Recht auf Asyl: Studien zu einem mißdeuteten Grundrecht [1 ed.] 9783428458981, 9783428058983


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Recht auf Asyl: Studien zu einem mißdeuteten Grundrecht [1 ed.]
 9783428458981, 9783428058983

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Helmut Quarit.ch . Recht auf Asyl

Recht auf Asyl Studien zu einem mißdeuteten Grundrecht

Von

Dr. Helmut Quaritsch o. Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Ministerialdirektor a. D.

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Quaritsch, Helmut: Recht auf Asyl: Studien zu e. missdeuteten Grundrecht / von Helmut Quaritsch. - Berlin: Duncker und Humblot, 1985. ISBN 3-428-05898-4

Alle Rechte vorbehalten & HumbJot GmbH, Berlin 41 Gedruckt 1985 bel Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlln 61 Prlnted In Germany

IC 1985 Duncker

ISBN 3-428-06898-4

Vorwort Die bundes republikanische Form der Asylgewährung ist in der Weltgeschichte des Rechts ohne Vorbild. Verbunden mit dem ebenfalls beispiellosen Rechtsschutz des Grundgesetzes sind Parlament und Regierung politisch handlungsunfähig in einem Bereich, den wegen seiner innen- und außenpolitischen Empfindlichkeit jeder Staat dem Zugriff der politischen Führung offenhält. Die politischen Kosten dieses deutschen Sonderweges sind ebenso bewußt zu machen wie die aus ihm notwendig folgende politische Verantwortung der Gerichte, die in Asylsachen das letzte Wort haben. Der Parlamentarische Rat schuf das Asylgrundrecht für eine provisorische Verfassung und zu einer Zeit, in der die Bundesrepublik nur als Auswanderungsland vorstellbar war. Die Gerichte entwickelten ihre Auslegungsformeln in jenen Jahren, in denen die osteuropäischen Asylbewerber im breiten Strom der Gastarbeiter kaum bemerkt wurden. Als 1973 der Anwerbestopp das Asylgrundrecht in ein neues Umfeld stellte, wurden die alten Formeln nicht überprüft, vielmehr definitorisch ausgeweitet. Allein im Bereich der Staatsschutzdelikte gelang es, auf die neuen Wirklichkeiten zu reagieren, die seit dem Ende der 60er Jahre die Staatenwelt erschüttern. Die hier vorgelegten Studien sollen nicht das Asylgrundrecht neu kommentieren. Beabsichtigt ist, an die Eigenarten des Asylrechts in der Bundesrepublik und an die politischen Rahmenbedingungen zu erinnern, innerhalb derer hierzulande Asyl und Asylgewährung öffentlich erörtert werden. Dazu gehören auch die Versuche, neue Tatbestände politischer Verfolgung zu entdecken. Anhand einiger aktueller Fragen sind Holzwege aufzuzeigen, auf die eine begriffsjuristisch argumentierende Rechtsprechung geraten ist und die dem Bundestag jetzt auch für das Auslieferungsrecht angesonnen werden. Die professionelle Staatsrechtslehre hat - mit seltenen Ausnahmen - die Gerichte mit der Auslegung des Art. 16 11 2 GG allein gelassen. Angesichts der rechtlich und politisch verfahrenen Lage ist solche Enthaltsamkeit nicht mehr angebracht. Speyer, im Mai 1985

H.Qu.

Inhalt 1. Die grundgesetzliche Asylrechtsgarantie -

ein deutscher Sonderweg 13

Asyl im Grundgesetz und in ausländischen Verfassungen - das Asylgrundrecht als unvermeidbare Aufhebung der fremdenrechtlichen Zugangskontrolle - die mögliche Beeinträchtigung zwischenstaatlicher Beziehungen (der Fall Argoud) - die Ablehnung des individuellen Asylanspruchs in der allgemeinen Staatspraxis - die Besonderheiten des bundesrepublikanischen Grundrechtsschutzes und der Verlust der politischen Handlungsfreiheit von Parlament und Regierung - ein Vergleich zu Frankreich (ETA), Niederlande ("Aramäer"), Schweden (Libanesen) der übergang der politischen Verantwortung auf die Verwaltungsgerichte 2. Zur Entstehung des Asyl-Grundrechts ..............................

28

Das Bild des politisch Verfolgten im Parlamentarischen Rat und der Erfahrungshorizont der Abgeordneten - Asyl nicht Ausformung des Menschenwürdeschutzes, sondern primär ein durch Völkerrecht begrenztes Privileg politischer Aktivisten - "Generosität" durch Verzicht auf politische Selektion ("absolutes" Asylrecht) - keine Voraussicht der Folgen des Art. 19 IV GG - die Gegenwart für den Parlamentarischen Rat: deutsche Vertriebene und Flüchtlinge, Heimatlose Ausländer und Besatzungshoheit (der Breda-Fall) 3. Asylrechtspraxis bis 1973 ............................................

38

Die Inanspruchnahme durch Ostblockflüchtlinge - das Asylgrundrecht als Ersatz für die fehlende Gastarbeitervereinbarung (Jugoslawien) Asylbewerber im Gastarbeiterstrom 41

4. Krise und Neuordnung des Asylverfahrens

Die Umgehung des Anwerbestopps: durch Verfolgungsbehauptung und Rechtsschutzgewähr (Art. 16 II 2, 19 IV GG) ein Jedermann-Recht auf sechsjährigen Aufenthalt - staatliche Reaktion: statt Änderung des Asylgrundrechts Änderung des Verfahrens - quantitative Abschwünge seit 1981 und Aufschwünge seit 1984/85 - Asylberechtigte, Asylbewerber, De facto-Flüchtlinge und Kontingent-Flüchtlinge in der Bundesrepublik

5. Politische Rahmenbedingungen der Asylrechtsdiskussion

............

Interessengruppen und ihre juristischen und kirchlichen Fürsprecher einäugige Information und Agitation eines rechtsfeindlichen Humanitarismus (der Fall Alviola) - Asylbewerber im politischen Langzeit-Kalküldas Problem der Integrationsfähigkeit

48

8

Inhalt

6. Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung

57

6.1 Das Verständnis im Parlamentarischen Rat. . .. .. . . ... .. .. .. . . .. . ..

57

Politische Täter (Staatsschutz) und Gruppenverfolgte durch § 28 AuslG 1965

Konkretisierung 59

6.2 Die Neubestimmung des Begriffs nach 20 Jahren

Politischer Terrorismus und Änderungen des Auslieferungsrechts - Einengung des Verfolgtenbegriffs durch die Rechtsprechung - über Wert und Unwert der Entstehungsgeschichte des Asylgrundrechts ......... . 6.3 Exkurs: Zwei Irrtümer des Parlamentarischen Rats ................

Zurückweisung an der Grenze -

64

"Polizeiaufsicht" über Asylberechtigte

7. Neue Asyltatbestände? ..............................................

67

7.1 Die Verbindung des Asyls mit dem Schutz der Menschenwürde.. . ...

67

Das Verhältnis des Asylgrundrechts zum Menschenwürdeschutz Formel "Voraussetzungen und Umfang"

die

7.2 Asyl für Wehrdienstverweigerer und Kriminelle?

70

Wehrdienstverweigerung als Ausprägung des Menschenwürdeschutzes und ihre Bestrafung eine politische Verfolgung? - Folter als Verletzung der Menschenwürde - Folter als Politikum - die gewöhnliche Straftat als Asylbedingung - Folter als Indiz für politische Verfolgung 7.3 Die Menschenwürde als Kriterium der Verfolgung. . . . . . . . . . . . . . . . ..

Schikane oder Verfolgung -

76

Rechtsprechung zur "Folter als Asylgrund"

7.4 Die UN-Folterkonvention ..........................................

79

Kein neuer Asyltatbestand, aber Zurückweisungs- und Auslieferungsverbot - Folterdefinition und islamische Leibesstrafen - Auslieferungspraxis in der Bundesrepublik - Widerspruch von Fortschrittsglaube und westlichen Humanitätspostulaten zu den Menschenrechtsverständnissen in Moskau und Teheran - Verbot humanitärer Intervention, aber Gebot humanitärer Ausfallbürgschaft - Nachteile der Konvention für die Bundesrepublik 88

7.5 Asyl für die verfolgte Frau?

Die Geschichte einer Interpretationsempfehlung des Europäischen Parlaments - Beschneidung, Homosexualität und Ehebruchsstrafen - Frauen als Kollekti v -Verfolgte 7.6 Zwischenbilanz ....................................................

Entprivilegierung des "politischen Straftäters" zung und "politische" Verfolgung

Menschenrechtsverlet-

91

Inhalt

9

8. Die Verfolgung

93

8.1 Der staatliche und der nichtstaatliche Verfolger. . .... . .. . .. . .. .. . ..

93

Der ernste und sonst ausweglose Notfall als Asylbedingung - Krieg und Hungersnot als "politische Verfolgung"? - der eigene Staat als notwendiger Träger der Verfolgung - Gleichstellung von Militärorganisationen (EI Fatah) bei Situationsgleichheit für den Flüchtling - Bestrafung von Fahnenflucht als politische Verfolgung? - der Unterschied zwischen staatlichem Schutzwillen und staatlicher Schutzfähigkeit: Ahmadi-Pogrom, Sikh-Pogrom, Türkischer Bürgerkrieg - Militärdiktatur als notwendige Demonstration staatlichen Schutzwillens? - Verfolgung, Staatsschutz oder Bürgerkrieg: der Fall Sri Lanka 8.2 Die Verfolgungsprognose .......................................... 107

Erste Fortsetzung des Falles Sri Lanka: das Problem der PogromPrognosen - die Bundesrepublik als allgemeine Minderheiten-Zuflucht? 8.3 Die Verfolgung von Staatsschutzdelikten als "politische Verfolgung" 109

Die Maßgeblichkeit der Verfolgungsmotive - strafrechtliche Unterdrückung von Minderheiten - zweite Fortsetzung des Falles Sri Lanka 8.4 Dauer und Ende der Verfolgung . ................................... 119

Entwicklung von Rechtsprechung und Gesetzgebung zum "anderweitigen Schutz" des Verfolgten: Folgen einer falschen Fragestellung - über die Formel "Recht auf freie Wahl des Zufluchtstaates" - Begriff des "Schutzes" und seines "Kerngehalts" - wohltätige Gerichtsentscheidungen und ihre Konsequenzen in der Praxis von Asylanwälten - Ende der Verfolgung für den "heimlichen Flüchtling" - der "nicht nur vorübergehende" Aufenthalt - Schutz im "Durchgangsland" (der Fall Pakistan) - Asyltouristik 8.5 Die Nachflucht

139

Seitenwechsel, Republikflucht, Mitgliedschaft in Emigrantengruppen, Asylantrag - Entwicklung der Rechtsprechung - historische Ausgangslage der Flüchtlingskonvention - der Sinn der "Generosität" des Parlamentarischen Rates: Caritas urbi et orbi? - anzuerkennende Nachfluchtgründe 9. Auslieferung und Asyl

152

9.1 Der Fall Altun .................................................... 152

Emigration oder Flucht eines Zwanzigjährigen - Auslieferungshaft nach türkischem Interpol-Antrag - Entscheidungen im Auslieferungsverfahren: Kammergericht, Bundesverfassungsgericht, Europäische Menschenrechtskommission - Entscheidungen im Asylverfahren: Bundesamt, Verwaltungsgericht Berlin - die Mobilisierung relevanter Öffentlichkeit und das Medien-Echo - politische Begleitmusik oder Instrumentierung eines Auslieferungsfalles für andere Zwecke - Auswärtiges Amt, Justiz- und Innenministerium auf der Suche nach der richtigen Fallbeendigung die politische Verwertung eines Selbstmordes

10

Inhalt

9.2 Ausliejerungs- und Anerkennungsverjahren im Vergleich

159

Eigenart der verschiedenen Rechtsansprüche und die Folgen für die Ausgestaltung der Verfahren - Zahl der jährlichen Auslieferungsanträge und der Gerichtsverfahren - die Bewilligungsrate bei türkischen und jugoslawischen Auslieferungsersuchen - der Schnittpunkt von Auslieferungs- und Asylverfahren 9.3 Die Bindungsregelung im geltenden Ausliejerungsrecht

163

Tatbestands- und Feststellungswirkung gegen Entscheidungsdivergenz und Rechtsunsicherheit - die Allgemeinverbindlichkeit anerkennender und ablehnender Entscheidungen des Bundesamts 9.4 Der Vorschlag der "Grünen": Bindung und Aussetzung

166

Maximierung des Asylrechtsschutzes - Verzögerung des Auslieferungsverfahrens ohne Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit der Auslieferungshaft 9.5 Der Vorschlag der SPD-Fraktion: Beschleunigung des Asylverjahrens und Bindung des Oberlandesgerichts .............................. 169

"Vorrangverfahren" in der überlasteten Verwaltungsgerichtsbarkeit Begrenzung der Auslieferungshaft - Nichtberücksichtigung anderer Rechtsbehelfe - Vereitelung des Auslieferungsanspruchs durch Rechtsmittel, Rechtsbehelfe und Verfahrensanträge 9.6 Der Vorrang des Ausliejerungsverjahrens

174

9.6.1 Der andere Lebenssachverhalt des Auslieferungsverfahrens .. . . . . .. 174 Die ausschließliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts unter den Aspekten des Asylgrundrechts, des Grundrechts auf gerichtlichen Rechtsschutz und auf Gleichbehandlung - § 18 AsylVfG und die Rechtssicherheit 9.6.2 Unanfechtbare Entscheidungen des Bundesamts .................. 176 Der Eintritt der Tatbestands- und Feststellungswirkung der Anerkennung - die Gründe für die Unbeachtlichkeit der anerkennenden oder ablehnenden Entscheidungen des Bundesamts im Auslieferungsverfahren - Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit? 9.6.3 Rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte .......... 179 Streitgegenstand im Asyl- und im Auslieferungsverfahren - materielle Rechtskraft entscheidungserheblicher Vorfragen - die Bedeutung der Tatbestands- und Feststellungswirkung der Entscheidungen des Bundesamts für die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft - der Einfluß des § 18 Satz 2 AsylVfG auf die Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils über die Asylberechtigung - das Aufenthaltsrecht des Asylberechtigten - zur Verläßlichkeit von Spezialitätszusagen 10. Ergebnisse ........................................................ 187

Ahkürzungsverzeichnis Arendt-Rojahn Baumüller u. a. Bei tzl Wollenschläger DAG EuAuslÜb EuTerrüb FK K. Hailbronner IRG Kanein O. Kimminich, BK Köfner/Nicolaus Marx v. Pollern Schaeffer Spaich

C. H. Ule Verhandlungen

Arendt-Rojahn, Veronika (Hrsg.), Ausgeliefert Cemal Altun und andere. rororo aktuell 1983 Baumüller, Peter/Brunn, Bernd/Fritz, Roland 1 Hillmann, Bernd, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz vom 1. August 1982. 1983 Beitz, Wolfgang G.lWollenschläger, Michael, Handbuch des Asylrechts, Bd. 1, 1980; Bd.2, 1981 Deutsches Auslieferungsgesetz v. 23. Dezember 1929 (RGBl. I, S.239 = BGBl. III, 314-1) Europäisches Auslieferungsübereinkommen v. 13. Dezember 1957 (BGBl. 11 1964, S. 1371) Europäisches übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus v. 27. 1. 1977 (BGBl. 11, 1978, S.321) Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genf er Flüchtlingskonvention) v. 28.7. 1951 (BGBl. 11, 1953, S. 559) Hailbronner, Kay, Ausländerrecht. Ein Handbuch. 1984 Gesetz über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen v. 23. Dezember 1982 (BGBl. I, S. 2071) Kanein, Werner, Ausländergesetz, 3. Aufl. 1980 Kimminich, Otto, in: Bonner Kommentar, Art. 16, Drittbearbeitung 1984 Köfner, Gottfried/Nicolaus, Peter (Hrsg.), Probleme des Asylrechts in der Bundesrepublik Deutschland. 1983 Marx, Reinhard, Asylrecht Bd. 1, Rechtsprechungssammlung mit Erläuterungen. 4. Aufl. 1984 von Pollern, Heinz Ingo, Das moderne Asylrecht. 1980 Schaeffer, Klaus, Asylberechtigung. 1980 Spaich, Herbert (Hrsg.), Asyl bei den Deutschen. 1982 Ule, Carl Hermann, Verwaltungsprozeßrecht. 8. Auf!. 1983 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1948/49

1. Die grundgesetzliehe Asylrechtsgarantie ein deutscher Sonderweg "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht." Dieser Lakonismus des Grundgesetzes war 1949 als Mitteilung über den Status des politisch Verfolgten keine bundesrepublikanische Novität und ist es auch nach 35 Jahren nicht: Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehört die Befugnis, Fremde, die "politisch" verfolgt werden, nicht an den Verfolgerstaat auszuliefern, zu den Standardrechten souveräner Staaten!. Auch Staaten, welche die Verfolgung politischer Handlungs- und Denkweisen zu den Tugenden ihrer Verfassung und den wichtigsten Aufgaben ihrer Staatsorgane rechnen, wie Ostblockstaaten, verzichten nicht auf die völkerrechtlich anerkannte Kompetenz, dem verfol,gten Ausländer Gastrecht zu gewähren, wenn auch mit Charakterisierungen dessen, was als asylbegründende Verfolgung anzusehen ist: "Ausländer, die wegen ihrer demokratischen Haltung oder wegen ihrer Tätigkeit für die Befreiung der Völker verfolgt werden, genießen in der Ungarischen Volksrepublik das Asylrecht" (Art. 58 II Ung. Verf. von 1952)2. Die Besonderheit, ja die Einzigartigkeit des ,grundgesetzlichen Asylversprechens liegt weder in der Inanspruchnahme der Asylkompetenz überhaupt noch im Verzicht auf eine Definition der politischen Verfolgung nach dem Ostblock-Muster: Auch in den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Großbritannien oder in den südamerikanischen Staaten ist nur von "politischen Flüchtlingen" oder "politischer Verfolgung" die Rede3 • Die Exklusivität des Asyls in der Bundesrepublik beruht vielmehr auf seiner rechtstechnischen Einordnung und Einstufung. Neben das gleichsam normale staatliche Recht auf Nichtauslieferung des politisch Verfolgten, gerichtet gegen den Verfolgerstaat, trat 1949 ein individueller Anspruch des Verfolgten gegen die Bundesrepublik auf Asyl, also auf Nichtauslieferung und Gastrecht für die Dauer der Verfolgung. Gewiß wird auch in der Staatspraxis einiger anderer Länder das Asyl als ein ! Hier und im folgenden ist vom staatlichen Asylrecht die Rede. Das Institut "Asyl" reicht bekanntlich ins Altertum zurück:. Die beste, ebenso knappe wie materialreiche Darstellung von Eigenart und Historie des Asyls in alter und neuer Zeit ist der Feder von Arnold Gehlen zu danken, die trotz ihrer umfangreichen Literaturnachweise das Asylrechtsschrifttum stets übersieht: Asyl, in: Festschrift für H. Bürger-Prinz, 1962, S. 19-36. Z Die Asylbestimmungen der kommunistischen Staaten hat v. Poltern aufgelistet (S. 79 ff.). 3 v. Poltern, S. 49 ff.

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1. Die grundgesetzliehe Asylrechtsgarantie

persönlicher Anspruch des Verfolgten gegen den Staat behandelt. Bezeichnenderweise gewähren die vier westeuropäischen Staaten dieses individuelle Recht in ihren Verfassungen nicht wie die Bundesrepublik "unspezifiziert", als sog. absolutes Asylrecht, sondern nur bei spezifizierter politischer Verfolgung, nämlich, wenn jemand "wegen seines Eintretens für die Freiheit verfolgt wird" (Frankreich) oder "in seinem eigenen Land an der wirksamen Ausübung der demokratischen Freiheiten, wie sie in der italienischen Verfassung garantiert werden, gehindert ist" (Italien) oder wegen "Tätigkeit für die Demokratie, für die soziale oder nationale Befreiung, für den Frieden zwischen den Völkern oder für die Freiheit und Rechte des Einzelnen verfoLgt" wird (Portugal)4. Mit solchen Spezifikationen können Asylbewerber ausgefiltert werden, die der Zufluchtstaat als Feinde der eigenen Verfassungsordnung verstehen muß. Wo sonst auf der Ebene des einfachen Gesetzes ein individueller Anspruch bei unspezifizierter "politischer Verfolgung" gewährt wird, bleibt die jederzeitige Änderungskompetenz des Gesetzgebers kraft allgemeiner Parlamentszuständigkeit erhalten (Österreich) oder es wird von vornherein die Regierung ermächttgt, in "Ausnahmesituationen" nur so lange Asyl zu gewähren, "als dies nach den Umständen möglich ist" (Schweiz). In keinem vergleichbaren Land der Welt ist jedenfalls das absolute Asylrecht als individueller Rechtsanspruch des Verfolgten ausgestaltet und zugleich als Grundrecht auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben und damit der Bestimmungsmacht jener staatlichen Instanzen entzogen worden, die zur politischen Gestaltung des Gemeinwesens legitimiert sind, nämlich Parlament und Regierung. Aufgenommen in den Kreis der Grundrechte partizipiert die Asylgarantie des Art. 16 II 2 GG an der grundgesetzlichen Konstruktion unmittelbarer, der Gesetzgebung des Parlaments und der Verwaltung vorgegebener und übergeordneter Geltung (Art. 1 III GG), die wiederum durchgesetzt und erhalten wird durch die ebenfalls grundrechtlich abgesicherte Garantie des Rechtsweges zu den Gerichten (Art. 19 IV GG). Diese für alle bundesrepublikanischen Grundrechte so charakteristische Konstruktion hängt die Asylgewährleistung zwischen Art. 1 In und Art. 19 IV GG hoch auf. Während einige durchaus nicht unwichtige Grundrechte, wie etwa das Grundrecht auf Eigentum und Erbrecht, inhaltlich durch den Gesetzgeber bestimmt werden, die Ausübung anderer Grundrechte allgemein oder unter bestimmten Voraussetzungen durch den Gesetzgeber eingeschränkt werden kann, gewährt Art. 16 II 2 GG das Asyl "vorbehaltlos": Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Das Parlament 4 Texte bei v. Pollern, S. 50, 54 mit dem Hinweis, daß in der Asylpraxis Frankreichs auch Asyl gewährt wird, wenn Flüchtlinge wegen ihrer Rasse, Religion oder politischen überzeugung verfolgt worden sind.

1. Die grundgesetzliche Asylrechtsgarantie

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kann als Gesetzgeber nur das Verfahren regeln, in dem der Asylanspruch festgestellt wird, und diese Kompetenz hat der Bundestag 1965 im Ausländergesetz (§§ 28-46), 1982 mit dem Asylverfahrensgesetz wahrgenommen. Die inhaltliche Bestimmung dessen, was unter "politischer Verfolgung" zu verstehen ist, etwa durch Aufzählung der Verfolgungsgründe, läuft nach der allgemeinen Auffassung über die verbindliche Kompetenz der Gerichte zur Auslegung von Rechtsnormen und Grundrechten das Risiko des gerichtlich festgestellten Interpretationsfehlschlages. Die Verantwortung für Gewähr oder Nichtgewähr des staatlichen Asylrechts liegt in der Bundesrepublik daher nicht bei der politischen Führung, Parlament oder Regierung, sondern bei den Gerichten. In der Bundesrepublik hat man sich an diese exzeptionelle Lage gewöhnt. Art. 19 IV GG mit seiner Gewährleistung gerichtlichen Rechtsschutzes gegen jeden rechtsbeeinträchtigenden Exekutivakt gilt seit 1949, und seit über 30 Jahren praktiziert das Bundesverfassungsgericht speziellen Grundrechtsschutz auch gegen das gesetzgebende Parlament über das besondere Instrument der Verfassungsbeschwerde (§ 90 BVerfGG, Art. 93 I Nr. 4 a GG). Aber diese Kompetenz zum letzten Wort über das in der Bundesrepublik geltende Verfassungsrecht ist im Falle des Asylrechts besonders bedeutsam deshalb, weil es das einzige Recht ist, das keinem Deutschen zusteht, sondern nur Ausländern oder Staatenlosen5 • Deutsche können, aus welchem Lande der Welt und aus welchem Grunde auch immer, in der Bundesrepublik Zuflucht finden, weil sie Freizügigkeit genießen (Art. 11 GG) und nicht an das Ausland ausgeliefert werden dürfen (Art. 16 II 1 GG). Da die Bundesrepublik bestimmt, wer Deutscher ist - jedenfalls für ihre eigenen Staatsorgane -, wird DDR-Flüchtlingen als Inhabern der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit und aus den Ostblock-Ländern übersiedelnden Deutschen als "Statusdeutschen" nicht Asyl, sondern Freizügigkeit gewährt (Art. 116 GG); lediglich die Angehörigen deutscher Volksgruppen im Ausland, die nicht "Flüchtlinge oder Vertriebene" im Sinne des Art. 116 I GG sind, könnten sich als politisch Verfolgte auf Art. 16 II 2 GG berufen. Als Grundrecht verschafft Art. 16 II 2 GG dem politisch Verfolgten einen individuellen Rechtsanspruch, jedenfalls nach der herrschenden, durch die Rechtsprechung bestätigten MeinungG. Mit Recht ist zwar bezweifelt worden, ob Art. 16 II 2 GG zu diesem Verständnis zwingt. Der Text würde nicht entgegengestanden haben, wenn - statt des materiellen Anspruchs auf Asylgewähr - dem Asylsuchenden lediglich ein formeller Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung 5 BVerfGE 4, 238. GBVerfGE 54, 356; 56, 235; BVerwGE 49, 202; 67, 185; ausführlich: minieh, BK, Erl. 148-151.

o. Kim-

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1. Die grundgesetzliche Asylrechtsgarantie

zugestanden worden wäre'. Der Antragsteller wäre gleichwohl nicht schutzlos il1gendeiner (in diesem Zusammenhang häufig vermuteten) "Behördenwillkür" ausgeliefert gewesen. Die Verwaltungsgerichte pflegen die pflichtgemäße Ermessensausübung bekanntlich penibel nachzuprüfen (§ 114 VGO). Im Rahmen einer Ermessensentscheidung hätten neben dem individuellen Interesse des ausländischen Antragstellers das staatliche Interesse und die Interessen der Bewohner der Bundesrepublik eingebracht und abgewogen werden können. Das Allgemeininteresse bleibt jetzt so gut wie ,ganz unberücksichtigt, weil sich die Konstruktionen "immanenter Schranken" wegen ihrer rechts dogmatischen Problematik nicht durchsetzen konnten. Die heute herrschende Ansicht, Art. 16 II 2 GG verbürge dem politisch Verfolgten einen materiellen Anspruch, liegt aber zweifelsfrei auf der von Art. 1 III GG ausgehenden Generallinie der bundesrepublikanischen Verfassung, die Grundrechte in subjektive Rechte zu verwandeln, auf die sich der Begünstigte gegenüber Gesetzgeber, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung berufen kann s. Die Anwendung dieser für den Grundrechtskatalog allgemein geltenden Regel auf das Asylrecht beseitigt bei politisch Verfolgten die von allen Staaten der Gegenwart gehütete Kompetenz der Zulassungskontrolle gegenüber Fremden. Zur staatlichen Territorialhoheit gehört seit Jahrhunderten das vom Völkerrecht stets als selbstverständlich vorausgesetzte und anerkannte Recht, Fremden den Zugang zum Staatsgebiet nur unter bestimmten Bedingungen, z. B. zum vorübergehenden Aufenthalt als Gast, zu erlauben; der Daueraufenthalt wurde und wird grundsätzlich nur gestattet, wenn er im Einzelfall erwünscht ist. Die Kriterien und Instrumente dieser sog. Erwünschtheitskontrolle sind in den nationalen Fremdenrechten im Kern international ziemlich übereinstimmend geregeW. Der Schutz vor politischer Verfolgung gehört auch in der Staatenwelt des 20. Jahrhunderts zu den Tatbeständen, die einem Fremden Gastrecht verschaffen können. Schutz vor politischer Verfolgung zu gewähren, gehört zu den Kompetenzen eines über sein Territorium und die Ausübung seiner Hoheitsgewalt in souveräner Selbstbestimmung entscheidenden Staates. Die Asylgewährung bedeutet aber nicht nur Realisierung von Souveränität auf eigenem Staatsgebiet; sie betrifft stets auch das Verhältnis zu einem anderen, nämlich dem Verfolger, Eingehend K. Hailbronner, ZAR 1981, S. 96 ff.; K. Doehring, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 3. Aufl. 1984, S. 358; ders., Festschrift K. Carstens, 1984, S. 531 f. 8 BVerfGE 6, 387; MaunzlDüriglHerzoglScholz, Grundgesetz, Art. 1 Erl. 92,

93.

g Vgl. U. Erdmann, Das Ausländergesetz von 1965 im internationalen Vergleich, VerwArch. Bd. 59,1968, S. 312-344.

1. Die grundgesetzliche Asylrechtsgarantie

17

staat. Dieser ist zwar völkerrechtlich gehalten, die Asylgewährung als Souveränitätsakt des Zufluchtstaates zu respektieren, weshalb Sanktionen des Verf01gerstaates gegen den Zufluchtstaat völkerrechtlich unzulässig sind lO • Gleichwohl: Aus der Sicht des Verfolgerstaates entzieht das Asyl einen politischen Feind und regelmäßig eigenen Staatsangehörigen seinem Zugriff. Ein solcher Beistand kann die Beziehungen zwischen dem Zuflucht- und dem Verfolgerstaat besonders dann belasten, wenn es sich um Staaten mit gemeinsamer Grenze oder traditionell guten oder Bündnisbeziehungen handelt. Erinnert sei an den Fall des französischen Obersten Argoud, der 1961 wegen der AlgerienLösung de GaulIes gegen die französische Regierung geputscht hatte und nach seiner Flucht in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war. Sein Aufenthalt in der Bundesrepublik - einen formellen Asylantrag hatte er nicht gestellt - und das faktische Asyl auch für andere französische Politiker (u. a. Bidault) trübten das deutsch-französische Verhältnis erheblich; es geriet auf einen absoluten Tiefpunkt, als Argoud am 25. 2. 1963 aus München illegal entführt, nach Paris verbracht, dort zu lebenslänglicher Haft verurteilt und das deutsche Rücklieferungsbegehren zurückgewiesen wurdelI. Solche Belastungen sind nicht vorhersehbar und bei einem absoluten Asylrecht, das als individueller Anspruch ausgestaltet ist, nicht von vornherein zu steuern, weil nicht der Zufluchtstaat, sondern der Verfolgte es ist, der durch seine Wahl des Zufluchtstaates das prekäre Verhältnis von Zuflucht- und Verfolgerstaat begründet. Es gibt aber keine Regel des Völkerrechts, die einen Staat gegen seinen Willen zwingen könnte, durch einen Fremden in ungewollte Beziehungen zu anderen Staaten zu geraten; eine solche Regel würde die außenpolitische Selbstbestimmung des Staates aufheben, die nicht nur als Prinzip und im allgemeinen durch die Souveränität garantiert sein soll, sondern für jeden und in jedem konkreten Sachverhalt, da sich nur an ihm die politische Selbstbestimmung entfalten und bewähren kann. Dieser potentiell mit jedem Asylfall verbundene zwischenstaatliche Spannungszustand ist eine Ursache für die Ablehnung des Asyls als individuelles Recht des Verfolgten. Eine zweite Ursache dieser Ablehnung ist der Verlust der fremdenrechtlichen "Erwünschtheitskontrolle", die mit einem individuellen Aufnahmeanspruch jedenfalls dann verbunden ist, wenn die Verfolgungsgründe unspezifiziert bleiben - wie in Art. 16 II 2 GG. Eine solche Kontrolle kann aus außenpolitischen v. Pollern, S. 124 m. weit. Nachw. S.235 FN 687. Einzelheiten bei K. Doehring, ZaöRV Bd.25, 1965, S. 209 ff.; v. Pollern, S.3, 23 m. FN 22; s. auch die Erörterung dieses Falles im Bundestag am 6.11. 1963, Steno Ber., Bd.53, 94. Stzg., S.4342 B. - 4347 mit Beiträgen von Heinemann, Carstens, Gradt und Erter. 10

11

2 Quaritsch

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1. Die grundgesetzliche Asylrechtsgarantie

wie aus innenpolitischen Gründen zweckmäßig und notwendig sein. Auch traditionell asylfreundliche Länder verzichten nicht auf Klauseln, die solchen Kontrollvorbehalt zum Ausdruck bringen: "Wenn nicht besondere Gründe dagegen sprechen, wird dem politischen Flüchtling auf sein Verlangen Zuflucht (Asyl) im Königreich gewährt1!." Besonders deutsche Autoren pflegen die weltweite Negierung eines individuellen Rechtsanspruchs der politisch Verfolgten auf Asylgewährung zu beklagen. Das ist verständlich aus der Perspektive der Verfolgten und auf den ersten Blick legitimiert durch die sog. Flüchtlingskonvention von 1951, der inzwischen mehr als die Hälfte der in der UNO vertretenen Staaten beigetreten sind 13• Die Konvention hat in Fortsetzung der Vereinbarungen aus der Völkerbundszeit zwischen den Weltkriegen bei der Beschreibung des politischen Flüchtlings die Verfolgungsgründe angegeben, die ihnen den Status politischer Flüchtlinge verschaffen, nämlich "begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung"u. Die Anerkennung dieser Umschreibung durch die Vertragsstaaten erlaubt den Schluß, daß jedenfalls die europäischen Staaten außerhalb des Ostblocks, die nord- und südamerikanischen Staaten sowie viele afrikanische Staaten eine Verfolgung aus jenen Gründen als Unrecht ansehen. Die Anerkennung, einem Menschen sei von seinem Heimatstaat Unrecht geschehen, wird aber international nicht mit der Folge eines individuellen Rechtsanspruchs auf Zuflucht verknüpft - trotz der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966, mit denen eine politische Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention generell kollidiert. Die UN-Menschenrechtskommission hatte 1948 empfohlen, in die Menschenrechtserklärung den Satz aufzunehmen: "Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern Asyl vor Verfolgung zu suchen und zu erhalten." Diese Formulierung eines individuellen Rechtsanspruchs des Flüchtlings ("to be granted") wurde abgelehnt und mit einer eloquenten Akzentverschiebung ("to enjoy") in ein Recht des Staates verwandelt, Asyl zu gewähren: "Jeder Mensch hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen15 ." Die Bundesregierung 12 § 2 I des norwegischen Ausländergesetzes von 1952, s. v. Pollern, S. 73 f.; vgl. im übrigen die rechtsvergleichende Darstellung von v. Pollern, S.49-90 und die mehr auf die Praxis ausgerichteten Darlegungen von J. Henkel, in: Spaich, S. 230 ff., 289 ff. 13 s. J. Henkel (FN 12), S.253-254. 14 Art. 1 A des Abkommens; Auflistung der Völkerbunds-Vorgänger bei O. Kimminich, Asylrecht, 1968, S. 66. 15 Art. 14 Satz 1 der Erklärung von 1948; dazu O. Kimminich, BK, Erl. 136 ff., v. Pollern, S. 129.

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beantragte 1977 auf der Genfer UNO-Konferenz erneut, das Asyl nach dem Vorbild des Art. 16 II 2 GG als individuelles Recht des Verfolgten auszugestalten und eine gerichtliche Kontrolle vorzusehen. Das Abstimmungsergebnis war geradezu peinlich: 4 Ja-Stimmen, 21 Enthaltungen, 53 Nein-Stimmen u . Aus der weltweiten Ablehnung des individuellen Rechtsanspruchs auf Asyl kann schwerlich auf ein außerhalb der Bundesrepublik unterentwickeltes Rechtsbewußtsein geschlossen werden oder auf überall sonst mangelnde Sensibilität gegenüber politischer Verfolgung und dem persönlichen Schicksal der Flüchtlinge. Nur wird die Verkoppelung von Asylgewähr und Asylanspruch nicht als zwingend angesehen. Wird ein individueller Anspruch auf Asyl erwogen oder bejaht, so wollen die Staaten diesen Anspruch nicht absolut, also bei unspezifizierter "politischer Verfolgung "gewähren, sondern nach besonderen Kriterien. über solche Kriterien sind jedoch nicht nur die westeuropäischen mit den osteuropäischen Staaten uneinig; auch die afrikanischen Staaten verlangen die Anerkennung eigener, eben spezifisch afrikanischer Bedingungen (Kampf gegen Kolonialismus, Rassismus und Apartheid), so daß die Versuche, den individuellen Asylanspruch universell durch Konvention einzuführen, gescheitert sind und nach Lage der Dinge auch in Zukunft scheitern werden. Es ist aber wohl nicht nur die allzu optimistische Einschätzung der internationalen Einigungsfähigkeit, die hinter der deutschen Forderung nach universeller übernahme der deutschen Asylregelung steht. Ursache ist anscheinend auch die Verabsolutierung des eigenen Rechtssystems und die Unfähigkeit, die außerhalb der bundesrepublikanischen Grenzen herrschende Auffassung über das Verhältnis des Staates gegenüber Fremden nachzuvollziehen. Das Staatsrecht der Bundesrepublik wird seit 1949 von den Grundrechten als subjektiven Rechten her aufgebaut; der Umfang der Grundrechtskommentierungen oder auch die von den Gerichten bewirkte Umgestaltung ganzer Sozialbereiche, etwa im Berufs- und Gewerberecht, sind dafür beredte Belege. Objektive Bedingungen dieser "Rechtsstaatswissenschaft" (E. Forsthoff) sind Art. 1 UI und Art. 19 IV GG. Subjektive Grundrechtsposition und gerichtlicher Rechtsschutz haben in der Bundesrepublik die Beziehungen zwischen Bürger und Staat so juridifiziert, daß dieser Bereich nur noch als Mechanismus von Ansprüchen, Rechtswegen, Klage- und Urteils16 Vgl. UN-General Assembly, Report on the UN-Conference on Territorial Asylum, UN-Doc. A/CONF. 78/12, 21. 4.1977. v. Pollern, S. 147 ff., 246 FN 861 weist darauf hin, daß Norwegen zustimmte mit dem Zusatz, "obwohl die Formulierung nicht zufriedenstellend ist", während Schweden sein Ja kommentierte "gegen seine überzeugung wegen der Ungewißheit darüber, was geschehen würde, wenn der Vorschlag nicht angenommen würde"; nur der Vatikan stimmte dem Antrag vorbehaltlos zu ...

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formen verstanden wird, ein durch die Mentalität des deutschen Juristenstandes, der zuerst die Schule des Zivilrechts passieren muß, erklärbarer Vorgang. Daß Parteien, Parlamente und Regierungen in diese Denkspur voll eingeschwenkt sind, ist die Konsequenz der von Art. 93 GG eingeräumten Möglichkeit, Niederlagen im Parlament in Siege vor dem Bundesverfassungsgericht zu verwandeln. Diese für Politik und Staat in der Bundesrepublik typische Situation ist aber ein deutscher Sonderweg. Er ist gültig für uns, aber international schlechterdings abnorm. Gewiß kann auch in einigen anderen Ländern der Bürger seine Grundrechte gegen den Staat gerichtlich durchsetzen, doch ist diese Möglichkeit weder generell so komplett ausgestaltet wie hierzulande, noch wird sie in gleicher Weise dem asylsuchenden Ausländer zuteil: In Kanada (neuerdings), Frankreich, Österreich, Portugal, Spanien und in den Niederlanden kann der politisch Verfolgte zwar ein staatliches Gericht auf überprüfung der Asylverweigerung anrufen 17 • Aber es ist nicht ein Grundrecht, an dem in diesen Ländern die Rechtsanwendung der Behörden überprüft wird. Es macht außerdem einen erheblichen Unterschied aus, ob eine Asylverweigerung an den von Parlament, Regierung oder Verwaltung gesetzten und für das Gericht verbindlichen Regeln über Voraussetzungen oder Verfahren des Asyls überprüft wird oder ob das Gericht die Verweigerung an einem Verfassungssatz mißt, dessen Inhalt es selbst letztverbindlich bestimmt. Da auch die vom Parlament gesetzten oder von Regierung und Verwaltung erlassenen Verfahrensregeln in der Bundesrepublik daraufhin überprüft werden müssen, ob sie einen "effektiven Grundrechtsschutz" gewähren, wird die von Parlament, Regierung oder Verwaltung getroffene Entscheidung an einem zweiten, vom Bundesverfassungsgericht entdeckten Maßstab gemessen, dessen Inhalt ebenfalls die Gerichte selbst bestimmen18• In der Bundesrepublik hat das Asyl also eine besondere rechtliche Form gefunden. International betrachtet ist es ein juristisches Unikat. An diesen in Fachkreisen natürlich bekannten, in der Diskussion um den Inhalt des Asylrechts aber gleichwohl immer wieder verdrängten 17 Vgl. den Bericht von J. Henkel (FN 12), S. 242 ff. Dieser Minimalbefund widerspricht nicht der im Beschluß des BVerfG v. 20.4. 1982 anzutreffenden und literarisch belegten Feststellung über das "völkerrechtlich geschuldete Ausmaß an gerichtlichem Rechtsschutz", wozu der Zugang zu den Gerichten gehört (E 60, 253, 303 f.). Es bezieht sich diese Wendung auf das grundsätzliche Verbot, Ausländer von dem gerichtlichen Rechtsschutz auszuschließen, der in derselben Sache den Inländern gewährt wird, nicht aber eröffnet ein Völkerrechtssatz Ausländern den Gerichtsweg in Ausländerangelegenheiten. Diese Entscheidung obliegt allein dem nationalen Gesetzgeber. 18 Grundlegend BVerfGE 46, 325, 334; auf das Asylgrundrecht angewendet in BVerfGE 52, 407; 56,216,238.

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Sachverhalt war hier noch einmal zu erinnern. Denn die Weigerung, das Asyl als Individualrecht auszugestalten, will den Automatismus vermeiden, den eine materielle Rechtsposition in Gang setzt und dadurch im öffentlich-staatlichen Bereich die Verwaltung zum Handeln zwingt. Die Weigerung, ein Asylrecht unspezifiziert, also "absolut" bei jeder politischen Verfolgung zu gewähren, soll dem Zufluchtstaat die Kompetenz erhalten, eigene Wertvorstellungen mit dem Begriff der Verfolgung zu verbinden oder bei Flüchtlingen zwischen Freund und Feind unterscheiden zu können. Die Weigerung schließlich, das Asyl als vorbehaltlos gewährtes Grundrecht anzuerkennen, vermeidet die absolute Bindung des Parlaments als Gesetzgeber und erhält damit der politischen Führung des Staates die Fähigkeit, auf die wechselnden Lagen zu reagieren, die außenpolitisch wie innenpolitisch eine großzügigere oder weniger großzügige, z. B. selektive Asylgewährung allgemein oder im Einzelfall geraten sein lassen können. Im Blickfeld von Rechtsprechung und Schrifttum in der Bundesrepublik erscheint so gut wie ausschließlich der humanitäre Aspekt des Asyls; der Verlust der politischen Handlungsfähigkeit wird gar nicht mehr wahrgenommen, der durch die Gewährung des subjektiven Grundrechts auf Asyl eintritt. Die möglichen Beeinträchtigungen der zwischenstaatlichen Beziehungen bis hin zu inneren Unruhen im Zufluchtstaat selbst werden ignoriert oder mit dem formalistischen Argument der juristischen Unzulässigkeit völkerrechtlicher Sanktionen beantwortet. In Frankreich genießen etwa achthundert spanische Basken Asyl, die wegen ihrer Zusammenarbeit mit der separatistischen ETA aus Spanien geflohen sind. Etwa hundert von ihnen werden mit Attentaten in Verbindung gebracht. Die Beziehungen zwischen Spanien und Frankreich waren dadurch für Jahre nachhaltig vergiftet. Die spanische Presse behauptete, die französische Polizei kenne die Unterschlüpfe, die Trainingslager, die Waffenverstecke, die Grenzübergänge und die Bankkonten der ETA; trotzdem unternehme sie nichts19 • Am 30. 1. 1979 erklärte das französische Außenministerium, als politische Flüchtlinge in Frankreich lebende Spanier würden künftig nicht mehr als politisch Verfolgte anerkannt, die entsprechenden Ausweise würden nicht mehr erneuert werden. Ausschlaggebend für diese Entscheidung seien die Demokratisierung in Spanien, die erlassene Generalamnestie, die Annahme der neuen Verfassung und der Beitritt Spaniens zur Genfer Flüchtlingskonvention20 • Abgesehen von den Schwierigkeiten der Realisierung dieser Regierungsentscheidung: In der Bundesrepublik wäre 19

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Archiv der Gegenwart v. 27. 11. 1979, 23078. Archiv der Gegenwart v. 31. 1. 1979, 22357 B.

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eine solche Erklärung des Auswärtigen Amtes schlechterdings undenkbar; über die Asylberechtigung entscheidet schon auf der Ebene der Verwaltung ein "insoweit weisungsungebundener Bediensteter des Bundesamtes", u. U. ein "Beamter des gehobenen Dienstes oder vergleichbarer Angestellter" (§ 4 Irr AsylVfG 1982). Das letzte Wort haben ohnehin die Verwaltungsgerichte. Das trotz der Erklärung vom 30. 1. 1979 fortdauernde Asyl der Basken blieb ein dauernder spanisch-französischer Streitpunkt, der auch die EG-Verhandlungen über den Beitritt Spaniens beeinflußte. Als sich die französische Regierung im Oktober 1984 dazu durchrang, drei Angehörige der ETA-Militar - mehrfache mutmaßliche Mörder - an Spanien auszuliefern und Staatspräsident Mitterand verkündete, spanischen ETA-Angehörigen werde künftig kein Asyl mehr gewährt und ihren Sympathisanten das Handwerk gelegt werden, entstand auch im französischen Baskenland erhebliche Unruhe; bei seiner dreitägigen Reise durch die Provinz Aquitanien wurde Staatspräsident Mitterand vorsorglich von nahezu 10 000 Polizisten geschützt21 • Von der in Asylsachen bewahrten politischen Handlungsfreiheit unserer Nachbarn muß die Bundesrepublik nicht nur gelegentlich die Folgen tragen. Ein erstes Beispiel: Das in den Niederlanden nahe der deutschen Grenze bei Gronau liegende Kloster Sankt Ephrem ist das 1981 errichtete westeuropäische Glaubenszentrum der noch aramäisch sprechenden semitischen Christen, die in der syrisch-orthodoxen Kirche organisiert sind und als sog. Jakobiten dem Monophysitismus anhängen, eine seit dem Konzil von Chalkedon (451 n. Chr.) von den großen Kirchen als häretisch betrachtete Lehre. In der Südosttürkei lebten bis zur Mitte der 60er Jahre im Tur Abdin (um die Kleinstadt Midyat) noch ca. 50000 bis 60000 Angehörige der syrisch-orthodoxen Kirche 2!. Bis 1979 war ihre Zahl auf 10000 bis 15000 abgesunken, nach einer anderen Schätzung auf 20000 bis 25000 23 • Zwei Drittel der "Aramäer", wie sie in der Presse genannt werden, waren abgewandert nach Istanbul, wo sie bessere Bedingungen für ein Leben in ihrem Glauben fanden, und als Gastarbeiter ausgewandert nach Westeuropa. Mitte der 70er Jahre 21 Bericht A. Graf Kageneck, in: "Die Welt" v. 15.10.1984. Die Spruchpraxis der französischen Gerichte zur Auslieferung und Nichtauslieferung "politischer" Täter gegenüber Spanien schildert Torsten Stein, Die Auslieferungsausnahme bei politischen Delikten, 1983, S. 234, 237 ff. 2Z Nach dem Bericht der Orientalistin Gabriele Yonan, Die Situation der Christen in der Türkei, in: Materialdienst Nr.2/80 der Evangelischen Akademie Bad Boll, S. 3 ff., 17. !3 Die erste Zahl wird in der Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom April 1979 genannt, die zweite Zahl von Desmond Carregher, Stockholm, Christliche Minderheiten in der Türkei, Materialdienst 2/80 (wie vor), S. 27 ff., 31; die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes ist abgedruckt bei Marx, S.801l02.

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erlitten sie, wie das Bundesverwaltungsgericht schreibt, "schwere, z. T. existenzbedrohende Benachteiligungen und mußten gewalttätige übergriffe hinnehmen ... Um 1976 nahm die Auswanderung der Christen aus der Region zunehmend Fluchtcharakter an ... "14. Verantwortlich für die Übergriffe waren regelmäßig Kurden (die ihrerseits die Unterdrückung durch die Türken beklagen), die sich auf diese Weise für die Kurdenverfolgung im Libanon durch christliche Milizen zu rächen vorgaben. In den vergangenen Jahren sind einzelne Aramäer auch von den deutschen Verwaltungsgerichten als Asylberechtigte anerkannt worden 25 • Im Sommer und Herbst 1984 zog es plötzlich Hunderte von Aramäern nach Sankt Ephrem. Da in Europa nicht alle Staaten von Türken ein Visum verlangen, kommen sie nach einer fast 2000 Kilometer langen Reise in Istanbul problemlos mit einem Rückflugticket nach Mailand über Brüssel (!) in eine Maschine der belgischen Fluggesellschaft, verlassen jedoch in Brüssel das Flugzeug und melden sich dort als Asylbewerber. Die Behörde des in Belgien für Asylsachen zuständigen UNFlüchtlingskommissars stellt ihnen einen grünen Asylbewerber-Ausweis aus, mit dem sie sich in den Benelux-Ländern frei bewegen können. Daraufhin begeben sie sich zu ihrem Kloster in Losser/NL. Die niederländische Regierung hat jedoch entschieden, "keine Aramäer mehr aufzunehmen"28. Diese politische Entscheidung hat zur Folge, daß sich die unerwünschten Gäste über die deutsche Grenze nach Gronau/Westf. begeben, wo sie ihrem Kloster am nächsten sind. Über die Asylbewerbungen von mittlerweile 700 Aramäern (Stand 19. 10. 1984) muß nun das Bundesamt entscheiden. Gronau, eine Kleinstadt, die mit ca. 3000 Arbeitslosen eine Arbeitslosenrate von 16,7 v. H. aufweist - darunter sehr viele türkische Gastarbeiter -, ist mit dieser exotischen Invasion überlastet, zumal die Verteilungsversuche des Düsseldorfer Innenministeriums regelmäßig scheitern; die Aramäer kommen zurück. Das Kloster Sankt Ephrem ist ihnen indes unzugänglich, da die niederländische Grenze für sie gesperrt bleibtt7 • U BVerwG, U. v. 2.8.1983, Az. 9 C 599/81, abgedruckt bei Marx, S. 865 f. In der amtlichen Sammlung (E 67, 314-317) sind diese Wendungen nur z. T. wiederzufinden. Ob der vom Bundesverwaltungsgericht angenommene Sachverhalt wirklich gegeben ist, erscheint nicht unzweifelhaft, vgl. H.-G. Dusch, in: Köfner/Nicolaus, S. 192/93. 25 VG Neustadt/W. in drei unveröff. Urteilen vom 4.10.1982, ebenso VG Stuttgart, InfAuslR 1982, S.164; VG Karlsruhe, InfAuslR 1983, S.28, auch bei Marx, S. 824 ff.; die Entscheidungen hat das BVerwG bestätigt, s. den vorgen. Beschluß v. 2.8. 1983. Im U. v. 8. 5. 1984 hingegen bestätigte das BVerwG eine Entscheidung des HessVGH, der eine allgemeine Gruppenverfolgung der syrischen Christen verneint und für eine politische Verfolgung des Antragstellers keine zureichenden Anhaltspunkte hatte feststellen können (DVBl. 1984, S. 1005-{)7). 28 dpa 158, okt. 84. 27 Quelle: Neue Ruhrzeitung v. 10. 10. 1984 und 11. 10. 1984; dpa 158, okt. 1984.

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Es geht hier nicht um die naheliegende Frage nach Organisation und Ursachen dieses Zuges oder um die sehr praktische Frage, ob es bei den 700 Ankömmlingen des Jahres 1984 bleiben wird; wichtig ist nur die Feststellung, daß auch in den Niederlanden die Regierung fähig ist, ohne Rücksicht auf etwa gegebene Asylgründe den Zugang weiterer Asylbewerber zu stoppen. Auch in einem zweiten Beispiel trägt die Bundesrepublik die Folgen der Regierungsentscheidung einer auswärtigen Macht, in diesem Fall der schwedischen Regierung. Der ständig ansteigende Flüchtlingsstrom aus dem Libanon brachte in den ersten neun Monaten des Jahres 1984 nach Schweden 5000 Asylbewerber, allein 500 im September. "Asylantenflüge" nach Ostberlin (von dort mit Eisenbahn und Fähre zum Ziel) gehören zum ständigen Angebot der libanesischen Fluggesellschaft. In der heißen Phase des libanesischen Bürgerkriegs hatte Schweden es als ein Gebot der Humanität empfunden, flüchtenden Libanesen seine Tore weit zu öffnen. Jetzt beschloß die schwedische Regierung angesichts der neuen Asylbewerberzahlen, "den Krieg im Libanon für beendet zu halten". Hierzu trug auch der Eindruck bei, daß viele Asylanten wohl eher "Wirtschaftsflüchtlinge" seien; Schweden sei aber nicht in der Lage, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten anderer Länder zu bewältigen. Polizei und Grenzbeamte prüfen und bescheiden Asylanträge nunmehr im Schnellverfahren; innerhalb von 24 Stunden nach Betreten des Landes werden abgelehnte Asylbewerber wieder abgeschoben. Rechtsbehelfe gegen den ablehnenden Bescheid sind innerhalb von drei Wochen schriftlich einzulegen, nach der neuen Praxis allerdings nicht mehr von schwedischem Territorium aus28 • Die von Schweden abgelehnten Asylbewerber werden in ihr Transitland DDR abgeschoben und tauchen über Ostberlin zunehmend in Westberlin auf: Von 100 aus Schweden abgeschobenen Libanesen kamen in der Woche vom 1. bis 7. 10. 1984 ca. 30 nach Westberlin. Der Berliner Senat erklärte dazu: Sollte diese Entwicklung anhalten, werde man die bisherige Praxis, Asylbewerbern den Aufenthalt in West-Berlin einstweilen zu gestatten, neu überdenken müssen 2'. 28 Die schwedische, auch in anderen Ländern (z. B. Großbritannien, USA) übliche Lösung wäre in der Bundesrepublik unzulässig; Asylbewerbern ist der Aufenthalt in der Bundesrepublik grundsätzlich bis zur rechtskräftigen Ablehnung des Antrages gestattet (§ 20 111 Nr.3 AsylVfG; BVerwGE 62, 20). 2' Quelle: ARD-Tagesthemen, 9.10.1984. Auf schwedischen Protest sicherte die DDR-Regierung zu, Flüchtlingen aus Nahost ohne schwedisches Einreisevisum künftig keine Transit-Visa zu erteilen ("Die Welt" v. 23.2.1985, S. 4). Ob sich dazu die DDR auch gegenüber West-Berlin und der Bundesrepublik - ohne Gegenleistung - durchringen wird, erscheint vorerst zweifelhaft, denn die destabilisierenden Wirkungen des steigenden Zustroms von Asylbewerbern sind der DDR-Führung natürlich bekannt. - Bislang nimmt Berlin infolge des von westdeutscher Seite unkontrollierbaren Zugangs zur

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Auch in diesem Fall interessiert hier nicht das Problem des Asylmißbrauchs durch "Wirtschaftsflüchtlinge" oder die juristisch ziemlich aufregende Frage, ob § 14 I AsylVfG (unbeachtlicher Folgeantrag und Abweisung an der Grenze gern. § 7 I 2) entsprechend anzuwenden ist, wenn der Asylbewerber in einem anderen Lande, dessen Asylrecht sich mit dem der Bundesrepublik vergleichen läßt, bereits abgelehnt worden ist. Die hier geschilderten Beispiele sollen nur daran erinnern und verdeutlichen, daß sich traditionell asylfreundliche Länder wie Frankreich, die Niederlande und Schweden ihre politische Handlungsfähigkeit in diesem Bereich erhalten haben und sie auch auszuüben wissen; Frankreich gegenüber den spanischen Basken, die Niederlande gegenüber den türkischen Christen und Schweden gegenüber den Libanesen. Die Bundesrepublik hingegen hat sich dieser Politikfähigkeit selbst beraubt, indem sie das Asylrecht zu einem vorbehaltlos gewährten subjektiven Recht mit Verfassungsrang ausgestaltete. Der grundgesetzliche Verzicht auf diese von allen anderen vergleichbaren Staaten für notwendig erachtete Kompetenz der politischen Führung hat sicher nicht den Übergang politischer Opportunitätszuständigkeit auf die Gerichte zur Folge; das vertrüge sich nicht mit der Eigenart der Rechtsprechung als einer normanwendenden Tätigkeit. Normanwendung aber entbindet nicht von der Notwendigkeit, ihre tatsächlichen Konsequenzen im Einzelfall wie für alle diejenigen Fälle in den Vorgang der Rechtsfindung einzubeziehen, die nach dem judizierten Muster künftig behandelt werden. Diese für die Revisionsgerichte und das Bundesverfassungsgericht unbestrittene Maxime ist für das Asylrecht angesichts seiner außenpolitischen und innenpolitischen Bezüge besonders augenfällig. Die seit mehr als zehn Jahren grundlegend geänderte Situation des Asylrechts hat innenpolitische Bewegungen ausgelöst, die der Gesetzgeber durch Verfahrensregeln, nämlich durch zwei sog. Beschleunigungsnovellen von 1978 und 1980 und schließlich durch das Asylverfahrensgesetz von 1982, die Verwaltung durch die Einrichtung von Gemeinschaftsunterkünften und andere tatsächliche Maßnahmen aufzufangen suchten. Von diesen Maßnahmen bleibt die Grundrechtsposition des Asylbewerbers jedoch unberührt. Inhalt und Reichweite dieses Rechts bestimmen die Gerichte. Die Gerichte sind daher auch verantwortlich für die politischen und sozialen Folgen ihrer Interpretation. Die Erklärung des Staatsgerichtshofs für das Deutsche Reich in der Entscheidung vom 17.12.1927, er habe "die Ergebnisse, zu denen er aufgrund des von ihm angewendeten objektiven Rechts gelangt, auszusprechen, ... ohne die politischen Folgen seines Stadt als erste Anlaufstelle von Asylbewerbern eine Spitzenstellung ein; etwa ein Drittel aller Asylbewerber kam in den letzten Jahren über Berlin, BTDrucks. 10/3346 v. 14. 5. 1985, S. 11 f.

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Spruches in Betracht zu ziehen", beruht auf einem verfassungsrichterlichen Selbstverständnis, das wohl nur mit der damals umstrittenen Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit gedeutet werden kann; heute kann sie nur noch rechtshistorisch belangvoll sein 30 • Verantwortung ist in diesem Zusammenhang nicht mit der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit zu verwechseln. Sie ist nicht nur die allgemeine Verantwortung staatlicher Amtsträger, sondern eine gesteigerte politische Verantwortung der Träger letztverbindlicher Entscheidungskompetenz, die sich aus dieser Zuständigkeit von selbst ergibt. In anderen Rechtsbereichen mag der Hinweis (vielleicht) zulässig sein, unbefriedigende Ergebnisse der Rechtsanwendung in strikter Bindung an das Gesetz habe nicht der Richter, sondern der Gesetzgeber zu verantworten (z. B. BVerwGE 54, 314/323). Ein vorbehaltlos gewährtes Grundrecht wie das Asylrecht kann der einfache Gesetzgeber nicht inhaltlich bestimmen. Die Möglichkeiten des verfassungs ändernden Gesetzgebers stehen aber gegenwärtig nur auf dem Papier, da die notwendige adhoc-Koordination der beiden großen Fraktionen nicht zustande kommen kann. Es beruht diese Unmöglichkeit einer Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag und Bundesrat nicht auf grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über das Asylrecht selbst, sondern vorrangig auf den allgemeinen partei politischen Frontstellungen und anderen Besonderheiten, die ein gemeinsames Handeln auf einem politisch sensiblen Gebiet, wozu auch die Grundrechte gehören, ausschließen. Im Grundrechtsbereich wurde der verfassungsändernde Gesetzgeber zum letzten Male tätig im Jahre 1968, also in der Zeit der sog. Großen Koalition. Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh aus der Schwerfälligkeit des Verfassungsgesetzgebers die Konsequenz gezogen, indem es einen durch Richterspruch festzustellenden "Bedeutungswandel" einer Verfassungsbestimmung für möglich erachtete, "wenn in ihrem Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder Bedeutung erscheinen"31. Das Gericht darf also in solchen Fällen nicht achselzuckend auf 30 Das Zitat bei Lammers-Simons, Bd. I, S.342, 352; zur Sache selbst U. Scheuner, Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd.l, 1976, S. 57 f.; Hans H. Klein, Bundesverfassungsgericht und Staatsräson, 1968, S. 31 f.; R. Fischer, 52. DJT, 1978, Sitzungsbericht G/H, S. 32.

31 BVerfGE 2, 380, 401; 3, 407, 422; 7, 342, 351. Der Sachverhalt selbst wurde 1895 von P. Laband unter dem Stichwort "Verfassungswandlung" beschrieben (Die Wandlungen der deutschen Reichsverfassung, S. 3). A. Roßnagel hat die bundesrepublikanische Verfassungspraxis daraufhin untersucht, wann der Verfassungsgesetzgeber tätig geworden ist oder durch Untätigkeit dem "Verfassungswandel" freien Lauf ließ (Der Staat, Bd.22, 1983, S. 551 ff., besonders S. 573 ff.). - Die Situation wird verkannt vom OVG Münster in seinem Tamilen-Urteil v. 15.2.1985 (19 A 10163/84, unveröff.), das die "Konkretisierung" durch die höchstrichterliche Rechtsprechung sowie seine eigene Auslegung und Anwendung des Asylgrundrechts mit der

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den Verfassungsgesetzgeber verweisen; es muß seine Auslegung den neuen Verhältnissen anpassen. So sind die oberen Bundesgerichte und das Bundesverfassungsgericht bei der Auslegung der Art. 4, 140 GG mit bemerkenswerten Folgen für das deutsche Staatskirchenrecht verfahren. Asyl wird also nur in der Bundesrepublik als individuelles Recht des Fremden und in der Form des Grundrechts gewährt. Vorbehaltlos gewährt, ist das Grundrecht inhaltlich dem Zugriff von Regierung und Parlament entzogen: seine Reichweite bestimmen letztverbindlich die Gerichte. Diese dreifache deutsche Besonderheit ist sicher nicht Wegweiser für das richtige Asylverständnis oder ein Markstein auf dem unaufhaltsamen Weg zur allgemeinen Anerkennung des Asyls als allgemeines Menschenrecht, wie eine in der deutschen Asylliteratur verbreitete Meinung anzunehmen scheint. Die bereits erwähnten Reaktionen in den Vereinten Nationen 1948 und 1977 lassen eine solche Einschätzung als weltfremd erscheinen. Die rapide Verstärkung und Veränderung der Flüchtlingsbewegungen während der letzten Jahre wird international eher zu einer Restriktion der bisherigen Praxis führen, auf jeden Fall aber den qualitativen Umschlag in ein subjektives Recht oder gar in ein Menschenrecht mit Grundrechtscharakter verhindern. Denn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Problem der politischen Flüchtlinge quantitativ und in seinen die Erdteile überspringenden Wirkungen in einer Weise entwickelt, die jedem Zufluchtstaat erhebliche Schwierigkeiten bereiten kann. Zu Recht hat deshalb der Präsident des Bundesverfassungsgerichts die Erkenntnis formuliert: "Es ist deshalb gewiß kein Zufall, daß wir mit unserem Verfassungskonzept einer Asylverbürgung als subjektives verfassungsmäßiges Grundrecht allein und ohne Nachahmer in der Völkerrechtsgemeinschaft geblieben sind3%." Das Grundrecht des Art. 16 II 2 GG wird ein deutsches Unikat bleiben. Es ist entstanden aus einer singulären Situation und von ihr nicht ablösbar.

zutreffenden Bemerkung kommentierte, angesichts der Massenfluchtbewegungen werde Art. 16 II 2 GG "an seine Grenzen geführt", dann aber meint, der geänderten Verfassungswirklichkeit "könnte allein durch eine Änderung des Grundgesetzes Rechnung getragen werden" (S.25/26 der Gründe). Frappierend die Selbstverständlichkeit, mit der die Resultate der richterlichen Auslegung dem Verfassungstext gleichgesetzt werden, obgleich die Annahme doch wohl naheliegt, daß eine richterliche Auslegung nicht durch den Verfassungsgesetzgeber zu ändern ist, sondern durch richterliche Auslegung. S! W. Zeidler, ZAR 1983, S. 54.

2. Zur Entstehung des Asyl-Grundrechts Erörterung und Fassung der Grundrechte im Herrenchiemsee-Entwurf 1948 und im Parlamentarischen Rat 1948/49 waren bekanntlich geprägt durch die Negierung der Freiheitsrechte während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland 1933-1945. Es wäre aber verfehlt, unter Hinweis auf einen nicht näher beschriebenen "Geist, in dem er konzipiert worden ist" und "die Situation, für die er gemünzt war", auf eine "weite Auslegung" des Art. 16 Abs.2 Satz 2 GG zu schließen, wie das Bundesverfassungsgericht 1959 formulierte 33 • Da solche Wendungen häufig anzutreffen sind, soll die Entstehungsgeschichte des Art. 16 II 2 GG noch einmal kurz repetiert werden34 • Der Herrenchiemsee-Entwurf gewährleistete als Grundrecht nicht ein Asyl; Art. 4 I verbot die Auslieferung Deutscher an eine "fremde Macht", Art. 4 II lautete: "Wer unter Nichtbeachtung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte von einer Stelle außerhalb des Bundes verfolgt wird, wird nicht ausgeliefert35 ." Mit diesen Verbürgungen folgte der Entwurf einigen der seit 1946 entstandenen Landesverfassungen, die aber in jener Zeit unter Besatzungshoheit praktisch bedeutungslos gewesen waren 38 • Auch im Parlamentarischen Rat wurde das Asyl im Zusammenhang mit dem Verbot der Auslieferung Deutscher und - das war neu - mit dem Verbot der Ausbürgerung zusammen erörtert. Das Ausbürgerungsverbot war veranlaßt durch die entsprechende Praxis des Dritten Reiches gegenüber Emigranten37 • Die Aussprache im Parlamentarischen Rat über das Asylrecht war naturgemäß unmittelbar beeinflußt durch das Schicksal derer, die im Dritten Reich BVerfGE 9,174,180 f. Auf die Entstehungsgeschichte greift auch W. Zeidler zurück, in: B. Rüthers/K. Stern (Hrsg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat - Festgabe zum zehnjährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, unter dem Titel, "Einige Bemerkungen zu den Versuchen, den Begriff der ,politischen Verfolgung' zu bestimmen", S. 551,555 f. 35 Vgl.: Der Parlamentarische Rat 1948-49, Akten und Protokolle, Bd.2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, bearb. v. Peter Bucher, 1981, S. 220, 450, 580. 38 Art. 105 Bay. Verf., Art. 7 II Hess. Verf., Art. 16 II Rh.-pf. Verf.; dazu O. Kimminich, BK, Erl. 147. 37 Nach den offiziösen Angaben im Reichsanzeiger wurde zwischen dem 23.8.1933 und dem 27.3.1945 gemäß § 2 des Gesetzes vom 14.7.1933 gen au 38789 Deutschen die Staatsangehörigkeit entzogen, s. H. Hecker, in: I. v. Münch, GGK Bd. 3, 2. Auf!. 1983, S. 1126. 33 34

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vor politischer Verfolgung im Ausland Zuflucht suchen mußten; zwei der sechs mit Wortmeldungen oder Anträgen beteiligten Abgeordneten (Renner, KPD, Wagner, SPD) brachten eigene Asylerfahrungen ein38 • Den Mitgliedern des Hauptausschusses werden auch die europäischen Erfahrungen seit dem 19. Jahrhundert gegenwärtig gewesen sein. Nach dem Scheitern der Revolutionen 1848/49 nahm die Schweiz 12000 Flüchtlinge aus Österreich, Preußen und Rußland auf, Ungarn flohen auf türkisches Hoheitsgebiet auf dem Balkan. Als sich die Schweiz und die Türkei mit Unterstützung Englands, der Vereinigten Staaten und Frankreichs gegen die russischen und österreichischen Auslieferungsforderungen erfolgreich wehren konnten, war das Recht des Staates auf Nichtauslieferung "politischer" Täter durch die völkerrechtliche Praxis erstmals präjudiziert39 • In den Jahrzehnten danach kam der politische Flüchtling aus dem absolutistischen, später wenigstens autokratisch regierten Rußland der Zaren 40 • Weithin außerhalb der Wahrnehmung durch die deutsche Öffentlichkeit blieb die mörderische Verfolgung und das Flüchtlingsschicksal der christlichen Armenier am Ende des 19. Jahrhunderts, besonders aber seit 1915 41 • Das Reich des Sultans war im Ersten Weltkrieg militärischer Bundesgenosse gewesen, von den ca. 1 Million armenischen Flüchtlingen, die dem Tod in der Mesopo38 Die Zusammenfassung der Entstehungsgeschichte im Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N.F. Bd. 1 (1951), S. 165 ff. hat vorzugsweise, dazu lückenhaft, die rechtlichen Erwägungen mitgeteilt; der hier hervorgehobene Aspekt wird deutlicher durch die Wortprotokolle der Sitzungen des Hauptausschusses am 4.12.1948 und 19.1.1949, abgedruckt in: Verhandlungen, S.216-218, 582-585. 39 Vgl. O. Kimminich (FN 14), S. 17 f.; ders., Grundprobleme des Asylrechts, 1983, S. 21 f. 40 1911 schrieb R. Frank im Artikel "Auslieferung" des Wörterbuchs von Stengel/Fleischmann: "Der Grund für die Nichtauslieferung wegen politischer Delikte ist historisch auf den Gegensatz zwischen dem konstitutionellen Staatsleben des Westens und dem absolutistischen des Ostens zurückzuführen. Aber auch seitdem der Osten konstitutionell geworden ist, hat der Grundsatz seine Berechtigung. Denn praktisch bleiben die Tendenzen des Staatslebens immer noch verschieden, und es geht nicht an, daß der Staat durch die A. wegen eines politischen Delikts sich selbst in einen Gegensatz zu der Richtung bringt, die er nach innen hin betätigt." (Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungs rechts Band 1, 2. Aufl., 1911, S.265). 41 Einzelheiten bei O. Kimminich (FN 14), S. 19 m. Nachw. Die Orientalistin Gabriele Yonan nennt für diesen "ersten Völkermord des 20. Jh." die Zahl von zwei Millionen "erschlagener, massakrierter, verhungerter und verdursteter Armenier" und macht dafür "indirekt" auch die Deutschen verantwortlich, "weil ohne die Reorganisation der türkischen Armee durch deutsche Offiziere, ohne deutsche Waffen- und Finanzhilfe der Völkermord in diesem Umfang rein technisch gar nicht möglich gewesen wäre" (in: Materialdienst der Evangelischen Akademie Bad Boll Nr.2/80, S. 9), eine Schuldzuweisung, die mehr als problematisch ist, hier aber nicht weiter erörtert werden muß, zumal diese und andere gutachtliche Stellungnahmen als umstritten angesehen werden können, s. L. Martin u. H.-G. Dusch, in: Köfner/ Nicolaus, S. 191 ff.

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tamischen Wüste entrinnen konnten, kamen zwar 460 000 nach Europa, aber verständlicherweise nur wenige in das Deutsche Reich, das gerade den Krieg verloren hatte. Wahrgenommen aber wurde in Deutschland zwangsläufig die große Welle politischer Flüchtlinge, die der Oktoberrevolution 1917 und der Durchsetzung der Partei Lenins im russischen Bürgerkrieg folgte. Während sich die italienische Emigration nach dem Sieg des Faschismus 1922 auf Mitteleuropa relativ wenig auswirkte, ging von Deutschland nach 1933 eine breite Emigrationswelle in alle europäischen Länder und nach Übersee'2. Die Flüchtlingsfolgen des spanischen Bürgerkriegs 1936-1939 liefen aus naheliegenden Gründen an den deutschen Grenzen vorbei, die nationalsozialistischen Flüchtlinge aus der Republik Österreich, die zwischen 1934 und 1938 in das Deutsche Reich kamen, bildeten gleichsam einen deutschen Sonderfall, der begreiflicherweise vergessen wurde. Die Flüchtlingsströme, die der chinesisch-japanische Krieg seit 1937 in Ostasien verursachte, blieben so gut wie ganz außerhalb des Bewußtseins. Für den Parlamentarischen Rat jedenfalls war der politische Flüchtling Europäer und die Gründe seiner Flucht waren in Europa zu suchen. Außerhalb des Vorstellungshorizonts mußten 1948/49 die großen Flüchtlingsbewegungen bleiben, die nach der Dekolonisierung in Asien und Afrika auftraten und die sich seit der Mitte der 70er Jahre auch auf die Bundesrepublik auswirken. Die französische und britische Kolonialherrschaft erschien damals noch recht stabil, die Entwicklung des Luftverkehrs und deren praktische Folgen auch für die Flüchtlingsbewegungen konnten ebensowenig vorhergesehen werden. Nach der Entstehungsgeschichte des Art. 16 II 2 GG erschien den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates die Gewährung des Asylrechts als Grundrecht als ganz unproblematisch: sie haben über den Vorschlag des Grundsatzausschusses vom 23. 9. 1948 überhaupt nicht debattiert. Dazu mag beigetragen haben, daß so einflußreiche Abgeordnete wie v. Mangoldt und K. Schmid zunächst glaubten, das Asylrecht käme auch den in der sowjetischen Besatzungszone verfolgten Deutschen zugute, ein Irrtum, den erst die Abgeordneten Wagner und Eberhard in der Sitzung am 19. 1. 1949 unter Hinweis auf das allen Deutschen zustehende Grundrecht der Freizügigkeit berichtigten43 • Für die Annahme, das Asylgrundrecht sei "dem Parlamentarischen Rat noch als festgegründet und geradezu heilig erschienen"", fehlt den veröffentlich(! Die Vereinigten Staaten gewährten zwischen 1933 und 1941 104098 Deutschen und Österreichem Asyl, von denen 1090 angaben, Universitätslehrer oder freie Wissenschaftler zu sein, vgl. Helge Pross, Die deutsche akademische Auswanderung nach den Vereinigten Staaten 1933-1941, 1955, S.19. 43 Verhandlungen, S.582, 584. U O. Kimminich (FN 14), S. 157.

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ten Texten jeder Anhaltspunkt. Das Asylrecht wurde (auch) als Grundrecht formuliert, weil der Parlamentarische Rat subjektive und für die Persönlichkeit wesentliche Rechte generell in den Rang von Grundrechten heben wollte. Das Asylgrundrecht ist daher nicht das einzige neue Grundrecht gewesen, das der Parlamentarische Rat schuf. Die mit der grundrechtlichen Klagebefugnis des Asylbewerbers verbundene Problematik wurde nicht einmal andeutungsweise berührt. Die notwendige Einschaltung der Gerichte erwähnte der Abg. K. Schmid nur im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Auslieferung, für die "nicht das Auswärtige Amt oder gar der Polizeiminister" letztinstanzlich zuständig sein dürften 4ii • Diese von ihm geforderte gerichtliche Zuständigkeit aber ergab sich nicht erst aus Art. 19 IV GG; seit 1930 war gemäß § 7 DAG das Oberlandesgericht zuständig; erst und nur nach einer positiven Entscheidung des Oberlandesgerichts konnte die Reichsregierung eigenständig entscheiden, nämlich die Auslieferung trotz Zulässigkeit nicht bewilligen4G • Ebensowenig wurde die heute so leidenschaftlich debattierte Frage der Rechtsnatur der Asylgewährung näher erörtert. Während das Verbot der Ausbürgerung (Art. 16 I GG) noch mit einer "Anregung aus den Menschenrechten der Vereinten Nationen" begründet wurde47 , ist in der Diskussion über das Asylrecht weder ein solcher noch ein anderer Hinweis auf Humanität, Menschenrecht oder Menschenwürde anzutreffen. Sicher haben die Mitglieder des Hauptausschusses die Asylgewährung nicht als außen- oder innenpolitisches Instrument oder als humanitätsneutral mißverstanden. Dagegen spricht schon und vor allem die Ausgestaltung als absolutes Asylrecht. Aber es mangelt gänzlich an Hinweisen, die Asylgewährung und der Verzicht auf spezifizierende Bedingungen müßten als rechtlich notwendige Konsequenz des Bekenntnisses zu den "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" im Sinne des Art. 1 II GG zu verstehen sein oder als eine Form des Schutzes menschlicher Würde, zu dem Art. 1 I GG alle staatliche Gewalt verpflichtet. Unzutreffend ist jedenfalls die unbelegte Behauptung des Bundesverfassungsgerichts, "Voraussetzungen und Umfang des politischen Asyls (seien) wesentlich bestimmt von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, die als oberstes Verfassungsprinzip nach der geschichtlichen Entwicklung die Verankerung des Asylanspruchs im Grundgesetz entscheidend beeinflußt hat"48. Die im Herrenchiemsee-Entwurf enthaltene Bedingung des Auslieferungsverbots - Verfolgung "unter 45 4G

Verhandlungen, S.218.

§§ 7, 44 DAG; jetzt §§ 13, 74 des Gesetzes über die Internationale Rechts-

hilfe in Strafsachen (IRG). 47 v. Mangoldt, in: Verhandlungen, S.216. 48 BVerfGE 54, 357.

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Nichtbeachtung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte"wurde gerade nicht in das Grundgesetz übernommen. Auch der durchaus positiv gemeinte Hinweis Renners auf die theoretische Möglichkeit des französischen Asyls für einen politisch verfolgten Hitler, dessen politische Verfolgung nicht per se Menschenwürde oder Menschenrechte verletzt haben würde, läßt erkennen, daß es dem Parlamentarischen Rat vorrangig auf den Schutz vor "politischer" Verfolgung ankam. Dieses Verständnis des Asyls als eines staatlichen und vom Völkerrecht sanktionierten Rechts wurde besonders sichtbar durch die Darlegungen des Abg. K. Schmid, mit denen er die Sorgen wegen des absoluten Asylrechts zu zerstreuen suchte: "Es ist klar, daß dieses Asylrecht nur im Rahmen der völkerrechtlichen Bestimmungen ausgeübt werden wird, daß also der Attentatsklausel gegenüber das Asylrecht nicht gilt. Im Völkerrecht besteht übereinstimmung darüber, daß ein Attentäter sich nicht auf das Asylrecht berufen kann, er darf also ausgeliefert werden; ja, wenn ein Auslieferungsvertrag besteht, muß er ausgeliefert werden, während der ,politische Verbrecher', der nicht unter die Attentatsklausel fällt, nicht ausgeliefert zu werden braucht, auch wenn ein Auslieferungsvertrag besteht4g ." Ob dieser Rekurs auf die Attentatsklausel einiger Auslieferungsverträge eine objektiv überzeugende Gegenposition aufbauen konnte, kann hier offenbleiben; schlüssiger wäre eine Bezugnahme auf § 3 III DAG gewesen, danach auch bei politischen Taten, die sich zugleich "als ein vorsätzliches Verbrechen gegen das Leben" darstellen, die Auslieferung zulässig war. Richtig war jedenfalls die vom Bundesgerichtshof in der Entscheidung vom 12. 7. 1955 vertretene Ansicht, nichts spreche dafür, daß man beim Erlaß des Gundgesetzes habe davon abgehen wollen, den Attentäter im Sinne der nationalen und internationalen Bestimmungen auszuliefern50 • Festzuhalten bleibt die Auffassung K. Schmids, daß "dieses Asylrecht" durch Völkerrecht begrenzt, aber auch inhaltlich umschrieben wird, z. B. durch das Verbot der Auslieferung bei politischen Delikten. Ob K. Schmid das Verhältnis von Verfassungs recht (Art. 16 I12 00) und Völkervertragsrecht (Auslieferungsverträge) systematisch richtig deutete, kann hier ebenfalls offenbleiben. Bei diesem Ausgangspunkt konnte er die Asylgewährleistung jedenfalls nicht als Menschenrecht im Sinne von Art. 1 II oder Schutz verpflichtung gemäß Art. 1 I GG verstehen. Da niemand widersprach oder sonst eine abweichende Ansicht Verhandlungen, 8.218. BGH8t 8, 59. - Zur Attentatsklausel Torsten Stein (FN 21),8.112,175 ff., mit dem Hinweis 8.177, daß diese seit 1845 bekannte Klausel nur einmal, nämlich bei einem Attentat auf de Gaulle während des Algerien-Konflikts praktisch geworden ist. (9

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äußerte, wird man von einer entsprechenden communis opinio im Parlamentarischen Rat ausgehen können. Angesichts dieses deutlichen Befundes überrascht die Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts, es lasse sich der Entstehungsgeschichte "nicht mit der für die Annahme einer Grundrechtseinschränkung erforderlichen Gewißheit entnehmen, daß das Asylrecht nur im Rahmen von im Völkerrecht bereits allgemein anerkannten Grundsätzen gewährt werden sollte"51. Für die Entstehungsgeschichte bezieht sich das Gericht auf die private, bekannt lückenhafte Zusammenstellung im Jahrbuch des öffentlichen Rechts Bd. 1, 1951, S. 165 ff. Mangelnde Kenntnis der Entstehungsgeschichte hat auch einen zweiten Irrtum des Bundesverwaltungsgerichts verursacht. Aus dem Wortlaut "genießen Asylrecht" hat das Gericht den Auftrag herausgelesen, "daß den im Bundesgebiet au:Egenommenen politisch Verfolgten grundsätzlich die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins geschaffen werden sollen, wozu in erster Linie ein .gesicherter Aufenthalt sowie die Möglichkeit zu beruflicher und persönlicher Entfaltung gehören"52. Im Parlamentarischen Rat sind diese in der Tat für den Asylanten wichtigen Fragen am 19. 1. 1949 durchaus gesehen und erörtert worden. Der Abg. Renner führte aus: "Darf ich mir zu dem Begriff Asylrecht einige Bemerkungen erlauben. Das Asylrecht, wie es die Welt im allgemeinen kennt, beinhaltet nur das Aufenthaltsrecht. Die politischen Flüchtlinge, die vom Asylrecht Gebrauch machen müssen, sind in der Regel angewiesen auf die Unterstützung aus öffentlichen Mitteln bzw. aus Mitteln, die private Organisationen aufbringen, weil das Asylrecht in den meisten mir bekannten Ländern nicht das Recht auf Arbeit einschließt. Ich bitte zu überlegen, ob es nicht berechtigt ist, zu sagen: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht einschließlich des Rechtes auf Arbeit." Der Vorsitzende K. Schmid wehrte diesen Antrag erfolgreich mit dem Hinweis auf Art. 2 und "das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit" ab, das jedermann, nicht nur den Deutschen, sondern auch den Ausländern in der Bundesrepublik zustehe und das Recht auf Arbeit einschließe; der Abg. Wagner stimmte ihm zu unter Hinweis auf die vom Gesetzgeber zu treffenden Regelungen53 . Das Asylgrundrecht war im Parlamentarischen Rat als "Aufenthaltsrecht" .gedacht; andere Rechte sollten für den Verfolgten aus anderen Grundrechten oder dem einfachen Gesetz folgen. 51 U. des 1. Senats v. 7.10.1975, E 49, 202/03. BVerwGE 49, 206. 53 Verhandlungen, S. 582.

5!

3 Quaritsch

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Als einziges typisches Asylproblem debattierten die Abgeordneten aufgrund der Kritik und Anregung des sachverständigen Staatsrechtlers Richard Thoma die Frage, ob die "politische Verfolgung,", die nach dem Entwurf des Grundsatzausschusses vom 7.10.1948 als Asylgrund ausreichen sollte, nicht ersetzt werden müßte durch spezifizierte Verfolgungsgründe. Thoma wollte Ausländern Asyl gewähren, "welche wegen ihres Eintretens für Freiheit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Weltfrieden politisch verfolgt werden". Der allgemeine Redaktionsausschuß hatte am 16.11. 1948 das Verbot der Auslieferung "politisch verfolgter Ausländer" statuiert und wollte "jedem Deutschen" (!) Asyl gewähren, der die von Thoma formulierten Verfolgungsgründe geltend machen könnte 54 • Zwei Abgeordnete nahmen diese Anregung auf, um nicht "Faschisten, die in Italien politisch verfolgt werden, bei uns in unbegrenzter Zahl aufnehmen" zu müssen55 • Die Mehrheit sprach sich indes für ein sog. absolutes Asylrecht aus 56• Der Abg. Wagner berief sich auf Frankreich, das "den Zaristen, den Anhängern einer Blutherrschaft der Unterdrückung des russischen Volkes" als auch "uns deutschen Antifaschisten" Asyl gewährt habe 57 • Der kommunistische Abg. Renner stimmte ihm zu: "Wenn Hitler gekommen wäre, hätte er dort auch Asylrecht bekommen, seien Sie sicher"; er beklagte sich über die zurückhaltende Praxis Englands und der Vereinigten Staaten gegenüber asylsuchenden Kommunisten sowie darüber, daß das Asyl der Kommunisten im Vichy-Frankreich durch Verhaftung und Internierung beendet worden sei - von der selektiven Asylpraxis der Sowjet-Union, die ihm doch bekannt gewesen sein muß, sprach er nicht58 • Es kennzeichnet die vorsichtige, vielleicht persönlich wie auch im Hinblick auf die vier damaliVgl. JöR, Bd. 1, S. 166. Abg. Dr. Fecht/CDU, 4.11.1948, Verhandlungen, S.217; ähnlich v. Brentano/CDU, 19.1.1949, der in diesem Falle nicht an den Verfolgerstaat ausliefern wollte, aber das Asylrecht verweigern und eine Landesverweisung offenzuhalten empfahl (Verhandlungen, S. 583). 5& In den Beratungen des Hauptausschusses gebrauchte diesen Ausdruck erstmals der Abg. Dr. Seebohm, s. Verhandlungen, S. 583. 57 Verhandlungen, S.583. Nachdrücklich zu widersprechen ist der auf die Bemerkungen Wagners gestützten Ansicht, der Parlamentarische Rat habe auch solchen Personengruppen Asyl gewähren wollen, "die infolge eines Bürgerkrieges unter politischer Verfolgung zu leiden hatten", so daß es auf eine individuell erlittene Verfolgung nicht ankäme (so F. Rottmann, Der Staat, Bd.23, 1984, S.338 gegen W. Zeidler, Otto-Benecke-Stiftung, Praktizierte Humanitas: Weltproblem Flüchtlinge - eine europäische Herausforderung, 1981, S. 21). Die bekannte Frage nach dem "Eingriff" und der "subjektiven Betroffenheit" als Voraussetzung des Verfolgungstatbestandes ist weder hier noch sonst im Parlamentarischen Rat angesprochen worden. Der Abg. Wagner hat sich auf die Weißgardisten nur berufen, um darzutun, daß es dem Asyllande Frankreich nicht auf die politischen Grundanschauungen des Flüchtlings angekommen sei. 58 Verhandlungen, S.584. Einzelheiten zur sowjetischen Asylpraxis bei v. Pollern, S. 83 ff. 54 55

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gen Besatzungsmächte rücksichtsvolle Atmosphäre des Parlamentarischen Rates, daß eine Auseinandersetzung über die Maßnahmen Frankreichs und Englands gegenüber den kommunistischen Emigranten aus Deutschland nach Kriegsausbruch als persönliche Angelegenheit der Abg. Renner und Wagner behandelt wurde und ihnen dafür der Vorsitzende K. Schmid "eine stillere Stunde" empfahlSt. Eine Debatte dieser Vorgänge hätte den Abgeordneten wohl deutlicher vor Augen geführt, daß "besondere Umstände" das Asylrecht auch in asylfreundlichen Ländern nicht unberührt lassen. Neben den Hinweisen Wagners und Renners wurde das absolute Asylrecht nur noch mit dem Willen zur Generosität begründet: "Die Asylrechtsgewährung ist immer eine Frage der Generosität, und wenn man generös sein will, muß man riskieren, sich in der Person geirrt zu haben. Das ist die andere Seite davon, und darin liegt vielleicht auch die Würde eines solchen Aktes. Wenn man eine Einschränkung vornimmt, etwa so: Asylrecht ja, aber soweit der Mann uns politisch nahesteht oder sympathisch ist, so nimmt das zu viel weg"." Bei der schließlichen Abstimmung stimmten nur drei Abgeordnete für den Antrag des Abg. v. Brentano, die heute noch geltende Fassung wurde mit 19 Stimmen angenommen und später nicht mehr diskutiertet. Die Entstehungsgeschichte läßt folgende Schlüsse zu: 1. Die Gewährleistung des Asyls als Grundrecht ist nach den Beratungen des Hauptausschusses weder als problematisch noch als international singulär empfunden worden. Die aus Art. 19 IV GG folgende gerichtliche Klagebefugnis des Asylbewerbers, die drei Jahrzehnte später die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor Probleme stellte, die nur noch der Gesetzgeber durch rigorose Rechtsmittelbeschneidungen zu lösen vermochte, blieb undiskutiert.

2. Das Bild des politisch Verfolgten war geprägt von den Erfahrungen zwischen 1917 und 1945: Der Verfolgte, der vor Lenin, Stalin und Hitler geflohen war. Diese Verfolgungen zusammen hatten sich auf alle Schattierungen des politischen Meinungsspektrums erstreckt. Das absolute Asylrecht des Grundgesetzes war die normative Antwort auf diesen 1948/49 nur partiell historischen Sachverhalt. Wie die widerspruchslose Hinnahme der Darlegungen des KP-Abg. Renner erweist, war der Verzicht auf spezifizierte Verf01gungsgründe zugleich Ausdruck der im Parlamentarischen Rat vorhandenen Solidarität der gemeinsam Verfolgten. Verhandlungen, S.583. Abg. K. Schmid, 4. 12. 1948, zustimmend v. Mangoldt: "Ich kann nur unterstreichen, was Herr Dr. Schmid ausgeführt hat" (Verhandlungen, S.217). 11 Verhandlungen, S. 504, 585. 59

GO

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2. Zur Entstehung des Asyl-Grundrechts

3. Die Asylgewährung wurde als völkerrechtlich anerkannte Befugnis des Staates verstanden und als solche durch Grundrechtsgewährleistung wahrgenommen; Asyl wurde nicht als "Menschenrecht" im Sinne des Art. 1 II GG und nicht als unmittelbarer Ausdruck der Pflicht des Staates zum Schutze der menschlichen Würde verstanden (Art. 1 I GG). Die Durchsetzung des absoluten Asylrechts und die international exzeptionelle Form der Asylgewährung durch ein Grundrecht war zwar eine rechtsförmliche Reaktion auf die eigene, noch frische Vergangenheit. Durch die unmittelbare Gegenwart wurde diese verfassungsrechtliche Reaktion aber flankiert und in ihren praktischen Wirkungen begrenzt. Der Wille zur "Generosität" konnte im Winter 1948/49 relativ leicht durch ein Grundrecht manifestiert werden; unerwartete und unmittelbare Folgen standen in absehbarer Zeit nicht ins Haus. Die Deutschen konnten politischen Flüchtlingen nicht gegen den Willen der Besatzungsmächte Asyl gewähren. Als das OLG Oldenburg am 18. 5. 1953 die Auslieferung des aus Breda geflüchteten Niederländers de J onge an die Niederlande für unzulässig erklärte, weil ihn der Amsterdamer Sondergerichtshof 1949 wegen einer politischen Straftat im Sinne von § 3 III DAG verurteilt habe, wurde er bei seiner Freilassung aus deutscher Auslieferungshaft von britischen Offizieren festgenommen und aufgrund eines Sonderausweisungsbefehls der Alliierten Hohen Kommission vom 23. 4. 1953 den niederländischen Behörden übergeben 62 • Erst mit den Pariser und Bonner Verträgen vom 5.5.1955 trat das Gesetz Nr.10 der Alliierten Hohen Kommission vom 27.10.1949 über die Ausweisung unerwünschter Personen außer Kraft, das die bisherige Praxis der Besatzungsmächte seit 1945 normativiert hatte; die Zuständigkeit der Besatzungsmächte für das gesamte Auslieferungswesen dauerte also noch sechs Jahre fort 6s • Die im Parlamentarischen Rat beschworene Vision von der Flucht italienischer Faschisten in die Bundesrepublik war deshalb einigermaßen wirklichkeitsfremd. Auch befanden sich die westlichen Besatzungszonen durch die Zerstörungen des Krieges in einem außerordentlich unwirtlichen Zustand. Von allen überhaupt in Erwägung zu ziehenden freiheitlichen Asylländern konnte Westdeutschland nur ausnahmsweise mehr als nur Durchreisestation eines Flüchtlings sein. Wer 1948/ 1949 für Generosität plädierte, konnte sich angesichts der politischen 82 In dem erwähnten Breda-Fall respektierte die Besatzungsmacht jedoch die Entscheidungen der Oberlandesgerichte, daß die anderen sechs BredaFlüchtlinge durch Dienst in der Waffen-SS und Führererlaß die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hätten und deshalb nach Art. 16 II 1 GG nicht ausgeliefert werden dürften. Zum Breda-Fall ausführlich H. Grützner, in: Strupp/Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts Bd. 1, 1960, S. 242-245. 83 R. Schiedermair, Handbuch des Ausländerrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1968, S. 381 f.

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und wirtschaftlichen Lage Westdeutsch lands und der Vorbehalte der Besatzungsmächte vor unkalkulierbaren Folgen der Asylrechtsgarantie ziemlich sicher sein. Schließlich war das Grundgesetz nur für eine Übergangszeit und eine provisorische staatsrechtliche Organisation gedacht. Nach dem Ende des Besatzungsregimes sollte eine neue gesamtdeutsche Verfassung das Grundgesetz insgesamt ersetzen (Art. 146 GG). Ob die Asylrechtsgarantie in der Form des Art. 16 II 2 GG in die neue Verfassung übergehen würde, war völlig offen 64 • Das deutsche Flüchtlingsproblem - 8 Millionen Heimatvertriebene aus dem deutschen Osten, 1,8 Millionen Flüchtlinge aus der sowjetischen Besatzungszone (bis 1952) - lag außerhalb der grundgesetzlichen Asylrechtsgarantie. Auch das Los der ausländischen Flüchtlinge in Westdeutschland wurde nicht mit Art. 16 II 2 GG bewältigt. Nach Kriegsende wollten von denjenigen Ausländern, die sich als "Verschleppte Personen und Flüchtlinge" ("Displaced Persons") in Westdeutschland befanden, viele Osteuropäer nicht in ihre von der Roten Armee besetzten Gebiete zurück. Ihr Verbleib in Westdeutschland beruhte nicht auf einer Asylgewährleistung, sondern auf der Übereinstimmung der westlichen Besatzungsmächte und deutschen Verwaltungsstellen. Mit Hilfe der UNRRA und später der IRO wanderten bis 1951 900000 DPs aus, 1952 wurden aus diesem Personenkreis noch 200 000 Ausländer in der Bundesrepublik gezählt (davon 45000 in Lagern und Heimen!), deren Rechtsstellung als Heimatlose Ausländer dann das bekannte Gesetz von 1951 regelte 65 •

64 Besonders K. Schmid betonte und vertrat den provisorischen Charakter der durch das Grundgesetz geschaffenen Staatsorganisation für ein "Staatsfragment" des Deutschen Reiches; er sprach deshalb dem Grundgesetz auch den Charakter einer Vollverfassung ab. In seiner richtungweisenden und einflußreichen Abhandlung über "Die politische und staatsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland" hat er in seinem Grundrechtsbericht zwar Novitäten wie das Recht der Kriegsdienstverweigerung und die Gleichberechtigung von Mann und Frau erwähnt, über die Asylrechtsgarantie jedoch kein Wort verloren (vgl. DÖV 1949, S. 201 ff., 203). 65 BGBl. I, S.269; Bericht des Bundesministers für Vertriebene: Vertriebene, Flüchtlinge, Kriegsgefangene, Heimatlose Ausländer 1949-1952 (Bonn 1953), S. 11. Einzelheiten mit weiteren Nachweisen bei O. Kimminich (FN 14), S. 22 ff. Die Geschichte der DPs ist jetzt endlich geschrieben worden: Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951. Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 65, 1985.

3. Asylrechtspraxis bis 1973 Zwanzig Jahre blieb diese Normsituation unverändert. Die Definition des politischen Flüchtlings durch die Flüchtlingskonvention von 1951 entsprach dem europäischen Erfahrungsbild von politischer Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer überzeugung. Gesetzgeber (§ 28 AuslG) und Rechtsprechung umschrieben mit diesen Merkmalen einer internationalen Konvention den Begriff des politisch Verfolgten im Sinne des Art. 16 II 2 GG. Umstritten war und ist zwar die Frage, ob damit alle denkbaren Fälle politischer Verfolgung erfaßt sind (sog. Theorie der Vollidentität) oder ob der Kreis der Asylberechtigten auch abweichend, besonders darüber hinausgehend bestimmt werden könne. In der Verwaltungs- und Gerichtspraxis hielt man sich aber trotz abweichender Formulierungen im Ergebnis an jene Begriffsbestimmung86 • Tatsächlich beansprucht wurde die grundgesetzliche Asylrechtsgarantie zwar von Staatsangehörigen aus 60 Ländern, erwartungsgemäß und primär jedoch von Flüchtlingen aus kommunistischen Staaten, nämlich den europäischen Staaten des Ostblocks und aus Jugoslawien; allein die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und Jugoslawien stellten zwischen 72 und 94 v. H. aller Asylbewerber (1953-1967)67. Die absoluten Zahlen der Asylbewerber waren eher bescheiden, sie schwankten zwischen jährlich 2000-3000 Personen (1953-1962). Die starke Zunahme jugoslawischer Asylgesuche ließ nach 1963 die jährliche Zahl der Bewerbungen auf fast 4000 ansteigen. Die Jugoslawen, die seit 1959 zwischen 53 und 65 v. H. aller Asylbewerber stellten (bis 1966), waren die ersten, die durch das Tor des Art. 16 II 2 GG Anschluß an den Gastarbeiterstrom finden wollten, dem sich damals die Bundesrepublik geöffnet hatte; von ihm waren die Jugoslawen zunächst ausgeschlossen, weil mangels diplomatischer Beziehungen eine Gastarbeitervereinbarung mit Jugoslawien bis 1968 fehlte's . .. Neuester und ausführlicher überblick bei o. Kimminich, BK, Erl. 196205. '7 übersicht bei O. Kimminich (FN 14), S.26/27, 128 ff.; v. Pollern, S. 27 ff. 8. Vor der im Ergebnis großzügigen Praxis warnte damals zu Recht ein Jurist des Zirndorfer Bundesamts: G. Schoeppe, Die "Wirtschaftsflüchtlinge" im deutschen Asylverfahren, in: Schriftenreihe der Deutschen Nansen-Gesellschaft Nr.4, 1965, S. 98; s. auch den Rückblick von G. Kötner, in: Köfner/ Nicolaus, S. 62 f.

3. Asylrechtspraxis bis 1973

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Die Zahl der anerkannten Asylberechtigten schwankte zwischen 736 (1953 = 38,3 v. H.) und 248 (1962 = 11,4 v. H.), nach 1964 sank sie unter 10 v. H., womit die Statistik den wachsenden Anteil der nicht Schutz, sondern Arbeit in der Bundesrepublik suchenden Ausländer sichtbar machte G9 • Der Einmarsch der Roten Armee in die Tschechoslowakei ließ die Zahl der Asylsuchenden nach 1968 vorübergehend ebenso ansteigen wie die Zahl der Anerkennungen: 11 664 (1969, anerkannt ca. 80 v. H.) und 8645 (1970, anerkannt ca. 70 v. H.); 1971 bis 1973 pendelte sich die Zahl zwischen 5400 und 5600 ein; die Zahl der Anerkennungen sank auf 48 v. H. (1972) und 43 v. H. (1973)70. In der Zeit bis 1973 waren Anwendung und Auswirkungen des Asylgrundrechts administrativ und sozial zu bewältigen. Die verhältnismäßig geringe Zahl der Anerkennungen durch die 1953 gegründete zentrale Behörde in Zirndorf, seit 1965 als "Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge" organisiert, ist zwar als angeblich kleinlich scharf kritisiert worden; Italien und Frankreich hätten vier- bis fünfmal soviel Flüchtlinge anerkannt71 • Aber es gab auch Stimmen in der Verwaltung, die das Zirndorfer Anerkennungsverfahren drastisch ein "reines Asyltheater" nannten, weil die Zahl der wirklich politisch Verfolgten wahrscheinlich nur bei 5 v. H. läge 7Z • Um menschliche Härten zu vermeiden, beschloß die Ständige Innenministerkonferenz der Länder am 26.8. 1966, Ostblockflüchtlinge, denen das Asyl mangels politischer Verfolgung verweigert worden war, nicht abzuschieben; sie wurden für zunächst zwei Jahre geduldet und erhielten dann bei guter Führung eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis73 • Die soziale Eingliederung der Flüchtlinge, von denen die meisten aus Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn kamen, blieb weithin problemlos; im breiten Strom der fast vier Millionen Ausländer, die zwischen 1960 und 1973 als Gastarbeiter oder deren Angehörige in die Bundesrepublik kamen, wurden die Asylbewerber kaum bemerkt. GD Die 140000 ungarischen Flüchtlinge, die im Herbst 1956 in die Bundesrepublik kamen, tauchten in der Statistik zunächst nicht auf, weil sie summarisch und vorläufig als Asylberechtigte anerkannt wurden; von ihnen kehrten viele zurück, viele wanderten in andere Länder aus. 70 übersicht bei Beitz/Wollenschläger, Bd. 1, 1980, S.31. 71 F. Franz, DVBl. 1966, S. 623. 72 Mitgeteilt von O. Kimminich (FN 14), S. 118. 73 Der Beschluß blieb aus naheliegenden Gründen unveröffentlicht; erwähnt in BT-Drucks.8/4278, S.7. Vorangegangen war eine Empfehlung der Beratenden Versammlung des Europarats vom 1. 10. 1965, Flüchtlinge nicht in den Ostblock zurückzuschicken (Empfehlung Nr. 434, Nr. 8, 9 und 11 sowie Rapport sur l'application du droit d'asile aux refugies europeens, Doc. 1986 vom 29.9. 1965, S. 4).

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3. Asylrechtspraxis bis 1973

In der gerichtlichen Praxis wie im rechtswissenschaftlichen Schrifttum führten Asylrecht und Asylverfahren ein Mauerblümchen-Dasein; ein Großkommentar zum Grundgesetz widmete 1968 dem Asylgrundrecht ganze vier Druckseiten74 • Sechzehn Jahre später erscheint in 4. Auflage ein "Asylrecht", dessen erster Band "Rechtsprechungssammlung mit Erläuterungen" im Kleindruck 1024 Seiten umfaße5 •

74 7&

Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 16 Erl. 89-96.

von R. Marx.

4. Krise und Neuordnung des Asylverfahrens Der im November 1973 verfügte Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer stellte das Asylgrundrecht in ein neues Umfeld. Die Zahl der Asylbewerber, die 1973 noch mit 5595 festgestellt worden war, stieg bereits 1974 auf 9424, kletterte aber mit gleichmäßig großen Sprüngen bis 1979 auf 51493, um im Jahr 1980 ihren Höchststand mit nahezu einer Verdoppelung auf 92918 Asylverfahren mit 107818 Personen zu erreichen. Zugleich änderten sich Herkunft und Nationalität der Asylbewerber. Noch 1969 kamen nur 4 v. H. aller Bewerber nicht aus Europa und die meisten europäischen Flüchtlinge aus den Ostblockstaaten. Der grundlegende Wandel hatte sich bereits 1971 mit 994 Bewerbern aus dem Vorderen Orient angekündigt, eine Zahl, die 1973 auf 1457 anstieg, 1974 auf 3553 emporschnellte; zugleich tauchten in der Statistik 1118 Staatenlose auf, im wesentlichen Palästinenser. In dieser Entwicklung wurden Kriege und Bürgerkriege dieser Region, besonders im Libanon sichtbar, aber - wie anfangs der 60er Jahre im Falle der Jugoslawen - auch das Fehlen einer Vereinbarung über die Vermittlung von Gastarbeitern, die zwischen 1969 und 1973 ca. 1 Million Türken in die Bundesrepublik ziehen ließ. Der Tatbestand der "politischen Verfolgung" wurde im Anerkennungsverfahren meistens verneint. 1977 etwa wurden 85 Personen aus dem Vorderen Orient (= 1,71 v. H.) anerkannt, abgelehnt 4875 (= 98,29 v. H.); bei den 2421 Staatenlosen (Palästinensern) lag die Ablehnungsquote sogar bei 99 v. H.: Krieg, Bürgerkrieg und Revolution sind keine Tatbestände "politischer Verfolgung"78. Der Flüchtlingsstrom aus Asien, besonders aus Vietnam, wirkte sich erst etwas später aus, als nämlich die Zahl der Bewerber von 241 im Jahr 1974 auf 3037 zwölf Monate später sprang, um dann bis 1980 auf 28528 zu klettern. 1977 wurde die Zahl der Flüchtlinge aus Afrika erstmals vierstellig (1266), 1980 stieg sie auf 8339 an. Zwar war die Zahl der westeuropäischen Bewerber 1980 mit 58073 immer noch am größten. Aber da die Türkei (aus welchen Gründen auch immer) in der Statistik des Zirndorfer Bundesamts als "Westeuropa" figuriert und die Türken 71 BVerwG, DÖV 1979, S. 296; zu den Zahlen siehe v. Poltern, S. 11. Eine visuell gute übersicht über die Zahlen von Bewerbungen, Anerkennungen und Ablehnungen durch Bundesamt und Verwaltungsgerichte für die Zeit von 1953-1981 findet sich bei H.-P. Mengele, Ausländerrecht, 1983, S. 316 f.

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4. Krise und Neuordnung des Asylverfahrens

den weitaus größten Teil der "westeuropäischen" Bewerber stellten, nämlich 57913 77 , hatte sich das Verhältnis von Flüchtlingen aus dem Ostblock und anderen Flüchtlingen, das 1969 noch bei 9: 1 gelegen hatte, geradezu umgekehrt78 • Neben die beunruhigende Entwicklung der Quantitäten trat das Problem der ungleich schwierigeren Eingliederung von Menschen aus fremden Kulturkreisen, denen - im Unterschied zu den Ostblock-Flüchtlingen - nicht nur die Sprache, sondern Klima, Religion bis hin zu den Essensgewohnheiten in der Bundesrepublik fremd sein und fremd bleiben mußten. Das Umkippen des westdeutschen Arbeitsmarkts, die einsetzende Arbeitslosigkeit und das Ende des Wirtschaftswachstums bildeten das dritte und ökonomische Moment, das die Entwicklung des Asyls als Krise eines Grundrechts in das öffentliche Bewußtsein hob. Dazu trugen Vorgänge bei, die aus deutscher Sicht nur als Mißbrauc..h verstanden werden konnten71 : 1977 reisten 9827 = 59,80 v. H. aller Asylbewerber mit Hilfe gewerbsmäßiger Schlepper-Organisationen über Ostberlin in die Bundesrepublik ein, 1978 kamen auf diesem Wege 15173 Personen (= 45,79 v. H.), darunter 6282 Flüchtlinge aus den arabischen Staaten (= 18,96 v. H.), 5077 Pakistani (= 15,32 v. H.) und 2423 Inder (= 7,31 v. H.)80. Brauchten Flüchtlinge aus kommunistischen Ländern bei Ablehnung der Asylanerkennung infolge des erwähnten Ministerbeschlusses von 1966 die Abschiebung in die Heimat nicht zu fürchten, so erreichten die in Zirndorf erfolglosen Asylbewerber der 70er Jahre fast dasselbe Ergebnis durch die Ausnutzung des bundesrepublikanischen Verwaltungsund Gerichtsverfahrens; die durchschnittliche Verfahrensdauer bis zur abschließenden rechtskräftigen Entscheidung letzter Instanz wurde offiziös mit fünf Jahren und elf Monaten angegeben 81 . Während des Verfahrens waren dem Bewerber Sozialhilfe und Kindergeld zu zahlen. Die Flüchtlinge aus den Armenhäusern des indischen Subkontinents lebten dadurch, gemessen an ihren heimischen Verhältnissen, in einem Lebensstandard, den sie zuhause auch mit harter Arbeit nicht hätten erreichen können - wenn sie in ihrer Heimat einen Arbeitsplatz gefunden hätten. Dieses starke Gefälle zwischen dem hier garantierten Existenzminimum und der großen Armut auf anderen Kontinenten mußte zwangsläufig Wanderungen anreizen, für die der moderne Flugverkehr alle Grenzen aufhob. Nachdem 1973 der Zugang zur Bundesv. Poltern, ZAR 1984, S. 110. v. Poltern, S.9. 70 v. Pollern, S. 19. 80 Das Unwesen der Schlepper schildert EigeZ Wiese, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt v. 8. 7. 1984. 81 BT-Drucks. 8/4279 v. 20.6.1980, S.3. 77

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republik über den legalen Gastarbeiterstatus verschlossen wurde, war Art. 16 II 2 GG das einzige Tor, das jedermann öffnen konnte mit der bloßen Behauptung, politisch verfolgt zu sein, um für sechs Jahre in der Bundesrepublik und gehalten von ihrem sozialen Netz bleiben zu können 82 • Zugleich brachen die tatsächlichen Strukturen zusammen, die Art. 16 II 2 GG administrativ unterfangen hatten: Das Sammellager Zirndorf mußte 1977 wegen überfüllung geschlossen werden, die besondere Zuständigkeit des VG Ansbach ließ sich auch um den Preis einer erheblichen Vermehrung der Richterstellen nicht mehr aufrechterhalten. Wird eine Norm von den Realitäten überrannt, pflegt sie der Gesetzgeber so zu ändern, daß sie diesen Realitäten standhalten kann. Gewichtige Stimmen forderten daher 1980, das Asylgrundrecht etwa durch einen Gesetzesvorbehalt so zu fassen, daß der Mißbrauch dieses Grundrechts vermieden werden und die Bundesrepublik bei den "politisch Verfolgten" Spreu und Weizen wirksamer und schneller trennen könne als bisher. Entsprechende Forderungen des Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts H. Sendler, des Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidenten Stoltenberg und auch des damaligen Bundeskanzlers H. Schmidt wurden im rechtswissenschaftlichen Schrifttum unterstützt (u. a. K. Hailbronner, W. Kanein), aber auch abgelehnt (z. B. von O. Kimminieh). Nachdem sich jedoch der FDP-Innenminister Baum und der Hessische Ministerpräsident H. Börner gegen diesen Plan ausgesprochen hatten, wurde diese Absicht fallen gelassen; der Versuch, sie durchzusetzen, hätte Wirkungen gezeitigt, die über den eigentlichen Anlaß weit hinausgegangen wären. Die Lösung wurde dann auf der Ebene der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit gesucht. Am 18. 6. 1980 verbot die Bundesregierung die Erteilung einer Arbeitserlaubnis für Asylbewerber für die Dauer eines Jahres (1981 auch für das zweite Jahr, ausgenommen Ostblockflüchtlinge), versagte fortan das Kindergeld und ermächtigte die Behörden, die Sozialhilfe durch Sachleistungen plus Taschengeld zu erbringen. Ebenso wurde die erweiterte Sichtvermerkspflicht für Afghanistan, Äthiopien, Sri Lanka, Bangladesch, die Türkei und Indien eingeführt83 • Diese administrativen Maßnahmen halbierten die Bewerberzahlen 1981 8% Diese (mindestens) sechsjährige "Aufenthaltserlaubnis durch Rechtsmitteleinlegung" ist ebenfalls ein bundesrepublikanisches Unikat und der Grund für Türken, Inder und Pakistani, Asyl gerade in der Bundesrepublik zu suchen, obgleich sie hier zu weniger als ein Prozent als Asylberechtigte anerkannt werden. Diese Deutung von F. Franz ist sicher richtig (in: Beitz/ Wollenschläger, Hrsg., Handbuch des Asylrechts, Bd. 2, 1981, S. 794 ff.). Die Kosten dieses Aufenthalts sind von beachtlicher Höhe: Bund, Länder und Gemeinden mußten allein 1984 für die Versorgung der Asylbewerber etwa 2 Mrd. (!) DM aufwenden, s. BT-Drucks. 10/3346 v. 14.5.1985, S. 5. 83 BT-Drucks. 9/875, S. 12.

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auf 49391 und ließen sie in den nächsten Jahren weiter fallen: 1982 auf 37423, 1983 auf 19737. Wo wie in Baden-Württemberg seit dem 15.9. 1980 die Asylbewerber in Sammelunterkünften mit Residenzpflicht

untergebracht wurden, ging die Zahl der Asylanten überdurchschnittlich zurück: 1980 wurden von den Asylbewerbern des Jahres in BadenWürttemberg noch 23 602 (= 21,89 v. H.) gezählt, 1981 sank der Anteil des Landes auf 2478 (= 5,01 v. H.) und 1982 auf 2023 (= 5,4 v. H.).

Das Asylverfahrensgesetz vom 16. 7. 1982 verselbständigte das Asylverfahren, indem es die Anerkennungsprozeduren aus dem Ausländergesetz von 1965 (§§ 28-46) herausnahm und die Beschleunigungsnovellen aufhob. Das Asylverfahrensgesetz enthält nunmehr die Rechtsgrundlage für die Verteilung der Asylbewerber auf die einzelnen Bundesländer (§ 22), gebietet für sie die Gemeinschaftsunterkunft als Regelunterkunft mit Residenzpflicht (§ 23), besonders aber ordnet es neu das Verfahren vor dem Bundesamt, nämlich bei "offensichtlich unbegründeten" Anträgen (§ 11), und greift ebenfalls ein in das gerichtliche Verfahren durch Ausschluß eines Rechtsmittels, wenn das Verwaltungsgericht erster Instanz die Klage als "offensichtlich unzulässig oder offensichtlich unbegründet abgewiesen" hat (§ 32 VI AsyIVfG). Oberverwaltungsgerichte und Bundesverwaltungsgericht werden ebenfalls entlastet durch Einführung der Zulassungsberufung (§ 32 AsyIVfG). Das Bundesverfassungsgericht hat diese neuen Regelungen für verfassungsgemäß erklärtB'. Es hat sich jedoch als unmöglich erwiesen, mit Hilfe solcher Maßnahmen den Status quo ante 1973 wieder erreichen zu können. 1983 wurde zwar mit 16335 Anträgen für 19737 Personen der niedrigste Stand seit 1977 gemessen, aber diese Zahl ist immer noch fast viermal so hoch wie 1973. Am 30. August 1984 schließlich gab der Parlamentarische Staatssekretär des BMI, H. Waffenschmidt, bekannt, bis Ende Juli 1984 hätten 14841 Personen Asyl beantragt, die meisten aus Asien; bis Ende Juli 1983 seien lediglich 9680 Anträge gezählt worden B5 . Am 31. 12. 1984 hatte sich mit 35278 Asylanträgen die Zahl der Bewerbungen gegenüber 1983 mehr als verdoppelt. 1985 wird sich die Zahl von 1984 abermals um sich selbst erhöhen. Allein in den ersten drei Monaten des Jahres 1985 wurden mehr Anträge gestellt als im ganzen Jahr 1976, nämlich 14214 (1976: 11123); für 1985 rechnet die Bundesregierung deshalb mit über 70000 AsylanträgenB6. Die durchschnittliche Dauer des Anerkennungsverfahrens vor dem Bundesamt schnellte inzwischen von zwei bis drei Monaten auf zehn Monate empor. B4 BVerfGE 65, 76 = DVBl. 1983, S.1236; B. v. 9. 11. 1983, NVwZ 1984, S. 167; B. v. 2.5.1984, DÖV 1984, S.627. 85 "Die Welt" vom 31. 8. 1984. 86 Vgl. BT-Drucks. 10/3346 v. 14. 5. 1985, S. 2, 9.

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Die starren Vorgaben des Art. 16 II 2 GG machten es notwendig, internationale Hilfsaktionen an dieser Vorschrift vorbei durchzuführen. Flüchtlinge als Folgen von Revolutionen, Repressionen oder Vertreibungen nahm die Bundesrepublik auf, indem sie sich dem Flüchtlingskommissar der UNO gegenüber zur Aufnahme bestimmter Quantitäten ("Kontingente") verpflichtete. 1973 wurden so 2500 Plätze für Chilenen und 400 für Argentinier zur Verfügung gestellt, 1978 87 Plätze für Kurden aus dem Irak und 1980277 Plätze für Kubaner. Ausgenutzt wurden alle Plätze für Kurden und 1445 für Chilenen, aber nur 83 für Argentinier und zwei für Kubaner. Das größte Kontingent wurde für Flüchtlinge aus Vietnam ("boat people") bereitgestellt, zunächst 13000, später insgesamt 28500 Plätze, von denen etwa 23000 bisher ausgenutzt worden sind. Das "Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge" vom 22.7. 198087 regelt die Rechtsstellung dieser Flüchtlinge. Sie unterscheidet sich von der eines anerkannten Asylanten durch den Wegfall der Prozeduren des Anerkennungsverfahrens, ist also verfahrensmäßig günstiger; es genügt eine Aufenthaltserlaubnis in der Form eines Sichtvermerks oder einer übernahmeerklärung gern. § 22 Aus1G88 • In der Bundesrepublik leben jetzt also drei Gruppen im Umkreis des Art. 16 II 2 GG: 1. Die im Verfahren nach Art. 16 II 2 GG anerkannten 52000 Asylberechtigten mit etwa 100000 Familienangehörigen; dazu kommen 100000 und mehr Asylbewerber811 •

2. Die De facto-Flüchtlinge: Es sind dies nach der Definition der Parlamentarischen Versammlung des Europarats solche Personen, die nicht als Flüchtlinge im Sinne von Art. 1 Ader Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt sind, die aber aus politischen, rassischen, religiösen oder anderen triftigen Gründen nicht in ihren Herkunftsstaat zurückkehren können oder wollen llo • In der Bundesrepublik sind De facto-Flüchtlinge vor allem die nicht als politische Flüchtlinge anerkannten Fremden, die als Staatsangehörige eines Ostblockstaates jedoch nicht in ihren Heimatstaat abgeschoben werden. Ebenfalls nicht abgeschoben werden aus BGBL I, S. 1057. Einzelheiten schildert Wolfgang G. Beitz, in: Beitz/Wollenschläger, Bd. 2, 1981, S. 517 ff. 89 Vgl. die Bestandsaufnahme des BMI in der BT-Drucks. 10/3346 v. 14. 5. 1985, S.4. 110 Empfehlung Nr. 773 (1976), 27. Sitzung Paul Weis, in: Grenzfragen des innerdeutschen Asylrechts, 1976, S. 120 ff., 123, rechnet dazu alle Personen, deren Asylgesuche abgelehnt worden sind, "heimliche Flüchtlinge", die auf ein Asylgesuch verzichten, weil sie durch ein Asylgesuch die Angehörigen in der Heimat nicht gefährden oder in ihre Heimat zurückkehren oder vom Zufluchtstaat aus das heimatliche Regime bekämpfen wollen, was ihnen als anerkannten Asylberechtigten z. B. in der Schweiz untersagt wäre. 87 88

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humanitären Gründen Christen aus der Türkei, Flüchtlinge aus dem Iran, aus Äthiopien, Afghanistan, Libanon, Sri Lanka, Vietnam und China, wenn das Merkmal "politischer Verfolgung" verneint werden muß. Der ihnen eingeräumte Status "schlichter Duldung" bedeutet rechtlich nur eine zeitweise Aussetzung der Abschiebung (§ 17 I AusIG). In der Praxis kann sich, wie die Erteilung der Arbeitserlaubnis nach zwei Jahren erweist, aus solcher Duldung jedoch ein faktisches Aufenthaltsrecht auf Widerruf entwickeln: "Die Duldung ist zu widerrufen, wenn die Gründe, die der Abschiebung entgegenstehen, entfallen" (§ 17 I 3 AusIG). Da das Herrschaftssystem der Ostblockstaaten unverändert geblieben ist und auch im Iran, in Äthiopien und Afghanistan die innenpolitische Lage keine Zeichen bevorstehender Umwälzungen aufweist, muß von einem Daueraufenthalt dieser Flüchtlinge ausgegangen werden, deren auf 200 000 geschätzte Zahl viermal so hoch ist wie diejenige der anerkannten Asylberechtigten. 3. Die Kontingentflüchtlinge bilden zwar die quantitativ kleinste Gruppe. Bei den Flüchtlingen aus Vietnam ist jedoch mit einer Vergrößerung der Zahl zu rechnen, wenn Familienangehörige, die sich jetzt z. B. in Flüchtlingslagern auf den Philippinen usw. befinden, Familienzusammenführung mit ihren von der Bundesrepublik aufgenommenen Verwandten beantragen. Die Bundesrepublik ist also seit 1973 Fluchtziel verschiedener Flüchtlingswellen gewesen. Gewiß ist sie nicht das einzige Asylland. Auffällig ist indes die ungleichmäßige Verteilung der Flüchtlinge. Unmittelbare Nachbarn von Fluchtländern nahmen die meisten Flüchtlinge auf: der Sudan 460000 Äthiopier, Pakistan 2,7 Millionen und der Iran 1,6 Millionen AfghanenDl • Japan hat sich Flüchtlingen unter Hinweis auf seine übervölkerung (300/km2 ) so gut wie ganz versperrt; es überweist dem UN-Flüchtlingskommissar bescheidene Geldbeträge. Die arabischen Öl staaten sind zwar der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten, entziehen sich aber den Konventionsfolgen, indem sie die Grenzen für Flüchtlinge verschlossen halten - trotz anhaltenden Bedarfs ausländischer Arbeitskräfte. 11 Das Asyl der Afghanen im Iran die Schätzungen ihrer Zahl schwanken neuerdings zwischen 1,7 und 2 Millionen - steht allerdings unter besonderen Vorzeichen. So wird berichtet, ihre Lebensbedingungen seien (noch) schlechter als die ihrer Schicksalsgefährten in Pakistan. Von den Männern werde "freiwilliger" Kriegsdienst im Kampfe gegen den Irak gefordert; wer sich weigere, werde deportiert in Lager an der iranisch-irakischen Grenze, also einer kriegerischen Pufferzone (W. H. Rueb, "Die Welt" v. 14.11. 1984). Auch die Zahlen für den Sudan schwanken: "Nach Schätzungen der Vereinten Nationen halten sich in sudanesischen Lagern derzeit mehr als 1 Million Flüchtlinge auf. Die meisten stammen aus Äthiopien. Mit weiteren 300 OO~OO 000 neu eintreffenden Flüchtlingen wird gerechnet." ("Die Welt" v. 23. 1. 1985, S. 5).

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Die freiheitlich verfaßten und zugleich hochindustrialisierten Länder Europas und Nordamerikas (USA, Kanada) sowie Australien sind das Ziel für jene, die Freiheit von Verfolgung und zugleich eine Verbesserung der Lebensumstände suchen; im fernen Europa, Amerika und Australien wird sie eher vermutet als in den übervollen Flüchtlingslagern der Anrainerstaaten. Das sog. Wohlstandsgefälle zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern zieht naturgemäß auch solche Menschen an, die als "Wirtschaftsflüchtlinge" nicht politischer Verfolgung, sondern der Not entfliehen wollen: Stammesfehden, Bürgerkrieg, Übervölkerung, Dürre und Armut. So viel Mitgefühl jeder einzelne dieser Fälle durch seine bedrückenden Umstände auch hervorruft: Das Asylgrundrecht ist schon durch seinen Zuschnitt auf den individuellen Einzelfall und Grundrechtsträger kein geeignetes Instrument, die Not dieser Welt auch nur zu lindern. Da Art. 16 II 2 GG gegenwärtig aber der einzige jedermann zugängliche Schlüssel ist, die Einwanderungspforte zur Bundesrepublik aufzuschließen, fehlt es nicht an Versuchen, die Bedingungen und Merkmale der "politischen Verfolgung" zu verändern, um den Kreis der Grundrechtsadressaten zu erweitern.

5. Politische Rahmenbedingungen der Asylrechtsdiskussion In den öffentlichen Debatten um die Auslegung und Handhabung des Art. 16 GG sind die Stimmen bemerkenswert ungleich verteilt. Von einigen sehr allgemein gehaltenen Erklärungen im Parlament abgesehen, sitzt die Verwaltung auf der Anklagebank, nicht selten auch der Bundestag. Als der Bundesgesetzgeber die Rechtsmittel einschränkte, wurde er auch von Juristen gemaßregelt, die es durch langjährige Befassung mit der Sache eigentlich besser wissen müßten: "Weit schlimmer aber ist, daß mit diesen gesetzgeberischen Maßnahmen das geltende Verfassungsrecht des Asyls in bedenklicher Weise manipuliert, nahezu ausgehöhlt wird'2." Kirchen und Wohlfahrtsverbände nehmen gleichsam von Amts wegen Partei für den Flüchtling: "Auf der Seite der Flüchtenden, Kirche Caritas - und Asylbewerber" überschrieb ein Weihbischof seinen einschlägigen Grundsatzartikel'3 • Karitative und andere Hilfsorganisationen für Flüchtlinge agieren als reinblütige Interessenverbände. In der Gutachtenpraxis, die im Asylbereich naturgemäß eine besondere Rolle spielt, geschehen seltsame Dinge. Verneint ein Gutachter z. B. die Verfolgung der kirchlichen Klientel, so wird er angegriffen wie ein Häretiker ("in einem ausgesprochen inhumanitären Geist geschrieben"). Solche Gutachten werden auch kurzerhand als "vertraulich" eingestuft und unterdrückt, "damit sie nicht auf den Markt kommen und damit in dem Entscheidungsprozeß (des Bundesamtes und der Gerichte) nicht berücksichtigt werden können .... Eine vom Auswärtigen Amt in Stockholm herausgegebene Stellungnahme ist auf Druck der Kirche in Schweden unter Verschluß genommen worden. Erst auf meine heftigen Interventionen hin und weil gute Beziehungen zur schwedischen Botschaft bestehen, ist es mir gelungen, an diese Stellungnahme heranzukommen'4 •" Die Versagung der Arbeitserlaubnis und die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften wurden als Verletzung der menschlichen 92 W. Kanein, Asylrecht und Verfassungs recht, hrsg. vom Deutschen Caritasverband, 1981, S. 7. 93 ZAR 1981, S. 22 ff. Dagegen ist gewiß nichts einzuwenden, würde diese Standortbestimmung als Flüchtlingshilfe mit eigenen Mitteln realisiert und nicht zugleich oder vornehmlich als Parteinahme gegen den Staat. 9' So 1981 der Leiter des Zirndorfer Bundesamts H.-G. Dusch, in: Köfner/ Nicolaus, S. 192. Die vorher zitierte Wendung ebenda, S. 194.

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Würde verdächtigt. Solche Anklagen sind leicht zu formulieren, wenn die menschliche Würde nur individuell genug definiert und die Eigenheiten jedes Lebens in Gemeinschaftsunterkünften stimmungsvoll genug abgesetzt werden gegen das Leben der Bundesbürger draußen05• Flüchtlinge großzügig aufzunehmen ("unbürokratisch und schnell"), wird zugleich als Pflicht der Bundesrepublik zur Wiedergutmachung deutschen Unrechts bezeichnet. Wer mangels Kausalitäten und nach vierzig Jahren keinen Anlaß sieht, sich an diesem Portepee fassen zu lassen, dem fehlt nicht nur das richtige historische Bewußtsein; ihm wird "Fremdenangst" und "Provinzialismus" bescheinigt, er sieht sich also als Psychopath und Hinterwäldler gebrandmarkt, Figuren, die in der öffentlichen oder wissenschaftlichen Diskussion nichts zu suchen haben 98 • Der Einfluß nichtstaatlicher Organisationen wie "amnesty international", "Caritas", "Rotes Kreuz" und ähnlicher Organisationen auf die Bildung der öffentlichen Meinung ist bekannt. Ihr Einfluß wird verstärkt durch ihre Anwesenheit auf UN-Konferenzen, auf denen ihre Vertreter ohne Stimmrecht, aber mit Rederecht zugelassen sindo 7 • Sich 95 z. B. Hennig/Wießner (Hrsg.), Lager und menschliche Würde, 1982; Wießner, InfAuslR 1982, S. 261 ff. Vgl. demgegenüber den nüchternen Bericht von R. Kraus, Unterbringung von Asylbewerbern in Gemeinschaftsunterkünften

(Hessen), ZAR 1983, S. 194 ff. - Das Bundesverfassungsgericht (Vorprüfungsausschuß) hat eine Verfassungsbeschwerde gegen die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft nicht zur Entscheidung angenommen (NJW 1984, S.558). oe Repräsentativ für diesen denunziatorischen Stil: Christoph Gusy, in: O.-Benecke-Stiftung, Asylpolitik der Bundesrepublik Deutschland, 1983, S. 109 f. - Ein norwegischer Kollege scheint ebenfalls Art. 16 II 2 GG als eine Art ewiger Reparationslast zugunsten jener zu verstehen, die mit den zwölf Jahren des Dritten Reiches weder räumlich noch genetisch etwas zu tun haben: "Die Normierung des Asyls war eine Art Wiedergutmachung ... Aus diesen Gründen bereitet es uns in Europa Kummer, wenn man in der Bundesrepublik ernsthaft erwägt, die Asylrechtsbestimmung aufzuheben. Denn das wäre wirklich ein sehr beängstigendes Signal ... Deutschland ist kein x-beliebiges Land; Deutschland hat eine Geschichte, die man nicht ohne weiteres überstreichen und vergessen kann. Man muß der Bundesrepublik Deutschland vor Augen halten, daß sie sich noch auf Probe in der Staatengemeinschaft befindet." (A. Grahl-Madsen, in: Köfner/Nieolaus, S.41). Diese Äußerung, 1981 in der Bundesrepublik gefallen auf einer Tagung, die von der wissenschaftlichen Kommission des Katholischen Arbeitskreises Entwicklung und Frieden (KAEF) veranstaltet worden war, veranlaßte keinen der über 70 deutschen Teilnehmer zu der doch wohl naheliegenden Frage, ob der ausländische Tagungsgast ggfs. seine Regierung auffordern werde, von der NATO und den Vereinten Nationen den Ausschluß der Bundesrepublik zu verlangen oder die Feindstaatenklausel der UN-Satzung gegen die Bundesrepublik zu reaktivieren. D7 Bei der Sitzung der UN-Kommission für Menschenrechte am 29.2.1984 nahmen nach den Vertretern der Staaten vier Vertreter privater Organisationen ausführlich das Wort, vgl. United Nations, Eeonomie and Social Couneil, Commission on Human Rights, E/CN. 4/1984/SR. 33, S. 13 ff. , Quaritsch

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selbst als "humanitäre Öffentlichkeit" begreifend, in der Sache aber Interessenvertreter, kontrollieren sie die offiziellen Stellungnahmen der Staatsvertreter und üben auf diese indirekte Weise einen durchaus spürbaren Druck aus. Die Wirksamkeit dieser potestas indirecta beruht auf der humanitären Selbstverpflichtung der Staaten, die in den westlichen Ländern durch keine zusätzlichen ideologischen Halterungen abgestützt und ausgerichtet wird, also ungebremst auf das staatliche Handeln durchschlägt. Diese Einflußnahmen scheinen um so erfolgreicher zu sein, je höher die politischen Institutionen stehen und je weniger sie mit der unmittelbaren Verantwortung für die Bewältigung der Flüchtlingsprobleme belastet sind. Ein Beispiel für diese Feststellung bietet die Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats Nr.773 (1976) zur Rechtsstellung der De facto-Flüchtlinge. Der dem Parlament vorgelegte Bericht des "Committee on Population and Refugees" vom 5.8.1975 (Doc. 3642) erzählt gleich am Anfang, sechs private ("non-governmental") Hilfsorganisationen - aus der Bundesrepublik die OttoBenecke-Stiftung - hätten eine Arbeitsgruppe über das Flüchtlingsprdblem in Europa eingesetzt. Zwei Sachverständige dieser Gruppe hätten eine Studie über die De facto-Flüchtlinge vorgelegt: "The present report is, to a great extent, based on the findings of these two experts" (S.4). Zum Vergleich: Dieser Verfahrensweise entspräche ein Ausschußbericht des Bundestages über die Umweltbelastung durch chemische Produkte, der sich "to a great extent" auf eine Untersuchung durch Sachverständige von Umweltschutzorganisationen stützt, ohne die chemische Industrie und die staatlichen Untersuchungs institute anzuhören - oder umgekehrt, der sich allein die Aussagen der Sachverständigen des Verbandes der chemischen Industrie zu eigen gemacht hätte. Im humanitären Bereich fallen solche Absonderlichkeiten anscheinend nicht auf. Der Beschluß der Kommission, einschränkungslos übernommen vom Europäischen Parlament, liest sich wie der Wunschzettel einer Einwanderungsagentur; er empfiehlt den Mitgliedstaaten, die De factoFlüchtlinge den anerkannten Flüchtlingen in allen wesentlichen Punkten gleichzustellen. Hier brauchen die einzelnen Angleichungspunkte nicht erörtert zu werden. Die Realisierung dieser Forderung würde alle Prüfungs- und Anerkennungsverfahren überflüssig machen. Im Ergebnis kommt die Empfehlung einer Forderung gleich, alle Prüflinge, die noch nicht ins Examen gegangen oder durch dieses Examen gefallen sind, so zu behandeln wie die erfolgreichen Examenskandidaten. Ein Punkt mag indes erwähnt werden, weil an seiner Behandlung deutlich wird, wie realitätsfremd und interventionsfreudig solche Empfehlungen sein können. So wird unter II iii gefordert, die De factoFlüchtlinge hinsichtlich ihrer politischen Aktivitäten den eigenen Staats-

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angehörigen gleichzustellen; nur die mit der Staatsangehörigkeit verbundenen eigentlichen staatsbürgerlichen Rechte (z. B. Wahlrecht) sollten von der Gleichstellung ausgenommen bleiben. In der Kommissionsbegründung (S. 7/8) wird auf zwei warnende Gegenbeispiele verwiesen, nämlich auf die schweizerische Regelung, nach der Flüchtlingen generell jede politische Betätigung untersagt ist, und auf die Einschränkungsmöglichkeiten des § 6 des deutschen Ausländergesetzes. Der Kommissionsbericht spricht den realen Hintergrund und die Motive dieser Normen mit keinem Wort an. Erörtert wird nur die psychische Situation des Flüchtlings; er könnte durch Einschränkungen oder gar Verbote seiner politischen Aktivitäten frustriert und dadurch in die Illegalität oder gar in die Opposition gegenüber jeder staatlichen Autorität getrieben werden. Nicht in den Sinn kommt den Berichtsverfassern die einfache Lebenswahrheit, daß Gäste, eingeladen oder geduldet, die Hausordnung respektieren müssen, ihre psychischen Befindlichkeiten den elementaren Interessen des Gastgebers anzupassen haben, und daß der Gastgeber es ist, der seine Interessen definieren darf. Natürlich verschweigt der Bericht auch, wie außerordentlich zurückhaltend die Behörden der Bundesrepublik die Ermächtigungen des § 6 Ausländergesetz nutzen und wie vergleichsweise häufig Ausländer in der Bundes republik extremistisch organisiert sind". In dem viel apostrophierten "Jahrhundert der Flüchtlinge" setzt sich ein Staat, der überhaupt Asyl gewährt, schon dadurch auf die Anklagebank, daß er dieses Asyl nicht allen Flüchtlingen bietet (von Japan, das sich den ausländischen Flüchtlingen generell sperrt, ist nie die Rede). Denn die zweite Hälfte des Jahrhunderts ist zugleich die Zeit der großen Unterschiede zwischen Industrienationen und Entwicklungsländern, genauer formuliert: die Zeit, in der die modernen Medien den Unterschied zwischen "armen" und "reichen" Ländern - es hat ihn in historischen Zeiten stets gegeben - in jedermanns Bewußtsein verankert haben, dazu nicht selten das von der marxistischen Linken und 98 Zu § 6 AuslG s. K. Hailbronner, S. 138 ff.; zu den extremistischen Betätigungen s. die detaillierten Mitteilungen von G. v. Loewenich, 53. DJT 1980, Sitzungsbericht L, S. 78 ff. Nach dem "Verfassungsschutzbericht 1983" waren in der Bundesrepublik absolut mehr Ausländer extremistisch organisiert (114300) als deutsche Staatsbürger in deutschen Extremisten-Gruppen (80450). Während die Zahl der ausländischen Extremisten von ihrem Höchststand 1981 (123 800) zunächst zurückging, ist sie inzwischen wieder auf 116000 gestiegen ("Verfassungsschutzbericht 1984"). Da diese Schwankungen mit denen der Asylanträge übereinstimmen (s. vorn S. 43/44), ist ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen. - Das politische Spektrum beschreibt der "Verfassungsschutzbericht 1984" mit diesen Zahlen: orthodox-kommunistische Gruppen: 59650 (1983: 58300); Vereinigungen der "Neuen Linken": 22000 (1983: 23300), zusammen 81650; Rechtsextremisten: 3000 (1983: 3000); nationalistische Gruppen: 11 700 (1983: 17100), zusammen 14700; islamischextremistische Gruppen: 19650 (1983: 12600).

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den Ideenagenturen der Entwicklungsländer gepflegte Gefühl, als Mittel- und Westeuropäer am Elend der Dritten Welt schuldig zu sein, sei es als ehemalige Kolonialmacht, sei es als Nutznießer der internationalen Marktwirtschaft, welche die Entwicklungsländer ausbeute und auch für staatliche Gewaltherrschaft in diesen Ländern verantwortlich sei'9 . Die grundsätzlich für das Asyl und die "weite" Auslegung des Asylgrundrechts erhobenen Stimmen lassen sich nicht über einen Leisten schlagen. Viele solcher Äußerungen sind zwar einseitig, weil sie nur auf das unglückliche Schicksal des einzelnen Asylbewerbers reagieren, wurzeln aber in persönlichem MitgefühPoo. Einige sehen auch die sozialen und rechtlichen Probleme, die dem Zufluchtland durch die vielen Einzelschicksale heute und künftig erwachsen und vernachlässigen sie nicht in ihrer Argumentation101 • Kirchliche Stellungnahmen vermitteln gelegentlich den Eindruck, als seien Ausländer als Caritas-Objekt und Ersatz für die gescheiterte Volksmission hoch willkommen. Teile des niederen, gelegentlich auch des hohen Klerus reagieren in einer Weise, die nur noch als rechtsfremd zu bezeichnen ist. Die einen benutzen die ihnen anvertrauten Gotteshäuser zu kindlichen "Asyl"-Spektakeln - dazu an ungeeigneten Objekten - , die anderen scheuen sich nicht, den staatlichen Instanzen, die diesen Unfug recht- und pflichtgemäß mit dem mildesten Mittel beenden, "menschenunwürdiges" Verhalten öffentlich vorzuwerfen102 • 91 R. Marx hat diese Vorstellungs linie in seiner Frankfurter Dissertation ausgeführt und versucht, auf diese Weise den "Wirtschaftsflüchtling" ("Armutsflüchtling") in ein Objekt politischer Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG zu verwandeln (Eine menschenrechtliche Begründung des Asylrechts. Rechtstheoretische und -dogmatische Untersuchungen zum Politikbegriff im Asylrecht, 1984, S. 55 ff.). Die praktische Tätigkeit des Verf. im Bundesvorstand von amnesty international illustriert der von dieser Organisation bei Nomos 1978 hrsg. Band "Bewährungsprobe für ein Grundrecht". 100 Oft sind die juristischen Vertreter dieser Richtung zugleich in oder auch an der Spitze von entsprechenden Interessengruppen tätig. Insofern erbrachte der ungewöhnliche Vorstellungs zwang bei der ausländer- und asylrechtlichen Diskussion des 53. DJT einen eindrucksvollen "Who's Who" (vgl. Sitzungsbericht L, S.9, 51, 56, 109/110, 113, 117, 213, 250, 252); dasselbe gilt für die Angaben zu den einzelnen Autoren des von W. Beitz und M. WoHenschläger herausgegebenen Handbuchs des Asylrechts (Bd. 2, 1981, S.815). 101 z. B. O. Kimminich (FN 39), S. 152 ff. Der Altmeister des Asylrechts hat das bittere Schicksal von Unterdrückung, Vertreibung und Asyl selbst erlitten. 102 Pars pro toto stehe hier der "Fall Alviola". Eine philippinische Seemanns frau hatte 1978 beim deutschen Konsulat in Manila vergeblich eine Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik beantragt; da ihr Mann ebenfalls philippinischer Staatsangehörigkeit - zur See fahre (damals mit einem deutschen Seefahrtsbuch auf einem deutschen Handelsschiff), käme eine Familienzusammenführung nicht in Betracht. Am 15. November 1981

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Autoren mit neomarxistischer Optik, besonders der Seminarsoziologie, füllen die Regale mit immer neuen Nachweisen einer angeblich und endlich wieder existenten verelendeten Unterschicht. Und in manchem Hinterkopf blieb jene visionäre Hoffnung hängen, mit der Herbert Marcuse, der Weltdeuter der rebellierenden Studenten von 1968, sein Buch über die "eindimensionale" bürgerliche Gesellschaft abschloß. Diese Gesellschaft mit ihrem "konservativ" gewordenen Volk könne nur zerstört werden durch "das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses; ihr Leben bedarf am unmittelbarsten und realsten der Abschaffung unerträglicher Verhältnisse und Institutionen. Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. Ihre Opposition trifft das System von außen und wird deshalb nicht durch das System abgelehnt; sie ist eine elementare Kraft, die die Regeln des Spiels verletzt und es damit als ein aufgetakeltes Spiel enthüllt. Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitivsten Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. Ihre Kraft steht hinter jeder politischen Demonstration für die Opfer von Gesetz und Ordnung. Die Tatsache, daß sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer kam sie ohne Sichtvermerk und ohne Aufenthaltserlaubnis als Touristin nach Hamburg; ihr Mann fuhr inzwischen auf einem ausländischen Handelsschiff und war seit dem 10.7.1981 ohne deutsches Seefahrtsbuch. Sein 1980 gestellter Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis, um in der Bundesrepublik an Land arbeiten zu können, war ebenfalls abgelehnt worden. Im Februar/ März 1982 beantragte Frau Alviola eine Aufenthaltserlaubnis (Familienzusammenführung), die verweigert wurde. Die behördlich angeordnete Abschiebung wurde von den Verwaltungs gerichten 1. und 2. Instanz für rechtmäßig erklärt. Ihre Eingabe beschied der Eingabenausschuß der Hamburgischen Bürgerschaft am 28.9. 1983 als "nicht abhilfefähig" (Drucks. 11/1127). Zum Vollzug sollte es erst 1984 kommen, woraufhin einige Pastoren den "Schutz der Kirche" und "Verstecke" bei den Mitgliedern der Kirchengemeinden anboten. DKP, Abgeordnete der "Grünen und Alternativen" (GAL) funktionierten diesen Fall des Ausländerrechts in einen Asylfall um und entfachten eine vehemente Öffentlichkeitskampagne, die auch in das überregionale Fernsehen und die entsprechende Presse reichte. Die Bürgerschaft beschäftigte sich mehrfach mit dem Fall (am 28.9.1983, Drucks. 11/1127, S.1178 ff.; am 31. 10.1984, Plenarprot.11/50, S. 2895 ff.). In der letzten Phase wohnte Frau Alviola mit ihren bei den Kindern (12 u. 14 J. alt) in der St. Stephanus-Kirche, unterhalten, interviewt usw. von Pastor, Kirchenvolk und dem, was im Parlament "eine bestimmte Lobby" genannt wurde (Drucks. 11/1127, S. 1181 B). Als Polizisten die rechtskräftige Abschiebungsanordnung schließlich durch Hinaustragen aus der Kirche vollziehen mußten, empörte sich der hamburgische Landesbischof Peter Krusche über einen "menschenunwürdigen Abschluß" (s. den Bericht von P. Schütte, "Die Welt" v. 30. 11. 1984).

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Periode markiert lo3." Jede Einengung des Asyltatbestandes, jede Zuzugsbeschränkung, jede behördliche oder gerichtliche Verweigerung des Asyls, jede Ausweisung schiebt die Erfüllung dieser Hoffnung hinaus, denn diese Mittel verhindern einen Zuwachs des revolutionären Potentials, schwächen jene Kraft, die allein imstande sein soll, die bürgerliche Gesellschaft und ihren Staat in die Luft zu sprengen und aus ihren Trümmern den neuen Menschen einer repressionsfreien Welt zu gebären. Auch auf dem Hintergrund dieser politischen Eschatologie ist die irrationale Ineinssetzung von "Armutsflüchtlingen" der dritten Welt mit den "politisch Verfolgten" des Art. 16 II 2 GG zu verstehen, aber auch die bis ins Parlament und ans Flugzeug reichenden Protestdemonstrationen bestimmter Gruppen, wenn nach rechtskräftig abgeschlossenem Asylverfahren ein Gesinnungsgenosse ausgewiesen werden soll. Das in der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft ausgeprägte und vielfältig gepflegte Mitgefühl mit mediengerecht aufbereiteten Einzelschicksalen von Armut und Hilflosigkeit, das diffuse Bedürfnis nach Entrüstung über erbarmungslose Mechanismen der als herzlos vorgestellten Staatsbürokratie und ihrer Regeln sowie die mit der Sicherheit Pawlow'scher Reflexe zu gewärtigenden Vorverurteilungen, wenn Adjektive wie "ausländerfeindlich" oder "rassistisch" fallen - alle diese Umstände erleichtern es, aus einem Abschiebungsfall eine politische Waffe gegen die jeweilige Regierungspartei zu schmieden. Regierung und Verwaltung lassen sich, obwohl nach Recht und Gesetz handelnd und durch rechtskräftige Gerichtsurteile gesichert, u. U. Kompromisse abringen, um dem parlamentarischen und publizistischen Trommelfeuer zu entkommenIN. Diese Situation darf nicht als für die Innenpolitik eines freiheitlichen Gemeinwesens typisch oder unvermeidbar verharmlost werden. Parlament, Verwaltung und Gerichte sind durch Verfassung und Gesetz in jedem Einzelfall verpflichtet, das Allgemeine im Auge zu behalten, können diese Notwendigkeit aber in einem publi103 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 1967, S. 267; dergleichen war schon bei Bakunin zu lesen. 104 Beispielhaft in Durchführung und Abschluß die bereits erwähnten Auseinandersetzungen um den "Fall Alviola" und einen anderen Abschiebungsfall in Hamburg. Die GAL-Abgeordneten bezeichneten das rechtmäßige Verhalten von SPD-Regierung und Ausländerbehörde als "perfide", "brutal", "infam", "deprimierend", "falsche Tricks" (Drucks. 11/1127), "inhuman", "eine Farce", "unerträglich", "schlampig, rassistisch und ausländerfeindlich", "von persönlichen Vorurteilen geprägt", "reaktionär", "menschenfeindlich", "unglaubwürdig", "schlimmste Staatsfanatiker"; auch wurde angeklagt "die Grausamkeit eines Verwaltungstechnikers, der die persönlichen Schicksale von Menschen vergewaltigt" (Plenarprotokoll v. 31. 10. 1984, S. 2895-2903). Die Debatte im Bundestag am 8.9.1983 über den "Fall Altun" könnte diese Lese noch komplettieren (BT-Plenarprot. 10/19, S. 1243-1326). Zu diesem Fall s. unter 9.1.

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zistischen Klima, das am befremdlichen oder mitleiderregenden Einzelfall orientiert ist, kaum noch verdeutlichen. Wer etwa einen Fall als "Mustervorgang" ansehen und entscheiden muß, dem wird erfolgreich vorgeworfen, er wolle "ein Exempel statuieren" - was offenbar unzulässig sein solpo5. Auf Dauer zerstört dieser rechtsfeindliche Humanitarismus das Fundament der staatlichen Institutionen. Zugleich prägt er das Verhältnis der in der Bundesrepublik agierenden Ausländergruppen zu Verwaltung und Justiz und den jeweiligen Regierungsparteien; es ist schon jetzt (jedenfalls nach dem Vokabular) bestimmt von Realitätsverlust und Feindschaft, während die staatlichen Instanzen unverdrossen Herz und guten Willen zu demonstrieren habeni". Die westdeutsche Politik und die Rechtsprechung zu Art. 16 II 2 GG dürfen sich weder auf ideologische Scheinfährten leiten lassen noch die Bundesrepublik als Caritas-Unternehmen für ganze Kontinente mißverstehen; zunächst muß das eigene Haus in Ordnung gehalten bleiben. Wenn "Armutsflüchtlinge" z. B. aus Indien oder Bangladesch der heimatlichen Not durch Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik entrinnen wollen, wird niemand diesem Flüchtling persönliches Verständnis versagen können; aus demselben Grund sind im 18. und 19. Jahrhundert Hunderttausende Deutsche nach Nord- und Südamerika ausgewandert107 • Aber die Bundesrepublik, mittlerweile fast so dicht besiedelt wie Japan, ist kein Einwanderungsland wie heute noch Kanada und Australien; mit 7,5 v. H. ausländischem Bevölkerungsanteil (Japan: 0,3 v. H.!) ist ihre Integrationskapazität längst erschöpftl08.

105 Hbg. Bürgerschaft, Drucks. 11/1127, S.1178 C unter Zitation des Protokolls der NDR-Fernsehsendung "Freitags-Magazin" v. 14. 10. 1983, in dem der Leiter des hamburgischen Einwohner-Zentralamtes befragt worden war. 108 Bei der Anhörung der Bremischen Bürgerschaft am 4.15. 6. 1984 beklagten die Wortführer ausländischer Kulturgruppen und Jugendverbände Diskriminierung, Ausbeutung, Volksverhetzung, Menschenrechtsverletzung, organisierte Ausländerfeindlichkeit, Unmenschlichkeit, Nazismus und Rassismus; diese Vorwürfe richteten sich nicht gegen rechtsradikale Blättchen und Grüppchen, sondern gegen das Ausländergesetz, das Rückkehrhilfegesetz und die Ausländerpolitik der Bundesregierung. 107 Dazu die eindringlichen Beispiele von Arnold Gehlen (FN 1), S. 30 unter Hinweis auf Fr. Kapp, Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika, 1868. 108 Das ist communis opinio aller für Staat und Verwaltung Verantwortlichen in Bund und Ländern, s. z. B. die Erklärung des SPD-Senators Rolf Lange am 31. 10. 1984 in der Hamburger Bürgerschaft: "Integration kann aber nur dann gelingen, wenn sich der Anteil ausländischer Mitbürger nicht oder nicht wesentlich vergrößert. Auf den Aspekt der Arbeitsmarktsituation auch und gerade in Hamburg brauche ich nicht einzugehen. Eine verantwortungsbewußte Ausländerpolitik muß ein konsequentes FesthaIten am Anwerbestopp und am Einreisestopp beinhalten. Daran wird sich nichts verändern" (Plenarprotokoll11/50, S. 2899 C/D).

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5. Politische Rahmenbedingungen der Asylrechtsdiskussion

Das asyl rechtliche Schrifttum will das Integrationsproblem als "asylirrelevant" nicht einmal erörtern. In der Tat hängt der individuelle Asylanspruch weder von der Integrationskraft des Gemeinwesens allgemein noch von der Integrationsfähigkeit des einzelnen Asylsuchenden ab. Ob eine Rechtsnorm "weit" ausgelegt wird oder nicht, muß aber sehr wohl von Umständen abhängen dürfen, die das Ergebnis der Rechtsanwendung noch als den Forderungen der praktischen Vernunft entsprechend verständlich machen. Wer heute noch die 1959 geäußerte Meinung des Bundesverfassungsgerichts für richtig hält, der Begriff des politisch Verfolgten sei "weit" auszulegen, huldigt einem realitätsblinden Präjudizienkult, der schon zu Zeiten der Begriffsjurisprudenz überholt war - von der Frage einmal abgesehen, ob Rechtsnormen nicht lieber richtig statt "weit" oder "eng" auszulegen seien 109• Der Rechtsgrund der Anwesenheit eines "politisch Verfolgten" ist gewiß ein anderer als der eines Ausländers, der vor 1973 durch Vermittlung der Bundesanstalt für Arbeit oder nach 1973 auf dem Wege des Familiennachzuges in die Bundesrepublik gekommen ist. Die Probleme der Integration sind jedoch identisch, für den Ausländer wie für die damit befaßten Institutionen der Verwaltung und des Arbeitslebens. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß die Integration der Ausländer wesentlich von der Integrationsbereitschaft der Inländer abhängt. Die Bevölkerung pflegt aber nicht zwischen politischen Flüchtlingen und anderen Ausländern zu differenzieren. "Ausländerfeindschaft" oder doch wenigstens eine distanzierte Haltung gegenüber Ausländern schlägt auch zum Nachteil derer aus, die unstreitig als "politisch Verfolgte" den Schutz der Bundesrepublik genießen sollen. Die Nachteile, die diese Flüchtlinge unverschuldet infolge Mißbrauchs des Asylverfahrens durch die "Scheinasylanten" erlitten haben, waren ein wesentlicher Grund für die Eingriffe des Gesetzgebers und der Verwaltung. Die jetzt schon geforderten Erweiterungen des Begriffs des "politisch Verfolgten" könnten sich ebenfalls zu Lasten derjenigen auswirken, die durch Art. 16 II 2 GG geschützt werden sollen.

100 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 2. 1959 (E 9, 179) gewährte Asyl einem Mitglied des antikommunistischen "Bundes der

Serben". - Zur notwendigen Änderung der Auslegung, wenn sich die "Normsituation" verändert hat, s. K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft (5. Auf!. 1983), S. 334 ff.; zum richtigen Umgang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und speziell zur unkritischen übernahme älterer Judikate s. die erfrischenden Bemerkungen des BVerfG-Präs. W. Zeidler, 55. DJT (1984), Bd. II, S. N 92-N 95.

6. Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung 6.1 Das Verständnis im Parlamentarischen Rat Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die über das Asylgrundrecht berieten, hatten im Winter 1948/49 genügend Anschauungsmaterial zum Thema der "politischen Verfolgung"; sie waren sich, wie ihre vorn bereits referierten Beiträge erweisen, des Begriffs in doppelter Weise sicher. 1. Das Asyl für "politisch Verfolgte" wurde zunächst und in der Tradition bereits des 19. Jahrhunderts verstanden - soziologisch formuliert - als Privileg für politische Aktivisten, sollte also denjenigen zugute kommen, die - legal oder illegal - um Macht oder Einfluß im Staate kämpfend Objekt legaler oder illegaler staatlicher Zwangsmaßnahmen waren und aus diesem Grund ihr Land verließen. Auch ein rechts staatlich einwandfreies Hochverratsverfahren wie gegen Hitler 1924 sollte nach den Äußerungen im Parlamentarischen Rat "politische Verfolgung" im Sinne des Art. 16 II 2 GG sein. Die Einstufung des Verfolgerstaates als "Rechtsstaat" allein rechtfertigt noch nicht die Ablehnung des Asylgesuchs11O • Das Grundrecht sollte also nicht nur denen zugute kommen, die unter Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze und liberaler Prinzipien, also entgegen den westdeutschen Vorstellungen über den freiheitlichen Verfassungsstaat staatlich verfolgt werden. Wer daher wegen einer politischen Tat im Sinne des § 3 II AuslieferungsG nicht ausgeliefert werden durfte, erfüllte damit zugleich die Voraussetzung der "politischen Verfolgung" im Sinne des Art. 16 II 2 GG und konnte das Asylgrundrecht beanspruchen. Denn nicht die Art der Verfolgung, sondern Anlaß und Motiv der Verfolgung machen die Verfolgung zur "politischen", die dem Flüchtling den Asylanspruch verschafft. Mitgedacht wurde eine als völkerrechtlich verstandene Einschränkung des Asyls: Attentäter sollten aus dem grundgesetzlichen Asylschutz herausfallen; die einschlägigen Darlegungen von K. Schmid blieben unwidersprochen111 • § 3 II AuslieferungsG definierte die politischen Taten als "strafbare Angriffe, die sich unmittelbar gegen den Bestand oder die Sicherheit des Staates, gegen das Oberhaupt oder gegen ein Mitglied der Regierung des Staates als solches, gegen eine verfassungsmäßige Körper110 111

BVerwG, növ 1972, S. 798. Verhandlungen, S.218.

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6. Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung

schaft, gegen die staatsbürgerlichen Rechte bei Wahlen oder Abstimmungen oder gegen die guten Beziehungen zum Ausland richten". Die strafrechtliche Sanktion dieser Taten als "politische Verfolgung" zu verstehen, sah die h. M. zunächst keinen Anlaß zu bezweifeln und ordnete sie ohne Bedenken dem Art. 16 II 2 GG zu 112 • Das Asyl kann in jenen Fällen, in denen Verfassungsfeinde (Regimegegner) in Anwendung strafrechtlicher Staatsschutztatbestände mit rechtsstaatswidrigen Mitteln verfolgt, z. B. gefoltert werden, zugleich die Menschenwürde des Verfolgten schützen. Dieses Resultat ist jedoch nicht Zweck des Asyls im Sinne einer Tatbestandsvoraussetzung, sondern eine Folge, deren Eintritt mit der Asylgewährung nicht notwendig verbunden ist. 2. Die Bezugnahmen auf die russischen und deutschen Emigrationen im Parlamentarischen Rat lassen allerdings auch die selbstverständliche Einbeziehung jener als "politisch Verfolgte" erkennen, die nicht durch politischen Aktivismus, sondern durch einseitige Feindbestimmung zur "politischen" Gruppe gemacht wurden, etwa Kulaken, Christen oder Juden. Wenn der Staat solche Gruppen als politische Größen und Gegner ansieht und an die Gruppenzugehörigkeit Maßnahmen knüpft, die Freiheit oder körperliche Unversehrtheit des einzelnen beeinträchtigen (" Verfolgung"), ist der Tatbestand "politischer" Verfolgung gleichfalls gegeben. Ein so erfahrungsbeladener Begriff wie derjenige der "politischen Verfolgung" kann sinnvoll nur unter Berücksichtigung des Sinnes ausgelegt werden, der bei seiner übernahme in die Verfassung mit ihm verbunden worden ist. Die Tatbestände der Flüchtlingskonvention Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung - können den Begriff der politischen Verfolgung in Art. 16 11 2 GG zwar nicht authentisch interpretieren, aber wie auch sonst bei der Auslegung von Rechtsnormen übereinkunft über den begrifflichen Inhalt herbeiführen, weil sie die übereinstimmende Rechtsüberzeugung der Beteiligten vollständig wiedergeben. Die Konkretisierung durch bestimmte Tatbestände, die mit nachprüfbaren Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart verbunden sind, macht den sonst so vieldeutigen Begriff der "politischen" Verfolgung handhabbar. § 28 des Ausländergesetzes von 1965 gab die damals noch vorhandene übereinstimmung über die in Frage kommenden Verfolgungstatbestände wieder, indem für die Asylberechtigung pauschal auf Art. 1 der Flüchtlingskonvention von 1951, also auf die Gruppenverfolgung Bezug genommen wurde (§ 28 Nr.l AuslG) und in einem Auffangtatbestand (Nr.2: "sonstige Ausländer, die politisch Verfolgte nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes sind") Raum für 112 BVerfGE 9, 174 (180); BVerwGE 4, 238 (241); O. Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 16 Erl. 157 a. E. (Zweitbearbeitung 1964). Maunz, in: Maunz! Dürig!Herzog, Grundgesetz, Art. 16 Erl. 45.

6.2 Die Neubestimmung des Begriffs nach 20 Jahren

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andere Fälle, z. B. des § 3 AuslieferungsG gelassen wurde, in der weisen Erkenntnis, daß das Leben mehr Phantasie besitzt als der Gesetzgeber. 6.2 Die Neubestimmung des Begriffs nach 20 Jahren Diesen aus der Entstehungsgeschichte entwickelten Anwendungsbereich des Asylgrundrechts haben in den 70er Jahren Schrifttum und Rechtsprechung eingeengt, indem der Strafverfolgung wegen einer "politischen Tat" (§ 3 II AuslieferungsG) der automatische Charakter "politischer Verfolgung" im Sinne des Art. 16 II 2 GG genommen wurdell3• Andererseits und zugleich wurde der Anwendungsbereich des Asylgrundrechts erweitert, besonders durch die neue Fundierung im Menschenwürdeschutz (dazu Kap. 7). Die einengende Neubestimmung des Asylgrundrechts wurde maßgeblich beinflußt durch die Veränderungen des Auslieferungsrechts. Das "Europäische Auslieferungsübereinkommen" von 1957, in der Bundesrepublik in Kraft seit 1964114 und das Deutsche Auslieferungsgesetz von 1929 ergänzend, enthielt in Art. 3 I das herkömmliche Privileg der Nichtauslieferung des Täters, "wenn die strafbare Handlung, derentwegen sie begehrt wird, vom ersuchten Staat als eine politische oder als eine mit einer solchen zusammenhängende strafbare Handlung angesehen wird". Absatz 3 repetierte die ehrwürdige Attentatsklausel der Auslieferungsverträge (" ... wird der Angriff auf das Leben eines Staatsoberhaupts oder eines Mitglieds seiner Familie nicht als politische strafbare Handlung angesehen"). Für das Auslieferungsrecht neu war der Tatbestand des Art. 3 II, der die persönlichen Merkmale der Flüchtlingskonvention von 1951 zu einem selbständigen Verweigerungsgrund für alle strafbaren Handlungen erhob: "Das gleiche gilt, wenn der ersuchte Staat ernstliche Gründe hat anzunehmen, daß das Auslieferungsersuchen wegen einer nach gemeinem Recht strafbaren Handlung gestellt worden ist, um eine Person aus rassischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen, oder daß die verfolgte Person der Gefahr einer Erschwerung ihrer Lage aus einem dieser Gründe ausgesetzt wäre." Damit war eine Variante des Asylrechts im europäischen Auslieferungsrecht kodifiziert worden, nämlich die Behauptung einer kriminellen 113 Literarisch führend K. Doehring, ZaöRV Bd.25, 1965, S.219/20; ders., ebenda, Bd.26, 1966, S.39; W. Zeidler/K. HaHbronner, FS R. Sieverts, 1978, S. 109 ff.; Schaetter, S.53-55; in der Rspr. zunächst BVerwGE 49, 202, 206; jetzt grundlegend das ausführliche Urteil des 9. Senats v. 17.5.1983, E 67, 184, 190 ff. 114 BGBl. II, S. 1371.

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6. Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung

Handlung als Vorwand politischer Verfolgung oder die Lage- oder Straferschwerung eines Straftäters aus politischen GrÜnden115 • Der zweite Schritt der europäischen Rechtsetzung folgte zwanzig Jahre später; nunmehr wurden die Merkmale der Gruppenverfolgung der Flüchtlingskonvention von 1951 gleichsam kanonisiert. Politische Straftaten im Sinne des Auslieferungsrechts hatten bis zum Ende der 60er Jahre kaum eine Rolle gespielt. Der sich dann plötzlich und besonders über die westliche Welt ausbreitende politische Terrorismus ließ die zwischenstaatlichen Auslieferungsverträge, das Europäische übereinkommen von 1957 und das innerstaatliche Auslieferungsrecht mit den Klauseln zugunsten politischer Täter ebenso praktisch werden wie in vielen Fällen unbillig erscheinen. In den Auslieferungsverträgen fehlte die in § 3 I! DAG enthaltene Umschreibung der politischen Delikte, und die Ausnahme des § 3 II! DAG ("Auslieferung bei vorsätzlicher Tötung, sofern nicht im offenen Kampfe") war vertraglich und im Europäischen übereinkommen von 1957 nur als Attentatsschutz für das Staatsoberhaupt und seine Familie vorhanden; sie traf auch nicht die beliebten Flugzeugentführungen und Geiselnahmen. Gerade die freiheitlich organisierten Gemeinwesen, die ihren rechtsstaatlichen Charakter dadurch beweisen, daß sie ihren Gegnern alle rechtsstaatlichen Garantien zugute kommen lassen, u. a. Nichtauslieferung und Asyl, waren aber von dem neuartigen Terrorismus betroffen. Dieser mißlichen Situation wurde mit zwei Mitteln begegnet, mit neuen Vorschriften über die Auslieferung und mit einer neuen Auslegung des Asylgrundrechts. Das Europäische übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. 1. 1977118 entzieht einigen typischen Straftaten des politischen Terrorismus von Gesetzes wegen den Charakter einer politischen Tat im Sinne der zwischenstaatlichen Auslieferungsverträge, des Völker115 Den Versuch, die Nichtauslieferung politischer Täter durch Behauptung gewöhnlicher Straftaten zu umgehen, hatte der Abg. Renner bereits im Parlamentarischen Rat verhältnismäßig ausführlich geschildert (Verhandlungen, S.584). - Die Regel des Art. 3 II des Auslieferungsübereinkommens übernahm die Bundesrepublik in die meisten ihrer seit 1958 abgeschlossenen Auslieferungsverträge: Art. 3 II des Auslieferungs- und Rechtshilfevertrags mit Belgien v. 17. 1. 1958 (BGBL 1959 II, S. 27); Art. 3 III des Auslieferungsund Rechtshilfevertrages mit Portugal v. 15.6.1964 (BGBL 1967 II, S.2345); Art. 3 II des Auslieferungs- und Rechtshilfevertrags mit Tunesien v. 19.7. 1966 (BGBL 1969 II, S. 1157); Art. 3 I b des Auslieferungsvertrags mit Kanada v. 11.7.1977 (BGBL 1979 II, S. 665); Art. 4 II des Auslieferungsvertrags mit den Vereinigten Staaten v. 20.6.1978 (BGBL 1980 II, S.646), zwar enger gefaßt als Art.3 II des Europäischen Auslieferungsübereinkommens, aber ähnlich auszulegen. Art. 6 I des Auslieferungsvertrags mit Jugoslawien v. 26. 11. 1970 (BGBL 1974 II, S.1258) schließt die Auslieferung politisch Verfolgter aus, indem auf die jeweiligen Verfassungen Bezug genommen wird: "Der ersuchte Staat liefert die Personen nicht aus, deren Auslieferung er nach seiner Verfassung nicht für zulässig hält." 118 BGBL II 1978, S. 321.

6.2 Die Neubestimmung des Begriffs nach 20 Jahren

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rechts und der nationalen Auslieferungsgesetze, nämlich Luftpiraterie, Attentaten auf oder Entführungen von völkerrechtlich geschützten Personen und Diplomaten, Entführung und Geiselnahme sowie Straftaten, bei deren Begehung Personen gefährdet werden durch den Gebrauch von Bomben, Handgranaten, Raketen, automatischen Schußwaffen oder Sprengstoffbriefen oder -paketen - in allen Fällen einschließlich des Versuchs (Art. 1). Das Verhältnis zum Asylrecht bestimmen Art. 5 und Art. 8 II des übereinkommens so: Auslieferungspflicht und Rechtshilfe entfallen, "wenn der ersuchte Staat ernstliche Gründe für die Annahme hat, daß das Auslieferungsersuchen ... gestellt worden ist, um eine Person wegen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer politischen Anschauungen zu verfolgen oder zu bestrafen, oder daß die Lage dieser Person aus einem dieser Gründe erschwert werden könnte". Diese Bestimmung dürfte nur selten praktisch werden, da das Abkommen auf die im Europarat zusammengeschlossenen Staaten beschränkt ist (von ihnen sind nur Irland und Malta nicht beigetreten), so daß es gegenüber Ostblockstaaten oder außereuropäischen Staaten ohnehin nicht zum Zuge kommt. Die Nichtauslieferung hätte auch nur ein prekäres Asyl zur Folge. Der Staat, der den Terroristen nicht ausliefert, ist dann nach Art. 6 und 7 des übereinkommens verpflichtet, ihn selbst abzuurteilen117 • Hier ist nur festzuhalten: Soweit die genannten terroristischen Delikte in Frage stehen, wird die Nichtauslieferung (Asyl) in den Europaratstaaten nicht an der "politischen Tat" orientiert, sondern an persönlichen Merkmalen, die nach den fundamentalen überzeugungen der freiheitlichen Staatenwelt frei von staatlichen Maßnahmen der Verfolgung oder Bestrafung bleiben müssen, wobei diese "Gruppenmerkmale" aus der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 übernommen worden sind. Den vorläufigen Abschluß dieser gesetzgeberischen Neugestaltung des Auslieferungsrechts brachte das deutsche "Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG)" von 1982 118, mit dem das AuslieferungsG von 1929 ersetzt wurde. Es konserviert in § 6 I den Grundsatz der Unzulässigkeit der Auslieferung "wegen einer politischen Tat oder wegen einer mit einer solchen zusammenhängenden Tat", 117 Der spanisch-französische Zwist in der Baskenfrage beruhte auch darauf, daß Frankreich weder auslieferte noch aburteilte, z. B. den wegen Ermordung von sechs Polizisten von Spanien gesuchten Basken Tomas Linaza (Archiv der Gegenwart v. 25. 6. 1981, 24686). In der Bundesrepublik kann ein Ausländer allgemein wegen einer im Ausland begangenen Tat bestraft werden, wenn er nicht ausgeliefert wird (vgl. § 7 II Nr.2 StGB, § 153 c I Nr.l StPO). Zu den Schwierigkeiten dieser stellvertretenden Strafrechtspflege T. Stein, ZaöRV Bd. 37, 1977, S. 677 ff. U8 BGBI. I, S. 2071.

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6. Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung

wandelt die Attentatsklausel um in eine zeitgemäßere Blutschuldklausepu und erklärt in § 6 II die Auslieferung für stets unzulässig, "wenn ernstliche Gründe für die Annahme bestehen, daß der Verfolgte im Fall seiner Auslieferung wegen seiner Rasse, seiner Religion, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seiner politischen Anschauungen verfolgt oder bestraft oder daß seine Lage aus einem dieser Gründe erschwert werden würde", wiederholt also im wesentlichen Art. 3 II des Europ. Auslieferungsübereinkommens von 1957 und des Europ. übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus von 1977. Beruhten die selbst bei Terroristen durchschlagenden Gründe des Asyls auf einer politischen Entscheidung der vertragschließenden Europaratstaaten, so mußten Rechtsprechung und Schrifttum Dominanz und Exklusivität der Merkmale der Gruppenverfolgung im Wege der Auslegung gewinnen. So sei eine Strafverfolgung wegen einer politischen Straftat im Sinne des Auslieferungsrechts noch nicht eine "politische Verfolgung" im Sinne des Asylgrundrechts; die politische Tat sei durch das verletzte Rechtsgut charakterisiert, die politische Verfolgung setze hingegen keine Rechtsgutverletzung voraus12O• Zur "politischen" Verfolgung werde die Verfolgung des Auslieferung begehrenden Staates auch bei den klassischen Staatsschutzdelikten erst und nur dann, wenn sie allein oder auch durch personelle Merkmale des Täters motiviert ist. Die Verfolgungsmerkmale der Genfer Flüchtlingskonvention, denen "exemplarischer Charakter für die Beurteilung einer Verfolgung als einer politischen zukommt"m, werden so in einen Maßstab für jegliche politische Verfolgung verwandelt!!!. In Verkennung, wenn auch unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte wird der Anwendungsbereich des Grundrechts eingeschränkt auf solche Fälle, die den Verfolgungsanlässen der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft gleichzusetzen sind 123 • Textexegetisch stützt das Bundesverwaltungsgericht seine Auffassung auf den adjektivischen Gebrauch des "Politischen", wodurch die Verfolgung selbst charakterisiert und dadurch von der normalen Strafverfolgung abgehoben werde; das Auslieferungsverbot stelle 111 Die Auslieferung "ist zulässig, wenn der Verfolgte wegen vollendeten oder versuchten Völkermordes, Mordes oder Tatschlags oder wegen der Beteiligung hieran verfolgt wird oder verurteilt worden ist". 120 BGHSt 20, 198 ff. 121 BVerwGE 67,186. 122 In den Entscheidungen des 1. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 7.10.1975 (E 49, 202/06) und vom 29.11. 1977 (E 55, 84); s. auch den Bericht des dem für Asylsachen zuständigen Senat angehörenden Bundesrichters H. SäckeT, Aus der neueren Asylrechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, DVBl. 1984, S.537. 123 BVerwGE 67, 186 f.

6.2 Die Neubestimmung des Begriffs nach 20 Jahren

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dagegen auf den politischen Gehalt der Tat ab, nicht auf die Art der V erfolgung l!4. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates haben ihren Art. 16 II 2 GG jedenfalls anders verstanden, vor allem nicht verkannt, daß die Nichtauslieferung wegen einer "politischen Tat" in der neueren Staatengeschichte der erste exemplarische Fall der Asylgewährung gewesen ist und auch so verstanden wurde. Es wäre aber verfehlt, zu dieser Auffassung zurückzukehren und die Verfolgung von "politischen" Taten, besonders der Staatsschutzdelikte, als "politische Verfolgung" anzuerkennen, wie dies von einigen Stimmen im Schrifttum gefordert worden ist125 • Die Neuinterpretation des Bundesverwaltungsgerichts ist ein Anwendungsfall der alten, von Rechtsprechung und Rechtslehre gleichermaßen einmütig befolgten Auslegungsregel, ein Gesetz könne klüger sein als der Gesetzgeber - was natürlich nur bedeutet, daß der Gesetzesanwender klüger ist als der Gesetzgeber126 • Diese Feststellung ist kein Einwand, sie ist einfach richtig. Es kann hier nicht das Knäuel der, methodologischen Erwägungen zur Auslegung von schriftlich fixierten Rechtsregeln aufgerollt werden. Die Fesselung des Rechtsanwenders durch die subjektiven Vorstellungen der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten würde zur Folge haben, daß die Veränderung der Entscheidungslagen, besonders durch Wandlungen des politischen und sozialen Umfeldes einer Norm, unberücksichtigt bleiben müßten. Damit wäre auch die Anpassung der Rechtsnormen an neue oder veränderte Interessenlagen unmöglich. Gleichzeitig würden große Teile der veröffentlichten Rechtsprechung zu Makulatur; das bedarf gerade für die Rechtsprechung zu den Grundrechten des Grundgesetzes keines Nachweises. 124 BVerwGE 67, 190 unter Hinweis auf BVerfGE 60, 359; H. Säcker, DVBl. 1984, S.538. 125 Besonders H. Kreuzberg, Grundrecht auf Asyl. Materialien zur Entstehungsgeschichte, 1984, S. 1 ff., 67 ff. 128 In Rechtspraxis und Rechtslehre wird diese Feststellung so formuliert: Der Staat spricht nicht in den persönlichen Äußerungen der an der Entstehung eines Gesetzes Beteiligten, sondern nur im Gesetz selbst. Der Wille des Gesetzgebers fällt zusammen mit dem Willen des Gesetzes (BVerfGE 11, 130). Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist also der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den dieser hineingestellt ist (seit BVerfGE 1, 312 ständig). Nicht entscheidend ist mithin die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können (BVerfGE 1, 312). Zwar kann die Entstehungsgeschichte einer Verfassungsnorm nicht völlig unberücksichtigt bleiben, insbesondere dann nicht, wenn sich für ihre Auslegung feste Grundsätze noch nicht haben bilden können. Ausschlaggebende Bedeutung kommt den Verfassungsmaterialien allerdings in der Regel nicht zu (BVerfGE 62, 45).

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6. Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung

Die Unverbindlichkeit der Vorstellungen der am Gesetzgebungs- und Verfassungsgebungsverfahren beteiligten Personen folgt auch aus anderen Überlegungen. Es hängt vom Zufall der dokumentierten Äußerung ab, welche Vorstellungen der Beteiligten überliefert werden. Weiterhin: Die Beteiligten können richtige und falsche Vorstellungen mit dem von ihnen formulierten Text verknüpft haben, z. B. über den zu regelnden Sachverhalt oder über die Wirkung der neuen Regel. Es wäre aber willkürlich, nur die richtigen Vorstellungen gelten zu lassen. Denn die Sonderung der richtigen von den unrichtigen Vorstellungen ist eine Entscheidung des Rechtsanwenders, der sich damit bereits von der Entstehungsgeschichte löst. Auch weiß der Rechtsanwender nicht, ob die Regel überhaupt in dieser Fassung zustandegekommen wäre, hätten die Beteiligten ihren Irrtum rechtzeitig erkannt. Selbst wenn sich diese Feststellung treffen ließe: Soll dann die Rechtsnorm für unwirksam erklärt und das Regelungsthema an Gesetzgeber oder Verfassunggeber zur erneuten Entscheidung zurückgegeben werden? Die Bindung der Auslegung an die Äußerungen der am Rechtsetzungsverfahren Beteiligten würde unlösbare Probleme aufwerfen. Das läßt sich gerade am Beispiel der Entstehung des Art. 16 II 2 GG darstellen; denn mit diesem Text haben einige, wenn nicht alle Beteiligten falsche Vorstellungen verknüpft. 6.3 Exkurs: Zwei Irrtümer des Parlamentarischen Rats

Mitursächlich, wenn nicht ausschlaggebend für die Ausgestaltung des Asylgrundrechts als "absolutes" Recht, also die Ablehnung der von Thoma vorgeschlagenen spezifizierten Verfolgungsgründe, waren zwei verfahrensrechtliche Argumente. So behauptete der Abg. v. Mangoldt unter Zustimmung des Vorsitzenden K. Schmid, solche Asylvoraussetzungen machten "die ganze Vorschrift völlig wertlos", weil "an der Grenze eine Prüfung durch die Grenzorgane vorgenommen werden müßte", und der Vorsitzende K. Schmid fügte hinzu: "Dann beginnt das Spiel: Man schickt den Mann zurück oder man schickt ihn an die andere Grenze und von dort geht es wieder weiter127 ." Es bedarf keiner langen Darlegungen, um die Unrichtigkeit dieser Aussagen zu erkennen. Gewiß hatte es solche Zurückweisungen an der Grenze gegeben, aber diese Verfahrensweisen sind nicht mit einem absoluten Asylrecht, also durch den Verzicht auf spezifizierte Gründe politischer Verfolgung zu vermeiden. Auch der nur politische Charakter einer Verfolgung muß überprüft werden und sein angeblicher Mangel kann von Grenzbehörden genauso als Grund für die Zurückweisung des Flüchtlings angeführt werden wie das Fehlen spezieller Voraussetzungen128• 127

Verhandlungen, S.217.

6.3 Exkurs: Zwei Irrtümer des Parlamentarischen Rats

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Wenigstens problematisch war auch die beschwichtigend gemeinte Versicherung K. Schmids, das Asylrecht verschaffe keine Freizügigkeit: "Gewährung von Asyl ist sehr häufig mit Stellung unter Polizeiaufsicht verbunden, wobei die Polizeiaufsicht die doppelte Funktion hat, einmal den aufnehmenden Staat zu schützen und weiter den Aufgenommenen zu schützen I2'." Der Argumentationswert dieses Hinweises ist dunkel, und daß die anwesenden Juristen nicht sofort widersprachen, einigermaßen erstaunlich. Auf "Polizeiaufsicht" konnte seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland nur durch strafrichterliches Urteil neben einer Freiheitsstrafe in den gesetzlich vorgesehenen Fällen auf die Zeit von höchstens fünf Jahren erkannt werden (§ 38 I RStGB); sie war "eine Maßregel zur Sicherung der bürgerlichen Gesellschaft gegen neue Verbrechen entlassener, als gemeingefährlich angesehener Strafgefangener"130. Folge der Polizeiaufsicht war die Möglichkeit der höheren Polizeibehörde, dem Verurteilten den Aufenthalt an einzelnen bestimmten Orten zu untersagen; Haussuchungen unterlagen keiner Beschränkung hinsichtlich der Zeit (§ 39 StGB). Dieser Rechtszustand galt auch in der Zeit nach dem 2. Weltkriege; das Instrument der Polizeiaufsicht wurde erst 1974 aus dem Katalog der Nebenstrafen und Nebenfolgen gestrichen. Weder im allgemeinen Polizeirecht noch im sog. Ausländerpolizeirecht existierte "Polizeiaufsicht" als Begriff oder Rechtsinstitutauch nicht zwischen 1933 und 1945 131 . Die polizeirechtliche Ermächtigung, Personen zu deren eigenem Schutz oder zur Beseitigung einer bereits eingetretenen Störung der öffentlichen Sicherheit usw. zu inhaftieren, erstreckte sich auf Inländer wie Ausländer l32. Eine so verwahrte Person mußte im übrigen "spätestens im Laufe des folgenden Tages auS der polizeilichen Verwahrung entlassen werden" (§ 15 II Preuß. PVG). Die davon getrennte Inhaftierung "für Auslieferungs- und Ausweisungsangelegenheiten" (§ 15 III Preuß. PVG) war in § 10 DAG geregelt; auf politische Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis konnte diese Vorschrift nicht angewendet werden.

128 Über Zurückweisungen an den Grenzen der Bundesrepublik berichtet R. MaTX in: Spaich, S. 80 f. 129 Verhandlungen, S.217. 130 RoscheT, in: Stengel/Fleischmann (FN 40), Bd.3, 2. Aufl. 1914, S.128. 131 Vgl. J. K. v. RupeTti, Beiträge zum Problem des Fremdenrechts und zu seiner Entwicklung seit dem Weltkrieg in Deutschland. Diss. jur. Göttingen 1941, S. 51 ff.; Dienstanweisung zur AusländerpolizeiVO I und II ("Nur für den inneren Dienstgebrauch"), Berlin 1939. Die "VO über die Behandlung von Ausländern" v. 5.9.1939 (RGBI. I, S.1667) bezog sich in ihrem ersten Abschnitt auf "Angehörige der Feindstaaten" und ergänzte im zweiten Abschnitt für "sonstige Ausländer" die Regeln über die Aufenthaltserlaubnis. 182 s. GeTlach HemmeTich, Die polizeirechtliche Stellung der Ausländer in Deutschland. Diss. jur. Göttingen 1936, S. 38.

5 Quaritsch

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6. Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung

Das deutsche Recht gab also für die von K. Schmid zitierte "Polizeiaufsicht" nichts her. Im Ausland mochte es besondere Überwachungspraktiken für politische Flüchtlinge gegeben haben (Meldepflicht); bei der Erörterung eines deutschen Grundrechts wären Hinweise dieser Art fehl am Platze gewesen, zumal die Jedermann-Grundrechte des neuen und bei den Beratungen abzusehenden Grundrechtskatalogs auch die Rechtsstellung der Ausländer gestalten würden. Der grundrechtliche Status der Ausländer nahm die später durch die internationale Flüchtlingskonvention von 1951 geregelte Rechtsstellung des Asylberechtigten in erheblichem Maße vorweg. In der Bundesrepublik in Kraft seit 1954, stellt sie den Asylberechtigten allen anderen zugelassenen Fremden und in den meisten Beziehungen auch den eigenen Staatsangehörigen gleich133• Die politischen Handlungsfreiheiten können Ausländer und damit alle Asylberechtigten nach den Vereins- und Versammlungsgesetzen wahrnehmen wie Deutsche; von der angeblichen "Polizeiaufsicht" K. Schmids über die einzelnen Asylanten sind nur noch die Bestimmungen von § 6 II und III AuslG und § 14 I VereinsG geblieben, nach denen Ausländervereine nicht nur bei Verfassungswidrigkeit, sondern auch dann verboten werden können, "wenn sie durch politische Betätigung die innere oder äußere Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder verletzen oder gefährden". Die verfahrensrechtlichen Hinweise v. Mangoldts und Schmids waren daher problematisch bis irreführend. Sie sind mit Recht bei der Auslegung des Art. 16 II 2 GG stets unberücksichtigt geblieben - niemand kam auf die Idee, aus der polizeilichen Generalklausel etwa eine Ermächtigung abzuleiten, Asylberechtigte unter Polizeiaufsicht zu stellen, weil "die Väter unseres Grundgesetzes" von einer solchen Befugnis ausgegangen sind. Die Entstehungsgeschichte ist daher für die Auslegungsarbeit am Text nur in dem vom Bundesverfassungsgericht angegebenen Maße belangvoll. Sie ist hier gleichwohl ausführlich dargestellt worden, weil Auslegungsergebnisse häufig auf die Entstehungsgeschichte zurückgeführt oder mit ihr gerechtfertigt werden, und weil die Vorstellungen der Beteiligten wichtig sind zur Vergewisserung des politischen und sozialen Umfeldes, in dem das Grundrecht entstand und auf das es reagieren sollte.

133 Einzelheiten bei O. Kimminich, Der internationale Rechtsstatus der Flüchtlinge, 1962, S. 297 ff.; ders., BK, Erl. 304 ff.

7. Neue Asyltatbestände? 7.1 Die Verbindung des Asyls mit dem Schutz der Menschenwürde Nach diesem Exkurs zurück zur Neuinterpretation des Begriffs der "politischen Verfolgung". Stützen konnte sich die Neuinterpretation auf eine international nachweisbare Sinnbestimmung politischer Verfolgung, wie sie in der Flüchtlingskonvention von 1951 und in dem Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus von 1977 zum Ausdruck gekommen ist. Mit dieser Begründung haben sich Rechtsprechung und Schrifttum jedoch nicht begnügt. Das Bundesverwaltungsgericht verengte den Sinn des Asylgrundrechts auf eines seiner Motive, nämlich den humanitären Schutz jener, die aus den in der Flüchtlingskonvention genannten Gründen verfolgt werden U4 und erklärte, diese Gründe umfaßten "bei sachgerechtem Verständnis alle denkbaren Fälle politischer Verfolgung" auch im Sinne von Art. 16 II 2 GG13S • In der in diesem Sinne deutlichsten Entscheidung des 9. Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. 5. 1983130 wurde die Begründung für jene Einschränkung des Asylgrundrechts noch erweitert. Unter Hinweis auf die bereits erwähnten Aussagen des Bundesverfassungsgerichts137 über den Erfahrungshorizont des Verfassunggebers wird der Anwendungsbereich des Asylgrundrechts durch eine andere Bestimmung des Grundgesetzes bestimmt, von der bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat überhaupt nicht die Rede war und auch bei der damals vorausgesetzten Reichweite des Asylgrundrechts gar nicht die Rede sein konnte: "Seine (des Art. 16 II 2 GG) Voraussetzungen und sein Umfang sind wesentlich bestimmt von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, die als oberstes Verfassungsprinzip nach der geschichtlichen Entwicklung des Asylrechts die grundgesetzliche Gewährleistung eines weitreichenden Schutzanspruchs entscheidend beeinflußt hat" (E 67, 185, eine fast wörtliche Wiederholung von BVerfGE 54, 357).

134 135

135 137

U. v. 1. 7. 1975, BVerwGE 49, 44. BVerwGE 49, 202, 205. E 67, 184 ff. BVerfGE 9, 180; 54, 357.

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7. Neue Asyltatbestände?

Es bedarf keiner Wiederholung der "geschichtlichen Entwicklung" des modernen Asylrechts im 19. und 20. Jahrhundert, die zunächst eben den politischen Revolutionär vor der Strafverfolgung seines Heimatstaates schützen sollte - ohne Rücksicht auf die Art dieser Verfolgung. Daß dieser Schutz in Auslieferungsverträgen und Auslieferungsgesetzen verankert und nicht in die Form eines Grundrechts gegossen wurde (was die rechtsdogmatische Trennung von Nichtauslieferung und Asyl ermöglichte), kann dieses eine Motiv auch des grundgesetzlichen Asyls nicht aus der Welt schaffen. Auf die im Herrenchiemsee-Entwurf enthaltene Bedingung des Auslieferungsverbots - Verfolgung "unter Nichtbeachtung der in dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte" - wurde bei der Formulierung des Asylrechts im Grundgesetz nicht umsonst verzichtet. Die Verwurzelung des Asyls in dem von Art. 1 GG gebotenen Schutz der Menschenwürde widerspricht nicht nur der Entstehungsgeschichte; sie ist juristisch ebenso überflüssig wie gefährlich. überflüssig, weil das Asylgrundrecht gerade wegen seiner liberalen Vorgeschichte der Nichtauslieferung politischer Täter die Abstützung im Schutz der Menschenwürde nicht nötig hat, und weil die gewünschte Einengung auf rechtsstaatswidrige Verfolgungen sowohl über die Interpretation des Wortlauts wie als Resultat eines national wie international feststellbaren "Bedeutungswandels" eines Grundrechts möglich gewesen wäre. Sie ist gefährlich, weil die Ableitung aus dem Menschenwürdeschutz (a) den Tatbestand der politischen Verfolgung abhängig macht von dem Begriff der Menschenwürde und seiner Verletzung, aber nicht jeder bereits anerkannte Verfolgungstatbestand im Sinne des Art. 16 II 2 GG notwendig die Menschenwürde verletzt, und weil (b) die Verknüpfung mit der Menschenwürde zu dem Kurzschluß führen kann (und schon geführt hat), jede Verletzung der Menschenwürde sei eine "politische Verfolgung" und begründe den Asylanspruch. Der Hinweis auf die geschichtliche Entwicklung des "Asylrechts" ist wenigstens mißverständlich; Asyl gibt es nicht erst und ist nicht erst notwendig seit 1917 und 1933. Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings nicht nur das Asylgrundrecht mit dem Menschenwürdeschutz verbunden; auch andere Grundrechte sind dieses Konnexes teilhaftig geworden t38 • Es ist nicht immer klar, wo die Berufung auf Art. 1 I GG einen zusätzlichen (aber nicht notwendigen) Entscheidungsgrund liefern soll, wo sie rhetorisches Ornament oder philosophisches Fundament ist, wenn das "Wertsystem der Verfassung", in dem die menschliche Würde den "höchsten Rechtswert" bildet13t, zitiert wird. Die rechtliche Funktion 138 139

Nachweis bei P. Häberle, Rechtstheorie Bd. 11, 1980, S. 39B. BVerfGE 12, 53.

7.1 Die Verbindung des Asyls mit dem Schutz der Menschenwürde

69

des Art. 1 I GG wird deutlich, wo es allein um die Behauptung der Würde verletzung geht, und in diesen Fällen ist dem Bundesverfassungsgericht zu Recht kaum widersprochen worden140 • Im Verhältnis zu anderen Grundrechten soll das Bundesverfassungsgericht Art. 1 I GG dazu eingesetzt haben, den Sinn anderer Grundrechte zu erhellen, zu vergegenständlichen (was wohl dasselbe ist) und zu verstärkenlu. Mit der Behauptung, Voraussetzungen und Umfang des Asylgrundrechts seien durch Art. 1 I GG bestimmt, haben Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht Art. 16 II 2 GG eingeschränkt142 • Das muß rechtslogisch nicht falsch sein. Ebenso verfuhren die OberverwaItungsgerichte und das Schrifttum in den 50er Jahren mit der grund rechtlich verbürgten "freien Entfaltung der Persönlichkeit" (Art. 2 I GG). Als "materielles Hauptfreiheitsrecht" verstanden, wurden zunächst seine Schranken - "soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt" - als Schranken aller Freiheitsgrundrechte oder doch wenigstens der schrankenlos (vorbehaltlos) gewährten Grundrechte angewendet143 • Obgleich das Bundesverfassungsgericht auch das Schutzgut des Art. 2 I GG, die "freie menschliche Persönlichkeit" mit dem Superlativ "oberster Wert" ehrtelU, haben sich Bundesverfassungsgericht und BundesverwaItungsgericht diesem rechtslogisch möglichen Verständnis jedoch versagt: Die besonderen Grundrechtsnormen schließen für ihren Bereich die Anwendung des Art. 2 I GG und damit auch seiner Schranken aus 145 • Möglicherweise, wenn nicht wahrscheinlich, wird auch das Verhältnis des Art. 1 I GG zu den Spezialgrundrechten eines Tages genauso bestimmt werden - was der gebotenen juristischen Nüchternheit von Entscheidungsgründen ebenso dienlich wäre wie der damit verbundene Verzicht auf die in manchen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts unverkennbar pastoralen Untertöne, wenn Art. 1 I GG herangezogen wird. 140 Vg!. die bei LeibholzlRinck aufgezählten "Einzelfälle" (Grundgesetz, 6. Auf!., Art. 1 Er!. 4). 141 R. Zippelius, Bonner Kommentar, Art. 1 Er!. 27 (Zweitbearbeitung 1966); P. Häberle (FN 138), S.398. 142 Einschränkungen können zwar noch als "Sinnerhellungen" und "Vergegenständlichungen", nicht aber als "Verstärkung" begriffen werden Rechtsprechung muß indes nicht jeder literarischen Beschreibung folgen. 143 Ausführlich zu diesem damals intensiv diskutierten Problem: G. Dürig, in: Maunz/Dürig u. a., Grundgesetz, Art. 2 I, Er!. 69 ff. IU BVerfGE 7, 405. 145 BVerfGE 19, 225 unter Hinweis auf das Elfes-Urteil (BVerfGE 6, 37). Das BVerwG hat von Anfang an die Schrankenübertragung abgelehnt (BVerwGE 1, 48), sie aber durch "immanente Schranken" ersetzt (BVerwGE 2, 295), eine Rechtsprechung, die später ebenfalls aufgegeben wurde. Jetzt hat v. Pollern Rechtsprechung und Literatur zu dieser inzwischen rechtsgeschichtlichen Auslegungsphase noch einmal lückenlos aufbereitet (S. 299315).

7. Neue Asyltatbestände?

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"Voraussetzungen und Umfang" des Asylgrundrechts durch die Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmen zu lassen, ist auch deshalb bedenklich, weil bisher nach h. M. unproblematische Asyltatbestände dadurch problematisch werden können. So ist die drohende Bestrafung wegen Republikflucht - ein in den Ostblockstaaten strafwürdiger Sachverhalt - in ständiger Rechtsprechung als Asylgrund anerkannt, auch dann, wenn der Flüchtling nicht aus politischer Gegnerschaft zum System seine Heimat verlassen hat; denn die Bestrafung dient dem "Zweck, die politische Herrschaft des Kommunismus zu sichern", ist also nach ihrer Zielsetzung "politische Verfolgung"148. Das ist gewiß richtig, aber wenn die Asylgewährung zusätzlich eine sonst drohende Verletzung der Menschenwürde voraussetzt, muß nachgewiesen werden, daß die für Republikflucht drohende Kriminalstrafe als solche oder in Verbindung mit dem "sozialistischen Strafvollzug" die Menschenwürde verletzt. Der Straftatbestand der Republikflucht mißachtet zwar das in UN-Erklärungen enthaltene Menschenrecht auf Emigration 147 , aber nicht jede Menschenrechtsverletzung muß zugleich eine Verletzung der Menschenwürde sein. Und eine Kriminalstrafe wegen Republikflucht ist eben noch nicht oder nicht in jedem Fall "grausam", "unmenschlich" oder "erniedrigend", wie das Bundesverfassungsgericht den Begriff der Menschenwürdeverletzung treffend umschrieben hat148 , oder Ausdruck der Verachtung des Wertes, der dem Menschen kraft seines Personseins zukommt, also in diesem Sinne eine "verächtliche Behandlung"u,. 7.2 Asyl für Wehrdienstverweigerer und Kriminelle? Die Verbindung des Art. 16 II 2 GG mit Art. 1 I GG kann umgekehrt auch den Anwendungsbereich des Asylgrundrechts dort erweitern, wo dies jedenfalls nach Ansicht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der maßgeblichen Vertreter der Lehre ganz unangebracht ist. Die drohende Bestrafung wegen Kriegsdienst- oder WehrBVerwG, DVBl. 1972, S. 277 f.; im einzelnen dazu hinten unter 8.5. Art. 13 11, Art. 29, 30 der Menschenrechtserklärung v. 10.12.1948; Art. 12 11 des Paktes über bürgerliche und politische Rechte v. 16. 12. 1966. 148 BVerfGE 45, 228. 14' Die Mephisto-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der sich diese Wendungen finden (E 30, 25), ist wegen ihrer realistischen Begründung, mit der die mißverständliche "Objekttheorie" abgelehnt wurde, richtungweisend: "Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, insofern er ohne Rücksicht auf seine Interessen sich fügen muß. Eine Verletzung der Menschenwürde kann darin allein nicht gefunden werden. Hinzukommen muß, daß er einer Behandlung ausgesetzt wird, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt, oder daß in der Behandlung im konkreten Fall eine willkürliche Mißachtung der Würde des Menschen liegt... 148 147

7.2 Asyl für Wehrdienstverweigerer und Kriminelle?

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dienstverweigerung ist nach dieser Auffassung nur ausnahmsweise als "politische Verfolgung" im Sinne des Asylgrundrechts anzuerkennen, nämlich dann, wenn die Weigerung zugleich ein Ausdruck politischer Gegnerschaft zum herrschenden Regime ist und als solche von den Strafverfolgungsbehörden strafschärfend gewertet wird; die Berufung auf das Gewissen allein (Art. 4 III GG) reicht nicht aus l50 • Die herrschende Meinung müßte aufgegeben werden, bestimmte Art. 1 I GG tatsächlich "Voraussetzungen und Umfang" des Asylgrundrechts. Denn das Bundesverfassungsgericht begreift das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen als "folgerechten" Ausdruck der grundgesetzlichen Anerkennung der "freien menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde als höchsten Rechtswert"151. Soll diese Wendung juristisch etwas bedeuten - das wird man angesichts ihrer Wiederholung in den Entscheidungen unseres höchsten Gerichts vermuten dürfen - , dann prägt Art. 4 III den Würdeschutz des Art. 1 I GG nur speziell aus. Dann aber wäre die Folgerung unabweisbar, daß Art. 4 III GG zugleich ein geschütztes Rechtsgut des Art. 16 II 2 GG und eine drohende Bestrafung des ausländischen Kriegsdienstverweigerers eine "politische Verfolgung" im Sinne des Asylrechts ist. Dieses Resultat ist im Schrifttum und gelegentlich auch in der Rechtsprechung schon vertreten worden l5!. Mit ihm wird zugleich ein hartes Urteil über unsere Schweizer Nachbarn gefällt. In der Schweiz gibt es kein Recht auf Kriegsdienst- oder Wehrdienstverweigerung; nach Art. 81 Nr.1-4 des schweizerischen Militärstrafgesetzbuches wird bestraft, wer die "Stellungs- oder Dienstpflicht" verweigert l53 • Eine Initiative, durch Verfassungsänderung den Zivildienst als Alternative zuzulassen, wurde in der Volksabstimmung im Februar 1984 durch eine deutliche Mehrheit der Abstimmenden verworfen l54 • Die Mehrheit der Schweizer würde 150

BVerwG, U. v. 29.6.1962, DVBl. 1963, S. 146; B. v. 26.6.1984, E 69, 320;

K. Doehring, FS Schlochauer, 1981, S. 45 ff.; O. Kimminich, BK, Erl. 236240; H. Säcker, DVBl. 1984, S. 358. - Im Ergebnis ebenso entscheidet das

Schweizerische Bundesamt für Polizeiwesen; es hat das Asylgesuch eines von afghanischen Partisanen gefangengenommenen und in die Schweiz weitergeleiteten Sowjetsoldaten, der nicht in seine Heimat zur Armee zurückkehren will, mit der Begründung abgelehnt, Desertion sei in der Regel kein Asyl-Grund ("Die Welt" v. 18. 1. 1985, S.6). 151 B. v. 20.12.1960, BVerfGE 12, 53 f.; U. v. 13.4.1978, E 48, 127. Etwas zurückhaltender der B. v. 26. 5. 1970, E 28, 260 ("enger sachlicher Zusammenhang mit Gewissensfreiheit und Menschenwürde"), 263: "aus Erwägungen, die dem Gedanken der Achtung der Menschenwürde nahestehen, hat das Grundgesetz ... das Kriegsdienstverweigerungsrecht zugelassen". - Auf diese Entscheidungen verweist auch O. Kimminich, BK, Erl. 239. 151 BGH, B. v. 24.5.1977 (BGHSt 29, 191; weitere Rechtsprechungs-Nachweise bei Marx, S. 442 ff., der ebenfalls diese Ansicht vertritt). Die Stimmen im Schrifttum hat v. Pollern dokumentiert (S. 372, Anm. 180). 153 Das übliche Strafmaß liegt zwischen vier und zwölf Monaten Gefängnis ohne Bewährung (Archiv der Gegenwart v. 26.2. 1984, 27459), bei "schwerer Gewissensnot" bis zu sechs Monaten (Art. 81 Nr. 2).

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7. Neue Asyltatbestände?

nach jener Ansicht also eine legale Verletzung der unantastbaren Würde des Menschen bejahen. Sollte dies als argumentum ad absurdum nicht ausreichen, sei verwiesen auf die Mahnung des Bundesverfassungsgerichts, grundgesetzliche Entscheidungen nicht zu verabsolutieren und fremde Rechtsordnungen nicht zu diskriminieren 155 • Das aber geschieht, wenn Einzelgrundrechte, z. B. Art. 4 III GG, als spezielle Ausprägungen des Art. 1 I GG verstanden werdenI58 • Einer zweiten Konsequenz der Verbindung von Art. 16 II 2 GG mit dem von Art. 1 I GG gebotenen Schutz der Menschenwürde sah sich der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts schon in seiner Entscheidung vom 17. 5. 1983 gegenübergestellt. Mehrere der im Asylrecht engagierten Autoren hatten nämlich aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geschlossen, jede drohende Folter erfülle den Tatbestand der "politischen Verfolgung" ohne Rücksicht auf das Motiv, also auch gegenüber dem gewöhnlichen Kriminellen I57 • Nimmt man Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht bei ihrem Wort "Voraussetzungen und Umfang sind wesentlich bestimmt von der Unverletzlichkeit der Menschenwürde" - und nur bei diesem Wort, dann ist jener Konsequenz nicht auszuweichen. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich verteidigt mit der richtigen Feststellung, die strafrechtliche Verfolgung eines Kriminellen, bei der gefoltert werde, würde dadurch noch nicht zur "politischen" Verfolgung; da jeder dieser Begriffe einen selbständigen Inhalt habe, würde diese Gleichsetzung das Tatbestandsmerkmal "politisch" mit dem Merkmal der "Verfolgung" vermengen l58 • Dieser Argumentation ist vorweg entgegengehalten worden: Würden Kriminelle nicht nur ausnahmsweise gefoltert werden, z. B. aus 154 Es waren bei der relativ hohen Wahlbeteiligung von 52,2 v. H. 1 360960 gegen 770891 Stimmen (63,8 gegen 36,2 v. H.) (Archiv der Gegenwart v. 26. 2. 1984, 27459). Auf diese Abstimmung verweist auch O. Kimminich, BK, Erl. 240 ohne näheren Kommentar, nennt diese Mehrheit jedoch "überwältigend". 155 B. v. 30.6.1964, E 18, 117 zur Abschaffung der Todesstrafe in der Bundesrepublik. 158 Prononciert gegen diese Auffassung hat sich jetzt auch W. v. Vitzthum ausgesprochen (JZ 1985, S. 205 m. Anm. 56). 167 Das BVerwG führt für diese Auffassung an: Marx, ZAR 1981, S.42; ders., in: Marx/Strate, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 1982, § 1 Erl. 25; F. Franz, in: Beitz/Wollenschläger, Bd.2, 1981, S.792; v. Pollern, S.268, 283 f. Nachzutragen wäre noch B. Huber, Ausländer- und Asylrecht, 1983, S.170; ders., in: "Kritische Justiz" 1983, S. 164 ff. mit dem für diese Art von juristischer Schriftstellerei bezeichnenden Titel: "Legitimation der Folter in der Rechtsprechung zum Asylrecht". Die Rechtsprechung dokumentieren Marx, S.312-343; O. Kimminich, BK, Erl. 247-250; dort (Erl. 183) auch die Behauptung von ehr. Gusy: "Wer nicht Flüchtling ist [im Sinne der Genfer Konvention], aber in seiner Menschenwürde beeinträchtigt wird, ist politisch verfolgt." 158 BVerwGE 67, 193 unter Hinweis auf Baumüller, in: Baumüller/Brunn/ Fritz/Hillmann, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 1983, Vorbem. zu § 1 Erl. 85.

7.2 Asyl für Wehrdienstverweigerer und Kriminelle?

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persönlicher Rachsucht oder Sadismus des Vernehmenden, gehöre die Folter vielmehr zum "gängigen Bestandteil der Ermittlungsarbeit" , dann sei sie eine "politische" Verfolgung, weil sie "als Demonstration und zugleich Festigung staatlicher Macht" diene159 • Dieser auf den ersten Blick plausiblen überlegung hat das Bundesverwaltungsgericht Tribut gezollt, indem es in der Anwendung der Folter ein "Indiz für ihren politischen Charakter" sieht, "namentlich dann, wenn der Heimatstaat eines Asylbewerbers offiziell Foltermaßnahmen verurteilt, gleichwohl in der Staatspraxis ihre Anwendung billigt oder hinnimmt" 160. Bei näherer Betrachtung zeigt sich indes die Untauglichkeit des ersten und der Modifikationsbedarf des zweiten Ansatzes. Die Folter wurde in Preußen 1740/54, in Frankreich 1780, in den meisten deutschen Ländern und in Europa allgemein erst im 19. Jahrhundert abgeschafft; noch in der "Theresiana" von 1768 war sie geregelt. Zur Erzwingung von Aussagen des Beschuldigten ist sie in Europa seit dem frühen Mittelalter überliefert. In jenen Zeiten war die Folter ausschließlich Vernehmungsmittel; staatliche Macht brauchte sie weder zu demonstrieren noch zu festigen, die öffentliche Gewalt hatte dergleichen nicht nötig. Ist die Folter gängiger Bestandteil der Ermittlungsarbeit schlechthin, muß sie als Merkmal einer bestimmten Stufe der "Rechtskultur" angesehen werden, ein Begriff, der hier selbstredend wertneutral verwendet wird. Gegenwärtig verstößt die Folter gegen Art. 5 der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 und Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte von 1966. Aber damit ist die Folter ebensowenig überall abgeschafft wie das Recht auf freie Meinungsäußerung überall gilt, wie dieselben Erklärungen und Pakte behaupten (Art. 19 Menschenrechtserklärung und des Internationalen Paktes). Die Folterverbote zeigen nur an, daß die Rechtskultur der zivilisierten Staaten in der öffentlichen Weltmeinung dominiert, in der Praxis aber nicht aller Staaten realisiert ist, wie das Fortleben der Folter beweist. Wo sie noch in der allgemeinen Vernehmungspraxis etwa bei schwerer Kriminalität verwendet, aber geleugnet wird, gehört das Folterverbot nur zur offiziös polierten Außenfläche des Staates. Die Rechtskultur ist dort, wo sie eigentlich besonders gepflegt werden sollte, in der Vergangenheit steckengeblieben Ul • 159 B. Huber, Ausländer- und Asylrecht, 1983, S. 170; zustimmend O. Kimminieh, BK, Erl. 250 a. E. Die Formulierung ist an die Begründung angelehnt,

mit der die Rspr. den politischen Charakter der Strafverfolgung wegen Republikflucht aus den Ostblockstaaten umschrieb. 180 E 67,193. 181 In den verwaltungsgerichtlichen Urteilen zur Frage der Folter in der Türkei wird häufig die Erklärung des türkischen Staatspräsidenten Evren in dem "Spiegel"-Interview Nr. 43/1981, S. 169 zitiert: "In diesem Land wurde immer gefoltert". Vgl. auch Archiv der Gegenwart v. 5.9.1982, 25911: "Regierungssprecher Ilhan Öztrak gesteht ein, daß 15 Terrorismusverdächtige

7. Neue Asyltatbestände? Die Folter kann bei gängiger Anwendung der Demonstration und Festigung staatlicher Macht dienen. Aber diese Folge eignet - als Haupt- oder Nebenzweck - sehr vielen staatlichen Maßnahmen, ohne deshalb spezifisch "politisch" zu sein oder den Charakter der politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG anzunehmen. Viele staatliche Aktivitäten, die unter den Begriff "Selbstdarstellung des Staates" fallen, haben zugleich oder vornehmlich jenen Stabilisierungszweckte2 • Für den Asylbereich bedeutsam ist die strafrechtliche Verfolgung der Korruption staatlicher Amtsträger. Sie dient unmittelbar dem Rechtszweck, aber ohne jeden Zweifel auch der Demonstration und Festigung staatlicher Macht. Das ist besonders deutlich, wenn die Beamtenbestechung zwar verboten, aber inoffiziell "gängiger Bestandteil" der Amtsroutine in allen oder einigen staatlichen Handlungsbereichen ist, z. B. beim Zoll. Hat eine politische Partei mit der Parole "Kampf der Bestechlichkeit" die Wahlen gewonnen oder ist die Regierung auf andere Weise, z. B. durch einen Putsch zur Regierungsrnacht gekommen und beginnt die neue Regierung ihr Wahlversprechen oder ihre erste Regierungserklärung zu erfüllen, indem sie die Strafvorschriften gegen bestechliche Zöllner tatsächlich anwendet, dient ein strafrechtlich korrektes Handeln auch (wenn nicht sogar überwiegend) der Demonstration und Festigung der staatlichen Macht des neuen Regimes. Es kann aber wohl nicht ernstlich behauptet werden, der bestechliche Zöllner werde deshalb "politisch verfolgt". Dieser Sachverhalt - er spielt in manchen Asylverfahren von Ghanaern eine Rolle - zeigt, daß jene Formel nicht einmal dann etwas taugt, wird sie nur eingesetzt, wenn der Festigungsund Sicherungszweck nicht Neben-, sondern Hauptzweck der Strafverfolgung ist. Die korrekte Anwendung von rechtsethisch bedenkenfreien Strafvorschriften in einem ebenso bedenkenfreien Strafprozeß und unter Innehaltung des üblichen Strafrahmens kann niemals eine "politische Verfolgung" im Sinne des Art. 16 II 2 GG sein. Insofern bedarf die Berücksichtigung der "Motivation" staatlichen Handelns, die das staatliche Handeln zu einer "politischen Verfolgung" verformen soll, einer selbstverständlichen Korrektur 183 • Das Beispiel zeigt auch, wie unhaltbar die Sicherungs- und Festigungsformel ist. In den Entwicklungsländern befindet sich das, was an den Folgen von Folterungen gestorben seien; der Generalstab gibt laut ,Times' bekannt, nur drei Personen seien nachweislich durch Folter gestorben." 18% Vgl. H. Quaritsch, Die Selbstdarstellung des Staates, 1977 (Recht und Staat, Heft 478/79). 183 In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die zentrale Bedeutung des Motivs der Verfolgung für deren politischen Charakter stets betont worden (BVerwGE 55, 82); weitere Nachweise bei O. Kimminich, BK, Er!. 182.

7.2 Asyl für Wehrdienstverweigerer und Kriminelle?

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Europa unter "Staat" versteht, häufig erst am Anfang und im Aufbau. Das Motiv vieler Maßnahmen ist daher vorrangig die Verwandlung des unstaatlichen in einen staatlichen Zustand, also Sicherung und Festigung der noch unstabilen Institutionen und überhaupt der staatlichen Herrschaft. Unter diesem Aspekt ist auch der Vollzug einer "staatlichen" Strafrechtspflege als ein Politikum zu verstehen. Aber das ist nicht mit "politischer Verfolgung" im Sinne des Art. 16 II 2 GG gemeint. Um auf die Folter zurückzukommen: Ob sie nur ausnahmsweise oder regelmäßig Mittel der staatlichen Vernehmungspraxis ist - bei "normaler" Kriminalität ist sie niemals "politische" Verfolgung. Werden tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner gefoltert, ist sie "politische Verfolgung" im Sinne des Art. 16 II 2 GG. Dasselbe gilt für die Angehörigen der anderen, durch Rasse, Religion usw. konstituierten "Gruppen", die die Genfer Flüchtlingskonvention schützt. Aber für die Zuerkennung des Asylanspruchs muß ein solcher Flüchtling nicht gefoltert worden sein; dafür genügen schon andere, weniger schwerwiegende Verfolgungsgründe. Schließlich sollte das rechtstatsächliche Ergebnis von der Anerkennung der Regel-Folter als Asylgrund abhalten: sie würde allen Kriminellen eines Folterlandes den Asylanspruch in der Bundesrepublik verschaffen. Zu Ende gedacht: Jemand, der in die Bundesrepublik auswandern will, könnte in einem Folterland durch eine Straftat das Einreise- und Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik erwerben. Die Annahme des Bundesverwaltungsgerichts, die Folter sei ein Indiz für den politischen Charakter der Strafverfolgung, beruht auf den europäischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Totalitäre Einparteienherrschaften setzten die Folter nur oder vornehmlich gegen tatsächliche oder vermeintliche politische Gegner ein, verzichteten aber auf dieses Mittel regelmäßig bei der gewöhnlichen Kriminalität. Ist diese Situation für den Verfolgerstaat nachgewiesen, so ist in der Tat die Anwendung der Folter ein Indiz, sogar mehr als das, nämlich fast ein sicherer Beweis für "Verfolgung" - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Werden aber Kriminelle wie politische Gegner regelmäßig oder häufig gefoltert, kann die Folter nicht für den politischen Charakter der Verfolgung genommen werden; das ist denkgesetzlich ausgeschlossen. Das politische Motiv muß aus anderen Elementen des konkreten Sachverhalts erschlossen werdenUf • m Die Verwaltungsgerichte haben diese Tatfrage für die Türkei unterschiedlich beantwortet. Das VG Karlsruhe geht in seinem U. v. 30. 8. 1982 "aufgrund der der Kammer vorliegenden Informationen ... von der generellen Anwendung der Folter" aus, verneint deshalb - unter dieser Voraussetzung zu Recht - den politischen Charakter der Verfolgung (unveröff., bei Marx, S.336/37; ebenso in InfAuslR 1982, S. 164; bereits VG Schleswig, Inf-

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7. Neue Asyltatbestände?

7.3 Die Menschenwürde als Kriterium der Verfolgung Gleichwohl ist die Folter - und damit der Menschenwürdeschutz auch in den unstreitigen Fällen des staatlichen Vorgehens aus politischen Gründen belangvoll, wenn nämlich fraglich ist, ob das staatliche Vorgehen den Grad der "Verfolgung" erreichte oder erreichen wird, den Art. 16 II 2 GG voraussetzt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts wird im Sinne des Art. 16 II 2 GG verfolgt, wer ohne Asyl in dem Staat, aus dem er geflohen ist, "Gefahr für Leib und Leben oder Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit ausgesetzt wäre"1G5, und zwar "mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit"168. Leib, Leben und Freiheit dürfen nicht so geringfügig gefährdet sein, daß sie noch als zumutbare Belästigung oder Schikane, nicht jedoch als "Verfolgung" anzusehen sind. Eine Woche Haft soll bereits "Verfolgung" sein 167 , nicht jedoch eine kurze Haft, verbunden mit einem einmaligen Verhör 188 • Ein Christ wird dagegen aus religiösen Gründen, also als "politisch" verfolgt angesehen (Gesundheitsgefährdung), wenn ihm bei einer Lebensmittelvergiftung der Transport mit einem Krankenwagen vom Einwanderungslager in ein Krankenhaus durch Lagerleitung und Krankenhausärzte versagt wird, weil er nicht jüdisch und nicht beschnitten ist189 . Der Schutz der Menschenwürde kann bei der Frage wesentlich werden, ob die Nachteile, die ein Asylsuchender erlitten oder zu befürchten hat, den Grad der im Grundgesetz vorausgesetzten Verfolgung erreichen, und zwar in doppelter Weise. Auch eine sehr kurze Haft aus politischen Gründen ist dann "Verfolgung", wenn der Häftling dabei in seiner Menschenwürde verletzt wird, z. B. durch erniedrigende Behandlung oder durch Folter. Weiterhin: Droht dem Asylbewerber zwar nicht AuslR 1981, S. 156); der Hessische VGH (InfAuslR 1982, S. 98), der VGH Mannheim (InfAuslR 1982, S.255) und das OVG Lüneburg (DVBI 1983, S. 181) nennen Folterungen in der Türkei "Einzelfälle", bei denen die Regierung einschreite, verneinen deshalb ebenfalls einen Anspruch auf Asyl. - Andere Gerichte meinen, gefoltert würden in der Türkei vornehmlich politische, besonders kurdische Häftlinge: VG Stade, InfAuslR 1982, S.48; VG Hamburg, InfAuslR 1982, S.101; InfAuslR 1983, S.27; VG Wiesbaden, U. v. 22.3.1982, bei Marx, S. 325 ff.; VG Gelsenkirchen v. 8.6.1982, bei Marx, S.332; OVG Saarland, NVwZ 1983, S. 170; OVG Hamburg, InfAuslR 1983, S. 187; VG Minden, U. v. 4. 5. 1983, bei Marx, S.341. Zur Vermeidung von Mißverständnissen: Es ist bisher kein Fall nachgewiesen, in dem ein "politischer" Straftäter, z. B. ein Terrorist, der an die Türkei ausgeliefert wurde, dort dann gefoltert worden wäre (Verhandlungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 28. 9. und 12. 10. 1983). m BVerfGE 54, 357. m BVerfGE 55, 82. tn7 OVG Hamburg, InfAuslR 1981, S. 103 (Ghana). 188 BVerwG und BayVGH, siehe Schaeffer, S. 92 FN 273 unter Nachweis der Aktenzeichen der unveröffentlichten Entscheidungen. 189 VG Ansbach, U. v. 4. 7. 1978, bei Marx, S. 907 (Israel).

7.3 Die Menschenwürde als Kriterium der Verfolgung

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eine Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit, sondern "nur" eine Verletzung der Menschenwürde, dann ist er ebenfalls "verfolgt" im Sinne des Art. 16 II 2 GG. In bei den Fällen bestimmt die Menschenwürdeverletzung nicht "Voraussetzungen und Umfang" des Asylgrundrechts, wie Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht irrig formulierten; die Menschenwürdeverletzung ist vielmehr Krite1·ium der Verfolgung, wenn also noch fraglich sein kann, ob Belästigungen, Schikane, kurze Freiheitsentziehungen schon als asylerhebliche "Verfolgung" zu werten sind oder ob - sind Leib, Leben, Freiheit nicht gefährdet eine von diesen Rechtsgütern unabhängige Würdeverletzung ernstlich zu besorgen ist170• Die menschliche Würde ist deshalb ein selbständiges "Rechtsgut", weil sie nicht in den von anderen Grundrechten geschützten Rechtsgütern aufgeht, sei es in Leib und Leben (Art. 2 II GG), sei es Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG). Das wurde vorn bereits ausgeführt. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ist aber auch dann eine Verfolgung anzunehmen, wenn andere Rechtsgüter als Leib, Leben, Freiheit betroffen sind, nämlich Religions- und Berufsfreiheit; weitere Rechtsgüter sollen nur geschützt sein, wenn die Eingriffe "nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Heimatstaates aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben"171. Diese Wendungen entsprechen der vorn erörterten und abgelehnten Auffassung des Gerichts über das Verhältnis des Art. 1 I GG zu den anderen Grundrechten, lassen aber erkennen, daß die Menschenwürdeverletzung jedenfalls für die "anderen Rechtsgüter" das Kriterium der Verfolgung bildet. Wenn der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die asylerhebliche Verfolgung eines röm.-kath. Christen in Israel verneint, der ständig herabsetzend als "Gojim" bezeichnet worden ist, so ist die Entscheidung nicht deshalb richtig, weil es sich hier nur um eine Schikane handelte 172 , sondern weil die in dieser Bezeichnung liegende Ehrverletzung noch nicht den Grad einer Verletzung der Menschenwürde erreicht hat, also noch nicht von einer Ehrverletzung in eine Menschenwürdeverletzung umgeschlagen ist173• 170 Etwas unscharf, aber sachlich und im Ergebnis zutreffend erklärt das Bundesverwaltungsgericht, durchaus der Formel von "Voraussetzungen und Umfang" widersprechend: "Der Grundsatz der Menschenwürde ist entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung einer Verfolgung von sonstigen Nachteilen" (E 67, 193). 171 BVerfGE 54, 357. 172 So die Formulierung des BayVGH, U. v. 4. 6. 1976, unveröff., bei Marx,

S.907.

173 Hier würde es auch schon deshalb an einer "politischen" Verfolgung fehlen, weil die Ehrverletzung wohl nicht von Staatsorganen ausging. Ob

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7. Neue Asyltatbestände?

Mustert man die zugängliche Rechtsprechung zur Folter durch, so hat kein Gericht die Folter allein als Asylgrund anerkannt; in jedem Falle wurde zusätzlich geprüft, ob aus "politischem" Motiv im Sinne der Flüchtlingskonvention gefoltert wurde174 • Auch die in der Öffentlichkeit scharf kritisierten Entscheidungen des Hessischen und des BadenWürttembergischen Verwaltungsgerichtshofs, die das Bundesverwaltungsgericht dann aufhob und zurückverwies, waren in sich schlüssig und blieben im Rahmen der höchstdchterlichen Rechtsprechung176 • Die öffentliche Kritik entzündete sich an der Versagung des Asyls deshalb, weil in beiden Fällen "politische" Täter gefoltert worden waren: der eine hatte sich, wie er vortrug, entweder für die Unabhängigkeit Großkurdistans (DDKD) oder für den Marxismus-Maoismus (TIKP) eingesetzt (HessVGH), der andere behauptete, er sei für ein autonomes Kurdistan auf marxistisch-leninistischer Grundlage unter Einsatz von Waffengewalt eingetreten (KAWA). Der Hessische Verwaltungsgerichtshof ging von einem nach dem türkischen Strafgesetzbuch kriminellen Delikt aus und verneinte ausdrücklich, "er sei allein wegen seiner kommunistischen Gesinnung oder etwa wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit geschlagen worden", der Baden-Württembergische Verwaltungsgerichtshof argumentierte ähnlich. Beide Entscheidungen hätten so nicht ergehen können, wenn die zunächst angenommene Gleichsetzung von Verfolgung wegen einer politischen Tat im Sinne des § 3 II DAG und politischer Verfolgung im Sinne von Art. 16 II GG nicht später aufgegeben und allein die in der Flüchtlingskonvention aufgezählten Motive als maßgeblich angesehen worden wären. Denn in beiden Fällen richteten sich die Taten der Asylbewerber gegen "den Bestand oder die Sicherheit des Staates", die nach § 3 II DAG als politische Taten die Nichtauslieferung zur Folge haben (worüber aber beide Gerichte mangels Zuständigkeit nicht zu entscheiden hatten; außerdem hatte die Türkei keinen Auslieferungsantrag gestellt). Die Rechtsprechung koppelte diesen Tatbestand von der politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG ab und füllte diesen Begriff mit den Gründen der Flüchtlingskonvention aus. Diese Entwicklung wurde vorn bereits dargestellt. Allein das OVG Hamburg hat die Verfolgung von Staatsschutzdelikten von vornherein als asylerhebliche "politische Verfolgung" angesehen und deshalb in einem ähnlichen Folterfall Asyl gewährt178 • der BayVGH auch deshalb den Asylanspruch verneinte, ist aus der kurzen Passage bei Marx, a.a.O., nicht zu entnehmen. 174 Vgl. die von Marx, S. 312-343 abgedruckten 31 Entscheidungen. 176 HessVGH, U. v. 11.2.1982 (bei Marx, S.323/24); Bad-WürttVGH, B. v. 27.5.1982, InfAuslR 1982, S.255 (Marx, S. 329 ff.); BVerwGE 67, 184 ff. (U. v. 17.5.1983) und die Entscheidung vom gleichen Tage BVerwGE 67, 195 ff. (betr. HessVGH). 178 U. v. 11.4.1983, InfAuslR 1983, S.187; das Gericht stellt allerdings zusätzlich fest, die Folter finde in politischen Verfahren weitaus intensiver statt

7.4 Die UN-Folterkonvention

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7.4 Die UN-Folterkonvention

Eine Arbeitsgruppe der Kommission für Menschenrechte der Vereinten Nationen hat am 20. Februar 1984 den "Entwurf eines übereinkommens gegen die Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe" vorgelegt177 • Dieser Entwurf soll durch einen völkerrechtlichen Vertrag die Folterverbote der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 5) und des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (Art. 7) sowie die am 9.12.1975 von der UN-Generalversammlung angenommene Erklärung über den Schutz aller Personen vor Anwendung der Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Resolution 3452/XXX) "wirksamer gestalten" (Präambel des Konventionsentwurfs). Dazu sollen vornehmlich dienen: Alle Vertragsstaaten sind zur strafrechtlichen Verfolgung von Foltertaten in ihrem eigenen Bereich verpflichtet (Art. 4 und 5), jeder Vertragsstaat soll Folterer ausliefern oder selbst bestrafen (Art. 6-9), ein Ausschuß der Vereinten Nationen soll die Innehaltung der Vertragspflichten überwachen (Art. 17 bis 24). Die für das Asyl wichtige Vorschrift enthält Art. 3: (1) Ein Vertragsstaat darf eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, sie dahin zurückschicken ("refouler oder an ihn ausliefern, wenn zwingende Gründe für die Annahme bestehen, daß sie dort in Gefahr wäre, gefoltert zu werden. (2) Zum Zwecke der Feststellung, ob solche Gründe vorliegen, berücksichtigen die zuständigen Behörden alle erheblichen Gesichtspunkte, darunter gegebenenfalls, ob in dem betreffenden Staat nach ständiger Methode grobe, schamlose oder massenweise Menschenrechtsverletzungen begangen werden. U

)

Diese Vorschrift schafft rechtlich keinen neuen Asyltatbestand im Sinne des Art. 16 II 2 GG, auch nicht einen zusätzlichen Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention von 1951; Folter ist eben nicht als solche eine politische Verfolgung. Aber es wird das geltende Recht um als in Ermittlungsverfahren wegen normaler Kriminalität; damit ist auch die Bedingung von BVerwGE 67, 184 ff. erfüllt. 177 United Nations, Economic and Social Council, Commission on Human Rights: Draft convention against torture and other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment (E/CN. 4/1984/L. 2). Der Entwurf geht zurück auf einen Beschluß der Vollversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1977 (32/62). Den zitierten Bericht der Arbeitsgruppe der Menschenrechtskommission hat diese selbst am 29. 2. 1984 debattiert (E/CN.41 1984/SR. 33). - Nachdem der hier erörterte Entwurf auf Verlangen der Sowjetunion, von Indien und anderen Ländern der Dritten Welt hinsichtlich der Kompetenzen des "Ausschusses" weiter abgeschwächt wurde, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Entwurf am 10. 12. 1984 angenommen (s. G. Bauer, "Die Welt" v. 14.12.1984); den Text der Konvention in verbindlicher englischer Fassung enthält der dtv-Beck-Text "Menschenrechte", 2. Auf!. 1985, S. 412 ff., zu deutschen übersetzungen s. dort FN 2.

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7. Neue Asyltatbestände?

einen weiteren Fall der Nichtauslieferung ergänzt, nämlich das Europäische Auslieferungsübereinkommen von 1957 (Art. 3), das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus von 1977 (Art. 5) und das deutsche "Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen" von 1982 (§ 6). Zugleich begründet Art. 3 Abs. 1 der FolterKonvention einen weiteren Fall des Zurückweisungsverbots (nonrefoulement), nach dem keine Person in ein Land abgeschoben oder zurückgewiesen werden darf, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung bedroht sein würde (vgl. Art. 33 I FK). Als völkerrechtlicher Grundsatz kam diese Regel bisher nur den "politischen" Flüchtlingen zugute178• Wer nicht politisch verfolgt, also nicht durch Art. 16 II 2 GG begünstigt wird, aber gleichwohl nicht zurückgewiesen und nach der Konvention nicht in das "Folterland" ausgeliefert werden darf, genießt jedoch regelmäßig ein faktisches Aufenthaltsrecht im Lande seiner Wahl und Zuflucht, es sei denn, ein dritter Staat sei zu seiner Aufnahme bereit. Nur wenn das Folterland nicht zugleich das Land seiner Staatsangehörigkeit ist, könnte er in sein Heimatland abgeschoben werden. Der Rechtsstatus des Asylberechtigten im Sinne des Art. 16 II 2 GG und der Flüchtlingskonvention muß ihm zwar nicht gewährt werden, aber da andere Länder in der Regel ihm einen Daueraufenthalt nicht anbieten werden, gehört er im Zufluchtstaat zu den de facto-Flüchtlingen 17l• Deshalb ist es auch notwendig, die Folter-Konvention in diesem Zusammenhang zu erörtern. Die Reichweite des Art. 3 der Folter-Konvention wird durch die in Art. 1 enthaltene Definition der Folter deutlich: Im Sinne dieses übereinkommens bedeutet Folter jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich schwere körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um z. B. von ihr oder einem Dritten eine Auskunft oder ein Geständnis zu erlangen, sie wegen einer von ihr oder einem Dritten begangenen oder mutmaßlich begangenen Handlung zu bestrafen oder sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu erpressen oder aus einem auf Diskriminierung jeder Art beruhenden Grund, wenn solche Schmerzen oder Leiden von einem öffentlich Bediensteten oder einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person oder auf deren Veranlassung oder mit deren Einwilligung oder Duldung zugefügt werden. Nicht dazu gehören Schmerzen oder Leiden, die sich nur aus rechtmäßigen Sanktionen ergeben, ihnen eigen sind oder damit zusammenhängen. 178 Vgl. o. Kimminich, BK, Erl. 142 unter Wiedergabe von Abschnitt IV der Schlußakte der Konferenz über den Rechtsstatus der Staatenlosen vom 27.9.1954, in der die Konferenz Art. 33 (Verbot des refoulement politischer Flüchtlinge) als "allgemein anerkannten Grundsatz .. bezeichnete, der deshalb für Staatenlose nicht neu kodifiziert werden müßte. 179 In den 20er Jahren wurden Nichtauslieferung und Asyl vollständig gleichgesetzt, s. die Wiedergabe der Amtlichen Begründung zu § 3 des Dt. AuslieferungsG 1929 durch o. Kimminich (FN 112), Er!. 154.

7.4 Die UN-Folterkonvention

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Unter "Folter" sind danach zu verstehen: Die vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Schmerzen durch staatliche Amtsträger (1) während der Ermittlungen, desgleichen (2) als Strafe, (3) zur Einschüchterung oder Erpressung oder (4) als Ausdruck von Diskriminierung18o. Da die Folter in diesem Sinne und als solche bekämpft, also die Rechtskultur der zivilisierten Staaten durchgesetzt werden soll, kommt es bei den ersten beiden Tatbeständen nicht darauf an, aus welchem Grunde ermittelt oder bestraft wird. Artikel 1 schützt daher auch den gewöhnlichen Kriminellen. Art. 1 I Satz 2 wirft zunächst die Frage auf, ob Leibesstrafen, die in einigen islamischen Staaten nach der "Scharia" noch oder schon wieder verhängt werden, als "rechtmäßige Sanktionen" ("lawful sanctions") anzusehen sind, die nicht unter den Begriff der Zufügung körperlicher Schmerzen als Strafe im Sinne des Absatzes 1 fallen ("punishing hirn for an act he or a third person has committed"). In Pakistan z. B. wurden im Zuge der schrittweisen Einführung des islamischen Strafrechts "die Strafe des Handabhackens für Diebstahl und der Steinigung für außerehelichen Beischlaf ... bereits am 10.2.1979 ... proklamiert und vollzogen"181. Die Geltung der Scharia in Saudi-Arabien und in nordafrikanischen Ländern (z. B. Mauretanien) ist bekannt. Im Sudan wurde die Scharia im September 1983 eingeführt, auch die Auspeitschung wegen Alkoholbesitzes oder -genusses182• Solche Barbareien sind ohne 180 Die Europäische Menschenrechts-Kommission hat sich am 18. 1. 1978 im Nordirland-Fall für den Begriff der Folter im Sinne des Art. 3 EMRK auf Art. 1 a. E. der UN-Resolution 3452 (XXX) vom 9.12.1975 berufen: "Die Folter stellt eine verschärfte und vorbedachte Form einer grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe dar" (EuGRZ 1979, S. 149/ 153).

181 VG Köln, U. v. 25.2. 1982, bei Marx, S. 507 (508). über den Vollzug einer Leibesstrafe in der Stadt Peschawar, 1600 km entfernt von Karachi, im Jahre 1984 berichtet Walter H. Rueb so: "Am 29. November drängten sich im Jinnah-Park die Menschen: 10 Drogenschmugglern und Alkoholhändlern wurden öffentlich zehn oder fünfzehn Peitschenhiebe verabreicht. Bei jedem Hieb gab es Beifall - wie in Europas Fußballstadien bei einem gelungenen Torschuß ... Buh-Rufe ertönten, als bei zweien der Bestraften nach fünf Schlägen der Arzt eingriff. Jetzt müssen die Gerichtsärzte darüber befinden, wann die Reststrafe vollzogen wird. Die öffentliche Bekanntgabe des Termins wurde fest zugesagt" ("Die Welt" v. 15. 12. 1984, S. 19). 182 Am 29. 9. 1984 teilte Präsident Numeiri mit, die Gerichte hätten 58 Diebe nach der Scharia verurteilt, darunter auch Christen, und mindestens zwölf Amputationen der rechten Hand und des linken Fußes als Strafe angeordnet (Archiv der Gegenwart v. 1. 10. 1984, 28105). Im "Osservatore Romano" v. 24.8.1984 wird über die Verhältnisse so berichtet: "Täglich werden im Sudan Menschen gehängt oder ausgepeitscht, Gliedmaßen werden abgehackt, Leichen werden als abschreckende Beispiele gekreuzigt - und all dies öffentlich ... Gegen die Urteile der islamischen Schnellgerichte kann kein Einspruch eingelegt werden. Und im Widerspruch zur noch gültigen Verfassung werden auch Christen und Animisten nach den Vorschriften der Scharia abgeurteilt. Wenn Moslems einen Christen anklagen, haben sie automatisch 8 Quaritsch

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7. Neue Asyltatbestände?

jeden Zweifel grausam, unmenschlich und erniedrigend ("cruel, inhuman or degrading"), also als Behandlung (" treatment") wie als Strafe ("punishment") nach Art. 5 der Menschenrechtserklärung und Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte verboten; auf diese Verbote bezieht sich aber die Präambel der FolterKonvention. Es kann daher kaum angenommen werden, daß Art. 1 Abs.1 Satz 2 derartige Strafen als "rechtmäßige Strafen" zuläßt l83 • Diebe aus dem Geltungsbereich der Scharia würden daher, einmal und wie auch immer in einen Vertragsstaat gelangt, nicht zurückgeschickt werden dürfen. Die bisherige Praxis, Pakistani, die mit Hilfe von Schlepperorganisationen über Ostberlin nach Westberlin gelangt sind, sogleich wieder zurückzufliegen, müßte denjenigen gegenüber aufgegeben werden, die in Pakistan eine Strafe nach der Scharia zu gewärtigen haben. Das Ergebnis - Kriminelle (und solche, die behaupten, es zu sein) dürfen hierbleiben - wäre doch wohl sehr seltsam. Unter humanitärem Aspekt ist auch bedenklich die Auslieferung eines Kriminellen, dem eine Leibesstrafe oder Folterung im Rahmen der Ermittlungen drohen. Insofern ist die gute Absicht der Kommission für Menschenrechte nicht zu leugnen. Bereits nach geltendem deutschen Recht - jedenfalls nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts - ist bei ausländerrechtlichen Entscheidungen über Ausweisung und Abschiebung stets auch der Grundsatz der Menschenwürde als oberstes Prinzip unserer Rechtsordnung zu beachten. Mit diesem Grundsatz wäre es nicht vereinbar, wenn deutsche Behörden an der menschenrechtswidrigen Behandlung eines Betroffenen durch dessen zwangsweise Überstellung in ein Land mitwirkten, in dem ihm Folter droht 184 • Die ,recht'. Der Nichtmoslem hat keine Chance. Er hat auch nicht die Möglichkeit, einen Moslem anzuklagen. Die Christen und Animisten sind im Rechtssystem zu Menschen zweiter Klasse degradiert worden" (Archiv der Gegenwart v. 19. 8. 1984, 27978). 183 Auf diesen Punkt ist in den Aussprachen der Arbeitsgruppe wie der Kommission nur der britische Delegierte Sir Anthony WiHiams eingegangen: "Finally, in order to prevent the provisions of the convention from being bypassed, it should not exclude pain and suffering deriving from the use of lawful sanctions" (E/CN. 4/1984/SR. 33, S.8). Art. 1 Abs.l Satz 2 wird auf die Folgen derjenigen Strafen zu beschränken sein, die von der zivilisierten Welt nicht von vornherein als unrechtmäßig angesehen werden, wie z. B. die Todesstrafe, die Einzelhaft, der Entzug von Rauschmitteln und ähnliche Handlungen, die allgemein oder im Einzelfall durchaus "schwere körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden" hervorrufen können. 184 BVerwGE 67, 194. Die Europäische Menschenrechtskommission hat in mehreren Fällen Art. 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten von 1950 ("Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden") das Verbot der Auslieferung in einen Staat entnommen, in dem dergleichen droht; s. W. Kälin, Das Prinzip des non-refoulement, 1982, S. 160 ff. und FroweinlKiLhner, ZaöRV, Bd.43, 1983, S.537, 553 ff. Diese Autoren verstehen das Verbot der Ausliefel"ung in den Folterstaat auch als eine allge-

7.4 Die UN-Folterkonvention

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Behörde, die über die Abschiebung, das Oberlandesgericht, das über den Auslieferungsantrag entscheidet, beide Instanzen können alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen, um die Folterfrage zu beantworten. Das ist bisher im allgemeinen auch stets geschehen. Von den ca. 300 Auslieferungsanträgen, die jährlich an die Bundesrepublik gestellt werden, werden etwa 10 v. H. abgelehnt, weil Gefahr besteht, daß der Beschuldigte in seinem Heimatland politisch verfolgt oder gefoltert würde185• Art. 3 des Entwurfs der Folter-Konvention wird also schon jetzt von den zuständigen Instanzen der Bundesrepublik beachtet; der UN-Konvention beizutreten, würde insofern nur das in der Bundesrepublik geltende Recht deklarieren. Zu verkennen ist jedoch nicht die Bindung der nationalen Instanzen eines Vertragsstaates, die entstehen kann durch die Feststellungen in den Berichten, die der UN-Ausschuß gegen die Folter gemäß Art. 20, 21 der Konvention erstatten soll. Wegen der Formulierung des Art. 3 II wird man nur eine faktische Bindung annehmen dürfen. Die präjudizielle Wirkung würde durch die Autorität der UN und des Ausschusses, vor allem aber durch den Druck der in den Medien formulierten öffentlichen Meinung entstehen. Ein formaler Mechanismus träte an die Stelle des bisherigen Verfahrens, in dem Tat und Täter, Zeit, Land und alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden können. Diese Prüfung wäre beeinträchtigt, wenn der Ausschuß den Tatbestand des Art. 3 II der Konvention einmal positiv festgestellt hat. Besonders aber könnte aus dem Beitritt zur Konvention folgen, daß einem Einreisenden, der sich auf Folterung beruft, der Aufenthalt im Bundesgebiet bis zur förmlichen und rechtskräftigen Widerlegung des Foltervorwurfs zu gestatten ist. Ist für diese Widerlegung auch der Ausschuß zuständig, müßte das Ergebnis seiner Untersuchung nach Art. 20 der Konvention abgewartet werden. Das Ausschußverfahren dauert aber sicher erheblich länger als das bundesrepublikanische Rechtsschutzverfahren. Gegen den Beitritt zur Konvention sprechen meine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG, eine Ansicht, die angesichts der Vorbehalte in der staatlichen Auslieferungspraxis nicht überzeugt (vgl. FN 195). 185 Vgl. G. Bannas, FAZ v. 26.5.1984; s. auch die förmliche Erklärung des BMI BT-Drucks. 10/3299 v. 7.5. 1985, S. 7 zu Frage 11. - Der guten Ordnung halber sei angemerkt: Bisher ist kein Fall nachgewiesen, in dem ein in die Türkei ausgelieferter Straftäter dort gefoltert oder unter Verletzung des Spezialitätsgrundsatzes härter bestraft worden wäre als im Auslieferungsbeschluß vorgesehen. Ein oder zwei Verletzungen des Spezialitätsgrundsatzes solche Fälle unterlaufen auch der deutschen Justiz - sind auf deutsche Erinnerungen hin sogleich korrigiert worden. Das ergibt sich eindeutig aus den Verhandlungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags am 28. 9. und 12. 10. 1983 zum Fall Altun. Der Antrag der Grünen, den Auslieferungsverkehr mit der Türkei abzubrechen (BT-Drucks. 10/357; Steno Prot. V. 8.9. 1983, S. 1243), war schon deshalb unbegründet und wurde mit Recht abgelehnt. 8·

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7. Neue Asyltatbestände?

weiterhin die in Art. 5 Abs.2, Art. 6 ff. der Konvention den Vertragsstaaten auferlegten zusätzlichen Pflichten, die durchaus die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik beeinträchtigen können oder - bei Nichterfüllung - die verantwortlichen staatlichen Instanzen innenpolitischem Druck der Interessenverbände (ai etc.) und der jeweiligen Parlamentsopposition aussetzen werden. Vor allem: der Entwurf der Folter-Konvention spricht mehr für die guten Absichten des UN-Menschenrechtsausschusses als für seine Fähigkeit zur realistischen Lagebeurteilung. Der Entwurf beruht auf der bei Gründung der Vereinten Nationen gehegten Vorstellung, es gäbe allgemein anerkannte und identisch interpretierte Grundsätze der Humanität, die durch UN-Resolutionen, Erklärungen und Pakte schrittweise gegen Restbestände der Barbarei durchgesetzt werden könnten. Diese "Illusionen von 1945" wurzeln in dem Glauben an eine Weltgesellschaft und einen linearen, vor allem durch internationale Organisationen beförderten Fortschritt, gerichtet auf Humanität, Freiheit und Demokratie l86 • Dieser Fortschrittsglaube ist national wie international widerlegt: der Wechsel von Battista zu Castro, von der Kolonialverwaltung zu Idi Amin und ähnlichen Figuren, von Pahlewi zu Khomeini und von Somoza zu den Sandinisten kann allenfalls "dialektisch" als humanitärer Fortschritt verstanden werden, also mit einem beliebig verwendbaren und beliebige Resultate produzierenden Interpretationsmodell. Dasselbe gilt für die erbitterten und oft mörderischen Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Opposition in südamerikanischen und in vielen Entwicklungsländern. Der Vormarsch des islamischen Fundamentalismus mit seiner Wiedergeburt der strafrechtlichen Ideale eines arabischen Propheten des 7. Jahrhunderts wirkt sich auch auf das Verständnis der Menschenrechte aus187 • Vor 15 Jahren war es noch notwendig, auf das zweigeteilte Humanitätsverständnis zu verweisen, nämlich auf das westeuropäisch-amerikanische und das der kommunistischen Staatenl88 • Als 1984 der bundes18G Mit diesem schönen Wahn habe ich mich bereits an anderer Stelle auseinandergesetzt (Der Staat, Bd.17, 1978, S. 421 ff., bes. 429 f.); zu den verschiedenen Gegenströmungen z. B. H. Cavanna (Hrsg.), Die Schrecken des Jahres 2000, 1977. 187 Zu nennen sind Iran, Pakistan, Libyen, Saudi-Arabien, Sudan, Mauretanien und (im Entwurf) Ägypten (s. Adel El Baradie, Gottes-Recht und Menschen-Recht, 1983, S. 88 f.); tendenziell auch die bisher strikt laizistische Türkei (E. Antonaros, "Die Welt" v. 28.11.1984). In Indonesien, wo mehr Moslems wohnen als in jedem anderen Staat der Welt, bisher aber auf religiöse Toleranz verpflichtet, soll der "Islamische Staat" herbeigebombt werden (s. ehr. Pilz, "Die Welt" v. 20.9. und 27.12.1984). In Ägypten soll die Anpassung des geltenden Rechts an die Grundsätze der Scharia die Leibesstrafen aussparen (s. Pet er M. Ranke, "Die Welt" v. 7.5.1985, S.5). 188 Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral, 1969, S. 85 unter Hinweis auf Petrosjan (1964) und Mao Tse-Tung (1952). Das gegenwärtige "reale" Hu-

7.4 Die UN-Folterkonvention

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deutsche Außenminister in Teheran Sorgen wegen der Geltung der Menschenrechte im Iran zur Sprache bringt, wird ihm entgegnet, man plane einen Kongreß, auf dem die verschiedenen Auffassungen der Menschenrechte erörtert werden sollen. Der Vorschlag Genschers, gleichwohl ein bilaterales, nämlich deutsch-iranisches Gelehrten-Kolloquium über die Menschenrechte zu veranstalten, bleibt unbeantwortet. Der Außenminister erhält aber schon vorweg eine deutliche Aufklärung: Der Islam habe eine andere Auffassung von den Menschenrechten 18D • Angesichts der Öl-Mächtigkeit islamischer Staaten und der generativen Zuwächse der Mohammedaner überhaupt wird künftig von drei verschiedenen Menschenrechtsverständnissen auszugehen sein: Das erste steht in den Statuten der Vereinten Nationen, das zweite schließt das GULag-System ein, das dritte auch die Strafen der ScharialDo • Die Folter-Konvention ist an den UN-Statuten und den westeuropäisch-amerikanischen Humanitätspostulaten orientiert. Sie begründet oder kodifiziert zwar zusätzliche Pflichten für alle Vertragsstaaten, praktisch wirksam aber werden diese Pflichten nur für diejenigen Unterzeichner-Staaten, die sich auf jene Postulate nicht nur verbal festgelegt haben. Der sowjetische Delegierte Chernichenko, der sich ebenso ausführlich wie warmherzig für den Entwurf einsetzte, glaubte hoffen manismus-Verständnis der Ostblockstaaten erhellt z. B. der "sozialistische Strafvollzug", s. T. Österreich, Ich war RF, 4. Aufl. 1978, und jüngst die Anhörungen freigekaufter politischer Häftlinge durch die Organisation "Hilferufe von Drüben" am 1./2.12.1984 in Lippstadt ("Die Welt" vom 3.12.1984) und die Anhörung der internationalen Kommission der "Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte" ("Die Welt" vom 8. 12. 1984). l8D Archiv der Gegenwart v. 22.7.1984, 27906. Einige Monate später konkretisierte Khomeini diese "andere Auffassung" in einer Ansprache vor den iranischen Spitzenpolitikern und den Kommandeuren der Streitkräfte nach Radio Teheran so: Ungläubige dürfen getötet werden. Werden sie durch Gewalt, Druck und Schläge umerzogen, sei dies eine Gnade für sie, da sie dann im Jenseits weniger Schmerzen zu erdulden hätten. Das Umbringen von Verdorbenen sei für diese selbst zum Vorteil; die Parole des wahren Islam sei "Krieg, Krieg bis zum Sieg" (Süddeutsche Zeitung, Nr. 288, v. 13. 12. 1984, S. 6). In der Ketzergeschichte des christlichen Europas muß man schon sehr weit zurückgehen, um auf gleiche Vorstellungen zu stoßen. 100 Der kulturhistorische Konflikt, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die strafrechtliche Verbindlichkeit von 30 Koranversen aufbricht, wird klar erst durch die Vorstellung, ein christlicher "Fundamentalismus" würde in Europa und auf dem amerikanischen Kontinent das Strafrecht eines altorientalischen Hirtenvolkes, wie es im Alten Testament festgehalten ist, in Kraft setzen mit seinen Todesstrafen für Ehebruch, Homosexualität, Blutschande, Sodomie, Wahrsagen, Gotteslästerung usw. (3. Buch Mose, 20. u. 24. Kap.). Wenn die islamischen Juristen es stets als ihre Hauptaufgabe betrachtet haben, durch scharfsinnige Konstruktionen die Anwendung der Scharia zu vermeiden (s. Adel el Baradie, Gottes-Recht und Menschen-Recht, S.99 u. passim), so ehrt das ihren Stand, beseitigt aber nicht den Anachronismus, der durch die Verkoppelung von Strafrecht und Religion entsteht.

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7. Neue Asyltatbestände?

zu dürfen, Feststellungen des Ausschusses würden den betroffenen Staat "politisch isolieren" und dadurch der Folter entgegenwirken19l • Diese UN-Rhetorik widerspricht den bisherigen Erfahrungen und der politischen Realität. Die Weltöffentlichkeit wird fast täglich über "grobe, schamlose oder massenweise Menschenrechtsverletzungen" unterrichtet, ohne daß eine politische Isolierung solcher Staaten zu bemerken wäre. Die Sowjetunion hat sich gegenüber der Vietnamesischen Volksrepublik nicht einmal distanziert, was angesichts der Verfahrensweisen dieses Landes gegenüber dem "Klassenfeind" und den daraus resultierenden "boat-people"-Folgen doch wohl angebracht wäre. Der Punkt, von dem aus die Welt der Folter aus den Angeln gehoben werden könnte, ist ein selbständiges Inspektions- und Nachprüfungsrecht einer unabhängigen UN-Kommission; sie müßte befugt sein, jederzeit ohne Anmeldung in den Polizei stationen, Gefängnissen und Lagern zu erscheinen, um die Schinderhütten unbezweifelbar auszumachen. Was die Konvention hierzu bietet, ist mehr als dürftig. Der Ausschuß, der die Innehaltung der Folter-Konvention überwachen soll, ist nicht befugt, Foltervorwürfe am Ort der Tat ohne Zustimmung des betroffenen Staates zu überprüfenm. Zu Recht hat der Leiter der deutschen Delegation bei der Menschenrechtskommission, R. Jaeger, diesen Kompetenzmangel gerügt, aber die Arbeitsgruppe war sich natürlich klar darüber, daß ein echtes Inspektionsrecht die Zahl der Vertragsstaaten noch weiter verringern würde. Wegen der Schwierigkeit der Ermittlungen und der Ohnmacht des Ausschusses gegenüber Nichtvertragsstaaten wird daher die Konvention Folter und mittelalterliche Strafen nur symbolisch bekämpfen können183 • Sie ist ein Tätigkeitsausweis der UN-Menschenrechtskommission gegenüber der UN-Generalversammlung und der Öffentlichkeit der zivilisierten Staaten, die sie ihrerseits nur mit der Bürde des non-refoulement zusätzlich oder auch nur förmlich (wie im Falle der Bundesrepublik) belastet. Auch müßte eine in Kraft getretene Folter-Konvention mit einem schwer erträglichen Widerspruch leben: die Staaten, in denen "nach ständiger Methode grobe, schamlose oder massenweise Menschenrechtsverletzungen begangen werden" (Art. 3 II), sind ungeachtet entsprechender Feststellungen des Ausschusses vollberechtigte Mitglieder der Vereinten Nationen, haben in der Vollversammlung unangefochtenes Sitzung der Kommission am 29. 2. 1984, Protokoll S. 4. m "Wird eine Untersuchung gemäß Absatz 2 dieses Artikels durchgeführt, so bemüht sich der Ausschuß um die Mitwirkung des betreffenden Vertragsstaates. Mit Zustimmung dieses Vertragsstaates kann eine solche Untersuchung auch den Besuch auf dessen Hoheitsgebiet einschließen" (Art. 20 III der Konvention). te3 Nach dem Bericht von amnesty international wird in 98 von 158 der Mitgliedsstaaten der UNO gefoltert ("Torture in the Eighties", 1984, S.2). 111

7.4 Die UN-Folterkonvention

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Stimmrecht und in allen anderen Organisationseinheiten der UN ebenso unangefochtene Mitwirkungsrechte - auf die Vertretung in der UN-Menschenrechts-Kommission werden sie (vielleicht) verzichten können. Solange dies so ist - Struktur und Zusammensetzung der Vereinten Nationen werden dafür sorgen, daß es so bleibt -, müssen sich die Staaten (und ihre Bürger), die als Vertrags- und als Zufluchtstaaten in Frage kommen, durch eine Folter-Konvention geradezu verhöhnt fühlen. Denn über Asyl und non-refoulement haben sie die Folgen menschenrechtswidriger Zustände zu tragen, wie sie Art. 3 II der Konvention beschreibt. Für diese Zustände sind sie nicht verantwortlich. Es ist ihnen aber zugleich unmöglich, durch politische oder militärische Mittel die mensChenrechtswidrigen Zustände an der Quelle und damit die Ursachen der Asylsuche zu beseitigen. Die "humanitäre Intervention" würde rechtlich scheitern an dem Grundsatz der staatlichen Souveränität, den Art.2 der UN-Charta mehrfach absichert, und politisch an dem Gegensatz zwischen den Weltmächten USA und UdSSR - von dem Vorwurf des Neo-Kolonialismus ganz zu schweigen. Die zivilisierten Staaten müssen untätig den Barbareien in nicht wenigen Ländern zusehen, sollen aber auch den kriminellen Einwohnern dieser Länder als Ausfallbürgen offenstehen. Dieses moralisch wie politisch unvertretbare Resultat der Konvention kann nicht mit dem Hinweis auf das gequälte Individuum und auf Humanität aufgewogen werden. Staaten müssen zunächst den Pflichten gegenüber ihren eigenen Bürgern und den besonderen Gesetzen der Außenpolitik gerecht werden; sie leben nach anderer Raison als karitative Organisationenm . Die eigentliche Folge der Konvention: Sie wird einbezogen werden in die Propaganda der Interessenverbände und dadurch zur Auswanderung in jene Staaten anreizen. Da die Verfolgung (eingeschlossen Folter) aus politischen Gründen ohnehin zum Asyl führt, schafft die 194 Sonst wäre die Aufrechterhaltung nonnaler diplomatischer Beziehungen mit dem Iran und der Besuch des deutschen Außenministers in Teheran vom 20.-22. 7. 1984 angesichts der dort üblichen Behandlung politischer Gefangener unverständlich; siehe dazu den klugen Kommentar des Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Werner Marx, im Archiv der Gegenwart v. 22.7.1984, 27906. über das entsetzliche Los der mit mehr als 100 000 angegebenen politischen Gefangenen in dieser "Islamischen Republik" berichtete Mrs. Khandan (International Movement for Fraternal Union Among Races and Peoples) der UN-Menschenrechtskommission am 29.2. 1984 (Protokoll EleN. 4/1984/SR. 33, S. 15 f.). Ob sich der Vertreter Frankreichs in der Kommission bei der Schilderung der Folterungen und Hinrichtungen von Frauen und Kindern daran erinnerte, daß der Urheber dieses fanatischen wie sadistischen Staats- und Religionsspektakels, Khomeini, aus seinem französischen Asyl (6. 10. 1978-1. 2. 1979) die entscheidenden Anstöße zum Sturze des Schah-Regimes gab? Oder daran, daß das Komitee für Menschenrechte in Paris am 9.9. 1978 die Aufforderung Khomeinis an die iranische Armee zum Aufstand gegen den Schah verbreitete? Vgl. Archiv der Gegenwart 1979, 22932, 1978, 22166.

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7. Neue Asyltatbestände?

Konvention über das Zurückweisungsverbot des Art. 3 I (und Art. 19 IV GG) faktisch ein Aufenthaltsrecht für Kriminelle. Auf die Einwanderung dieses Bevölkerungsteils wird die Bundesrepublik aber wohl verzichten können. Art. 3 gehörte bereits in der Arbeitsgruppe der UN-MenschenrechtsKommission zu den umstrittensten Vorschriften überhaupt. "Einige Mitglieder deuteten an, ihre Regierungen würden wahrscheinlich bei Unterzeichnung oder Ratifikation der Konvention erklären, sie würden sich durch Art. 3 nicht gebunden fühlen, sofern diese Vorschrift unvereinbar sein würde mit Pflichten aus Auslieferungsverträgen, die mit Staaten, die nicht der Konvention beigetreten sind, vor. Unterzeichnung der Konvention abgeschlossen worden seien195 ." Sollte die Bundesrepublik der Folter-Konvention beitreten, so wäre ihr diese Erklärung dringend zu empfehlen. Es würden dann, wie ausdrücklich zu betonen ist, Straftäter nicht in ein Folterland ausgeliefert. Das geschieht, wie bereits dargelegt, auch jetzt nicht. Nur könnten auf diese Weise außenpolitische wie innenpolitische Konflikte vermieden oder doch entschärft werden; die Entscheidung über die Auslieferung bliebe den deutschen Instanzen allein überlassen. Vor allem aber würde in diesen Fällen nicht ein zusätzliches Aufenthaltsrecht bis zur Entscheidung des UNAusschusses begründet werden. 7.5 Asyl für die verfolgte Frau? Der Rechtsausschuß des Europäischen Parlaments hat diesem am 13. Februar 1984 einen Entschließungsantrag vorgelegt, die Genfer Flüchtlingskonvention dahin zu ergänzen, "daß die Bestimmungen dieses Abkommens auch für alle Personen gelten müßten, die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden" (Dokument 1 - 1359/83). Das Europäische Parlament soll eine entsprechende Entschließung an Mitgliedstaaten, Kommission, Rat sowie den UN-Flüchtlingskommissar übermitteln. Die Mitgliedstaaten des Europäischen Parlaments sollen "rasch tätig werden, damit eine solche Änderung vorgenommen wird". Eine solche Änderung würde nicht unmittelbar die Asylgründe des Art. 16 II 2 GG erweitern. Die Flüchtlingskonvention beschreibt zwar in Art. 1 A den politischen Flüchtling, der den in der Konvention vorgesehenen Rechtsstatus genießen soll, verschafft jedoch keinen Asylanspruch; die Konvention setzt die Anerkennung als Asylberechtigter voraus1l8 • Die geforderte Ergänzung kann indes mittelbar den Kreis der m So im (übersetzten) Bericht der Arbeitsgruppe der Menschenrechtskommission zu Nr.12 der mitgeteilten Entstehungsgeschichte (EleN. 4/19841 L.2, S.3).

7.5 Asyl für die verfolgte Frau?

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Asylberechtigten erweitern. Werden Art. 1 A und Art. 33 I FK entsprechend ergänzt, so würde politischer Flüchtling diejenige Person sein, die "begründete Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wegen ihrer politischen Überzeugung oder ihres Geschlechts" hat oder haben muß. Nach der bereits erwähnten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt den Verfolgungsmerkmalen der Genfer Flüchtlingskonvention "exemplarischer Charakter für die Beurteilung einer Verfolgung als einer politischen zu " 197. Bei Fortsetzung dieser Rechtsprechung würde die geforderte Ergänzung der Flüchtlingskonvention automatisch die Asylgründe des Art. 16 II 2 GG erweitern. Schreckte die Rechtsprechung vor dieser Konsequenz zurück, so käme das faktische Asyl zum Zuge, weil nach dem ergänzten Art. 33 I FK keine Person in ein Land abgeschoben oder zurückgewiesen werden darf, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit wegen ihrer Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wegen ihrer politischen Überzeugung oder wegen ihres Geschlechts bedroht sein würde. Diese Folge ist bereits im Zusammenhang mit der Folterkonvention dargestellt worden. Der Rechtsausschuß des Europäischen Parlaments hat seinen Entschließungsantrag in wenig befriedigender Weise begründet. Zur Sache selbst wird nämlich nur ausgeführt: "Die Gründe zur Rechtfertigung dieses Entschließungsantrags dürften auf der Hand liegen (!) ... Das Abkommen bezieht sich jedoch nicht auf Flüchtlinge, die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden. In einigen Ländern werden Frauen jedoch aus Gründen, die im Sinne der allgemeinen Rechtsauffassung nicht als Straftaten angesehen werden, verfolgt oder Opfer von Angriffen auf ihre körperliche Unversehrtheit. Daher erscheint eine Berücksichtigung dieser Gruppe von Flüchtlingen im Rahmen des Abkommens wünschenswert" (S. 6 des Berichts). Ob der Rechtsausschuß eines bundesrepublikanischen Kreistages seinem Plenum einen so begründeten Antrag zuleiten dürfte, erscheint außerordentlich zweifelhaft, braucht hier aber nicht näher geprüft zu werden; vielleicht hat der Rechtsausschuß seine Begründung absichtlich verrätseit, um Proteste der Verfolger zu vermeiden. Denn der als Anlage beigefügte Entschließungsantrag von Frau Lizin MEP (Dok. 1-5451 82) äußert auch nur die "Erwägung, daß in bestimmten Ländern die Frauen Opfer von Erpressungen oder unmenschlichen Behandlungen sind, weil sie gegen moralische oder ethische Regeln verstoßen haben, die für die gesellschaftliche Gruppe gelten, der sie aufgrund religiöser 198 So die h. M., s. o. Kimminich, BK, Erl. 166. Zur Rechtsstellung nach der Flüchtlingskonvention s. Horst Risse, in: Beitz/Wollenschläger, Bd. 2, 1981, S. 542 ff. 187 BVerwGE 67, 186.

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7. Neue Asyltatbestände?

oder kultureller Traditionen angehören", und "daß die Verstöße, die ihnen zur Last ,gelegt werden, keine Straftaten oder Verbrechen im Sinne des internationalen Strafrechts oder von Abkommen der Vereinten Nationen darstellen", und "daß die Urheber der Erpressungen und unmenschlichen Behandlungen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Gruppe strafrechtlich nicht belangt werden oder eine strafausschließende Entschuldigung vorbringen können". Soll nur die Verfolgung von Frauen die Flüchtlingseigenschaft begründen, hätte dieser Tatbestand nicht durch die neutrale Formulierung verdeckt werden dürfen, daß alle Personen geschützt werden sollen, "die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden". Eine Männerverfolgung ist nämlich weder denkgesetzlich noch rechtstatsächlich ausgeschlossen. Es sind männliche Wesen, die in Israel, innerhalb und außerhalb des Islams, bei den Naturvölkern Südafrikas, Ozeaniens, Südamerikas und anderswo rituell beschnitten werden, also "Opfer von Angriffen auf ihre körperliche Unversehrtheit" sind us . Wo z. B. die Homosexualität von Erwachsenen noch bestraft wird, wird es meistens nur die männliche. Vertritt man die Ansicht, die Bestrafung widerspräche in diesen Fällen der "allgemeinen Rechtsauffassung" - das ließe sich vielleicht begründen -, dann dürften männliche Homosexuelle, die strafverfolgt werden und deshalb flüchten, gemäß Art. 33 I FK nicht abgeschoben und nicht zurückgewiesen werden; unter den bereits genannten Voraussetzungen wären sie als Asylberechtigte anzuerkennen199 • Dasselbe könnte für das Elternpaar erwogen werden, das seinen Sohn vor der Beschneidung schützen will und sich auf den von Art. 6 GG garantierten Schutz der Familieneinheit beruft. Diese Resultate sind wahrscheinlich nicht beabsichtigt; im humanitären Bereich ist man allerdings vor Überraschungen nie sicher. Das Beispiel verdeutlicht aber die unbedachte Art, in der irgendwelche Forderungen irgendwelcher Organisationen vom Räderwerk angesehener öffentlicher Institutionen anstandslos aufgenommen werden und mit dem Goldrand der Empfehlung eines Rechtsausschusses auf den parla198 In dem klassischen Werk von Adolf E. Jensen, Beschneidung und Reifezeremonien bei Naturvölkern, 1933, werden nur Formen und Verbreitung der maskulinen Beschneidung dargestellt. Die Beschneidung auch der pubertierenden Mädchen bei einem ostafrikanischen Stamm (Uganda) in den 50er Jahren schildert WalteT Goldschmidt, Culture and Behavior of the Sebei, UCP Berkeley 1976, S. 267 ff. m Das ist schon vertreten worden (von Marx, S.392: Homosexualität als politische Überzeugung). Das VG Wiesbaden hat einem homosexuellen Iraner Asyl zuerkannt, weil in der iranischen Republik Khomeinis Homosexuelle wegen Verstoßes gegen die Verse 16-19 der 4. Sure des Korans hingerichtet würden (U. v. 28. 4. 1983, bei Marx, S.394-397). Für einen ungarischen Flüchtling hat das VG Ansbach Homosexualität nicht als Asylgrund gelten lassen (U. v. 9. 3. 1981, bei MaTx, S. 392-394).

7.6 Zwischenbilanz

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mentarischen Tisch gelangen können. Wie eine solche Empfehlung seriös erörtert werden soll, bleibt ebenso dunkel wie ihre rechts tatsächliche Begründung.

Nachtrag: Aus der Korrespondenz mit einem Mitglied des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments war zu erfahren, der Antrag sei in der Beratung begründet worden mit der Beschneidung von Klitoris und Schamlippen, die als Initiationsritus bei einigen afrikanischen Stämmen heranreifenden Mädchen unter barbarischen Umständen zugemutet werde; auch sei von der Bestrafung der Homosexualität unter Erwachsenen die Rede gewesen. Herr Dr. Dietmar Nickel, Generaldirektion Ausschüsse und Interparlamentarische Delegationen, teilte auf Anfrage durch Schreiben vom 21. 12. 1984 mit, es gehe um die Verfolgung von Frauen wegen Ehebruchs; die Folge sei "eine Art von Ehrenrache, die bis zur Tötung der Frauen gehen kann". über das weitere Schicksal des Antrages wurde so berichtet: Nachdem das Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen die Aussichtslosigkeit des Antrages auf Ergänzung des Genfer Flüchtlingsabkommens dargetan habe, seien Bericht und Antrag vom Plenum an den Rechtsausschuß zurückverwiesen worden. Der Ausschuß leitete nach Beratung am 21./22.3. 1984 einen neuen Entschließungsantrag zu, der unter 1.) so begründet war wie der erste, dessen Petitum jedoch eine Interpretationsempfehlung enthält, nämlich: "Das Europäische Parlament ... ist der Auffassung, daß Frauen in dieser Situation als einer ,bestimmten sozialen Gruppe' zugehörig in dem Sinne betrachtet werden können, wie der Begriff ,Flüchtlinge' im ersten Artikel des Abkommens der Vereinten Nationen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge definiert ist; ersucht die Staaten dringend, das UN-Abkommen von 1951 und das Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge entsprechend dieser Auslegung anzuwenden ... " (Dokument 1112/84).

Dieser Entschließungsantrag wurde im Plenum am 13.4.1984 unverändert, kommentarlos und ohne Aussprache angenommenzoo. 7.6 Zwischenbilanz 1. Den Begriff der "politischen" Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG verstehen Gerichte und Schrifttum heute anders als vor 30 Jahren. Nicht mehr als "politische" Verfolgung gilt die strafrechtliche Verfolgung wegen eines "politischen" Delikts. Die Verbindung von Staatsschutzdelikt und politischer Verfolgung wurde juristisch aufgelöst durch eine adjektivisch betonte Auslegung des politischen Charakters der

zoo Verhandlungen, Amtsblatt 1984-85, Nr. 1-313/331.

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7. Neue Asyltatbestände?

Verfolgung: "Politisch" - d. h. illegitim! - wird eine Person dann verfolgt, wenn sie wegen ihrer Rasse, ihrer Religion, ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrer politischen Anschauungen verfolgt wird oder diese Motive sich bei einer sonst legalen Verfolgung zu ihren Lasten auswirken. Diese Auslegung ist an der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 orientiert und folgt dem neue ren internationalen Auslieferungsrecht und dem Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus. Die Entprivilegierung des "politischen" Straftäters trägt zugleich bei zur Stabilisierung oder auch Konservierung der existierenden Staaten und ihrer Formen; eine angesichts der von Attentat und Aufruhr, von Anarchie und Sezession geschüttelten Staatenwelt der Gegenwart wohl verständliche Reaktion. 2. Es ist richtig, den Begriff der politischen Verfolgung auf die genannten illegitimen Verfolgungsmotive festzulegen. Denn eine Verfolgung aus diesen Gründen als "politisch" und damit illegitim zu verstehen, entspricht den deutschen und europäischen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts. 3. Auf Tatbestände außerhalb dieses Motivbündels paßt der Begriff der politischen Verfolgung nicht. Es gibt auf dieser Welt sicherlich manche, wenn nicht viele Sachverhalte, die nach deutscher und europäischer Rechtsauffassung und nach den Normen und Proklamationen der Vereinten Nationen illegale und illegitime Verletzungen der menschlichen Würde oder schlicht Barbareien sind. Diese Fälle mögen "Verfolgungen" sein, es sind aber keine "politischen" Verfolgungen. Art. 16 II 2 GG lautet eben nicht: "Asyl genießt, wer in seinen Menschenrechten verletzt ist". Das Adjektiv "politisch" hat aus dem Katalog der Menschenrechte einige herausgehoben (Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politische Anschauung) und an ihre Verletzung durch staatliche Verfolger den Asylanspruch geknüpft. Mit dieser verfassungsrechtlichen Eingrenzung wäre die unterschiedslose Ausdehnung und Erstreckung auf alle Menschenrechtsverletzungen unvereinbar.

8. Die Verfolgung 8.1 Der staatliche und der nichtstaatlicbe Verfolger Das Asylgrundrecht schweigt über den Verfolger, als scheute es sich, das Böse zu zitieren. Für den juristischen Interpreten ist der Verfolger jedoch nur semantisch verkleidet. Das Adjektiv "politisch" klärt nicht nur auf über das Motiv der Verfolgung. Es legt zugleich fest, wer verfolgt. Wie für die Bestimmung der Motive, wäre es auch hier sinnlos, den Begriff des Politischen abstrakt definieren zu wollen. Das Wort "politisch" gewinnt seinen Sinn nur aus dem Zusammenhang, in dem es gebraucht wird. Zwischen dem Tatbestand der Verfolgung und der Rechtsfolge des Asyls verweist es auf ein "politisches" Handlungssubjekt, das zur Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG imstande ist und dessen Verfolgung das Asyl rechtfertigen soll. Nach Rechtsprechung und Schrifttum muß Träger der Verfolgung der Staat sein. Diese Bestimmung ergibt sich zunächst aus der Geschichte des Asyls im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Flüchtlingswellen sind seit jeher auch durch Hungersnöte und Bürgerkriege ausgelöst worden, aber die Flüchtlinge fanden in diesen Fällen nicht aufgrund eines Asylrechts eine neue Heimat. Denn Asyl ist, sofern als Institut anerkannt oder als Recht ausgestaltet, ein im Einzelfall zugesprochenes oder entstehendes Individualrecht. Es schafft keinen Rechtstitel für Völkerwanderungen. Die dauernde Aufnahme eines Fremden ausschließlich in seinem Interesse durchbricht die Regel des im Zufluchtstaat üblichen Fremdenrechts, das von dem Gedanken der "Erwünschtheitskontrolle" beherrscht ist. Das Asyl wird daher nur im Notfall und als Ausnahme gewährt. Das Asylrecht soll einen Menschen vor Verfolgung im ernsten und sonst ausweglosen Notfall retten. Aus diesem auch historisch belegbaren Sinn des Asyls folgen zwei Konsequenzen. Eine Verfolgung, die den Bürger in eine lebens-, leib- oder freiheits bedrohende Situation treibt, der er nur durch Flucht in einen anderen Staat entrinnen kann, ist regelmäßig nur einem Staatsapparat möglich. Denn nur staatliche und auf Verfolgung gerade dieses Menschen gerichtete Maßnahmen können infolge Machtkonzentration und flächendeckenden Monopols legaler Gewaltanwendung jene ausweglose Situation schaffen, in der ihm vernünftigerweise keine andere Alternative bleibt als die Flucht ins Ausland. Die von Krieg, Bürgerkrieg,

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8. Die Verfolgung

Hungersnot, Epidemien und ähnlichen Ereignissen ausgehenden Wirkungen oder die mit ihnen verbundenen Fluchtbewegungen sind keine Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG20I • Sie zielen nämlich nicht als politisch motivierte Verfolgung auf einen einzelnen Bürger. Die oft schrecklichen Folgen solcher Ereignisse - auf deutschem Boden von vielen Älteren selbst erfahren - können (wenn überhaupt) nur durch Hilfen und Maßnahmen außerhalb des Asylrechts gelindert werden, äußerstenfalls durch Verzicht auf Abschiebung oder durch das Institut der Kontingentflüchtlinge. Anders formuliert: Weil die Nationalität unser Schicksalskostüm ist (E. Jünger), fällt alles aus dem asylrechtlichen Verfolgungstatbestand heraus, was zu diesem Schicksalskostüm gehört, d. h. alle Ereignisse, die den einzelnen ohne besonderes Zutun seines Heimat- oder Aufenthaltsstaates treffen 2O!. Von dem ersten Grundsatz hat die neue re Rechtsprechung gelegentlich unter dem Beifall des Schrifttums Ausnahmen zugelassen. So wird eine Militärorganisation, die in dem von ihr beherrschten Gebiet "staatsähnliche Gewalt" ausübt, als möglicher Verfolger im Sinne des Asylgrundrechts angesehen, was Deserteuren der Palästinenserorganisation EI Fatah die Asylberechtigung verschaffen kannlol • Einzelne Entscheidungen dieser Rechtsprechung sind nicht frei von Widersprüchen. Einem unbeteiligten und unbefangenen Dritten wird es schon seltsam erscheinen, daß desertierte Angehörige der Palästinenserorganisation ausgerechnet in der Bundesrepublik Zuflucht suchen. Sodann: Wenn die EI Fatah in ihren Lagern in Jordanien und im Libanon "staatsähnliche Gewalt" ausübte: ist denn dies eine ausweglose Situation, der man sich nur durch Flucht in die Bundesrepublik entziehen konnte, oder boten Jordanien und der Libanon eine sog. inländische Fluchtalternative an? Dann wäre der Asylanspruch nicht entstanden. Sind diese beiden Fragen zu verneinen, so zeigt sich an einem dritten Punkt eine deutliche Inkonsequenz: Besitzt eine solche Organisation auf dem von ihr beherrschten Gebiet das Gewaltmonopol und wird sie deshalb als "staats101 Deutlich BVerwG, DÖV 1979, S. 296; weitere Rspr. bei O. Kimminich, BK, Erl. 243. 202 Die h. M. hat sich schon früh darauf verständigt, den Begriff der Verfolgung auf "staatliche" Verfolgungsmaßnahmen zu beschränken (BGHSt3, 392; s. auch O. Kimminich, BK, Erl. 216). In einigen Entscheidungen hat sich der BGH auf Art. 1 Ader Flüchtlingskonvention berufen, danach derjenige als Flüchtling aus politischen Gründen anzusehen ist, der "den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will" (BGH, U. v. 28.10.1964, MDR 1965, S.278 u. ständig; s. Marx, S. 778). Die Flüchtlingskonvention kann natürlich nur sagen, wie der Begriff international verstanden wird und so bei der Auslegung des Art. 16 II 2 GG helfen. 203 VG Ansbach, InfAuslR 1979, S.45 u. öfter; VG Berlin, B. v. 10.3. 1977 (bei Marx, S.522); BVerwG, B. v. 22.3.1983, Buchholz, 402.24, § 28 AuslG Nr. 44; U. v. 28.2.1984, DVBl. 1984, S.780.

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ähnlich" angesehen, dann muß der ihr freiwillig geleistete oder von ihr verlangte Wehr- und Kriegsdienst asyl rechtlich so behandelt werden, wie der Wehrdienst in der regulären Armee eines völkerrechtlich anerkannten Staates!Of: Die Gleichstellung beruht auf der Gleichheit

der unwiderstehlichen territorialen Zwangsgewalt der verfolgenden Instanzen und damit auch der gleichen Situation des Verfolgten. Für

die Annahme der Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG kann es dann nicht auf die Anerkennung als Staat durch die Völkerrechtsgemeinschaft ankommen oder auf das Selbstverständnis des Verfolgers, der sich im Libanon oder in Jordanien, soweit nicht für den angestrebten Palästinenserstaat beansprucht, nicht als Staat, sondern als Befreiungsorganisation begreift. Genügt aber für die Qualität der Verfolgung Staatsähnlichkeit durch Situationsgleichheit, dann müssen auch die üblichen Grundsätze für Deserteure, Wehrdienst- und Kriegsdienstverweigerer gelten. Eine zu befürchtende Bestrafung wegen Desertion ist deshalb nur dann "politische" Verfolgung, beruhte die Fahnenflucht auf "politischer" Gegnerschaft und würde diese Gegnerschaft die Strafe schärfen 205 . In dieser Situation steht der geflohene Afghane, der nach Herkunft und Lebensschicksal Regimegegner ist, dessen Flucht folgerichtiger Ausdruck seiner politischen Anschauung ist und der deshalb im Falle der Rückkehr "mit politisch überhöhter Bestrafung zu rechnen haben wird"204. Das Bundesverwaltungsgericht sah schon in der Behauptung eines palästinensischen Asylbewerbers, er befürchte eine Bestrafung wegen Desertion, die politische Motivation der Bestrafung schlüssig vorge204 In diesem Sinne entschied das BVerwG durch B. v. 2. 1. 1980 für die Kriegsdienstverweigerung eines Palästinensers, Buchholz, 402.24, § 28 AuslG Nr. 17; danach st. Rspr. des 9. Senats (s. U. v. 28.2.1984, DVBl. 1984, S. 780 f.). 205 s. bereits vorn S. 70/71. Das VG Berlin sah zwar diese Konsequenz, meinte aber, die Verfolgung als "politisch" verstehen zu können, "weil die FedajinenOrganisationen einen politischen Kampf führen" (bei Marx, S.522). Welche Bürgerkriegspartei militärische Gewalt für "unpolitische Kämpfe" einsetzte, ließ das VG offen. Mit dem weiteren Hinweis auf die Völkerrechtswidrigkeit des von den Fedajinen geführten Kampfes wird entweder die Staatsähnlichkeit wieder aufgehoben oder jedem Deserteur aus jeder Armee das Risiko der Beurteilung des von ihr geführten Krieges durch die Behörden und Gerichte des Zufluchtstaates zugeschoben. 204 BVerwG, B. v. 26.6.1984, E 69, 322, betr. Wehrdienstverweigerung. Das Berufungsurteil des Bad-WürttVGH v. 31. 5.1983 hatte auf den besonderen Charakter des Wehrdienstes in Afghanistan abgestellt: nicht Abwehr eines äußeren oder inneren Feindes, sondern Zerschlagung des bewaffneten Widerstandes im afghanischen Volk zur Machterhaltung des von einer fremden Invasionsmacht und in ihrem Interesse eingesetzten Regimes. - Wichtige Hinweise enthält die Darstellung einer Befragung: Doris Thurau, Gründe der Asylsuche von afghanischen Asylantragstellern in der BRD, 1984, S. 49 ff. Was die Autorin in dieser sozialwiss. Prüfungsarbeit über das Asylgrundrecht und die Praxis des Asylverfahrens allgemein schreibt, läßt allerdings Vertrautheit mit dieser Seite des Flüchtlingsproblems gänzlich vermissen.

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tragen. Es begründete diese Ansicht mit dem Charakter der EI Fatah als einer "militanten politischen Organisation", der gegenüber der Asylbewerber eine Treueerklärung abgegeben habe 207 • Die "Treueerklärung" ist allerdings in den Armeen der Neuzeit als Fahneneid, Diensteid oder Gelöbnis ein verbreiteter Initiationsritus208 • Der Bruch dieser Treueerklärung ist überall Rahmen und Hintergrund für die Bestrafung der Fahnenflucht209 • Aus diesem Sachverhalt kann daher weder auf den politischen Charakter der Flucht noch auf den politischen Charakter der Strafverfolgung geschlossen werden. Auch der Charakter der EI Fatah als einer "militanten politischen Organisation" ist unergiebig. Die EI Fatah fühlte sich gegenüber Israel als kriegführendes Subjekt im Sinne des Völkerrechts und wurde als solches von einer Reihe von Staaten anerkannt. Militanz ist auch sonst eine Eigenart von gewaltanwendenden "Befreiungsorganisationen" oder Bürgerkriegsparteien, die nach Ziel, Form und Verfassung "unpolitisch" schwer vorstellbar sind. Mit der Unterstellung politischer Verfolgung ging das Bundesverwaltungsgericht auch an den Realien der Palästinenserfälle vorbei. Desertion ist in so gut wie allen Fällen keine Absage an die politischen Ziele von EI Fatah. Desertiert wird wegen Üb erd ruß am Militär- und Lagerleben, wegen Differenzen mit Vorgesetzten oder aus Angst vor Kommandounternehmungen auf israelischem Territorium. Alles das sind Gründe, die überall für Desertionen typisch sind. Das Bundesverwaltungsgericht läßt diesen Einwand nicht gelten, weil nach einer alten, aus der Rechtsprechung der 60er Jahre stammenden Formel die Motive des Flüchtlings belanglos sind, es vielmehr ausschließlich auf die Motive des Verfolgers ankäme 210 • Selbst wenn dieser (überholte) Ansatz richtig wäre: Die EI Fatah kennt so gut wie jeder andere die erwähnten Gründe der Desertion. Es ist daher regelmäßig ganz unwahrscheinlich, daß Strafen wegen Desertion mit einem Aufschlag aus politischen Gründen versehen werden. Die Strafen mögen "drakonisch "sein; so wird Fahnenflucht bei den meisten kriegführenden Staaten bestraft. Wie auch sonst müssen daher besondere Umstände hinzutreten, um diese Bestrafung als "politische" Verfolgung ansehen zu können 211 • Das Urteil vom 22.3.1983 und seine Anhänger im Schrift207 u. v. 22.3.1983, Buchholz, 402.24 § 28 AuslG Nr.44; im U. v. 28.2.1984 (DVBl. 1984, S. 780 f.) fehlt diese Begründung. 208 Das "Gelöbnis" der Wehrpflichtigen in der Bundesrepublik lautet: "Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen" (§ 9 11 SoldatenG). Berufs- und Zeitsoldaten leisten den inhaltsgleichen "Diensteid", aber sie geloben nicht, sondern "schwören" (§ 9 I SoldatenG). 209 Vgl. für das deutsche Recht Joachim Schölz, Wehrstrafgesetz, 2. Aufl. 1975, § 16 Erl. 1. 210 DVBl. 1984, S. 781.

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turn hingegen überbürden dem Bundesamt die Darlegungs- und Beweislast für die Straflosigkeit der konkreten Desertion und machen auf diese Weise die Bundesrepublik zum Ruhequartier für dienstmüde EI Fatah-Terroristen 212 . "Politische" Verfolgung ist grundsätzlich staatliche Verfolgung. In den modernen Einparteien-Staaten Europas, Afrikas und Asiens sind aber die Staatsbehörden entweder den Parteiinstanzen untergeordnet oder die Parteikader werden wegen ihrer überwältigenden Maßgeblichkeit an eigener Herrschaftsausübung nicht gehindert. Ebenso können religiöse Organisationen und ihre geistlichen Amtsträger die Staatsapparatur beherrschen oder sich von ihr unabhängig machen. Verfolgungsmaßnahmen der Staatspartei oder der priesterlichen Funktionäre und ihrer Anhänger werden in beiden Fällen als "politische" Verfolgung dem Staat zugerechnet. Voraussetzung ist freilich "die faktische Einheit von Staat und Staatspartei oder von Staat und Staatsreligion"213. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung allerdings nicht nur diejenigen "privaten" Verfolgungsmaßnahmen dem Staat zugerechnet, die er anregt, unterstützt und billigt, sondern auch solche, die er "tatenlos hinnimmt und damit dem Betroffenen den erforderlichen Schutz versagt, weil er hierzu nicht ... in der Lage ist"214. Es ist nicht ganz klar, ob nach Ansicht des Gerichts in dem zu entscheidenden Fall des Ahmadi-Pogroms in Pakistan 1974 der Staat - wegen der Einheit von Staat und Staatsreligion (sunnitischer Islam) - die Ausschreitungen der "rechtgläubigen Moslems" tatenlos hinnahm, weil er sie zumindest billigte und deshalb "nicht willens" war einzuschreiten, oder weil er dazu "nicht in der Lage war"; das VG Ansbach hatte festgestellt, die Polizei sei "nicht ernstlich gewillt gewesen"215. Zwischen diesen ganz 211 Im Ergebnis ebenso das Urteil vom 28. 2. 1984, DVBl. 1984, S.781. Im U. v. 31. 3. 1981 hatte das BVerwG diese Umstände darin gesehen, "daß Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet werden. Ein Flüchtling, den ein solches Schicksal erwartet, ist politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16 II 2 GG" (Buchholz, 402.24, § 28 AuslG Nr. 26). Vorsorglich sei hier angemerkt, daß der Strafrahmen des § 16 Wehrstrafgesetz (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren) keinen Maßstab liefert, weil "der Kriegsteil des WStG noch nicht vorliegt und die Strafdrohung für die Tatbegehung während eines Krieges eine Verschärfung erfahren kann" (J. Schälz [FN 209], § 16 Erl. 30). 212 Das Urteil vom 28.2.1984 hat nicht nur auf die oben erörterte "Treueerklärung" als Begründungselement verzichtet, es hat auch die Formel vom "schlüssigen Vortrag" nicht mehr wiederholt. 213 BVerfGE 54, 358. 214 BVerfGE 54, 358; ebenso BVerwGE 62, 123; 67, 317 f.; weitere Entscheidungen bei Marx, S. 779-781 (Libanon u. Pakistan). Z15 VG Ansbach, U. v. 13.7.1978; Text bei Schaeffer, S.81 FN 230. Das BVerfG sah "nach den Feststellungen der Verwaltungsgerichte eine derartige 7 Quaritsch

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verschiedenen Tatbeständen verläuft die Grenze. StaatLiche Untätigkeit ist dann keine politische Verfolgung, wenn sie auf staatlicher Unfähigkeit beruht. In vielen Ländern, nicht nur der Dritten Welt, steht die in Europa vom 16. bis 19. Jahrhundert vollzogene Entwicklung des modernen Staates noch am Anfang; mancherorts ist sie auch nur in den größeren Städten verwirklicht und dort steckengeblieben. In diesen Ländern bedeuten die Abwesenheit eines offenen Bürgerkriegs und die Existenz einer der Regierung gehorchenden Armee noch nicht ein flächendeckendes und ohne Ansehen der Person wirksames Gewaltmonopol von Verwaltung und Justiz. Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates aber stand nach den europäischen Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts ein Staat vor Augen, dessen Anspruch auf das Gewaltmonopol überall erfüllt und der deshalb für politische Verfolgungen verantwortlich ist; er könnte sie, wenn er nur wollte, sofort unterdrücken216 • Diese Voraussetzung muß nicht nur der Entstehungsgeschichte wegen erhalten bleiben. Asylgewährung ist die Folge spezifisch staatlicher Unterdrückungsmaßnahmen. Die Einbeziehung "privater" Verfolgungen ohne staatliche Duldung würde unabsehbare Folgen haben: die Bundesrepublik müßte allen Asyl gewähren, die unter den Folgen unstaatlicher Zustände leiden. Solche Zustände gibt es, wie das Beispiel der syrischen Christen in der Osttürkei zeigt, nicht nur in Afrika und Asien, dort aber sicher häufiger und in weitem Maße. Dem Sikh-Pogrom nach der Ermordung Indira Gandhis im November 1984 sahen die Polizisten selbst in der Hauptstadt Neu-Delhi tatenlos zu, vor allem deshalb, weil sie, bewaffnet nur mit Bambusstöcken und alten Gewehren, Angst haben mußten, selbst getötet zu werden; erst die Armee konnte den Frieden auf den Straßen wiederherstellen!l7. Schutzlosigkeit von Minderheiten gegenüber religiös motivierten Nachstellungen, Anschlägen und Verbrechen durch die Mehrheit war im 16. und 17. Jahrhundert wesentlicher Grund für die Errichtung starker Zentralgewalten in Europa. Es verfehlte aber den staatsgerichteten Sinn des Art. 16 II 2 GG, würde der Bundesrepublik eine allgemeine GarantensteZZung für die Unstaatlichkeit ferner Länder zugewiesen werSubstitutenstellung des pakistanischen Staates" als gegeben an. Der ungewöhnliche Begriff des Substituten deutet auf den Standpunkt des VG Ansbach hin. - Die Asylberechtigung der Ahmadis ist in der Rechtsprechung, die sich zu ausgedehnten religionsgeschichtlichen und völkerkundlichen Betrachtungen genötigt sieht, außerordentlich kontrovers, vgl. die bei Marx abgedruckten Entscheidungen (S.493-517) und das Urteil des BVerwG v. 31. 7. 1984, das die ablehnende, auf neuere und zahlreiche Gutachten gestützte Entscheidung des BayVGH v. 10. 5. 1983 bestätigte (DVBl. 1984, S. 1016, 1018 r. Sp.). 216 In diesem Sinne wohl auch W. Zeidler (FN 34), S. 562/63. U7 Vgl. die Berichte von Peter M. Ranke, "Die Welt" v. 5.11. und 9.11.1984.

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den. Sind Verwaltung und Justiz des Heimatlandes "nicht in der Lage", Bürger gegen Bürger zu schützen, dann gehören "private" Verfolgungen, die mit Krieg, Bürgerkrieg, aber auch mit politischer, religiöser und rassischer Unduldsamkeit verbunden sind, zu den nationalen Schicksalen, die zu lindern das Asylrecht nicht geschaffen worden ist!18. Dem Staat die Verfolgung durch nichtstaatliche Organisationen oder einen fanatisierten Mehrheitspöbel als eigene ("mittelbare") Verfolgung zuzurechnen, ist nur gerechtfertigt, wenn er sie unterstützt oder toleriert; denn Zurechnung beruht auf Verantwortung. Eine Verfolgung durch Unterlassen2U ist nach herkömmlichem Rechtsverständnis eine zurechenbare "politische Verfolgung" allein dann, wenn den Staat eine Rechtspflicht zum Handeln trifft. In den Fällen staatlicher Ohnmacht aber gilt der alte Grundsatz: Ultra posse nemo obligatur. Das gilt z. B., "wenn der Staat zur Verhinderung solcher übergriffe (nämlich nichtstaatlicher Stellen) prinzipiell und auf gewisse Dauer außerstande ist, weil er sei es für das ganze Staatsgebiet, sei es für einzelne Regionen - das Gesetz des HandeIns an andere Kräfte verloren hat und seine staatlichen Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen insoweit nicht mehr durchzusetzen vermag"220. Das Bundesverwaltungsgericht hat allerdings gerade diesen Sachverhalt abgesetzt von Krieg, Bürgerkrieg, Revolution, sonstigen inneren Unruhen oder allgemeiner Kriminalität, die zu Recht nach herrschender Ansicht den Anspruch auf Asyl nicht auslösen. Weshalb es anders sein soll, wenn der Staat "das Gesetz des HandeIns an andere Kräfte verloren hat", wird nicht begründet und ist auch nicht einsehbar 2U • Leben 218 Im Ergebnis ebenso W. ZeidLer (FN 34), S.593 mit der hier einschlägigen Fragestellung, "ob die Staatsmacht zur Durchsetzung eines rechtsstaatIichen Ordnungsanspruchs aufgrund ihrer eigenen Schwäche und Funktionsuntüchtigkeit objektiv unfähig ist". 2U Schaetter, S. 80 ff. 220 BVerwGE 67, 320/21, bestätigt durch die Tamilen-Entscheidung v. 30.10. 1984; in ihr hat das Gericht die "gewisse Dauer" staatlicher Untätigkeit und Unfähigkeit nicht schon durch eine nur vorübergehende Macht- und Hilflosigkeit der Staatsorgane bei plötzlich ausbrechenden Unruhen erfüllt gesehen (InfAuslR 1985, S. 48/50). 221 Eine Begründung fehlt auch den anderen Entscheidungen, die bei staatlicher Schutzunfähigkeit den Tatbestand politischer Verfolgung bejahen, vgl. die bei Marx, S. 778-781 auszugsweise wiedergegebene Judikatur. Schaeffer, S. 79 beruft sich im Anschluß an zwei Urteile des Bundesgerichtshofs aus den 60er Jahren auf den Wortlaut des Art. 1 A Nr. 2 der Genfer FlüchtIingskonvention; die Vorschrift nennt "Flüchtling" jede Person, die sich aus politischen Motiven "außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will". "Land" ist hier unstreitig "Staat". Wenn der Flüchtling den Schutz des Heimatstaates "nicht in Anspruch nehmen kann", so nach Sinn und Zweck der Definition deshalb, weil ihm der diplomatische Schutz, nach Rückkehr der innerstaatliche Schutz bewußt verweigert wird (s. O. Kimminich, BK, Erl.193 unter Nachweis des

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antagonistische Gruppen in einer "vorstaatlichen" Situation oder fallen sie in eine solche Lage zurück, dann ist nicht mit einer friedlichen paysage zu rechnen - ein seit Th. Hobbes geläufiger Topos der Staatslehre. Deshalb ist es unrichtig, im Falle fehlender staatlicher Schutzfähigkeit auf den "Blickwinkel und die Betroffenheit des Verfolgten" abzustellen und die Frage für "zweitrangig" zu erklären, ob die Verfolgung unmittelbar vom Staat ausgeht oder ob der Staat dem Treiben gesetzloser Gruppen innerhalb seines Staatsgebiets keinen Einhalt gebieten kann 222 • In der zweiten Alternative kann er nicht als "Substitut" und Zurechnungsobjekt angesehen werden. Ein Vertrauen des Staatsbürgers, sein Staat werde Leib, Leben, Gesundheit und Eigentum wirkungsvoll schützen223 , ist typisch und berechtigt für europäische Verhältnisse, jedenfalls noch, grundsätzlich und weithin, und auch hier nur in friedlichen Zeiten: Bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik mußte der deutsche Gesetzgeber die Folgen von "Tumult-Schäden" gesetzlich regeln, wobei er - das ist bezeichnend - für Personenschäden auf die Kriegsopferversorgung verwies 224 • Nicht in allen Ländern kann von diesem Vertrauenstatbestand ausgegangen werden, subjektiv nicht, weil der Betroffene einen Staat in dem uns vertrauten Sinne nicht oder nicht mehr kennt, objektiv nicht, weil die vorhandenen staatlichen Institutionen das staatliche Gewaltmonopol noch nicht haben durchsetzen können oder es wieder verloren haben, zumindest zeitweise. Die zweite Alternative war in der Türkei vor der Regierungsübernahme durch das Militär am 12. 9. 1980 anzutreffen. Obgleich in einem Drittel der Provinzen das Kriegsrecht verhängt war und die türkische Armee ein Viertel ihrer Angehörigen zum Polizeieinsatz abgestellt hatte, kamen bei den Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Links- und Rechtsgruppen wie bei Attentaten auf Politiker und Amtsträger zwischen November 1979 und September 1980 etwa 2300 Menschen ums Leben, zuletzt wurden in jeder Woche 200 Opfer gezähW 25 • internationalen Schrifttums zur Flüchtlingskonvention). Es würde dem Art. 1 A Nr.2 der Konvention eine ganz andere Richtung geben, wenn der durch Weigerung entstehende Tatbestand unmöglicher Inanspruchnahme staatlichen Schutzes auf die dem Staat objektiv unmögliche Schutzgewähr übertragen würde. 222 Schaeffer, S. 82. 223 Diesem "Vertrauenstatbestand" will Schaeffer a.a.O. "asylrechtlich Rechnung tragen"; das OVG Münster hat sich ihm angeschlossen (U. v. 27.1.1984 -19 A 10363/81, unveröff., S. 18 der Gründe, Leitsätze InfAuslR 1984, 164; U. v. 15. 2. 1985 - 19 A 10163/84, unveröff., S. 24 der Gründe). 224 Im einzelnen zu der teilweise heute noch geltenden Regelung W. Rüfner, Gutachten zum 49. Deutschen Juristentag (1972), S. E 9/10; die Entschädigung für Sachschäden regelte das sog. Tumult-Schäden-Gesetz v. 12. 5. 1920 (RGBl. S. 941; s. auch Art. 108 EGBGB). 225 Archiv der Gegenwart 1980, 23887-23896 (23889, 23894).

8.1 Der staatliche und der nichtstaatliche Verfolger

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Wie für einen Bürgerkrieg typisch, war der Staat "nicht in der Lage", die Angehörigen der einen Gruppe vor den politisch motivierten Terrorakten durch die andere Gruppe zu schützen. Aber diese Verfolgung "wegen politischer überzeugung" war, weil nicht der türkische Staat verfolgte oder sie tolerierte, keine "politische Verfolgung" im Sinne des Art. 16 II 2 GG228 • Gewiß haben die Maßnahmen der von den Militärs eingesetzten Junta die tödlichen Auseinandersetzungen zwischen den Gruppen beseitigen können: Absetzung der Regierung, Beseitigung des Parlaments, Aufhebung der Immunität der Abgeordneten, Kriegsrecht für das ganze Land, übernahme der Verwaltung durch das Militär, Verhaftung extremistischer Politiker, Verbot extremistischer Zeitungen. Daraus läßt sich aber nicht folgern, ein Staat, der durch Militärdiktatur und Belagerungszustand Leib, Leben, Gesundheit und Eigentum seiner Bürger schützen könne, sei potentiell eben doch imstande, "das Gesetz des Handeins" wieder zu gewinnen; solange er zu diesen Mitteln nicht greife, müßten ihm die Ausschreitungen und Minderheitenverfolgungen durch nichtstaatliche Gruppen zugerechnet werden. Diese hypothetische, aber nach den mitgeteilten Ansätzen in Rechtsprechung, und Schrifttum erwartbare Argumentation wäre nicht zu vertreten. "Staat" ist nach hiesigem und westeuropäisch-amerikanischem Verständnis grundsätzlich als zivile Ämterorganisation zu verstehen. Der verfassungswidrige übergang zur Militärdiktatur mag die Sicherheitslage des Landes allgemein ganz erheblich bessern können, oder, wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof 1981 ausführte: "Jedermann kann den Schutz der staatlichen Ordnungsorgane anrufen, und diese schreiten auch ein. Wo früher oft das Recht des faktisch Stärkeren herrschte, gelten jetzt wieder die verfassungsmäßigen Grundsätze der Gleichheit aller vor dem Gesetz 227 ." Bei der Auslegung des Art. 16 II 2 GG, also einer grundgesetzlichen Vorschrift, kann zwar nicht das Staats- und Verfassungsverständnis des Grundgesetzes abstrichlos zugrundegelegt, aber auch nicht mit Vorstellungen operiert werden, die unserem Staatsbild eklatant widersprechen. Ein rein machtstaatliches Verständnis wäre aber zur Beschreibung des verfolgenden Staates herangezogen, würde die staatliche "Substitutenstellung" für nichtstaatliche Verfolgungen angenommen, solange die ultima ratio des Militärputsches und des allgemeinen Belagerungszustandes noch nicht versucht ist. Im Zuge dieser Erwägungen wäre der Asylanspruch stets zu bejahen: Vor dem Staatsstreich wegen Verfolgung durch die andere Bürgerkriegspartei, nach dem Staatsstreich wegen Verfolgung durch das Militär, das erfahrungsgemäß weder fähig noch unbedingt willens ist, in einem geordneten Verfahren vorzugehen 228 • 228

227

HessVGH, B. v. 14.7.1980, NJW 1980, S.2662. BayVGH, B. v. 1. 9. 1981, InfAuslR 1982, S. 162.

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Gegenwärtig spielt die staatliche Schutzunfähigkeit eine Rolle in den Asylverfahren der Tamilen. Die Insel Ceylon, östlich der Spitze Südindiens gelegen und nur durch eine 30 km breite Wasserstraße vom indischen Subkontinent getrennt, hat 14 Mill. Einwohner, davon 70 v. H. hellhäutige buddhistische Singhalesen, deren Vorfahren seit dem 5. Jahrhundert aus Nordindien eingewandert sind, 22 v. H. dunkelhäutige hinduistische, aus Südindien eingewanderte Tamilen. Die tamilische Minderheit zerfällt in zwei Gruppen: Die sog. Ceylon-Tamilen (1,7 Mill.), in früheren Jahrhunderten eingewandert und vorwiegend an der Nordund Ostküste der Insel lebend, und die indischen Tamilen im zentralen Hochland (1,1 Mill.), Nachfahren der seit dem 19. Jh. unter der britischen Kolonialverwaltung für die Plantagenwirtschaft, besonders für den Teeanbau, angeworbenen Arbeiter aus Südindien, wo im heutigen Bundesstaat Tamil Nadu (Hauptstadt Madras) 50 Mill. Tamilen beheimatet sind. Die britische Kolonialverwaltung hatte die (stärker christianisierten) Ceylon-Tamilen bevorzugt. Als Ceylon 1948 unabhängig wurde, aber nicht zur vorkolonialen Trennung von Singhalesen und Tamilen in zwei Staaten zurückkehrte, war das Programm für Unzufriedenheit und Bürgerkrieg geschrieben: Die 70prozentige singhalesische Mehrheit, bis dahin in Politik und Wirtschaft unterrepräsentiert, verstand sich als Staatsvolk, von der tamilischen Minderheit durch Sprache, Hautfarbe und Religion getrennt. Die indischen Tamilen, erst in den vorangegangenen hundert Jahren zugewandert und den niedrigen Kasten zugeordnet, wurden für staatenlos erklärt. Singhalesisch wurde einzige Staatssprache, erst 1977 wurde Tamilisch als zweite und gleichberechtigte Staatssprache in den Tamilengebieten anerkannt. Die Ceylon-Tamilen konnten nur ihren wirtschaftlichen Vorrang erhalten 229 • 1958 kam es erstmals zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Volksgruppen. Die Verantwortlichen sahen den indischen Charakter der Sri Lanka-Probleme. 1964 vereinbarten Indien und Sri Lanka, daß bis 1980 525000 indische Tamilen die indische Staatsangehörigkeit erhalten und repatriiert werden sollten. 325000 wurde die Staatsangehörigkeit von Sri Lanka und das Bleiberecht zugesichert230 • !!8 Im Ergebnis so die Entscheidungen einiger erstinstanzlicher Verwaltungsgerichte, zit. von Marx, S.797 (Nr.4). - Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 17.5.1983 die "Bindungslosigkeit der staatlichen Strafgewalt", manifest durch "Eingriffe und Strafurteile von Polizei, Militär und Sondergerichten oder gar ohne rechtliche Grundlage und ohne Durchführung eines geordneten Verfahrens", als Indiz für eine "politische Verfolgung" durch den Staat angesehen (E 67, 200). 221 Bis heute kontrollieren sie etwa 50 v. H. des Groß- und Einzelhandels; in Kolombo und Umgebung stellen sie zwar nur 9 v. H. der Bevölkerung, besitzen aber ein Drittel der Betriebe und Geschäfte. Infolge ihrer besseren Ausbildung würden sie auch die Universitäten so gut wie allein beschicken; die Singhalesen schützen sich dagegen durch Aufnahmequoten, die an den absoluten Bevölkerungszahlen orientiert sind, aber dadurch keinen gleichen Zugang "nach der Leistung" gewährleisten.

8.1 Der staatliche und der nichtstaatliche Verfolger

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Auf ihre Situation reagierten die Tamilen zunächst mit Parteien, die eine Umwandlung des Einheitsstaats in ein föderatives Gebilde mit Autonomie für die tamilischen Gebiete erstrebten. 1976 entstand aus ihnen die bei den Wahlen überaus erfolgreiche "Tamil Uni ted Liberation Front" (TULF); sie fordert seither einen souveränen, säkularen und sozialistischen Staat für das tamilische Gebiet im Norden und Nordosten der Insel, ein Gebilde, das nach Ansicht von Sachkennern schwerlich existenzfähig wäre, und auch von Indien wegen des Präjudizes für die separatistischen Forderungen der eigenen Minderheiten nicht unterstützt wird. Neben der offen sezessionistischen TULF bildeten junge Tamilen terroristische Gruppen, die sich an der südamerikanischen Stadtguerilla und ihrer Methode orientieren: Banküberfälle zur Mittelbeschaffung und Ermordung von Polizisten und Soldaten. Die auf 500 bis 1000 geschätzten Terroristen agieren so erfolgreich, daß die Banken ihre Filialen in den Tamilienregionen und die Verwaltung mehrere Polizeistationen schließen mußten. Auch die mit 1100 Soldaten präsenten Streitkräfte konzentrieren sich auf wenige befestigte Stützpunkte231 • Die Regierung antwortete mit Notstands-Verordnungen, Demonstrationsverboten, Straßenkontrollen, Haussuchungen und Verhaftungen. Als am 23. 7. 1983 13 singhalesische Soldaten von tamilischen Guerilleros erschossen wurden, entluden sich Gereiztheit, Haß und Rachegefühle der Singhalesen in einem bis zum 2. August dauernden Pogrom, in dem nach offiziellen Angaben 362 Personen, nach inoffiziellen Vermutungen, die u. a. auch von der deutschen Botschaft gehegt wurden, 1500 Personen, meistens Tamilen, starben. Die Zahl der niedergebrannten Häuser schätzte die Regierung auf 18 000, die Zahl der Obdachlosen auf 100 000, den Gesamtschaden auf 300 Mill. Dollar23!. Kurz vor dem Ende des 230 Archiv der Gegenwart 1964, 11511. Das Abkommen wurde nicht fristgerecht erfüllt; bis 1980 waren erst 255 000 Tamilen nach Indien umgesiedelt worden, 160000 hatten die Staatsangehörigkeit Sri Lankas erhalten. Die Schuld an der Verzögerung und Nichterfüllung schoben sich die Vertragsparteien gegenseitig zu (Archiv der Gegenwart 1980, 23770). Das politische Verhältnis (ler beiden Staaten ist zudem belastet durch den indischen Binnenkonflikt zwischen Neu Delhi und Madras. Die Bewohner Tamil Nadus sind ethnisch "Drawiden" von tiefdunkler Hautfarbe, die Indien bereits vor der Einwanderung der hellhäutigen Arier besiedelt hatten und von diesen in den Süden abgedrängt wurden. Weil sie sich aufgrund ihrer kulturellen und politischen Traditionen und bewußt des ethnischen Gegensatzes meistens weigern, die Hauptsprache Hindi zu lernen, können sich die Beamten Neu Delhis, der tamilischen Schrift ohnehin nicht kundig, mit den Tamilen nur englisch verständigen. Die in den 60er Jahren noch virulenten separatistischen Bestrebungen ("Drawidistan") sind gegenwärtig nicht mehr aktuell. 231 Zugrunde liegt dieser Skizze der "Bericht über die Abklärungen in Sri Lanka vom 11.-20. 8. 1984" (zit. Bericht), den eine Kommission des eidgenössischen Justiz- und Polizei departements nach einer intensiven Untersuchung der Lage vor Ort am 29. 8. 1984 erstattete (unveröff.). Der Reisebericht von G. Venzki, "Die Zeit" Nr.42 v. 12.10.1984, ist instruktiv, aber von deutlicher Sympathie für die Minderheit getragen. 232 Archiv der Gegenwart 1983, 26858-26860.

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8. Die Verfolgung

Pogroms erbat der Präsident Sri Lankas Militärhilfe von den Vereinigten Staaten, Großbritannien, Bangladesch, Australien, Pakistan und Indien, nachdem der Landwirtschaftsminister des indischen Tamilenstaates eine indische Intervention auf Sri Lanka gefordert hatte 233 • Wenige Tage später, am 5.8.1983, ergänzte das Parlament einstimmig - die TULF-Abgeordneten nahmen nicht teil- die Verfassung um ein Verbot der Propaganda für jede Form des Separatismus, die Pflicht aller Amtsträger und Parlamentarier, sich eidlich gegen die Errichtung eines separaten Staates zu erklären, ermächtigte den Appellationsgerichtshof, Separatisten als Nebenstrafe das Eigentum und andere bürgerliche Rechte bis zu sieben Jahren zu entziehen (Reisepaß, Teilnahme an öffentlichen Examina, Immobilienbesitz, Ausübung genehmigungsbedürftiger Berufe und Gewerbe) sowie den Amtsverlust für Parlamentarier oder andere Amtsträger. Der hier nur skizzierte, von den Verwaltungsgerichten ausführlicher dargestellte Hintergrund des Tamilenproblems234 enthält asyl rechtlich drei Fragen: Ist der Tamilenpogrom 1983 eine "politische Verfolgung" im Sinne des Art. 16 II 2 GG? Hat der um Asyl nachsuchende Tamile solche Verfolgungen künftig ernstlich zu besorgen? Weiterhin: Sind die staatlichen Maßnahmen gegenüber den Tamilen als asylerhebliche Verfolgung anzusehen? Die erste Frage ist von den angerufenen Verwaltungsgerichten zunächst und zutreffend unter dem Gesichtspunkt erörtert worden, ob Staatsorgane Sri Lankas für den Pogrom deshalb verantwortlich seien und ihn sich als staatliche Verfolgung zurechnen lassen müßten, weil sie diesen Gewaltausbruch veranlaßt oder gebilligt hätten. Das wurde verneint, auch wenn die Gerichte Stimmen zitierten, die einzelnen Regierungsmitgliedern "Sympathie und Mitwisserschaft" für den Pogrom nachsagten!35. Beweiskräftiger erschienen den Verwaltungsgerichten die Behauptungen, die der Staatsführung vorwarfen, sie sei "nicht rechtzeitig genug" oder "nicht entschlossen genug" gegen die marodierenden Massen eingeschritten, es habe also die staatliche "Schutzbereitschaft" gefehlt. Aber auch auf solche hypothetischen Feststellungen mochten die Gerichte die Zuerkennung des Asylanspruchs allein nicht stützen. Als Rettungsanker erwies sich die Formel, daß der Staat jedenfalls 233 Archiv der Gegenwart 1983, 26859. 234 OVG Münster, U. v. 27.1. 1984 (19 A 10363/81) und VG Berlin, U. v. 19.4.

1984 (22 A 214/82). Die Gerichte zogen Auskünfte des Auswärtigen Amts, von Sachverständigen des Südasien-Instituts der Universität Heidelberg, der "Gesellschaft für bedrohte Völker" und der "Internationalen Juristenkommission" heran. Das Urteil des OVG Münster hat das BVerwG am 30.10.1984 aufgehoben und zurückverwiesen (InfAuslR 1985, S. 48 ff.). m OVG Münster, U. v. 27.1. 1984, S. 15 der Urteils gründe, und VG Berlin, S. 15 f. der Urteilsgründe, beide unter Wiedergabe der Meinungsäußerung der Deutschen Botschaft.

8.1 Der staatliche und der nichtstaatliche Verfolger

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"nicht in der Lage" gewesen sei, die singhalesischen Ausschreitungen zu verhindern, weshalb er sie sich als eigene politische Verfolgung zurechnen lassen müsse. Diese Entscheidungen zeigen deutlich, wohin es führt, wenn der Begriff des Verfolgers durch Verfassungs- und Revisionsgerichte abstrakt definiert wird, Sinn und Berechtigung eines einzelnen alternativen Elements der Definition jedoch unbegründet bleiben, obgleich keineswegs per se überzeugend. Die Gerichte verwenden die Begriffsbestimmung wie den Verfassungstext selbst. Es dient dieses auch sonst verbreitete Verfahren gewiß der Ökonomie von Entscheidung und Begründung. Die Formel "nicht willens oder nicht in der Lage" erspart durch ihre alternative Verwendbarkeit die genaue Erforschung und Beurteilung eines ohnehin schwierigen, kontroversen und regelmäßig weit entfernten Sachverhalts, den das Gericht nicht durch Ortsbesichtigung und Einvernahme aller Zeugen aufklären kann. Es genügt eigentlich schon die meistens unstreitige Feststellung eines mehrtägigen Pogroms, um aus der dadurch evidenten Handlungsunfähigkeit des Staatsapparats auf die "politische Verfolgung" schließen zu können. Der Staat muß nämlich, so meint das OVG Münster, "eine Verfolgung durch nichtstaatliche Gruppen ... um so schneller unterbinden, je intensiver und schwerer diese Verfolgung ist ... Der Mangel an staatlicher Schutzfähigkeit wird durch das offenkundige Ausmaß des Schadens, die hohe Zahl der Getöteten, Verletzten und Obdachlosen sowie den Umfang des materiellen Schadens ebenso belegt wie vor allem durch das Eingeständnis der Regierung, daß die Sicherheitskräfte in der Anfangsphase des Konfliktes nicht Herr der Situation gewesen seien (vgl. Erklärung des Außenministers vom 10.12.1983) und Präsident Jayawardene auf dem Höhepunkt der blutigen Auseinandersetzungen bei den USA, Großbritannien ... um Militärhilfe gebeten habe 238 ." Auch wenn die großen Mühen der Gerichte um Erforschung des srilankischen Sachverhalts nicht verkannt werden dürfen: hier wird Unmögliches versucht. Denn was eine Regierung bei einem Pogrom dieses Ausmaßes hätte tun sollen, um die Angehörigen der Minderheit "wirksam und schnell" zu schützen, die Unruhen "im Keim zu ersticken", das entzieht sich der Beurteilung von gutachtenden Beobachtern ohne Erfahrungen im Einsatz von Polizei kräften und Armee-Einheiten bei inneren Unruhen 237 • Es fehlt den Entscheidungen und den von ihnen zitierten 238 Urt. v. 27.1.1984, S.14, 21, 22. Das BVerwG ließ die Frage des Pogroms dahinstehen, weil der Asylbewerber, im tamilisch besiedelten Norden Sri Lankas wohnend, von den singhalesischen Ausschreitungen nicht betroffen gewesen und dort ein Pogrom auch zukünftig nicht zu erwarten sei (InfAuslR 1985, S. 51 1. Sp.). 237 "Die Regierung war offensichtlich über die Gefährlichkeit der Situation unterrichtet, handelte jedoch nicht mit der nötigen Entschlossenheit." Diese

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8. Die Verfolgung

Stellungnahmen der Beobachter bezeichnenderweise jeder Hinweis darauf, welche konkreten Maßnahmen die Regierung hätte einsetzen sollen. um die Unruhen "im Keim zu ersticken", wie das OVG Münster die staatliche Schutzpflicht interpretiert238 • Immerhin hatte die Regierung am 25.7.1983 eine allgemeine Ausgangssperre in den Unruhegebieten angeordnet und bekanntgegeben, daß Plünderer und Brandstifter mit dem Tode bestraft würden. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in Europa wie anderwärts gehen jedenfalls dahin, daß die Polizei bei den Gewaltausbrüchen großer Volksmengen machtlos ist und die Armee schon schwer bewaffnete und starke Einheiten aufbieten muß - wenn nicht Panzer und Kettenfahrzeuge -, um solche Unruhen wirksam und schnell zu beseitigen. Es gehört bekanntlich zu den schwierigsten und zugleich undankbarsten Aufgaben (Noske!), Zeitpunkt und Art des Einsatzes zu bestimmen, zu schweigen von der Beachtung der Grundsätze des mildesten Mittels und der Verhältnismäßigkeit in einer solchen Situation. Durch einen massiven Einsatz der Streitkräfte kann, wie das Beispiel des 17. Juni 1953 zeigt, die Regierung "das Gesetz des Handelns" zurückgewinnen. Aber auf diese ultima ratio nicht oder zu spät vertraut zu haben, ist weder vorwerfbar noch kann in der Bundesrepublik solches Zögern der Regierung eines fremden Landes als Verletzung eines Vertrauenstatbestandes und einer aus ihm erwachsenden Handlungspflicht vorgeworfen werden: nach Art. 87 a IV GG müßte in einer solchen Situation die Bundeswehr jedenfalls in den Kasernen bleiben. Pogrome und blutige Auseinandersetzungen verfeindeter politischer oder religiöser Gruppen sind auch deshalb nicht als asylerhebliche Verfolgung anzusehen, weil ihnen das Merkmal der Unwiderstehlichkeit staatlicher Verfolgung fehlt. Gegenüber jenen Verfolgungen ist Selbsthilfe und Notwehr erlaubt, äußerstenfalls bis zur Tötung des Angreifers. Verfolgen Staatsorgane, wird jede Abwehrhandlung als Widerstand gegen die Staatsgewalt behandelt, mit physischer Gewaltanwendung Feststellung von Frau Dr. HeHmann-Rajanayagam vom Südasien-Institut der Universität Heidelberg führt das OVG Münster kommentarlos an, obgleich es wohl nahegelegen hätte, die Gutachterin zu fragen, was sie unter einem staatlichen Handeln "mit der nötigen Entschlossenheit" versteht und welche Kenntnisse und Erfahrungen sie über den Einsatz von Polizeieinheiten bei inneren Unruhen besitzt. Das BVerwG beurteilte die Situation realistischer, indem es dem Staat "stets eine gewisse Zeitspanne" zubilligt, "um übergriffen begegnen zu können. Es kann nicht angehen, Ausschreitungen wie Mord, Körperverletzung, Brandstiftung oder Plünderung dem Staat stets nur deshalb zuzurechnen, weil sie ein besonderes Ausmaß erreichten und der Staat nicht imstande war, sie sofort zu unterbinden. Eine derartige Betrachtungsweise läßt unberücksichtigt, daß übergriffe Dritter spontan auftreten und den Staat überraschen können, so daß dessen Gegenmaßnahmen nur mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung zur Wirkung gelangen können" (InfAuslR 1985, S. 50 r. Sp.). 238 Gründe, S. 16.

8.2 Die Verfolgungsprognose

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gebrochen und zusätzlich bestraft. Es ist diese tatsächlich und rechtlich ausweglose Situation des Verfolgten, die den Asylanspruch entstehen läßt. Gegeben ist diese ausweglose Lage jedoch nur bei einer Verfolgung durch staatliche Organe oder eine "private" Verfolgung, die von den Staatsorganen unterstützt oder gedeckt wird. 8.2 Die Verfolgungsprognose

Ein Pogrom, den der Staat nach Ansicht von Beobachtern nicht rechtzeitig unterdrückt, kann auch aus einem anderen Grunde nicht als asylerhebliche Verfolgung angesehen werden. Asyl erhält, wer in seinem Heimatstaat mit Verfolgung ernsthaft rechnen muß. Diese "begründete Furcht" vor verfolgenden Maßnahmen fordert eine Zukunftsprognose. Hat der Heimatstaat den Asylbewerber bereits verfolgt und sich die Verfolgungssituation nicht geändert, so muß der Flüchtling auch künftig mit Verfolgung rechnen, "es sei denn, er kann vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher sein"238. Diese Maximen sind richtig, wenn es um staatliche Verfolgungsmaßnahmen geht. Denn: Gehört die "politische Verfolgung" zum staatlichen Handlungsprogramm, ist auch mit einer gewissen Regelhaftigkeit der Verfolgung zu rechnen. Sie ergibt sich aus dem Gehorsam der Staatsapparatur gegenüber den Befehlen der Regierung, aus der Existenz der nach Programm und Weisung handelnden überwachungs- und Strafverfolgungsorgane, aus der Führung von Akten und Kontrollisten usw. Alle diese Elemente gestatten nach den bisherigen Erfahrungen eine Vorhersage der dem Flüchtling in seinem Heimatstaat in absehbarer Zeit wahrscheinlich drohenden Maßnahmen. Diese Rahmenbedingungen staatlicher Verfolgung fehlen den hier erörterten Ausschreitungen. Pogrome lassen sich daher nicht prognostizieren. Sie werden veranlaßt durch Ereignisse, die unvorhersehbar sind - dieselben Anlässe bleiben trotz gleicher Spannungslage ein nächstes Mal ohne Folgen: Die Ermordung von 60 Bauern durch zwei überfälle tamilischer Terroristen am 30. 11. 1984 und andere Terrorakte, die weitere 80 Menschen das Leben gekostet haben sollen, führten zu keinen Ausschreitungen24o • Journalistische Einschätzungen der Lage - "jederzeit wieder möglich" - sind viel zu unbestimmt und viel zu oft widerlegt worden, als daß sie zur juristischen Sachverhaltsfeststellung herangezogen werden dürften241 • Mindestens ebensoviel 23D BVerfGE 54, 360; O. Kimminich, BK, Er!. 206 ff. unter Darstellung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. uo s. den Bericht von P. Dienemann, "Die Welt" v 3. 12. 1984. 241 Das OVG Münster (S. 21 der Gründe) berief sich auf Auskünfte der "Deutschen Welle" v. 14.10.1983 und Presseberichte aus der zweiten Hälfte des Jahres 1983. In seinem Tamilen-Urteil v. 15.2.1985 nahm der Senat nur

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8. Die Verfolgung

Wahrscheinlichkeit dürfte die Vermutung beanspruchen, die große Zahl der Toten, das Ausmaß der Zerstörungen und die Begleitung durch gewöhnliche Kriminalität habe die erhitzten Gemüter der singhalesischen Mehrheit abgekühlt und ernüchtert, so daß mit einer Wiederholung pogromartiger Ausschreitungen in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden müsse 242 • Zwölf Monate nach den ersten Unruhen, im August 1984, korrigiert der fachkundig und vor Ort ermittelte Schweizer Bericht eine Reihe von allgemein kolportierten Behauptungen (S. 9 ff.) und kommt (S.13) zu drei in diesem Zusammenhang besonders wichtigen Feststellungen: (1) "Von einer gezielten, generellen Benachteiligung der Tamilen kann nicht gesprochen werden." (2) "Die Mehrheit der Tamilen, die aus den mehrheitlich singhalesischen Gebieten geflohen waren, sind zurückgekehrt und fühlen sich einigermaßen sicher." (3) "Mit Sicherheit darf gesagt werden, daß die Justiz bis heute ihre volle Unabhängigkeit behalten hat und daß keiner unserer Gesprächspartner uns Hinweise darauf lieferte, daß von seiten der Verwaltung und Regierung Druckversuche unternommen würden." Die Problematik, vergangene und künftig vielleicht eintretende Pogrome als "politische Verfolgung" zu verstehen, ergibt auch eine andere überlegung. Die srilankische Konfliktlage ist in Asien und Afrika sehr häufig anzutreffen; sie ist bekanntlich das Resultat der übernahme der Kolonialgrenzen, die ethnische Zusammensetzungen unberücksichtigt ließen, oder eher zufälliger Grenzbestimmungen bei Gewinnung der Unabhängigkeit. Wie bei der staatlichen Verfolgung die Anerkennung des Asylanspruchs nicht davon abhängt, daß der Asylbewerber schon einmal verhaftet und verurteilt worden ist, so könnte einem Asylbewerber der Schutz des Art. 16 II 2 GG nicht versagt werden, weil über seine Minderheit noch nicht der blutig-feurige Sturm eines Pogroms hinweggegangen ist. Das Bundesamt müßte also prüfen, ob sich in dem Heimatstaat des Antragstellers die politischen Fronten von Mehrheit und Minderheit feindselig gegenüberstehen, Mordanschläge von Minderheits-Terroristen auf den politischen Führer der Mehrheit oder erfolgreiche überfälle von Guerilleros auf Kasernen und Polizeiwachen nicht ausgeschlossen sind. Kein Zweifel, daß entsprechende Gutachten zu entsprechenden Pogrom-Prognosen gelangen würden. Die Bundesrepublik noch auf den früher festgestellten Sachverhalt Bezug und erklärte die Annahme für gerechtfertigt, in der überwiegend von Singhalesen bewohnten Region könne "sich die damalige Verfolgungssituation in absehbarer Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wiederholen" (S.8 der Gründe). 242 Nach dem "Schweizer Bericht" (FN 231) haben sich bei dem Pogrom 1983 "viele Leute als Plünderer ohne eigene Motivation" beteiligt, "wurden doch auch singhalesische Häuser und Geschäfte zerstört, ganze Straßenzüge mit tamilischen Läden jedoch verschont" (S. 19/20).

8.3 Verfolgung von Staatsschutzdelikten als "politische Verfolgung"

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käme dann für sehr viele Minderheiten als Zufluchtstaat in Betracht, zugleich für die jeweilige Mehrheit eine passable Gelegenheit, durch verschärfte Benachteiligung die ungeliebte Minderheit zur Auswanderung zu nötigen. Diese Minderheiten sind zahlreicher und insgesamt größer als die Völker Mittel- und Westeuropas; eine Zuflucht können sie hier nicht finden. Auch würde das Minderheitenproblem nur von dem einen in den anderen Kontinent verlagert werden 243 • Art. 16 II 2 GG ist, um es zu wiederholen, keine Rechtsgrundlage für Völkerwanderungen. Im Falle Sri Lankas zeigt sich auch, wie das Asylrecht zum Einwanderungsrecht umgewandelt und damit zweckentfremdet wird. Wenn Tamilen nicht in den eine Fahrtstunde entfernten Tamilenstaat Tamil Nadu in Südindien fliehen, sondern für viel Geld viele Tausend Kilometer reisen, um in Bern oder Ansbach Asyl zu beantragen, dann überwiegen asylfremde Motive die angebliche Verfolgungsfurcht. Es wäre schlicht lebensfremd, diesen sich aufdrängenden Schluß außer acht zu lassen244 • 8.3 Die Verfolgung von Staatsschutzdelikten als "politische Verfolgung" Das mit diesen Stichworten angegebene Problem ist schon bei der Erörterung der Entstehungsgeschichte und des Rechtsprechungswandels angesprochen worden. In dem konkreten Zusammehhang und am aktuellen Beispiel Sri Lanka ist es noch einmal aufzugreifen. Die Verfolgung von Staatsschutzdelikten wurde im Parlamentarischen Rat und in den ersten Jahren der Bundesrepublik als "politische Verfolgung" angesehen. Dieses Verständnis gaben Rechtsprechung und Schrifttum in den 70er Jahren auf; nur die aus der Flüchtlingskonvention übernommenen Motive der Verfolgung bestimmen seither den politischen Charakter der Verfolgung. Mit dieser Neuinterpretation reagierte die deutsche Jurisprudenz auf die internationale Neuordnung des Auslieferungsrechts, die ihrerseits auf den internationalen Terrorismus geantwortet hatte. Die grundsätzliche Ausklammerung der polizeilichen 243 Nach dem "Schweizer Bericht" (FN 231), S.l, haben 1981 vier, 1982 109, 1983 845, 1984 bis Ende Juli 665 Tamilen in der Schweiz um Asyl nachgesucht;

rund drei Viertel der Bewerber reichten ihr Gesuch in der Stadt Bern ein, "was im Verlaufe der Zeit zu einer zunehmend kritischen Einstellung diesen Ausländern gegenüber führte". - Eindrucksvoller sind die Angaben für die Bundesrepublik: die Zahl der tamilischen Asylbewerber stieg von 2645 (Mitte 1983) auf 8063 Ende 1984; bis März 1985 gingen weitere 4269 Anträge ein, also über 50 v. H. mehr als im ganzen Jahr 1984 (BT-Drucks. 10/3346 v. 14.5.1985,

S.9).

244 Nach dem Bericht von P. Dienemann, "Die Welt" v. 29.12.1984, sollen 40 000 Tamilen nach Indien geflohen sein.

110

8. Die Verfolgung

und strafrechtlichen Verfolgung der Staatsschutzdelikte aus dem Anwendungsbereich des Asylgrundrechts hat nicht die Auslieferung solcher Täter zur Folge. Ausgeliefert wird nur der Terrorist (Luftpirat, Geiselnehmer, Attentäter), und das auch dann nicht, wenn er nicht (nur) wegen seiner Taten, sondern aus den bekannten "politischen" Gründen verfolgt wird oder deswegen "seine Lage erschwert werden könnte". Der nicht ausgelieferte Täter erhält jedoch kein Asyl im Rechtssinne, also auch kein Aufenthaltsrecht nach der Flüchtlingskonvention. Diese Rechtslage ist bereits dargestellt worden (S. 59 ff.). Die Berechtigung dieser Neuinterpretation ist jüngst wieder verneint wordenus . Soweit die fehlende oder unvollständige Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des Art. 16 II 2 GG nachgewiesen wird, ist diese Kritik berechtigt; das wurde vorn bereits ausführlich erörtert (S. 28 ff.). Aber damit ist die herrschende Auffassung nicht widerlegt, denn die Entstehungsgeschichte ist nach der für die Rechtspraxis und Rechtslehre repräsentativen Formulierung des Bundesverfassungsgerichts nur dazu da, die nach der "objektiven" Methode ermittelte Auslegung zu bestätigen oder Zweifel zu beheben, die Wortlaut und Sinnzusammenhang allein nicht ausräumen können!48. Auch bei Kenntnis der Anschauungen und Vorstellungen derer, die Art. 16 II 2 GG geschaffen haben, ist die neue Auslegung zu billigen. Denn sie folgt der systematischen Trennung von Auslieferungs- und Asylrecht, die, weil nur ein Bruchteil der Asylberechtigten "politischer" Straftäter ist, gerade zugunsten der Asylbewerber gefordert worden ist!47. Sie folgt der internationalen Definition des politischen Flüchtlings und der Entwicklung des internationalen Auslieferungsrechts, sie folgt aber auch der totalen Änderung des politischen und sozialen Umfeldes des Asylgrundrechts seit 1948/492(8. Das Umfeld hat sich mehrfach geändert. Dazu gehört: die Bundesrepublik ist durch ihre wirtschaftliche und soziale Spitzenstellung zum Einwanderungsmagneten geworden und durch die Entwicklung des Flugverkehrs in wenigen Stunden erreichbar und zugänglich. Dazu gehört vor allem: die Zahl der Staaten hat sich durch die Dekolonisierung verdreifacht, die inneren Konfliktslagen haben sich aber verzehnfacht, weil im Zuge der Unabhängigkeitsgewinnung viele Staaten ohne nationale und sozi'ale Homogenität entstanden. Auch in den alten Staaten vermehrten sich - und darauf kommt es hier an - seit dem Ende der 60er Jahre die Staatsschutzdelikte: Autonomie und Sezession sollten 245

246 247

von H. Kreuzberg (FN 125). E 1, 312 und vorn S. 63 f. s. O. Kimminich, BK, Er!. 93, 189, 329 ff.

Diese letzte Feststellung bezweifelt H. Kreuzberg (FN 125), S.69 ohne nähere Begründung; er sieht nur eine quantitative Änderung der Bewerberzahlen. 248

8.3 Verfolgung von Staatsschutzdelikten als "politische Verfolgung"

111

gegen die Zentrale, eine "neue Gesellschaft" gegen die alte mit Hilfe von Agitation, Aufruhr und Terror durchgesetzt werden - alles viel zu bekannt, um es detailliert lausführen zu müssen. Auf der anderen Seite gestatteten Wortlaut und Sinnzusammenhang von den Vorstellungen jener Abgeordneten des Parlamentarischen Rates abzuweichen, die bei der Formulierung des Art. 16 11 2 GG mitwirkten. Für den politischen Chavakter der Verfolgung verwiesen die europäischen Erfahrungen seit 1917 und 1933 auf die Motive der Verfolgung und die in der Flüchtlingskonvention aufgezählten Tatbestände. Gegen diese Auslegung des Asylgrundrechts ist vorgebracht worden, die strafrechtliche Verfolgung von Staatsschutzdelikten treffe stets auch die politische Gesinnung des Täters, der durch sie motiviert den Bestand des von ihm angegriffenen Staates in Frage steIlem. In der Tat erwla:chsen Staatsschutzdelikte regelmäßig aus "politischen" Motiven. Ebenso könnte die Strafverfolgung wegen dieser Delikte "politisch" genannt werden, weil sie die Verfassung als die politische Grundordnung des Staates schützen soll. In diesem Sinne "politisch" wäre auch eine Strafe wegen Verletzung der Feiertagsruhe an einem nationalen Gedenktag nach dem Muster des 17. Juni; die Durchsetzung des "T1ages der Deutschen Einheit" dient einem spezifisch politischen Interesse, nicht dem Interesse von Gewerkschaften oder Reiseveranstaltern. Es ist ja auch schon versucht worden, alle illegitimen Akte der Strafverfolgung als "politisch" zu verstehen (s. vorn S. 72 ff.). Das Adjektiv "politisch" ist außerordentlich dehnbar, da es Eigensch1aften wie Zwecke umschreibt, die sich auf einen potentiell schlechterdings umfassenden Gegenstand beziehen, der sich selbst noch in mehrfacher Gestalt darstellt (Polis, Politik). Eine den Zusammenhang und die Folgen mißachtende Auslegung des Begriffs der "politischen Verfolgung" würde das Asylrecht unvertretbar ausweiten. Das Bundesverwaltungsgericht hat deshalb zu Recht die politikwissenschaftlichen Begriffsbildungen als für Art. 16 II 2 GG untauglich abgewiesent5°. In Rechtssätzen sind Begriffe immer Rechtsbegriffe und müssen als solche von den dafür zuständigen Juristen interpretiert werden. Maßgebend ist der normative Zusammenhang und der Zweck der Vorschrift, die den Begriff verwendet. Ein so weiter Begriff wie der des "Politischen" muß lautonom definiert werden, und zwar nicht nur für das Grundgesetz, sondern für Artikel 16 II 2 GG; es könnte das Wort "politisch" in einem anderen Zusammenhang anderes bedeuten, z. B. in Art. 21 GG 251 • 249 B. Huber, Kritische Justiz, 1983, S. 168; ders. (FN 159), S. 165 f. m. weit. Nachw.. die, wenn das beabsichtigt sein sollte, das Meinungsbild in Rechtsprechung und Schrifttum allerdings nicht exakt wiedergeben. 250

E 67, 187/88.

8. Die Verfolgung

112

Andererseits können nicht nur sog. Weltanschauungsstaaten Vorschriften erfinden, die eine Strafverfolgung "wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung" gestatten. Dazu rechnet eben nicht nur der inzwischen prototypische Fall der Bestrafung wegen sog. Blutschande nach dem einschlägigen deutschen Gesetz von 1935, sondern auch Strafen wegen öffentlichen Gebrauchs der deutschen Sprache in Frankreich (nach 1944) und in Polen. Das Bundesverwaltungsgericht hat deshalb zu Recht festgestellt, die Anwendung von Normen des Strafrechts schließe nicht notwendig die Annahme einer politischen Verfolgung aus wie umgekehrt die Anwendung von Staatsschutzdelikten nicht notwendig als politische Verfolgung anzusehen sei; maßgebend allein seien die Gründe, ,aus denen der Verfolgerstaat die drohende Verfolgung betreibe!52. In einer zweiten Entscheidung hat das Gericht Kriterien genannt, aus denen sich der politische Charakter einer Strafverfolgung wegen eines Staatsschutzdelikts ergeben kann253 • Maßgebend sind danach "die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Heimatstaat des Asylbewerbers, insbesondere die Eigenart des Staates, sein möglicherweise totalitärer Charakter, die Radikalität seiner Ziele und die zu ihrer Verwirklichung eingesetzten Mittel, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung des einzelnen und die Behandlung von Minderheiten ... Dabei kommt es stets davauf an, ob der Staat seine Bürger in den genannten Merkmalen zu disziplinieren, sie ihretwegen niederzuhalten oder im schlimmsten Falle zu vernichten sucht oder ob er lediglich seine Herrschaftsstruktur aufrechtzuerhalten trachtet und dabei die überzeugung seiner Staatsbürger unbehelligt läßt". Als weitere Kriterien hat das Gericht aufgezählt: grobe Verletzungen des Prinzips der tatbestandlichen Bestimmtheit von Strafnormen, evidente Unangemessenheit von Straftatbestand und Schuldangemessenheit von Strafen, Entscheidung nicht durch unabhängige, dem Gesetz unterworfene Gerichte254 • Diese Kriterien sind anhand der Methoden der politischen Verfolgung in den kommunistischen Staaten entwickelt worden z55 • Es wird der "totalitäre" Charakter des Verfolgerstaates als allgemeines 251 Die im Asylrechtschrifttum anzutreffenden Bemühungen, mit den bekannten Wendungen von Max Weber und earl Schmitt das Asylgrundrecht auszulegen (vgl. BaumüHer, in: Baumüller u. a. [FN 158], Vorbem. zu § 1, Erl. 79), sind methodisch unzulässig. 252 BVerwGE 67,189 unter Hinweis auf BVerwGE 55, 82. 253 BVerwGE 67, 195 (197-203), betr. Verfolgung eines Kurden in der Türkei unter Hinweis auf seine frühere Rechtsprechung. 25'

E 67, 199/200.

Das Gericht verweist auf BVerwGE 39, 28 und 62, 123; BVerfG, B. v. 23.2.1983, InfAuslR 1983, S. 157. 255

8.3 Verfolgung von Staatsschutzdelikten als "politische Verfolgung"

113

Kriterium erwähnt, während ein "autoritäres" System und die von ihm ausgehenden allgemeinen Lasten und Beschränkungen den Asylanspruch nicht begründen können 256 • Die strafrechtliche Verfolgung von Separatismus ist dann keine politische Verfolgung, wenn ein Mehrvölkerstaat staatliche Einheit und Gebietsbestand bewahren soll; "anderes kann jedoch dann gelten, wenn ein Mehrvölkerstaat nach seiner Verfassung oder in der Staatswirklichkeit von der Vorherrschaft einer Volksgruppe über andere ausgeht oder gar die ethnische, kulturelle oder religiöse Eigenart bestimmter Volksgruppen überhaupt leugnet und sie an einer ihrer Eigenart entsprechenden Existenzweise hindert"u7. In diesem Fall können Terroristen oder Mitglieder einer "gewaltbejahenden Gruppierung" als Asylberechtigte nur in Betracht kommen, wenn Art und Ausmaß der drohenden Strafe erheblich (!) verschärft werden (a) wegen Zugehörigkeit zur diskriminierten Volksgruppe oder (b) wegen ihrer politischen überzeugung258 • Als Indiz gegen die politische Verfolgung in diesem Fall spricht nach Ansicht des Gerichts, wenn "politisch engagierte Bürger regelmäßig unbehelligt bleiben, soweit sie ihre politische überzeugung äußern, und erst dann mit Repressalien rechnen müssen, wenn darüber hinausgehend begründeter Verdacht auf staatsgefährdende Betätigung besteht"258. Diese mit vielen Alternativen, Kriterien und Vermutungen arbeitende Beschreibung ist als solche in sich schlüssig und überzeugend; sie sucht auf der Ebene der abstrakten Beschreibung dem Kaleidoskop der politischen Wirklichkeiten gerecht zu werden. Man geht wohl auch nicht fehl in der Annahme, daß dem Senat die Strafverfolgung politisch Verdächtiger in den kommunistischen Staaten vor Augen stand 210 oder die Behandlung von Esten, Letten und Litauern durch die UdSSR von 1940 bis heute. Die Anwendung jener Leitsätze in der Praxis ist schwierig, weil die Tatsacheninstanzen versucht sein können, die allgemeine Beschreibung, die mehr hinweist und erläutert als aufzählt und definiert, wie einen Gesetzestext mit mehreren Alternativen zu verstehen, deren eine dann den Gegenstand der Subsumtion bildet. Nicht frei von dieser irrigen Vorgehensweise ist das Urteil des OVG Münster vom 27.1.1984, das die Separatismus-Formeln des Bundesverwaltungsgerichts auf den Fall Sri Lanka anwendet und aus der vorn (S. 104) bereits erwähnten Verfassungsergänzung vom 5. August 1983 folgende Schlüsse 258 257 258

E 67, 200.

E 67, 201. E 67, 20l.

Ebd., S. 202. Beispielhaft A. Sotschenizyn, Der Archipel GULAG, Bd. 1, 1973, S. 289 ff.; WoUgang SchuHer, Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968, 1980, S. 35 ff. 258 280

8 Quaritsch

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8. Die Verfolgung

zieht: sie laufe auf ein Verbot der TULF hinaus, auf einen weitgehenden Ausschluß der Tamilen von der politischen Willens bildung und den Verlust elementarer staatsbürgerlicher Rechte "wie den Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts, den Verlust der allgemeinen Handlungs-, Meinungs- und Koalitionsfreiheit, den Verlust der uneingeschränkten Freizügigkeit, den Verlust der Möglichkeit, Ausbildungsziele durch die Teilnahme an öffentlichen Prüfungen zu erreichen, den Verlust des Rechts auf freie Berufswahl und Berufsausübung sowie den Verlust des Rechts, öffentliche Ämter und Funktionen zu bekleiden. Die sechste Verfassungsergänzung bedeutet schließlich für jeden separatistisch eingestellten Tamilen die Enteignung seiner Immobilien und Mobilien bis an die Grenze des Existenzminimums 261 ." Das ist nun in der Tat ein Schreckensgemälde der Unterdrückung, durchaus geeignet, den Schluß auf die vom Bundesverwaltungsgericht vorgegebene Zielsetzung von Eins,chüchterung, Disziplinierung und Niederhaltung separatistischer Bestrebungen der Minderheit zu ziehen, aus dem sich eine politische Verfolgung ergibt. Die Verfassungsergänzung ermächtigt jedoch nicht die Exekutive zu allgemeinen Verbots- und Konfiskations-Verordnungen, sondern den Appellationsgerichtshof, ein Gericht also, das sich, wie die anderen Gerichte Sri Lankas auch, seine Unabhängigkeit bewahren konnte. Die aufgezählten Rechtsverluste müssen daher jeder für sich und im Einzelfall verhängt werden. Es ist daher einfach irreführend, wenn das Gericht in der Verfassungsergänzung selbst "für jeden separatistisch eingestellten Tamilen die Enteignung seiner Immobilien und Mobilien bis an die Grenze des Existenzminimums" sieht und auch sonst die Rechtsverluste schon durch die Verfassungsergänzung selbst als eingetreten schildert. So wenig das OVG Münster die gerichtliche Zuständigkeit und die Höchstdauer von sieben Jahren für den Rechtsverlust erwähnt hat, so wenig bezieht es die einschlägigen Rechtsnormen, die in der Bundesrepublik gelten, in den Kreis seiner überlegungen ein. Parteiverbote und Mandatsverluste der Parlamentarier sind hierzulande 1952 und 1956 vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen worden. Art. 18 GG ermächtigt das Bundesverfassungsgericht, eine Reihe "elementarer staatsbürgerlicher" und anderer ebenso wichtiger Grundrechte für verwirkt zu erklären, und zwar zeitlich unbegrenzt. Auch die Staatsschutzbestimmungen der §§ 81 ff. StGB sollen Verfassungs- und Staatsfeinde doch wohl nicht ermutigen; hier können sogar "Grußformen" ins Gefängnis bringen (§ 86 a II i. V. m. § 86 I Nr.4 StGB). Gewiß richten sich die 281 S. 31/32 der Gründe. Das BVerwG hat sich in seinem aufhebenden Urteil mit der Stellungnahme begnügt, weder ein Parteiverbot noch der Ausschluß von der politischen Willensbildung begründe für sich genommen eine politische Verfolgung der Betroffenen (U. v. 30.10.1984, InfAuslR 1985, S. 51 r. Sp. unter Hinweis auf BVerwGE 67, 200).

8.3 Verfolgung von Staatsschutzdelikten als "politische Verfolgung" 115

meisten dieser Regeln gegen Feinde der "freiheitlichen demokratischen Grundordnung" . Strafbestimmungen gegen Sezessionen sind zwar vorhanden, aber mangels einschlägiger Bestrebungen ohne praktische Bedeutung. In vielen Ländern der Dritten Welt sind Gebiet und Bestand des Staates durch Sezession oder Auflösung wegen der noch jungen staatlichen Einheit und dem Vorhandensein starker Minderheiten gefä:hrdet2S!. Die Sezessionsfrage spielt daher regelmäßig eine größere Rolle als das Bedürfnis nach Verteidigung einer freiheitlichen Verfassungsordnung, die wohl in Sri Lanka, aber in den meisten Entwicklungsländern ohnehin nicht einmal strukturell mehr vorhanden ist!83. Entsprechend heftig sind daher die Reaktionen auf sezessionistische Parteien und ihre Propaganda. Sie für verfassungswidrig zu erklären und ihre Abgeordneten aus dem Parlament zu verbannen, ist auch nach mittel- und westeuropäisch-amerikanischem Verfassungsverständnis nicht illegitim - den ersten neuzeitlichen "Krieg der verbrannten Erde" führten die Nordstaaten gegen die Südstaaten im Sezessionskrieg 1861-1865. Entscheidend aber ist, daß ein totalitäres System "die ethnische, kulturelle oder religiöse Eigenart bestimmter Volksgruppen überhaupt leugnet und sie an einer ihrer Eigenart entsprechenden Existenzweise hindert"28'. In diesem Fall ist die Minderheit als solche Gegenstand der Verfolgung. In Sri Lanka ist den Tamilen nicht die Äußerung ethnischer, kultureller oder religiöser Eigenart verboten, sie "scheuen sich auch nicht, öffentlich ihre Sprache zu sprechen und sich, soweit das noch üblich ist, in tamilischer Tradition zu kleiden"Zl6. Es ist ihnen das ist ein wesentlicher, wenn nicht der entscheidende Gesichtspunktebenfalls erlaubt, sich durch eine eigene Partei politisch vertreten zu lassen. Verboten ist ihnen allerdings die Organisation einer sezessionistischen Partei und die Propaganda für einen selbständigen Tamilenstaat. Ein solches Verbot aber liegt noch in dem Rahmen der zulässigen staatlichen Selbstverteidigung und kann nicht als illegitim gelten. 282 Ein hervorragender Kenner der ethnischen Szene, Anthony D. Smith, hat als Staaten mit unruhigen, rebellierenden oder sezessionistischen Minderheiten genannt im Nahen Osten: Irak, Iran, Libanon, Türkei, Saudi-Arabien, Oman; in Asien: Sri Lanka, Malaysia, Indonesien, Philippinen, Indien und Pakistan; in Afrika: Nigeria, Eritrea, Äthiopien, Kongo, Sudan, Angola, Ghana, Togo, Uganda, Sansibar und Südafrika: "most other African states, from Rwanda and Burundi to Senegal and Chad, have been threatened by ethnic conflict or ethnic rivalry" (The Ethnic Revival in the Modern World, Cambridge C.U.P. 1981, S. 11). 283 Von den 37 schwarzafrikanischen Staaten zählt Hans F. Illy sechs Staaten zu den "Demokratien nach westlichem Muster" (mit jeweils einer stabilen Mehrheitspartei), von den 16 Staaten des "nichttotalitären Asiens" können nach R. Sielaff jenes Prädikat wohl nur drei Staaten beanspruchen (Malaysia, Singapur, Sri Lanka), vgl. Illy/Sielaff/Werz, Diktatur - Staatsmodell für die Dritte Welt? 1980, S. 51, 68/69. 284 BVerwGE 67, 201265 Schweizer Bericht (FN 231), S. 10. 8·

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8. Die Verfolgung

Ebenso löst der bloße Besitz staatsfeindlicher überzeugungen keine staatliche Strafsanktion aus, wie es für totalitäre Systeme typisch ist; nach dem "Schweizer Bericht" (S. 4) ist sogar die Parteiführung der verbotenen Sezessionspartei TULF "nach wie vor auf der Insel tätig und kann ihrer parteipolitischen Aktivität offenbar weitgehend ungehindert nachgehen". Unter diesen Umständen kann von einer "politischen", also illegitimen Verfolgung aktiver Sezessionisten nicht die Rede sein, wenn die Normen der Verfassungsergänzung vom 5.8.1983 auf sie angewendet werden. Rechtssätze und offenbar auch Rechtswirklichkeit sind vielmehr exemplarisch für die vom Bundesverwaltungsgericht vorgegebenen Differenzierungen zwischen einer noch legitimen Verteidigung des Staates in seiner gegebenen Form und der illegitimen Benachteiligung einer ethnischen Minderheit als solcher, die auf Unterdrückung und letztlich Vernichtung hinausläuft. Die neuere Entwicklung in Sri Lanka erschüttert diese Feststellung nicht. Das OVG Münster meint allerdings, junge Tamilen hätten im Norden des Landes politische Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG zu befürchten, denn sie würden generell des Terrorismus verdächtigt und seien Objekt weit über Anlaß und Notwendigkeit hinausgehender Sanktionen des singhalesischen Militärg216. Die bürgerkriegsnahen Auseinandersetzungen zwischen tamilischen Terroristen und singhalesischen Armee-Einheiten und die für solche Lagen typische Aufeinanderfolge von Terror und Gegenterror soll deshalb "politische Verfolgung" junger Tamilen sein, weil Razzien und Verhaftungen die davon betroffenen Tamilen ethnisch und als vermutliche Träger politischer, nämlich separatistischer überzeugungen träfen, das Motiv der Verfolgung wenigstens auch als politisch zu qualifizieren sei. Die Zielgruppe der militärischen Maßnahmen - "junge männliche Tamilen zwischen 16 und 35 Jahren" - wird nicht als Teil einer ethnischen Einheit verfolgt, sondern weil sie des separatistischen Terrorismus verdächtigt wird. Der Gegenterror der Armee zielt zwar nur auf Tamilen, aber die Zugehörigkeit zur tamilischen Volksgruppe ist nicht das Verfolgungsmotiv. 286 Unveröff. U. v. 15. 2. 1985, 19 A 10163/84. Der Senat beruft sich auf seine "tatsächlichen Feststellungen", sie bestehen fast ausschließlich aus Berichten von Zeitungskorrespondenten, deren Korrektheit genausowenig überprüft wird wie der "Augenzeugen-Bericht zweier Mitarbeiter eines ,SüdasienBüros' Wuppertal/Bremen vom 6. September 1984", in dem diese Augenzeugen auch nur berichten, was ihnen angeblich erzählt worden ist (S. 13 ff. der Gründe). Zu Vorbehalten gegenüber der Berichterstattung über Sri Lanka besteht nach dem "Schweizer Bericht", der dem OVG vorlag, einiger Anlaß: "Nach Berichten der internationalen Presse wurde in Valvettiturai von der Marine die ganze Straßenfront in Brand geschossen. Diese Darstellung trifft nicht zu. Wir konnten am Strand nur gerade ein Haus ausmachen, das Einschüsse einer direkt schießenden Waffe aufwies" (S. 17 mit einem weiteren Beispiel, in dem die Angaben des lokalen Citizens Committee als "zweifellos zu hoch" bezeichnet werden).

8.3 Verfolgung von Staatsschutzdelikten als "politische Verfolgung" 117 Das ergibt sich aus der durch Geschlecht und Alter fixierten Zielgruppe - ältere oder weibliche Tamilen werden nicht verfolgt -, aber auch aus der Überlegung, daß die Bekämpfung separatistischer Bestrebungen, die von einem ethnisch gen au umrissenen Bevölkerungsteil ausgehen (Tamilen, Basken, Iren), notwendig und stets die Angehörigen dieser Ethnie betrifft. Da der Separatismus der Gegenwart regelmäßig aus ethnis·chen Gegensätzen entsteht, wäre seine Bekämpfung stets politische Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention und des Art. 16 II 2 GG. Bei dieser Identitätssituation ist für eine sachgerechte Unterscheidung zwischen einer Verfolgung der Gruppe als solcher und der Verfolgung von Gruppenangehörigen als mutmaßliche Terroristen auf das Motiv und das Ziel der Vergeltungsmaßnahmen abzustellen. Soll die ethnische Minderheit als solche unterdrückt und ausgelöscht werden, wären die individuell Betroffenen in der Tat politisch verfolgt im Sinne des Asylrechts. Die militärischen Gegenschläge und sie begleitende Vergeltungsexzesse sind aber regelmäßig gegen jene Gruppe in der Gruppe gerichtet, aus der sich die Terroristen rekrutieren: männliche Tamilen zwischen 16 und 35 Jahren. Alter und Geschlecht sind so verwendet - jedoch keine Gruppenmerkmale im Sinne der Flüchtlingskonvention und des Asylgrundrechts; die ethnische Zugehörigkeit ist in diesem Zusammenhang ein aus dem konkreten Separatismus folgendes Merkmal, das aus den dargelegten Gründen hier unberücksichtigt bleiben muß. Der Abscheu des OberverwaItungsgerichts über die Art, in der offenbar häufiger außer Kontrolle geratene singhalesische Soldaten auf tamilische Terroraktionen reagieren, ist aus westeuropäischer Sicht verständlich. Die dabei zu beobachtenden Rechtsbrüche, Brandstiftungen und Tötungen sind indes als solche noch keine "politische" Verfolgung, so sehr sich der Leser effektvoller Auflistungen einschlägiger Untaten auch empören wird287 • Sie sind noch Exzeß geblieben und nicht in eine systematische Unterdrückung und notfalls Austreibung oder Vernichtung der tamilischen Minderheit umgeschlagen288 • Durch Exzesse des Militärs werden in bürgerkriegsä:hnlichen Situationen die Betroffenen nicht etwa deshalb "politisch" verfolgt, weil ethnische Gründe und in ihnen wurzelnde politische Motive mitspielen!'9. Bürgerkriegsparteien bekämpfen sich begriffsnotwendig aus "politi287 Vgl. S.21 der Gründe des Urteils des OVG Münster, das auch sonst mit der Wiedergabe allgemeiner Verurteilungen nicht spart. Es hätte eine ebensolche Aufzählung der mörderischen Aktionen tamilischer Terroristen das Leserverständnis für die Situation auf Sri Lanka unterstützen können. 288 Derartige Forderungen werden allerdings von singhalesischen Fanatikern im buddhistischen Klerus erhoben, s. P. Dienemann, "Die Welt" v. 30. 3.

1985. 289

OVG Münster, S. 24 der Gründe.

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8. Die Verfolgung

schen", nämlich ethnischen, konfessionellen, parteilichen oder klassengebundenen Gründen und Zielen. Die Herausnahme des Bürgerkriegs und seiner Begleiterscheinungen aus dem Tatbestand der politischen Verfolgung!70 beruht auf der Einsicht, daß das Asylgrundrecht als ein Individualgrundrecht die Fluchtfolgen eines Bürgerkriegs nicht auffangen soll und kann. Wie richtig dieser Interpretationsansatz ist, zeigt das hier erörterte Urteil. Nach Ansicht des OVG Münster bilden alle jüngeren männlichen Tamilen in der Nordregion Sri Lankas eine politisch verfolgte Gruppe2 71 • Es braucht dann nur noch die individuelle Betroffenheit festgestellt zu werden, die bejaht werden kann, wenn der Asylbewerber glaubhaft vorträgt, er sei Anhänger der separatistischen Partei, mehrfach zum Verhör inhaftiert worden und müsse nach alledem "zur überzeugung des Senats" damit rechnen, daß "die Sicherheitskräfte bei nächster sich bietender Gelegenheit auf ihn Zugriff nehmen würden, weil er aus ihrer Sicht in besonderem Maße der Beteiligung an terroristischen Aktionen oder jedenfalls der Konspiration mit militanten Tamilen verdächtig wäre"272. Auf diese Weise, nämlich über die Brücke der Gruppenverfolgung, wird die bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzung, aber auch die Verfolgung von Staatsschutzdelikten und Terroristen in politische Verfolgung verwandelt, obgleich beide Tatbestände, für sich genommen, den Asylanspruch grundsätzlich nicht auslösen. Da die Glaubhaftmachung jener besonderen Umstände ausreicht, ist es dann für alle männlichen Tamilen nur noch ein Problem des glaubhaften, aber in der Bundesrepublik kaum nachprüfbaren Vortrages, um hier als asylberechtigt anerkannt zu werden. Während die Schweiz und die Niederlande Tamilen generell nicht als politische Flüchtlinge anerkennen, soll die Bundesrepublik jenen offenstehen, die nicht zu ihren Landsleuten und in ihre angrenzende ethnische Heimat Südindien überwechseln, sondern lieber um die halbe Erde nach Westeuropa reisen, um den bürgerkriegsähnlichen Zuständen ihrer Heimat zu entgehen!7S. Doch abgesehen von dem auch hier wieder zu beobachtenden deutschen Sonderweg: Das Oberverwaltungsgericht hat selbst erkannt, mit seinem Urteil werde das Asylgrundrecht "an seine Grenzen geführt". Es macht dafür aber nicht seine eigene Auslegung verantwortlich, sondern die Massenfluchtbewegungen, die "in jüngerer Zeit insbesondere BVerwG, DÖV 1979, S. 296 (st. Rspr.). S. 29 der Gründe. t7! S. 30 der Gründe. 273 Ein kurzer Reiseweg, das sei vorsorglich angemerkt, ist gewiß keine materiell-rechtliche Bedingung des Asylanspruchs. Im besonderen Falle Sri Lankas trägt eine Reise nach Westeuropa aber nicht zur Glaubhaftmachung der Verfolgung und des Asylanspruchs bei. Würden denn Österreicher in gleicher Lage nach Indien fliehen, wenn ihnen die Schweiz und die Bundesrepublik so offenständen wie den Tamilen der südindische Bundesstaat Tamil Nadu? 270 271

8.4

Dauer und Ende der Verfolgung

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in Asien und Afrika vielfach als Folge eines politisch motivierten staatlichen Machtmißbrauchs stattgefunden haben und stattfinden"274. Sein Hinweis, der Verfassungsgesetzgeber könne Art. 16 II 2 GG ändern, wenn er diese Folge nicht wolle, ist schon vorn als grundsätzlicher Fehlschluß erkannt worden 276 ; es ist nicht Aufgabe der Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat, die unzutreffende Normauslegung eines Oberverwaltungsgerichts durch Änderung des Grundgesetzes zu korrigieren. 8.4 Dauer und Ende der Verfolgung Ein unverheiratetes Paar, aus Polen aus politischen Gründen geflohen, erhält in Israel Aufenthaltsrecht und Arbeitserlaubnis. Es beantragt nach zweieinhalb Jahren in der Bundesrepublik Asyl, das ihm das VG Ansbach auch zuspricht. Grund dieser überraschenden Entscheidung: Staatenlose können in Israel nicht heiraten, weil in diesem Staat nur der Rabbiner für die Eheschließung zuständig ist, und er traut nur Paare mosaischer Religion; die Zivilehe kennt Israel nicht. Das Verwaltungsgericht behandelte diesen Fall nicht als israelische Verfolgung aus religiösen Gründen; es folgerte jedoch aus der Unmöglichkeit der Eheschließung in Israel, unser Paar habe in Israel noch keinen "anderweitigen Schutz vor Verfolgung" gefunden Z71 • Andere Verwaltungsgerichte prüfen, ob der Flüchtling im Drittstaat die RechtssteIlung nach der Genfer Flüchtlingskonvention genießt, oder ob dieser Schutz tatsächlich und rechtlich dem bundesrepublikanischen Asylrecht "im höchsten Maße gleichkommt" (wenn nicht: Asyl in der Bundesrepublik)277, ob der Flüchtling in ein Flüchtlingslager des Zufluchtstaates {Sudan) verbracht werden könnte (wenn ja: Asyl in der Bundesrepublik)278, wie groß die Arbeitslosigkeit im Sudan ist und ob der Flüchtling einen gesicherten Arbeitsplatz findet (wenn nicht: Asyl in der Bundesrepublik)%78, ob der chilenische Flüchtling in Rumänien einen Arbeitsplatz gefunden hat, der ausreicht, seine kinderreiche Familie zu ernähren (wenn nicht: Asyl in der Bundesrepublik)t80. 274 S. 25 der Gründe unter Bezug auf das Urteil des BVerwG v. 5. 6. 1984, 9 C 92.83.

275 Vgl. FN 31. 276 VG Ansbach, U. v. 6. 6. 1978, bei Marx, S. 99 (Nr. 18). 277 VG Ansbach, U. v. 26. 2. 1981, bei Marx, S. 102/03, 108/09; Urteile mit ähnlichen Wendungen - "vergleichbar", "wenigstens annähernd gleich", "wenigstens gleichrangig" referiert Franz Bethäuser, Der anderweitige Schutz vor Verfolgung im Asylrecht, Diss. iur. Frankfurt 1983, S. 108 ff. Richtungweisend war das Urteil des BayVGH v. 27. 2. 1973, BayVBl. 1973, S. 439. 278 VG Karlsruhe, U. v. 6. 8. 1981, bei Marx, S. 104 (Nr. 40). 279 VG Hannover, U. v. 26. 1. 1982, bei Marx, S. 106/07. 280 VG Ansbach, U. v. 16. 3. 1982, bei Marx, S. 107/08 a. E.

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8. Die Verfolgung

Es wird in diesen Entscheidungen also nicht geprüft, ob der Asylbewerber vor dem Betreten des Bundesgebietes politisch verfolgt worden ist, obgleich das doch wohl die Kernfrage sein sollte. Die Formulierung "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" weist nicht in irgendein Plusquamperfekt, sondern auf gerade vergangene Gegenwart und in eine drohende Zukunft. Denn die Rechtsfolge des Asyls ist an den objektiven Tatbestand drohender politischer Verfolgung gebunden, und zwar im Sinne einer "gegenwärtigen Verfolgungsbetroffenheit"281. Deshalb kann ein zunächst gegebener Anspruch auf Asyl wieder entfallen, wenn sich während des Anerkennungsverfahrens die politischen Verhältnisse im Verfolgerstaat ändern 282 . Dementsprechend ist die Asylanerkennung zu widerrufen, "wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen" (§ 16 I Nr. 1 AsyIVfG). Die gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit und damit die Voraussetzung des Asylanspruchs entfällt ebenso, wenn die Verfolgung durch Schutz in einem anderen Land geendet hat. Zwischen Verfolgung und begründeter Asylbitte muß also ein (unmittelbarer) Zusammenhang bestehen; dieser Zusammenhang ist unterbrochen, wenn der Antragsteller in einem anderen Lande Schutz gefunden hat Z83. Die veränderte Fragestellung beruht zunächst auf einem Mißverständnis der Genfer Flüchtlingskonvention, dann auf Definitionsversuchen des Gesetzgebers 1965 und 1982. Ende der 50er Jahre hatte das Bundesverwaltungsgericht in Abschiebungs- und Ausweisungsfällen die Genfer Flüclülingskonvention auszulegen. Es kam zu diesem Ergebnis: Wer einmal als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention angesehen worden war, sollte diesen Status behalten als eine an ihm haftende Eigenschaft wie z. B. die Staatsangehörigkeit; verlustig gehen sollte der Flüchtling seines Konventionsstatus erst durch Einbürgerung im Zufluchtstaat oder andere Gründe, die Art. 1 C der Konvention aufzählt!84. Daraus schlossen dann Rechtsprechung und Schrifttum auf die Möglichkeitder Asylsuche und Asylberechtigung in einem anderen als dem ersten Zufluchtstaat (Zweitanerkennung). Richtig war an dieser Sicht, daß die politische Verfolgung und der Schutz im Zufluchtstaat einen Status begründen, der den Zufluchtstaat daran hindert, den Flüchtling erneuter Verfolgung preiszugeben (Art. 33 Nr.1 FK). Unrichtig war die Folge281 BVerfG, B. v. 2.7.1980; maßgebend ist der Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung (E 54, 341, 360 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts). !BI BVerfGE 54, 360. 28B Sinngemäß bereits BVerwGE 4, 243; O. Kimminich (FN 112), Er!. 144; deTs., Gutachten B zum 53. DJT (1980), S. 44. 284 BVerwG, U. v. 30.9.1958, E 7, 231, 233/34; U. v. 25.11.1958, E 7, 333, 334/ 35 gegen das urteil desselben Senats v. 17. 1. 1957, E 4, 238. Die zunächst widerstrebende, dann auf diese Linie einschwenkende Rechtsprechung des BayVGH weist FTanz BethäuseT (FN 277), S. 39, nach.

8.4 Dauer und Ende der Verfolgung

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rung, also müsse der Flüchtling von jedem anderen Vertragsstaat der Genfer Konvention als politischer Flüchtling für sein eigenes Staatsgebiet mit der Konsequenz erneuter Asylgewährung anerkannt werden. Denn weder begründet die Genfer Flüchtlingskonvention selbst einen Asylanspruch noch verleiht sie dem Flüchtling ein Recht auf internationale Freizügigkeit. Für Einreise und Aufenthalt eines Flüchtlings, der in einem anderen Staat Schutz gefunden hat, gelten die allgemeinen Regeln des Fremdenrechts; aus der Flüchtlingskonvention und seinem Flüchtlingsstatus kann er gegenüber dem zweiten Staat nur das Recht auf Nichtauslieferung und Nichtabschiebung an den Verfolgerstaat ableiten. Ob er eine befristete oder dauernde Aufenthaltserlaubnis erhalten kann, richtet sich in der Bundesrepublik nach den allgemeinen Vorschriften des Ausländergesetzes285 • Um diese Fehlentwicklung zu beenden, bestimmte der Gesetzgeber des AuslG 1965, politisch Verfolgte seien als Asylberechtigte anzuerkennen, "sofern sie nicht bereits in einem anderen Land Anerkennung nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge oder anderweitig Schutz vor Verfolgung gefunden haben" (§ 28 AuslG). Dieser Eingriff des Gesetzgebers beseitigte zwar die Zweitanerkennung, schuf aber die Grundlage für ein neues Mißverständnis. Denn nunmehr befaßten sich, wie die vorn erwähnten Beispiele zeigen, Rechtsprechung und Schrifttum mit der Auslegung der neuen Ausschlußklausel und verloren dabei den Tatbestand der "politischen Verfolgung" etwas aus den Augen; man beschäftigte sich statt dessen mit der rechtlichen und tatsächlichen Situation des Flüchtlings im Drittstaat. Das ist richtig und notwendig, soweit es um die Feststellung der Verfolgung geht, ob nämlich dem Flüchtling Auslieferung und Abschiebung in den Verfolgerstaat oder in einen anderen Staat drohen, der ihn seinerseits an den Verfolgerstaat ausliefert oder abschiebt. Denn insoweit wird die Verfolgungsfrage erörtert. In den oben angeführten Entscheidungen wird aber nicht mehr diese Frage geprüft, sondern ob der Drittstaat Asyl wie die Bundesrepublik gewährt. Nach. dieser Rechtsprechung ist die Asylberechtigung also nicht Konsequenz von Verfolgung, sondern die einer rechtlichen und tatsächlichen Situation des früher einmal Verfolgten im schutz285 Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts v. 30. 9. 1958 hatte eine Lücke der Genfer Konvention interpretiert, ohne nach ihrem Sinn zu fragen: "Davon, daß der Flüchtling seinen ihm durch die Genfer Konvention zuerkannten Status verliert, wenn er von einem Land in ein anderes Land überwechselt, also wie der Kläger von Belgien nach Deutschland einreist, ist in den Vorschriften der Genfer Konvention keine Rede" (S.234). Die Abweichung von BVerwGE 4, 238 begründete das Gericht so: "In dem Fall, der dieser Entscheidung zugrunde lag, ging es um das Asylrecht des Art. 16 GG, nicht um die Rechtsstellung des ausländischen Flüchtlings im Sinne der Genfer Konvention" (E 7, 335). Das Gericht wollte wohl nicht sehen, daß eine Anerkennung des Flüchtlingsstatus nach der Genfer Konvention durch Bewilligung des Daueraufenthalts die Rechtsfolge des Art. 16 II 2 GG anerkennt.

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8. Die Verfolgung

gewährenden Drittstaat, die hinter der Stellung der Asylberechtigten in der Bundesrepublik zurückbleibt. Art. 16 II 2 GG wird für die hier zitierten Fälle so gelesen: Wer im Drittstaat nicht das Asyl genießt, wie es die Bundesrepublik gewährt, ist (immer noch) politisch verfolgt. Tatbestand und Rechtsfolge des Art. 16 II 2 GG (politische Verfolgung - Asylrecht) werden also vertauscht. Diese Rechtsprechung wurde fortgesetzt, als 1982 die Vorschrift des § 2 AsylVfG an die Stelle der Ausschlußregel des § 28 zweiter Halbsatz AuslG trat: "Ausländer, die bereits in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung gefunden haben, werden nicht als Asylberechtigte anerkannt. Schutz vor VerfOlgung hat ein Ausländer gefunden, der sich in einem anderen Staat, in dem ihm keine politische Verfolgung droht, nicht nur vorübergehend aufhalten kann, und wenn nicht zu befürchten ist, daß er in einen Staat abgeschoben wird, in dem ihm politische Verfolgung droht." Viel Fleiß und Mühe wurde auf den für notwendig gehaltenen Nachweis verwendet, daß der Gesetzgeber des § 2 AsylVfG an der alten Rechtslage nichts habe ändern wollen, infolgedessen sich nichts geändert habe, die Rechtsprechung zu § 28 AuslG also auch für § 2 AsylVfG gelte 288 . So wird untersucht, ob "gefunden hat" eine aktive schutzgewährende Tätigkeit des Drittstaates voraussetzt, was der Hessische Verwaltungsgerichtshof bejaht, obgleich diese Formulierung "keine konjunktivistische Form des Findens enthält"z87. Diese subtilen Erwägungen zeigen, daß sich die Auslegung des Asylgrundrechts auf § 28 AuslG und § 2 AsylVfG erst konzentriert, dann verselbständigt und schließlich von Art. 16 II 2 GG abgelöst hat, auch wenn wiederkehrend und gleichlautend versichert wird, man lege § 2 AsylVfG "im Lichte des Art. 16 GG" aus!88. Deutlich wird diese Problemverlagerung schon an der Wahl des Stichworts: nicht Dauer und Ende der Verfolgung, sondern "anderweitiger Schutz" ist das Thema. Rechtslogisch und sprachlich scheint es sich hier nur um zwei Seiten derselben Sache zu handeln. Dieses Verständnis wird unrichtig, wenn der Begriff des "Schutzes" sozial aufgeladen und übersehen wird, daß die Verfolgung den Inhalt des Schutzes bestimmt. Die Entscheidungspraxis zeigte die Folgen dieser falschen Fragestellung nur zu deutlich. So konnte im Heiratsfall des VG Ansbach von politischer Verfolgung durch Polen oder in Israel keine Rede sein. Das (staatenlose) Paar hatte in Israel zwar kein Standesamt gefunden, aber es wurde dort nicht mehr politisch verfolgt. 288 Besonders HessVGH, U. v. 23.6.1983, bei Marx, S. 121 (124); im Schrifttum: W. Kanein, NVwZ 1983, S. 377 ff.; G. HiZdner, ZAR 1983, S. 132 ff.; F. Bethäuser (FN 277), S. 52 ff. 287 U. v. 23. 6. 1983, bei Marx, S. 121 ff. (124). 288 Zuletzt BVerwG, U. v. 5. 6. 1983, DVBI. 1984, S. 1007 (1008 1. Sp.).

8.4 Dauer und Ende der Verfolgung

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Die Unmöglichkeit standesamtlicher Eheschließung war auch keine israelische Verfolgung; eine in Zypern vollzogene Ziviltrauung hätte Israel anerkannt. Der Hochzeitsflug nach Zypern wäre ihnen auch zuzumuten gewesen!SI. Wird die Frage richtig gestellt, kann eine falsche durch eine richtige Antwort korrigiert werden. Aus einer falschen Fragestellung können nur noch falsche Antworten folgen, richtige sind Zufall. Daher ist es notwendig, sich auf die Funktion des § 2 AsylVfG zu besinnen. Die Vorschrift kann Art. 16 11 2 GG nicht authentisch interpretieren; sie könnte daher nicht die Asylberechtigung verneinen, wenn der Antragsteller noch politisch verfolgt ist. Umgekehrt ist dem Gesetz auch nicht zu entnehmen, es sähe den Asylbewerber stets als noch politisch verfolgt an, wenn die Voraussetzungen zwar entfallen, aber noch nicht der "anderweitige Schutz" im Sinne der zit. Rechtsprechung eingetreten ist. Dann würde § 2 AsylVfG die Fortdauer der politischen Verfolgung bis zur Gewährleistung dieses "anderweitigen Schutzes" fingieren. Es ist zwar rechtlich nicht ausgeschlossen, daß ein einfaches Gesetz wie das Asylverfahrensgesetz Asylbewerbern gegenüber großzügiger ist als die Verfassungsnorm selbst, aber diese Absicht kann dem Asylverfahrensgesetz von 1982 nicht unterlegt werden. Wie § 28 AuslG soll § 2 AsylVfG wenigstens die "Zweitanerkennung" ausschließen. Der Verzicht auf den in § 28 AuslG noch enthaltenen alternativen Ausschlußtatbestand der Anerkennung nach der Genfer Konvention verdeutlicht: für die Frage des anderweitigen Schutzes sollen administrative Aufnahme- und Gewährungsakte zur Realisierung der Konvention bedeutungslos sein 290 • Auch daraus ist die dienende, nämlich verdeutlichende Funktion des § 2 AsylVfG gegenüber Art. 16 11 2 GG zu erkennen; das Ende der politischen Verfolgung markiert nicht ein administrativer Akt, sondern die Unmöglichkeit des Verfolgerstaates, den Flüchtling in seine Gewalt zu bringen. Der Gesetzgeber hat dies zwar nicht so gesagt; er hat vielmehr an den "Schutz" angeknüpft und diesen Schutz definiert als "nicht nur vorübergehenden Aufenthalt" in einem anderen Staat ohne Gefahr der Abschiebung an den Verfolgerstaat (§ 2 11 AsyIVfG). Das Gesetz beBayVGH, U. v. 29. 1. 1974, bei Marx, S. 677 (Nr. 1). Die zit. gegenteilige Rechtsprechung des HessVGH und des BadWürttVGH ist ein geradezu klassisches Beispiel für das Ausspielen der subjektiven, an der Entstehungsgeschichte orientierten Auslegungsmethode gegen die sonst bevorzugte objektive, auf Wortlaut und Sinnzusammenhang gegründete Interpretation; s. dazu bereits O. Bachof, Verfassungs recht, Verwaltungsrecht, Verfahrens recht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, Teil 1 u. 2 (1963), S. 99 ff. Wenn der Gesetzgeber von zwei Voraussetzungen eine fallen läßt, dann dürfte die verschwundene nur dann in die übrig gebliebene Bedingung hineingelesen werden, hätten beide dasselbe gesagt. Die Gerichte haben aber die Anerkennung nach der Genfer Konvention (es gibt sie nur in 18 Signatarstaaten) und den "anderweitigen Schutz" durchaus und mit Recht verschieden ausgelegt, s. Schaeffer, S. 116 ff. 289

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8. Die Verfolgung

trachtet also den Flüchtling als noch politisch verfolgt, wenn die aktuelle Verfolgung zwar geendet hat, aber wegen der Abschiebungsgefahr jederzeit wieder aufleben, also aktuell werden kann. Insofern genügt also eine potentielle Verfolgung. Beim nur vorübergehenden Aufenthalt ist allerdings die Aktualisierung des Verfolgungstatbestandes ungewiß. Will man in diesem Fall die potentielle Verfolgungsgefahr nicht gelten lassen, so ließe sich der Zusammenhang mit der Verfolgung des Art. 16 II 2 GG durch die Annahme rechtfertigen, daß die Flucht vor der politischen Verfolgung noch nicht beendet sei, wenn sich der Flüchtling in dem Drittstaat nur vorübergehend aufhält. Die großzügige, keineswegs zwingende Auslegung des Art. 16 II 2 GG hat der Gesetzgeber des § 2 II AsylVfG auch nicht selbst formuliert; er hat sie der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entnommen2U1 • Verfehlt wäre allerdings die Annahme, deshalb müsse der Begriff so ausgelegt werden, wie das Bundesverwaltungsgericht ihn verstand oder versteht. Ein solches nur an der Entstehungsgeschichte orientiertes Verständnis würde gegen die zu Recht herrschende objektive Auslegung verstoßen, den Grundsatz der authentischen Interpretation einführen und überdies die Erkenntnis mißa·chten, daß § 2 AsylVfG den Begriffsrahmen des Art. 16 II 2 GG ausfüllen soll, also "im Lichte" der grundgesetzlichen Norm auszulegen ist. Zur Anspruchsvoraussetzung des Asylgrundrechts gehört aber die drohende politische Verfolgung. Ob "vorübergehender Aufenthalt" oder Gefahr der Abschiebung in den Machtbereich des Verfolgerstaats: In beiden Fällen muß dem Asylbewerber ohne Asyl in der Bundesrepublik politische Verfolgung drohen. Wen bereits ein anderes Land schützt, der wird nicht mehr politisch verfolgt, kann also nicht mehr als politisch Verfolgter anerkannt werden. Gewiß könnte die Verfolgungslage wieder aufleben, würde der Verfolgte auf irgendeine Weise wieder in die Gewalt seines Heimatstaates geraten. Aus dieser ganz ungewissen und fiktiven Verfolgung erwächst aber in diesem Fall kein grundgesetzlicher Asylanspruch. Dann würde nämlich die einmal stattgefundene, aber beendete Verfolgung ein Recht auf internationale Freizügigkeit und zugleich ein Einwanderungsrecht begründen, das weder die Angehörigen des schutzgewährenden Drittstaates noch die Bewohner der Bundesrepublik besitzen. Der Asylbewerber hätte es in der Hand, die ihm in seinem Heimatstaat drohende Verfolgung als "Weltbürgerrecht" zu instrumentieren, das ihm überall Aufenthalt und Niederlassung (jedenfalls in der Bundesrepublik) verschaffen würde. Ein solches Verständnis entspräche nicht dem Sinn des Asylgrundrechts; es wird im Notfall und ausnahmsweise gewährt, um 201 Darauf verweist das Urteil des BVerwG v. 5.6. 1984, DVBl. 1984, S. 1007/ 1008 r. Sp. unter Bezugnahme auf einen Beschluß des Gerichts v. 22. 6; 1977.

8.4 Dauer und Ende der Verfolgung

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einen Menschen vor politischer Verfolgung in ernster und sonst auswegloser Notlage zu retten. Diese Voraussetzungen sind entfallen und die politische Verfolgung bendet, wenn der Ausländer "bereits in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung gefunden" hat (§ 2 I AsylVfG). Auch die großzügige Definition des Verfolgungsschutzes durch § 2 II AsylVfG ist geleitet durch den Sinn des Art. 16 II 2 GG: Die Notsituation der Verfolgung dauert fort, wenn sich der Ausländer im Drittstaat "nur vorübergehend aufhalten kann" oder zu befürchten ist, "daß er in einen Staat abgeschoben wird, in dem ihm politische Verfolgung droht" (§ 2 II AsylVfG). Das Ende der Verfolgung in einem anderen Land (in dem von § 2 II AsylVfG definierten Sinn) läßt daher das Recht auf Inanspruchnahme des Asylgrundrechts erlöschen. Diese an sich selbstverständliche Folgerung aus dem Text des Art. 16 II 2 GG wird nicht ausdrücklich bestritten, jedoch indirekt geleugnet, indem zwei weitere Gesichtspunkte eingeführt werden, die den Asylanspruch über das tatsächliche Verfolgungsende hinaus fortleben lassen sollen: (1) Durch das angebliche "Recht des Verfolgten auf freie Wahl des Zufluchtstaates", (2) durch inhaltliche Anforderungen an den asylrechtlichen Schutz im Drittstaat. Die eminente Bedeutung dieser zusätzlichen Fragestellungen machen die Urteile sichtbar, die mit ihrer Hilfe die Asylberechtigung solchen Flüchtlingen zusprachen, die sich bereits längere Zeit in einem anderen Staat aufgehalten hatten: für Äthiopier, die in den Sudan, für Afghanen, die nach Pakistan geflüchtet warenm. In den Sudan aber sind 460 000 Äthiopier, nach Pakistan 2,7 Millionen Afghanen geflohen (s. vorn S. 46). Das Recht des Flüchtlings auf "freie Wahl des Zufluchtlandes" hat sich inzwischen zu einer geläufigen Formel entwickelt283 • Begründet wird diese Ansicht mit der sicher richtigen Erwägung, dem Flüchtling könne nicht gegen seinen Willen ein Zufluchtstaat zugewiesen werden28 '. Es wird jedoch nicht "zugewiesen", wenn mit der Zuflucht im 282 Äthiopien/Sudan: Bad-WürttVGH, U. v. 20.1.1983. bei Marx, S.119 (Nr. 42); Afghanistan/Pakistan: Bad-WürttVGH, U. v. 17.1. 1983, DVBl. 1983, S. 755 ff.; HessVGH, U. v. 23.6.1983, bei Marx, S. 121 ff. (Nr.43); BVerwG, U. v. 5. 6. 1984, DVBl. 1984, S. 1007 ff. m s. die oben zit. Urteile sowie aus dem Schrifttum z. B. G. Hildner, ZAR 1983, S. 134; W. Kanein, NVwZ 1983, S. 380. - Der BayVGH verneinte, daß das Asylrecht auch die Berechtigung umfasse, "sich das Asylland nach Belieben auszusuchen. Entscheidend für die Frage des anderweitigen Schutzes vor Verfolgung sind vielmehr objektive Umstände ... Das Asylrecht bietet nur die Gewähr dafür, in der Bundesrepublik Deutschland Schutz vor Verfolgung zu erlangen. Wer anderswo Schutz genießt, auch unter Lebensbedingungen, die seinen Vorstellungen nicht entsprechen, wird nicht mehr verfolgt" (U. v. 24. 5. 1976, st. Rspr., bei Marx, S. 96, Nr. 7). Die hiergegen von F. Bethäuser (FN 277) vorgebrachten Einwände belegen, daß er nicht weiß, was ein Recht ist (S. 78 ff.). 28' HessVGH, U. v. 23.6. 1983, bei Marx, S. 121 ff. (125) unter Hinweis auf die Menschenwürde; Bad-WürttVGH, U. v. 20. 1.1983, bei Marx, S. 119 (120).

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8. Die Verfolgung

Drittstaat die Voraussetzung der politischen Verfolgung und damit auch die Asylberechtigung entfallen ist. "Zuweisung" ist im allgemeinen wie im Sprachgebrauch der Juristen ein aktives, bestimmendes Tätigwerden. Bundesamt oder Verwaltungsgericht stellen in diesen Fällen jedoch nur die Zuflucht im Drittstaat, das Ende der Verfolgung und den Verlust des Asylrechts fest. Damit ist allein das Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik verneint. Der Aufenthalt im Drittstaat ergibt sich aus der tatsächlichen Situation. Die Abweisungsentscheidung kann und will dem Ausländer nicht den Drittstaat als ständiges Aufenthaltsland bestimmen. Muß der Asylbewerber als Folge der von Ansbach verfügten Abweisung im Drittstaat bleiben, dann ist dies eine tatsächliche Folge seiner Flucht in dieses Land und eine allein faktische Konsequenz der deutschen Ablehnung. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat sich in diesem Zusammenhang auf die Menschenwürde und das Selbstbestimmungsrecht bezogen: "Es dürfte wohl mit dem letztlich aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde fließenden Selbstbestimmungsrecht des Menschen nicht in Einklang zu bringen sein, wollte man einem Menschen, der gerade noch einer politischen Verfolgung entkommen ist, die Entscheidung darüber nehmen, in welchem Staat er um Schutz vor Verfolgung nachsucht us ." Art. 16 II 2 GG sorgt sich um das menschliche Selbstbestimmungsrecht, insofern der Fremde vor politischer Verfolgung und in den fraglichen Beziehungen auch sein Selbstbestimmungsrecht, u. U. auch seine menschliche Würde, geschützt werden soll. Unabhängig von dem Tatbestand der politischen Verfolgung schließt dieser Schutz aber nicht die freie Wahl einer neuen Heimat ein. Die einzelnen Grundrechte sind nicht an Freiheit und Selbstbestimmung schlechthin orientiert, sondern immer nur an bestimmten Beziehungen des einzelnen zum Staat, sie sind rollenspezifisch ausgerichtet, Art. 16 II 2 GG an der politischen Verfolgung des Flüchtlings. Die Verneinung dieses Tatbestandes behandelt nicht den Antragsteller "grausam, erniedrigend, verächtlich und unmenschlich". Muß der Flüchtling infolge Zuflucht im Drittstaat dort unter Bedingungen leben, die schlechter sind als die in der Bundesrepublik, dann ist für diese Situation die Bundesrepublik genauso wenig verantwortlich wie es der deutschen Ausländerbehörde zugerechnet werden könnte, daß ein Brasilianer in die Slums von Sao Paulo zurückkehren muß, weil er keine Aufenthaltserlaubnis zur Einwanderung in die Bundesrepublik erhält. Das "Recht auf freie Wahl des Zufluchtstaates" gibt es nicht. Die Möglichkeit des Flüchtlings, in diesem oder in jenem Asyllande Schutz 2D5 u. v. 23.6. 1983, bei Marx, S. 125 (Nr.43). Es ist hier nicht näher auf die unrichtige Ableitung örtlicher Selbstbestimmung aus der Menschenwürde einzugehen; s. dazu BVerfGE 30, 25; 45, 228 und vorn S. 67 ff.

8.4

Dauer und Ende der Verfolgung

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vor politischer Verfolgung zu finden, ist tatsächlicher Natur. Das Völkerrecht anerkennt die Kompetenz der einzelnen Staaten, Staatsangehörige eines anderen Landes durch Asyl vor politischer Verfolgung zu schützen. Ein völkerrechtliches Wahlrecht des Flüchtlings würde aber voraussetzen, daß im Völkerrecht selbst der Asylanspruch verankert wäre. Diesen Anspruch auf Asyl enthält zwar das Grundgesetz. Aber die von Art. 16 II 2 GG als selbstverständlich vorausgesetzte Freiheit des politisch Verfolgten, Asyl in der Bundesrepublik zu beantragen oder es zu unterlassen, die Bundesrepublik zu wählen oder nicht zu wählen, begründet kein Recht auf freie Wahl zwischen verschiedenen Ländern, wie etwa Art. 12 I GG den Deutschen das Recht gewährleistet, "Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen". Art. 12 I GG garantiert in der Tat auch das Recht auf Wechsel von Beruf zu Beruf, von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz und von Ausbildungsstätte zu Ausbildungsstätte. Dieses Grundrecht enthält nicht die Bedingung, daß nur Berufslose einen Beruf, nur Arbeitslose einen Arbeitsplatz und nur Nichtausgebildete eine Ausbildungsstätte wählen dürfen - mit der Folge des Anspruchsverlustes bei Wegfall dieser Bedingungen. Hingegen statuiert Art. 16 II 2 GG für den politisch Verfolgten das Recht auf Asyl lediglich für die Dauer seiner Verfolgung. Die Möglichkeit des Flüchtlings, auch in einem anderen Lande Zuflucht zu suchen, ist kein Wahlrecht, sondern ein tatsächlicher Reflex der Situation, daß nicht nur die Bundesrepublik Asyl gewährt. Das subjektive Recht des Art. 16 II 2 GG selbst gewährt nicht einmal dies; als Reflex des Asylanspruchs könnte nur die Möglichkeit des Verfolgten angesehen werden, auf Geltendmachung dieses Anspruchs zu verzichten. Reflexe rechtlicher oder tatsächlicher Lagen sind keine Rechte; dieser allgemeingültige Satz muß nicht belegt werden. Der Versuch, jenes Wahlrecht dem Text des § 2 AsylVfG semantisch zu entlocken, beruht auf der Vorstellung, Schutz könne nur "finden", wer Schutz "gesucht", sich also für einen Schutzstaat entschieden habe; das Suchen bedinge eine mindestens durch schlüssiges Handeln erkennbare Asylbitte, das Schutzfinden eine mindestens schlüssig erklärte Gewährung dauernden Schutzeg!°8. Die sprachliche Fehlinterpretation ist offenkundig. Aus der vom Gesetz verwendeten Formulierung: "Ausländer, die bereits in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung gefunden haben ... ", könnte nur dann auf eine Schutzsuche als notwendige Bedingung des Schutzfindens zurückgeschlossen werden, müßte dem Finden ein Suchen notwendig 296 HessVGH, U. v. 23.6. 1983, bei Marx, S. 124: "Nur wer sucht, kann finden ... "; auch das BVerwG setzt für das Finden von Schutz in einem Drittstaat voraus, "daß der Verfolgte ihn dort gesucht hat" (U. v. 5.6.1984, DVBl. 1984, S. 1008 r. Sp.).

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8. Die Verfolgung

vorangehen. Davon kann keine Rede sein: es wird sehr häufig gefunden, was nicht gesucht worden ist. Vor allem aber spricht gegen solche Wortauslegungen, daß über sie zusätzliche Voraussetzungen geschaffen werden, die den Tatbestand, um den es eigentlich geht, in den Hintergrund drängen, nämlich das Ende der "gegenwärtigen Verfolgungsbetroffenheit". Aus der Nichtexistenz des "Rechts auf freie Wahl des Zufluchtlandes" folgt nicht die Kompetenz des Bundesamtes, dem Flüchtling ein anderes Zufluchtland anweisen zu können, auch nicht die Versagung jeder Chance, als Flüchtling über das Land hinauszukommen, auf dessen Boden er nach der Flucht aus seinem Heimatstaat den Fuß zuerst setzte. Nach § 2 Ir AsylVfG kann der nur "vorübergehende" Aufenthalt im Drittstaat (unter noch zu erörternden Umständen) als zur Flucht vor der Verfolgung gehörig angesehen werden. Es ist aber unmöglich, mit Hilfe jenes angeblichen Wahlrechts den Aufenthalt in jenem Drittstaat zu verlängern, damit der Flüchtling prüfen könne, "welche Zukunftsperspektiven sich ihm eröffnen", und der Frage nachgehen könne, "in welchem Land die Verhältnisse am ehesten seinen Vorstellungen von einem menschenwürdigen, durch keinerlei Verfolgung bedrohten Leben entsprechen"297. Angesichts der verbreiteten Vorliebe für die sozialstaatlich abgestützten Lebensbedingungen in den Industrienationen der westlichen Welt hinge es nur von dem Bekanntheitsgrad der Rechtsprechung zum bundesrepublikanischen Asylrecht und der Beförderungsfinanzierung ab, ob und in welchem Maße die Flüchtlingsströme Asiens und Afrikas über den DDR-Flughafen Berlin-Schönefeld und den übergang am Bahnhof Friedrichstraße in die Bundesrepublik umgeleitet werden. Die zweite überlegung, "anderweitigen Schutz" habe der Flüchtling nur dann gefunden, wenn seine Stellung im Drittstaat der Stellung eines Flüchtlings in der Bundesrepublik gleichwertig sei, stützt sich, wie bereits erwähnt, auf die erste Alternative des § 28 AuslG 1965: anzuerkennen, "sofern sie nicht bereits in einem anderen Land Anerkennung nach dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ... gefunden haben". Denn dieses Flüchtlingsabkommen (FK) verbietet nicht nur (grundsätzlich) die Abschiebung eines Flüchtlings in den Verfolgerstaat (Art. 33 Nr. 1 FK), es gewährt ihm in Art. 3 ff. FK eine Reihe von Rechten, die sich aus der Bezugnahme auf die Rechte der Staatsbürger oder der Fremden im Zufluchtstaat ergeben. Die vom Drittstaat vollzogene Anerkennung als politischer Flüchtling setzt ihn in diese Rechtsstellung des Konventionsflüchtlings ein und schloß damit zugleich gem. § 28 AuslG die Anerkennung als asylberechtigt in der Bundesrepublik aus. Der erste Auslegungsfehler war die Annahme, die Rechtsstellung als

m Bad-WürttVGH, U. v. 20. 1. 1983, bei Marx, S.120.

8.4 Dauer und Ende der Verfolgung

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solche begründe den Ausschluß der Zweit anerkennung. Die Anerkennung war als formaler Akt angesprochen, der jeden Zweifel an dem Schutzwillen des Drittstaates beseitigte. Wäre die erste Alternative des § 28 AuslG Olim Lichte" des Art. 16 II 2 GG verstanden und auf den Tatbestand erlittener und drohender Verfolgung bezogen worden, dann hätte die Feststellung des Verfolgungs schutzes im Sinne des Art. 33 Nr.1 FK genügt. Der zweite Auslegungsfehler war die Annahme, weil der eine Ausschlußgrund die Rechtsstellung nach der Flüchtlingskonvention voraussetze, müsse der zweite Ausschlußgrund ("anderweitigen Verfolgungsschutz") gleichsinnig verstanden, könne also die Anerkennung nur verweigert werden, wenn der anderweitige Schutz dem Schutz der Flüchtlingskonvention entspreche und dem von der Bundesrepublik gewährten Schutz gleichwertig sei 29s • Hier wird besonders deutlich, wie sehr die Frage der Verfolgung aus dem Blick geraten war. Denn schon der Begriff des "Schutzes" verweist so handgreiflich auf die Anspruchsvoraussetzung der Verfolgung, daß die Art dieses Schutzes zunächst und vor allem unter dem Gesichtspunkt wichtig ist, ob sie den Flüchtling davor bewahrt, wieder in die Gewalt des Verfolgerstaates zu geraten. Ist diese Frage zu bejahen, dann braucht nur noch geprüft zu werden, ob Schutz und Aufenthalt "nicht nur vorübergehender" Natur waren. Die Lebensverhältnisse, besonders die Realisierung der Rechtsstellung, wie sie die Flüchtlingskonvention vorsieht, spielen insofern grundsätzlich keine Rolle. Maßgebend ist die Sicherheit des Aufenthalts, nicht die Ausgestaltung dieses Aufenthalts nach der Flüchtlingskonvention. Bestritten wird dieses Ergebnis mit der rechtsdogmatischen Erwägung, § 2 II AsylVfG müsse der Genfer Konvention entsprechen, die ihrerseits über Art. 25 GG Verfassungsrang genieße 2gg • Diese Argumentation ist schwer nachzuvollziehen. Unrichtig ist schon die von Kanein gehegte Vorstellung, die Genfer Flüchtlingskonvention genieße Verfassungsrang und bestimme daher mit ihrem Inhalt § 2 AsylVfG3oo • Die Konvention ist ein nach Art. 59 II GG geschlossener Vertrag. Völkerrechtliche Verträge können aber nicht über Art. 25 GG und die allgemeine völkerrechtliche Regel "pacta sunt servanda" in einen Rang mit diesen Regeln erhoben und damit den einfachen Bundesgesetzen vorgeordnet werden; diese Anfang der 50er Jahre nur gelegentlich vertretene 29S BayVGH, BayVBl. 1973, S.439; das überwiegend zustimmende Schrifttum hat F. Bethäuser (FN 277) zusammengestellt (S. 109 FN 73). 299 W. Kanein, NVwZ 1983, S. 381/82. 300 a.a.O. unter Hinweis auf Maunz, in: Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art. 25 Erl. 20, wo freilich nur als allgemeine Regel der (selbstverständliche) Grundsatz angeführt wird, daß völkerrechtliche Verträge gehalten werden müssen. Erl.29 (völkerrechtliche Verträge sind dem einfachen Gesetzesrecht zuzuordnen) hat Kanein übersehen.

9 Quaritsch

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8. Die Verfolgung

Auffassung ist in Rechtsprechung und Schrifttum längst aufgegeben30I . Genießt die Konvention auch nicht einen Rang über den einfachen Gesetzen, so sind jedoch spätere Bundesgesetze - hier das AsylVfG nach dem Grundsatz der vertragsfreundlichen Auslegung so zu interpretieren, daß sie nicht mit dem Vertragsgesetz kollidieren s02 . Die Konvention definiert in Art. 1 den Flüchtling, auf den sie anzuwenden ist, durch die Abwesenheit vom Heimat- oder Aufenthaltsstaat in folge "begründeter Furcht" vor politischer Verfolgung. Art. 31, 32 und 33 sind die einzigen Vorschriften, die sich mit dem VerfoZgungsschutz durch den Zufluchtstaat befassen. Alle anderen Vorschriften, besonders diejenigen, zu denen die Vertragsstaaten gemäß Art. 42 Nr. 1 keinen Vorbehalt anbringen durften (sog. Mindeststandard), betreffen die Rechtsstellung des Flüchtlings im Lande der Zuflucht: Allgemeines Diskriminierungsverbot (Art. 3), Gleichstellung mit Inländern hinsichtlich der Religionsausübung (Art. 4), Zugang zu den Gerichten (Art. 16). Es ist nicht zu erkennen, wie § 2 AsylVfG mit den Regeln der Art. 31 bis 33 FK kollidieren könnte, um den Mechanismus der "vertragsfreundlichen" Interpretation auslösen zu können. Die Verneinung der Verfolgung und damit des Asylanspruchs wegen Ende der Verfolgung durch Schutz eines anderen Zufluchtstaates betrifft nicht die Straflosigkeit illegaler Einreise (Art. 31 Nr.l FK), die Freizügigkeit innerhalb des Zufluchtstaates vor und nach der Anerkennung (Art. 31 Nr. 2 FK) oder die Ausweisung eines anerkannten oder sich sonst rechtmäßig im Zufluchtstaat aufhaltenden Flüchtlings (Art. 32 FK). Art. 33 Nr. 1 FK knüpft in seinem Verbot der Zurück- oder Ausweisung eines politischen Flüchtlings an den Tatbestand der Verfolgung (Bedrohung von Leben oder Freiheit) "wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen überzeugung" an. über die Dauer der Verfolgungsdrohung läßt sich nur dies entnehmen: Sie ist noch gegenwärtig oder lebte wieder auf, würde der Flüchtling in das Gebiet des Verfolgerstaats ausgewiesen oder zurückgewiesen werden. Das aber widerspricht nicht § 2 AsylVfG. Die Flüchtlingskonvention antwortet auf die Frage nach dem Ende der Verfolgung nur mit Art. 33 Nr. 1 FK: wenn der Staat, in dem sich der Flüchtling aufhält, ihn nicht durch Zurückweisung oder Ausweisung in die Gewalt des Verfolgerstaates fallen läße0 3 • Für dieses Er301 Seit dem Konkordatsurteil des Bundesverfassungsgerichts v. 26.3.1957 (BVerfGE 6, 309/363) st. Rspr., s. 31, 177/78. Aus dem Schrifttum vgl. z. B. Maunz/Dürig, Art. 25 Erl. 29; W. Rudolj, Völkerrecht und deutsches Recht, 1967, S. 253 ff. m. weit. Nachw. Im Zusammenhang mit dem "anderweitigen Schutz" hat J. Rühmann dieses Problem bereits angesprochen (EuGRZ 1981, S. 387 FN 15). 302 H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 399 f.; S. Schröcker, DVBl. 1958, S. 370 ff.; H. Quaritsch, Hamburger Festschrift für F. Schack, 1966, S. 137 jeweils m. weit. Nachw.

8.4 Dauer und Ende der Verfolgung

113

gebnis braucht allerdings nicht auf die Flüchtlingskonvention zurückgegriffen werden, es folgt bereits aus dem insoweit unstreitigen grundgesetzlichen Begriff des Asyls304. Auch aus Art. 16 II 2 GG können darüber hinausgehende Forderungen an den Inhalt des anderweitigen Schutzes nicht abgeleitet werden. Die Konsequenz der politischen VerfoLgung: "genießen Asylrecht" ist eine Rechtsfolge für das Bundesgebiet und eine Rechtspflicht für die Staatsorgane der Bundesrepublik. Die inhaltliche Ausgestaltung des bundesrepublikanischen Asyls mag aus dem Text dieses Grundrechts selbst oder (richtig) den Prinzipien des Rechts- und Sozialstaats entnommen werden: Wie das einem Flüchtling in der Bundesrepublik zu gewährende Asylrecht inhaltlich ausgestaltet werden muß, hat überhaupt nichts mit der Frage zu tun, ob ein Antragsteller durch anderweitigen Schutz in einem anderen Land nicht mehr verfolgt ist. Denn die Rechtsfolge des Asyls ist an den objektiven Tatbestand drohender politischer Verfolgung gebunden, und zwar im Sinne einer "gegenwärtigen Verfolgungsbetroffenheit"3°S. Angesichts jenigen, die Art. 16 II 2 Begründung

dieser klaren Rechtslage überrascht es nicht, daß diesich für den qualifizierten "anderweitigen" Schutz auf GG berufen, es an einer nachvollziehbaren rechtlichen fehlen lassen 306 . Auch das Bundesverwaltungsgericht hat

303 Die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte, die den Abschiebungsschutz des Art. 33 Nr. 1 FK und ein Recht auf Daueraufenthalt im Drittstaat als anderweitigen Schutz genügen ließ (z. B. BayVGH, DVBI. 1978, S. 509), hat F. Bethäuser (FN 277), S. 102 ff. dokumentiert. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat so mehrfach entschieden: B. v. 26.4.1977, bei Marx, S.97 (Nr.11); U. v. 31. 3. 1981, DVBl. 1981, S. 1095; ebenso wohl K. Hailbronner, S.572/73. 304 Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat in seinem als grundlegend betrachteten Urteil v. 7. 10. 1975 den sog. Kerngehalt des individuellen Asylrechts beschrieben als Zurückweisungs- und Abschiebungsverbot. Zugleich wurde jedoch aus dem Text "genießen Asylrecht" das verfassungsrechtliche, an den Gesetzgeber gerichtete Gebot entnommen, dem politisch Verfolgten in der Bundesrepublik "die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins" zu schaffen, "wozu in erster Linie ein gesicherter Aufenthalt sowie die Möglichkeit zu beruflicher und persönlicher Entfaltung gehören" (E 49, 202, 205/06). Jener "Kerngehalt" ist nach dieser Ansicht also nicht ein verfassungsrechtlicher Mindeststandard, der bei der im übrigen pflichtgemäßen Gestaltung des Asylrechts durch den Gesetzgeber unberührt bleiben muß, wie dies in der Kernbereichs-Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zur Koalitionsfreiheit (Art. 9 III GG) und zur Garantie der gemeindlichen Selbstverwaltung (Art. 28 II GG) vorausgesetzt wird (s. den Rechtsprechungsbericht von U. StOTOst, in: Das wahre Verfassungsrecht, FS Nagelmann 1984, S. 462 ff.). Im Ergebnis widersprechen beide Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts der Auffassung des Parlamentarischen Rats, dessen Mitglieder das Asylrecht des Grundgesetzes als reines "Aufenthaltsrecht" verstanden (s. vorn S.33). 305 BVerfGE 54, 360. 306 Schaeffer nennt "die großzügige Konzeption des deutschen Asylrechts" (S. 126), Hildner beruft sich auf die "humanitäre Konzeption des Grundgeset9'

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für den hier fraglichen Bezug zwischen Art. 16 II 2 GG und § 2 AsylVfG nur die Gesetzestexte wiederhoWo 7• Sein entscheidendes Judiz ist nicht an der gegenwärtigen Verfolgungsbetroffenheit orientiert: "Wer im Aufnahmestaat infolge der u. U. unvermeidlichen Art der Unterbringung dem Tod durch Hunger oder Seuche ausgesetzt ist oder wer nichts anderes zu erwarten hat als ein Dahinvegetieren am Rand des Existenzminimums auf nicht absehbare Zeit, der hat als Flüchtling noch keinen Aufenthalt gefunden, der ausreicht, ihm den aus der Sicht des Asylrechts erforderlichen Verfolgungsschutz zu vermitteln 308 ." Den Inhalt des "erforderlichen Verfolgungsschutzes" sieht das Gericht durch den "Kerngehalt" des von Art. 16 II 2 GG garantierten Asylrechts definiert. Dieser "Kerngehalt" wird so beschrieben: "Danach muß das Recht zum Aufenthalt eine gewisse Bewegungsfreiheit und die Möglichkeit bieten, eine Lebensgrundlage nach Maßgabe der im Aufnahmestaat bestehenden Verhältnisse zu finden. Wann dem Genüge geschieht, läßt sich wiederum nicht abstrakt, sondern nur aufgrund der jeweils gegebenen konkreten Sachlage beurteilen3og ." Auf diese Sätze ist näher einzugehen, weil sie in ihrer abstrakten, vom individuellen Sachverhalt gelösten Fassung geeignet sind, als selbständige Subsumtionsschablonen in eine Praxis umgesetzt zu werden, der die besonderen Umstände des Revisionsfalles fehlen. Der Kerngehalt des grundrechtlichen Asylrechts, wie immer man ihn definieren mag310 , kann denknotwendig nur bestimmen, wie das Asyl in der Bundesrepublik inhaltlich beschaffen sein muß, um Art. 16 II 2 GG zu genügen. Es ist unmöglich, einen Kerngehalt der grundgesetzlichen Asylberechtigung, der über den Schutz vor Verfolgung dur-ch sicheren Aufenthalt hinausgeht, auf den "anderweitigen Schutz" des § 2 AsylVfG überzuleiten, indem das Wort "Schutz" mit dem neu definierten "Kerngehalt" des bundesrepublikanischen Asyls aufgefüllt wird. Hunger, Seuchen und Rand des Existenzminimums sind keine drohende politische Verfolgung, die Art. 16 II 2 voraussetzt. Auch der in § 2 AsylVfG gemeinte Schutz ist Schutz vor Verfolgung, nicht Schutz vor Lebensbedingungen, die mit Entbehrungen und Not verbunden zes" (ZAR 1983, S. 136), Kanein auf (nicht näher spezifizierte) "Ausstrahlungswirkungen der Asylrechtsgarantie" (NVwZ 1983, S. 381), ein Bild, das wohl von der Licht-Metapher inspiriert ist; Bethäuser (FN 277) entschlägt sich jeglichen Begründungsversuchs durch schlichte Behauptungen (S. 113 f. m. S.74). 307 Urteil des 9. Senats v. 5. 6. 1984, DVBl. 1984, S. 1008 (1. Sp. unten, r. Sp. oben). 308 Ebd., S. 1009 l. Sp. unten, r. Sp. oben. 30g Ebd., S. 1009 l. Sp. 310 Der Senat läßt den Dissens zur Entscheidung des 1. Senats vom 7.10. 1975 unerwähnt, danach der Kerngehalt lediglich das Verbot der Zurückweisung und der Abschiebung in den Verfolgerstaat umfaßt (E 49, 205/06).

8.4 Dauer und Ende der Verfolgung

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sind. Diese Feststellung verstößt weder gegen die "humanitäre" noch gegen die "großzügige" Konzeption des Grundgesetzes allgemein oder des Asylgrundrechts im besonderen. Denn die so bezeichneten Konzeptionen werden verwirklicht durch die Gewährung des "absoluten" Asylrechts in dem vorn ausführlich dargelegten Sinn, durch das subjektive, seiner Form nach vorbehaltlos garantierte Grundrecht auf Asyl, durch gerichtlichen Rechtsschutz und durch die inhaltlichen Ausgestaltungen des Flüchtlingsstatus vor und nach der Asylanerkennung. Humanitäre Großzügigkeit wird auch realisiert durch die Gestattung des Aufenthalts für den Antragsteller (§ 19 AsylVfG), eine Vergünstigung, die nur in der Bundesrepublik für selbstverständlich gehalten wird, die aber angesichts des hohen Anteils unbegründeter Anträge und der auch für die abgewiesenen Bewerber aufgewendeten Kosten (s. vorn FN 82) nicht gering zu veranschlagen ist. Setzt die Anerkennung als asylberechtigt stets gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit voraus, dann darf mit diesem Tatbestand nicht "großzügig" oder "humanitär" umgegangen werden. Wird nämlich von dieser unabdingbaren Voraussetzung abgesehen, statt dessen die Existenzbedingungen des Flüchtlings im Drittstaat in der normativen Hülle des "anderweitigen Schutzes" zum Maß genommen, dann überwiegen - bewußt oder unbewußt - die karitativen die rechtlichen Elemente der Entscheidungsfindung. Dahinter stehen die Empörung über die barbarischen Umstände der Verfolgung und das sozialstaatliche Mitgefühl mit jenen, die in den Flüchtlingslagern Afrikas und Asiens leben müssen. Wohltätigkeit aber ist nicht Sache des Bundesamts oder der Verwaltungsgerichte. Mit dem Asylgrundrecht kann die Not der Flüchtlinge Afrikas und Asiens nicht bekämpft werden. Das ist Aufgabe karitativer Organisationen und der Bundesregierung, allein oder im Verbund der Vereinten Nationen. Sollten Hunger, Seuchen und das Vegetieren am Rande des Existenzminimums nicht nur periodisch oder in Einzelfällen, sondern allgemein die Flüchtlingslager im Sudan, in Pakistan oder im Iran charakterisieren: Die Lebensumstände in den Slums von Kalkutta, Manila und anderswo bieten keinen gehobeneren Lebensstandard; eine Ausnahme vom Anwerbestopp und eine Aufenthaltsgenehmigung gemäß § 2 I AuslG wird gleichwohl nicht bewilligt. Die behördliche oder richterliche Flüchtlingshilfe im Einzelfall durch Anerkennung der Asylberechtigung mag jeweils als Ausnahme empfunden werden. Jeder Einzelfall ist indes das Präjudiz für zehn, 100 oder 1000 gleichartige Einzelfälle. Entscheidungsgründe bleiben kein Internum der Gerichtsbarkeit; sie werden durch die Informationssysteme der Interessenorganisationen sehr viel häufiger und schneller verbreitet als es über die Veröffentlichung in den allgemeinen Fachzeitschriften oder der Amtlichen Sammlung möglich wäre311 • Kaum ist das

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8. Die Verfolgung

Urteil ausgefertigt, wird das Argumentationsmuster, das den Kreis der Asylberechtigten erweitert, in den Verfahren anderer Asylbewerber präsentiert. Das alles ist keine Besonderheit der Asylverfahren; auch Wirtschaftsverbände halten ihre Mitglieder über die Gerichtspraxis auf dem laufenden. Aber wo sonst und wann jemals, wenn nicht bei der Anwendung des Art. 16 11 2 GG, hätte sich ein hohes deutsches Gericht mit den anwaltlichen Organen der Rechtspflege so beschäftigen müssen wie mit der folgenden, in die Amtliche Sammlung aufgenommenen Bemerkung: "Soweit dabei einzelne Rechtsanwälte Sachverhalte unter Verletzung ihrer Berufspflichten unrichtig darstellen sollten, wird dem, auch im Interesse der Asylbewerber, durch ehrengerichtliche Verfahren zu begegnen sein3u ." Der Schutz vor Verfolgung ist durch das Ende der gegenwärtigen Verfolgungsbetroffenheit und die Sicherheit vor künftiger Verfolgung bestimmt. Die aktuelle Verfolgung endet mit dem überschreiten der Grenze eines Landes, das den Flüchtling seinerseits nicht verfolgt, nicht zurückweist und nicht in einen Staat abschiebt, " ... in dem ihm politische Verfolgung droht" (§ 2 11 AsylVfG), mithin die aktuelle Verfolgung wieder aufleben lassen würde. Wie die Umstände beschaffen sein müssen, um ein solches Verfolgungsende und damit zugleich Schutz vor Verfolgung annehmen zu können, hängt von mehreren Umständen, nicht jedoch notwendig von administrativen Anerkennungs- oder son311 über die 1981 aufgenommene Arbeit der "Zentralen Dokumentationsstelle der Freien Wohlfahrtspflege" (ZDWF) s. ZAR 1982, S. 9 f. sowie deren Leiterin J. Bueren, in: Köfner/Nicolaus, S. 214/15. 31! BVerfGE 54, 359 (B. v. 2.7.1980). über solche Anwälte wurde auf der Tagung der wissenschaftlichen Kommission des "Katholischen Arbeitskreises für Entwicklung und Frieden" von Praktikern unwidersprochen so berichtet: "Es gibt ganz bestimmte Anwälte in Hessen, die z. B. immer nur sagen, daß es in einem Land eine geheime Separatistenorganisation gibt, die so geheim ist, daß er selbst den Namen nicht nennen darf, ein anderer Anwalt bringt immer nur AGA-Verfolgung, ein anderer nur die MHP-Verfolgung" (H. Häuser); "Die ursprünglich echte Story wird nämlich durch zwei oder drei weitere Befragungen in Anwesenheit des Anwalts oder durch Schriftsätze des Anwalts so umfunktioniert, daß sie den letzten anerkennenden Urteilen, die ergangen sind, gerecht wird. Erst so wird die Sache verdreht" (J. Semmler). Ein Anwalt spricht vom "Einfallsreichtum der Schlepper-Anwälte" und den "neuerdings aus Indien massenhaft eingeflogenen, vielleicht auch aus Hamburg, Grindelallee, stammenden Haftbefehlen"; "Wir haben in Hamburg einige Kollegen, deren Verhalten schlicht standeswidrig ist, und das Bundesverfassungsgericht hat dies auch in mehreren Beschlüssen diesen betreffenden Hamburger Kollegen mitgeteilt. Die Anwaltskammer in Hamburg ist indessen der Auffassung, daß hier kein standeswidriges Verhalten gesehen werden kann. Wie, bitte, soll man sich denn dann gegen derartige Exzesse auf diesem Gebiet wehren?" (R. Klever). "Ich gehe auch in vielen Fällen aus standesrechtlichen überlegungen dazu über, Nichtzulassungsbeschwerden anderen Rechtsanwälten zuzuweisen, die sich dann außerordentlich freuen. Denn sie kennen das, was vorher vorgetragen wurde, nicht und können dann frisch, fromm, fröhlich und frei selber etwas erfinden" (H. Becher); alle Zitate bei Köfner/Nicolaus, S. 161, 162, 181, 222.

8.4 Dauer und Ende der Verfolgung

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stigen Aufnahmeverfahren ab. Die sprachlichen Erwägungen, die das VG Wiesbaden an den Text von § 28 AuslG (insofern unverändert übernommen von § 2 AsylVfG) geknüpft hat, sind zwar einleuchtender als die des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs; beide Gerichte sind indes den semantischen Verführungen der Wortinterpretation erlegen 313 • Ob Schutz "erhalten" oder "gefunden" - das Ende der Verfolgung kann sich eben auch aus dem mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Verhalten der staatlichen Behörden des Landes ergeben, in das der Verfolgte geflohen ist. Denn ein so prognostizierter Scllutz macht das Leben des Flüchtlings verfolgungsfrei; die potentielle Verfolgung gehört dann nicht mehr zu seinen Lebensumständen. Damit hat er "in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung" erhalten wie gefunden. Auch die Überlegung, ein Flüchtling, der sich in einem anderen Land nicht als solcher zu erkennen gegeben habe, also entweder als Tourist oder illegal eingereist ist, müsse mit der Abschiebung in den heimatlichen Verfolgerstaat rechnen 31 \ ist nur dann richtig, wenn mit einer solchen Abschiebung auch ein politischer Flüchtling zu rechnen hat, der sich nach Entdeckung als solcher zu erkennen gibt. Illegalität des Aufenthalts oder anderweitiges Unterlassen der Meldung als Flüchtling läßt die Verfolgung auch in anderen Fällen nicht fortdauern: wenn der "heimliche" Flüchtling auf förmliches Asyl verzichtet, um durch das Asylgesuch Angehörige in der Heimat nicht zu gefährden, oder vom Zufluchtstaat aus das heimatliche Regime bekämpfen zu können, was ihm als anerkanntem Asylberechtigten verboten oder sonst erschwert wäre, oder um nicht im Flüchtlingslager den Werbungen von Partisanengruppen ausgesetzt zu sein 315 • In allen diesen Fällen hat die gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit geendet und ist, sofern nicht andere Umstände hinzutreten, eine künftige Verfolgung ausgeschlossen. Es kommt für das Ende der Verfolgung nicht an auf ein "bewußtes und gewolltes Zusammenwirken zwischen dem Flüchtling einerseits und den Behörden des Aufnahmestaates andererseits ... als Voraussetzung rechtswirksamen Schutzfindens"3Io. Dieses Verständnis 313 Das VG Wiesbaden hatte aus dem Wortlaut des Gesetzes ("gefunden hat" statt "erhalten hat") geschlossen, eine ausdrückliche staatliche Schutzgewähr sei nicht notwendig (U. v. 17.12.1981, bei Marx, S.106/07). Dagegen HessVGH, U. v. 23. 6. 1983, bei Marx, S. 124 und dazu bereits vorn, S. 122 ff. 314 Bad-WürttVGH, U. v. 17.1. 1983, DVB1. 1983, S. 755 = Marx, S. 115 (117). 315 "Er lief jedoch Gefahr, von den Mujaheddin, die diese Lager als Rekrutierungsbasen benutzen, in den von ihm strikt abgelehnten bewaffneten Kampf gegen das in Afghanistan herrschende System hineingezogen zu werden" (Bad-WürttVGH, DVBI. 1983, S.755 = Marx, S.119). - Zu Beschränkungen der politischen Betätigung gegen den Heimatstaat vg1. Paul Weis (FN 90), S. 123. 316 BVerwG, B. v. 5. 6. 1984, DVB1. 1984, S. 1009, 1. Sp. unter Hinweis auf HessVGH, U. v. 23. 6. 1983, bei Marx, S. 121 ff. Das BVerwG meint, die gegenteilige Ansicht finde "weder im Wortlaut noch aus Sinn, Zweck und Ent-

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8. Die Verfolgung

beruht auf der Annahme des "Rechts des Flüchtlings, sich seinen Zufluchtstaat frei wählen zu können", ein Wahlrecht, das er durch Schutzbegehren ausüben würde. Abgesehen von der vorn bereits nachgewiesenen Unrichtigkeit dieser Annahme: die Schutzgewährung in das Belieben des Flüchtlings zu stellen, hieße dem "heimlichen" Flüchtling eine Rechtsposition verschaffen, die mit der Interessenlage und den Grundgedanken des Asylrechts unvereinbar wäre. Die Dauer der politischen VerfoLgung bestimmte dann der Flüchtling. Obgleich die gegenwärtige Verfolgungsbetroffenheit objektiv geendet hat, die ernste und sonst ausweglose Notlage für den heimlichen Flüchtling also nicht mehr besteht, soll die Bundesrepublik gleichwohl verpflichtet sein, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen. Ein solches Ergebnis ist mit Art. 16 II 2 GG unvereinbar. Ein aus den genannten Gründen "heimlicher" Flüchtling ist nicht mehr verfolgt, wenn er sicher sein kann, daß er bei Entdeckung nicht der Gewalt des Verfolgerstaates ausgesetzt werden wird. Es wird diesem Flüchtling kein Asyl "aufgenötigt" oder nur "fiktiv" Schutz gewähre l7 ; es wird lediglich das Ende der Verfolgung in einem anderen Staat festgestellt, das nach Art. 16 II 2 GG den bundesrepublikanischen Asylanspruch erlöschen läßt. Das Ende der Verfolgung ergibt sich in erster Linie aus den objektiven Umständen. Der "nicht nur vorübergehende" Aufenthalt in dem anderen Staat als Kennzeichen des Verfolgungsschutzes hat zwei Bedeutungen: (1) Der andere Staat darf objektiv nicht nur "Durchgangsland" sein, der Flüchtling darf sich in ihm nicht nur kurzfristig aufhalten dürfen. Würde er nach kurzer Zeit in einen anderen Staat abgeschoben werden, ist die politische Verfolgung gemäß § 2 II AsylVfG als noch nicht beendet anzusehen. Auf diese Weise wird die sonst mögliche Abschiebungskette von Land zu Land unterbrochen und werden "refugees in orbit" vermieden. (2) "Nicht nur vorübergehender" Aufenthalt im Sinne des § 2 II AsylVfG ist nicht "dauernder" oder "dauerhafter" Aufenthalt. Diese sprachlich zulässige Auslegung versperrt die Entstehungsgestehungsgeschichte der Vorschrift eine stütze. Um sie zu tragen, müßte § 2 AsylVfG anstelle des gesetzlichen Textes lauten: Ausländer, die bereits in einem anderen Staat Schutz vor Verfolgung gefunden haben oder hätten finden können, werden nicht als Asylberechtigte anerkannt. Daß einer solchen, von ihm nicht einmal erwogenen Fassung Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit Art. 16 Abs.2 Satz 2 GG entgegengestanden hätten, ist dem Gesetzgeber erkennbar bewußt gewesen" (a.a.O., S. 1008/09). Diese Argumentation kennzeichnet die Blickverengung auf die selbstgeschaffenen Interpretationsprobleme des § 2 AsylVfG; Art. 16 11 2 GG wird zwar beschworen, seine wesentliche Voraussetzung aber gar nicht mehr geprüft. 317 So die Wendungen in dem angeführten Urteil des HessVGH v. 23.6. 1983 (bei Marx, S. 124); sie treffen rechtlich und sprachlich ebensowenig den Sachverhalt wie die in diesem Zusammenhang vorn, S. 125 f. bereits erörterte "Zuweisung" eines Asyllandes.

8.4 Dauer und Ende der Verfolgung

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schichte. Der Gesetzesbeschluß des Bundestages, der den Entwurf der

SPD/FDP-Fraktion auf Empfehlung des Rechtsausschusses in "dauer-

haft" geändert hatte, wurde auf Widerspruch des Bundesrates im Vermittlungsausschuß abgeändert und die ursprüngliche Fassung ("nicht nur vorübergehend") wieder hergestellt und so endgültig verabschiedet3l8 • Die politische Verfolgung ist deshalb auch dann beendet, hat der Flüchtling nicht eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten (oder würde er als "heimlicher" Flüchtling nach Entdeckung oder Meldung eine solche erhalten); es genügt eine Aufenthaltsgestattung, die nicht als kurzfristig anzusehen ist. Kurzfristig ist in diesem Zusammenhang ein Zeitraum von drei Monaten und weniger3U • Ein "temporary asylum" im Drittstaat beendet die Verfolgung, wenn sich der Drittstaat offiziell zwar als "Durchgangsland" versteht, dem Flüchtling aber solange Aufenthalt und Verfolgungsschutz gewährt, bis ein anderes Land ihn aufnimmt und einwandern läßt. Als "Durchgangsländer" dieser Art werden angesprochen z. B. Sudan, Somalia, Botswana und Pakistan320. Begreiflicherweise wollen sich etwa Pakistan oder Sudan nicht als Aufenthalts- oder Einwanderungsland für Flüchtlingsströme verstehen. Immerhin schützen diese Länder den Verfolgten nicht nur Monate, sondern Jahre. In diesen Fällen gleichwohl noch von einer "gegenwärtigen Verfolgungsbetroffenheit" auszugehen, wäre eine pure Fiktion. Art. 16 II 2 GG sieht den Tatbestand der politischen Verfolgung nicht als eine unverlierbare Eigenschaft, sondern als einen Zustand tatsächlicher aktueller oder potentieller Gefährdung des Verfolgten an. Werden Flüchtlinge aus solchen Drittstaaten aufgenommen, so wird ihnen nicht Asyl, sondern Daueraufenthalt, in der Regel und im Ergebnis Einwanderung gewährt. Die Gewährung von Daueraufenthalt und Einwanderung an nicht mehr oder früher einmal politisch Verfolgte mag als humanitäre Flüchtlingshilfe und zur Entlastung der von Flüchtlingsströmen betroffenen Länder geboten sein. Solche Entscheidungen obliegen indes nicht dem Bundesamt oder den Verwaltungsgerichten; für sie ist das Institut der Übernahmeerklärung aus "völkerrechtlichen, politischen und menschlichen Gründen" (§ 22 AuslG) und das "Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge" 1980 geschaffen worden. Der von Pakistan den Afghanen gewährte Verfolgungsschutz ist nicht "dauerhaft", weil das Land den afghanischen Flüchtlingen keine zeitlich Einzelheiten bei F. Bethäuser (FN 277), S. 52-56. Vgl. auch BR-Drucks. 172/82, S.8 (Beschluß zur Anrufung des Vermittlungsausschusses) und die Beschlußempfehlung des Vermittlungsausschusses BT-Drucks. 9/1792 sowie Bethäuser (FN 277), S. 56. 320 J. Henkel, in: Spaich, S. 231; Bethäuser (FN 277), S. 84, n. FN 29 verweist auf eine Auskunft des UN-Flüchtlingskommissariats v. 23.11. 1981 an das VG Karlsruhe. 318

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8. Die Verfolgung

unbefristete (bis zum Ende der Verfolgung reichende) Aufenthaltserlaubnis erteilen will; der Schutz ist zugleich "nicht nur vorübergehend", weil Pakistan keine nur kurze Aufenthaltsfrist setzt und auch nicht in ein anderes Land abschiebt oder ausweist. Pakistan und z. B. Sudan sind daher Muster des von § 2 II AsylVfG gemeinten anderweitigen Schutzes durch "nicht nur vorübergehenden" Aufenthalt, der nicht zugleich dauernder oder dauerhafter Aufenthalt ist. "Vorübergehend" ist hingegen der Aufenthalt, wenn sich der Flüchtling von vornherein nur auf kurze Frist im Lande aufhalten darf. "Vorübergehend" ist sein Aufenthalt auch dann, wenn er seine Flucht im Drittstaat nur unterbricht. Denn geflohen vor politischer Verfolgung wird nicht nur von dem einen in das andere oder angrenzende Land. Sprachkenntnisse, kulturelle Nähe, religiöse Affinitäten, Verwandte, Freunde oder Arbeitskräftebedarf in einem bestimmten Lande können den Fluchtweg beeinflussen. Wie ein Tourist kann der Verfolgte seine Fluchtroute häufig nicht planen. Die Ausstellung von Legitimationspapieren kann z. B. die Unterbrechung der Flucht erzwingen 321 • Die Einordnung des Aufenthalts im Drittstaat als Unterbrechung oder Schutz hängt von objektiven wie subjektiven Umständen ab. Objektiv von Dauer, Art und Bedingungen des Aufenthalts, subjektiv von seiner Fluchtplanung, soweit diese sich den Umständen und den glaubhaften Darlegungen des Asylbewerbers entnehmen läßt. Ein mehrmonatiger Aufenthalt im Drittstaat ist nur ausnahmsweise noch als Fluchtunterbrechung anzusehen. Nur vorübergehend hält sich der Flüchtling in dem anderen Staat auf, wenn er unverzüglich, d. h. ohne vermeidbares Zögern in den von ihm in Aussicht genommenen Zufluchtstaat weiterreist. Der Flüchtling muß deshalb nicht von vornherein das Land seiner Zuflucht bestimmt haben; eine solche Forderung wäre realitätsblind. Nach dem Verlassen des heimatlichen Verfolgerstaates aber müssen Unterbrechung, Fortsetzung und Änderung von Flucht und Fluchtroute bestimmt sein durch Momente, die durch Flucht und Verfolgung verursacht oder eingetreten sind. Das Asyl soll in einer sonst ausweglosen Notlage schützen. Die von den Staaten gewährte Möglichkeit der Zuflucht ist kein Angebot konkurrierender Einwanderungsagenturen. Der zugunsten des Asylbewerbers vielzitierte Satz des Bundesverwaltungsgerichts, ein Flüchtling könne seine Flucht nicht planen wie ein Tourist seine Reise, ist richtig, er verträgt aber einen Umkehrschluß: Wer wie ein Tourist herumreist, flüchtet nicht mehr vor politischer Verfolgung. Wer z. B. in einem anderen Lande Asyl beantragt, sich dort über ein Jahr aufhält, aber vor dem Abschluß des Anerkennungs321 BVerwG, U. v. 20.12.1960, Buchholz 402.22, Nr.7 zu Art. 1 FK; U. v. 29. 6. 1962, bei Marx, S. 95 (Nr. 3).

8.5 Die Nachflucht

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verfahrens in die Bundesrepublik reist, hatte im Drittstaat Schutz gefunden, wenn die Entscheidung für die Bundesrepublik nicht mit der Verfolgung durch den Heimatstaat oder unsicherem Aufenthalt oder mangelndem Schutz im Drittstaat zusammenhängt322 • Dieses Verständnis von Dauer und Ende der Verfolgung und des Schutzes im Sinne des § 2 AsylVfG nimmt dem Flüchtling weder ein "Wahlrecht" noch drängt es dem Flüchtling einen Zufluchtstaat auf; es zieht lediglich die Konsequenz aus dem Ende der ihm drohenden Verfolgung. 8.5 Die Nachflucht

Ein hoher Staatsfunktionär ist zur Organisation einer Ausstellung in die Bundesrepublik gereist. Er beantragt Asyl, nachdem ein Putsch die heimatliche Regierung gestürzt hat und ihre prominenten Anhänger als "Volksschädlinge" und "Wirtschaftsverbrecher" inhaftiert und erschossen werden. Im Unterschied zu den bisher erörterten Fällen ist der Antragsteller nicht vor politischer Verfolgung geflohen; der Grund seines Aufenthaltsbegehrens ist vielmehr erst nach dem Verlassen des Heimatstaates entstanden. Für diesen Fall hat sich der seltsame und sprachlich meistens verfehlte Begriff des "Nachfluchtgrundes" eingebürgert. Sprachlich ist das Wort dann verfehlt, wenn der Asylbewerber nicht "geflohen" ist, das Wort "Flucht" also nicht paßt. Doch mag diese semantische Frage auf sich beruhen bleiben. Im Ausgangsfall kann es jedenfalls keinen Unterschied machen, ob der Asylbewerber in die Bundesrepublik geflohen ist, um drohender Verfolgung zu entgehen, oder ob er aus demselben Grunde nicht in seine Heimat zurückkehren will. In beiden Fällen findet er sich ohne eigenes Zutun in jener ausweglosen Situation, die das Asylgrundrecht voraussetzt. Deshalb kann 322 In einem vom VG Minden entschiedenen Fall war eine Iranerin zunächst in die Bundesrepublik geflohen (24.3.1979), dann in die Vereinigten Staaten weitergereist (11. 7. 1979) und hatte dort erstmals Asyl beantragt. Sie kam vor Abschluß des Anerkennungsverfahrens in die Bundesrepublik zurück (22.7.1980) und beantragte hier erneut Asyl. Grund dieser Nachwahl: sie hatte in den USA einen iranischen Zahnarzt geheiratet, der lieber in der Bundesrepublik leben wollte. Das VG Minden verneinte den anderweitigen Schutz, weil der Ausgang des amerikanischen Asylverfahrens wegen der Geiselnahme in Teheran ungewiß gewesen sei; bei einem negativen Ausgang wäre die Antragstellerin vielleicht zur Ausreise aufgefordert oder sogar in ihr Heimatland abgeschoben worden (unveröff. U. v. 14.3.1984, 9 K 10780/ 180, Gründe S. 11). Das VG unterstellte nicht nur einen unsicheren Aufenthalt, sondern auch die Möglichkeit einer Abschiebung in den Verfolgerstaat. Zwar wurden damals in den Vereinigten Staaten die Aufenthaltserlaubnisse iranischer Studenten überprüft; niemand aber hatte auch nur gedroht, dem Khomeini-Regime politische Gegner oder diejenigen auszuliefern, die vor ihm geflohen waren (vgl. Archiv der Gegenwart 1980, 23197, 23202, 23439, 23447, 23 497). Solche politikfernen und lebensfremden Spekulationen gehören nicht in ein verwaltungs gerichtliches Urteil.

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8. Die Verfolgung

er grundsätzlich als Verfolgter im Sinne des Art. 16 11 2 GG angesehen werden. In der Praxis häufiger und eigentlich problematisch sind solche Sachverhalte, in denen der Asylgrund nicht, wie im Ausgangsfall, unabhängig vom Willen oder Verhalten des Asylbewerbers eingetreten ist. Drei (sich im Tatsächlichen häufig überlagernde) Fallgruppen haben Bundesamt und Verwaltungsgerichte ständig beschäftigt: (1) Flüchtlinge, die in ihren Heimatstaaten nicht individuell verfolgt waren oder solche Verfolgungen nicht ernstlich zu befürchten hatten, bei freiwilliger (aber verspäteter) Rückkehr oder Abschiebung jedoch eine Freiheitsstrafe wegen sog. Republikflucht riskieren. Zunächst handelte es sich regelmäßig um Staatsangehörige der Ostblockländer: Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, neuerdings auch Äthiopien, Angola, China und Guinea 323 • (2) Legal ausgereiste Touristen oder illegale Gastarbeiter traten in der Bundesrepublik einer Emigranten-Organisation bei, deren Mitglieder der Heimatstaat als Staatsfeinde verfolgt - innerhalb und außerhalb seiner Grenzen. Hier handelte es sich in den 50er und 60er Jahren überwiegend um Jugoslawen. Die Asylfrage wurde häufig erst erheblich, wenn der Jugoslawe in der Bundesrepublik straffällig geworden war und deshalb in seine Heimat abgeschoben werden sollte oder wenn Jugoslawien wegen gewöhnlicher Straftaten die Auslieferung verlangte324 • (3) Die durch einen Asylantrag angezeigte Abkehr vom heimatlichen Regime und die deswegen bei Rückkehr zu erwartenden Nachteile bilden die dritte und neueste Gruppe der Nachfluchtfälle; in diesem Zusammenhang sind Syrien, Irak und Äthiopien zu nennen 325• Gemeinsam ist diesen Fallgruppen die Auslösung des Verfolgungstatbestandes durch eine eigene Entscheidung des Asylbewerbers. Gewiß 323 CSSR: BVerwG, U. v. 26.10.1971 (Marx, S.680 Nr. 2); Polen: BVerwG, DVBl. 1981, S. 1095; Ungarn: BVerwGE 39, 27 (U. v. 26.10.1971); Rumänien: VG Karlsruhe, U. v. 29.1.1981 (Marx, S. 688 f., Nr.9 a); Bulgarien: VG Ansbach, U. v. 17.1. 1980 (Marx, S.680, Nr. 1); Athiopien: VG Ansbach, U. v. 28.9. 1979, InfAuslR 1980, S. 68; weitere Entscheidungen bei Marx, S. 704-712, Nr.24-31; Angola: VG Ansbach, U. v. 30.10.1981, MaTx, S. 713 f., Nr.33; China: VG Ansbach, U. v. 8. 9. 1981 (Marx, S. 714-716, Nr. 35); Guinea: BayVGH, U. v. 28.6. 1979 (MaTx, S. 390 f.). 324 BVerwG, U. v. 28. 1. 1960, MDR 1960, S.523; U. v. 1. 6. 1965, Buchholz 402.22, Nr. 14; U. v. 4.11. 1965, Buchholz ebd. Nr. 22; B. v. 10.9.1968, Buchholz 402.24, Nr. 1; U. v. 1. 7.1975, Buchholz ebd. Nr.9; BVerwGE 55, 82 (1977); s. auch HessVGH, DVBl. 1967, S.490. Aus neuerer Zeit beispielhaft BVerfGE 64, 46 ff. = NJW 1983, S. 1721-1723. 325 Syrien: B. v. 5.12.1979 (Marx, S.478. Nr. 14); Irak: VG Berlin, InfAuslR 1981, S.230 m. Anm. StTate; Athiopien: VG Stuttgart, U. v. 22.6.1982 (MaTx, S. 480, Nr. 18).

8.5 Die Nachflucht

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handelt auch derjenige, der sich in seinem Heimatstaat einer oppositionellen Gruppe anschließt und deshalb politisch verfolgt wird, aus eigener Entschließung. Es unterscheidet sich dieser klassische Fall von politischer Verfolgung von den hier in Frage stehenden Sachverhalten durch den Ort, den Ernst und die Gefahr der Herausforderung. Im ersten Fall wird die politische Gegnerschaft im eigenen Lande demonstriert, Verfolgung und Flucht über die Grenze sind die nacheinander einsetzenden Konsequenzen. Bei der Nachflucht ist es umgekehrt, politisch verfolgt wird der Asylbewerber erst durch oder nach Verlassen seines Heimatstaats, der Ernst ist zweifelhaft, Gefahr ist mit "Nachflucht" regelmäßig nicht verbunden. Die neuere Rechtsprechung hat diese Fallgruppen als grundsätzlich asylauslösend anerkannt. Viel berufener Ausgangspunkt war der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 2. 1959: Ein Jugoslawe war im Auftrag einer Belgrader Firma zur Einrichtung eines Ausstellungspavillons nach München gekommen; er beantragte nach Erledigung seines Auftrags Asyl wegen politischer Gegnerschaft, Beitritts zu einer Emigranten-Organisation ("Serbischer Nationalbund") und der "Mixed Service Organisation" (MSO), eine Hilfsorganisation der britischen Armee in Deutschland; "diese setze sich aus ehemaligen jugoslawischen Kriegsgefangenen und aus Angehörigen serbischer Truppeneinheiten zusammen, die auf der Seite der deutschen Wehrmacht gekämpft hätten. Diese seien Todfeinde des Tito-Regimes ... Schließlich sei in Jugoslawien möglicherweise bekannt geworden, daß er während des Krieges in einem deutschen Arbeitsdienst für den damaligen Wehrmachtsender Belgrad tätig gewesen sei. In diesem Fall habe er bei einer Rückkehr eine Bestrafung wegen Kollaboration zu erwarten"325. Das Bundesverfassungsgericht hatte über die Verfassungsbeschwerde gegen einen Auslieferungsbeschluß des OLG Düsseldorf zu entscheiden; nach dem Asylantrag im Oktober 1954 war am 5. Februar 1955 gegen den Beschwerdeführer Anklage erhoben worden wegen einer Reihe von Straftaten, "die er in den Jahren 1952 und 1953 als kaufmännischer Direktor des staatlichen Verlagsunternehmens ,NIN' begangen haben soll; die Straftaten wären nach deutschem Recht als Unterschlagung, Betrug, Untreue und Urkundenfälschung zu werten" (S. 175)327. An diese Einzelheiten ist deshalb zu erinnern, weil die Spezialitäten dieses Falles in der Rechtsprechung zu Art. 16 II 2 GG nach und nach außer Sicht gerieten. Das Bundesverfassungsgericht hatte betont, nur "in Ausnahmefällen" könne asylberechtigt sein, wer erst in der Bun326 BVerfGE 9, 174 (177/78); 1975 stellte das Gericht im Anschluß an ein Urteil des BayVGH v. 17. 1. 1971 fest, die Zugehörigkeit zur MSO löse in Jugoslawien keine politische Verfolgung mehr aus (BVerfGE 38, 403). 327 Das im Anerkennungsverfahren ergangene Revisionsurteil des BVerwG v. 28. 1. 1960 bei Buchholz 402.22, Nr. 10 zu Art. 1 FK.

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8. Die Verfolgung

desrepublik die Tatsachen für eine mögliche politische Verfolgung durch das Land schaffe, das seine Auslieferung begehrt (Leits. 2, S. 174). Auch sei an diesen Ausnahmefall "ein besonders (!) strenger Maßstab anzulegen; denn es muß vor allem verhindert werden, daß Ausländer nachträglich die Voraussetzungen des Asylrechts nur schaffen, um den Schutz dieses Rechtes für eine kriminelle Tat zu erschleichen" (S. 181). Während das Bundesverfassungsgericht alle Nachfluchtgründe nur "in Ausnahmefällen" anerkennt - es hat an dieser Bedingung stets festgehalten 328 - , schied die verwaltungsgerichtliche Praxis diese Einschränkungen unter dem Beifall des Schrifttums aus 329 • Die für das Asyl zuständigen Verwaltungsgerichte übersahen, daß die "Ausnahme", an die auch noch ein "besonders strenger Maßstab" zu legen ist, nicht nur für das Auslieferungsverfahren, also bei Straftätern gelten soll, sondern für jeden nachträglich geschaffenen Asylgrund. Die Abwehr der Asylerschleichung durch Straftäter ist nur ein Unterfall ("vor allem"), nicht der Ausnahmefall schlechthin. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht 328 s. B. v. 19.2.1975, BVerfGE 38, 398/402; B. v. 13.4.1983, BVerfGE 64, 59/60. 328 Zu nennen sind zunächst die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts v. 26. 10. 1971: In dem einen Fall hatte sich ein Ungar 1965 von einer Reisegesellschaft in Österreich abgesetzt und trug in der Berufungsinstanz vor, er sei inzwischen in Abwesenheit in Ungarn wegen seiner Flucht zu einem Jahr und zwei Monaten Gefängnis und zweijährigem Bürgerrechtsverlust verurteilt worden (DVBl. 1972, S. 277 m. Anm. F. Franz), In dem zweiten Fall trug der ebenfalls ungarische Antragsteller vor, er sei in Abwesenheit wegen seiner Flucht zu 22 Monaten Haft und zu sechs Monaten Haft wegen Bestechung zur Erlangung des Durchreisevisums für Jugoslawien (Paß- oder Urkundenfälschung) verurteilt worden (BayVBI. 1972, S.639 m. Anm. M. WoHenschläger). In beiden Fällen handelte es sich um Gegner des Systems, die wegen ihrer abweichenden Ansichten bereits aufgefallen und in Schwierigkeiten mit den heimatlichen Behörden geraten waren, ohne daß sich die behördlichen Maßnahmen bereits zu einer Verfolgung mit Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit verdichtet hätten. - Waren hier die Strafurteile wegen Republikflucht im maßgebenden Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung über den Asylantrag bereits ergangen, genügte dem Bundesverwaltungsgericht im Urteil v. 7.10.1975 bereits die sichere Aussicht: Die drohende Bestrafung wegen Republikflucht "verträgt keine andere asylrechtliche Beurteilung als wenn eine Bestrafung tatsächlich erfolgt wäre" (DVBl. 1977, S. 107). Im übrigen glich die heimatliche Situation des (tschechischen) Antragstellers derjenigen der beiden Ungarn. - Das Bundesverwaltungsgericht begründete die Anerkennung des Nachfluchtgrundes mit dem politisch-ideologischen Zweck der Strafen; sie hätten dieselben Ziele wie "Mauern, Stacheldraht, Minenfelder und Schießbefehle", sollten die "Abstimmung mit den Füßen" verhindern und so die kommunistische Herrschaft sichern (DVBl. 1972, S. 278). F. Franz rügte diese Begründung, weil das Asylrecht nicht dazu nötige, "ausländischen Staaten Zensuren zu erteilen"; auch R. Marx tadelte die "aggressiv antikommunistische Stoßrichtung" (S.679). Nach Ansicht beider Autoren soll die Verletzung des UN-deklarierten Menschenrechts auf Ausreise genügen (Art. 13 II AEMR, § 12 II IPbürgR). Damit aber würde das wesenhaft Politische der Republikfluchtstrafen sozialistischer Länder extrahiert und die staatliche Menschenrechtsverletzung als solche zur politischen Verfolgung erklärt. Zu dieser unrichtigen Ansicht bereits vorn S. 70.

8.5 Die Nachflucht

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1977 sogar auf das Merkmal politisch oppositioneller Gesinnung verzichtet hatte, kam es nur noch darauf an, ob äußere Handlungen des Asylbewerbers (Republikflucht, Beitritt zu Emigrantengruppen, Stellung des Asylantrages) ihn bei Rückkehr in die Heimat politischer Verfolgung aussetzen würden 880 • In den folgenden Jahren bürgerte sich - an zwei weitere Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts anknüpfend 331 - das Stereotyp ein: "Die Möglichkeit einer Bestrafung wegen einer Asylantragstellung (stellt) einen asylrechtlich beachtlichen Nachfluchtgrund dar ... Es (kommt) nach Art. 16 II 2 GG ausschließlich darauf an, ob der Asylbewerber tatsächlich begründete Verfolgungsfurcht hegt, ohne daß ihm daraus ein Vorwurf gemacht werden darf, daß er möglicherweise selbst den Anlaß für diese Verfolgung gegeben hat33!." Was als "Ausnahmefall" mit einem "besonders strengen Maßstab" begonnen hatte, mutierte zur Regel; nur gelegentlich wurde das Resultat, "daß der Kläger letztlich allein aufgrund des Asylantrages selbst die Voraussetzung dafür hat schaffen können, daß er als politischer Flüchtling anzuerkennen ist", als unbefriedigender, aber hinzunehmender Automatismus bedauert333 . Der Versuch des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, Nachfluchtgründe nur noch anzuerkennen, wenn sie "aus einer Zwangslage heraus" entstanden, sie aber zu verwerfen, wenn sie "ohne Not geschaffen wurden"334, wurde vom Bundesverwaltungsgericht in seinem aufhebenden Urteil ausdrücklich mißbilligt: "Der in BVerwGE 49, 202 entwickelte Begriff des ,Politisch Verfolgten' (Art. 16 Abs.2 Satz 2 GG) ist Einschränkungen nicht zugänglich335 ." Das Bundesverwaltungsgericht hat (nunmehr) die auf der flachen Hand liegende Problematik der Nachflucht weder übersehen noch verschwiegen; es gelte "in erster Linie, Versuchen einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylrechts zu dem Zwecke zu wehren, ein auf andere Weise für den Asylbewerber nicht erreichbares Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zu erwirken", denn es liege "klar zu Tage und ist auch in den Herkunftsstaaten bekannt, daß ein Asylantrag oft das einzige oder letzte Mittel zur Erlangung oder VerBVerwGE 55, 82 (85/86). B. v. 17.12.1978; U. v. 18.4. 1979, unveröff., bei Marx, S. 477 (Nr. 13). 332 VG Ansbach, U. v. 13.11.1981, bei Marx, S. 479 (Nr.17); weitere Beispiele bei Marx, S. 478 (Nr. 15 u. 16), S.480 (Nr. 18). 333 VG Berlin, U. v. 24. 2. 1981, InfAuslR 1981, S. 230 (231). 334 U. v. 27.1. 1983, BayVBl. 1983, S. 274!f. 335 Leitsatz des U. v. 8. 11. 1983, BVerwGE 68, 171. Diese Sentenz könnte den Anschein erwecken, das Bundesverwaltungsgericht verstände sich als Verfassunggeber oder verfüge doch wenigstens über die Kompetenz zur authentischen Interpretation. Der Leitsatz ist in den Gründen jedoch so nicht enthalten; seine problematische Fassung darf deshalb dahinstehen. 330 331

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8. Die Verfolgung

längerung einer Aufenthaltserlaubnis bildet, die zumeist aus durchaus unpolitischen Gründen angestrebt wird" (S. 174, 175). Das Gericht glaubt sich freilich an frühere Auslegungen des Asylgrundrechts und der Flüchtlingskonvention gebunden; seine "strengen Anforderungen" bleiben gerichtet auf die Frage, ob dem Asylbewerber bei Rückkehr tatsächlich politische Verfolgung drohen würde. Steht das Asylersuchen im Heimatstaat unter formeller Strafe, geht das Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich von drohender Verfolgung aus (S.176). Das bedeutet Asyl für alle Staatsangehörigen der Ostblockländer Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien, aber auch von Äthiopien, Angola, China und Guinea, eine Aufzählung, die sicher noch fortzusetzen ist. Es genügt jedenfalls, daß Asylbewerber dieser Länder in irgendeiner Weise, z. B. über Ost-Berlin, in die Bundesrepublik gekommen sind, einen Asylantrag gestellt haben und das Asylverfahren dem Heimatstaat bekannt geworden ist oder bekannt werden wird s36 • Fehlt die formelle Strafdrohung oder - das ist im Hinblick auf die gegenwärtige Entwicklung im Polen hinzuzusetzen - wird sie nkht regelmäßig realisiert, müssen "konkrete Anhaltspunkte dafür gegeben (sein), daß der Heimatstaat den Antrag als Ausdruck politischer Gegnerschaft verstehen und ihn deswegen zum Anlaß politischer Verfolgung nehmen wird" (S. 176). Für diese Prognose greift das Bundesverwaltungsgericht auf die Persönlichkeit des Asylbewerbers zurück: "Herkunft und Lebensweg, früheres politisches oder unpolitisches Verhalten im Heimatstaat, politische Aktivitäten im Gastland, Umgang mit Personen, die vom Heimatstaat als Systemgegner angesehen werden, Verbindungen zu Geheimdiensten, Aufsehen in der Öffentlichkeit, das durch ,Absprung' prominenter Repräsentanten ihres Staates entsteht (Staatsfunktionäre, Künstler, Wissenschaftler, Sportler), weil solche Personen bei Rückkehr in aller Regel mit politischer Verfolgung zu rechnen haben." Auch eine Flucht "unter Inkaufnahme von Opfern und Gefahren" indiziere politische Gegnerschaft "und daß der Heimatstaat das so sehen wird"337. Die Maßgeblichkeit dieser personalen Gesichtspunkte 33ft Der Heimatstaat kann die Stellung des Asylantrages z. B. aus dem Reisepaß erschließen, wenn der Bewerber mit dem üblichen Touristenvisum für drei Monate und dem eingestempelten Vermerk "ohne Arbeitserlaubnis" drei Jahre in der Bundesrepublik gewesen ist; s. VG Berlin und Strate, InfAuslR 1981, 230/31. 337 In dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall hatte die Klägerin "bereits vor dem Verlassen Rumäniens den dort herrschenden politischen Verhältnissen aufgrund ihrer ,Lebensprinzipien über Freiheit' ablehnend gegenüber gestanden. Diese Haltung ist auch nach außen hin in Erscheinung getreten. Schließlich ist es ihr nur dadurch gelungen, den Ostblock zu verlassen, daß sie sich unter Inkaufnahme erheblicher Gefahren in einem zur Flucht präparierten Personenwagen über eine scharf bewachte und kontrollierte Grenze unter Täuschung der hier eingesetzten Organe ... schaffen ließ" (BVerwGE 68,176/77).

8.5 Die Nachflucht

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ist zwar noch nicht als Rückkehr, wohl aber als Annäherung an die zunächst vertretene, später aber aufgegebene Ansicht zu deuten, hinter dem Beitritt zu einer Emigrantenorganisation müsse eine entsprechende politische Überzeugung stehen338 • Diese Wende in der Rechtsprechung ist zu begrüßen, denn die Abkehr von jenem Grundsatz seit 1977 339 kann nur als Fehlentwicklung betrachtet werden. Sie bedeutet zunächst eine ungleiche Behandlung der Asylbewerber. Wer vor politischer Verfolgung aus seinem Heimatstaat geflohen ist, muß durch einen schlüssigen substantiierten Tatsachenvortrag eine gegen ihn selbst gerichtete politische Verfolgung glaubhaft machen. Bei Nachfluchtgründen reicht zwar Glaubhaftmachung nicht aus, gefordert wird "voller Beweis"340, aber "beweisen" muß der Asylbewerber lediglich seinen Beitritt zur Emigrantenorganisation oder die Stellung seines Asylantrages; das dürfte ihm kaum schwerfallen. Nur wenn diese Frage unklar bleibt, trägt er die "Beweislast" mit der Folge der Abweisung seines Antrages. Für die Konsequenz der politischen Verfolgung, die nur im Heimatstaat eintreten kann, genügt wiederum Glaubhaftmachung, daß z. B. der Geheimdienst die Mitgliedschaft in der Emigranten-Organisation bereits erfahren habe oder die Teilnahme des Antragstellers an einer (von ihm selbst organisierten) Protestdemonstration gegen das heimatliche Regime durch ein Foto im "Mannheimer Morgen" dem Geheimdienst, Konsulat oder der Botschaft seines Landes bekannt geworden sei (der Antragsteller hatte die Redaktion vorher nachdrücklich auf das bevorstehende Ereignis hingewiesen und sich dem Pressefotografen gehörig ins Bild gesetzt). Im Ergebnis sorgt diese Rechtsprechung für Mitgliedernachwuchs bei Exil-Organisationen aller Spielarten. Der Beitritt zu diesen Organisationen oder - bei einigen Staaten schon der Asylantrag - wirkt durch den Nachflucht-Automatismus so, als könnte sich der Ausländer den Daueraufenthalt selbst bewilligen. Dieses Ergebnis verstößt gegen den Grundgedanken des Asylrechts, das einem Menschen aus sonst auswegloser Notlage helfen soll. Die herrschende Ansicht, diese ausweglose Notlage sei auch dann gegeben, wenn sie erst durch das Verhalten des Asylbewerbers in der Bundesrepublik entstanden sei, beruht auf einem irrigen Verständnis der in diesem Zusammenhang stets angeführten Flüchtlingskonvention und 338 BVerwG, U. v. 4. 11. 1965, Buchholz 402.22 Nr. 16 zu Art. 1 FK; B. v. 10.9. 1968, Buchholz 402.24 Nr. 1 zu § 28 AuslG; U. v. 1. 7.1975, Buchholz 402.24 Nr. 9 zu § 28 AuslG ("Regelvermutung von der Unbeachtlichkeit des Beitritts zu einer Emigrantenorganisation"). Das VG Ansbach verlangte, die politische Tätigkeit in der Bundesrepublik müsse "die Fortsetzung einer bereits in der Heimat geoffenbarten und ausgeübten politischen Aktivität gegen das Regime" darstellen (bei Marx, S. 475, Nr. 9). 339 BVerwGE 55, 82. 340 BVerwG, U. v. 13.3.1962, Buchholz 402.22, Nr. 12 zu Art. 1 FK.

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des vom Asylgrundrecht vorausgesetzten Begriffs des "Politisch Verfolgten". Die Flüchtlingskonvention von 1951 hat als politischen Flüchtling in der Tat nicht nur denjenigen beschrieben, dessen Aufenthalt im Ausland Folge der politischen Verfolgung durch seinen Heimatstaat ist, der also vor politischer Verfolgung über die Grenze floh. Der weite Flüchtlingsbegriff der Konvention - jeder, der sich wegen begründeter Furcht vor politischer Verfolgung im Ausland aufhält - ergab sich aus der Notwendigkeit, eine bestimmte vorgefundene Situation zu bewältigen, nämlich die Folgen des Zweiten Weltkrieges. Das ist schon dem Zeitpunkt zu entnehmen, vor dem das auslösende Moment des Auslandsaufenthalts stattgefunden haben mußte, und der zur Definition des politischen Flüchtlings gehörte: Konventions-Flüchtling war nur diejenige Person, die sich "infolge solcher Ereignisse, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind", aus begründeter Furcht vor politischer Verfolgung usw. im Ausland aufhielt. Im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach waren viele Menschen durch Kriegsdienst, Flucht, Verschleppung und Vertreibung über die Grenzen geraten. In ihren Heimatstaaten hatten sich inzwischen neue Regimes etabliert, etwa durch die kommunistischen Umwälzungen in Osteuropa, deren Regierungsprinzipien und Regierungsmethoden sie zu fürchten hatten; in anderen Staaten rechnete das wiedererrichtete alte Regime mit Kollaborateuren usw. ab. Bei den von diesen Ereignissen betroffenen Personenkreisen konnte eine kausale Verknüpfung von Verfolgung und Auslandsaufenthalt nicht gefordert werden. Die Beschränkung auf "Ereignisse vor dem Jahre 1951" beseitigte das Protokoll von 1967: " ... bezeichnet der Ausdruck ,Flüchtling' im Sinne dieses Protokolls jede unter die Begriffsbestimmung des Artikel I des Abkommens fallende Person, als seien die Worte ,infolge von Ereignissen, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind, '" in Art. I, Abschnitt A, Absatz 2 nicht enthalten"341. Mit dem Wegfall des Stichtages war auch die 1951 vorausgesetzte Normsituation entfallen. Jetzt hätte auf den eigentlichen Begriff des politischen Flüchtlings zurückgegangen werden müssen: wer wegen ernsthaft zu befürchtender politischer Verfolgung seine Heimat oder den Staat seines Aufenthalts verläßt. Der 1967 geänderte Text des Art. 1 I Nr.2 FK ist mit diesem klassischen Begriff des politischen Flüchtlings vereinbar; er ist für die eine wie die andere Interpretation offen. In einem solchen Fall ist diejenige Auslegung zu wählen, die dem herkömmlichen Bilde des politischen Flüchtlings und dem allgemeinen Sprachverständnis entspricht, nicht eine davon abweichende Alternative, die nur aus einer besonderen historischen Lage erklärbar war. Auch ist diejenige Interpretation vorzuziehen, die weniger zu Täuschung und Rechtsmißan BGBl. II, 1969, S. 1294.

8.5 Die Nachflucht

147

brauch einlädt. Diese Erwägungen gelten auch für Art. 16 II 2 GG, gleichgültig, ob mit dem Bundesverwaltungsgericht für den Begriff des "Politisch Verfolgten" voll auf Art.1 FK zurückzugreifen ist oder nicht342 • Die Behauptung des Gerichts, die mißbräuchliche Inanspruchnahme sei "nicht durch eine Einschränkung des Begriffs des politisch Verfolgten" zu verhindern, setzt voraus, daß sein eigenes "weites" Verständnis der neuen Fassung der Flüchtlingskonvention apriori richtig ist und dem entspricht, was das Gericht selbst ein "sachgerechtes Verständnis" nennt und als solches hervorhebt343 • Man muß schon Jurist und mit der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte seit den 70er Jahren vertraut sein, um denjenigen als politisch Verfolgten verstehen zu können, der erst im sicheren Ausland und freien Willens sich selbst die begründete Furcht vor politischer Verfolgung beschafft344 • Die genauere Bestimmung des "Politisch Verfolgten" muß das ganze Spektrum moderner Verfolgungen berücksichtigen, aber zugleich diejenigen Tatbestände ausscheiden, die in den Anwendungsbereich des Grundrechts nach seinem "Sinn und Zweck" nicht mehr hineingehörenm. Politisch verfolgt ist grundsätzlich nur derjenige, der in die Bundesrepublik flieht, um ernstlich zu befürchtenden Zwangsmaßnahmen zu entgehen, die der Heimat- oder Aufenthaltsstaat vor seiner Flucht gegen ihn wegen regimefeindlicher Gesinnung oder Betätigung anwendet, es sei denn, es handele sich nach Anlaß und Art um legitime Sanktionen des Staatsschutzes. Politisch verfolgt ist ebenso derjenige, der als (tatsächlicher oder vermeintlicher) Angehöriger eines nationalen, sozialen, religiösen oder rassischen Kollektivs von allgemeinen staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen persönlich getroffen ist. In beiden Fällen muß die Flucht Konsequenz der bereits eingesetzten oder der ernstlich befürchteten Verfolgung sein, müssen also Flucht und Verfolgung kausal verknüpft sein348 • 342 Zu der Frage von "Voll- oder Teilidentität" jetzt vermittelnd BVerwGE 68,172/73. 343 BVerwGE 68, 173 u. 174. Nur unter dieser Voraussetzung ist es keine Tautologie, wenn sich das Gericht mit drei Belegstellen auf die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts beruft: "Allen politisch VerfOlgten ist danach ein Grundrecht auf Asyl in der Bundesrepublik Deutschland garantiert (BVerfGE 56, 216, 235; im gleichen Sinne 60, 348, 359, BVerwGE 39, 27, 31)." Das steht bekanntlich schon in Art. 16 II 2 GG; fraglich ist nur, wer politisch verfolgt ist. Darauf aber antwortet die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts gerade nicht. 344 Die Formulierung lehnt sich, wie vorsorglich zu bemerken ist, an eine Wendung des Bundesverwaltungsgerichts an: " ... Asylgründe, die der Asylsuchende erst nach Verlassen des Heimatstaats selbst geschaffen hat" (BVerwGE 68, 172). :Wo Auf "Sinn und Zweck" des Asylgrundrechts beruft sich das Bundesverwaltungsgericht in E 68, 172.

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8. Die Verfolgung

Allein außerhalb des Verfolgerstaats geschaffene Verfolgungsgründe reichen regelmäßig nicht aus. Die viel zitierte Berufung auf den "Geist", in dem Art. 16 II 2 GG konzipiert worden ist, und die "Situation", auf die das Grundrecht gemünzt war 347 , stehen der generellen Einbeziehung der Nachflucht in die politische Verfolgung strikt entgegen. Es genügt, für diese Feststellung auf die vorn mitgeteilte Entstehungsgeschichte des Asylgrundrechts zu verweisen. Im Parlamentarischen Rat wollte man zwar "generös" sein, aber diese Großzügigkeit bezog sich ausschließlich auf den Verzicht, das Asylrecht je nach der gewünschten oder abgelehnten politischen Einstellung des Flüchtlings zuzuerkennen. Die damals erörterten Fälle waren so eindeutig Tatbestände vorangegangener Verfolgung im Heimatstaat, daß in diesem Zusammenhang jede Berufung auf die gemeinte "Situation" Nachfluchtgründe von der Anwendung des Art. 16 II 2 GG ausschließt. Auch wehten, wie im Hinblick auf den "Geist" zu bemerken ist, im Parlamentarischen Rat bei der Beschlußfassung über das Asylgrundrecht nicht die lauen Lüfte einer Caritas urbi et orbi. Die Asyltatbestände, die dem Parlamentarischen Rat vor Augen standen, waren jene ausweglosen Notlagen, die im totalitären Staat durch politischen Widerstand oder Zugehörigkeit zu einem geächteten Kollektiv entstehen. "Das Asylrecht wegen politischer Verfolgung soll jedenfalls nicht allgemein jedem, der in seiner Heimat benachteiligt wird und etwa in materieller Not leben muß, die Möglichkeit eröffnen, seine Heimat zu verlassen, um in der Bundesrepublik Deutschland seine Lebenssituation zu verbessern 348 ." Benachteiligung und materielle Not in der Heimat, oft auch nur (verständliche) Unzufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen sind regelmäßig die Motive für "Republikflucht" ohne zusätzliche vorangegangene politische Verfolgung. Wird in diesen Fällen das Asylrecht nur im Hinblick auf die zu erwartende Bestrafung wegen Republikflucht bewilligt, dann tritt ein, was der Asylanspruch eben nicht gewähren soll. Der Kreis der Länder, die ihren Staatsbürgern generell die Auswanderung verbieten und sie bestrafen, ist größer geworden; er umfaßt neben den Ostblockländern zunehmend auch nahund fernöstliche Staaten. Die herrschende Ansicht über die Asylerheblichkeit dieses Nachfluchtgrundes vermittelt allen Angehörigen jener Staaten über Art. 16 11 2 GG ein potentielles Grundrecht auf Einwanderung zur "Verbesserung der Lebenssituation". "Sinn und Zweck" des Asylgrundrechts werden mit dieser Folge sichtlich verfehlt.

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Zur Eigenart der Kollektivverfolgung s. O. Kimminich, BK, Er!. 224. BVerfGE 9, 180; O. Kimminich, BK, Er!. 196. BVerfGE 54, 357.

8.5 Die Nachflucht

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Die Mitgliedschaft in einer Emigrantenorganisation allein macht den Ausländer noch nicht zum "Politisch Verfolgten". Politische Aktivitäten von Ausländern sind im Rahmen des § 6 AuslG gestattet und, soweit Art. 5 GG reicht, grundrechtlich gesichert348 • Diese großzügige z. B. in der Schweiz unbekannte - Freiheitsgewährung müßte rechtspolitisch in Frage gestellt werden, wenn sie über die Reaktion des Heimatstaats und das Asylrecht automatisch zu einem Aufenthaltsrecht verhilft 3so • Das Aufenthaltsrecht für den politisch Verfolgten ist kein spezifiziertes Recht auf internationale Freizügigkeit oder ein Einwanderungsrecht für politische Aktivisten. Es ist eine Ausnahme von den üblichen Verfahren der Erwünschtheitskontrolle und soll "politisch" verfolgte Menschen aus einer sonst ausweglosen Notlage retten. Dieser Grundvoraussetzung der Asylgewährung entspricht nicht, wer erst im Ausland und in der Bundesrepublik seine Gegnerschaft zum heimatlichen System durch Beitritt zu einer Emigranten-Organisation offenbart. Die im Falle der Rückkehr ernstlich zu befürchtende Verfolgung ist hier zwar genauso real wie diejenige, die dem Flüchtling droht, der ihr gerade noch entkommen konnte. Bei dem Vergleich von "Vorflucht" und "Nachflucht" stimmt jedoch allenfalls die formale juristische Konstruktion, nicht das vom Grundrecht vorausgesetzte Bild des politisch verfolgten Flüchtlings. Wie die Gewährung des Asylrechts an den unpolitischen, mit seiner Heimat unzufriedenen Auswanderer ist auch die Selbstbewilligung des Aufenthaltsrechts durch Beitritt zu einer Emigrantenorganisation eine Perversion des Grundrechts - so war und ist es wirklich nicht gemeint. Die Auslegung des Art. 16 Ir 2 GG wird daher auf die vom Bundesverfassungsgericht 1959 vorgezeichnete Linie zurückkehren müssen: Nachfluchtgründe schaffen nur ausnahmsweise den Tatbestand politischer Verfolgung; auch ist an sie ein strenger Maßstab anzulegen3s1 • Eine Ausnahme ist z. B. anzunehmen, wenn politische Prominenz totalitärer Staaten - bekannte Staatsfunktionäre, Künstler, Wissenschaftler und Sportler - die Seite wechselt. Maßgebend ist in diesen Fällen nicht allein die größere Sicherheit politischer Bestrafung im Falle der Abschiebung in den Heimatstaaes2 oder die Ernsthaftigkeit der politiIm einzelnen K. Hailbronner, S. 138 ff. Im Hinblick auf die Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit, die der politischen Betätigung von Ausländern in der Bundesrepublik zugemessen wird, sei an Art. 16 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten erinnert: "Keine der Bestimmungen der Artikel 10, 11 und 14 darf so ausgelegt werden, daß sie den Hohen Vertragschließenden Parteien verbietet, die politische Tätigkeit von Ausländern Beschränkungen zu unterwerfen." 351 BVerfGE 9,174; 64, 59/60. 352 Darauf stellt ab BVerwGE 68,176. 349

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8. Die Verfolgung

schen Gegnerschaft; in diesen Fällen ist erfahrungsgemäß auch eine lebens- oder freiheitsgefährdende Verfolgung durch Organe des Heimatlandes im Zufluchtstaat nicht ausgeschlossen 353 • Dieselbe Gefahr droht in der Bundesrepublik aus einigen Ländern auch führenden Aktivisten von Emigrantenorganisationen354 • Kann eine solche Gefahr festgestellt werden, ist von einer gegenwärtig drohenden politischen Verfolgung im Sinne des Art. 16 II 2 GG auszugehen. Die Bejahung des Asylanspruchs in diesen Fällen bedeutet kein "Klassenasylrecht" , wie gelegentlich behauptet worden ist 355 • Denn für diese Ausländer ist die Gefahr politischer Verfolgung stets gegenwärtig, während der "normale" Flüchtling mit ihr regelmäßig nicht zu rechnen hat. Als weiterer Ausnahmefall kann schließlich derjenige Flüchtling angesehen werden, dessen exilpolitischer Aktivismus die schon im Heimatstaat unter Nachteilen und Repressalien geübte politische Opposition fortsetzt. Die Repression im Heimatstaat mag noch nicht ganz den von Art. 16 II 2 GG vorausgesetzten Härtegrad erreicht haben; es entspricht aber ein solcher Flüchtling dem vom Grundgesetz vorausgesetzten historischen Bilde des politischen Flüchtlings im Asyl. Diese Ausnahme ist indes nicht schon bei nur formeller oder einfacher Mitgliedschaft in einer Emigranten-Organisation gegeben; sie ist auch nicht an eine solche Organisation gebunden. Die exilpolitische Aktivität muß aber nach Art und Intensität ernsthaften, deutlichen und dauerhaften Charakter tragen; sie muß den Ausländer als einen profilierten Gegner des heimatlichen Regimes ausweisen. Die Reduzierung der anzuerkennenden Nachfluchtgründe auf die genannten und gleichartigen Ausnahmen liefert nicht notwendig alle "unpolitischen" Flüchtlinge den Strafmaschinerien totalitärer Staaten aus, die jede illegale Auswanderung als staatsbürgerliche Fahnenflucht ahnden. Nach allgemeinem Ausländerrecht kann die Abschiebung aus humanitären Gründen ausgesetzt werden 35G • Bereits das Ausweisungsermessen kann aus diesen Gründen eingeschränkt sein357 • Gegenüber der ungemessenen Zahl der in ihren Heimatstaaten nicht verfolgten Ausländer, die erst durch ihre Flucht die Gefahr der Verfolgung be353 Hinweis des HessVGH unter Bezugnahme auf Staschynski (BGHSt 18, 99 ff.), Argoud und Ben Barka (ESVGH 17, 165/171). 354 Erinnert sei an den libyschen Regimegegner Gebril EI Denali, der am 6. April 1985 in der Bonner Innenstadt durch seinen Landsmann Fatahi EI Tarhoni erschossen wurde, ein Mord, der als Staatsterrorismus auf fremden Boden angesehen wird (s. "Die Welt" v. 20.121. 4.1985, S. 1). 355 Schaetter, S. 113 m. weiteren Literaturnachweisen. m Zu dieser Duldung s. K. Hailbronner, S. 363/64 m. Nachw. 357 Darauf hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in seinem bereits erwähnten Urteil v. 27.1. 1983 für diesen Zusammenhang zu Recht hingewiesen (BayVBI. 1983, S.274).

8.5 Die Nachflucht

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gründen - das sind alle Einwohner totalitärer Staaten und damit mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung -, würde aber die Bundesrepublik die Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, die sie durch eine Sinn und Zweck überdehnende Grundrechtsauslegung verloren hat.

9. Auslieferung und Asyl 9.1 Der Fall Altun Der 1960 geb. türkische Staatsbürger Cemal Kemal Altun verließ legal und mit gültigem Reisepaß am 10. 11. 1980 die Türkei und reiste über Rumänien, Bulgarien, Ungarn und die CSSR in die DDR. Am 10. 1. 1981 zog er formlos nach West-Berlin zu seiner dort verheirateten Schwester und beantragte neun Monate später, am 7. September 1981, Asyl mit der Begründung, in der Türkei werde er zu Unrecht beschuldigt, an einem politischen Mord beteiligt gewesen zu sein 358 • Die deutsche Anfrage im April 1982, ob gegen Altun in einer Mordsache ermittelt werde, bestätigte Interpol Ankara am 20. Mai 1982 unter Hinweis auf einen Haftbefehl und kündigte weitere Informationen an, ob die Auslieferung beantragt werde. Mit Fernschreiben vom 28. Juni 1982 ersuchte Interpol Ankara die deutsche Polizei, Altun in vorläufige Auslieferungshaft zu nehmen; seine Auslieferung werde wegen Anstiftung zum Mord an dem ehemaligen Zollminister Gün Sazak verlangt werden, der am 27. Mai 1980 von Cengiz Gül mit einem Revolver auf offener Straße erschossen worden war3S9• Nach der Inhaftierung Altuns am 5.7.1982 3S8 Der Darstellung liegt der Bericht der Europäischen Menschenrechtskommission (EMRK) vom 8. März 1984 zugrunde (Requete Nr.l0308/83; Cemal Kemal Altun contre Republique Federale d'Allemagne); herangezogen wurden ebenso die Protokolle des Rechtsausschusses des Bundestages vom 8. 9. und 20. 10. 1983, die fallbezogenen Dokumente, die abgedruckt sind bei ArendtRojahn, S. 159 ff. sowie der Kostenbeschluß der 19. Kammer des VG Berlin vom 23. 1. 1984, abgedruckt in der Entscheidungssammlung zum Ausländerund Asylrecht, hrsg. v. M. Wollenschläger u. W. Weickhardt (EZAR), 201 Nr.6. Einzelheiten über den Reiseweg, mit dem er die Visumpflicht umging, sind in dem Schreiben des BMJ an den Minister des Auswärtigen vom 21. 6. 1983 enthalten, der umfassendste und zugleich verläßlichste Sachbericht (bei ArendtRojahn, S. 174 ff.). Sein 20 Jahre älterer Bruder Ahmet Altun, ehemaliger Abgeordneter der Republikanischen Volkspartei im türkischen Nationalrat (und dort dem extrem linken Flügel angehörend), später als politischer Flüchtling in Frankreich lebend, hatte ihn mit seinem Privatwagen von Bulgarien auf der genannten Reiseroute nach West-Berlin gebracht (Arendt-Rojahn, S.27). 358 Das Opfer war auch Vizepräsident der "Nationalen Bewegungspartei" (MHP). In Arendt-Rojahn, S. 32 f., wird Sazak als Organisator der "Grauen Wölfe" bezeichnet, "der als Zollminister diese Kommandos bewaffnete. Auf deren Konto gingen 1978 allein über 800 politische Morde". Da zugleich die sog. Grauen Wölfe "für fast alle Gewalttaten in der Türkei verantwortlich gemacht werden" (a.a.O.), sind die Schuldigen des türkischen Bürgerkrieges eindeutig markiert. Sazak ist, so wird dem Leser suggeriert, das Opfer einer mehr als gerechtfertigten, zumindest verständlichen Vergeltungs aktion ge-

9.1 Der Fall Altun

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bestätigte das Kammergericht am 22.7. 1982 die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahmes80 • Am 19. 7. 1982 übermittelte die türkische Botschaft das förmliche Auslieferungsersuchen; es stützte sich nunmehr auf Strafvereitelung und Beseitigung von Beweisstücken, nämlich der Tatwaffe, mit der Sazak ermordet worden war 361 • Das für die Zulässigkeit von Auslieferungen erst- und letztinstanzlich zuständige Oberlandesgericht382 hier das Berliner Kammergericht - entschied am 16. 12. 1982, die Auslieferung Altuns sei zulässig, weil der Tatbestand der Strafvereitelung durch Verbergen des Mörders und der Tatwaffe nach türkischem wie deutschem Strafrecht strafbar und politische Verfolgungsmotive nicht erkennbar seien 363 • Die Bundesregierung bewilligte die Auslieferung am 21. Februar 1983 unter der Bedingung, Altun dürfe nicht zum Tode verurteilt werden. Die Verwesen. Das Auswärtige Amt hat in seiner amtlichen Auskunft (an ein Verwaltungsgericht) vom 2.6.1980510/516.80 Tür ausgeführt: "Was die ,Nationale Bewegungspartei' unter Alpaslan Türkes angeht, so wird dieser und den sie unterstützenden Vereinigungen zu Unrecht ein gezieltes Anheizen des Terrors unterstellt. Es ist jedenfalls nicht richtig zu behaupten: hauptverantwortlich für den Terror sind die Killer-Kommandos des Türkes, die ,Grauen Wölfe'. Nach seriösen Schätzungen übersteigt die Zahl linksextremistischer terroristischer Elemente die der Rechtsextremisten um das Drei- bis Vierfache. Die Zahl der auf linker Seite zu beklagenden Opfer von Terroranschlägen liegt deutlich unter der Zahl der Opfer, die rechten Organisationen angehört haben" (zit. in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BTDrucks. 10/297 v. 11. 8. 1983, S. 6). - Altun selbst hat jede Beteiligung an der Tötung Sazaks bestritten; von seiner Unschuld sind auch die Autoren im Arendt-Rojahn überzeugt. 360 s. § 10 DAG, § 16 IRG. 361 Aus dem Wechsel des Tatverdachtsvorwurfs erst Anstiftung zum Mord, dann Strafvereitelung - ist geschlossen worden, die türkischen Behörden hätten den Kriminalitätsvorwurf nur vorgeschoben, um eines politischen Gegners habhaft zu werden (BT-Prot. 10/1316 D; Arendt-Rojahn, durchgehend). Es kommt im Auslieferungsverfahren häufiger vor, daß der Strafvorwurf des polizeilichen Ersuchens um vorläufige Auslieferungshaft im nachfolgenden diplomatischen Ersuchen um Auslieferung präzisiert oder auch geändert wird. Unrichtig ist jedenfalls die Behauptung, Interpol Ankara habe "haltlose Mordvorwürfe vorgeschoben", wie das bei Marx zu lesen ist (S.798, Nr.8). 382 § 6 DAG, seit dem 1. 7. 1983 §§ 12, 13 IRG. 363 Der Beschluß ist abgedruckt bei Marx, S. 206-208. Über die Fortdauer der Auslieferungshaft entschied das KG am 8. 11., 16. 12. 1982, am 10. 2. und am 11. 4. 1983. - Übrigens wäre auch bei Annahme politischer Tatmotive die Auslieferung zulässig gewesen; bei einer "Beteiligung" an einem Mord oder einem Totschlag - der Begriff geht über den der "Teilnahme" hinaus und schließt die Altun vorgeworfene Begünstigung (§ 258 StGB) ein - ist die Auslieferung zulässig, wenn es sich um eine politische Tat handelt (Art. 2 EuTerrüb, § 6 I 2 IRG). Art. 16 II 2 GG hätte in diesem Fall der Auslieferung dann entgegengestanden (BVerfGE 60, 348 ff.), wenn zu erwarten gewesen wäre, daß die Strafe für Altun innerhalb des zugesicherten Strafrahmens aus illegitimen politischen Gründen höher als bei gemeiner Kriminalität ausfallen würde oder seine Lage in Strafverfahren und Strafhaft aus diesen Gründen erschwert werden könnte (s. Art. 5 EuTerrüb).

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9. Auslieferung und Asyl

fassungsbeschwerden, die Altun durch seine Anwälte - RA Wieland, Berlin, und der in Kiel ansässige türkische Anwalt Kaya - gegen die Beschlüsse des Kammergerichts und der Bundesregierung erhoben hatte, nahm der Vorprüfungsausschuß des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung an3U • Nachdem sich Altun im März 1983 bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte beschwert hatte, stellte die Bundesregierung auf Antrag des Kommissions-Vorsitzenden vom 17.3.1983 den Vollzug der Auslieferung vorläufig zurück. Zugleich mobilisierten politische Freunde und die Interessenorganisationen die Öffentlichkeit3e6 • Am 6. April 1983 verurteilte ein türkisches Militärgericht, das gegen drei Tatbeteiligte verhandelt hatte, den der Mittäterschaft am Mord für schuldig befundenen Ahmet Levent Babacan zum Tode; da er die Tötungswaffe nicht selbst führte - das wird dem noch flüchtigen Cengiz Gül zur Last gelegt - , wurde die Todesstrafe in lebenslange Freiheitsstrafe umgewandeIt3°o. Verurteilt wurde Babacan nicht aufgrund des Mordparagraphen des türkischen Strafgesetzbuches (Art. 450), sondern wegen Hochverrats (Art. 146), weil eine Gewalttat in hochverräterischer Absicht nach türkischem Recht den Mordtatbestand zurück304 B. v. 1. 2. 1983 und v. 16.3.1983; der zweite Beschluß mit Gründen abgedruckt in EuGRZ 1983, S.262 u. bei Marx, S.211-213: Abgesehen von den alliierten Vorbehaltsrechten in Berlin, die einer Prüfung des Beschlusses des KG durch das BVerfG entgegenständen, halte sich die Auslieferungsbewilligung der Bundesregierung im Rahmen des Europäischen Auslieferungsübereinkommens; das Asylgrundrecht sei ersichtlich nicht verletzt. 305 Den Presseberichten und Aktionen gegen die Auslieferung Altuns ist in Arendt-Rojahn eine eigene Darstellung gewidmet (S. 62 ff.). Die Reaktionen auf die Auslieferungsbewilligung der Bundesregierung im März 1983 werden so geschildert: "Buchstäblich in letzter Minute war die Auslieferung durch eine europaweite Welle von Protesten, Erklärungen und Interventionen gestoppt worden, an der sich Abgeordnete aus der Schweiz, Dänemark, England, Bischof Lohse, der Präsident der Raiffeisenbank, amnesty international, humanistische Organisationen, das Kommissariat der Bischöfe, der Hohe Flüchtlingskommissar, mehrere Anwaltsvereinigungen sowie der Europarat beteiligten. Prof. Wolf-Dieter Narr, Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie, appelliert an den neuen Justizsenator Oxford .. , Kemal Altun das politische Asyl zu gewähren. Außenminister Genscher, der sich gerade in Straßburg befand, wurde von dem Präsidenten des Europäischen Parlaments, Herrn Pieter Dankert, im Flur des Parlamentsgebäudes angesprochen ... " (Arendt-Rojahn, S. 35). Hungerstreik-Aktionen in Berliner Kirchen, "Mahnwachen" folgten; am 15. Juni 1983 lassen sich Petra Kelly, Wolf Biermann, Lukas Beckmann und eine Vertreterin des Komitees in einem Stahlkäfig am Zaun des Kanzleramts anketten. "In der Tagesschau kann die deutsche Bevölkerung verfolgen, wie Biermann im Polizeigriff zur Feststellung seiner Personalien abgeführt wird" (Arendt-Rojahn, S. 39). 306 Der Mittäter Sadik Zafer Özcan er hatte den Tatort gesichert - erhielt eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren, der Beteiligte Cem Cez drei Jahre Freiheitsstrafe. Daraus schloß das BMJ zu Recht, Altun werde als nur Beteiligter zu einer befristeten Freiheitsstrafe verurteilt werden (Arendt-Rojahn, S.178).

9.1 Der Fall Altun

155

treten läßt. Babacan war Mitglied von DEV-SOL ("Linker Weg"), eine auf der äußersten Linken angesiedelte Extremistengruppe. Altun war nach seinen Angaben Mitglied der bereits unter der Regierung Demirel verbotenen linksrevolutionären DEV-GENC und Gründungsmitglied der (ebenfalls verbotenen) "Vereinigung revolutionärer Schüler"387. Die türkische Botschaft erklärte der Bundesregierung am 26. 4. 1983 erneut und förmlich, Altun werde allein wegen Begünstigung durch Strafvereitelung entsprechend § 258 StGB angeklagt werden; er mußte also höchstens mit einer fünf jährigen Freiheitsstrafe rechnen388 . Die Bundesregierung unterrichtete die türkische Regierung über die Beschwerde Altuns bei der Europäischen Menschenrechtskommission. Sie bat die türkische Regierung um die Versicherung, daß im Falle der Auslieferung ein Angehöriger der deutschen Botschaft Altun regelmäßig und ohne Kontrolle besuchen dürfe, um sich über seinen Gesundheitszustand und die ihm widerfahrende Behandlung zu unterrichten. Die türkische Regierung sagte am 8. 7. 1983 auch die Erfüllung dieser Bedingung ZU 389 . Die Europäische Menschenrechtskommission verhandelte am 2.5.1983 mit den Anwälten Altuns und den Vertretern der Bundesregierung. Nach Unterrichtung über die Zusicherung der türkischen gegenüber der Bundesregierung entschied die Kommission am 15. Juli 1983, ihre Bitte um Aussetzung des Vollzuges der Auslieferung nicht zu verlängern; eine Sachentscheidung wurde noch nicht getroffen 370. 387 Zur Persönlichkeit Altuns s. die Grabrede seines deutschen Anwalts und den Bericht seines Bruders Ahmet Altun (Arendt-Rojahn, S. 11 ff., 23 ff.). 368 Grundsatz der Spezialität (Art. 14 EuAuslÜb, § 6 DAG, § 11 IRG). 369 Diese Zusage verstand sich keineswegs von selbst; Altun war schließlich nicht deutscher, sondern türkischer Staatsangehöriger. Staaten mit Selbstachtung werden derartige Inspektionsbefugnisse wohl nur unter besonderen Umständen einräumen. Im Bereich der Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Straferkenntnisse haben die türkische und die Bundesregierung am 11.112. 10. 1983 vereinbart: "In besonderen Einzelfällen gewährt der ersuchte Staat einem Konsularbeamten des ersuchenden Staates die Möglichkeit eines Besuches beim überstellten.", d. h. der Konsularbeamte des Staates, in dem der Straftäter verurteilt worden ist, kann den anschließend überstellten in seinem Heimatstaat, in dem er die Strafe verbüßt, besuchen. Es gilt diese Regelung also für Türken, die in der Bundesrepublik verurteilt, zur Strafverbüßung aber in die Türkei überstellt worden sind, und für deutsche Staatsbürger, die in der Türkei verurteilt und zur Strafverbüßung in die Bundesrepublik überstellt wurden. Auf Auslieferungsfälle ist diese Regel naturgemäß nicht anwendbar. 370 In der späteren Debatte des Falles Altun spielten Briefe des Bundesinnenministers Zimmermann an den Bundesjustizminister und des Staatssekretärs Dr. KinkeI, BMJ, an das Auswärtige Amt, beide vom 21. 7. 1983, eine Rolle. Der Bundesinnenminister hatte unmittelbar nach seiner Rückkehr von einem Türkeibesuch dem Bundesjustizminister in der Sache Altun geschrieben: "Im Interesse der Fortführung einer nach wie vor guten Zusammenarbeit mit der Türkei auf polizeilichem Gebiet, aber auch im Interesse der Glaubwürdigkeit des Auslieferungsverkehrs mit der Türkei insgesamt, bitte

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9. Auslieferung und Asyl

Das Asylverfahren vor dem Bundesamt endete am 6. Juni 1983 mit der Anerkennung Altuns als politisch verfolgt. Das Bundesamt stützte sich ausschließlich auf Nachfluchtgründe: "Es kann dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller, Bruder eines ehemaligen CHP-Abgeordneten, der zur Zeit in Frankreich im Exil lebt, wegen seiner politischen Aktivitäten in der Türkei, u. a. der Mitgliedschaft in der DEV-GENC-Föderation, bei einer Rückkehr eine Verfolgung aus politischen Gründen zu befürchten hätte. Jedenfalls ist dem Asylbewerber wegen nach Verlassen des Heimatstaates eingetretener Umstände eine Rückkehr zum jetzigen Zeitpunkt nicht zumutbar. In den Medien ist dem Schicksal des Antragstellers, der entgegen der üblichen Praxis - abgesehen von wenigen Ausnahmen - mit seinem vollen Namen benannt wurde, ohne dessen unmittelbares Zutun breiter Raum eingeräumt worden. Dies ist den türkischen Behörden auch bekannt geworden (Blatt 1011107; 102/108 der Akte). Darauf zurückgehende zu erwartende Maßnahmen des türkischen Staates sind zumindest auch als politische Verfolgung qualifizierbar. Das Bundesamt ist deshalb der Überzeugung, daß der Antragsteller im Falle seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asyl erhebliche Verfolgung zu erwarten hat 371 ." Diese ich Sie, die Bewilligungsentscheidung vom 21. Februar 1983 für vollziehbar zu erklären, damit die Auslieferung unverzüglich durchgeführt werden kann. Angesichts der weitgehenden Zusicherungen der Türkei besteht ein rechtfertigender Versagungsgrund, der die Auslieferung hindern könnte, nicht." (Ohne den letzten Satz zitiert in BT-Prot. 10/1316 B/e, vollständig in ArendtRojahn, S. 182). Unabhängig von diesem Schreiben, das am 22.7. beim BMJ einging, hatte StS Kinkel die Entscheidung der EMRK zum Anlaß genommen, sich am 21. 7. 1983 beim AA für das Einvernehmen über den Vollzug der Auslieferung einzusetzen (bei Arendt-Rojahn, S. 174-181). 371 Vollständiger Text bei Arendt-Rojahn, S.170 f. Diese Begründung jedenfalls ist, auch wenn man Nachfluchtgründe generell anerkennen will, unakzeptabel. Die Asylbewilligung hinge von der Fähigkeit des Asylbewerbers und seiner Freunde ab, den Einzelfall in die Medien zu bringen. Die vom Bundesamt prognostizierte Reaktion auf publizierte Fälle widerspricht auch den Erfahrungen mit totalitären Systemen allgemein - die Wirksamkeit z. B. von amnesty international beruht auf ihrem Zugang zu den Medien - und den Erfahrungen mit Ausgelieferten an die Türkei im besonderen. Die Behauptung von amnesty international, Altun habe in der Türkei die Folter zu erwarten (s. Marx, S. 798 Nr. 10) war nach bisherigen Erfahrungen in Auslieferungs sachen falsch (s. Protokoll des Rechtsausschusses vom 28.9. 1983, S.57, 70 ff.). - Zur Entscheidung des Bundesamts wurde im Bundestag am 8.9.1983 aus dem Schreiben des BMJ v. 21. 7. 1983 an das AA folgender Text zitiert: "Ferner ist aus der bekannten Einstellung der 19. Kammer des Verwaltungsgerichts Berlin ... nicht zu erwarten, daß das Verfahren mit der am 25. August 1983 zu erwartenden Entscheidung ... beendet werden könnte. Es ist vielmehr davon auszugehen, daß die Kammer die Klage des Bundesbeauftragten abweist. Dieser hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache bereits angekündigt, dagegen Rechtsmittel einzulegen. Eine Entscheidung, den rechtskräftigen Abschluß des Asylverfahrens abzuwarten, würde aber praktisch zur Unmöglichkeit der Auslieferung führen. (Es) besteht (dann) keine Sicherheit mehr, die Auslieferung auch vollziehen zu können" (BT-Prot. 101 1315 D). Die Gründe des Kostenbeschlusses des VG Berlin v. 13. 1. 1984 bestätigen die Vermutung des BMJ.

9.1 Der Fall Altun

157

Entscheidung wurde nicht bestandskräftig, weil gegen sie der Bundesbeauftragte klagte 372 • Die erste mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Berlin am 25. August wurde vertagt auf den 30. August 1983; es sollte die Erklärung der türkischen Regierung abgewartet werden, neue Ermittlungen über den Tatbeitrag Altuns in der Türkei durch einen türkischen Anwalt zu unterstützen. Diese Zusage gab die türkische Regierung am 29. August. Am 30. August wartete Altun mit seinem Verteidiger und dem Dolmetscher auf das Eintreten der Richter. Plötzlich sprang er auf und stürzte sich aus einem offenen Fenster des im sechsten Stock gelegenen Sitzungssaals; er verstarb im Krankenwagen 373 • Die Ursachen seines Suizids sind ungeklärt; dieses Ende überraschte auch seine Anwälte. Der deutsche Anwalt Altuns, der nach dem Urteil des Staatssekretärs im Justizministerium, Dr. Kinkei, die Interessen seines Mandanten "engagiert" und "bewunderungswürdig" vertreten hatte, war über den Ausgang des Asylverfahrens vor dem VG Berlin zuversichtlich. Der Vorsitzende des Verwaltungsgerichts hatte in der Sitzung am 25. August erklärt, Altun könne davon ausgehen, daß die Auslieferung nicht unmittelbar bevorstehe; eine entsprechende Zusage hatte das Justizministerium dem Verwaltungsgericht wegen § 18 Satz 2 AsylVfG nicht gegeben. Der Staatssekretär hatte dem Anwalt aber eine Sonderbehandlung für Altun zugesichert, nämlich eine Ausnahme von dem deutschen und kontinentaleuropäischenPrinzip, den Tatvorwurf des Auslieferungsbegehrens nicht selbst nachzuprüfen 374 • Das ergibt sich aus einem Schriftsatz des Anwalts Wieland an das VG Berlin vom 9. 8. 1983, in dem es heißt: "In einer Unterredung des Unterzeichners mit dem Staatssekretär im Bundesjustizministerium, Herrn Dr. Kinkei, gab dieser die Zusicherung, daß sich das Justizministerium in Kooperation mit dem Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten bemühen werde, eine weitere Sachaufklärung in der Türkei zu ermöglichen. Der Staatssekretär erklärte, daß die Frage, ob die Vorwürfe in dem Aus372 §§ 12, 5 11 AsylVfG. Der Bundesbeauftragte klagt nur selten; in den ca. 27000 Verfahren, die 1982 bei den erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten anhängig wurden, hatte der Bundesbeauftragte nur in 23 Fällen Klage gegen die Entscheidung des Bundesamts erhoben. 373 Eine AP-Reporterin, die im Gerichtssaal von Altun Portraitaufnahmen machen wollte, fotografierte den Vorgang; die Bilder sind wiedergegeben bei Arendt-Rojahn, S. 8/9 u. 15. 374 Allg. M.; s. BGHSt 4, 44; BVerfGE 60, 348 ff. Selbständig nachgeprüft (sog. Qualifikationskompetenz) wird indes, ob es sich um eine "politische" Straftat oder um vorgeschobene Kriminalität handelt, um eines politischen Flüchtlings habhaft zu werden (s. Art. 3 EuAuslüb und § 6 IRG sowie BVerfGE 59, 280); diese Prüfung "kann in seltenen Fällen so weit gehen, daß sie in ihren Auswirkungen einer Nachprüfung des Schuldverdachts nahekommt" (OLG Karlsruhe, B. v. 9. 8. 1978, Ausl. 18178, zust. zit. in der Amtl. Begr. zum IRG, BT-Drucks. 9/1338, S. 41).

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9. Auslieferung und Asyl

lieferungs begehren gegen den Beigeladenen zu Recht erhoben würden, für die Bewilligung der Auslieferung seitens des Ministeriums VOn ausschlaggebender Bedeutung sei. Insoweit ist für den Beigeladenen Altun eine neue Situation entstanden376 ." Die "weitere Sachaufklärung in der Türkei" durch einen türkischen Anwalt schob den Vollzug der Auslieferung weit hinaus. Da Altun bereits 13 Monate in Auslieferungshaft saß, wäre diese Haft im Hinblick auf die zu erwartende Höchststrafe von fünf Ja:hren wegen Unverhältnismäßigkeit nicht mehr lange aufrechtzuerhalten gewesen. Unbeschadet des Asylstreitverfahrens vor dem Verwaltungsgericht: die Freilassung Altuns war nur noch eine Zeitfrage und deshalb der Vollzug des Auslieferungsbegehrens so gut wie ausgeschlossen. Altun war jedoch nach der Lektüre des erwähnten Urteils des türkischen Militärgerichts vom 6. April 1983 äußerst niedergeschlagen. Die Tatbeteiligten und Zeugen - ausgenommen der Hauptangeklagte Babacan - hatten ihn im Sinne des Tatvorwurfs des Auslieferungsantrages übereinstimmend belastet; darüber hinaus hatten sie Altun als den eigentlich hinter dem Mord stehenden Kopf dargestellt, der sie angestiftet habe371 • Auch ist die Gemütsverfassung eines jungen Mannes nicht mit normalen Maßstäben zu messen, der als 20jähriger in einen politischen Mord verwickelt ist (dessen jedenfalls beschuldigt wird), ins Ausland flieht, 13 Monate in Auslieferungshaft zubringt, das Objekt mehrerer Verfahren, zugleich auch vielfacher Unterstützung und Publizität ist. über die Motive seines Selbstmordes ist an dieser Stelle nicht zu spekulieren; durch ihn wird nichts bewiesen und nichts widerlegt 377 • Nach dem Tode Altuns forderten die Fraktionen der SPD und der Grünen den Rücktritt der Minister Zimmermann (Inneres) und Engelhard (Justiz), Anträge, über die am 8.9.1983 eine lange und lebhafte Aussprache stattfand, an der auch Bundeskanzler Kohl und Oppositions375 Die Richtigkeit dieser Mitteilung hat StS Kinkel am 28.9. 1983 in der Sitzung des Rechtsausschusses des Bundestages bestätigt (Protokoll Nr. 7, S. 75). Dem Anwalt wurde fernerhin zugesichert, "ihn bei dem Versuch in der Türkei zu unterstützen, durch Einsichtnahme in die polizeilichen, staats anwaltschaftlichen, Gerichts- und Rechtsanwalt-Akten und durch Gespräche mit Rechtsanwälten dem Tatvorwurf näher nachzugehen." (Protokoll Nr. 8, S.20). m Das Militärgericht berücksichtigte für seine Urteilsfindung nur solche Aussagen, die nicht als "unter Druck" abgegeben widerrufen worden waren (s. Protokoll des Rechtsausschusses v. 28. 9. 1983, S. 51, 80 f.). 377 Die interessierten politischen Gruppen personalisierten Altun und seinen Tod für ihren propagandistischen Kampf gegen die türkische Militärregierung, die NATO, die Koalition der gegenwärtigen Bundesregierung und die angebliche Ausländerfeindlichkeit von Bevölkerung, Verwaltung und Gerichten in der Bundesrepublik. Die einschlägigen Agitationstechniken werden durch den von Arendt-Rojahn herausgegebenen Band durchgehend demonstriert.

9.2 Auslieferungs- und Anerkennungsverfahren im Vergleich

159

führer Vogel teilnahmen; die Anträge wurden in namentlicher Abstimmung abgelehnt378 • Im Rechtsausschuß des Bundestages wurde der beamtete Staatssekretär des Justizministeriums, Dr. Kinkei, in zwei Sitzungen ausführlich zum Fall Altun befragt379 • Die Fraktion der Grünen beantragte am 28. 9. 1983, die Fraktion der SPD am 22. 2. 1984, das Asylverfahrensgesetz und das IRG zu ändern, um u. a. die Asylentscheidungen des Bundesamts und der Verwaltungsgerichte für die Oberlandesgerichte und die Bundesregierung im Auslieferungsverfahren verbindlich zu machen 380• 9.2 Auslieferungs- und Anerkennungsverfahren im Vergleich In den parlamentarischen Beratungen wurde vor allem die Auslieferungspraxis gegenüber der Türkei und die Behandlung des Falles Altun durch die Ministerien der Justiz und des Inneren angegriffen. Aber nicht deshalb ist der Fall Altun hier rekapituliert worden. So ungewöhnlich sein Ausgang gewesen ist; der Fall ist exemplarisch für Möglichkeiten und Grenzen des Rechtsschutzes und der Rechtsverwirklichung. Zur Rechtsverwirklichung gehört nicht nur das Asylgrundrecht eines politisch verfolgten Altun, sondern auch der völkervertragsrechtliche, auf dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen beruhende Anspruch des türkischen Staates auf Auslieferung gegen die Bundesrepublik. Diese Ansprüche gegen die Bundesrepublik wurzeln in verschiedenen Rechtsgrundlagen - Verfassung, völkerrechtlicher Vertrag -, berechtigen verschiedene Anspruchsinhaber - Asylbewerber, ausländischer Staat -, dienen verschiedenen Interessen: dem Schutz des politisch Verfolgten und der staatlichen Verfolgung von Kriminellen und politischen Gewalttätern. Diese Unterschiede prägen auch die bürokratischen und judiziellen Verfahren, welche die Ansprüche verwirklichen sollen. Den Auslieferungsantrag des fremden Staates prüft zunächst ein Obergericht, nämlich ein Strafsenat des örtlich zuständigen Oberlandesgerichts in erster und letzter Instanz (§ 8 II DAG, §§ 12, 13 IRG). Diese Zuständigkeit wird den Ansprüchen an Sachkunde für den Einzelfall und protokollarischem Respekt vor dem Antragsteller gleichermaßen gerecht; die Beschränkung auf eine gerichtliche Instanz ist der Eilbedürftigkeit der Entscheidung über die Auslieferung ebenso ange378 Anträge 10/333 neu, 10/342; BT-Prot. 10/1243-1328. Die Pressemitteilung der "Grünen" Nr. 310/83 v. 30. 8. 1983 ist lesens- und erwähnenswert als ein Muster von Sachverhaltsverachtung, Vorurteilspflege und Demagogie. m 7. Sitzung am 8. 9. 1983 (Prot. S.44-81), 8. Sitzung am 20. 10. 1983 (Prot. S.13--40). 380 BT-Drucks. 10/423, BT-Drucks. 10/1025.

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9. Auslieferung und Asyl

messen wie dem Prüfungsgegenstand: das Oberlandesgericht soll nicht die Tat aufklären und das Strafverfahren im Ausland vorwegnehmen 381 • Die "Bewilligung" der Auslieferung durch die Bundesregierung nach positiver Entscheidung des Oberlandesgerichts hat zunächst eine völkerrechtliche Funktion, ist ein völkerrechtliches Rechtsgeschäft: Da für die Auslieferung zwei Staaten zusammenwirken müssen - sie schließen (regelmäßig auf der Basis ihres zwei- oder mehrseitigen Auslieferungsvertrages) für jeden einzelnen Auslieferungsfall einen völkerrechtlichen Vertrag 382 - , muß die für den Staat insgesamt zuständige Bundesregierung das "Vertragsangebot" (Auslieferungs antrag) durch Bewilligung der Auslieferung annehmen38s • Dieser völkerrechtlichen Vertragssituation entsprechend liefen alle Verhandlungen über die Auslieferung Altuns über die türkische Botschaft in Bonn und das Auswärtige Amt; Kammergericht, Bundesverfassungsgericht sowie die Bundesministerien der Justiz und des Innern waren nur intern vorgeschaltete oder vorschaltbare Instanzen. Die abschließende Zuständigkeit der Bundesregierung erlaubt eine zusätzliche Prüfung, die außerrechtliche Interessen des Auszuliefernden sowie innerstaatliche wie zwischenstaatliche Faktoren berücksichtigen könnte - Erwägungen, die das Oberlandesgericht in seiner auf den Rechtsfall und die juristische Zulässigkeitsfrage beschränkten Entscheidungsfindung weder einbeziehen kann noch einbeziehen darf 384 • Vgl. FN 374. s. bereits H. Triepet (FN 302), S. 71 f.; grundlegend Theo Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz, 1970, S. 32 ff., 43 ff.; M. Schröder, BayVBl. 1979, S. 231 ff. Das BVerfG hat sich dieser Ansicht angeschlossen (BVerfGE 50, 244/ 248 f.). 383 Für die Bundesregierung handelt der "Bundesminister der Justiz im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und mit anderen Bundesministern, deren Geschäftsbereich von der Rechtshilfe betroffen wird" (§ 74 I 1 IRG). Für die generell als unproblematisch angesehenen Auslieferungsersuchen Dänemarks, der Niederlande, Österreichs und der Schweiz ist die Bewilligungsbefugnis auf die Landesregierungen übertragen worden (§ 74 II IRG, Zuständigkeitsvereinbarung v. 22. 11. 1983, s. BAnz. v. 29.11.1983). Zum früheren Recht vgl. § 44 DAG. 384 Innerstaatlich gibt die Bewilligung die überstellung des Auszuliefernden frei; da seine Rechte im Verfahren vor dem Oberlandesgericht bereits geprüft worden sind und im Verfahrensstadium der Bewilligung individuelle Rechtspositionen keinen notwendigen Entscheidungsgegenstand bilden, kann die Bewilligung Rechte und Grundrechte des Auszuliefernden nicht mehr verletzen. Vgl. hierzu Th. Vogter (FN 382), S. 318 ff.; M. Schröder, BayVBl. 1979, S. 232 unter Hinweis auf einen entsprechenden Beschluß des Vorprüfungsausschusses des 1. Senats des BVerwG v. 19. 10. 1966, 1 BvR 607/66. Ob gleichwohl die Bewilligung nicht nur völkerrechtliches Rechtsgeschäft ist, sondern zugleich Verwaltungsakt (s. OVG Münster, DVBl. 1963, S. 731 ff.), kann dahinstehen, da eine verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage gegen die Bewilligung mangels möglicher Rechtsverletzung unzulässig und eine andere Klage mangels Rechtsschutzbedürfnis unbegründet wäre, s. A. Jannasch, Festschrift Hans Joachim Faller, 1984, S.399. 381

382

9.2 Auslieferungs- und Anerkennungsverfahren im Vergleich

161

Der Fall Altun demonstriert, besonders in seiner Entwicklung zwischen dem 21. 7. und 29.8. 1983, wie die drei beteiligten Ressorts die Interessenlagen unterschiedlich bewerteten und die Beratungen zu einer neuen Gewichtung der Gesichtspunkte führten. Im Fall Altun beschäftigten sich drei Bundesminister persönlich mit einem Auslieferungsantrag, bei dem es für die Beteiligten und aus damaliger Sicht keineswegs "um ein Menschenleben" ging, sondern um (höchstens) fünf Jahre Freiheitsstrafe für einen der Beteiligung an einem Mord dringend verdächtigen Täter; bei Fortdauer der Meinungsverschiedenheiten hätte die Bundesregierung in corpore über die Auslieferung Altuns entscheiden müssen. Der justizielle Aufwand auf der einen Seite - Kammergericht, Bundesverfassungsgericht, Europäische Kommission für Menschenrechte - entspricht der Entscheidungshöhe auf der Seite der Exekutive. Nur selten dürfte es einem Inländer gelingen, so viel und so vielfältige staatliche Aufmerksamkeit zu erregen. Bei den Prozeduren der Asylanerkennung hingegen ist ein anderer Staat nicht unmittelbar beteiligt; auch setzt die Asylberechtigung die Feststellung eines tatsächlichen Sachverhalts voraus (§ 12 AsyIVfG), nicht die rechtliche Prüfung des Straf anspruchs eines fremden Staates. Die deutsche Gesetzgebung (AsylVO, AuslG, AsylVfG) läßt zunächst Verwaltungsbehörden über den Asylantrag entscheiden (Ausländerbehörden, Bundesamt), obgleich man sich - der Übernahme von Verwaltungsaufgaben durch die freiwillige Gerichtsbarkeit entsprechend auch eine primäre Zuständigkeit von Gerichten, z. B. der Verwaltungsgerichte vorstellen könnte 385 • Entscheidet über die Zulässigkeit der Auslieferung das Oberlandesgericht und über die Bewilligung die Bundesregierung, so über den Asylantrag ein (weisungsungebundener) Bediensteter des Bundesamts, der auch dem gehobenen Dienst oder einer vergleichbaren Angestelltenklasse angehören darf (§ 4 III AsyIVfG), seine Entscheidung kann der Antragsteller oder der Bundesbeauftragte anfechten. Die Klagemöglichkeit des Antragstellers ergibt sich aus § 40 VGO und Art. 19 IV GG, folgt also der allgemeinen für Verwaltungsakte gültigen überprüfungsregel, die Klagebefugnis des Bundesbeauftragten aus dem Asylverfahrensgesetz (mit den prozessualen Besonderheiten der §§ 30 ff. AsyIVfG). Je für sich betrachtet folgen Asylverfahren und Auslieferungsverfahren den verschiedenen Bedürfnissen des Prüfungsobjekts und den im Rechtssystem angelegten Verfahrensrouten. Das Auslieferungsverfahren stößt auf den entscheidungserheblichen Punkt des Asylverfahrens, wenn der Auszuliefernde "politische Verfolgung" vorträgt. Bevor 385

s. Qua.ritsch, VDStRL 41, 1983, S. 239 ff.

11 Quaritsch

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9. Auslieferung und Asyl

die gesetzliche Regelung in § 3 DAG, § 6 IRG, § 45 AuslG und § 18 AsylVfG erörtert wird, sei auf die rechtstatsächliche Bedeutung dieser Verfahrenskonstellation hingewiesen. Es werden jährlich etwa 300 Auslieferungsanträge gestellt, von denen 80 v. H. bewilligt, 10 v. H. abgelehnt werden; der Rest erledigt sich auf andere Weise388 • Der Bewilligung geht nur in 40 v. H. aller Anträge (120) das Verfahren vor dem Oberlandesgericht voran; in den anderen Fällen wird auf das förmliche Auslieferungsverfahren verzichtet, weil und "wenn sich der Verfolgte nach Belehrung zu richterlichem Protokoll mit dieser vereinfachten Auslieferung einverstanden erklärt hat"387. Im statistischen Mittel entscheidet also jährlich jedes der 19 Oberlandesgerichte über sechs Auslieferungsanträge. Hingegen lag die Zahl der gerichtlichen Asylverfahren 1982 bei 27 000 Zugängen; in diesem Jahr beendeten die Verwaltungsgerichte erster Instanz 41790 Verfahren 388• So wenig sich die Auslieferungsverfahren neben den Asylverfahren zahlenmäßig behaupten können, so selten erhebt der Ausländer - aufs Ganze gesehen - im Auslieferungsverfahren den Einwand politischer Verfolgung, nämlich nur in zehn bis 15 v. H. der Fälle. Bei den quantitativen Vergleichen zwischen Auslieferungs- und Asylverfahren wechselt das Bild, werden die nationalen Verschiedenheiten einbezogen. Da die türkischen Staatsangehörigen den mit Abstand größten Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Bundesrepublik bilden (33 v. H.), stellt die Türkei auch die meisten Auslieferungsanträge, nämlich 15 v. H.-20 v. H. Für einen Straftäter, der ins Ausland flieht, ist die Chance, unbehelligt zu bleiben, dort am größten, wo er zwischen 1,5 Mil!. Landsleuten am wenigsten auffällt und am ehesten Hilfe erwarten kann. Zugleich wird in den "türkischen" Auslieferungsverfahren politische Verfolgung am häufigsten behauptet, nämlich in 25-30 Fällen, das sind mehr als 50 v. H. Die geringste nationale Bewilligungsquote fällt auf die Türkei; bewilligt werden etwa 60 v. H. der türkischen Ersuchen (abgelehnt 25 v. H.), während die "Erfolgsrate" bei den jugoslawischen Anträgen bei 75 v. H., bei den niederländischen 100 v. H. betrug. Die Ablehnungen der türkischen Auslieferungsanträge beruhten in der Mehrzahl der Fälle auf (I) der möglicherweise drohenden Todesstrafe, (2) dem Fehlen beiderseitiger Strafbarkeit, (3) dem Vorliegen einer politischen oder fiskalischen Straftat oder (4) dem Be388 Die amtliche Auslieferungsstatistik wird jährlich im Bundesanzeiger veröffentlicht; s. für das jeweils vergangene Jahr BAnz. Nr. 154 v. 21. 8. 1981, Nr. 100 v. 2. 6. 1982, Nr. 108 v. 14. 6. 1983, Nr. 110 v. 14. 6. 1984, Nr. 100 v. 1. 6. 1985. 387 § 41 IRG, § 7, 25 DAG. 388 Die folgenden Zahlen beruhen auf Anfragen bei den zuständigen Instanzen und dem Bericht einer Bonner interministeriellen Arbeitsgruppe "Auslieferung/ Asyl" vom März 1984, soweit bereits bekannt geworden.

9.3 Die Bindungsregelung im geltenden Auslieferungsrecht

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stehen eines deutschen Strafanspruchs - Gründe, die nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen zur Verweigerung der Auslieferung berechtigen oder verpflichten. Abgelehnt also wurde nicht nur in den "politischen" Fällen38o • Im Auslieferungsverfahren haben Oberlandesgericht wie Bundesregierung von Amts wegen und selbständig zu prüfen, ob die Auslieferung unzulässig ist, weil die im Ersuchen behauptete Tat eine politische Tat ist, mit einer solchen zusammenhängt oder weil die Erfüllung des Auslieferungsersuchens eine politische Verfolgung zur Konsequenz haben würdeaeo • Im Auslieferungsverfahren kann also rechtstechnisch "Vorfrage" sein (nämlich im Verhältnis zum Auslieferungs anspruch) , was im Asylverfahren Hauptfrage ist, nämlich die politische Verfolgung. 9.3 Die Bindungsregelung im geltenden Auslieferungsrecht Die Frage, ob und wie Feststellungen eines zuständigen Staatsorgans für ein anderes, ebenfalls zuständiges Staatsorgan verbindlich sind, wird nicht allzu häufig praktisch; die strikte staatliche Zuständigkeitsordnung beruht u. a. auf dem Prinzip, die Zuständigkeit verschiedener Behörden für dieselbe Sache auszuschließen, um Kompetenzkonflikte und sich widersprechende Entscheidungen nicht entstehen zu lassen. Ist wie hier die Hauptfrage des einen Verfahrens Vorfrage eines anderen, so läßt sich nicht vermeiden, daß dieselbe Frage für denselben Sachverhalt in verschiedenen Verfahren verschiedener Behörden beantwortet werden muß. Aus der mehrfachen Zuständigkeit für dieselbe Sache können divergierende Entscheidungen erwachsen. Um Entscheidungsdivergenz und die daraus resultierende Rechtsunsicherheit zu vermeiden, wird im Prozeßrecht bei mehrfacher Anhängigkeit mit dem Mittel der Aussetzung des Verfahrens gearbeitet (§ 148 ZPO), nach Ende eines gerichtlichen Verfahrens mit dem Institut der materiellen Rechtskraft. Eine vorgängige Verwaltungsentscheidung wirkt präjudiziell, bindet also die andere Verwaltungsbehörde oder das Gericht, wenn ihr Erlaß Gültigkeitsvoraussetzung für den zweiten Staatsakt ist (Tatbestands- Wirkung) - Einbürgerung als Bedingung für eine rechtmäßige Einberufung zum Wehrdienst - oder wenn der Inhalt eines Verwal389 Besonders langwierig sind die Verfahren, wenn wegen gemeinen Mordes ausgeliefert werden soll. Die Bundesregierung liefert wegen der dann u. U. drohenden Todesstrafe nur aus, wenn zugesichert wird, daß die Todesstrafe nicht vollstreckt werden wird (Art. 11 EuAuslüb, § 8 IRG). Die Türkei hat sich mangels geeigneter eigener Rechtsgrundlage geweigert, diese Zusicherung abzugeben; sie sieht sich ebenso außerstande, durch Herausgabe der ErmitUungsakten usw. eine stellvertretende Strafverfolgung in der Bundesrepublik gem. Art. 3 Ir des EuAuslüb und § 6 II IRG zu ermöglichen. 390 Art. 3 EuAuslüb, § 6 IRG, BVerfGE 60, 358; A. Jannasch (FN 384), S. 400.

11·

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9. Auslieferung und Asyl

tungsakts und die mit ihm notwendig verbundenen Feststellungen andere Behörden binden sollen (Feststellungs-Wirkung): Ist z. B. die atomrechtlicheGenehmigung erteilt (§ 7 AtomG), darf die Wasserbehörde die wasserrechtliche Gestattung (§ 6 WHG) , die für das Atomkraftwerk (anschließend) beantragt wird, nicht mit Erwägungen zum Wohl der Allgemeinheit ablehnen, die im atomrechtlichen Verfahren bereits geprüft und anders bewertet worden sind391 • Verwaltungs akte, denen ohne besondere gesetzliche Anordnung, also gleichsam "kraft Natur der Sache" Tatbestands- oder/und Feststellungswirkung zugemessen wird, sind jedoch so sehr Ausnahme, daß Beispiele selten sind392 • Es gibt auch keine allgemeine Regel, die Behörden und Gerichte untereinander zur Hinnahme einmal getroffener Entscheidungen zwingt, oder dazu, mit der Entscheidung einer Vorfrage abzuwarten, bis die für die Hauptfrage zuständige Behörde entschieden hat. So können Akte von Verwaltungsbehörden Strafgerichte auch dann präjudizieren, wenn sie rechtswidrig, aber noch wirksam und vollzieh bar sindm , können aber Verwaltungsbehörden zugunsten des Bürgers von rechtskräftigen, in seiner Sache ergangenen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte abweichen trotz materieller, durch § 121 VGO gebotener Rechtskraft 394• Einzelne "konstitutiv-feststellende" Verwaltungs akte binden Behörden und Gerichte dann, wenn sie wegen der Eigenart ihres Gegenstandes und im Interesse der Rechtssicherheit besonders widerstandsfähig gegen nachträgliche Änderungen und Eingriffe sind396 • 391 BVerwG NJW 1980, S.1406. Zwischen Tatbestands-Wirkung und Feststellungs-Wirkung wird nicht immer klar unterschieden, sie lassen sich auch nicht völlig trennen. So spricht BVerwGE 59, 315 nur von der "TatbestandsWirkung", die eine Straßensperre der Bundeswehrverwaltung (§ 9 I SchutzbereichsG) gegenüber der Landesstraßenbehörde entfaltet, gemeint ist aber auch Feststellungs-Wirkung. Die Tatbestands-Wirkung geht von zwei Entscheidungen aus, von denen die zweite nur rechtmäßig ergehen kann, wenn die erste vorliegt, die Feststellungs-Wirkung soll eine zweite Entscheidung verhindern, die der ersten widerspricht. Von der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Urteile unterscheidet sich die Feststellungs-Wirkung der Verwaltungsakte nicht nur durch potentielle Aufhebbarkeit, sondern auch im Zweck: es soll nicht nur der widersprechenden Entscheidung vorgebeugt, sondern der Übergriff in die Zuständigkeit einer anderen Behörde und die unwirtschaftliche Doppelarbeit verhindert werden. Hier gilt uneingeschränkt der Grundsatz: ne bis in idem. - Die Terminologie ist uneinheitlich; s. Wolff/ Bachof, Verwaltungs recht I, 9. Auf!. 1974, § 20 V, S. 92 f., § 52 III, S. 442 ff.; J. Braun, Die präjudizielle Wirkung bestandskräftiger Verwaltungsakte, Bern 1981; Knöpfle, BayVBl. 1982, S. 225 ff.; ErichsenlKnoke, NVwZ 1983, S. 185 ff.; Jörn Ipsen, Die Verwaltung 17, 1984, S. 169. 392 Vg!. die in der vorigen Anmerkung genannten Autoren. 393 Entschieden für Parkverbote, die rechtswidrig Behördenangehörige privilegieren (OLG Stuttgart, DVBl. 1966, S.908; BGH NJW 1969, S.2023; a. A. Horn, NJW 1981, S. 1; Ostendorf, JZ 1981, S. 165). 394 BVerwGE 35, 237.. 396 s. die Nachweise von WolfflBachof (FN 391), § 52 III b, S. 447.

9.3 Die Bindungsregelung im geltenden Auslieferungsrecht

165

Die Feststellung politischer Verfolgung durch das Bundesamt könnte nun in der Tat als ein solcher konstitutiver Akt angesehen werden. Denn der Asylbewerber erhält mit ihm den Status eines "Asylberechtigten" zuerkannt, der ihm die Rechte nach der Genfer Flüchtlingskonvention (§ 3 I AsylVfG), eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (§ 29 I AsylVfG) und die in der Bundesrepublik übliche weitgehende Inländergleichbehandlung vermittelt396• Gegenüber jenen "konstitutiv-feststellenden" Verwaltungsakten, die mit Erlaß allgemein verbindlich wirken, wie die Einbürgerung, ist die Bestandskraft der Asylanerkennung deutlich schwächer ausgeprägt: sie kann z. B. widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen entfallen sind, oder zurückgenommen werden, wenn diese Voraussetzungen von vornherein nicht vorgelegen haben (§ 16 AsyIVfG). Auch nach der Flüchtlingskonvention kann der Flüchtling seinen Status verlieren, sei es aus Gründen, die in seiner Person liegen, sei es wegen Veränderung der Umstände (Art. 1 C FK). Die allgemeine Verbindlichkeit der Anerkennung als politisch Verfolgter durch das Bundesamt - Tatbestandswirkung im angeführten Sinn - versteht sich daher nicht von selbst. In solchen zweifelhaften Fällen muß der Gesetzgeber die Bindung festlegen 3l7 • Mit dem Bundesamt war für die Feststellung politischer Verfolgung eine für die Bundesrepublik zentrale Behörde eingerichtet worden, die allein und in jedem Einzelfall die politische Verfolgung als Hauptfrage prüft. Eine konkurrierende Zuständigkeit etwa der Ausländerbehörden oder eine Vorfragen-Kompetenz derjenigen Verwaltungsbehörden, mit denen der Flüchtling notwendigerweise zu tun hat, hätte dem Zweck der Errichtung des Bundesamtes widersprochen, nämlich durch eine spezialisierte Behörde Art. 16 11 2 GG gleichmäßig anzuwenden und diese Aufgabe, die oft besondere Kenntnisse und schwierig auszuforschende auswärtige Verhältnisse fordert, für alle anderen Behörden mitzuerledigen. Die unbestreitbare Zweckmäßigkeit einer einmaligen Prüfung konnte indes die Bindung anderer Behörden an das Prüfungsergebnis ebensowenig sichern, wie die exklusive Zuständigkeit des Bundesamtes; das Bundesverwaltungsgericht hatte in dem vergleichbaren Fall der Ausstellung eines Flüchtlingsausweises durch die Flüchtlingsbehörde nach dem Bundesvertriebenengesetz eine Bindung der Lastenausgleichsbehörden verneint, so daß der Gesetzgeber 1957 diese Bindung anordnen mußte398 • Der Gesetzgeber des Ausländergesetzes 1965 legte daher in § 45 Satz 1 fest: 396 Dazu die Darstellung mehrerer Autoren in: Beitz/Wollenschläger, Bd.2, 1981, S. 531 ff. 397 Wolff/Bachof (FN 391), S. 93. 398 § 15 V BVertriebenenG: "Die Entscheidung über die Ausstellung des Ausweises (zum Nachweis der Vertriebenen- oder Flüchtlingseigenschaft) ist für alle Behörden und Stellen verbindlich, die für die Gewährung von Rech-

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9. Auslieferung und Asyl

"Die Entscheidung im Anerkennungsverfahren ist in allen Angelegenheiten verbindlich, in denen die Anerkennung rechtserheblich ist3 99 ." Um die Zuständigkeit des Bundesamtes zu wahren, sind auch seine ablehnenden Entscheidungen verbindlich4oo • Der Gesetzgeber übernahm diese Regel 1981 als § 18 Satz 1 in das AsylVfG und änderte dabei den Text; statt "Entscheidung im Anerkennungsverfahren" heißt es jetzt: "Entscheidung des Bundesamts im Asylverfahren"401. Mit der so modifizierten Bindungsregel wurde 1981 in einem zweiten Satz auch jene Ausnahme übernommen, die schon § 45 Satz 2 AuslG enthalten hatte: "Dies gilt nicht für das Auslieferungsverfahren402." Der Sinn dieser Ausnahme -Aufhebung der Tatbestandswirkung und damit zugleich der Feststellung politischer Verfolgung - läßt sich am besten anhand jener Vorschläge ermitteln, die sie in Frage stellen oder ganz beseitigen wollen. Der Fall Altun veranlaßte nämlich die Fraktionen der "Grünen" und der SPD zu Gesetzentwürfen, nach denen auch in Auslieferungssachen Asylanerkennungen des Bundesamts und der Verwaltungsgerichte für das Oberlandesgericht und die Bundesregierung verbindlich sein sollen403 •

9.4 Der Vorschlag der "Grünen": Bindung und Aussetzung Der Gesetzentwurf der "Grünen" will das Oberlandesgericht nur durcll anerkennende Entscheidungen binden; ist die Anerkennung als politisch verfolgt durch eine "verfahrensabschließende Entscheidung ten oder Vergünstigungen als Vertriebener oder Sowjetzonen-Flüchtling nach diesem oder einem anderen Gesetz zuständig sind. Hält eine Behörde ... die Ausstellung nicht für gerechtfertigt, so kann sie nur ihre Änderung oder Aufhebung durch die Ausstellungsbehörde beantragen ... ". Diese Ergänzung des Gesetzes war veranlaßt durch BVerwGE 6, 42. 390 Der Rechtsausschuß begründete diese Vorschrift mit "Interessen der Rechtssicherheit" und verwies auf § 15 V BVertriebenenG als Vorbild; die Regel wurde auf Vorschlag des Innenausschusses und des BMJ nachträglich eingeführt (ER-Drucks. 306/62; BT-Drucks. IV /3013 v. 26. 1. 1965, S.8 1. Sp. zu § 26 s EntwAusIG). 408 OVG Münster, DÖV 1975, S. 578; O. Kimminich, BK, Er!. 351; Marx/ Strate (FN 157), § 18 Er!. 2; die gelegentlich geäußerte Gegenmeinung übersieht, daß diejenigen Gründe, die eine Bindung durch Anerkennung tragen, ebenso gültig sind für Ablehnungen. 401 Begründet wurde diese (manchmal übersehene) Änderung des Textes nicht, s. BT-Drucks. 9/875, S. 19. 401 Der Entwurf des AsylVfG, den die damaligen Regierungsfraktionen der SPD und FDP 1980 eingebracht hatten (BT-Drucks. 9/875), rezipierte die Vorschrift ungeändert. Kontrovers diskutiert wurde sie in den parlamentarischen Beratungen nicht, der Bundestag verabschiedete § 18 AsylVfG einstimmig. HI BT-Drucks. 10/423 v. 28.9.1983, BT-Drucks. 10/1025 v. 22.2. 1984.

9.4 Der Vorschlag der "Grünen"

167

des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts versagt worden", dann soll das Gericht neben den Voraussetzungen der Auslieferung die Frage der politischen Verfolgung noch einmal prüfen404 • Soweit Gründe für politische Verfolgung vorgetragen werden, die nach der negativen Entscheidung des Bundesamts und der Verwaltungsgerichte entstanden sind, ist dagegen nichts einzuwenden; es wäre dann allerdings auch ein erneuter Asylantrag zulässig (§ 14 I AsylVfG). Zieht das Oberlandesgericht aber diejenigen Vorgänge heran, die bereits dem Bundesamt vorgelegen haben - dar an wäre es wegen der fehlenden Bindung durch ablehnende Entscheidungen nicht gehindert -, kann es nach dem Entwurf die politische Verfolgung auch bejahen. Der Entwurf der "Grünen" zielt also nicht auf die Vermeidung von divergierenden Entscheidungen in derselben Sache, sondern auf eine Maximierung des Rechtsschutzes zugunsten des Ausländers, dessen Auslieferung wegen einer Straftat beantragt worden ist, und der behauptet, politisch verfolgt zu sein 405 • Die Differenzierung zwischen anerkennenden und ablehnenden Entscheidungen widerspricht dem vom Entwurf und seinen Befürwortern gegen die oberlandesgerichtliche Zuständigkeit ins Feld geführten Argument der besonderen Erfahrungen des Bundesamts und der Verwaltungsgerichte in Asylsachen. Denn die Ablehnung, den Asylbewerber als politisch Verfolgten anzuerkennen, ist genauso von den Kenntnissen und Erfahrungen des Bundesamts und der Verwaltungsgerichte getragen wie die positive Feststellung. Es hieße einen puren Interessentenstandpunkt kodifizieren, sollte das Oberlandesgericht nur durch anerkennende Entscheidungen gebunden sein. Eine Rechtsordnung, die zur Wahrung ihrer Rechtskultur Anspruch auf Konsistenz ihrer Regeln erhebt, kann einen solchen Widerspruch, für den ein sachlicher Grund fehlt, nicht zulassen. Die Absicht der Rechtsschutz-Maximierung trägt auch den zweiten Änderungsvorschlag, nämlich die Pflicht des mit der Auslieferung befaßten Oberlandesgerichts, "bis zum rechtskräftigen Abschluß des Asylverfahrens die Entscheidung über die Auslieferung auszusetzen" (§ 6 III 2 EntwIRG). Es ist dies zwar, wie bereits erwähnt, der übliche Weg zur Vermeidung divergierender Entscheidungen (§ 148 ZPO), aber es widerspricht der zugunsten des Ausländers vom Entwurf eingeräumBT-Drucks. 10/423, Begründung unter 2 a. E. Auch im engagierten Asylschrifttum ist diese Forderung erhoben worden; der Gesetzentwurf beruft sich insofern zu Recht auf (den deutschen Mitarbeiter des Hohen UN-Flüchtlingskommissars) J. Henkel, ZAR 1981, S.90. Vgl. auch O. Kimminich, BK, Erl. 343, und Fritz, in: Baumüller u. a. (FN 158), § 18 Erl. 2, 12, 13, beide mit der Empfehlung, das Oberlandesgericht sollte verpflichtet sein, die Überprüfung der Verfolgungsbehauptung durch das Bundesamt zu veranlassen. 404 405

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9. Auslieferung und Asyl

ten Möglichkeit, daß nach bestandskräftiger Ablehnung des Asylantrags durch das Bundesamt das Oberlandesgericht gleichwohl die Verfolgungsfrage noch einmal aufnehmen muß und auch abweichend beantworten darf, wenn erneut politische Verfolgung vorgetragen wird. Darf und muß das Oberlandesgericht überhaupt die Frage der politischen Verfolgung selbständig prüfen, dann ist nicht einzusehen, weshalb es bei noch nicht abgeschlossenen Asylverfahren aussetzen soll. Entscheidend aber spricht ein rechtspraktischer Einwand gegen die Aussetzungspflicht. Der Ausländer hätte es durch Stellung des Asylantrages in der Hand, das Verfahren vor dem Oberlandesgericht stillzulegen und in absehbarer Zeit das Ende der Auslieferungshaft herbeizuführen mit der weiteren Möglichkeit, sich durch Flucht dem heimatlichen Straf anspruch zu entziehen. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen. Das Asylverfahren dauert durchschnittlich vor dem Bundesamt fünf bis sechs, derzeit (Mai 1985) zehn bis elf Monate, vor den erstinstanzlichen Verwaltungsgerichten zehn bis 37 Monate, vor dem Oberverwaltungsgericht neun bis 24 Monate, vor dem Bundesverwaltungsgericht sechs bis 18 Monate 406 • Legt man diese Fristen zugrunde, so müßte mit einer Dauer des Auslieferungsverfahrens bis zur Beschwerdeentscheidung des Oberverwaltungsgerichts (§ 32 AsylVfG) von zwei bis vier Jahren gerechnet werden. Gelangte die Sache vor das Bundesverwaltungsgericht, so wäre wenigstens noch ein Jahr zuzulegen. In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es lapidar: "Verzögerungen im Auslieferungsverfahren, die durch die Vorgreiflichkeit der Entscheidung im Asylverfahren möglicherweise eintreten, müssen hingenommen werden 407." Verzögerungen der Auslieferung sind gewiß nicht nur "möglich". Die Aussetzungs- und Wartepflicht auf eine bestandskräftige Entscheidung verzögert auch nicht nur die Auslieferung; sie würde sehr häufig unmöglich werden. Zwar verlangen ausländische Staaten nicht die Auslieferung von Warenhausdieben, gewichtige Kriminalität ist allemal im Spiel. Daher wird auch regelmäßig Auslieferungshaft angeordnet, um das Untertauchen des Gesuchten zu verhindern. Die Dauer der Auslieferungshaft muß aber in einem angemessenen Verhältnis zu der zu erwartenden Höchststrafe stehen40B • Im Fall Altun erschien 406 Die bekannten Zahlen und Statistiken für das Jahr 1983 sind im Frühjahr 1985 durch die erneut angestiegene Zahl der Bewerber nicht mehr aktuell, soweit sie die Verfahrensdauer beim Bundesamt (1983: 2-3 Monate) und den Verwaltungsgerichten 1. Instanz angaben (1983: bis 24 Monate); vgl. dazu BT-Drucks. 10/3346 v. 14.5.1985, S. 14, 15, 19. 407 BT-Drucks. 10/423 Begründung unter 2 a. E. 408 Entspr. § 112 StPO; st. Rspr. der Oberlandesgerichte, s. auch BVerfG, EuGRZ 1982, S. 356; K. Hailbronner, S. 394 f.; ausführlich Vogler (FN 382),

S. 286 ff.

9.5 Der Vorschlag der SPD:.Fraktion

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die Fortsetzung der Auslieferungshaft, die bei seinem Tode 13 Monate gedauert hatte, im Hinblick auf die zu erwartende Höchststrafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe bereits problematisch. Um die Verhältnismäßigkeit der Auslieferungshaft zur in Betracht kommenden Strafe zu wahren, pflegen die Oberlandesgerichte den Vollzug der Auslieferungshaft auszusetzen (§ 25 IRG), wenn das Auslieferungsverfahren verzögert wird, sei es durch Anforderung weiterer Unterlagen, Warten auf andere Entscheidungen oder durch Ausstehen der Bewilligung der Bundesregierung, ein Fall, der z. B. wie im Fall Altun durch Meinungsverschiedenheiten der beteiligten Bundesressorts entstehen kann. Vergleicht man die Verfahrensdauer und die Haftdauer in Auslieferungssachen, so wird der strenge Maßstab deutlich, den die Oberlandesgerichte an die Verhältnismäßigkeit der Auslieferungshaft anlegen. Dauert das Auslieferungsverfahren auf türkische Ersuchen durchschnittlich (unter Abzug der langwierigen Todesstrafen-Fälle) sechs bis sieben Monate409 , so währte die Auslieferungshaft von Türken durchschnittlich weniger als fünf Monate. Die bemerkenswerte Differenz zwischen Verfahrens- und Haftdauer ergibt sich aus der Praxis der Oberlandesgerichte, bei mehr als 50 v. H. der türkischen Ersuchen die Haft zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit von Haft und Strafe auszusetzen. Die von den "Grünen" vorgeschlagene Pflicht des Oberlandesgerichts, das Auslieferungsverfahren auszusetzen, um die Entscheidung über die politische Verfolgung im Asylverfahren abzuwarten, würde angesichts der dort üblichen Verfahrensdauer wohl fast stets zur Aussetzung des Vollzuges der Auslieferungshaft führen; eine mehrjährige Auslieferungshaft ist allenfalls bei Mördern vorstellbar. Kriminelle würden sich die Chancen des neuen Verfahrensrechts nicht entgehen lassen, durch anwaltlich geschickt formulierte Asylbewerbungen das Auslieferungsverfahren blockieren und die Auslieferungshaft in einen befristeten Freiheitsentzug verwandeln zu können. In den meisten Fällen wäre realistischerweise die Auslieferungshaft nach Stellung des Asylantrages gleich aufzuheben; sie wäre allenfalls als Alibi gegenüber dem Staat nützlich, der um Auslieferung ersucht hat.

9.5 Der Vorschlag der SPD-Fraktion: Beschleunigung des Asylverfahrens und Bindung des Oberlandesgerichts Der Änderungsvorschlag der SPD-Fraktion will die Verzögerung des Auslieferungsverfahrens begrenzen, indem (1) über Asylanträge VOT408 Niederländische Ersuchen dauern drei einhalb Monate, jugoslawische etwa sechs Monate.

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9. Auslieferung und Asyl

rangig zu entscheiden ist, wenn um Auslieferung des Antragstellers

ersucht wird (§ 18 II EntwAsyIVfG), (2) die Auslieferung vor unanfechtbarem Abschluß des Asylverfahrens unzulässig sein soll, wenn der Asylantrag innerhalb von zwei Wochen nach der ersten Vernehmung im Auslieferungsverfahren gestellt worden ist (§ 6 III 1 EntwIRG), (3) in jedem Falle aber vor unanfechtbarem Abschluß des Asylverfahrens nicht ausgeliefert werden darf, wenn das Bundesamt oder ein Verwaltungsgericht dem Asylbegehren stattgegeben hat (§ 6 III 2 EntwIRG).

Die Pflicht zur vorrangigen Behandlung von Asylanträgen läßt sich im Bundesamt, wo ein einzelner Behördenangestellter entscheidet, vielleicht noch realisieren. In der überlasteten Verwaltungsgerichtsbarkeit und bei wieder rapide ansteigenden Zahlen der Asylverfahren können Kollegien mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Verwaltungsrichtern auch "Vorrangverfahren" nicht so rasch abwickeln, daß eine rechtskräftige Entscheidung in einer Frist zu erwarten wäre, die für das Auslieferungsverfahren noch als rechtzeitig angesehen werden könnte - das ohnehin in der Praxis unbeliebte Einzelrichterverfahren (§ 31 AsylVfG) wird in Auslieferungsfällen nur selten in Betracht kommen. Die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung mit der Anhörung des Antragstellers und der gerichtliche Instanzenzug würden regelmäßig zu lange dauern. Die grundsätzliche Beschränkung der Auslieferungshaft auf sechs Monate (§ 24 III EntwIRG) mag eine rasche Verfahrensabwicklung stimulieren; es nützt aber der gute Wille der Verwaltungsrichter nichts, wenn andere Beschwerdemöglichkeiten des Antragstellers das Auslieferungsverfahren verlängern, ohne daß die mit dem konkreten Fall befaßten Behörden und Verwaltungsgerichte diese Verfahrensvarianten beeinflussen könnten. Im Fall Altun war seine Verfassungsbeschwerde gegen die Auslieferungsbewilligung vom 21. 2. 1983 am 16.3. 1983 durch den Vorprüfungsausschuß des Bundesverfassungsgerichts nicht angenommen worden; über seine Beschwerde vom März 1983 zur Europäischen Menschenrechtskommission (EMRK) verhandelte diese am 5. Mai und traf am 15. Juli 1983 eine Verfahrensentscheidung, nämlich die Bitte an die Bundesregierung um Aussetzung des Vollzuges der Auslieferung nicht zu verlängern. Da Altuns Auslieferungshaft am 5.7.1982 begonnen hatte, waren zum Zeitpunkt der Auslieferungsentscheidung des Kammergerichts am 16. 12. 1982 fünf Monate Haft vergangen, als die Bundesregierung die Auslieferung bewilligte sieben Monate, nach der Vollzugsentscheidung der EMRK mehr als zwölf Monate. Die fünf Monate Haft, die das Verfahren vor der EMRK kostete, mag der Entwurf - großzügig interpretiert - erfassen, weil die Auslieferungshaft über sechs Monate aufrechterhalten werden darf, "wenn die besondere Schwierigkeit oder der be-

9.5 Der Vorschlag der SPD-Fraktion

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sondere Umfang des ausländischen Verfahrens oder ein anderer wichtiger Grund die Entscheidung über die Auslieferung noch nicht zuläßt und die Fortdauer der Auslieferungshaft rechtfertigt" (§ 24 III EntwIRG). In diesem Fall hatte schon ohne Wartepflicht des Oberlandesgerichts auf eine rechtskräftige Entscheidung im Asylverfahren die Auslieferungshaft sieben Monate bis zur Bewilligung, zwölf Monate bis zur ersten Entscheidung der EMRK gedauert. Durch die notwendige Vorschaltung von Bundesamt und Verwaltungsgerichten wird das Auslieferungsverfahren nach den Entwürfen nicht überflüssig. Wird die Asylberechtigung verneint, muß nunmehr das Oberlandesgericht die Zulässigkeit des Auslieferungsersuchens prüfen. Das Oberlandesgericht wird diese Prüfung aus verständlichen arbeitsökonomischen Gründen erst beginnen, wenn sie sich als notwendig erweist, also nach der rechtskräftigen Ablehnung des Asylgesuchs uo. Geht man optimistisch von einer neunmonatigen Dauer des "Asylvorrangverfahrens" aus und rechnet man die durchschnittliche Dauer der Auslieferungsverfahren hinzu, so ist bei jugoslawischen Auslieferungsersuchen von einer durchschnittlichen Gesamtverfahrensdauer von 15 Monaten, bei türkischen Ersuchen von 15 bis 16 Monaten auszugehen - ungeachtet weiterer Fristverlängerungen, die durch Anrufung des Bundesverfassungsgerichts und der EMRK entständen. Die Oberlandesgerichte müßten also entweder die bisherige Beachtung der Verhältnismäßigkeit von Auslieferungshaft und zu erwartender Freiheitsstrafe aufgeben - ein neuer Altun säße dann wenigstens 21 Monate in Auslieferungshaft - oder die Auslieferung hinge von dem guten Willen dessen ab, dem Bundesamt und Verwaltungsgerichte die Asylberechtigung versagen, der aber geduldig das Verfahrensende und seine Auslieferung erwartet, nachdem er nach sechs Monaten aus der Auslieferungshaft wegen Ablaufs der gesetzlichen Frist oder wegen Unverhältnismäßigkeit entlassen worden ist. Die erste Alternative ist auszuschließen, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwingendes Verfassungsrecht ist; der Eintritt der zweiten Alternative ist im Einzelfall möglich, sie generell zu erwarten wäre aber doch wohl sehr naiv. Die hier durchgerechneten Beispiele jugoslawischer oder türkischer Auslieferungsersuchen gehen davon aus, daß Asylantrag und Auslieferungsersuchen zeitlich zusammenfallen. Auch der SPD-Antrag legt diese Konstellation zugrunde, weil das Auslieferungsersuchen häufig dem Asylantrag folgefIt. Das Oberlandesgericht soll das Asyluo Die Begründung des Entwurfs geht bei Auslieferungshaft davon aus, das OLG werde ungeachtet des Asylverfahrens sein Verfahren weiterführen und alle für die Auslieferung entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Fragen klären (BT-Drucks. 10/1025, S. 8 1. Sp.). fit BT-Drucks. 10/1025, S. 8 1. Sp.

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9. Auslieferung und Asyl

verfahren jedoch nur dann abwarten müssen, wenn das Asyl innerhalb von zwei Wochen nach der ersten Vernehmung im Auslieferungsverfahren beantragt worden ist. Die Zweiwochenfrist soll die mißbräuchliche Verzögerung des Auslieferungsverfahrens verhindern 412 • Es ist aber wohl unrealistisch anzunehmen, politisch Verfolgte würden die Zweiwochenfrist zur Stellung des Asylantrages nutzen, Kriminelle (wenn sie diese Chance wahrnehmen wollen) jedoch nicht. Die Wartepflicht des Oberlandesgerichts bei vorangegangener positiver Asylentscheidung verkürzt alle Fristen nur um den bereits erledigten Teil des Asylverfahrens. Durch ein solches Präjudiz würde das Auslieferungsverfahren nur dann nicht unzumutbar verzögert, wenn der Bundesbeauftragte die Anerkennung akzeptiert oder die mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht unmittelbar bevorstände und der Bundesbeauftragte das bestätigende Urteil des Verwaltungsgerichts nicht anficht. Dann aber ist praktisch schon eine andere Situation entstanden, nämlich der (bevorstehende) unanfechtbare Abschluß des Asylverfahrens. Darüber wird noch zu handeln sein. Ist aber die Anerkennung als politisch Verfolgter noch nicht bestandskräftig, wird der Bundesbeauftragte wegen des Auslieferungsersuchens die Entscheidung des Bundesamts oder des Verwaltungsgerichts besonders sorgfältig prüfen und eher ein Rechtsmittel einlegen als eine bezweifelbare Anerkennung durchgehen lassen. Denn die bestandskräftige Anerkennung würde nach den Gesetzentwürfen dazu zwingen, die Auslieferung für unzulässig zu erklären, ohne daß dem Oberlandesgericht eine eigene Prüfungsmöglichkeit verbliebe. Die Abweisung des Ersuchens wegen politischer Verfolgung im ersuchenden Staat wiegt aber sicher schwerer und ist deshalb sorgfältiger zu prüfen als die Anerkennung eines Ausländers, gegen den ein Auslieferungsverfahren nicht in Betracht kommt. Die mindestens anfechtbare Begründung, mit der das Bundesamt dem Asylbegehren Altuns stattgab, zeigt, daß der Bundesbeauftragte zu einer sorgfältigen Prüfung durchaus veranlaßt sein kann. Insgesamt wird sich die Feststellung nicht vermeiden lassen, daß die von den Entwürfen vorgesehene Wartepflicht des Oberlandesgerichts auf die behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen im Asylverfahren in den meisten Fällen das Auslieferungsverfahren so verzögert, daß der Auslieferungsanspruch tatsächlich vereitelt wird. Dies gilt jedenfalls, solange Bundesamt und Verwaltungsgerichte über 30000-60 000 Asylbewerbungen jährlich entscheiden müssen, während die Oberlandesgerichte etwa 120 Auslieferungsverfahren abzuschließen haben. Die Bundesrepublik ist aber völkerrechtlich verpflichtet, ihre innerstaatliche Rechtsordnung so einzurichten, daß Pflichten, m BT-Drucks. 10/1025, S.8 r. Sp.

9.5 Der Vorschlag der SPD-Fraktion

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die durch völkerrechtlichen Vertrag - hier das Europäische Auslieferungsübereinkommen und die einzelnen Auslieferungsverträge übernommen worden sind, auch erfüllt werden. Dazu gehört: über ein Auslieferungsersuchen einschließlich aller Einwände des Beschuldigten ist in angemessener Frist zu entscheiden. Es darf dem Beschuldigten keine Gelegenheit gegeben werden, sich dem Strafanspruch des ausländischen Staates aus Gründen zu entziehen, die nicht, wie etwa ihm drohende politische Verfolgung, in seiner Person liegen oder sonst dem objektiven Recht angehören, das auch vom ersuchenden Staat anerkannt ist (Art. 3-11 EuAuslüb). Die Entwürfe sind im Hinblick auf die Wartepflicht des Oberlandesgerichts nicht nur "völkerrechtsunfreundlich", sie würden das nationale Recht der Bundesrepublik so ausgestalten, daß der Beschuldigte durch Rechtsmitteleinlegung den vertraglichen Auslieferungsanspruch des ersuchenden Staates vereiteln kann. Das Europäische Auslieferungsübereinkommen mißt der Realisierung des Auslieferungsanspruchs verständlicherweise einen hohen Rang zu; es gewährt dem ersuchenden Staat einen Rechtsanspruch auf vorläufige Auslieferungshaft (Art. 16 EuAuslüb). Dieser Möglichkeit der Inhaftierung aufgrund eines Fernschreibens von Interpol vorläufige Haft bis zu 40 Tagen vor dem Eingang des eigentlichen Auslieferungsersuchens (Art. 16 IV 1 EuAuslüb)! - stände eine bundesrepublikanische Verfahrensordnung gegenüber, die den Auslieferungsanspruch des Vertragsstaates zur Disposition der Behauptungen des Beschuldigten und der Fähigkeit seines Anwalts stellt, Rechtsmittel und Verfahrensanträge überlegt einzusetzen. Eine solche Verfahrensgestaltung käme nicht dem politisch Verfolgten zugute; sie begünstigte unterschiedslos jeden, der sich auf diesen Hinderungsgrund beruft. In vielen Fällen würde die politische Verfolgung gar nicht mehr abschließend geprüft werden können, weil der Beschuldigte nach Entlassung aus der zu lange währenden Auslieferungshaft untergetaucht ist oder sich vorsorglich in ein anderes Land abgesetzt hat. Bei dieser Prognose kann nicht von den Zahlenangaben zum geltenden Recht ausgegangen werden. Gegenwärtig wird in den ca. jährlich 300 Auslieferungsverfahren nur in 10-15 v. H. der Fälle politische Verfolgung eingewendet, in den 50-60 "türkischen" Verfahren bis zu 50 v. H. Dieser Anteil ist gewiß deshalb so relativ niedrig, weil die überprüfung dieses Einwandes durch das Oberlandesgericht innerhalb der zu erwartenden Haftfristen sicher ist. Besteht aber die Chance, durch die Behauptung politischer Verfolgung einen zweiten Verfahrensweg über mehrere Instanzen zu eröffnen, zugleich das Auslieferungsverfahren zu blockieren und ihm mit einiger Wahrscheinlichkeit durch Flucht nach Ende der Auslieferungshaft ganz zu entgehen, dann wird sich der Einwand politischer Verfolgung viel eher "lohnen" als bisher

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9. Auslieferung und Asyl

und deshalb auch sehr viel häufiger erhoben werden. Jede andere Erwartung wäre lebensfremd. Dem Vorwurf des Vertragsbruchs könnte der bundesdeutsche Gesetzgeber nicht entgehen, wenn er den hier erörterten Gesetzesvorschlägen folgte; staatliche Gesetze können mit völkerrechtlichen Verträgen nicht nur durch einen offenen Normendissens kollidieren, sondern auch durch die tatsächlichen Folgen eines verdeckten Widerspruchs zwischen Vertrag und Gesetz. 9.6 Der Vorrang des Auslieferungsverfahrens

9.6.1 Der andere Lebenssachverhalt des Auslieferungsverfahrens Die zu erwartenden Folgen eines zweigleisigen Verfahrens in Auslieferungssachen lassen die gesetzgeberische Vernunft der Regelung des § 18 AsylVfG und seiner Vorgänger deutlich werden. Die Konzentration der Zulässigkeitsprüfung auf die ranghohe gerichtliche Instanz wird den Eigentümlichkeiten des Auslieferungsverfahrens am besten gerecht: Auf das Oberlandesgericht, weil die Auslieferung eines Straftäters verlangt wird, auf eine Instanz, weil die Entscheidung über die Zulässigkeit rasch getroffen werden muß, und zwar im Interesse des Auslieferungsanspruchs des ersuchenden Staates wie im Interesse der Bundesrepublik an der Erfüllung ihrer Vertragspflicht, wie auch im Interesse des Beschuldigten an einer richterlichen Prüfung des Auslieferungsanspruchs ohne ungebührliche Verlängerung der Auslieferungshaft; eine zu lange Auslieferungshaft ginge schließlich zu Lasten des Beschuldigten, wird seine Auslieferung für unzulässig erklärt. Diese Besonderheiten des Auslieferungsverfahrens sind vom Gesetzgeber von vornherein erkannt und der Ausnahmeregelung des § 18 Satz 2 AsylVfG und den vorangegangenen Vorschriften zugrunde gelegt worden 413 • Die aw;schließliche Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für die Zulässigkeitsfrage verletzte das Grundrecht auf Asyl nur dann, wenn es im Auslieferungsverfahren ungeprüft bliebe. Davon aber kann keine Rede sein; nach den Auslieferungsverträgen, nach Art. 3 EuAuslüb und § 6 IRG darf die Auslieferung nicht bewilligt werden, wenn die Auslieferung wegen einer politischen Tat usw. verlangt wird oder der Auszuliefernde politische Verfolgung zu erwarten hätte. Das Oberlandesm Während die Entwürfe zu § 45 AuslG und § 18 AsylVfG den "Sondercharakter des Auslieferungsverfahrens als einer Form internationaler Rechtshilfe" hervorhoben, hat sich die Begründung zu § 6 IRG (keine Auslieferung bei politischer Verfolgung) ausführlicher mit diesem Fragenkomplex auseinandergesetzt, vg1. BT-Drucks. IV /3013 v. 26. 1. 1965, S. 8 1. Sp. zu § 26 s EntwAuslG; BT-Drucks. 9/875 v. 7.10.1981, S. 19, zu § 13 Satz 2 EntwAsylVfG; BT-Drucks. 9/1338 v. 10.2. 1982, S. 39 ff., zu § 5 II EntwIRG.

9.6 Der Vorrang des Auslieferungsverfahrens

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gericht muß prüfen, ob im konkreten Fall eines der "politischen" Auslieferungshindernisse besteht; es hat dazu alle ihm möglichen Ermittlungen zu veranlassen, um die behauptete Gefahr politischer Verfolgung aufzuklären 414 • Damit ist aber dem grundgesetzlichen Rechtsschutzanspruch genügt: Art. 19 IV GG garantiert weder einen bestimmten noch einen mehrinstanziellen Gerichtsweg; es reicht aus, wenn ein unabhängiges Gericht in einem effektiven Verfahren prüft, ob der Anspruchsinhaber in seinen Rechten verletzt ist us . Auch ist nicht etwa der Gleichheitssatz berührt, weil normalerweise Bundesamt und Verwaltungsgerichte über die Anerkennung der politischen Verfolgung entscheiden, im Auslieferungsfall davon unabhängig ein Oberlandesgericht. Gegenüber den 30-60000 jährlichen Asylbewerbern sind die 120-200 Auslieferungsfälle durch den Auslieferungsanspruch des Vertragsstaates, die behauptete Straftat sowie die Eilbedürftigkeit durch besondere Umstände gekennzeichnet, die ein besonderes Verfahren rechtfertigen. Die Recht- und Verfassungsmäßigkeit der Vorschriften des Auslieferungsverfahrens und des § 18 Satz 2 AsylVfG sind daher ernstlich nicht zu bezweifeln4ll• Ebenso ist das Rechtsstaatsprinzip nicht verletzt, weil etwa die Zuständigkeit zweier verschiedener staatlicher Instanzen und die Möglichkeit divergierender Beurteilungen desselben Sachverhalts den rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtssicherheit berührte. § 18 AsylVfG hat jede Unklarheit und Unsicherheit über die Frage beseitigt, wer über die politische Verfolgung entscheidet: das Bundesamt (und nach ihm die Verwaltungsgerichte), wenn und solange nicht die Auslieferung beantragt worden ist. Damit ist den im Auslieferungsverfahren zuständigen Instanzen - Oberlandesgericht, Bundesregierung - für den Auslieferungsfall ein klarer Vorrang in der Entscheidung eingeräumt. Die sachliche Notwendigkeit dieser Regelung ist offenkundig und bereits dargetan. Auch wenn das Bundesamt über den Asylantrag bereits positiv oder negativ entschieden hat: Nach § 18 AsylVfG ist das Oberlandesgericht nicht gebunden; es kann die politische Verfolgung bejahen, wenn das Bundesamt sie verneint hat, es kann sie verneinen, wenn das Bundesamt sie bejaht hat. 414 BVerfGE 52, 391/407; 64, 46/62 ff. O. Kimminich, BK, Erl. 341 erblickt den "Kern des Problems" in der Frage, ob die Herausnahme des Auslieferungsverfahrens aus der Bindungswirkung des rechtskräftigen Anerkennungsbescheides mit Art. 16 II 2 GG vereinbar ist. Diese Fragestellung wäre nur richtig, würden die materiellrechtlichen Voraussetzungen des Art. 16 II 2 GG im Auslieferungsverfahren nicht geprüft. Allgemein über das Verhältnis von Asyl- und Auslieferungsverfahren mit Angabe des Schrifttums: Albrecht Weber, ZAR 1984, S. 16 ff. 415 BVerfGE 49, 329/340 f.; 65, 76/90. 416 BVerfGE 60, 348/358; BVerfG v. 13.4.1983, NJW 1983, S. 1721; K. Hail-

bronner, S. 386.

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9, Auslieferung und Asyl

9,6,2 Unanfechtbare Entscheidungen des Bundesamts

Soweit Entscheidungen des Bundesamts noch nicht unanfechtbar geworden sind, kann der Beurteilungsvorrang des Oberlandesgerichts von vornherein nicht durch den Grundsatz der Rechtssicherheit in Frage gestellt werden; auf eine noch anfechtbare und aufhebbare Entscheidung kann sich niemand verlassen, Eine Anerkennung durch das Bundesamt indiziert allerdings die politische Verfolgung des Beschuldigten, und das Oberlandesgericht muß schon sorgfältig begründen, wenn und weshalb es von dieser Entscheidung abweichen willU7 , Ebenso kann eine nach der Entscheidung des Oberlandesgerichts ergangene Anerkennung als "Umstand" angesehen werden, der "eine andere Entscheidung über die Zulässigkeit zu begründen geeignet" ist, mit der Folge einer erneuten Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung 4l8 , Aber diese Vermutungswirkungen binden das Oberlandesgericht nicht für den Inhalt seines Beschlusses; ihm gegenüber kommt solchen Vorentscheidungen weder Tatbestands- noch Feststellungswirkung zu, Umstritten ist, ob auch unanfechtbare Entscheidungen in Asylsachen nicht binden419 , Man wird unterscheiden müssen zwischen der unanfechtbaren Anerkennung des Bundesamtes als der für die Feststellung speziell zuständigen Verwaltungsbehörde und den unanfechtbaren, also formell und materiell rechtskräftigen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte, Für das Bundesamt gilt § 18 Satz 2 AsylVfG, für die Asylentscheidungen der Verwaltungsgerichte ist § 121 VGO zu berücksichtigen, Hinsichtlich der in § 18 Satz 1 genannten "Entscheidung des Bundesamtes im Asylverfahren" läßt das Gesetz keinen vernünftigen Zweifel zu; es unterscheidet nicht zwischen anfechtbaren und unanfechtbaren Entscheidungen, Ein solcher Zusatz wäre auch sinnwidrig. Die Anerkennung verschafft dem Asylbewerber eine besondere Rechtsstellung; diese Rechtsstellung beginnt mit Wirksamkeit des Verwaltungsakts der Anerkennung, also vor Eintritt der Unanfechtbarkeit (§ 43 VwVfG). Bereits in diesem Zeitpunkt äußert die Anerkennung Tatbestandswirkung, 417 Bereits eine im Ausland ausgesprochene Anerkennung als politisch Verfolgter ist als "gewichtiges Indiz" im Auslieferungsverfahren zu beachten (BVerfGE 52, 391). 418 § 33 I IRG; vgl. BVerfGE 64, 46/65 f. 41V Gegen eine Bindung die Amtl. Begr. zu § 6 IRG, BT-Drucks. 9/1338, 8.40; Zöbeley, NJW 1983, 8.1705 m. weit. Nachw.; für eine Bindung z. B. O. Kimminich, JZ 1980, 8.176 f.; ders., BK, Erl. 341 ff. mit materiellrechtlichen und eher rechtspolitischen Erwägungen; ohne Begründung K. Hailbronner, 8.386. Das BVerfG hat die Frage der Bindung durch "eine rechtskräftige Anerkennung" offen gelassen, BVerfGE 60, 348/358; 64, 64 ff. In der zweiten Entscheidung (B. v. 13.4. 1983) war die Anerkennung durch das VG Ansbach nach der Zulässigkeitsentscheidung des Oberlandesgerichts rechtskräftig geworden. Eine Bindung der Bundesregierung hat das BVerfG nicht einmal erwogen.

9.6 Der Vorrang des Auslieferungsverfahrens

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sind also andere Behörden im Sinne des § 18 Satz 1 AsylVfG gebunden, auch wenn die Rechtsstellung wegen der aufschiebenden Wirkung der Klage des Bundesbeauftragten noch nicht endgültig erworben ist 420 • Da auf jeden Fall die unanfechtbare Anerkennung bindet, fällt sie auch unter die Ausnahmeregelung des Satzes 2 und verpflichtet daher das Oberlandesgericht ebensowenig wie die Bundesregierung. Das ist auch vernünftig. Das Bundesamt hat es regelmäßig nicht mit mutmaßlichen Straftätern zu tun; bei der Prüfung des Asylantrages wird der Strafvorwurf häufig gar nicht bekannt sein. Der Auslieferungsantrag kann den Fall in einem anderen Licht darstellen, zugunsten wie zu Lasten des Asylbewerbers. Auch muß dann sorgfältiger und kritischer geprüft werden als das sonst trotz Sachkunde und Routine des einzelnen Bearbeiters im Bundesamt bei den massenhaft anfallenden Asylverfahren möglich wäre. Mit dem Auslieferungsantrag des Vertragsstaates ist eine neue Lage entstanden. Selbst wenn das Bundesamt den Strafvorwurf in seine Erwägungen einbezogen hätte: für diese Lage war es trotz Sachkunde und Routine nicht zuständig und nicht sachkundig genug. Im Bundesamt entscheidet über den Asylantrag ein einzelner Bediensteter, der auch "Beamter des gehobenen Dienstes oder vergleichbarer Angestellter sein kann" (§ 8 III AsyIVfG). Würde seine Anerkennung das Oberlandesgericht binden, dann entschiede über den Auslieferungsanspruch eines Vertragsstaates in der Sache ein einzelner Beamter, nämlich ein Beamter des gehobenen Dienstes oder ein Angestellter TOA IVa, dessen Entscheidung den Senat des Oberlandesgerichts präjudiziert und den Anspruch des Vertragsstaates vorweg verneint hätte421 • Hier kommen jedoch nicht nur protokollarische Erwägungen ins Spiel. Die größere Sachrichtigkeit der Entscheidung über die politische Verfolgung ist von der Entscheidung des Oberlandesgerichts zu erwar420 Unrichtig R. Fritz, in: Baumüller u. a. (FN 158), § 18 Erl. 3, der ohne Begründung die Unanfechtbarkeit ein "ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal" nennt. 421 Zur Organisation des Entscheidungsverfahrens im Bundesamt "Vorprüfer", "Entscheider" (regelmäßig ein Amtmann) - s. BaumüHer, in: Baumüller u. a. (FN 158), § 4 Erl. 6. Bei allem Respekt vor der (von F. Werner sog.) deutschen "Inspektorenverwaltung" : hier würde nun wohl doch in der falschen Etage entschieden. Das gilt auch und besonders für die Vorschläge, das OLG solle bei dem Einwand politischer Verfolgung dem "Bundesamt" die Entscheidung überlassen, selbst dann, wenn dieses Bundesamt die politische Verfolgung bereits verneint haben sollte (s. vorn FN 405). Es wird dem Senat eines Oberlandesgerichts also ernstlich zugemutet, sich eine oft schwierige Tat- und Rechtsfrage von einem Amtmann entscheiden zu lassen. Abgesehen von der Stilfrage: Jeder "Entscheider" im Bundesamt hat pro Arbeitstag etwa zwei Asylanträge zu bescheiden (vgl. BT-Drucks. 10/ 3346 v. 14.5.1985, S.13); das Bundesamt zusätzlich mit einer das Auslieferungsverfahren präjudizierenden Feststellung zu belasten hieße, die Qualität aller seiner Entscheidungen in Frage zu stellen.

12 Quaritsch

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9. Auslieferung und Asyl

ten. Diese Annahme beruht auf der kollegialen Organisation des Senats gegenüber der monokratischen Zuständigkeit des Einzelbeamten, auf Rang und juristischer Erfahrung des obergerichtlichen Senats und auf der notwendig größeren Komplexität des Sachverhalts; er umfaßt notwendig beide Teilaspekte, den Vorwurf der Straftat und die vom Beschuldigten eingewendete politische Verfolgung. Zugleich kann in politisch heiklen Fällen vom Oberlandesgericht eine größere Standsicherheit gegenüber dem Druck der Interessengruppen und der von ihnen beeinflußten Medien erwartet werden; für einen einzelnen Verwaltungsbeamten ist die Verantwortungslast zu groß. Die gegen die Oberlandesgerichte erhobenen Vorwürfe, sie seien entweder zu unwissend (im Gegensatz zu Bundesamt und Verwaltungsgerichten) oder einfach unwillig, der Behauptung politischer Verfolgung nachzugehen, betreffen Einzelfälle - als ob Bundesamt und Verwaltungsgerichte in Einzelfällen nicht ebenso irren könnten - oder sind für eine wissenschaftliche Erörterung zu pauschal. Zumindest nach den neueren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts42! ist auch davon auszugehen, daß die Oberlandesgerichte in Auslieferungssachen ihrer Aufklärungspflicht ausreichend nachkommen, wenn politische Verfolgung eingewendet wird, und die ihnen vom Gesetz eingeräumten verfahrensrechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, den Beschuldigten also nicht nur durch den Amtsrichter vernehmen lassen (§ 28 IRG), sondern die (fakultative) mündliche Verhandlung durchführen (§§ 30 III, 31 IRG). Die Unanfechtbarkeit der Entscheidungen des Bundesamts - anerkennend oder die Anerkennung ablehnend - steht der erneuten Prüfung und gegebenenfalls abweichenden Entscheidung des Oberlandesgerichts auch unter dem Gesichtspunkt des Rechtsstaats nicht entgegen. Das Prinzip der Rechtssicherheit ist ein wesentlicher Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips 423. Aus dem Prinzip der Rechtssicherheit folgt die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen und sonstiger in Rechtskraft erwachsener Akte der öffentlichen Gewalt424 • Dieser Grundsatz gilt indes nicht unbeschränkt und nicht allein; er kann mit dem ebenfalls rechtsstaatlichen Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall kollidieren4!5. Ist das Oberlandesgericht überzeugt, der Beschuldigte sei politisch verfolgt, während das Bundesamt diese Verfolgung verneint hatte, oder das Bundesamt habe ihn zwar anerkannt, er werde aber in Wirklichkeit nicht verfolgt - sei es aus tatsächlichen, sei es aus rechtlichen Gründen -, dann widerspräche die Durchsetzung der Entscheidung des Bundesamts der Gerechtigkeit. Zur Gerechtigkeit m BVerfGE 60, 348 ff.; 64, 46 ff. m st. Rspr., BVerfGE 2, 403; 49, 164. m BVerfGE 15, 319 unter Hinweis auf BVerfGE 2,403; 13,271. 425 BVerfGE 7, 92, 196.

9.6 Der Vorrang des Auslieferungsverfahrens

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in diesem Sinne gehört sowohl das Asylgrundrecht des Beschuldigten als auch der vertraglich gesicherte Anspruch des fremden Staates auf Auslieferung. Kollidieren Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, dann muß der Gesetzgeber entscheiden, welchem Prinzip der Vorrang eingeräumt werden soll; beide Prinzipien genießen denselben Verfassungsrang. Der Gesetzgeber handelt daher nicht willkürlich, wenn er der Rechtssicherheit den Vorrang einräumt 428 • Der Gesetzgeber kann ebenso zu Lasten der Rechtssicherheit und zugunsten der Gerechtigkeit entscheiden; für seine Wa:hl genügt unter dem Aspekt des Art. 3 GG die Entscheidung selbst 427 • Für die Entscheidung des § 18 Satz 2 AsylVfG gibt es überdies mehrere vernünftige und einleuchtende Gründe; das wurde bereits dargetan. Mit dem Verfassungsprinzip Rechtsstaat steht daher § 18 Satz 2 AsylVfG auch in Einklang, soweit die Bescheide des Bundesamts unanfechtbar geworden sind428 •

9.6.3 Rechtskräftige Entscheidungen der Verwaltungsgerichte Verwaltungsgerichtliche Urteile binden die Beteiligten soweit, als über den Streitgegenstand entscllieden worden ist (§ 121 VGO)42G. Bei Urteilen über die Asylberechtigung sind dieser materiellen Rechtskraft unterworfen als Beteiligte der Asylbewerber, der Bundesbeauftragte (sofern er sich beteiligt oder klagt) und die Behörden der vom Bundesamt und Bundesbeauftragten vertretenen Körperschaften, also alle Bundesbehörden430 • Die Behörden der Länder und der Gemeinden sind daher nicht durch § 121 VGO, sondern über § 18 Satz 1 AsylVfG an die Entscheidung des Bundesamts gebunden. Das reicht auch aus. Das Verwaltungsgericht hat entweder die Entscheidung des Bundesamts bestätigt oder das Bundesamt (rechtskräftig) zur Anerkennung verpflichtet. Damit sind Tatbestands- und Feststellungswirkung der Anerkennung (oder Nichtanerkennung) von der materiellen Rechtskraft erfaßt. Auf diese wichtige Folge ist noch zurückzukommen. BVerfGE 19, 166; 29, 402. m BVerfGE 15, 319 f. unter Hinweis auf seine st. Rspr. Eine Wertabwägung prinzipiell nach einer Richtung, etwa zugunsten grund rechtlicher Freiheit, ist verfassungsrechtlich unzulässig, vgl. K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 133/34. 428 Zur Wahlfreiheit des Gesetzgebers bei der Regelung der Rechtsbeständigkeit unanfechtbarer Verwaltungsakte s. BVerfGE 27, 305 f. 429 Die folgende schulmäßige Darstellung ist notwendig, weil das asylrechtliche Schrifttum § 18 AsylVfG prozeßrechtlich bisher nicht gewürdigt hat. 430 Zu der "subjektiven" Grenze der Rechtskraft, wenn eine Körperschaft am verwaltungsgerichtlichen Verfahren beteiligt ist, s. C. H. ute, § 59 II 1, S. 298 f.; die Finanzgerichtsordnung hat diese Frage ausdrücklich geregelt: "Die gegen eine Finanzbehörde ergangenen Urteile wirken auch gegenüber der Körperschaft, der die beteiligte Finanzbehörde angehört" (§ 110 FGO); dazu K. A. Bettermann, Beiträge zum Zivil-, Steuer- und Unternehmens recht, Festschrift H. Meilicke, 1985, S. 1 ff. 428

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9. Auslieferung und Asyl

Die "objektive" Grenze der materiellen Rechtskraft ergibt sich aus dem Streitgegenstand. Hat der Asylbewerber geklagt (Verpflichtungsklage), so steht rechtskräftig fest, daß ihm der Anspruch auf Anerkennung als politisch Verfolgter zusteht oder nicht zusteht. Hat der Bundesbeauftragte auf Anerkennung geklagt, gilt dasselbe; hatte er eine Anerkennung angegriffen, also deren Aufhebung beantragt, so wird durch das aufhebende oder abweisende Urteil die Rechtswidrigkeit oder die Rechtmäßigkeit der Anerkennung rechtskräftig festgestellt 431 • Im Auslieferungsverfahren ist der Streitgegenstand ein anderer; in ihm geht es um den vertraglichen Anspruch des fremden Staates auf Auslieferung. Aber die Bindung des Oberlandesgerichts scheitert nicht schon an mangelnder Identität des Streitgegenstandes. Denn § 121 VGO verpflichtet die Beteiligten, das verwaltungsgerichtliche Urteil zu beachten, soweit es "über den Streitgegenstand entschieden" hat, hier also über die Anerkennung oder Nichtanerkennung. Durchgesetzt wird diese Bindung durch das Gericht, für das in einem anderen Verfahren die rechtskräftig entschiedene Fallfrage entscheidungs erheblich ist. Bei identischem Streitgegenstand wird die materielle Rechtskraft eines Urteils nur selten erheblich 432 • Häufiger sind die entscheidungserheblichen "Vorfragen" , die ein anderes Gericht rechtskräftig entschieden hat, und die das Gericht ebenfalls binden, wenn die Beteiligten dieselben sind 433 • Beteiligt sind im Auslieferungsverfahren der Bund, vertreten durch den Bundesjustizminister, und der Beschuldigte, der (strafrechtlich) "Verfolgte" im Sinne des IRGm . Nach § 121 VGO sind die Beteiligten, die sich im verwaltungsgerichtlichen Verfahren über die Asylanerkennung schon einmal gegenüber standen, an das in ihm ergangene Urteil über die Anerkennung gebunden. Wäre § 121 VGO allein maßgeblich, dann müßte das Oberlandesgericht genauso entscheiden wie das Verwaltungsgericht, also von der rechtskräftigen Anerkennung oder Nichtanerkennung ausgehen; es dürfte die Richtigkeit nicht mehr nachprüfen 435 • Die Bindung entfiele nur, soweit sich nach der verwaltungs431 Zur Lehre vom Streitgegenstand bei der Anfechtungs- und der Verpflichtungsklage s. C. H. UZe, § 35 S. 205 ff.; § 59 II, S. 300 ff. m. Nachw. von Rspr. und Schrifttum. 432 K. A. Bettermann (FN 430), S. 3. 433 Vgl. für das bekannte Beispiel der Bindung des Zivilgerichts im Amtshaftungsprozeß an das verwaltungsgerichtliche Urteil über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des eingreifenden Verwaltungsakts die st. Rspr. des Bundesgerichtshofs (BGHZ 9, 329; 15, 17) und C. H. UZe, S.206/07, 298; allgemein BVerwGE 25,7 ff. m Der ersuchende Staat ist nicht beteiligt; das Verfahren vor dem Oberlandesgericht dient der Bundesregierung zur staatsinternen Prüfung des Auslieferungsanspruchs. 435 Vgl. BVerwGE 35, 234/36; C. H. UZe, S. 297.

9.6 Der Vorrang des Auslieferungsverfahrens

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gerichtlichen Entscheidung die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände geändert haben, wenn also die Anerkennung durch das Bundesamt widerrufen worden ist (§ 16 AsyIVfG), weil z. B. die Partei des Beschuldigten inzwischen die Regierung übernommen oder die politische Verfolgung aus anderen Gründen geendet hat 431 • Die Anerkennung ist nicht stets für das Oberlandesgericht "entscheidungserhebliche Vorfrage". Die Anerkennung verschafft dem Asylberechtigten kein absolutes Aufenthaltsrecht, das einer Auslieferung stets und unter allen Umständen entgegenstände wie die deutsche Staatsangehörigkeit (Art. 16 II 1 GG). Der anerkannte politisch Verfolgte erfährt im Hinblick auf die Auslieferung an einen fremden Staat keine Inländergleichbehandlung. Das ergibt sich nicht aus § 18 Satz 2 AsylVfG, sondern aus dem Grundrecht selbst. Art. 16 II 2 GG soll den Ausländer oder Staatenlosen vor politischer Verfolgung schützen. Das Aufenthaltsrecht ist nur ein Mittel zur Verwirklichung dieses Zwecks. Führt die Aufhebung des Aufenthaltsrechts nicht zu politischer Verfolgung, dann kann es gegen berechtigte Auslieferungsansprüche dritter Staaten nicht geltend gemacht werden. Tatbestands- und Feststellungswirkung der Anerkennung reichen nicht weiter als der Schutzzweck des Grundrechts. So ist eine Anerkennung wegen politischer Verfolgung im Iran unerheblich, wenn Großbritannien um Auslieferung eines Iraners wegen Rauschgifthandels ersucht; er hat in Großbritannien keine politische Verfolgung zu erwarten und seine Abschiebung in den Iran kann durch Vereinbarung ausgeschlossen werden (§ 11 I Nr.3 IRG). Anders ist die (allein unter dem Aspekt des § 121 VGO betrachtete) Rechtslage, wenn der Verfolgerstaat selbst die Auslieferung beantragt. Die britische Regierung verlangt die Auslieferung eines britischen Staatsbürgers irischer Nationalität - in der Bundesrepublik wegen seiner politischen Aktivitäten in Nordirland als politisch Verfolgter anerkannt -, weil er seine Schwiegermutter umgebracht haben soll. Ist die Anerkennung verwaltungsgerichtlich unanfechtbar bestätigt, dann steht rechtskräftig fest, daß ihm auf britischem Hoheitsgebiet politische Verfolgung droht. Aus Tatbestands- und Feststellungswirkung der Anerkenung (§ 18 Satz 1 AsylVfG) würde über § 121 VGO eine Auslieferungssperre für Großbritannien folgen. Das Oberlandesgericht dürfte dann nicht die einzelnen "politischen" Gründe prüfen, die nach dem EuAuslüb und dem IRG die Auslieferung ausschließen. Denn es ist rechtskräftig entschieden, daß dem Beschuldigten im Verfolgerstaat (regelmäßig seinem Heimatstaat) politische Verfolgung droht, aus welchem Grund und in welcher Weise auch immer. Diese Folge ergäbe sich aus der rechtlichen Eigenart der " Anerkennung" , 436 Zur "unveränderten Sach- und Rechtslage" als Bedingung der materiellen Rechtskraft s. C. H. ute, S. 302.

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9. Auslieferung und Asyl

ihrer Tatbestands- und Feststellungswirkung sowie ihrer Allgemeinverbindlichkeit nach § 18 Satz 1 AsylVfG. Die so beschaffene "Anerkennung" soll verhindern, daß das Grundrecht durch erneute Prüfung der Verfolgung und des zugrunde liegenden Sachverhalts stets in Frage gestellt werden kann. § 18 Satz 1 AsylVfG würde mittelbar auch die objektiven Grenzen der Rechtskraft erweitern. Denn ohne die Allgemeinverbindlichkeit des § 18 Satz 1 AsylVfG, also im Normalfall, ergibt sich die Reichweite der Rechtskraft aus dem, was und worüber das Verwaltungsgericht entschieden hat, weshalb Tatbestand und Entscheidungsgründe heranzuziehen sind437 • Verändert sich der Sachverhalt durch neue Tatsachen, entfällt die Bindung. Bei der rechtskräftig bestätigten Anerkennung würde es jedoch nicht genügen, daß im Heimatland des Verfolgten die Partei des Verfolgten die Regierungsmacht übernommen hat. Solange die Anerkennung nicht durch das Bundesamt widerrufen worden ist - der Widerruf wäre wiederum verwaltungsgerichtlich nachprüfbar -, wäre das Oberlandesgericht im Auslieferungsverfahren an die Anerkennung gebunden. Denn die materielle Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils schließt die Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidung des Bundesamts ein; sie endet erst und nur durch den förmlichen Widerruf, für den nur das Bundesamt zuständig ist. Diese Konsequenz müßte jedoch auch gezogen werden, hätte das Verwaltungsgericht die politische Verfolgung verneint. Mit der rechtskräftigen Kassation der Anerkennung des Bundesamts oder der rechtskräftigen Abweisung der Klage des Asylbewerbers steht fest, daß der Beschuldigte im ersuchenden Staat nicht politisch verfolgt wird. Wie § 18 Satz 1 AsylVfG für Anerkennungen wie Nichtanerkennungen gilt, so unterscheidet die materielle Rechtskraft nicht zwischen stattgebenden und abweisenden Urteilen, zwischen Grundrechten und der Pflicht zur Aufstellung und Benutzung von Mülltonnen. Das Oberlandesgericht und die Bundesregierung dürften also den Einwand politischer Verfolgung trotz veränderter Sach- und Rechtslage - sie könnte schon durch den Auslieferungsantrag und seine Hintergründe entstanden sein - nicht prüfen, solange nicht das Bundesamt den Beschuldigten nunmehr als politisch Verfolgten anerkannt hätte und damit der Ablehnungsbescheid aus der Welt geschafft wäre. Die uneingeschränkte Geltung der materiellen Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung würde also mehrere unbillige Folgen haben, und zwar nicht nur zu Lasten des ersuchenden Staates, sondern auch des Beschuldigten. Auf den ersten Blick scheint die Problemlösung des § 18 Satz 2 AsylVfG die verwaltungsgerichtlich beurteilten Asylanträge nicht zu treffen. Allgemein verbindlich ist "die Entschei437

BVerwGE 17, 293/299 ff.; C. H. UZe, § 59 II 2, S.300.

9.6 Der Vorrang des Auslieferungsverfahrens

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dung des Bundesamts" (Satz 1) und diese Verbindlichkeit "gilt nicht für das Auslieferungsverfahren" (Satz 2). Von einem (dazu rechtskräftigen) verwaltungsgerichtlichen Urteil, das ebenfalls im Auslieferungsverfahren nicht verbindlich sein soll, ist überhaupt nicht die Rede. Aber eine solche Argumentation wäre voreilig. Das Verwaltungsgericht bestätigt die anerkennende oder nichtanerkennende Entscheidung des Bundesamts oder es hebt die Ablehnung der Anerkennung auf und verpflichtet das Bundesamt, den Kläger anzuerkennen. Wie auch immer das Verwaltungsgericht entscheidet: Gegenstand der allgemeinen Verbindlichkeit ist stets "die Entscheidung des Bundesamts", nicht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Das folgt aus der Tenorierung des Urteils - das Verwaltungsgericht erkennt niemals selbst an - wie aus der beschränkten Reichweite der materiellen Rechtskraft: § 121 VGO bindet nur die Beteiligten des Rechtsstreits, während § 18 Satz 1 AsylVfG weiter geht, nämlich "in allen Angelegenheiten" bindet, "in denen die Anerkennung rechtserheblich ist", also über die "Beteiligten" des verwaltungsgerichtlichen Rechtsstreits und § 121 VGO hinaus alle, die es angeht 438 • Gilt die Verbindlichkeit der Entscheidung des Bundesamts im Auslieferungsverfahren nicht, kann sich dieser Ausschluß nur auf die von Satz 1 geregelte Besonderheit der Verbindlichkeit "in allen Angelegenheiten" beziehen: nicht verbindlich im Auslieferungsverfahren. Der Gesetzgeber hat die Unverbindlichkeit der Entscheidung des Bundesamts angeordnet, ohne Differenzierung zwischen Anerkennungen mit verwaltungsgerichtlichem Urteil oder ohne. Daraus folgt: § 121 VGO bleibt unberührt. Aber auch die zweite Folgerung ist unabweisbar: im Auslieferungsverfahren entfällt die Verbindlichkeit der Entscheidung des Bundesamts. § 18 Satz 2 AsylVfG bleibt gleichsam auf der Seite des Verwaltungsakts und des Verwaltungsverfahrens, ohne die prozessuale Regel des § 121 VGO aufzuheben; dazu hätte es auch wohl eines Hinweises des Gesetzgebers bedurft. Es wird allerdings - für das Auslieferungsverfahren - der Rechtskraft die besondere Verbindlichkeit des § 18 Satz 1 AsylVfG entzogen, so daß im Auslieferungsverfahren das Urteil des Verwaltungsgerichts so behandelt wird, als hätte es nicht über die Tatbestands- und Feststellungswirkung der Entscheidung des Bundesamts entschieden, sondern über eine verwaltungsbehördliche Maßnahme ohne diese besonderen Qualitäten. Das bedeutet: Die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils sind - im Auslieferungsverfahren - auf den Sachverhalt beschränkt, über den das Verwaltungsgericht entschieden hat. Die spezi438 Jüngst hat K. A. Bettermann (FN 430) auf die Unterschiede zwischen der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Urteile und von Gesetzes wegen angeordneter Allgemeinverbindlichkeit (z. B. §§ 636 a, 638/636 a, 640 h, 641 k ZPO) nachdrücklich hingewiesen (S. 4 ff.).

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9. Auslieferung und Asyl

fische Tatbestands- und Feststellungswirkung der Anerkennung nach § 18 Satz 1 AsylVfG wird im Auslieferungsverfahren (und nur dort) von der Rechtskraft nicht erfaßt. Es hängt also wie auch sonst bei der Anwendung des § 121 VGO von Tatbestand und Entscheidungsgründen ab, ob das Verwaltungsgericht über die politische Verfolgung positiv oder negativ auch für das Auslieferungsverfahren und damit für das Oberlandesgericht rechtskräftig entschieden hat. Bejahte oder verneinte das Verwaltungsgericht die Frage, daß die Tat, wegen der die Auslieferung verlangt wird, "eine politische oder als eine mit einer solchen zusammenhängende strafbare Handlung" war (Art. 3 I EuAuslüb, § 6 I 1 IRG), dann sind Bundesregierung und Oberlandesgericht durch § 121 VGO an einer abweichenden Beurteilung gehindert. Dasselbe gilt für die Annahme ernstlicher Gründe, "daß das Auslieferungsersuchen wegen einer nach gemeinem Recht strafbaren Handlung gestellt worden ist, um eine Person aus rassischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen" (Art. 3 II EuAuslüb). Eine erneute Prüfung der dritten Alternative wäre ebenfalls unzulässig, hätte das Verwaltungsgericht bereits darüber entschieden, ob "die verfolgte Person der Gefahr einer Erschwerung ihrer Lage" (in Strafverfahren und Strafvollzug) aus einem der in Satz 1 genannten "politischen Gründe ausgesetzt wäre" (Art. 3 II EuAuslüb, § 6 II IRG). In der Praxis wird das Verwaltungsgericht jedoch nur selten über die besonderen Tatbestände politischer Verfolgung rechtskräftig entschieden haben, die im Auslieferungsverfahren eine Rolle spielen. über das Vortäuschen gemeiner Kriminalität, die "politische Tat" und die "Erschwerung der Lage" des Auszuliefernden in Strafverfahren und Strafvollzug kann das Verwaltungsgericht nur befinden, wenn der Auslieferungsantrag und seine mögliche Bewilligung Grund für die Anerkennung gewesen oder entschieden worden ist, daß der Asylbewerber nach der Auslieferung nicht politisch verfolgt werden wird. Diese Fallkonstellation wird aber vergleichsweise selten sein. Das hängt zusammen mit den bereits vorgeführten zeitlichen Dimensionen der beiden Verfahren. Werden Asylantrag und Auslieferungsantrag etwa gleichzeitig gestellt, kann das Oberlandesgericht nicht auf den Eintritt der Rechtskraft des Urteils warten. Ist der Asylantrag so rechtzeitig gestellt worden, daß ein verwaltungsgerichtliches Urteil über die Entscheidung des Bundesamts vor der Entscheidung des Oberlandesgerichts rechtskräftig werden kann, ist die Würdigung des Auslieferungsantrages, seiner Umstände und Hintergründe im verwaltungsgerichtlichen Urteil so gut wie ausgeschlossen. Lag dem verwaltungsgerichtlichen Urteil ein Sachverhalt zugrunde, der mit dem Auslieferungsantrag nichts zu tun hat, so ist allein die auf

9.6 Der Vorrang des Auslieferungsverfahrens

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diesen Sachverhalt bezogene Entscheidung rechtskräftig geworden. Verneinte das Verwaltungsgericht die politische Verfolgung, dann ist das Oberlandesgericht nicht gehindert, diese Frage anhand der "politischen" Kriterien des EuAuslüb und des IRG zu prüfen. Das ergibt sich aus den objektiven, auf den konkreten Sachverhalt bezogenen Grenzen der materiellen Rechtskraft und aus § 18 Satz 2 AsylVfG; das braucht nicht wiederholt zu werden. Bejahte das Verwaltungsgericht die politische Verfolgung, so ist eine Auslieferung noch nicht unzulässig und ist das Oberlandesgericht nicht der Prüfung enthoben, ob die "politischen" Tatbestände des Auslieferungsrechts gegeben sind. Der Auslieferungsantrag hat nicht nur den Sachverhalt verändert, sondern auch eine neue Rechtslage geschaffen. Zusätzlich ist nunmehr ein zentraler Grundsatz des Auslieferungsrechts anzuwenden, nämlich die sog. Spezialität. Ausgeliefert werden darf nur, "wenn gewährleistet ist, daß der Verfolgte (1) in dem ersuchenden Staat ohne deutsche Zustimmung aus keinem vor seiner überstellung eingetretenen Grund mit Ausnahme der Tat, derentwegen die Auslieferung bewilligt worden ist, bestraft, einer Beschränkung seiner persönlichen Freiheit unterworfen oder durch Maßnahmen, die nicht auch in seiner Abwesenheit getroffen werden können, verfolgt werden wird, (2) nicht ohne deutsche Zustimmung an einen dritten Staat weitergeliefert, überstellt oder in einen dritten Staat abgeschoben wird und (3) den ersuchenden Staat nach dem endgültigen Abschluß des Verfahrens, dessentwegen seine Auslieferung bewilligt worden ist, verlassen darf" (§ 11 I IRG). Sind diese Bedingungen gewährleistet (und sind auch die politischen Kriterien des Auslieferungsrechts nicht gegeben), droht dem Ausgelieferten keine politische Verfolgung, z. B. dem britischen Staatsbürger irischer Nationalität, der wegen seiner politischen Aktivitäten in Nordirland politisch verfolgt und deswegen anerkannt worden ist, dessen Auslieferung die britische Regierung beantragt, weil er seine Schwiegermutter umgebracht haben soll. Unter dem Aspekt der materiellen Rechtskraft betrachtet: der Auslieferungsantrag und die Zusagen des ersuchenden Staates haben den Sachverhalt und die Rechtslage so verändert, daß über die Auslieferung unabhängig von dem verwaltungsgerichtlichen Urteil zu entscheiden ist. Auch Art. 16 II 2 GG stände der Auslieferung nicht entgegen. Das Asylgrundrecht soll vor politischer Verfolgung schützen, das mit ihm regelmäßig verbundene Aufenthaltsrecht ist nur ein Mittel zum Zweck, darf daher nicht als absolutes Aufenthaltsrecht mißverstanden werden 439 • Kann von der Verläßlichkeit der Spezialitätszusagen der ersuchenden Regierung ausgegangen werden, droht dem Beschuldigten keine politische Verfolgung. Der nordirische Schwiegermutter-Mörder 438

Eine abweichende Ansicht vertritt häufig das Asylrechtsschrifttum, z. B.

O. Kimminich, BK, Er!. 350 ff.

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9. Auslieferung und Asyl

ist gewiß nicht repräsentativ für das Problem; es sind die von Jugoslawien, der Türkei und nahöstlichen Staaten ersuchten Auslieferungen. Die Verläßlichkeit der Spezialitätszusage ist dann eine oft schwierige Tatfrage. Es ist aber unzulässig, solchen Tatfragen durch eine unrichtige Auslegung auszuweichen. Die Verfassungsmäßigkeit der Auslieferung in diesem Fall ist anerkannt; es kommt lediglich darauf an, ob die Verpflichtungserklärungen des ersuchenden Staates von seinen Organen der Strafverfolgung und Strafvollstreckung erfüllt werden440 • Das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts hindert die Auslieferung nur, wenn zu seinem Sachverhalt der Auslieferungsantrag und die Spezialitätszusage in diesem konkreten Auslieferungsfall gehören, das Verwaltungsgericht also über alle entscheidungserheblichen Auslieferungsfragen entschieden hat. Abgesehen von dieser gewiß seltenen Situation: die Zusagen des ersuchenden Staates gemäß § 11 I IRG verändern die Sach- und Rechtslage, so daß die materielle Rechtskraft der verwaltungsgerichtlichen Feststellung politischer Verfolgung entfällt. Bundesregierung und Oberlandesgericht sind daher an das Urteil nicht gebunden. Die bei näherer prozeßrechtlicher Betrachtung sehr begrenzte Reichweite der materiellen Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile in Asylsachen bedeutet nicht ihre Wertlosigkeit im Auslieferungsverfahren. Das Verwaltungsgericht hat den Fall des Verfolgten analysiert und gewürdigt. Damit sind die besonderen Kenntnisse der Verwaltungsgerichte in Asylsachen in den Auslieferungsfall eingebracht und aktenkundig gemacht worden. Auch wenn das Oberlandesgericht an das Resultat nicht im strengen Rechtskraftsinne gebunden ist; es wird die verwaltungsgerichtliche Würdigung des Sachverhalts weder ignorieren noch leichthin übergehen. In der Rechtspraxis wirkt das verwaltungsgerichtliche Urteil durchaus, und zwar als Indiz für oder gegen eine politische Verfolgung des Auszuliefernden.

440 st. Rspr., vgl. BVerfGE 15, 249; 38, 402; 52, 391 ff.; 60, 358; 63, 197; 64, 46, 125. - Türkische Spezialitätszusagen werden unterschiedlich bewertet, s. bereits vorn FN 164. Das Bundesjustizministerium, das die Auslieferungspraxis am besten kennt, hält diese Zusagen für verläßlich; eine zusätzliche Prüfung der Umstände des Einzelfalles fordern das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 64, 46/62 ff.) und das OLG Celle, B. v. 31. 8. 1983 (InfAuslR 1984, S. 105 ff.). Levent Begen, wegen mehrerer Morde und Raubüberfälle gesucht und in BVerfGE 63, 125, 133 f. zitiert, ist nach seiner Auslieferung am 30.6. 1980 jedenfalls nicht "verschollen" (BT-Prot. 10/1315 B); er verbüßt ohne erkennbare körperliche Schäden seine Strafhaft (s. Protokoll des Rechtsausschusses v. 28.9. 1983, S. 55).

10. Ergebnisse 10.1 Der deutsche Sonderweg der grundgesetzlichen Asylrechtsgarantie In keinem vergleichbaren Land der Welt ist das Asylrecht zugleich als absolutes Asylrecht und als individueller Rechtsanspruch des Verfolgten ausgestaltet, als Grundrecht auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben und durch die Gewährleistung des Rechtsweges zu den Gerichten der Verfügung von Parlament und Regierung entzogen. Die unspezifizierte Garantie des Asylrechts und die vorbehaltlose Ausgestaltung als Grundrecht beseitigen die politische Handlungsfähigkeit und verengen die Argumentation auf den humanitären Aspekt des Asyls. Die möglichen Beeinträchtigungen der zwischenstaatlichen Beziehungen bis hin zu inneren Unruhen im Zufluchtstaat selbst werden ignoriert oder mit dem formalistischen Argument der Unzulässigkeit völkerrechtlicher Sanktionen beantwortet. Von der in Asylsachen bewahrten politischen Handlungsfreiheit unserer staatlichen Nachbarn muß die Bundesrepublik die Folgen tragen. Auch die allgemeine Verantwortung für Anerkennung oder Verweigerung des Asylrechts obliegt in der Bundesrepublik nicht der politischen Führung, sondern den Beamten des gehobenen Dienstes im Bundesamt und den Verwaltungsgerichten. Wegen der besonderen Ausgestaltung des Asylrechts sind die Gerichte auch verantwortlich für die politischen und sozialen Folgen ihrer Interpretation. Normanwendung entbindet nicht von der Notwendigkeit, ihre tatsächlichen Konsequenzen im Einzelfall wie für alle diejenigen Fälle in den Vorgang der Rechtsfindung einzubeziehen, die nach dem judizierten Muster künftig behandelt werden. In Asylsachen dürfen die Gerichte nicht achselzuckend auf den Verfassungsgesetzgeber verweisen; eine richterliche Auslegung ist nicht durch den Verfassungsgesetzgeber zu ändern, sondern durch richterliche Auslegung. Insbesondere ist es nicht Aufgabe der Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat, die unzutreffende Normauslegung eines Verwaltungsgerichts durch Änderung des Grundgesetzes zu korrigieren.

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10. Ergebnisse

10.2 Zur Entstehung des Asylgrundrechts Für den Parlamentarischen Rat war der politische Flüchtling Europäer und die Gründe seiner Flucht waren in Europa zu suchen. Außerhalb des Vorstellungshorizonts blieben 1948/49 die großen Flüchtlingsbewegungen, die nach der Dekolonisierung in Asien und Afrika auftraten und die sich seit der Mitte der 70er Jahre auch auf die Bundesrepublik auswirken. Das Asylrecht wurde als Grundrecht formuliert, weil der Parlamentarische Rat subjektive und für die Person wesentliche Rechte generell in den Rang von Grundrechten heben wollte. Die mit der grundrechtlichen Klagebefugnis des Asylbewerbers verbundenen Folgen blieben unerkannt. Im Parlamentarischen Rat wurde die Asylgewährleistung nicht als Menschenrecht im Sinne von Art. 1 II GG oder als Schutzverpflichtung gern. Art. 1 I GG verstanden; Asyl sollte der "politische" Flüchtling erhalten. Das Asylgrundrecht war im Parlamentarischen Rat als "Aufenthaltsrecht" gedacht; andere Rechte sollten für den Verfolgten aus anderen Grundrechten oder dem einfachen Gesetz folgen. Das Bild des politisch Verfolgten war geprägt von den europäischen Erfahrungen zwischen 1917 und 1945: der Verfolgte, der vor Lenin, Stalin und Hitler geflohen war. Diese Verfolgungen hatten sich auf alle Schattierungen des politischen Meinungsspektrums erstreckt. Das absolute Asylrecht des Grundgesetzes war die normative Antwort auf diesen 1948/49 noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt. Der Verzicht auf spezifizierte Verfolgungsgründe war zugleich Ausdruck der im Parlamentarischen Rat noch vorhandenen Solidarität der gemeinsam Verfolgten. Die Realien zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes und in den Jahren danach begrenzten die tatsächlichen Auswirkungen der "generösen" Asylrechtsgarantie. Angesichts der politischen und wirtschaftlichen Lage Westdeutsch lands und der Vorbehalte der Besatzungsmächte konnte der Parlamentarische Rat vor unk al kuli erb aren Folgen der Asylrechtsgarantie sicher sein. Bis 1973 waren Anwendung und Auswirkungen des Asylgrundrechts administrativ und sozial zu bewältigen. Die Eingliederung der Flüchtlinge, von denen die meisten aus Jugoslawien, Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn kamen, blieb weithin problemlos; im breiten Strom der fast vier Millionen Ausländer, die zwischen 1960 und 1973 als Gastarbeiter oder deren Angehörige in die Bundesrepublik kamen, wurden die Asylbewerber kaum bemerkt.

10.4 Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung

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Nachdem 1973 der Zugang zur Bundesrepublik über den legalen Gastarbeiterstatus verschlossen wurde, war Art. 16 II 2 GG das einzige Tor, das jedermann öffnen konnte mit der bloßen Behauptung, politisch verfolgt zu sein, um für sechs Jahre in der Bundesrepublik und gehalten von ihrem sozialen Netz bleiben zu können. Das starke Gefälle zwischen dem in der Bundesrepublik garantierten Existenzminimum und der großen Armut auf anderen Kontinenten mußte zwangsläufig Wanderungen anreizen, für die der moderne Flugverkehr alle Grenzen aufhob. Neben die beunruhigende Entwicklung der Quantitäten trat das Problem der ungleich schwierigeren Eingliederung von Menschen aus fremden Kulturkreisen, denen nicht nur die Sprache, sondern Klima, Religion usw. in der Bundesrepublik fremd sein und fremd bleiben mußten. Das Umkippen des westdeutschen Arbeitsmarkts, die einsetzende Arbeitslosigkeit und das Ende des Wirtschaftswachstums bildeten das dritte und ökonomische Moment, das die Entwicklung des Asyls als Krise eines Grundrechts in das öffentliche Bewußtsein hob. Das Asylgrundrecht ist durch seinen Zuschnitt auf den individuellen Einzelfall und den Grundrechtsträger kein geeignetes Instrument, die Not dieser Welt zu lindern. 10.3 Politische Rahmenbedingungen der Asylrechtsdiskussion Die öffentliche Diskussion ist gekennzeichnet durch die beherrschende Stellung karitativer und anderer Hilfsorganisationen, die als reinblütige Interessengruppen agieren. Medieillgerecht aufbereitete Einzelschicksale von Armut und Hilflosigkeit nähren das für die westdeutsche Gesellschaft typische Bedürfnis nach Entrüstung über erbarmungslose Mechanismen der als herzlos vorgestellten Staatsbürokratie und ihrer Regeln. Parlament, Verwaltung und Gerichte sind durch Verfassung und Gesetz in jedem Einzelfall verpflichtet, das Allgemeine im Auge zu behalten, können diese Notwendigkeit aber in einem publizistischen Klima, das am befremdlichen oder mitleiderregenden Einzelfall orientiert ist, kaum noch verdeutlichen. 10.4 Wandlungen des Begriffs der "politischen" Verfolgung Ein so erfahrungsbeladener Begriff wie derjenige der "politischen Verfolgung" kann sinnvoll nur unter Berücksichtigung des Sinnes ausgelegt werden, der bei seiner übernahme in die Verfassung mit ihm verbunden worden ist. Gleichwohl muß sich der Interpret des Asylgrund-

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10. Ergebnisse

rechts von unrichtigen Erwägungen und überholten Vorstellungen der an der Entstehung der Norm beteiligten Personen lösen. Die Strafverfolgung wegen "politischer Taten" des Auslieferungsrechts und der Staatsschutzdelikte ist nur dann politische Verfolgung, wenn sie illegitime Mittel einsetzt oder illegitime Ziele anstrebt. Die Einbettung des Asyls in den von Art. 1 GG gebotenen Schutz der Menschenwürde widerspricht nicht nur der Entstehungsgeschichte; sie ist juristisch ebenso überflüssig wie gefährlich für politisch Verfolgte. Die Verletzung der Menschenwürde bestimmt nicht, wie das Bundesverfassungsgericht annimmt, "Voraussetzungen und Umfang" des Asylgrundrechts. Die Menschenwürdeverletzung ist Kriterium der Verfolgung, um diese von Schikanen und anderen Nachteilen abzugrenzen.

Folter ist bei gewöhnlicher Kriminalität niemals "politische" Verfolgung. Die Anerkennung der Folter (einschließlich islamischer Leibesstrafen) als Asylgrund würde allen Kriminellen dieser Länder einen Anspruch auf Einwanderung in die Bundesrepublik verschaffen. Die UN-Folterkonvention kann die Folter nur symbolisch bekämpfen. Sie ist ein Tätigkeitsausweis der UN-Menschenrechtskommission gegenüber der UN-Generalversammlung und der Öffentlichkeit der zivilisierten Staaten, die sie ihrerseits mit der Bürde des non-refoulement belastet. Die zivilisierten Staaten müssen untätig den Barbareien in vielen Ländern zusehen, sollen aber auch den kriminellen Einwohnern dieser Länder als Ausfallbürgen offenstehen. 10.5 Die Verfolgung Asyl ist ein Individualrecht im Einzelfall. Es schafft keinen Rechtstitel für Völkerwanderungen. Die dauernde Aufnahme eines Fremden ausschließlich in seinem Interesse durchbricht die Regel des im Zufluchtstaat üblichen Fremdenrechts, das von dem Gedanken der "Erwünschtheitskontrolle" beherrscht ist. Asyl wird nur im Notfall und als Ausnahme gewährt; es soll einen Menschen in einer ernsten und sonst ausweglosen Notlage vor Verfolgung retten. Politikwissenschaftliche Definitionen können den Begriff der "politischen Verfolgung" nicht erklären. In Rechtssätzen sind Begriffe immer Rechtsbegriffe und müssen als solche von den dafür zuständigen Instanzen interpretiert werden. Maßgebend ist der normative Zusammenhang und der Zweck der Vorschrift, die den Begriff verwendet. Ein so weiter Begriff wie der des "Politischen" muß autonom definiert werden, und zwar nicht nur für das Grundgesetz, sondern allein für

10.5 Die Verfolgung

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Art. 16 II 2 GG. "Politisch" im Sinne des Asylgrundrechts ist stets eine "illegitime" Verfolgung. Politische Verfolgung ist Verfolgung durch einen Staatsapparat, der einen einzelnen Bürger i;n eine lebens-, leib- oder freiheitsbedrohende Situation treibt, der er allein durch Flucht in einen anderen Staat entrinnen kann. Nur staatliche und auf Verfolgung gerade dieses Menschen gerichtete Maßnahmen können infolge Machtkonzentration und flächendeckenden Monopols legaler Gewaltanwendung jene ausweglose Situation schaffen, in der dem Verfolgten vernünftigerweise keine andere Alternative bleibt als die Flucht ins Ausland. Die von Krieg, Bürgerkrieg, Hungersnot, Epidemien und ähnlichen Ereignissen ausgehenden Wirkungen oder die mit ihnen verbundenen Fluchtbewegungen sind keine Verfolgung im Sinne des Asylgrundrechts; ihre Folgen können nur durch Hilfen und Maßnahmen außerhalb des Asylrechts gelindert werden, äußerstenfalls durch Verzicht auf Abschiebung oder durch das Institut der Kontingent-Flüchtlinge. Ereignisse, die den einzelnen ohne besonderes Zutun seines Heimatoder Aufenthaltstaates treffen, sind keine politische Verfolgung. Der Wehr- und Kriegsdienst, der einer staatsähnlichen Organisation freiwillig geleistet oder von ihr verlangt wird, ist asylrechtlich so zu behandeln wie der Wehrdienst in der regulären Armee eines völkerrechtlich anerkannten Staates. Die Gleichstellung beruht auf der Gleichheit der unwiderstehlichen territorialen Zwangsgewalt der verfolgenden Instanzen und damit auf der gleichen Situation des Verfolgten. Eine zu befürchtende Bestrafung wegen Desertion ist nur dann "politische" Verfolgung, beruhte die Fahnenflucht auf "politischer" Gegnerschaft und würde diese Gegnerschaft die Strafe schärfen. Bei Unruhen und Pogromen ist staatliche Untätigkeit dann keine politische Verfolgung, wenn sie auf staatlicher Unfähigkeit beruht. Art. 16 II 2 GG weist der Bundesrepublik keine allgemeine GarantensteIlung für die Unstaatlichkeit ferner Länder zu. Dem Staat kann die Verfolgung durch nichtstaatIiche Organisationen oder einen fanatisierten Mehrheitspöbel nur dann als eigene ("mittelbare") Verfolgung zugerechnet werden, wenn er sie unterstützt oder bewußt duldet. Pogromen und blutigen Auseinandersetzungen verfeindeter politischer oder religiöser Gruppen fehlt das Merkmal der Unwiderstehlichkeit staatlicher Verfolgung. Die tatsächlich und rechtlich ausweglose Situation des Verfolgten ist nur bei einer Verfolgung durch staatliche Organe oder bei einer "privaten" Verfolgung gegeben, die von den Staatsorganen unterstützt oder gedeckt wird.

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10. Ergebnisse

Eine künftige Verfolgung kann nur prognostiziert werden, wenn es um staatliche Verfolgungs maßnahmen geht, denn nur dann ist mit einer gewissen Regelhaftigkeit der Verfolgung zu rechnen. Die strafrechtliche Verfolgung und militärische Bekämpfung von Sezessionsbestrebungen sind auch bei Exzessen nur dann asylerheblich, wenn die ethnische Minderheit als solche unterdrückt und letztlich vernichtet werden soll. Durch die Exzesse des Militärs werden in bürgerkriegsähnlichen Situationen die Betroffenen nicht "politisch" verfolgt. Bürgerkriegsparteien bekämpfen sich stets aus ethnischen, konfessionellen, parteilichen oder klassengebundenen Gründen und Zielen, die in einem weiteren Sinne als "politisch" bezeichnet werden. Die Herausnahme des Bürgerkriegs und seiner Begleiterscheinungen aus dem Tatbestand der politischen Verfolgung beruht auf der Einsicht, daß das Asylgrundrecht als ein Individualgrundrecht die Fluchtfolgen eines Bürgerkriegs nicht auffangen soll und kann. 10.6 Dauer und Ende der Verfolgung

Die Genfer Flüchtlingskonvention selbst begründet weder einen Asylanspruch noch verleiht sie dem Flüchtling ein Recht auf internationale Freizügigkeit. Für Einreise und Aufenthalt eines Flüchtlings, der in einem anderen Staat Schutz gefunden hat, gelten die allgemeinen Regeln des Fremdenrechts; aus der Flüchtlingskonvention und seinem Flüchtlingsstatus kann er gegenüber dem zweiten Staat nur das Recht auf Nichtauslieferung und Nichtabschiebung an den Verfolgerstaat ableiten. Ob der Flüchtling eine befristete oder dauernde Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik erhalten kann, richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften des Ausländergesetzes. Die Rechtsfolge des Asyls ist an den objektiven Tatbestand drohender politischer Verfolgung gebunden, und zwar im Sinne einer "gegenwärtigen Verfolgungsbetrofjenheit". Zwischen Verfolgung und begründeter Asylbitte muß also ein unmittelbarer Zusammenhang bestehen; dieser Zusammenhang ist unterbrochen, wenn der Antragsteller in einem anderen Lande Schutz gefunden hat. Die Rechtsprechung zu der Frage, ob der Flüchtling einen "anderweitigen Schutz" gefunden hat, ließ sich durch Formulierungen des einfachen Gesetzgebers (§ 28 AuslG, § 2 AsylVfG) zu einer falschen Fragestellung verleiten. Es wird nicht mehr geprüft, ob der Flüchtling noch verfolgt wird, sondern ob er in einem anderen Staat das Asyl genießt, wie es die Bundesrepublik gewährt. Auf diese Weise werden Tatbestand und Rechtsfolge des Asylgrundrechts vertauscht.

10.6 Dauer und Ende der Verfolgung

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Die politische Verfolgung endet nicht durch einen administrativen Akt des Zufluchtstaates, sondern durch die Unmöglichkeit des Verfolgerstaates, den Flüchtling in seine Gewalt zu bringen. Ein "Recht auf freie Wahl des Zufluchtstaates" gibt es nicht. Die Möglichkeit des Flüchtlings, in diesem oder in jenem Asyllande Schutz vor politischer Verfolgung zu finden, ist tatsächlicher Natur. Wenn der Flüchtling auch in einem anderen Lande Zuflucht suchen kann, so begründet dies nicht ein Wahlrecht, ist vielmehr ein tatsächlicher Reflex der Situation, daß nicht nur die Bundesrepublik Asyl gewährt. Der Schutz vor Verfolgung ist durch das Ende der gegenwärtigen Verfolgungsbetroffenheit und die Sicherheit vor künftiger Verfolgung bestimmt. Die aktuelle Verfolgung endet mit dem überschreiten der Grenze eines Landes, das ihn nicht verfolgt, nicht zurückweist und nicht in einen Staat abschiebt, in dem ihm politische Verfolgung droht, mithin die aktuelle Verfolgung wieder aufleben lassen würde. Die Einordnung des Aufenthalts im Drittstaat als Unterbrechung der Flucht oder Schutz vor Verfolgung hängt von objektiven wie subjektiven Umständen ab: Objektiv von Dauer, Art und Bedingungen des Aufenthalts, subjektiv von der Fluchtplanung des Verfolgten, soweit diese sich den Umständen und den glaubhaften Darlegungen des Asylbewerbers entnehmen läßt. Ein mehrmonatiger Aufenthalt im Drittstaat ist nur ausnahmsweise noch als Fluchtunterbrechung anzusehen. Nur vorübergehend hält sich der Flüchtling in dem anderen Staat auf, wenn er unverzüglich, d. h. ohne vermeidbares Zögern in den von ihm im Aussicht genommenen Zufluchtstaat weiterreist. Ein "heimlicher" Flüchtling ist nicht mehr verfolgt, wenn die Behörden des Zufluchtstaates ihn bei Entdeckung nicht der Gewalt des Verfolgerstaates aussetzen werden. Ein so prognostizierter Schutz macht das Leben des Flüchtlings verfolgungsfrei; die potentielle Verfolgung gehört dann nicht mehr zu seinen Lebensumständen. Ein "temporary asylum" im Drittstaat beendet die Verfolgung, wenn sich der Drittstaat offiziell zwar als "Durchgangsland" versteht, dem Flüchtling aber solange Aufenthalt und Verfolgungsschutz gewährt, bis ein anderes Land ihn aufnimmt und einwandern läßt. Auch der in § 2 AsylVfG gemeinte Schutz ist Schutz vor Verfolgung, nicht vor Lebensbedingungen, die mit Entbehrungen und Not verbunden sind. Die Empörung über die barbarischen Umstände der Verfolgung und das Mitgefühl mit jenen, die in den Flüchtlingslagern Afrikas und Asiens leben müssen, ersetzen nicht den Tatbestand gegenwärtiger Verfolgungsbetroffenheit. Wohltätigkeit ist nicht Sache des Bundesamts oder der Verwaltungsgerichte. Mit dem Asylgrundrecht kann die 13 Quaritsch

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10. Ergebnisse

Not der Flüchtlinge Afrikas und Asiens nicht bekämpft werden. Das ist Aufgabe karitativer Organisationen und der Bundesregierung, allein oder im Verbunde der Vereinten Nationen. Werden Flüchtlinge aus solchen Drittstaaten aufgenommen, so wird ihnen nicht Asyl gewährt. Die Gewährung von Daueraufenthalt an nicht mehr oder früher einmal politisch Verfolgte mag als humanitäre Flüchtlingshilfe und zur Entlastung der von Flüchtlingsströmen betroffenen, dazu armen Länder geboten sein. Solche Entscheidungen obliegen indes nicht dem Bundesamt oder den Verwaltungsgerichten; für sie ist das Institut der Übernahmeerklärung aus "völkerrechtlichen, politischen und menschlichen Gründen" (§ 22 AuslG) und das "Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge" (Kontingent-FlüchtlingeG) 1980 geschaffen worden.

10.7 Nachfluchtgründe Politisch verfolgt ist grundsätzlich nur derjenige, der in die Bundesrepublik flieht, um ernstlich zu befürchtenden Zwangsmaßnahmen zu entgehen, die der Heimat- oder Aufenthaltsstaat vor seiner Flucht gegen ihn wegen regimefeindlicher Gesinnung oder Betätigung anwendet (es sei denn, es handele sich nach Anlaß und Art um legitime Sanktionen des Staatsschutzes). Politisch verfolgt ist ebenso derjenige, der als (tatsächlicher oder vermeintlicher) Angehöriger eines nationalen, sozialen, religiösen oder rassischen Kollektivs von allgemeinen staatlichen Unterdrückungsmaßnahmen persönlich getroffen ist ("Gruppenverfolgung"). In beiden Fällen muß die Flucht Konsequenz der bereits bestehenden oder ernstlich befürchteten Verfolgung sein, müssen also Verfolgung und Flucht kausal verknüpft sein. Ob der Asylgrund vor oder nach dem Verlassen des Verfolgerstaates entstanden ist, bleibt ausnahmsweise für den Asylanspruch unerheblich, ist der Flüchtling außerhalb des Verfolgerstaats ohne eigenes Zutun in die Verfolgungslage geraten. Die Stellung des Asylantrages oder der Beitritt zu einer Emigrantenorganisation, die bei Rückkehr zu einer strafrechtlichen Verfolgung oder sonstigen Nachteilen führen, begründen - entgegen der h. M. in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung - in der Regel nicht den Asylanspruch. Wer sich erst im sicheren Ausland und freien Willens die "begründete Furcht vor politischer Verfolgung" verschafft, sich praktisch das Aufenthaltsrecht selbst bewilligt, ist nicht der Verfolgte der Entstehungsgeschichte des Asylgrundrechts. Diese Art "politischer Verfolgung" ist Ergebnis einer Begriffsjurisprudenz, die sich durch die

10.8 Auslieferung und Asyl

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eigenen Definitionen immer weiter vom Zweck des Grundrechts entfernt hat. Die bei Rückkehr zu erwartende Strafe wegen sog. Republikflucht ist dann asylunerheblich, wenn sich das Fluchtmotiv auf bloße Benachteiligung und materielle Not in der Heimat oder (verständliche) Unzufriedenheit mit den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen beschränkt. Die h. M. über die Asylerheblichkeit dieses Nachfluchtgrundes vermittelt allen Angehörigen der Ostblock-Staaten, zunehmend auch nah- und fernöstlicher Staaten (also etwa einem Drittel der Menschheit) ein potentielles Grundrecht auf Einwanderung in die Bwndesrepublik zur "Verbesserung der Lebenssituation". Der Sinn des Asylgrundrechts wird mit dieser Folge sichtlich verfehlt.

Nachfluchtgründe schaffen nur ausnahmsweise den Tatbestand politischer Verfolgung; auch ist an sie ein strenger Maßstab anzulegen. Solche Ausnahmen sind: Wenn politische Prominenz totalitärer Staaten die Seite wechselt; in diesen Fällen ist erfahrungsgemäß auch eine lebens- oder freiheitsgefährdende Verfolgung durch Organe des Heimatstaates im Zufluchtland nicht ausgeschlossen. Dasselbe gilt für führende Aktivisten von Emigrantenorganisationen. Als weiterer Ausnahmefall ist derjenige Flüchtling anzusehen, dessen exilpolitischer Aktivismus die schon im Heimatstaat unter Nachteilen und Repressalien geübte politische Opposition fortsetzt. Die exilpolitische Aktivität muß nach Art und Intensität ernsthaften, deutlichen und dauerhaften Charakter tragen; sie muß den Ausländer als einen profilierten Gegner des heimatlichen Regimes ausweisen. Die Reduzierung der Nachfluchtgründe auf die genannten und gleichartige Ausnahmen liefert nicht alle "unpolitischen" Flüchtlinge den Strafmaschinerien totalitärer Staaten aus. Nach allgemeinem Ausländerrecht kann die Abschiebung aus humanitären Gründen ausgesetzt werden, ebenso kann bereits das Ausweisungsermessen aus diesen Gründen eingeschränkt sein. Gegenüber der ungemessenen Zahl der in ihren Heimatstaaten nicht verfolgten Ausländer, die erst durch ihre Flucht die Gefahr der Verfolgung begründen, muß die Bundesrepublik die Handlungsfähigkeit zurückgewinnen, die sie durch eine sinn- und zwecküberdehnende Grundrechtauslegung verloren hat. 10.8 Auslieferung und Asyl

Im Auslieferungsverfahren kann das Asylgrundrecht eines politisch Verfolgten mit dem völkervertragsrechtlichen Anspruch eines fremden Staates auf Auslieferung kollidieren. Die Ansprüche wurzeln in verschiedenen Rechtsgrundlagen, berechtigen verschiedene Anspruchsin13·

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10. Ergebnisse

haber und dienen verschiedenen Interessen: dem Schutz des politisch Verfolgten und der staatlichen Verfolgung von Kriminellen und politischen Gewalttätern. Diese Unterschiede prägen auch die bürokratischen und justiziellen Verfahren, welche die Ansprüche verwirklichen sollen. Je für sich betrachtet folgen Asylverfahren und Auslieferungsverfahren den verschiedenen Bedürfnissen der zu prüfenden Ansprüche und den im Rechtssystem angelegten Verfahrensrouten. Die AHgemeinverbindlichkeit der Entscheidung des Bundesamts im Asylverfahren (§ 18 Satz 1 AsylVfG) soll die spezielle Zuständigkeit des Bundesamts sichern, unwirtschaftliche Doppelarbeit und divergierende Beurteilungen verhindern und für Klarheit der Rechtsverhältnisse sorgen. Allgemeinverbindlich sind daher anerkennende wie ablehnende Entscheidungen des Bundesamts. Die Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidungen des Bundesamts ist als Tatbestands- und Feststellungswirkung zu verstehen. Die Konzentration der Prüfung des Auslieferungsanspruchs auf eine ranghohe gerichtliche Instanz wird den Eigentümlichkeiten des Auslieferungsverfahrens am besten gerecht: auf das Oberlandesgericht, weil ein fremder Staat die Auslieferung eines Straftäters verlangt, auf eine Instanz, weil die Entscheidung über die Zulässigkeit rasch getroffen werden muß, und zwar im Interesse des Auslieferungsanspruches des ersuchenden Staates, im Interesse der Bundesrepublik an der Erfüllung ihrer Vertragspflicht und im Interesse des Beschuldigten an einer richterlichen Prüfung des Auslieferungsanspruchs ohne ungebührliche Dauer der Auslieferungshaft. Das Oberlandesgericht hat sowohl die "politischen" Auslieferungshindernisse des anzuwendenden Auslieferungsvertrages, des Europäischen Auslieferungsabkommens, des § 6 IRG wie den Asylschutz des Art. 16 II 2 GG zu prüfen. Dem grundgesetzlichen Rechtsschutzanspruch (Art. 19 IV GG) ist genügt, wenn diese Prüfung im Einzelfall "effektiv" ist. Auch unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes ist die Geltung des § 18 Satz 2 AsylVfG unangreifbar. Das Prüfungsmonopol des Oberlandesgerichts und die Nichtgeltung der Allgemeinverbindlichkeit der bundesamtlichen Entscheidung (§ 18 Satz 2 AsylVfG) sind notwendig, um den Auslieferungsverkehr funktionsfähig zu halten und dem besonderen Lebenssachverhalt des Auslieferungsverfahrens gerecht zu werden. In politisch heiklen Fällen kann vom Oberlandesgericht auch eine größere Standsicherheit gegenüber dem Druck der Interessengruppen und der von ihnen beeinflußten Medien erwartet werden; für einen einzelnen Verwaltungsbeamten ist die Verantwortungslast zu groß.

10.8 Auslieferung und Asyl

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Die Eigenart des Auslieferungstatbestandes gebietet die Nichtgeltung der Allgemeinverbindlichkeit der Entscheidung des Bundesamts im Auslieferungsverfahren auch, wenn diese bestandskräftig geworden ist. Das rechtsstaatliche Gebot der Rechtssicherheit ist nicht verletzt, weil der Gesetzgeber bei Sachkonflikten zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit wählen darf. Bei rechtskräftigen verwaltungsgerichtlichen Urteilen entzieht § 18 Satz 2 AsylVfG der materiellen Rechtskraft (§ 121 VGO) lediglich die Allgemeinverbindlichkeit der bundesamtlichen Entscheidung. Im Auslieferungsverfahren wird das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts so behandelt, als hätte es nicht auch über die Tatbestands- und Feststellungswirkung der Entscheidung des Bundesamts entschieden, sondern über eine verwaltungsbehördliche Maßnahme ohne diese besondere Qualität. Die objektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils sind im Auslieferungsverfahren auf den konkreten Sachverhalt beschränkt, über den das Verwaltungsgericht entschieden hat. Die Tatbestands- und Feststellungswirkung der Anerkennung nach § 18 Satz 1 AsylVfG wird im Auslieferungsverfahren (und nur dort) von der Rechtskraft nicht erfaßt. In der Praxis wird das Verwaltungsgericht jedoch nur selten über die besonderen Tatbestände politischer Verfolgung rechtskräftig entschieden haben, die im Auslieferungsverfahren eine Rolle spielen. Die Anerkennung verschafft dem Asylberechtigten kein absolutes Aufenthaltsrecht, das einer Auslieferung stets unter allen Umständen entgegenstände wie die deutsche Staatsangehörigkeit (Art. 16 11 1 GG). Der anerkannte politisch Verfolgte erfährt im Hinblick auf die Auslieferung an einen fremden Staat keine Inländergleichbehandlung. Das Aufenthaltsrecht des Asylberechtigten ist nur ein Mittel zur Verwirklichung des Zwecks, ihn vor politischer Verfolgung zu schützen. Führt die Aufhebung des Aufenthaltsrechts nicht zu politischer Verfolgung, kann es gegen berechtigte Auslieferungsansprüche nicht geltend gemacht werden. Tatbestands- und Feststellungswirkung der Anerkennung reichen nicht weiter als der Schutzzweck des Grundrechts. Der Gesetzentwurf der "Grünen" zur Änderung des AsylVfG und des IRG (BT-Drucks. 10/423 v. 28.9.1983) dient allein der Maximierung des Rechtsschutzes zugunsten des Ausländers, dessen Auslieferung wegen einer Straftat beantragt worden ist, und der behauptet, politisch verfolgt zu sein. Die vorgesehene Pflicht des Oberlandesgerichts zur Aussetzung des Auslieferungsverfahrens eröffnete dem Ausländer die Chance, das Verfahren vor dem Oberlandesgericht stillegen und in absehbarer Zeit das Ende der Auslieferungshaft herbeiführen zu kön-

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10. Ergebnisse

nen mit der weiteren Möglichkeit, sich durch Flucht dem heimatlichen Strafanspruch zu entziehen. Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion (BT-Drucks. 10/1025 v. 22.2 1984) verkennt die Realien des Auslieferungsverfahrens; die vorgesehene Wartepflicht des Oberlandesgerichts auf die behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen im Asylverfahren würde in vielen Fällen das Auslieferungsverfahren so verzögern, daß der Auslieferungsanspruch tatsächlich vereitelt wird.