edle des Leibes derartiges Getöse und Gegurgel […] wie das Niesen« zu erfordern, um einen Schluckauf zu kurieren. Zweitens bildet die ganze Rede, als komödiantischer Mythos gestaltet, schon formell eine regelrechte Parodie, einen Gegengesang, auf die vorherigen Redner, vor allem Eryximachos. Drittens steht auch der Inhalt des Mythos in einer gewissen Spannung zu dem Vorherigen: Das Geschlecht der Kugelmenschen wird ob ihrer Hybris wider die Götter von diesen zur Strafe in der Mitte zerteilt. Darauf streben die jeweiligen Hälften danach, sich erneut zu vereinigen, jedoch ohne Erfolg: Ihr Begehren kann sich nicht mehr erfüllen, sodass sie ineinander verschlungen verdursten und verhungern. Erst als die Götter ihnen die Gnade der geschlechtlichen Vereinigung gewähren, indem sie sie zu Menschen ummodeln, kommt es zu einer zeitweisen Befriedigung ihres Verlangens und damit zu einer Stabilisierung ihres Triebhaushalts. Sollten sie sich jedoch abermals gegen die Götter auflehnen, drohte dem Menschengeschlecht abermals die Strafe der Götter, sodass sie abermals in Hälften gespalten und fortan »wie die Menschen auf den Grabreliefs über die Nase weg durchsägt« umherwandeln müssten. Einmal davon abgesehen, dass sich mit dem letzten

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Schritt ein unerwarteter Weg in die Theorie der bildenden Künste öffnet, lässt sich hieran ein weiteres Moment des Eros festmachen: Über die Einheit, Spaltung und Harmonie der Gegensätze noch hinaus scheint bei Aristophanes, wenn auch »nur« im Scherz, für einen kurzen Moment die Möglichkeit einer weitergehenden Ausdifferenzierung auf. Der Eros als Streben nach Ganzheit, wie ihn auch Aristophanes versteht, führt im Extrem zu einer Hybris der Vereinigten, die eine strafende Zerspaltung als Reaktion zur Folge hat: Die Realität schlägt zurück bzw. das Realitätsprinzip bringt sich als Strafe gegen ein überhandnehmendes Lustprinzip zur Geltung. Gegen diese drohende Einsicht in die Abgründe des Witzes setzt mit Agathon im Anschluss und als Abschluss eine wortreiche Verdrängung ein. Rhetorisch blendend ergeht er sich in einer allumfassenden Lobeshymne auf Eros, seine Schönheit, seine Weisheit, seine Macht, die in einem direkten und bewussten Gegensatz zur Eröffnung des Phaidros steht. Dabei beansprucht Agathon für seine eigene Rede nicht nur, was er zugleich Eros zuspricht: Vollendung und Fülle, er erklärt Eros auch zum jüngsten aller Götter, der gleichwohl alle anderen in seinen Bann zu schlagen vermag. Als »König der Götter«24 steht er nicht mehr am Anfang, sondern am Ende; und aus der archē als Anfang und Prinzip, die das bisherige Geschehen beherrschte, scheint auf einmal die Herrschaft des Ziels und Zwecks, des telos geworden, auf das hin die Entwicklung zuläuft und durch das sich alles zu einem vollendeten und in sich erfüllten Ganzen fügen soll. Man muss wohl nicht viele Worte darüber verlieren, dass die Rede des Agathon, des frisch gekürten Siegers, vorderhand selbst als erotische Klimax erscheinen mag – würde dadurch nicht im selben Zug ein Verdacht rege, der sich in der Replik des Sokrates noch bewahrheiten wird: Indem Agathon als Dichter und Rhetoriker, der er ist, alle vorherigen Ansätze durch eine Rede von bestechender Schönheit zu vollenden scheint, präsentiert er sich nolens volens zugleich als vollendeter Narzisst, der für den schwindenden Augenblick seiner Darbietung mit dem allseits beschworenen erotischen Ideal (wieder) in eins fällt. Kurzum: Was mit Phaidros eröffnet und von Agathon erfüllt wird, ist eine narzisstische Idealbildung, bei der Eros als die göttliche Fülle selbst einer makellosen Schönheit, als ›das sinnliche Scheinen der Idee‹ begriffen und in Agathon höchstselbst Gestalt wird. – Was darauf folgt, wird jedoch eine eher unansehnliche, eine sokratische Wahrheit sein und zugleich den Wendepunkt des Dialogs darstellen von der narzisstischen Idealbildung zur Theorie der Sublimierung, von der Apotheose der Fülle zur Apologie des Mangels – von Anna Risi zu Henriette Feuerbach.

4.3 Ideal(durch)bildung

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4.4 Nannas Narzissmus … Wenn es eine Person im Leben Anselm Feuerbachs gegeben hat, die seinen höchsten Ansprüchen an ein zeitenthobenes Ideal entsprochen haben mochte, dann war dies wohl das Modell Anna Risi. Und zu betonen ist hierbei, dass es vorrangig das Modell gewesen ist, mehr als die Person selbst, das ihm gestattete, seine Idealvorstellungen zu materialisieren. Schon allein die schiere Masse seiner Studienköpfe, die er nach seiner Bekanntschaft mit Anna Risi anfertigen sollte, lässt keinen Zweifel an dem entscheidenden Impuls dieser Begegnung für seine künstlerische Entwicklung. Bemerkungen wie die folgende bekräftigen dies nicht nur eindrücklich, sondern verdeutlichen zugleich, wie es um das Verhältnis Feuerbachs zu seinem verehrten und geliebten Modell im Grunde bestellt gewesen war: »Was das Arbeiten betrifft, so habe ich für die nächsten Jahre vollauf, und alles verkäuflich, ich habe das schönste Weib von Rom zu meiner alleinigen, unbedingten Verfügung, die mir alles für Kunst bietet, eine Kombination, die alle hundert Jahre vorkommt, ich armer Teufel mußte doch endlich auch einmal zu etwas kommen.«25 Bei aller Liebe, die immerhin für einige Jahre anhalten sollte, bis ›Nanna‹ mit einem wohlhabenden Geliebten durchbrannte26, spricht aus diesen Zeilen an die Mutter weniger die Verschämtheit, eine Gattin in spe anzukündigen, als ein triumphales Selbstgefühl, das sich für die bisherigen Entsagungen sowohl materieller als auch ideeller Art fortan entsühnt meint. Mochten sich die monetären Hoffnungen auch, wie so oft, nicht erfüllen, so blieb doch für die ideelle Seite die Belohnung nicht aus: In den Nanna-Bildnissen von 1860 bis 1865 arbeitet sich Feuerbach zu jenem unverkennbaren Stil durch, der seine folgenden Werke prägen sollte. Nanna selbst hingegen bekam auch ihren Anteil ab, indem ihre luxuriöse Ausstattung mit Gewändern und Schmuck nicht nur zu den Modellsitzungen diente, sondern auch in der Öffentlichkeit zum Tragen kam. Bezeichnend sind hierbei Nachrichten von Feuerbachs eigenem, teilweise heruntergekommenem Auftreten, einem »armen Teufel« neben Nanna, die ex negativo bestätigen, dass sich sein Verhältnis zu seiner vergötterten Geliebten im Wesentlichen durch die Liebe zu seiner eigenen Kunst entfaltete und von jener idealistischen Erotik der Fülle und Schönheit im Zeichen narzisstischer Projektionen befeuert war. Dass Feuerbach zudem mit den Argusaugen der Eifersucht über Nanna wachte, ihr seine »alleinige, unbedingte Verfügung« abverlangte und sich zugleich in eine narzisstische Symbiose, eine »Kombination, die alle hundert Jahre vorkommt« hineinträumte, rundet das Bild zum Idealbild eines selbstverliebten Eros ab.

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Peter Forster hat vorgeschlagen, in der Serialität dieser explosionsartigen Produktion einen postmodernen Zug avant la lettre wiederzuerkennen, wonach in den unterschiedlichen Modellierungen Anna Risis zu Nanna als Mirjam, Lucretia, Iphigenie, Virginia, Bacchantin etc. die Fraglichkeit einer festumrissenen personalen Identität im Allgemeinen zum Ausdruck käme.27 Allein, diese Feststellung mag der narzisstischen Disposition weder zu widersprechen (scheint Feuerbach hier doch eine Verkörperung seines antik-römischen Idealtypus eher gefunden als erfunden zu haben), noch dieser Bilderreihe ihre anhaltende (Auto-)Suggestionskraft einer in sich vollendeten Schönheit zu nehmen. So muss man mit Gabriele M. Vogelberg wohl davon sprechen, dass es sich hierbei stattdessen um einen wiederholten »Selbstvergleich«28 handelt, wie auch von Feuerbachs Schaffensweise her schon erhellt: »Die Bilder untermale ich in meinem Zimmer, dann zeichne ich die einzelnen Gruppen auf einen Bogen und zeichne sie alle durch nach der Natur […]. Habe ich diese Studien nun, dann schließe ich mich wieder in meine Kammer und vollende.«29 Die vorgefasste Idee behält den Vorrang und erfährt ihre Ausarbeitung lediglich unter Korrektur der Details, nicht der Komposition. Anna Risi bleibt Nanna, ein stilisiertes Modell, eine persona Feuerbachs, die die Ordnung seines Künstlerlebens im Grunde nicht umzuwälzen vermag, wie es für eine wirklich tiefgreifende Liebe eigentlich zu erwarten wäre. Stattdessen schreibt Feuerbach in einem Brief, der der Mutter erstmals Kunde gibt von seinem neuen Besitz und in einer Passage äußerst ähnlich lautet zu der bereits zitierten, Folgendes: »Daß Liebessachen, die etwaigen Heiratspläne, die Du hast, im Wege sind, vorwalten, darüber sei ganz ruhig, es ist nichts von alledem, ihr Lebenswandel ist anerkannt tadellos, und da sie verheiratet ist, so ist es reine Neigung und Verehrung, und ich müßte der dümmste aller Jungen sein, wenn ich solche Sachen unbeachtet beiseite ließe.«30 – Hier ist, wie im ganzen Briefwechsel mit der Mutter symptomatischer Weise nicht der Name Anna Risis genannt, auch wenn sich schon andeutet, welches Verhältnis Feuerbach im Begriff war, mit ihr einzugehen. Die Beteuerungen, die mütterlichen Heiratspläne nicht zu durchkreuzen, muss dabei jedoch nicht nur als Beschwichtigungsgeste verstanden werden, sondern gibt eine pragmatische Seite Feuerbachs zu erkennen, die bei aller Schwärmerei nicht übersehen werden kann. Kehren wir an dieser Stelle zu Freud zurück, indem wir mit Lacan deutlicher werden als Freud selbst. Im Kontext der bereits zitierten, zentralen Passage in Freuds Einführung des Narzißmus heißt es:

4.4 Nannas Narzissmus …

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Wir können sagen, der eine habe ein Ideal in sich aufgerichtet, an welchem er sein aktuelles Ich mißt […]. Diesem Idealich gilt nun die Selbstliebe, welche in der Kindheit das wirkliche Ich genoß. […] Er will die narzißtische Vollkommenheit seiner Kindheit nicht entbehren, und wenn er diese nicht festhalten konnte, durch die Mahnung während seiner Entwicklungszeit gestört und in seinem Urteil geweckt, sucht er sie in der neuen Form des Ichideals wiederzugewinnen.31

Lacan hat darauf insistiert, die hier eher beiläufige Variation des Vokabulars in ihren Konsequenzen zu entwickeln: »Es ist angebracht, Ichideal und Idealich radikal zu unterscheiden. Das erste ist eine symbolische Introjektion, während das zweite die Quelle einer imaginären Projektion ist.«32 Wenden wir dies auf das Beziehungsdreieck Künstler – Modell – Mutter an, stellt sich die Situation in etwa so dar: Die berauschenden, himmlischen Gefühle, die Feuerbach mit dem narzisstischen Besitz von Nanna verbindet, zeugen zwar von einem kurzweiligen Ausagieren seines Idealichs (der »imaginären Projektion«): in der Verklärung seiner Lage fühlt er sich ermannt, nun doch zu etwas zu kommen, d.h. zu Ruhm und Geld, zu Möglichkeiten, seine narzisstische imaginäre Blase zu erweitern; dadurch bleibt sein eigentliches Ichideal (die »symbolische Introjektion«) jedoch gerade unangetastet, ja findet sogar eine weitere Bestätigung, indem sich Feuerbach gleichzeitig von den Dummheiten eines kleinen Jungen distanziert, nicht der höheren Einsicht seiner Mutter zu gehorchen. Die Kombination Nanna – Feuerbach hat Idealich-Charakter und situiert sich im Imaginären, während Mutter Feuerbach zu ihrem Sohn als innere Stimme seines Ichideals spricht. Für sie gilt mit Blick auf Feuerbachs Position: »Wir können sagen, der eine habe ein Ideal in sich aufgerichtet, an welchem er sein aktuelles Ich mißt […].« Dabei ist das phallische Vokabular, das von Freud hier bewusst oder unbewusst ins Spiel gebracht wird, signifikant. Dazu Lacan ausführlicher: »Letztlich sehen wir auf eben dieser Seite, welches die ist, auf der das Idealich seinen Platz in der Phantasievorstellung einnehmen wird, leichter als anderswo das, was die Tonhöhe der Elemente der Phantasievorstellung regelt, und daß es hier zwischen den beiden Termini etwas geben muß, das gleitet, damit der eine der beiden so leicht elidiert werden kann.«33 Will sagen: Das, was gleitet zwischen den beiden Termini von Idealich und Ichideal, ist der »imaginäre Phallus«, etwas, »das sich auf die Probe stellt«34; ein Phallus, zu dem Feuerbach in seiner narzisstischen Hochstimmung Nanna macht, und zu dem er von Henriette als dem Gewissen seiner Künstlerexistenz seinerseits gemacht wird.35 Nanna ist für Feuerbach letztlich austauschbar, sie kann »leicht elidiert werden«, Henriette dagegen mitnichten,36

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auch wenn Feuerbach wiederum für Henriette zunächst eintauschbar war, wie es bei der Ersetzung von Anselm Feuerbach sen. durch Anselm Feuerbach jun. als Platzhalter ihres Helfersyndroms37 zuvor geschehen ist.38 Die stilisierte Pracht und Fülle von Nannas Bildnissen stopft also Feuerbachs inneren und äußeren Mangel mit einem »imaginären Phallus«, der – bereits Resultat einer symbolischen Kastration (durch besagte »Mahnung während seiner Entwicklungszeit« und dann auch »in seinem Urteil«) – weitergereicht wird und dabei stets der Gefahr ausgesetzt bleibt, abhanden zu kommen. Die in sich ruhende Schönheit Nannas ist flüchtig – in der Realität, inAbb. 13: Anselm Feuerbach, Bildnis der Nanna Risi, 1861. dem sie sich tatsächlich davonmacht, Öl auf Leinwand, 74,5 x 62 cm. Staatliche Kunsthalle und in ihrer Idealität, indem sie sich auf Karlsruhe. Feuerbachs Gemälden (insbesondere der ersten Iphigenie von 1862) in einem inneren Seelengrund zu verlieren scheint, den man mit Hegel einen Abgrund romantischer Sehnsucht nennen kann. Kurzum: Annas bildgewordene Schönheit, ihre durch Feuerbach vollbrachte Idealisierung zu Nanna, umgibt eine Aura des Erstrebten, Gewollten, Gewordenen, nicht Gegebenen – und dennoch, wider alle Flüchtigkeit, zugleich die Aura einer gleichsam immer schon eingeholten Ewigkeit: »Ich überlege, […] daß ein Künstler eigentlich nur eine Frau haben darf, die ihn als der Ausdruck und die Vollendung der Schönheit umschwebt wie ein stetes Ideal, immer neue Gluten anfachend, wenn der Funke der Begeisterung im scharfen Luftzug des Lebens zu erlöschen droht.«39 * Damit sind wir erneut an den Punkt des platonischen Dialogs gelangt, an dem sich die Idealdurchbildung (mit Agathons Lobrede auf die allesbeherrschende Schönheit des Eros) soeben vollendet hat. Der sich ereignende Szenenwechsel, der mit dem letzten noch ausstehenden Redner, Sokrates, nun einsetzt, vollzieht sich formell wie inhaltlich durch einen markanten Einschnitt. Wider den Jubel der anderen Zuhörer gibt sich dieser zunächst auf ironische Weise verlegen:

4.4 Nannas Narzissmus …

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Ich glaubte in meiner Einfalt, man müsse die Wahrheit sagen über jedes zu Preisende und das sei gegeben, und daraus dann das Schönste auswählen und so schicklich wie möglich aufbauen. Und sehr groß dachte ich davon, wie schön ich reden würde, da ich ja die Wahrheit von dem Dinge, das ich zu loben hatte, wußte. Aber darin besteht, wie es scheint, gar nicht, ein Ding schön zu loben, sondern darin, der Sache so Großes und Schönes wie möglich beizulegen, ob es sich nun so verhält oder nicht.40

Diese naiv vorgetragene, doch im Grunde vernichtende Kritik verwickelt Agathon alsbald in einen Dialog, bei dem die vordergründige Schönheit seiner Rede unausweichlich der prosaischen Wahrheit eines Selbstwiderspruchs geopfert wird: Ist Eros Liebe zu nichts oder zu etwas? – Gewiß zu etwas. – Das ist es, sagte Sokrates, das halte fest in deinem Gedächtnis: zu etwas. Das aber sage noch, ob Eros das, wozu er Liebe ist, begehrt oder nicht? – Er tut es, antwortete er. – […] Das Begehrende begehre, wessen es bedürftig ist und begehre nicht, wenn es nicht bedürftig ist. […] Nicht wahr, erstens ist Eros Liebe zu etwas, dann zu dem, woran er Mangel leidet? – Jawohl. – Hierzu erinnere dich, was Du in Deiner Rede sagtest, die Liebe zu was Eros sei? […] Ich glaube nämlich du sagtest etwa so: Den Göttern sei das Dasein durch Eros zum Schönen geordnet worden, denn zum Häßlichen gäbe es keinen Eros. […] Und das hast du verständig gesagt, mein Freund, sagte Sokrates, und wenn es richtig ist, so wäre Eros Liebe zur Schönheit, zur Häßlichkeit nicht. […] Eros bedarf also der Schönheit und nicht besitzt er sie? […] – Und Agathon sagte darauf: Sokrates, mir ahnt, daß ich nichts von dem weiß, was ich vorhin redete. – Und hast doch schön geredet, Agathon, sagte er.41

Was in dieser gerafften Wechselrede sich letztlich auch in Agathons Kopf zur Erkenntnis verdichtet, ist nichts weniger als eine Revolution des Begehrens: Eros selbst ist nicht die Fülle der Schönheit, sondern die Liebe zu ihr, ein Begehren nach ihr – aufgrund des eigenen Mangels. Und man kann tatsächlich von einer Revolution sprechen, wird doch hier von Sokrates nichts Geringeres herbeigeführt als ein Umsturz der vormaligen Herrlichkeit und Herrschaft des Eros: Galt Eros von Phaidros bis Agathon, und damit gewissermaßen von den griechischen Anfängen bei Hesiod bis zu den Sophisten der Gegenwart (wie Platon andeutet) noch als das eigentliche Sein der Schönheit, nach dem sich alles andere wie nach der Sonne ausrichte, quasi als der große göttliche Geliebte (eromenos) im Zentrum allen Begehrens, so tritt er uns nun – durch die Worte des Sokrates sei-

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nes Ornats entkleidet – als das nackte Bedürfnis selbst entgegen, als ein um die Gunst der Schönheit buhlender Liebhaber (erastes). Es muss an dieser Stelle kaum betont werden, dass wir genau hier dem Anfang eines Untergangs beiwohnen, nämlich dem einer klassischen Schönheit, wie sie sich in Agathon bei Platon (und Feuerbach) verkörpert findet und wie sie sich nicht von ungefähr im Dialog mit Sokrates letztendlich selbst fragwürdig wird bis zur Selbstwiderrufung. Was dagegen heraufzieht, bringt uns auf Triebbahnen zurück, die auch in der Bilderzählung von Feuerbachs Gastmahl auf Sokrates und seinesgleichen führen. Kommen wir darum nun zu dem, was es mit dem Sokratismus als Geburtskonstellation des Akademismus im Zeichen der Venus auf sich hat. Wir kommen zu den ärmlichen Umständen, unter denen Eros selbst in die Welt trat oder darauf, was und wie eine Theorie der Sublimierung zu begehren lehrt.

4.5 … und Henriettes Heimweg Von dir will ich nun endlich ablassen. Aber die Rede über den Eros, die ich einst hörte von Diotima, einer Frau aus Mantinea [gynaikos mantinikēs], welche hierin und in vielem anderen weise war und den Athenern, als sie gegen die Pest opferten, zehn Jahre Aufschub der Krankheit bewirkten, und die auch mich das Wesen der Liebe lehrte – die Rede also, die ich von ihr hörte, will ich versuchen, euch wiederzugeben […].42

Wer Diotima war, ob sie einer realen Person entspricht oder ob sie eine von Platon erfundene Gestalt darstellt, lässt sich heute nicht mehr sagen. Auffällig ist nur, dass ihre mantischen Fähigkeiten Athen einen Aufschub der Pest bei den Göttern zu erwirken vermochten und dass sie darin auch ihrem Namen, »die Zeus Ehrende« oder »von Zeus Geehrte« alle Ehre machte. Dass Platon zudem ihren Herkunftsort angibt, verweist womöglich auf politische Bündnisse zwischen Mantineia und Athen, mag aber auch als Wortspiel aufgefasst werden, das ihren Status als eine Art Seherin (im Sinne der mantike technē) erneut bekräftig. Von einer bedeutenden Tempelanlage in Mantineia ist hingegen nichts bekannt. Das vermochte umgekehrt jedoch nicht zu verhindern, eher zu erleichtern, dass innerhalb der Rezeptionsgeschichte des platonischen Dialogs die Gestalt Diotimas immer wieder, wie etwa bei Hölderlin, als Muse figurierte – als eine Muse jedoch, wie der platonische Text nahelegt, die als Lehrerin eines speziell ›platonischen Eros‹ das sonst gängige Bild von der Geliebten als Inspirationsquelle verschiebt.

4.5 … und Henriettes Heimweg

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Diotima tritt Sokrates in priesterinnenhafter Keuschheit entgegen und zeichnet sich durch ein dialektisches Talent aus, das selbst Sokrates zum Schüler werden lässt, wo es darum geht, das geistige »Wesen der Liebe« zu erkennen, statt ihre körperlichen Praktiken einzuüben. Überhaupt zeigt sie sich in ihrer Rede, ihrem »logos«, als weise und damit zugleich weniger als bestauntes oder begafftes Objekt der sokratischen Inspiration denn als deren Subjekt. Das schließt natürlich nicht aus, dass Sokrates sie auf eine Weise begehrt, die wir noch kennenlernen werden, allerdings eben nicht auf eine direkt sexuelle. Was Sokrates, der sonst vorgibt, nichts zu wissen, dagegen weiß von Liebesdingen, weiß er von ihr – und dieses Was der Liebe, ihr ti estin, ihr Wesen offenbart sich durch Diotima als Theorie der Sublimierung in der Schau des Schönen selbst.43 Doch bevor wir uns mit Sokrates zu diesen metaphysischen Höhen aufschwingen, gilt es die Frage nach Diotimas Identität erneut zu stellen, diesmal allerdings nicht danach, wer Diotima für Sokrates gewesen sein mag, sondern für Feuerbach. Wer war diese Muse und Lehrerin eines platonischen Eros in Feuerbachs Leben? Die Antwort dürfte kaum noch schwerfallen: Es ist Henriette Feuerbach, seine Stiefmutter, die er zugleich als seine Freundin anspricht und auf die er nicht nur in organisatorischen Belangen seiner Künstlerexistenz angewiesen ist. Henriette selbst sah in ihrer Sorge für und um ihre beiden Anselme vor allem einen Dienst am tragischen Genie, dessen Beschwerlichkeiten sie ihrerseits in gottergebener Duldsamkeit ertrug.44 So hat es nicht gefehlt, dass man sie zur »tragischen Muse«45 erklärt oder in der Beziehung zu ihrem Stiefsohn als »Freundin seiner Seele« bezeichnet hat. Alle Stilisierungen, die diesen Äußerungen aus dem engeren Bekanntenkreis anhaften, mögen jedoch so viel Wahrheit besitzen, dass ein von Psychosen und Neurosen, Entbehrungen, ja Existenznöten belagertes Familienleben wohl kaum aufrechtzuerhalten gewesen wäre, wenn Henriette ihr äußerliches Schicksal in ihrem Innersten nicht wie eine Sendung getragen hätte.46 Und in der Tat ist es in ihren Briefen an ihren nicht weniger verehrten Bruder Christian Heydenreich ein ausgeprägt religiöser Zug, dessen Innig- und Eigensinnigkeit über ein bloßes Frömmlertum hinausgeht und stattdessen auf eine Veranlagung zu mystischen Erfahrungen deutet.47 Wie sich ihr eigenes Leben ihren Überzeugungen und ihrer Zeit entsprechend gestaltete, lässt sich einer im Jahr 1839 bezeichnenderweise anonym veröffentlichten Schrift mit dem Titel Gedanken über die Liebenswürdigkeit der Frauen entnehmen. Diese Schrift, die in der klassischen Tradition einer ästhetischen Erziehung nach Schiller steht – etwa indem sie die Liebenswürdigkeit mit Anmut und lebendiger Schönheit assoziiert48 –, weist zum anderen deutlich die besagten Züge einer Mystik des Opfers und der Hingabe auf, wie sie sich nicht allein aus den patriarchalischen Umständen der

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Zeit erklären lassen. Vielmehr scheinen sie diese gleichsam innerlich zu übersteigen: Der Frauen Bestimmung von Jugend an ist ein einziges großes Opfer. Aber sie wissen es nicht und schmücken selbst den Altar fröhlich mit Blumen, auf welchen sie ihr Leben, nach den ewigen Gesetzen der Natur, zur Weihe bringen. Liebe heißt das große Wort, der Anfang, die Mitte und das Ende des weiblichen Seyns, seine Bildung und Vollendung. Ob Aeltern oder Gatten, ob Kinder oder Freunde, das Weib ist geschaffen, um zu lieben. Es muß auf dieser Erde eine Seele haben, der es sich mit der vollen, ungetheilten Kraft seines inAbb. 14: Anselm Feuerbach, Henriette Feuerbach, Mutter nersten Wesens hingiebt, für die es des Künstlers, 1867. Öl auf Leinwand, 106 x 82,5 cm. Alles seyn will, was es ist und werden Kurpfälzisches Museum Heidelberg. kann. […] Das Weib allein vermag sich ganz hinzugeben in der Liebe, ohne Vorbehalt, ohne Clausel. Kein Mann ist fähig, ein solch alles ausschließendes Gefühl zu empfinden. […] Sie beraubt sich ihres ganzen äußeren Lebens, um das Daseyn Anderer damit auszuschmücken, und je größer, je schwerer die Opfer sind, welche man von ihr fordert, desto williger, desto freudiger wird sie sich zur Erfüllung derselben hergeben. Ihre Liebe ist rein und heilig, sie ist glücklich durch das, was sie giebt, nicht durch das, was sie empfängt.49

Dieser tief blicken lassende Passus bringt im Grunde zum Ausdruck, was die anonyme Autorin zur Maxime ihres eigenen Lebens erkoren hatte. In unserem Kontext sollte auch die Rede von Opfer und Altar nicht verwundern. Wie es Sigrun Paas einmal pointierte, ist es »ein Opferdienst, den sie als Priesterin auf dem Altar des Geniekultes darbrachte«50. Was sie als Gegengabe für diese Opfer erhält, ist jedoch nicht Nichts. Im Gegenteil, könnte man sagen, erwirkt ihre vollendete Hingabe, ihre mystisch zu nennende Selbstvernichtung umgekehrt eine unwiderstehliche Liebenswürdigkeit, welche die anderen, Gatten, Kinder, Freunde oder

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auch den großen Anderen geradezu nötigt, ihre Liebe zu erwidern. Das, was ihre Liebe gibt, ist dabei im Wesentlichen weniger die Fülle ihrer Fürsorge als das erweckte Begehren der anderen, die sich ihrerseits der Liebe würdig zu erweisen suchen, indem sie diese ›reine‹ und ›heilige‹ Liebe totaler Selbstentäußerung und Selbstverausgabung, dieses Vakuum des Begehrens, durch ihr Begehren füllen.51 Henriettes Begehren ist das Begehren der anderen, die sie allererst richtig zu begehren lehrt. Was es mit dieser Liebe also im Wesentlichen auf sich hat, führt uns geradewegs zurück auf die platonische Theorie der Sublimierung. Wie lautet nun die eindringliche Lektion, die allein Diotima ihrem Sokrates zu erteilen weiß? Auch hier geht es zunächst um die Bewusstmachung eines Mangels, auch hier greift die übliche talking cure sokratischer Mäeutik, wenn auch diesmal mit vertauschten Rollen. So ist es Sokrates, der – wie zuvor noch Agathon – sich sagen lassen muss, dass sein Verständnis des Eros in wesentlicher Hinsicht fehlgeht: Weder ist Eros das reine Sein des Schönen noch auch dessen bloßes Gegenteil, weder ist er ein Gott noch ein Sterblicher, sondern deren Mitte: ein Dämon, der zugleich als Medium zwischen den Welten vermittelt.52 Übertragen heißt das, dass auch das erotische Begehren selbst nicht gänzlich hässlich oder gottlos zu nennen, sondern von seinem Ziel her schon geheiligt ist.53 – Das ist der erste Schritt auf dem Weg zur Einsicht. Auf die Nachfrage des Sokrates, wer denn sein Vater und seine Mutter seien, bringt Diotima sodann einen Mythos zu Gehör, der sich allein an dieser Stelle, bei Platon, findet und der doch in die Geistesgeschichte eingegangen ist wie kein zweiter in Sachen galanter Intellektualität. Er lautet im Groben folgendermaßen: Zum Geburtstag der Aphrodite finden sich die Götter zu einer Feier ein, einem Symposion, wie man sagen könnte, bei dem auch geistigen Getränken in hohem Maße zugesprochen wird. Unter den Gästen weilt ein gewisser Poros, dessen sprechender Name in etwa mit »Ausweg«, »Weg« oder auch im Gegensatz zu »aporos« allgemeiner mit »Findigkeit« zu übersetzen wäre. Dieser Poros ist nun über seinen Rausch im Garten eingeschlafen und macht dort direkte Bekanntschaft mit Penia, übersetzt schlicht: »Armut«, »Elend«, die ihrerseits die einmalige Gelegenheit gekommen sieht, sich ein Kind machen zu lassen. Dieses Kind ist Eros, der, wer mag es den Eltern verübeln, am Geburtstag der Aphrodite gezeugt und darum ihrer Schönheit fortan verpflichtet sein wird. Eros’ eigene Gestalt nun schildert Diotima folgendermaßen: Erstlich bedürftig ist er immer und viel fehlt, daß er zart sei und schön, […] sondern hart und rau und barfuß und heimatlos, immer am Boden lagernd und ohne

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Decke, vor Türen und auf Straßen im Freien schlafend, da er die Natur der Mutter hat, immer der Bedürftigkeit Genoß. Wie der Vater hingegen stellt er den Schönen und Guten nach, tapfer und verwegen und eifrig, gewaltiger Jäger, allezeit Ränke schmiedend und nach Erkenntnis begierig und erfinderisch, Weisheit suchend sein ganzes Leben lang [philosophōn dia pantos tou bion], gewaltiger Zauberer, Giftkundiger und Sophist, und weder als Unsterblicher ist er geartet noch als Sterblicher, sondern bald blüht er denselben Tag und lebt, wenn es ihm wohl geht, bald aber stirbt er hin. Und wieder lebt er auf durch des Vaters Natur, und das Erworbene zerfließt ihm immer, so daß Eros weder jemals arm ist noch reich und in der Mitte ist von Weisheit und Torheit. Denn so verhält es sich: Keiner der Götter sucht die Weisheit oder begehrt weise zu werden [philosophei oud‹ epithymei sophos], denn er ist es. Und auch wenn ein anderer weise, sucht er nicht Weisheit.54

Schon den Zeitgenossen dürfte aufgegangen sein, was knapp anderthalb Jahrtausende später Marsilio Ficino in seinem Symposion-Kommentar55 en détail ausbreiten sollte: Eros philosophiert nicht nur, sondern er ist gleichsam der Dämon der Philosophie selbst und von seiner Charakterisierung her kaum zu unterscheiden vom wissbegierigen Gesprächspartner Diotimas, von demjenigen, der es wissen wollte, weil er nicht wusste, dass er weiß, und nun wissen sollte, dass er selbst bzw. sein daimonion bereits die Antwort auf seine eigene Frage darstellt: Sokrates selbst steht Diotima gewissermaßen Modell, um Eros in Gestalt und Gebaren festzuhalten. Das scheint deswegen aber nun mehr als ein erneuter Rollentausch, weil Sokrates es sich erst von einer oder dem Anderen gesagt sein lassen muss, um sein Streben nach Weisheit, sein philosophisches Begehren als ein erotisches erkennen zu können. Diotima ist in diesem Sinne eben nicht Muse, ohne zugleich belehrend und fördernd auf sein Selbstverständnis einzuwirken. Es ist wohl nicht allzu abwegig, die Charakterisierung des Eros und dieses Verhältnis gleichermaßen auf die Künste im Allgemeinen und insbesondere auf das künstlerische Streben Feuerbachs zu übertragen, der in seinen Aberhunderten von Briefseiten an seine Stiefmutter nicht zuletzt Rechenschaft über sein Kunstschaffen und -wollen ablegen zu müssen meinte. Denn allein in Henriette besaß er jene geliebte und verehrte Persönlichkeit, die ihn förderte und sein Gebaren gegenüber Dritten erklärte, während sie ihm zwar vordergründig bloß mit Ratschlägen zur Seite stand, untergründig aber ihre eigenen Ansprüche an sein Künstlertum immer wieder ins Gedächtnis rief – und sei es nur durch ihr stillschweigendes Erdulden aller Entbehrungen. Auch in dieser Hinsicht ist der feu-

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erbachsche Eros letztlich aus Armut und Findigkeit geboren. – Das ist der zweite Schritt auf dem Weg zu Einsicht. Worauf zielt Eros aber dann genau ab, wenn er mit aller Macht und Hinterlist nach dem Schönen strebt? – Nachdem Diotima in der Folge Sokrates noch ein wenig auseinandergelegt hat, was er eigentlich schon wissen müsste, etwa, dass sein Streben nicht auf das Schöne geht, ohne in ihm zugleich das Gute zu erblicken, bringt sie das findige, aber mangelgetriebene Begehren des Eros auf den Punkt: »Also zusammengefaßt, sagte sie, heißt nun die Liebe, daß man das Gute für immer besitzen will. […] Wenn aber immer die Liebe hierauf geht, sagte sie, wie und in welchem Tun muß der Eifer und die Leidenschaft ihm folgen, damit man sie Liebe benennt? […] Wohlan, ich will es dir sagen: Es ist nämlich ein Zeugen im Schönen, sei es im Leibe, sei es in der Seele.«56 – Der Eros stellt also dem Schönen darum nach, weil er es selbst besitzen und sich in ihm zu reproduzieren trachtet.57 Anders gewendet: Die Fülle des Schönen erzeugt gerade ein Mangelbedürfnis, das sich in dem Begehren äußert, seinerseits zu zeugen, im Schönen zu zeugen, Schönes zu zeugen, um dem eigenen Mangel dadurch Abhilfe zu schaffen. »Warum aber nun die Zeugung? Weil das Ewige und Unsterbliche im Sterblichen die Zeugung ist.«58 Welchem Mangel aber genau Abhilfe schaffen? – Dem Mangel an Unsterblichkeit. Halten wir an dieser Stelle kurz inne, um uns die Situation noch etwas deutlicher vor Augen zu stellen: Das Schöne erzeugt das Begehren, sich in ihm die eigene Unsterblichkeit zu erzeugen. Angesichts der Schönheit wird erst der eigene Zustand als Mangel erfahrbar und angesichts des Schönen regt sich erst das Begehren, diesen Mangel zu beheben und zu einem höheren Zustand erneuter Mangellosigkeit emporzusteigen – oder zurückzukehren? Freudianisch betrachtet ist durch dieses Begehren nicht nur Eros beschrieben, sondern mit Blick auf die Behebung des Mangels und d.h. eben auch: mit Blick auf das aus dem Mangel geborene Begehren selbst – mit Blick also auf dieses mindestens paradoxe, selbst widersprüchliche, letztlich womöglich selbstvernichtende Begehren – ist zugleich ein gewisser Todestrieb aufgerufen. Dieser Todestrieb im Sinne eines Begehrens, nicht mehr zu begehren, scheint nun seinerseits dem Wunsch nach der eigenen Unsterblichkeit diametral entgegengesetzt. Doch worauf es hier nun ankommt, ist, genauer hinzuschauen, auf welche Weisen sich der Wunsch nach Unsterblichkeit überhaupt erfüllen lassen könnte, wenn schon für Platon ausgemacht scheint, dass die geschlechtliche Reproduktion nicht das individuelle Fortbestehen, sondern eben nur das der menschlichen Gattung (wie auch bei allen anderen Tieren) sichern kann. Die Frage ist darum nicht zuletzt die, wie ein höherer Zustand der Erfüllung zu erstreben wäre, der

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nicht nur eine Stillung des Begehrens im Sinne einer bloß situativen Erfüllung (mit Folgen) oder einer endgültigen Regression ins Anorganische bedeutete. Oder als Frage formuliert: Was ist Sublimation und wie funktioniert sie in ihrem Begehren – jenseits der Triebabfuhr sexueller Reproduktion oder des bloßen Ablebens? Ist das Begehren nach Unsterblichkeit vielleicht weniger ein Begehren, nicht mehr zu begehren, als das, nicht mehr aus Mangel zu begehren? Aber kann es das geben? Und wie müsste es aussehen, ohne Agathon und der Erotik einer narzisstischen Idealbildung abermals das Wort zu reden? – Das Begehren der Ewigkeit als Ewigkeit des Begehrens? Wir werden diese Frage erst am Ende jenes Aufstiegs beantworten können, den Platon im Folgenden des Symposions als die erste und immer noch letztgültige Theorie der Sublimation bis auf die Spitze einer reinen Schau des Schönen getrieben hat. So kommen wir nicht umhin, den einzelnen Stufen zu folgen, deren erste, die der sexuellen Reproduktion, wir bereits genommen haben. Für diese und alle folgenden aber, ausgenommen die letzte, die göttliche, gilt nach Platon: »So wird auf diese Weise alles Sterbliche erhalten, nicht dadurch, daß es in jeder Beziehung immer dasselbe bleibt wie das Göttliche, sondern indem das Verschwindende und Alternde ein anderes Neues von der Art, wie es selbst war, zurückläßt. Durch diese Einrichtung, Sokrates, hat Sterbliches an der Unsterblichkeit teil, der Leib und alles übrige.«59 Machen wir uns das an einem Beispiel klar, das in direktem Bezug zu Werken der Kunst steht. Nachdem Diotima zunächst die vergänglichen Freuden der leiblichen Elternschaft und darauf die beständigeren geistiger Freundschaften und Meister-Jünger-Verhältnisse abgehandelt hat, kommt sie auf die spezifische Unsterblichkeit des Ruhmes zu sprechen, wie er den Dichtern und Gesetzgebern zuteilwurde, die mit ihren Werken und Taten über die Generationen hinweg zu wirken vermochten. Die anschließende Feststellung ist eindeutig und deckt sich in ihren Präferenzen auch mit der Lebensauffassung Feuerbachs: »Ihnen [manchen Berühmtheiten; Anm. FA] sind auch schon viele Heiligtümer entstanden wegen solcher Kinder, wegen menschlicher Kinder aber noch keinem.«60 Daran ist zweierlei hervorzuheben: Unter Bedingungen eines Zeugens im Schönen sind erstens auch Kunstwerke zu den Kindern, ja sogar zu den rühmenswerten Kindern zu zählen. Es gibt genug Belege für Feuerbachs unumwunden elterliche Zuneigung gegenüber seinen Werken, die auch Henriette alles andere als fremd war. Dazu kommt zweitens, dass die Rede von gestifteten Heiligtümern auch für den Kunstglauben der Feuerbachs nicht zu hoch gegriffen wäre. Im Gegenteil finden sich nicht nur Schilderungen von Henriettes Heidelberger Wohnung, die den aufgehängten Werken nicht nur aus Verkaufsgründen erheb-

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lichen Platz einräumte, sondern auch Feuerbach selbst mochte seinen Werken wohl eine gewisse höhere Weihe nicht absprechen. Entscheidend für die hiesigen Überlegungen ist jedoch, dass wir auf dieser Stufe noch nicht über die narzisstische Idealbildung einer bloßen Kunstreligion hinaus sind (auch wo Feuerbach seine »Kinder« mit den wohlwollenden Elterngefühlen eines reproduzierten kindlichen Primärnarzissmus beäugt).61 Die letzte Stufe hin zur tatsächlichen Theorie der Sublimation scheint erst dort erklommen, wo sich der Blick auf das Schöne an diesem oder jenem zu dem Schönen als solchem erhebt. Diotima selbst leitet mit dem zitierten Satz über zum »Geheimdienst des Eros«, zur »letzte[n] Schau und oberste[n] Weihe«, für die alles Vorherige nur Vorbereitung gewesen sein soll.62 Was jetzt folgt, kann man als eine Dramaturgie der Sublimation beschreiben, die abermals die zuvor genannten Stufen emporschreitet – jedoch diesmal, um aus dem Profanen in das Heiligtum einzutreten und dort der Schau des Schönen selbst teilhaftig zu werden im Sinne einer theoria der Sublimierung: Denn dies heißt richtig zum Erotischen gehen oder geführt werden, daß man von diesen schönen Dingen beginnend jenes Schönen wegen immer hinaufsteige, gleichsam auf Stufen steigend, von einem zu zweien und von zweien zu allen schönen Leibern und von den schönen Leibern zur schönen Lebensführung und von der schönen Lebensführung zu den schönen Erkenntnissen, bis man von den Erkenntnissen endlich zu jener Erkenntnis gelangt, welche die Erkenntnis von nichts anderem als jenem Schönen selbst ist und man am Ende jenes Selbst, welches schön ist, erkenne. Und hier, wenn irgendwo, o lieber Sokrates, sagte der Gast aus Mantinea, ist das Leben dem Menschen lebenswert, wo er das Schöne selbst schaut.63

In der Schilderung eines Stufengangs resümiert Diotima nochmals die Sokrates erteilte Lektion und bringt darin zugleich Platons eigene Lehre eines Aufstiegs aus der heterogenen Vielheit der leiblichen Sinnenwelt über die ideellen Einheiten der Ideen bis hin zum Einen des göttlich Schönen selbst zum Ausdruck. Zuvor hatte Diotima diese Erhebung bis in die göttlichen Sphären etwas ausführlicher dargelegt und dabei grob drei Etappen unterschieden, die hier noch durch eine vierte und letzte ergänzt werden. Auf der ersten, der ästhetischen Stufe sind es die schönen Leiber, die den Eros anziehen und ihn dadurch auf die zweite, die ethische Stufe emporziehen, auf der nunmehr die Seele und ihre Bildung als würdiger erscheinen. Erst auf der dritten Stufe, die man die des Erkennens nennen könnte, erweisen sich die beiden vorherigen als Momente einer Abstraktionsbe-

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wegung von der vereinzelten Vielheit des Leibes über die besondere Ganzheit der Seele zur allgemeinen Einheit der Idee. Auf ihr stehend stellt sich rückblickend die Einsicht ein, dass das Schöne (= Ästhetik) und Gute (= Ethik) im Wahren vereint sind. Die vierte und letzte Stufe aber geht über die drei vorherigen dadurch noch hinaus, dass am Ende aller ›Einsicht‹ nur mehr noch eine absolute Einheit der Idee des Schönen selbst zu gewahren ist: »[U]nd wieder wird sich das Schöne ihm nicht offenbaren wie ein Antlitz oder Hände oder etwas anderes Körperliches, auch nicht als ein Wort oder eine Erkenntnis, auch nicht als in etwas anderem enthalten, in der Kreatur oder auf Erden oder im Himmel oder in irgend etwas, sondern als ein mit sich selbst für sich selbst ewig eingestaltiges Sein.«64 Man kann diese Stufe die metaphysische, ja mystische nennen, die voraussetzt, dass alle anderen Stufen, auch die der Erkenntnis, überschritten werden müssen, bevor sich die henosis vollziehen lässt. – Im platonischen Text bleibt es bei diesem Hinweis, einem Fingerzeig Diotimas. Es ist gewissermaßen Henriettes später Heimweg. Aber wenden wir uns wieder ihrem »Freund« zu.

4.6 Sokratische Sublimationen Indem wir es an dieser Stelle unterlassen, noch weiter auf die bis heute strittige Diskussion über eine ungeschriebene Lehre platonischer Prinzipienspekulationen einzugehen,65 machen wir gleichsam auf der Stelle kehrt und blicken auf diese Theorie der Sublimation von knapp unter ihrer obersten Schwelle zurück: Was sich von hieraus zeigt, ist die Theorie, die theoria,66 die Schau als die Sublimierung selbst im Sinne einer Erhebung des Eros bis zu einer Enthebung von allem Begehren, mithin die Behebung seines konstitutiven Mangels – quasi in einer Überfülle, für die es kein Gefäß oder Medium mehr gibt, das sie noch fassen oder vermitteln könnte. Was sich bei Platon als eine metaphysische Aussicht auftut, ist die Selbstaufhebung eines vom Ursprung her philosophischen Eros. Auch Freud oder Lacan sind diesem Weg bis kurz vor sein Ziel gefolgt, wenngleich mit der entscheidenden Abweichung, am Ende nicht auf den Übergang zu einem Jenseits des Realitätsprinzips gestoßen zu sein, sondern auf den Eingang in das Jenseits des Lustprinzips, den Eingang in das Diesseits des Todestriebs. Was sich jedoch bis kurz vor dem Umschlag von Eros in Thanatos abspielt, vollzieht sich gleichwohl als Sublimierung im platonischen Sinne, etwa wenn Freud an einer Stelle den Ertrag der Sublimierung gegenüber anderen Abwehrreaktionen heraushebt:

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Der Neurotiker hat durch seine Verdrängungen viele Quellen seelischer Energie eingebüßt, deren Zuflüsse für seine Charakterbildung und Betätigung im Leben sehr wertvoll gewesen wären. Wir kennen einen weit zweckmäßigeren Vorgang der Entwicklung, die sogenannte Sublimierung, durch welchen die Energie infantiler Wunschregungen nicht abgesperrt wird, sondern verwertet bleibt, indem den einzelnen Regungen statt des unbrauchbaren ein höheres, eventuell nicht mehr sexuelles Ziel gesetzt wird.67

Vergleicht man die philosophische mit der psychoanalytischen Variante, fällt auf, dass beide mit einer Transformation des erotischen Triebschicksals rechnen. Allein, während Platon den Eros von seinem vermeintlichen Ziel her revidiert und rückwirkend eine Transformation des Sexualtriebs in einen wesentlich andersgearteten, philosophischen Eros anzunehmen scheint, kommt es bei Freud lediglich zu einer Transformation des Triebobjektes unter Beibehaltung der Sexualenergien.68 Beide Deutungsweisen verstehen Eros zwar als Zeugungswunsch im Schönen, schlagen angesichts ihrer jeweiligen Konsequenzen jedoch entgegengesetzte Richtungen ein: Während Platon den Aufstieg fortsetzt zu einer Einswerdung mit dem Absoluten, fasst Freud diese Progression zum Absoluten dagegen als Sturz in den Tod, gleichsam als die absolute Regression, die stets auch in entgegengesetzter Richtung stufenweise möglich bleibt. An das Ende von Diotimas Rede gelangt, kurz bevor Alkibiades sich vernehmbar macht, stellt sich für uns damit unvermeidlich die Frage: Feuerbach, quo vadis? Ihre Beantwortung hängt damit zusammen, was genau Sokrates sieht in seinem Begehren, was sein Begehren von ihm bzw. was er von seinem Begehren will. Dass der platonische Sokrates sein Begehren niemals aus dem Blick verliert, zeigen seine unermüdlichen Dialoge mit unterschiedlichsten Gesprächspartnern, hinter denen sich – wie hinter Masken – lediglich sein eigener Dämon zu verbergen scheint, ihm bedeutend: Nein, das ist es noch nicht. Diese Erfahrung musste auch Alkibiades machen, als er sich in seinen Jünglingsjahren Sokrates sexuell zu nähern suchte. Die geschilderte Szene, bei der sich Alkibiades unter einer Decke mit Sokrates eine Abfuhr abholt, bildet das Zentrum des letzten Teils des Symposions seit seinem Auftauchen unter den Gästen. Platon lässt keine Zweifel daran, dass Alkibiades die Wahrheit sagt, indem er Sokrates immer wieder dazu anhält, ihn zu unterbrechen, wenn er das Geschehen falsch wiedergeben sollte. Dazukommt, dass er dem Wein gehörig zuspricht, überhaupt als Dionysos in Erscheinung tritt, um auf Sokrates eine Lobrede zu halten, die diesen als Satyr und damit als eine Gestalt aus dem dionysischen Gefolge ausweist. Nicht zuletzt erhält die geschilderte Szene wie auch zuvor die letzte

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metaphysische Stufe in Diotimas Rede eine diskursive Rahmung als Geheimlehre, die nur den Eingeweihten vorbehalten sei. – Alkibiades spricht: Ich bin nun schmerzlicher gebissen und da, wo der Biß am schmerzlichsten ist – am Herzen oder der Seele oder wie es zu nennen, bin ich geschlagen und gebissen von den Worten der Philosophie, welche wilder als Nattern festhalten, wenn sie eine junge und nicht stumpfe Seele gefaßt haben und machen, daß sie wer weiß was tut und sagt! Und ich sehe euch wieder an […], denn ihr seid alle geeint im Wahnsinn und in der bacchischen Wut der Philosophie. Darum höret alle! Denn ihr werdet verstehen, was damals getan wurde und jetzt gesagt wird. Ihr Diener aber und wer sonst ungeweiht und unerzogen ist, legt schwere Pforten vor eure Ohren!69

Was auf diese Worte folgt, die das Philosophieren zu einem bacchantischen Geschäft für Eingeweihte erklären, ist besagtes, galantes Geschichtchen, das Alkibiades seitdem in einer gewissen Ambivalenz gefangen hält zwischen aufrichtiger Bewunderung für die sokratische Keuschheit und tiefer Kränkung ob der erfahrenen Zurückweisung. Beides aber verdichtet sich nicht nur für Alkibiades, sondern für alle von »der bacchischen Wut der Philosophie« Ergriffenen in der Frage, was Sokrates eigentlich begehrt? Was das Innerste seines Begehrens ist? Alkibiades zieht »Götterbilder«70 zum Vergleich heran, um das kostbare Innen im Unterschied zu Sokrates’ silenenhaftem Außen zu illustrieren. – Wir erfahren nicht weiter, was sie sind, jedoch, wie sie wirken, wenn Alkibiades ausführt: Ihr seht ja, daß Sokrates in die Schönen verliebt ist und immer um sie herum ist und durch sie ergriffen wird.. und wieder gibt er sich die Haltung, als ob er alles verkennt und nichts weiß. Ist das nicht silenenhaft? Sicherlich. Denn das ist nur seine äußere Umhüllung, wie beim ausgehölten Silen. Aber innen, wenn man ihn öffnet, was glaubt ihr, Männer und Freunde, wie er strotzt von Besonnenheit. Wisset, daß es ihn gar nicht kümmert, ob einer schön ist, sondern er achtet das so gering, wie wohl niemand glauben würde, noch ob einer reich, noch ob er einen andern der von der Menge verhimmelte Vorzüge hat. Er erachtet nämlich all diese Güter für wertlos und uns selbst für nichts, sagt es aber nicht, sondern treibt seine Ironie und sein Spiel das ganze Leben hindurch mit den Menschen. Ob aber jemand die Götterbilder seines Inneren gesehen hat, wenn er ernst und aufgeschlossen war, weiß ich nicht. Ich aber habe sie einmal gesehen, und mir schienen sie so göttlich und golden zu sein und vollendet schön und wunderbar, daß ich glaubte sogleich tun zu müssen, was Sokrates auch fordere.71

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Alkibiades dürfte mit seinen Mutmaßungen über das eigentliche Begehren des Sokrates nicht ganz falsch gelegen haben, gibt er sich doch als Eingeweihter zu erkennen, der zumindest einmal zu sehen geglaubt hat, was Sokrates von seinem Innersten her antreibt. Was ist mit diesen »Götterbildern« also gemeint? – Das Problem, hierauf eine Antwort zu finden, scheint ein nicht unerheblicher Teil der Antwort selbst zu sein. Wir wissen von Sokrates’ Dämon, der ihm keine Ruhe lässt, und einer Besessenheit des Denkens, das ihn bisweilen, Alkibiades berichtet selbst davon, über einen ganzen Tag in Bann schlagen kann. Man möchte also meinen, Sokrates wüsste selbst nicht genau, was er begehrt – außer eines: er begehrt nicht einfach das Begehren der anderen. Alkibiades hingegen begehrt in Sokrates gerade dessen Begehren, dessen er sich zunächst auch sicher wähnte, vertrauend auf seine eigene körperliche Attraktivität. Was er jedoch durch die geschilderte Szene lernen musste, war eben jenes, was er mit der Feststellung zum Ausdruck bringt, dass Sokrates eigentlich niemanden begehrt und stattdessen alles für nichtig erachtet, das sich allein auf Ästhetisches, Ethisches oder Epistemisches bezieht, ohne dabei das Metaphysische der Ideen im Blick zu behalten und zuletzt nach der Schau des Schönen selbst zu trachten. Letzteres jedoch ist nicht nur Ziel, sondern zugleich Ursprung, die archē seiner Besonnenheit, sodass man wiederum mit seinem Schüler Platon sagen könnte: Die Götterbilder sind die Ideen selbst, deren zwangloser Zwang höherer Einsicht sich jedes Begehren zuletzt von selbst fügt. – Das wäre die platonische Lesart der Sublimation. Die freudianische Lesart hingegen wäre darin anzutreffen, dass – wie der gewissermaßen treuste Schüler Freuds, Lacan, herausgearbeitet hat – die Götterbilder dem objet a in Alkibiades eigenem Begehren entsprechen und Sokrates’ Besonnenheit dagegen eher eine therapeutische Reserviertheit zum Ausdruck bringt, nämlich die eines Analytikers gegenüber den Übertragungen seines Analysanden. Sokrates begehrte im Fall des Alkibiades demnach nichts mehr, als ihm letztendlich zu verstehen zu geben, dass dessen Begehren eigentlich nicht ihm, sondern einem anderen gelte, und das alles, was Alkibiades über ihn sagen wollte, dieser eigentlich über sich selbst ausgesagt habe: Du scheinst mir nüchtern zu sein, Alkibiades, sonst hättest du dich nicht so zierlich im Kreis herumgedreht und das zu verbergen gesucht, weswegen du dies alles gesagt hast, indem du es wie nebensächlich an den Schluß setztest.. als ob du nicht alles deswegen gesagt hättest, um mich und Agathon zu entzwein. Du glaubst ja ich müsse dich lieben und niemand sonst, und Agathon müsse von dir geliebt

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werden und von niemand sonst. Aber du bliebst nicht verborgen, sondern dein Silenen- und Satyrdrama wurde durchschaut.72

Ironie und Spiel, das Silenenhafte würde also eher als Maskerade des Alkibiades entlarvt werden müssen? Doch selbst wenn es sich so verhielte, wie stünde es um das Begehren des Sokrates, wo dieser nicht vom therapeutischen Eros getrieben wäre? Oder ist es gerade das, das Wundersame an Sokrates, dass er nie von seinem eigenen Begehren ablassen kann – egal, wer ihn begehrt? So kommt es also nicht zuletzt darauf an, was wir von Sokrates, vor allem vom Sokrates Feuerbachs wollen, wo wir ihn uns zu deuten suchen. Auch auf Feuerbachs Gemälde kann dieser Dämon nicht von sich selbst lassen, indem auch hier – unscheinbar zwar, aber quasi als Gravitationszentrum des Geschehens – sein Blick gleichsam auf einem flüchtig skizzierten Eroshaupt ruht, das unterhalb der Tischkante prangt (Abb. 15).73 Überhaupt ist der gesamte Bildraum, erkundet man ihn im Detail, mit Erosdarstellungen versehen, deren sichtbarste Agathons Trinkschale schmückt, während die entsprechenden Wanddekorationen eher kaum ins Auge fallen. Was begehrt dieser omnipräsente Eros also von sich selbst, der Dämon des Sokrates und damit letztendlich auch Feuerbach, sein Bildner? Was ist Feuerbachs parakademische Sicht der Dinge, seine theoria der Sublimation – gegen die platonische oder freudianische?

Abb. 15: Ausschnitt (Eroshaupt) von Abb. 1 Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

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4.7 Lucias Ent-Sublimierung Verweilen wir noch ein wenig bei den Wandmalereien, dann sind es vor allem drei antikisierende Fresken,74 die ins Auge stechen und die allesamt dionysische Motive wiedergeben (von links nach rechts): Eine Bacchantin, die sich von ihrer Haltung her zur eintretenden Gruppe gesellt; Bacchus selbst neben einer weiteren Bacchantin oder besser einer Mänade, was ihr ausgelassenes Gebaren betrifft; und zuletzt der großzügige Ausschnitt einer komplexeren Komposition, die Feuerbach ehemals noch zwecks eines eigenständigen Werks entworfen hatte, aber letztlich spiegelverkehrt in das Gemälde integrierte. Sie zeigt einen Komos anlässlich der Heirat des Dionysos mit Ariadne und schwebt wie ein enthemmtes Traumgesicht, als Anklang an das Silenhafte des Sokrates,75 über den Köpfen der Gesprächsteilnehmer. Feuerbach hatte dieses Sujet selbst als Gegengewicht entworfen, und die Wiederaufnahme der Kopfhaltung einer der lauschenden Jünglinge bei der abgebildeten Ariadne sowie die giebelartige Einfassung des Hochzeitspaars zwischen den beiden Leuchtern, die quasi als Säulen fungieren, verstärken noch den Eindruck ihrer Einbindung in die Sitzgruppe. Hinzukommt, dass das verschattete Gesicht des Sokrates gewissermaßen den unkenntlichen Gesichtszügen des Dionysos korrespondiert und dass Xenophon, ein weiterer Sokratesschüler und Konkurrent Platons, den Feuerbach gelesen haben könnte, einen gleichnamigen Dialog verfasst hat, in dem der Gesprächsrahmen ähnlich, das Ende jedoch bezeichnend anders ausfällt: Bei Xenophon kommt es zu einer kleinen Aufführung, welche die Hochzeit von Ariadne und Dionysos zum Thema hat und die dazu führt, dass die Zuschauer (außer Sokrates und einige andere) von den dargebotenen Liebkosungen entbrannt schlussendlich zu ihren Ehefrauen eilen und das feucht-fröhliche Beisammensein dadurch auflösen.76 Diese Zusammenhänge setzen nun nicht nur die platonische Szenerie in einen grellen Kontrast, bedenkt man die Zurückweisung, die Alkibiades noch für seine körperlichen Annäherungsversuche erfahren hatte, sondern sie erlauben uns zudem, vom Ende des anderen Gastmahls her auch die feuerbachsche Darstellung nochmals in einem anderen Licht zu sehen. Die Hochzeit zwischen Dionysos und Ariadne samt ihren derb-sinnlichen Anspielungen als Hintergrund der philosophischen Gespräche stellt nicht nur eine engere Verbindung zur dionysischen, linken Bildhälfte her, als es vorher den Anschein haben mochte,77 sondern verlangt nach einer weiteren Klärung, die Aufschluss verspricht, und zwar die Figur der Ariadne betreffend. Wer war bzw. ist Ariadne?

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Abb. 16: Anselm Feuerbach, Ruhende Nymphe, 1870. Öl auf Leinwand, 112 x 190 cm. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg.

Wie bereits angedeutet, ist ein wesentliches Moment des Ariadne-Mythos ihre Hochzeit mit Dionysos. Allerdings muss ergänzt werden, dass es erst dazu kam, nachdem sie den attischen Heroen Theseus auf Kreta mithilfe eines Fadens durch das Labyrinth des Minotaurus, der dabei durch dessen Hand fallen sollte, geschleust hatte.78 Darauf brannte sie mit Theseus durch, der sie dann jedoch auf einer Zwischenstation, der Insel Naxos, zurückließ, wo sie wiederum am Strand schlafend von Dionysos entdeckt wurde, der sich in sie verliebte und sie letztlich heiratete.79 Diese Schilderung mag hier dazu dienen, zugleich einen Zusammenhang herzustellen, der für ein Verständnis von Feuerbachs theoria der Sublimation nicht unerheblich ist. Über einen kleinen Umweg werden wir geradewegs auf das Allerheiligste geführt, das sich nicht nur dem Namen nach mit Ariadne (der »Heiligsten«) verbindet. Dieser Umweg führt über ein Gemälde Feuerbachs, das der Forschung bis heute Rätsel aufgibt: Gemeint ist die von ihm selbst so betitelte Ruhende Nymphe (Abb. 16),80 die er im Jahr 1870, also zwischen der ersten und zweiten Fassung des Gastmahls (siehe Abb. 7),81 vollendete und die vor dem Hintergrund des bisher Gesagten ikonographisch nur einen Schluss zuzulassen scheint: Es handelt sich dabei um Ariadne. Legt man diese Annahme einmal zugrunde, lässt sich die für eine Nymphe sonst ungewöhnliche Meeresszenerie,82 aber auch das Pantherfell als Symbol des Dionysos ohne Hilfskonstruktionen einordnen. Warum Feuerbach aber sein

4.7 Lucias Ent-Sublimierung

165

Gemälde nicht direkt nach Ariadne benannte, lässt sich aus einem Hinweis Jürgen Eckers erschließen: »Humanistisches Gedankengut war dem Künstler nicht unvertraut; ›Nymphe‹ bedeutet im Griechischen eigentlich ›Braut‹, auch dies müßte als Erklärung mit herangezogen werden, wenn die Nymphe nun die Züge seines Modells Lucia Brunacci trägt.«83 Warum man Ariadne auch als »Nymphe« bzw. »Braut« bezeichnen kann, ergibt sich aus ihrer zukünftigen Heirat mit Dionysos; dass es Feuerbach selbst tut, hängt mit der zweiten Bemerkung bezüglich der Person Lucia Brunaccis zusammen. Eckers Hinweis zielt eigentlich auf die Frage, wie die Aussage Allgeyers zu werten sei, dass das Modell des Körpers ein anderes gewesen sein müsse als das des Kopfes, ohne dass Allgeyer dabei Namen genannt hätte. Die delikate Frage ist dabei, wer für den sinnlicher als sonst aufgefassten Akt Modell gestanden haben mag. Während die langjährige Lebensgefährtin Feuerbachs, Lucia, unverkennbar den Kopf dafür herhalten musste, ranken sich um den entblößten Leib Vermutungen, die dahin gehen, dass hier die einzige Aktdarstellung von Nanna vorliegen könnte – die nach ihrem Bruch mit dem Künstler lediglich ihren Kopf verloren hätte … Doch wie es darum auch bestellt sein mag (und es sieht eher danach aus, dass das erste Modell nicht Nanna gewesen sein dürfte)84, es bleibt dabei, dass wir bei diesem Bild einer der erotischsten, wenn nicht gar die erotischste Darstellung in Feuerbachs Œuvre vor Augen haben, deren Modell (egal ob Nanna oder Lucia) zugleich in intimster Beziehung zu Feuerbach gestanden hat. Die zumindest eindeutig identifizierbare Person Lucias ist hier nicht ohne Wohlgefallen an sex­ uellen Reizen als die mythische Gestalt Ariadne dargestellt worden, sodass wir auf diesem Umweg nunmehr besser verstehen können, welche entscheidende Rolle Lucia bzw. Ariadne für Feuerbachs Gastmahl eigentlich spielt. Nicht nur hat sie für einen Großteil der Figuren Modell gestanden, wir werden darauf unten noch zurückkommen, sondern, wie es jetzt zu begreifen gilt, repräsentiert ihre virtuelle Anwesenheit als Braut des Dionysos im rechten Wandgemälde zugleich ein neues Erotikverständnis Feuerbachs: Wir haben mit Blick auf das platonische Gastmahl bisher von einer Theorie oder theoria der Sublimation gesprochen. Im Blick auf das feuerbachsche Gastmahl des Plato scheint sich nun jedoch eine unterschwellige Verschiebung bemerkbar zu machen, die in der sublimen theoria des platonischen Eros zugleich eine altbekannte Praxis durchscheinen lässt. Nennen wir diese in ihrer schlüpfrigen Zweideutigkeit anders gelagerte Erotik des Gastmahls darum Feuerbachs Kunst der Entsublimierung. Was das heißt, wird deutlicher, indem man nochmals auf die beiden vorherigen ›Beziehungstypen‹ zurückgeht, die uns in den Verhältnissen zu Nanna und Henriette begegnet sind: Die Liebe zu Nanna im Zeichen einer narzisstischen

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4 Akademismus

Idealisierung gehörte während der faktischen Entstehungszeit des Gastmahls bereits der Vergangenheit an; wir haben diese Liebe in Bild und Text an die Gestalt Agathons rückgebunden. Mit dem Übergang zu Sokrates im Kreis der Redner sind wir sodann auf die Bedeutung Diotimas aufmerksam geworden für die Theorie der Sublimation. Es ging dabei um eine ›platonische Liebe‹, wie sie Feuerbach zeit seines Lebens durch die Person seiner Muse und Mutter Henriette zuteilwurde. Gewisse Reibungen zwischen diesen beiden bis dato wichtigsten Frauen seines Lebens schienen unvermeidlich und sollten sich erst dadurch erübrigen, dass Feuerbach – neben den stiefmütterlichen Unterweisungen in seinem künstlerischen Begehren – unfreiwillig um eine bittere Lektion bereichert wurde. Auf Nanna, die im Sommer 1865 wie schon erwähnt mit einem neuen Liebhaber nach Süditalien durchgebrannt war, folgte im Jahr 1866 die Bekanntschaft mit Lucia, die – unscheinbar und weniger von Stiefmutter und Nachwelt beargwöhnt – bis heute kaum aus dem Schatten ihrer Vorgängerin herausgetreten ist, obwohl sie weitaus mehr gewichtigen Werken Modell gestanden, längere Zeit, und zwar bis zu dessen Tod an Feuerbachs Seite geweilt und auch mehr biographische Spuren hinterlassen hat. – Was zeichnet aber Feuerbachs Verhältnis zu ihr gegenüber den anderen beiden Frauen aus? Es ist schon oft bemerkt worden, dass mit dem Verlust von Nanna und ihrer Ersetzung durch Lucia ein pragmatischeres Verhältnis Feuerbachs in Fragen der Liebe und des Lebens einhergegangen ist.85 Dabei gehen jedoch die meisten Darstellungen kaum darüber hinaus, Lucia gleichwohl als ein bloßes Abbild einer ursprünglichen, urbildhaften, ideellen Liebe Feuerbachs, die ihn zeitlebens mit Nanna verbunden haben soll, zu behandeln. In dieses Bild fügen sich sodann Anekdoten, wie die nur von Lucia Brunacci selbst überlieferte,86 dass Feuerbach sie einmal vor ihrem gewalttätigen Ehemann habe beschützen wollen (auch sie war bereits verheiratet wie Anna Risi), indem er bei der Polizei vorstellig wurde mit der Beschwerde, die Schädigung seines Modells gefährde seine Arbeit. – Doch hier wie in ähnlichen Fällen87 lohnt es sich, noch einmal genauer hinzusehen. Zugestanden, das geschilderte Verhalten kann zunächst nur Befremden hervorrufen und die Vermutung eines unbeirrbaren Narzissmus Feuerbachs bis an sein Lebensende bekräftigen. Doch man vergegenwärtige sich die speziellen Umstände: Was hätte ein eheloser ausländischer Künstler in einer ›bloßen Ehestreitigkeit‹ unter den Gesetzen der damaligen Zeit und in einem erzkatholischen Land, ja im Zentrum selbst des Katholizismus, bei der Polizei schon zu melden gehabt? – Außer eben die Beeinträchtigung eines künstlerischen Schaffens von immerhin internationalem Renommee. Ein eher strategisches Vorgehen zum Wohle Lucias sollte also nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Auch

4.7 Lucias Ent-Sublimierung

167

spricht die anhaltende Fürsorge Feuerbachs gegenüber Lucia, selbst noch in den letzten Jahren, als er kaum noch in Rom weilte, geschweige denn Lucia als Modell brauchte, nicht allein die Sprache narzisstischer Vereinnahmung. Mochte sich hier nicht ein tatsächlicher Wandel seit der Ankunft Lucias vollzogen haben? So schreibt Feuerbach selbst in einem aufschlussreichen Brief an seine Mutter vom 16. Oktober 1868 aus Rom: »Vor sechs Jahren würde mir mein bildschönes Modell, die die Ideen aus dem Kopfe heraustreibt, Ersatz gewesen sein für das traurigste aller traurigen Leben, heutzutage sind meine Bedürfnisse anderer Art geworden, und vom bloßen Anschauen und Weiterbilden kann ich nicht leben. Ich brauche eine Freundin, die mir das Leben wert macht, da wir einmal auf diesem Planeten nicht zur Einsamkeit geboren sind.«88 Man könnte die Niedergeschlagenheit Feuerbachs, die aus diesen Zielen spricht, für eine seiner bekannten Launen halten,89 ginge nicht aus dem weiteren Kontext des Briefes hervor, dass er sich gerade in einer äußerst produktiven Schaffensphase befindet. Es ist die Rede vom »Symposion« als eines unter drei weiteren Bildern, die Feuerbach bis zum Monatsende stehen haben will. Selbst bei der zeitlichen Einschränkung auf drei Stunden Arbeitszeit pro Tag, die ihn das Schonen seines Fingers kostet, kann er behaupten, mit »gewohntem außerordentlichen Glück gemalt« zu haben. Und anschließend heißt es sogar: »Da meine Anschauungsweise eine andere geworden, so mußte ich alles neu malen, und Du wirst Dich wundern, wenn sie ankommen, denn Du erwartest es nicht.«90 Gerade diese Veränderung sollte aufhorchen lassen, da eine »stilistische Veränderung«91 an den Werken (neben dem Gastmahl weitere Meisterwerke wie die Stuttgarter Iphigenie und Orpheus und Eurydike) kaum wahrzunehmen ist. Man muss die Veränderung der Anschauungsweise also wohl in etwas anderem suchen, gerade wenn er vom »bloßen Anschauen und Weiterbilden« nicht mehr leben können will und die weitere – zugegebenermaßen eher launische Bemerkung – fallen lässt: »Übrigens stehe ich so, daß mir alles gleichgültig geworden ist, und ich werde den Leuten bald das Fell abschinden lernen.«92 Mochte ihm auch just in diesen Tagen der Umgang mit Mareés und Fiedler etwas verleidet worden sein, wie oben bereits erwähnt, eine gewisse schopenhauersche Resignation scheint ihn selbst erfasst zu haben: »Von meinem letzten Sommeraufenthalt ist mir die freundlichste Erinnerung und Sehnsucht geblieben, und in guten Stunden frage ich mich, ob das Leben lebenswert wäre ohne Irrtümer und Kämpfe.«93 Wie ein erhellender Geistesblitz schlagen aber erst die unmittelbar folgenden Worte ein: »Das Malen ist keine Kunst, aber das richtige Denken, sich und der konfusen Welt gegenüber, ist schwerer, als man glaubt, und die Wahrheiten erkauft man immer teuer.« Auch hier könnte man die Wendung »keine Kunst« zu-

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4 Akademismus

nächst als bloße Phrase nehmen. Doch die bisherigen Zitate aus demselben Brief schließen zumindest nicht aus, dass es Feuerbach buchstäblich und ernst gemeint haben könnte, etwa in dem Sinne, dass das bloße Malen, ohne Poesie und Ideal, noch keine Kunst darstellt. Wäre der Wandel in der »Anschauungsweise« womöglich in einem Wandel seines »Denkens« zu suchen? Wäre Feuerbach also im Zuge seiner Bekanntschaft mit Lucia zu neuen Erkenntnissen gelangt, die nicht nur einen Gesinnungswandel bezüglich seiner Haushaltung bedeuteten, sondern mehr noch auf sein innigstes Begehren, sein Künstlertum, durchgeschlagen hätten? Die Rede vom »traurigsten aller traurigen Leben« sowie von einer Kopfstudie Lucias aus dem Jahr 1871, die in das Gemälde Medea mit dem Dolche von 1871 eingehen sollte und von Feuerbach selbst mit Melancholie (Abb. 17) betitelt wurde,94 legen zumindest nahe, dass hier ein Wandel vonstattengegangen sein könnte, der gravierender war, als es die anhaltenden Wechsellaunen suggerieren. Billigen wir Feuerbach einmal zu, dass er den Verlust Nannas tatsächlich verschmerzte, ohne durch eine Introjektion des verlorenen Liebesobjekts einer pathologischen Melancholie95 anheimgefallen zu sein; billigen wir ihm also zu, dass er erfolgreich einen Prozess der Trauerarbeit durchlaufen hatte, an dessen Ende ihm Lucia nicht mehr nur als verdrängter Ersatz diente, sondern als neue Lebenspartnerin; billigen wir ihm endlich zu, dass er zu seinem vorherigen Kunst-, Weltund Selbstverständnis in eine überlegen(d)ere Distanz, in eine Distanz der Reife gegangen sein könnte – dann wäre hieran, und zwar insbesondere am Gastmahl des Plato seine eigene theoria der Sublimation, eine Kunst der Entsublimierung zu studieren, die sich auf das engste mit Lucia Brunacci verbunden zeigt. Abermals zugestanden, Feuerbach war bis an sein Lebensende von Launen beherrscht, von überzogenen Erwartungen getrieben und ist durch herbe Enttäuschungen auf sich selbst zurückgeworfen worden gerade zur Zeit der Entstehung, Ausstellung und des Verkaufs des Gastmahls.96 Allein, zu dieser Zeit scheint zugleich schon ein Wandel im Argen gewesen zu sein, der sich später zu der Lebenserfahrung ausreifen sollte, dass das Leben weiter munter seinen Gang gehen kann, auch wenn die eigene Kunst einmal ins Stocken gerät (wie etwa zeitweise in Venedig am Ende seiner Lebensbahn). Wir werden darauf nochmals zurückkommen; hier will dies vorerst nur besagen, dass es eine post-idealistische Einstellung oder »Auffassungsweise« in Feuerbachs Denken ist, die sich in den erklärten Hauptwerken, allen voran im Gastmahl, wenn auch nur unscheinbar bereits bemerkbar macht.97 Sie macht sich aber bemerkbar durch die Rolle Lucias sowohl im biographischen Kontext der Entstehungszeit des Gastmahls als auch in diesem Werk selbst: Es ist ein Kunstschaffen oder Kunstwollen am Werk, dessen genuine (Ent-)Sublimierungsleistung darin besteht, die vormaligen nar-

4.7 Lucias Ent-Sublimierung

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zisstischen Idealbildungen innerlich auszuhöhlen (man denke an die ›traurige Gestalt‹ Agathons), um sie darauf nicht mit platonischen Ideen (wenn auch der Enthaltsamkeit) auszustopfen, sondern sie durch neuerliche Sexualenergien, nämlich durch einen eheähnlichen und doch freieren Eros zu erfüllen. So wird der Enthaltsamkeit selbst entsagt, indem das Begehren sich selbst zu begehren lernt, ohne sich in einer bloßen Abfuhr, einer narzisstischen Idealisierung (Nanna) oder einer platonischen Sublimation (Henriette) selbst auszuweichen. Was das letztlich heißt, steht uns bereits vor Augen, wenn wir uns darauf einlassen, die Omnipräsenz des Abb. 17: Anselm Feuerbach, Melancholie/Kopfstudie zur Eros im Gastmahl zugleich als eine Medea, 1871. Kreide auf Papier, 53 x 43 cm. Hamburger Kunsthalle. Omnipräsenz Lucias sehen zu lernen: Alkibiades und seine Entourage, Agathon und die drei Jünglinge um Sokrates in ihrer Mitte,98 überall sind es im Wesentlichen die Gesichtszüge Lucias, die mit dem wandelbaren Antlitz jenes einen Gottes vor uns ihren Maskentanz aufführt. Es ist dieses polymorphe Begehren in Form einer Polyamorie (statt »Beliebigkeit und Redundanz«), in dessen femininen, maskulinen und androgynen Lucia-Bildnissen sich Ariadne mit Dionysos immer wieder aufs Neue vermählt. Es ist dieser ›nymphomane‹ Eros, der Feuerbach fortan nicht allein mit seinem Modell oder seiner Muse, sondern in eins mit einer »Freundin« verbindet, die ihn aus der Einsamkeit von künstlerischem Rausch und philosophischer Ernüchterung befreit, um ihm die geteilte Zweisamkeit als eine lebenswerte Normalität zu eröffnen. Freilich, es blieb eine offene Ehe ohne Gelöbnis, eine ›Freundschaft plus‹ – wie auch von einem griechischen Gott nicht anders zu erwarten. Und doch war bezeichnenderweise gerade Dionysos in seiner Ehe ohne Eifersucht, indem er auch Ariadne das Andenken an ihre unsterbliche Liebe zu Theseus wahren ließ. – In den eigenen Worten Lucias, als Paul Hartwig Jahrzehnte nach dem Tod Feuerbachs die Nymphe von ehemals nach ihren Reizen fragte: »Was wollen Sie, wir waren jung.«99 – Oder vielmehr alt genug?

170

4 Akademismus

Anmerkungen 1

AFB II, 147.

2

Vgl. Heinrich Wölflin: »Über das Rechts und Links im Bilde. Paul Wolters zum 70. Geburtstag«, in ders.: Gedanken zur Kunstgeschichte. Gedrucktes und Ungedrucktes, Basel 1941, S. 82—90, hier S. 83: »Man könnte meinen, daß unsere Kunst — im Sinne unserer Schrift — immer die Neigung haben müßte, einen objektiven Bewegungszug […] von links nach rechts sich entwickeln zu lassen. So ist es nicht. Aber das ist sicher, daß die rechte Bildseite einen anderen Stimmungswert hat als die linke. Es entscheidet über die Stimmung des Bildes, wie es nach rechts ausgeht. Gewissermaßen wird dort das letzte Wort gesprochen.«

3

Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in ders.: Studienausgabe, Bd. 9, hg. v. Alexander Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1982, S. 227. Im Folgenden mit dem Titel des jeweiligen Textes samt dem Erstveröffentlichungsjahr sowie der Band- und Seitennummer zitiert.

4

Jean Laplanche/Jean-Baptiste Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1991, S. 479 u. 481.

5

Nikolaus Pevsner: Die Geschichte der Kunstakademien, München 1986, S. 66: »Der Mediceerhof der zweiten Hälfte des Cinquecento ist einer der vornehmsten Repräsentanten der Frühphase des Absolutismus. Die Akademie stellt offensichtlich auf künstlerischem Gebiet das Äquivalent zu jenen Formen dar, in welchen sich die politische Organisation absolutistischer Staaten entwickelte. Andererseits ist der Manierismus als Stil das ästhetische Korrelat sowohl zum Absolutismus als auch zur akademischen Organisation. Seine strengen Schemen der Darstellung, sein Mißtrauen gegenüber der Freiheit menschlicher Bewegung, seine Kälte, sein Glaube an gewisse lehrbare Dogmen und bestimmte von göttergleichen Künstlern der Vergangenheit aufgestellte Kanons, all dies paßt gut zum Absolutismus und ruft nach einer Akademie. Es ist höchst charakteristisch, daß Vasari, der Begründer der Kunstgeschichtsschreibung, gleichzeitig der Begründer der ersten Kunstakademie ist.«

6

Sigmund Freud: Über neurotische Erkrankungstypen (1912), Bd. 6, S. 220.

7

Vgl. ders.: »Jenseits des Lustprinzips«, in ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften, Frankfurt a. M. 1992, S. 191—249, S. 223 ff.

8

Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), Bd. 1, S. 531.

9

Sigmund Freud: Zur Einführung des Narzißmus (1914), in ders.: Das Ich und das Es, a. a. O., S. 51—77, hier S. 70.

10 Ebd. 11

Ebd., S. 64 ff.

12

Ebd., S. 69.

13

Sigmund Freud: Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität (1908), Bd. 1, S. 23.

14

Vgl. Platon: Phaidon 64a—c.

15

Sigmund Freud: Das Ich und das Es (1923) in: ders. Das Ich und das Es. Metapsycholo-

Anmerkungen

171

gische Schriften, eingeleitet von Alexander Hodler, Frankfurt a. M. 1992, S. 251—295, hier S. 293. 16 Vgl. oben Kap. 1.5. — Das heißt freilich nicht, dass platonische Dialogsituationen nicht auch anderen Künstlern zur Vorlage gedient hätten (etwa Jacques-Louis David beim Tod des Sokrates von 1787), jedoch nicht in diesem signifikanten Format. Zu diesem Erik Jaymes (»Feuerbach und Frankreich«, in: Zum 175. Geburtstag von Anselm Feuerbach a. a. O., S. 38—77, hier S. 60 f.): »Gegenstand der Bilder waren Ereignisse aus der Geschichte und der Mythologie, aber auch Szenen aus den Werken großer Schriftsteller, wie Dante, Tasso und Shakespeare. In einer Zeit, in welcher die vom Staat enteigneten Kirchen nur wenige große Aufträge zu vergeben hatten, übernahm die Historienmalerei durch die Wahl ihrer Themen die Aufgabe einer moralisch-edukativen Instanz. Die Ausführung gab zudem dem Künstler Gelegenheit, durch den Prunk und die historische Genauigkeit der Kostüme den vielfältigen Glanz seines technischen Könnens zu zeigen. Letztlich ging es also weniger um eine historisch getreue Wiedergabe von Szenen aus vergangener Zeit als um das, was Théophile Gautier im Hinblick auf Delaroche die ›verité de sentiment‹, die Wahrheit des Gefühls genannt hatte.« — Dass bei Feuerbach darauf letztlich nicht alles hinauskommt, profiliert ihn als Idealisten im Wortsinne. 17

Der Sokratesverehrer Apollodor wird von seinem Bekannten Glaukon dazu aufgefordert, ihm von jenem berühmten, schon einige Zeit zurückliegenden Gastmahl zu berichten, an dem Apollodor seinerseits jedoch nicht teilgenommen hat, statt seiner aber Aristodem, der zeitweilige Liebhaber des Sokrates, der wiederum Apollodor davon bei Gelegenheit berichtete.

18

Platon: Symposion 178a—b; zitiert nach: Platons Gastmahl. Übertragen und eingeleitet von Kurt Hildebrandt, Leipzig 1934, S. 75.

19

Ebd. 180d—e; S. 79.

20 Eine eigenwillige, aber dem Sinn nach aufschlussreiche Übersetzung Hildebrandts für »pandemon« (180e). 21

Platon: Symposion 185a—b; S. 86.

22 Jacques Lacan (Die Übertragung. Das Seminar, Buch VIII. 1960—1961, Wien 2001, S. 84 ff.) hat für diese vieldiskutierte Passage den Deutungsvorschlag unterbreitet, dass sich Aristophanes über die Rede des Pausanias kaputtgelacht haben mochte. Aber auch weitere Indizien in der Wortwahl des Erzählers Apollodor sprechen dafür, dass Pausanias in gewisser Hinsicht das Thema verfehlt haben musste, etwa im unmittelbaren Anschluss: »Da Pausanias pausierte — denn so lehrten mich die Sophisten mit Gleichklängen zu reden — hätte nach Aristodemos Erzählung Aristophanes reden sollen, es kam ihm aber zufällig, infolge von Überfüllung oder eines anderen Grundes, ein Schlucken an […].« — Platonische Ironie vom Feinsten. 23 Platon: Symposion 185e—186a; S. 88. 24 Ebd., 195c; S. 104. 25 AFB II, 74. — Brief vom 20. Juni 1862 aus Rom an die Mutter. 26 Man geht mittlerweile davon aus, dass es sich um einen amerikanischen Künstler desjenigen Kreises gehandelt haben konnte, in dem Feuerbach wohl auch zum ersten Mal mit Anna Risi zusammengetroffen ist. 27 Peter Forster: »Vittoria Caldoni. Die Vorläuferin« in: Forster (Hg.): Nanna. Entrückt · Überhöht · Unerreichbar, a. a. O., S. 27—41, insb. S. 39. 28 Gabriele Maria Vogelberg: Künstler und Modell. Zwischen Imagination und Wirklichkeit.

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Untersuchung zum Modellkult zwischen 1860 und 1920, Frankfurt a. M. et al. 2005, S. 107. Dazu weiter an späterer Stelle (ebd., S. 111): »Feuerbachs Kreisen um sich selbst, dem er in der Vielzahl seiner Selbstbildnisse […] Ausdruck verleiht, wird nun auf das Modell verlagert. Anna Risi, die er bekanntlich durch den Filter der Kunstgeschichte (Phidias) wahrnimmt, wird zu seinem alter ego. Ihre Abgewandtheit, ihre nachdenklichen und melancholischen Posen, die in der ›Iphigenie‹ (1862) ihren Höhepunkt erfahren, sind wichtige Parameter seiner Selbstdarstellung.« 29 Brief vom 15. Januar 1857, Rom, an Henriette Feuerbach (AFB I, 456 f.). Vgl. Auch Vogelberg, Künstler und Modell, a. a. O., S. 83: »So erklärt sich, daß er auf Basis der nach dem Modellstudium erhaltenen Skizzen, [sic!] diese weiter ausführt, in neue Zusammenhänge eingliedert oder eben auch aus unterschiedlichen Studien und Ansichten einzelne Körperpartien miteinander verbindet.« 30 Vgl. AFB II, 66. Unmittelbar vorher heißt es (ebd., 65): »Ich bin im Besitz des schönsten Modelles von ganz Rom, zum Neid und Ärger aller Künstler, die abgefahren sind. Die Person hat mir zuliebe alle und die größten Anträge abgewiesen, und ich habe das heilige Versprechen, daß, wenn ich ihr Arbeit gebe bis zu meiner Abreise, ich sicher sein kann, daß ich der letzte bin, dem es vergönnt ist, sie zu malen.« 31

Freud, Narzißmus, a. a. O, S. 69.

32 Lacan, Übertragung, a. a. O., S. 434. 33 Ebd., S. 416. 34 Ebd. 35

Vgl. etwa die Bemerkung Henriettes gegenüber Julius Allgeyer vom 3. Mai 1880, der ihre Besichtigung von Feuerbachs Gedenkausstellung in der Nationalgalerie zu Berlin zum Gegenstand hat. Dort heißt es in der vollen Härte nüchterner Einsicht (HFB 371): »Ich habe in Berlin zum erstenmal mein eigenes Empfinden, welches mir oft verhüllt ist, weil die Kraft mangelt, es in Bewußtsein zu fassen, ganz erschöpft — und erfaßt. Es war die größte Erschütterung und Erhebung, deren meine Natur überhaupt fähig ist. Jetzt bin ich ins Dunkel zurückgekehrt, was gar nichts ausmacht. Ich existiere überhaupt gar nicht, auch der Sohn ist nicht, sondern ganz allein der Künstler.«

36 In einem frühen Brief Henriettes an Sophie Heydenreich (vom 31. Oktober 1845, HFB 96) heißt es hierzu sprechend: »Oft habe ich bittere Sehnsucht, weil er mein Sohn und Freund zugleich ist und mich wahrhaftig und aufrichtig liebt. In seinem letzten Brief schreibt er: Wir sind eines Geistes und Gemütes, ich bin Dir ewig verbunden, Dein Leben ist auch meines, und ein Unrecht zu begehen bin ich nicht fähig, weil ich Dich immer vor Augen habe. Gott gebe allen, die er lieb hat, einen solchen Sohn.« — Kupper (Anselm Feuerbach, Hamburg 1993) deutet auf Feuerbachs »latent inzestuöse Beziehung zu der nur siebzehn Jahre älteren Henriette« (ebd., S. 16) und äußert die Vermutung, dass deutlichere Liebesbekundungen unter den Briefen gewesen sein dürften, die Henriette vernichtet hat. 37 Im Zuge der Badischen Revolution bekennt Henriette in einem Brief an Emma Herwegh vom 6. März 1848 (HFB 136), dass sie selbst gegen die Zweifel an dem Gelingen, aber auch an den Idealen der Revolution als Krankenschwester ihren Dienst tun würde, wenngleich »nicht als graue oder schwarze im Dienst des lieben Gottes, damit er mir nachher in dieser oder jener Welt den Orden der Frömmigkeit umhängt, sondern einzig und allein deshalb, weil Wunden weh tun, und weil ich so eine Leidenschaft habe für alle

Anmerkungen

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Menschen, die Schmerzen haben.« — Und tatsächlich sollte sie dieser »Leidenschaft« später im Deutsch-Französischen Krieg nachgeben. 38 Dass Feuerbach sen. Henriette noch auf dem Sterbebett aufgetragen hatte (vgl. HFB 288), sich um den Stiefsohn zu kümmern, scheint nicht mehr als die letztgültige Bestätigung von außen ihres inneren ›Auftrags‹. 39 Vgl. Joseph Victor von Scheffel: Gedenkbuch über die stattgehabte Einlagerung auf Castell Toblino im Tridentinischen Juli und August 1855, Stuttgart 1901, S. 27, der ein allem Anschein nach wahrheitsgetreues Gespräch mit Feuerbach wiedergibt. 40 Platon, Symposion 198d—e; S. 109 f. 41

Ebd. 200a—201c; S. 112 ff.

42 Ebd. 201d; S. 114 f. 43 Vgl. ebd. 211d; S. 132. 44 Der Eindruck einer innerlich gewahrten Distanz Henriettes gegenüber den Launen ihres Sohns, die sich nicht zuletzt in seiner Infantilisierung gegenüber Dritten (Schack, Allgeyer) unverhohlen äußert, mag zunächst irritieren, zugleich aber erklären, wie sie sich gegenüber den Zumutungen aufrechtzuerhalten wusste. 45 Carl Neumann im Vorwort zu Allgeyer I, S. XV. 46 So etwa in einem Brief Henriettes vom 16. April 1869 an Allgeyer (HFB 264): »Mir ist sehr ernst zumute, seit ich das kleine Blatt [es handelt sich um eine Photographie des Gastmahl des Plato; Anm. FA] im Hause habe, und es gehen mir viele Gedanken durch den Kopf, die schließlich in Dankbarkeit und demütiger Freude sich auflösen, daß die Pflege einer solchen unsterblichen Blüthe mir anvertraut ward. — Alles andere Schicksal zählt dagegen nicht mehr.« 47 Dass sich Henriette an einer Stelle davon distanziert, eine Mystikerin zu sein, zielt eher auf Strömungen des Pietismus und ändert nichts daran, dass sich auch in der Folge Erfahrungen bei ihr artikuliert finden, die unverkennbar in diese Richtung weisen. Man ist fast versucht zu behaupten, an Henriette sei mehr als eine Schriftstellerin oder Musikerin eine Mystikerin verloren gegangen. Das gilt, wohlgemerkt, nicht nur für die frühen Jahre, wie Hermann Uhde-Bernays, der Herausgeber ihrer Briefe, bezeugt, sondern auch noch für die allerletzten (ebd., S. 358): »Wie Frau Frieda Kayser, der Henriette in der letzten Zeit nahestand, berichtet, ging sie gerne in Unterhaltung mit einer Freundin im Hofgarten zu Ansbach langsam auf und ab, indem sie das Gespräch mit Vorliebe wieder jenen mystisch-religiösen Empfindungen der Seele zuwandte, die sie […] in den Briefen an Christian häufig berührt hatte.« 48 [Henriette Feuerbach:] Gedanken über die Liebenswürdigkeit der Frauen. Ein kleiner Beitrag zur weiblichen Charakteristik von einem Frauenzimmer, Nürnberg 1839, S. 30 f. [Seitenidentischer Reprint nach der Originalausgabe, hg. vom Verein »Feuerbachhaus Speyer« e. V., 1974]. 49 Ebd., S. 76 ff. 50 Sigrun Paas: ›Kunst und Künstler‹ 1902—1933. Eine Zeitschrift in der Auseinandersetzung um den Impressionismus in Deutschland, Dissertation Heidelberg 1976, S. 82. 51

Hierzu treffend Vogelberg, Künstler und Modell, a. a. O., S. 103: »Die Sehnsucht nach Lebensinhalt und geistiger Befriedigung überträgt sie kompensatorisch auf die Männer ihrer unmittelbaren Umgebung […]. Insofern ist auch der von ihr betriebene Kult um Feuerbach psychologisch gedeutet das Produkt von Sublimation. Die häufige Verwendung des Wortes ›Genie‹ legt die Vermutung nahe, daß sie nicht willkürlich ihre Fä-

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4 Akademismus

higkeit in den Dienst anderer stellt, sondern selektiv Genie von Talent zu scheiden vermag.« — In der Tat weiß sie zu unterscheiden und sich auch entsprechend zu bedienen (bzw. sich bedienen zu lassen), doch was genau »Sublimation« hier bedeutet, verdient noch eine genauere Erklärung. 52 Vgl. Platon, Symposion 202d; S. 117. 53 Dies lässt sich ganz allgemein auch auf die Frage der Erotik angesichts einer künstlerischen Darstellung von Nacktheit beziehen und in ihrer Rechtfertigung durch mythische Szenarien als Widerschein platonischer Erotik verstehen. Der Zweck heiligt hier nicht zuletzt dadurch die Mittel, dass sich an der entblößten Darstellung gleichsam die Sublimierung ihres inhärenten sexuellen Moments im Vollzug betrachten lässt. Inwiefern das für Feuerbach eine Selbstverständlichkeit war, drückt sich in einer Bemerkung zum Urteil des Paris von 1870 aus (AFB II, 253): »Das Urteil frivol behandeln kann nur ein Schwein oder einer, der schlecht verheiratet ist.« 54 Platon, Symposion 203c—204a; S. 118 f. 55 Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl. Mit einer Einleitung und Anmerkungen versehen von Paul Richard Blum, Hamburg 2014, S. 148 ff. 56 Platon, Symposion 206a—b; S. 123. 57 Vgl. Spoerris (Genie und Krankheit, a. a. O., S. 105) selbst unbewusste psychiatrische Paraphrase dieses platonischen Zugs: »Feuerbach ist bemüht, seine Triebenergien nicht unproduktiv im groben Genuß des Lebens zu verströmen, sondern er verlagert den größten Teil seiner vitalen Kraft in die Ebene des Schöpferischen. In dieser Sphäre zeichnen sich seine Triebe wie in einem Spiegel des Biologischen ab, doch in der Art des Erlebens individualisiert und zu den Gestalten seiner Bilder bleibend verdichtet. Der Schöpfungsakt als Erlebnis besitzt für Feuerbach einen autonomen Charakter. Das Glücksgefühl, das er beim Malen eines Bildes empfindet, nimmt eine derart zentrale Stellung in seinem künstlerischen Erleben ein, daß er nach seiner eigenen Aussage sogar den Wert der Arbeit danach zu bestimmen neigt. Diese selbständige Erlebnisbedeutung des Schöpfungsaktes ist eine Spiegelung des biologischen Zeugungsaktes […]. Neben dieser biologischen Projektion sind in der Betonung des schöpferischen Glücksgefühls auch narzistische [sic!] Tendenzen spürbar, die der Subjektivität der persönlichen Empfindung vor dem objektiven Wert den Vorrang geben.« 58 Platon, Symposion 206e—207a; S. 124. 59 Ebd., 208a—b; S. 126. 60 Ebd., 209e; S. 129. 61

Auf die Kinderbilder Feuerbachs kommen wir in Kap. 5.2 noch ausführlich zu sprechen.

62 Platon, Symposion 209e; S. 129. 63 Ebd., 211c—d; S. 132. 64 Ebd. 211b; S. 131. 65 Vgl. dazu Jens Halfwassen: Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, München/Leipzig 2006. 66 Zum Begriff der theoria vgl. auch die Bemerkungen Hans-Georg Gadamers (siehe Kap. 5.4). 67 Freud: Über Psychoanalyse (1910), a. a. O., Bd. 8, S. 58. 68 Vgl. zur Annahme von Hans W. Loewald, dass eine quasi platonische Triebtransformation auch für Freud gelte, die Zurückweisung von Eckart Goebel: Jenseits des Unbehagens. ›Sublimierung‹ von Goethe bis Lacan, Bielefeld 2009, S. 160 ff.

Anmerkungen

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69 Platon, Symposion 218a—b; S. 144. 70 Ebd., 215a—b; S. 139: »Ich behaupte nämlich, am ähnlichsten sei er jenen Silenen in den Werkstätten, welche die Bildhauer mit Syrinx und Flöte in der Hand darstellen, und wenn man sie öffnet, so zeigt sich, daß sie im Innern Götterbilder [agalmata echontes theōn] enthalten.« 71

Ebd., 216d—217a; S. 141 f.

72 Ebd., 222c—d; S. 152. 73

Dazu kommt, dass dieses Eroshaupt auf einer Horizontalen liegt mit dem angewinkelten Knie des versetzten Betrachters im Mittelteil und den bekränzten Kinderhäuptern der linken Bildhälfte. Was diese drei Momente wiederum miteinander zu tun haben, dafür siehe Kap. 5.

74 Nach seinem Besuch von Neapel und Pompeji Ende März 1866 schreibt Feuerbach (vgl. HFB II, 163): »Ich habe das Aquarell des Gastmahls überarbeitet, nachdem ich von Pompeji kam, und kann sagen, daß mit ganz kleinen Änderungen die Komposition erschöpft und sich an das Beste der alten und modernen Kunst anlehnt.« — Das »Beste der alten und modernen Kunst« wird uns später noch beschäftigen. 75 Vgl. Heinrich Theissing: »‚Ewigkeit der Kunst‹. Zu Anselm Feuerbachs Schaffen und Denken«, in: Anselm Feuerbach. Gemälde und Zeichnungen, Ausstellungskatalog, München/Berlin 1976, S. 64—98, S. 91: »Und wie Sokrates den Rausch im Eros überhöht, so bannt Feuerbach das Rauschhafte […] in den Wandbildern zur Kunst. […] Ein Teil der unergründlichen Kraft des Sokrates wird so als Bild im Bild sichtbar, ein anderer Teil in seiner Gestalt selbst.« 76 Vgl. Xenophon: Das Gastmahl, verdeutscht von Benno von Hagen, Jena 1911, S. 55 f. 77 Wie Achim Kuch (»Zum Dionysischen in Anselm Feuerbachs ›Gastmahl des Plato‹ — zugleich der Versuch einer Reinterpretation«, in: Zum 175. Geburtstag von Anselm Feuerbach (1829—1880), hg. v. Stadtverwaltung Speyer, Speyer 2006, S. 92—114, S. 114) bemerkt, symbolisiere das Wandbild »die Vermählung der menschlichen Seele mit dem Göttlichen, das sie in sich trägt«, was zurecht als Anspielung auf den platonischen Eros der Philosophengruppe verstanden werden kann. Allerdings ginge es hier gerade darum, zu verstehen, was dieser platonische Eros im Rahmen von Feuerbachs Gemälde überhaupt bedeuten mag, nicht zuletzt für Feuerbach selbst. 78 Hierzu die treffende Bemerkung von Kuch (ebd., S. 95, Anm. 5): »Ariadne, das Oberhaupt der kretischen Dionysos-Priesterinnen, führt Theseus aus dem Labyrinth, ähnlich Diotima, die Sokrates aus dem Labyrinth seiner falschen Vorstellungen führt.« — Wer auch immer also Ariadne sein mag, sie dürfte auch gewisse Rollenmuster von Diotima bzw. Henriette erfüllen. 79 Wie gewöhnlich weist auch Ariadnes Mythos starke Abweichungen in der Überlieferung auf. Die geschilderte Variante aber wird nicht nur von Hesiod beglaubigt, sondern stellt auch ein gängiges Motiv in der Kunstgeschichte dar. 80 AFB II, 247. 81

Als fiktive Rahmenverzierung des in der zweiten Fassung neu angelegten Freskos (anstelle des ehemaligen Komos) taucht sie dort sogar eigens auf — gewissermaßen als Erinnerung an ihre Heiratsszene in der ersten Fassung (was indirekt ein Beweis für die ikonographische Deutung der Nymphe wäre) und zugleich als interessantes Framing zum neu angelegten, fiktiven Fresko der Balgenden Buben (siehe Abb. 19 und Kap. 5.2).

82 Ein weiteres Indiz liefert eine struktur- und sujetverwandte Zeichnung von 1857 im

176

4 Akademismus

Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen zu Berlin, die zwar Schlafende Nymphe am Fluss betitelt ist, aber nichtsdestotrotz das Meer zeigt. Es scheint so, als ob der Titel, der wohl nicht von Feuerbach selbst stammt, von den irreführenden Suggestionen des bekannten Gemäldes herrührt. 83 Jürgen Ecker: Anselm Feuerbach. Leben und Werk. Kritischer Katalog der Gemälde, Ölskizzen und Ölstudien, München 1991, S. 311. Vgl. auch Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen, Bd. 1: Die Götter- und Menschheitsgeschichten, München 1966, S. 141: »Das Wort nymphe bedeutet ein weibliches Wesen, durch das ein Mann zum nymphios, das heißt zum glücklichen, am Ziel seiner Männlichkeit angelangten Bräutigam wird.« 84 Vgl. Janina Majerczyk: Anselm Feuerbach — Modell und Mythologie, Masterarbeit im Fach Kunstgeschichte der Universität Osnabrück 2011, S. 87. 85 Vgl. Vogelberg, Künstler und Modell, a. a. O., S. 113—119, die das einschlägige Kapitel bezeichnenderweise mit »Lucia Brunacci: Beliebigkeit und Redundanz« überschreibt und noch auf derselben Seite herausstellt (S. 113 f.): »Die tiefe Enttäuschung Feuerbachs über den tragischen Bruch mit Anna Risi führt zu einer verstärkten Distanz zwischen dem Künstler und seinem neuen Modell. Der Maler veranstaltet um Lucia Brunacci nicht jene feierliche Inthronisation, wie dies seit 1860 bei Risi zu beobachten ist. Der Enthusiasmus und die Produktionssteigerung, die mit dem Kennenlernen Risis zusammenfällt, weicht nun einer moderaten Verbindung, in deren Folge Brunaccis Funktion als Haushälterin und Überwacherin seiner Wohnung, seines Ateliers und seiner Werke auch in der Abwesenheit Feuerbachs ausgedehnt wird. Der Eintritt Lucia Brunaccis in das Atelier des Malers geht nicht mit einer stilistischen Veränderung einher, wie dies auf Anna Risi zutrifft.« Vgl. auch die Darstellung jüngeren Datums bei Majerczky (Im Schatten Nannas, a. a. O.), die zudem auf eine einjährige Schaffenskrise Feuerbachs vom Abschied Nannas bis zur Ankunft Lucias hinweist. Auch wenn es vordergründig nicht zu stilistischen Veränderungen gekommen ist, scheint Feuerbach doch einen inneren Wandel durchlaufen zu haben, der letztlich auch nicht ohne Auswirkung auf sein Schaffen geblieben ist. 86 Vgl. Paul Hartwig: Anselm Feuerbachs Medea Lucia Brunacci, Leipzig 1904, S. 13 und die Einschätzung von Majerczky, Im Schatten Nannas, a. a. O., S. 187. 87 So berichtet Lucia auch von einer (bereits bei Nanna aufgetretenen) Eifersucht Feuerbachs, was ihre Tätigkeit als Modell ausschließlich für ihn betrifft (Hartwig, Anselm Feuerbachs Medea Lucia Brunacci, a. a. O., S. 11). Dass es sich dabei nicht um eine Eifersucht aus wütender Liebe handeln muss, könnte schon daraus hervorgehen, dass Lucia ihren Ehemann wegen Feuerbach nie verlassen hat (wie es Nanna noch getan hatte), jedoch täglich bei ihm für mehrere Stunden im Atelier weilte. So mögen es eher professionelle, sein künstlerisches Schaffen betreffende Gründe gewesen sein, die sich wiederum darin von der Vereinnahmung Anna Risis als Modell unterscheiden, dass er Lucia quasi als exklusives Berufsmodell anstellte und sie mit Bedacht nicht mehr wie einen symbolischen Phallus in aller Öffentlichkeit umherzeigte, um zur Strafe alsbald dafür kastriert zu werden. Anders gesagt: Er dürfte seine Lektion gelernt haben, was die narzisstische Idealisierung von Modellen als indirekte Selbsterhöhung betrifft. Eine Ent-Täuschung unter weiteren, die ihn Entsagung lehrte. 88 AFB II, 218. 89 Was die Launen Feuerbachs im Allgemeinen betrifft, muss man wohl die Bemerkung Henriettes in einem vertrauten Brief vom 26. Februar 1881 an Heinrich Heydenreich in

Anmerkungen

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Erwägung ziehen, in dem es um das später als »Vermächtnis« betitelte Buch geht (HFB 382): »Auch die Aufregung der Gefühle darf nicht so oft an das Tageslicht, sonst meint man, Anselm wäre sentimental gewesen, was nicht die Spur seiner Art war.« Eine damit angedeutete Kaschierung und Unterschlagung kann gerade nicht als Beschönigung von Feuerbachs Naturell gelten, da seine Verwandten selbst doch ein erfahrungsgesättigtes Bild von seiner Art besessen haben dürften. Im Gegenteil meint man eher umgekehrt den Schluss daraus ziehen zu können, dass der überlieferte Ton seiner Briefe generell etwas zu sentimental ausgefallen sein könnte — gehörte doch seit Goethes Werther die Stilisierung der Gefühle zum Signum des empfindsamen Genies. 90 Ebd. 91

Siehe dort die Anm. auf S. 325.

92 AFB II, 218. 93 AFB II, 218 f. 94 Für die Zusammenhänge siehe Ekkehard Mai: Anselm Feuerbach (1829—1880). Ein Jahrhundertleben, Köln/Weimar/Wien 2017, S. 112. 95 Vgl. Sigmund Freud: Trauer und Melancholie (1917), in ders.: Das Ich und das Es, a. a. O., S. 171—189, hier S. 174: »Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tiefe schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung der Strafe steigert. Dies Bild wird unserem Verständnis nähergerückt, wenn wir erwägen, daß die Trauer dieselben Züge aufweist, bis auf einen einzigen; die Störung des Selbstgefühls fällt bei ihr weg.« 96 Vgl. etwa den Brief Henriettes vom 20. Mai 1869 an Widmann (Henriette Briefe, S. 267), wo von einem »verhängnisvollen Punkte« die Rede ist, der womöglich »über Leben und Tod« entscheide, da bei einem Misserfolg ein »Abgrund der Hoffnungslosigkeit sehr nahe« liege. Oder die Schilderung von Feuerbachs Nervosität und Zerrüttung bei seinem Aufenthalt in Heidelberg zu dieser Zeit (Brief an Widmann vom 20. Oktober 1869, Henriette Briefe, S. 271 ff.), wo Henriette die teilnehmenden, aber harten Worte fallen lässt (ebd., S. 274): »[D]er Mensch in ihm ist nicht groß genug für den Künstler.« 97 Schon Allgeyer II, 149 hatte bemerkt: »Seit Vollendung des platonischen Gastmahls hatte sich seiner das Gefühl bemächtigt, mit der Lösung dieser Aufgabe habe sich für ihn der schulende Einfluß von Italien eigentlich erschöpft; das nächste müsse nun sein, irgendwo auf heimatlichem Boden feste Wurzeln zu schlagen. Mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seines leicht beweglichen Wesens verlangte es ihn nun heraus aus der trostlosen gesellschaftlichen Öde Roms, in einen Zustand, in dem nicht nur der Künstler, sondern endlich auch der Mensch voll gedeihen könnte.« — Vgl. Ekkehard Mai: »Im Widerspruch zur Zeit oder von der Tragik der Ideale. Feuerbachs Kunstentwürfe«, in: Heilmann (Hg.): »In uns selbst liegt Italien«, a. a. O., S. 80—97, S. 95, der auf diese Passage bei Allgeyer und die weitere Entwicklung Bezug nimmt, um dann die rhetorische Frage zu stellen: »Rom — war das nicht erneut Zwang und Qual des Ideals?« 98 Vgl. ausführlich hierzu Vogelberg (Künstler und Modell, a. a. O., S. 116 f.), die die Bezüge über die Vorstudien zum Gastmahl herstellt. 99 Hartwig, Anselm Feuerbachs Medea, a. a. O., S. 37.

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4 Akademismus

5 Forever young oder Die Kunst des Scheiterns »Die Gewalt der Aufregung hatte in der aller-letzten Zeit einer ernsten klaren Überschauung Raum gelassen. Er war mit sich und der Welt fertig.«1

5.1 Tot in Venedig Denn Du mußt wissen, daß wir Dichter den Weg der Schönheit nicht gehen können, ohne daß Eros sich zugesellt, und sich zum Führer aufwirft; ja, mögen wir auch Helden auf unsere Art und züchtige Kriegsleute sein, so sind wir wie Weiber, denn Leidenschaft ist unsere Erhebung, und unsere Sehnsucht muß Liebe bleiben, – das ist unsere Lust und unsere Schande. […] Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde […], führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter, sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen nur auszuschweifen. Und nun gehe ich, Phaidros, bleibe Du hier; und erst wenn du mich nicht mehr siehst, so gehe auch du.2 Der Schauende dort saß, wie er einst gesessen, als zuerst, von jener Schwelle zurückgesandt, dieser dämmergraue Blick dem seinen begegnet war. Sein Haupt war an der Lehne des Stuhles langsam der Bewegung des draußen Schreitenden gefolgt; nun hob es sich, gleichsam dem Blick entgegen, und sank auf die Brust, so daß seine Augen von unten sahen, indes sein Antlitz den schlaffen, innig versunkenen Ausdruck tiefen Schlummers zeigte. Ihm war aber, als ob der bleiche und liebliche Psychagog dort draußen ihm lächle, ihm winkte; als ob er, die Hand aus der Hüfte lösend, hinausdeute, voranschwebe ins Verheißungsvoll-Ungeheure. Und, wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen.3

5.1 Tot in Venedig

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Gustav Aschenbach, der Protagonist in Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, der Dichter, der décadent, hat vieles gemein mit Anselm Feuerbach, nicht allein den Ort seines Ablebens. Nomen est omen – und auch in diesem Fall sehen wir Mann einen Namen wählen, der Bezüge herstellt, aufdeckt und verdeckt, um Gestalt werden zu lassen, was in seiner Überdeutlichkeit zugleich die müden Züge vergeistigter Ironie trägt. Aschenbach, wie ihn die spitze Feder Manns zeichnet,4 zeigt das Verlöschen einer Künstlernatur, weist uns die Asche einer ehemals sich »aufschwingenden«, entflammenden Begeisterung, die sich – wie ein Feuerbach im Meer – nur mehr noch in einer »ausschweifenden« Liebe zu verlieren vermag, um letztendlich für immer zu erstarren. Es ist ein wundersamer Tod zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Kunst und Wahrheit, ein Tod in Venedig … wo sonst … Als Feuerbach am 4. Januar 1880 im Hotel Luna das Zeitliche segnete, hatte er sich bereits für mehrere, seine letzten Jahre in dieser Stadt niedergelassen, die ihm seit seinem ersten Aufenthalt wie eine unerwartete Heimat erschienen war. So schrieb er bei seiner damaligen Abreise nach Florenz an seine Mutter: »Es wird mir, wenn ich Venedig verlasse, doch stets eine stille Sehnsucht danach bleiben, denn es ist und bleibt ein Traum. Alles Leben hier ist innerlich, und es gehört ein kräftiges Gemüt dazu, bei all der vermoderten Pracht sein eigenes Lorbeerbäumchen großzuzuziehen.«5 – Als er dann später nach Venedig zurückkehrte, das zunächst nur als Übergangsstation auf dem Weg von der aufgegebenen Wiener Professur nach Rom, seinem schöpferischen Lebensmittelpunkt geplant war, gab sein geschwächtes Gemüt der zunehmenden Müdigkeit und Resignation nach. Er richtete sich endlich dauerhaft ein und schien wiederaufnehmen zu wollen, was er sich bei seiner ersten Ankunft schon zur Aufgabe gemacht hatte: »Ich will, abgeschlossen von der modernen Welt, in dieser Stadt der Toten Lebendiges schaffen.«6 Was die knapp drei Jahre jedoch brachten, ist neben den Deckenmalereien für die Wiener Akademie und die Nürnberger Historienbilder vor allem sein ihm liebstes Werk, das Konzert, das er in seinem letzten erhaltenen Brief, zwei Wochen vor seinem Tod, gleichsam in dunkler Vorahnung, als »Verklärung einer Malerseele«7 bezeichnete. Dieses Bild, gleichsam ein »Requiem«,8 das bewusst die Architektur der Stadt und das Kolorit ihrer Malerschule abermals aufnahm, lässt es nicht abwegig erscheinen, Venedig selbst als Verklärung von Feuerbachs Kunstwollen aufzufassen. Doch ist damit erst der gleißende Schimmer an der Oberfläche erfasst. Tauchen wir stattdessen noch etwas tiefer in die letzten Passagen über Gustav Aschenbachs verwandten Tod in Venedig ein, lassen sich die faulenden Pfähle der Erzählung erkennen. Die geschilderte Verklärung folgt einer Dramaturgie

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5 Forever young

der Parallelisierung, bei der Mann den vermutlich durch die umgehende Cholera verursachten Tod Aschenbachs mit einer Loslösung der Seele im Sinne eines platonischen Aufstiegs überblendet. Während Sokrates im platonischen Dialog Phaidros dem gleichnamigen Protagonisten die erotische Begeisterung als eine enthusiastische Erhebung über die Sinnlichkeit zurechtlegt, scheitert der Künstler nach Manns Sokrates hingegen an seiner eigenen Leidenschaft, welche die übersinnliche Sehnsucht weiterhin an die irdische Liebe fesselt, an jene lustvolle und zugleich beschämende Liebe, die sich weniger über den Tod hinwegsetzt als in ihm erfüllt. Dass wir dieses Tristan-Motiv, wie es formvollendet bereits in August von Platens Versen begegnete (Kap. 2), hier erneut aufgreifen, hat seinen Grund nicht allein darin, dass es tatsächlich das Leitmotiv der Kunstreligion des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg darstellte, auch für den Wagnerianer Thomas Mann. Vielmehr noch gestattet es, Feuerbachs eigenes Ende im Zwielicht von »Form und Unbefangenheit«, die nach Manns Sokrates zu Rausch und Begierde führen sollen (worüber uns nicht zuletzt das Gastmahl des Plato belehrt), deutlicher hervortreten zu lassen. So teilt Feuerbach mit Aschenbach ein verwandtes Schicksal, wenn jener, so ist anzunehmen, den Spätfolgen einer Syphiliserkrankung erlag und auf diese Weise ebenso früh aus dem Leben schied wie der an Cholera erkrankte Aschenbach, mochten beide auch um die Gefahr wissen. Zudem ist es diese ›venerische‹ Krankheit, die über Feuerbachs Ableben einen ähnlichen Schatten wirft wie die liebreizende Silhouette Tadzios auf seinen Verehrer: Mann inszeniert den Knaben nicht als Opfer, sondern als einen platonischen eromenos, als einen unerreichbaren Geliebten, dem umgekehrt der erastes Aschenbach verfallen ist bis in den Tod: Tadzio ist der Psychagoge, der Seelenführer und -geleiter ins Jenseits, Tadzio ist Eros. Was hätte diese Form der Päderastie, wie sie bei Winckelmann schon aufleuchtete, aber tatsächlich mit Feuerbach, insbesondere mit dem Gastmahl des Plato zu tun – außer eben den durch den platonischen Dialog tradierten Stoff? Gibt es weitere Momente im Werk Feuerbachs, die sich in Verbindung mit dem Gemälde in dieser Hinsicht als aufschlussreich erweisen? Und nicht nur in dieser Hinsicht allein, sondern mit Blick auf die zentrale und abschließende Frage unserer Überlegungen, was es mit seiner Paramodernität auf sich hat? Wir werden sehen, dass Feuerbachs späte Resignation, jenes Mit-sich-und-der-Welt-fertig-Sein, wovon seine Stiefmutter berichtete, uns nicht zuletzt auf die Frage des Kindlichen zurückwirft. Wir werden sehen, dass die Frage des Paramodernen mit einer Form von befremdlicher Kindlichkeit zusammenfällt, deren Erhebung und Verhängnis sich erst über die Erotik, den Eros, die kindliche Gestalt dieses Dämons erschließt,

5.1 Tot in Venedig

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um zuletzt jedoch die Fragen einer metaphysischen oder kunstreligiösen Päderastie hinter sich zu lassen. Wir werden sehen, dass uns aus Feuerbachs Gastmahl eine Moderne entgegenblickt, die nicht weniger neben sich selbst steht wie wir, wenn wir uns diesen Fragen aus der historischen und ästhetischen Distanz widmen. Es ist der gebrochene Blick einer ihrer selbst beraubten Kindheit und einer um ihrer selbst gebrachten Reife.

5.2 Kindereien Es gehört zu den Eigenarten Feuerbachs, bestimmte Motive, einzelne Figuren, ja ganze Kompositionen erneut aufzugreifen und teilweise mit nur geringen Veränderungen erneut auf die Leinwand zu bringen. Das gilt für die mythischen Bildthemen wie Medea oder Iphigenie, die gleichsam in einer fernen Übereinstimmung mit der oralen Poesie der griechischen Frühzeit immer wieder neu erzählt werden, oder auch für die zwei Fassungen des Gastmahls des Plato, das Feuerbach aus diversen Gründen (wobei die öffentliche Kritik, aber auch der private Verkauf eine Rolle gespielt haben dürften) gleich zweimal in etwa demselben monumentalen Format malte. Weniger bekannt sind dagegen die Motive und Figuren seiner sogenannten Kinderbilder, unter denen das Kinderständchen ebenfalls in zwei Fassungen vorliegt. Gerade hier fällt auf, dass Feuerbach systematisch einzelne Figuren und Posen in nur leicht wechselnden Kompositionen arrangiert und ihnen dadurch den Anschein und die Präsenz bestimmter Idealtypen verliehen hat. Sie tauchen nicht allein auf den entsprechenden Kinderbildern auf, sondern haben auch Eingang in andere Werke gefunden, so nicht zuletzt auch in die beiden Fassungen des Gastmahls des Plato, in deren erster Fassung zwei und in deren zweiter sogar drei Jungenfiguren auftreten. Dass damit eine Fährte gelegt ist, wird schnell klar, sobald man sich des Stellenwertes der Kinderdarstellungen in Feuerbachs Werk vergewissert. Wie er selbst einmal in einem Brief an seine Mutter über das Bild Balgende Buben schrieb, »ist das römische Kind der Keim zu allem Edlen und Großen in der Kunst«; und sein Biograph Allgeyer überliefert, dass es Feuerbach eine besondere, vermeintlich unverfälschte Freude bereitete, zwei römische Straßenjungen in seinem Atelier umhertollen zu lassen, um Skizzen von ihnen anzufertigen: »Viele Monate hindurch betrieb er daher für den ihm augenblicklich vorschwebenden Zweck auf seinem Atelier kaum etwas anderes, als das Studium der nackten Kindergestalten; im eigentlichen Sinne des Wortes als Palliativ gegen die moderne Ueberreiztheit der Phantasie.«9

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5 Forever young

Die Wortwahl des »Palliativs« scheint hierbei sprechender, als es der Biograph beabsichtigt haben dürfte. Sie gibt einiges über die Heilungsaussichten dieser Behandlung preis, geht es doch allem Anschein nach lediglich um die Symptombehandlung einer an der Moderne und ihren Phantasmen krankenden Malerseele, die sich in das Studium von Kinderkörpern vertieft, um die eigene existenzielle Unsicherheit und psychische Unruhe als auf sich allein gestellter Künstler (Mama ausgenommen) zu bedecken. Worauf Feuerbach dabei zugleich künstlerisch abzweckte, war direkt das Erhaschen lebendiger Natur und indirekt die Konzeption eines paradiesischen Daseins im Farben- und Formenspiel kindlicher Unbekümmertheit und Unschuld. Beides deutet auf Zusammenhänge, die an bereits bekannten Spannungen reich sind und doch gibt Feuerbach der deutschen Kunstreligion seit Winckelmann nochmals eine Wendung, eine zugleich unerwartete Wendung in die moderne Gegenwart. Jeder aufmerksame Betrachter mag daran schon Anstoß genommen haben und Edeltraut Fröhlich kommt das Verdienst zu, es explizit gemacht zu haben, dass Feuerbachs Kinderbilder sich einer eindeutigen Genrezuweisung sperren. Angesichts dieser weniger possierlichen als posierenden Gestalten meint man es weder mit naturalistischen Genrebildern noch mit mythologischen Darstellungen zu tun zu haben, im Gegenteil scheint es fraglich, ob eine traditionelle Zuschreibbarkeit Feuerbach überhaupt im Sinn lag. Doch auch wenn man von den verborgenen Intentionen ihres Schöpfers absieht, lassen sich die stilisierten Kinder nur behelfsweise dem üblichen Personal zuordnen. Sind es Putten, Engel, Amoretten oder doch ›Naturexemplare‹? Auf den ersten Blick wird man bei beiden ›Kinderständchen‹ an das Treiben von Putten erinnert. Doch bei genauerem Hinsehen werden die Unterschiede zu eindeutigen Putti-Darstellungen deutlich. Putti gehören der Welt der mythologischen Helden an und personifizieren Luft-, Wasser- und Erdgeister. Oder aber sie nehmen einen religiösen Charakter an und erscheinen dann in entsprechenden Bildern als Engel. Aber auch wenn sie allein agieren, kann man aufgrund der entsprechenden Attribute den Kontext der Darstellung erschließen. Das ist bei den hier behandelten Feuerbachbildern nicht der Fall. Die Trauben, die Musikinstrumente und auch die Nacktheit der Kinder könnten zwar ein Hinweis auf das Gefolge des Bacchus oder Dionysos sein, doch diese Merkmale werden durch keine entsprechende Handlung vertieft.10

Was hier für die beiden Kinderständchen gilt, lässt sich auch auf die anderen Kinderbilder übertragen. Es bleibt bei Andeutungen, auch wenn diese wie im

5.2 Kindereien

183

vorliegenden Fall beim zweiten Kinderständchen, eine direkte Assoziation mit Dionysos erlauben.11 Dass diese beiden Bilder, insbesondere die zweite Fassung des Kinderständchens (Abb. 18) hier Erwähnung finden, erklärt sich aus der herausgehobenen Stellung zu den ihnen verwandten Kompositionen. Fröhlich stellt fest, dass man fast alle »nachfolgenden Bilder, die das Thema Kind behandeln«, davon »ableiten beziehungsweise in Verbindung dazu bringen« könne und Allgeyer bezeichnet diese ersten Kinderbilder, darunter auch die Balgenden Buben (Abb. 19), schlicht als »Wendepunkt« in der »künstlerischen Entwicklung« Feuerbachs.12 Warum das aber der Fall ist, erschließt sich erst, wenn man die Gestalt der einzelnen ›Kinder‹ in Augenschein nimmt und die Entdeckung macht, dass ihre Natürlichkeit und Unschuld tatsächlich etwas (im Wortsinn des Palliativs, von dem Allgeyer spricht) ›ummantelt‹, bedeckt oder verdeckt: Mimik, Gestik und Körperbau wirken wie die von Erwachsenen. Erneut Fröhlich zum ersten Kinderständchen: »Die Körper der Kinder sind trotz der kindlichen Anatomie langgestreckt, und obwohl die Gesichter der Jungen kaum individuell ausgeprägt sind, haben sie einen merkwürdig ernsten, gesammelten und dadurch unkindlichen Ausdruck.«13 – Das wird noch deutlicher und ist zugleich aufschlussreicher bei den Balgenden Buben: Feuerbach zeigt in den nackten, stämmigen und drallen Kindergestalten brillant gemalte Verkürzungen, Drehungen und Stellungen in eindrucksvoller perspektivischer Meisterschaft und Dynamik. Durch die Überschneidungen der Körper kommen Haltungen und Stellungen zum Ausdruck, die an sexuelle Tätigkeiten erinnern und die man Erwachsenen, nicht Kindern zuschreiben kann. […] Ähnlich den beiden ›Kinderständchen‹ findet sich jedoch kein entsprechender Kontext. Die betonte Nacktheit, das Präsentieren des Geschlechts der kleinen Jungen wirkt irritierend.14

Entsprechend hebt Fröhlich in der Folge auf das dionysische Moment in Feuerbachs Kinderdarstellungen ab, um zuletzt die beiden Fassungen des Gastmahls als Meisterstücke einer nur mehr halb verdeckten Sexualethik zu apostrophieren, die in einer delikaten Spannung zum viktorianischen Sittenkodex einerseits und zur Eros-Thematik des platonischen Dialogs andererseits stünde. All dem ist im Grunde zuzustimmen, scheint doch gerade die zweite Fassung des Gastmahls noch deutlicher auszusprechen, dass auch der Philosophengruppe in der rechten Bildhälfte stets die Sinnenfreuden des Eros vorschwebt, indem die Hochzeit des Dionysos und der Ariadne der ersten Fassung durch eine Version der Balgen-

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Abb. 18: Anselm Feuerbach, Kinderständchen, zweite Fassung, 1860. Öl auf Leinwand, 116 x 231 cm. Landesmuseum Hannover.

Abb. 19: Anselm Feuerbach, Balgende Buben, 1869. Öl auf Leinwand, 117 x 231 cm. Kunstmuseum St. Gallen.

den Buben ersetzt wird. Diesen korrespondieren ferner drei Eroten in der linken Bildhälfte: Der erste von links ist den Balgenden Buben entnommen (Fröhlich meint an ihm sogar die Andeutung eines imaginären Cupido-Bogens ausmachen zu können)15; der zweite ist aus der ersten Fassung des Gastmahls übernommen und der dritte entstammt dem zweiten Kinderständchen, wo er auf den schlafenden (Bacchus-)Knaben wie ein zu entdeckendes Geheimnis deutet, während er in der zweiten Fassung des Gastmahls und im Gefolge des Dionysos selbst nur

5.2 Kindereien

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noch eine Blumengirlande hält. Einsichtig sind im Grunde auch Fröhlichs Betrachtungen eines malerischen Voyeurismus der Bilder, die dem Betrachter die Scham des Ertappt-Werdens ersparen, indem die Figuren oft schlafend wiedergegeben werden und nur in den seltensten Fällen den Betrachter direkt anblicken. Und zu guter Letzt überzeugt auch die Verbindung, die Fröhlich von den nahezu reinen Knabenbildern zur homoerotischen und päderastischen Thematik der platonischen Dialoge herstellt. Zu bemerken bleibt jedoch noch, dass all dies mit Blick auf die »klassische Formensprache in Anlehnung an das winckelmannsche Bild der Antike«16 gerade keine Besonderheit oder Absonderlichkeit darstellt, im Gegenteil, wie bei ­Winckelmann selbst nachzulesen war, gerade Teil jenes offenen Geheimnisses ist, auf das auch – neben den Werken Thomas Manns und vieler anderer – die Bilder Feuerbachs wie die in ihnen versammelten Kinderlein eher schamlos als unschuldig deuten. Und doch wirkt noch etwas anderes irritierend an diesen Bildern, das indirekt über die entmythisierte Nacktheit der Kinder mit einer anderen Art von Blöße, der einer nur äußerlich ausgewachsenen Modernität zu tun hat. Die Frage lautete demnach weniger, wie mit dem kindlichen Eros umzugehen wäre, als was darin letztlich zu sehen, zu erkennen ist, wenn etwa im Fall Feuerbachs auch nicht einmal annähernd ein Beleg beizubringen ist, dass er päderastische Neigungen im sexuellen Sinne gehegt hätte. Anders gewendet: Welche Form von erotischer Anziehungskraft üben diese Kinderbilder aus? Welche Faszination genau ergreift auch einen Feuerbach und nicht nur einen Aschenbach angesichts sich balgender und kosender Knaben? Kurzum: Was zeigt sich auf diesen nackten Häuten – nicht der Natur, sondern der Bronzen und Marmorstatuen, den papiernen Seiten und bemalten Leinwänden? An einer weiteren Stelle des bereits zitierten Briefes kommt Feuerbach ins Schwärmen: »Man könnte in solch einer Kinderwelt selbst wieder Kind werden; wenigstens ich möchte gleich tauschen, ein Flügelpaar, und dann herumgeflogen, wohin einem das Herz treibt.«17 – Scheint durch diese phantastisch dünnen Häute eine noch unberührte Ewigkeit?

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Die Bühne ist schon offen. Die Zuschauer sehen das Bühnenbild nicht als Bild eines woanders gelegenen Raums, sondern als Bild von der Bühne. Das Bühnenbild stellt die Bühne dar. Die Gegenstände auf der Bühne sehen schon auf den ersten Blick theatralisch aus; nicht weil sie nachgemacht sind, sondern weil ihre Anordnung zueinander nicht ihren üblichen Anordnungen in der Wirklichkeit entspricht. Die Gegenstände, obwohl echt (aus Holz, Stahl, Stoff), sind sofort als Requisiten zu erkennen. Sie sind Spielgegenstände. Sie haben keine Geschichte.18 Ich möchte ein Mitglied sein. Ich möchte mitwirken. Ich bin stolz auf das Erreichte. Ich bin fürs Erste versorgt. Ich bin vernehmungsfähig. Vor mir liegt eine neue Strecke. Das ist meine rechte Hand, das ist meine linke Hand. Ich kann mich zur Not in die Möbel verkriechen. Es ist schon immer mein Wunsch gewesen, dabeizusein. Er löst sich vom Schrank, macht einen Schritt oder zwei, der Schrank ist zu: War es mir früher, als gäbe es mich gar nicht, so gibt es mich jetzt fast zu viel, und die Gegenstände, von denen es früher zu viel gab, sind mir jetzt fast zu wenig geworden.19

Wie muss es sein, auf einer Bühne zur Welt zu kommen? – Peter Handkes Kaspar ist ein Stück von einer Welt, die sich selbst vergisst, sobald das Bühnenlicht angeht, und das Erinnern von Neuem lernen muss. Es ist ein Stück Wirklichkeit, die keine Geschichte mehr besitzt, aber auf dem Theater zu Geschichten wird, die eine Welt nachspielen, sich vorspielen, sich in eine Welt hinüberspielen, in der die Unterscheidung von Wirklichkeit und Illusion fraglich wird. Kaspar ist die Erinnerung an das Vergessen selbst, das noch vergisst, dass es vergessen hat. Stattdessen mühen sich Schauspieler und Zuschauer damit ab, allererst der eigenen dargebotenen Gegenwart habhaft zu werden, sich ihrer zu vergewissern. Wie bei einem traumatischen Schock, der uns widerfährt, als ob wir wie Unbeteiligte neben uns gestanden hätten, geht es darum, nachträglich zu erinnern, verinnerlichen zu können, dass wir dabei gewesen sind. Was sich tatsächlich ereignet haben mag, bleibt unergründlich, uneinholbar, weil es noch vor jeder möglichen Erinnerung stattgefunden hat, noch bevor wir ins Rampenlicht getreten sind, um uns ausleuchten zu lassen. Was sich dagegen fortwährend ereignet – Ironie des Wiederholungszwangs – ist lediglich ein in der Schwebe verbleibendes Spiel, das mit jedem weiteren Schritt, jeder Geste, jedem Wort sich seiner selbst versichern

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muss. Willentlich arbeitet es an einer Zukunft, die einst glauben machen soll, dass alles so oder so gewesen sein wird, auch wenn es nichts damit war. Jeder muß frei sein jeder muß dabei sein jeder muß wissen was er will keiner darf den Drill vermissen lassen20

Welche Duldsamkeit und Pein erfordert es, aus freisten Stücken mit Requisiten sich im eigenen Leben einzumieten? Auf einer Bühne zur Welt zu kommen wie Kaspar – hieße dies, das Verdrängen niemals erlernt zu haben und dem Andrang der Wirklichkeit darum desto schutzloser ausgesetzt zu sein? Gibt es eine Kunst des Vergessens? Oder nur ein Vergessen der Kunst? * Das Schicksal des Findlings Kaspar Hauser ist in die Annalen der Moderne eingegangen, nicht ohne dabei aufs engste mit der Familiengeschichte der Feuerbachs verknüpft zu sein. Auch heute noch wächst die Bibliothek, die diesem pädagogischen, psychologischen, kriminalistischen Rätsel nachforscht, das im Nürnberg des Jahres 1828 am Pfingstmontag in der Gestalt eines jungen Mannes gleich einem in Raum und Zeit verirrten Geist unter den Menschen erschienen war. Was das Interesse an dieser Person dabei bis heute rege hält, ist wohl nicht zuletzt daraus zu erklären, dass ihre Weltverlorenheit wie ein Relikt unvergangener Zeit auf uns gekommen ist. Im Unterschied etwa zu den aufklärerischen Südseeträumen von ›edlen Wilden‹ oder anderen Fabelwesen schien erst das Phänomen Kaspar Hauser ein greifbares Studienobjekt verschuldeter Unschuld abzugeben. – Was war geschehen? Der gängigsten Version des Hergangs folgend, musste Kaspar seit frühesten Tagen von der normalen Lebenswelt abgeschirmt und in einem Zustand nahezu besinnungsloser Vegetation gehalten worden sein. Lediglich eine rudimentäre Versorgung mit Lebensmitteln, Kleidung und Spielzeug war ihm zuteilgeworden, bis sich sein Kerkermeister, der zuvor nie in Erscheinung getreten war, irgendwann bemüßigt sah, ihm einen elementaren Wort- und Schriftgebrauch angedeihen zu lassen. Bezeichnenderweise sollte Kaspar später behaupten, dass er sich erst seit diesem Zeitpunkt, also mit seinen ersten Graphismen, überhaupt in einem nennenswerten Sinne an Dinge zu erinnern vermochte, wohingegen

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Abb. 20: Johann Michael Volz, Caspar Hauser III, undatiert. Kolorierter Stich auf Papier. Privatsammlung.

die ganze Vorzeit sich in einem dunklen Einerlei von Eindrücken verloren habe.21 Doch dessen ungeachtet, wann genau Kaspar das Zeichnen im elementarsten Sinne (sowohl der Skizze als auch der Schrift) erlernt haben mag, kurz vor seiner Freilassung oder bereits deutlich früher,22 – sein Schicksal gehörte so oder so zu derjenigen Gattung unerhörter Begebenheiten, deren vorzeitige Dunkelheit kaum größer sein konnte, um das umfassende Interesse einer Gesellschaft aus Romantikern, Biedermännern, Spätaufklärern, Freigeistern, Idealisten und Positivisten in Bann zu schlagen. Egal ob man sich auf den Zauber seiner Kindlichkeit, die perverse Gemütlichkeit seines Kerkerdaseins, seine moralische Integrität, auf das mutmaßlich politische Verbrechen im Hintergrund, den sich entfaltenden Geist seines Bildungswillens oder die schiere Eigenheit seiner Anatomie stürzte, in allen Fällen schien Kaspar Hauser einer wandelnden Wunderkammer gleich, wo sich unter zerstreuten Kuriositäten zugleich kostbare Einsichten in die Menschennatur bergen ließen.

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Das Kostbarste jedoch, so scheint es im Nachhinein, bot sich in der Flüchtigkeit einer Zeitkapsel dar, die gleichsam auf offener Bühne geöffnet wurde, um sich coram publicum zu verströmen. Denn wie es später, vor allem von dem Großvater unseres Malers, dem Appellationsgerichtspräsidenten Anselm von Feuerbach, der in leitender Position mit dem Fall betraut war und sich für den Menschen Kaspar Hauser einsetzte,23 zurecht bedauert wurde, schienen die ersten Tage seiner Entdeckung als Spektakel für Schaulustige verstrichen zu sein, obwohl sich gerade in dieser Zeit die entscheidenden Veränderungen bei Kaspar in Sachen Adaption und Akklimatisierung an die neue Lebenswelt abgespielt haben dürften. Inmitten eines sich selbst in die Zukunft verflüchtigenden, auf Wachstum, Beschleunigung und Veränderung drängenden Zeitgeistes hätte hier, in einer spannungsgeladenen Gegenwart voller Erstkontakte, auf das anschaulichste beobachtet werden können, was es im Grunde kostet, mit der Zeit Schritt zu halten, ja überhaupt in ihr wieder anzukommen, nachdem man aus ihr herausgefallen ist. In diesem Zeitraffer der Sozialisation mochte deutlicher als sonst jenes urmenschliche Drama sichtbar werden, was es heißt, zur Welt zu kommen, und zwar auf offener Bühne, in aller Öffentlichkeit. Dass dabei dieses Drama durch die zuletzt glückenden Mordanschläge auf Kaspar gar zur Tragödie wurde, verstärkte den Eindruck von Mitleid und Schrecken nur, der die Geschichte dieser Gestalt seit ihrem Erscheinen überschattet. Was von dieser ersten Zeit an Schilderungen noch erhalten ist, bevor Kaspar über Umwege in die Obhut von Daumer gegeben wurde, gewährt in der Tat interessante Einsichten. So schien durch das Erlernen eines elementaren Graphismus schon im Kerker eine Faszination begründet, der sich Kaspar nach seiner Entdeckung und Verbringung nach Nürnberg in absoluter Selbstvergessenheit sofort widmete, sobald er erneut mit den entsprechenden Utensilien ausgestattet wurde.24 Seine Schreibübungen gingen dabei so vonstatten, dass er die Linien nur einmal nachzeichnen musste, um sie sodann für immer und mit erstaunlicher Leichtigkeit zu beherrschen.25 Dasselbe galt für Stiche, die ihm aus Wohlwollen zugetragen wurden, und die er zu kolorieren liebte oder mit freier Hand treffend abzeichnete.26 Das Resultat davon war, dass er seine Unterkunft mit Bildern regelrecht tapezierte und auch andere Geschenke nach einem alltäglichen Ritual penibel arrangierte: Die Wände des Zimmers, so weit man reichen konnte, hatte sich Kaspar mit gemalten Bilderbogen […] ausgeschmückt. Er klebte sie jeden Morgen von neuem mit seinem, damals wie Leim zähen Speichel an die Wand, und nahm sie, sobald es dämmerig wurde, wieder herab, um sie neben sich zusammenzulegen. […]

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Der ganze übrige Raum der Bank war dicht mit einer Menge des mannichfaltigen Kinderspielzeugs […] überdeckt. Bei Tag beschäftigte er sich jetzt schon wenig damit; doch machte er sich noch die nicht geringe Arbeit, alle diese Sachen und Sächelchen Abends sorgfältig zusammenzulegen, dann, sogleich nach seinem Erwachen, wieder auszupacken und in eine gewisse Ordnung neben einander zu reihen.27

Wie an anderer Stelle berichtet wird, hing dieses Vorgehen mit einer ausgeprägten Abneigung gegen die Natur, vor allem ihre vielfältige Grünfärbung zusammen,28 sodass sich der Eindruck aufdrängt, Kaspar habe sich jeden Tag wieder von neuem in seiner Kerkerwelt eingerichtet – wenn auch nunmehr in ihr als einer Kunstwelt: »Die Natur schien ihn nur in so weit anzusprechen, als sie seine Neugier beschäftigte und ihm zur Frage Anlaß gab: wer dieses oder jenes Ding gemacht habe?«29 – Verweilen wir noch etwas bei diesem Sachverhalt, sticht ins Auge, dass durch die anhaltende Wiederholung des Vorgangs wie dessen Abgeschlossenheit bzw. Abschließung gegenüber der äußeren Wirklichkeit die Kunst zum »Käfig« (wie er sein früheres Verlies nannte), die umgebenden Dinge zu Requisiten eines geregelten Spiels und überhaupt die Welt zu einer Bühne wurde, auf der ein in sich versunkener Protagonist seine schicksalhaften, immer gleichen Kreise zog. Das sollte sich auch zu späterer Zeit nicht wesentlich ändern, indem seine Vorstellungen von häuslichem Glück in dem Wunsch zum Ausdruck kamen, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, um sich ohne äußerliche Rücksichten seinen Studien zu widmen.30 In all dem bekundet sich ein Verhältnis zur Wirklichkeit, das man wohl am ehesten als Ästhetizismus avant la lettre (durchaus im Sinne einer existentiellen Kunstautonomie, siehe Kap. 1) bezeichnen kann, der jedoch, und darin liegt der wesentliche Unterschied, die natürliche Wirklichkeit nicht bewusst und willentlich verleugnet. So kommt es etwa in einer anderen Situation dazu, dass Kaspar, obgleich mit dem Unterschied von Lebendigem und Leblosem bereits vertraut, angesichts einer steinernen Skulpturengruppe an der Nürnberger Burg, der sein Begleiter mit einem Stock einen Hieb versetzte, inständig darum bietet, davon abzulassen, da es dem Bild wehtun könne. Auf die Erwiderung, ob er immer noch glaube, dass »ein Stein Empfindung habe«, entgegnet er, »er glaube nicht, daß es dem Stein wehe tue, aber wohl dem Manne, den dieses Bild vorstelle«, und zwar in der Überzeugung, dass der »Abgebildete« es so fühlen könne, »wie er es fühle«, wenn sein Begleiter »aus weiter Entfernung« die »Hand gegen ihn ausstrecke«.31

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Man fühlt sich bei dieser Schilderung einerseits an den sakralen Status antiker Kultbilder erinnert und mag zumindest nachvollziehbar finden, was Kaspar als Frevel erschienen sein müsste, hätte er denn mit dem abstrakten Begriff Gottes überhaupt einen Glauben zu verbinden gewusst … Andererseits kommen durch Kaspars telepathische aisthesis auch Momente romantischer Naturphilosophie ins Spiel, die Daumer, selbst ein ehemaliger Hegel- und Schellingschüler, mit dem Mesmerismus in Verbindung brachte. Doch was wir unten noch mit Gadamer als eine »ästhetische Nichtunterscheidung« – und zwar auf der Kultivierungsstufe einer willing suspension of disbelief (Samuel T. Coleridge) – kennenlernen werden, begegnet uns hier gewissermaßen noch im ›Naturzustand‹ eines Geistes, der gleichsam in dieser suspension, dieser Schwebe und Aufhebung selbst, oder kurz: erst auf der Bühne zur Welt gekommen ist. Dass letztlich auch Handke die Nähe zu diesem Geist gesucht hat (ebenso Werner Herzog und andere derselben Generation), stellt nicht nur eine aufschlussreiche Beziehung der Pfadabhängigkeiten zum Selbst- und Weltverständnis der Post-Avantgarden heraus, sondern bekräftigt nur erneut die Bedeutung, die »das Kind Europas« durch die Zeiten und Strömungen hindurch für die Herausbildung eines paramodernen Bewusstseins besitzen sollte. Wir kommen darauf noch zurück. – Diesen Geist aber, diesen gespenstischen Bewusstseinszustand überreifer Kindlichkeit erkannte erstmals Anselm von Feuerbach als Bewusstseinsnovelle eines Unbeholfenen und verkannte dabei zugleich nicht, wodurch er erkauft war: Kaspar, während seiner Jugendzeit in thierischen Seelenschlaf versenkt, hat diesen ganzen großen und schönen Theil seines Lebens verlebt, ohne ihn gelebt zu haben. Er war während dieser Zeit einem Todten zu vergleichen; indem er seine Jugend verschlief, ist sie ihm vorübergegangen, ohne daß er sie gehabt hätte, weil er sich ihrer nicht bewußt werden konnte. […] Wie lang er auch leben möge, er bleibt ewig ein Mensch ohne Kindheit und Jugend, ein monströses Wesen, das naturwidrig sein Leben erst in der Mitte des Lebens angefangen hat. […] Da Kindheit und Jugend von der Natur zur Entwickelung und Ausbildung […] bestimmt sind, und die Natur keine Sprünge macht; so sind Kasparn, der erst im Jünglingsalter als Kind zur Welt gekommen ist, jetzt und für alle Zukunft die verschiedenen Lebensstufen gleichsam verrückt, aus- und durcheinander geschoben. […] Geistiges und physisches Leben, welche […] mit einander gleichen Schritt halten, haben sich auf diese Weise in Kaspars Person gleichsam von einander losgerissen, und in naturwidrigen Gegensatz gestellt. Die verschlafene Kindheit konnte […] nicht überlebt werden; er muß sie nachleben und sie wird ihm nunmehr zur Unzeit […] wie ein beängstigendes Gespenst bis in die späteren Jahre folgen.32

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Wir hatten zu Anfang des Kapitels von einer ihrer selbst beraubten Kindheit, einer um sich selbst gebrachten Reife gesprochen und finden in von Feuerbachs Worten nun die Monstrosität von Kaspars Wesen auf den Punkt gebracht. Es ist nicht zuletzt dadurch monströs, dass Kaspar seinen Zeitgenossen ein Spiegelbild bot, wenn auch nur ein Zerrbild von ihrer eigenen »Unzeit«, die als »Gespenst« der Moderne durch das Leben geistert, ohne je in die eigene Nacht des Vergessens nochmals zurückzufinden. Die Natur macht keine Sprünge, aber die Technik scheint es dort zu tun, wo sie uns von der Wirklichkeit vermeintlich unmittelbar in eine Traumwelt der Künste versetzt, ohne uns träumen zu lassen, dass wir uns dafür zunächst in den verschiedensten Medien einbetten und uns in den gespenstischen Schlaf der »Todten« versenken mussten. In diesem Sinne »überleben« auch wir nur noch »in der Mitte des Lebens«, indem wir es »nachzuleben« streben, während wir doch an unserer Gegenwart schon vorbeileben und im besten Fall dabei zugleich neben uns selbst stehen, uns verrückt sehen, wenn auch nur um jenes kleine Stück Ewigkeit, das uns berührt wie das Weh eines traktierten Steins, ohne dass wir noch daran glauben dürften. – Was lehrt uns also Kaspar durch seine einsame Wissbegier, eingepfercht zwischen zwei Zeitwänden, einer erstarrten Vergangenheit und einer herandrängenden Zukunft, die ihm zuerst und zuletzt sein Leben nehmen sollten? Springen wir in der Zeit um zwei Generationen, vom Großvater Feuerbach zum Enkel, dann stoßen wir auf eine Gleichzeitigkeit der Erinnerungen, die in den Kinderbildern des Jüngeren noch durchschlägt. Fanden wir in den versonnenen Posen ihrer Figuren eine erwachsene Kindlichkeit von paradiesischer Unschuld träumen, so wird uns durch das Schicksal Hausers dagegen die Wirklichkeit zur Hölle eines kindlichen Erwachens als ein Erwachsener, der Zeit seines gepeinigten Lebens vor allem nach einem zu streben schien: nicht danach, eine verlorene Unschuld wiederzugewinnen, sondern sich endlich auf eine rätselhafte Schuld zu verstehen, die nicht die seine war, doch von der er bald ahnte, dass er mit seinem Leben dafür zu büßen hatte. Wenn überhaupt, dann ließe sich bei Kaspar von einer kindlichen Unschuld nur in dem Sinne sprechen, dass er diese, seine persönliche ›Erbsünde‹ niemals erinnern konnte und doch von ihr eingeholt worden war seit dem Tage seiner Befreiung – oder soll man sagen: seiner Vertreibung? – War das letztlich das eigentliche »Verbrechen am Seelenleben eines Menschen« und er lediglich das beste »Beispiel«? Im Grunde erging es ihm nicht anders als dem Gefangenen im berühmten Höhlengleichnis Platons, dem wahrscheinlich treffendsten Kunstmythos menschlicher Weltverlorenheit: Aus dem selbstvergessenen Spiel der Schatten herausgerissen, sah Kaspar sich mehr und mehr dem grellen Licht der Wirklich-

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keit ausgesetzt, das seinen äußeren wie inneren Augen ungekannte Qualen bereiten musste. Und doch war ihm kein Aufstieg zur Wahrheit beschieden, nur ein Sich-Klammern an dem vagen Vorschein der Formen, die er in der Dämmerung am deutlichsten gewahrte, bis ihn auch diese Gabe verließ, gleichsam auf halbem Weg zum Ausgang.33 Kann man es ihm also verdenken, dass er sich anfangs und unter seinen letzten Lebensumständen in seinen vorzeitigen Käfig zurücksehnte?34 Insbesondere nachdem er bei dem Sadisten Johann Georg Meyer in Gewahrsam kam, der ihm nach dem zweiten, schlussendlich tödlichen Mordanschlag und angesichts seiner triefenden Wunden noch eine Tracht Prügel dafür androhte, dass er lediglich Aufmerksamkeit erheischen wolle, indem er sich angeblich selbst verletze.35 Oder war vielmehr all das dazu angetan, ihm ein Martyrium zu bereiten, das Martyrium der Idioten – von Dostojewski bis Lars von Trier? Feuerbach selbst berichtet in ›seinem‹ Vermächtnis, und zwar als die erste von den vier erhaltenen, weil eindrücklichsten Erinnerungen seines Kleinkindalters, dass der Tod Kaspars ihn auf unbewusste Weise mitgenommen habe.36 Vor allem aber erfahren wir bei Allgeyer, dass Kaspar zunächst Feuerbachs älterer Schwester Emilie und dann ihm den »ersten Zeichenunterricht erteilt« habe.37 Vergegenwärtigt man sich die Situation der um ihre verstorbene Mutter und ihren verstörten Vater beraubten Geschwister, so zeigt diese sich vordrängende Erinnerung an das Schicksal Hausers ihrerseits Züge eines Traumas (»ohne auch nur eine Ahnung zu haben, warum«, siehe Anm. 36), das, wie die etwas deplatzierte Erwähnung suggeriert, anscheinend noch einer Aufarbeitung harrte. Nun soll hier nicht behauptet werden, Feuerbachs Kunstschaffen ließe sich letztlich als Trauerarbeit in der Folge von Kaspars Tod deuten; dagegen sprächen schon weitere bedeutendere Schicksalsschläge innerhalb seiner Biographie. Doch außer Acht gelassen werden sollte dagegen nicht gänzlich, dass Feuerbachs erste Berührung mit seinem späteren Beruf zugleich mit der helfenden Hand Hausers erfolgte. Noch mehr als diese Anfänge scheint jedoch die weitere persönliche und künstlerische Entwicklung Feuerbachs gewisse in Kaspars Kunstkerkerexistenz widerhallende Anklänge zu finden, die man bisher vielleicht zu einseitig allein mit der Melancholie seines engsten Familienkreises in Verbindung gebracht hat. Sollten nicht auch die Augen Kaspar Hausers, dessen gebrochener Kinderblick in eine allzu alte Welt, ihn die wundersam zeitenthobene Welt seiner eigenen Kunst zu sehen gelehrt haben wie ein inneres, todgeweihtes Venedig? Feuerbachs Wahlspruch, darf man seiner Stiefmutter Glauben schenken, lautete: »Eternamente Giòvine«;38 ein Wahlspruch, der zunächst nichts Neues an sich zu haben scheint inmitten eines Zeitalters der Erneuerungen und des

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Veraltens; und der doch gegen den Hintergrund seiner Vergangenheit gesetzt wie eine Erinnerung an das Vergessen-Können, Vergessen-Wollen und darum gerade dessen notwendiges Scheitern gemahnt. So lässt sich insbesondere an seiner Faszination für das Überreife, wie in seinen Kinderbildern dokumentiert, eine Ambivalenz ablesen, die auch bei ihm persönlich zum Austrag kommt. Damit ist nun weniger gemeint, dass nachträgliche Diagnosen aus ärztlicher Sicht seiner Person »ewige Pubertät« oder einen »Infantilismus« attestieren, die sich körperlich in der Schmächtigkeit seines Wuchses und psychisch in der Launenhaftigkeit seines Gemüts ausgedrückt haben sollen.39 Es geht vielmehr um Beobachtungen wie diejenige Emmy Voigtländers, die mit der Ankunft Feuerbachs in Venedig und dem auch für ihn selbst entscheidenden Werk der Poesie (Abb.  21) einen »Stilwandel«40 ausmachen will, ja vielleicht mehr noch: überhaupt einen Umbruch im Verhältnis von Künstler Abb. 21: Anselm Feuerbach, Die Musikalische Poesie, und Kunstwerk, der zu dieser kindli- 1856. Öl auf Leinwand, 265 x 143 cm. Staatliche Kunstchen Überreife und letztlich zu seiner halle Karlsruhe. eigenen Art von »Classicität« hinführt: Schien Feuerbach zuvor noch – gleichsam dem Junggenie romantischer Innerlichkeit folgend – seine Werke als Spiegel eines ungefestigten, suchenden, sich befragenden Gemüts entworfen zu haben, meldet sich spätestens mit der Poesie ein neues Kunstschaffen, das durch die sich beruhigende Formensprache den objektiven Gegenpol zu den subjektiven, innerlichen wie äußerlichen Daseinskämpfen bildet und ihm Kompensation gewährt.41 So beklagt er sich selbst einmal gegenüber seiner Mutter, nachdem er die Poesie vollendet hat:

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Wie kommt es, daß meine Bilder in wahrhaft majestätischer abweisender Ruhe dastehen, und der, der sie geschaffen, ist ein schwankendes Rohr! Mir ist mein Leben wie ein Traum manchmal, oft sehe ich hundert Jahre voraus und wandle durch alte Galerien und sehe meine eigenen Werke in stillem Ernst an den Wänden hängen. Ich bin zu Großem berufen, das weiß ich jetzt, mein Leben wird erst zur Ruhe kommen, wenn ich tot bin, Leiden werde ich immer haben, aber meine Werke werden ewig leben.42

Diese von uns zu Anfang bereits angeführte Briefstelle (Kap.  1.1) ist ihrerseits berühmt für die aus ihr sprechende, im doppelten Sinne selbstbewusste Verzweiflung, und im Großen und Ganzen sollte er Recht behalten, nicht zuletzt was die übermenschengroßen Formate anbelangt. Vor allem aber spricht hieraus eine intellektuelle Frühreife, die manchem eher wie eine arrogante Altklugheit erscheinen mag, indem sie in einem empfindlichen Kontrast zu dem bisweilen hemmungslos ausagierten Leiden und dem sich erst entwickelnden Kunstkönnen steht.43 Feuerbach wusste selbst, und zwar schon in seinen Düsseldorfer Akademietagen, dass er Großes wollte, aber nicht, wie er dazu kommen sollte. So mag vor diesem Hintergrund nicht verwundern, dass die ›majestätisch abweisende Ruhe‹ ihm persönlich mitnichten vergönnt war, von gelegentlichen Posen einmal abgesehen. Gerade dieses Spannungsverhältnis vermochte der Sache jedoch nicht zu schaden; im Gegenteil scheint es in viele seiner Werke mit Gewinn eingegangen zu sein und sich bis heute mit dem schweigenden Appell an den Betrachter zu verbinden, auch dem Masken- und Puppenspiel der Welt den geforderten Tribut zu entrichten und sich trotzdem ein nietzscheanisches »Pathos der Distanz«44 angedeihen zu lassen – vor allem sich selbst gegenüber.45 Wäre hierin – in einer gleichsam ›kasparischen‹ Kompositionsstrenge gepaart mit einer venezianischen Farbenfreude am Gleißen der Wellen ebenso wie am Verhangenen gräulich sonnenloser Tage – wäre hierin also die Anmutung des »Klassischen« in Feuerbachs Werken zu suchen, eines Klassischen im nicht allein stilistischen, sondern normativen Sinne? – Leihen wir zur Beantwortung dieser Frage Nietzsche, einem anderen großen Einzelgänger, nochmals unser Ohr: Zukünftiges. Gegen die Romantik der großen ›Passion‹.– Zu begreifen, wie zu jedem ›klassischen‹ Geschmack ein Quantum Kälte, Lucidität, Härte hinzugehört: Logik vor allem, Glück in der Geistigkeit, ›drei Einheiten‹, Conzentration, Haß gegen Gefühl, Gemüth, esprit, Haß gegen das Vielfache, Unsichere, Schweifende, Ahnende so gut als gegen das Kurze Spitze Hübsche Gütige. Man soll nicht mit künstlerischen Formeln spielen: man soll das Leben umschaffen, daß es sich nach-

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her formulieren muß … Es ist eine heitere Comödie, über die erst jetzt wir lachen lernen, die wir jetzt erst sehen: daß die Zeitgenossen Herders, Winckelmanns, Goethes und Hegels in Anspruch nahmen, das klassische Ideal wieder entdeckt zu haben ... Und zu gleicher Zeit Shakespeare! […] Aber man wollte die ›Natur‹, die ›Natürlichkeit‹: oh Stumpfsinn! Man glaubte, die Klassizität sei eine Art Natürlichkeit! […] Verhärtung, Vereinfachung, Verstärkung, Verböserung des Menschen: so gehört es zusammen. Die logisch-psychologische Vereinfachung. Die Verachtung des Details, des Komplexen, des Ungewissen. […] Der Wille zur Einheit (weil die Einheit tyrannisiert: nämlich die Zuhörer, Zuschauer), aber Unfähigkeit, sich in der Hauptsache zu tyrannisieren: nämlich in Hinsicht auf das Werk selbst (auf Verzichtleisten, Kürzen, Klären, Vereinfachen).46

Einmal außer Acht gelassen, dass Nietzsches Attacke auf die Vertreter einer verschrienen Gipsantike teilweise ins Leere geht, wie wir gesehen haben, dürfte sich Feuerbach in diesem Abriss des Klassischen durchaus wiedergefunden haben. Lediglich der Ausfall gegen die »Natürlichkeit« könnte auf den ersten Blick einen Dissens vermuten lassen, würde es auf den zweiten Blick nicht zur Gewissheit, dass überall, wo Feuerbach Natur einfordert, ein lediglich an der Natur geläuterter Stil seiner Skizzen oder der bloße Hintergrund seiner Bildgestalten gegeben wird – quasi getreu nach seinem Zeichenlehrer Kaspar – und mitnichten Naturalismus. Vor allem die Fähigkeit, sich selbst zu »tyrannisieren: nämlich in Hinsicht auf das Werk selbst (auf Verzichtleisten, Kürzen, Klären, Vereinfachen)«, entspricht geradezu wörtlich Feuerbachs eigener Stildefinition, alles Unwesentliche wegzulassen.47 Wäre Feuerbach also in diesem nietzscheanischen Sinne als ein Klassizist und Selbstüberwinder zu verstehen? Man könnte geneigt sein, in diesen ›Zukünftigkeiten‹ lediglich jene aufgesetzte Heroik zu erblicken, die durch den schieren Willen zum Willen alsbald ermüdet,48 gäbe sich damit umgekehrt nicht eine Seite Feuerbachs preis, die das Streben nach klassischer Größe zugleich in seiner Verletzlichkeit und letztlich auch seiner Vergeblichkeit zeigt. Die Moderne kennt nicht nur eine Überwindung der Gegenwart in Richtung des Zukünftigen, sondern wie nicht selten (etwa auch bei Nietzsche) in Richtung des Gewesenen. Beides aber sind Bewegungen einer unstillbaren Sehnsucht, oft Eskapismen, meistens Romantizismen, letztlich Züge, die auch an Feuerbachs Werk ablesbar sind und die nicht nur die Iphigenie, sondern gleichermaßen das Gastmahl wie seine Kinderbilder kennzeichnen. Gerade mit Blick auf Letztere erscheinen sie als Kinderträume eines Erwachsenen, eines der Unschuld bereits Entwachsenen, wie Fantasiestücke in Kaspars Manier, und legen damit den Finger in eine Wunde, die sich genau darum nicht schließt. So hei-

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len die dort dargestellten Verhältnisse nicht nochmals zu einem paradiesischen Dasein aus, nachdem die Erkenntnis ihrer Vergänglichkeit sie schon gestreift hat. Doch im Gegenzug vernarbt die Komposition des Gastmahls ebenso wenig zu einer bloßen Erinnerung an das Unwiederbringliche, sondern wahrt durch das Erscheinen der Kinderschar im Gefolge ihres Gottes zugleich eine Art traumatische Frische. Beides zusammen aber, die traumatische Frische und die traumhafte Reife, Dionysisches und Apollinisches, rühren unaufhörlich an jene Wunde, die nicht nur diejenige Feuerbachs, sondern letztlich die der Moderne ist: die alles andere als unberührte, vielmehr verschleppte, traktierte, gemordete Ewigkeit der Jugend, ein schmerzlich-komisches forever young, unser Kasparletheater. Dagegen geht es heute darum, von dieser Wunde zu lassen, von ihr lassen zu können, wenn von Paramodernität die Rede ist. Allein, damit und bevor dies geschehen kann, müssen wir noch einmal bohren, um den Dorn im Fleisch zu finden. Was bleibt von Nietzsches harter, einfacher, starker, böser Klassizität, nachdem die Spitze abgebrochen ist? Wo in der Moderne steckt die Ewigkeit?

5.4 Party Classics Die Reihen der Verfechter eines klassischen Kunstbegriffs sind heute lichter geworden; ja man könnte meinen, dass die gesamte Kunstentwicklung seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom Realismus über die Naturalisten, Impressionisten und Abstrakten bis zu den (Post-)Avantgarden bei aller Divergenz und Konkurrenz doch zumindest eines hinter sich gelassen hat: eben den winckelmannschen Klassizismus und seinen Anspruch auf Zeitlosigkeit. Wer dagegen noch irgendeine Form von Klassizität behaupten will, wird diese Geschichte der Moderne nicht einfach umgehen können; dies auch aus dem Grund, dass sie sich, wie Hegel meinte, schon in ihren Anfängen zu Ende erzählt habe. Neben vereinzelten Rettungsversuchen scheint es dagegen nur eine systematische Verteidigung des Klassischen zu geben, die sich gleichermaßen um einen die Tradition wie die Moderne verbindenden Kunstbegriff bemüht. Gemeint ist Hans-Georg Gadamers philosophische Hermeneutik, deren Methodik sich ihrerseits an dem Verstehen von Kunstwerken orientiert hat. Wendet man sich seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode und darin dem Unterkapitel Das Beispiel des Klassischen zu, durch das Gadamer in ostentativer Bescheidenheit eine Rehabilitierung versucht, stößt man zunächst auf eine Schilderung der Sachlage, die eher einer Verabschiedung des Klassischen ähnelt:

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Der Begriff des klassischen Altertums und des Klassischen, wie er seit den Tagen des deutschen Klassizismus vor allem das pädagogische Denken beherrschte, vereinigte in sich eine normative und eine historische Seite. Eine bestimmte Entwicklungsphase des geschichtlichen Werdens der Menschheit soll zugleich eine reife und vollendete Herausgestaltung des Menschlichen geleistet haben. Diese Vermittlung zwischen normativem und historischem Sinn des Begriffs geht schon auf Herder zurück. Aber noch Hegel hat an derselben Vermittlung festgehalten […]. Die klassische Kunst behielt bei ihm ihre Auszeichnung, indem sie als ›Kunstreligion‹ verstanden wurde. Da diese Gestalt des Geistes eine vergangene ist, ist sie nur noch in einem bedingten Sinne vorbildlich. […] Hegel hat dadurch die Historisierung des Begriffs des Klassischen systematisch gerechtfertigt und jene Entwicklung eingeleitet, die schließlich das Klassische zu einem deskriptiven Stilbegriff werden ließ, welcher zwischen archaischer Starrheit und barocker Auflösung einen schnell vorübergehenden Einklang von Maß und Fülle beschreibt.49

Am prominentesten und konsequentesten sollte Heinrich Wölfflin diese hegelsche Historisierung des Klassischen bis zur Urteils-Epochè des Historizismus treiben und in seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen von 1915 eine strukturalistische Analyse vorlegen, die dem Klassischen – bei aller Einsicht in dessen Charakteristik – lediglich noch den Status einer Phase im zeitlichen Wechselspiel der Stile zubilligt.50 Die normativen Spitzen gegen die Moden des Zeitgeistes abzuschleifen, heißt aber, den Klassizismus der Winckelmann-Tradition endgültig begraben. Gadamers eigene Auffassung dagegen bemüht sich um eine Wiederherstellung auch dieses Moments, wenngleich unter eher wirkungsgeschichtlichen als historischen oder ahistorischen Bedingungen: Das Klassische ist gerade dadurch eine wahrhaft geschichtliche Kategorie, daß es mehr ist als ein Epochenbegriff oder ein historischer Stilbegriff und daß es dennoch nicht ein übergeschichtlicher Wertgedanke sein will. Es bezeichnet nicht eine Qualität, die bestimmten geschichtlichen Erscheinungen zuzusprechen ist, sondern eine ausgezeichnete Weise des Geschichtlichseins selbst, den geschichtlichen Vorzug der Bewahrung, die – in immer erneuter Bewährung – ein Wahres sein läßt. […] Klassisch ist, was der historischen Kritik gegenüber standhält, weil seine geschichtliche Herrschaft, die verpflichtende Macht seiner sich überliefernden und bewahrenden Geltung, aller historischen Reflexion schon vorausliegt und sich in ihr durchhält.51

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Das Klassische ist so nicht gegen die Historie bestimmt, sondern gleichsam durch diese hindurch als der eigentliche Ausgangs- und Endpunkt, als archē und telos eines der bloßen Historie noch zugrundeliegenden »Geschichtlichseins« menschlichen Daseins. Es ist nicht bloß das, was sich erfolgreich durch die Jahrhunderte tradiert hat, sondern das Maß selbst einer aktiven Überlieferung, an dem sich die Gegenwart letztlich messen lassen muss, will sie in Form ihrer ›Kulturgüter‹ und ›-leistungen‹ über ihre eigene Zeit hinaus Bestand haben und ihrerseits von kommenden Zeiten bewahrt werden. Was klassisch ist, das ist herausgehoben aus der Differenz der wechselnden Zeit und ihres wandelbaren Geschmacks – es ist auf eine unmittelbare Weise zugänglich, nicht in jener gleichsam elektrischen Berührung, die hin und wieder eine zeitgenössische Produktion auszeichnet und in der die Erfüllung einer alles bewußte Erfahrung übersteigenden Sinn-Ahnung augenblickshaft erfahren wird. Vielmehr ist es ein Bewußtsein des Bleibendseins, der unverlierbaren, von allen Zeitumständen unabhängigen Bedeutung, in dem wir etwas ›klassisch‹ nennen – eine Art zeitloser Gegenwart, die für jede Gegenwart Gleichzeitigkeit bedeutet.52

Zwei Aspekte treten damit in den Vordergrund und verlangen nach Klärung: erstens die Spannung zwischen Zeitenthobenheit und »Gleichzeitigkeit«, zweitens die Spannung zwischen einer »elektrischen Berührung« und dem »Bewußtsein des Bleibendseins«, einer sich bewährenden Bedeutung. Beide Aspekte geben einerseits den Blick frei auf die einzigartige Zeitlichkeit des Klassischen, lassen anderseits jedoch eine unausweichliche Geschichtlichkeit zum Vorschein kommen, die das Phänomen des Klassischen in die Schwebe eines Paradoxes versetzen. Nehmen wir den zweiten Aspekt zuerst in den Blick, dann sehen wir Gadamer hier unterschwellig auf die künstlerischen Neuerungen der Moderne im Strom der Schock-Ästhetiken und Provokationen reagieren.53 Nicht das Ereignishafte, Überwältigende, Erhabene fortwährender Transgressionen, sondern, im Gegenteil, das Verweilende, Ermunterte, Schöne eingehender Anteilnahme, das Mittragen des Tradierten – und zwar gerade inmitten eines modernen Abbruchunternehmens – verdichtet sich ihm zur Erfahrung des Klassischen (was das Phänomen des Tragischen nicht ausschließt, vielmehr in zweiter Ordnung als ein bewährtes Überlieferungsschema allererst aufschließt …). Oder wie es an späterer Stelle heißt: »So gipfelt im ›Klassischen‹ ein allgemeiner Charakter des geschichtlichen Seins, Bewahrung im Ruin der Zeit zu sein.«54 Gerade die letzte Wendung verleiht dem Klassischen die Beständigkeit seines Seins lediglich angesichts eines allumfassenden Werdens, einer Vergänglichkeit, die dem Klassischen – wie

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seine Ruinen Rom – erst die Anmutung einer eher über- als andauernden Ewigkeit verschaffen. Das heißt aber, dass Gadamers Klassik-Verständnis im Grunde romantisch ist, wie es seine pointierte und geradezu kanonisch gewordene Wesensbestimmung schon andeutet: »Eben das sagt das Wort ›klassisch‹, daß die Fortdauer der unmittelbaren Sagkraft eines Werkes grundsätzlich unbegrenzt ist.«55 Romantisch, nicht nur weil Gadamer zu diesem Satz ausgerechnet ein Zitat Friedrich Schlegels anführt, sondern weil es dort nicht ohne Ironie zugehen kann, wo einer strengen Formgebundenheit, ausgewogenen Proportionen und der profilierten Klarheit paradoxerweise eine grundsätzliche Unbegrenztheit der »Sagkraft« zugesprochen wird. Der Verdacht liegt also nahe, dass hier noch eine andere Unbegrenztheit im Spiel ist, und zwar die Unendlichkeit romantischer Innerlichkeit, wie wir sie bei Hegel kennengelernt haben (Kap. 3.1). Dass Gadamer sich dieser konzeptuellen Klippe bewusst gewesen sein dürfte, ergibt sich aus einer leisen Verschiebung, die uns zugleich auf den ersten Aspekt zurückführt: Was sich in der Zeit behauptet als das Geschichtlichsein des Klassischen, stützt sich weniger auf die Geschichtlichkeit der Subjektivität als auf die Objektivität der Überlieferung selbst, auf die Ontologie des ästhetischen Artefakts: Es selbst, das Kunstwerk, ist es, das uns nicht nur gestattet, uns in der Geschichte zu orientieren, sondern das durch sein Geschichtlichsein, sein Bleibendsein unsere Geschichtlichkeit allererst eröffnet, indem es die Gegenwart zu einem Spielraum der Zeiten, ihrer Versammlung oder Zerstreuung, wie auch ihrer Verdichtung oder Entleerung erweitert. Was hat es also genauer mit diesem romantischen Klassizismus auf sich, den Gadamer als »eine Art zeitloser Gegenwart, die für jede Gegenwart Gleichzeitigkeit bedeutet«, beschreibt? Welches Zeitbewusstsein spricht sich in ihm aus? – An früherer Stelle findet man einen Hinweis: Was ist das für eine Gleichzeitigkeit? Was ist das für eine Zeitlichkeit, die dem ästhetischen Sein zukommt? Man nennt diese Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit des ästhetischen Seins im allgemeinen seine Zeitlosigkeit. Aber die Aufgabe ist, diese Zeitlosigkeit mit der Zeitlichkeit zusammenzudenken, mit der sie wesentlich zusammengehört. […] Die übergeschichtliche ›heile‹ Zeit, in welcher ›Gegenwart‹ nicht der flüchtige Augenblick, sondern die Fülle der Zeit ist, wird von der ›existenziellen‹ Zeitlichkeit aus beschrieben, mag es Getragenheit, Leichtigkeit, Unschuld oder was auch immer sein, was sie auszeichnen soll. […] Die Abhebung der eigentlichen Zeitlichkeit des Kunstwerks als der ›heilen Zeit‹ von der verfallenden geschichtlichen Zeit bleibt in Wahrheit eine bloße Ausspiegelung der menschlichendlichen Erfahrung der Kunst. […] Ohne […] theologische Legitimation ver-

5.4 Party Classics

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deckt die Rede von der ›heilen Zeit‹ das eigentliche Problem, das nicht in der Zeitentrücktheit des Kunstwerkes, sondern in seiner Zeitlichkeit liegt.56

Ohne auf die Zeittheorie Hans Sedlmayrs eingehen zu wollen,57 dem hier die Kritik an einer »heilen Zeit« gilt, lässt sich vor diesem Hintergrund doch Gadamers eigene Zeittheorie des Kunstwerks profilieren, die letztlich ernst macht mit der Endlichkeit der menschlichen Erfahrung diesseits jeder Kryptotheologie: Die Zeitlichkeit des Kunstwerks, namentlich des klassischen, kann nur eine Gleichzeitigkeit, und zwar inmitten der Gegenwart der Geschichte sein. Was soll unter dieser, wenn nicht erfüllten, so doch angefüllten Zeitlichkeit des Augenblicks verstanden werden? Hier muss man sich abermals eine Unterscheidung verdeutlichen, die nach Gadamer das klassische von einem rein ästhetischen (Zeit-)Bewusstsein trennt. Etwas behelfsmäßig spricht Gadamer (Sören Kierkegaards Gedanken aus Entweder-Oder aufnehmend) von einer »ästhetischen Nichtunterscheidung«, die gegenüber der (vermeintlichen) Teilnahmslosigkeit eines romantischen Ästhetizismus, aber auch eines positivistischen Historizismus abermals in ein engagiertes, ernsthafteres Verhältnis zu den Spielen der schönen Künste und ihrer ästhetischen Erfahrung tritt. Paradigmatisch und zugleich fundamental erweist sich ihm dabei die äußere und innere Bewegtheit des Spielens selbst, insofern sich in ihm eine Anteilnahme bekunde, die den Spieler sich als Teil eines größeren Ganzen erfahren ließe, lässt er sich darauf ein: »Die Bewegung, die Spiel ist, hat kein Ziel, in dem sie endet, sondern erneuert sich in beständiger Wiederholung. […] Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt. Das Spiel ist Vollzug der Bewegung als solcher.«58 Oder mit einer abgewandelten Wendung des späten Heideggers, die Gadamer hier im Sinn gehabt haben dürfte: Das Spiel spielt – indem wir gespielt werden und dadurch im Kleinen zur Aufführung oder Darstellung bringen, was sich auch im Großen zuträgt; auf den Punkt gebracht in einem Zitat des von Gadamer hier abermals bemühten Friedrich Schlegel aus seinem Gespräch über die Poesie: »Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk.«59 Was das mit der Frage der Zeitlichkeit des Kunstwerks zu tun hat, zeigt sich darin, dass jedes Spiel, auch das der Welt, Bewegung und Vollzug ist, bei dem es auch zu Unterbrechungen oder gar Abbrüchen kommen kann, sodass es letztlich an der »beständige[n] Wiederholung« hängt sowohl im Spiel als auch des Spiels, ob sich der genuine Rhythmus oder neudeutsch: der Flow dieser freien Verbundenheit mit dem Ganzen einstellt. Gadamer selbst wählt für diesen Da-

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seinsmodus ästhetischer Erfahrung die gewollt oder ungewollt an Nietzsche angelehnte Formulierung einer »Wiederholung des Gleichen«, um anschließend zu unterstreichen: »Wiederholung meint hier freilich nicht, daß etwas im eigentlichen Sinne wiederholt, d.h. auf ein Ursprüngliches zurückgeführt würde. Vielmehr ist jede Wiederholung gleich ursprünglich zu dem Werk selbst. Wir kennen die höchst rätselhafte Zeitstruktur, die hier vorliegt, vom Fest her.«60 Kehren wir an dieser Stelle wieder zu Feuerbachs Gastmahl des Plato zurück, erschließt sich durch diese »rätselhafte Zeitstruktur« des Festes nicht nur die allgemeine Erfahrung von Kunstwerken nach Gadamer, sondern darüber hinaus werden wir auch thematisch abermals Teilnehmer einer besonderen Festivität, die auf bezeichnende Weise einen Vorgang wieder aufnimmt, der seinerseits schon künstlerisch-kultisch-festlichen Charakter besaß. Wie wir schon wissen, findet sich die Festgemeinde zu Ehren Agathons ein, der am Vortag die Dionysien erfolgreich begangen hatte. Nun aber kommt es aufgrund der bereits ausgiebigen Siegesfeier am Vorabend zu einer Abwandlung des Zeremoniells, indem eher der Redekunst als dem Rausch gefrönt werden soll. Erst als Sokrates diese kunstsinnige Ernüchterung dadurch noch auf die Spitze treibt, dass er zuletzt Anstalten macht, zu philosophischen Logoi überzugehen, stürmt in Alkibiades der Gott des Kultes erneut die Szene und nötigt die Symposanten regelrecht zur Wiederaufnahme der Trinkgepflogenheiten. All das – im Sinne einer Differenz und Wiederholung des ursprünglichen Anlasses – zeigt sich in Feuerbachs Gemälde, wie wir gesehen haben, zu einem Augenblick verdichtet, spielt sich in dem einen Zeit-Raum dieses Werks ab, das dadurch nicht zuletzt auch seinen Betrachter in ein »gleich ursprüngliches« Verhältnis zu den verschiedenen Begebenheiten versetzt. Es zieht uns gewissermaßen in diese »Gegenwart des Gleichzeitigen« hinein und lässt uns selbst teilhaben an einem kunstvoll wankenden Rhythmus zwischen Tradition und Bruch, Dauer und Ereignis, Kontemplation und Rausch. Darum können wir als Betrachter kaum anders als mitgehen, den festlichen Bild-Zeit-Raum begehen, sobald wir im Geiste die Szene betreten und das Spiel der Formen, Farben und Figuren gleichsam mitspielen: Dabeisein ist mehr als bloße Mitanwesenheit mit etwas anderem, das zugleich da ist. Dabeisein heißt Teilhabe. […] Zuschauen ist also eine echte Weise der Teilhabe. Man darf an den Begriff der sakralen Kommunion erinnern, wie sie dem ursprünglichen griechischen Begriff der Theoria zugrunde liegt. Theoros heißt bekanntlich der Teilnehmer an einer Festgesandtschaft. […] In gleicher Weise faßt noch die griechische Metaphysik das Wesen der Theoria […]. Theoria ist aber

5.4 Party Classics

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nicht primär als ein Verhalten der Subjektivität zu denken, als eine Selbstbestimmung des Subjekts, sondern von dem her, was es anschaut. Theoria ist wirkliche Teilnahme, kein Tun, sondern ein Erleiden (pathos), nämlich das hingerissene Eingenommensein vom Anblick.61

In diesem allgemeinen Sinne lädt auch Feuerbachs Gastmahl zur theoria ein, im Besonderen aber führt es das Innewerden dieser »Kommunion« nicht nur formal, sondern im selben Augenblick und Anblick auch inhaltlich vor: »Der Beschauer gewinnt wie der Künstler am Zeitlos-Göttlichen Anteil: das Bild wird zum Kultbild. Denn dies ist ja für Feuerbach das Wesen der Poesie, daß sie zugleich Seele ist und in der Vergegenwärtigung der mythischen Urzeit das Göttliche aufdeckt, das den Menschen zu sich erhebt.«62 – Und doch kommt im Gastmahl nicht allein das ästhetisch-kultische, sondern gleichzeitig das logisch-metaphysische Moment der theoria zum Vorschein. – Gadamer rundet seine Theorie der Kunst, wie sie sich vornehmlich im Phänomen des Klassischen und dessen gekonntem Spiel mit der »Eigenzeit«63 des Festes darbietet, zunächst in den folgenden Worten ab: Jedenfalls kommt dem Sein des Kunstwerks ›Gleichzeitigkeit‹ zu. Sie macht das Wesen des ›Dabeiseins‹ aus. Sie ist nicht die Simultanität des ästhetischen Bewußtseins. Denn diese Simultanität meint das Zugleichsein und die Gleich-Gültigkeit verschiedener ästhetischer Erlebnisgegenstände in einem Bewußtsein. ›Gleichzeitigkeit‹ dagegen will hier sagen, daß ein Einziges, das sich uns darstellt, so fernen Ursprungs es auch sei, in seiner Darstellung volle Gegenwart gewinnt. Gleichzeitigkeit ist also nicht eine Gegebenheitsweise im Bewußtsein, sondern eine Aufgabe für das Bewußtsein und eine Leistung, die von ihm verlangt wird. Sie besteht darin, sich so an die Sache zu halten, daß diese ›gleichzeitig‹ wird, d.h. aber, daß alle Vermittlung in totaler Gegenwart aufgehoben wird.64

Wie aber verhält es sich, wenn die totale Gegenwart des Kunstwerks – wie im Falle des Gastmahls – gleichzeitig das eigene Vergehen als Kunst bereits mit zur Darstellung bringt; will sagen: ästhetische theoria sich also durch philosophische Theorie, und zwar im Mitvollzug des Betrachters im Begriff zeigt, aufgehoben zu werden? Das schließt nun freilich ein Dabeisein nicht aus, noch die bloße Simultanität des »ästhetischen Bewußtseins« notwendig ein, und doch reißt es die »ästhetische Nichtunterscheidung« gleichsam von innen her erneut auf, indem sie den Betrachter nicht zur Sache, sondern zu sich selbst in Distanz treten lässt. Mit anderen Worten: Als betrachtender Teilnehmer des Gastmahls kann man nur dabeisein, indem man gleichzeitig neben sich steht: Es ist der krönende Abschluss

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kunstreligiöser Festivitäten (wie schon in Platons Plot), ein einzigartiges Kunstfest, bei dem die Kunst selbst ihren Abschied feiert. Feuerbach (hat) eine Einsicht in die Problematik seiner selbst und seiner Epoche gewonnen, die bei allen Fragwürdigkeiten seiner Kunst von der Bewußtheit dieser Fragwürdigkeit zeugt und von einer Bewußtheit des eigenen Mythos- und Geschichtsverhältnisses, welche die Historienmalerei seiner Zeit nie erreicht hat. Es ist durch eine Geistigkeit gekennzeichnet, in der Mythos und Geschichte nicht äußerer Vorgang sind [,] sondern sich als Innenerfahrung der künstlerischen Subjektivität herausstellen. Sie sind Innenräume einer Melancholie, deren Sehnen für den modernen Menschen unerfüllbar bleibt, unerfüllbar selbst in der Fiktion der Kunst.65

»Innenräume einer Melancholie« jedoch, wie zu ergänzen wäre, die durch das Spiel der Kunst selbst allererst eröffnet werden. Mit diesem Spiel der Kunst, zu dem Feuerbachs Gastmahl einlädt, gehen »Innenerfahrungen« einher, welche die Subjektivität des Künstlers oder jedes anderen (An-)Teilnehmers gleichermaßen betreffen, indem sie anhand der »Fragwürdigkeiten der Kunst« in eins die Fragwürdigkeiten moderner Subjektivität und ihres möglichen Endes durchspielen. Leiden wir heute nicht vielmehr an einer Sehnsucht nach Subjektivität und Gegenwart? – Was spielt sich hier also in uns selbst ab? Kann man mit Kunst fertigwerden? Oder die Kunst nur mit uns? – Wenn Feste gefeiert werden müssen, wie sie fallen, und das Spiel uns spielt, dann lässt sich eines vom anderen nicht trennen. Ein paramodernes Bewusstsein der Kunst kommt nicht ohne die Kunst aus, sich selbst aufs Spiel zu setzen und doch dabei gelassen zuzuschauen, wie die Partie ausgeht, die Party endet. Wen Feuerbach demnach nochmals in und vor seinem Kunstwerk zu einer Festgemeinde versammelt, der gewahrt und bewahrt gleichzeitig nicht weniger den Anfang der Kunst in Kult und Mythos als deren Ende im philosophischen Logos. Diese Einsicht aber, dieser gestalthaft induzierte Gedanke, wird zur Selbstbefragung des modernen Betrachters: Lässt die Kunst – exemplarisch in diesem Kunstwerk – den Logos nur als ihren Spielverderber erscheinen? Oder eher als ihren Schiedsrichter, womöglich sogar als einen neuen Spielantreiber? – Von Ersterem zu sprechen, dem Logos als Spielverderber, bedeutete insbesondere Feuerbachs Gastmahl lediglich als ein klassizistisches Kunstwerk der Kunstreligion zu verstehen und es mit dieser in die Vergangenheit zu verbannen. Ein bloßes Abtun aber, Abräumen oder Übergehen, ist kein Fertigwerden. Den Logos dagegen als Schiedsrichter einzusetzen, hieße, es mit der ästhetischen Distanz eines

5.4 Party Classics

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Romantikers zu betrachten und es lediglich nach seinen selbstgesetzten Regeln zu beurteilen. Diese Beliebigkeit jedoch scheint schon darum nicht mit der Kunst fertigzuwerden, weil sie eigentlich noch nie etwas mit ihr anzufangen wusste. Endlich in der Philosophie eine neue Spielantreiberin der Kunst oder neben der Kunst ausmachen zu wollen, liefe darauf hinaus, das nimmer endende Ende der modernen Kunst auch noch durch ihre Theorie, insbesondere Gadamers Klassikerhermeneutik, in Gang zu halten. Art-After-Art-Art aber, mit Verlaub, hat nicht selten etwas von After-Philosophie. – Wie aber sonst? Die Festgemeinde hat sich schon in Einzelgesprächen verloren und ist im Begriff, sich gänzlich aufzulösen; es geht dem Ende zu. Manchmal können Aufbrüche bedeuten, das Beste hinter sich zu lassen, es endlich gut, aber auch aus sein zu lassen. Was dann noch kommt, ist beklemmender als Ernüchterung: das wirkliche Morgengrauen, eingedenk aller Vergänglichkeit und Unwiederbringlichkeit dennoch und unweigerlich abermals und immer wieder neu anfangen zu müssen. Man ist gleichsam älter geworden und kein Kind mehr, das den nächsten Tag kaum erwarten kann und doch kaum kommen sieht. Was dann noch kommt, kommt vielmehr schon mit – oder mit einem Wort: der hangover. Nennen wir diese dämmernde Einsicht unseres übernächtigten Bewusstseins, diese Katerstimmung einer vorauseilenden Ernüchterung – paramodern.

5.5 Morgengrauen

Das Kunstwerk bewahrte uns einst vor der totalen Diktatur der Gegenwart. Die Gruppe unter den Malern des 19. Jahrhunderts, die sich die Deutsch-Römer nannten, unter ihnen vorrangig Feuerbach, wandte sich ab von der ›Sauepoche‹ des frühen Industrialismus und den ›Idealen des Humanismus‹ zu, den Vorbildern der klassischen italienischen Malerei. Wir haben inzwischen keinen Grund mehr, eine solche Haltung als hochmütige Fluchtgebärde, als restaurative Verzückung zu verunglimpfen. Dazu müßte uns ein Progressismus in der Kunst mehr bedeuten, als er es noch tut. Inwieweit ein Kunstwerk zu seiner Zeit Kongruenz und Gegenwartsnähe bildet, inwieweit ihm, nicht nur in technisch-formaler Hinsicht, vorwärtsdrängende und bahnbrechende Verdienste zukommen, ist längst nicht mehr die aufregendste Entdeckung, die wir an ihm machen können. Wenn einer nur in dem, was er hervorbringt, offenkundig ›nicht anders kann‹, so bietet er unter Umständen selbst in der entschlossenen Abkehr von seiner Epoche eine merkwürdigere Folie von Zeitgenossenschaft als andere, die, immer dem anbrechen-

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den Morgen hinterher, in Zeiten des Umbruchs Neues mit Neuem zu vergelten suchen.66

Botho Strauß’ Anamnese von Feuerbachs Zeitgenossenschaft datiert mittlerweile 40 Jahre zurück. Etwa zur selben Zeit war sie bereits als letztes Wort zum Nachleben Feuerbachs zitiert worden.67 Ist sie heute noch zeitgemäß oder sogar schon unzeitgemäß? Sie kurzerhand post- oder prämodern zu nennen, verfehlte den Punkt und diente bei den neuen Ohren unserer Realisten ohnehin nur dazu, ihre wohlgesetzten Worte zu überhören oder empört abzuweisen. Stattdessen kommt diese Erinnerung an eine tatsächlich reale Gegenwart heute abermals auf uns zurück, als ob sie die ganze Zeit im Hintergrund geblieben wäre, und es nur an uns gelegen hätte, ihren Worten Gehör zu schenken, um erneut heranzutreten und genauer zu beobachten, zu erfahren, was die Anwesenheit von Feuerbachs Kunstwerken für unser aller Abwesenheit bedeutet. Nicht wenigen, selbst unter seinen Kritikern, erging es so,68 und auch heute strahlen diese Gemälde immer noch eine »Gegenwartsnähe« aus, die fern der anschmiegsamsten Moden des Tages liegt. So erblicken wir heute in Feuerbachs großen Gemälden weniger die Monumentalität des schönen Scheins; der Zwang zur altertümlichen Manier erschließt sich uns eher schon als ein extremer Traum von geschichtlicher Geborgenheit; seine hehren Gestalten als Paranoia einer zuchtvollen Menschen-Ähnlichkeit, erhöhte Geschöpfe einer gewaltigen Verlustangst an der Schwelle zu einer Welt der tollen Neuerungen.69

Wir leben heute nicht mehr in »der ›Sauepoche‹ des frühen Idealismus«, auch die humanistischen Ideale scheinen heute bedrohlicher in Frage gestellt als jemals zuvor, und doch erkennen wir in diesen Gestalten zeitentwachsener Größe etwas wieder, das auch unsere Epoche einer frühen Digitalisierung, selbst wo sie sich in Displays undurchschaubarer Kalküle bespiegelt, immer noch zu erreichen vermag. Bei aller treibenden Proaktivität oder Interpassivität eines nicht mehr nur schönen Scheins können auch wir bisweilen nicht anders, als erneut einkehren zu wollen in diese Abkehr, in diese ›majestätisch abweisende Ruhe‹, die jedes drängende Wort, alle Anstalten des Darüber-hinweg-Gehens in einer Atemwende verhält. Widerfährt es uns aus Verlustangst, aus einer fear of missing out, packt uns die Paranoia unseres Achtsamkeitszwangs? Oder ergreift uns in diesen Augenblicken eine Erscheinung und mit ihr ein urvertrauter Wahn, der

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uns außer uns versetzt, dorthin, wo die Geschichte selbst noch zu einem Traum wird? – Nein? So ist es die Geschichtlichkeit in einem großen Bild, die wir dankbar aufnehmen und die uns für eine Weile erlöst – nicht von den Sorgen des Alltags und der Wirklichkeit, ganz im Gegenteil, die blicken mit, sondern erlöst von den Qualen einer illusionären Optik, die uns die totale zeitliche Eindimensionalität des fotografischen Abzugs aufgezwungen hat. […] Nicht die Schrift, nicht die Musik, zuerst und paradoxerweise ist es das Gemälde, das uns vom visuellen Müll, der die Sinne belastet und zersetzt, reinigen könnte. Es gibt kein besseres Verbrennungsaggregat als die imaginäre Einstrahlung eines großen Bildes.70

Was lässt uns den inneren Entzug seiner Bildgestalten als derart überwältigende Nähe erfahren, dass wir umgekehrt unserer eigenen Aktualitätsversessenheit fremd werden? Eine läuternde Negativität, die die belastende und zersetzende Negativität, den »visuellen Müll«, wegschafft – also doch nur, was Hegel einst als Dialektik der ›bestimmten Negation‹ und damit als modernen ›Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit‹ benannt hat? Wären also auch die Gemälde Feuerbachs letztlich nur Teil einer modernen Recyling- und Upcycling-Haushaltung, einer Abfallverbrennungsanlage der visual culture in uns und damit doch zugleich Motor einer Warenökonomie, deren Raffination der Kunstmarkt besorgt? Erlösen sie, indem sie entsorgen und besorgen? Oder versorgen sie diesen Kreislauf sogar selbst nur mit dem negativen Dauerangebot eines anhaltenden Aufschubs, einer Verhaltung ihrer Konsumption, jener negativen Dialektik, die ihren Frieden damit macht, mit Nichts zufrieden zu sein? Feuerbachs Bildräume verstatten weder eine reale Präsenz noch eine ideale Absenz, sie lassen uns nicht aus der Geschichte austreten noch flüchten wir uns zu ihnen aus der »totalen Diktatur« einer fotografischen Gegenwart. Sie entsorgen und besorgen nichts, überhaupt erlösen sie uns nicht von etwas. Aber sie lösen etwas ein, indem sie da sind, etwas, das weniger ein Versprechen als eine Schuld bedeutet und darin besteht, inmitten von Einbrüchen, Aufbrüchen, Umbrüchen oder Abbrüchen dennoch mit der Kunst fertigzuwerden – sub specie aeternitatis. Es ist eine gewisse Scham, die aus Feuerbachs Bildern spricht, eine fast kasparische Scheu der Bilder, die auch ihre Betrachter erfasst, indem sie deren Blick nicht erwidern, und zwar nicht aus Arroganz oder Ignoranz, wie man es etwa den Nanna-Bildnissen nachsagen wollte, sondern aus einer bewussten Scheu vor Miss­verstand, vor Profanierung. Diese Beschämung unserer Neugier, weit mehr

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als nur eine Abfuhr an unseren Voyeurismus, gewährt vielmehr erst wieder die Möglichkeit einer innigeren Begegnung: Je länger man diese Gemälde betrachtet, je eingehender man gleichsam um sie wirbt, desto empfindlicher wird die eigene Ehrfurcht dafür, sie und sich selbst zu entwürdigen. Was zuvor nur ein streifender Blick en passant, wandelt sich langsam in die zarte Gewissheit einer unverhofften Liebe. Man meint den Wogenschlag seines Flügels auf der Netzhaut zu spüren, während Eros sich erhebt. – Ist es noch der sinnliche, der künstlerische oder schon der philosophische Eros? – Geht es darum eigentlich? – Diese Frage zielt ins Herz der Paramoderne. * Es ist heute keine Kunst mehr, die Kunst für tot zu erklären. Aber machte es sie wieder lebendig, wäre es noch eine? – Nicht erst bei Hegel, sondern schon bei Platon, wie wir gesehen haben, ist der Kunst keine Zukunft, sondern nur mehr eine ewige Wiederkehr des Gleichen versprochen. Oder wie es Feuerbach in seinen späten Jahren für und gegen die Moderne ausdrückte: »Wenn doch die Modernen eine Lehre daraus ziehen möchten, daß alles auf der Welt schon mehrmals dagewesen ist, alle Erscheinungen sich wiederholen, so daß man mit mathematischer Bestimmtheit sagen kann, wer bleibt, und wer in die Rumpelkammer kommt«71 … oder ins Verbrennungsaggregat. – Wie sähe diese »Lehre« aber aus, wenn hier implizit nicht ein Innovationsdrang gemeint sein kann, der das Rad gleich mehrmals erfindet, ohne davon Kenntnis zu nehmen. Wenn sich gleichwohl alles wiederholt, so scheint es nach Feuerbach lediglich ein an Jahrtausenden sich messendes Können, eine klassische Qualität und damit auch die profundeste Kenntnis der Vorgänger zu sein, die es letztlich erlaubt, selbst im ewigen Pantheon der Künste aufgestellt zu werden. Wo dieses Können als Kriterium um der bloßen Neuheit willen dagegen wegfiele, würde die Rumpelkammer selbst zum Pantheon. Nun kann und soll hier nicht entschieden werden, ob Feuerbach selbst diese Qualität besitzt, könnte man es (allein) auf dem Weg des Schreibens, dann besäße er sie wohl gerade nicht. Doch was sich hier stattdessen an Feuerbachs Werken erkennen lässt, welche Lektionen man für die Kunsttheorie, vielleicht auch die Kunst-Theoria daraus ziehen kann, das steht durchaus in der Macht des Wortes. Kommen wir darum noch einmal, ein letztes Mal auf das philosophische Nachspiel der Kunst im platonischen Symposion zurück, und zwar auf seinen Ausgang im Morgengrauen. Nachdem der ewig nüchterne Sokrates seinen letzten Gesprächspartnern, Aristophanes und Agathon, dargelegt haben soll, dass der wahre Dichter allein derjenige sei, der Komödie und Tragödie zu vereinen verstehe, will sagen: dieser wahre Dichter Platon selbst sei, und zwar durch seine

5.5 Morgengrauen

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philosophische Kunst des Dialogs, berichtet Apollodor gemäß der Nacherzählung des Aristodem Folgendes: Sie gaben es zu, aber sie folgten nicht sehr, weil sie schläfrig wurden, und zuerst sei Aristophanes eingeschlafen, dann als es schon Tag wurde, Agathon. Nun sei Sokrates, da er jene zur Ruhe gebracht hatte, aufgestanden und gegangen und er selbst sei ihm wie gewöhnlich gefolgt. Er ging ins Lykeion, badete und brachte den ganzen Tag zu, wie er es sonst tat, und als er so getan begab er sich abends nach Haus zur Ruhe.72

So endet der Dialog – und mit ihm eine lange Nacht rhetorischer Glanzstücke, mythischer Berichte, göttergleicher Erscheinungen und des anschließenden Versackens in allzu ernsten Gesprächen vor den Geschäften des nächsten Tages bis zum nächsten Abend. Was soll uns dieses Ende aber über den Geist einer übernächtigten Moderne sagen? – Wir sind mit Sokrates in die Morgendämmerung getreten, weiterhin nüchtern, unbeirrt, nicht in der Unbefangenheit, den anbrechenden Tag zu begrüßen wie einen frischen Neuanfang nach dem süßen Schlaf der Vergessenheit und des Träumens, sondern als immer noch Wachende, die eine ereignisreiche Nacht durchgestanden haben und die dennoch wie jeden Tag ihren Geschäften nachgehen, um sich erst am Abend zur Ruhe zu begeben, dann, wenn auch dieses Tagewerk sich ebenso erfüllt haben wird wie die Ereignisse der vorherigen Nacht. Sagen wir es so: Wie Sokrates sind wir es nicht müde oder leid, den Künsten und ihren Festen Zeit zu spenden, dabeizusein, an ihnen teilzunehmen und ihrem Gelingen zu dienen, mehr oder weniger selbstlos. Aber irgendwann ist jedes Fest vorüber und noch anderes zu tun, anderes, mit dem es ebenso fertig zu werden gilt, sei es in Arbeit oder Muße. Ermüdend und zum leidigen Geschäft wird es dagegen, Künstlern wie Aristophanes oder Agathon immer wieder aufs Neue auseinandersetzen zu müssen, dass jedes Fest sein Ende hat, dass es ein Leben nach der Kunst gibt, dem Trunkenheit und Schlaf am Morgen nicht die Verheißung beschert, abermals »Neues mit Neuem zu vergelten«. Feuerbach, der früher immer wieder über durchwachte Nächte zu klagen hatte, wenn auch des Leids und der Sorge, besaß bereits eine Ahnung von diesem Ausgang, als er in Venedig, dieser alltäglichen Festkulisse und »Theaterrepublik«,73 langsam zur Ruhe kommend seinem Ende entgegen ging: »Jetzt ohne Auftrag wieder Bilder beginnen, Ausgaben machen, um sie jahrelang herumstehen zu lassen, will mir nicht einleuchten. Der Anlauf zum neuen Leben muß jetzt von außen her kommen, Werke sind genug vorhanden.«74

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Dem Unsichtbaren im bisher Ungesehenen Gestalt zu geben, Formen und Farben in toten Materialien und Stoffen zum Leben zu erwecken, aber auch den Alltag und das eigene Leben selbst ins verklärende Licht eines Kunstwerks zu setzen, gehört – neben anderen ästhetischen Praktiken – zu den noch andauernden Wundertaten der modernen Kunst, einen neuen Anfang zu machen gegen die Altlasten der Tradition. Mögen sich dabei Traditionstreue und -bruch auch die Waage halten oder mag manchmal auch dem ehemals Erbrachten der Vorzug erwiesen werden, alle Werke der modernen Kunst bis heute, Nicht- und Unwerke, hermetische und offene, vollendete und fragmentarische, zeugen vom und durch das Ereignis eines Anfangs – das sie bewahren, gewähren oder auch verweigern können. Dagegen ohne Auftrag keine Werke mehr beginnen zu wollen, weil ihrer schon genug da seien, heißt im Falle Feuerbachs, sich nicht nur einer Schaffenskrise zu ergeben, sondern das Ereignis des Anfangs und damit letztlich die moderne Kunst selbst in Frage zu stellen. Dieser ›Verrat‹ der eigenen Berufung scheint sich dadurch noch zu verschärfen, dass die äußere Auftragslosigkeit eigentlich zum Glück und Leidwesen der bürgerlichen Kunstautonomie gehört, die sich zumeist damit zu trösten weiß, einem inneren Auftrag, eben einer inneren Berufung zu folgen. Feuerbach nun vorzuhalten, er sei vom Glauben an das eigene Können abgefallen,75 räumte der modernen Orthodoxie zu viel Recht ein. In anderen Aussagen seiner Venedigzeit wie: »Früher wenigstens konnte ich mich im Anschauen an meinen eigenen Sachen stärken, jetzt hängt alles in der Luft und ist auf die Dauer unerträglich«76; »Es klärt sich beinahe niemand in unsrem Jahrhundert mit dem Alter, sondern die Leute zerfetzen sich bei lebendem Leibe und finden im Irrtum noch Anhang«77; oder auch: »Ich sehe jetzt alles ein und habe keine Illusion mehr, ich stehe allein und kann nicht eine kleine Welt in der kurzen Lebenszeit überzeugen«78, kommt eine Selbsteinschätzung zum Ausdruck, die zugleich Diagnose seiner Zeitgenossenschaft ist. Hatte Feuerbach schon seit seinen frühen Tagen sein Missfallen gegenüber seiner »Sauepoche« bekundet, so nähert er sich am Ende seines Werdegangs einer Einsicht, die über die Bedeutung seines eigenen Kunstschaffens in einer wesentlichen Hinsicht hinausgeht: Feuerbach ist dem Glauben an die Kunst als Bildungsreligion, als ästhetische Erziehung zu einem neuen Leben, in Teilen abtrünnig geworden. »Es muß viel Wasser den Berg herunterfließen, ehe ich mich zu einem weiteren Elan in der Kunst entschließen kann. Ich mag gar nichts mehr schreiben oder sprechen.«79 – Dass er sich in den letzten Jahren vor allem um sein finanzielles Auskommen sorgte, das er in den Kapitalien seiner Werke angelegt sah, ist vor diesem Hintergrund weniger die Bigotterie eines Idealisten als die

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prosaische Wahrheit moderner Künstlerschaft – und rundet damit Feuerbachs paramodernes Persönlichkeitsprofil ab. Hatten wir von der Kunst des Anfangens gesprochen, um ihr nun eine des Fertigwerdens an die Seite zu stellen, dann sprachen wir damit indirekt von einem konstitutiven Zwiespalt moderner Subjektivität. Sagen wir es nüchtern: Das moderne Künstlergenie ist die Traumgestalt des modernen Menschen, sein Idol. Wo er von diesem Selbstbild ablässt, wandelt sich auch die Kunst in etwas anderes, das nicht erst heute unter andere Namen fällt. Was also hat es gewesen sein sollen? Bei all dem, was sich der modernen Künstlerpersönlichkeit nachsagen lässt und was ihr schon nachgesagt wurde, tritt doch im Falle Feuerbachs ein allgemein charakteristischer Zug besonders deutlich hervor: Als Zögling einer deutschen Bildungsdynastie verband er keine bescheidenen Ansprüche mit seinem Kunstschaffen, im Gegenteil behauptet sich bei ihm die Kunstreligion in der Nachfolge Winckelmanns und Goethes nochmals vehement gegen die zunehmende Marginalisierung dieser gesellschaftlichen Vorbildfunktion im industrialisierten Kapitalismus. Kunst, so schien es illusionärer Weise auch für Feuerbach noch Konsens zu sein, wähnte sich zumindest ideell erhaben über die Entfremdungen eines bloßen Nützlichkeitsdenkens und dem Dienst an einem zweiten Herrn, dem Mammon. Diese Form künstlerischer Distinguiertheit gegenüber den ›Philistern‹ des eigenen Standes konterkarierten jedoch im selben Zug die zunächst primär ökonomischen Emanzipationsbewegungen des Bürgertums gegen Adel und Klerus. Was die Aristokratie an Repräsentation und Macht80 sowie der Klerus an Weihe und Wahrheit vorauszuhaben schien, reklamierte nunmehr das Genie für sich und begründete durch diesen Reentry in das System der bürgerlichen Gesellschaft seinen einzigartigen, transversalen Status. Entsprechend schien der Künstler sich materiell nicht mehr nur den Auftragsarbeiten zur Mehrung fürstlicher oder göttlicher Glorie entledigen zu können, sondern mit einem Schlag dem schnöden Geschäftsleben zugleich ideell überlegen zu sein. Allein der Künstler mochte zugleich alles scheinen und doch nichts von dem sein zu müssen, wenn es um die Finanzierung dieses Welttheaters ging: distinguiert, wohlhabend, begnadet und doch Individualist bis ins Letzte. Stellten sich Erfolg und Gefolgschaft ein, schien dieser Lebensentwurf alles erdenkliche Glück auf sich vereinen zu können; blieben sie hingegen aus, war der Absturz ein bodenloser. Dass die Bohème dennoch nicht der sozialen Verachtung anheimfiel, legt sich von einem Grund her nahe, der zugleich Feuerbachs maßlose Enttäuschung vom Leben an dessen Ende erklärlich macht, nämlich das gesellschaftlich zugestandene Potential einer Ausnahmebegabung im doppelten Sinne: einerseits das Talent zu einer Meisterschaft, die über den Künstlerberuf

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hinaus das Vorbild des ›Berufenen‹ schlechthin abgab, und andererseits der personalisierte Ausnahmezustand, das ›disruptive Innovationspotential‹ des gesellschaftlichen Wandels. Das Publikum erwartete also Außergewöhnliches und damit ein Paradox, dem Feuerbachs Anfänge in Karlsruhe zunächst zu entsprechen schienen, um zuletzt doch – und zwar als Konsequenz seiner Entscheidung für die ›Classicität‹ – den Protagonisten der modernen Malerei das Feld überlassen zu müssen. Mit anderen Worten: Er saß zwischen den Stühlen und meinte doch einen kaiserlichen Thron81 und die Bürgerkrone zugleich für sich beanspruchen zu dürfen. Dass sich Feuerbach jedoch gerade für das Auslaufmodell der Frühmoderne, den klassischen Neuhumanismus, entschied, um ihn mit akademischen Romantizismen zu seiner Art von Deutsch-Römertum anzureichern, brachte ihn zwar um die Aktualität eines Modernisten, sichert ihm aber zugleich den Klassikerstatus eines Vorläufers der Paramoderne, scheinen im heutigen Rückzugsgefecht der Moderne große Teile der Künstlerschaft doch eher den Anschein einer Arrièregarde zu erwecken. Die Hommage von Botho Strauß ist nur eine, die deutlich werden lässt, dass die Postmoderne eines Nur-weiter-so-aber-anders schon in den 1980er Jahren zum Erlahmen kam. Auch die (Post-)Avantgarde, ob sie nun eine Familientradition unter der Marke Neo-Avantgarde weiterführt oder nach Peter Bürger Vatermord begangen hat, bespielt heute als Kasparletheater weiterhin die Welt, ohne den Bühnenauf- und -abgang zu finden. Endlich der Ästhetizismus eines Aschenbach, der mit Feuerbachs Kunst gewisse Interessen teilte, ist konsequent seiner eigenen Dekadenz erlegen, sofern es ihm nicht vergönnt war, die Kunst selbst in ein Lebenswerk zu verwandeln wie bei Stefan George. – Momente all dieser Bewegungen sind heute noch im Spiel, wo die Künste nicht selten unter dem Banner der Institutional Critique mit Tanz, Wein und Geschrei ins Museum einfahren, um ihre Symposien abzuhalten; all diese Momente aber hängen am selben Ort unscheinbar in Feuerbachs Gemälden versammelt schon daneben. – Spielt es heute also noch eine wesentliche Rolle, in welchen Formaten die Moderne an ihrer Selbstüberwindung scheitert?

5.5 Morgengrauen

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5.6 Paratemporäre Kunst

Under the conditions of ubiquitous image saturation, modern art’s purpose as a vanguard for the promotion of and research into how images constitute secular knowledge–and particularly self-knowledge or the anthropological knowledge of others–lost its urgency since everyone who inhabits contemporary visual culture assumes the complex communicative capacity of images to be self-evident. As a consequence, ›art‹, defined as a private creative pursuit leading to significant and profitable discoveries of how images carry new content, has given way to the formatting and reformatting of existing content–to an Epistemology of Search. The major consequence of this shift is that art now exists as a fold, or disruption, or event within a population of images–what I have defined as a format.82

Dem Pyrrhussieg der Avantgarden im digitalen Zeitalter noch den Titel der »Kunst« anheften zu wollen, wäre zu viel der Ehre. Es käme auf den Etikettenschwindel hinaus, dem Design seine seit den Anfängen der Moderne entfaltete Wirkungsmacht abstreiten zu wollen; allein mit der gänzlichen Niederlage in der Folge, einen bereits durch das Design erweiterten Kunstbegriff in ein Alles und Nichts zu zerstreuen. Andere Übergriffe aus Notwehr bezeugen dasselbe: An den Enden der Kunst kehren sich die Überschreitungen heute insofern wieder um, als diejenigen Momente (etwa das Religiöse, Philosophische etc.) resorbiert werden, die die Kunst zu Zeiten ihrer ›Blüte‹, wie man einst zu sagen pflegte, noch anzulocken und an sich zu binden vermochte.83 Was aber waren die Früchte? Und zwar für die Kunst selbst, für eine Kunst, die im Kern anderes birgt als die Saat des Designs? – Soll sich die Kunst in der Moderne gegen einen umfassenden Gestaltungsbegriff von »Formaten« noch behaupten können, bleibt nur der geordnete Rückzug, eine Reduktion auf das Wesentliche, die genuin ästhetische Erfahrung der Kunst. In der Epoche universeller Mediatisierung, der Multi- und Intermedialität, der Ära entfesselter techne bieten dafür offenbar das Bild, das Werk als Medium oder die überlieferten Techniken der Darstellung keine angemessenen Folien mehr. Stattdessen bedürfen die Momente einer Reauratisierung des Rückgangs auf jene Reservate des Hier-und-Jetzt, des Einzigen und Unwiederholbaren, die sich medialem Zugriff sperren: Rückzüge auf die Widerspenstigkeit des Körpers, der leiblichen Irritation, der Entdeckung elementarer Empfindungen wie Intimität, Ge-

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walt oder Verletzbarkeit, die Erfahrungen sozialer Bindungen oder die nirgends zu beherrschende Unfüglichkeit des Anderen […] Sie bescheren keine spektakulären Momente, keine Ausnahmeerfahrungen, keine exklusive Einsicht oder Niegesehenes […]. Vielmehr öffnen die performativen Künste die Beziehung zu etwas höchst Einfachem und Naheliegendem: Schlichte Würde des Ge-Gebenseins […].84

Rückzüge haben es an sich, dass sie verteidigen müssen, was ehemals noch Pioniergebiet der Avantgarde war, die in der Wendung der Ereignisse ihrerseits nunmehr einer Arrièregarde das Feld räumen muss, um sich in jene Gebiete zu flüchten (oder gar vorzukämpfen), die sie schon hinter sich gelassen zu haben glaubte. Steht es aber einmal so, dass die alte Nachhut gewissermaßen zur neuen Vorhut geworden ist, stellt sich die Frage, warum »das Bild, das Werk als Medium oder die überlieferten Techniken der Darstellung« den performativen Kunstmitteln noch den Vorrang einräumen sollten, ungeachtet dessen, dass nur eine Niederlage oder ein Scheitern der Avantgarde diese Kehre veranlassen konnte. Direkter gefragt: Was unterscheidet eine »Reauratisierung des Rückgangs auf jene Reservate des Hier-und-Jetzt« etc., wenn sie »keine spektakulären Momente, keine Ausnahmeerfahrungen, keine exklusive Einsicht oder Niegesehenes« mehr bescheren wollen, anders gesagt, was unterscheidet sie noch von der Aura und der Ereignisqualität ihrer klassischen Vorgänger, gerade dort, wo die performativen Künste die Beziehung öffnen sollen »zu etwas höchst Einfachem und Naheliegendem«, wie die »[s]chlichte Würde des Ge-Gebenseins«? – Man könnte meinen: Nichts, außer immer noch ein Glaube – diesmal jedoch nicht mehr an die Kunstreligion, sondern an ihre letztgültige Überwindbarkeit. Dagegen einwenden zu wollen, die »Reauratisierung« der performativen Künste sei eine irreversible Überholung der traditionell auratischen Künste, verfängt also nicht mehr. Hieße es doch gerade, die Wende der Ereignisse und vielleicht sogar das eigentliche Ereignis der Wende zu verkennen: dass die Überwindungen ihr Ende gefunden haben. Das gewährt zumindest im Rückblick eine befreiende Einsicht: Im Lichte ihres Scheiterns betrachtet sind diese dezidierten Überbietungsanstrengungen über ihre eigenen Anfänge nie wirklich hinausgekommen, sodass ihr telos vor allem darin zu bestehen schien, mit weiteren Neuanfängen, die keiner Vollendung fähig waren, nicht aufzuhören zu können.85 Stattdessen scheint heute ein besinnungsloses Anfangen an ein Ende gekommen. Das garantiert zwar noch keine Vollendung irgendwelcher anderen oder auch Neuanfänge, schärft aber den Blick für bereits Gewesenes – in seinem Gelingen wie in seinem Scheitern.

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Was wäre etwa an Manet, den Impressionisten, und in gewisser Hinsicht auch an Feuerbach nicht Ausdruck des Versuchs gewesen, das »höchst Einfache und Naheliegende in der schlichten Würde des Ge-Gebenseins« darzustellen? Das Genre, das Darstellen, das Material – etwa das schiere Faktum, historisch noch nicht unter die performativen Künste zu zählen? – Aber selbst wenn man den »Rückgang auf die Reservate des Hier-und-Jetzt« eigens betonte und jeder Zeit allein ihre zeitgenössische Kunst zubilligte: Was wäre in der modernen Kunst nicht als Reduktion aufs Wesentliche verstanden worden, wenngleich und durchaus nicht nur der eigenen Zeit (müsste man ansonsten doch eher von Mode sprechen)? – Schlussendlich: Was heißt zeitgenössische Kunst, wenn heute wie gestern und vorgestern Bilder, gerade auch ›klassische‹ Gemälde wie die Feuerbachs, uns zu Zeitgenossen machen, indem sie uns berühren, ergreifen, und nicht zuletzt aus dem Bann ihrer und unserer jeweiligen Zeitumstände reißen, um uns stattdessen in deren Zentrum zu schleudern?86 Was wäre dagegen antiquierter und anästhetischer als unsererseits mit einem Auge zugleich auf das Entstehungsdatum zu schielen, um sich diesen Ereignissen gegenwärtiger Geschichtlichkeit zu entziehen?87 Geschichtlichkeit, wo sie zum Ereignis wird, bedeutet nicht die Vergangenheit des Damaligen, sondern die Gewesenheit des Einst, die im Wesentlichen weiterhin Zukunft behauptet und zudem mehr als alles stilisiert Futuristische. Phänomene wie der Retrofuturismus unserer Tage sind vor diesem Hintergrund wohl vor allem als Symptome einer aufgegriffenen Zeitmode von gestern durch die Zeitmode von heute zu verstehen. Was abrupt zurückgelassen wird, kommt meist irgendwann zurück, und selbst indem man bewusst darauf zurückkommt, kann von einer Durcharbeitung noch nicht die Rede sein, wenn hier lediglich eine Übersprungshandlung die andere kurzzeitig verdrängt. Dass wir mittlerweile bei einer Retroisierung des Futurismus angekommen sind, zeugt, wenn überhaupt, nur noch von einer Zukunft, die nie kommen wird, weil sie sich ständig wiederholt und darin lediglich als ihre eigene Vergangenheit wiederkehrt – wie gesagt, nicht als Gewesenes unserer Gegenwart, sondern umgekehrt als deren abermalige Verdrängung. In diesem Sinne leidet der moderne Innovationstrieb unter einem Wiederholungszwang, der gerade darum nicht aussetzt und dem Zukünftigen gerade dadurch nicht Raum geben kann, weil er weder weiß, worauf er hinauswill, noch wo er herrührt. Das verleiht jeder Traumatisierung und ihrer Bewältigungsstrategie schon etwas Tragikomisches (Kaspar Hauser) und zuletzt sogar etwas Dadaistisches: Progression und Regression werden ununterscheidbar, Fortschritt wird Rückschritt und Rückschritt Fortschritt.88 So ist es auch keine beliebige Ironie

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der Geschichte, dass die Privilegierung des Performativen oft den performativen Widerspruch begeht, den idealistischen Werkbegriff für unhaltbar zu erklären, indem etwa von »Verspätungen, Revisionen oder rückläufigen Tendenzen« als unvermeidbaren »Ungleichzeitigkeiten« die Rede ist, die vergeblich den Versuch unternähmen, »Verlorenes wiederzugewinnen«,89 während man zugleich die Kategorien eines geschichtlichen Fortschritts leugnet, die dieses Verdikt erst erlauben würden. Auf diesen Selbstwiderspruch hinzuweisen, führt jedoch umgekehrt mitnichten zu einem Historizismus (etwa im Sinne des von Gadamer gerügten »ästhetischen Bewusstseins«). Es artikuliert auch nicht die Auffassung eines Posthistoire oder der Postmoderne. Aber es verschiebt die Perspektive auf den Ereignischarakter der Kunst innerhalb unseres Geschichtsbewusstseins hin zu ihrer Paramodernität. Paratemporäre Kunst – noch im Unterschied zu einer post- bzw. nontemporären90 – beklagt diese Zusammenhänge nicht als tragisches Verhängnis der kontemporären Kunst oder allgemeiner unserer Zeitgenossenschaft; sie sieht sie nur in einem anderen Licht leuchten, quasi im Gegenlicht einer Ewigkeit, die erst als solche durch ihren Schattenwurf sichtbar wird, wenn man neben sich tritt. So dient das »Ereignis« nicht mehr zum zeitlichen Maßstab für die Aburteilung von vermeintlich Überholtem, Vergangenen, Reaktionären, sondern beschreibt vielmehr das »Hier-und-Jetzt« eines Zeit-Spiel-Raums, der sich durch es erst (wieder-) eröffnet (ähnlich einer Zeitkapsel). Es stiftet anfänglich vollendete Gegenwart.91 Dabei bleibt das Ereignis gerade auf die andere Weise dasselbe, dass es die Geschichtlichkeit eines bestimmten Werkes nicht nur begreifbar macht, sondern gleichermaßen erfahrbar als ein im gegenwärtigen Moment (der Rezeption) zugleich sich vollendendes Gewesenes wie neuerlich ansetzendes, der Gegenwart also ›zukünftiges‹, zukommendes Stück lebendiger Erfahrung. Eine solche Geschichtlichkeit des Ereignisses meint also weniger das Eintreten »der Kunst in eine Zeit nach dem Ende der Geschichte«92 als ein Eintreten der Kunst in eine Zeit vor ihrem Anfang und damit zugleich in eine Geschichtlichkeit nach ihrer Vollendung. Freilich geht es nicht einfach so weiter oder alles schon seinem Ende entgegen; im Gegenteil kehrt sich alles zu einem Anfang, der vielmehr andere Anfänge des Vollendens ermöglicht. An einem solchen Ende aber zu stehen und einen Anfang enden zu sehen (wie den der Kunstreligion), bedeutet, mit unserer Epoche der Modernität ein paramodernes Verhältnis einzugehen: Es bedeutet, gerade im Ende einen vergessenen Anfang wiederzuerkennen und in diesem Anfang wiederum ein anderes Ende, indem die Möglichkeit einer (ausgebliebenen, schon gewesenen oder noch ausstehenden) Vollendung nicht nur im Gedächtnis bewahrt bleibt. So kann auch an die Kunstreligion zuletzt nur

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glauben, wer sie in ihrer Wirklichkeit, aber vor allem ihren Möglichkeiten leibhaftig hat scheitern sehen. Ob man es tut, wird jedem selbst überlassen, wenn auch eben nicht von jedem selbst. Damit meint Paramodernität zuletzt jedoch nochmals ein anderes Anfangen als ein bloßes Aufhören mit dem Beginnen. Dieses Anfangen geht gewissermaßen noch hinter die Anfänge zurück und eröffnet so eine Auseinandersetzung mit dem Ursprung der Kunst, wie sie Maurice Blanchot in seiner Besprechung von Georges Batailles La Peinture préhistorique. Lascaux ou la naissance de l’art – und damit in der Auseinandersetzung mit den paläoanthropologischen Uranfängen der Kunst – zumindest ansatzweise zum Ausdruck gebracht hat: »Die Kunst ist mit dem Ursprung verbunden, der seinerseits stets auf den Nicht-Ursprung bezogen ist. In einem Kontakt, der jede erworbene Form erschüttert, hellt die Kunst auf, was wesentlich vorher, aber noch ohne Dasein ist, sie bejaht es und ruft es hervor. Und zugleich übertrifft sie alles, was gewesen ist, sie ist das im Voraus gehaltene Versprechen, die Jugend von dem, was stets beginnt und nur beginnen kann.«93 – Der andere Anfang der Paramoderne ist dagegen nicht einfach mehr das »Vermögen des Beginns« oder das »Vermögen des vorgängigen Wiederbeginns«94 im Sinne eines Rückgangs auf die ewige Jugend. Vielmehr ist es diese Jugend, um im Bild zu bleiben, die erst in der Reife selbst ihren eigenen, anderen Anfang findet. Verhelfen wir diesem Gedanken am Ende noch zu seiner deutlicheren Gestalt. Wie Blanchot selbst weiß, ist die Geburt der Kunst nicht greifbar, stattdessen lässt sich an den Malereien von Lascaux vielmehr das Geborenwerden jeder Kunst studieren, und zwar in einer bis in die Gegenwart reichenden Verkettung von Generationen. Dass Blanchot dabei einen Text mit dem Titel Die Geburt der Kunst über Batailles Text über die Geburt der Kunst in Lascaux schreibt, in dem er überdies darlegt, dass diese Höhlenmalereien nicht die Geburt der Kunst gewesen sein werden, hat seine eigene Bewandtnis: Es deutet einerseits auf einen Ursprung, der erst im Rückblick, von seinem Nicht-Ursprung her, seinerseits entspringt; andererseits aber auf einen anfänglichen Vorsprung, der sich mit dem Entspringen jedes einzelnen Nicht-Ursprungs als der Nicht-Nicht-Ursprung des Entspringens behauptet. Das macht seine Jugend aus – aber auch seine Un-Reife im Sinne einer ewigen Nicht-Nicht-Jugend, die kein Ende nimmt bzw. kein vollumfängliches Werden wahrnimmt von dem, was ebenso stets abrupt enden kann und irgendwann so oder so auch enden wird. Indem wir mit Blanchot und Bataille in die Frühgeschichte der Kunst zurückkehren, treten wir zugleich in die dunkle Höhle einer vorgeschichtlichen Grenzüberschreitung ein, bei der durch eine abermalige Überschreitung die Grenze als

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Schwelle erst sichtbar wird. Die erste Transgression vom Tier-Sein zum Menschsein war nach Bataille und Blanchot noch keine; allererst mit der erneuten Rückkehr zum Ursprung, durch eine Rücküberschreitung, beginnt ein Spiel mit der Grenze, beginnt die Kunst. Allein mit diesem Schritt aber eröffnet sich uns durch das Spiel der Kunst zugleich unser eigentliches Menschsein: Die Kunst ist hier gleichsam ihr eigenes Fest, und Georges Bataille zeigt, […] dass die Malereien von Lascaux wahrscheinlich an jenen Aufruhr, an jene explosive Großzügigkeit des Festes gebunden sind, da der Mensch – nun das erste Mal Mensch – die Zeit der Anstrengung und der Arbeit unterbricht und im Jubel eines kurzen Zwischenspiels zu den Quellen des natürlichen Überflusses zurückkommt, zu dem, was er war, als er noch nicht war. Es ist die Zeit, da er die Verbote bricht, jedoch, weil es jetzt Verbote gibt und er sie bricht, sich über das ursprüngliche Dasein erhebt, in ihm sich versammelt, während er es überragt, ihm Wirklichkeit verleiht, während er es sein lässt – was grundsätzlich jeder Bewegung künstlerischen ›Bezeichnens‹ eigen wäre.95

Man muss diesen Vorgang zugleich von der Seite betrachten, gleichsam selbst aus dem Licht treten, um nicht darauf zu verfallen, in der Kunst eine bloße Regression zu erkennen. Stattdessen beschreibt sie vielmehr eine doppelte Transgression, eine Pro- und Regression (siehe oben), bei der erst durch die Rückkehr zum Ursprung (nicht schon beim Aufbruch) jene Grenze markiert wird, deren gewonnenes Bewusstsein zugleich verhindert, schlicht im Ursprung aufzugehen. Die Progression vom Tier zum Menschen wird durch die Kunst also nicht einfach rückgängig gemacht, sondern erst durch dieses Hin und Her wird die Grenzüberschreitung selbst zu einem Spiel, nämlich dem der Kunst. Die berühmten Worte Schillers abwandelnd, die auch bei Blanchot noch durchscheinen: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er mit sich spielt, seinem Menschsein spielt, es erneut aufs Spiel setzt und doch behauptet. In diesem Sinne ist die Kunst als ihre eigene Feier wie die meisten Festivitäten zugleich schon eine Wiederholung und Wiedererinnerung, eine Wiederbegrüßungsfeier eines Rückkehrers und damit die Aufhebung eines vormaligen Abschieds. Auch Gadamer hatte dies gleichsam als den ›klassischen Festcharakter‹ der Kunst beschrieben. Zur Feier eines Abschieds jedoch, zur paramodernen Abschiedsfeier der Kunst selbst kommt es erst im Bewusstsein möglicher Endgültigkeit, eines finalen Abschieds, eingedenk dessen der Scheidende seine Verhältnisse vorsorglich ins Reine zu bringen, einen Abschluss zu finden, letztlich mit der Vergangenheit ›fertigzuwerden‹ sucht. Das macht erst die Matura eines sonst

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bloß abbrechenden Anfängertums aus, eines allzu modernen Anfängertums, das meist lieber Reißaus als ein vorgezeichnetes Ende auf sich genommen, auf sich zukommen lassen hat. Wäre also das endgültige Abschied-nehmen-Müssen das eigentliche Trauma der modernen Kunst, ihr ständiges Anfangen-Müssen dagegen der wiederholte Versuch, ihr eigenes Ende selbst herbeizuführen und gerade dadurch wieder aufzuschieben? – Eine wesentliche Einsicht des platonischen Symposions ließe sich dahingehend formulieren, dass jede Art der Reproduktion im Wiederholungszwang die Ewigkeit, wenn auch verzerrt, spiegelt; eine Ewigkeit, deren wir, was auch immer sie bedeuten mag, gerade erst durch diese Einsicht teilhaftig werden und die uns darum zugleich die nötige Ruhe gewährt, die Dinge für den Augenblick ›gut sein zu lassen‹ – wie überhaupt wahr und schön. Nähme die Moderne etwa darum kein Ende, weil sie die Kunst verlernt hätte, mit der ›Ewigkeit‹ solcher ›Klassiker‹ noch etwas anzufangen? – Öffnen wir in diesem Geiste die Wunde des Anfangs ein letztes Mal, um ihr den Dorn zu ziehen: Herbst 1828 – Als er Affen sah, die allerlei Künste machten, hatte er eine große Freude. Da er aber sah, wie sie damit wieder von vorne anfangen mußten, um neu hinzugekommene Zuschauer zu befriedigen, verlangte er mit dem Tone des Erbarmens fortgeführt zu werden. Er hätte vor Mitleid nicht mehr zusehen können, sagte er nachher, denn er habe selbst die Erfahrung, wie widerlich es sei, das, was er schon tausendmal den Neugierigen gesagt, und vorgezeigt habe, von Neuem sagen und vorzeigen zu müssen.96

Kaspar ist das leibhaftige Trauma der modernen Kunst und doch zugleich schon ihr Sokrates. Sein Leben und Sterben ist die Fabel ihrer Aporie. Wie soll es also weitergehen, ohne die alte Leier des Neuen, ohne ein solches Affentheater der Neugier? Geht es überhaupt noch weiter? – Für den Kulturpessimisten der damaligen Stunde, für Schopenhauer, war Mitleid mit allen Kreaturen im ewigen Kreislauf des Nirwanas die Kardinaltugend der sokratischen Weltweisheit bzw. Weltidiotie; umgekehrt war ihm dieser sinnlose Kreislauf jedoch jederzeit auch Anlass genug, seine Zeitgenossen wegen ihrer Ignoranz, ihres Unwissens und Stumpfsinns wie erwachsene Kinder zu schelten. – Spricht sich so etwa eine sterbliche Weisheit aus, die es leid ist, das Mitleid immer bis zur Neige auskosten zu müssen? – »Mir ist und bleibt das Leben eine Affenkomödie, in der man eben berufen ist, seine Rolle zu spielen, solange die Geduld reicht.«97 – Oder berühren sich hier Dummheit und Weisheit, Ignoranz und Idiotie am Ende erst auf eine ebenso tragische wie komische, klassisch-strenge wie romantisch-weiche Weise?

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Kehren wir an dieses Ende gelangt noch einmal zu Feuerbachs Gastmahl zurück, zum Vermächtnis dieses Romantikers des Klassischen, dann könnten wir zugleich behaupten, wir holten es nunmehr allererst ein. Das Ereignis von Feuerbachs Gastmahl des Plato erweist sich darin als ein genuin paramodernes, dass es als Kunstwerk einen Anfang setzt, der das Ende dieses Anfanges schon mitgesetzt hat, um am Ende noch über den eigenen Anfang hinauszugehen. Mit ihm wird etwas fertig – quasi sub specie aeternitatis und doch inmitten der Ruinen der Zeit. Es zeigt die Tragödie der deutschen Kunstreligion von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende, deren Schluss man einen nachträglich versöhnlichen, ein gelungenes Scheitern nennen kann. Indem Feuerbachs Gastmahl die Ansprüche und Enttäuschungen der deutschen Kunstreligion von Winckelmann bis Thomas Mann in ihren Entwicklungen und Verwicklungen vollendet vor Augen führt, gewährt es dem Betrachter die kathartische Einsicht, auch mit dem eigenen Kunstglauben fertigzuwerden – fertigzuwerden mit unauslöschlichem Gelächter … Posaunenstoß! Gewaltige Stimme.

›Der Maler Feuerbach, später K.K. Professor in Wien.‹

Feuerbach.

›Hier! Zu dienen.‹

Gott Vater

›Sag mir, du Racker, wie kommt es, daß du unter hundert guten Bildern auch vier mittelmäßige gemalt hast, du, dem ich an deiner Wiege die höchsten Gedanken in’s Maul bließ?

Feuerbach

‚Durchlaucherste Hoheit, K.K. Majestät von Gottes wollte sagen, von Wolkes Gnaden, hätten dero Höchstdieselben geruht, mir bei großer Begabung auch das nöthige Geld zu vermachen, ohne welches Historienmalerei nicht – –

Gott Vater

‚Was Schlingel, grüner Junge, daß dich ein heiliges Kreuz Donnerwetter, du wagst mir zu wiedersprechen? Hast du nicht, dreißig Jahre lang Cigaretten geraucht und zwar türkischen Handschnitt, Sultan aus der ersten Trafik, Graben numero sechzehn, welchen Luxus ich nur meinen Lieblingsengeln gestatte? Sprich Halunke.

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Feuerbach Wenn Majestät so zu fluchen geruhen, dann wird mir wieder ganz heimatlich zu Muthe.98

Abb. 22: Anselm Feuerbach, Selbstbildnis als rauchendes Ungetüm, 1868. Tusche auf Papier, 62 x 21,5 cm. Museum Geburtshaus Anselm Feuerbach, Speyer.

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Anmerkungen 1

HFB 464. Nicht mehr abgesandter Briefentwurf an Wilhelm Lübke, kurz vor dem Tod, in der Absicht, ihm die Besorgung der dritten Auflage des Vermächtnisses zu überantworten.

2

Thomas Mann: Der Tod in Venedig, in ders.: Die Erzählungen, Frankfurt a. M. 2005, S. 436—516, hier S. 513.

3

Ebd., S. 516.

4

Vgl. ebd., S. 445 f.: »Gustav Aschenbach war der Dichter all derer, die am Rande der Erschöpfung arbeiten, der Überbürdeten, schon Aufgeriebenen, sich noch Aufrechthaltenden, all dieser Moralisten der Leistung, die, schmächtig von Wuchs und spröde von Mitteln, durch Willensverzückung und kluge Verwaltung sich wenigstens eine Zeitlang die Wirkung der Größe abgewinnen. Ihrer sind viele, sie sind die Helden des Zeitalters.« — Zur Charakterisierung Feuerbachs als décadent und Dandy vgl. Mai, Anselm Feuerbach, a. a. O., S. 154 ff.

5

AFB I, 414. Brief vom 24. April 1856.

6

AFB I, 352. In demselben Brief von Anfang Juni 1855 heißt es — im Rückblick ungewollt sprechend: »Rom hat Zeit. […] Ich denke viel an Euch, und ich weiß, daß ich ohne Pariser Ausstellung imstande sein werde, mich emporzuschwingen mit Hilfe der großen Toten, die mir verwandter sind als die Lebendigen.«

7

AFB II, 448.

8

HFB 368 — Brief an Heinrich Holzmann vom 16. März 1880. — Als ob es Schicksal wäre, war neben dem Bild selbst, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, auch seinen Modellen ein trauriges Ende beschieden. Wie Feuerbach berichtet (vgl. AFB 420 — Brief vom 6. August 1878), fanden sie allesamt bei einer nächtlichen Lustfahrt den Tod, indem sie von einem »Dampfer überfahren« wurden.

9

Allgeyer I, 417.

10 Edeltraut Fröhlich: »Das erotische Element in Anselm Feuerbachs Kinderdarstellungen«, in: Die Familie Feuerbach und Speyer. Das 25-jährige Bestehen des Vereins Feuerbachhaus, hg. v. Stadtverwaltung Speyer, Speyer 1999, S. 71—117, hier S. 78 f. 11

Ein weiterer Beleg für diese Zuordnung findet sich im ersten Kinderbild Feuerbachs, das einen schlafenden Bacchusknaben vorstellt, dem zwei Putti Weintrauben stehlen (vgl. Ecker, Anselm Feuerbach, a. a. O., S. 78). Man meint in dem schlafenden Gott mutatis mutandis das schlafende Kind der rechten Bildhälfte der beiden Kinderständchen wiederzuerkennen, dem in der zweiten Fassung zudem noch Weintrauben zu Füßen gelegt sind.

12

Fröhlich, Das erotische Element, a. a. O., S. 74; Allgeyer I, 415.

13

Fröhlich, Das erotische Element, a. a. O., S. 76.

14

Ebd., S. 82.

15

Fröhlich, Das erotische Element, a. a. O., S. 83.

16

Ebd., S. 110.

17

AFB I, 182.

18

Peter Handke: Kaspar, Frankfurt a. M. 1976, S. 8.

19

Ebd., S. 68.

Anmerkungen

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20 Ebd., S. 84. 21

Vgl. Georg Friedrich Daumer: Erste Aufzeichnungen über Kaspar Hauser (1828—1830), in: ders./Anselm von Feuerbach: Kaspar Hauser. Mit einem Bericht von Johannes Mayer und einem Essay von Jeffrey M. Masson, Frankfurt a. M. 1995, S. 111—267, S. 150: »1828 — Im September und Oktober: äußerte er öfters daß er sich gar nicht mehr in seinen früheren geistigen Zustand zurückversetzen könne […]. […] Es sei ihm unbegreiflich, sagte er, wie er während seines Eingekerkertseins gar nicht an sich selbst gedacht, nicht darüber nachgedacht, ob nicht noch Wesen außer ihm oder etwas außer seinem Käfig existiere […]. — Die ganze Zeit vor dem Anfang des Lesenlernens lag nur in dämmernder, unsicherer Erinnerung vor ihm.«

22 Daumer rekonstruiert, dass sein Versorger maximal zweimal bei ihm gewesen sein könnte, um ihn zu unterrichten (vgl. ebd. S. 265). 23 Vgl. den Brief vom 20. September 1828 an Elise von der Recke: »Kaspar ist übrigens ein Mensch von den herrlichsten Naturanlagen, begabt mit der schnellsten Fassungskraft und einem bewunderungswürdigen Gedächtnisse. Seinen Durst nach Wissen, um alles das nachzuholen […], äußert er immer auf wahrhaft rührende Weise. […] Seine Fortschritte sind außerordentlich; wozu andere Monate oder Jahre brauchen, lernt er in Tagen. Gegenwärtig ist er schon so weit, daß kaum noch interessante psychologische Betrachtungen an ihm zu machen sind.« (Ludwig Feuerbach: Gesammelte Werke, Bd. 12: Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken veröffentlicht von seinem Sohne Ludwig Feuerbach, hg. v. Werner Schuffenhauer, Berlin 1976, S. 528 f.) 24 Vgl. Anselm von Feuerbach: »Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen (1832)«, in: Daumer/von Feuerbach, a. a. O., S. 7—95, hier S. 33 f., Anm. 16: »Als der Gefangenenwärter Hiltel an gedachtem Morgen zu ihm in sein Gefängniß kam, gab er ihm, um ihn zu beschäftigen oder ihm eine Freude damit zu machen, einen Bogen Papier nebst einem Bleistift. Kaspar fiel hastig über beides her […] und schrieb, ohne aufzublicken oder sich durch irgend etwas darin stören zu lassen, unablässig fort, bis der ganze Folio-Bogen auf allen seinen vier Seiten voll geschrieben war.« 25 Daumer: Erste Aufzeichnungen, a. a. O., S. 145. 26 Von Feuerbach: Beispiel eines Verbrechens, a. a. O., S. 49. 27 Ebd., S. 44. 28 Vgl. Daumer: Erste Aufzeichnungen, a. a. O., S. 134 f. u. 138. 29 Von Feuerbach: Beispiel eines Verbrechens, a. a. O., S. 64. 30 Vgl. Daumer: Erste Aufzeichnungen, a. a. O., S. 153: »1828 — Will sich viel Geld verdienen, und ein schönes Haus kaufen, niemand hinein lassen, um ganz ungehindert studieren zu können.« 31

Ebd., S. 141.

32 Von Feuerbach: Beispiel eines Verbrechens, a. a. O., S. 41 f. 33 Daumer, Erste Aufzeichnungen, a. a. O., S. 191: »Er sieht im Dämmerlicht besser als in der Helle.« Vgl. von Feuerbach: Beispiel eines Verbrechens, a. a. O., S. 95. — Dass es sich hierbei tatsächlich um eine recht philosophische Weltverlorenheit handelt, geht auch aus einer Bemerkung des bereits erwähnten Briefs von Anselm von Feuerbach an Elise von der Recke hervor: »Überhaupt ist es merkwürdig, daß ihn nicht sowohl die Gegenstände des Lernens interessieren als das Lernen selbst, das seine einzige Leidenschaft ist.« (Ludwig Feuerbach, Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken, a. a. O., S. 529) Bezeichnend in diesem platonischen Kontext scheint zudem die direkt erotische

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Komponente seines kurzen Lebens, die sich etwa darin zeigte, dass er aus seinem sexuellen Unverstand heraus — darin einem kleinen Jungen vergleichbar — keinen Nutzen an den »Frauenzimmern« erkannte und auch in Fragen der Schönheit dem männlichen Körper den Vorzug gab: »Was soll ich mit einer Frau tun […], die kann mir ja nichts lehren.« (vgl. ebd., S. 159) — Was ihn dagegen sein heuchlerischer Gönner Philip Henry, 4. Lord Stanehope, zu lehren beabsichtigte, ist einem bösen Gerücht zufolge eine andere Form der Platonnachfolge (vgl. Jeffrey  M. Masson: »Kaspar Hauser will nicht sterben«, in: Daumer/von Feuerbach: Kaspar Hauser, a. a. O., S. 343—377, hier S. 348). 34 Daumer: Erste Aufzeichnungen, a. a. O., S. 122: »Noch 14 Tage früher als er zu mir kam, erzählte er, wünschte er in seinen Käfig zurückzukehren, weil er glaubte, dort würden alle seine Schmerzen aufhören.« 35 Zu der Person dieses von Stanhope ausgewählten Beschützers aus Ansbach und zu den Leiden in dessen Haus vor sowie nach dem Mordanschlag siehe Masson: Kaspar Hauser, a. a. O., S. 348 ff. 36 Vgl. Kupper, Feuerbachs Vermächtnis, a. a. O., S. 25. Nachdem er die psychischen Leiden seines Vaters geschildert hat, fährt Feuerbach fort: »Meine ältere Schwester & ich wurden dann nach Ansbach zu einer Schwester meiner Mutter gebracht […]. Vier Erinnerungen habe ich aus dieser frühesten Jugendzeit. Eines Tages hieß es ›Kaspar Hauser, der meine Schwester oft auf seinen Armen getragen, sei ermordet.‹ Als ich meine Schwester weinen sah, heulte auch ich, ohne auch nur eine Ahnung zu haben, warum.« 37 Allgeyer I, 34, FN 1. 38 Henriette Feuerbach, Ein Vermächtnis, a. a. O., S. 70 u. 97. — Die Passagen zählen zu jenen, die wahrscheinlich aus der Feder Henriette Feuerbachs geflossen sind. Ob sie damit unecht sind, ist leider aufgrund der vielen von Henriette verbrannten Quellen nicht eindeutig zu sagen. Auch haben wir natürlich keine Ahnung, was im mündlichen Austausch zur Sprache kam. 39 Vgl. Rudolf Leppien: »Anselm Feuerbach aus ärztlicher Sicht. Ein Psychogramm«, in: Anselm Feuerbach. Gemälde und Zeichnungen, Ausstellungskatalog, a. a. O., S. 42—50, hier S. 44. 40 Emmy Voigtländer: Anselm Feuerbach. Versuch einer Stilanalyse, Leipzig 1912, S. 24 ff. 41

Vgl. Theissing, Die Ewigkeit der Kunst, a. a. O., S. 72 ff.

42 AFB I, 382 f. — Beachtenswert auch die Stelle bei Allgeyer II, 48 f.: »Gewiß ist, daß die stille Welt Venedigs und seiner Kunst, als Feuerbach sich plötzlich dahin versetzt sah, ihn gleichsam mit einer Stimmung wie feierliche Tempelruhe erfüllte, die ihm alle moderne Kunst, seine eigene mit eingeschlossen, als das Produkt einer nervös-aufgeregten Tätigkeit erscheinen ließ. […] Ruhe dünkte ihm das Geheimnis der italienischen Kunst zu sein. Aber diese Ruhe müsse eine Errungenschaft, sie dürfe nicht Gabe der Natur sein, und er nennt, was seiner eigenen Kunst innewohne: die ruhende Leidenschaft.« 43 Treffend und dadurch fast vernichtend ist die postalische Mitteilung der Stiefmutter vom 20. Oktober 1869 gegenüber einem Dritten, nachdem die erste Fassung des Gastmahls verkauft wurde: »Nun fürchte ich, daß er den Gipfel der Kunst auf Kosten des Glückes seines Lebens erreichen wird — der Mensch in ihm ist nicht groß genug für den Künstler.« (HFB 274) — Regelrecht sarkastisch in einem Brief vom 23. Februar an Rosa Gerold: »Einen kindlicheren 40jährigen Menschen giebt es auf der Welt nicht mehr. Vor drei Wochen hatte er Lust sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen und jezt besinnt er sich wie er seine künftigen Gelder anlegen will, von denen Niemand etwas weiß, und

Anmerkungen

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macht den Plan zu seinem Haus.« (Siehe Kupper, Feuerbachs Vermächtnis, a. a. O., S. 225) — Ergänzt man, dass nach Feuerbachs Wünschen Henriette die Hausdame hätte sein sollen, sieht man sich auf das getreulichste an Kaspar Hausers Wunschvorstellungen erinnert. 44 Nietzsche, KSA 5, 259: »[D]as Urtheil ›gut‹ rührt nicht von Denen her, welchen ›Güte‹ erwiesen wird! Vielmehr sind es die ›Guten‹ selber gewesen, dass heißt die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem Pathos der Distanz heraus haben sie sich das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen: was gieng sie die Nützlichkeit an!« 45 So ist manchen Selbstaussagen und Berichten anderer zu entnehmen, dass Feuerbach bisweilen sehr umgänglich, ja humorvoll sein konnte — trotz oder gerade wegen seiner gesuchten Einsamkeit? Vgl. Theissing, Die Ewigkeit der Kunst, a. a. O. S. 77. 46 Nietzsche, KSA 13, 131 f. 47 Vgl. Kupper, Feuerbachs Vermächtnis, a. a. O., S. 75: »Styl ist richtiges Weglassen des Unwesentlichen, der sogenannte Realist bleibt immer im Detail stecken.« 48 Vgl. auch Heinrich Theissing, Die Ewigkeit der Kunst, a. a. O., S. 71: »Das geschichtliche Denken mit seinem bewußten Willenspathos verhindert die Selbstauslieferung an jene Unmittelbarkeit, zu der im 19. Jahrhundert die Besinnung auf die Wachstumskräfte der unbewußt schaffenden Natur die zukunftsweisenden Künstler führen sollte. Daher kommt es, daß Feuerbachs Bilder, vom Willen zur Meisterschaft konzipiert, häufig jener unbegrenzten Variabilität entbehren, deren ein Kunstwerk zu überpersönlicher und überzeitlicher Wirkung bedarf. Immer wieder zeigen sie sich von einer Künstlichkeit bedroht, die auf der bedingungslosen Einfriedung des Kunstwollens in ein ideales Reich der Kunst basiert.« — Zur »unbegrenzten Variabilität« und ihrer »überpersönliche[n] und überzeitliche[n] Wirkung« siehe die folgende Auseinandersetzung mit Gadamers Begriff des Klassischen (Kap. 5.4). 49 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, S. 291. 50 Vgl. auch seinen bündigen Aufsatz: »Die Schönheit des Klassischen« (in: ders: Gedanken, a. a. O., S. 28—48), der folgende Charakteristika herausstellt (ebd., S. 28): »1. Der plastische Geist. 2. Geschlossene Form und Maß. 3. Das Große und Einfache. 4. Klarheit. 5. Idealität und Natur.« 51

Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 292.

52 Ebd., S. 293. 53

Vgl. auch Hans-Georg Gadamer: Die Aktualität des Schönen, Stuttgart 1977, S. 12: »Was darin zum Ausdruck kommt, ist der Zwiespalt zwischen Kunst als Bildungsreligion auf der einen Seite und Kunst als Provokation durch den modernen Künstler auf der anderen Seite.«

54 Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 294. 55 Ebd., S. 295. 56 Ebd., S. 126 f. 57 Siehe hierzu Hans Sedlmayr: Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte, Kap. VI: Das Problem der Zeit, Hamburg 1958, S. 140 ff. 58 Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 109.

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5 Forever young

59 Ebd., S.  111. — Das Zitat Schlegels findet sich in der kritischen Schlegelausgabe von Ernst Behler 1. Abt., 2. Bd., S. 284—351, S. 324. 60 Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 127 f. — Vgl. unsere Ausführungen in Kap. 1.4. 61

Ebd., S. 129 f.

62 Siehe Theissing, Die Ewigkeit der Kunst, a. a. O., S. 78, der sich zwar auf die Poesie Feuerbachs bezieht, im Grunde aber durch diese Worte kein anderes Ereignis treffender charakterisieren könnte als die Ankunft des Dionysos im Gastmahl. Das deckt sich auch mit den späteren Ausführungen zu eben diesem (vgl. ebd. S. 90 ff.) 63 Vgl. Gadamer: Die Aktualität des Schönen, a. a. O., S. 69 f.: »Die Zeit, die jemand jung oder alt sein lässt, ist nicht die Uhrzeit. Es ist offenkundig eine Diskontinuität darin. Plötzlich ist jemand alt geworden, oder plötzlich sieht man an jemandem: ›das ist kein Kind mehr‹; wessen man da gewahr wird, ist seine Zeit, die Eigenzeit. Das scheint mir nun auch für das Fest charakteristisch, dass es durch seine eigene Festlichkeit Zeit vorgibt und damit Zeit anhält und zum Verweilen bringt — das ist das Feiern. […] Der Übergang von solchen Zeiterfahrungen des gelebten Lebens zum Kunstwerk ist einfach. […] Insofern ist ein Kunstwerk in der Tat ähnlich wie ein lebendiger Organismus: eine in sich strukturierte Einheit. Das aber heißt: es hat auch seine Eigenzeit.« 64 Gadamer, Wahrheit und Methode, a. a. O., S. 132. 65 Theissing, Die Ewigkeit der Kunst, a. a. O., S. 92 f. 66 Botho Strauß: Paare, Passanten, München 1981, S. 111. 67 Siehe Günter Metken: »Nord—Süd: Monolog oder Gespräch? Vom Nachleben der Deutsch-Römer«, in: Heilmann (Hg.): »In uns selbst liegt Italien« a. a. O., S. 157— 164, hier S. 163 f. 68 Vgl. etwa Julius Meyer-Graefe: Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst. Nach der dritten Auflage neu hg. v. Benno Reifenberg u. Annemarie Meier-Graefe-Broch, Bd. II, München 1966, S. 378: »Wenn man die Museen Deutschlands für moderne Kunst mit dem gewohnten schnellen Tempo durchläuft, kann es geschehen, daß man wie angewurzelt vor einem Feuerbach stehenbleibt. Neben all der sentimentalen Zaghaftigkeit, neben dem Bombast von falscher Historie und mißverstandenem Klassizismus, neben der hausbackenen Nüchternheit der Älteren und der flauen Genügsamkeit der Neueren wirkt so ein Bild wie die Gebärde eines Königs in der Verbannung.« — Dass Meier-Graefe dennoch zu dem abschließenden Urteil kommt (ebd., S. 387): »Feuerbach dachte zuwenig«, dürfte der Vorliebe des Autors für Hans von Marées geschuldet sein, an dessen Zerdenken seines Schaffens gemessen letztlich alle nur wie bloße Praktiker erscheinen können. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 113. 71

AFB II, 385 — Brief an die Mutter vom 5. März 1877 aus Bologna.

72 Platon, Symposion 223d; S. 154. 73 Vgl. Jochen K. Schütze: Goethe-Reisen, Wien 1998, S. 88, der Goethes wirkungsmächtiges Venedigbild aus der Italienischen Reise auf den Punkt bringt. 74 AFB II, 443. 75 So könnte man etwa die Nebenbemerkung aus einem Brief vom 8. März 1877 an Henriette missverstehen: »Durch die elenden kleinen deutschen Verhältnisse ist mein Geist wie eingeschnürt, und ich habe allen Glauben und Größe verloren.« (AFB II, 385)

Anmerkungen

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76 AFB II, 386. 77 AFB II, 395. 78 AFB II, 442. 79 AFB II, 440. — Geburtstagbrief an die Mutter vom 13. August 1879 aus Venedig. 80 Vgl. auch Wolfgang Ullrich, Tiefer hängen, a. a. O., S. 14: »Unversehens avancierte die Kunst — statt des Adels — zur singulären Autorität, weshalb sie mit ähnlichen strengen Regeln und Ritualen umgeben wurde, wie sie in der höfischen Welt üblich waren.« Auch ders., An die Kunst glauben, a. a. O., S. 38 f. 81

Vgl. Feuerbachs stolze Schilderung seiner Thronbesteigung in Nürnberg anno 1848 (AFB I, 167).

82 David Joselit: After Art, Princeton 2013, S. 88 f. 83 Wollte man sich an Hegels Dreifaltigkeit des absoluten Geistes halten, so wäre etwa für die Frage der Aufhebung der Kunst in der Religion ein Performancekult zu nennen, der am deutlichsten bei Hermann Nitsch, bereits zu einer modernen Religion geworden ist (im Sinne des religionswissenschaftlichen Begriffs der Spiritualität). Dass sich diese Kultform immer noch als Kunst verkauft, hat einerseits tatsächlich mit dem Verkaufen zu tun, andererseits mit dem kunstreligiösen Erbe des Ausstellungs- und Museumsbetriebs. Das will nun nicht heißen, dass Nitsch nicht ernst zu nehmen wäre, im Gegenteil; lediglich nur weniger als Künstler denn als Priester. Entsprechend meint man bei seinen Mysterien und Orgien eines letztlich missen zu können, ohne der Sache dadurch zu schaden: das interesselose Wohlgefallen des sogenannten Kunstpublikums. Ähnlich verhält es sich mit der Aufhebung der Kunst in der Philosophie, wovon die anhaltende Debatte der Conceptual Art den Beweis führt, indem sie weder zur Kunst noch zur Philosophie taugt. Nicht anders auf anderen Feldern, die in den meisten Fällen weniger von der Kunst befreit, subvertiert oder durchdrungen als dekoriert, gentrifiziert oder missverstanden werden. 84 Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2002, S. 231. 85 Vgl. Silvia Henke/Dieter Mersch/Nicolaj van der Meulen/Thomas Strässle/Jörg Wiesel: Manifest der Künstlerischen Forschung. Eine Verteidigung gegen ihre Verfechter, Zürich 2020, S. 52: »Kunst fängt daher mit jeder Arbeit beständig wieder neu an. Sie hat sozusagen keinen festgelegten Anfang, sondern verschiebt vielmehr mit jedem Anfangen ihre eigene Situierung, ihre Position und ihren Ausgangspunkt und konstelliert auf diese Weise ihr Feld neu. In jedem Moment steht sie auf dem Spiel: sowohl in dem, was sie ist, als auch in dem, wie sie ist.« — Warum nicht einmal damit anfangen, am Produktionsprinzip »Selbstzweifel« (ebd.) selbst zu zweifeln, um mit der ästhetischen Reflexion an ein Ende zu kommen, das nicht nur mit sich selbst spielt? 86 Vgl. Hans-Georg Gadamer: »Ende der Kunst?«, in: ders.: Das Erbe Europas. Beiträge, Frankfurt a. M. 1989, S. 63—86, insbesondere S. 75 f.: »Um es an einigen großen Künstlern des 19. Jahrhunderts zu illustrieren: da können selbst klassische Themen eine neue Realisierung erfahren, wie wir das heute nicht so sehr bei den Nazarenern als etwa bei Feuerbach oder bei Marées bewundern mögen. Umgekehrt konnte etwa ein neuer Farbenzauber dem Bahnhofsmotiv abgewonnen werden. So wird das entfremdete Klassische oder das befremdende Moderne in neue Einheit eingeholt — und das wird freilich eine Aufgabe, nicht nur für den Schaffenden, sondern auch für den Aufnehmenden.« 87 Vgl. Boris Groys: »Comrades of Time«, in: Julieta Aranda/Brian Kuan Wood/Anton Vi-

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dokle (Hg.): What is Contemporary Art?, Berlin 2010, S. 23—39 oder Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013, S. 17: »Historisch wandelbare Erfahrungen erschließen die Werke auch in ihrem Innovationspotential immer wieder neu, und umgekehrt lässt das Ausbleiben solcher Erschließungen die Werke in Bedeutungslosigkeit versinken. Daran zeigt sich übrigens auch, dass Zeitgenossenschaft nicht irgendeine Zusatzqualität ist, die Kunstwerke haben können oder auch nicht, sondern dass sie für ihren Begriff wesentlich ist. Alle bedeutende Kunst, alle Kunst im emphatischen Sinne, ist zeitgenössisch. Sie hat Bedeutung für die Gegenwart.« — Wobei noch zu ergänzen wäre, dass die »Bedeutungslosigkeit« der Werke nicht selten unsere eigene ist. 88 Dagegen Rebentisch, die den gebrochenen Fortschrittsbegriff der Post-Avantgarden retten will (Theorien der Gegenwartskunst, a. a. O., S. 14): »Wenn es richtig ist, dass sich der Begriff der Gegenwartskunst programmatisch von dem der Moderne absetzt, und zwar in einer Weise, die die modernen Fortschrittsideen mit betrifft, so haben wir es tatsächlich mit einer signifikanten Reihe zu tun. Statt aber aus diesem Zusammenhang — wie die Vertreter der Posthistoire-These — kurzerhand zu folgern, dass die Gegenwartskunst für die Krise des Fortschritts überhaupt steht und also der Begriff des Fortschritts im Blick auf die Gegenwartskunst selber gar keinen Sinn mehr ergibt, sollte man […] die künstlerische Kritik moderner Fortschritts- und Geschichtsmodelle selbst als Fortschritt werten.« — Das klingt letztlich wie ein Reentry, das lediglich den ›Fortschritt‹ einer funktionalen Ausdifferenzierung von autopoietischen Systemen (wie dem Kunstsystem) bezeugt, mithin einen Fortschritt, den man mit Luhmann selbst wohl nur als Kontingenz-Coping ausweisen könnte — weiterhin gefangen im Sog wachsender Entropie. Oder eben als ein im Kern ungebrochener Modernismus, dessen Kritik am Fortschrittsglauben diesem letztlich äußerlich bleibt. 89 Mersch, Ereignis und Aura, a. a. O., S. 169. 90 Vgl. Armen Avanessian/Suhail Malik: Der Zeitkomplex. Postcontemporary, Berlin 2016. 91 Vgl. Martin Heidegger: Über den Anfang, hg. v. Paola-Ludovika Coriando, Frankfurt a. M. 2005, S. 12: »Der Anfang bestimmt sein Wesen nicht aus dem Fortgang, sondern der Fortgang ist eine Möglichkeit des Anfangs. Vom Fortgang aus erscheint der Anfang leicht im Schein des bloßen ›Beginns‹. […] Der Anfang ist je als Anfang. Die Einzigkeit zerklüftet sich in Anfänge und erreicht so allein das Einfache der Anfängnis.« 92 Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst, a. a. O., S. 11. 93 Maurice Blanchot: »Die Geburt der Kunst«, in: ders.: Die Freundschaft. Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg, Berlin 2011, S. 9—21, hier S. 20. 94 Ebd. 95 Ebd., S. 12 f. 96 Daumer, Erste Aufzeichnungen, a. a. O., S. 173 f. 97 AFB II, 44. — Brief vom 12. August 1861 an Henriette. 98 Kupper, Feuerbachs Vermächtnis, a. a. O., S. 179 f.

Anmerkungen

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Abbildungsverzeichnis Abb. 1:

Abb. 2:

Abb. 3:

Abb. 4:

Abb. 5:

Abb. 6:

Abb. 7:

Abb. 8:

Abb. 9:

Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869: Öl auf Leinwand, 295 x 598 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe – Foto: © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Jakob Wilhelm Roux, Amalie Feuerbach auf dem Totenbett, 1830: Bleistift und Kreide auf Papier, 39 x 50 cm, Museum Geburtshaus Anselm Feuerbach, Speyer – Foto: © Museum Geburtshaus Anselm Feuerbach/G. Kayser. Anselm Feuerbach, Leichenzug eines Hofnarren, 1877: Aquarell auf Papier, 51 x 69 cm, Historisches Museum der Pfalz, Speyer – Foto: © Historisches Museum der Pfalz, Speyer/Peter Haag-Kirchner. Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach, undatiert: Lithografie nach dem Gemälde von Johann Lorenz Kreul, gedruckt von Selb, Stadtarchiv Ansbach – Foto: © Stadtarchiv Ansbach. Anonym, Apollo von Belvedere, 1855: Stich der zweiten Auflage von Anselm Feuerbach: Der Vaticanische Apollo. Eine Reihe archäologisch-ästhetischer Betrachtungen, Stuttgart/Augsburg 1855 – Foto: © Florian Arnold. J. L. Raab, Anselm Feuerbach, 1853: Stich aus Anselm Feuerbach’s Leben, Briefe und Gedichte, hg. v. Henriette Feuerbach, Braunschweig 1853. Nach dem Gemälde von Anselm Feuerbach: Bildnis des Vaters, 1846: Öl auf Leinwand, 75 x 58 cm, Privatbesitz – Foto: © Florian Arnold. Anselm Feuerbach, Das Gastmahl (nach Plato), zweite Fassung, 1873/74, Öl auf Leinwand, 400 x 750 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie – Foto: © bpk/Nationalgalerie, SMB/Klaus Göken. Ausschnitt (Agathon) von Abb. 1: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe – Foto: © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Anselm Feuerbach: Iphigenie, zweite Fassung, 1871: Öl auf Leinwand, 192,5 x 126,5 cm, Staatsgalerie Stuttgart – Foto: © Staatsgalerie Stuttgart.

Abbildungsverzeichnis

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Abb. 10:

Abb. 11: Abb. 12:

Abb. 13:

Abb. 14:

Abb. 15:

Abb. 16:

Abb. 17:

Abb. 18:

Abb. 19:

Abb. 20:

Abb. 21:

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Ausschnitt (Sokrates) von Abb. 1: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe – Foto: © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. A. Neumann: Ludwig Feuerbach, 1875: Holzstich, 17,5 x 16 cm, Privatbesitz – Foto: © Florian Arnold. Ausschnitt (Alkibiades) von Abb. 1: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe – Foto: © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Anselm Feuerbach: Bildnis der Nanna Risi, 1861: Öl auf Leinwand, 74,5 x 62 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe – Foto: © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. GA 155. Anselm Feuerbach: Henriette Feuerbach, Mutter des Künstlers, 1867: Öl auf Leinwand, 106 x 82,5 cm, Kurpfälzisches Museum Heidelberg – Foto: © Kurpfälzisches Museum Heidelberg/K. Gattner. Ausschnitt (Eroshaupt) von Abb. 1: Anselm Feuerbach, Das Gastmahl des Plato, erste Fassung, 1869, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe – Foto: © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe. Anselm Feuerbach: Ruhende Nymphe, 1870: Öl auf Leinwand, 112 x 190 cm, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg – Foto: © Germanisches Nationalmuseum Nürnberg/Monika Runge. Anselm Feuerbach: Melancholie/Kopfstudie zur Medea, 1871: Kreide auf Papier, 53 x 43 cm, Hamburger Kunsthalle. – Foto: © bpk/Hamburger Kunsthalle/Christoph Irrgang. Anselm Feuerbach, Kinderständchen, zweite Fassung, 1860: Öl auf Leinwand, 116 x 231 cm, Landesmuseum Hannover – Foto: © Landesmuseum Hannover – Artothek. Anselm Feuerbach: Balgende Buben, 1869: Öl auf Leinwand, 117 x 231 cm, Kunstmuseum St. Gallen – Foto: © Kunstmuseum St. Gallen/Sebastian Stadler, 2016. Johann Michael Volz: Caspar Hauser III, undatiert: kolorierter Stich auf Papier, Privatsammlung – Foto: © Theo Noll/www.nuernberg.museum. Anselm Feuerbach: Die Musikalische Poesie, 1856: Öl auf Leinwand, 265 x 143 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe – Foto: © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 22:

Anselm Feuerbach: Selbstbildnis als rauchendes Ungetüm, 1868: Tusche auf Papier, 62 x 21,5 cm, Museum Geburtshaus Anselm Feuerbach, Speyer – Foto: © Museum Geburtshaus Anselm Feuerbach, Speyer/G. Kayser.

Abbildungsverzeichnis

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