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German Pages [304] Year 2020
Recht auf Leben. Recht auf Nahrung? Herausgegeben von Thomas Heinemann
GRENZFRAGEN BAND 41 ALBER https://doi.org/10.5771/9783495820919
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Recht auf Leben. Recht auf Nahrung?
https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Grenzfragen Veröffentlichung des Instituts der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung (Naturwissenschaft – Philosophie – Theologie) Herausgegeben von Gregor Maria Hoff Band 41
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Recht auf Leben. Recht auf Nahrung? Herausgegeben von Thomas Heinemann Beiträge von Eva Barlösius Joachim von Braun und Franz W. Gatzweiler Thomas Breuer Stephan von Cramon-Taubadel Hans Hauner Thomas Heinemann Gregor Maria Hoff Ludger Honnefelder Josef Isensee Clemens Sedmak Johannes Wallacher
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Right to life. Right to food? »The right to life« is constitutionally guaranteed in many countries. Although food is undoubtedly a necessary requirement for human life, it is, unlike the right to life, guaranteed by international law, but not anchored within the German constitution. This results in numerous aspects and questions regarding food and nutrition and their correlation with the right to life. The book addresses various aspects of a right to food from the perspectives of medicine, biology, psychology, ecology, economics, theology, ethics, and law, and by doing so highlights a term that is perceived as naturally available and that is inherent to the basic conditions of a good life, but is by no means unproblematic in current practice.
The Editor: Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Heinemann, research associate at the Institute for Science and Ethics (IWE) in Bonn. Head of the junior research group »Molecular Medicine and Medical Brain Research«.
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Recht auf Leben. Recht auf Nahrung? »Das Recht auf Leben« ist in zahlreichen Ländern verfassungsrechtlich garantiert. Obwohl Nahrung zweifelsohne eine notwendige Bedingung für menschliches Leben darstellt, ist es anders als das Recht auf Leben zwar völkerrechtlich garantiert, nicht aber in der deutschen Verfassung verankert. Daraus ergeben sich im Hinblick auf Nahrung und Ernährung und ihren Zusammenhang mit dem Recht auf Leben zahlreiche Aspekte und Fragen. Das Buch greift verschiedene Aspekte eines Rechts auf Nahrung aus den Perspektiven der Medizin, Biologie, Psychologie, Ökologie, Ökonomie, Theologie, Philosophie, Ethik und Rechtswissenschaften auf und stellt damit einen in unserer Gesellschaft als selbstverständlich verfügbar wahrgenommenen und zu den Grundbedingungen eines guten Lebens gehörenden, jedoch in der gegenwärtigen Praxis keineswegs unproblematischen Begriff in den Mittelpunkt.
Der Herausgeber: Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Heinemann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) in Bonn. Leiter der Nachwuchsgruppe »Molekulare Medizin und medizinische Hirnforschung«.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER In der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48814-0 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82091-9
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Inhalt
Vorwort Recht auf Nahrung als interdisziplinäre Herausforderung – Eine Einführung ins Thema . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Heinemann Nahrung und Gesundheit Hans Hauner
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. . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nahrung und Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan von Cramon-Taubadel
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Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen. Gleichgewicht und Selbstreferenz . . . . . . . . . . . . . Thomas Breuer
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Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim von Braun und Franz W. Gatzweiler
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Dicksein – als „Objektivierung“ der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung. Das Recht darauf, anders zu essen und anders auszusehen . 108 Eva Barlösius
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Inhalt
Welternährung. Eucharistie und Hunger Gregor Maria Hoff
. . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Nahrung: Menschenrecht und Staatsaufgabe. Biologischer Bedarf als Thema des Verfassungsrechts . . . 157 Josef Isensee Gibt es eine Pflicht zur Ernährung? Thomas Heinemann
. . . . . . . . . . . . 188
Das Rohe und das Gekochte: Zur anthropologischen und ethischen Bedeutung der menschlichen Nahrung . . . . . 236 Ludger Honnefelder Ernährungssicherheit als Menschenrecht. Nahrungsmittelproduktion auf Basis pragmatistischer Gerechtigkeitsüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Johannes Wallacher Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf Nahrung? Ethische Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Clemens Sedmak Kurzbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
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Vorwort Recht auf Nahrung als interdisziplinäre Herausforderung – Eine Einführung ins Thema Thomas Heinemann In den vergangenen Jahren sind in den abendlichen FernsehNachrichten regelmäßig Bilder zu sehen, in denen die Besatzungen von Schiffen der italienischen oder spanischen Marine und Küstenwache halb verdurstete Menschen aus kaum schwimmfähigen Booten retten. Der alltägliche Exodus aus dem afrikanischen Kontinent und aus Staaten des nahen und mittleren Ostens, genauer aus politisch instabilen Staaten oder aus ehemaligen Staaten, die faktisch längst in Einflussgebiete rivalisierender gewaltbereiter und gewaltverbreitender Gruppierungen zerfallen sind, hin in das vergleichsweise stabile und geordnete Europa hat in vielfacher Beziehung mit dem Thema Ernährung und der Frage nach einem Recht auf Nahrung zu tun: Mangelernährung und Hunger sind insbesondere und von jeher mit Armut, Gewalt und mit kriegerischen Auseinandersetzungen vergesellschaftet. Wechselt man das Fernsehprogramm, hat man gute Chancen, der neuerdings publikumswirksamen und quotenfördernden Übertragung einer aorto-koronaren Bypass-Operation medial beizuwohnen, die, wie der Sprecher glaubhaft versichert, angesichts der völlig sklerosierten Herzkranz-Arterien des übergewichtigen Patienten dringend notwendig ist, nachdem die jahrelange Tabletteneinnahme zuletzt keine befriedigende therapeutische Wirkung mehr zeigte und der wiederholte Versuch einer Rekanalisierung der Herzkranzgefäße durch einen Stent gescheitert ist. Einschließlich der erforderlichen Reha-Maßnahmen wird das ganze Prozedere die durch die Krankenkasse vertretene Solidargemeinschaft mindestens 50.000 € kosten. Auch dieses alltägliche 9 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Heinemann
Szenario hat in vielfacher Beziehung mit dem Thema Nahrung und Ernährung zu tun: Fehlernährung und Übergewicht, Hypercholesterinämie und Diabetes mellitus, Karies und Gicht sowie viele andere sogenannte „Zivilisationskrankheiten“ sind in erheblichem Maße auf eine chronisch quantitativ und/oder qualitativ unangemessene Nahrungsaufnahme zurückzuführen. Und auch diese kann in existentielle Nöte führen: Arbeitsunfähigkeit, Frühberentung, Altersarmut, soziale Ausgrenzung und Vereinsamung, Eheprobleme, Depressionen, um nur einige Folgen zu nennen. Und auch in den Tod: Vier von zehn Todesfällen in Deutschland sind derzeit allein auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen. Zu wenig und qualitativ defizitäre bzw. minderwertige Nahrung einerseits sowie zu viel und raffinierte, qualitativ hervorragende, jedoch physiologisch für die menschliche Spezies unangemessene Nahrung sind die Kehrseiten der gleichen Medaille. Beide Seiten dieser Medaille scheinen zudem zahlenmäßig einigermaßen ausgewogen zu sein: Etwa 1 Milliarde der im Jahre 2011 ca. 7 Milliarden auf der Erde lebenden Menschen sind unterernährt und leiden an chronischem Hunger, und etwa 1 Milliarde Menschen sind übergewichtig. Beide Seiten der Medaille bedürfen der Beachtung, wenn über ein Grundrecht auf Nahrung gesprochen wird. Kodifiziert ist ein Grundrecht auf Nahrung in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Hier heißt es in Absatz 1: „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Fürsorge gewährleistet; er hat das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände“. Im Jahre 1999 hat der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen das Recht auf Nahrung folgendermaßen formuliert: „Das Recht auf 10 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Vorwort
Ernährung ist dann verwirklicht, wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, einzeln oder gemeinsam mit anderen, jederzeit physisch und wirtschaftlich Zugang zu angemessener Ernährung oder Mitteln zu ihrer Beschaffung hat“. Sicherzustellen, dass „jedermann jederzeit physisch und wirtschaftlich Zugang zu angemessener Ernährung hat“, stellt ein gewaltiges Programm dar. Angesichts der beiden eingangs erwähnten alltäglichen Szenarien ist es nicht nur offensichtlich, dass wir dieses Ziel gegenwärtig notorisch verfehlen, sondern vieles deutet zudem darauf hin, dass wir uns bei der Nahrungsproduktion und der Verteilung bzw. Vermarktung von Nahrungsmitteln gegenwärtig in einem höchst komplexen, mehrdimensionalen System bewegen, das ohne einschneidende systematische Änderungen ungeeignet ist, diese Zielsetzung zu erreichen. Die sog. „Grüne Revolution“, nämlich die ehemals mit hohen Erwartungen für die weltweite Ernährung verbundene Einführung von einigen wenigen Hochertragssorten, die Verwendung von Pflanzenschutzmitteln, die Mechanisierung der Landwirtschaft, oftmals auch in Verbindung mit staatlichen Preisgarantien für bestimmte Nahrungsmittel, lässt mittlerweile viele Probleme erkennen und wirft Fragen nach der Biodiversität, Nachhaltigkeit, dem Umweltschutz, einer gerechten Landverteilung und gerechtem Zugang zu Märkten auf. Durch fehlenden Marktzugang und defizitäre Lagerungsinfrastruktur, aber auch durch mangelnde Bildung ist ein erheblicher Nachernteverlust von Nahrungsmitteln vor allem in Entwicklungsländern zu verzeichnen. In den Industrieländern ist eine Verschwendung von Nahrungsmitteln auf Seiten der Endverbraucher und des Handels in ungeheurem Ausmaß zu konstatieren; etwa 30 % der in Deutschland produzierten Lebensmittel, ca. 18 Millionen Tonnen jährlich, landen im Mülleimer. Ähnliche Probleme bestehen bei der Fleischproduktion und dem Fischfang, angefacht durch eine Veränderung der Ernährungsgewohnheiten der Bürger in Industrie- und Schwellenländern durch einen erheblich gesteigerten Fleischkonsum. Hinzu kommt die Patentierbarkeit von Pflanzen, Saatgut und sogar Tieren im Rahmen des 11 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Heinemann
Übereinkommens der Welthandels-Organisation über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS), die zu Einkaufskosten führen, die für kleinbäuerliche Betriebe nicht mehr erschwinglich sind. Auch die Diversifizierung von Agrarflächen für die Produktion von Biodiesel oder Ethanol wie auch für den wachsenden Bedarf an Tierfutter stellen im Hinblick auf die Nahrungsproduktion ein zunehmendes Problem dar. Und abgerundet wird dieses Szenario durch zunehmende Investitionen nicht-kommerzieller Händler, deren primäres Interesse nicht an einem Kauf oder Verkauf von Nahrungsmittel besteht, sondern die lediglich auf steigende Preise spekulieren oder solche Entwicklungen provozieren, um hieraus Gewinne zu erzielen. Diese auswahlweise geschilderten Probleme sind interdependent. Sie lassen sich kaum als Einzelprobleme lösen, und es ist zudem unwahrscheinlich, dass die Lösung einzelner Probleme zu einer Lösung des Gesamtproblems führt. Noch viel mehr trifft das zu, wenn man in Rechnung stellt, dass die Krise der Nahrungsproduktion und Nahrungsverteilung offenbar in enger Verbindung mit anderen krisenhaften Entwicklungen wie dem Klimawandel, zunehmendem Wassermangel, der Umweltschädigung und der Finanzkrise steht (vgl. Hans Rudolf Herren: Nahrungssicherheit in einer Welt unter Stress – Wie soll es weitergehen?, Deutscher Ethikrat, 2012). Diese Komplexität lässt aber auch erkennen, dass mit der Frage der Nahrungsproduktion und Nahrungsverteilung nicht nur das physische Leben des Menschen, sein Überleben, betroffen ist, sondern auch sein Leben als Mensch, nämlich das Leben als kulturschaffendes, als verantwortlich handelndes und als religiöses Wesen. Bereits die Zustands-Analyse der gegenwärtigen Nahrungsproduktion und Nahrungsverteilung bedarf aufgrund ihrer Vielschichtigkeit eines interdisziplinären Ansatzes, der Fachbereiche wie Medizin, Ökologie, Bildungswissenschaften und Ökonomie, desgleichen aber auch die Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, die Rechtswissenschaften, die Philosophie und Ethik und die Theologie einbeziehen muss. Dies ist umso mehr 12 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Vorwort
erforderlich, wenn die normative Kernfrage des Problems, die Frage nach einem Individualrecht auf Nahrung, in den Blick genommen wird. Die Frage nach einem Recht auf Nahrung und ihre vielfältigen Bezüge aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Blickwinkeln zu beleuchten ist Ziel der Beiträge zu diesem Band der Reihe „Grenzfragen“ des Instituts der Görres-Gesellschaft für interdisziplinäre Forschung. Der erste Beitrag zu dieser Sammlung von Aufsätzen stammt von Hans Hauner. Er befasst sich in seinem Manuskript „Nahrung und Gesundheit“ mit den medizinischen und ernährungsphysiologischen Konsequenzen gegenwärtig vorherrschender Ernährungsbedingungen im globalen Kontext. Hunger ist weltweit nach wie vor ein gravierendes Problem, das eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung, der politischen Stabilität und administrativen Effizienz der betreffenden Staaten zusammenhängt. Gleichwohl würden die weltweit gegenwärtig produzierten pflanzlichen Lebensmittel für die Ernährung der Weltbevölkerung mehr als ausreichen. Neben einer kalorischen Unterernährung sind es in vielen Teilen der Welt Versorgungsprobleme mit Mikronährstoffen wie Eisen, Vitamin A und Jod, die zu gesundheitlichen Problemen führen. Demgegenüber besteht insbesondere in westlichen Industrieländern das Problem der Überernährung, durch das eine zunehmende Inzidenz von Adipositas und Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bedingt und eng mit einem hohen Fleischkonsum assoziiert ist. Die gesundheitlichen Auswirkungen von bewussten Änderungen in der Ernährung wie vegetarische, vegane oder kalorisch restringierte Kost werden derzeit nicht einheitlich bewertet. Als ein Grundproblem in den industrialisierten Ländern erweist sich, dass das gemeinsame Essen mit dem Wandel der Familienstrukturen seine soziale Bedeutung verloren hat und zunehmend durch den Verzehr von Fertiggerichten ersetzt wird, die häufig eine ernährungsphysiologisch und gesundheitlich ungünstige Nahrungsmittelzusammensetzung aufweisen. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge bekräftigt der Autor ein weltweites 13 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Heinemann
Grundrecht auf eine gesicherte quantitativ und qualitativ ausreichende Ernährung, das sich allerdings auch auf die Schaffung hierfür geeigneter Lebensbedingungen beziehen und solche Voraussetzungen einfordern muss. Aus der Perspektive des Ökonomen betrachtet Stephan von Cramon-Taubadel in seinem Beitrag „Nahrung und Ökonomie“ die Fragen nach Ernährungssicherheit und der Bekämpfung des weltweiten Hungers. Auf dem Welternährungsgipfel 1996 wurde das Menschenrecht auf angemessene Ernährung deklariert, dem jedoch weltweit trotz Verbesserungen in der Nahrungsversorgung bisher nicht Genüge getan wurde. Ein erhebliches Problem tauchte mit der „Agrarpreis-Krise“ auf, mit der sich ab 2007 die internationalen Preise für Weizen, aber auch für andere Grundnahrungsmittel, im Vergleich zu den Vorjahren mehr als verdoppelten. Preise werden aus ökonomischer Sicht durch Angebot und Nachfrage bestimmt; dies gilt auch für Lebensmittel, wobei Nachfrage im ökonomischen Sinne nicht einen bloßen Bedarf beschreibt, sondern nur dann besteht, wenn dieser mit Kaufkraft hinterlegt ist. Betrachtet man Angebot und Nachfrage, zeichnet sich ab, dass die Agrarpreise künftig weiter steigen werden. Denn das Angebot an Agrarprodukten wird durch Faktoren wie eine vermutete Verlangsamung des technischen Fortschritts in Bezug auf eine Ertragssteigerung, den Klimawandel, zunehmende Wasserknappheit und Abnahme der Anbauflächen durch Urbanisierung voraussichtlich zurückgehen. Demgegenüber wird die Nachfrage an Lebensmitteln, insbesondere an Milch und Fleisch, durch Einkommenszuwächse in bevölkerungsreichen Ländern steigen. Der Autor zeigt die komplexen Folgen dieser Entwicklungen für den Hunger bzw. die Ernährungssicherheit in der Welt sowie reaktive staatliche handelspolitische Eingriffe in Reaktion auf Agrarpreissteigerung und die hiermit verbundenen Folgen auf. Die in diesem Zusammenhang wichtige Frage, inwieweit der Handel mit Agrar-Derivaten die Preisschwankungen von AgrarProdukten verstärkt, greift Thomas Breuer in seinem Beitrag „Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen. Gleichgewicht 14 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Vorwort
und Selbstreferenz“ auf. So wurde die „Agrarpreis-Krise“ 2007– 2009, in der sich die Weizenpreise verdoppelten, neben verändertem Angebot und Nachfrage verschiedentlich ursächlich auch auf Rohstoff-Spekulationen auf den Agrarmärkten zurückgeführt. Der Autor stellt die Auswirkungen verschiedener Finanzinstrumente wie Investition, Spekulation, Futures und Index-Fonds sowie verschiedener Prognosestrategien wie wertbasierten und momentumbasierten Strategien dar. Vor diesem Hintergrund zeigt er anhand eines finanzmathematischen Modells über die Wechselwirkung von einerseits Warenmärkten und andererseits Märkten für Derivate auf diesen Waren auf, dass die Aktivität von momentumbasierten Händlern die Volatilität des zu Grunde liegenden Gutes voraussichtlich steigert und dass dieser Befund mögliche Zugangsbeschränkungen zu den Derivatenmärkten sinnvoll erscheinen lassen könnten. Zudem werden immanente Fehler bei Absicherungsstrategien und Bewertungsverfahren für Optionen aufgezeigt. Wie bereits angesprochen, kann die Frage nach Ernährungssicherheit nicht von den individuellen und kollektiven Lebensbedingungen isoliert betrachtet werden. Joachim von Braun und Franz W. Gatzweiler untersuchen in ihrem Beitrag „Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze“ ein Begriffskonzept, mit dem der Zusammenhang von Armut, Rechten und sozial-ökologischer Umwelt von Menschen, die in Armut am Rande sozialer und ökologischer Systeme leben, begründet und beschrieben werden und mit dessen Verständnis effektive Programmentwürfe zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen gestaltet werden können. Die Autoren definieren Marginalität als unfreiwillige Lage von Einzelnen oder Gruppen am Rande sozialer, politischer, ökonomischer, ökologischer und biophysikalischer Systeme, die die Betroffenen am Zugang zu Ressourcen und Dienstleistungen hindert, Wahlmöglichkeiten einschränkt, die Entwicklung von Fähigkeiten verhindert und schließlich extreme Armut verursacht. Das Marginalitätskonzept wird gegenüber dem auf wenige Indikatoren reduzierenden Armutsbegriff als ein neuer 15 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Heinemann
Ansatz dargestellt, zu deren wichtigen Dimensionen die Gesundheits- und Ernährungssituation gehört. Die Ausprägung von Marginalität in einigen Ländern wird beschrieben und Ansätze zur Überwindung von Marginalität, etwa durch staatliche, zivilgesellschaftliche oder unternehmerische Initiativen, aufgezeigt. Eine effektive und nachhaltige Armutsbekämpfung hat demnach eine De-Marginalisierung der Betroffenen zur Voraussetzung. Eine ganz andere Form von Abhängigkeit von Systemen in Bezug auf Ernährung, nämlich die Abhängigkeit von sozialen und kulturellen Aspekten und Bewertungen von Ernährung, untersucht Eva Barlösius in ihrem Beitrag „Dicksein – als ‚Objektivierung‘ der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung“. Sie fokussiert auf die These, dass Nahrung, einschließlich ihrer Zubereitung und den gesellschaftlichen Konventionen ihrer Aufnahme in Form einer Esskultur, u. a. auch ein Resultat von Machtverhältnissen darstellt und zur Verdeutlichung und Durchsetzung von Machtverhältnissen, insbesondere einer gesellschaftlichen Ordnung und Konformität, genutzt wird. Verschiedene Essstile und Küchen gelten nicht nur als Ausdruck kultureller Vielfalt, sondern bilden eine kulturelle Hierarchie, die eng mit der sozialstrukturellen Hierarchie und Ordnung korrespondiert. Vor diesem Hintergrund wird Dicksein in mindestens zweifacher Hinsicht als Abweichung bewertet, nämlich einerseits als Ergebnis „falscher“ Ernährung und andererseits als Indiz für eine Ablehnung sozialer Obligationen wie Selbstdisziplin und Leistungsorientierung. Eine häufige Folge ist eine Stigmatisierung, die ihrerseits selbst die gesellschaftliche Ordnung und deren jeweilige Legitimation als Referenz verwendet. Auf der Grundlage der Ergebnisse eines Forschungsprojekts mit Jugendlichen, die sich selbst als zu dick wahrnehmen, zeigt die Autorin, dass die Teilnehmenden durchaus über Ernährungswissen verfügen und gesellschaftliche Konformität kommunizieren, dabei die gesellschaftlich „legitimierte“ Ordnung jedoch nicht in Zweifel ziehen, obwohl sie diese selbst nicht erfüllen. Die Ergebnisse lassen sich in der Weise interpretieren, dass die Ordnung des Essens mit we16 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Vorwort
sentlichen Teilen der gesellschaftlichen Ordnung verschränkt ist und beide sich gegenseitig verstärken. Die Rolle von Nahrung in religiösen Kontexten behandelt Gregor Maria Hoff in seinem Beitrag „Eucharistie und Hunger“. Nahrung dient hier in aller Regel als Symbol der Lebensfülle, Nahrungsmangel als Emblem drohender Vernichtung. Das Narrativ des Überflusses im Paradies und die Gegenwelt des ständigen Überlebenskampfes folgen dieser Symbolik. Nahrung und die Kultur des Essens markieren die Grenze zwischen Leben und Tod. Der Basiscode biblischer Traditionen ist das Leben, an dem man teilhat, indem man die von Gott gegebenen Gaben der Schöpfung gemeinsam opfert und verzehrt. Die Gegenwart des Todes bleibt indes erhalten, weil sich im Opfer ein Prozess ständiger Vernichtung von Speisen und Tieren und neuem Lebensgewinn vollzieht. Die Liturgie verbindet dieses Grundmotiv mit der Eucharistie, dem Herrenmahl, in der eine einzigartige Kommunikation mit Gott entsteht, indem sich der Sohn Gottes in den Zeichen von Brot und Wein selbst zur Nahrung anbietet. Die theologische Codierung von Nahrung und Ernährung gewinnt somit schöpfungstheologische, christologische, eschatologische und sozial justierte partizipatorische Dimensionen. Eucharistische Ernährung kann als eine Unterbrechung eines Lebens, das auf Kosten anderer geführt wird, aufgefasst werden, die eine Umstellung auf die schöpferische Lebensmacht Gottes spüren lässt. Der Raum dieser Verwandlung ist die Kirche. Die Frage nach einem Recht auf Nahrung greift Josef Isensee aus der Perspektive des Verfassungsrechts auf. Obwohl ein Menschenrecht auf Nahrung der biologischen Natur des Menschen entspricht, gehört es nicht zu den großen Themen der positivierten Menschen- und Grundrechte. Weder im Grundgesetz der BRD noch in den Landesverfassungen ist ein Recht auf Nahrung explizit enthalten. Allerdings findet sich ein Menschenrecht auf Nahrung im Völkerrecht, neben Art. 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, insbesondere im Internationalen Pakt über wirt17 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Heinemann
schaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966, wenngleich hier die Adressaten nicht das Individuum, sondern die Vertragsstaaten sind. Das völkerrechtliche Menschenrecht auf Nahrung geht jedoch nicht explizit in das deutsche Verfassungsrecht ein. Der Autor beleuchtet den unterschiedlichen Inhalt und Umfang der Staatsaufgaben in Bezug auf die Ernährung in Abhängigkeit von dem bestehenden Wirtschaftssystem an den Beispielen der Markwirtschaft und der Planwirtschaft und bezieht nachfolgende Überlegungen auf das Modell der sozialen Marktwirtschaft in der BRD. Die Funktionen der Grundrechte beziehen sich auf die Abwehr staatlicher Eingriffe, die Schutzpflicht des Staates vor Übergriffen Dritter sowie den Anspruch auf staatliche Leistungen. Die Abwehr staatlicher Eingriffe wird anhand verschiedener Umstände der Zwangsernährung sowie des Zwangsentzugs der Nahrung diskutiert. Der staatliche Schutz vor privaten Übergriffen bezieht sich etwa auf den Schutz von Kindern, deren Eltern der Pflicht ihrer Ernährung nicht nachkommen, oder auf die Sorge für die hygienische Qualität der Lebensmittel. Die Gewähr staatlicher Leistungen schließlich kann sich in Bezug auf Ernährung auf einen sozialrechtlichen Unterhaltsanspruch, fraglich auf das Recht auf Leben, die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sowie Leistungsansprüche im Sonderstatus, etwa von Asylbewerbern oder Insassen geschlossener Anstalten beziehen. Zu konstatieren ist daher, dass sich das Thema der Ernährung des Menschen einschlussweise in mehreren Grundrechtsgarantien findet. Allerdings besteht kein substantieller Zusammenhang, wie ihn ein ungeschriebenes Grundrecht benötigt. Überdies bliebe fraglich, inwieweit ein solches Grundrecht auf Nahrung rechtspraktisch eingelöst werden könnte. Thomas Heinemann wendet in seinem Beitrag „Gibt es eine Pflicht zur Ernährung?“ die Frage nach einem Recht auf Nahrung zu der Frage, inwieweit sich eine korrespondierende moralische Pflicht zur Ernährung begründen lässt. Diese Frage kann zunächst unter qualitativen und quantitativen Aspekten betrachtet werden 18 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Vorwort
und erfordert zudem eine Unterscheidung der möglichen Akteure. Der Diskurs über eine Pflicht zur – quantitativen – Ernährung wird neuerdings angefacht durch das Phänomen des „Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit“, das in Deutschland im Kontext der kontroversen Diskussionen um die ethischen Fragen und eine rechtliche Regelung des assistierten Suizids Auftrieb erfahren hat. Einer Darstellung der physiologischen Vorgänge und der Symptome bei Hungerstoffwechsel und Flüssigkeitsmangel folgt eine Unterscheidung von Situationen, in denen eine Aufnahme von Nahrung verweigert wird. So sind der Hungerstreik von in Gewahrsam genommenen Menschen und die Nahrungsverweigerung von Patienten mit Anorexia nervosa in ethischer Hinsicht unterschiedlich zu bewerten und lassen unterschiedliche Rechtfertigungen z. B. für eine zwangsweise Nahrungszufuhr erkennen. Hiervon zu unterscheiden ist der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit, der dem Ziel dient, das eigene Leben zu beenden. Sofern dem Verzicht auf Nahrungsaufnahme eine selbstbestimmte und freiwillige Entscheidung zu Grunde liegt, ist eine zwangsweise Ernährung nicht zu rechtfertigen. Allerdings wirft diese Handlung ethische Fragen in Bezug auf die in der Endphase häufig notwendige Einbeziehung von Ärzten und Pflegenden auf, die möglicherweise ungefragt für die Lebensbeendigung instrumentalisiert und kalkuliert gezwungen werden, ihrer standesgemäßen Pflicht zur Hilfe für einen Zweck nachkommen zu müssen, den sie berechtigterweise ablehnen können. Während eine allgemeine Pflicht des Individuums zur Ernährung nicht zu begründen ist, stellt diese Konstellation eine neue ethische Herausforderung dar, die in einer Bewertung des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit zu berücksichtigen ist. Die Fragen nach einer gerechten Sicherung der Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln und nach geeigneten ethischen Maßstäben für die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln behandelt Johannes Wallacher in seinem Artikel „Ernährungssicherheit als Menschenrecht – Nahrungsmittelproduktion auf Basis pragmatischer Gerechtigkeitsüberlegungen“. Ein sicherer 19 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Heinemann
Zugang zu ausreichender Nahrung ist seit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 1966 ein grundlegendes Menschenrecht. Alle Strukturen und Mechanismen, die der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln zu Grunde liegen, sind demnach primär unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, inwiefern sie das Recht auf Nahrung als fundamentales Menschenrecht auf Dauer schützen und gewährleisten können. Damit ist die Analyse der politisch-ökonomischen und ökologisch-technischen Strukturen der Ernährungsproblematik von einer philosophisch-ethischen Reflexion nicht zu trennen. Die Ernährungsproblematik ist vielschichtig, reflektiert aber insbesondere ein erhebliches Verteilungsproblem von Gütern, da dem Hunger und der Mangelernährung vor allem Armut zu Grunde liegt. Vor diesem Hintergrund wäre zu folgern, dass die Verbesserung der Ernährungssituation eine wichtige Grundlage für die Verbesserung der wirtschaftlichen Entwicklungschancen eines Landes darstellen könnte. Allerdings hat sich die Produktionssteigerung im Zuge der Grünen Revolution nicht nur ökologisch als kaum nachhaltig erwiesen, sondern die damit einhergehende Zerstörung und Übernutzung der natürlichen Ressourcen trägt, neben anderen Faktoren, bereits jetzt entscheidend mit dazu bei, dass sich Armut verfestigt. Der Ansatz, Ernährungssicherheit von den Menschenrechten her zu interpretieren, begreift das Ernährungsproblem somit nicht lediglich als ein Bündel von Zielvorgaben, die primär von politischen und ökonomischen Parametern abhängig sind, sondern rekurriert auf die Grundsätze der Universalität, Unteilbarkeit und Solidarität. Als ein geeignetes Gerechtigkeitskonzept für einen gerechten Ordnungsrahmen für die Produktion von Nahrungsmitteln zeigt der Autor mit der Befriedigung von Grundbedürfnissen, gerecht verteilter Handlungschancen sowie fairer Verfahren drei Dimensionen auf, die sich jeweils wechselseitig bedingen und ergänzen. Die Sicherstellung dieser Dimensionen als notwendige Voraussetzungen für die Umsetzung eines Rechts auf Nahrung gehört zu der 20 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Vorwort
gemeinsamen Verantwortung aller involvierten Akteure. Ausgewählte Reformansätze werden dargestellt. Ludger Honnefelder behandelt in seinem Beitrag „Das Rohe und das Gekochte: Zur anthropologischen und ethischen Bedeutung der menschlichen Nahrung“ die Frage nach dem Wert, den die Nahrung für den Menschen hat, und die daraus erwachsenden moralischen Verpflichtungen für den Umgang mit der Nahrung, insbesondere im Hinblick auf eine gentechnische Veränderung von Pflanzen. Das Zubereiten von Nahrung ist für den Menschen nicht nur Bedingung der Ernährung und des bloßen Überlebens, sondern Teil der Kultur, in der er die Lebensform schafft, die ihn nicht nur leben, sondern gut leben lässt. Zwar hat sich das Angebot an Nahrungsmitteln in den industrialisierten Ländern erheblich erweitert, jedoch nicht durch die Erfindung gänzlich neuer Produkte, sondern insbesondere durch die konservative Aneignung der Küchen anderer Kulturen. Die Wertschätzung der Nahrung als Teil der menschlichen Kultur schlägt sich auch in ethischen Schutzansprüchen nieder. Im Hinblick auf eine gentechnische Veränderung von Lebensmitteln ist damit die Frage nach der Rechtfertigung aufgeworfen, die eine komplexe Güterabwägung erfordert und sich an einem praktischen Naturbegriff orientieren lässt. Clemens Sedmak schließlich plädiert in Bezug auf das Thema seines Beitrags „Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf Nahrung? – Ethische Fragen“ zunächst für eine „Ethik des Nachdenkens“. Die Problematik einer Lösung der weltweiten Ernährung und der Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit ist äußerst komplex, und die bisherigen vergeblichen Anstrengungen und Ergebnisse sind entmutigend und werfen die Frage auf, ob das Problem überhaupt lösbar ist. Angesichts des Problems des Hungertodes besteht jedoch eine ethische Pflicht, die Problematik zu analysieren und zu differenzieren und über Problemlösungen nachzudenken. Mit den Begriffen right to food, food security, food sovereignity und food safety spannt der Autor einen Rahmen auf, innerhalb dessen sich die Diskussion um ein Recht auf Nahrung bewegt. 21 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Heinemann
Die ethische Diskussion führt er anhand der Kernbegriffe Recht, Nahrung und Leben aus und führt schließlich den Begriff der „food integrity“ ein, mit dem er eine Situation bezeichnet, in der sich Menschen auf integre Weise um integre Nahrung in Form einer „tiefen Praxis“, die an einem Wert auch unter widrigen Umständen und unter großem Aufwand festhält und allen Handelnden ihre Handlungsfähigkeit ermöglicht, bemühen. Food integrity betrifft die Abwesenheit von Demütigung und die Achtung der Würde des Menschen und wird demnach zu einem Indikator für die moralische Beschaffenheit eines sozialen oder politischen Kontexts.
22 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Nahrung und Gesundheit Hans Hauner
In den letzten Jahrzehnten hat sich das Spektrum von Krankheiten in den Industrie- und besonders in vielen Schwellen- und Entwicklungsländern kontinuierlich verändert. Im Gegensatz zur Berichterstattung in den Medien und im öffentlichen Bewusstsein sind die ansteckenden Krankheiten eher rückläufig, während chronische, „nicht-übertragbare“ Krankheiten, die eng mit der modernen Lebensweise assoziiert sind, deutlich an Bedeutung gewonnen haben. In den Industrieländern werden heute etwa zwei Drittel aller Ausgaben im Gesundheitssystem für die Behandlung chronischer und potenziell vermeidbarer Krankheiten aufgewendet. Dieses Phänomen breitet sich längst auch in Schwellenländern und vielen Entwicklungsländern aus In den letzten Jahren gab es große internationale Aktivitäten, um einen Überblick über das Krankheitsspektrum und dessen begünstigende Faktoren in möglichst vielen Ländern der Erde zu erhalten. Dies ist einerseits erklärter Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO), andererseits gibt es eine Reihe neuer Akteure und Initiativen, die sich zusätzlich mit diesem Thema beschäftigen. Hervorzuheben ist das erneuerte „Global Burden of Disease“-Projekt eines großen internationalen Konsortiums von Wissenschaftlern, das in den letzten Jahren eine Reihe interessanter Analysen zu diesem Thema vorgelegt hat (Murray et al., 2012a) (Murray et al., 2012b). Um internationale Vergleiche anstellen zu können, war es zunächst erforderlich, neue Methoden zu etablieren, mit denen es möglich ist, die Krankheitslast in Ländern mit niedrigem Entwicklungsstatus und in entwickelten Staa23 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Hans Hauner
ten gleichermaßen zu bestimmen. Dazu wurde u. a. das Summenmaß des „Disability-Adjusted Life Year“ (DALY) definiert. Inzwischen liegen aus diesem Projekt zahlreiche Publikationen vor, in denen die Veränderungen der Krankheitslast in allen Regionen der Welt im Zeitraum 1990 bis 2010 gut dokumentiert sind. Besonders erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist außerdem die Initiative der UN, die im Jahr 2000 acht „Milleniumsziele“ definiert hat, die bis zum Jahr 2015 realisiert werden sollten. Drei der Ziele adressieren Ernährungsprobleme, nämlich die Beseitigung des extremen Hungers, die Senkung der Mortalität bei Kleinkindern und die Verbesserung der mütterlichen Gesundheit (während der Schwangerschaft und danach). Ein Update der UN im Jahr 2013 ergab, dass diese Ziele bis zu diesem Zeitpunkt nur partiell erreicht wurden und dass es offensichtlich regional sehr unterschiedliche Entwicklungen gab. So ging seit 2000 beispielsweise die Zahl der Menschen, die mangel- bzw. unterernährt sind, in vielen asiatischen Ländern zurück, während sie in den Ländern der Subsahara weiter anstieg. Auffällig war dabei, dass diese Veränderungen – positiv wie negativ – eng mit der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Stabilität in diesen Ländern zusammenhing (UN, 2013).
Unterernährung/Hunger Hunger ist in der Welt weiterhin ein gravierendes, ungelöstes Problem. Obwohl es zu den am intensivsten diskutierten und wichtigsten Milleniumszielen gehört und eine Halbierung bis zum Jahr 2015 vereinbart worden war, sind die Fortschritte bislang bescheiden. In den meisten Ländern der Welt stieg die mittlere Pro-Kopf-Versorgung mit Nahrungsenergie zwischen 1990–2 und 2010–2, allerdings gibt es auch eine Reihe von afrikanischen Ländern, in denen sich die Lebensmittelversorgung in diesem Zeitraum verschlechtert hat. Nach aktuellen Schätzungen der FAO (Food and Agriculture Organisation) waren im Zeitraum 24 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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2010–2 schätzungsweise 868 Millionen Menschen unterernährt. Dies entspricht einem Rückgang der Zahl hungernder Menschen im Zeitraum der letzten 20 Jahre von ca. 18,6 % auf 12,5 % der Weltbevölkerung (FAO, 2013). Angesichts der Tatsache, dass weltweit derzeit pflanzliche Lebensmittel in einer Menge produziert werden, die rechnerisch für die Ernährung von 15 Milliarden Menschen reichen müsste, ist dieser Zustand skandalös. Etwa die Hälfte dieser Lebensmittel werden für die Viehzucht und damit Fleisch- und Milchproduktion eingesetzt, obwohl dessen Effizienz niedrig und die Umweltbelastung erheblich ist. Es gibt aber auch hohe Ernteverluste durch schlechte Logistik und mindestens ein Drittel aller Lebensmittel wird in den reichen Ländern weggeworfen. Es gibt daneben schwere Marktverzerrungen im weltweiten Lebensmittelhandel, die diese Situation verschärfen. Die FAO und andere Organisationen weisen in ihren Berichten zur Welternährung stets auch auf andere Ursachen hin. Dazu zählen geringes Engagement von Regierungen, chronische Konflikte wie z. B. anhaltende Bürgerkriege, Naturkatastrophen, ineffektive Anbaumethoden und vieles mehr. Aber auch der Trend zu einer „westlichen“, fleischbetonten Ernährung fördert zunehmend diese Engpässe. Schließlich trägt auch die Förderung von Biodieselproduktion aus Pflanzenölen zur Nahrungsmittelknappheit bei. Die Handelspolitik, z. B. der Europäischen Union, erschwert mit dem subventionierten Export überschüssiger Lebensmittel in den afrikanischen Raum die Situation für viele Bauern und landwirtschaftliche Kleinunternehmen. Die Spekulation mit den Lebensmitteln auf den Finanzmärkten belastet die Landwirtschaft in vielen Regionen. Dadurch bedingte Anstiege der Lebensmittelpreise können dann unmittelbare, dramatische Auswirkungen für weniger wohlhabende Bevölkerungsschichten in armen Ländern haben. Neben dem Problem der Unsicherheit in der Verfügbarkeit von Lebensmitteln gibt es in vielen Teilen der Welt spezielle Ver25 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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sorgungsprobleme mit Mikronährstoffen, die viele Menschen betreffen und durch vergleichsweise einfache und kostengünstige Maßnahmen behebbar wären. Im Folgenden sollen drei dieser Ernährungsprobleme näher betrachtet werden, die vor allem für die Dritten Welt relevant sind.
Eisenmangel und Eisenmangelanämie Eine zu geringe Zufuhr von Eisen gilt nach wie vor als weltweit häufigste Ernährungsstörung. Nach Untersuchungen und Schätzungen der WHO sind knapp 2 Milliarden Menschen von Eisenmangel betroffen, Frauen dabei deutlich häufiger als Männer. Die Eisenmangelanämie betrifft rund 24,8 % der Weltbevölkerung. Am stärksten sind Kleinkinder betroffen (47,4 %), am geringsten Männer (12,7 %). Es gibt große regionale Unterschiede: so leiden in Afrika ca. 57,1 % aller schwangeren Frauen an einer Eisenmangelanämie (der Bedarf an Eisen ist in der Schwangerschaft um ca. 15 % erhöht). Eisenmangel in der Schwangerschaft geht mit einer erhöhten mütterlichen Sterblichkeit, aber auch mit schweren körperlichen und mentalen Entwicklungsstörungen einher. Die WHO beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema und hat in vielen Modellprojekten nachweisen können, mit welchen Strategien dem Eisenmangel erfolgreich begegnet werden kann. Aus der globalen Perspektive sind die Fortschritte bisher aber bescheiden. Hauptproblem ist dabei die fehlende Infrastruktur der Gesundheitsversorgung in vielen Ländern, aber auch die Untätigkeit vieler Regierungen in der Dritten Welt.
Vitamin-A-Mangel Vitamin-A ist ein essenzieller Nährstoff für den Sehvorgang und andere Körperfunktionen. Ein klinisch relevanter Mangel findet sich besonders bei schwangeren Frauen und Kleinkindern. Das 26 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Ergebnis einer Unterversorgung ist bei Kleinkindern Nachtblindheit, Xerophthalmie, erhöhte Infektanfälligkeit bis hin zu erhöhter Mortalität, wovon die Mütter in gleicher Weise betroffen sind. In Südostasien und vielen afrikanischen Ländern (insbesondere der Subsahara) leiden bis zu 50 % der Kleinkinder an einem relevanten Vitamin-A-Mangel (WHO, 2009). Nach Schätzungen der WHO versterben jährlich rund 1 Million Kleinkinder an den Folgen eines Vitamin-A-Mangels. Bereits vor 30 Jahren konnte in Programmen der WHO in den besonders betroffenen Ländern gezeigt werden, dass dieses Problem durch relativ einfache und kostengünstige Maßnahmen rasch beseitigt werden könnte.
Jodmangel Jod aus der Nahrung ist ein essenzieller Nährstoff für die Herstellung von Schilddrüsenhormonen. Vor allen in küstenfernen Regionen ist die Jodversorgung in vielen Teilen der Welt unzureichend. Nach aktuellen Schätzungen der WHO weisen 29,8 % aller Schulkinder und 28,5 % in der Allgemeinbevölkerung eine Jodunterversorgung auf, d. h. dass ca. 1,88 Milliarden Menschen weltweit an einem Jodmangel leiden. Im Kleinkindesalter drohen dann Intelligenzminderung und körperliche Entwicklungsstörungen, bei Erwachsenen vor allem Schilddrüsenvergrößerungen (Struma). Davon sind auch viele Menschen in Europa einschließlich Deutschland in meist moderater Form betroffen. Durch die Verwendung von jodiertem Speisesalz bei der Speisenzubereitung, aber auch durch den zunehmenden Einsatz von jodangereichertem Tierfutter war der Jodmangel in vielen Ländern im letzten Jahrzehnt rückläufig.
27 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Überernährung – die andere Seite der Medaille Während Millionen Menschen unter einer Lebensmittelknappheit und damit Mangelernährung leiden, gibt es auf der anderen Seite das rasch wachsende Problem der Überernährung mit der Folge von Übergewicht und vielen anderen ernährungsmitbedingten chronischen Erkrankungen (Tabelle 1). Eine entscheidende Rolle spielt der globale Handel mit dem Ergebnis, dass die traditionellen Essgewohnheiten aufgegeben werden und immer mehr Menschen den westlichen Ernährungsstil übernehmen. Dieser ist durch einen hohen Fett- und Zuckergehalt sowie einen niedrigen Ballaststoffgehalt charakterisiert. Gleichzeitig nimmt der Anteil tierischer Lebensmittel zu. Andere Merkmale dieser Kost sind ein hoher Salzgehalt, ein niedriger Obst- und Gemüsekonsum sowie eine insgesamt sehr hohe Energiedichte. Die Folgen dieser Entwicklung sind dramatisch: durch den gleichzeitig zunehmenden Bewegungsmangel kommt es bei dieser Ernährung zu einer Gewichtszunahme. Seit 1980 hat sich die Zahl der Menschen mit Übergewicht bzw. Adipositas mehr als verdoppelt. Nach aktuellen Schätzungen der WHO sind derzeit ca. 1,5 Milliarden Menschen übergewichtig (BMI 25 – 29,9 kg/m2) und ca. 600 Millionen adipös (BMI = 30 kg/m2). Die höchste Prävalenz der Adipositas findet sich auf Südseeinseln (50 – 70 % der erwachsenen Bevölkerung), danach folgen einige arabische Staaten wie Kuweit, Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien sowie die USA (30 – 35 %). Adipositas ist der mit Abstand wichtigste Risikofaktor für die Entwicklung eines Typ 2 Diabetes, sodass diese Erkrankung in diesen Ländern ebenfalls zu einer ernsten Bedrohung geworden ist. Aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmte Krebserkrankungen werden durch Adipositas und den beschriebenen Lebensstil stark begünstigt. Daneben fördert Adipositas auch neurodegenerative Erkrankungen und Erkrankungen des Bewegungsapparats. Der moderne westliche Ernährungsstil hat auch unabhängig 28 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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von Adipositas einen ungünstigen Einfluß auf viele, weit verbreitete Erkrankungen. Tabelle 2 nennt einige häufige chronische Krankheiten und den relativen Anteil von Lebensstilfaktoren bzw. Ernährung. Damit hat die Ernährung in den letzten Jahrzehnten für die Krankheitslast der Bevölkerung weltweit an Bedeutung gewonnen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind längst weltweit die häufigsten Todesursachen geworden und beanspruchen den größten Anteil an den Gesundheitsausgaben. In vielen Schwellenländern hat sich das Spektrum an Risikofaktoren und Gefäßkomplikationen dem der Industrieländer angenähert. Die Ursachen sind – mit kleinen regionalen Unterschieden – sehr ähnlich. Tabelle 3 zeigt am Beispiel des Herzinfarkts die wichtigsten 8 beeinflussbaren Risikofaktoren, die in hohem Maße ernährungsmitbedingt sind. Diese Risikofaktoren erklären nach einer Analyse der WHO rund 61 % aller kardiovaskulären Todesfälle. 84 % dieser Todesfälle ereignen sich inzwischen in „low-“ und „middle-income“-Ländern (WHO 2009).
Fleischkonsum und Krankheitsrisiko Die Produktion von Fleisch und Fleischprodukten erfordert einen hohen Einsatz von Futtermitteln, die überwiegend aus Getreide und Soja hergestellt werden. Der damit verbundene Wasserverbrauch ist deutlich höher als bei der Produktion pflanzlicher Lebensmittel, sodass die Ökobilanz tierischer Lebensmittel ungleich ungünstiger ausfällt. Damit werden die begrenzten natürlichen Ressourcen stärker beansprucht. Unabhängig vom ökologischen Aspekt gilt ein hoher Konsum an Fleisch und vor allem verarbeiteten Fleischprodukten wie etwa Wurstwaren als ein Risikofaktor für Typ 2 Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bestimmte Krebserkrankungen. Auch Gelenkserkrankungen und neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz werden bei einer fleischbetonten Ernährungsweise häufiger beobachtet. 29 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Ein neues Paradigma: „Double Burden of Disease“ In den letzten Jahren wird zunehmend stärker ein Phänomen thematisiert, das vor allem in vielen Entwicklungsländern, aber auch in entwickelten Ländern immer häufiger zu Tage tritt: das gleichzeitige Auftreten von Unter- und Überernährung in einer regionalen Einheit. Die Ursache dafür ist in erster Linie die wachsende soziale und ökonomische Disparität, die in vielen Ländern, wenn nicht weltweit zu beobachten ist. In vielen Ländern gibt eine kleine Ober- und gehobene Mittelschicht, die einen westlichen Lebensstil pflegt und damit in hohem Maße von Wohlstandskrankheiten bedroht ist, während die breite Masse bestenfalls das Nötigste zum Leben hat, d. h. dass die Versorgung mit Lebensmitteln keineswegs gesichert ist. Diese Menschen sind daher für Krankheiten als Folge einer Mangelernährung anfällig.
Entwicklungen und Ausweg-Szenarien Die geschilderte Situation der Welternährung und ihrer Konsequenzen für die Gesundheit der Menschen macht auch aus ethischen Gründen eine ernsthafte Suche nach besseren Lösungen zwingend erforderlich. Leider ist zu konstatieren, dass die politischen Entscheidungsträger auf die beschriebenen Probleme noch nicht angemessen reagiert haben, auch wenn die weltweite Adipositasepidemie seit kurzem durchaus auf der Agenda großer Gesundheitskonferenzen zu finden ist. Die letzten Aktivitäten dieser Art hatten aber bestenfalls Symbolcharakter. So hatte beispielsweise die „Istanbul-Charta“ zur Bekämpfung der Adipositas in Europa, die von allen europäischen Gesundheitsministern unterschrieben wurde, keinerlei konkrete Konsequenzen. Ähnlich wirkungslos blieb bisher die UN-Konferenz zu nicht-übertragbaren Krankheiten im September 2011 in New York. Dagegen gibt es zumindest in der Wissenschaft, bei NGOs und teilweise auch in der interessierten Öffentlichkeit eine leb30 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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hafte Diskussion über diese unbefriedigende Situation. Daran sind sehr heterogene Gruppen mit unterschiedlicher Motivation und unterschiedlichen Zielen wie etwa Umweltschutzaktivisten, Tierschützer, Ernährungsexperten, Gesundheitsforscher bis hin zu eher esoterischen Gruppierungen beteiligt. Zu letzteren sind etwa Gruppen zu zählen, die mit Ernährung einen „Anti-Aging“Effekt erreichen wollen. Einige dieser Entwicklungen sollen im Folgenden kurz angesprochen werden.
Vegetarische Kost Die vegetarische Ernährung ist eine Bewegung bzw. Weltanschauung mit einer langen Tradition, die auf antike Kulturen zurückgeht. Hier gingen früher Elemente wie die Verehrung von Tiergottheiten ein, während heute eher Ekel vor der modernen Massentierhaltung und Tierschutz zentrale Motive darstellen. Der Gesundheitsaspekt ist dabei eher jüngeren Datums. Erst vor etwa 50 Jahren wurden die ersten Vegetarier-Studien publiziert, die sich mit den Auswirkungen dieser Ernährungsweise auf die Gesundheit des Menschen beschäftigten. Vegetarier-Kohorten existieren auch in Deutschland. Bekannt ist die Berliner Vegetarier-Studie von H. Rottka, die sich vor allem mit der Frage befasste, inwieweit Vegetarier alle als essenziell angesehenen Nährstoffe in ausreichender Menge aufnehmen. Daneben gibt es eine Vegetarier-Studie in der Region Heidelberg, in der kürzlich gezeigt wurde, dass Vegetarier eine höhere Lebenserwartung haben als die deutsche Normalbevölkerung (Chang-Claude et al., 2005). Das einheitliche Ergebnis aller Vegetarier-Studien ist, dass Menschen mit vegetarischer Ernährung gesünder sind und länger leben. Beispielsweise ergab eine Metaanalyse mehrerer VegetarierKohorten, dass die Sterblichkeit von Vegetariern, insbesondere an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, niedriger ist als diejenige der jeweiligen Referenzpopulation (Huang et al., 2012). Noch wichtiger ist vielleicht das Ergebnis, dass Vegetarier seltener an den chro31 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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nischen Wohlstandserkrankungen leiden und in der Regel gesünder leben. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich Vegetarier nicht nur anders ernähren als Nicht-Vegetarier, sondern ingesamt eine andere Lebensweise pflegen: sie rauchen weniger, trinken weniger Alkohol und scheinen sich auch mehr zu bewegen, sodass die positiven Gesundheitseffekte nicht alleine auf die typische Ernährungsweise zurückzuführen sind. Gleichwohl besteht Einigkeit unter Experten, dass ein großer Teil des Gesundheitsschutzes Folge der vegetarischen Kost ist. Für diese Annahme sprechen auch andere Studiendaten. So gibt es ein interessantes populärwissenschaftliches Projekt, in dem die Lebensgewohnheiten sehr gesunder, langlebiger Populationen analysiert wurden, das sog. „Blue Zones“-Projekt. Hierbei wurden Daten von vegetarisch lebenden Kommunen in Kalifornien, Gemeinden auf griechischen Inseln und Sardinien mit klassischer Mittelmeerkost, aber auch die Urbevölkerung auf der Insel Okinawa mit traditioneller asiatischer Kost eingeschlossen. Dabei zeigte sich, dass die Ernährung dieser Menschen vor allem durch eine pflanzlich betonte Kost mit reichlich Ballaststoffen, wenig Fett und wenig Fleischkonsum charakterisiert ist (Büttner D, 2005).
Vegane Ernährung Derzeit ist die vegane Ernährung in Deutschland sehr populär. Dieses Phänomen wird vor allem von den Medien befördert und besitzt eine Art „Eventcharakter“. Viele Lebensmittelhersteller stellen sich auf diesen Trend ein, sodass das entsprechende Sortiment auch in vielen Supermärkten wächst. Auch viele traditionelle Unternehmen der Lebensmittelindustrie nutzen das „Geschäftsmodell“ und bedienen diese Nachfrage, sodass der eigentliche Ausgangspunkt dieser Bewegung, der Ekel vor der unwürdigen Massentierhaltung, längst in den Hintergrund gerückt 32 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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ist. Bei dieser Art einer veganen Ernährung wächst offenkundig auch das Risiko für Nährstoffdefizite wie Vitamin B12- und Eisen-Mangel. Bislang gibt es kaum belastbare Studien zu den Gesundheitsvorteilen, aber auch –risiken dieser Ernährungsweise. Ein Vorteil gegenüber der lakto-ovo-vegetarischen Kost scheint nicht zu bestehen.
Kalorische Restriktion Ein anderer Trend, der vor allem in den USA stark thematisiert wird, ist das Konzept der kalorischen Restriktion („calorie restriction“) mit dem Ziel den Alterungsprozess zu verlangsamen. Für diese These gibt es eine Reihe von Hinweisen aus tierexperimentellen Studien, für den Menschen sind die Daten ungleich dünner, wenngleich sie in eine ähnliche Richtung deuten (Fontana und Klein, 2007). Es ist aber völlig unklar, welches Ausmaß und welche Art einer kalorischen Restriktion mit optimaler Gesundheit und Langlebigkeit verbunden ist. Auch mögliche Gefahren für spezielle Gruppen, wie z. B. schlanke Personen oder Personen mit Krebserkrankungen, sind schwer abschätzbar, sodass dieses Konzept noch zu viele nicht beantwortbare Fragen aufwirft und nicht empfohlen werden kann. Großer Beliebtheit erfreut sich seit Jahren das Fasten, wie z. B. „Heilfasten“ nach Buchinger. Die Motive der Menschen, solche Angebote wahrzunehmen, sind vielfältig und haben häufig mystische und irrationale Züge, scheinen aber Grundbedürfnisse des Menschen zu reflektieren. Dabei geht es meist nicht alleine um Verzicht auf Essen, sondern vielmehr um eine zeitlich begrenzte Abkehr von der modernen Lebensweise und eine Art spirituelle Rückbesinnung. Der gesundheitliche Nutzen solcher Fastenphasen ist umstritten und bei weitem nicht so klar positiv, wie von den Protagonisten gerne behauptet. Klar ist auch, dass eine nachhaltige Wirkung fehlt und die meisten Menschen nach dem Fasten wieder zügig an Gewicht zunehmen. Aus medizinischer 33 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Sicht ist Fasten daher fragwürdig, für bestimmte Menschen mit Vorerkrankungen möglicherweise sogar gefährlich. Eine grundsätzliche Nutzenbewertung ist daher schwierig.
Moderne Ernährungsformen – Chancen und Risiken Führt man sich die Ernährung des Menschen in den letzten 30 bis 50 Jahren vor Augen, so lassen sich im Rückblick gewaltige Veränderungen erkennen. Essen hat seine traditionelle Funktion in vielen Familien weitgehend verloren, so wie sich auch die Familienstrukturen drastisch gewandelt haben. Soziologisch betrachtet war Essen immer ein Gemeinschaftserlebnis, bei dem die Mitglieder einer Familie oder einer Gemeinde zusammenkamen und oft bereits bei der Speisenvorbereitung zusammengeholfen haben. Essen hatte in der Vergangenheit einen sehr hohen Stellenwert, weil es – obwohl lebensnotwendig – nicht gesichert war und oft rationiert werden musste. Heute, im Zeitalter des Überflusses, hat dieser soziale Aspekt des Essens an Bedeutung verloren. Essen ist Tag und Nacht für relativ wenig Geld leicht verfügbar, ein Mangel an Lebensmitteln ist für die meisten Menschen in den Industrieländern unvorstellbar. Dementsprechend ist die Wertschätzung für Lebensmittel und Essen gesunken. Stattdessen wird dieses Thema angesichts der großen Aufmerksamkeit in der Bevölkerung von den Medien instrumentalisiert: die Vor- und Zubereitung von Essen wird zunehmend für Selbstdarstellung und –inszenierung genutzt, auch quasi als kultureller Akt begriffen. Ein einfaches Beispiel dafür ist das große Angebot an Kochshows mit meist exotischen, aber auch „kreativen“ Gerichten, die mehr als Entertainment-Format wahrgenommen werden. Für die Mehrzahl der Menschen ist Essen somit zu einer Nebensächlichkeit geworden, für die sie weder viel Zeit noch große Mühen aufwenden wollen. Diese Einstellung wird vom Handel und der Gastronomie perfekt bedient. Ein Beleg dafür ist, dass 34 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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vor allem die Zahl der Schnellimbissmöglichkeiten in Deutschland in den letzten Jahren drastisch gestiegen ist. Systematische Erhebungen fehlen allerdings. Nach Schätzungen wächst das „Außer-Haus-Verzehr“-Segment jedes Jahr zweistellig. Das Angebot reicht dabei von Fastfood-Restaurants, klassischen Imbissbuden, allerdings mit größerer kultureller Vielfalt (Pizza, Döner, Nudeln, Sushi), bis hin zu Bäckereien, Metzgereien und Tankstellen. Supermärkte bieten ein immer größeres Sortiment an verzehrfertigen Gerichten an, um den Verbraucherwünschen entgegenzukommen. Gleichzeitig sinkt der zeitliche Aufwand, der in den Haushalten für die Essensvorbereitung aufgebracht wird, seit Jahrzehnten kontinuierlich. Dies mögen Viele als einen Akt der Befreiung von der wenig geschätzten Hausarbeit empfinden, für Andere bedeutet dies aber einen Verlust an kulturellen und sozialen Werten und Traditionen. Vielfach ist dieses Verhalten aber einfach ein wirtschaftliches Gebot, wenn beide Partner berufstätig sind und den gewünschten Lebensstandard sichern wollen. In den USA hat das Department of Agriculture (entspricht dem deutschen Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung) in seinen letzten Ernährungsempfehlungen für die USamerikanische Bevölkerung im Jahr 2010 Zahlen präsentiert, wie sich dort „Food Service“ und Essgewohnheiten in den letzten Jahrzehnten verändert haben (Tabelle 4). Danach ist etwa im Zeitraum 1977 bis 1995 die Zahl der Mahlzeiten, die in Fastfood-Restaurants verzehrt wurden, um rund 200 % gestiegen. Im Zeitraum 1970 bis 2008 sind die Ausgaben für Essen zuhause in den Familien und Ein-Personen-Haushalten um 42 % gesunken (Tabelle 4) (USDA, 2010). Eine ähnliche Entwicklung dürfte auch in Deutschland stattgefunden haben. Ein unerwünschter Nebeneffekt des erhöhten „Außer-HausVerzehrs“ ist aus ernährungsmedizinischer Sicht die häufig ungünstige Nährstoffzusammensetzung dieser Produkte. Es handelt sich zumeist um energiedichte Lebensmittel bzw. Fertigspeisen mit hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt, wenig Ballaststoffen und insgesamt niedriger Nährstoffdichte (USDA, 2010). Dieser 35 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Aspekt dürfte einen erheblichen Beitrag zu den aktuellen Ernährungsproblemen und zur Zunahme ernährungsmitbedingter Erkrankungen in den Industrie- und Schwellenländern leisten. Diese Trends sind allerdings von den Ernährungsfachgesellschaften noch nicht ausreichend adressiert worden. Es ist aber eine große Herausforderung für die Lebensmittelindustrie und die begleitende akademische Forschung, diese sog. „Convenience“-Lebensmittel gesünder zu gestalten. Dazu gibt es eine wachsende Zahl von Aktivitäten, wie z. B. das „enable“-Cluster in der Region München-Freising-Nürnberg, das sich speziell auf die Entwicklung und Prüfung gesünderer „Convenience“-Produkte konzentriert oder das EU-weite Programm „Healthy Eating for a Healthy Life“. Die modernen Produktionsmethoden in der Lebensmittelindustrie bieten hierzu viele neue Möglichkeiten, die im Interesse von „Verbraucherwünschen, -sicherheit und -gesundheit“ exploriert werden sollten. Entgegen der „Kakophonie“ von Aussagen zur Ernährung in den Medien, die der Bürger und Verbraucher meist als widersprüchlich und verwirrend empfindet (und bei denen oft handfeste Geschäftsinteressen im Spiel sind, die aber kaum erkennbar sind bzw. nicht deklariert werden), sind sich die Expertengremien von Ernährungsfachgesellschaften weltweit einig, wie eine gesunde Ernährung aussehen soll (Tabelle 5). Sie sollte eher pflanzlich betont sein, eher wenig hoch verarbeitete Lebensmittel beinhalten, weniger Fett, weniger zugesetzten Zucker, weniger Salz und weniger prozessierte Fleischprodukte enthalten (DGE, 2014).
Ethische Aspekte Zuletzt soll die weltweite Ernährungssituation unter ethischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Auch wenn nur am Rande angesprochen, so ist doch unbestreitbar, dass eine gesicherte Ernährung des Menschen in den heutigen Wertvorstellungen der 36 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Weltgemeinschaft als ein Grundrecht anzusehen ist. Daher ist es inakzeptabel, dass einem großen Teil der Menschheit dieses elementare Recht vorenthalten wird. So vielfältig die Ursachen und Erklärungen für die aktuelle Misere sein mögen, so klar ist auch, dass das Ziel, jedem Menschen ausreichend Essen bereitzustellen, rasch erreicht werden könnte, wenn alle verantwortlichen „Stakeholder“, angefangen von Regierungen, über Unternehmen und internationale Organisationen bis hin zu jedem einzelnen Bürger, dieses Anliegen ernst nehmen würden. Es reicht nicht aus, Nahrungsmittel quasi als „Almosen“ zu liefern, sondern es müssen die Lebensbedingungen so verändert werden, dass Menschen sich in ihren Lebensräumen weitgehend selbst versorgen können. Dazu ist ein Bündel von Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen nötig, bis hin zu einer konsentierten Kontrolle des Bevölkerungswachstums, vor allem in den sehr armen Regionen. Angesichts der Diskrepanz zwischen garantierten Menschenrechten, denen sich die Regierungen dieser Erde in vielen UNKonventionen verpflichtet haben, und der Realität in vielen Ländern, ist vielleicht auch ein anderer, drastischer Ton gerechtfertigt, wie es der Schweizer Soziologe Jean Ziegler zu formulieren pflegt: „Der Hunger tötet weltweit täglich ungefähr 100.000 Menschen. Kaum jemand spricht über diesen Völkermord, von Abhilfe ganz zu schweigen. Vor diesem Hintergrund und angesichts des zügellosen Neoliberalismus der Finanzmärkte entlarvt sich das Reden der Mächtigen von christlichen Werten, von Solidarität und Gerechtigkeit als pure Heuchelei“ (Ziegler, 2003).
37 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Literaturhinweise: Buettner D: The secrets of longevity. National Geographic November 2005, S. 8–26 Chang-Claude J, Hermann S, Eilber U, Steindorf K: Lifestyle determinants and mortality in German vegetarians and health-conscious persons: results of a 21year follow-up. Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2005; 16: 963–8 Deutsche Gesellschaft für Ernährung: Vollwertig essen und trinken nach den 10 Regeln der DGE. www.dge.de Fontana L, Klein S: Aging, adiposity, and calorie restriction. JAMA 2007; 297: 986–94 Food and Agriculture Organisation: The State of Food Insecurity in the World (SOFI) 2013. www.fao.org/publications/sofi/2013 Huang T, Yang B, Zheng J et al.: Cardiovascular disease mortality and cancer incidence in vegetarians: a meta-analysis and systematic review. Ann Nutr Metab 2012; 60: 233–40 Murray CJL, Ezzati M, Flaxman AD et al.: GBD 2010: A multi-investigator collaboration for gloval comparative descriptive epidemiology. Lancet 2012; 380: 2055–58 Murray CJL, Vos T, Lozano R et al.: Disability-adjusted life years (DALYs) for 291 diseases and injuries in 21 regions, 1990 – 2010: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2010. Lancet 2012; 380: 2197–223 United Nations: The Millenium Developmental Goals Report 2012. United Nations, New York, 2012 US Department of Agriculture and US Department of Health and Human Services: Report of the dietary Guidelines Advisory Committee on the Dietary Guidelines for Americans, 2010. USDA, Washington, 2010 WHO: Global prevalence of Vitamin A Deficiency in Populations at Risk 1995 – 2005. WHO Global Database on Vitamin A Deficiency. Geneva, World Health Organisation, 2009 Ziegler J: Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher. C. Bertelsmann Verlag, München 2003 (ISDN: 9783570006795)
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Nahrung und Gesundheit
Anhang Tabelle 1: Ernährungsmitbedingte Erkrankungen Überernährung
Unter-/Mangelernährung
Adipositas Typ 2 Diabetes mellitus Herz-Kreislauf-Erkrankungen Bestimmte Krebserkrankungen Fettstoffwechselstörungen Hypertonie Osteoporose
Unterernährung/Kleinwuchs Anämie (Eisenmangel) Hypothyreose/Kretinismus (Jodmangel) Erblindung (Vitamin A-Mangel)
Tabelle 2: Relativer Anteil von Lebensstil/Ernährung an häufigen chronischen Erkrankungen Krankheiten
Lebensstil
Ernährung
• • • • • • • •
60 – 90 % 60 – 90 % 60 – 80 % 50 – 70 % 50 – 70 % 40 – 70 % 60 – 70 % 50 – 70 %
50 – 70 % 70 % 40 – 60 % 30 – 50 % 30 – 50 % 30 – 40 % 30 – 40 % 30 – 50 %
Adipositas Typ2 Diabetes mellitus Fettstoffwechselstörung Koronare Herzkrankheit Schlaganfall Krebs insgesamt* Kolonkarzinom Osteoporose
Tabelle 3: Die 8 wichtigsten Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen (nach WHO 2009) • • • • • • • •
Alkohol Tabak Hoher Blutdruck Hoher BMI Hohes Cholesterin Hoher Blutzucker Niedriger Obst- und Gemüseverzehr Bewegungsmangel
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Hans Hauner
Tabelle 4: Veränderungen im Handel, Gastronomie und Ernährungsverhalten der US-Bevölkerung (USDA, 2010): Zeitraum
Änderung (%)
Zahl kommerzieller Essplätze
1972 – 1995
89 %
Anzahl von Fastfood-Restaurants
1972 – 1995
147 %
Prozent von Mahlzeiten/Snacks in Fastfood-Restaurants
1977 – 1995
200 %
Ausgaben für Lebensmittelverzehr zuhause 1970 – 2008 in % des Haushaltseinkommens
–42 %
Ausgaben für „Essen-außer-Haus“
1970 – 2008
26 %
Essen außer Haus in % aller Ausgaben für 1970 – 2008 Essen
46 %
Anteil der Energieaufnahme bei „EssenAußer-Haus“ in % der Gesamtenergie
1977 – 1995
77 %
Anzahl von Lebensmitteln in Supermärkten
1978 – 2008
449 %
Tabelle 5: Ernährungsempfehlungen des Dietary Guidelines Advisory Committee des US Department of Agriculture (2010) – Geringere Energiezufuhr – Mehr pflanzlich betonte Ernährung mit mehr Fisch, mehr fettreduzierte Milch und Milchprodukte und nur moderater Verzehr von magerem Fleisch und Geflügel – Geringerer Konsum von Lebensmitteln mit zugesetztem Zucker und solidem Fett sowie weniger Salz und verarbeitete Weißmehlprodukte
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Nahrung und Ökonomie Stephan von Cramon-Taubadel
1. Einleitung Die Nahrungsversorgung und die Beseitigung von Hunger stellen Herausforderungen dar, die so alt wie die Menschheit sind, streng genommen so alt wie das Leben an sich. Diese Herausforderungen sind facettenreich und können aus entsprechend vielen Perspektiven analysiert werden – darunter die medizinische, die soziologische und die ethische. Aber auch die ökonomische Perspektive kann helfen, die Ursachen und Folgen des Hungers besser zu verstehen und Maßnahmen aufzeigen, die zu einer Erhöhung der Ernährungssicherheit beitragen. In diesem Beitrag werden ausgewählte Aspekte einer ökonomischen Betrachtung der Fragen der Ernährungssicherheit und der Bekämpfung des weltweiten Hungers dargestellt. Laut der Deutschen Welthungerhilfe 1 ist die Ernährungssicherheit „[…] auf nationaler, regionaler und Haushaltsebene erreicht, wenn für alle Menschen zu jeder Zeit der physische, soziale und wirtschaftliche Zugang zu quantitativ und qualitativ angemessenen und sicheren Nahrungsmitteln gewährleistet ist, um ein gesundes und aktives Leben zu führen.“ Diese Definition, die von vielen führenden internationalen und nationalen Institutio-
1
Fachkonzept Ernährungssicherung – Leitlinien für die Förderung und Durchführung von Ernährungssicherungsprojekten der Deutschen Welthungerhilfe, Bonn, 2004, 15.
41 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Stephan von Cramon-Taubadel
nen in ähnlicher Form verwendet wird, 2 richtet die Aufmerksamkeit insbesondere auf den individuellen Zugang zu Nahrungsmitteln. In allen von der Arbeitsteilung geprägten Gesellschaften, in denen viele, wenn nicht die allermeisten Menschen, nicht in der Lage sind, sich vollständig durch die Produktion eigener Lebensmittel selbst zu ernähren, hängt dieser Zugang mehr oder weniger von der Kaufkraft des Individuums bzw. der einzelnen Haushalte einerseits und den Lebensmittelpreisen andererseits ab. Im Folgenden werden zunächst Zahlen über den Umfang des globalen Ernährungsproblems und die in den letzten 25 Jahren erzielten Fortschritte bei der Bekämpfung dieses Problems präsentiert. Anschließend werden die langfristige Entwicklung der Preise für Grundnahrungsmittel diskutiert und Folgen für die Ernährungssicherheit abgeleitet. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf staatliche Eingriffe zur Verbesserung der Ernährungssicherheit gelegt, die aus nationaler Sicht legitim erscheinen, aber über Interaktionen mit den Weltmärkten zu einem ‚Export von Hunger‘ führen können, wie während der sog. ‚Agrarpreiskrise‘ 2007–08 zu beobachten war.
2. Die Welternährung – Fortschritte und verpasste Ziele Im Kampf gegen Hunger ist in den letzten Jahrzehnten sehr viel, aber auch viel zu wenig erreicht worden. Als Ergebnis der ersten Welternährungskonferenz in Rom 1974 einigten sich die teilnehmenden Regierungen auf das Ziel, den Hunger, die Ernährungsunsicherheit und die Unterernährung weltweit binnen 10 Jahren zu beseitigen. Auf dem Welternährungsgipfel 1996 in Rom wurde in einer Erklärung das Menschenrecht auf angemessene Ernäh2
So zum Beispiel die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinigten Nationen (FAO): „Food security exists when all people, at all times, have physical, social and economic access to sufficient, safe and nutritious food which meets their dietary needs and food preferences for an active and healthy life“ (FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations), ESS Website, Rome, 2015).
42 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Nahrung und Ökonomie
rung deklariert und das Ziel der Halbierung der Zahl der unterernährten Menschen bis 2015 verabschiedet. Anlässlich des Millenniumgipfels 2000 in New York wurde das zusätzliche Ziel der Halbierung des Anteils der Bevölkerung, die unter Hunger leidet, vom Ausgangswert 1990 bis 2015 gesetzt. Das ehrgeizige Ziel der Welternährungskonferenz von 1974 wurde weit verfehlt. Das Ziel des Welternährungsgipfels 1996 erfordert eine Verringerung der Zahl der unterernährten Menschen auf ca. 500 Millionen. Obwohl die neuesten Schätzungen der FAO auf eine Verringerung von über 200 Millionen zwischen 1990–92 und 2012–14 hindeuten (von 994 auf 791 Millionen unterernährten Menschen in den Entwicklungsländern – vgl. Abbildung 1), wird auch dieses Ziel verfehlt. Das Millenniumgipfelziel der Halbierung des Anteils der Bevölkerung, die unter Hunger leidet, scheint dagegen in Reichweite zu sein. Dieser Anteil ist in den Entwicklungsländern von 23,4 % in 1990–92 auf 13,5 % in 2012–14 gefallen; wenn der bisherige Trend seit 1990–92 anhält, wird 2015 ein Anteil von 12,8 % erreicht werden, was nur knapp über dem deklarierten Ziel von 11,7 % liegt (vgl. Abbildung 1). 805 Millionen unterernährte Menschen und die Folgen des Hungers, den sie erleiden, stellen die größte Tragödie unserer Zeit dar. Dennoch kann Hoffnung daraus geschöpft werden, dass die Unterernährung in den letzten 25 Jahren weltweit sowohl relativ als auch absolut zurückgedrängt werden konnte. Seit Anfang der 90er Jahre ist es trotz einer Zunahme der Weltbevölkerung um 1,7 Milliarden Menschen gelungen, die Anzahl der Unterernährten um über 200 Millionen zu reduzieren. Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass die oben diskutierten und in Abbildung 1 dargestellten Zahlen Schätzungen sind, die auf komplexen Hochrechnungen der FAO basieren und selbstverständlich Fehler enthalten können. 3 Die FAO hat ihre Schätzmethoden und die verwendete Datenbasis zuletzt 2012 3
De Haen et al. (Hartwig de Haen, Stephan Klasen, Matin Qaim, What Do We Really Know? Metrics for Food Insecurity and Undernutrition, 2011, 760–769)
43 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Stephan von Cramon-Taubadel
1100
45
1000
40
900
35
800
30
700
Ziel Welternährungsgipfel 1996
25
600
20
500
15
%
Millionen Menschen
Abbildung 1: Unterernährung weltweit und in den Entwicklungsländern seit 1990 im Vergleich zu den international gesetzten Zielen (Millionen Menschen und Anteil an der globalen Bevölkerung)
10
400 Ziel Milleniumgipfel 2000
5
19
90 19 -92 91 19 -93 92 19 -94 93 19 -95 94 19 -96 95 19 -97 96 19 -98 97 19 -99 98 19 -00 99 20 -01 00 20 -02 01 20 -03 02 20 -04 03 20 -05 05 20 -06 05 20 -07 06 20 -08 07 20 -09 08 20 -10 09 20 -11 10 20 -12 11 20 -13 12 -1 4 20 15
300
Anzahl der hungernden Menschen weltweit (Skala links) Anzahl der hungernden Menschen Entwicklungsländern (Skala links) Anteil der Bevölkerung, die unter Unterernährung leidet weltweit (%, Skala rechts) Anteil der Bevölkerung, die unter Unterernährung leidet in Entwicklungsländern (%, Skala rechts)
Quelle: FAO ((Food and Agriculture Organization of the United Nations), The State of Food Insecurity in the World, Rome, 2014a).
grundlegend überprüft und revidiert mit der Folge, dass die geschätzte Anzahl der in den 90er Jahren unterernährten Menschen erheblich nach oben korrigiert wurde, während Schätzungen für neuere Jahren niedriger ausfielen. In ihrem Welternährungsbericht von 2011 ging die FAO beispielsweise von 833 Millionen unterernährten Menschen in den Entwicklungsländern in den Jahren 1990–92 und von 856 Millionen in den Jahren 2008– 2010 aus. 4 In dem derzeit neuesten Welternährungsbericht von enthält eine detaillierte Diskussion der verschiedenen Methoden zur Messung der Unterernährung und ihrer jeweiligen Stärken und Schwächen. 4 FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations), The State of Food Insecurity in the World, Rome, 2012.
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Nahrung und Ökonomie
2014 beträgt die entsprechende Schätzung für 1990–92 994 Millionen Menschen und die für 2008–10 847 Millionen (Abbildung 1). Das Leid der vielen Menschen, die tatsächlich unterernährt waren und sind, hat sich natürlich aufgrund dieser Revisionen in keinster Weise geändert und manchem mag dieser buchhalterische Umgang mit der Tragödie des Hungers gefühllos oder gar zynisch erscheinen. Die Schätzungen der FAO und vor allem die desaggregierten Angaben für einzelne Regionen und Länder sind allerdings eine unerlässliche Grundlage für alle, die in Wissenschaft und Praxis die Ursachen des Hungers besser verstehen und praktikable Lösungen entwickeln wollen.
3. Die Bestimmungsgründe der langfristigen Agrarpreisentwicklung In der ökonomischen Betrachtung bilden sich Preise als Ergebnis des Aufeinandertreffens von Angebot und Nachfrage. Das Angebot an Nahrungsmitteln wird langfristig vor allem durch den technischen Fortschritt und die Produktivitätsentwicklung in der Landwirtschaft getrieben – zum Beispiel durch die Entwicklung der Hektarerträge der Hauptackerkulturen und der Milch- und Legeleistungen in der Milch und Eiererzeugung. Andere Faktoren wie zum Beispiel die Witterung oder Tierseuchen können kurzfristige Angebotsschwankungen um den langfristigen Trend auslösen. Dieser Trend wird aber vor allem von der Rate des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft bestimmt. Die langfristige Entwicklung der Nachfrage nach Nahrungsmitteln wird hauptsächlich durch das Bevölkerungs- und das Einkommenswachstum bestimmt. Bevölkerungswachstum allein führt zu keiner Erhöhung der Nachfrage. Nur wer seine Bedürfnisse nach Nahrung mit Kaufkraft hinterlegen kann, fragt im ökonomischen Sinne nach, hat den in der oben zitierten Definition von Ernährungssicherheit erwähnten wirtschaftlichen Zugang zu quantitativ und qualitativ angemessenen Nahrungsmitteln. 45 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Stephan von Cramon-Taubadel
Über viele Jahrhunderte, bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts, war die Rate des Bevölkerungswachstums in vielen Teilen der Erde schneller als die Rate des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft. Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln wuchs daher tendenziell schneller als das Angebot, was langfristig steigende Nahrungsmittelpreise zur Folge hatte. Abbildung 2 zeigt diese Entwicklung am Beispiel der Preise für Weizen in England von 1209 bis 1914. 5 In seinem berühmten Essay on the Principle of Population hat Thomas Malthus (1798) zwar andere Begriffe als ‚Angebot‘ und ‚Nachfrage‘, die damals noch nicht geläufig waren, verwendet, dennoch bezog er sich in seinen Ausführungen implizit auf diese Konzepte: „Meiner Ansicht nach kann ich mit Recht zwei Postulate aufstellen: Erstens: Die Nahrung ist für die Menschen notwendig. Zweitens: Die Leidenschaft zwischen den Geschlechtern ist notwendig und wird in etwa in ihrem gegenwärtigen Zustand bleiben. … Indem ich meine Postulate als gesichert voraussetze, behaupte ich, dass die Vermehrungskraft der Bevölkerung unbegrenzt größer ist als die Kraft der Erde, Unterhaltsmittel für den Menschen hervorzubringen. Die Bevölkerung wächst, wenn keine Hemmnisse auftreten, in geometrischer Reihe an. Die Unterhaltsmittel nehmen nur in arithmetischer Reihe zu.“ 6
5
Die Preise in Abbildung 2 sind nicht inflationsbereinigt. Daher sind die abgebildeten Preissteigerungen im Zeitablauf zum Teil auf den Wertverlust des englischen Shillings zurückzuführen. Eine adäquate Inflationsbereinigung für so lange Zeitreihen ist allerdings sehr schwierig. Wilhelm Abel (Agrarkrisen und Agrarkonjunktur – Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg/Berlin, 1978) hat Getreidepreisreihen für verschiedene europäische Länder über den gleichen Zeitraum erfasst und in Gramm Silber je 100 Kilogramm umgerechnet, wodurch sie zumindest teilweise inflationsbereinigt werden. Abels Preisreihen (s. Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, 13) folgen dem gleichen Trend wie die Weizenpreise, die in Abbildung 2 dargestellt werden. 6 Thomas Malthus, Essay on the Principle of Population as It Affects the Future Improvement of Society, London, 1798. Deutsche Übersetzung: Thomas Malthus, Das Bevölkerungsgesetz, München, 1977, 17 ff.
46 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Nahrung und Ökonomie
Abbildung 2: Die Entwicklung der Weizenpreise in England von 1209 bis 1914 (Shilling/Bushel)
Preis (shilling/bushel)
15
10
5
0 1200
1250 1300
1350 1400
1450
1500
1550
1600 1650
1700
1750
1800
1850
1900
Quelle: Gregory Clark (The Price History of English Agriculture, 1209– 1914, 2004, 41–123).
Für Malthus führte diese sich öffnende Schere des Nahrungsbedarfs und der Produktionsmöglichkeiten zu unvermeidbaren Folgen: Hungersnöte, Epidemien und Kriege, die eine Anpassung der Bevölkerungsentwicklung an die Nahrungsproduktion erzwingen würden. In der Tat kam es in Europa bis ins 19. Jahrhundert wiederholt zu Hungerkrisen 7. Es ist bestimmt auch kein Zufall, dass Malthus seine Theorien am Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hat, als die Preise für Grundnahrungsmittel in England geradezu explodierten (Abbildung 2). Malthus konnte allerdings die Folgen der industriellen Revolution nicht vorhersehen, die das Wachstum des Nahrungsmittelangebots ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis in unsere Zeit signifikant beschleunigte. Neue Technologien, wie die Mechanisierung, 7
Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, ebd.
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Düngung, und Züchtung, steigerten zum einen die Erträge in der Landwirtschaft, erhöhten zum anderen aber auch die Transportund Lagerfähigkeit von vielen Agrarerzeugnissen und ermöglichten somit die Erschließung neuer Produktionsregionen. So gelangte ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend Getreide aus Nordamerika und aus der Schwarzmeerregion auf den westeuropäischen Markt. Das Angebot überflügelte somit die Nachfrage, und es setzte daher ein langfristiger Trend fallender Preise für Nahrungsmittel ein, wie rechts in Abbildung 2 ersichtlich ist. Abbildung 3 zeigt beispielhaft für die Entwicklung der realen Weizenpreise in den USA, dass dieser Trend bis Anfang des 21. Jahrhunderts anhielt, trotz kurzfristiger Fluktuationen aufgrund der beiden Weltkriege, der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Ölpreiskrise 1973–74. Angesichts der fallenden Preise für Agrarerzeugnisse, aber auch andere Rohstoffe, formulierten Raúl Prebisch und Hans Singer unabhängig voneinander im Jahre 1950 die heute als ‚PrebischSinger-These‘ bekannte These einer säkularen Veränderung der sektoralen Austauschverhältnisse zuungunsten von sog. Primärgütern wie Agrargütern und zugunsten von Industrieprodukten (sog. Sekundärgütern) und Dienstleistungen (Produkte des sog. tertiären Sektors). Diese These wurde von vielen Wissenschaftlern in den kommenden Jahrzehnten empirisch geprüft 8 und lieferte eine ökonomische Begründung sowohl für Importsubstitutionspolitiken in vielen Entwicklungsländern als auch für großzügige Agrarprotektionsmaßnahmen in vielen Industrieländern. Für die Landwirtschaft speziell formulierte Willard Cochrane 9 seine bekannte These der sog. landwirtschaftlichen Tretmühle, die beschreibt, wie Landwirte angesichts sinkender Preise versuchen, ihre Einkommen über den verstärkten Einsatz des technischen 8
Siehe z. B. David Harvey, Neil Kellard, Jakob Madsen, Mark Wohar, The Prebisch-Singer Hypothesis: Four Centuries of Evidence, Review of Economics and Statistics, Bd. 92, 2010, 367–377. 9 Willard Cochrane, Farm Prices: Myth and Reality, Minneapolis, 1958.
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Nahrung und Ökonomie
Abbildung 3: Die Entwicklung der realen Weizenpreise in den USA seit 1866 (Index – 1866 = 100) 120
Preisindex (1866 = 100)
100
80
60
40
20
0 1866
1886
1906
1926
1946
1966
1986
2006
Quelle: Eigene Berechnungen mit Weizenpreisen vom USDA ((U.S. Department of Agriculture, National Agricultural Statistics Service), Crop Production Historical Track Records – April, Washington D.C., 2014) und Konsumpreisindex von Lawrence Officer und Samuel Williamson (The Annual Consumer Price Index for the United States, 1774–2010, 2015) für die Jahre 1866 bis 1912 und USDL ((U.S. Department of Labor, Bureau of Labor Statistics), CPI Detailed Report – Data for November 2014, Washington D.C., 2014) für die Jahre 1913– 2013.
Fortschritts zu erhöhen, was aber wiederum zu einem Mehrangebot und weiter sinkende Preise führt usw. Rechts unten in Abbildung 3 ist eine Preissteigerung zu erkennen: Im Zuge der sog. ‚Agrarpreiskrise‘ haben sich die internationalen Preise für Weizen aber auch für andere Grundnahrungsmittel ab 2007 im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 1990–2006 mehr als verdoppelt. 10 Über die Gründe für diese Erhöhung der 10
Für eine detaillierte Betrachtung der Entwicklung der Preise für verschiedene
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Preise für Agrargüter haben sich viele Experten geäußert. 11 Auf der Angebotsseite wird vermutet, dass die Rate des technischen Fortschritts (z. B. die jährlichen Ertragssteigerungen bei den wichtigsten Getreidearten und Ölsaaten) sich allmählich verlangsamt. Es wird auch darauf hingewiesen, dass es heute weltweit kaum neue Agrarflächen gibt, die erschlossen werden könnten – im Gegenteil, durch Urbanisierung und Erosion gehen ertragreiche Flächen zunehmend verloren. Und schließlich werden auch der Klimawandel und zunehmende Wasserknappheit an vielen wichtigen Produktionsstandorten (z. B. im Westen und Südwesten der USA, aber auch in Australien und Teilen Afrikas) als zunehmend angebotshemmende Faktoren genannt. Auf der Nachfrageseite wird insbesondere auf Einkommenszuwächse in bevölkerungsreichen Ländern wie China, Indien und Indonesien hingewiesen, die die Nachfrage nach Lebensmitteln insgesamt in diesen Ländern, aber insbesondere die Nachfrage nach Veredelungsprodukten wie Milch und Fleisch erhöhen. Da es im Durchschnitt mehrerer Kilogramm Getreide oder anderer Futtermittel bedarf, um einen Liter Milch oder ein Kilogramm Fleisch zu erzeugen, führt diese Umstellung der Ernährungsgewohnheiten in vielen Entwicklungsländern im Zuge steigender Einkommen zu einer überproportionalen Erhöhung der weltweiten Nachfrage nach Agrarprodukten insgesamt. Zu den nachfragesteigernden Faktoren wird auch die subventionierte Erzeugung von Biokraftstoffen wie Biogas (Methan), Bioethanol und Biodiesel insbesondere in der EU und den USA gerechnet. Schließlich wird behauptet, dass die Zunahme der Finanzspekulation in den Agrarerzeugnisse seit 1990 bis heute, siehe den sog. ‚Food Price Index‘ der FAO: http://www.fao.org/worldfoodsituation/foodpricesindex/en/. 11 Bernhard Brümmer, Ulrich Koester, Jens-Peter Loy, Weltgetreidemarkt: Anhaltender Boom oder kurzfristige Spekulationsblase?, Wirtschaftsdienst, Bd. 10, 2008, 654–662; Ronald Trostle, Global Agricultural Supply and Demand: Factors Contributing to the Recent Increase in Food Commodity Prices, Washington D.C., 2008; Ronald Trostle, Daniel Marti, Stacey Rosen, Paul Westcott, Why have Food Commodity Prices Risen Again?, Washington D.C., 2011.
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Nahrung und Ökonomie
letzten Jahren das Niveau der Agrarpreise ansteigen lassen habe, wenn auch viele Ökonomen der Meinung sind, dass es an stichhaltigen empirischen Beweisen für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Spekulation und dem Agrarpreisniveau mangelt. 12 Auch wenn es noch Meinungsverschiedenheiten über die quantitative Bedeutung einiger der oben genannten Bestimmungsgründe steigender Agrarpreise gibt, sind viele Beobachter dennoch insgesamt davon überzeugt, dass die Ära der landwirtschaftlichen Tretmühle bzw. der Prebisch-Singer-These nach ca. 150 Jahren zu Ende gegangen ist, und dass die Welt etwa seit der Jahrtausendwende in ein neues Malthusianisches Zeitalter eingetreten ist. So zum Beispiel von Witzke, der behauptet: „Der Trend der realen Agrarpreise hat sich umgekehrt. Die Jahrtausendwende markiert auch die Trendwende auf den Weltagrarmärkten“ (Harald von Witzke, Teure Lebensmittel: Strohfeuer oder neuer Megatrend auf den Weltagrarmärkten? Zukünftige Entwicklung von Nachfrage und Produktion, Berlin, 2008, 9). Sicherlich spricht vieles für diese Einschätzung, und die Aussicht auf eine säkulare Veränderung der Austauschverhältnisse zugunsten der Landwirtschaft hat in den letzten Jahren dementsprechend das Interesse an Investitionen in die Landwirtschaft (Stichwort ‚land grabbing‘ 13) deutlich erhöht. Die Mittelfristprognosen einschlägiger Institutionen wie der OECD und der FAO 14 gehen überwiegend von Preisen für Agrarerzeugnisse aus, 12
Matthias Will, Sören Prehn, Ingo Pies, Thomas Glauben, Schadet oder nützt die Finanzspekulation mit Agrarrohstoffen? – Ein Literaturüberblick zum aktuellen Stand der empirischen Forschung, Halle-Wittenberg, 2012; Scott Irwin, Dwight Sanders, Financialization and Structural Change in Commodity Futures Markets, 2012, 371–396. 13 Zum Thema grenzüberschreitender Investitionen in landwirtschaftlichen Flächen siehe den Land Matrix-Datensatz unter http://www.landmatrix.org/en/. 14 OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) und FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations), OECD-FAO Agricultural Outlook 2014–2023, Paris, 2014.
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die zwar etwas unterhalb des Niveaus der letzten 2–3 Jahre liegen, aber dennoch wesentlich höher als vor 2007 und in der Tendenz steigend. Etwas Vorsicht ist allerdings, wie bei allen Prognosen, angebracht. Die letzte große ‚Agrarpreiskrise‘, die sich 1973–74 im Zusammenhang mit der Ölkrise ereignete, wurde zunächst auch von vielen Beobachtern als Trendwende gedeutet. Sie entpuppte sich indes als vorübergehend und ihr folgten weitere drei Jahrzehnte fallender Agrarpreise (Abbildung 3). In solchen Phasen rapide steigender Agrarpreise wurde, wie vor über 200 Jahren von Malthus selbst, die Angebotsreaktion der Landwirtschaft auf verstärkte Preisanreize immer wieder unterschätzt. Die hohen Agrarpreise der letzten Jahre haben sowohl die Investitionen in der Landwirtschaft als auch die Agrarforschung erheblich angeregt, was die Rate des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft auch erhöhen wird. Des Weiteren liegen die Erträge in vielen Regionen der Welt noch weit unterhalb des Erreichbaren; auch ohne Intensivierung könnten durch bessere Organisation und besseres Management der Erzeugung sowie durch effizientere Lagerung, Verarbeitung und Vermarktung von Lebensmitteln erhebliche Produktionsreserven mobilisiert werden. Die hohen Preise für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel seit 2007 haben wachgerüttelt und die empfindliche Balance zwischen Angebot und Nachfrage auf den Weltagrarmärkten in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses gerückt. Ob sie auch eine langfristige Trendwende markieren, werden wir erst in einigen Jahrzehnten rückblickend mit Sicherheit feststellen können.
4. Die Folgen steigender Agrarpreise für die Ernährungssicherheit Unabhängig davon, ob sie dauerhaft oder nur temporär gestiegen sind, hatten die hohen Agrarpreise der letzten Jahre wichtige Folgen für den Hunger in der Welt. Allerdings waren und sind diese Folgen komplexer als von vielen Beobachtern dargestellt. Johan 52 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Swinnen 15 hat die Aussagen führender Nichtregierungsorganisationen und internationaler Institutionen zur Bedeutung der Nahrungsmittelpreise für Armut und Hunger vor und nach der Agrarpreiskrise 2007/08 verglichen und dabei erstaunliche Widersprüche festgestellt. So schrieb beispielsweise Oxfam im Jahr 2005: „US and Europe[’s s]urplus production is sold on world markets at artificially low prices, making it impossible for farmers in developing countries to compete. As a consequence, over 900 millions of farmers are losing their livelihoods“. 16
Nur drei Jahre später, als die Agrarpreise 2008 weltweit einen Hochpunkt erreichten, war Oxfam allerdings der Meinung, dass nicht zu niedrige, sondern zu hohe Agrarpreise den Hunger weltweit forcieren: „Higher food prices have pushed millions of people in developing countries further into hunger and poverty. There are now 967 million malnourished people in the world …“. 17
Auch die FAO behauptete 2005, dass niedrigere Agrarpreise Hunger verursachen: „The long-term downward trend in agricultural commodity prices threatens the food security of hundreds of millions of people in some of the world’s poorest developing countries“. 18
Die gleiche Organisation stellte allerdings davon unbenommen 2008 fest: „The number of hungry people increased by about 50 in 2007 as a result of high food prices“. 19
15 16 17 18 19
Johan Swinnen, The Right Price of Food, Leuven, 2010. Ebd., 7. Ebd., 7. Ebd., 9. Ebd., 9.
53 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Swinnen 20 zeigt, dass nicht nur Oxfam und die FAO widersprüchliche Aussagen über den Zusammenhang zwischen dem Agrarpreisniveau und dem Hunger getroffen haben. Auch andere Nichtregierungsorganisationen wie Brot für die Welt sowie angesehene internationale Institutionen wie die Weltbank, der IWF und das International Food Policy Research Institute (IFPRI) haben zu niedrige Agrarpreise vor 2007/08 und zu hohe Agrarpreise danach als Ursachen des Hungers angeführt. Laut Swinnen 21 beruht diese Inkonsistenz auf verschiedenen Faktoren, darunter auch, dass Nichtregierungsorganisationen und Institutionen wie die FAO im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Spenden bzw. Budgetzuweisungen stehen und die Medien vorzugsweise vereinfachte, negative Botschaften verbreiten. Somit entsteht die Tendenz, die negativen Folgen jeder Entwicklung der Agrarpreise zu betonen und diese in Pressemitteilungen und Interviews zugespitzt zu verbreiten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Folgen von Agrarpreisänderungen für Armut und Hunger in der Welt komplex und vielschichtig sind. Zunächst gilt die einfache Regel: Landwirte profitieren von hohen Agrarpreisen und Konsumenten von niedrigen Agrarpreisen. In den Industrieländern lassen sich die meisten Bürger eindeutig der einen oder der anderen Gruppe zuordnen – die meisten Konsumenten produzieren keine nennenswerten Mengen an Lebensmitteln und die meisten Landwirte konsumieren gemessen an ihrer Erzeugung nur sehr geringfügige Mengen. 22 In Entwicklungsländern ist die Zuordnung allerdings häufig weniger eindeutig. Die städtische Bevölkerung besteht natürlich überwiegend aus Haushalten, die Lebensmittel zukaufen müssen
20
The Right Price of Food. Ebd., 16. 22 In Deutschland produziert ein Landwirt heute im Durchschnitt ausreichend Nahrung für etwa 130 Menschen (DBV (Deutscher Bauernverband), Situationsbericht 2013/14, Berlin, 2013) und braucht daher statistisch gesehen lediglich ca. 0,8 % seiner Erzeugung für den eigenen Verbrauch. 21
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Nahrung und Ökonomie
und die sehr empfindlich auf Agrarpreissteigerungen reagieren, wie die Unruhen des sogenannten Arabischen Frühlings deutlich vor Augen geführt haben. 23 Aber sehr viele Haushalte im ländlichen Raum sind sowohl Produzenten als auch Konsumenten von Agrarprodukten und nicht wenige Kleinbauern kaufen mehr Lebensmittel ein als sie verkaufen. Haushalte, die kleine Lebensmittelüberschüsse produzieren und von höheren Agrarpreisen profitieren, existieren somit neben Haushalten mit Lebensmitteldefiziten, die niedrigere Agrarpreise bevorzugen. Hinzu kommt, dass Haushaltsmitglieder nicht selten als Lohnarbeiter auf benachbarten Agrarbetrieben tätig sind und daher indirekt über höhere Löhne von Agrarpreissteigerungen profitieren können. Ob und in welchem Umfang ein kleinbäuerlicher Haushalt in einem Entwicklungsland von höheren Agrarpreisen profitiert, hängt schließlich auch davon ab, ob er Zugang zu funktionierenden Märkten für Inputs wie Kredite und Saatgut hat und somit in der Lage ist, auf höhere Preise für seine Erzeugnisse mit einer Ausdehnung seiner Produktion zu reagieren. Eine gegebene Agrarpreissteigerung wird somit je nach Lage, Ressourcenausstattung und Zusammensetzung eines Haushalts unterschiedliche Auswirkungen auf seine Wohlfahrt und Ernährungssicherheit haben. Die oben zitierten widersprüchlichen Aussagen Oxfams bzw. der FAO sind insofern alle zutreffend, da niedrige Agrarpreise für bestimmte Haushalte eine Belastung darstellen und hohe Agrarpreise wiederum für andere Haushalte. Die Ausführungen verschweigen allerdings, dass es in beiden Situationen auch Haushalte gibt, die vom jeweiligen Agrarpreisniveau profitieren. Maros Ivanic und Will Martin 24 haben anhand von detaillier23
Marc Bellemare (Rising Food Prices, Food Price Volatility, and Social Unrest, 2014) untersucht den empirischen Zusammenhang zwischen Agrarpreissteigerungen, Agrarpreisvolatilität und sozialen Unruhen weltweit zwischen 1990 und 2011. 24 Short- and Long-Run Impacts of Food Price Changes on Poverty, Washington D.C., 2014.
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ten Haushaltserhebungen, die Informationen über Einkünfte, Ausgaben und Konsum enthalten, die Auswirkungen einer zehnprozentigen Agrarpreiserhöhung auf den Anteil der Armen in 31 Entwicklungsländern simuliert. Sie unterscheiden dabei zwischen i) kurzfristigen Auswirkungen der Agrarpreissteigerung auf die Erlöse und Ausgaben für Lebensmittel; ii) mittelfristigen Auswirkungen, die darüber hinaus auch erhöhte Lohneinkünfte infolge gestiegener Agrarpreise berücksichtigen; und iii) langfristigen Auswirkungen, die schließlich auch durch höhere Preise ausgelöste Ausweitungen der Agrarerzeugung der Haushalte mit einbeziehen. Obwohl Ivanic und Martin 25 nicht explizit die Auswirkungen von Agrarpreissteigerungen auf den Hunger untersuchen, kann von einer hohen Korrelation zwischen Armut und Hunger in den betrachteten Ländern ausgegangen werden. Die Ergebnisse ihrer Berechnungen bestätigen, dass Agrarpreiserhöhungen je nach Land und Fristigkeit der Betrachtung unterschiedliche Auswirkungen auf die Armut haben. In vielen Entwicklungsländern und weltweit insgesamt führt eine zehnprozentige Agrarpreissteigerung kurzfristig zu einer Erhöhung des Anteils der Armen, aber mittel- und langfristig zu einer Reduktion (Tabelle 1). Selbst kurzfristig gibt es einige Länder wie China und Vietnam, in denen die armutsmindernden Effekte einer Agrarpreissteigerung insgesamt überwiegen. Weltweit betrachtet führen höhere Agrarpreise kurzfristig insbesondere in urbanen Regionen zu mehr Armut, aber auch in diesen Regionen fällt die Armut mittel- und langfristig. Hinter den länderspezifischen Simulationsergebnissen in Tabelle 1 verbergen sich sehr unterschiedliche Auswirkungen auf einzelne Regionen und Haushalte: Agrarpreiserhöhungen um 10 Prozent reduzieren kurzfristig den Anteil der Armen beispielsweise in Vietnam um 0,4 % insgesamt (Tabelle 1), aber es gibt zweifelsohne Haushalte in Vietnam, zum Beispiel in den Städten, die aufgrund der Agrarpreiserhöhung unter die Armutsgrenze fallen. 25
Wie Fußnote 25.
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Nahrung und Ökonomie
Tabelle 1: Die Folgen einer zehnprozentigen Agrarpreiserhöhung auf den Anteil der Armen in ausgewählten Entwicklungsländern (Simulationsergebnisse) Land
Betrachtungshorizont Kurzfristig
China
Mittelfristig
Langfristig
–1.3
–2.1
–2.2
Elfenbeinküste
1.1
–0.8
–0.3
Indien
2.6
–1.2
–1.4
Nigeria
1.0
0.9
0.8
Pakistan
2.7
–1.5
–1.3
Tansania
1.9
0.3
–1.2
Vietnam
–0.4
–2.2
–1.9
Welt insgesamt
0.8
–1.2
–1.4
Welt urban
1.5
–0.4
–0.4
Welt rural
0.5
–1.6
–1.8
Quelle: Ivanic und Martin, Impacts of Food Price Changes on Poverty.
5. Staatliche Eingriffe und Ernährungssicherheit Insgesamt zeigen die Simulationsergebnisse in Tabelle 1, dass Agrarpreissteigerungen mittel- und langfristig zu einem Abbau der weltweiten Armut führen, mit anderen Worten, dass die positiven Effekte erhöhter Agrarpreise auf das Einkommen der Haushalte in den Entwicklungsländern aggregiert stärker sind als die negativen Effekte auf die Höhe ihrer Ausgaben für Lebensmittel. Allerdings darf gerade in diesem Zusammenhang an das bekannte Sprichwort des Ökonomen John Maynard Keynes – „Auf lange Sicht sind wir alle tot“ – erinnert werden. Ob und wann die lange Frist eintritt, hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von dem oben erwähnten Zugang zu Märkten für ertragssteigern57 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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de Inputs wie Kredite und Saatgut. Kurzfristig überwiegen in den meisten Ländern die negativen Effekte von Agrarpreissteigerungen und hieraus entsteht Druck auf die Regierungen dieser Länder, politische Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Als Reaktion auf die Agrarpreiskrise 2007/08 haben die Agrarpolitiker in vielen Ländern versucht, ihre Inlandspreise für Grundnahrungsmittel wie Getreide von den internationalen Preisen abzukoppeln. Länder, die Getreide exportieren (wie zum Beispiel Indien für Reis und die Ukraine für Weizen), haben Exportrestriktionen wie Quoten oder gar Exportverbote verhängt. Dadurch wurden die Exporte reduziert, das Inlandsangebot ausgedehnt, und die Inlandspreise auf einem Niveau unterhalb der internationalen Preise gehalten. Dagegen haben andere Länder, die auf Importe von Getreide angewiesen sind (wie zum Beispiel die Philippinen für Reis), ihre Importzölle reduziert, um das Importangebot im Inland zu erhöhen und zu verbilligen. Derek Headey 26 präsentiert einen detaillierten Überblick über die ergriffenen handelspolitischen Maßnahmen in wichtigen Import- und Exportländern für Reis, Weizen, Mais und Sojabohnen. Solche Versuche, anhand von handelspolitischen Eingriffen die eigene Bevölkerung vor den Folgen rapide steigender Lebensmittelpreise zu schützen, sind aus nationaler Sicht sicherlich verständlich. Dennoch sind sie global betrachtet aus zwei Gründen problematisch. Zum einen können nicht alle Regierungen gleichermaßen auf diese Maßnahmen zurückgreifen. Für ein Exportland mag es relativ einfach sein, in einer Hochpreisphase die eigenen Exporte zu beschränken. Dies kann mittels einer Exportsteuer oder des Verkaufs von limitierten Exportquoten umgesetzt werden. Beides sind Maßnahmen, die nicht nur die Inlandspreise senken, sondern auch Einnahmen für den Staatshaushalt generieren. Wenn aber ein Importland seine Importzölle senkt, um die Inlandspreise zu senken, verzichtet es auf Staatseinnahmen. Fer26
Derek Headey, Rethinking the Global Food Crisis – the Role of Trade Shocks, Washington D.C., 2010.
58 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Nahrung und Ökonomie
ner können Importzölle nur bis auf ein Niveau von Null reduziert werden, womit die Inlandspreise auf das internationale Niveau fallen. Möchte ein Importland seine Inlandspreise unter das internationale Niveau drücken, muss es Importsubventionen zahlen, die den Staatshaushalt erheblich belasten können. Handelspolitische Maßnahmen stellen daher insbesondere für Lebensmittelexportländer und reichere Importländer eine praktikable Möglichkeit zur Bekämpfung von hohen Agrarpreisen dar; für arme Länder, die von Lebensmittelimporten abhängig sind, sind sie dagegen nur begrenzt wirksam. Die unterschiedliche Anwendbarkeit von handelspolitischen Maßnahmen zur Stabilisierung der Inlandspreise für Lebensmittel wird in Abbildung 4 für das Beispiel Reis und die Länder Burkina Faso, China und die Philippinen exemplarisch dargestellt. Als die internationalen Preise für Reis sich 2008 fast verdreifachten, konnte es sich das vergleichsweise wohlhabende China leisten, die Inlandspreise durch Einsatz von Subventionen vollständig vom Weltmarktniveau abzukoppeln. Der Regierung der Philippinen gelang es, die Preissteigerungen auf dem Inlandsmarkt im Vergleich zum internationalen Markt zumindest in einem gewissen Rahmen zu halten. Die hierfür eingesetzten Maßnahmen (eine Absenkung der philippinischen Importzölle und „Panikkäufe“ von Importreis 27, der verbilligt auf dem Inlandsmarkt abgesetzt wurde) haben allerdings zu einer erheblichen Belastung der Staatskasse geführt. In dem sehr armen Burkina Faso waren die handelspolitischen Spielräume der Regierung sehr eingeschränkt, und es fand so gut wie keine Stabilisierung der Inlandspreise für Reis statt. 28 27
Ebd., 13. Die Reispreise in Burkina Faso liegen grundsätzlich etwas höher als die internationalen Preise (Abbildung 4), da Burkina Faso vergleichsweise weit entfernt von den Hauptexportländern in Südostasien (zum Beispiel Indien, Thailand und Vietnam) liegt, und zudem auch keinen direkten Zugang zu internationalen Gewässern hat. Beim Import von Reis fallen daher in Burkina Faso besonders hohe Transport- und Vermarktungskosten an.
28
59 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Das zweite Problem des nationalen Einsatzes von handelspolitischen Maßnahmen zur Stabilisierung von Lebensmittelpreisen ist ein Koordinierungsproblem. Jedes Land, das in einer Hochpreisphase seinen Inlandsmarkt abkoppelt und somit seine Bürger vor hohen Preisen schützt, reduziert dabei seinen eigenen Beitrag zur globalen Bewältigung der hohen Preise. Wenn Knappheit zu steigenden Preisen führt, fällt unter normalen Bedingungen die nachgefragte Menge und es steigt die angebotene Menge. Beide Anpassungen tragen dazu bei, dass die Preissteigerung gebremst wird, denn sie wirken der ursprünglichen Knappheit entgegen. Wenn ein Land wie China, wie in Abbildung 4 zu sehen, seine Bürger vor einer Preissteigerung schützt, bleiben die normalen Anpassungen dort aus – die Nachfrage und das Angebot im Inland bleiben trotz globaler Knappheit unverändert. Da die chinesische Bevölkerung unter diesen Umständen keinen Beitrag zur Bewältigung der hohen Preise leistet, müssen die internationalen Preise noch stärker steigen, um entsprechend stärkere Anpassungen in den anderen Ländern auszulösen. Je mehr Länder sich teilweise oder vollständig abkoppeln, desto kleiner die Anzahl der verbleibenden Länder, die die Last der Anpassung übernehmen müssen. Zu diesen verbleibenden Ländern gehören insbesondere arme importabhängige Länder wie Burkina Faso, die sich keine Abkoppelungsmaßnahmen leisten können. Will Martin und Kym Anderson 29 schätzen, dass ca. 45 Prozent der Steigerung der internationalen Reispreise 2007/08 auf diesen Effekt zurückzuführen sind. Mit anderen Worten, wenn kein Land sich durch handelspolitische Maßnahmen abgekoppelt hätte, wäre die internationale Reispreissteigerung 2007/08 nur etwas mehr als halb so hoch ausgefallen. 30 Entsprechend niedriger 29
Will Martin, Kym Anderson, Export Restrictions and Price Insulation during Commodity Price Booms, Washington D.C., 2011. 30 Für Weizen schätzen Martin und Anderson (Commodity Price Booms) den Beitrag der Abkoppelungsmaßnahmen zur internationalen Preissteigerung auf etwa 30 %. In Vorträgen vergleicht Martin diese Situation mit der Situation bei einem Sportereignis im Stadion: Wenn einige Zuschauer sich von ihren Sitzen
60 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Nahrung und Ökonomie
Abbildung 4: Die Entwicklung der internationalen Reispreise und Inlandspreise für Reis in Burkina Faso, China und den Philippinen (US-Dollar/t) 1250
Preis (US$/t)
1000
750
500
250
0 Jan 06 Jul 06 Jan 07 Jul 07 Jan 08 Jul 08 Jan 09 Jul 09 Jan 10 Jul 10 Jan 11 Jul 11 Jan 12 Jul 12 Interna�onal (Thailand 5% broken) Philippinen (Großhandel Manila)
China (Großhandel Hubei) Burkina Faso (Großhandel Ouagadougou)
Quelle: Eigene Berechnungen mit FAO ((Food and Agriculture Organization of the United Nations), Rome, 2014b).
wäre damit die Preissteigerung in Burkina Faso ausgefallen. So gesehen haben Länder wie China, sicherlich unbeabsichtigt, aber dennoch faktisch spürbar, während der Agrarpreiskrise 2007/08 Hunger in Länder wie Burkina Faso ‚exportiert‘. Das Menschenrecht auf Nahrung ist seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 eines der international anerkannten Menschenrechte. Das hier dargestellte Beispiel zeigt allerdings, dass unkoordinierte Versuche, dieses Menschenrecht auf nationaler
erheben, um ihre Sicht zu verbessern, werden andere und bald alle Zuschauer gezwungen, sich auch zu erheben. Wenn schließlich alle stehen, hat niemanden eine bessere Sicht als vorher, und insbesondere kleinere Zuschauer haben womöglich eine schlechtere.
61 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Ebene zu verwirklichen, Verletzungen in anderen Ländern verursachen bzw. verschärfen können.
6. Schlussfolgerungen In diesem Beitrag wurden ausgewählte Aspekte der Ernährungssicherheit und der Bekämpfung des weltweiten Hungers aus ökonomischer Perspektive dargestellt. Heute gelingt es, ca. 1,9 Milliarden Menschen mehr zu ernähren als 1990. Die Zahl der weltweit Hungernden ist mit ca. 800 Millionen dennoch weiterhin erschreckend hoch. Nachdem die Preise für Agrarerzeugnisse und Lebensmittel seit Mitte des 19. Jahrhunderts einem fallenden Trend unterlagen, durchlebt die Welt seit 2007 eine Hochpreisphase, die von einigen Beobachtern als der Beginn eines neuen Trends steigender Preise für Grundnahrungsmittel gedeutet wird. Steigende Agrarpreise können die Anzahl der Armen und Hungernden kurzfristig erhöhen, mittel- und langfristig erhöhen sie aber auch die Anreize für Investitionen und Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft. Hiervon können gerade Kleinbauern und andere rurale Haushalte in Entwicklungsländern profitieren und somit viele Menschen, die besonders von Armut und Ernährungsunsicherheit bedroht sind. Die neuesten Agrarpreissteigerungen haben viele nationale Regierungen dazu veranlasst, handelspolitische Maßnahmen wie Exportrestriktionen und Zollsenkungen zu ergreifen, um ihre Inlandspreise für Lebensmittel niedrig zu halten. Unkoordiniert können diese Maßnahmen allerdings zu einem ‚Export von Hunger‘ insbesondere in arme Länder führen, die von Lebensmittelimporten abhängig sind.
62 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Nahrung und Ökonomie
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Nahrung und Ökonomie
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65 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen Gleichgewicht und Selbstreferenz Thomas Breuer
Zusammenfassung Verstärkt der Handel mit Agrar-Derivaten die Preisschwankungen von Agrar-Produkten? In der politischen Diskussion wird diese These oft als Grund für eine strenge Reglementierung des Handels mit Agrar-Derivaten angeführt. Hier diskutiere ich die Voraussetzungen, auf denen verschiedene Argumente für diese These beruhen. Eine zentrale Rolle dabei spielen die Begriffe von Gleichgewicht und Selbstreferenz. Diese Begriffe spielen in der Logik und der Physik eine wichtige Rolle, haben aber in der Ökonomie erstaunliche Konsequenzen.
1. Fakten und Meinungen zur Agrarpreiskrise 1.1 Die Agrarpreiskrise In der Agrarpreis-Krise 2007–2009 verdoppelten sich die Weizenpreise und auch die durchschnittliche Größe der Preisschwankungen (Volatilität) nahm stark zu, s. Abbildung 1. Ähnlich verhielten sich die Preise für andere Agrarprodukte wie Mais und Reis. Die gestiegenen Preise brachten die Konsumenten jener Länder, die auf Lebensmittelimporte angewiesen waren und nur über knappe Finanzressourcen verfügten, in Schwierigkeiten. (Umgekehrt könnten die gestiegenen Preise für die Produzenten in jenen Ländern vorteilhaft sein. Diese Vorteile können aber nur jene Pro66 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen
Abbildung 1: Weizenpreise (durchgezogene Linie) und ihre Volatilität (punktierte Linie) im historischen Verlauf. (Quelle: Datenbank der FAO, www.fao.org. Schätzung der Volatilität aus wöchentlichen Daten über ein bewegliches Zeitfenster von einem Jahr.) In den Jahren 2007–2008 verdoppelten sich die Weizenpreise ungefähr, und auch die Volatilität der Weizenpreise stieg stark an.
duzenten nützen, die am Weltmarkt verkaufen, und die genügend Risiko tragen können, um die gestiegenen Preisschwankungen zu verkraften.) Insgesamt brachte die Agrarpreiskrise die Bevölkerung vieler ärmerer Länder in Schwierigkeiten. Laut einer Schätzung der Weltbank (2009) stieg die Zahl der Menschen in extremer Armut von 20 Millionen auf 150 Millionen. Mindestens 40 Millionen Menschen weltweit wurden in den Hunger getrieben durch die Agrarpreiskrise. Olivier de Schutter (2010), der UN-Beauftragte für das Recht auf Nahrung, diskutiert in einer Briefing Note den Zusammenhang zwischen der Agrarpreiskrise und Rohstoff-Spekulationen auf Agrarmärkten. Als Ursachen der Agrarpreiskrise benennt er 67 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Breuer
sowohl Faktoren, welche Angebot und Nachfrage beeinflussen, als auch die Aktivitäten großer Investoren auf Derivatmärkten für Rohstoffe. Verschiedene Faktoren reduzieren das Angebot an Lebensmitteln auf den Weltmärkten: Wassermangel, Klimawandel, ungünstiges Wetter. Andere Faktoren erhöhen die Nachfrage: die erhöhte Nachfrage nach Fleisch in China und Indien, und die deshalb erhöhte Nachfrage nach Futterweizen, die erhöhte Nachfrage nach Biosprit, die die Nachfrage nach Ölpflanzen antreibt. Diese Faktoren können die Steigerung der Lebensmittelpreise auf den Weltmärkten zumindest teilweise erklären, so Wright und Bobenrieth (2010). Aber diese Entwicklungen sind zumeist langfristig und erklären deshalb nicht die erhöhten kurzfristigen Schwankungen der Agrarpreise.
1.2 Agrar-Derivate Als mögliche Ursachen für die Steigerung der Volatilität nennt de Schutter (2010) die Expansion der Future-Märkte und der IndexFonds auf Rohstoffmärkten, insbesondere auf Agrar-Rohstoffmärkten. Im Gefolge der Finanzkrise 2007/2008 zogen sich Investoren aus Aktien- und Anleihenmärkten zurück und investierten in Rohstoffmärkte. Der etwas pejorativ anmutende Begriff Spekulation ist notorisch vage. Wo liegt die Grenze zwischen Investition und Spekulation? Üblicherweise wird Spekulation definiert als Kauf und nachfolgender Verkauf von Gütern mit dem ausschließlichen Ziel, an zwischenzeitlichen Preissteigerungen teilzuhaben. (Ebenso kann ein Gut, das jemand bereits besitzt, verkauft werden mit der Absicht, es nach einem vermuteten zwischenzeitlichen Preisverfall wieder zurückzukaufen. In diesem Fall profitiert der Akteur von einem Preisverfall.) Ausgeklammert ist bei dieser Definition die Frage, von wo der Akteur weiß, vermutet oder errät, dass die Preise steigen oder fallen werden. 68 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen
Diese Definition impliziert, dass es sich nicht um Spekulation handelt, wenn die Güter ohne Absicht des späteren teureren Verkaufs gekauft werden, oder wenn auch andere Absichten hinter Kauf und Verkauf stehen. Beispielsweise könnten Kauf und Verkauf ein Absicherungsgeschäft (Hedge) bilden, mit dem bestehende Risiken aus anderen Geschäften reduziert werden sollen. Ein Beispiel: Benötigt jemand in sechs Monaten eine große Menge Mais, ist er dem Risiko eines zwischenzeitlichen Preisanstiegs von Mais ausgesetzt. Nun ist bekannt, dass Preisschwankungen von Mais eng korrelieren mit Preisschwankungen von Weizen. Der Betroffene könnte also heute eine größere Menge Weizen kaufen mit dem Ziel, sie in sechs Monaten zu verkaufen. Eine allfällige Weizenpreissteigerung in der Zwischenzeit führt zu einem Gewinn, mit dem die Mehrkosten der dann wahrscheinlich auftretenden Maispreissteigerung gedeckt werden können. Sinkt der Weizenpreis hingegen, sinkt wahrscheinlich auch der Maispreis. In diesem Fall wird der Verlust aus dem Verkauf des Weizens ausgeglichen durch den günstigeren zukünftigen Einkaufspreis für Mais. In beiden Fällen gleichen sich Gewinne und Verluste aus dem Geschäft mit Weizen aus mit den Verlusten oder Gewinnen aus dem Kauf des Maises – zumindest solange sich Mais- und Weizenpreise in die gleiche Richtung bewegen. Ob der Käufer des Weizens Investor oder Spekulant ist, lässt sich erst vermuten, wenn seine anderen Geschäfte bekannt sind. Falls er lediglich ein bereits bestehendes Risiko von Maispreiserhöhungen absichert, fällt das nicht unter Spekulation. Weitere Finanzinstrumente, die als Treiber der Agrarpreiskrise verdächtigt werden, sind Futures auf Agrarprodukte. Dies sind Verträge über die Lieferung zu einem fixierten zukünftigen Zeitpunkt zu einem fixierten Preis. Diese Verträge können einerseits als Absicherung gegen zukünftige Preisschwankungen dienen, aber auch als Wette auf ebensolche Preisänderungen. Ohne Information über seine anderen Geschäfte lässt sich nicht sagen, welche Absicht einen Investor oder Spekulanten tatsächlich bewegt. Index-Fonds für Rohstoffmärkte sind ein bequemes Instru69 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Breuer
ment, um gut diversifiziert in die Änderungen von Rohstoffpreisen zu investieren. Rohstoffmarkt-Indizes, wie zum Beispiel der GSCI (Goldman Sachs Commodity Index) von Standard&Poors, sind errechnete Preise für gewichtete Körbe von Rohstoffen. Bei vielen dieser Indizes machen Agrarprodukte nur 10 %–20 % der Körbe aus. Index-Fonds für Rohstoffmärkte bilden die Zusammensetzung solcher Rohstoff-Körbe mit Futures nach. Wenn nun neue Investoren in solche Index-Fonds investieren, müssen die Fondsmanager entsprechende Körbe von Futures zukaufen und treiben damit die Preise dieser Rohstoff-Futures nach oben. Dies wiederum signalisiert den Käufern und Verkäufern der Rohstoffe, dass für die Zukunft Preissteigerungen zu erwarten sind. Deshalb werden Käufer geplante zukünftige Käufe vorziehen und Verkäufer sofort höhere Preise für diese Rohstoffe verlangen. So steigen im Gefolge des Einstiegs neuer Investoren in IndexFonds für Rohstoffmärkte auch die Preise der Rohstoffe selbst. Dies sind Argumente für eine Erhöhung der Rohstoffpreise im Gefolge des verstärkten Engagements neuer Investoren.
1.3 Wertbasierte und momentumbasierte Strategien Bis hierher hat die Frage noch keine Rolle gespielt, von wo ein Akteur die zukünftigen Preise kennt, vermutet oder errät. Berücksichtigt man nur allgemein zugängliche Information, und verarbeiten die Märkte die allgemein zugängliche Information effizient, dann sollte sich diese Information in den Marktpreisen widerspiegeln. Auch wenn man sich auf Strategien beschränkt, die zukünftige Preise ausschließlich auf Basis gegenwärtiger und vergangener Preise prognostizieren, also zeitreihenanalytische Verfahren, so bleibt immer noch eine Unzahl möglicher Prognosestrategien. Zwei mögliche Gruppen von Prognosestrategien sind die wertbasierten und die momentumbasierten Strategien. Wertbasierte Strategien gehen von der Hypothese aus, dass es einen mehr oder 70 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen
weniger unveränderlichen oder sich nur langsam ändernden fundamentalen Preis für jedes Gut gibt, der dem wahren „Wert“ entspricht. Wenn der aktuelle Preis unter diesem fundamentalen Preis liegt, dann wird über kurz oder lang der Preis steigen und sich so dem fundamentalen Preis wieder annähern. (Wenn der aktuelle Preis über dem Gleichgewichtspreis liegt, wird der Preis in Zukunft fallen.) Aber wo liegt nun der fundamentale Preis? Die Vermutung von wertbasierten Strategien ist, dass die Preise in der Vergangenheit Aufschluss geben über den fundamentalen Preis. Waren die Preise in der Vergangenheit meist höher als der gegenwärtige Preis, so liegt der fundamentale Preis vermutlich über dem gegenwärtigen Preis, und es wird für die Zukunft eine Preissteigerung prognostiziert. Die wertbasierten Strategien empfehlen also, ein Gut dann zu kaufen, wenn der Preis in der Vergangenheit meist höher war als gegenwärtig: Kauf, wenn die Preise niedrig sind. Momentumbasierte Strategien gehen von der Hypothese aus, dass die Preise weiter steigen werden, wenn sie in der Vergangenheit gestiegen sind. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass der Preis sich nicht an einem fundamentalen Wert des Gutes orientiert, sondern, gleichsam auf einer Meta-Ebene, von Marktteilnehmern gemacht wird, die sich stärker aneinander orientieren als an einem fundamentalen Wert. Dies führt zu einem Herdentrieb, der die Preise weiter steigen lässt, wenn sie in jüngster Vergangenheit gestiegen sind; oder sie weiter fallen lässt, wenn sie in jüngster Vergangenheit gefallen sind. Die momentumbasierten Strategien empfehlen also, ein Gut dann zu kaufen, wenn der Preis in der jüngsten Vergangenheit niedriger war als er gegenwärtig ist: Kauf, wenn die Preise im Steigen sind, denn sie werden weiter steigen. Verfolgten die meisten Akteure kompromisslos momentumbasierte Strategien, würden steigende Preise immer weiter steigen und fallende Preise immer weiter fallen. Ist das möglich? Die Meinungen darüber gehen auseinander. Wachstum ohne Grenzen scheint in endlichen Systemen nicht plausibel. Aber dass Inflation 71 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Breuer
der Regelfall ist und Deflation nur eine äußerst seltene Ausnahme, ist unumstritten. In diesem Sinn steigen die Preise vieler Güter meist an. Allerdings bewegen sich auf Finanzmärkten die meisten Preise sowohl nach oben als auch nach unten. (Und in dem Spezialfall, dass die Güter Fremdwährungen sind, ist der Preisanstieg des einen Guts gleichzeitig der Preisverfall des anderen.) Diese Grundsatzfragen interessieren die meisten Agenten mit momentumbasierten Strategien weniger. Sie sind zufrieden, wenn sie rechtzeitig den Ausstieg aus Phasen steigender oder fallender Preise finden.
1.4. Agrar-Derivatmärkte und Preisschwankungen Verstärkt der Einstieg neuer Investoren oder Spekulanten die Schwankungen der Agrarpreise? Falls die Neueinsteiger eine wertbasierte Strategie anwenden, ist die Antwort vermutlich negativ. Solche Händler versuchen gerade dann zu kaufen, wenn die Preise niedriger sind als zumeist. Wenn ihnen das gelingt, steigern sie unterdurchschnittliche Preise. Und sie verkaufen, wenn die Preise höher sind als zumeist; damit senken sie überdurchschnittliche Preise. Auf jeden Fall dämpfen sie die Preisschwankungen ab, wenn ihre Strategie erfolgreich ist. Wenn die Neueinsteiger allerdings eine momentumbasierte Strategie anwenden, verstärken sie die Schwankungen. Sie kaufen, wenn die Preise im Steigen begriffen sind und leisten damit einen Beitrag zu einer weiteren Preissteigerung. Wenn die Preise im Fallen begriffen sind, verkaufen die Händler mit momentumbasierten Strategien und verstärken somit den Preisverfall. Auf jeden Fall verstärken momentumbasierte Händler die Preisschwankungen, wenn ihre Strategie erfolgreich ist. Ist das Verdienst oder Schuld des einzelnen Händlers? Märkte werden kompetitiv genannt, wenn kein Marktteilnehmer einen wahrnehmbaren Einfluss auf die Preise hat. Dies wird dann der 72 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen
Fall sein, wenn auf einem Markt sehr viele Händler aktiv sind, von denen keiner wesentliche Marktmacht hat. In kompetitiven Märkten kann ein einzelner die Preise nicht beeinflussen. In solchen Märkten ist es nicht die Schuld einzelner Händler mit momentumbasierten Strategien, wenn die Gesamtheit der momentumbasierten Händler die Preisschwankungen verstärkt. Und es ist nicht das Verdienst einzelner Händler mit wertbasierten Strategien, wenn die Gesamtheit der wertbasierten Händler die Preisschwankungen abschwächt. Haben einzelne Händler eine marktbestimmende Stellung, entweder weil sie sehr große Mengen umsetzen, oder weil die Märkte illiquid sind, dann ist die Situation anders. Ein Händler mit marktbestimmender Stellung, der eine momentumbasierte Strategie verfolgt, verstärkt die Preisschwankungen. Ein Händler in marktbestimmender Stellung mit preisbasierter Strategie dämpft Preisschwankungen. Im folgenden Abschnitt werde ich diese ersten Diagnosen mit analytischen Modellen aus der Finanzmarktliteratur prüfen.
1.5 Politische Antworten auf die Agrarpreiskrise Politische Antworten auf die Agrarpreiskrise hängen eng zusammen mit politischen Antworten auf die Finanzkrise. Im US Dodd-Franck Act und im Commodity Exchange Act wird die Menge an Agrarprodukten und Agrarderivaten beschränkt, die einzelne Händler halten dürfen. Die EU schränkt die Verwendung von Over-the-counter (OTC) Derivaten ein, mit denen Händler direkt, also ohne Wissen der Aufsicht, Finanzkontrakte abschließen. Allerdings bleibt laut de Schutter (2010) noch Raum für Verbesserung der gesetzlichen Rahmenbedingungen: Der Handel mit Agrar-Derivaten sollte anders und von anderen beaufsichtigt werden als der Handel mit Finanz-Derivaten. Außerdem sollte dieser Handel beschränkt werden auf Akteure, die tatsächlich in Agrarmärkten tätig sind. Weiters sollte der Handel in Zu73 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Breuer
kunft wohlreguliert über Börsen laufen, anstatt direkt über Händler (OTC). Das Abhijit Sen Komitee (2008) fordert außerdem die Verbesserung der Marktinfrastruktur für Spot-Märkte, also für Märkte, auf denen direkt Agrarprodukte gehandelt werden. Beispielsweise würden verbesserte Lagerhaltungsfazilitäten und verbesserte Transportinfrastruktur die direkte Teilnahme von Produzenten an diesen Märkten verbessern und so die Bedeutung der Derivat-Märkte relativieren.
2. Ein finanzmathematisches Modell In diesem Abschnitt beschreibe ich ein finanzmathematisches Modell über die Wechselwirkung von Warenmärkten und Märkten für Derivate auf diese Waren. Das Modell stammt von Platen und Schweizer (1998). Andere interessante Modelle über die Wechselwirkung von Waren- und Derivatmärkten stammen von Stein (1989) und Frey und Stremme (1997). Das für unsere Zwecke bedeutsamste Ergebnis dieses Modells ist die Aussage, dass die vermehrte Aktivität von Händlern auf Derivatmärkten die Volatilität der zu Grunde liegenden Warenmärkte erhöht, wenn auf den Derivatmärkten Händler mit momentumbasierten Strategien tätig sind. Dies untermauert die Vermutungen aus dem ersten Abschnitt. In dem Modell werden als Derivatmärkte einfache Put- und Call-Optionen betrachtet. Eine Call-Option gibt dem Besitzer das Recht, aber verpflichtet ihn nicht, das zu Grunde liegende Gut zu einem spezifizierten Preis, dem Ausübungspreis, zu kaufen. Handelt es sich um eine Option von europäischem Typ, dann besteht dieses Recht zu einem einzigen fixierten Zeitpunkt in der Zukunft, bei Ablauf der Option. Ist der Preis des zu Grunde liegenden Gutes bei Ablauf der Option geringer als der Ausübungspreis, wird der Besitzer der Option diese verfallen lassen und das Gut lieber am Markt kaufen. Mit einer Call-Option kann man von Preisanstiegen über den 74 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen
Ausübungspreis hinaus profitieren, hat aber das Verlustrisiko auf den – im Vergleich zum Preis des Guts geringen – Kaufpreis der Option beschränkt. Das Risiko einer Call-Option laufen also in die gleiche Richtung wie das Risiko des zu Grunde liegenden Guts, ist aber in eine Richtung beschränkt. Eine Put-Option gibt dem Besitzer das Recht, aber verpflichtet ihn nicht, das zu Grunde liegende Gut zu einem spezifizierten Preis, dem Ausübungspreis, zu verkaufen. Die Risiken einer Put-Option laufen also in die entgegengesetzte Richtung wie das Risiko des zu Grunde liegenden Guts. Aus diesem Grund können Call- und Put-Optionen verwendet werden, um das Preisänderungsrisiko aus Liefer- oder Kaufverpflichtungen im zu Grunde liegenden Gut abzusichern. Umgekehrt kann man aber auch mit Positionen im zu Grunde liegenden Gut Preisänderungsrisiken von bestehenden OptionsPositionen absichern. Diese Art von Absicherungsgeschäften von Optionen-Besitzern wird im Modell von Platen und Schweizer betrachtet. Das Standardmodell zur Bewertung von einfachen Optionen stammt von Black und Scholes (1973). Das Modell beruht auf der Annahme, dass der Preis des zu Grunde liegenden Guts einer geometrischen Brown’schen Bewegung folgt. Bezeichnen wir diese Annahme über den Preisprozess als S(0). Die Formel von Black und Scholes gibt den Wert von Put- und Call-Optionen an in Abhängigkeit von Laufzeit der Option, Ausübungspreis, dem momentanen Preis des zu Grunde liegenden Guts, dem risikolosen Zinssatz und der Volatilität des Preisprozesses für das zu Grunde liegende Gut. Diese Größen sind alle direkt beobachtbar, außer der Volatilität des Preisprozesses. Diese muss aus historischen Daten, oder aus dem Preis von Optionen mit anderer Laufzeit oder anderem Ausübungspreis, geschätzt werden. Eine Eigentümlichkeit von Optionspreisen sind die sogenannten Volatility Smiles. Für Optionen mit unterschiedlichem Ausübungspreis oder unterschiedlicher Laufzeit sind es unterschiedliche Volatilitätswerte desselben zugrunde liegenden Gutes, die über die Black-Scholes Formel den am Markt beobachteten Preis 75 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Breuer
der jeweiligen Optionen erklären. Da der Preis eines Guts nur eine Volatilität zeigen kann, muss irgendwo ein Widerspruch vorliegen. Üblicherweise wird argumentiert, dass die Annahmen des Black-Scholes-Modells nur approximativ erfüllt sind. Platen und Schweizer (1998) nehmen an, dass die Nachfrage nach dem zu Grunde liegenden Gut aus drei Komponenten besteht: einem nicht näher spezifizierten Zufallsterm, aus der Nachfrage von Händlern, die eine momentumbasierte Strategie verfolgen, und aus der Nachfrage für Absicherungsgeschäfte, die Risiken aus den Optionsmärkten absichern sollen. Die Händler mit momentumbasierter Strategie sorgen bei steigenden Preisen des zugrundeliegenden Guts für zusätzliche Nachfrage nach dem Gut, und bei fallenden Preisen für zusätzliches Angebot. Im Gleichgewicht stellen sich die Preise des zu Grunde liegenden Guts so ein, dass Angebot und Nachfrage gleich groß sind. Die zusätzliche Nachfrage von momentumbasierten Händlern und für Absicherungsgeschäfte verändert somit auch den Preis des zu Grunde liegenden Guts. Dieser folgt nicht mehr derselben geometrischen Brown’schen Bewegung, wie in der Annahme S(0) ausgesagt, sondern einem anderen stochastischen Prozess S(1). Explizite Berechnungen zeigen, dass die Volatilität von S(1) den Effekt der Volatility Smiles reproduziert. Die Volatilität von S(1) hängt vom Ausübungspreis und der Laufzeit der abgesicherten Optionen ab. Aus unserem Blickwinkel aber noch interessanter ist das Ergebnis, dass die Volatilität von S(1) höher ist als die Volatilität von S(0) – und zwar umso höher, je höher der Anteil an momentumbasierten Händlern im Modell ist oder je aggressiver diese ihre momentumbasierte Strategie verfolgen. Damit liegt ein quantitativ belastbares Resultat vor, wie die Aktivität von momentumbasierten Händlern die Volatilität des zu Grunde liegenden Gutes steigert. Der im ersten Abschnitt geäußerte Verdacht scheint sich also zu bestätigen. Tatsächlich besteht die Hoffnung, Zugangsbeschränkungen zu den Derivat76 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen
märkten könnten den gefährlichen Volatilitätssteigerungen auf Agrarmärkten entgegenwirken. Etwas Vorsicht schadet allerdings nicht. Im Modell von Platen und Schweizer wurde angenommen, dass die Händler momentumbasierte Strategien verfolgen. Wenn diese Annahme nicht hält, könnte auch das Ergebnis des Modells fallen. Verfolgt die Mehrzahl der Händler eine wertbasierte Strategie, könnte die Aktivität der Händler die Volatilität vielleicht reduzieren.
3. Gleichgewicht und Selbstreferenz In diesem abschließenden Abschnitt will ich einige grundsätzliche Überlegungen zu Gleichgewicht und Selbstreferenz anstellen. Diese haben überraschende Konsequenzen für ökonomische Entscheidungssituationen und damit auf Marktpreise.
3.1 Messungen von außen und von innen In einer Messung an einem physikalischen System wird eine Beziehung hergestellt zwischen einer Zeigerstellung nach der Messung und dem Wert einer physikalischen Größe nach der Messung. (Kann man den Einfluss der Messung auf die gemessene Größe abschätzen, kann man dann weiter zurückschließen auf den Wert der gemessenen Größe vor der Messung.) Diese Beziehung zwischen Zeigergröße und gemessener Größe kann auch als eine Beziehung zwischen Teilmengen des Zustandsraums des Messapparats und Teilmengen des Zustandsraums des gemessenen Systems formuliert werden. Diese Messabbildung zwischen den Teilmengen des Apparate-Zustandsraums und den Teilmengen des Zustandsraums des gemessenen Systems enthält alle Information, die in der Messwechselwirkung gewonnen wurde. Diese allgemeine Aussage gilt für jede Messung. Im Spezialfall einer Messung von innen ist der Messapparat 77 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Thomas Breuer
Teil des gemessenen Systems. Dann legt der Zustand des gemessenen Systems eindeutig den Zustand des Teilsystems Messapparat fest. Damit entsteht ein zirkulärer Schluss vom Zustand des Messapparats auf den Zustand des gemessenen Systems – und von diesem wiederum auf den Zustand des Teilsystems Messapparat. Dieser zirkuläre Schluss ist nicht widersprüchlich, wenn bei Messungen von innen folgende Konsistenzbedingung für die Messabbildung gilt: Jede Menge von Apparat-Zuständen nach der Messung kann nur auf eine solche Menge von Zuständen des gemessenen Systems verweisen, deren Einschränkung auf den Apparat wieder die ursprüngliche Menge von Apparat-Zuständen ist. Liegt der Messapparat ganz oder teilweise außerhalb des gemessenen Systems, muss diese Konsistenzbedingung für die Messabbildung nicht gelten. Aus dieser Konsistenzbedingung für Messungen von innen lässt sich nun folgender Unvollständigkeitssatz für Messungen von innen herleiten (Breuer 1995): Messungen von innen können nicht alle Zustände des gemessenen Systems unterscheiden. Der Erkenntnis von innen sind Grenzen gesetzt.
3.2. Messungen von innen und der Gödel’sche Unvollständigkeitssatz Die folgenden Überlegungen folgen Breuer (1997). Der Unvollständigkeitssatz für Messungen von innen steht in loser Analogie zu Gödels (1931) Satz: Ebenso, wie man nach den Beweisregeln eines formalen Systems nicht alle wahren Sätze beweisen kann, kann man von innen nicht alle Zustände eines physikalischen Systems genau messen. Beweisbarkeit von Aussagen ist ein metatheoretischer Begriff, dasselbe gilt für die Messbarkeit von Zuständen: Zuständen (oder Mengen von Zuständen) entsprechen Aussagen über das physikalische System; die Messung von Zuständen ist eine Methode, Aussagen über das physikalische System zu prüfen. 78 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen
Wenn man metatheoretische Begriffe wie Beweisbarkeit oder Messbarkeit in das untersuchte formale oder physikalische System einbezieht, dann verlieren diese Begriffe ihre universelle Anwendbarkeit. Dieses Phänomen ist auch der Inhalt von Tarskis (1935) Satz. Interne Prüfungsverfahren sind weniger effektiv als externe. Allerdings ist die Analogie zwischen der formalen Beweisbarkeit von Aussagen und der eindeutigen Messbarkeit von Zuständen wirklich nur lose. Wenn man sich die Sache genau überlegt, dann lassen sich isolierte Aussagen einer physikalischen Theorie nicht so leicht experimentell überprüfen. Quine (1953), Kuhn (1962) und Feyerabend (1958), sogar der Positivist Carnap (1956) argumentieren aus ganz verschiedenen Blickwinkeln, dass die Bedeutung von Begriffen in physikalischen Theorien auch durch den theoretischen Kontext bestimmt wird. Wenn einzelne Aussagen nicht Träger der Bedeutung sind, dann können sie auch nicht einzeln experimentell überprüft werden. Mit experimentellen Resultaten konfrontiert wird höchstens eine Theorie als ganze. Aber selbst diese Konfrontation ist nicht direkt, denn die Theorie selbst spielt auch eine Rolle bei der Übersetzung von Zeigerausschlägen in Erfahrungsaussagen; also wird die Theorie mit Erfahrungsaussagen konfrontiert, die sie selbst mitbestimmt hat. Eine andere Analogie zu Gödels Satz besteht darin, dass paradoxe Selbstreferenz in beiden Argumenten eine zentrale Rolle spielt. Aber es wäre falsch, die Gödel-Formel nur als ein Beispiel paradoxer Selbstreferenz zu sehen, denn Gödel konnte paradoxe Selbstreferenz ausnützen, ohne anzunehmen, dass beweisbare Sätze wahr sind. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Konsistenz impliziert die Wahrheit beweisbarer Sätze nur, wenn man auch Vollständigkeit annimmt. (Wenn ein Satz beweisbar ist, seine Negation aber wahr wäre, dann folgt aus der Vollständigkeit, dass die Negation auch beweisbar wäre, was im Widerspruch zur Konsistenz ist.) Vollständigkeit aber durfte Gödel nicht annehmen, denn er bewies einen Unvollständigkeitssatz. Also durfte er aus der Konsistenz des Systems nicht auf die Wahrheit beweisbarer Sätze schließen. Solch eine Subtilität findet man im physika79 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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lischen Argument nicht; dort schließt das Verbot paradoxer Selbstreferenz aus, dass eine Messung von innen alle Zustände unterscheiden kann. Obwohl die Gödel-Formel nicht beweisbar ist nach den Regeln des formalen Systems, ist sie wahr im Sinne der naiven Zahlentheorie. (Als Platonist setzte Gödel einen absoluten Wahrheitsbegriff für seine Metatheorie, die naive Zahlentheorie, voraus. Im Sinne dieses absoluten Wahrheitsbegriffs ist die Gödel-Formel wahr. Gödel konnte aber beim mathematischen Establishment seiner Zeit einen solchen platonischen Wahrheitsbegriff nicht für die gesamte naive Zahlentheorie voraussetzen.) Gödels Resultat zeigt also für Anhänger der naiven Zahlentheorie, dass Wahrheit und formale Beweisbarkeit nicht deckungsgleich sind. Nicht alles, was wahr ist, ist beweisbar.
3.3 Gleichgewicht Eine verwandte Struktur zeigen auch die spieltheoretischen Gleichgewichtskonzepte von von Neumann und Morgenstern (1944) und Nash (1951). Diese Verwandtschaft ist vielleicht kein Zufall. Der junge von Neumann spielte mit seinem Vollständigkeitssatz (1931) bereits eine Schlüsselrolle bei Versuchen, mit Fixpunktüberlegungen, Konsistenzbedingungen und Diagonalisierungsargumenten die Vollständigkeitsdebatte in der mathematischen Logik zu entscheiden. Auch ein spieltheoretisches Gleichgewicht wird durch eine Konsistenzbedingung festgelegt. Jede Spielerin und jeder Spieler möchte gerne die bestmögliche Reaktion auf Aktionen der Mitspieler wählen. Dafür muss er aber erraten, welche Aktionen die Mitspieler setzen werden. Die Prognose des Spielers ist nun, dass die Mitspieler bei der Wahl ihrer Aktionen die vermuteten Aktionen (oder Reaktionen) des Spielers berücksichtigen. Was die beste Aktion des Spielers ist, hängt von der Aktion der Mitspieler ab, die wieder von deren Prognose über die Aktion des Spielers ab80 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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hängen, die wiederum von der Prognose des Spielers über die Aktionen der Mitspieler abhängen, und so weiter. Das spieltheoretische Gleichgewicht ist über eine Konsistenzbedingung, oder Fixpunktbedingung, definiert: Eine Wahl von Aktionen aller Spieler ist ein Gleichgewicht, falls keiner seine Wahl bereut, wenn er von den Aktionen der anderen Spieler erfährt. Ebenso wie bei der Gödel-Formel, bei der Konsistenzbedingung für Messungen von innen und bei der Hierarchie stochastischer Prozesse bei Platen und Schweizer (1998) ist die spieltheoretische Gleichgewichtsbedingung selbst-referenziell. Die Aktion eines Spielers berücksichtigt die Aktion der anderen Spieler, die wiederum die Aktion des Spielers berücksichtigen. Über diesen Zirkel muss die Wahl der Aktion des Spielers konsistent sein: Seine Aktion muss für die Mitspieler jene Aktion optimal machen, auf die die Aktion die optimale Reaktion ist. Auch wenn die Gleichgewichtsbedingung als Konsistenz zwischen den Aktionen der Spieler verstanden werden kann, so gibt es doch wichtige Unterschiede zwischen der Gleichgewichtsbedingung und Konsistenzbedingungen. Die Gleichgewichtsbedingung kann verletzt sein, eine Konsistenzbedingung in einem logischen System kann nicht verletzt werden. Aus einem Widerspruch kann jede Aussage abgeleitet werden, gleichgültig, ob sie wahr oder falsch ist. Ist die Gleichgewichtsbedingung verletzt, hat sich zumindest einer der Spieler geirrt in seiner Prognose der Aktionen der anderen. Das ist ohne weiteres möglich und in Märkten keineswegs die Ausnahme. Deshalb sind Nicht-Gleichgewichtszustände durchaus mögliche Zustände.
3.4 Beobachten und Handeln Beobachtungen haben den Zweck, Information über das gemessene System zu liefern. Sie liefern ein Bild über das gemessene System, meist ein unvollständiges. Der Messapparat trägt dieses Bild. Messungen von innen, wenn also der Messapparat Teil des 81 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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gemessenen Systems ist, generieren ein Bild im Bild. Der Träger des Bildes ist im abgebildeten System enthalten. Der Unvollständigkeitssatz für Messungen von innen sagt aus, dass das Bild im Bild unvollständig sein muss. Handel ist Handeln. Der Abschluss eines Geschäfts beruht auf den Bildern vom Wert der ausgetauschten Güter, die Käufer und Verkäufer haben. Der Abschluss des Geschäfts verändert aber auch den Wert der ausgetauschten Güter. Durch das Kaufangebot wird die Nachfrage erhöht, durch das Verkaufsangebot wird das Angebot erhöht. So legt der Abschluss eines Geschäfts einen neuen Preis für die ausgetauschten Güter fest, der sich vom letzten Preis unterscheiden kann. Im Geschäftsabschluss wird das zuvor private Bild vom Wert der Güter am Markt wirksam und ändert dessen Wirklichkeit. Bei selbsterfüllenden Prophezeiungen (Merton 1948) führt der Handel auf Basis von privaten Bildern über den Wert eines Guts zu den Werten, die dem Bild entsprechen. Im Modell von Platen und Schweizer (1998) wird genau dieser Mechanismus wirksam. Die Akteure haben ein Bild S(0) vom stochastischen Preisprozess des zugrundeliegenden Guts. Aufgrund dieses Bildes entwerfen sie eine Absicherungsstrategie, deren Realisierung dann aber die Nachfrage nach dem zugrundeliegenden Gut ändert und so zu einem neuen Preisprozess S(1) führt. Die dynamischen Absicherungsgeschäfte verändern also genau den stochastischen Preisprozess, den sie selbst voraussetzen. Diese Inkonsistenz äußert sich darin, dass S(0) nicht äquivalent zu S(1) ist. Wollte man Konsistenz verlangen, dann müsste ein Preisprozess S(0), der von den Akteuren für das Design ihrer Absicherungsstrategie verwendet wird, beim Einsatz dieser Absicherungsstrategie wieder zum selben Preisprozess S(0) zurückführen. Die Konsistenzbedingung lautet also S(0) = S(1). Leider ist es noch nicht gelungen, diese Gleichung zu lösen. Die Arbeit von Platen und Schweizer zeigt, dass die geometrische Brown’sche Bewegung kein Prozess ist, für den die Konsistenzbedingung erfüllt ist. Die Konsistenzbedingung muss nicht mit logischer Notwendigkeit erfüllt sein. Sie kann durchaus verletzt sein; wir wissen 82 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Finanzderivate und Agrar-Preisschwankungen
nicht einmal, welcher Preisprozess sie erfüllt. Eine Verletzung der Konsistenzbedingung ist einfach ein Irrtum der Marktteilnehmer. Sie bauen ihre Absicherungsstrategie auf eine Annahme über den Preisprozess auf, die sie selbst durch die Realisierung der Absicherungsstrategie verfälschen. Dieser Irrtum führt zu einem Tracking-Fehler von Absicherungsstrategien. Solche Strategien versichern doch nicht gegen alle Risiken, für deren Absicherung sie eingeführt wurden. Und noch schlimmer: Wenn man vom falschen Preisprozess ausgeht, dann ist auch das darauf beruhende Bewertungsverfahren für Optionen falsch.
Literatur F. Black, M. Scholes: The Pricing of Options and Corporate Liabilities, Journal of Political Economy 81 (3): 637–654, 1973 T. Breuer: The impossibility of exact state self-measurements, Philosophy of Science 62 (1995), 197–214. T. Breuer: Universell und unvollständig: Theorien über alles?, Philosophia Naturalis 34, 1–20, 1997 R. Carnap: The Methodological Character of Theoretical Concepts, pp. 38–76 in H. Feigl, M. Scriven (eds.): The Foundations of Science and the Concepts of Psychology, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1956 P. K. Feyerabend: An attempt at a realistic interpretation of experience, Proceedings of the Aristotelian Society, 1958. Abgedruckt in P. Feyerabend: Realism, Rationalism, and Scientific Method. Philosophical Papers, Band 1, Cambridge University Press, 1985 R. Frey, A. Stremme: Market volatility and feedback effects from dynamical hedging, Mathematical Finance 7, 351–374, 1997 K. Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme, Monatshefte für Mathematik und Physik 38, 173–198, 1931 Report of the Expert Committee to Study the Impact of Futures Trading on Agricultural Commodity Prices („Abhijit-Sen Committee Report“), Ministry of Consumer Affairs, Consumers, and Public Distribution, Government of India, 2008 T. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, Chicago: University Press, 1962 R. K. Merton: The self-fulfilling prophecy, The Antioch Review 8, 193–210, 1948
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Thomas Breuer
J. F. Nash: Non-cooperative games, Annals of Mathematics 54, 289–295, 1951 Olivier de Schutter: Food Commodities Speculation and Food Price Crises, United Nations Special Rapporteur on the Right to Food, Briefing Note 02, September 2010 E. Platen, M. Schweizer: On feedback effects from hedging derivatives, Mathematical Finance 8, 67–84, 1998 W. V. O. Quine: Two Dogmas of Empiricism, in From a Logical Point of View, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1953 J. Stein: Overreactions in Options Markets, Journal of Finance 54, 1011–1023, 1989 A. Tarski (1956): The concept of truth in formalised languages, (Übersetzung eines polnischen Artikels von 1935), in Logic, Semantics, Metamathematics: Papers from 1923 to 1938, Clarendon Press, Oxford, 1956 J. von Neumann: Die formalistische Grundlegung der Mathematik, Erkenntnis 2, 116–121, 1931 J. von Neumann, O. Morgenstern: Theory of Games and Economic Behavior, Princeton University Press, 1944 The International Bank for Reconstruction and Development / World Bank: Global Economic Prospects. Commodities at the Crossroad, 2009 B. D. Wright, E. Bobenrieth: Special Feature: The Food Price Crisis of 2007/ 2008: Evidence and Implications, FAO Food Outlook 59, 62
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Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze Joachim von Braun und Franz W. Gatzweiler
Kurzfassung Die Vereinten Nationen haben 2015 beschlossen, die extreme Armut bis 2030 zu überwinden. Unter den extrem Armen befinden sich viele marginalisierte Bevölkerungsgruppen. Deshalb muss die Marginalität als weitergehende Ursache der Armut beachtet werden, damit das Ziel der Überwindung der extremen Armut tatsächlich erreicht werden kann. Dieses Kapitel befasst sich mit dem Konzept der Marginalität in seinen diversen Dimensionen, insbesondere in Ländern mit niedrigem Einkommen. Marginalität wird hier als umfassendes Konzept verstanden, mit ökonomischen, sozialen, sowie geographischen und ökologischen Dimensionen des Wohlergehens von Menschen. Die Schwierigkeiten, Menschen am Rande sozialer und ökologischer Systeme zu erreichen, werden durch eine Reihe physischer, sozialer und ökonomischer Distanzen bestimmt (z. B. abgelegene Regionen, landwirtschaftlich benachteiligte Gebiete, soziale Ausgeschlossenheit oder Ausschluss von Rechten und Beschränkung des Zugangs zu Dienstleistungen). Ein großer Teil der Weltbevölkerung ist von diversen Formen der Marginalität betroffen und dies resultiert oft in extremer Armut. Aus ethischer und rechtlicher Perspektive sollte keine der Determinanten von Marginalität akzeptiert werden, und zudem ist Marginalität ökonomisch ineffizient. Strategien und Maßnahmen müssen die systemische Kausalität von Marginalität berücksichtigen, um wirksam zu sein.
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Joachim von Braun und Franz W. Gatzweiler
1. Warum Fokus auf Marginalität und nicht allein auf Armut? Armut zu reduzieren ist seit langem ein Ziel der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Industrieländer und zunehmend auch der Entwicklungsländer. Extreme Armut weltweit abzuschaffen ist allerdings eine qualitative Zielveränderung. Es kann als Ausdruck einer veränderten Weltethik interpretiert werden, dass die Staatschefs der Welt sich 2015 im Rahmen der UN Vollversammlung auf die Nachhaltigen Entwicklungsziele verständigt haben und als Ziel Nr. 1 die Beendigung der extremen Armut in allen ihren Formen bis 2030 verfolgen wollen. 1 Eine zentrale Zielgröße, die dabei als erste genannt wird, ist es, alle Menschen, die derzeit noch über weniger als 1,25 US$ pro Tag verfügen, zumindest über diese Schwelle zu bringen. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Entwicklungsländer erhebliche Fortschritte bei der Verringerung der Armut gemacht. Die Einkommensarmut, definiert als US$ 1,25 pro Tag und pro Kopf, sank in den Entwicklungsländern von 43 % auf 17 % in der Zeit von 1990 bis 2011. Dieser Fortschritt ist das Ergebnis verschiedener Faktoren. Wirtschaftswachstum erreichte die Armen, und in vielen Ländern wurde der Sozialpolitik eine größere Aufmerksamkeit zuteil. Die meisten Fortschritte waren hausgemacht, aber beide Faktoren – Wachstum und Sozialpolitik – wurden auch durch Entwicklungshilfe unterstützt. Kapazitäten zur Gestaltung und Umsetzung der Sozialpolitik sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten ausgebaut worden und unterstützen damit eine effektivere Bekämpfung der Armut – auch unter den extrem Armen (von Braun et al. 2009; Sachs 2006). Eine vereinfachte Extrapolation des rückläufigen Trends in der Einkommensarmut von etwa 1,3 Prozentpunkten pro Jahr während der letzten 20 Jahre darf aber nicht zu der Annahme verleiten, dass die extreme Armut innerhalb der kommenden 15 Jahre tat1
Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development, UN, 2015. https://sustainabledevelopment.un.org/post2015/transformingourworld
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Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze
sächlich trendmäßig überwunden werden könnte. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass jede weitere Verringerung der verbliebenen Armut schwieriger sein wird als die bisher erzielte Verbesserung. Der Grund ist, dass die Diversität der Menschen, die weit unterhalb der extremen Einkommensgrenze leben, hoch ist. Allgemeines Wirtschaftswachstum allein kann Armut nicht nachhaltig reduzieren, wenn Menschen ausgegrenzt sind, in geographisch abgelegenen Gebieten leben und in die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht einbezogen werden. Drei Viertel der Armen auf der Welt leben in den Schwellenländern mit mittlerem Einkommen. Die ärmste Milliarde lebt somit nicht mehr nur in den ärmsten und fragilen Staaten, sondern lebt in Marginalität in Ländern, die eigentlich über Ressourcen zur Armutsüberwindung verfügen. Die Überwindung der extremen Armut muss sich daher mit den Ursachen von Marginalität auseinandersetzen, die hinter den Ursachen der extremen Armut liegen. Das Verständnis für die Einschränkungen, die Marginalität verursachen, ist von wesentlicher Bedeutung, um wirksam Programmentwürfe zu gestalten. Extreme Armut wirksam zu bekämpfen, ist auch nicht nur eine Frage gezielter Transferpolitik (Adato und Hoddinott 2010; Banerjee und Duflo 2011). Vielmehr müssen strukturelle Probleme beseitigt werden, wie Ausgrenzung, Diskriminierung und Entrechtung, die die Verletzlichkeit der Armen vergrößern und ihre Resilienz einschränken (siehe dazu Beiträge in Pontifical Academy of Science 2013). Viele Arme, die z. B. am Rande der Gesellschaft in ländlichen Gebieten leben, sind abhängig von lokalen natürlichen Ressourcen und, wenn sie migrieren, leben sie meist zunächst in urbanen Risikozonen wie Slums. Eine breitere Perspektive für die Armutsbekämpfung ist notwendig, die den Zusammenhang von Armut, Rechten und sozial-ökologischer Umwelt berücksichtigt. Ein solcher Ansatz wird hier mit dem Konzept der Marginaliät verfolgt. Nach der Darstellung des Marginalitätskonzepts werden die Dimensionen zunächst auf internationaler Ebene mit dem Versuch einer Margina87 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Joachim von Braun und Franz W. Gatzweiler
litäts-Kartierung erfasst, sodann wird die Ausprägung von Marginalität in einigen Ländern beschrieben und schließlich werden Ansätze zur Überwindung von Marginalität angesprochen. Die Gruppe der Akteure, die das Potenzial für die Überwindung von Marginalität haben, umfasst neben der Regierung (auf zentraler und lokaler Ebene) und Akteuren der Zivilgesellschaft auch den Privatsektor, der mit dem Design seiner Wertschöpfungsketten und Dienstleistungen Marginalität reduzieren kann.
2. Marginalitätskonzepte „Marginal“ stammt vom Lateinischen margo (Rand, Grenze), am Rande befindlich, bzw. den Rand betreffend, ab. Marginalität wird in wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich verstanden. In der Biologie beschreibt Marginalität den Zustand von Organismen außerhalb optimaler homöostatischer Bereiche, die für lebende Systeme notwendig sind (Damasio 2011). In den Wirtschaftswissenschaften ist Marginalanalyse grundlegend für die Untersuchung ökonomischen Verhaltens und betrachtet Grenzwerte, d. h. Größen, die sich aus der Zu- oder Abnahme eines Faktors um eine grenzwertige Einheit ergeben. Diese Überlegungen gehen auf von Thünen (1826) zurück und sind auch für die wirtschaftsgeographische Betrachtung marginaler Standorte relevant. In der Soziologie bezeichnet Marginalität die Existenz in den Randbereichen einer sozialen Gruppe, Schicht oder Klasse (Young, 2002). Hier wird versucht, die verschiedenen Dimensionen von Marginalität aus soziologischer, ökologischer und ökonomischer Sicht zu integrieren. „Marginalität“ bezeichnet die Situation von Menschen am Rande der Gesellschaft, wodurch ihr Zugang zu Ressourcen und Möglichkeiten, ihre Entscheidungsfreiheit und die Entwicklung ihrer persönlichen Fähigkeiten behindert werden (von Braun und Gatzweiler 2014). In vielen Fällen ist Marginalität eine Hauptursache für Armut (von Braun et al. 2009). Je nachdem, 88 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze
welche Aspekte der Marginalität in Betracht gezogen werden, gehören Millionen von Menschen zu denen, die in Randbereichen leben oder aus ihnen kommen. Wie im Weiteren erläutert wird, sind diese Randbereiche von unterschiedlichen Faktoren bestimmt und kennzeichnen die multiplen Dimensionen der Marginalität. Wir definieren Marginalität als unfreiwillige Lage von Einzelnen (z. B. Behinderte) oder Gruppen (z. B. Ethnien) am Rande sozialer, politischer, ökonomischer, ökologischer und biophysikalischer Systeme, die sie am Zugang zu Ressourcen oder Dienstleistungen hindert, ihre Wahlmöglichkeiten einschränkt, die Entwicklung von Fähigkeiten verhindert und schließlich extreme Armut verursacht. Marginalität umfasst jene Armen, die unterhalb bestimmter Schwellenwerte und außerhalb des Mainstreams von sozioökonomischen und humangeographische Systemen leben, in denen ein verbesserter Zugang zu Rechten, Ressourcen und Dienstleistungen dazu beitragen würde, menschenwürdige Lebensstandards zu ermöglichen (Abb. 1). Marginalität ist ein relatives Konzept und bezieht sich darauf, wo sich Menschen befinden und was sie besitzen. „Wo sich Menschen befinden“, bezieht sich nicht nur auf physische Standorte, sondern auch auf gesellschaftliche Positionen. „Was sie besitzen“, bezieht sich auf Kapitalvermögen – hier wird eine breite Definition von Kapital verwendet – und die Regeln und Vorschriften (formelle und informelle), die den Zugriff auf diese Vermögenswerte und deren Verwendung ermöglichen. So können beispielsweise ethnische Minderheiten im ländlichen Afrika oder Asien in geographisch abgelegenen Gebieten leben und von ihren jeweiligen nationalen Regierungen als sozial marginal wahrgenommen werden. Dennoch besitzen sie traditionelle Nutzungsrechte und Zugang zu Land, Wasser und biologischen Ressourcen (z. B. Wäldern), mit denen sie ihren gewählten Lebensunterhalt bestreiten. Wenn sie ihres traditionellen Zugangs und ihres Rechts, diese Ressourcen zu verwenden, beraubt werden (beispielsweise durch die Einführung von nationalstaatlichen Gesetzen, die den Zugang 89 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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zu Ressourcen verhindern), werden sie zu Armen und Ausgegrenzten. Abbildung 1: Dimensionen der Marginalität Social Economic
Political
Nutritional Educational
Quelle: Gatzweiler und Baumüller (2015)
Erläuterung: Änderung der Marginalität innerhalb eines mehrdimensionalen Systems: Die großen Kreise stellen systemische Dimensionen dar (soziale, wirtschaftliche, politische etc.), die beiden kleineren schattierten Kreise stellen marginalisierten Personen oder Gruppen dar; der Pfeil stellt die Richtung der Veränderung im System dar (Reduzierung der Marginalität).
3. Marginalität im Kontext von Armut und relativer Deprivation Einkommensarmut ist einfach zu erfassen und zu messen, aber dieses Konzept hat keinen Bezug zu den vielfältigen Konzepten des individuellen Bedarfs oder dazu, was Armut bedeutet (Gordon et al. 2000, S. 8). Die marginalisierten Armen sind diejeni90 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze
gen, die sowohl von Marginalität als auch von Armut betroffen sind. Kausalitäten, die sich aus beiden Konzepten ergeben, sind komplex (Dasgupta 2009; von Braun und Gatzweiler 2014). Das Konzept der Marginalität sollte nicht als ein alternatives Konzept zu Armut verstanden werden; vielmehr überschneiden und ergänzen sich die beiden Konzepte. Marginalität umfasst breite Ansätze wie relative Deprivation, soziale Ausgrenzung und Mangel an Verwirklichungsmöglichkeiten. Der Begriff ergibt sich aus einer interdisziplinären und systemischen Perspektive auf das Leben der Armen mit dem Ziel, die ursächlichen Faktoren von Armut aufzuzeigen, die ihre Wurzeln im Funktionieren (oder Nichtfunktionieren) der wirtschaftlichen, soziokulturellen oder ökologischen Systeme haben. Dazu müssen räumliche Dimensionen wie Geographie und Standort berücksichtigt werden. In den Worten von Dasgupta (2003, S. 2): „Politik ist wichtig, ebenso Institutionen, aber die lokale Ökologie zählt auch.“ Beeinflusst vom Befähigungsansatz („entitlements“) von Sen (1987a, 1993, 1999), der den Schwerpunkt auf Funktionen und Lebensbedingungen legt (1987b), geht das Marginalitätskonzept über eine Messung des Wohlbefindens durch den Besitz von materiellen Gütern hinaus. Es zielt darauf ab, Verwirklichungschancen und Barrieren aufzuzeigen, die ein Ergebnis dessen sind, was Menschen haben (Güter, Rechte, Wissen und Möglichkeiten) und wo sie sich gesellschaftlich, ökonomisch und geographisch befinden. Für die Erreichung des gewünschten Wohlbefindens zählt nicht nur die Menge dessen, was Menschen haben und tun können, sondern auch, wie diese Besitztümer durch Verwirklichungschancen in ein funktionsfähiges Leben verwandelt werden, welches Menschen leben wollen (Nussbaum und Sen 1993; Nussbaum 2004; Schlosberg 2007). Dort, wo diese Möglichkeiten nicht bestehen oder wo sie stark eingeschränkt sind, behindern Barrieren die Befähigungen der Menschen und lassen sie nicht ihr volles Potenzial entwickeln. Diese Barrieren sind Einschränkungen oder ein Mangel an Fähigkeiten, deren Ursachen 91 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Joachim von Braun und Franz W. Gatzweiler
in den wirtschaftlichen, sozialen, politischen oder ökologischen Systemen liegen können. Marginalität sollte nicht nur zum Konzept der Armut in Bezug gesetzt werden, sondern auch zum neueren Konzept der relativen Deprivation. Relative Deprivation basiert auf der Idee, dass die Einschätzung der objektiven Umstände von subjektiven Vergleichen abhängt (Townsend 1979; Stark und Bloom 1985; Walker und Smith 2002; Wilkinson und Pickett 2007; Stark et al. 2011). Das Konzept ergänzt das Konzept der absoluten Armut um eine neue Dimension, denn es bezieht sich auf die Umstände, unter denen Vergleiche gemacht werden, und definiert keinen allgemeinen Schwellenwert. Der Ansatz ist hilfreich, da er die relative Höhe der Entbehrung hinsichtlich materieller oder sozialer Vermögenswerte und Lebensumstände definiert, während Armut als Mangel an oder Verweigerung von Ressourcen, um diese Lebensbedingungen zu erreichen, verstanden wird (Townsend et al 1987, S. 85, zitiert in Sauders 1994, S. 235– 236). Mit wachsendem globalem Informationszugang verschieben sich die Referenzsysteme der Armen und Perzeptionen relativer Deprivation nehmen zu. Der Begriff der sozialen Ausgrenzung überschneidet sich mit dem Begriff der Marginalität, wenn er als Bedingung und Prozess des Distanzierens von den Organisationen und Gemeinschaften, aus denen eine Gesellschaft besteht, und von den Rechten und Pflichten, die sie verkörpern, verstanden wird (Raum 1995, S. 243). Zohir (2014, S. 43) betont dies in Bezug auf Ausgrenzungskriterien: Alle Entwicklungsanstrengungen der letzten Jahrzehnte standen entweder unter dem Vorhaben der Armutsbekämpfung und der Millenniums-Entwicklungsziele (MDGs), oder der Bemühung, Gerechtigkeit zu erreichen und integratives Wachstum zu fördern. Das allgemeine Anliegen war, diejenigen zu erreichen, die „ausgegrenzt sind“, seien es Kinder, die von ihren Eltern nicht zur Schule geschickt werden, arme Frauen in ländlichen Gebieten, die die Gesundheitsdienste oder Marktchancen nicht nutzen können, Minderheiten oder soziale Randgruppen, 92 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze
die wenig oder keinen Zugang zu Arbeitsplätzen und öffentlichen Einrichtungen haben, oder die körperlich oder geistig Behinderten. Sowohl die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Gemeinschaft als auch die Verwurzelung in einem institutionellen Umfeld, welches Rechte und Pflichten schützt, sind notwendig, um der Marginalität zu entkommen. Zohir (2014) verweist auf die Beziehungen zwischen Verträgen, Waren und Dienstleistungen einerseits und Ausgrenzung andererseits und unterscheidet fünf Arten der Ausgrenzung: freiwillige Ausgrenzung; Ausgrenzung durch Unwissen; Ausgrenzung, um zu überleben; Ausgrenzung aufgrund eines Mangels an Nachfrage; und Ausgrenzung durch „Distanz“ (geringe Ausprägung von Netzwerken). Für eine umfassende Analyse der Marginalität sollten die Nachhaltigkeit der Menschheit und die der Natur gemeinsam betrachtet werden, nicht isoliert voneinander (siehe Beiträge in Pontifical Academy of Sciences, 2015). Callo-Concha et al. (2014) verfolgen eine sozial-ökologische Perspektive von Marginalität und betonen, dass Marginalität eher die Regel als die Ausnahme in ökologischen Systemen ist. Sie unterstreichen, dass viele komplexe Phänomene gleichzeitig und untrennbar sowohl von sozialen als auch von ökologischen Systemen geformt werden; daher sollte Marginalität sinnvollerweise durch integrierte sozial-ökologische Systemansätze untersucht werden. Arme Randgruppen sind oft von Ökosystem-Dienstleistungen ausgegrenzt (Kumar und Yashiro, 2014). Arme sind vom Verlust von ÖkosystemFunktionen stärker als andere Gruppen betroffen, da sie oft besonders von diesen Funktionen abhängig sind. Die am meisten von Umweltschutz profitieren, sind oft nicht die Armen, während letztgenannte in der Regel am meisten unter Umweltzerstörung leiden (Kumar und Yashiro 2014). Wird der Zugang zu Land, Wald, Wasserressourcen oder zu deren ökologischen Dienstleistungen (z. B. Lebensraum, Nährstoffe und hydrologischer Kreislauf, Bodenfruchtbarkeit) blockiert, ergeben sich Einschränkungen für die von diesen Ressourcen abhängigen Menschen, was zu Entstehung oder Fortbestand ihrer Marginalität beitragen kann. 93 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Joachim von Braun und Franz W. Gatzweiler
Die oben genannten Ansätze unterstreichen die sich ergänzenden Rollen von alternativen disziplinären Perspektiven auf Marginalität. Eine veränderte Wahrnehmung von Entwicklung und globaler Veränderung verlangen nach neuen Sichtweisen und Ansätzen, wie dem der Marginalität. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte hat sich die globale Entwicklungslandschaft dramatisch verändert. In vielen Entwicklungsländern haben hohe Wachstumsraten Millionen von Menschen erlaubt, Einkommensarmut hinter sich zu lassen. In Südasien und in Afrika südlich der Sahara finden wir jedoch Länder mit hohen Wachstumsraten, in denen Armut in hohem Ausmaß fortbesteht, besonders in ländlichen Gebieten, wo landwirtschaftliche Flächen immer weniger zur Verfügung stehen, Ökosysteme erodiert sind und der Zugang zu Trinkwasser, Hygiene und Energie-Ressourcen vielen verwehrt bleibt. Die Vielfalt der Armutsbegriffe auf wenige Indikatoren zu reduzieren, birgt das Risiko, dass wesentliche Aspekte und zugrundeliegenden Kausalitäten von Armut übersehen werden. Das Marginalitätskonzept kann helfen, den Zusammenhang von Armut, Umwelt und Entwicklung zu untersuchen. Marginalität wird hier als ein multidimensionales und interdisziplinäres Konzept verstanden, das Armut, soziale Ausgrenzung, die Schädigung des Ökosystems und den Zugang zu Dienstleistungen, Märkten und Technologien integriert. Dabei ist auch die subjektive Wahrnehmung von Armut, Werten und Wünschen wichtig. Der so breit verstandene Begriff der Marginalität ist inklusiv, fordert interdisziplinäre Analyse und bietet eine systemische Grundlage für das Verständnis der Wechselwirkungen zwischen sozialen und ökologischen Systemen.
94 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze
4. Dimensionen und Prävalenz der Marginalität und extremen Armut Globale Kartierung der Marginalität Angesichts der Vielfalt der Dimensionen von Marginalität sind ihrer Quantifizierung Grenzen gesetzt. Mit gebotener Zurückhaltung und unter Verwendung von multi-dimensionalen Indikatoren der Marginalität lassen sich aber ihre Erscheinungsformen und Verteilung grob abbilden. Graw und Husmann (2014) legen eine mehrdimensionale Kartierung von Marginalität vor und identifizieren Marginalitäts-Hotspots, auf der Basis ausgewählter Indikatoren auf subnationaler Ebene. Damit liefern sie eine erste Abbildung der globalen Marginalitätsgeographie (Abb. 2). Abbildung 2: Weltkarte der Dimensionen von Marginalität
Quelle: Graw und Husmann, 2014
Die Kartierung fügt fünf Dimensionen der Marginalität zusammen und erfasst Standorte, in denen mehrere dieser Dimensionen zugleich auftreten und damit die Marginalität vertieft erscheinen lassen (in Abb. 2 dunkler schattiert): 95 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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1. Einkommenssituation des Landes (Pro-Kopf-Einkommen) 2. Gesundheits- und Ernährungssituation (Kleinwüchsigkeit von Kindern unter 5 Jahren) 3. Infrastruktursituation (Wegezeiten zu größeren Marktorten über 10 Stunden) 4. Ökologische Bedingungen (wenig fruchtbare Böden) 5. Regierungsführung (Qualität des Governance gering) Die Kartierung zeigt erhebliche Unterschiede im Ausmaß der mit diesen Indikatoren erfassten Dimensionen der Marginalität. Verwiesen sei nicht nur auf besonders dunkel schattierte Regionen, sondern auch auf die weniger stark indizierte Marginalität innerhalb Ostasiens (z. B. Vietnam), Südasiens (z. B. Südindien, Sri Lanka) und Afrikas (Teile Ost- und Westafrikas).
Ultra-Armut Ahmed et al. (2014) verfolgen eine vertiefte globale Sicht unterhalb der Armutsgrenze und lokalisieren die Ultra-Armen der Welt (weniger als 0,50 US$ pro Kopf und Tag), die sämtlich zu den Marginalisierten gezählt werden können. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Verringerung der Armut in der Gruppe, die relativ nah unter der Armutsgrenze von US$ 1.25 pro Tag pro Kopf liegen, und den Ultra-Armen, die weit unter dieser Armutsgrenze liegen, ähnlich erfolgreich war. Wie Ahmed et al. (2014) zeigen, lebten 2008 rund 234 Millionen Menschen von weniger als US $ 0.50 pro Tag. Regional betrachtet war der Fortschritt in der Reduzierung der Ultra-Armut jedoch uneinheitlich. Während die Zahlen der extrem Armen in Ostasien/Pazifik und in Südasien zurückgingen, waren die Fortschritte in Afrika südlich der Sahara sehr begrenzt. Die Ärmsten und Hungernden haben oft den Anschluss verpasst. Sie haben keine effektive politische oder gesellschaftliche Stimme, partizipieren weniger in der Marktwirtschaft (Grant und Shepherd 2008), und die konventionelle Armutsbekämpfung und Entwicklungsprogramme erreichen sie wenig. 96 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Zusammenfassend kann zu den Ultra-Armen festgestellt werden (Ahmed et al 2007; von Braun et al. 2009): • Mehr als drei Viertel der Personen, die von weniger als US $ 0.50 pro Tag leben, leben in Afrika südlich der Sahara und Südasien. Der Anteil der Armen in dieser Region nimmt zu. • Armut und ausgedehnter Hunger verbleiben auch noch in Regionen, die rasches Wirtschaftswachstum und eine erhebliche Reduzierung der Armut erlebt haben. • Obwohl die Anzahl der städtischen Armen schnell steigt, sind die Armen immer noch überwiegend ländlich. Die Verringerung der Armut ist in vielen Ländern eng mit der Entwicklung der Landwirtschaft verbunden. • Armuts- und Hungerbekämpfung ist langsamer in den ärmsten und am meisten ausgegrenzten Gruppen – ethnische Minderheiten, benachteiligte und behinderte Menschen – erfolgt. Darüber hinaus sind arme Frauen und Kinder besonders anfällig für die langfristigen Auswirkungen von Armut und Hunger. Obwohl die Gesamtzahl der Menschen, die arm sind, sich kaum verändert hat, verbirgt diese Konstanz erhebliche Bewegungen in die und aus der Armut heraus sowie die Veränderung der relativen Arbeitsquote durch das Bevölkerungswachstum. Manche Menschen über einer Armutsgrenze sind anfällig für Armut, und andere unterhalb dieser Schwelle können ihr entkommen. Die, die weit unter einer Armutsgrenze (d. h. die Ultra- Armen) leben, werden ohne spezifische Programme dort langfristiger verbleiben (Ahmed et al. 2014).
Sozial-psychologische Dimension der Marginalität Kumar (2014) fügt der Marginalität eine weitere Dimension hinzu, indem sie eine psychologische Sichtweise auf Bindungstraumatisierung einbezieht. Solche Traumatisierung führt zu Scham und sich ständig selbst-erneuernder Marginalität. Die Erfahrungen mit der sozialen Marginalität im Leben von jungen Mädchen 97 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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aus dem indischen Bundesstaat Gujarat unterstreichen, wie sehr sichere zwischenmenschliche Beziehungen helfen, primäre Fähigkeiten herauszubilden, die direkten Einfluss auf das Identitätsgefühl und die Freiheit des Individuums haben. Unsichere zwischenmenschliche und emotionale Bindungen, insbesondere Ablehnung, können schweren Hemmungen in der Persönlichkeitsentwicklung und eine Anhäufung von Scham, Selbstzweifel und geringer Aspiration hervorrufen. Kumar untersucht, wie die Psyche durch wiederholte Erfahrungen von sozialer Marginalisierung in Form von familiärer Ablehnung verletzt wird, wie Scham zu einem bleibenden Gefühl wird und dadurch weitere Zweifel, Entrechtung und Entfremdung hervorruft, die das Leben der befragten Mädchen durchdringen. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, ist offenbar ein wesentlich umfassenderer Ansatz der De-Marginalisierung erforderlich.
Ökonomik der Marginalität Die Ökonomik der Marginalität ist engstens mit der Gestaltung und den (Fehl-)Designs von Institutionen verbunden. Institutionen bestehen aus Eigentumsrechten, die die Kosten-Nutzen-Ströme des Ressourcenverbrauchs festlegen, sie gewähren Zugang zur Nutzung von Ressourcen und garantieren langfristige Nutzungsrechte, und aufgrund dieser Funktionen werden Investitionsanreize in Land und andere Formen von Kapital attraktiver. Systeme von informellen und formellen Regeln, die vornehmlich Freiheiten einschränken, kennzeichnen dagegen Institutionen der Marginalisierung und resultieren in einem begrenzten Zugang zu Rechten und Ressourcen. Sogenannte „limited access orders“ (North et al. 2009) erhalten sich selbst, indem sie Ressourcen von Anderen und der Umwelt entnehmen (Acemoglu und Robinson 2012). Dadurch werden menschliches und natürliches Kapital verschwendet und Kreativität, Wettbewerb, Innovation und Unternehmergeist bleiben ungenutzt. Institutionelle Umgebun98 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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gen, die integrativer sind, werden auch neue Wege für Märkte, Regierungen und kollektive Maßnahmen zur Verringerung der Armut schaffen.
5. (De-)Marginalisierung in einigen Ländern Afrikas und Asiens und Rollen der Zivilgesellschaft „De-Marginalisierung“, sich aus Marginalität zu befreien oder befreit zu werden, erfordert, Hindernisse für Zugang, Austausch und Kommunikation zu überwinden und es den Marginalisierten zu ermöglichen, ihre Existenz „am Rande“ zu verlassen. Je nach Bedingungen können dies Maßnahmen wie die Schaffung physischer Infrastruktur oder institutionelle Regelungen sein. Marginalität im ländlichen Indien beinhaltet u. a. die Zugehörigkeit zu bestimmten Ethnien, Kasten und Religionsgemeinschaften (von Braun und Thorat 2014). Ländliche selbständige Haushalte verfügen über höhere Einkommen als Lohnarbeiter in allen Kasten, ethnischen und religiösen Gruppen. Im Allgemeinen reduzierte sich die Armut in den vergangenen Jahrzehnten langsamer bei Minderheiten und Muslimen. Die großen landesweiten Programme Indiens zur Reduzierung ökonomischer Marginalität sind das öffentliche Lebensmittelsubventionsprogramm, ein ländliches Beschäftigungsprogramm sowie Maßnahmen zur Überwindung von Exklusion (von Braun und Thorat, 2014). Marginalität kommt vor allem in der verbreiteten Unterernährung von Kindern und in der mangelnden Teilhabe von Frauen zum Ausdruck. Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen für die De-Marginalisierung in Indien eine wichtige Rolle. Die Organisationen der Dalit („Unberührbaren“) und die Durchsetzung der Rechte zum Zugang zu staatlichen Informationen sind hier zu nennen. Chinas Erfolge bei der Bewältigung extremer Armut und Marginalität sind in den vergangenen 30 Jahren besonders beachtlich. Ethnische Minderheiten haben einen besonderen Status. Die Entwicklung der Strategien zur Minderung von extremer Armut und 99 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Marginalität, vor allem in ländlichen Gebieten ist eng mit Chinas Wirtschaftswachstum verbunden, aber regionale Ungleichheiten blieben groß. Zur Linderung der extremen Armut erweiterte die chinesische Regierung die Garantie für einen Mindestlebensunterhalt (Di Bao Programm) auf den gesamten ländlichen Raum und bemüht sich um die ländliche sozioökonomische Entwicklung. In den entwickelten Regionen des Landes haben das Di Bao Programm, Sozialversicherung und öffentliche Dienstleistungen extreme Armut effektiv verringert. Zhu (2014) analysiert politische Maßnahmen, die eingeführt wurden, und Änderungen, die noch benötigt werden, insbesondere in den ländlichen Gebieten Westchinas. Der Übergang des Di Bao von einem Nothilfeund Grundbedürfnisprogramm zu einem ausgereiften sozialen Sicherungssystem schreitet fort. Maßnahmen zielen zunehmend auf die spezifischen Schwierigkeiten der extrem armen Haushalte und Einzelpersonen ab. Auch in Bangladesch ist Marginalität durch zivilgesellschaftliche Organisationen vermindert worden. Ein wichtiges Beispiel ist das Programm „Challenging the Frontiers of Poverty Reduction“ (CFPR), das von der Nichtregierungsorganisation BRAC konzipiert und verwaltet wird (Ahmed 2014). BRAC erkannte, dass bestehende Programme versäumt hatten, die Bedürfnisse der Ultra-Armen in Betracht zu ziehen, sei es, weil sie keinen Zugang zu Mikrokrediten hatten oder weil die notwendige Bildung oder andere Voraussetzungen für ein produktives Engagement fehlten. Das Programmziel besteht demnach darin, die Teilnehmenden innerhalb von zwei Jahren aus extremer Armut zu befreien und ihren Einstieg in die allgemeinen Entwicklungsprogramme zu erleichtern. Dieses Programm kombiniert Maßnahmen, die speziell auf die extrem Armen zugeschnitten sind und ein günstigeres Umfeld für sie schaffen. Entscheidend zur De-Marginalisierung haben aber auch staatliche Bildungsprogramme beigetragen, die zum Teil mit Food- oder Cash-Subventionen vermehrt Mädchen in die Schule gebracht haben. Zudem hat die ländliche Elektrifizierung die Beschäftigungsmöglichkeiten der extrem Armen verbessert. 100 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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In Äthiopien hat sich Marginalität ausgehend von einem besonders hohen Ausmaß in den 1980er Jahren in den vergangenen Jahrzehnten deutlich reduziert (Admassie und Adebaw 2014). Die Förderung der landwirtschaftlichen Entwicklung spielte eine entscheidende Rolle für die Abnahme der Marginalität. Sie besteht aber weiterhin vor allem unter den am meisten sozial ausgegrenzten Gruppen im ländlichen Äthiopien fort. Daher werden noch erhebliche Anstrengungen benötigt, um einen gerechteren Zugang zu wirtschaftlichen Chancen und Dienstleistungen zu ermöglichen. Beschäftigungsprogramme und Ernährungshilfen – sog. produktive soziale Sicherungsprogramme – müssen weiterhin eine wichtige Rolle in der Politik für die De-Marginalisierung spielen.
6. De-Marginalisierung durch Geschäftsmodelle von Unternehmen De-Marginalisierung ist nicht nur eine Frage für staatliche Politik und Zivilgesellschaft, sondern auch ein Thema, das von Unternehmen aufgenommen wird. Die Chancen der Einbeziehung des „unteren Endes der Pyramide“ („Bottom of the pyramid“), d. h. die latente Nachfrage der Armen als Geschäftsmodell, wird heute allgemein anerkannt (Prahalad 2004). Innovative Geschäftsansätze bieten neue Möglichkeiten, extreme Armut zu reduzieren, und es gibt vielversprechende Initiativen zur Überwindung von Marginalität mit Hilfe von inklusiven Geschäftsmodellen. Eine solche neue Initiative von inklusiven Geschäftsansätzen ist „Creating Shared Value“ (CSV), was bedeutet, dass Unternehmen bei unternehmerischen Entscheidungen über zukünftige Produkte und Unternehmensbeteiligungen in Betracht ziehen, welche langfristigen Werte für die Gesellschaft, und nicht nur für die Aktionäre, geschaffen werden können. Während Steuererleichterungen ein beliebtes Werkzeug sind und von Regierungen genutzt werden, um ausländische Direktinvestitionen in bestimmte Regionen oder Sektoren zu leiten, haben diese Anreize oft wenig Einfluss 101 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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auf die Entscheidungen der Investoren (Baumüller et.al. 2011). Indirekte Ansätze für inklusive Geschäftsmodelle und die Bildung von „shared value“, die die extrem Armen erreichen, können von Bedeutung sein zum Beispiel für Infrastrukturinvestitionen in Randgebieten oder den Zugang zu verbessertem Saatgut, Nutztieren, Gesundheitsdiensten und Lebensmitteln.
7. Schlussfolgerungen Das Marginalitätskonzept verdeutlicht die potentiellen Rollen der Akteure, auch die der Marginalisierten selbst. Nicht nur zu fragen: „Wer ist arm?“, sondern zu fragen: „Wer ist marginalisiert und wodurch?“, stellt Menschen und Gemeinschaften in den Mittelpunkt der institutionellen Umgebung, in der sie handeln. Dies kann zu nachhaltigeren Schwerpunkten in Programmen und Politik beitragen. Marginalität scheint schwer rückgängig zu machen zu sein, wenn einmal komplexe, möglicherweise auch historisch gewachsene diesen Zustand geschaffen haben und die Marginalisierten selbst sich mit der Situation abgefunden haben. Sobald die Bereiche, in denen Marginalität möglicherweise verwurzelt ist, zumindest identifiziert sind, können sie aber besser in Angriff genommen werden. Beispiele für solche Bereiche sind das Fehlen von Rechten (z. B. aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, Behinderung) oder die spezifische Emotions- und Motivationslage sowie die besonderen Verhaltensweisen von Menschen, die lange diskriminiert wurden, der fehlende Zugang zu Dienstleistungen oder Technologien oder eine schlecht konzipierte makroökonomische Politik, die sich negativ auf bestimmte Segmente des Arbeitsmarktes auswirkt. Die zeitlichen Dimensionen potentieller Änderung von Ursachen, die Marginalität beeinflussen, müssen beachtet werden. Die marginalisierten Armen haben keine Zeit zu verlieren. Das Bewusstsein ihrer relativen Benachteiligung (Deprivation) steigt, und dies ist eine Quelle von Aggression. 102 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze
Marginalität zu verringern sollte ein explizites Ziel sein. Wenn der Schwerpunkt nur auf die Überwindung der extremen Einkommensarmut gelegt wird, werden andere wichtige Dimensionen von Marginalität verkannt. Das Ziel der Überwindung der Armut bis 2030 gemäß der Nachhaltigen Entwicklungsziele der UN wird sich nur dann effektiv erreichen lassen, wenn auch Marginalität überwunden wird. Dafür ist es erforderlich, dass Randgruppen mehr Stimme bekommen. Aufgrund der eng miteinander verbundenen Variablen, die Marginalität in sozial-ökologischen Systemen darstellen, sind kohärente Maßnahmen notwendig (Bromley 2012). Punktuelle „optimale“ Lösungen in einem engen wirtschaftlichen Konzept erzeugen oft mehr Probleme als Lösungen, da sie nicht dafür geeignet sind, die komplexen Strukturen von Marginalität zu entwirren (Higgs 1996; Scott 1998; Wilson 2002; Ostrom 2007). Für viele der extrem armen Marginalisierten ist es erforderlich, die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen, die zur De-Marginalisierung beitragen. Die Schwierigkeiten, arme Randgruppen zu erreichen, werden häufig durch eine physische (abgelegene Umgebung) und soziale (diskriminiert, ohne Zugang zu Chancen) Kluft erklärt, können aber auch auf einen Mangel an Infrastruktur zurückzuführen sein. Randgebiete können durch Investitionen in Technologie und Infrastruktur transformiert werden. Das Potential der Dezentralisierung zur Stärkung lokaler Dienstleistungen, um Marginalität zu überwinden, ist in vielen Ländern noch nicht ausreichend genutzt (Birner und von Braun, 2015). Die Grundbausteine für gute Regierungsführung, Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und die Möglichkeit, die staatlichen Investitionen und den damit zusammenhängenden Geldfluss zu verfolgen, bleiben dabei wichtig. Marginalität sollte mehr in den Mittelpunkt der nationalen und internationalen Politik rücken, um über Inklusion eine nachhaltige Armutsbekämpfung zu erreichen. Ökonomische und ökologische Ansätze sollten zusammenkommen, um Marginalitätsmuster umfassend zu identifizieren und zu überwinden.
103 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Marginalität – internationale Dimensionen und Lösungsansätze
Zohir S (2014) Exclusion and Initiatives to ‚Include‘ : Revisiting Basic Economics to Guide Development Practice. In von Braun J, Gatzweiler F (eds.) Marginality – Addressing the Nexus of Poverty, Exclusion and Ecology. Springer Netherlands. http://link.springer.com/book/10.1007%2F978-94-007-7061-4 Zhu L (2014) Addressing Extreme Poverty and Marginality: Experiences in Rural China In von Braun J, Gatzweiler F (eds.) Marginality – Addressing the Nexus of Poverty, Exclusion and Ecology. Springer Netherlands. 239–255. http:// link.springer.com/book/10.1007%2F978-94-007-7061-4
107 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Dicksein – als „Objektivierung“ der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung Das Recht darauf, anders zu essen und anders auszusehen Eva Barlösius Das Recht auf Nahrung umfasst mehrere Dimensionen: die Verfügbarkeit von Nahrung, den Zugang zu Nahrung, die Angemessenheit der Nahrung – wozu gehört, sich so ernähren zu können, dass damit keine sozialen und kulturellen Abwertungen einhergehen. Dass das Recht auf Nahrung, obwohl es die Grundlage des Lebens sichert, erst so spät – 1976 – völkerrechtlich verankert wurde, erklärt sich wesentlich aus der starken Verflechtung von Nahrung und Macht. Nahrung ist Resultat von Machtverhältnissen und wird gleichfalls zur Verdeutlichung und Durchsetzung von Machtverhältnissen genutzt. Beinahe das ganze Spektrum von Machtungleichheiten reflektiert sich in der Art und Weise, wie Nahrung zugeteilt wird, welche Ernährungsweisen auf- oder abgewertet und wie Vorschriften oder Maßregelungen über Nahrung durchgesetzt werden. Anhand der Zuteilung von Nahrung, der Auf- und Abwertungen von Speisen sowie der Durchsetzung von Ernährungsregeln und -pflichten lassen sich Machtungleichgewichte ablesen. Zur Ausformulierung des Rechts auf Nahrung gehören die Bestimmung der verschiedenen Dimensionen sowie die Festlegung der umfänglichen Bandbreite von physischen, ökonomischen, sozialen bis hin zu kulturellen Aspekten des Essens. Es handelt sich um ein komplexes Gefüge von Anerkennungen und Ansprüchen wie auch die Machtausübung durch Nahrung äußerst komplex ist. Im Weiteren soll eine Form der Machtausübung mittels Essen untersucht werden: die Durchsetzung der gesellschaftlichen Ordnung und die Herstellung von Konformität. 108 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Dicksein – als „Objektivierung“ der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung
1. Formen der Machtausübung Nahrungsentzug stellt gewiss die gewalttätigste Form der Machtausübung mittels Nahrung dar. Aber auch eine physiologisch einwandfreie Versorgung, jedoch mit kulturell und sozial abgewerteten Lebensmitteln, wirkt machtvoll. Margret Mead hat dies für die Lebensmittelversorgung nach Kriegen durch Besatzungsmächte gezeigt. Um die Bevölkerung des unterlegenen Landes für sich zu gewinnen, sind solche Lebensmittel zu verteilen, die in dem besetzten Land kulturell und sozial geschätzt werden. Ansonsten würde die Bevölkerung die zugeteilte Nahrung als weitere Demütigung erleben. 1 Eine andere Form der Machtausübung mittels Nahrung besteht darin, Essstile und Küchen kulturell auf- oder abzuwerten und solche Wertschätzungen und Herabsetzungen zur Herstellung und Rechtfertigung sozialer Bevorzugungen oder Benachteiligungen heranzuziehen. So gelten die verschiedenen Essstile und Küchen nicht nur als Ausdruck und Ergebnis kultureller Vielfalt; sie bilden eine kulinarische Hierarchie, die wiederum eng mit der sozialstrukturellen Hierarchie korrespondiert. 2 Beispiele dafür sind die Unterscheidung in bürgerliche und proletarische Küchen, in nationale Küchen mit großem Ansehen und solche, die mit Arbeitsmigration verbunden sind und denen selten kulturelle Anerkennung gezollt wird. In seiner Studie Distinction: A Social Critique of the Judgement of Taste hat Pierre Bourdieu gezeigt, dass hierbei der Geschmack zum Generator kultureller und sozialer Differenz wird. 3 Aus diesem gesellschaftlichen Gebrauch des Ge-
1
Margaret Mead, Food and Feeding in Occupied Territory, in: The Public Opinion Quarterly 7, 4, (1943), 618–628. 2 Vgl. Eva Barlösius, Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, 2., völlig überarbeitete Auflage, Weinheim 2011, S. 162–171. 3 Pierre Bourdieu, Distinction: A Social Critique of the Judgement of Taste, London 1984.
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Eva Barlösius
schmacks resultieren jene Beurteilungsprozesse – konkret: kulturelle Auf- und Abwertungen von Essstilen und Küchen –, die sich mit sozialstrukturellen Ungleichheiten verschränken. Die „Macht des Geschmacks“ besteht darin, Differenzen zu markieren und Ungleichheiten zu schaffen und zu rechtfertigen. Eine weitere Form der Machtausübung besteht darin, statt mit dem Geschmack mit „gut“ oder „schlecht“ zu argumentieren und auf diese Weise zu begründen, welche Regeln und Vorschriften bei der Ernährung zu beachten und welche Maßregelungen bei Nichteinhaltung zu erwarten und als legitim anerkannt sind. 4 Bei der Unterscheidung in „gut“ oder „schlecht“ konzentriert sich die Machtausübung darauf, eine bestimmte Ordnung des Essens gesellschaftlich verbindlich durchzusetzen und Übereinstimmungen mit bzw. Abweichungen von dieser zu honorieren oder anzuprangern. Diese Form der Machtausübung durch Nahrung lässt sich besonders prägnant anhand der Art und Weise beobachten, wie moralischen Vorschriften für die Ernährung – der Essmoral – Geltung und gesellschaftliche Verbindlichkeit verschafft werden. Die fundamentalen Gebote der Essmoral, wie das Teilen der Nahrung, reichen weit über die Ordnung des Essens hinaus. Sie sprechen zugleich, teilweise sogar vorwiegend, zentrale Aspekte der gesellschaftlichen Ordnung an. So entsprechen die moralischen Vorgaben über eine gerechte Verteilung der Nahrung häufig gesellschaftlichen Übereinkünften über soziale Gerechtigkeit. Dass wesentliche Teile der Essmoral mit den Erwartungen an die gesellschaftliche Ordnung übereinstimmen, ist kein Zufall. Schließlich gilt „die Tischordnung“ als das „Urmodell der Kultur schlechthin“, und es besteht Einigkeit darüber, dass „das soziale Gefüge zusammen mit der Distribution der Nahrung entstanden“ ist. 5
4
Barlösius, Soziologie des Essens, 273–295. Gerhard J. Baudy, Hierarchie oder: Die Verteilung des Fleisches, in: Neue Ansätze in der Religionswissenschaft, hg. v. B. Gladegow / H. G. Krippenberg, München 1983, 131–174, hier 134.
5
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Dicksein – als „Objektivierung“ der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung
„Eßregeln sind soziale Regeln par excellence“: Sie tragen wesentlich zur „Aufrechterhaltung einer sozialen Ordnung“ bei. 6 Im Weiteren soll die letzte Form der Machtausübung – einer bestimmten Ordnung des Essens gesellschaftliche Verbindlichkeit zu verschaffen – im Zentrum stehen. Dabei interessiert besonders, wie die Vorschriften und Normierungen des Essens in die gesellschaftliche Ordnung hineinwirken und, umgekehrt, wie Regeln der gesellschaftlichen Ordnung mittels Essregeln artikuliert und durchgesetzt werden. Sofern die Ordnungen mit Wissen begründet werden, 7 tritt in der Regel an die Stelle der Unterscheidung in „gut“ und „schlecht“ die von „richtig“ und „falsch“. In Gegenwartsgesellschaften, 8 in denen beinahe einzig wissenschaftliches Wissen legitime Geltung beanspruchen kann, wird als „gut“ eine Ernährung anerkannt, die gesundheits- bzw. ernährungswissenschaftlich hergeleitet ist. 9 Eine solche Ernährung gilt als „richtig“. Die Wirkungsweise dieser Form der Machtausübung kann anhand vieler Beispiele untersucht werden: dem Vegetarismus oder Veganismus, der ökologischen bzw. biologischen Ernährung oder einer Küche, die gänzlich auf stark verarbeitete Lebensmittel verzichtet, z. B. auf Convenience- oder Ready-to-eat-Produkte. Bei diesen Beispielen liegt jedoch der Fokus darauf, zu analysieren, wie bestimmte gesellschaftliche Gruppen darauf zielen, eine Neuordnung des Essens durchzusetzen und diese mit gesellschaftlichen Honorierungen auszustatten. Das Zusammenwirken der Ordnung des Essens mit der gesellschaftlichen Ordnung lässt sich jedoch am besten anhand von Abweichungen und Sanktionierungen studieren. Dies gilt ganz allgemein für soziale Regeln und die
6
Klaus Eder, Die Vergesellschaftung der Natur. Studien zur sozialen Evolution der praktischen Vernunft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, 107. 7 Vgl. Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Die Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M. 1987. 8 Damit sind beinahe alle spätindustriellen, insbesondere die europäischen und nordamerikanischen Gesellschaften gemeint. 9 Vgl. Abigail C. Saguy, What’s with Fat?, Oxford 2013.
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Durchsetzung sozialer Ordnung. 10 Die in ihnen enthaltenen Machtpotentiale entfalten sich in Fällen von tatsächlicher oder unterstellter Übertretung und Missachtung am deutlichsten. In den Gegenwartsgesellschaften gehört Dicksein 11 zu jenen Phänomenen, die einerseits als Ergebnis „falscher“ Ernährung und damit als Missachtung der Ordnung des Essens betrachtet werden und die andererseits als Zeichen sozialer Abweichung von zentralen Obligationen der gesellschaftlichen Ordnung – wie Selbstdisziplin und Leistungsorientierung – bewertet werden. Vermutlich gibt es kein vergleichbares Phänomen, das gesellschaftlich, politisch, medial und nicht zuletzt wissenschaftlich ähnlich umfangreich beobachtet und skandalisiert wird (vgl. Barlösius 2014). 12 Dabei handelt es sich um Beobachtungen und oft um Skandalisierungen vermeintlicher Übertretungen und Missachtungen der „richtigen“, sprich „gesunden“ Ernährung und gesellschaftlicher Regeln, beispielsweise Selbstkontrolle zu üben und Leistungsbereitschaft zu demonstrieren. Ein „dicker“ Körper wird dabei als Objektivierung von Abweichung interpretiert. 13
10
Vgl. Émile Durkheim, Les règles de la méthode sociologique, Paris 1895/ 1950. 11 Ich spreche von „Dicksein“, „Dickeren“, „dicker werden“, „etwas dicker“, weil im Weiteren Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt mit „dickeren“ Jugendlichen vorgestellt werden. In dem Projekt haben die Jugendlichen diese Worte verwendet, wenn sie von sich selbst sprachen. Ich übernehme ihren Sprachgebrauch in der Hoffnung, dass diese Begriffe eine möglichst geringe Abwertung in sich tragen. 12 Vgl. Eva Barlösius, Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt, Frankfurt/M. 2014. 13 Hierin scheint auf, dass der Körper zum Ausweis all dessen wurde, was mit einem „guten Leben“ assoziiert wird. Vgl. Mike Featherstone, The Body in Consumer Culture, in: The Body. Social Process and Cultural Theory, hg. v. M. Featherstone / M. Hepworth / B. S. Turner, London 1991, 170–195, hier 186.
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Dicksein – als „Objektivierung“ der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung
2. Warum das Konzept der Stigmatisierung nicht ausreicht Schaut man die unzähligen Untersuchungen über die gesellschaftlichen Umgangsweisen mit jenen Personen an, die als zu dick betrachtet werden, dann stellt man schnell fest, dass ein großer Teil von ihnen die gesellschaftlichen Erfahrungen vor allem als Stigmatisierung identifiziert. 14 Diese Studien belegen, dass Dicken vorgehalten wird, die geltenden Normen und Werte abzulehnen, kollektive moralische Überzeugungen nicht zu teilen und gesellschaftliche Erwartungen wie Selbstdisziplin und Selbstbestimmung nicht zu erfüllen. 15 Stigmatisierungen finden insbesondere in der Erwerbsarbeit, in einigen Medienformaten und in bestimmten Situationen im Gesundheitswesen statt, seltener und weniger stark sind sie in der Schule und der Ausbildung verbreitet. 16 Allerdings assoziieren bereits Kinder im Alter von sechs bis sieben Jahren mit Dicksein negative Charaktereigenschaften, 14
In ihrem Überblicksaufsatz haben Puhl/Heuer bereits im Jahr 2009 mehr als 200 Publikationen gesichtet; siehe Rebecca M. Puhl / Chelsea A. Heuer, The Stigma of Obesity: A Review and Update, in: Obesity 17, 5 (2009), 941–964. Weitere wichtige Studien sind: Tatiana Andreyeva / Rebecca M. Puhl / Kelly D. Brownell, Changes in Perceived Weight Discrimination among Americans, 1995–1996 through 2004–2006, in: Obesity 16, 5 (2008), 1129–1134; Regina F. Bento / Lourdes F. White / Susan R. Zacur, The Stigma of Obesity and Discrimination in Performance Appraisal: A Theoretical Model, in: The International Journal of Human Resource Management 23, 15 (2012), 3196–3224; Leanne Joanisse / Anthony Synnott, Fighting Back. Reactions and Resistance to the Stigma of Obesity, in: Interpreting Weight. The Social Management of Fatness and Thinness, hg. v. D. Maurer / J. S. Hawthorne, New York 1999, 49–72; Sophie Lewis et al., How Do Obese Individuals Perceive and Respond to the Different Types of Obesity Stigma that They Encounter in Their Daily Lives? A Qualitative Study, in: Social Science & Medicine 73, 9 (2011), 1349–1356; Dianne Neumark-Sztainer et al., Weight-teasing among Adolescents: Correlations with Weight Status and Disordered Eating Behaviors, in: International Journal of Obesity 26, 1 (2002), 123–131. 15 Nancy E. Adler / Judith Stewart, Reducing Obesity: Motivating Action while Not Blaming the Victim, in: The Milbank Quarterly 87, 1 (2009), 49–70, hier 51. 16 Puhl/Heuer, Stigma of Obesity.
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auch solche, die in keinem Zusammenhang mit dem Gewicht stehen. 17 Sogar Vorschulkinder im Alter von drei Jahren erzählen abwertende Geschichten über dickliche und dicke Kinder. Sie schildern sie als faul, unattraktiv, unglücklich, unbeliebt, unfreundlich und schlampig. 18 Sie kennen und verwenden bereits die gesellschaftlichen Auf- und Abwertungen von Körpern. 19 Folglich erfahren schon kleine Kinder deutliche Stigmatisierungen. Solche Analysen von Prozessen der Stigmatisierung sind zweifellos wichtig, weil sie wesentliche Facetten des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Dicksein und jenen Personen, die als zu dick betrachtet werden, aufzeigen. Allerdings – dies ist die grundlegende These dieses Beitrags – reichen sie nicht aus, die Gänze der Machtausübung mittels der Durchsetzung einer Ordnung des Essens und, damit eng verschränkt, einer gesellschaftlichen Ordnung in den Blick nehmen zu können. Das Konzept der Stigmatisierung konzentriert sich auf die Herabwürdigungen, denen Menschen ausgesetzt sind, die als zu dick gelten, und darauf, wie sie auf diese reagieren. Reaktionen, Tätigkeiten und Handlungen, die scheinbar keinen direkten Bezug zu Stigmatisierung aufweisen, werden damit kaum untersucht. Der Grund dafür ist, dass die theoretischen Konzepte auf Vorannahmen darüber basieren, wo Stigmatisierungen stattfinden und was an diesen gesellschaftlich bedeutsam ist. Bei einer solchen 17
Irene Solbes / Iliesco Enesco, Explicit and Implicit Anti-fat Attitudes in Children and Their Relationships with Their Body Images, in: Obesity Facts 3, 1 (2010), 23–32; Allison James, Embodied Being(s), Understanding the Self and the Body in Childhood, in: The Body, Childhood and Society, hg. v. A. Prout, London 2000, 19–37; Petra Warschburger, Psychosoziale Faktoren der Adipositas in Kindheit und Adoleszenz, in: Handbuch Essstörungen und Adipositas, hg. v. S. Herpertz / M. de Zwaan / S. Zipfel, Berlin/Heidelberg 2008, 259–264. 18 Zitiert nach Wei Su / Aurelia Di Santo, Preschool Children’s Perceptions of Overweight Peers, in: Journal of Early Childhood Research 10, 1 (2012), 19– 31, hier 20. 19 Audrey L. MacNevin, Embodying Sociological Mindfulness: Learning about Social Inequality through the Body, in: Teaching Sociology 32, 3 (2004), 314– 321, hier 315.
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Betrachtungsweise werden einerseits weite Teile des Erlebens und Erfahrens von Dicksein unterschätzt, und andererseits werden die gesellschaftlich als zu dick behandelten Personen überwiegend daraufhin beobachtet, welchen Stigmatisierungen sie ausgesetzt sind. Dies fördert eine eher eindimensionale Sichtweise und verstärkt die Fokussierung auf solche Prozesse, denen eine gesellschaftliche Bedeutsamkeit beigemessen wird. So mögen beispielsweise für diejenigen, die sich gesellschaftlich als zu dick erfahren, die permanenten Zurechtweisungen durch die geschaffene physische Welt eine große Bedeutsamkeit besitzen, weil sich genau darin die Allgegenwärtigkeit des Phänomens besonders hartnäckig dokumentiert. Die expliziten Abwertungen in Schule und Ausbildung können dagegen für sie einen eher einmaligen Charakter besitzen, von denen sie sich möglicherweise leichter distanzieren können, zumal wenn es sich um gesellschaftlich nicht akzeptierte Formen der Abwertung handelt. Das Konzept der Stigmatisierung erfasst jedoch vorwiegend ausdrückliche Stigmatisierungen. Herabwürdigungen und Missbilligungen können bewusst oder unbewusst erfolgen. Oftmals sind sie schlicht vorhanden, das heißt ohne jegliches Hinzutun Dritter. Dies gilt insbesondere für die Art und Weise, wie die physische Welt eingerichtet ist, z. B. Sitz- und Kabinenbreite. 20 Daraus entsteht die Allgegenwärtigkeit des Dickseins: Die gesellschaftliche Betrachtung als zu dick wird als immer und überall gegenwärtig erlebt, und zwar unabhängig davon, was die so Betrachteten tun und wo sie sich befinden. Sie spüren die Allgegenwärtigkeit auch dann, wenn sie für nicht dicke Menschen überhaupt nicht präsent ist. Das Konzept der Stigmatisierung neigt jedoch dazu, den gesellschaftlichen Umgang mit dem Dicksein auf Reaktionen, Tätigkeiten und Handlungen zu reduzieren, die aus der Perspektive der als „normal“ behandelten Personen spürbare und sichtbare, sprich distinkte Qualität besit20
Kwan nennt dies „body priviledge“, s. Samantha Kwan, Navigating Public Spaces: Gender, Race, and Body Privilege in Everyday Life, in: Feminist Formations 22, 2 (2010), 144–166.
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zen. Pointiert formuliert: Die Distinktion zwischen „dick“ und „dünn“ rekonstruieren sie aus der Perspektive des Dünnseins, das heißt aus der Perspektive dessen, was gesellschaftlich als „normal“ betrachtet wird. Aus dieser Perspektive repräsentiert Dicksein „Abweichung“. Um dieses gesellschaftliche Geschehen – die gesellschaftliche Konstruktion der Differenz von „normal“ und „abweichend“ – angemessen erfassen zu können, ist ein Bezug auf die gesellschaftliche Ordnung als zentrales Konzept erforderlich. 21 Darüber wird es möglich, diese Form der Machtausübung in ihrer Gänze zu rekonstruieren. Insbesondere kann es so gelingen, nachzuvollziehen, warum dickere Menschen in Situationen, in denen ihnen nicht vorgehalten wird, nicht konform mit den Maßgaben der Ordnung des Essens und der gesellschaftlichen Ordnung zu sein, trotzdem so reagieren, als müssten sie sich dieser Vorhaltung erwehren.
3. Gesellschaftliche Ordnung und deren Legitimation: eine theoretische Rahmung Um zu einer theoretischen Rahmung zu gelangen, orientiere ich mich an der Theorie Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit von Peter L. Berger und Thomas Luckmann. 22 Nach Berger/Luckmann verschafft sich die gesellschaftliche Ordnung ganz unmittelbar in der Alltagswelt Geltung, indem „Unproblematisches“ von „Problematischem“ geschieden wird, also „Normales“ von „Abweichendem“ getrennt wird. Die gesellschaftliche Wirklichkeit tritt den Menschen nach Berger/Luckmann wie eine „objektive Wirklichkeit“ entgegen, woraus leicht der falsche Eindruck entstehen kann, es handele sich um eine Faktizität behauptende Charakterisierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mitnichten 21
Eigentlich ist ein weiterer Bezug erforderlich, der auf soziale Ungleichheiten, s. dazu Barlösius, Dicksein. 22 Berger/Luckmann, Konstruktion.
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wollen Berger/Luckmann den Begriff so verstanden wissen. „Objektiver“ Charakter haftet der gesellschaftlichen Wirklichkeit an, weil sie den Menschen als institutionale Ordnung entgegentritt und sie von ihnen als ein von außen kommendes, sie zwingendes Faktum erlebt wird. Um dieses zu verdeutlichen, sprechen Berger/ Luckmann davon, dass die „objektive Wirklichkeit“ aus „Objektivationen“ besteht, die zwei Eigenschaften besitzen. Erstens sind sie „Allgemeingut“ und damit prinzipiell allen Mitgliedern einer Gesellschaft vertraut, und zweitens weisen sie ein hohes Maß an sozialer Verbindlichkeit auf. Diese beiden Eigenschaften machen sie zu Institutionen, weshalb Berger/Luckmann zumeist von dem Ganzen der institutionalen Ordnung sprechen statt von der objektiven Wirklichkeit. Erst wenn die institutionale Ordnung Allgemeingut geworden ist und als verpflichtend wirkt, wird „es überhaupt möglich, von einer gesellschaftlichen Welt im Sinne einer in sich zusammenhängenden, gegebenen Wirklichkeit zu sprechen, die dem Menschen wie die Wirklichkeit der natürlichen Welt gegenübertritt“. 23 Dann besitzt sie für die Menschen eine „eigene Wirklichkeit“, die der Legitimation bedarf. 24 Mit anderen Worten: Die institutionale Welt braucht Erklärung und Rechtfertigung, bedarf also der Legitimierung. 25 Durch Legitimierung erhält die institutionale Ordnung eine „neue Sinnhaftigkeit“: Die bestehende gesellschaftliche Wirklichkeit wird gerechtfertigt und es wird erklärt, warum sie so und nicht anders ist. Die Prozesse der Legitimierung erstrecken sich auf die gesamte gesellschaftliche Wirklichkeit, wodurch „das Ganze einer institutionalen Ordnung“ „sinnhaft erscheint“. 26 Für den Einzelnen wird mittels der Legitimationen die gesellschaftliche Wirklichkeit „objektiv zu-
23 24 25 26
Ebd., 63. Ebd., 62. Vgl. ebd., 66. Vgl. ebd., 99.
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gänglich und subjektiv einsichtig“. 27 Genau dies ist eine gesellschaftliche Funktion der Legitimierung. 28 Diejenigen, die durch ihr Denken oder Handeln dokumentieren, dass ihnen die Legitimationen nicht „objektiv zugänglich“ und/oder nicht „subjektiv einsichtig“ sind, werden als „wirkliche oder potentielle Abweichler“ behandelt, die aus der offiziellen Wirklichkeitsbestimmung auszuscheren drohen. Ihnen begegnet die Gesellschaft nach Berger/Luckmann mit Therapie, um sie auf diese Weise wieder fester an die gesellschaftliche Ordnung zu binden. Therapien fußen nach Berger/Luckmann auf theoretischem Wissen, das eine „Theorie der Abweichung, eine diagnostische Methodik und ein theoretisches System der ‚Seelenheilung‘“ umfasst. 29 Therapien antworten auf die Nicht-Beachtung von Legitimationen und beruhen wie diese auf Wissensbeständen, die mit Werten durchwebt sind. Im Folgenden soll gefragt werden, wie sich Personen, die als zu dick gelten und gesellschaftlich entsprechend behandelt werden, zu den vorherrschenden Legitimationen positionieren. Dabei liegt das Augenmerk zum einen auf der Ordnung des Essens und zum anderen auf jenen gesellschaftlichen Legitimationen, für die gilt, dass ein „dicker Körper“ als objektivierte Abweichung bewertet wird. Zugespitzt formuliert: Objektviert sich in einem „dicken Körper“ eine Abweichung von der Ordnung des Essens und von der gesellschaftlichen Ordnung? Die Untersuchung umfasst entsprechend zwei Schritte: Erstens ist zu prüfen, ob den Menschen, die sich gesellschaftlich als zu dick erfahren, das Wissen über die „richtige Ernährung“ „objektiv zugänglich“ ist und sie sich diesem gegenüber „subjektiv einsichtig“ präsentieren. Zweitens ist zu fragen, ob diesen Personen die Sinnhaftigkeit der geltenden Legitimationen „objektiv 27
Ebd., 98. Neben dieser Funktion haben die Legitimationen die Aufgabe, dass der Einzelne seinen Lebenslauf als „subjektiv sinnhaft“ darstellen kann. 29 Ebd., 121. 28
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Dicksein – als „Objektivierung“ der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung
zugänglich“ ist und ob diese für sie „subjektiv einsichtig“ sind oder sie sich als Abweichler zu erkennen geben.
4. Das Forschungsprojekt: Dickere Jugendliche Die empirische Basis dieser Studie bildet ein größeres Forschungsprojekt über Dicksein bei Jugendlichen. 30 Für das Projekt wurden Jugendliche ausgewählt, weil für diese Altersgruppe typisch ist, dass sie sich aktiv und grundsätzlich mit der Alltagswelt auseinandersetzt; insbesondere die Differenz von „problematisch“ und „unproblematisch“ ist für sie virulent. Für diese Lebensphase ist weiterhin eine intensive Konfrontation mit den geltenden gesellschaftlichen Legitimierungen üblich, weshalb von den Jugendlichen deutliche Stellungnahmen hierzu zu erwarten sind. Hinzu kommt, dass die Jugendlichen, die an unserer Studie teilgenommen haben, aufgrund ihrer schulischen Ausbildung – die meisten besuchten die Haupt- oder die Förderschule – sich bereits mit dem Übergang von der Schule ins Erwerbsleben beschäftigten. Sie befanden sich in der Phase ihres Lebens, in der ihnen bewusst wurde, dass sie bald selbst für ihre gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe verantwortlich gemacht werden, weshalb es besonders interessant ist, zu erfahren, wie sie sich zu den geltenden Legitimationen positionieren. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden drei Erhebungen durchgeführt: Gruppendiskussionen mit dickeren Jugendlichen aus sozial benachteiligen Stadtteilen, Gruppendiskussionen mit Eltern übergewichtiger Kindern und ein World Café mit Experten und Expertinnen aus der Präventionspraxis. Hier werden nur 30
Dieser Studie liegt das BMBF-Forschungsprojekt „Verbesserung der Wirksamkeit der Adipositasprävention für sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche – zielgruppenspezifische Strategien zur Stärkung der gesundheitsbezogenen Ressourcen Ernährungs- und Bewegungsverantwortung“ (01EL0813) zugrunde. In dem Buch „Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaft bestimmt“ werden alle Ergebnisse vorgestellt, s. Barlösius, Dicksein.
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die Gruppendiskussionen mit den Jugendlichen verwendet; sie liegen als vollständige Transkripte vor. 31 Die Methode der Gruppendiskussion wurde gewählt, weil sie sich in besonderer Weise dazu eignet, kollektive Orientierungs- und Erfahrungsmuster wie Legitimationen zu erheben. 32 Der Leitfaden der Gruppendiskussionen begann mit Impulsen, die nach Berger/Luckmann zur „objektiven Wirklichkeit der Gesellschaft“ 33 gehören, wie gebräuchliche Typisierungen, Objektivationen der Alltagswelt und deren gesellschaftliche Legitimation. Die späteren Impulse zielten auf die subjektiven Stellungnahmen zu den Legitimationen und auf die Erwartungen an den zukünftigen Lebenslauf. Es wurden acht Gruppendiskussionen mit den Jugendlichen durchgeführt, an denen insgesamt 60 Mädchen und Jungen teilnahmen. Die Gruppen umfassten jeweils sechs bis zehn Jugendliche, und die Gespräche dauerten anderthalb bis zwei Stunden. Die Diskussionen waren aufgeteilt nach Geschlecht, Abstammung (deutsch oder türkisch) und nach zwei Altersgruppen (11– 13 Jahre und 14–16 Jahre). Die Jugendlichen wurden vorwiegend aus solchen Stadtteilen rekrutiert, die laut Sozialberichterstattung eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosen- und Hartz-IVEmpfängerquote haben, in denen Personen mit Migrationserfahrungen im Vergleich zu anderen Stadtteilen überrepräsentiert sind, die eine hohe Quote mit Wohnungen mit städtischem Belegungsrecht besaßen und in denen weitere Indikatoren für sozialräumliche Benachteiligung negative Werte aufwiesen. Diese sozialräumliche Rekrutierung sollte sicherstellen, dass an den Gruppendiskussionen Jugendliche aus sozial benachteiligten Fa31
Die Gruppendiskussionen wurden im Herbst 2009 durchgeführt. Ralf Bohnsack, Gruppendiskussionsverfahren und Milieuforschung, in: Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft, hg. v. B. Friebertshäuser / A. Prengel, Weinheim/München 1997, 492–502; Peter Loos / Burkhard Schäffer, Das Gruppendiskussionsverfahren, Opladen 2001; Serge Moscovici /Willem Doise, Dissensions et consensus. Une théorie générale des décisions collectives, Paris 1992. 33 Vgl. Berger/Luckmann, Konstruktion. 32
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Dicksein – als „Objektivierung“ der Abweichung von der gesellschaftlichen Ordnung
milien teilnahmen. Die Rekrutierung in den Stadteilen erfolgte über Flyer, die in den Schulen verteilt und in Institutionen der Jugend- und Kulturarbeit und der Gesundheitsförderung sowie bei Kinder- und Jugendärzten ausgelegt wurden. Der Flyer war übertitelt mit „Dicke Freunde?“. Die Zweideutigkeit erwies sich als sehr ansprechend. In dem Flyer wurden die beiden Begriffe „dick“ und „übergewichtig“ verwendet, allerdings ohne jegliche Präzisierung des Gewichts oder Körperumfangs. Teilnehmen sollten Jugendliche, die sich selbst als zu dick wahrnehmen. Dies entsprach der These des Projekts, dass Dicksein zuallererst eine gesellschaftliche Erfahrung ist. Dementsprechend wurden keinerlei medizinische Kriterien angelegt. Die Mehrzahl der Jugendlichen, die an den Gruppendiskussionen mitgewirkt haben, wird nach medizinischen Kriterien als übergewichtig und adipös klassifiziert werden, nur einige wenige als stark adipös. Ähnlich wurde mit der Zuordnung in deutsche oder türkische Herkunft verfahren. Die Jugendlichen haben sich selbst der einen oder anderen Gruppe zugeordnet, teilweise haben dies auch die Eltern bei der Anmeldung für die Jugendlichen getan. So gab es Jugendliche der zweiten und dritten Generation türkischer Migranten, die bei den „deutschen Gruppengesprächen“ mitgewirkt haben, und andere, die bei den „türkischen Gesprächsrunden“ anwesend waren. Hier werden jene Abschnitte der Gruppendiskussionen ausgewertet, die darauf zielten, dass sich die Jugendlichen zu den Legitimationen der gesellschaftlichen Ordnung und der des Essens äußern. Bezüglich dieser gab es keine Unterschiede nach Geschlecht, Herkunft oder Alter, weshalb die unterschiedlichen Zusammensetzungen der Gruppendiskussionen im Folgenden nicht weiter beachtet werden.
5. Das Schlaraffenland: die „verkehrte“ Welt Es ist keine triviale Frage, wie man Personen oder Gruppen, denen im gesellschaftlichen Umgang immer wieder direkt oder in121 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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direkt mitgeteilt wird, von den geltenden Legitimationen abzuweichen, danach befragen kann, wie sie sich zu diesen positionieren. Jede direkte Ansprache ist von normativen Erwartungen und sozialen Erwünschtheiten durchfärbt. Aus diesem Grund wurde als Impuls für die Gruppendiskussionen eine Erzählung ausgewählt, die eine ins Gegenteil verkehrte Welt schildert und die auf gegenteiligen Legitimationen aufbaut. Die Verkehrung sollte den dickeren Jugendlichen die Möglichkeit eröffnen, sich von gültigen Legitimationen zu distanzieren, ohne sich sogleich als abweichend zu exponieren. Ausgewählt wurde die Erzählung vom Schlaraffenland, die auf eine lange Geschichte zurückblickt und eine „populäre Utopie“ tradiert. 34 Das Märchen vom Schlaraffenland wird in vielen europäischen Ländern erzählt. 35 In den Niederlanden heißt dieses Traumland Luikkerland, in England Lubberland, auf Italienisch sagt man Cuccagna, in Spanien ist es als Cucaña und in Frankreich als Pays de Cocagne bekannt. Der erste schriftlich überlieferte Text stammt aus Frankreich aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Vom 13. bis zum 19. Jahrhundert wurde das Märchen vom Schlaraffenland in den meisten europäischen Ländern wieder und wieder und immer wieder neu erzählt. 36 Im 19. Jahrhundert haben die Gebrüder Grimm diese Erzählung für Kinder überarbeitet und in ihre Zusammenstellung der Kinder- und Hausmärchen aufgenommen. Ihre lange Geschichte und weite Verbreitung, die 34
Dieter Richter, Schlaraffenland. Geschichte einer populären Phantasie, Köln 1984. 35 Weitere Literatur über das Schlaraffenland als Sozialutopie: Hans-Jörg Gilomen, Das Schlaraffenland und andere Utopien im Mittelalter, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 104 (2004), 213–248; Caspar Gottschling, Der Staat von Schlaraffen-Land, Hannover 2007; Frederick B. Jonassen, Lucian’s Saturanlia, the Land of Cockaigne, and the Mummers’ Plays, in: Folklore 101, 1 (1990), 58–68; Frank H. Ross, An Interpretation of Land of Cockaigne (1567) by Pieter Breugel the Elder, in: The Sixteenth Century Journal 22, 2 (1991), 299–329. 36 Martin Müller, Das Schlaraffenland. Der Traum von Faulheit und Müßiggang, Wien 1984, 13.
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vielen textlichen Neufassungen und sprachlichen Überarbeitungen sind Indizien dafür, dass es sich bei der Erzählung vom Schlaraffenland um „eine Phantasie aller Epochen und Zeiten“ handelt. 37 Sie spricht alte Wünsche und Träume an, weshalb sie selbst von Personen, die mit der Geschichte inhaltlich nicht vertraut sind, verstanden wird, denn in ihr klingt etwas an, das den Charakter von „Allgemeingut“ besitzt. Aus diesem Grund wurde das Märchen vom Schlaraffenland als Impuls in den Gruppendiskussionen verwendet. 38 Das Besondere des Schlaraffenlands besteht in der Art und Weise, wie darin gemeinsam geteilte Wünsche und Träume präsentiert werden. Die Literatur- und Kulturwissenschaften identifizieren das Schlaraffenland als „verkehrte Welt“, weil es das Gegenteil von dem preist, was in der „realen Welt“ als erstrebenswert und legitim gilt. 39 Die „Umkehrung geltender Normen zieht sich durch fast alle Schlaraffenlandtexte“. 40 In dieser Welt sind Faulenzer, Nichtstuer und Müßiggänger willkommen. Mehr noch, im Schlaraffenland soll man faul sein, wer trotzdem fleißig ist und Arbeitseifer erkennen lässt, dem drohen Auspeitschung und Vertreibung aus der Traumwelt. Auch die soziale Hierarchie ist auf den Kopf gestellt: Je weniger man arbeitet und je dümmer man ist, umso höher steigt man in der sozialen Stufenleiter. Zum König wird der Allerdümmste und der Allerfaulste erwählt. 41
37
Herman Pleij, Der Traum vom Schlaraffenland. Mittelalterliche Phantasien vom vollkommenen Leben, Frankfurt/M. 1997, 444. 38 Cunha hat gezeigt, dass auch dann, wenn die Erzählung nicht bekannt ist, die darin enthaltenen Grundmotive verstanden werden, weil sie Analogien zur Gegenwart hervorruft, s. Miguel Pina E. Cunha, Dreaming of Cockaigne: Individual Fantasies of the Perfect Workplace, FEUNL Working Paper 414 (2002), 3. 39 Barlösius, Soziologie des Essens, 19–21; Richter, Schlaraffenland; Werner Wunderlich, Das Schlaraffenland in der deutschen Sprache und Literatur. Bibliographischer Überblick über den Forschungsstand, in: Fabula 27 (1986), 54–75; Pleij, Der Traum vom Schlaraffenland. 40 Wunderlich, Das Schlaraffenland in der deutschen Sprache, 65. 41 Müller, Das Schlaraffenland, 24.
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Die meisten Interpretationen sehen im Schlaraffenland ein „Gegen-Bild“ zu der sich „entwickelnden bürgerlichen Welt der Neuzeit“, vor allem zu ihrer Arbeitsideologie. 42 Auch die anderen bürgerlichen Tugenden wie Mäßigung, Vernunft und Zielgerichtetheit werden im Schlaraffenland persifliert. 43 Aus diesen Interpretationen leitet sich ein weiterer Grund her, das Schlaraffenland als Impuls in den Gruppendiskussionen einzusetzen. In der Erzählung werden jene Verhaltensweisen und Legitimationen karikiert, die auch in Gegenwartsgesellschaften als verbindlich gelten und bezüglich derer dickeren Menschen vorgeworfen wird, sie nicht zu beachten. So werden Dickere häufig als faul, leistungsschwach, unmäßig und ungerichtet in ihrer Zukunftsperspektive beschrieben (vgl. Abschnitt 2). Im Schlaraffenland werden dagegen diese Eigenschaften als besonders positiv bewertet, mehr noch, dort sind es die einzig legitimen Verhaltensweisen. Das Schlaraffenland präsentiert eine eigene, in sich geschlossene Sinnwelt, ein Geflecht von Legitimationen. Die Präsentation einer umgekehrten Sinnwelt sollte den Jugendlichen die Möglichkeit geben, zu den dort vertretenen Legitimationen Stellung zu nehmen, ohne sich sogleich zu den Rechtfertigungen und Erklärungen der „wirklichen“ Ordnung des Essens und der gesellschaftlichen Ordnung äußern zu müssen. In den Gruppendiskussionen wurde mit einer gekürzten Fassung der Geschichte vom Schlaraffenland für Kinder gearbeitet. Altertümliche wurden durch neuere Wörter ersetzt, um den Text auf die Sprachkenntnisse der Jugendlichen abzustimmen. Der märchenhafte Charakter blieb erhalten, um den Jugendlichen zu verdeutlichen, dass es sich um eine „Phantasiewelt“ handelt. Die methodologischen Überlegungen orientierten sich an den Ausführungen von Alfred Schütz/Thomas Luckmann zur „Phantasiewelt“. Gerade im Kontrast erscheinen „Phantasiewelt“ und Lebenswelt „eng
42 43
Richter, Schlaraffenland, 10 und 17. Wunderlich, Das Schlaraffenland in der deutschen Sprache, 67.
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miteinander verwandt“. 44 Märchen präsentieren nach ihnen geschlossene Sinnstrukturen und beinhalten deshalb ein eigenes Geflecht von Legitimationen. Im Gespräch über die Phantasiewelten – beim Phantasieren überhaupt – beginnen Menschen zu unterscheiden zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was fiktional ist, sie trennen die „Wirklichkeit“ von der Fiktion. Die Auseinandersetzung mit Phantasiewelten startet daher mit einem Gespräch über die „objektive gesellschaftliche Wirklichkeit“, darüber, was sie ausgezeichnet. Kontrastierende Phantasiewelten eignen sich deshalb besonders gut, Menschen dazu zu bringen, über die Legitimationen der „objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit“ zu sprechen. Die meisten Jugendlichen kannten die Erzählung vom Schlaraffenland nicht, einige wenige hatten eine sehr grobe Vorstellung davon. Obwohl den Jugendlichen das Märchen inhaltlich nicht bekannt war, verbanden sie mit dem Wort Schlaraffenland eine Traum- und Phantasiewelt. So begannen viele Jugendliche das Gespräch damit, dass sie zunächst das Schlaraffenland als Fiktion kennzeichneten. Danach malten sie sich aus, was es bedeuten würde, wenn diese Traum- und Phantasiewelt Wirklichkeit wäre. Einige Beispiele dafür: „Wenn es so ist wie es da beschrieben ist?“ (JT 14–16) 45 „Wenn es das jetzt eigentlich in Echt gäbe und […]“ (MD 11–13) „Aber wenn es das wirklich geben würde.“ (MD 14–16) 44
Alfred Schütz / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, 61. 45 Die Zitate stammen aus den Gruppendiskussionen. Einige wenige Zitate wurden zum Zweck der besseren Verständlichkeit sprachlich korrigiert. Selbstverständlich wurde an keiner Stelle in den Inhalt oder die Ausdrucksweise eingegriffen. Aus den Transkripten wird folgendermaßen zitiert: J steht für Junge, M für Mädchen, T für türkisch, D für deutsch und die Zahlen für die Altersangabe. In den Transkripten ist allen Teilnehmern ein Kennbuchstabe zugeordnet, um kenntlich zu machen, dass unterschiedliche Personen sprechen. Da für die Auswertung – bis auf einige Ausnahmen – nicht wichtig ist, von wem welche Aussage stammt, wurde wegen der besseren Lesbarkeit in der Regel der Kennbuchstabe
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Die Erzählung hat die Jugendlichen, wie intendiert, dazu bewegt, die dort erdachte gesellschaftliche Wirklichkeit mit der „wirklichen Wirklichkeit“ zu vergleichen, die Sinnhaftigkeit der Legitimationen beider miteinander in Beziehung zu setzen und ihre persönlichen Zustimmungen und Ablehnungen zu begründen.
6. Das Land, wo Milch und Honig fließen Der erste Teil der Geschichte vom Schlaraffenland berichtet von einem Land, in dem Überfluss an den begehrtesten Speisen herrscht und Völlerei willkommen ist. Diese Schilderung sollte die Jugendlichen dazu bringen, sich frei – jenseits der geltenden Ordnung des Essens – über ihre Vorlieben zu äußern. Im Schlaraffenland ist nicht nur Nahrung im Überfluss vorhanden, vor allem werden dort die Lebensmittel und Speisen ohne jegliche wertende Unterscheidung in „richtig“ oder „falsch“, in „gesund“ oder „ungesund“ präsentiert. Die Ordnung des Essens im Schlaraffenland basiert darauf, nach Lust und Laune zu speisen und es sich gut gehen zu lassen. Einzig dieses Verlangen wird im Schlaraffenland als legitim angesehen. Es verkehrt die Ordnung der Gegenwartsgesellschaften geradezu ins Gegenteil. Die geltende Ordnung des Essens ausführlich darzustellen würde hier den Rahmen sprengen. Einige markante Kennzeichen mögen hier zu ihrer Charakterisierung genügen: viel Obst und Gemüse, frische Lebensmittel, Vollkornprodukte, Mineralwasser statt Soft-Drinks, kaum Süßigkeiten, Fast Food nur ausnahmsweise. Der Impuls in den Gruppendiskussionen bestand aus der Passage, in der das Schlaraffenland als fernes und geheimnisvolles Land mit einer Überfülle an den wunderbarsten Speisen beschrieben wird: ein Land, wo die „Häuser aus Lebkuchen gebaut“ und
weggelassen. Bei Gesprächssequenzen wurden die Kennbuchstaben nicht gelöscht, um zu verdeutlichen, dass mehrere Personen miteinander sprechen.
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„die Dächer mit Pfannkuchen gedeckt“ sind, die „Gartenzäune aus warmen Würstchen bestehen“, in den „Bächen Milch fließt“, „frische Brötchen wachsen“ usw. Der Impuls endete mit dem Satz: „Wie schade, dass kein Mensch den Weg ins Schlaraffenland kennt.“ Die Passage wurde an die Wand projiziert, damit die Jugendlichen dem Vorlesen folgen konnten. Anschließend wurden sie gefragt: „Stellt Euch vor, Ihr wärt im Schlaraffenland, wo alles möglich und erlaubt ist, und alles was Ihr Euch wünscht, würde wie durch Zauberhand auf dem Tisch erscheinen. Was würde es bei Euch zu essen und zu trinken geben?“ Es lassen sich im Wesentlichen zwei Antwortmuster identifizieren, die sich jedoch nur bezüglich ihres Anfangs unterscheiden. Für das erste Muster ist typisch, dass die Jugendlichen sogleich ausschließlich Speisen und Getränke nannten, bei denen sie sich gewiss waren, dass sie eine Ernährungsweise repräsentieren, die als „richtig“ und „gut“ anerkannt ist. A: „Vielleicht etwas frisches Obst auch, Wassermelone, Kiwis, B: Äpfel, Wasser, Bananen, C: Salate, D: Frische Säfte auch noch so, E: Das ist gesund.“ (MD 11–13)
In dieser Gesprächssequenz haben sich Mädchen ausgetauscht, aber auch in den männlichen Gruppendiskussionen herrschte dieses Antwortmuster vor. „Also, wenn es das wirklich geben würde, dann müsste man auch an seine Gesundheit denken. Wenn man hier jeden Tag McDonalds Cheeseburger fressen würde, dann würde man krank werden. Man könnte sich auch Gemüse wünschen.“ (JD 11–13)
Bei dem zweiten Antwortmuster zählten die Jugendlichen zunächst spontan auf, was sie im Schlaraffenland zu essen wünschten. Nach diesen eher ungezwungenen Aussagen begannen sie Relativierungen vorzunehmen, indem sie den gerade geäußerten Wunsch mit „vielleicht“, „nur wenig“ oder „ganz selten“ relativierten. Ein Beispiel für eine zunächst unbefangene Aufzählung mit 127 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Übergang zu einer Relativierung stellt die nachfolgende Gesprächssequenz dar. B: „Hühnchen, G: Sehr viel Milch, A: Käsekuchen, C: Brötchen, A: Cola vielleicht.“ (MT 11–13)
Solche Relativierungen haben die Jugendlichen sehr häufig während der Gruppendiskussionen praktiziert. Beinahe immer, wenn sie Speisen oder Getränke erwähnten, die sie mögen, die jedoch gemäß der geltenden Ordnung des Essens eine „falsche“, eine „ungesunde Ernährung“ repräsentieren, haben sie ihre Aussage sogleich „korrigiert“. Auf diese Weise haben sie ihre Zustimmung zu dem geltenden Ernährungswissen unterstrichen. Im gesamten Verlauf der Gruppendiskussionen strebten die Jugendlichen danach, so über Essen zu sprechen, dass sie Missbilligungen entgingen und Konformität mit den Vorstellungen von „richtiger“ und „guter Ernährung“ bekräftigten. Dieses als richtig legitimierte Wissen war ihnen sogleich präsent, und sie repetierten es wie das kleine Einmaleins. Es war ihnen ein Anliegen, unter Beweis zu stellen, dass sie die Unterscheidung in „gesunde“ und „ungesunde“, „richtige“ und „falsche“ Lebensmittel und Getränke beherrschen. Bei der Wiedergabe von Ernährungswissen ging es ihnen aber um mehr. Sie wollten betonen, dass ihnen die mit diesem Wissen verflochtenen Wertungen „objektiv zugänglich“ und „subjektiv einsichtig“ sind. Mit diesen Bekräftigungen zielten sie auf die Ebene der Legitimationen, keineswegs berichteten sie aus ihrem Essalltag. Sie präsentierten ihre Übereinstimmung mit den geltenden Legitimationen und ihre Konformität mit der „offiziellen Wirklichkeitsbestimmung“. Hier zeigt sich, welche Macht den Legitimationen und der Bedrohung innewohnt, als „wirkliche oder potentielle Abweichler“ abgestempelt zu werden. So fühlten sich die Jugendlichen zu Selbstschilderungen gedrängt,
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die verdeutlichen sollten, dass sie sich der Ordnung des Essens konform ernähren würden. „Ich mag sehr viel Obst essen; auch wenn man mir das nicht ansieht.“ (MT 14–16). „Davon esse ich jetzt eins als Abendbrot […] halt ohne alles, und auch nicht in Fett gebraten.“ (JD 11–13).
Wenn die Jugendlichen – vielleicht eher aus Versehen – Sätze so begannen, dass Zweifel über ihre Ansichten entstehen konnten, korrigierten sie sich sofort und beendeten diese gemäß der moralischen Unterscheidung in gut und schlecht. Dafür zwei Beispiele: „[…] aber das Blöde ist […] viele ungesunde Sachen […] sind halt auch richtig lecker, aber es gibt auch genug gesunde Sachen, die lecker sind.“ (MD 11–13) „Ich würde was reinbringen [ins Schlaraffenland; E. B.], das nur so schmeckt wie McDonalds, aber gar nichts drin ist, also keine Kalorien oder so.“ (JD 14–16) Die Jugendlichen haben insgesamt eine große Übung darin, sich schnell entlang der Ordnung des Essens selbst zu korrigieren. Es ist somit keineswegs berechtigt, pauschal davon auszugehen, dass dickere Jugendliche über kein oder unzureichendes Ernährungswissen verfügen. Sie haben zudem erfasst, dass es sich um ein Wissen handelt, welches mit Achtungserweisen verknüpft ist und womit man seine gesellschaftliche Konformität kommuniziert. Dies haben sie verinnerlicht, und entsprechend achten sie permanent darauf, ihre Selbstschilderungen dahingehend zu kontrollieren. Genau darin dokumentiert sich die Macht, mittels einer bestimmten Ordnung des Essens gesellschaftliche Verbindlichkeiten durchzusetzen. Das Ausmaß dieser Machtausübung hat man sich wahrscheinlich erst dann angemessen vergegenwärtigt, wenn man berücksichtigt, dass die Alltagswirklichkeit der befragten Jugendlichen vermutlich anders aussieht.
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7. Die „verkehrte“ gegen die „wirkliche“ Welt Im zweiten, weniger bekannten Teil der Geschichte vom Schlaraffenland wird der Gegenentwurf zur Welt der Arbeit, der sozialen Anerkennung und der Ungleichheitshierarchie präsentiert. Diese Beschreibung des Schlaraffenlands entwirft ein Gegenbild zu drei zentralen Legitimationen der gesellschaftlichen Ordnung: Leistungsorientierung, Zuweisung sozialstruktureller Positionen sowie soziale Anerkennung und Teilhabe. • Arbeiten ist im Schlaraffenland untersagt, dagegen wird Faulsein honoriert. Dieses Gebot widerspricht den Erklärungen und Rechtfertigungen einer leistungsorientierten Gesellschaft. Zugleich spricht es indirekt den gesellschaftlichen Umgang mit dem Dicksein an, weil dickeren Menschen eine geringe Leistungsbereitschaft unterstellt wird. • Der Faulste nimmt die höchste soziale Position ein. Auch dies bedeutet eine Verkehrung der geltenden Legitimationen, nach denen soziale Positionen im Wesentlichen über die meritokratische Triade – also nach Bildung, Beruf und Einkommen – zugewiesen werden. Dickere Menschen haben oftmals den Eindruck, aufgrund ihres Körpers in sozialstrukturell benachteiligte Positionen gedrängt zu werden. 46 • Fleißige müssen die Gemeinschaft des Schlaraffenlands verlassen, sie werden ausgegrenzt. Soziale Teilhabe wird entsprechend der geltenden Legitimationen vor allem über Erwerbsarbeit – über das Tätigsein – hergestellt. Abermals nimmt das Märchen eine Verkehrung ins Gegenteil vor. Da dickere Jugendlichen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit als gefährdet wahrnehmen und sie den dringenden Wunsch verspüren, da46
Jane Wardle et al., Depression in Adolescent Obesity: Cultural Moderators of the Association between Obesity and Depression Symptoms, in: International Journal of Obesity 30 (2006), 634–643; Margaret D. Hanson / Edith Chen, Socioeconomic Status, Race, and Body Mass Index: The Mediating Role of Physical Activity and Sedentary Behaviors during Adolescence, in: Journal of Pediatric Psychology 32, 3 (2007), 250–259.
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zuzugehören, spricht auch die dritte Besonderheit des Schlaraffenlands ihre eigenen Erfahrungen an. 47 Der Impuls in den Gruppendiskussionen lautete: „Was machen die Menschen im Schlaraffenland? Sie dürfen vor allem nicht arbeiten, und wer besonders lange schläft, wird dafür belohnt, der Faulste wird König, wenn jemand zu fleißig ist, muss er das Land wieder verlassen.“
Obwohl weder in diesem Abschnitt noch in der gesamten Erzählung über das Schlaraffenland vom Dicksein oder von dicken Menschen die Rede ist, haben die Jugendlichen sogleich „nicht arbeiten“, „lange schlafen“ und „der Faulste“ mit Dicksein und dicker werden assoziiert. Für die Jugendlichen stand außer Frage, dass das Schlaraffenland eine Welt der Dicken ist und der Dickste unter ihnen die Position des Königs innehat. Ebenso waren sie davon überzeugt, dass im Wunderland der Schlaraffen keine Dünnen leben, weil sie diese Welt sofort verlassen müssten. Bereits in ihren allerersten Äußerungen zu der obigen Schilderung des Schlaraffenlands diagnostizierten sie, dass jeder, der nichts leistet, dick wird. „Das ist ganz dumm, weil wer nicht arbeitet, wird dick, und wer zu lange schläft, wird auch dick.“ (JD 14–16) „Aha, da wird man doch voll dick.“ (MT 11–13) „Also man will, dass die dicker werden.“ (JT 14–16)
Die Jugendlichen haben verinnerlicht, dass gesellschaftlich Faulsein mit Dicksein assoziiert ist. Wie den ersten Teil der Geschichte haben die Jugendlichen auch diesen Abschnitt als kontrastierende Phantasiewelt aufgefasst und dazu aus ihrer Perspektive Stellung genommen. Schauen wir uns zunächst an, wie die Jugendlichen bewerten, dass das Schlaraffenland ein Ort ist, wo man faul sein soll und dafür auch noch belohnt wird. Distanzierten sich die dickeren Jugendlichen von einer solchen Konzeption der gesell47
Barlösius, Soziologie des Essens; Barlösius, Dicksein.
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schaftlichen Ordnung? Sprachen sie sich stattdessen für die vorherrschenden Legitimationen aus? „Ich würde gar nicht erst hingehen, weil da stirbt man vor Langeweile.“ (MT 11–13) „Dass man nicht arbeiten darf und kein Sport. Das ist doch ganz eklig.“ (MT 14–16) „Halt, dass alle so faul und so träge sind. Da kann man ja gar nichts unternehmen. Alle sind so schlapp, das ist nicht schön.“ (MT 14–16)
In allen acht Gruppendiskussionen bestand Konsens unter den Jugendlichen, dass es für sie keine wünschenswerte Welt wäre, in der man nichts tun dürfte. Eine Weile fänden sie es attraktiv, nicht in die Schule zu müssen, lange schlafen zu dürfen, aber nach wenigen Tagen würde es ihnen langweilig werden. Dann möchten sie aktiv und tätig sein. „Ja also bei mir ist es so, ich brauche einen Tag, wo ich wirklich faul sein kann, aber ich kann nicht sieben Tage am Stück im Bett liegen, das geht gar nicht.“ (MD 14–16) „Ok, ich bin fett, man denkt, ich mache keinen Sport, aber ganz ehrlich, wenn ich nicht irgendwas arbeiten könnte, also wenn ich die ganze Zeit nur vor dem PC sitzen oder … voll lange schlafe, dann habe ich ja gar nichts mehr vom Tag.“ (JT 11–13)
Es war den Jugendlichen wichtig, zu unterstreichen, dass sie diese Phantasiewelt ablehnen. Sie verachten sie als mögliche „objektive gesellschaftliche Wirklichkeit“ und legitimierte gesellschaftliche Ordnung. Weiterhin verdeutlichten sie, dass sie persönlich dort überhaupt nicht reinpassen würden, weil sie nicht (längere Zeit) faul sein könnten. Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis gelangt man, wenn man analysiert, wie die Jugendlichen die zweite Umkehrung der gesellschaftlichen Legitimationen bewerten. Würden sie eine soziale Hierarchie gutheißen, die diejenigen privilegiert, die keine Leistung erbringen?
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„Wenn man jetzt zum König der Faulen gekrönt wird, finde ich das eigentlich voll doof.“ (MD 11–13) „Es macht eigentlich keinen Sinn, den Faulsten zum König zu benennen. Der würde, weil er ja nicht fleißig, fleißig sein kann, überhaupt nichts machen und trotzdem zum König benannt werden.“ (MT 11–13)
Die Jugendlichen kritisierten am Schlaraffenland, dass der „Faulste“ die höchste soziale Position einnimmt. Stattdessen verteidigten sie die Sinnhaftigkeit, soziale Positionen nach dem Leistungsprinzip zuzuweisen und die Erfüllung von Leistungserwartungen gleichzeitig mit sozialer Anerkennung zu honorieren. Das trifft vergleichbar auf die dritte ins Gegenteil verdrehte Legitimation zu: den sozialen Ausschluss der Fleißigen. Dazuzugehören und nicht ausgegrenzt zu werden wünschten sich die dickeren Jugendlichen an vorderster Stelle. 48 Die Phantasie des Schlaraffenlands offeriert die Möglichkeit, mittendrin zu sein, ohne etwas dafür tun zu müssen. Möchten die dickeren Jugendlichen das Schlaraffenland dennoch verlassen? „Da würde ich lieber das Land verlassen, anstatt König zu sein.“ (JD 14–16) B: „Ich wäre freiwillig rausgegangen. C: Ich auch, oder ich würde arbeiten, damit sie mich rauswerfen.“ (JD 14–16) E: „Ich glaube, das einzige Positive daran ist der letzte Satz. G: Ja; wenn jemand … C: Wenn jemand zu fleißig ist, … G: … muss er das Land verlassen.“ (MT 14–16)
Wiederum bekundeten die dickeren Jugendlichen ihre Übereinstimmung mit der vorherrschenden gesellschaftlichen Ordnung. Sie wollten das Schlaraffenland verlassen und lieber in der tatsächlichen „objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit“ leben. Dass 48
Eva Barlösius / Alexandra von Garmissen / Grit Voigtmann, Dicksein – über die gesellschaftliche Erfahrung dick zu sein, Leibniz Universität Hannover 2012, http://www.ish.uni-hannover.de/fileadmin/soziologie/pdf/allgemein/leibniz-unihannover_studie_dicksein_RZ.pdf.
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soziale Teilhabe und Integration vorwiegend über Arbeit hergestellt werden, begrüßten sie. Das Schlaraffenland repräsentiert für sie dagegen eine abweichende gesellschaftliche Ordnung, die sie zurückwiesen und der sie nicht zugehören wollten. Ziehen wir ein kurzes Zwischenfazit. Zu allen drei Verkehrungen der geltenden gesellschaftlichen Legitimationen gingen die dickeren Jugendlichen deutlich auf Distanz und begründeten ihre Sichtweise, indem sie gesellschaftlich anerkannte Erklärungen und Rechtfertigungen denen des Schlaraffenlands entgegensetzten. Obwohl das Schlaraffenland ihnen die Option darbietet, sich mit einer gesellschaftlichen Ordnung auseinanderzusetzen, in der sie keine Gefahr laufen, als nicht konform und abweichend klassifiziert zu werden, gingen sie darauf nicht im Geringsten ein. Ohne Zögern und Einschränkung verteidigten sie die gültige gesellschaftliche Ordnung gegen die des Schlaraffenlands. Dass die Jugendlichen darauf achten, sich als konform zu präsentieren und jegliche Abweichung zu vermeiden, ist als Reaktion auf den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen nicht überraschend. Trotzdem sollte man nicht übersehen, dass diese Präsentation nicht selbstverständlich ist, sondern den Jugendlichen ein hohes Maß an Selbstbindung an die geltenden Legitimationen abverlangt. Zum einen handelt es sich bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den Gruppendiskussionen um Jugendliche in der Pubertät, bei denen zu erwarten wäre, dass sie allein aus alterspezifischer Lust an Provokation von der Phantasiewelt des Schlaraffenlands schwärmen. Es gibt auch einige wenige spontane Äußerungen, die diesen Erwartungen entsprechen: „Cool“ (JD 11–13), „Ich will dahin“ (JT 11–13), „Boh, ich wäre der König“ (MD 14–16). Kaum ausgesprochen, werden diese von der „offiziellen Wirklichkeitsbestimmung“ abweichenden Zustimmungen von den anderen Jugendlichen sogleich wieder „zurückgeholt“. Zum anderen haben die dickeren Jugendlichen immer wieder die Erfahrung gemacht, dass, obwohl sie den Legitimationen zustimmen, ihre Übereinstimmung mit der gesellschaftlichen Ordnung nicht anerkannt wird. Sie selbst sehen sich nicht als Abweichler, 134 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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trotzdem berichten sie davon, dass sie als solche behandelt werden. Es gäbe somit aus ihrer Sicht gute Gründe, die Geltung der gesellschaftlichen Ordnung, die offenbar für sie nicht gilt, in Zweifel zu ziehen. Dies tun sie aber ganz und gar nicht. Vielmehr betonen sie, dass ihnen die Legitimationen „objektiv zugänglich“ und „subjektiv einsichtig“ sind. Dieser Sachverhalt verlangt nach weiterer Erklärung. Bislang wurden die Stellungnahmen der Jugendlichen zu den drei Verkehrungen mehr oder weniger isoliert analysiert. Nun soll, wie dies bei Berger/Luckmann angelegt ist, die Integration der drei Legitimationen zu einem sinnhaften Ganzen betrachtet werden. Entsprechend wird gefragt, ob die Jugendlichen von der Sinnhaftigkeit des Schlaraffenlands überzeugt waren, ob sie die dort geschilderte gesellschaftliche Ordnung als in sich stimmig und schlüssig beurteilten. Knappe und entschiedene Antworten lauteten: „Schlechte Systematik.“ (JT 11–13) oder „Es [gibt] da keine richtigen Regeln.“ (MT 11–13) Viele Jugendliche haben sich mit der phantasierten Sinnhaftigkeit des Schlaraffenlands eingehend auseinandergesetzt. Im gemeinsamen Gespräch kamen sie immer wieder zum gleichen Ergebnis: Die Welt des Schlaraffenlands ist sinnwidrig und vollkommen abwegig. „Wenn es das jetzt in Echt gäbe und da auch die Dünnen wären, die hätten sich auch über den König lustig gemacht. Dann wird man sagen: ‚Guck mal, das ist der Dickste, der schläft am längsten, der hat am wenigsten Energie‘. Das ist ja dann auch nicht gut, wenn man da der König ist. Eigentlich ist es nur gut, wenn man rausgeschmissen wird.“ (MD 11–13) „Ja guck mal, als König ist man ja auch dick, und dann kann man auch ausgelacht werden. Die Dünnen können ihn auslachen, denn er kann nicht über die Dünnen bestimmen. Die können ihn trotzdem auslachen, weil er ja nur der König über die Dicken und nicht über die Dünnen ist.“ (MD 11–13)
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Abwegig und sinnwidrig ist das Schlaraffenland aus ihrer Sicht, weil unvorstellbar ist, dass die Dicken jemals über die Dünnen herrschen könnten, selbst ein „dicker König“ würde niemals von „dünnen Untertanen“ anerkannt werden. Ihre Erfahrung ist, dass die objektive gesellschaftliche Wirklichkeit klar und eindeutig zwischen den Dünnen und den Dicken unterscheidet und dies über die gesellschaftliche Ordnung legitimiert wird. Die gesellschaftliche Ordnung trennt die Welt der Dünnen von der der Dicken und setzt sie in ein Über- und Unterordnungsverhältnis. Diese Ordnungsweise besitzt nach ihrer Erfahrung absolute Geltung und ist unveränderlich. Für die dickeren Jugendlichen ist es überhaupt nicht vorstellbar, dass Dünnsein und Dicksein jenseits von richtig oder falsch, normal oder abweichend gesellschaftlich betrachtet oder behandelt werden könnten. Die „offizielle Wirklichkeitsbestimmung“ wird sie – so ihr Fazit – immer als Abweichler identifizieren. Die objektive gesellschaftliche Wirklichkeit, jedenfalls wenn sie aus jenen Institutionen und Legitimationen rekonstruiert wird, die das Schlaraffenland ins Gegenteil verkehrt, repräsentiert für die dickeren Jugendlichen einen übermächtigen und in sich „logischen“ Sinnzusammenhang, mit dem sie sich konform präsentieren. Für sie heißt dies, zu verdeutlichen, dass sie keineswegs diese Legitimationen ablehnen und auch nicht in die gesellschaftliche Ordnung zurückgeholt werden müssen. Weiterhin kann festgehalten werden, dass sie auf das Angebot während der Gruppendiskussionen, darüber „zu phantasieren“, ob und wie sich aus ihrer Perspektive die gesellschaftliche Ordnung ändern sollte, überhaupt nicht reagiert haben. Ihr Anliegen war es, ihre Konformität zu bestätigen.
8. Macht legitimierter Ordnungen Bemerkenswert ist, dass die Jugendlichen bezüglich der Legitimationen der gesellschaftlichen Ordnung im Vergleich zu ihren 136 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Äußerungen zur Ordnung des Essens weniger Selbstkorrekturen oder -relativierungen vorgenommen haben. Ein Grund dafür könnte sein, dass sie ganz unmittelbar ihre Zustimmung zur gesellschaftlichen Ordnung kommunizieren konnten. Zwar haben sie gesellschaftlich erfahren, dass Dicksein mit Faulsein gleichgesetzt wird, und sie selbst haben diese Gleichsetzung praktiziert, aber trotzdem scheint es für sie hierbei einfacher zu sein, sich von der gesellschaftlichen Zuschreibung, nicht mit den geltenden Legitimationen übereinzustimmen, zu distanzieren und zu bekunden, dass diese ihnen „objektiv zugänglich“ und „subjektiv einsichtig“ sind. Hinsichtlich der Ordnung des Essens haben sie gelernt, dass ihr Körper gesellschaftlich als Dokument des Abweichens bewertet wird. Es ist ihnen deshalb wichtig, diese gesellschaftliche Beurteilung zurückzuweisen und ihr Einvernehmen mit der Ordnung des Essens zu betonen. Entsprechend finden sich hier häufiger Formulierungen wie „auch wenn man mir das nicht ansieht“. Hinzu kommt, dass ihre Bekräftigung, die Ordnung des Essens anzuerkennen und mit dem „richtigen Ernährungswissen“ vertraut zu sein, sich vermutlich deutlich von ihrer Alltagspraxis unterscheidet. Die Folge ist, dass die Macht der Ordnung des Essens, nämlich diese als verbindlich anzusehen, sie oftmals zu „Selbstverneinungen“ nötigt. Daraus kann man ersehen, dass die Machtausübung mittels der Durchsetzung gesellschaftlich verbindlicher Ordnungen sich nicht nur auf die Kennzeichnung „wirklicher oder potentieller Abweichler“ – also auf deren Stigmatisierung – beschränkt. Sie reicht aber auch weiter, als bestätigen zu müssen, dass einem die Legitimationen „objektiv zugänglich“ sind, man sie also kennt, und sie einem auch „subjektiv einsichtig“ sind, man ihnen also ausdrücklich zustimmt. Den gesamten Umfang der Machtausübung erfasst man erst, wenn man den davon ausgehenden Zwang zur Selbstkontrolle bis hin zur Selbstverneinung einbezieht. Wie wir gesehen haben, ist die Ordnung des Essens mit wesentlichen Teilen der gesellschaftlichen Ordnung verschränkt, mehr noch, beide verstärken sich gegenseitig. So gilt ein dicker 137 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Körper als Beleg der Abweichung von beiden Ordnungen. Nur wenn man dies mit in Betracht zieht, wird man die Allgegenwärtigkeit des Dickseins nachvollziehen können.
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Welternährung 1 Eucharistie und Hunger Gregor Maria Hoff
Mit einem paradiesischen Verlust beginnt die Kulturgeschichte, wenn man dem Buch Genesis (3,1–24) folgt, und von utopischen Aussichten wird sie seitdem befeuert. Ein unverzichtbares Moment ihrer narrativen Ausbildung bildet die Organisation der gesellschaftlichen Ernährung – von Thomas Morus 2 bis Karl Marx führt sie ein Menschheitsproblem vor Augen. 3 Gesellschaftliche Existenzfragen entscheiden sich an der Herausforderung, alle Menschen zu ernähren, und verbinden sich mit gerechtigkeitsrelevanten Verteilungsproblemen. Die Ernährungslage gibt Auskunft über den Zustand einer Gesellschaft und ihrer Regierung. Dazu passt die Information des World Food Day vom 16. 10. 2013, dass 842 Millionen Menschen von Hunger und seinen Folgen betroffen sind: jeder Achte weltweit. 4 1
Vgl. Lioba Weingärtner / Claudia Trentmann, Handbuch Welternährung, Bonn 2011. 2 Thomas Morus, Utopia, II,2 („De agricultura Utopiensium“). 3 Karl Marx, Kommunistisches Manifest: „Es tritt hiermit offen hervor, daß die Bourgeoisie unfähig ist, noch länger die herrschende Klasse der Gesellschaft zu bleiben und die Lebensbedingungen ihrer Klasse der Gesellschaft als regelndes Gesetz aufzuzwingen. Sie ist unfähig zu herrschen, weil sie unfähig ist, ihrem Sklaven die Existenz selbst innerhalb seiner Sklaverei zu sichern, weil sie gezwungen ist, ihn in eine Lage herabsinken zu lassen, wo sie ihn ernähren muß, statt von ihm ernährt zu werden. Die Gesellschaft kann nicht mehr unter ihr leben, d. h., ihr Leben ist nicht mehr verträglich mit der Gesellschaft.“ 4 Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung: www.bpb.de/politik/ hintergrund-aktuell/170455/welternaehrungstag (zuletzt abgerufen am 19. 05. 14).
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Gregor Maria Hoff
1. Ambivalente Sehnsuchtsbilder: Kulturgeschichtliche Codierungen Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass Ernährung kulturgeschichtlich ambivalent codiert wird: mit Sehnsuchtsbildern, die an die Doppelfigur von Leben und Tod gebunden sind. Nahrung dient als Symbol der Lebensfülle, aber auch als Emblem des Mangels und drohender Vernichtung. Religiöse Traditionen spielen für diese Codierungsverfahren eine besondere Rolle, weil sie eigene Rekombinationen von Leben und Tod ermöglichen. In allen Religionen finden sich Riten und Symbole, in denen Nahrungsmittel Übergänge zwischen Transzendenz und Immanenz anzeigen und Zugänge zum göttlichen Bereich und also zum Leben schaffen. Gleichzeitig wird das tödliche Moment des Lebens bestimmt. Grabbeilagen gehören in dieses Panorama ebenso wie Opferkulte, die den prominenten Wert von Lebensmitteln in ihrer Zuordnung zu sakralen Räumen zur Geltung bringen. Ein kulturgeschichtlich folgenreiches und deutungsstarkes Narrativ steht mit dem Paradieses-Motiv aus Genesis 3 zur Verfügung. Der Speiseplan im Garten Eden unterscheidet sich signifikant von der Ackerbauwelt, aus deren Boden Gott den Menschen formt (Gen 2,7) und in die er ihn zurückversetzt. Einer Welt des Mangels steht der Garten gegenüber – eine kulturell greifbare Initiative Gottes, die mit Wasser und Früchten ein Leben in Fülle garantiert. Aber nicht alle Bäume im Garten stehen zur Verfügung; mit dem Genuss vom Baum der Erkenntnis holen sich Adam und seine Frau den Tod – und die Nahrungsressourcen werden einschneidend verknappt (Gen 3,19). Die bedrängende Lebenswirklichkeit einer Agrargesellschaft aus der Bronzezeit offenbart, dass menschliche Existenz im Diesseits ständig um das Überleben kämpfen muss. Der Gott des Lebens, den das Buch Genesis voraussetzt, bedarf dabei einer Entschuldigung: der Fall des Menschen. Gier nach einem Übermaß an Leben – als Neugier und Habgier inszeniert – bringt es in Gefahr. Ein frühes kultur140 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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kritisches Motiv zeichnet sich in diesem Ensemble ab, das für seine Plausibilisierung ein besonderes Szenario entwirft: die Gegenwelt des Paradieses mit seinen Sehnsuchtsbildern. Die Schlagschatten reichen weit und sind tief im kulturellen Gedächtnis der Menschheit verankert. Utopische Lebensentwürfe verlängern sich von der Antike bis in die Gegenwart, von Platons Atlantis 5 bis in die totalitären Staatsentwürfe des 20. Jahrhunderts und ihre noch aktuellen Ausläufer. Sie wurden vielfältig bebildert und verschaffen tief sitzenden Sehnsüchten Raum, die geglücktes Leben mit einer Fülle an Lebensmitteln verbinden. Erstmals im 10. Jahrhundert wandert das „Schlaraffenland“ in die europäischen Vorstellungswelten ein, um eine breite Wirkungsgeschichte zu entfalten. 6 Eine Variante führt zu einer Überbietung noch des biblischen Paradieses – schließlich musste man dort mit Wasser und Früchten auskommen. Eine ironische Zuspitzung lässt sich erahnen, das widerständige Lachen mit wirklichem Bauchgrimmen. „Das ist durchaus nicht trivial: Wenn der Wunsch nach Glück und Unschuld in den frommen Seelen die Vorstellung vom Paradies auf Erden weckte, so ließen die Wonnen des Schlaraffenlandes bei den Elenden und Hungernden jedes Zeitalters stets den noch irdischeren Wunsch aufkommen, Mühsal und Plage hinter sich zu lassen und endlich die drängendsten, unmittelbarsten Gelüste zu befriedigen. Die jeweiligen Erzählungen richten sich häufig an die Entrechteten und verheißen endlich auch ihnen Saus und Braus: Die Legende vom Schlaraffenland entsteht nicht in mystischen Gefilden, sondern in einem Volk chronischer Hungerleider.“ 7
Die Einrichtung dieser Welt arbeitet mit einer markanten Strategie – sie invertiert ungerechte und unmenschliche Lebensbedin5
Platon, Kritias, 113 b ff. Auch hier finden sich Hinweise auf die Ernährungssituation: Die Insel wird hinsichtlich ihrer Versorgungslage als weitgehend autark geschildert – ein organisierter Gegenentwurf zu Ökonomien des Mangels. 6 Vgl. Umberto Eco, Die Geschichte der legendären Länder und Städte, München 2013, 289–303. 7 Ebd., 291.
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Abbildung 1
gungen, indem sie sich in ein anderes Narrativ einschreibt: das der „verkehrten Welt“. 8 Umkehrung von Machtverhältnissen kennzeichnet sie ebenso wie die Entfesselung der Lebenstriebe im Karneval der Lüste. Dass dies wiederum ein höchst ambivalentes Unternehmen darstellt, markieren frühneuzeitliche Bildensembles wie das von Hieronymus Bosch, der in seinen „Garten der Lüste“ paränetische Motive einführt. Paradieses-Äpfel finden sich wie Ausrufezeichen in der mittleren Tafel, um vor dem paradiesischen Exzess zu warnen, der nur zum Tod führen kann. Aber auch im „Schlaraffenland“ Pieter Brueghels d. Ä. von 1566 gibt es Anlass für Sorgen: Die teilnahmslose Erschöpfung der Lebenssatten hat ihrerseits etwas Tödliches an sich.
2. Mahl halten – ein theologischer Code im Horizont knapper Lebensressourcen Das deutet sich bereits in der Raumordnung dieses Schlaraffenlandes an: Die aufgeblähten Fressleichen liegen vereinzelt herum. 8
Ebd.
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Abbildung 2
Kulinarisch ist alles verfügbar, aber man besichtigt einen Friedhof des Verschlingens. Man könnte meinen, es handle sich um eine moderne Vision, in der sich mehrere kulturgeschichtlich bedeutende Umbrüche abzeichnen 9: – von einer Hungerkultur zu einer Überflussgesellschaft; – von familiären Mahlzeiten zu individualisierten Essgewohnheiten; – von einer Esskultur, die in den Lebensrhythmus von Gemeinschaften integriert war, hin zu einer Ökonomisierung der Esszeiten, die einerseits als Versorgung mit Kalorien am Arbeitsplatz funktioniert, andererseits mit einer kostenintensiven Verfeinerung der Esskulturen in der Freizeit einhergeht; – von einer religiös bestimmten Kultur der Nahrung (mit Speisegeboten, Fastentagen als kirchlichen Regulativen, Ackersegnungen, Erntedankfest und Tischgebeten) hin zu „weltlichen Reinheits- und Gesundheitskult(en)“ 10. 9
Vgl. Gunther Hirschfelder, Europäische Esskultur. Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute, Frankfurt a. M. 2001. 10 Wolfgang Reinhard, Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, 153. – Vgl. zum Ganzen ebd., 138–157.
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Jeder dieser Umbrüche codiert die Grenzen zwischen Leben und Tod neu. In Brueghels Gemälde zahlt das angestochene Schwein die Zeche, in der globalen Gegenwart des 21. Jahrhunderts sind es die Ärmsten der Welt. So wenig das Schlaraffenland von Partizipation hat, so konsequent vollziehen sich die Ausschließungsmuster des „strukturellen Hungers“ (Jean Ziegler) an denen, die auf die Marktentwicklung der Industrienationen den geringsten (politischen) Einfluss haben. Aber auch die Fresser und Säufer sind betroffen – zumindest von der Isolation und Funktionalisierung eines wesentlichen Lebensvollzugs. Eine besondere Markierung der Leben-Tod-Grenze zeigt sich im gesundheitsbewussten Stilwillen rezenter Esskulturen: „Der in Zukunft vermutlich noch mehr an Bedeutung gewinnende Trend zu functional und medical food sowie zu gluten- und laktosefreien Produkten lässt sich aber auch als Bewältigungsstrategie einer Bevölkerung deuten, die in Zeiten politischer und ökonomischer Sicherheiten lediglich noch der Angst vor unerwarteter Krankheit und Tod ausgesetzt ist: Durch Alkohol-, Rauch- und Fettverzicht wird intendiert, diesem Risiko selbst entgegensteuern zu können. Auch die Konjunktur des Vegetarismus kann hier letztlich als Indikator für den Ausschluss nicht nur des Tötens, sondern auch des Todes an und für sich gesehen werden. Zusammenhänge von Leben, Tod und Krankheit werden zunehmend verdrängt.“ 11
Demgegenüber verlegen biblische Traditionen Nahrung und Ernährung in einen anderen Zusammenhang. Basiscode ist das Leben, an dem man teilhat, indem man die Gaben der Schöpfung gemeinsam opfert oder verzehrt. Der Gottesbezug ruft den Ursprung der Lebensmittel in Erinnerung. Zugleich entsteht eine Gemeinschaft mehrfacher Partizipation: an Nahrung, an Gott, an den anderen Menschen. Die Gegenwart des Todes bleibt aber erhalten, weil sich im Opfer ein Prozess ständiger Verwandlung, von Vernichtung (von Speisen oder Tieren) und neuem Lebens11
Gunther Hirschfelder / Barbara Wittmann, Zwischen Fastfood und Öko-Kiste. Alltagskultur des Essens, in: ThPQ 162 (2014), 132–139, 137.
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gewinn (im Modus des Segens und der Vergewisserung eines ungestörten Gotteszugangs) vollzieht. In einer Welt unsicherer Ernten bleiben Versorgungsrisiken ohnehin konstitutiv. Das hält zu einer eigenen religiösen Codierung an: „Das Wissen darum, dass Nahrung nicht selbstverständlich zur Verfügung steht und auch der Ertrag des Landes keineswegs gesichert ist, wird in den biblischen Texten stets mit Blick auf Gott reflektiert […] Mit dem Motiv der ‚Fruchtbarkeit des Landes‘ wird immer wieder von Gottes Zuwendung erzählt und zugleich verweist dieses Motiv auf eine Gemeinschaft mit Gott. Solange diese aufrecht ist, versorgt Gott die Menschen selbst in lebensfeindlicher Umgebung mit Nahrung (z. B. Exodus).“ 12
Die kultische Wissensform der Gabe 13 entsteht biblisch in diesen Zusammenhängen. Sie kommt auf der Basis schöpfungstheologischer Einsichten zur Sprache und setzt zugleich eine Gerechtigkeitsreflexion in Gang: Das Land ist für alle Menschen da, und jeder ist als Geschöpf Gottes zu respektieren. Damit wird die sozial-theologische Idee vom Volk Gottes denkbar, die sich in der Thora als Lebensform durchsetzt. Eine besondere Aktualisierung des göttlichen Gabe-Diskurses zeigt sich dabei in den Praktiken einer Schuldvergebung, die vor Gott in Ritualen der Entsühnung erreicht wird, aber auch soziale Reintegration einschließt (Schuldennachlass). Eine Ökonomie des Lebens angesichts seiner tödlichen Bedrohung entsteht auf diese Weise. Sie verschränkt sich in zwischentestamentlichen Zeiten mit der Hoffnung auf die Königsherrschaft JHWHs. „Die Verfügbarkeit von Nahrung im Überfluss ist ein Bild für eine geglückte Königsherrschaft.“ 14 Die weltweit bekannte Kultur der Gastfreundschaft, die Partizipation gerade an knappen Lebensgütern erlaubt und in ge12
Susanne Gillmayr-Bucher, Essen – Ausdruck einer Lebenshaltung, in: ThPQ 162 (2014), 123–131, 125. 13 Zu Theorien der Gabe vgl. Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg u. a. 2013, bes. 27–283. 14 Gillmayr-Bucher, Essen – Ausdruck einer Lebenshaltung, 124.
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meinsamem Essen und Trinken einen sozialen Schutzraum anlegt, wird biblisch in Modelle einer eschatologischen Gemeinschaft transformiert, auf der auch die Reich-Gottes-Botschaft Jesu beruht und die den Zusammenhang von Leben und Tod invertiert. Am Ende der Zeiten setzt sich das schöpferische Ursprungshandeln Gottes durch, indem es Leben in Fülle ermöglicht. Das Mahl am Ende der Zeiten fungiert als Sehnsuchtsbild, für das aber die in der Geschichte erfahrene Lebensmacht Gottes einen wirklichen Anhaltspunkt liefert. Das schöpferische Moment des Lebens gewinnt dabei – neben den sexuellen Fruchtbarkeitsmotiven – gerade im Zugang zu Nahrung seinen eindringlichsten Ausdruck. Die biblischen Bücher sind voll von entsprechenden Motivführungen. Wenn man die bereits angesprochene Exodus-Erfahrung als konstitutiv für die theologische Identitätsbestimmung Israels (im Sinne einer heilsgeschichtlichen Größe) annimmt, stößt man auf den narrativ inszenierten Auslöser dieser Geschichte: auf die Josephs-Novelle des Buches Genesis. Joseph wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft, und Joseph ist es, der in Zeiten einer Hungersnot erst für Ägypten und dann für seine Familie als „Ernährer“ auftritt. 15 Der in den Brunnen gestoßene und in fremdes Land verschickte Bruder, den es zudem in Ägypten in den Kerker verschlägt, personifiziert mehrfach Übergänge von Tod zu Leben, die verlorene Lebensgemeinschaft wiederherstellen und erfülltes Leben erlauben, um in der narrativen Regie des Exodus ans Ziel zu kommen: Am Ende steht eine Befreiung, die als Lebensrettung auch ernährungstechnisch funktioniert – exemplarisch mit dem Manna in der Wüste.
15
Vgl. Thomas Mann, Joseph und seine Brüder. Band IV: Joseph der Ernährer, Frankfurt a. M. 1982.
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3. Eucharistie – Partizipation an der schöpferischen Lebensmacht Gottes An dieses Lebensmittel knüpfen patristische und liturgische Formulare an, die das Motiv der göttlichen Nahrung mit der Eucharistie verbinden. Diese Nahrung aber hat eine besondere Dimension: Sie vergeht nicht, weil sie untrennbar mit dem Leben selbst verbunden ist, das in der Auferweckung des Gekreuzigten die schöpferische Macht Gottes als unbegrenzt erweist. Anfang und Ende des Lebens verbinden sich hier auf eine einzigartige Weise: Das Leben Gottes tritt in das menschliche Leben ein, und die Eucharistie eröffnet die durchschlagende Partizipation am göttlichen Leben, das in Jesus auftritt. Im Herrenmahl entsteht eine einzigartige Kommunion mit Gott, weil sich der Sohn Gottes in den Zeichen von Brot und Wein selbst zur Nahrung anbietet. In den verschiedenen Mahlgemeinschaften Jesu findet die Überlieferung vom letzten Abendmahl ihren geschichtlichen Grund wie ihre finale Zuspitzung, die sich zugleich mit der jüdischen Pessachtradition und also dem Exodus-Motiv verbindet. Der markierte Übergang von Tod und Leben lässt sich auch von den Mählern her interpretieren (und umgekehrt), in denen Jesus neue Lebensgemeinschaften ermöglicht. Das Reich Gottes, das in diesen Zeichenhandlungen durchbricht, verwandelt Situationen sozialer Marginalisierung und eines umfassenden Lebenshungers in neue Lebensoptionen, stellt also von Tod auf Leben um. Die messianische Inversion wird zum Kennzeichen jener Codierung der ganzen Wirklichkeit, für die in der Kirche die Sakramente als Reich-Gottes-Zeichen bereit stehen: operative Übersetzungen der Lebensmacht Gottes. Diese schießt im eucharistischen Bildensemble zusammen, indem sie eine Nahrungsquelle erschließt, für die das Konzil von Trient die Metapher von der „Seelenspeise“ verwandte. Damit droht freilich der erschütternde Materialismus des effektiven Hungers und des eucharistischen Speiseplans einseitig verinnerlicht zu werden. Jesus hatte konkrete Gaben im Angebot, und mit Brot und Wein werden nicht nur Archetypen agra147 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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rischer Ernährung aufgerufen, sondern auch wirkliche Sättigungseffekte erzielt. Die paulinischen Gemeinden liefern das Anschauungsmaterial für jene Mähler, die sich in den Gottesdienstzonen der Gemeindesonntage längst verflüchtigt haben. Wer aber den unnachgiebigen Materialismus unterschlägt, an dem sich das bleibende Recht der Rede von einer unvergänglichen Seelenspeise erst entzündet, bringt die Eucharistie auch um ihre Widerständigkeit, sprich: das apokalyptische Einspruchsmoment der Eucharistie, das über die radikale Praxis der Partizipation einen anderen Lebensraum in die geteilten Lebenswelten des permanenten Hungers einführt. Die Umstellung auf partizipatives Leben setzt eine eigene Logik des Teilens in Gang: Im Geben vermehrt sich die Gabe. Sie kehrt reziproke Erwartungsverhältnisse um, wenn sie keine neuen Abhängigkeitsverhältnisse schafft und auf diese Weise Spielräume des Verhaltens eröffnet, statt do ut des-Bindungen zu erzwingen. Es geht auch nicht um den Mehrwert kooperativer Verfahren, sondern um den Überschuss des Lebens, theologisch gesprochen: um die inchoative Erfahrung von Lebensanfängen, die sich zeigen, wo man das eigene Leben nicht begrenzt, sondern mitteilt. Ohne Mitteilung kein Leben (weder sexuell noch kommunikativ). Diesen Überschuss geteilten Lebens zeigen die Vermehrungswunder Jesu auf eigene Weise an, indem sie frühgemeindliche Herrenmahlspraxis in narrative Exemplarität übersetzen. Aus begrenzten Ressourcen kann Leben generiert werden, wenn man es teilt, weil man damit an der Lebenspraxis Jesu und also am Leben Gottes teilhat. 16 Für die paulinischen Gemeinden ist, zumindest als Gebot, der gemeinsame Anteil an den (eucharistischen) Gaben konstitutiv. Der soziale Schnitt, der durch die Gemeinde fährt, zerstört die Gemeinschaft und hebt den Charakter des Liebesmahls (Agape: Jud 12) auf. Die Gemeinschaft im Herrenmahl be16
In Jesus gewinnt man Anteil am schöpferischen Ursprung des Lebens – Jesus Christus wird von daher im NTund den folgenden Bekenntnistexten konsequent als Schöpfungsmittler bestimmt.
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sitzt eine tiefe theologische Dimension. Sie macht sich an den Gabegesten Jesu fest (Mk 14,22 par) und lenkt zugleich – mit dem Kelchwort – den Blick auf den Bund Gottes mit seinem Volk. 17 Der Blutritus hat in Ex 24 eine doppelte Funktion: Er ermöglicht den Zugang zu Gott, weil er die Menschen reinigt, und schafft im Anschluss eine Mahlgemeinschaft untereinander. Das Blut als Lebensmarker wird in der Eucharistie in ein Lebensmittel verwandelt, um einen grundsätzlichen Übergang zu kennzeichnen: die Transformation von Tod in Leben. Indem die Beziehung zu Gott sühnetheologisch (mit dem reinigenden Blutritus) codiert wird, erschließt sich ein neuer Zugang zum Leben. Es zeigt sich in der Gemeinschaft und dem Anteil an den Lebensmitteln des Volkes Gottes. Die Nahrungsmittel werden zu Chiffren veränderten Lebens. Seine Entsühnung wurde erforderlich, weil die Bundesgebote nicht gehalten wurden. Die Thora als Lebensgesetz sichert die Existenz des Volkes Gottes, indem die Beziehung zu Gott und zwischen den Menschen gewahrt wird. Wer sie auflöst, also gegen die Gebote verstößt, stellt sich außerhalb der Lebensordnung. Im Gegenzug wird erkennbar, wie elementar das Mahl als „Realsymbol des Lebens“ funktioniert. 18 „Fest und Mahl beinhalten die gemeinschaftliche Bestätigung des Lebens im freudigen Teilen der Ressourcen.“ 19 Sie aktualisieren die schöpfungstheologisch reflektierte Erfahrung, dass das Leben nicht in der Verfügungsmacht des Menschen liegt – dass Leben grundsätzlich als Gabe zu interpretieren ist. Nahrung ist dann als Anteil an der Lebensmacht Gottes aufzufassen und muss der schöpferischen Dynamik entsprechen, die biblisch immer wieder als Erfahrung von Fülle codiert wird.
17
Vgl. zum Folgenden Christian A. Eberhart, Blut des Bundes. Das Opferverständnis im Buch Levitikus und in der Eucharistie, in: Bibel und Kirche 69 (2/2014), 69–73. 18 Ralf Miggelbrink, Essen als Realsymbol der Fülle, in: ThPQ 162 (2014), 115– 122, 116. 19 Ebd., 117.
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Damit gewinnt die theologische Codierung von Nahrung und Ernährung eine mehrfache Dimension: – sie hat einen schöpfungstheologischen Index; – sie ist christologisch konnotiert, indem Nahrungsaufnahme als grundlegender Lebensakt an die Erschließung des Lebens in der exemplarischen Lebensführung Jesu gekoppelt wird; – sie ist eschatologisch gerichtet, weil sie auf eine Bestimmung des Lebens abzielt, die in den tödlichen Abläufen unseres Lebens dieses auf unverlierbares Leben stellt; – sie ist sozial justiert, weil dieses Leben nicht auf eigene Rechnung geführt werden kann, sondern die Partizipation am Leben Gottes in eine eucharistische Lebensform, in das Anteilgeben am Leben zu transformieren ist. Ernährung wird auf diese Weise sakramental codiert, weil sie auf das Leben für alle bezogen wird, das Gott als Schöpfer der Welt erschließt. Nahrung teilen, heißt: Leben teilen. Darin offenbart sich aber eine paradoxe Vermehrungslogik: Was materiell weniger wird, nimmt als Beziehung zu, wenn man nicht auf Kosten anderer isst. Anteil an der Mahlpraxis Jesu zu nehmen, schafft deshalb einen Zugang zu Gott, zum Grund des Lebens – und das heißt: Zugang des Menschen zu sich selbst. Das geschieht in einer spezifischen Zeitform: in der Vergegenwärtigung des Lebens und des Todes Jesu. Die besondere Gegenwart Jesu in den eucharistischen Zeichen ist dabei mit verschiedenen Modellen gefasst worden, unter denen die Transsubstantiation aus Sicht des katholischen Lehramtes herausragt. Ob man diese theologischen Interpretationsmuster um eine Transsignifikation oder eine Transfinalisation erweitert 20: als entscheidendes Motiv lässt sich der Prozess der Verwandlung festhalten, der in den Zeichen von Brot und Wein die Umstellung von Tod auf Leben performiert, also der unbegrenzten schöpferischen Lebensmacht Gottes Ausdruck verleiht. Das wiederum wird in der Zeitform 20
Vgl. Bernd Jochen Hilberath, Art. „Eucharistie. III. Systematisch-theologisch“, in: LThK3 3 (1995), 949–951.
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immer neu sich aktuierender Gegenwart gefasst, also einer Zeit, die ihrerseits nicht untergeht. Die Anders-Zeit der Eucharistie vollzieht sich als (communial) geteilte Gegenwart, in der sich anhaltend neu Anteil an der Lebenswirklichkeit Jesu vollzieht. Nicht das geschichtliche Leben Jesu (und sein Lebensopfer) wird wiederholt, sondern die Partizipation an der Lebensmacht Gottes wird so codiert, dass sie nicht verloren geht, wenn man sich im Sinne Jesu auf sie einstellt – und Lebensraum für den Geist Jesu schafft. Karl Rahner hat dies in den Konnex von Eucharistie und alltäglichem Leben überführt. 21 Im „Sakrament kommt die allgemeine Heilsgeschichte und unsere persönliche Heilsgeschichte zu ihrem Höhepunkt […] Da kommt er, der das Heil der Welt ist, mit seinem Licht, mit seiner Gnade, mit seiner Vergebung, mit seiner Kraft zu uns. Nimmt uns selber an, die wir ihn annehmen, indem wir ihn empfangen, und es ist wirklich darin die Geschichte unseres Lebens ein Stück der Heilsgeschichte geworden, in dem die allgemeine Heilstat Gottes an der Welt in der Menschwerdung seines ewigen Sohnes uns und unser ganz konkretes persönliches Leben in diesem Sakrament des Altares ergreift. Da erfahren wir Gottes Vergebung, die Gnade Jesu Christi, die Einigung mit Gott als unserem Leben.“ 22
Rahner entscheidet sich in dieser theologischen Reflexion sehr bewusst für eine Sprachform, die meditativ ausgerichtet ist, also die Grenze zum Gebet berührt. Es geht um die mystagogische Annäherung an das Geheimnis des Lebens. In der Eucharistie vollzieht sich aus der Sicht katholischer Theologie eine Vereinigung des Endlichen mit dem Unendlichen, und das geschieht als Anteil an der Menschwerdung Gottes. Die eucharistische Kommunion stellt das „Sakrament der ewigen Gottesbegegnung“ 23 dar, ist des-
21
Karl Rahner, Eucharistie und alltägliches Leben, in: ders., Schriften zur Theologie VII, Einsiedeln u. a. 1966, 204–220. 22 Ebd., 204. 23 Ebd., 209.
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halb aber zugleich das „Sakrament des Alltags“ 24, weil sich Gott in das profane Leben inkarniert hat, in seine ganze Tödlichkeit. Aber im Tod Jesu offenbart sich die unbegrenzte Lebensmacht Gottes, die im Tod Leben schafft. Diese schöpferische Verwandlung wird in den Zeichen von Brot und Wein erfahren – als Wandlung, die in ihrer metaphorischen Bestimmung performativ wirkt. Die eucharistischen Zeichen stellen einen anderen Kreislauf des Lebens her, als ihn exemplarisch der moderne Warenverkehr vorsieht.
4. Eucharistie – eine ekklesiologische Utopie? Karl Rahner wählt im Anschluss an das Konzil von Trient dafür die Metapher vom „Gegenmittel“ 25 und „Gegengift“ 26. Damit bietet er die Möglichkeit, einem naheliegenden Verdacht zu begegnen: dass es sich bei der Eucharistie um nicht mehr als einen utopischen Ausweg, um den Idealismus eines lebensweltlich entkoppelten kirchlichen Zeichens handle. Im Gegenlicht der Marx’schen Kapitalismuskritik lässt sich dies ausführen. Geld erlaubt es, alles miteinander zu verrechnen und zugleich einen Nenner zu etablieren, der alle gesellschaftlichen Prozesse bestimmt. In der Zirkulation der Waren wird alle Kommunikation auf einen Gewinn orientiert, der über reale Bedürfnisbefriedigung weit hinausführt. Der Fetischcharakter der Ware weist ein Moment der Verselbständigung auf, das sich im unendlichen Akkumulationsbedarf des Kapitals durchsetzt. Die Idee des Lebens verändert sich – sie virtualisiert sich in dem Maße, in dem die anlaufenden Gewinne irreale Dimensionen annehmen, die sich in einem Leben nicht mehr ausgeben lassen und nicht nur keinen Lebensgewinn erzeugen, sondern im Kampf um einen Erhalt der Ressourcen münden, der seine Selbstüberbietung als fortlaufende Kapitalver24 25 26
Ebd. Ebd. Ebd., 210.
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mehrung verlangt. Dabei muss der Verlust an Lebenskapital für eine unsichtbare Mehrheit ausgeblendet werden, die zu Marx’ Zeiten durch das Proletariat repräsentiert wurde und im 21. Jahrhundert mit – komplex, keinesfalls nur durch den kapitalistischen Warenverkehr verursachter, aber durchaus von ihm forcierter – globaler Armut. „Die Macht des Kapitalismus liegt in der Allgegenwart einer Abwesenheit, die in und durch das Begehren zirkuliert, die für das Begehren konstitutiv ist; eine Abwesenheit, die gleichzeitig dämonisiert und bewundert wird.“ 27
In dieser Eschatologie des ökonomischen Interesses zeigt sich seine sozial schöpferische Leistung und eine destruktive Tendenz zur Selbstauflösung. Als eine Konsequenz zeichnet sich eine Monopolisierung von Kapital in global agierenden Konzernen ab, die sich in den allgegenwärtigen Kommunikationsnetzen als konstitutiv für die Organisation sozialer Beziehungen (Facebook) und deren Konsumverhalten (Google) auswirkt. Dieses ökonomische Interesse zielt auf eine Totalität in der Organisation des Begehrens und seiner Kommunikation. Es „kennt den Selbstverzicht nicht. Es fungiert als ein prinzipienloses Prinzip“ 28. Seine Techniken der Überschreitung laufen leer, so wie sich in der Bankenkrise Geld verbrennen ließ, das nur als fiktives Zahlungsmittel real war. Es handelt sich um die Repräsentationsform einer Kultur der Vernichtung. Graham Ward führt in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen einem Bild, wie es sich im eucharistischen Geschehen durchsetzt, und einem Götzen ein: „(W)ährend das Bild eine symbolische Repräsentanz eines transzendenten Horizonts ist, ja, eine symbolische Performanz, die die Betrachter über sich hinaus zum Horizont hin zieht, (symbolisiert – 27
Graham Ward, Religion als Ware oder die Vollendung des Kapitalismus, in: Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen (ReligionsKulturen 1), hg. v. A. Nehring / J. Valentin, Stuttgart u. a. 2008, 93–105, 100. 28 Joseph Vogl, Das Gespenst des Kapitals, Zürich 62012, 36.
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GMH) der Götze nichts […] Der Götze ist eine Repräsentation, aber kein Symbol. Er spiegelt nur das wider, was auf ihn projiziert wird – wie der bleibende Fetisch Geld. Er signifiziert nichts. Er kommuniziert nichts. Er bleibt eine Repräsentation, ein Zeichen, das endlos auf seinen eigenen Status als Zeichen zurückgeworfen wird. Er produziert nichts. Er reproduziert nur sich selbst.“ 29
Der Götze ist Ausdruck einer Welt des Begehrens, die Lebensvernichtung nach sich zieht: in der Verdinglichung (Kommodifikation) von Lebenswünschen, ihrer virtuellen Überformung, nicht zuletzt in den Ausschließungsmustern von notwendigen Lebensgütern, für die symbolisch und real Nahrungsressourcen stehen. Dass der Hunger selbst virtualisiert wird, indem er auf medial flüchtige Nahdistanz geschaltet wird, entspricht dem ästhetisch und kommunikationspolitisch. Die befremdende Metapher der „Seelenspeise“ bezeichnet demgegenüber ein Lebensmittel, das die realen Nöte der Menschen offenbart und in den Lebenszeichen konkreter Nahrung einen grundsätzlichen Lebenshunger artikuliert. In den Zeichen von Brot und Wein als eschatologischen Performativen nimmt in jeder Eucharistie der auferstandene Herr die Kommunikanten in die Lebenswirklichkeit des angebrochenen Reiches Gottes hinein. Man isst den Herrn, verbindet sich also mit dem Leben Jesu, das durch den Tod hindurch nicht die Unvergänglichkeit unserer Existenz anzeigt, sondern Lebensfülle vermittelt – im Teilen, im Lieben, in umfassender Kommunion. Hoffnung auf anderes Leben, aber auch eine politisch handlungsfähige christliche „Hoffnung auf kulturelle Transformation“ 30 schließt sich hier an. (In Klammern gesagt: Wobei alles daran hängt, wie man sich im Glauben zur Wirklichkeit des Auferstehungsgeschehens verhält. Sonst bleibt es – immerhin – bei einem anspruchsvollen kulturellen Code.) Rahners Überlegungen zur Eucharistie als einem Gegengift machen sich am Alltag jener Entfremdungsprozesse fest, für die 29 30
Ward, Religion als Ware, 102. Ebd., 105.
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das theologische Konzept Sünde steht und das auf Lebensverluste abhebt: auf Trennung von anderen, von sich selbst, von Gott, also von Beziehung und Leben selbst. 31 Die Seelenspeise der Eucharistie gilt den „armen Christen“ 32, womit beides eingespielt wird: reale Armut, die zugleich mit unabschließbarem Lebenshunger korrespondiert. Die „animarum cibus quo alantur et confortentur“ (Konzil von Trient) nimmt das tödliche Moment des Lebens ernst und erlaubt nicht, es zu utopisieren. In der Eucharistie ist man nach Rahner mit dem Karfreitag konfrontiert, auf den das letzte Mahl Jesu zuhält: „Dieser Karfreitag war Vergeblichkeit des Lebens, Haß der Feinde, Verrat der Freunde, Einsamkeit, Gottesferne, Ausgesetztheit der Dummheit menschlicher Politik und Tod. Was ist das alles? Eben – so darf man sagen – die geballte, die reine Essenz dessen, was uns im Alltag Stück für Stück langsam immer wieder aufs neue gereicht wird.“ 33
Eucharistische Ernährung besteht in der Wahrnehmung dieser Welt, interpretiert sie aber zugleich von einer messianischen Inversion her: dass in der Unterbrechung des Lebens auf Kosten anderer eine Umstellung auf die schöpferische Lebensmacht Gottes spürbar wird. Die Eucharistie führt eine heterotope sakramentale Wirklichkeit in die Welt ein, einen Ort, an dem sich die Macht des Todes vom Leben her bestimmen lässt – so unwahrscheinlich dies erscheint. Real wird dies anhand eines Zeichens der Zeit, das die Kirche seit dem 2. Vatikanischen Konzil besonders herausfordert: der Armut. Sie eröffnet die Gegenwelt zu den Bildern eucharistischer Nahrung und stellt die Frage nach dem lebensweltlichen Realismus des Sakraments. In seiner Rundfunkbotschaft zur Eröffnung des 2. Vatikanischen Konzils hat Johannes XXIII. die Metapher
31 32 33
Vgl. Rahner, Eucharistie und alltägliches Leben, 210. Ebd., 209. Ebd.
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von der „Kirche der Armen“ eingeführt. 34 Die eucharistische Verwandlung muss zum Realsymbol einer befreienden Lebenspraxis der Partizipation an allen Lebensmitteln werden. Papst Franziskus greift dies auf, indem er eucharistische Lebensform und konkrete Lebenspraxis verschaltet: „Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein, so dass sie sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen können; das setzt voraus, dass wir gefügig sind und aufmerksam, um den Schrei des Armen zu hören und ihm zu Hilfe zu kommen.“ (Evangelii gaudium 187) „In diesem Rahmen versteht man die Aufforderung Jesu an seine Jünger: ‚Gebt ihr ihnen zu essen!‘ (Mk 6,37), und das beinhaltet sowohl die Mitarbeit, um die strukturellen Ursachen der Armut zu beheben und die ganzheitliche Entwicklung der Armen zu fördern, als auch die einfachsten und täglichen Gesten der Solidarität angesichts des ganz konkreten Elends, dem wir begegnen. Das Wort ‚Solidarität‘ hat sich ein wenig abgenutzt und wird manchmal falsch interpretiert, doch es bezeichnet viel mehr als einige gelegentliche großherzige Taten. Es erfordert, eine neue Mentalität zu schaffen, die in den Begriffen der Gemeinschaft und des Vorrangs des Lebens aller gegenüber der Aneignung der Güter durch einige wenige denkt.“ (Evangelii gaudium 188)
Die Option für die Armen wird konkret in der „Gemeinschaft mit Christus in der Eucharistie […], die das Leben verwandelt“ (Evangelii gaudium 138), indem Leben und Lebensmittel geteilt werden. Kirche ist Raum dieser Verwandlung und der Selbstüberschreitung – und damit ein Raum, in dem ein sakramentaler Code unsere Ernährungskulturen nicht einfach überhöht, sondern eschatologisch ausrichtet.
34
Vgl. Margit Eckholt, Kirche der Armen, in: Die großen Metaphern des Zweiten Vatikanischen Konzils. Ihre Bedeutung für heute, hg. v. M. Delgado / M. Sievernich, Freiburg 2013, 205–224, 206.
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Nahrung: Menschenrecht und Staatsaufgabe Biologischer Bedarf als Thema des Verfassungsrechts Josef Isensee
I. Spurensuche „Unser tägliches Brot“, um das die Christenheit im VaterunserGebet bittet, ist eine elementare Bedingung menschlichen Lebens, die des rechtlichen Schutzes bedarf. Wenn es überhaupt ein „natürliches“ Menschenrecht gibt, das der biologischen Natur des Menschen entspricht, dann das Menschenrecht auf Nahrung. Von ausreichender, zuträglicher Ernährung hängt das Überleben ab. Es ist die Voraussetzung für die Innehabung und Ausübung aller anderen Rechte. Dennoch gehört es nicht zu den großen Themen der positivierten Menschen- und Grundrechte. Es hat bislang nur wenig Aufmerksamkeit gefunden, vielleicht deshalb, weil es so nahe liegt, daß man es leicht übersieht. Ein Menschenrecht auf Nahrung findet sich nicht unter den Menschenrechten der ersten Generation, die dem liberalen Leitbild der Deklarationen des 18. Jahrhunderts folgen. Deren Themen waren der Schutz von Freiheit und Eigentum des Individuums vor dem Zugriff der Staatsgewalt und die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Die klassischen Menschenrechte verbanden aufklärerische Ideale mit politischen und wirtschaftlichen Interessen eines wohletablierten Bürgertums. In der liberalen Vorstellungswelt sorgte ein jeder selbst für seine Ernährung. Biologische Bedürfnisse paßten nicht zum Pathos der Freiheit. Das erhabene Selbstbild spürte weder Hunger noch Durst. Schiller spottete über ein solches Bild von der Würde des Menschen:
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Josef Isensee
„Nichts mehr davon, ich bitt euch. Zu essen gebt ihm, zu wohnen, Habt ihr die Blöße bedeckt, gibt sich die Würde von selbst.“
Die realen Bedürfnisse des Daseins rücken in das Blickfeld der zweiten Generation der Menschenrechte, der sozialen, die sich auf die Teilhabe an den Lebensgütern beziehen. Prototypisch sind die sozialen Rechte auf Arbeit, auf Wohnung, auf Gesundheit, auf Bildung etc. Im Schatten dieser „Rechte auf …“ findet sich in verschiedenen Menschenrechtstexten, zumal denen des Völkerrechts, auch ein Recht auf Nahrung, wenn auch nur ein menschenrechtliches Mauerblümchen, das es nicht zu jener Prominenz bringt, wie die sozialen Rechte auf Arbeit und Wohnung, vollends die klassisch-liberalen Rechte sie erreicht haben. Das Grundgesetz, das sich im Wesentlichen auf die klassischliberalen Grundrechte beschränkt, 1 weist ein Grundrecht auf Nahrung nicht aus; jedenfalls nicht ausdrücklich. Das gilt auch für die Landesverfassungen, obwohl sich die meisten den sozialen Grundrechten öffnen. Doch was nicht explicite gewährleistet wird, kann implicite von anderen Gewährleistungen umschlossen werden. Was nicht Gegenstand eines (subjektiven) Grundrechts ist, kann (objektive) Staatsaufgabe sein. Immerhin enthalten die Kompetenzkataloge des Grundgesetzes einschlägige Titel, zumal den für die „Sicherstellung der Ernährung“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG). Ein ungehörtes und praktisch folgenloses Signal gab im Jahre 1948, also in vorgrundgesetzlicher Zeit, der Badische Staatsgerichtshof in einem obiter dictum, wenn er, im stillschweigenden Rekurs auf das Naturrecht, sich auf „das elementare Menschenrecht auf Nahrung“ berief, „welches als ein ungeschriebenes, von keinem Rechtssatz aufzuhebendes Grundrecht allen Verfassungen 1
Zur Terminologie: „Menschenrechte“ sind überstaatliches Recht, entweder überpositives Naturrecht oder (positives) Völkerrecht. „Grundrechte“ dagegen sind (positives) staatliches Recht. Näher Josef Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte (= HGR), Bd. II, 2006, § 26 Rn. 5 ff.
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Nahrung: Menschenrecht und Staatsaufgabe
innewohnt und auch in der Bad.Verf. anklingt, wenn sie ein menschenwürdiges Dasein zum Ziel des Wirtschaftslebens erhebt (Art. 43 S. 2).“ 2 Bevor die Fragen des Verfassungsrechts erörtert werden, seien deren Voraussetzungen betrachtet: die völkerrechtlichen Menschenrechte sowie das bestehende Wirtschaftssystem.
II. Ein Menschenrecht auf Nahrung im Völkerrecht 1. Völkerrechtliche Deklarationen Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verkündet wurde, berührt das Thema Nahrung, wenn sie jedem das „Recht auf einen Lebensstandard zuspricht, der seiner und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen“ (Art. 25 Abs. 1). 3 Die Nahrung ist also Bestandteil eines ganzen Pakets von rhetorischen Verheißungen. Die Erklärung der Menschenrechte beansprucht kei2
Diesem Grundrecht widerspreche die von der französischen Militärregierung dem Leiter des Arbeitsamtes gegebene Vollmacht, säumigen Meldepflichtigen die Lebensmittelkarte zu versagen. Doch die Prüfung von Anordnungen der Militärregierung sei der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung entzogen (Bad. Staatsgerichtshof Freiburg Brsg., Urt. v. 27. 11. 1948, in: VerwRspr 1949, S. 249 [250 f.]). Der (ungenau) zitierte Art. 43 Abs. 1 der Verfassung von (Süd-)Baden aus dem Jahre 1947 lautet: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der Gerechtigkeit entsprechen. Das Ziel ist die Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle. In diesen Grenzen ist die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen zu sichern. Die grundsätzliche Freiheit von Landwirtschaft, Industrie, Handel, Handwerk und Gewerbe wird gewährleistet.“ 3 Übersicht über die völkerrechtlichen Quellen eines „Menschenrechts auf Nahrung“: Ines Härtel, Ein (Menschen)Recht auf Nahrung?, in: FS für Friedhelm Hufen, 2015, S. 23 (25 ff.).
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ne rechtliche Verbindlichkeit, vielmehr bezeichnet sie sich in ihrer Präambel „als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“. Mehr will sie nicht sein, und mehr kann sie in der Vagheit ihrer Glücksverheißungen auch nicht werden. Mögen vereinzelte Faktoren zu Völkergewohnheitsrecht erstarkt sein, das Recht auf den beschriebenen Lebensstandard ist es jedenfalls nicht. Die soziale Verheißung wird verdeutlicht im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966: 4 „Art. 11 (1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung, sowie auf eine stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Die Vertragsstaaten unternehmen geeignete Schritte, um die Verwirklichung dieses Rechts zu gewährleisten, und erkennen zu diesem Zweck die entscheidende Bedeutung einer internationalen, auf freier Zustimmung beruhenden Zusammenarbeit an. (2) In Anerkennung des grundlegenden Rechts eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein, werden die Vertragsstaaten einzeln und im Wege internationaler Zusammenarbeit die erforderlichen Maßnahmen, einschließlich besonderer Programme, durchführen a) zur Verbesserung der Methoden der Erzeugung, Haltbarmachung und Verteilung von Nahrungsmitteln durch volle Nutzung der technischen und wissenschaftlichen Grundsätze sowie durch die Entwicklung oder Reform landwirtschaftlicher Systeme mit dem Ziel einer möglichst wirksamen Erschließung und Nutzung der natürlichen Hilfsquellen; b) zur Sicherung einer dem Bedarf entsprechenden gerechten Verteilung der Nahrungsmittelvorräte der Welt unter Berücksichtigung der Probleme der Nahrungsmittel einführenden und ausführenden Länder.“
4
Weitere völkerrechtliche Bestimmungen, die ein Recht auf Nahrung beinhalten: Art. 12 Abs. 2 UN-Frauenrechtskonvention, Art. 24 Abs. 2 lit. c) und f ) sowie Art. 27 Abs. 3 UN-Kinderrechtskonvention, Art. 25 Satz 3 lit. f ) und Art. 28 UN-Behindertenrechtskonvention.
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Nahrung: Menschenrecht und Staatsaufgabe
Wie in der Allgemeinen Erklärung erscheint die Nahrung im ersten Absatz als unselbständiger, integraler Bestandteil des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard. Im zweiten Absatz bildet sie aber ein eigenes Thema, als „grundlegendes“ Recht, vor Hunger geschützt zu sein. Redaktionell geht Art. 11 IPwskR vom subjektiven Recht eines jeden aus. Doch in der Sache werden objektive Aufgaben der Vertragsstaaten ausformuliert, die eine Ausübung dieses Rechts ermöglichen; es geht also in erster Linie nicht um das subjektive Recht des Einzelnen, sondern um dessen Voraussetzungen. Diese lassen sich nur herstellen, wenn alle Staaten gemeinsame Sache im Dienst des Individuums machen und nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Bedürfnisse zusammenarbeiten. Das Recht des Individuums besteht vornehmlich im gesicherten Zugang zur Nahrung; die Möglichkeit des Empfangs der Nahrung ergibt sich daraus in der Regel von selbst. Gegenstand der Garantie ist sowohl die ausreichende Quantität der Nahrung als auch deren angemessene, zuträgliche Qualität. Der Einfachheit halber mag man hier von einem Menschenrecht auf Nahrung sprechen und so die thematisch einschlägigen Bestandteile des Rechts auf angemessenen Lebensstandard zusammenfassen und verselbständigen. Die Implikationen des Rechts aus Art. 11 IPwskR werden vom Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen im einzelnen aufgedeckt und erläutert: 5 Das Menschenrecht des Art. 11 IPwskR sei untrennbar mit der naturgegebenen Würde der menschlichen Person und mit der sozialen Gerechtigkeit verbunden. Es fordere wirtschafts-, umwelt- und sozialpolitische Maßnahmen auf einzelstaatlicher wie auf internationaler Ebene, die auf Beseitigung der Armut und auf die Verwirklichung „aller
5
Ausschuß für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, 20. Tagung 1999, Sachfragen im Zusammenhang mit der Durchführung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, E/C. 12/1999/5, 12. Mai 1999 (im Folgenden zitiert: General Comment).
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Menschenrechte für alle“ gerichtet seien. 6 Der Wesensgehalt des Rechts beinhalte „die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln, die keine schädlichen Stoffe enthalten und die innerhalb einer bestimmten Kultur akzeptabel sind, in ausreichender Menge und Qualität, um die individuellen Ernährungsbedürfnisse zu befriedigen; sowie den Zugang zu diesen Nahrungsmitteln in einer nachhaltigen Weise und ohne Beeinträchtigung des Genusses anderer Menschenrechte.“ 7 Das Menschenrecht auf Nahrung ist nicht self-executing. Es gibt dem Individuum kein Recht, auf das er sich selber unmittelbar berufen könnte. Adressaten sind die Vertragsstaaten, die durch geeignete Maßnahmen schrittweise für die volle Verwirklichung sorgen müssen. Das Menschenrecht verpflichtet auf drei Ebenen: – Als Achtungspflicht verbietet es dem Staat, den Zugang zur Nahrung zu verhindern (staatsrechtliches Pendant: die Abwehrfunktion der liberalen Grundrechte). – Als Schutzpflicht verlangt es, daß der Staat den Zugang vor Übergriffen Dritter absichert (staatsrechtliches Pendant: die Schutzfunktion der liberalen Grundrechte). – In seiner Erfüllungspflicht hat der Staat den Zugang und die Nutzung zu erleichtern sowie notfalls die Nahrung zu gewähren (staatsrechtliches Pendant: Staatsaufgabe zur Sicherstellung und soziales Grundrecht). 8 Zur Erfüllung ihrer Pflicht haben die Staaten das Höchstmaß ihrer verfügbaren Ressourcen auszuschöpfen und sich notfalls um internationale Hilfe zu bemühen. Die übrigen Vertragsstaaten haben Hilfe zu leisten. 9 Das Menschenrecht auf Nahrung steht also unter dem Vorbehalt einer erfolgreichen internationalen Zusammenarbeit, aber auch einer guten „Regierungs- und Verwaltungsführung“, zu der eine unabhängige Gerichtsbarkeit gehört. 10 Schon letztere Vorausset6
General Comment, Nr. 4. General Comment, Nr. 8. 8 General Comment, Nr. 15. 9 General Comment, Nr. 17, 36. 10 General Comment, Nr. 23, 32. 7
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zung ist in den meisten Staaten nicht erfüllt. Vom guten Willen der Vertragsstaaten hängt es ab, ob, wieweit und in welcher Form sie das Programm ausführen. Sie behalten sich vorsorglich in demselben Vertragsdokument das Recht auf Selbstbestimmung vor, über ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden (Art. 1 Abs. 1) und damit von sich aus darüber zu befinden, was es inhaltlich mit diesem „Recht eines jeden“ auf sich hat und welche Verbindlichkeit dieses Recht erhalten soll. Im übrigen zeigt sich hier das Dilemma, das für alle sozialen Rechte typisch ist. 11 Die Proklamation eines Rechts auf Nahrung erwirkt nicht, daß Manna vom Himmel regnet. Die „Gewähr ausreichender Ernährung“ setzt das Vorhandensein ausreichender Ressourcen voraus und die Befugnis des Staates, über sie zu verfügen. Das versteht sich für alle Staaten und unter jedweden Bedingungen nicht von selbst. Wo nichts ist, hat selbst der noch so vertragstreue Staat sein Recht verloren. Im übrigen unterscheiden sich die Vertragsstaaten nicht nur im Niveau ihres Wohlstandes, sondern auch im Niveau ihrer Bereitschaft, völkerrechtliche Verpflichtungen ernst zu nehmen und sich staatsrechtlich gegenüber den eigenen Bürgern durch Anerkennung subjektiver Leistungsrechte zu binden. Die interpretatorischen Versuche, den sozialen Rechten des Internationalen Paktes rechtspraktische Relevanz zu erschließen, sind wirkungslos, wo die realen und die rechtlichen Voraussetzungen bei den Vertragsstaaten fehlen. Wo sie aber vorhanden sind, erweisen sie sich als überflüssig. Letzteres gilt für Deutschland.
11
Dietrich Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR), Bd. IX, 32011, § 192 Rn. 55 ff.; Otto Depenheuer, Vorbehalt des Möglichen, in: HStR XII, 32014, § 269 Rn. 19 ff., 45 ff.
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2. Transformation in deutsches Recht Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist Bestandteil des deutschen Rechts geworden. Doch ein Recht auf Nahrung, das den Namen und den Rang eines Grundrechts verdient, ist hier nicht eingeführt worden. Die Transformation in innerstaatliches Recht, auf welchem der vom Grundgesetz vorgesehenen Wege auch immer, führt ihr nicht normative Kraft zu, die sie als bloße Empfehlung von Haus aus gar nicht beansprucht. 12 Das gilt nicht ohne weiteres für den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Dieser hat über das deutsche Zustimmungsgesetz im Jahre 1976 innerstaatliche Geltung als einfaches Bundesgesetz erlangt. 13 Das Menschenrecht auf Nahrung ist eine Norm unter vielen. In seiner Abstraktheit tritt es hinter den einschlägigen konkreten Normen zurück, die seine Thematik vollständig abdecken. Es bezeichnet eine objektive Staatsaufgabe, der kein subjektives Recht korrespondiert. Was die ursprüngliche Rechtsquelle des Völkerrechts nicht bietet, wächst dem Menschenrecht auf Nahrung auch durch die Transformation in innerstaatliches Recht nicht von selber zu. Verfassungsrang ergibt sich auf diesem Wege nicht von selbst. In der Verfassungsinterpretation regen sich Bemühungen, den völkerrechtlichen Menschenrechtsgarantien Einlaß in das Grundgesetz zu verschaffen über sein Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Abs. 2 GG). Das Bekenntnis wird als dynamische 12
Zur mangelnden Verbindlichkeit Christian Tomuschat, Gewährleistung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen, in: HStR XI, 32012, § 208 Rn. 8. – Dagegen spricht Martin Nettesheim der Erklärung mittelbare Rechtswirkungen zu (Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und ihre Rechtsnatur, in: HGR VI/2, 2009, § 173 Rn. 47 ff.). 13 Art. 59 Abs. 2 GG. Als einfaches Recht wird der Pakt zitiert in BVerfGE 132, 134 (161 f.). Allgemein Silja Vöneky, Verfassungsgericht und völkerrechtliche Verträge, in: HStR XI, 32013, § 236 Rn. 14 ff., 26 f.
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Verweisung auf die unaufhaltsam wachsende, disparate Menge von „Menschenrechten“ im positiven Völkerrecht verstanden, sei es en bloc, sei es als Kern, sei es als Mindeststandard. 14 Doch das Bekenntnis gilt nicht den positivrechtlichen Regelungen in ihrem jeweiligen Stand, sondern der naturrechtlichen Idee der Menschenrechte, die allen positivrechtlichen Ausprägungen vorhergeht, denen des Völkerrechts wie den „nachfolgenden“ Grundrechten des Grundgesetzes. 15 Das Menschenrecht auf Nahrung ginge den einfachen Bundesgesetzen vor, wenn es als eine allgemeine Regel des Völkerrechts ausgewiesen werden könnte (Art. 25 GG). Verfassungsrang erlangte es damit freilich nicht. 16 – Als Bestandteil des Völkervertragsrechts kommt ihm von vornherein nicht die Qualität der Allgemeinen Regel zu. Diese bezieht sich allein auf Völkergewohnheitsrecht. Diese Qualität hat es aber noch nicht erreicht. Dazu ist selbst unter den Vertragsstaaten der substantielle Konsens zu gering. Nur wenige nehmen den Pakt juristisch so ernst wie Deutschland. In vielen Staaten fehlen die organisatorischen Voraussetzungen einer „guten Regierungs- und Verwaltungsführung“, ohne die sich das Menschenrecht nicht verwirklichen läßt. 14
Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig (Hg.), GG, Stand 2004, Art. 1 Abs. 2 GG Rn. 30 ff.; Philip Kunig, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 62012, Art. 1 Rn. 44. Tendenziell auch BVerfGE 111, 307 (329); 128, 326 (367). Kritik: Christian Hillgruber, Der internationale Menschenrechtsstandard – geltendes Verfassungsrecht?, in: GS für Dieter Blumenwitz, 2008, S. 123 (124 ff.); Josef Isensee, Der Selbstand der Verfassung in ihren Verweisungen und Öffnungen, in: AöR 138 (2013), S. 325 (342 ff.). 15 Horst Dreier, Art. 1 Abs. 2 GG Rn. 18, in: ders. (Hg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2 2004; Hillgruber, S. 139; Isensee, S. 343. 16 BVerfGE 6, 309 (363); 111, 307 (318); Stephan Talmon, Die Grenzen der Anwendung des Völkerrechts im deutschen Recht, in: JZ 2013, S. 12 (15 f.); Isensee, S. 344 ff. Für Verfassungsrang: Karl Doehring, Die allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts und das deutsche Verfassungsrecht, 1963, S. 4; Hans-Joachim Cremer, Allgemeine Regeln des Völkerrechts, in: HStR XI, 3 2013, § 235 Rn. 27. – Zur Streitfrage, ob aus einer objektiven allgemeinen Regel des Völkerrechts innerstaatliche subjektive Impulse über Art. 25 S. 2 GG fließen können Cremer, aaO., § 235 Rn. 31 ff.
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Wo der reguläre Einlaß zum Grundgesetz für das internationale Recht verschlossen bleibt, wächst das Bedürfnis nach einem heimlichen Zugang. Als solcher bietet sich die völkerrechtsfreundliche Auslegung an, die, an den Verfahrens- und Inhaltskautelen einer Verfassungsrevision vorbei, den klandestinen Verfassungswandel nach moralischer wie politischer Neigung des jeweiligen Interpreten, zumal des Bundesverfassungsgerichts, gestattet. 17 Doch eine solche Diffusion der Rechtssphären verträgt sich nicht mit dem Anspruch des Grundgesetzes auf Selbstand und Textklarheit. 18 Fazit: Das völkerrechtliche Menschenrecht auf Nahrung geht nicht in das deutsche Verfassungsrecht ein und zeugt kein korrespondierendes deutsches Grundrecht.
III. Vorgaben des bestehenden Wirtschaftssystems Auf dem Gebiet der Ernährung hängen Inhalt und Umfang der Staatsaufgaben wie Inhalt und Reichweite der Grundrechte ab von dem bestehenden Wirtschaftssystem. Dieses ist in gewissem Maße die Voraussetzung der Verfassung: Vorgabe der Realität und politischer Entscheidungen. In bestimmtem Maße ist sie aber auch Werk der Verfassung, soweit diese nämlich die politischen 17
Auf „eine Verfassungsänderung ohne Verfassungstextänderung“ hofft Härtel, S. 32. Christoph Vedder postuliert, daß die allgemeinen UN-Menschenrechtspakte durch völkerrechtsfreundliche Auslegung „mittelbarer Verfassungsrang“ zuerkannt werde (Die allgemeinen UN-Menschenrechtspakte und ihre Verfahren, in: HGR VI/2, 2009, § 174 Rn. 163). – Allgemein zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung: BVerfGE 111, 307 (318); 128, 326 (366); Christian Tomuschat, Staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HStR XI, 3 2013, § 226 Rn. 36 ff.; Matthias Jestaedt, Selbstand und Offenheit der Verfassung gegenüber nationalem, supranationalem und internationalem Recht, HStR XII, 32014, § 264 Rn. 78 ff. 18 Allgemein: Isensee, S. 342 ff.; Jestaedt, § 264 Rn. 43 ff., 78 ff. Grundsatzkritik am blinden Vertrauen der Verfassungsinterpreten in die größere Güte des Völkerrechts: Talmon, S. 12 ff., 20 f.
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Entscheidungen steuert. Die denkbaren Wirtschaftssysteme sollen durch die Modelle der Marktwirtschaft und der Planwirtschaft repräsentiert werden. Es macht einen wesentlichen Unterschied, ob die Versorgung über den Markt oder durch staatliche Lenkung erfolgt.
1. Marktwirtschaft Im marktwirtschaftlichen System liegen Erzeugung, Handel und Vertrieb von Nahrungsmitteln in privater Hand. Der Verbraucher versorgt sich auf dem Markt nach Bedarf und Geschmack im Rahmen seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten. Das rechtliche Medium ist der privatrechtliche Vertrag. Dessen Fundament, die Privatautonomie, wird grundrechtlich sanktioniert durch die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und, soweit professionelle Anbieter beteiligt sind, durch die Freiheit des Berufs (Art. 12 Abs. 1 GG). 19 Dieses Grundrecht sowie die Garantie des Privateigentums (Art. 14 Abs. 1 und 2 GG) schützen die landwirtschaftliche Urproduktion. Der Staat gewährleistet die rechtlichen Rahmenbedingungen des Marktes, indem er die privatrechtlichen Handlungsformen bereitstellt, ein Mindestmaß an Redlichkeit und Verhandlungsgleichgewicht der Vertragspartner absichert und für Rechtssicherheit und Marktvertrauen sorgt. Er überläßt den Lebensmittelmarkt nicht vorbehaltlos dem freien Spiel der Kräfte. Vielmehr schützt er die Volksgesundheit vor den Gefahren, die von minderwertigen und schädlichen Lebens- und Genußmitteln ausgehen. Er fördert Qualität und Transparenz des Angebots, obwohl er grundsätzlich die Priorität des Marktes achtet. Ihm verbleibt die Letztverantwortung für „die Sicherung der Ernährung“, die sich – dem Subsidiaritätsprinzip gemäß – aktualisiert, wenn der Markt 19
Zur grundrechtlichen Fundierung der Privatautonomie Josef Isensee, Privatautonomie, in: HStR VII, 32009, § 150 Rn. 50 ff.
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seine Versorgungsaufgabe nicht hinlänglich oder überhaupt nicht erfüllt, so im Fall einer Naturkatastrophe oder eines Notstands anderer Art, der Versorgungsengpässe oder gar Hungersnot auslösen könnte. Der an die Grundrechte der Marktteilnehmer gebundene Rechtsstaat dosiert seine Interventionen nach dem Übermaßverbot. Regulierung kommt vor staatlicher Eigenregie. Zur legitimen Vorsorge für den Notfall gehört die Anlage einer Nahrungsreserve. Der Auftrag, die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen, findet sein Pendant in dem Sicherstellungsauftrag für das Gesundheitswesen. 20 Beide gründen in dem Staatszweck, die elementaren Bedingungen des Lebens und der Gesundheit subsidiär zu gewährleisten, für den Fall, daß die primär berufenen privaten Leistungserbringer versagen. Wiewohl nicht im Verfassungstext förmlich ausgewiesen, darf man diese Aufträge der materiellen Verfassung zurechnen. Das Marktmodell setzt voraus, daß jedermann über hinreichende Mittel verfügt, um sich auf dem Markt zu versorgen. Wo es an der Voraussetzung mangelt, leistet der Sozialstaat Kompensation durch Sozialhilfe. Er sichert den Mindeststandard eines menschenwürdigen Unterhaltsbedarfs. Das Thema Nahrung ist nicht nur eine Frage des Überlebens, sondern auch und vornehmlich eine Frage des guten Lebens, nicht nur des Verzehrs, sondern auch des Genusses. Daher darf das Thema nicht einseitig von der Mindestversorgung her allein als soziales Thema gesehen werden; es ist nicht minder ein kulinarisches Thema. Wo Freiheit sich mit Wohlstand verbindet, können sich Speise und Trank aus den Niederungen der biologischen Notwendigkeit zu höchsten Höhen und Feinheiten der Kultur erheben, künstlerisches Raffinement annehmen und geradezu Kultobjekt werden.
20
Zur Kategorie des Sicherstellungsauftrags Hermann Butzer, Sicherstellungsauftrag, in: HStR IV, 32006, § 74 Rn. 1 ff., 24 ff., 38 ff.
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2. Planwirtschaft Im planwirtschaftlichen Modell tritt der Staat an die Stelle des Marktes, die hoheitliche Zuteilung an die Stelle des vertraglichen Leistungsaustauschs, der nach allgemeinen, objektiven Kriterien zugemessene Bedarf an die Stelle der Willkür des Verbrauchers. Der Staat, der die Nahrungsgüter verteilen will, muß sich zuvor die Verfügung über die Verteilungsmasse verschaffen und Produktion, Import, Export und Handel nach seinem Plan regulieren, wenn er sie nicht von vornherein in eigener Regie führt. Während im Marktmodell Anbieter und Verbraucher, grundrechtlich gesehen, sich auf gleicher Ebene begegnen – beide sind Grundrechtsträger, die zum vertraglichen Ausgleich ihrer gegenläufigen Interessen kommen müssen –, besteht im planwirtschaftlichen Modell das Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen dem Verteilerstaat und dem Verbraucher. Die Macht über die Verteilung der Lebensmittel ist Macht über Leib und Leben. Sie hält den Verbraucher in Abhängigkeit und kann mißbraucht werden, um ihn allseits gefügig zu machen, zu belohnen und zu bestrafen. 21 Der Entzug der Lebensmittelkarte kann ein Todesurteil bedeuten oder die soziale Degradierung zum Bettler. Unter rechtsstaatlichen Bedingungen geht das grundrechtliche Interesse des Verbrauchers nicht auf die Abwehr lästiger Eingriffe des Staates (status negativus), sondern auf möglichst günstige Teilhabe an staatlichen Leistungen (status positivus). Der grundrechtliche Sicherungszweck liegt nicht bei den Freiheits-, sondern bei den Gleichheitsrechten. Diese müssen sich als Maßstäbe für die Verteilung knapper Güter bewähren. Während der Markt das Knappheitsproblem unter den Bedingungen der Freiheit in einer unabsehbaren Vielzahl von Einzelentscheidungen bewältigt, muß der Staat der Planwirtschaft den Mangel nach zentralem Pro21
Die französische Militärregierung sanktionierte die versäumte Meldepflicht beim Arbeitsamt durch den Entzug der Lebensmittelkarte. Dazu Bad. Staatsgerichtshof, S. 50 f.
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gramm verwalten und die Güter nach verallgemeinerungsfähigen Kriterien zuteilen. Das bedeutet nicht, daß jeder die gleiche Portion von Lebensmitteln erhält, sondern jeder die Portion, die seinem Bedarf entspricht, so jedenfalls das Ideal. Die Rationierung der Lebensmittel im zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit hat Differenzierungsschemata von Normalverbrauchern und Selbstversorgern hervorgebracht und diese wiederum modifiziert durch Zulagen für Schwerarbeiter, Kranke, Prämien für politisch Privilegierte und vieles mehr. Doch wo in der Diktatur ein Machtspruch genügt, um den Verteilungsmodus festzulegen, erheben sich im Rechtsstaat hochkomplizierte Verteilungsprobleme, wenn sich grundrechtssensible Sonderbedürfnisse melden, die sich nicht standardisieren lassen: Rücksichten auf Gesundheitspflege und Krankheit, auf religiöse Speiseregeln (koscheres Essen), auf kulinarische und asketische Neigungen. Die Differenzierungen können zum progressus in infinitum führen. Selbst eine perfekte, effiziente, rechtsstaatlich enthemmte Diktatur, wie weiland das NS-Führerregime und die anschließende Besatzungsherrschaft oder das sowjetsozialistische System der DDR, kann nicht verhindern, daß sich neben dem System der regulierten Verteilung ein Schwarzer Markt bildet, eine Untergrundökonomie heimlicher Tauschgeschäfte, an der jedoch nur teilnimmt, wer marktgängige Ware oder harte Währung einbringen kann. Das Marktmodell erspart sich diese Schwierigkeiten. Es unternimmt erst gar nicht den Versuch, der iustitia distributiva zu genügen, weil es auf die iustitia commutativa setzt. Unter einer freiheitlichen Verfassung läßt sich die Planwirtschaft auf dem Gebiet der Ernährung allenfalls als Notlösung bei Versorgungsengpässen vor den Freiheitsrechten rechtfertigen. Doch Notlösungen neigen dazu, sich zum Dauerzustand zu verfestigen, weil jedes Zwangsregime seine Nutznießer hat, nicht zuletzt die Staatsorganisation, die einen außerordentlichen Zuwachs an Lenkungs-, Verteilungsund Erziehungsmacht erfährt und diese ungern aufgibt. Sie kann sich nicht auf die Lehre von der Neutralität des Grundgesetzes in 170 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Fragen der Wirtschaftsordnung berufen. Denn diese Lehre zerschellt an den liberalen Grundrechten, zumal der Berufsfreiheit, der Eigentumsgarantie und der Koalitionsfreiheit. 22 Die folgende Grundrechtsdiskussion geht vom Marktmodell als Normalität aus, genauer: von der sozialen Marktwirtschaft.
IV. Kompetenzen und Staatsaufgaben Die „Sicherung der Ernährung“ ist das ausdrückliche Thema einer konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG). 23 Mittelbar relevant sind Kompetenzen, welche die Produktion von Lebensmitteln und den Handel mit ihnen betreffen, so die „Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung“, die „Ein- und Ausfuhr land- und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 17 GG), „das Recht der Lebensmittel einschließlich der ihrer Gewinnung dienenden Tiere, das Recht der Genußmittel, Bedarfsgegenstände und Futtermittel sowie den Schutz beim Verkehr mit land- und forstwirtschaftlichem Saat- und Pflanzgut“ (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG), die „Verbesserung der Agrarstruktur“ (Art. 91 a Abs. 1 Nr. 2 GG). Kompetenznormen wie diese verteilen die Staatsaufgaben auf die verschiedenen Ebenen des dezentralen Gemeinwesens und regeln, ob der Bund oder die Länder zum Handeln befugt sind. Ob und wie eine Gesetzgebungskompetenz ausgeübt wird, entschei22
Zu der Streitfrage: BVerfGE 4, 7 (17 f.); 7, 377 (400); 14, 19 (23); 30, 292 (315); 50, 290 (336 ff.); Hans Heinrich Rupp, Grundgesetz und „Wirtschaftsverfassung“, in: HStR IX, 11997, § 203 Rn. 14 ff.; Reiner Schmidt, Staatliche Verantwortung für die Wirtschaft, in: HStR IV,32006, § 92 Rn. 14 ff.; Paul Kirchhof, Erwerbsstreben und Maß des Rechts, in: HStR VIII, 32010, § 169 Rn. 1 ff., 4 ff.; Rupert Scholz, Koalitionsfreiheit, ebd., § 175 Rn. 23 ff. 23 Die Bayerische Verfassung nennt „Einrichtungen zur Sicherung der Ernährung“ als Angelegenheiten, die in den eigenen Wirkungskreis der Gemeinden fallen (Art. 83 Abs. 1 BayVerf ).
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det grundsätzlich der Gesetzgeber nach politischem Ermessen. Denn die Kompetenznormen enthalten Befugnisse, nicht aber Verpflichtungen zum Handeln. Ob eine Verpflichtung besteht, hängt von der jeweiligen Staatsaufgabe ab. Die Kompetenzbefugnisse setzen Staatsaufgaben voraus und lassen den Rückschluß zu, daß korrespondierende Staatsaufgaben bestehen, daß also das jeweilige Tätigkeitsfeld dem Staat überhaupt zugänglich und nicht von vornherein verschlossen ist. 24 Die einschlägigen Staatsaufgaben, die den Kompetenzen zugrunde liegen, bestehen darin, die nach Menge und Güte ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln für den Fall sicherzustellen, daß der Markt versagt, und die Sicherheit der Lebensmittel zu überwachen, also Gefahren für die Gesundheit zu bannen. Der Staat trifft gesetzliche Vorkehrungen für Fälle des inneren wie des äußeren Notstandes, für Katastrophen, Seuchen, Versorgungsengpässe; er legt Lebensmittelreserven an. 25 Staatsaufgaben wie Kompetenznormen sind objektives Recht. Sie geben dem Einzelnen keinen Anspruch darauf, daß sie zu seinen Gunsten ausgeübt werden. 26 Ein solcher Anspruch könnte sich nur aus einem Grundrecht ableiten oder durch ein einfaches Gesetz begründet werden. 27
24
Josef Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR IV, 32006, § 73 Rn. 20. Dazu Härtel, S. 30 f. 26 Allgemein zu den Kategorien der Kompetenz und der Staatsaufgabe: Isensee, § 73 Rn. 12 ff., 19 ff.; ders., Die bundesstaatliche Kompetenz, in: HStR VI, 3 2008, § 133 Rn. 38 ff. 27 Härtel will aus Art. 2 Abs. 2 GG das einklagbare Grundrecht deduzieren, daß der Staat die Grundversorgung mit Lebensmitteln sicherstellt, S. 30 f. 25
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Nahrung: Menschenrecht und Staatsaufgabe
V. Ernährung als grundrechtliches Thema Die Grundrechte können in dreierlei Funktion betroffen sein: 28 – als Abwehrrecht des Einzelnen, das seine Selbstbestimmung vor staatlichen Eingriffen schützt, – als Schutzpflicht des Staates, Leben, Gesundheit, Freiheit des Einzelnen vor Gefährdung und Übergriffen Dritter zu sichern, – als Anspruch auf staatliche Leistungen.
1. Abwehr staatlicher Eingriffe Jedermann genießt die Allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), sich mit Nahrung zu versorgen und nach seinen Möglichkeiten und Neigungen zu entscheiden, was und wie viel er verzehrt, ob er lediglich Hunger und Durst stillt oder feineren Regungen seines Geschmacks folgt, ob er seinem Appetit nachgibt oder fastet, ob er sich mit Hausmannskost begnügt oder an den Kultgerichten der haute cuisine labt, ob er ißt, was auf den Tisch kommt, oder sich gesundheitlichen Rücksichten, kosmetischen Idealen, religiösen Reinheitsgeboten unterwirft. Zuweilen werden Bedenken angemeldet, jedwede menschliche Lebensregung und Betätigungsform in den Schutzbereich des Grundrechts einzubeziehen, und gefordert, die Allgemeine Handlungsfreiheit auf einen engeren Bereich der Persönlichkeitsentfaltung zu beschränken. 29 Das könnte auch den Ausschluß der Ernährung bedeuten. Doch das Bundesverfassungsgericht verwirft die Bedenken, 30 und das zu Recht, weil die Grundrechte auf umfassenden Freiheitsschutz angelegt sind, und die Allgemeine
28
Analog die Distinktionen in Comment, Nr. 15. S. o. II/1. Sondervotum des Richters Grimm, BVerfGE 80, 164 ff. Weit Nachw. Rupert Scholz, Das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 100 (1975), S. 80 ff. 30 BVerfGE 80, 137 (153 f.) – Reiten im Walde. 29
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Josef Isensee
Handlungsfreiheit die Lücken füllt, welche die besonderen Freiheitsgarantien belassen. 31 Freilich ist das seinem Schutzbereich nach weiteste aller Freiheitsgrundrechte am ehesten staatlichen Einschränkungen zugänglich. Jede Einschränkung der Freiheit bedarf eines hinreichend bestimmten, förmlichen Gesetzes als Grundlage. Sie darf nur zu einem legitimen Ziel erfolgen. Ein solches ist der Schutz der Volksgesundheit im allgemeinen, der Schutz der Jugend, überhaupt der Schutz Dritter, nicht aber der Schutz des Einzelnen vor seiner eigenen Dummheit, wenn und soweit er Herr seiner Sinne und der Selbstbestimmung fähig ist. Grundsätzlich ist es dem Gesetzgeber verwehrt, den Menschen vor sich selbst zu schützen, 32 zu „gesunder“ Kost zu zwingen und zu „gesundem“ Leben zu erziehen, vor Trunksucht, Völlerei, Magerkeitswahn zu bewahren, ihm übermäßigen Fleisch- und Alkoholgenuß zu verbieten und wenigstens zeitweise vegetarische Enthaltsamkeit zu verordnen („veggie day“). 33 Eine generelle Regulierung des Verzehrs ließe sich auch nicht aus dem Zweck rechtfertigen, der Krankenversicherung Kosten zu ersparen. So weit geht die Solidarpflicht nicht. 34 Der freiheitliche Staat nimmt den Menschen, wie er ist, in seinen Neigungen und Gewohnheiten, mögen sie auch töricht, leichtsinnig und gesundheitsschädlich erscheinen. Ein jeder darf für die eigene Person
31
Matthias Cornils, Allgemeine Handlungsfreiheit, in: HStR VII, 32009, § 168 Rn. 1 f., 60 ff. 32 Ingo v. Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst?, in: FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 113 ff.; Christian Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1991, S. 111 ff.; Josef Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR IX, 32011, § 191 Rn. 244 ff.; Herbert Bethge, Grundrechtswahrnehmung, Grundrechtsverzicht, Grundrechtsverwirkung, ebd., § 203 Rn. 151. 33 Für ein „Recht auf Rausch“ aus Art. 2 Abs. 1 GG: Bethge, § 203 Rn. 151. 34 Streitig. Dazu Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2009, S. 136 ff.; Ralf Müller-Terpitz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: HStR VII, 32009, § 147 Rn. 98.
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Nahrung: Menschenrecht und Staatsaufgabe
Risiken übernehmen, soweit er nicht andere oder die Allgemeinheit in Mitleidenschaft zieht. 35 Ein legitimes Ziel allein reicht nicht aus, um einen Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsgrundrechts zu rechtfertigen. Der Eingriff muß im Hinblick auf das Ziel tauglich, angemessen, „verhältnismäßig“ und von den verschiedenen zieltauglichen Mitteln das schonendste sein. So rechtfertigt der Schutz der Volksgesundheit zwar das vollständige Verbot von Rauschgiften, nicht jedoch das Verbot aller virtuell gesundheitsschädlicher Reizmittel wie Tabak und Alkohol, deren Konsum in unserer Kultur „eingebürgert“ ist. Der Schutz der Passivraucher ist ein legitimes Ziel, um das Rauchen in bestimmten öffentlichen Räumen zu verbieten, 36 nicht jedoch innerhalb von Privatwohnungen. Ein umfassendes Rauchverbot oder die Einführung der Prohibition scheiterten am Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit. 37 Die grundrechtliche Freiheit deckt auch die Verweigerung der Nahrung. Der Hungerstreik ist ein mögliches Mittel, öffentlichkeitswirksamen Protest zu bekunden, und ein freilich unkonventionelles Mittel, so seine Meinung zu äußern. Daß der Hungernde seine Gesundheit nachhaltig schädigen könnte, rechtfertigt nicht die zwangsweise Zuführung von Nahrung. Die Zwangsernährung greift nicht nur in die Freiheit, sondern auch in die körperliche Unversehrtheit ein und stößt hier auf zusätzlichen Widerstand in einem Grundrecht. 38 Das gilt auch dann, wenn es sich um einen Strafgefangenen handelt. Der Anstaltsträger darf sich nicht ohne weiteres über die freie Willensbestimmung des Gefangenen hinwegsetzen, solange er deren noch fähig ist. Das Strafvollzugsgesetz sieht unter dieser Voraussetzung zwar keine Verpflichtung der 35
Müller-Terpitz, § 147 Rn. 98. BVerfGE 121, 317 (344 ff.). 37 Bethge, § 203 Rn. 151. 38 Qualifikation der Zwangsernährung als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit: Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 1, 62010, Art. II Rn. 194; Isensee, (N 32), § 191 Rn. 245; Udo Fink, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in: HGR IV, 2011, § 88 Rn. 36. 36
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Vollzugsbehörde vor, eine Zwangsernährung durchzuführen. Doch es erklärt diese für zulässig bei Lebensgefahr, bei schwerwiegender Gefahr für die Gesundheit des Gefangenen oder bei (Ansteckungs-)Gefahr für die Gesundheit anderer Personen, falls die Maßnahmen für die Beteiligten zumutbar sind und nicht mit erheblicher Gefahr für Leben und Gesundheit des Gefangenen verbunden sind. 39 Sobald der Lebensmüde die freie Willensbestimmung verloren hat, lebt die grundrechtliche Pflicht des Anstaltsträgers zur künstlichen Nahrungszufuhr auf. Die grundrechtliche Staatsabwehr schlägt um in eine staatliche Leistungspflicht. 40 Zur grundrechtlichen Freiheit gehört es, die künstliche Lebensverlängerung, mit ihr die Nahrungszufuhr, abzulehnen und darüber eine Patientenverfügung zu treffen. Umstritten ist jedoch, ob zur grundrechtlichen Freiheit auch die künstliche Lebensverkürzung durch Nahrungsverweigerung gehört. Das hängt davon ab, ob ein „Grundrecht auf Suizid“ anerkannt wird oder nicht. 41 Wenn nicht, so kann das staatliche Recht die Befugnis oder sogar die Pflicht zur Zwangsernährung statuieren. Wenn ein Recht auf Suizid aber besteht, darf sich der Staat aus gewichtigen Gründen darüber hinwegsetzen und die Ernährung durchführen, so in Fällen, in denen der Betreffende sein Bewußtsein verloren hat oder wenn der freiwillige Hungertod zur politischen Demonstration angeblichen Unrechts dienen soll. 42 So oder so stößt die Polizei auf keine grundrechtlichen Bedenken, wenn sie jeden Selbstmordversuch als Unglücksfall nach § 323 c StGB und als Störung der öffentlichen Sicherheit ansieht und helfend eingreift. 43 39
§ 101 Abs. 1 StVollzG. Isensee (N 32), § 191 Rn. 245. Zur Leistungspflicht s. u. 3. 41 Dazu Hillgruber, S. 78 ff.; Müller-Terpitz, § 147 Rn. 38 f.; Bethge, § 203 Rn. 152. 42 Bethge, § 203 Rn. 153. 43 Klaus Vogel/Wolfgang Martens, Gefahrenabwehr, 91986, S. 230; Klaus Schönenbroicher/Andreas Heusch, Ordnungsbehördengesetz Nordrhein-Westfalen, 2014, § 1 Rn. 61. 40
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Nahrung: Menschenrecht und Staatsaufgabe
Der konträre Eingriff zur Zwangsernährung ist der Zwangsentzug der Nahrung. Dieser wie jene rühren an die grundrechtliche Freiheit und körperliche Unversehrtheit. Der Entzug kann das Recht auf Leben antasten: Tötung durch Aushungerung. Das ungeheuerliche Beispiel ist die 1932/33 von Stalin im Zuge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion („Entkulakisierung“) organisierte große Hungersnot, die das freie Bauerntum als soziale Klasse beseitigen sollte und dazu führte, daß es auch physisch vernichtet wurde: mehr als 6 Millionen Opfer, davon 4 Millionen in der Ukraine. 44 Ein Verbrechen solchen Ausmaßes setzt den totalitären Staat voraus. Für eine liberale Demokratie liegt sie jenseits des Denkmöglichen.
2. Staatlicher Schutz vor privaten Übergriffen Die Grundrechte wehren nicht nur ungerechtfertigte Eingriffe des Staates ab. Sie bieten auch Sicherheit vor den Übergriffen Privater in die Grundrechtsgüter Freiheit und Eigentum, Leben und Gesundheit. Der Staat erfüllt seine grundrechtliche Verpflichtung nicht allein dadurch, daß er sich der nicht rechtfertigungsfähigen eigenen Eingriffe enthält (status negativus), sondern auch dadurch, daß er Schutz vor illegitimen Eingriffen anderer gewährleistet (status positivus). Die grundrechtlichen Konstellationen unterscheiden sich dadurch, daß der Staat an sich über legitime Zwangsgewalt verfügt, aber in ihrer Ausübung durch die Grundrechte und andere rechtsstaatliche Vorkehrungen beschränkt ist, daß dagegen dem Privaten physischer Zwang versagt ist, so daß jede Zwangsmaßnahme von vornherein illegitim ist (von Notwehr- und Notstandslagen abgesehen, in denen staatliche Hilfe nicht bereitsteht). 45 44
Nicolaus Werth, Ein Staat gegen sein Volk, in: Stéphane Courtois et alii (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, 41998, S. 45 (165 ff., 178 ff.). 45 Zur Unterscheidung der Abwehr- von der Schutzfunktion Isensee (N 32), § 191 Rn. 1 ff., 47 ff., 217 ff. (Nachw.).
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Josef Isensee
Das gilt auch für den Zwang bei Auswahl, Zufuhr und Entzug der Nahrung. Die grundrechtliche Schutzpflicht aktualisiert sich, wenn Eltern ihrer Verantwortung nicht genügen, weil sie nicht für die angemessene und hinreichende Ernährung des Kindes sorgen. Hier ist das staatliche Wächteramt gefordert, Abhilfe zu schaffen. 46 Zur staatlichen Schutzpflicht für die körperliche Unversehrtheit gehört die Sorge für die hygienische Qualität der Lebensmittel und für die Transparenz von potentiell gesundheitsschädlichen Faktoren. Der Staat erfüllt seine Verpflichtung durch Gesetze auf den Gebieten des Lebensmittel- und Gesundheitswesens, durch Kontrolle, Beratung, Aufklärung. 47 Aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit, verbunden mit dem Staatsziel des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen, wird die Pflicht des Staates abgeleitet, die Kennzeichnung von Lebensmitteln auf bestimmte Gesundheitsrisiken hin vorzusehen, um die „Selbstbestimmung bei der Ernährung“ zu sichern. 48 In diesen Zusammenhang gehören auch die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der Passivraucher, hinter dem in gewissem Maße die Freiheit der Raucher zurückstehen muß. 49 Hier wird nicht der Konsument vor Gefahren geschützt, die der Produzent und Händler verursacht, sondern der unfreiwillig vom Genußmittelkonsum anderer Betroffene. Die staatliche Schutzpflicht stellt sich hier wie auch sonst zunächst 46
Art. 6 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG. Zum Wächteramt als Emanation der Schutzpflicht für die Grundrechte des Kindes Isensee (N 32), § 191 Rn. 38 ff. 47 Zur Lebensmittelsicherheit Härtel, S. 29 f. Sie überdehnt jedoch die Funktion der grundrechtlichen Schutzpflicht, wenn sie den staatlichen Auftrag zur „Grundsicherung mit Lebensmitteln“ und zur „Lebensmittelsicherheit“ einbezieht, ihn zum Individualanspruch ausbaut und den Unterschied zwischen der rechtsstaatlichen Thematik der Schutzpflicht und der sozialstaatlichen der Leistungsgewähr überspielt. 48 Dietrich Murswiek, in: Sachs (Hg.), GG, 52009, Art. 2 Rn. 112 ff.; Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), GG, Bd. 1, 62010, Art. 2 Rn. 233. 49 BVerfGE 121, 317 (344 f., 354 f.); Michael Sachs, Nichtraucherschutz in Gaststätten vor dem Bundesverfassungsgericht, in: FS für Herbert Bethge, 2009, S. 251 ff.
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als objektiver Verfassungsauftrag dar. Aus ihm können sich aber Ansprüche auf geeignete und wirksame Maßnahmen des Schutzes ableiten.
3. Gewähr staatlicher Leistungen a) Sozialrechtlicher Unterhaltsanspruch Die Freiheitsgrundrechte bauen auf der Erwartung, daß jedermann in der Lage ist, für seine Nahrung zu sorgen, sei es aus eigener Kraft, sei es aufgrund von Leistungen anderer, zumal der Familie. Soweit diese Erwartung sich aber nicht erfüllt, tritt die Sozialhilfe ein. Sie bietet Hilfe zum Lebensunterhalt, der für die Gewährleistung des Existenzminimums notwendig ist. Dazu gehört die Nahrung, als ein Bedarf unter anderen, die exemplarisch aufgezählt werden: Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie, persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens, Unterkunft, Heizung. 50 Da die Nahrung nur ein unselbständiger Bestandteil des Rechts auf den notwendigen Lebensunterhalt ist, wird dieser Bedarf eigens so bemessen, daß er die vollwertige Ernährung sichert, als Regelbedarf nach ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen in statistischer Umsetzung (Warenkorbmodell), ergänzt um zusätzliche Bedarfe, die den Besonderheiten im einzelnen gemäß dem Individualisierungsgrundsatz der Sozialhilfe Rechnung tragen. 51 Die Leistungen werden grundsätzlich in Geld erbracht. Geldleistungen haben Vorrang vor Gutscheinen oder Sachleistungen. Geldleistungen belassen den individuellen Bedürfnissen und Neigungen Raum und respektieren so die Freiheit des Empfängers, 50
§ 27 a Abs. 1 S. 1 SGB XII. Vgl. auch § 28 Abs. 1 S. 1 SGB I. §§ 27 a – 31 SGB XII. – Dazu Falk Poscher, in: Bieritz-Harder et alii (Hg.), Sozialgesetzbuch XII, 92012, § 27 a Rn. 5 f. – Zum Individualisierungsgrundsatz allgemein Meinhard Heinze, Sozialleistungen, in: v. Maydell/Ruland (Hg.), Sozialrechtshandbuch, 21996, S. 285 (299 ff.).
51
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über seine Ernährung und sonstigen Bedürfnisse nach Gusto zu bestimmen. In erster Linie gewährleistet die Sozialhilfe den Zugang zur Nahrung, also nicht die Nahrung selbst. Gutscheine oder Sachleistungen bedürfen der besonderen Rechtfertigung. Die Rechtfertigung ist möglich, wenn die Ziele der Sozialhilfe in diesen Formen besser und wirtschaftlicher erreicht werden, wenn die Gefahr des Mißbrauchs besteht, der Leistungsberechtigte nicht fähig ist, mit den Geldleistungen den eigenen Regelbedarf zu decken (Drogen- oder Alkoholabhängigkeit) oder er selber es wünscht. 52 b) Recht auf Leben Die Frage ist, ob und wie die einfachrechtliche Garantie von der Verfassung unterfangen wird, insbesondere, ob es ein einklagbares Grundrecht auf ausreichende und angemessene Nahrung gibt, wie es in den internationalen Menschenrechtspakten, wenn auch ohne rechtspraktische Relevanz, vorgezeichnet wird. Es liegt nahe, die sedes materiae im Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) zu suchen. In der Tat wird die Auffassung vertreten, daß aus diesem Grundrecht der Anspruch folge, vor dem Verhungern bewahrt zu werden. 53 Im Recht auf Leben steckt auch das Recht zum Überleben, doch nicht das Recht auf Lebensmittel. Die ausreichende und angemessene Ernährung gehört nicht zum Schutzbereich. Vielmehr bildet sie dessen reale Voraussetzung. 54 Aber sie ist noch nicht einmal die spezifische Voraussetzung gerade für dieses Grundrecht. Vielmehr gilt das Gleiche für das Recht auf körperliche Unversehrtheit, für die Allgemeine Hand-
52
§ 10 Abs. 3 SGB XII, § 24 Abs. 1 und 2 SGB II. Udo Di Fabio, in: Maunz-Dürig, Stand 2013, Art. 2 Abs. 2 Rn. 45. Zustimmend Härtel, S. 31. Zurückhaltend Walter Georg Leisner, Existenzsicherung im öffentlichen Recht, 2007, S. 135 ff. 54 Allgemein Josef Isensee, in: HStR IX, 32011, § 190 Rn. 49 ff., 89 ff., 96 ff., 184 ff. 53
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lungsfreiheit wie für jedwedes andere Grundrecht, das sich schwerlich am Rande des Hungertodes ausüben läßt. c) Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums Dem Staat fällt die Aufgabe zu, im Rahmen seiner Möglichkeiten die realen Voraussetzungen der Grundrechte sicherzustellen, wenn Selbstvorsorge und Markt versagen. Die verfassungsrechtliche Grundlage liegt eigentlich im sozialen Staatsziel (Art. 20 Abs. 1 GG). 55 Doch das Bundesverfassungsgericht sieht die Grundlage heute in der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), verknüpft diese aber mit dem sozialen Staatsziel und leitet aus dieser Verbindung ein ungeschriebenes, eigenständiges Grundrecht ab: das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das seiner Struktur nach ein soziales Grundrecht darstellt. Dem objektiven Verfassungsauftrag korrespondiert das subjektive Recht eines jeden. 56 Die tragenden Grundsätze der Sozialhilfe steigen aus dem einfachen Recht zu den Höhen des Grundgesetzes auf und verwandeln sich hier in Verfassungsrecht. Die Elemente des Gesetzes fungieren nunmehr als Maßstäbe für den Gesetzgeber, dem die Aufgabe verbleibt, in Randbereichen die Vorgaben der Verfassung, wie das Bundesverfassungsgericht sie auffaßt, zu konkretisieren und zu aktualisieren. 57 Die Anbindung an die absolute Norm der Menschenwürde macht das Grundrecht auf ein Existenzminimum einschrän55
BVerfGE 1, 97 (104 f.). Allgemein Hans F. Zacher, Das soziale Staatsziel, in: HStR II, 32004, § 28 Rn. 32 f.; Leisner (N 53), S. 150 ff. 56 BVerfGE 125, 175 (222 ff.); 132, 134 (159 ff.); 137, 34 (72 ff.). Das Ausgangsjudikat: BVerwGE 1, 159 (161 f.). – Dogmatische Analysen: Leisner (N 53), S. 107 ff., 121 ff., 218 ff.; Maximilian Wallerath, Zur Dogmatik eines Rechts auf Sicherung des Existenzminimums, in: JZ 2008, S. 157 (160 ff.); Christian Seiler, Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, in: JZ 2010, S. 500 (502 ff.); Heinrich Lang, Mäanderndes Existenzminimum?, in: FG für Karl Heinrich Friauf, 2011, S. 309 (313 ff., 321 ff.). 57 BVerfGE 125, 175 (222, 223 ff.); 132, 134 (159, 160).
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kungs-, änderungs- und differenzierungsresistent, gleichsam aere perennius, soweit sich das überhaupt von einer Norm sagen läßt. Ein eigenständiges Grundrecht auf Nahrung ist mit dieser Konstitutionalisierung aber nicht entstanden. Denn die Nahrung bildet wie im Gesetzesrecht weiterhin nur einen tatbestandlichen Aspekt des neuen Grundrechts neben Kleidung, Hausrat, Unterkunft etc. 58 Der unmittelbare verfassungsrechtliche Leistungsanspruch „gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie“. 59 Das schließt nicht aus, daß die Regelleistung der Sozialhilfe daraufhin kontrolliert wird, ob sie zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und ob die typisierend festgelegten Beträge für „Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren“ sowie für „Beherbergungsdienstleistungen, Gaststättenbesuche“ die Ernährung eines Alleinstehenden mit Vollkost decken können. 60 Das Kleinklein solcher Erwägungen steht im Kontrast zu dem lapidar-abstrakten Text der höchsten Verfassungsnorm. Das Bundesverfassungsgericht behandelt die Menschenwürde, die Leitidee der „nachfolgenden“ Grundrechte 61, als wäre sie ein Grundrecht wie jene und holt aus der Menschenwürde-Garantie heraus, was es zuvor als einfachrechtliches Material hineingesteckt hat, nun aber normativ überhöht und gefeit gegen gesetzliche Änderung, sogar gegen Verfassungsrevision. An der Weisheit des Vorgehens nagen juristische Zweifel. 62
58
BVerfGE 120, 125 (155 f.); 125, 175 (223); 132, 134 (160, 174 ff., 176). BVerfGE 125, 175 (223). 60 BVerfGE 125, 175 (229). Vgl. auch BVerfGE 132, 134 (174 ff., 176, 178); 137, 34 (73 ff.). Zweifel an der Sicherstellung vollwertiger Nahrung Lang, S. 318 f. 61 Absage an den Charakter als Individualgrundrecht: Josef Isensee, Würde des Menschen, in: HGR IV, 2011, § 87 Rn. 103 ff. (Nachw. zum Streitstand). 62 Lang, S. 325 ff.; Andreas Dietz, Leistungseinschränkungen nach § 1 a AsylbLG für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten, in: DÖV 2015, S. 727 (729 f.). 59
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d) Leistungsansprüche im Sonderstatus (aa) Unterhaltsanspruch des Asylbewerbers Die Verankerung in der Menschenwürde führt dazu, daß die grundrechtliche Gewähr des Existenzminimums keine Unterscheidung zuläßt zwischen dauerhaften Bewohnern des Bundesgebietes und Asylbewerbern. Die Menschenwürde ist „migrationspolitisch nicht zu relativieren“. 63 Die Höhe der Leistungen bestimmt sich nach den Gegebenheiten in Deutschland, nicht aber nach denen des Herkunftslandes oder anderer Länder. 64 „Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.“ 65 Grundsätzlich kommt es für die Höhe der Leistungen auf die Dauer des Aufenthalts nicht an, es sei denn, daß sich „konkrete Minderbedarfe“ bei kurzfristigem Aufenthalt nachvollziehbar feststellen und bemessen lassen. 66 Das ist bei Nahrungsmitteln und alkoholfreien Getränken jedenfalls nicht der Fall. 67 So das Bundesverfassungsgericht, von seinen Prämissen her konsequent. 68 Immerhin stellt es grundsätzlich dem Gesetzgeber anheim, ob er das Existenzminimum durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert. 69 Dieser sieht vor, daß der notwendige Bedarf an Ernährung wie an sonstigen Gütern in der Regel durch Sachleistungen gedeckt wird. 70 Insofern kann er die Verlockungen, die von der Sozialhilfe in Deutschland ausgehen, ein bißchen dämpfen. 63 64 65 66 67 68 69 70
BVerfGE 132, 134 (173). BVerfGE 132, 134 (161). BVerfGE 132, 134 (173). BVerfGE 132, 134 (164). BVerfGE 132, 134 (176). Grundsätzliche Kritik Dietz (N 62), S. 727 ff. BVerfGE 132, 134 (161). Zuvor bereits BVerfGE 125, 175 (224). § 3 Abs. 1 S. 1 AsylbLG. Einwände gegen diese Regelung Wiebke Judith/Ricardo
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Doch fragt sich, ob die Leistungseinschränkungen, die das Gesetz für (Wirtschafts)Flüchtlinge vorsieht, nämlich die Reduktion der Leistungen auf das im Einzelfall nach den Umständen unabweisbar Gebotene, 71 sich letztlich doch an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts brechen. 72 (bb) Unterhaltsanspruch für Insassen geschlossener Anstalten In geschlossenen Anstalten, zumal Strafanstalten, in denen die Freiheit der Person entfällt, so daß der Insasse nicht selber für seine Nahrung sorgen kann, hat der Anstaltsträger die Pflicht, die Nahrung bereitzustellen. Was in der Freiheit Sache des Einzelnen war, fällt nun, da ihm die Freiheit entzogen ist, in die Verantwortung der Anstalt. Der Entzug an Selbstbestimmung wird ausgeglichen durch Fürsorge. Das normale Abwehrrecht des Art. 2 Abs. 1 GG mutiert in ein kompensatorisches Leistungsgrundrecht auf ausreichende, angemessene Ernährung. 73 In den Strafanstalten wird der Unterhalt in der Regel als Sachleistung erbracht, unter Umständen um ein Taschengeld für individuelle Wünsche ergänzt. Soweit aber die Speisen in natura verabreicht werden, verlangen die Grundrechte, die medizinischen und religiösen Speiseregeln zu berücksichtigen. Das Gesetz sieht eigens vor, daß die Zusammensetzung und der Nährwert der Anstaltsverpflegung ärztlich überwacht werden. „Auf ärztliche Anordnung wird besondere Verpflegung gewährt. Dem Gefangenen ist zu ermöglichen, Speisevorschriften seiner Religion zu befolgen.“ 74 Die analoge Legitimation kommt dem Unterhaltsanspruch des Asylbewerbers zu, dem mangels Arbeitserlaubnis Brehme, Plädoyer für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes, in: KJ 2014, S. 330 (332 f.). 71 § 1 a AsylbLG 72 Fundierte Kritik an der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts und konstruktive Vorschläge der Mißbrauchsverhütung Dietz (N 62), S. 731 ff. 73 Grundlegend zu dieser Mutation Wolfgang Loschelder, Vom besonderen Gewaltverhältnis zur öffentlichrechtlichen Sonderbindung, 1982, S. 435 f., 444. 74 § 21 Strafvollzugsgesetz.
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verwehrt ist, am Erwerbsleben teilzunehmen und für sich selbst zu sorgen. (cc) Alimentationsanspruch des Beamten Der Beamte und der Richter, der mit Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit dem Dienstherrn – grundsätzlich auf Lebenszeit – seine volle Arbeitskraft zur Verfügung stellt, bekommt zum Ausgleich den amtsangemessenen Unterhalt für sich und seine Familie. 75 Schon die übliche Bezeichnung Alimentation weist auf die Ernährung als die historische Wurzel des Unterhalts hin. 76 Der Anspruch auf Unterhalt (mithin auch auf Nahrung) wird von der institutionellen Garantie des Berufsbeamtentums in seinen hergebrachten Grundsätzen umfaßt. 77 Auch hier gibt es kein selbständiges Recht auf Nahrung, sondern allein den Unterhaltsanspruch, der den Bedarf an Nahrung einschließt. Bei der Prüfung, ob die Besoldung und Versorgung dem verfassungsrechtlichen Erfordernis der amtsgerechten Alimentation genügt, wird der Verbraucherpreisindex herangezogen, der die durchschnittliche Preisentwicklung aller Waren und Dienstleistungen bemißt, die von privaten Haushalten für Konsumzwecke in Anspruch genommen werden, darunter auch die Nahrungsmittel, neben Mieten, Bekleidung, Kraftfahrzeugen etc. 78
75
BVerfGE 37, 167 (179); 39, 196 (200 f.); 70, 69 (80); 121, 241 (261); BVerfG, Urt. v. 5. 5. 2015, in: NVwZ 2015, S. 1047 (1053) Rn. 122 f. 76 Das lateinische Wort alimentum heißt Lebensmittel, sein Plural alimenta Nahrung, Proviant. Die Bedeutungen leben weiter im französischen aliment, alimentation, im italienischen alimentari, alimento. 77 BVerfGE 16, 94 (115 f.) – ständige Rechtsprechung; Helmut Lecheler, Die „hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 103 (1978), S. 349 (366 ff.); Detlef Merten, Alimentationsprinzip und Beamtengesetzgebung, in: ZBR 1996, S. 353 ff.; Leisner, S. 274 ff. 78 BVerfG, Urt. v. 5. 5. 2015, in: NVwZ 2015, S. 1047 (1051) Rn. 107.
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Josef Isensee
VI. In vielen verfassungsrechtlichen Bezügen – ein ganzheitliches Grundrecht auf Nahrung? Das Thema der Ernährung des Menschen bildet ein Paradebeispiel für die Allbezüglichkeit der Verfassung. 79 Ausdrücklich und unmittelbar kommt es zwar nur in vereinzelten Kompetenztiteln zur Sprache. Doch einschlußweise findet es sich in mehreren Grundrechtsgarantien. Reicht der positivrechtliche Befund, um von einem Grundrecht auf Nahrung zu sprechen? Für den Badischen Staatsgerichtshof kommt es auf den positivrechtlichen Befund überhaupt nicht an. Seinem naturrechtlichmenschenrechtlichen Verständnis gemäß wohnt jeder Verfassung ein solches Grundrecht inne, gleich, ob geschrieben oder ungeschrieben. 80 Die These eines ungeschriebenen Grundrechts auf Nahrung wird positivrechtlich begründet und verortet im Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit unter dem Aspekt der Schutzpflicht. Doch diese Schutzpflicht wird zum sozialen Grundrecht überdehnt. Ein solches läßt sich nicht in der Form nachweisen, die den Grundrechten des Katalogs oder den grundrechtsgleichen Rechten entspräche, die mit der Verfassungsbeschwerde eingeklagt werden können. Die disparaten verfassungsrechtlichen Bezüge der Nahrung ergeben einen thematischen, aber keinen substantiellen Zusammenhang, wie ihn ein ungeschriebenes Grundrecht braucht und wie ihn exemplarisch das ungeschriebene Allgemeine Persönlichkeitsrecht verkörpert. 81 Das Thema Nahrung zieht sich als roter Faden durch Grundrechte, institutionelle
79
Kategorie: Alexander Hollerbach, Ideologie und Verfassung, in: Werner Maihofer (Hg.), Ideologie und Verfassung, 1969, S. 37 (51 ff.); Matthias Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 29 f., 56, 361. 80 Bad. Staatsgerichtshof, S. 251. Exempel eines ungeschriebenen Verfassungsrechtssatzes bei Heinrich Amadeus Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 5. 81 Dazu mit Nachw. Hanno Kube, Persönlichkeitsrecht, in: HStR VII, 32009, § 148 Rn. 28 ff., 66 ff.
186 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Nahrung: Menschenrecht und Staatsaufgabe
Garantien, Kompetenzen und Staatsaufgaben. Doch ein roter Faden macht noch keinen grundrechtlichen Schutzbereich. Das Konstrukt eines Grundrechts auf Nahrung im Grundgesetz gleicht eher dem Stichwort eines intelligenten Sachregisters, das auch seine Implikationen und die potentiellen Bedeutungen umfaßt. Die Proklamation eines Grundrechts verspräche mehr, als sie rechtpraktisch einlösen könnte. Als Luftballon der Interpretation löste es sich leicht aus seiner notdürftigen positivrechtlichen Verankerung und entschwebte in das Wolkenreich der politischen Wünsche. Das Grundgesetz wahrt aber Bodenhaftung. In differenzierten Regelungen sichert es die Ernährung als Raum grundrechtlicher Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, deren Rahmenbedingungen das staatliche Recht setzt und gewährleistet. Dem sozialen Rechtsstaat bleibt die Letztverantwortung für die ausreichende und angemessene Ernährung der Bevölkerung im ganzen und dafür, daß kein Mensch, der ihm anvertraut ist, dem Hunger anheimfällt. Das geltende deutsche Recht hat ein erheblich höheres Garantieniveau, als das Völkerrecht anstrebt. Das Implantat eines Grundrechts auf Nahrung könnte nur simplifizieren, wo Differenzierung gefordert ist. Es würde Rechtsunsicherheit stiften, wo bereits Rechtssicherheit herrscht, und regulieren, wo es der Regulierung nicht bedarf.
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Gibt es eine Pflicht zur Ernährung? Thomas Heinemann
Überlegungen zu einem Grundrecht auf Nahrung, wie sie im vorliegenden Buch aus verschiedenen Perspektiven angestellt werden, lenken den Blick auf die Frage, ob sich auch eine Pflicht zur Ernährung begründen lässt. Die Frage ist vielschichtig und bedarf der Fokussierung. Denn zunächst ist zu klären, an welchen Adressaten sich diese Pflicht richtet. Der Adressat kann das Individuum sein, dem eine Pflicht zugeschrieben wird, seinerseits den Willen zur Nahrungsaufnahme als elementare Voraussetzung zur Fortführung seines Lebens aufzubringen und durch seine Lebensführung die Möglichkeit hierfür sicherzustellen. Eine Pflicht zur Ernährung kann sich jedoch auch an die staatliche Gemeinschaft richten, zum einen als eine zu einem Grundrecht auf Nahrung korrespondierende Pflicht der Sicherstellung eines für jedermann zugänglichen Nahrungsangebots, zum anderen aber auch als eine mögliche Pflicht, das Überleben eines Individuums durch eine nicht freiwillige Nahrungsaufnahme sicherzustellen, wenn das Individuum hierzu nicht in der Lage oder nicht willens ist. Weiterer Klärungsbedarf im Hinblick auf eine Pflicht zur Ernährung ergibt sich in Bezug auf die Qualität und Quantität der aufgenommenen Nahrung, wobei wieder zwischen Pflichten des Individuums und der Gesellschaft zu unterscheiden ist. Bekanntermaßen kann die chronische Aufnahme einer qualitativ minderwertigen oder in ihrer Zusammensetzung unzureichenden Nahrung das Entstehen von Krankheiten begünstigen oder auslösen, wie dies z. B. in der zunehmenden Inzidenz des Diabetes mellitus in der Bevölkerung aufgrund eines unverhältnismäßig hohen Konsums von Kohle188 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Gibt es eine Pflicht zur Ernährung?
hydraten oder durch Schädigungen der Leber, des Gehirns und anderer Organe durch einen inadäquaten Alkoholkonsum erkennbar ist. Auch die Quantität der aufgenommenen Nahrung spielt im Hinblick auf die Gesunderhaltung eine erhebliche Rolle, wie an einer dramatischen Zunahme des Körpergewichts in der Bevölkerung westlicher Industrieländer und einer in diesem Zusammenhang stehenden Zunahme des Bluthochdrucks und von Herz-Kreislauf-Erkrankungen festzustellen ist. In Kenntnis dieser Zusammenhänge könnte eine Pflicht des Individuums darin bestehen, durch eine qualitativ und quantitativ „gesunde“ Ernährung entsprechende Krankheiten zu vermeiden. Der Gesellschaft käme z. B. die Pflicht zu, entsprechende Forschung über schädliche bzw. gesunderhaltende Ernährung zu fördern, die Mitglieder der Gesellschaft entsprechend aufzuklären, Nahrungsmittel auf ihre Zusammensetzung zu prüfen und Nahrungsmittelhersteller zu einer verständlichen und wahrheitsgemäßen Produktinformation anzuhalten. Diese skizzenhafte Darstellung lässt die Vielschichtigkeit der Frage nach einer Pflicht zur Ernährung erkennen. Im Hinblick auf Forschung und Aufklärung über eine angemessene Ernährung sowie auf Nahrungsmittelkontrolle nimmt die Gesellschaft diesbezügliche Pflichten bereits in allgemeinem Konsens wahr. Weit weniger konsentiert ist indes die Frage nach den Pflichten der Gesellschaft in Bezug auf den Umgang mit Menschen, die ihre Ernährung einstellen und sich dem Verhungern preisgeben. Diese Frage wurde in der Vergangenheit insbesondere im Zusammenhang mit dem Hungerstreik von Häftlingen und im medizinischen Kontext vor allem im Zusammenhang mit dem Krankheitsbild der Anorexia nervosa diskutiert. Dieser Diskurs wird neuerdings wieder angefacht durch das Phänomen des „Voluntary stopping of eating and drinking“ (VSED), das im angelsächsischen Raum seit längerer Zeit als eine Form einer selbstbestimmten Beendigung des Lebens durch konsequentes Einstellen der Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit diskutiert und verschie-
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Thomas Heinemann
dentlich praktiziert wird. 1 In der deutschsprachigen Literatur wird diese Art, aus dem Leben zu scheiden, als „Sterbefasten“ oder „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“ (FVNF) bezeichnet. In Deutschland hat die Diskussion um FVNF erst im Kontext der kontroversen Diskussionen um die ethischen Fragen und eine rechtliche Regelung des assistierten Suizids Auftrieb erfahren. Der im Jahre 2015 in das Strafgesetzbuch neu eingeführte § 217 über die „Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ statuiert ein Verbot einer geschäftsmäßigen Suizidassistenz in Deutschland (Abs. 1), während die Förderung der Selbsttötung durch Angehörige der betroffenen Person oder ihr nahestehende Personen, die nicht geschäftsmäßig handeln, straffrei bleibt (Abs. 2). 2 Neben vielfacher grundsätzlicher Zustimmung hat der neue Straftatbestand auch heftige Kritik erfahren. Diese richtet sich zum einen auf das Kriterium der Geschäftsmäßigkeit, das bereits durch ein auf Wiederholung angelegtes oder organisiertes Handeln erfüllt wird. Da auch ärztliches Handeln, etwa in einer ärztlichen Praxis, auf Wiederholung angelegt und organisiert ist, hat der neue Straftatbestand bei Ärzten und beratenden Organisationen zu erheblichen Verunsicherungen geführt. Zum anderen wird kritisiert, dass die Strafnorm des § 217 für zahlreiche handlungsunfähige Suizidwillige, die keine Möglichkeit haben, zum Zwecke der Sterbehilfe in ein Nachbarland mit entsprechenden Möglichkeiten zu fahren, eine Erschwernis in einer existentiellen Notlage bedeutet, da ihre selbstbestimmte Beendigung ihres Lebens durch das Verbot des geschäftsmäßigen Handelns in Deutschland nicht abgesichert ist. Zum § 217 werden derzeit mehrere Verfassungsbeschwerden vom Bundesverfassungsgericht geprüft. Die Einleitung oder Beschleunigung des Sterbevorgangs durch konsequenten selbstbestimmten Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit ist auf eine medizinische und pflegerische Begleitung in 1 2
Vgl. Ivanović J., et al., 2014. § 217 StGB, in https://dejure.org/gesetze/StGB/217.html
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Gibt es eine Pflicht zur Ernährung?
den letzten Lebenstagen angewiesen, wenn der Betroffene aufgrund der Nahrungs- und Flüssigkeitskarenz so geschwächt ist, dass er sich selbst nicht mehr versorgen kann. FVNF wirft in ethischer Perspektive die Fragen auf, wie eine solche Handlung einzuordnen und inwieweit sie ethisch zu rechtfertigen, ferner wie die Einbindung Anderer in den Sterbevorgang ethisch zu bewerten ist. Diese Fragen lassen sich auch in der Weise formulieren, ob es eine Pflicht zur Ernährung gibt, wie sich diese Pflicht gegebenenfalls begründet, wie weit diese Pflicht gegebenenfalls trägt und wie sich Ausnahmen gegebenenfalls rechtfertigen lassen. Um diesen Fragen im Folgenden nachzugehen, werden zunächst die physiologischen und pathophysiologischen Veränderungen beim Hungerstoffwechsel und bei anhaltendem Flüssigkeitsmangel dargestellt (Kapitel 1). Sodann werden die Kriterien und Argumente der ethischen Entscheidung nachgezeichnet, die bei ähnlichen Situationen einer Verweigerung der Nahrungsaufnahme, speziell beim Hungerstreik inhaftierter Personen sowie bei der Behandlung von Patienten mit dem Krankheitsbild der Anorexia nervosa als relevant erachtet werden (Kapitel 2). Anschließend wird der FVNF als Paradigma für eine selbstbestimmte Entscheidung zur Beendigung des eigenen Lebens durch Einstellung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme dargestellt und geprüft, inwieweit sich diese Situation als neuartig für die ethische Beurteilung darstellt (Kapitel 3). In abschließenden Überlegungen soll vor diesem Hintergrund die Frage nach einer Pflicht zur Ernährung behandelt werden (Kapitel 4).
1. Physiologische Vorgänge bei Hungerstoffwechsel und Flüssigkeitsmangel Zahlreiche Untersuchungen existieren über die metabolischen Aspekte des klinisch kontrollierten Langzeitfastens zur Therapie von Fettleibigkeit (Adipositas); ebenfalls liegen einige Untersuchungen über strenges Fasten aus religiösen oder politischen (Hunger191 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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streik) Gründen vor, wobei in beiden Fällen das Trinken nicht eingeschränkt war. 3 Systematische Untersuchungen über Stoffwechselveränderungen bei Personen, die auf die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit verzichten, um damit den Eintritt des Todes zu beschleunigen bzw. zu bewirken, wurden hingegen bislang nicht veröffentlicht. Die Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen ist in diesen Situationen aus ethischen Gründen problematisch, wenngleich solche Ergebnisse für die Einschätzung der spezifischen Vorgänge bei FVNF hilfreich wären, um Verläufe einschätzen, klinische Prognosen erstellen und die Wirkung und Nebenwirkungen medizinischer Maßnahmen besser vorhersehen zu können. Allerdings existieren allgemeine biochemische und physiologische Kenntnisse über die Veränderungen des Stoffwechsels im Hungerzustand und bei anhaltendem Dursten.
1.1 Hunger Der gesamte Energiebedarf des Menschen pro Tag beträgt 25–35 kcal/kg Körpergewicht. Bei einer Nahrungsaufnahme von weniger als 500 kcal/Tag über sieben Tage droht Mangelernährung. 4 Beim Hungern lassen sich die (patho)physiologischen Vorgänge in drei Phasen unterteilen, die nacheinander, wenngleich überlappend, durchlaufen werden: (1) Glykogenverbrauch: Glykogen ist ein fächerförmig verzweigtes Polysaccharid, das aus aneinander gebundenen GlukoseMolekülen besteht, die bei Bedarf durch Abbau des Glykogens freigesetzt werden können. 5 Glykogen dient als Glukosespeicher, der sich in der Leber und im Skelettmuskel befindet. Glykogen 3
Vgl. Chabot, B., 2017, S. 81. Die nachfolgenden Ausführungen in diesem Kapitel sind weitgehend entnommen aus Heinemann et al., 2018, S. 9 ff. 4 Riekenbrauck, W., 2009. 5 Linnemann, M. & Kühl, M., 1999, S. 296 ff.
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Gibt es eine Pflicht zur Ernährung?
kann als Energie-Kurzzeitspeicher aufgefasst werden, da die Glykogenreserven der Leber nach 12–24 Stunden Fasten aufgebraucht sind. In der Phase des Glykogenabbaus wird vermindert Insulin ausgeschüttet und daher Glukose vermindert durch die Muskulatur und das Fettgewebe aufgenommen. Dieser Mechanismus kann als Sicherung der Versorgung des Gehirns mit Glukose aufgefasst werden. (2) Glukoneogenese: Glukoneogenese bezeichnet den Prozess der Neubildung von Glukose aus Lactat oder durch den Abbau von Proteinen (Proteolyse). Gluconeogenese findet in der Leber und den Nieren statt, wobei die Gluconeogenese in der Niere für die Aufrechterhaltung der Blutglukosekonzentration vernachlässigbar ist und vorwiegend der Abpufferung von Protonen im Harn dient. 6 Der Abbau von Proteinen im Körper beginnt nach Aufbrauchen der Glykogenspeicher und führt u. a. zu einer Reduktion der Muskelmasse, einschließlich des Herzmuskels, sowie zu einer negativen Stickstoffbilanz. Diese Phase kann ca. 2–3 Wochen andauern. 7 (3) Lipolyse sowie Ketogenese: Als langfristig nutzbaren Energiespeicher verfügt der Organismus über das Fettgewebe. Im Hungerzustand, der mit einer verminderten Insulinausschüttung einhergeht, werden Fettsäuren vermehrt verwertet und abgebaut (Lipolyse). 8 Erfolgt der Abbau von Fettsäuren durch die β-Oxidation zu Acetyl-CoA schneller als dessen Weiterverarbeitung im Zitratzyklus, führt dies zur Akkumulation von Acetyl-CoA. Dieses kann an seinem Entstehungsort, der Mitochondrienmatrix, in der Leber zu Ketonkörpern, insbesondere zu Acetoacetat, Aceton und β-Hydroxybuttersäure, umgewandelt werden. Ohne weitere Transportmechanismen gelangen diese Moleküle in freier Form über das Cytosol ins Blut. Ihre Dissoziation bei physiologischem pH-Wert ist Ursache für ein Überangebot an Pro6 7 8
Linnemann, M. & Kühl, M., 1999, S. 273 ff. Crosby, S. S., et al., 2007. Linnemann, M. & Kühl, M., 1999, S. 370 ff.
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tonen (H+-Ionen). Kommt es infolge der vermehrten Ketonbildung zu einem Anstieg der Konzentration der Protonen im Blut, kann sich eine Übersäuerung des Blutes (Ketoacidose) entwickeln. Typischerweise kann beim Hungern im Urin Aceton nachgewiesen werden. Nach längerem Fasten kann insbesondere das Gehirn seine Energieversorgung von der Verwertung von Glukose auf die Nutzung der Ketonkörper umstellen. Diese Adaptation des Gehirns an Ketonkörper als Energiequelle erlaubt es, Hungerperioden (bei erhaltener Flüssigkeitsaufnahme) abhängig von der Masse des Körperfetts gegebenenfalls über mehrere Monate durchzuhalten. Darüber hinaus sind unter anderem Herzmuskel und Skelettmuskel sowie die Nierenrinde in der Lage, Ketonkörper für die Energiegewinnung zu verwerten. Aceton wirkt betäubend auf das Gehirn und kann in Verbindung mit einer Acidose zum Koma führen. In geringen Mengen können Ketone auf das Gehirn allerdings euphorisierend wirken, indem sie das Opioid-System im Gehirn aktivieren; Heilfastende berichten regelmäßig von euphorischen Gefühlen. Überdies reduzieren Ketonkörper das Hungergefühl. 9 Während des Hungerns ist, u. a. infolge eines raschen Abfalls der Konzentration der Schilddrüsenhormone im Blut, insbesondere des Trijodthyronin (T3), der Gesamtstoffwechsel herabgesetzt und der Grundumsatz des Körpers erniedrigt. Als Folge liegt die Körpertemperatur 0,5 – 1° C unterhalb des Normbereichs. Klinisch werden folgende Phasen des Hungerns unterschieden: 10 (1) Nach einer möglichen Phase einer Euphorie Verlust des subjektiven Wohlbefindens (Konzentrationsstörungen, Störungen des Gedächtnisses, Verlangsamung des Denkens, des Re-
9 10
Crosby, S. S., et al., 2007. Vgl. Madea, B., 2003, S. 193 f.
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Gibt es eine Pflicht zur Ernährung?
aktionsvermögens und der Bewegungen, schnelle Ermüdbarkeit, Hungergefühl, Schlafbedürfnis). (2) Verschwinden des Hungergefühls, starker Gewichtsverlust mit aggressiver Schwäche, Apathie, arterielle Hypotonie, Bradykardie, Hypothermie, Herabsetzung des Grundumsatzes. (3) Extreme Lethargie, mentale Retardierung, Hungerödeme, emotionale Labilität Die mögliche Zeitdauer des Hungerns bis zum Todeseintritt ist sehr variabel und hängt von zahlreichen Faktoren ab wie z. B. Alter, Ernährungszustand, Flüssigkeitszufuhr, Umgebungstemperatur. Bei vollständigem Nahrungs- und Flüssigkeitsentzug tritt der Tod in einem Zeitraum von 8 – 21 Tagen ein (bei Neugeborenen und Kindern unter Umständen wesentlich schneller), bei alleinigem Nahrungsentzug nach ca. 60 Tagen. 11 Der Tod kann durch verschiedene Mechanismen bedingt sein, insbesondere durch nicht behandelbare Herzrhythmusstörungen, Herz-Kreislaufversagen durch Dehydratation oder Entwicklung einer Sepsis infolge einer Schwächung des Immunsystems. 12 Ernsthafte medizinische Symptome beginnen bei kontinuierlichem Fasten bei einem Gewichtsverlust von etwa 18 % des ursprünglichen Körpergewichts. Lebensbedrohliche Situationen treten auf, wenn mehr als 30 % des ursprünglichen Körpergewichts verloren wurden. 13 Bei Individuen, die keine Nahrung, jedoch Flüssigkeit (Wasser) zu sich nehmen, kann nach mehreren Wochen ein Mangel an Vitaminen mit relativ geringen Körperpeichern, insbesondere der Vitamine B1 (Thiamin) und Vitamin C, zu der Symptomatik beitragen. Im Vordergrund stehen hierbei Übelkeit, Erbrechen, Müdigkeit, allgemeine Schwäche, Parästhesien und Koordinations- und Gedächtnisstörungen. Solche Symptome treten insbesondere dann auf, wenn nach Hungerperioden Glukose aufgenommen wird, für deren Verstoffwechselung 11 12 13
Vgl. Madea, B., 2003, S. 193; vgl. auch Riekenbrauck, W., 2009. Crosby, S. S., et al., 2007. Crosby, S. S., et al., 2007.
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Vitamin B1 benötigt wird (sog. refeeding syndrom). Zerebrale Auswirkungen des Mangels an Vitamin B1 können in einer Wernicke-Encephalopathie bestehen, die sich durch Nystagmus, Gedächtnisverlust, Halluzinationen, Augenmuskellähmungen und Übererregbarkeit manifestieren kann. 14
1.2 Flüssigkeitsmangel Klinisch tritt Flüssigkeitsmangel durch eine Hypovolämie und hypertone Dehydratation mit trockener Haut und trockenen Schleimhäuten, stehenden Hautfalten, Fieber, Benommenheit und Verwirrtheit sowie Oligurie bis zum akuten Nierenversagen in Erscheinung. 15 Hypovolämie bezeichnet einen Mangel an Flüssigkeit im Gefäßsystem, der zunächst zu einem erniedrigten Blutdruck führt und schließlich in einem Kreislaufversagen oder in einem Herzinfarkt, Schlaganfall oder Multiorganversagen enden kann. Das Nierenversagen ist einerseits durch den erniedrigten Blutdruck bedingt, da die Niere durch den erniedrigten Perfusionsdruck ihre Funktionen nicht mehr aufrechterhalten kann, andererseits durch den Flüssigkeitsmangel, da die Ausscheidungsfunktion der Niere an die Filtration von Flüssigkeit in den Nierenkörperchen (Glomerula) gebunden ist. In der Folge kumulieren harnpflichtige Ausscheidungssubstanzen im Körper (Urämie), die zu toxischen Schäden an anderen Körperorganen, u. a. auch dem Gehirn, führen können. Ferner können sich Störungen im Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalt und insbesondere eine metabolische Azidose entwickeln. Alle diese Entwicklungen können jede für sich oder in Kumulation zum Tod des Patienten führen. Wie lange ein Mensch ohne Flüssigkeitsaufnahme überlebt, hängt von vielen Faktoren ab, wie der Umgebungstemperatur, der Luftfeuchtigkeit, dem Körpergewicht, dem Alter, sowie der 14 15
Crosby, S. S., et al., 2007. Riekenbrauck, W., 2009.
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körperlichen Aktivität. Über die Haut und durch die Atmung (perspiratio insensibilis) verliert der Mensch etwa 500 ml Wasser pro Tag, während ca. 250 ml Wasser durch den Stoffwechsel produziert werden (sog. Oxidationswasser). Bei körperlicher Anstrengung oder hoher Umgebungstemperatur kann der Verlust jedoch auf mehrere Liter Wasser ansteigen. In der Regel kann ein gesunder junger Mensch ohne Wasser ca. 3 – 4 Tage überleben, wobei in Extremfällen über deutlich längere Zeiträume (12 Tage) berichtet wurde.
2. Ethische Entscheidungskriterien bei der Verweigerung einer Aufnahme von Nahrung beim Hungerstreik sowie beim Krankheitsbild der Anorexia nervosa Die Herausforderung, auf eine Verweigerung der Aufnahme von Nahrung ethisch angemessen zu reagieren, ist nicht neu. Sie kann sich in sehr unterschiedlichen Situationen stellen, für die paradigmatisch der Hungerstreik von in Gewahrsam genommenen Menschen und die Nahrungsverweigerung bei Patienten mit Anorexia nervosa angesehen werden können. Die ethischen Entscheidungskriterien sollen für beide Situationen nachfolgend dargelegt werden.
2.1 Hungerstreik Ein Hungerstreik bezeichnet die Verweigerung der Nahrungsaufnahme durch inhaftierte Personen als Form des Protests. Auch wenn der Protest von Verzweiflung getragen sein kann und ein Hungerstreik in der Öffentlichkeit häufig als Suizidversuch interpretiert wird, 16 ist der Hungerstreikende nicht primär als suizidal anzusehen, wobei er allerdings den Tod als eine mögliche Folge 16
Riekenbrauck, W., 2009.
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seines Handelns durchaus in Kauf nehmen kann. 17 Suizid und Hungerstreik stellen in der Regel unterschiedliche Handlungsweisen dar, da der Hungerstreikende mit der Verweigerung der Nahrungsaufnahme in der Regel nicht den Zweck verfolgt, zu sterben, sondern den Hungerstreik als Mittel verwendet, um – nicht zuletzt in der Öffentlichkeit – Aufmerksamkeit zu wecken, weil er dadurch Hilfe oder Vorteile erwartet. 18 Um auf sich und seine Situation aufmerksam zu machen, setzt er allerdings seinen Körper und sein Leben ein. Der Hungerstreik stellt sich somit in erster Linie als eine appellative Handlung dar. Auch wenn der Tod nicht primär angestrebt wird, kann der Hungerstreik zu schweren gesundheitlichen Schäden oder zum Tod führen. 19 Der Begriff des Hungerstreiks setzt die freie Entscheidung der betroffenen Person zur Verweigerung der Nahrungsaufnahme voraus. Eine Person, die mental nicht zurechnungsfähig ist und die Nahrungsaufnahme verweigert, kann nicht als Hungerstreikender angesehen werden. Auch wenn bei Hungerstreikenden eine hohe Prävalenz von Depressionen berichtet wird, bedeutet das Vorliegen einer Depression alleine noch nicht, dass ein Hungerstreikender mental nicht zurechnungsfähig ist. Aus diesem Grund und zur Klärung der Zurechnungsfähigkeit wird bei allen inhaftierten Personen, die die Nahrungsaufnahme verweigern, ein psychiatrisches Gutachten als notwendig erachtet. 20 Den Willen und die Ausdauer, einen Hungerstreik konsequent über einen langen Zeitraum fortzusetzen, bringen in der Regel nur religiös oder politisch motivierte Gefangene auf, die psychisch gesund sind. Sie gründen ihr Handeln oftmals auf bestimmte Werte, denen sie verpflichtet sind und die sie durch den Hungerstreik in die Öffentlichkeit tragen möchten. Oftmals wird das Durchhaltevermögen von Hungerstreikenden durch Grup17 18 19 20
Crosby, S. S., et al., 2007. Riekenbrauck, W., 2009. Riekenbrauck, W., 2009. Crosby, S. S., et al., 2007.
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pendruck verstärkt, zu dem auch Familienmitglieder beitragen können. 21 Bei einem übermäßigen äußeren Druck, insbesondere wenn die Möglichkeit einer unmittelbaren Kontrolle und Einflussnahme durch die Gruppe besteht, kann sich – jenseits der Frage nach einer Zurechnungsfähigkeit – allerdings die Frage nach einer freien Entscheidung des Betroffenen stellen. Ärzte, die in Gewahrsam genommene Menschen behandeln, sind selbstverständlich nicht gehalten, mit den Meinungen und den Wertevorstellungen des Gefangenen übereinzustimmen. Sie müssen jedoch die individuellen Wertvorstellungen, sofern diese nicht eindeutig pathologischen Charakter besitzen, als Ausdruck der Selbstbestimmung einer zurechnungsfähigen Person und letztere als autonomes Subjekt anerkennen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich für Ärzte gegenüber inhaftierten Menschen ethische Pflichten, die die World Medical Association (WMA) 2017 in ihrer Deklaration von Tokio 22 und ausführlich in der Deklaration von Malta 23 niedergelegt hat und die in den bekannten vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik gründen. Auf der Grundlage des ethischen Prinzips der Selbstbestimmung (autonomy) (Art. 4.) gehören hierzu das ausdrückliche Verbot, zurechnungsfähige hungerstreikende Häftlinge zwangsweise zu ernähren, wenn diese die Nahrung aus freiem Willen ablehnen. Für eine künstliche Ernährung ist die Einwilligung der hungerstreikenden Person notwendig. Die Prinzipien des Wohltuns (beneficence) und des Nichtschadens (non-maleficence) (Art. 5) erfordern sowohl eine geringstmögliche Gesundheitsschädigung als auch das Verbot, zurechnungsfähigen Gefangenen eine Behandlung aufzuzwingen oder sie zu zwingen, das Fasten aufzugeben. Auch wenn in dieser Situation der Erhalt des Lebens ein wichtiges zu erreichendes Ziel des ärztlichen Handelns darstellt, kann dieses
21 22 23
Riekenbrauck, W., 2009; vgl. World Medical Association, Malta, 2017. World Medical Association, Declaration of Tokyo, 2017. World Medical Association, Declaration of Malta, 2017.
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nicht durch eine Lebensverlängerung um jeden Preis unabhängig von anderen Einflussgrößen erreicht werden. Ein anderer Handlungsspielraum ergibt sich im Fall einer fachärztlich diagnostizierten psychiatrischen Erkrankung mit eingeschränkter Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit. In diesem Fall ist eine Behandlung nach Umständen auch gegen den erklärten Willen des Gefangenen zu rechtfertigen mit dem Ziel, das Leben des Häftlings zu retten. 24 Dabei sind belastende und erniedrigende Methoden, wie eine rektale Zufuhr von Flüssigkeit oder Nährlösung, in jedem Fall verboten (Art. 21). 25 Sofern ein Hungerstreikender seine mentale Fähigkeit infolge des Hungerstreiks verloren hat und keine Möglichkeit besteht, seine individuellen Wünsche mit ihm zu besprechen, sollen mögliche Vorausverfügungen beachtet werden. 26 Wenn keine Diskussion mit dem Hungerstreikenden möglich ist und keine Vorausverfügungen vorliegt, soll der Arzt unabhängig im Sinne des besten Interesses des Hungerstreikenden entscheiden (Art. 19). 27 Dies beinhaltet die Berücksichtigung vorher zum Ausdruck gebrachter Wünsche, der persönlichen und kulturellen Werte sowie der physischen Konstitution und gesundheitlichen Situation des Betroffenen. Das Ziel der Behandlung besteht in diesem Fall in einer Wiederherstellung der Entscheidungsfähigkeit des Patienten, damit dieser Anweisungen für die zukünftige Behandlung geben kann. 28 Eine solche Behandlung besteht bei Hungerstreikenden in der Regel in einer künstlichen Ernährung. Die WMA hält es ethisch für gerechtfertigt, einen entschlossenen hungerstreikenden Gefangenen in Würde sterben zu lassen, statt ihn wiederholten und fortgesetzten Interventionen auszusetzen, und verweist ausdrücklich darauf, dass Willensvorausverfügungen von Häft24
Riekenbrauck, W., 2009. World Medical Association, Declaration of Malta, 2017. 26 World Medical Association, Declaration of Malta, 2017; Crosby, S. S., et al., 2007. 27 World Medical Association, Declaration of Malta, 2017. 28 Crosby, S. S., et al., 2007. 25
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lingen für die behandelnden Ärzte bindend sind und letztere bei Missachtung von Vorausverfügungen in eine Rechtfertigungspflicht gegenüber den zuständigen staatlichen Behörden und professionellen Standesorganisationen gelangen (Art. 20). 29 Im Vordergrund der ethischen Argumentation stehen somit die bioethischen Prinzipien der Autonomie, der Benefizienz und des Nichtschadens, deren Beachtung beim einwilligungsfähigen Individuum auch den Tod des Betroffenen in Kauf nehmen kann, obwohl sich gegenüber einem Gefangenen nicht nur das staatliche Eingriffsrecht, sondern auch die staatliche Fürsorgepflicht deutlich intensiver gestaltet als bei einem in Freiheit lebenden Menschen. 30 Indem die Gesetzeslage dieser Argumentation mittlerweile weitgehend Rechnung trägt und die staatlichen Behörden den Tod des Hungerstreikenden in Kauf nehmen, hat der Gesetzgeber möglicherweise zu einer Relativierung des Instruments des Hungerstreiks und seiner Aufmerksamkeitswirkung beigetragen. So wurden bei mehreren kollektiven Hungerstreiks der Gefangenen der Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland in allen betroffenen Bundesländern die Häftlinge zunächst vorbeugend unter Anwendung unmittelbaren Zwanges unter ärztlicher Leitung per Magensonde ernährt. Im Jahr 1989 wurde bei einem erneuten kollektiven Hungerstreik von RAF-Häftlingen infolge einer mittlerweile erfolgten Gesetzesänderung (§ 101 StVollzG) hingegen nicht mehr frühzeitig mit der Zwangsernährung begonnen, was dazu führte, dass die Mobilisation der Unterstützerszene schwächer ausfiel. Auch konnten sich die einzelnen Hungerstreikenden nicht mehr darauf verlassen, gesund und unbeschadet aus dem Hungerstreik hervorzugehen, was das Ende der Hungerstreikaktion möglicherweise beschleunigt hat. 31 Gleichwohl stellen die besondere Situation des Strafvollzugs und die jeweiligen Rollen von hungerstreikendem Häftling, Ge29 30 31
World Medical Association, Declaration of Malta, 2017. Crosby, S. S., et al., 2007. Riekenbrauck, W., 2009.
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fängnisarzt, Anstaltsleitung und Gesellschaft im Einzelfall eine Herausforderung für die ethische Entscheidung dar. Die Ärzte, die in die Behandlung von Gefangenen im Hungerstreik involviert sind, stehen üblicherweise in einer doppelten Loyalität. Auf der einen Seite sind sie Angestellte der Haftanstalt und gegebenenfalls im Staatsdienst beschäftigt und haben damit die Interessen der Haftanstalt und des Strafvollzugs zu vertreten. Auf der anderen Seite sind sie an Standesregeln und an eine Standesethik gebunden, die zumindest partiell mit den Belangen des Arbeitsgebers in Konflikt stehen kann. Die WMA konstatiert, dass Ärzte in einer solchen Situation den gleichen ethischen Prinzipien wie andere Ärzte verpflichtet sind und ihre primäre Loyalität daher dem individuellen inhaftierten Patienten zu gelten hat (Art. 6). In Bezug auf medizinische Entscheidungen bleiben Ärzte unabhängig von ihrem Arbeitgeber (Art. 6). 32 Kontroversen hinsichtlich der Konsequenzen, die aus dieser Verpflichtung entstehen, haben z. B. eine Anordnung des Bundesgerichts der Schweiz zur Zwangsernährung des Walliser Hanfbauern Bernhard Rappaz hervortreten lassen. Rappaz musste im März 2010 eine Haftstrafe von fünf Jahren und acht Monaten wegen Betäubungsmitteldelikten antreten und begann unverzüglich mit einem Hungerstreik, mit dem er gegen seine Strafe protestierte und stattdessen einen Hausarrest erreichen wollte. Wegen seines schlechten Gesundheitszustands infolge des Hungerstreiks wurde ihm eine einmalige Haftunterbrechung gewährt, erneute Anträge auf Haftunterbrechung jedoch nicht mehr genehmigt und der Arzt des hungerstreikenden Häftlings im Genfer Universitätsspital unter Androhung einer Buße bei Nichtbefolgung verpflichtet, Rappaz gegebenenfalls zwangszuernähren. In der sich hierauf beziehenden Diskussion wurde u. a. vorgetragen, dass die Vornahme einer Maßnahme, die gegen die ärztliche Standesethik verstößt, wohl für Privatärzte gelte, nicht aber für Gefängnisärzte, die Amtspersonen sind. Diese seien Teil der Gefängnisverwaltung und unter32
World Medical Association, Declaration of Malta, 2017.
202 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Gibt es eine Pflicht zur Ernährung?
stünden der administrativen Befehlsgewalt. Obwohl dem Gefängnisarzt von seiner Gefängnisleitung weitestgehend fachliche Autonomie zugestanden werde, könne es dazu kommen, dass die Strafvollzugsbehörde von ihm die Durchführung einer medizinischen Maßnahme verlange, die seinem persönlichen Berufsethos oder gar den Standesregeln widerspräche. Die Strafvollzugsbehörde habe das staatliche Recht in jedem Fall durchzusetzen (Müller, 8), nicht zuletzt, weil ein zur Rechtfertigung erforderliches öffentliches Interesse an einer Zwangsernährung problemlos zu finden sei, wie der Schutz des Lebens und der Gesundheit von Strafgefangenen, die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, ein geordneter und funktionierender Strafvollzug, die Gleichbehandlung der Strafgefangenen, die Glaubwürdigkeit der Justiz oder die Verhinderung von Nachahmern. Überdies diene eine Patientenverfügung dem Streikenden, die Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit seines Unterfangens zu unterstreichen und dadurch den Druck zu erhöhen. 33 Dem wurde indes entgegengehalten, dass der Bundesgerichtsentscheid sich mit der Anordnung, dass Ärzte eine Zwangsernährung eines als urteilsfähig beurteilten Strafgefangenen, der die Nahrungsaufnahme verweigert, durchzuführen haben, nicht nur über das Gebot der ärztlichen Standesethik, die Autonomie des Patienten zu respektieren, hinwegsetze, sondern auch das verfassungsmäßig geschützte Recht auf persönliche Freiheit missachte, das bedeute, dass ein Arzt ohne Einwilligung des urteilsfähigen, angemessen über Eingriff und Risiken aufgeklärten Patienten (informed consent) keinerlei Befugnis zur Untersuchung und zu therapeutischen Maßnahmen hat. 34 Zudem sei nicht ersichtlich, warum eine medienwirksame Zwangsernährung Nachahmer abschrecken solle und warum einer Patientenverfügung bei einem einwilligungsfähigen Häftling eine andere Funktion zugespro-
33 34
Vgl. Müller, M. & Jenni C., 2011. Geiser, M., 2010.
203 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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chen werden sollte als bei einem in Freiheit lebenden Menschen. 35 Tatsächlich gehört es zu der Rolle des Arztes im Strafvollzug, mit einem Hungerstreik konfrontiert zu werden. Der Respekt vor der Autonomie des hungerstreikenden Patienten verbietet ihm allerdings nicht, dem Patienten Angebote zu machen, den Hungerstreik zu beenden oder zumindest zu relativieren. Hierzu gehören etwa eine intensive und auch empathische Auseinandersetzung mit dem Motiv für den Hungerstreik, eine generelle tägliche Ansprechbarkeit des Arztes, eine klare Mitteilung an den Häftling, dass seine Forderungen nicht erfüllt werden, gegebenenfalls seine Unterbringung in Gemeinschaft, ferner aber auch ein unbeobachteter und ungehinderter Zugang zu Leitungswasser oder anderen Flüssigkeitsquellen, das Angebot von Vitamintabletten sowie auch, ihn gegebenenfalls durch Nahrungsangebote zu einem Abbruch des Hungerstreiks zu verführen. 36 Ziel ist es, den Hungerstreikenden von der Fortsetzung seines Handelns abzubringen. Diese Maßnahmen sind, auch wenn sie möglicherweise nicht mit den Intentionen des Hungerstreikenden in Einklang stehen, als verhältnismäßig anzusehen und stehen im Kontext der Prinzipien der Benefizienz und des Nichtschadens.
2.2 Anorexia nervosa Die Anorexia nervosa ist eine schwere mentale Krankheit. Die untergewichtigen, meist weiblichen und fast ausschließlich jungen Patienten zeigen typischerweise eine ausgeprägte Angst vor einer Gewichtszunahme und machen gleichzeitig ihre Selbstbewertung übermäßig von ihrer Figur und ihrem Gewicht abhängig. 37 Der reduzierte Allgemeinzustand kann in Kombination 35 36 37
Bridler, R., 2011. Riekenbrauck, W., 2009. Thiel, A. & Paul, T., 2007; Gans, M. & Gunn W. B., 2003.
204 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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mit Pneumonien, Elektrolytentgleisungen, bradykarden Herzrhythmusstörungen, gastrointestinalen Blutungen und hepatischen oder renalen Funktionsstörungen zu schwerwiegenden, unter Umständen auch letalen Komplikationen führen. Chronische und rezidivierende Fälle sind bei Anorexia nervosa häufig. 38 Die Mortalität der Anorexia nervosa über alle Todesursachen hinweg liegt bei 5,6 % pro zehn Jahre und ist damit im Vergleich zur Gesamtgruppe der 15–24-jährigen Frauen etwa zwölffach erhöht. 39 Auch das Suizidrisiko ist bei Patienten mit Anorexia nervosa gegenüber der Normalbevölkerung auf mehr als das 20-fache gesteigert. 40 Zu häufigen Komorbiditäten zählen Selbstverletzungen, Drogen- und Medikamentenmissbrauch, Depressionen sowie Persönlichkeitsstörungen und affektive Störungen. 41 Bei Erwachsenen wird die Gefahr einer gesundheitlichen Beeinträchtigung bei Unterschreiten eines BMI von 17,5 kg/m2 Körperoberfläche gesehen, ein lebensbedrohliches Ausmaß wird bei einem BMI von 13 kg/m2 Körperoberfläche erreicht. 42 Patienten mit Anorexia nervosa weisen eine mittlere Krankheitsdauer von ca. sieben Jahren auf. Die Prognose ist ungünstig; bei Erwachsenen liegt die Heilungsrate bei 50 %, 30 % der Patienten zeigen nach Therapie eine teilweise Besserung, während 20 % schwer krank bleiben. Ein typisches Merkmal der Anorexia nervosa und ein Teil der Erkrankung besteht in einer ausgeprägten Ambivalenz der Betroffenen gegenüber einer Behandlung und einer Gewichtszunahme. Trotz der offensichtlichen Schwere der Erkrankung scheuen viele Patienten vor einer Therapie zurück, insbesondere dann, wenn die Therapie auf eine gesteigerte Nahrungsaufnahme und auf eine Steigerung des Körpergewichts fo-
38 39 40 41 42
Schmidt Holm, J., et al., 2012. Thiel, A. & Paul, T., 2007. Thiel, A. & Paul, T., 2007; Schmidt Holm, J., et al., 2012. Elzakkers, I. F. F. M., et al., 2014; Schmidt Holm, J., et al., 2012. Herpertz, S., et al., 2011; Thiel, A. & Paul, T., 2007.
205 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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kussiert. 43 Selbst bei drohendem Tod wird eine Behandlung zurückgewiesen. 44 Hinsichtlich der Ursachen der Anorexia nervosa existieren verschiedene Theorien. Als extrem und nicht valide gelten Sichtweisen, die in den Patienten überprivilegierte Manipulatoren oder Lügner und Betrüger sehen, die die Aufmerksamkeit des Gesundheitssystems missbrauchen, oder die in der Anorexia nervosa eine Bitte um Suizid erkennen. 45 Eine psychoanalytische Theorie stellt auf eine Fixierung auf eine orale Entwicklungsstufe der jungen Frau ab, die aus Angst vor Sexualität und Mutterschaft ihre Entwicklung durch Nahrungsverweigerung zurückhält. Familientherapeuten interpretieren die Weigerung zu essen als Form einer sozialen Kommunikation in einer überkontrollierenden und überbestimmenden Familienstruktur, in der sich das Kind in einer Doppelbindung befindet und durch gleichzeitigen Gehorsam (Dünnsein) und Rebellion (Nahrungsverweigerung) reagiert. Eine feministische Perspektive sieht in der Anorexia nervosa die übertreibende Nachahmung eines Körperbildes, das jungen Frauen als Ideal durch Werbung und Medien präsentiert wird. 46 Eine Synthese verschiedener Theorien erkennt in der Anorexia nervosa das Ergebnis des Versuchs der betroffenen Person, ihre eigene Identität zu definieren und sich ihrer selbst zu versichern. Zugrunde liegt demnach eine tiefe Selbst-Verabscheuung, die die Patientin zu lindern versucht, indem sie möglichst dünn bleibt. Hier hat dieser Auffassung zufolge auch eine Therapie anzusetzen, indem der Therapeut gemeinsam mit der Patientin daran arbeitet, ihr Selbstbild wiederherzustellen oder ein solches allererst zu generieren, und auf diese Weise versucht, die Autonomie der Patientin herzustellen und für sie erfahrbar zu machen. Diese Theorie birgt indes ein erhebliches therapeutisches Risiko. Denn wenn die 43 44 45 46
Elzakkers, I. F. F. M., et al., 2014; Ramsay, R., et al., 1999. Gans, M. & Gunn W. B., 2003. Vgl. Tiller, J., et al., 1993. Gans, M. & Gunn W. B., 2003.
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Anorexie für den Patienten ein Mittel darstellt, die Selbst-Verabscheuung zu lindern und auf diese Weise ein authentisches und lebenswertes Leben zu führen, dann kann das Aufgeben der Anorexie und eine Gewichtszunahme bedeuten, den Grund für das für ihn als lebenswert erachtete Leben aufzugeben. Dieser Zusammenhang könnte eine Erklärung für die sehr häufig zu beobachtende Zurückweisung einer Behandlung bei Patienten mit Anorexie liefern. Die Verweigerung einer Behandlung selbst in einem klinisch gravierenden Zustand, die bei anderen Patienten mit anderen mentalen Erkrankungen als suizidal einzuordnen wäre, würde dieser Theorie zufolge bei einem Patienten mit Anorexia nervosa eine Bestätigung der einzigen Lebensweise darstellen, die er sich vorstellen kann. 47 Insofern lassen sich Patienten mit Anorexia nervosa, die keine Behandlung wünschen, nicht mit Patienten, die die Dialyse verweigern, vergleichen. 48 Damit stellt sich aber auch die Frage, inwieweit Patienten mit Anorexie tatsächlich selbstbestimmte, autonome Entscheidungen treffen, wenn sie eine Behandlung zurückweisen. 49 Die Theorie der Ursachen für eine Anorexia nervosa bestimmen die Therapie dieser Erkrankung. Sofern eine Therapie primär darauf abzielt, lediglich das Körpergewicht des Patienten zu steigern, geht sie an der Notwendigkeit, die Autonomie und Wahlmöglichkeit der Patientin herzustellen, vorbei und resultiert mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem Therapieabbruch. 50 Psychopharmaka haben sich bei der Behandlung der Anorexia nervosa als unwirksam erwiesen. 51 Die Behandlungsmethode der ersten Wahl bei Anorexia nervosa ist die Psychotherapie. Diese richtet sich auf eine Normalisierung der Körperwahrnehmung, des Essverhaltens und des Körpergewichts sowie auf die Bearbeitung psychischer Konflikte und der labilen Selbstwertregulation. Gerade 47 48 49 50 51
Gans, M. & Gunn W. B., 2003. Tiller, J., et al., 1993. Sato, Y., 2003. Gans, M. & Gunn W. B., 2003. Herpertz, S., et al., 2011.
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diese Therapieinhalte können bei den Patienten jedoch so stark angstbesetzt sein, dass die Patienten eine Therapie ablehnen oder abbrechen. 52 Die Rate von Therapieabbrüchen wird mit 38 bis 63 % angegeben. 53 Die Ablehnung oder der Abbruch einer Behandlung wird in der Psychotherapie meist akzeptiert, da die Freiwilligkeit als notwendige Voraussetzung für eine sinnvolle bzw. erfolgreiche Behandlung gilt. Auch Patienten mit einer Anorexia nervosa werden daher im Regelfall nur dann behandelt, wenn sie aufgrund ihrer freiwilligen Entscheidung für die Therapie ausreichend motiviert erscheinen. 54 Die Gründe für einen Therapieabbruch und ihre Konsequenzen, für eine vorzeitige Entlassung der Patienten und ihren Widerstand gegen eine Behandlung haben in der wissenschaftlichen Literatur bisher nur wenig systematische Aufmerksamkeit erfahren; auch finden sich in der Literatur nur wenige Studien über die Behandlung und Verläufe von chronischen, langdauernden und rezidivierenden Verläufen, und die vorliegenden Studien weisen nur eine mäßige bis geringe Evidenz unter anderem wegen geringer Fallzahlen, fehlender Kontrollbedingungen und der Anwendung von multimodalen Therapieansätzen mit fehlenden Aussagen zu einzelnen Behandlungselementen auf. 55 Als ein Problem für die Diagnose und Behandlung der Anorexia nervosa wird zudem erkannt, dass es sich um eine komplexe klinische Situation handelt, die Spezialwissen erfordert und mit deren Besonderheiten Hausärzte, Therapeuten und Angehörige wahrscheinlich nicht immer vollständig vertraut sind. 56 Überdies treten Patienten mit Anorexia nervosa, zusätzlich zu ihrer Resistenz gegenüber einer Behandlung, häufig mit einem unerfreulichen und fordernden Verhalten auf und können bei Pflegenden und Ärzten starke negative Gefühle und Einstellungen sowie mitunter das Gefühl der Hilflosigkeit auslösen, die dann die 52 53 54 55 56
Thiel, A. & Paul, T., 2007. Schmidt Holm, J., et al., 2012. Thiel, A. & Paul, T., 2007. Schmidt Holm, J., et al., 2012; Herpertz, S., et al., 2011. Thiel, A. & Paul, T., 2007.
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Gefahr bergen, dass irreversible Entscheidungen über eine Therapiebegrenzung auf der Grundlage unbewusster Gefühle getroffen bzw. mitbestimmt werden. 57 Hingegen wird darauf hingewiesen, dass bei Patienten mit schwerer Anorexia nervosa eine fehlende Antwort auf wiederholte Therapien nicht als grundsätzliche Therapieresistenz gewertet werden kann, sondern dass diese Patienten häufig einer wiederholten Behandlung in einem Krankenhaus und einer aktiven Intervention bedürfen, um ihren Tod zu vermeiden. 58 Eine stationäre Behandlung von Patienten mit Anorexia nervosa in einer spezialisierten Einheit hat grundsätzlich Vorteile, weil die Behandler mit dieser Erkrankung vertraut sind, Erfahrung im Umgang mit den Patienten besitzen und zudem weitere reichende Möglichkeiten haben, auf den Patienten zuzugreifen, eine therapeutische Allianz mit dem Patienten aufzubauen, eine stringente Supervision des Patienten zu etablieren und Erbrechen und Abführmaßnahmen besser zu kontrollieren. 2.2.1 Die Frage nach einer Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa Während eine Zwangsbehandlung bei vielen psychiatrischen Erkrankungen als eine akzeptierte Behandlungsform angesehen wird, sofern sich diese als Schutz vor Selbst- oder Fremdgefährdung als notwendig darstellt, wird eine zwangsweise Behandlung bei Anorexia nervosa seit Jahren kontrovers diskutiert. 59 Diese Diskussion stützt sich zum einen auf ethische, philosophische und rechtliche Prinzipien und betont, dass die Selbstbestimmung, die bei Patienten mit Anorexia nervosa allenfalls partiell eingeschränkt sei, eine mögliche Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung gegen den Willen der Patienten verbiete. Zum anderen wird in einer Zwangsmaßnahme ein erhebliches Risiko für die 57 58 59
Hébert, P. C. & Weingarten, M. A., 1991. Goldner, E. M., et al., 1991. Elzakkers, I. F. F. M., et al., 2014; Schmidt Holm, J., et al., 2012.
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Beziehung zwischen Therapeut und Patient erkannt, deren Aufbau und Stabilität gerade bei Patienten mit Anorexia nervosa für den Therapieerfolg notwendig erscheint. Die empirische Datenlage über die Häufigkeit einer Zwangsbehandlung bei Anorexia nervosa und den Erfolg einer nicht freiwilligen Unterbringung und Behandlung ist sehr dürftig. Insbesondere fehlen Daten über die Langzeitwirkungen einer Zwangsbehandlung, die bei dem typischen Krankheitsverlauf der Anorexia nervosa für eine Beurteilung notwendig wären. 60 Auch über die jeweiligen Entscheidungsprozesse selbst ist wenig bekannt, und die Frage bleibt offen, ob die Beteiligten in allen Fällen über die spezifischen Besonderheiten der Anorexia nervosa und die juristischen Rahmenbedingungen ausreichend informiert sind. 61 Eine Zwangsbehandlung unterscheidet sich von einer freiwilligen Behandlung dadurch, dass der Patient im letzteren Fall die Behandlung von sich aus jederzeit abbrechen kann. Die durchgeführten medizinischen Maßnahmen unterscheiden sich nicht notwendigerweise zwischen einer Zwangsbehandlung und einer freiwilligen Behandlung. Eine Zwangsbehandlung bedeutet nicht notwendigerweise eine zwangsweise Ernährung, auch nicht die Ernährung durch eine Magensonde oder durch intravenöse Infusion; beide Maßnahmen können auch bei einer freiwilligen Behandlung zur Anwendung kommen. 62 Zu einer Behandlung können sowohl bei einer Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung als auch bei einer freiwilligen Behandlung Formen eines direktiven klinischen Managements gehören, wie z. B. Überredung, Tadel, Ausüben eines moralischen Drucks oder die Androhung des Verlustes bestimmter Vorteile, um ein bestimmtes Verhalten zu erreichen. Auch bei einer freiwilligen Behandlung kommen häufig nicht verhandelbare zwangsähnliche Elemente 60 61 62
Elzakkers, I. F. F. M., et al., 2014; Thiel, A. & Paul, T., 2007. Thiel, A. & Paul, T., 2007. Schmidt Holm, J., et al., 2012.
210 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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zur Anwendung, wie bestimmte Einschränkungen der Bewegungsfreiheit oder die Verpflichtung, den Teller leer zu essen. 63 Nach gegenwärtigen Empfehlungen sollten Zwangsmaßnahmen in Betracht gezogen werden bei Patienten mit lebensbedrohlichen Symptomen. Hierzu zählen Elektrolytstörungen, Herzrhythmusstörungen und andere akute mentale oder physische Probleme, ein auf weniger als 13 kg/m2 Körperoberfläche abgesunkener BMI und bei Wirkungslosigkeit anderer therapeutischer Maßnahmen. 64 Die in Deutschland grundgesetzlich verankerte Freiheit eines Menschen schließt auch die Freiheit ein, sich ausdrücklich gegen den Rat von Ärzten und Psychotherapeuten zu entscheiden und eine empfohlene Therapie abzulehnen. 65 Wenn Patienten mit schwerer Anorexia nervosa allerdings eine Behandlung ablehnen und sich hierdurch eine direkte und unmittelbare Gefährdung für ihr Leben ergibt, kann eine ethisch schwierige Entscheidungssituation entstehen. Für eine solche Situation kennt das deutsche Recht Ausnahmeregelungen, die Eingriffe in die Grundrechte erlauben, und die unter bestimmten Umständen die zwangsweise Unterbringung und Behandlung von Patienten auch gegen deren Willen ermöglichen: die öffentlich-rechtliche Unterbringung nach den Gesetzen der Bundesländer und die zivilrechtliche Unterbringung nach dem Betreuungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). 66 (1) Die Unterbringungsgesetze aller 16 Bundesländer unterscheiden sich in ihren Einzelheiten, fordern jedoch übereinstimmend als Voraussetzung für die Unterbringung eines Menschen, dass bei ihm eine psychische Krankheit vorliegt, die zu einer konkreten, unmittelbaren Gefährdung des Erkrankten selbst oder anderer Menschen führt. Von ihrer Anlage her zielen die Unterbrin63 64 65 66
Schmidt Holm, J., et al., 2012. Schmidt Holm, J., et al., 2012. Thiel, A. & Paul, T., 2007. Vgl. im Forgenden Thiel, A. & Paul, T., 2007.
211 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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gungsgesetze daher in erster Linie auf die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Bei einer schwerwiegenden und konkreten krankheitsbedingten Selbstgefährdung kommt eine öffentlich-rechtliche Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen infrage, die in den meisten Bundesländern auch eine Zwangsbehandlung ausdrücklich erlauben. Wegen der Beschränkung auf die Anlasserkrankung und die Abwendung akuter Gefahren sind die Unterbringungsgesetze aus psychotherapeutischer Sicht allerdings nur sehr eingeschränkt geeignet, weil Zwangsbehandlungen ihre Legitimation mit dem Ende der akuten Gefährdungssituation und damit in der Regel weit vor einer wirklichen gesundheitlichen Stabilisierung verlieren und eine umfassende und auf dauerhafte Besserung angelegte Behandlung auf diese Weise nicht durchzusetzen ist. Anorektische Patienten könnten daher bei lebensbedrohlichem Untergewicht zwar vorübergehend nach den Unterbringungsgesetzen auch gegen ihren Willen untergebracht und zwangsernährt werden, die Zwangsbehandlung müsste jedoch sehr schnell, d. h. schon nach einer relativ geringen Gewichtszunahme beendet werden, sobald die unmittelbare Lebensgefahr beendet ist und der gesundheitliche Zustand sich stabilisiert hat. (2) Das Betreuungsrecht geht, anders als die Unterbringungsgesetze, zunächst von den individuellen Interessen des Betreuten aus. Die Zwangsbehandlung von Betreuten beruht nicht primär auf der Intention der Gefahrenabwehr, sondern auf dem Gedanken der Fürsorge: Personen, denen krankheitsbedingt die Fähigkeit fehlt, die Bedeutung einer medizinischen Maßnahme einzuschätzen, sollen nicht von der gesundheitlichen Versorgung ausgeschlossen werden. Der juristische Betreuer kann stellvertretend für den Betreuten in eine ärztliche Maßnahme einwilligen, sofern letzterer selbst nicht einwilligungsfähig ist, sowie beim Vormundschaftsgericht die Unterbringung des Betreuten nach § 1906 BGB beantragen, wenn wegen einer psychischen Krankheit des Betreuten eine Selbstgefährdung besteht oder eine medizinische Untersuchung oder Behandlung notwendig ist. Der Be212 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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treuer soll für die Angelegenheiten des Betreuten sorgen, wie es dessen Wohl entspricht, und sich dabei an den Wünschen des Betreuten orientieren. Damit wäre das Betreuungsrecht die angemessene Rechtsgrundlage für eine längere Zwangsbehandlung von Patienten mit Anorexia nervosa auch über die unmittelbare Lebensgefahr hinaus. Jedoch enthält das Betreuungsrecht keine Regelung zum Einsatz physischer Gewalt zur Durchsetzung einer ärztlichen Maßnahme während der Unterbringung. In § 1906 BGB wird nur die Entziehung der Freiheit geregelt, während das Betreuungsrecht über einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nichts aussagt. Dies hat zu einer kontroversen Diskussion über die Rechtmäßigkeit einer Zwangsbehandlung nach dem Betreuungsrecht geführt. 67 Sofern der Betreute allerdings im Hinblick auf die konkrete medizinische Maßnahme einwilligungsfähig ist, d. h. wenn er selbst die Art, Bedeutung und Tragweite einer medizinischen Maßnahme erfassen und seinem Willen entsprechend bestimmen kann, ist seine Entscheidung zu akzeptieren, auch wenn er sich selbst schadet. Eine Zwangsbehandlung gegen den Willen eines einsichtsfähigen Betreuten ist unzulässig. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Frage nach der Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit von Patienten mit Anorexia nervosa als bedeutsam. Diesbezüglich bestehen unterschiedliche Auffassungen. So vertritt eine Position die Auffassung, dass die Zurückweisung einer Behandlung durch einen Patienten mit Anorexia nervosa trotz lebensbedrohlicher Komplikationen zwar einerseits als irrational erscheinen mag, dass der Patient jedoch durchaus kompetent ist im Hinblick auf die Kommunikation über seinen Gesundheitszustand und bezüglich der Planung seiner Zukunft und anderer Bereiche seines Lebens, die durch die Erkrankung nicht beeinflusst sind. 68 Demzufolge sind die Patienten mental durchaus global kompetent, allerdings mit einer Ein-
67 68
Thiel, A. & Paul, T., 2007. Vialettes, B., et al., 2006; Gans, M. & Gunn W. B., 2003.
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schränkung in einem umschriebenen Bereich. 69 Zudem muss eine in der Perspektive des Arztes irrationale Überzeugung nicht gleichzeitig eine mentale Inkompetenz und eingeschränkte Einsichtsfähigkeit der Patienten bedeuten, weil diese Überzeugung für den Patienten eine eigene Logik haben könnte. 70 Aus der Perspektive des Patienten könnte der Behandlungsverweigerung eine rationale und vernünftige Entscheidung zugrunde liegen, wenn er nämlich seine Lebensqualität als sehr gering einschätzt und einer Therapie keinerlei Aussicht auf Besserung, sondern nur eine zusätzliche Belastung zumisst. In diesem Fall könnte die Beurteilung der Lebensqualität und des Therapieerfolgs durch den Patienten eher als ein Ausweis für eine vernünftige Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit angesehen werden. 71 Zudem birgt eine Verbindung von Irrationalität und mangelnder Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit das Problem, dass diese Konstruktion auf das Krankheitsbild der Anorexia nervosa generell angewendet und damit als Charakteristikum dieser Erkrankung auf sämtliche betroffenen Patienten übertragen wird, unabhängig von ihren individuellen Umständen. Jeder Patient mit Anorexia nervosa, der sich in einem lebensbedrohlichen Ernährungszustand befindet und eine Therapie verweigert, würde damit in einem legalen Sinne im Prinzip zu einem nicht einsichts- und einwilligungsfähigen Individuum erklärt und Zwangsmaßnahmen legitimiert. 72 Diese Position vertritt die Konsequenz, in Anerkennung der selbstbestimmten Entscheidung der Patienten keine Zwangsmaßnahmen anzuwenden und eine symptomlindernde bzw. palliative Versorgung anzubieten. 73 Eine andere Position anerkennt, dass Patienten mit Anorexia nervosa zwar globale Einsichts- und Einwilligungsfähigkeit besitzen, macht jedoch geltend, dass der umschriebene Bereich der 69 70 71 72 73
Gans, M. & Gunn W. B., 2003. Vialettes, B., et al., 2006. Gans, M. & Gunn W. B., 2003. Gans, M. & Gunn W. B., 2003. Gans, M. & Gunn W. B., 2003.; Schmidt Holm, J., et al., 2012.
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krankheitsbezogenen Gedanken, Wahrnehmungen, Urteile und Verhaltensweisen eindeutig pathologisch ist und Patienten, die hierdurch lebensbedrohlich erkrankt sind, therapeutischer Hilfe bedürfen, die gegebenenfalls bei konsequenter Therapieverweigerung auch Zwangsmaßnahmen erfordern können und müssen. 74 Das Denken der Betroffenen sei wegen der krankheitsbedingten Psychopathologie, in erster Linie wegen der Körperschemastörung und der Angst vor einer Gewichtszunahme, inhaltlich weitestgehend eingeengt. Über das formale Denken hinaus seien auch die Freiheitsgrade im Handeln erheblich reduziert. 75 Insofern träfen die Betroffenen im Hinblick auf ihr Essverhalten auch keine Wahl oder freie Entscheidung. 76 Eine Verweigerung der Therapie trotz eines lebensbedrohlichen Zustands wird als eine fehlende Einsicht in die Situation gewertet, die indes für eine Einwilligung in eine Therapie notwendig wäre. 77 Überdies wird auch argumentiert, dass insbesondere infolge des schwerwiegenden Hungerzustands und den hiermit verbundenen Stoffwechselveränderungen bei Patienten mit Anorexia nervosa neuropsychiatrische Störungen mit kognitiven Beeinträchtigungen entstehen können, die zu einer fehlenden Krankheitseinsicht und der Behandlungsverweigerung führen oder beitragen können. 78 Diese Symptome würden sich durch eine – wenn notwendig erzwungene – Nahrungszufuhr und Normalisierung des Stoffwechsels bessern und den Patienten überhaupt erst wieder in die Lage versetzen, seine Einstellung zu überdenken und am Behandlungsprozess teilzunehmen. 79 Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass eine Zwangsbehandlung nicht die Psychotherapie ersetzt, sondern den Beginn oder die Fortsetzung der Psychotherapie unter besonders schwierigen Rahmenbedingungen darstellt, die auch unter 74 75 76 77 78 79
Watson, T. L., et al., 2000. Thiel, A. & Paul, T., 2007. Sato, Y., 2003. Schmidt Holm, J., et al., 2012. Schmidt Holm, J., et al., 2012. Vialettes, B., et al., 2006.
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Zwang möglich sei. Demnach sei die weit verbreitete Ansicht falsch, dass Psychotherapie nur unter absolut freiwilligen Rahmenbedingungen durchgeführt werden könne. 80 Diese Position vertritt die Konsequenz, sofern sowohl mangelnde Akzeptanz für eine Behandlung als auch ein lebensbedrohlicher Zustand vorliegen, unter dem Gedanken der Fürsorge für den erkrankten Patienten bzw. des Nichtschadens durch Unterlassen Zwangsmaßnahmen durchzuführen mit dem Ziel, nicht nur sein Leben zu erhalten, sondern ihn wieder in die Lage zu versetzen, kompetente Entscheidungen zu treffen. Ein weiteres wichtiges Argument gegen eine Zwangsbehandlung besteht in der Sorge, dass durch jedwede Zwangsmaßnahmen die therapeutische Beziehung zum Patienten belastet oder zerstört werden könne. Eine Hypothese besagt, dass nicht freiwillige Patienten eine höchst negative Einstellung zu ihrer zwangsweisen Hospitalisierung und Behandlung haben. Sie werden wahrscheinlich weniger mit dem Therapeuten kooperieren, mit der Folge einer baldigen Rehospitalisierung nach Entlassung aus der stationären Behandlung. Einer anderen Hypothese zufolge schwindet der anfängliche Ärger und die negative Einstellung von nicht freiwilligen Patienten und weicht einer positiven Einstellung gegenüber dem Krankenhausaufenthalt, nachdem sie Hilfe bekommen haben, woraus weniger zukünftige Klinikeinweisungen resultieren. Beide Sichtweisen werden – bei allerdings dürftiger Datenlage – durch Beobachtungen gestützt. 81 Es wird jedoch erkennbar, dass eine zwangsweise Unterbringung und Behandlung die Entwicklung einer therapeutischen Allianz oder eine klinische Verbesserung nicht notwendig behindert. Viele nicht freiwillig behandelte Patienten berichteten zudem bei ihrer Entlassung, dass sie die Notwendigkeit für eine Behandlung erkannten und unterstützten. Sofern diese Änderung der ursprünglichen Einstellung in der Weise interpretiert werden kann, dass 80 81
Thiel, A. & Paul, T., 2007. Watson, T. L., et al., 2000.
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die anfängliche negative Einstellung von der Erkrankung der Patienten herrührte, könnte diese Deutung die Notwendigkeit unterstützen, ernsthaft erkrankte Patienten auch gegen ihren Willen zu behandeln. 82 Die Ergebnisse einer Studie über die Epidemiologie, Ergebnisse, Risikofaktoren und Einschätzung der Patienten mit Anorexia nervosa im Hinblick auf eine Zwangsbehandlung zeigen, dass die Kurzzeitergebnisse ähnlich denen einer freiwilligen Behandlung sind. Dieser Befund könnte insofern klinische Bedeutung haben, als diese Patienten wahrscheinlich überhaupt nicht behandelt worden wären, wenn sie nicht durch gesetzliche Mittel zwangseingewiesen worden wären. Unter Beachtung der spärlichen Datenlage kann auf der Grundlage dieser Ergebnisse gefolgert werden, dass, speziell wenn das Leben der Patienten bedroht ist, eine Zwangsbehandlung kurzfristig eine günstige Maßnahme darstellt und ernsthaft erwogen werden sollte. 83 Die Studie zeigt allerdings auch, dass für die Patienten die Wahrnehmung von Zwang nicht durch den formalen Zwang bestimmt war, sondern stark durch die Art und Weise ihrer Beziehung zu ihrem Therapeuten. 84 In einer ethischen Beurteilung muss daher immer eruiert werden, was im Einzelfall mit dem Begriff der Zwangsmaßnahme gemeint ist. Innerhalb einer Vertrauensbeziehung kann die Anwendung von Zwang auch als Sorge bzw. Fürsorge erfahren werden. 85 Zudem sind die Patienten und ihre Familienangehörigen oftmals erleichtert, die Verantwortung einem professionellen Team übertragen zu können. 86 Die Zwangsbehandlung kann sich dann als ein Akt der Anteilnahme darstellen, der zeigt, dass der Arzt die Ernsthaftigkeit der Erkrankung erkennt und vorbereitet ist, die Ängste, die mit der Gewichtsabnahme einhergehen, zu behandeln. 87 82 83 84 85 86 87
Watson, T. L., et al., 2000. Elzakkers, I. F. F. M., et al., 2014. Elzakkers, I. F. F. M., et al., 2014. Schmidt Holm, J., et al., 2012. Tiller, J., et al., 1993; Schmidt Holm, J., et al., 2012. Tiller, J., et al., 1993.
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Die Überlegungen zeigen, dass zumindest bei einem schweren Verlauf der Anorexia nervosa hinsichtlich der Autonomie der Patienten begründete Zweifel bestehen können. Zumindest bei einer lebensbedrohlichen Situation kann eine Unterbringung und Behandlung gegen den Willen des Patienten unter dem Prinzip der Fürsorge bzw. des Nichtschadens gerechtfertigt sein. Eine ethische Rechtfertigung für eine Zwangsernährung bleibt jedoch eine Herausforderung, da offensichtlich ist, dass sich die Anwendung etablierter ethischer Instrumente für eine Entscheidungsfindung bei Patienten mit Anorexia nervosa schwierig gestaltet. Denn wenn der Patient als aktuell nicht einsichtsfähig erkannt wird und seine zu einem früheren Zeitpunkt zum Ausdruck gebrachten ablehnenden Wertvorstellungen über Nahrung und Nahrungsaufnahme als Grundlage für eine klinische Entscheidung herangezogen werden, müsste vorausgesetzt werden, dass der Patient zum Zeitpunkt seiner Äußerung selbstbestimmt und – im Hinblick auf die Anorexia nervosa – gesund war. Gerade in Bezug auf diesen Bereich der Wahrnehmung sind die Patienten aber offenbar nicht einsichtsfähig. 88 Auch eine Entscheidung über eine Zwangsbehandlung nach dem Wohl des Patienten oder seinem besten Interesse ist schwierig, weil hierfür nicht nur die – im Falle der schweren Anorexia nervosa klinisch dringenden – medizinischen Belange eine Rolle spielen, sondern auch andere Aspekte wie der Lebensplan des Patienten, seine Wertvorstellungen, die Wahrscheinlichkeit einer Realisierung dieser Vorstellungen und seine Lebensqualität, über deren freie Bestimmung durch ein autonomes Subjekt gerade bei Patienten mit schwerer Anorexia nervosa Zweifel bestehen können. 89
88 89
Hébert, P. C. & Weingarten, M. A., 1991; Kluge, E.-H., 1991. Kluge, E.-H., 1991.
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3. Der „Freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“ Inwieweit unterscheidet sich nun der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit von den skizzierten Szenarien eines Hungerstreiks und einer Verweigerung der Nahrungsaufnahme in einem offenbar psychopathologischen Kontext, wie sie die Anorexia nervosa darstellt? Mit welchen bekannten Handlungskontexten ist der FVNF vergleichbar, und inwieweit lassen sich ethische Beurteilungskriterien, die in anderen Kontexten etabliert sind, auf den FVNF übertragen? Der Verzicht auf die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit dient dem Ziel, das eigene Leben zu beenden. Ein solcher Verzicht ist dann freiwillig, wenn er von einem bestimmten Maß an Einsichts-, Urteils- und Handlungsfähigkeit getragen und frei von äußerem Zwang beschlossen und durchgeführt wird. 90 Vor diesem Hintergrund ist zunächst festzustellen, dass ein Verzicht auf die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit, der als freiwillig angesehen werden kann, in sehr unterschiedlichen Situationen realisiert werden kann, die sich auch im Hinblick auf ihre jeweilige ethische Beurteilung voneinander unterscheiden können. Als Beispiele seien die folgenden vier Szenarien genannt: (1) In einer präterminalen oder terminalen Phase einer zum Tode führenden Krankheit versiegt häufig der Bedarf nach Nahrung und Flüssigkeit und das Gefühl von Hunger und Durst. Häufig fehlen aufgrund der Krankheitssituation zudem die Kraft und der Wille, Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit rückt für den Kranken aus dem Fokus der Aufmerksamkeit und stellt keinen Bedarf in seinem psychophysischen Befinden mehr dar. Ermunterungen von Behandelnden, zu essen und zu trinken, wird nicht mehr entsprochen, und angesichts des absehbaren Sterbens, das durch Nahrungsaufnahme nicht abgewendet oder sinnvoll verzögert 90
Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich weitestgehend an Heinemann, T., et al., 2018.
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werden kann, erscheint es in aller Regel auch medizinisch nicht angezeigt, Nahrungsstoffe und Flüssigkeit zu verabreichen. (2) In hohem Lebensalter und bei einer Vielzahl von Krankheitszuständen kann die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit mit Beschwerden oder Belastungen verbunden sein. Etwa bei Personen in höherem Lebensalter und bei Patienten mit bestimmten fortschreitenden chronischen Erkrankungen besteht eine hohe Inzidenz von Schluckbeschwerden (Dysphagie). Zudem verringert sich im fortgeschrittenen Alter oftmals das Gefühl von Hunger und Durst. Oftmals führen diese Umstände zu einer Verringerung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme. In vielen Fällen stellt sich dabei die Frage, inwieweit es sich bei diesen Umständen einer eingeschränkten Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit um ein selbstbestimmtes Geschehen im Sinne eines freiwilligen Verzichts handelt, und inwieweit damit eine bewusste Entscheidung in Kenntnis der hiermit verbundenen Konsequenzen einer zwar langsamen, jedoch fortschreitenden Gewichtsreduktion und Mangelernährung bis hin in einen schließlich lebensbedrohlichen Zustand verbunden ist. (3) Bei Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung bedarf die Einschätzung der Selbstbestimmungsfähigkeit einer besonderen Berücksichtigung. Zu kognitiven Beeinträchtigungen zählen zum Beispiel geistige Behinderung, 91 eingeschränkte kognitive Funktionen nach Erkrankungen sowie demenzielle Veränderungen. Zum Beispiel lehnen viele Menschen mit Demenz die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit in genügender Menge oder gänzlich ab und verlieren infolgedessen an Körpergewicht. Häufig 91
Definition der WHO: „geistige Behinderung bedeutet eine signifikant verringerte Fähigkeit, neue oder komplexe Informationen zu verstehen und neue Fähigkeiten zu erlernen und anzuwenden (beeinträchtigte Intelligenz). Dadurch verringert sich die Fähigkeit, ein unabhängiges Leben zu führen (beeinträchtigte soziale Kompetenz). Dieser Prozess beginnt vor dem Erwachsenenalter und hat dauerhafte Auswirkungen auf die Entwicklung“. (http://www.euro.who.int/de/ health-topics/noncommunicable-diseases/mental-health/news/news/2010/15/ childrens-right-to-family-life/definition-intellectual-disability)
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liegen diesem Verhalten behandelbare Erkrankungen zugrunde, die die Nahrungsaufnahme schmerzhaft oder beschwerlich machen (z. B. Zahnwurzelerkrankungen, Entzündungen der Speiseröhre). Nicht selten werden von solchen Patienten auch Speisen aufgrund des subjektiven Geschmacks oder deren Beschaffenheit abgelehnt. Gleichwohl können auch Menschen mit Demenz in verschiedenen Stadien der Erkrankung in einer selbstbestimmten Entscheidung, 92 den Tod herbeizuführen, auf Nahrung und Flüssigkeit verzichten. Eine Beurteilung der jeweiligen Gründe für eine Verweigerung von Nahrung und Flüssigkeit in solchen Situationen kann für Ärzte, Pflegende und bevollmächtigte Betreuer eine große Herausforderung darstellen. (4) Während den drei oben genannten Situationen ein definierbarer medizinischer Kontext zu Grunde liegt, ist eine weitere Situation des freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit dadurch charakterisiert, dass keine physischen oder psychischen Störungen der Nahrungsaufnahme im Sinne relevanter Erkrankungen und/oder kognitiver Einschränkungen vorliegen und ein bevorstehendes baldiges Lebensende nicht erkennbar ist. Im Vordergrund steht in diesem Fall die Entscheidung des Betroffenen, intentional durch Einstellen der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme den Sterbeprozess selbst einzuleiten und sein Leben zu beenden. In allen diesen Szenarien kann unterstellt werden, dass Freiwilligkeit und Selbstbestimmung zumindest in einem gewissen Maße vorliegen und die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme weder nicht freiwillig noch unfreiwillig eingeschränkt wird. Als „Freiwilliger Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit“ (FVNF) wird allerdings nur das letztere Szenario (4) bezeichnet, das im Folgenden näher analysiert werden soll.
92
Vgl. Deutscher Ethikrat, 2012.
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3.1 Herausforderungen für die pflegerische und ärztliche Begleitung eines FVNF In einer 2014 veröffentlichten Metaanalyse von publizierter Literatur über FVNF wurde keine evidenzbasierte Studie gefunden, die sich explizit mit den physiologischen Prozessen während eines zum Tode führenden FVNF bei Erwachsenen beschäftigt. 93 In der gesichteten Literatur wird angemerkt, dass der Sterbeprozess je nach körperlicher Kondition der Patienten oft mehrere Tage oder Wochen dauert. In einer der untersuchten Publikationen wird vermutet, dass, wenn der Tod in weniger als sieben Tagen nach Beginn eines FVNF eintritt, die Todesursache häufig auf die Grunderkrankung(en) des Patienten und nicht auf den FVNF zurückzuführen ist. In anderen Publikationen wird der Tod durch FVNF als symptomarm beschrieben und angemerkt, dass terminal kranke Patienten, die aufgrund von Dehydrierung oder Hungern sterben, nicht leiden, wenn eine adäquate palliative Versorgung zur Verfügung gestellt wird. Dieser Einschätzung stehen allerdings Darstellungen von konkreten Fallverläufen bei FVNF entgegen, die erkennen lassen, dass bei FVNF sehr wohl Schmerzzustände auftreten, die die Gabe von Morphin erforderlich machen. 94 Hinsichtlich des Symptoms „Durst“ bei FVNF wird vermutet, dass es eher auf das Gefühl von Mundtrockenheit und nicht auf den zunehmenden Flüssigkeitsmangel (Hypovolämie) zurückzuführen ist und durch eine sorgfältige Mundpflege gelindert werden kann. Für die pflegerische Betreuung von Patienten, die einen FVNF durchführen, werden spezifische Herausforderungen angeführt. 95 Demnach nimmt die sorgfältige Mundpflege einen erheblichen Stellenwert ein, die erstens Infektionen der Schleimhaut im Mund- und Rachenraum vorbeugen und zweitens das Durst93 94 95
Ivanović, N., et al., 2014. Chabot, B., 2017, S. 25 Vgl. im Folgenden: Chabot, B., 2017, S. 65 f.
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gefühl vermindern soll. Überdies müsse eine sorgfältige Dekubitusprophylaxe durchgeführt werden. Zudem sei es empfehlenswert, drei Tage vor oder zu Beginn des FVNF mit einem milden Abführmittel für eine Darmentleerung zu sorgen, da es bei Flüssigkeitsmangel zur Verstopfung (Impaktierung) von Darminhalt kommen kann und der geschwächte Patient die Kraft zum Stuhlgang später möglicherweise nicht mehr aufbringen könne. Gegebenenfalls müsse geprüft werden, ob dem Patienten, sobald er im Stadium der Bettlägerigkeit ist, ein Blasenkatheter appliziert werden muss. Als wichtig wird darüber hinaus eine wirksame Prophylaxe vor einem Sturz aus dem Bett erachtet, für den bei geschwächten Patienten und bei Patienten, die im fortgeschrittenen Stadium des FVNF verwirrt seien, ein erhöhtes Risiko bestehe. Insgesamt sei es von Bedeutung, dass die Pflegenden, insbesondere in der Phase einsetzender körperlicher Schwäche, auf die Wünsche des Patienten eingehen und ihn insgesamt unterstützen. Im Mittelpunkt der ärztlichen Begleitung eines Patienten, der FVNF durchführt, steht die medikamentöse Linderung von Symptomen wie Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Schmerzen, Verwirrung oder starkem Unwohlsein. Bei Schlaflosigkeit kommen insbesondere Substanzen aus der Klasse der Benzodiazepine in Betracht. Die Schmerzbekämpfung kann mit verschiedenen Substanzen aus den Klassen der Cyclooxygenasehemmer (z. B. Paracetamol) und Opiate (Morphin oder Morphinderivate) durchgeführt werden. Bei Patienten mit extremem Gewichtsverlust (Kachexie) treten im fortgeschrittenen Stadium häufig erhebliche Schmerzen auf, die u. a. durch Subluxationen der Gelenke infolge des Muskelschwunds, der zunehmenden Immobilität und der Veränderung des Bandapparates erklärt werden. In dieser Phase muss häufig für eine ausreichende Schmerzbekämpfung auf die Gabe von Opiaten zurückgegriffen werden. Diese Substanzen können neben einer atemdepressiven Wirkung allerdings gerade im Zustand des Hungerstoffwechsels und der Kachexie und insbesondere der Austrocknung (Exsikkose, Hypovolämie) auch eine ausgeprägte kreislaufdepressive Wirkung entfalten. Letztere ge223 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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winnt insbesondere dann Bedeutung, wenn der Arzt im Falle von FVNF keine Einwilligung des Patienten erhält, zur Behandlung eines Blutdruckabfalls nach Opiatgabe Flüssigkeit über die Vene in Form von Infusionen geben oder andere kreislaufstützende Maßnahmen ergreifen zu können.
3.2 Ethische Einordnung des Freiwilligen Verzichts auf Nahrung und Flüssigkeit Für eine ethische Einordnung des FVNF liegt die Frage nahe, inwieweit FVNF normativ gleich oder zumindest ähnlich wie der Handlungskontext des Suizids zu bewerten ist und die für den Suizid geltenden ethischen Beurteilungen demnach auch auf FVNF angewendet werden können. Handlungstheoretisch liegt eine Suizidhandlung vor, wenn drei Bedingungen erfüllt sind, nach denen Unterlassungen wie Handlungen bei moralisch relevanten Situationen gleichermaßen zu bewerten sind: Die betreffende Person muss erstens handeln können, im zu beurteilenden Fall also ohne erhebliche Einschränkungen essen und trinken können. Sie muss zweitens um dieses Können wissen und muss sich drittens ausdrücklich dazu entscheiden, nicht zu handeln, im vorliegenden Fall also nicht zu essen und zu trinken. 96 Im Fall von FVNF sind alle drei Bedingungen erfüllt, weshalb in handlungstheoretischer Perspektive der FVNF als eine Suizidhandlung bewertet werden kann. 97 Gleichwohl unterscheidet sich FVNF gleichzeitig eindeutig in Bezug auf die Modalität der Handlung, die mit einem Suizid assoziiert wird und den Begriff des Suizids prägt. So ist der Suizid charakterisiert durch die äußere, direkte und gewaltsame Einwirkung des Suizidenten auf seinen Organismus, in dem er sich z. B. stranguliert, erschießt, vergiftet oder ein tödliches Trauma zufügt, indem er etwa aus ausreichender Höhe 96 97
Vgl. Ricken, F., 2013, 118 f. Vgl. Jox, R., et al., 2017.
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von einem Gebäude springt. Hierfür kann ein Suizident auch (neutrales) Dritthandeln instrumentalisieren, z. B. wenn er sich vor einen Zug oder ein Auto wirft. FVNF lässt hingegen jede den Organismus von außen beeinträchtigende Handlung vermissen, sondern besteht „lediglich“ in dem Unterlassen der – freilich lebensnotwendigen – Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit. Zudem unterscheidet sich FVNF von einem Suizid durch den langen Zeitraum des Sterbeprozesses bei FVNF, der über lange Zeit eine Revision der Entscheidung durch den Sterbewilligen ermöglicht. Mit der Irreversibilität eines Suizids, die bereits in diesem Begriff zum Ausdruck kommt (lat. cadere, fallen, umkommen), ist die Weise der Beendigung des Lebens durch FVNF schwerlich in Einklang zu bringen. Vielmehr erfordert das Unterlassen der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme über einen langen Zeitraum ein ständiges und aktives Aufrechterhalten der getroffenen Entscheidung. Überdies stellt der FVNF auf ein Unterlassen der Zuführung von lebensnotwendiger Nahrung und Flüssigkeit, auch und gerade durch Dritte, ab und ähnelt hierin einem zum Tode führenden Behandlungsveto. In beiden Fällen nimmt der Betroffene sein grundrechtlich garantiertes Recht auf Selbstbestimmung über seine körperliche Unversehrtheit bzw. auf Abwehr des Eingriffs Dritter in seine körperliche Integrität in Anspruch, was keineswegs typisch für die Situation des Suizids ist. Und schließlich muss der Betroffene in der Endphase des FVNF die Hilfe von Pflegenden und Ärzten in Anspruch nehmen, was ebenfalls mit den landläufigen Vorstellungen von einem Suizid nicht in Einklang steht. Auch wenn es demnach Argumente für und gegen die Beurteilung des FVNF als Suizidhandlung oder als eine eigene Handlungsweise gibt, 98 lässt die Modalität der Handlung des FVNF deutlich erkennen, dass eine professionelle Begleitung beim FVNF durchaus nicht dem üblichen Bild einer Assistenz bei der Selbsttötung entspricht. Denn Ärzte und Pflegende stellen 98
Bickhardt, J. & Hanke, R. M., 2014.
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dem Patienten bei FVNF eben nicht ein tödlich wirkendes Mittel zur Verfügung, wie dies die Voraussetzung für eine Assistenz zum Suizid wäre. Allenfalls wäre anzuführen, dass die Bereitschaft und Zusage zur pflegerischen und ärztlichen Begleitung eines FVNF möglicherweise die Hemmschwelle senken könnte, die bei einem Sterbewilligen seinem Entschluss zum FVNF entgegenstehen mag. So erscheint es vor diesem Hintergrund sehr zweifelhaft, ob die Begleitung des FVNF, auch wenn sie wiederholt erfolgt, durch den Straftatbestand des § 217 StGB erfasst wird. Grundsätzlich stellt sich die Frage, inwieweit es zu dem Aufgabenspektrum von Pflegenden und Ärzten gehört, Menschen, die ihr Leben durch FVNF beenden möchten, professionell zu begleiten. Denn beim FVNF liegt im Unterschied zu anderen Szenarien zunächst kein medizinischer Kontext vor, auf den es zu reagieren gilt. Ein medizinischer Kontext wird erst durch den FVNF geschaffen, und diesbezüglich könnten das Angebot bzw. die Zusage einer professionellen Begleitung, sofern diese die Hemmschwelle senken, ihrerseits möglicherweise als eine Ermunterung des Patienten zum FVNF gewertet werden oder faktisch hierin resultieren. Der Wunsch einer Begleitung von FVNF stellt für die Berufsgruppen der Pflegenden und Ärzte eine bewusste Herausforderung ihrer berufsethischen Pflichten und professionellen Motivationen und insofern eine Zumutung dar. Überdies ist aus der Perspektive der professionell Begleitenden zu fragen, inwieweit es der Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten erfordert, seine Entscheidung, den FVNF bis zum Ende durchzuführen, zu unterstützen und seinen diesbezüglichen Durchhaltewillen zu fördern, ob Pflegende und Ärzte diesbezüglich eine neutrale Haltung einzunehmen haben oder ob sie auf der Grundlage ihres beruflichen Ethos, das nicht zuletzt auf den Erhalt des Lebens von anvertrauten Menschen hin orientiert ist, den Prozess des FVNF mit Angeboten zur Wiederaufnahme der Ernährung und des Trinkens begleiten sollen und wie intensiv solche Angebote gegebenenfalls ausfallen sollten. Pflegende, Ärzte und gegebenenfalls auch andere in den Prozess eines FVNF einbezogene Personen 226 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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(z. B. Bevollmächtigte/Betreuer) können bei der Planung und bei der Begleitung eines FVNF einer Konfliktsituation ausgesetzt werden, die durchaus Gewissensrelevanz erlangen kann.
4. Gibt es eine Pflicht zur Ernährung? Der FVNF wirft offensichtlich erneut die Frage auf, ob sich eine Pflicht zur Ernährung begründen lässt, die sich an die Gesellschaft oder das durch FVNF sterbewillige Individuum oder beide richtet. In einem freiheitlichen Verfassungsstaat besteht keine Rechtspflicht zum Leben, weshalb auch Suizid, sofern er auf einer selbstbestimmten und freien Entscheidung des Suizidwilligen beruht, nicht abstrakt-generell als Unrecht zu qualifizieren ist. 99 Auch wenn es gerechtfertigt erscheint, FVNF als einen Handlungstyp eigener Art von dem des Suizids abzugrenzen, gilt gleiches auch für die Beendigung des Lebens durch freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit. Zum Kernbestand der grundrechtlich garantierten Menschenwürde gehört das Recht auf Selbstbestimmung. Maßnahmen gegen den Willen eines einsichts- und einwilligungsfähigen Betroffenen zur Sicherstellung der Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme stellen daher einen unzulässigen Eingriff in die grundrechtlich garantierte Selbstbestimmung über die körperliche Integrität dar und sind nicht zu rechtfertigen. Dies betrifft im Prinzip auch den hungerstreikenden Häftling im Strafvollzug, wenngleich seine Rechte so weit beschränkt werden dürfen, wie der Freiheitsentzug und das Zusammenleben in der Vollzugsanstalt dies erfordern. Die Situation eines Hungerstreiks ist charakterisiert durch ein Dilemma zwischen der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs, der Fürsorgepflicht des Staates für den Gefangenen und dem Selbstbestimmungsrecht des Gefangenen. Einerseits kann der Staat sich im Vollzug strafrechtlicher 99
Vgl. Deutscher Ethikrat, 2017.
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Sanktionen nicht durch einen Hungerstreikenden erpressen lassen und die Sanktionen daraufhin gegebenenfalls regelhaft aussetzen, andererseits bliebe zur Durchsetzung dieser Sanktionen und aus Fürsorge für den Gefangenen kein anderer Weg, als mit der Anordnung einer Zwangsernährung zu Mitteln zu greifen, die dem Selbstbestimmungsrecht des Gefangenen eindeutig und schwerwiegend zuwiderlaufen. Insofern erscheint die Möglichkeit grundsätzlich gerechtfertigt, dass der Staat eine Zwangsernährung anordnen kann, während er bei eindeutiger Willensäußerung des einsichts- und einwilligungsfähigen Gefangenen gegen eine Zwangsernährung, die z. B. auch durch eine Patientenverfügung untermauert ist, in Kauf nehmen kann, den Gefangenen sterben zu lassen. Für den Staat besteht daher eine Pflicht, die in Frage stehenden Rechtsgüter im Einzelfall zu prüfen, abzuwägen und eine begründete Entscheidung zu treffen, keinesfalls aber, bei Hungerstreik von Häftlingen eine Zwangsernährung generell durchzusetzen. Anders stellt sich die Situation bei Nichteinwilligungsfähigkeit des Betroffenen oder bei begründeten Zweifeln hinsichtlich der Einwilligungsfähigkeit dar, wie dies etwa bei Anorexia nervosa der Fall ist. Hier kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Patient die Tragweite der Entscheidung bzw. die Konsequenzen erfasst, die mit einer Verweigerung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme verbunden sind. Das Prinzip der Fürsorge begründet in diesem Fall eine Verpflichtung, die lebensbedrohlichen Symptome durch Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit zu behandeln, auch wenn die Lebensrettung mit der aktuellen Sichtweise des Patienten im Konflikt steht. Diese Maßnahme dient dem Wohl des Patienten, das zunächst eine Beachtung der mit der Zwangsmaßnahme verbundenen Risiken und Belastungen verlangt, überdies aber auch eine Einschätzung der Gesamtsituation des Patienten, seiner Prognose und seiner Lebensqualität sowie eine Eruierung seiner Wünsche und Lebenspläne erfordert. Dabei ist die Rettung des Lebens nicht das Ziel der Behandlung, sondern stellt das Mittel dar, das dem Ziel des Wohls des Patien228 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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ten dient. Dies kann gegebenenfalls bedeuten, dass ein Patient durch Zwangsernährung wieder in einen Zustand versetzt wird, in dem er einwilligungsfähig ist, um ihn, wenn er in diesem Zustand seinen Willen eindeutig äußert und in einer Patientenverfügung festlegt, im Falle eines erneut eingetretenen Zustands der Nichteinwilligungsfähigkeit nicht mehr ernährt werden zu wollen, dann sterben zu lassen. Eine schwierige Entscheidungssituation kann sich ergeben, wenn Entscheidungen über eine Zwangsernährung unter Unsicherheit über Selbstbestimmung und Wohl des Patienten zu treffen ist, wie dies bei Anorexia nervosa im Hinblick auf die Ursachen der Erkrankung und die Langzeitprognose diskutiert wird. Bei begründeten Zweifeln über die Selbstbestimmung des Patienten und bestehender Lebensgefahr erscheint eine Zwangsbehandlung zur Rettung des Lebens gerechtfertigt. Einen FVNF können definitionsgemäß hingegen nur einsichtsfähige und einwilligungsfähige Menschen durchführen. Eine Rechtfertigung für eine zwangsweise Ernährung solcher Patienten ergibt sich in diesem Fall nicht. Wohl wirft der FVNF aber die Frage auf, ob es eine moralische Pflicht des sterbewilligen Individuums gibt, sich zu ernähren. Im Falle des hungerstreikenden Häftlings setzt dieser die Verweigerung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme einschließlich einer Inkaufnahme des Todes als ein Mittel zur Durchsetzung bestimmter Forderungen ein. Solche Forderungen haben im Kern seine Freiheit zum Gegenstand. Vordergründig geht es in der Regel um die Erzwingung einer Haftentlassung oder um Erleichterungen oder Vergünstigungen bei den Haftbedingungen, die ihrerseits jeweils eine erfahrbare Erweiterung der Freiheitsgrade des Inhaftierten darstellen. Dem Hungerstreik zugrunde liegt jedoch in der Regel ein bestimmter Wertekanon, von dem der Betroffene als freies Subjekt überzeugt ist und der es ihm nicht ermöglicht, die Haft selbst oder die mit ihr verbundenen Bedingungen zu akzeptieren. Dem Freiheitsentzug durch den Staat kann er dann als Protest eine der jedem Menschen bis zu seinem Ende verbleibenden Freiheiten entgegensetzen, indem er über die von ihm erwartete – weil natürliche und 229 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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überdies für einen geordneten Strafvollzug notwendige – Nahrungsaufnahme frei entscheidet und diese in einer freien Entscheidung ablehnt. Dabei stellen die Verweigerung der Nahrungsaufnahme und der körperliche Verfall nicht das Ziel der Handlung, sondern ein Mittel dar, um auf seine Interessen aufmerksam zu machen und diese durchzusetzen. Insbesondere wird der Tod nicht primär aus suizidalen Gründen angestrebt, sondern wenn überhaupt in Kauf genommen. Eine Pflicht zur Ernährung für den Häftling lässt sich unter diesen Umständen kaum formulieren. Bei Patienten mit Anorexia nervosa steht die Verweigerung der Nahrungsaufnahme nach ganz überwiegender Fachmeinung in einem psychopathologischen Kontext, auch wenn dieser gegenwärtig schwierig zu bestimmen ist. Auch hier wird nicht der Tod primär angestrebt, sondern kann schließlich als eine Folge der Nahrungsverweigerung eintreten. Die Patienten sind meist selbst beunruhigt und gestresst über ihren körperlichen Verfall und nehmen das Dilemma zwischen einerseits strikter Vermeidung einer Zunahme des Körpergewichts und andererseits gegebenenfalls lebensbedrohlicher Komplikationen durchaus wahr, sind aber aus Angst vor den Folgen therapeutischer Maßnahmen, insbesondere einer Gewichtszunahme, oft nicht in der Lage, dieses Dilemma durch das Aufsuchen professioneller Hilfe aufzulösen. Ganz überwiegend wird die Auffassung vertreten, dass die Patienten zumindest in Bezug auf dieses Dilemma keine freien und selbstbestimmten Entscheidungen treffen können und dass dieses Unvermögen ein zentrales Element der Erkrankung darstellt. Die Therapie der Betroffenen richtet sich daher darauf, Selbstbestimmung auch in diesem Segment personaler Entscheidungen zu ermöglichen. Eine Pflicht zur Ernährung lässt sich für solche Patienten nicht begründen. Bei Menschen, die FVNF durchführen möchten, stellt im Gegensatz zum hungerstreikenden Häftling und zum Patienten mit Anorexia nervosa der Sterbewunsch das Ziel des Handelns dar. Weder wird der Tod oder ein Sterbewunsch für irgendein als 230 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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höher oder wichtiger erachtetes Ziel instrumentalisiert, noch herrscht ein erkennbarer äußerer Zwang, noch steht der Sterbewunsch in einem offensichtlichen psychopathologischen Kontext, und der Betroffene ist zudem körperlich gesund. Er erfüllt alle Kriterien, die für eine selbstbestimmte Entscheidung eines einsichts- und einwilligungsfähigen Subjekts erforderlich sind. Das für ihn verfügbare Nahrungsangebot ist reichlich, so dass auch diesbezüglich keine Einschränkungen herrschen, die seine Handlung als aus einer Not begründet erscheinen lassen würden. Auf der Grundlage des Prinzips der Selbstbestimmung kann somit argumentiert werden, dass der Betroffene in einer selbstbestimmten Entscheidung sein Leben durch Einstellen der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme selbst beenden will und dass diese Handlung keinen unerlaubten Eingriff Dritter in seine psychische und physische Integrität darstellt und daher gerechtfertigt ist. Einwände gegen eine solche Argumentation könnten allerdings geltend machen, dass der Betroffene beim FVNF die Berufsgruppen der Pflegenden und Ärzte in sein Handeln notwendigerweise involviert und hierfür instrumentalisiert. Die Konsequenzen des selbstbestimmten Handelns betreffen beim FVNF keineswegs ausschließlich das sterbewillige Individuum, sondern auch seine soziale Umgebung, insbesondere in Gestalt von Ärzten und Pflegenden. Beim Suizid, bei dem der Suizidant in der Regel das Ziel verfolgt, sich umzubringen, dieses Ziel jedoch verfehlt, findet anschließendes ärztliches Handeln unter kurativer Perspektive statt: Ärzte und Pflegende verfolgen das Ziel, den Patienten zu heilen, gesund zu machen und ihm eine Lebensperspektive zu eröffnen. Im Unterschied hierzu bringt sich bei FVNF der Betroffene selbst in einen hilfebedürftigen Zustand mit dem Ziel, eine dann (auch ethisch begründete) notwendige professionelle Hilfe zu erhalten, die er jedoch unter Verweis auf seine Selbstbestimmung von vornherein auf einen palliativen Ansatz beschränkt. Dieses Handeln kann in der Weise aufgefasst werden, dass der Sterbewillige Pflegende und Ärzte ohne ihre Zustimmung für die Unterstützung des eigenen Sterbens instrumen231 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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talisiert, indem er ihre allgemeine Hilfspflicht durch eine bewusst selbst induzierte Hilfsbedürftigkeit aktiviert und zugleich ihre professionellen Handlungsspielräume durch fortgesetzte Verweigerung der Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme auf die symptomorientierte Begleitung des eigenen Sterbens einschränkt. Es könnte eingewendet werden, dass auch der Gefängnisarzt im Rahmen von Hungerstreiks mit der Verweigerung der Nahrungsaufnahme konfrontiert und vom Häftling instrumentalisiert wird und der Umgang mit einer solchen Situation zu den Aufgaben des ärztlichen Berufs gehört. Dem wäre allerdings entgegenzuhalten, dass der Gefängnisarzt mit Ergreifen dieser speziellen Tätigkeit tatsächlich damit rechnen und sich darauf einstellen muss, auf die Situation der Nahrungsverweigerung durch Häftlinge reagieren zu müssen, die typischerweise in seinem Aufgabenbereich vorkommt. Wie oben dargelegt wurde, sind seine Position und seine Eingriffsmöglichkeiten gegenüber dem Häftling allerdings andere als die eines Arztes gegenüber einem freien Patienten. Zudem ist er Teil des Strafvollzugs und auch diesem staatlichen Interesse verpflichtet. Es ist ein gut begründetes ethisches Gebot, dass weder die staatliche Gemeinschaft noch die Berufsgruppen der Ärzte und Pflegenden einen hilflosen Patienten, auch wenn er sich selbst in seine Lage gebracht hat, einfach sich selbst überlassen darf. Ethisch problematisch erscheint es allerdings umgekehrt, die staatliche Gemeinschaft und die Angehörigen der genannten Berufsgruppen berechnend in eine Situation der Hilfestellung zu zwingen und diese Hilfestellung mit einer Unterstützung des eigenen Sterbens zu verbinden. Eine solche Handlung kann die Selbstbestimmung der Ärzte und Pflegenden verletzen und eine gelingende ArztPatient-Beziehung am Lebensende äußerst belasten. Auch vor diesem Hintergrund lässt sich keine ethische Pflicht des Individuums zur Ernährung begründen. Begründbar erscheint jedoch eine ethische Pflicht, im Falle der Sterbewilligkeit durch FVNF die Ernährung und Flüssigkeitsaufnahme so lange fortzusetzen, bis ein Team von Pflegenden und Ärzten gefunden 232 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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ist, die in einer freien Entscheidung eingewilligt haben, das Sterben des Patienten durch FVNF bis zum Tod zu begleiten.
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Thomas Heinemann
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Das Rohe und das Gekochte: Zur anthropologischen und ethischen Bedeutung der menschlichen Nahrung Ludger Honnefelder
Fragt man nach der Bedeutung und dem Wert, den die Nahrung für den Menschen hat, wird der Hinweis auf die biologische Funktion der Nahrung für den Menschen als Lebewesen nicht genügen. Zu tief sind Essen und Trinken – wie auch die anderen vitalen Grundvollzüge – durch die Struktur geprägt, die den Menschen in der ihm eigenen Verschränkung von Natur- und Kulturwesen kennzeichnet und die durch die Dialektik von Natürlichkeit und Künstlichkeit bestimmt ist. Erst der Blick auf diese Struktur lässt die Bedeutung sichtbar werden, die die Nahrung für den Menschen hat (1) und erst auf diesem Hintergrund werden der Wert der Nahrung und die daraus erwachsenden moralischen Verpflichtungen für den Umgang mit der Nahrung sichtbar (2), was sich mit besonderer Dringlichkeit bei der Frage nach einer gentechnischen Veränderung von Pflanzen und Tieren zeigt (3–5). 1
1. Anthropologische Aspekte der menschlichen Nahrung Le Cru et le Cuit, 2 das Rohe und das Gekochte, – so hat der berühmte Kulturanthropologe C. Levi-Strauss eine seiner Studien 1
Vgl. zu dem Folgenden ausführlicher L. Honnefelder, Welche Natur sollen wir schützen? Über die Natur des Menschen und die ihn umgebende Natur, Berlin 2011, 48–65, 263 ff. 2 C. Levi-Strauss, Mythologiques I. Le Cru et le Cuit, Paris 1964 (dt.: Mythologica 1. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt a. M. 1976). Zum Zusammen-
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Das Rohe und das Gekochte
überschrieben. Die Differenz von roh und gekocht, so die These, unterscheidet den Menschen als Kulturwesen von allen anderen Lebewesen. Denn anders als sie vermag der Mensch sich nicht vom Rohen zu ernähren. Und mehr noch: das Kochen oder Zubereiten des Gesammelten oder Erjagten ist für den Menschen nicht nur Bedingung der Ernährung und des bloßen Überlebens, sondern Teil der Kultur, in der er in Überschreitung seiner rein naturalen Bedürfnisse die Lebensform schafft, die ihn nicht nur leben, sondern gut leben lässt. Denn der Mensch, so drückt es bereits Aristoteles aus, geht nicht im ζην, im bloßen Leben auf, sondern findet die ihm aufgegebene Selbstverwirklichung erst im ευ ζην, im guten Leben innerhalb der von ihm selbst geschaffenen Lebensform. Der Mensch braucht Nahrung nicht nur um zu überleben, ihre Zubereitung und ihr Verzehr sind Teil des guten Lebens. Für H. Plessner zeigt sich an diesem und anderen Phänomenen das anthropologische Grundgesetz der natürlichen Künstlichkeit. 3 Wo immer homo sapiens erscheint, sind die elementarsten vitalen Funktionen, Sexualität und Ernährung, kulturell geformt, Teil nicht nur seines Überlebens, sondern seiner kulturellen Existenz. Nahrung ist Lebens-Mittel in diesem umfassenden, Natur und Kultur verschränkenden Sinn. Anbau und Züchtung haben diesen Prozess der Kultivierung auf den Weg gebracht, die Wildform zur Nutzpflanze, das Wildtier zum Haus- und Nutztier gemacht. Aus 15 Arten schafften die südamerikanischen Indianer durch Züchtung den Mais, heute eines der Hauptnahrungsmittel der Welt. Die Nutzpflanzen und -tiere wurden zum Bestandteil der jeweiligen Kultur. Herstellung und Verarbeitung, Ackerbau, Viehzucht und die Küche als die hang von Essgewohnheiten und Kulturgeschichte vgl. auch den Überblick bei G. Neumann: „Essgewohnheiten im kulturellen Wandel“, in: A. Haniel u. a. (Hgg.), Novel Food. Dokumentation eines Bürgerforums zu Gentechnik und Lebensmitteln, München 1998, 13–26. 3 Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1981, S. 383.
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Ludger Honnefelder
Kultur der Zubereitung entwickelten sich zu integrierenden Bestandteilen einer Lebensform, die Natur und Kultur, Überlebensnotwendigkeit, Zuträglichkeit und Geschmack zu einer Einheit verbindet. Die Art der Herstellung und die Weise der Zubereitung der Nahrung tragen daher nicht nur dem wachsenden Bedarf an Nahrung Rechnung, sie sind bis heute Elemente der Identität, Sozialität und Heimat vermittelnden und verbürgenden Kultur des Menschen. Mit der in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden durch Mechanisierung und Chemisierung möglich gewordenen grünen Revolution antwortete die Menschheit auf den Nahrungsbedarf einer gewachsenen Weltbevölkerung. 4 An die Stelle der Selbstversorgung trat in zunehmendem Maß die arbeitsteilig betriebene und kommerzialisierte Produktion. Doch blieb diese Produktion an der tradierten Kultur des Lebensmittels orientiert. Die Nahrung behielt ihre kulturelle Valenz. Was kommerziell produziert wurde, war das durch den früheren und partiell noch fortdauernden Eigenanbau Vertraute und Geschätzte. Im Prinzip hat sich die Bindung der Nahrung an die vertraute kulturelle Lebensform auch in der zweiten grünen Revolution erhalten. Nichts zeigt das so deutlich wie die Weise, in der die kommerzielle Werbung für Nahrungsmittel im Unterschied zu vielen anderen Feldern die Vertrautheit des Bewährten beschwört und das Angebotene als das Bekannte und Tradierte zeigt, durch nichts verschieden von dem, was ehedem in Feld und Garten selbst angebaut oder gezüchtet wurde. Mindestens zwei Faktoren aber haben sich geändert: Wie nie zuvor hat die skizzierte Entwicklung das Angebot an Nahrungsmitteln in den industrialisierten Ländern erweitert, doch geschieht die Erweiterung nicht durch grundstürzende Innovation in Form der Erfindung gänzlich neuer Produkte, sondern durch Aneignung dessen, was in anderen Kulturen über lange Zeiten 4
Vgl. D. Hess, Biotechnologie der Pflanzen. Eine Einführung, Stuttgart 1992, 268 ff.
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Das Rohe und das Gekochte
gezüchtet und entwickelt worden ist und sich in deren Küchen bewährt hat. Man wird auf dem Nahrungsmittelsektor gewissermaßen multikulturell, aber bleibt konservativ. Denn das eingeführte Neue in Form anderer Züchtungsprodukte und Küchen ist in seinem Kontext uralt und als solches wird es geschätzt und rezipiert. Wirkliches Novel Food im eigentlichen Sinn wird nur behutsam eingeführt und ist angesichts der Bereicherung durch Aneignung von fremdem Bewährtem eher die Ausnahme. Innovation findet zum größten Teil innerhalb der Herstellung des Bekannten und Bewährten statt und zwar so, dass sich am sinnlichen Eindruck, der die Bekanntheit und Bewährtheit verbürgt, nichts ändert außer einer Verbesserung der seit eh und je geschätzten Eigenschaften des Nahrungsmittels. Mehr als je zuvor ist damit aber auch die Distanz gewachsen, die Produktion von Konsum trennt. Was man kauft, ist nicht mehr selbst angebaut, und auch nicht mehr durch Nähe zum Produzenten vertraut, sondern auf Wegen produziert und am Markt angeliefert, die für den Konsumenten kaum durchschaubar sind, vertraut nur durch die bekannte Gestalt und die Zugehörigkeit zu einer bewährten Herstellungs- und/oder Zubereitungskultur. Um das Vertrauen zu erhalten, appelliert deshalb die Werbung an die Transparenz des Produkts und seine Naturnähe, was in der Regel nicht Naturbelassenheit besagt, sondern Zugehörigkeit zu einer bekannten, bewährten und geschätzten Kultur.
2. Ethische Aspekte der menschlichen Nahrung Ist aber die Nahrung in der skizzierten Weise Teil der menschlichen Kultur und damit Lebensmittel in einem die Überlebenssicherung weit übersteigenden Sinn, kann es nicht verwundern, dass sich ihre Wertschätzung auch in ethischen Schutzansprüche niederschlägt. Da das Lebensmittel in Form von Nutzpflanzen und Nutztieren ein Teil der Biosphäre ist, unterliegt es deren Schutzbedürftigkeit. Als Nahrung ist es unverzichtbare Bedin239 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Ludger Honnefelder
gung des menschlichen Überlebens und als solche grundrechtlich zu schützen; in seiner Varietät und Zusammensetzung ist es die Voraussetzung eines dauerhaften gesundheitlichen Wohlbefindens. Nicht zuletzt sind – wie beschrieben – Herstellung und Verbrauch der Lebensmittel Teil einer soziokulturellen und ökonomischen Lebensform. Sind aber die genannten Faktoren – die Lebensfähigkeit der Umwelt, das Überleben und die Gesundheit der Menschen sowie ihre Beheimatung in einer intakten ökonomischen, sozialen und kulturellen Welt – schützenswerte Güter, dann ergeben sich an die Herstellung und Verteilung von Lebensmitteln ethisch relevante Verträglichkeitsforderungen sehr unterschiedlicher Art. 5 Die Komplexität dieser Verträglichkeitsforderungen entspricht der Komplexität des Gegenstandes und versteht sich deshalb nicht von selbst. Was als Nahrungsmittel dient, ist in der Regel aus einer Geschichte von Versuch und Irrtum entstanden und durch Erfahrung ausgewiesen. Auch eine elaborierte Lebensmittelwissenschaft hat die Grenzen unseres Wissens um das Zusammenwirken der verschiedenen Prozessfaktoren nicht beseitigen können. Nicht zuletzt ist deshalb im Blick auf die Verträglichkeit von Lebensmitteln die Vorhersage deutlichen Unsicherheiten unterworfen und meist nur in Bezug auf den Einzelfall möglich. 6 Umso höher sind 5
Genannt werden bei H. Kress, „Gesundheits-, Human- und Sozialverträglichkeit, ökologische, normativ-wertethische, ökonomische, internationale und technische Verträglichkeit“ (aus: Art. „Lebensmittel, gentechnisch veränderte 3. Ethisch“, in: W. Korff u. a. (Hgg.): Lexikon der Bioethik 2, Gütersloh 1998, 557–558); bei D. Mieth, „Gesundheitliche, ökologische, ökonomische (Nachhaltigkeit) und soziale Verträglichkeit, sowie Verträglichkeit mit Sicherheitssystemen (Krieg, Gewalt, Aggression) (aus: „Ethische Evaluierung der Biotechnologie“, in: Th. von Schell/H. Mohr (Hgg.): Biotechnologie – Gentechnik. Eine Chance für neue Industrien, Berlin u. a. 1994, 505–530 (521)). 6 Vgl. etwa K. Koschatzky, „Wirkungen des Einsatzes der neuen Biotechnologie in der Lebensmittelproduktion“, in: Th. von Schell/H. Mohr (Hgg.), Biotechnologie – Gentechnik. Eine Chance für neue Industrien, a. a. O., 144–162; K. D. Jany, „Potentielle Risiken beim Einsatz der Gentechnik in der Lebensmittelproduktion“, in: Lebensmittelchemische Gesellschaft – Fachgruppe in der GDCh
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Das Rohe und das Gekochte
die dementsprechenden Anforderungen an das entsprechende Risikomanagement.
3. Die aktuelle Problematik: Nahrungsmittelherstellung mit Hilfe der Gentechnik Besondere Aktualität nehmen die damit zusammenhängenden Fragen durch die molekularbiologisch möglich gewordene Verwendung der Gentechnik bei der Herstellung von Lebensmitteln an, und zwar insbesondere durch die gentechnische Veränderung von Pflanzen und Mikroorganismen, sei es, dass das Lebensmittel aus einem gentechnisch veränderten Organismus besteht, solche Organismen beinhaltet oder Teile bzw. Produkte eines solchen Organismus enthält. Ohne Zweifel ermöglicht die molekulare Genetik eine Tiefe der Einsicht, die ihrerseits Eingriffe mit einer Gezieltheit erlaubt, die über die des vielschrittigen Verfahrens der klassischen Züchtung weit hinaus geht. 7 Es ist diese Tiefe der Einsicht und des Eingriffs, die den Menschen erschrecken lässt, macht doch die neue molekulare Genetik nicht nur das zweite große Geheimnis neben dem der Materie entschlüsselbar, nämlich das des Lebens, sondern zugleich auch das zweite große Ordnungssystem neben (Hgg.), Gentechnologie. Stand und Perspektiven bei der Gewinnung von Rohstoffen für die Lebensmittelproduktion, Hamburg 1994, 143–159; A. Pühler, „Gentechnik in der Landwirtschaft: Zukunftsträchtig oder riskant?“, in: G. Kaiser/E. Rosenfeld/K. Wetzel-Vandai (Hgg.), Bio- und Gentechnologie. Anwendungsfelder und wirtschaftliche Perspektiven, Frankfurt/New York 1997, 99–110; H. G. Gassen/ M. Klemme: Gentechnik. Die Wachstumsbranche der Zukunft, Frankfurt am Main 1996; G. Bier-Noth/H. Steinhart: Art. „Lebensmittel, gentechnisch veränderte 1. Zum Problemstand“, in: W. Korff u. a. (Hgg.), Lexikon der Bioethik 2, a. a. O., 554–555. 7 Zum Begriff der Eingriffstiefe vgl. A. von Gleich, „Beurteilungskriterien beim Einsatz gentechnischer Verfahren in der Lebensmittelindustrie“, in: W. Bender/ H. G. Gassen/K. Platzer/K. Sinemus (Hgg.), Gentechnik in der Lebensmittelproduktion. Wege zum interaktiven Dialog, Darmstadt 1997, 177–214.
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Ludger Honnefelder
dem der Elemente, nämlich das der Arten, einer bis dahin unbekannten Veränderung zugänglich. Doch so neu die Tiefe der Einsicht und des Eingriffs auch ist, der Gentransfer als solcher, so wird man einwenden können, ist nicht neu. Er ist in der Natur bekannt und er wird seit Jahrtausenden gezielt zur Züchtung genutzt.
4. Pro und contra im Streit um die Gentechnik in der Nahrungsmittelherstellung Mit diesem Hinweis sind die ethisch relevanten Fragen aber keineswegs erledigt: – Darf man überhaupt, so ist zu fragen, das Verfahren der vielschrittigen klassischen Züchtung von Pflanzen und Tieren mit der Möglichkeit ihrer gentechnischen Veränderung vergleichen oder muss man nicht vielmehr für den Eingriff in das Genom wie bei der Kerntechnik von einem Worst-case-Szenario ausgehen und deshalb für ein generelles Verbot plädieren? – Dagegen spricht, dass von einem Gentransfer als solchem nicht wie von der Kerntechnik reelle Gefahren ausgehen, wohl aber putative, was freilich zu der Frage führt, wie man mit solchen putativen Gefahren umgeht. – Das wiederum hängt nicht zuletzt von der Frage ab, ob man bei der ethischen Beurteilung von einer Biozentrik ausgeht 8 und das evolutionäre Zusammenspiel der Gene als selbstzwecklich und deshalb als absolutes Schutzgut betrachtet, was freilich seinerseits durch das naturwissenschaftliche, auf jede Teleologie verzichtende Verständnis der Evolution nicht ge-
8
Eine biozentrische Ethik vertritt G. Altner, „Ethische Aspekte der gentechnischen Veränderung von Pflanzen“, in: W. van den Daele u. a. (Hg.), Verfahren zur Technikfolgenabschätzung des Anbaus von Kulturpflanzen mit genetisch erzeugter Herbizidresistenz, Berlin 1994, insbes. 54 ff.; Ders., Naturvergessenheit. Grundlegung einer umfassenden Bioethik, Darmstadt 1991, insbes. 214 ff.
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Das Rohe und das Gekochte
deckt ist und zudem auch die Unzulässigkeit gezielter Züchtung nach sich zöge. 9 – Vertritt man dagegen ein Verständnis der Ethik, die den Menschen als maßgeblichen Adressaten der Norm und deshalb als Selbstzweck betrachtet, 10 so kann auch die daraus folgende anthroporelationale Ethik nicht darauf verzichten, nach den Kriterien eines verantwortbaren Umgangs mit Pflanzen und Tieren zu fragen und dabei eine bestimmte Eigenwertigkeit der lebendigen Natur in Rechnung zu stellen, gehört doch der Mensch selbst zu dieser Natur. 11
5. Die Notwendigkeit der Güterabwägung Lässt man die nur schwer begründbare Perspektive einer biozentrischen Ethik außer Betracht und folgt der Perspektive unserer tradierten anthroporelativen Ethik, sind damit die anstehenden ethischen Probleme noch keineswegs gelöst. Nur wird deutlich, dass sie nicht anders als auf dem Weg einer Güterabwägung gelöst
9
Vgl. W. van den Daele u. a.: „Sind gentechnisch veränderte Pflanzen moralisch erlaubt?“, in: ders. u. a. (Hg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit. Modell einer partizipativen Technikfolgenabschätzung zum Einsatz transgener herbizidresistenter Pflanzen, Weinheim u. a. 1996, 246–252. Vgl. auch: ders.: „Annäherungen an einen uneingeschränkten Diskurs. Argumentationen in einer partizipativen Technikfolgenabschätzung“, in: L. Honnefelder/C. Streffer (Hgg.), Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 3 (1998), Berlin/New York 1998, 15–32. 10 Vgl. dazu ausführlicher L. Honnefelder, Im Spannungsfeld von Ethik und Religion, Berlin 2014, 17–39. 11 Vgl. dazu etwa F. Ricken, „Anthropozentrismus oder Biozentrismus? Begründungsprobleme der ökologischen Ethik“, in: Theologie und Philosophie, Vierteljahresschrift 62 (1987), H. 1, 1–21; O. Höffe, „Der wissenschaftliche Tierversuch: eine bioethische Fallstudie“, in: E. Ströker (Hg.), Ethik der Wissenschaften? Philosophische Fragen. (Ethik der Wissenschaften, 1), München u. a. 1984, 117– 150; Ders.: „Gerechtigkeit gegen Tiere“, in: ders., Moral als Preis der Moderne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, Frankfurt am Main 1993, 218–239.
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Ludger Honnefelder
werden können. Denn nicht wenige miteinander konkurrierende Ziele und diesen entsprechende Güter sind zu beachten: 12 – So spricht vieles dafür, dass eine Weltbevölkerung von der Größe, die für die Zukunft zu erwarten ist, nicht ohne Einsatz der modernen Gentechnik zu ernähren ist, womit dem Gut einer risikoarmen und die Natur schonenden Herstellung der Lebensmittel das Gut des Überlebens einer wachsenden Weltbevölkerung gegenüber tritt. 13 Freilich kann das Ziel, den Welthunger durch Einsatz der Gentechnik erfolgreich zu bekämpfen, nicht überzeugen, solange der Hunger seine primären Gründe in einer ungerechten Verteilung und einer ineffizienten Ökonomie hat und die durch Gentechnik in Aussicht gestellte Qualitätsverbesserung nicht primär dem Konsumenten, sondern dem Produzenten dient. 14 Damit wird deutlich, dass weder ein Verzicht auf den Einsatz der Gentechnik auch schon die ethisch problematischen Folgen beseitigt, die mit der derzeit industriell und kommerziell betriebenen Landund Ernährungswirtschaft verbunden sind, noch ein Einsatz der Gentechnik zwangsläufig diese Folgen nach sich zieht. – Auch wenn man davon ausgeht, dass die ausreichende Versorgung einer wachsenden Weltbevölkerung mit den notwendigen Nahrungsmitteln – auch nach Beseitigung aller ethisch problematischen Seiten der derzeitigen Land- und Ernährungswirtschaft – nicht ohne den Einsatz der Gentechnik möglich ist, bleibt die Frage, ob die Hochrangigkeit dieses 12
Vgl. G. Röbbelen, Gentechnik und Pflanzenzüchtung, Göttingen 1991; R. Greiner, „Forschungsstand und Einsatzmöglichkeiten der Gentechnik im Nahrungsmittelbereich“, in: A. Haniel u. a. (Hgg.), Novel Food. Dokumentation eines Bürgerforums zu Gentechnik und Lebensmitteln, a. a. O., 27–39. – Zur ethischen Beurteilung der Ziele im Zusammenhang der Biotechnologie vgl. D. Mieth: „Ethische Evaluierung der Biotechnologie, a. a. O. (Anm. 4). 13 Vgl. etwa K. Hahlbrock, Kann unsere Erde die Menschen noch ernähren? Bevölkerungsexplosion, Umwelt, Gentechnik, München 1991. 14 Vgl. W. Van Den Daele u. a. (Hg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit. Modell einer partizipativen Technikfolgenabschätzung zum Einsatz transgener herbizidresistenter Pflanzen, Weinheim u. a. 1996, 48.
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Das Rohe und das Gekochte
Ziels auch die Zweifel an der Vertretbarkeit des angewandten Mittels zu beseitigen vermag. Das aber läuft auf die Frage hinaus, ob zur Beherrschung der möglichen Risiken der für die Prüfung der Lebensmittelsicherheit verwendete Rekurs auf die von der OECD 1993 geforderte „substantielle Äquivalenz“ der mit Hilfe gentechnischer Veränderungen hergestellter Lebensmittel genügt, und dies nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass eine vollständige Risikoanalyse nicht möglich ist. – Zu bedenken bleiben schließlich nicht nur die bereits erwähnten mit dem Einsatz der Gentechnik möglicherweise verbundenen sozio-kulturellen Folgen, sondern auch die Spannung, die sich zwischen einem breiten die Nahrungsmittelherstellung beherrschenden Einsatz der Gentechnik und dem aus dem individuellen Grundrecht der Selbstbestimmung des Menschen erwachsenden Anspruch tritt, über die Wahl seiner Nahrung selbst entscheiden zu können.
6. Moral als Preis, der für die moderne Entwicklung zu erbringen ist Die wenigen angedeuteten Aspekte und Fragen genügen, um deutlich zu machen, welche komplexen ethischen Herausforderungen mit der Frage nach Bedeutung und Wert der Nahrung für den Menschen verbunden sind. Gefordert ist offensichtlich eine Ethik, die nicht die „Entmoralisierung der Natur“ nach sich zieht, die mit der modernen Regelethik verbunden ist, sondern die Orientierung an einem praktischen Naturbegriff einschließt, wie dies bereits die am Beginn der Geschichte der Ethik stehende Ethik des Aristoteles vorsah. Ein solcher praktischer Naturbegriff wird die naturwissenschaftlichen Parameter einschließen müssen, sich aber nicht in ihnen erschöpfen können, sondern an der Frage orientiert sein, in welcher Natur wir leben wollen und wo wir die Grenzen ihrer Manipulierbarkeit durch den Menschen setzen wollen und müs245 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Ludger Honnefelder
sen. Eine daran orientierte Ethik wird in der biologisch basierten, lebensweltlich erfahrenen und in der common morality verankerten scala naturae ihren Bezugspunkt haben. Denn was in der lebensweltlich verankerten scala naturae begegnet, ist die „zweite Natur“, die die naturwissenschaftlich erkannte Natur einschließt, zugleich aber die kulturelle, lebensweltlich verankerte Prägung aufgenommen hat, in der Natur das menschliche Handeln bestimmt. Diese „zweite Natur“ erlaubt „Nahrung“ wie auch „Gesundheit“ als Güter zu begreifen, die die biologische ebenso wie die sozio-kulturelle Dimension umfassen, zugleich aber den Anschluss an die Natur herzustellen, die der Grund dafür ist, dass zu den individuellen Grundrechten der Integrität von Leib und Leben und der Wahrung von Gleichheit und Gerechtigkeit der Anspruch auf Nahrung gehört.
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Ernährungssicherheit als Menschenrecht Nahrungsmittelproduktion auf Basis pragmatistischer Gerechtigkeitsüberlegungen Johannes Wallacher
1 Einleitung Immer noch leiden mehr als 800 Millionen Menschen an chronischem Hunger (FAO 2014) – und das, obwohl die globale Nahrungsmittelproduktion in den letzten 50 Jahren stärker gewachsen ist als die Weltbevölkerung. Sogar zwei Milliarden Menschen gelten als mangelernährt, weil sie sich eine ausgewogene Ernährung mit ausreichend Vitaminen und Mineralstoffen nicht leisten können (von Braun 2013, 194). Umgekehrt ist paradoxerweise die Zahl der Menschen, die weltweit von Übergewicht betroffen sind, mit einer Milliarde noch höher als die der Hungernden (ebd.). Die Gleichzeitigkeit von Hunger, Mangelernährung und Überfluss beschreibt nicht nur die skandalöse Situation der Erde als Ganzes, sondern auch die einzelner Länder. Indien beispielsweise weist seit Anfang der 1990er Jahre ein rasantes Wirtschaftswachstum auf und gehört heute zu einem der weltweit größten Nahrungsmittelexporteure. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt in ländlichen Regionen, ein Großteil davon ist in der Landwirtschaft tätig. Dennoch sind in Indien mehr als 15 % der Bevölkerung (FAO 2014, 42) und sogar mehr als 40 % der Kinder unter fünf Jahren aufgrund von unzureichender Nahrungsmittelversorgung oder Mangelernährung der Mütter unterernährt (FAO 2015). Die Welt ist also nach wie vor weit entfernt von einer gesicherten Ernährung für die gesamte Menschheit. Zudem sind weitere 247 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Johannes Wallacher
Herausforderungen absehbar. Es gilt den erhöhten Nahrungsmittelbedarf einer wachsenden Weltbevölkerung zu decken. Zusätzlich gerät die Nahrungsmittelproduktion durch den Klimawandel, den wachsenden Bedarf an Futtermitteln und die Flächenkonkurrenz durch Biokraftstoffe unter Druck. Das Krisenjahr 2008 hat zudem deutlich gemacht, dass die stark schwankenden Preise auf dem Nahrungsmittelmarkt zunehmend zum Problem für die Ernährungssicherung werden. Schließlich muss der globale Nahrungsmittelbedarf so gedeckt werden, dass auch zukünftige Generationen die Möglichkeit haben, ausreichend Nahrungsmittel zu produzieren (vgl. Godfray 2010, 813). Angesichts dieser Entwicklungen und Prognosen stellt sich heute mehr denn je die Frage, was getan werden kann und muss, um eine ausreichende Ernährung für alle Menschen auf Dauer zu sichern. Doch was bedeutet überhaupt Ernährungssicherheit? Denn dieser Begriff wird – abhängig vom wechselnden politischen Zeitgeist und bedingt durch die zunehmende Komplexität der Ernährungsproblematik – höchst unterschiedlich verwendet. In diesem Beitrag wird dafür argumentiert, das Konzept der Ernährungssicherung interpretativ eng mit dem Recht auf Nahrung zu verknüpfen, und auf der Basis pragmatistischer Gerechtigkeitsüberlegungen ethische Maßstäbe für die Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln zu entfalten. Das Recht auf Nahrung wird bereits in der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 in Artikel 25 genannt und im Jahr 1966 im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) völkerrechtlich verbindlich festgeschrieben. Der Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen hat das Recht auf Nahrung dann 1999 im Allgemeinen Kommentar Nr. 12 weiter konkretisiert: „Das Recht auf Ernährung ist dann verwirklicht, wenn jeder Mann, jede Frau und jedes Kind, einzeln oder gemeinsam mit anderen, jederzeit physisch und wirtschaftlich Zugang zu angemessener Ernährung oder Mitteln zu ihrer Beschaffung hat.“ „Angemessen“ wird in diesem Kontext verstanden als gesund, 248 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Ernährungssicherheit als Menschenrecht
verträglich und den kulturellen Ansprüchen genügend. Ein sicherer Zugang zu ausreichender Nahrung ist damit ein grundlegendes Menschenrecht, das in der Menschenwürde gründet, die allen Menschen in gleicher Weise zukommt. Dies ist der normative Standpunkt, von dem aus die komplexen Problemzusammenhänge von Hunger und Mangelernährung zu analysieren sind. Alle Strukturen und Mechanismen, welche der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln zugrunde liegen und diese beeinflussen, sind daher primär unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, inwiefern sie das Recht auf Nahrung als fundamentales Menschenrecht auf Dauer schützen und gewährleisten oder verletzen. Von daher kann die Analyse der politisch-ökonomischen wie ökologisch-technischen Strukturen der Ernährungsproblematik nicht getrennt von einer philosophisch-ethischen Reflexion betrachtet werden, sondern beides ist gemeinsam in einer möglichst integrierenden Weise in den Blick zu nehmen. Dies entspricht einem pragmatistischen Ethikansatz (vgl. Dewey 2004, Kowarsch 2012), bei dem in Anlehnung an die methodischen Vorschläge Deweys Analyse und ethische Reflexion nicht getrennt, sondern eng miteinander verknüpft werden (Putnam 2002). Die Untersuchung ist dabei von – vorläufigen – Voraussetzungen ethischer Art geleitet, insofern das Menschenrecht auf Nahrung den normativen Standpunkt bildet, von dem aus die komplexen Problemzusammenhänge von Hunger und Mangelernährung analysiert werden. Der menschenrechtliche Standpunkt ist von unterschiedlichen philosophischen Traditionen her begründbar sowie anschlussfähig an verschiedene kulturelle Traditionen und normative politische Diskurse (Reder 2012). Für Gerechtigkeitsüberlegungen kann eine solche Perspektive durch das „Dreieck der Gerechtigkeit“ fruchtbar gemacht werden, das von den Kernanliegen der Menschenrechte ausgeht und deren Unteilbarkeit berücksichtigt (Edenhofer u. a. 2010, 61–65). Die daraus abgeleiteten Gerechtigkeitsforderungen können dann Orientierung für die Aufteilung von Verantwortlichkeiten wie für politische Handlungsempfehlungen geben. 249 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Johannes Wallacher
Gemäß des skizzierten Ansatzes, der Problemanalyse und ethische Reflexion zu integrieren sucht, werden im Folgenden zunächst die wichtigsten Zusammenhänge zur globalen Ernährungssituation (Kapitel 2) dargestellt, dann das Konzept der Ernährungssicherheit menschenrechtlich verankert (Kapitel 3) und auf dieser Basis schließlich, differenziert nach Handlungsebenen und Akteuren, einige ausgewählte Handlungsoptionen formuliert, um möglichst allen Menschen einen dauerhaften Zugang zu ausreichender Nahrung zu ermöglichen (Kapitel 4).
2 Welternährung in der Krise 2.1 Mannigfaltigkeit, Ursachen wie Folgen von Hunger und Mangelernährung Hunger hat viele Gesichter, nicht nur weil weltweit eine große Zahl von Menschen davon betroffen ist, sondern wie bereits erwähnt verschiedene Formen von Unter-, Mangel- und Fehlernährung zu unterscheiden sind (von Braun 2013, 192–195). Neben der chronischen Unterernährung, von der weltweit mehr als 800 Millionen Menschen – ein erheblicher Anteil davon Säuglinge und Kleinkinder – betroffen sind, wird besonders auch die Unterversorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen durch die aufgenommene Nahrung zu einem immer schwerwiegenderen Problem. Die häufig vertretene Ansicht, die Menge der heute global produzierten Nahrungsmittel könnte auch eine weiter wachsende Weltbevölkerung ernähren, ist daher verkürzt. Denn wenn sich eine solche Rechnung lediglich auf die Menge der Kalorien bezieht, die weltweit zur Verfügung stehen, sagt dies nichts über die Qualität der Nahrungsmittel aus. Vor allem ist der weltweite Hunger aber ein erhebliches Verteilungsproblem. Denn die meisten der weltweit unter- und mangelernährten Menschen leben in den ländlichen Regionen von Entwicklungs- und Schwellenländern, vor allem in Asien und 250 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Afrika (Weingärtner/Trentmann 2011, 53). In den allermeisten Fällen handelt es sich um Kleinbauern, Pächter, Hirten, Fischer und Landlose, die zu wenig selbst produzieren oder auf den Feldern anderer arbeiten und zu wenig Einkommen haben, um sich eine ausgewogene Ernährung leisten zu können. Die Einkommensdisparitäten zwischen ländlichen und städtischen Gebieten nehmen deutlich zu (Ahmed et al. 2007), allerdings wächst aufgrund der steigenden Nahrungsmittelpreise und wachsender Armut in den letzten Jahren auch die Zahl der Unter- und Mangelernährten in den Städten. Die Ernährungsproblematik ist vielschichtig und hat auch verschiedene Ursachen (von Braun 2013). Denn Hunger ist die Folge verschiedener, sich wechselseitig verstärkender Fehlentwicklungen in politischer, rechtlicher und ökonomischer Hinsicht auf unterschiedlichen Ebenen (lokal, national, global). Der Hauptgrund für Hunger und Mangelernährung ist nach wie vor die Armut, die es den Betroffenen schwer macht, ausreichend Nahrungsmittel selbst anzubauen oder zu erwerben. Zudem steigern despotische Regime, Bürgerkriege und politische Unruhen das Risiko von Hungersnöten beträchtlich. In vielen Fällen sind Hungersnöte, wie besonders in verschiedenen Regionen Afrikas, Ausdruck des Zusammenwirkens von staatlichem Zerfall und politischer Gewalt, Vernachlässigung der Investitionen in die Landwirtschaft sowie der Rechtlosigkeit der Kleinbauern oder nomadisierenden Viehhalter (Rauch 2011). Verschärft wird die Lage oft dadurch, dass andere Länder, sowohl in der Region wie auch weltweit, in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik der Ernährungssicherung vor Ort kaum Beachtung schenkten und viel zu zögerlich und unzureichend regionale oder internationale Nothilfe geleistet haben. Umgekehrt haben Hunger und Mangelernährung weitreichende, die Armut weiter verfestigende Folgen für die Betroffenen, vor allem die Kinder. Kinder sind dann anfälliger gegenüber Krankheiten und ihre schulischen Leistungen und damit auch ihre künftigen Einkommenschancen sind dadurch tendenziell schlechter. Die Verbesserung der Ernährungssituation ist somit auch eine 251 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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wichtige Grundlage, um die wirtschaftlichen Entwicklungschancen eines Landes zu verbessern. Dies gilt insbesondere für den so genannten „versteckten Hunger“, das heißt die schon angesprochene Unterversorgung mit Vitaminen und Mineralstoffen.
2.2 Ökologische Grenzen der Nahrungsmittelproduktion Die Vielschichtigkeit von Hungersnöten, deren unterschiedliche Ursachen und Folgen sind ein Hinweis darauf, dass einfache Lösungen zu kurz greifen. Die Verwundbarkeit der Armen wird inzwischen durch weitere Probleme gesteigert, denen die Betroffenen meist schutzlos ausgesetzt sind. Die bereits angedeutete soziale Verwundbarkeit wird durch die offensichtlichen ökologischen Probleme erheblich verschärft. Seit Anfang der 1960er Jahre wuchs die landwirtschaftliche Pro-Kopf-Produktion deutlich stärker als die Weltbevölkerung (The Royal Society 2009, 2). Die fortschreitende Intensivierung der Landwirtschaft steigerte die Produktivität zunächst in den Ländern des Nordens, seit den 1970er und 1980er Jahren auch in vielen anderen Ländern enorm, als die sogenannte Grüne Revolution große Teile Asiens und Lateinamerikas erreichte. Als ländliches Modernisierungs- und Entwicklungsprogramm umfasste die Grüne Revolution die Einführung von Hochertragssorten, die Versorgung mit Mitteln gegen Krankheiten und tierische Schädlinge (Pestizide) und Kunstdüngern, die Mechanisierung der Landwirtschaft und oftmals auch staatliche Preisgarantien für Getreide. Es gab allerdings auch erhebliche regionale Unterschiede, da z. B. der landwirtschaftliche Anbau in einigen Staaten Indiens und auf dem afrikanischen Kontinent nur wenig intensiviert wurde. Die kapitalintensive Produktion von Nahrungsmitteln (Pflanzen, Fleisch, Fisch) hat in den letzten Jahrzehnten zwar die jeweiligen Erträge erheblich gesteigert, inzwischen zeigen sich aber auch deutlich die Schattenseiten dieser Intensivierungsstrategie 252 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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(vgl. The Royal Society 2009, Hahlbrock 2007). Die mangelnde Nährstoffzufuhr, die mit vielen Formen der Intensivierung des Pflanzenanbaus verbunden ist, gefährdet nämlich mehr und mehr die zentralen Grundlagen der Biosphäre: Boden/Biodiversität, Wasser und Klima/Luft. Auch in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sind die Landnutzungspraktiken aufgrund zu kleiner Anbauflächen und hoher Bevölkerungsdichte oft nicht nachhaltig. So ist die Bodenfruchtbarkeit auf etwa zwei Dritteln der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Afrika bereits dauerhaft geschädigt, weil die oberste fruchtbare Humusschicht stark reduziert und oft unwiederbringlich verloren ist (Rauch 2011). In vielen Regionen spielt Fisch für die Ernährung der Bevölkerung eine zentrale Rolle. Der stark gestiegene Konsum von See- und Meeresfischen in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass die Bestände von mehr als der Hälfte aller Fischarten schon heute vollständig ausgebeutet sind, diejenigen übriger Arten sind ebenfalls überfischt oder gar bereits erschöpft (FAO 2014b). Die Zerstörung und Übernutzung der natürlichen Ressourcen trägt entscheidend mit dazu bei, dass Armut sich verfestigt, weil die bäuerlichen Familien nur geringe Erträge erwirtschaften können (Rauch 2011). Insgesamt werden die faktisch für den Ackerbau nutzbaren Flächen der Erde bereits heute größtenteils bewirtschaftet. Landwirtschaftliche Anbaufläche wird damit zunehmend knapp, zumal weitere potenziell nutzbare Flächen zum großen Teil von Wäldern bedeckt sind, die jedoch von elementarer Bedeutung für das ökologische und klimatische Gleichgewicht sind. Der Wettlauf um immer knapper werdende landwirtschaftliche Anbauflächen wird durch die wachsende Nachfrage nach Futtermitteln und Agrartreibstoffen noch erheblich verschärft. Eine zusätzliche Belastung stellt der Klimawandel dar, der aller Voraussicht nach die landwirtschaftlichen Anbaubedingungen ausgerechnet in den Regionen verschlechtern wird, in denen die Menschen bereits jetzt am stärksten von Hunger und Mangelernährung bedroht sind (Lotze-Campen u. a. 2012, Wheeler & von Braun 2013). Bereits jetzt nehmen in einzelnen Regionen 253 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Hitzewellen und Dürren zu, was die Ernteerträge senkt oder zu völligem Ernteausfall führt. Dürren, aber auch Überflutungen werden den Klimaforschern zufolge zukünftig sehr wahrscheinlich vermehrt und noch intensiver auftreten. Am verwundbarsten sind auch dann die Ärmsten, denn sie haben am wenigsten Möglichkeiten, sich an die veränderten Bedingungen anzupassen. Umgekehrt trägt die Landwirtschaft durch die Emission von Treibhausgasen selbst erheblich mit zum Klimawandel bei (Lippelt 2015). Dies ist auch ein Ergebnis der Intensivierung von Pflanzenanbau und Fleischproduktion, die meisten Emissionen entstehen jedoch durch Landnutzungsänderungen, d. h. die Umwandlung von Wäldern in Acker- oder Weideflächen. Mit der Abholzung gehen wichtige CO2-Speicher, Biodiversitätszentren und Klimaregulatoren verloren. Auch der großflächige Einsatz von synthetischem Dünger im Pflanzenbau setzt große Mengen an anderen Stickstoffoxiden frei, die ebenfalls Treibhausgase sind.
2.3 Vielfältige Formen von Markt- und Staatsversagen Die erheblichen Ertragssteigerungen in der Produktion von Nahrungsmitteln (Pflanzen, Fleisch und Fisch) der letzten Jahrzehnte sind nicht nur ökologisch kaum nachhaltig, sie haben auch nicht dazu beigetragen, den weltweiten Hunger zu überwinden. Denn letztlich ist nicht allein entscheidend, wie viel Nahrungsmittel produziert werden, sondern auch, von wem und unter welchen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen (FAO 2012). Verschiedene Fehlentwicklungen sind dafür verantwortlich, dass die kleinbäuerlichen Haushalte, die in besonderer Weise von Hunger und Mangelernährung betroffen sind, noch verwundbarer geworden sind (FAO 2015b). Die Ursachen dafür liegen zunächst in den betroffenen Ländern selbst, wurden und werden durch externe Einflüsse jedoch noch erheblich verstärkt. In den meisten Entwicklungsländern wurden der ländliche Raum und eine Infrastruktur, die den Be254 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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dürfnissen der kleinbäuerlichen Betriebe Rechnung trägt, sträflich vernachlässigt. In einer langen Phase zwischen 1960 und 1990 wurden die Preise von Nahrungsmitteln in vielen Ländern durch massive staatliche Kontrollen und Subventionen künstlich niedrig gehalten, so dass es kaum Anreize gab, die Produktivität zu steigern. Unter dem Einfluss internationaler Organisationen änderten sich ab den 1980er Jahren die Vorzeichen schlagartig, als die Länder mehr oder weniger gezwungen wurden, ihre staatlichen Preiskontrollen abzubauen und ihre Agrarmärkte zu öffnen. Nur in wenigen Fällen konnten lokale Märkte in ländlichen Räumen wiederbelebt werden, denn die externen Vorgaben waren viel zu wenig auf die Lage in den einzelnen Ländern abgestimmt. Sie ließen den Regierungen auch nicht den Spielraum für notwendige Investitionen in die ländliche Infrastruktur und eine schrittweise, ihrem Entwicklungsstand angemessene Öffnung ihrer Agrarmärkte. Die Exportgüter waren auf den hochgradig verzerrten Weltmärkten oft nicht konkurrenzfähig und die Produktivität der kleinbäuerlichen Betriebe blieb niedrig. Infolgedessen wurden immer mehr Länder von Nahrungsmittelimporten und damit auch von äußeren Einflüssen (Wechselkursänderungen, wetterbedingte Produktionsausfälle) abhängig. Dies erhöht die Verwundbarkeit der wachsenden Zahl kleinbäuerlicher Haushalte beträchtlich (Rauch 2011). Auch die nach wie vor meist niedrige Produktivität der kleinbäuerlichen Landwirtschaft ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Schon während der Phase der staatlichen Dominanz im Agrarsektor zwischen 1960 und 1990 war es für die Betroffenen durchaus rational, nicht mehr nur auf Subsistenzwirtschaft zu setzen bzw. ihren Lebensunterhalt nur aus der Landwirtschaft zu bestreiten. Diesen Trend, neue Einkommensquellen auch durch (saisonale) Migration zu erschließen, haben die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen seit den 1990er Jahren noch verstärkt. Die große Mehrheit der armen Landbevölkerung sind heute nicht nur Subsistenzbauern, sondern schaffen sich gleichzeitig Geldeinkommen durch den Anbau von gewerblichen Feldfrüchten (cash 255 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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crops), saisonale oder Gelegenheitsarbeit, die Produktion von nicht-landwirtschaftlichen Gütern sowie saisonale Wanderarbeit. Da Subsistenzproduktion kaum mehr ausreichend ist, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen, das Einkommen aus der Erwerbsarbeit oftmals aber nicht ausreicht, um genügend Nahrungsmittel auf dem Markt zu erwerben, und zudem unsicher ist, sind die meisten Haushalte gezwungen, Subsistenzlandwirtschaft und Erwerbsarbeit zu kombinieren. Damit sind die Haushalte freilich in einem Dilemma gefangen, denn die Anforderungen einer auf Subsistenz basierenden Landwirtschaft stehen im Gegensatz zu den Anforderungen der Agrarmärkte, die Spezialisierung verlangen und auf denen der Wettbewerbsdruck seit Jahren steigt. Hinzu kommen weitere Problemlagen, welche die von Hunger betroffenen Menschen noch verwundbarer machen und damit ihre aktuellen und zukünftigen Handlungsspielräume weiter zu beschneiden drohen. Neben den bereits genannten ökologischen Grenzen der Nahrungsmittelproduktion und den Folgen des Klimawandels sind hier vor allem zu nennen: • Zunehmende Flächenkonkurrenz durch nachwachsende Energierohstoffe: In den letzten Jahren wurde die Energiegewinnung aus nachwachsenden Rohstoffen deutlich ausgebaut, mitbedingt durch eine höchst fragwürdige staatliche Förderungspolitik auch in der Europäischen Union. Dies erhöht den Flächenverbrauch in den Entwicklungsländern und verschärft damit die Konkurrenz um ohnehin schon knappes Land und Wasser. • Wettlauf um knappe landwirtschaftliche Anbauflächen: Die wachsende Nachfrage nach Nahrung, Futtermitteln und Agrartreibstoffen verschärft weltweit den Wettlauf um landwirtschaftliche Anbauflächen. Viele Regierungen und Privatinvestoren versuchen daher seit einigen Jahren, sich zusätzliche landwirtschaftliche Produktionsflächen verstärkt auch in armen Ländern, bevorzugt in Afrika südlich der Sahara, zu sichern. Vieles deutet darauf hin, dass dieser Landerwerb 256 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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durch ausländische Investoren große Probleme und Risiken für die lokale Bevölkerung mit sich bringt (von Braun 2010). Denn viele Kleinbauern verlieren dadurch ihr Land, das bisher zwar offiziell dem Staat gehörte, faktisch aber von den Bauern als Gemeinschaftsbesitz genutzt wurde. • Steigende und zunehmend schwankende Nahrungsmittelpreise (Kalkuhl 2012): Die steigenden Preise für landwirtschaftliche Anbauflächen und Nahrungsmittel führen auch dazu, dass auf internationalen Finanzmärkten verstärkt mit Agrargütern gehandelt wird. Denn dort winken lukrative Spekulationsgewinne. Bisher waren auf diesen („Warentermin“-) Märkten nur kommerzielle und damit vergleichsweise wenige Händler aktiv, die durch ihre Aktivitäten Preisschwankungen im internationalen Handel mit Lebensmitteln wie Weizen, Reis oder Mais ausgleichen konnten. Inzwischen bewegen sich auf diesen Märkten aber immer mehr nicht-kommerzielle Händler, die lediglich auf steigende Preise spekulieren, aus denen sie Gewinn ziehen möchten. Ihre massiven Spekulationen verzerren die Preisbildung und erschweren so die eigentliche Funktion der Terminmärkte, nämlich die Absicherung von Händlern gegen Preisrisiken. Auch das hohe Risiko spekulativer Blasenbildung steigt somit und verstärkt insgesamt die ohnehin vorhandenen Trends zu steigenden und schwankenden Nahrungsmittelpreisen. All dies macht arme, meist kleinbäuerliche Haushalte und Betriebe noch verwundbarer. • Nach wie vor höchst problematisch sind die massiven Agrarsubventionen der EU und anderer Industrieländer (Elbehri & Sarris 2009). Es gibt durchaus gute Gründe dafür, die heimische Landwirtschaft zu unterstützen. Allerdings darf dies nicht die Chancen der Landwirte in ärmeren Ländern beschneiden. Sie müssen ihre Landwirtschaft so entwickeln können, dass ihre Bauern durch eigene landwirtschaftliche Produktion ein ausreichendes Einkommen erzielen können. Die Agrarförderung der EU richtet sich nach wie vor primär auf Produktionssteigerungen, ohne soziale und ökologische Be257 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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lange ausreichend zu berücksichtigen (Reichert 2011). Die mit diesen Subventionen produzierten Überschüsse an Nahrungsmitteln überschwemmen die Märkte der armen Länder. So beeinträchtigen sie die Wettbewerbschancen der lokalen Produzenten und damit die Einkommensmöglichkeiten der dortigen kleinbäuerlichen Haushalte massiv.
3 Menschenrechte als normatives Fundament der Ernährungssicherheit Die beschriebenen nationalen und internationalen Fehlentwicklungen steigern die soziale wie ökologische Verwundbarkeit der von Armut und Hunger betroffenen Menschen. Selbst wenn zukünftig noch erhebliche Produktivitätssteigerungen möglich sind, gewährleistet dies noch nicht, dass alle Menschen, vor allem in den ländlichen Gebieten, sich ausreichend und angemessen ernähren können (FAO 2012). Damit rücken die Hungernden und Mangelernährten selbst in den Fokus, denn für die Bewältigung der Hungerkrise ist es erforderlich, dass diese dauerhaften Zugang zu angemessener Ernährung oder zu den Mitteln für deren Beschaffung erhalten. Von daher bilden die Menschenrechte als unteilbarer Katalog von bürgerlichen und politischen (Zivilpakt) wie auch wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten (Sozialpakt) eine tragfähige ethische Grundlage für das Konzept der Ernährungssicherheit. Dann ist das Konzept der Ernährungssicherheit mehr als ein Bündel politischer Zielvorgaben, das von wechselnden politischen und ökonomischen Parametern abhängt. Der Mehrwert, Ernährungssicherheit von den Menschenrechten her zu interpretieren, besteht vor allem in den Grundsätzen der Universalität, Unteilbarkeit und Solidarität als normativem Kerngehalt der Menschenrechte (Edenhofer u. a. 2010, 56–74). Menschenrechte sind notwendigerweise universal, also gleiche Rechte für alle Menschen, unabhängig davon, wo sie leben und welchem Geschlecht, wel258 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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cher Ethnie oder welcher Religion sie angehören. Einzelne Rechte, wie das im Sozialpakt verankerte Recht auf Nahrung, stehen nie nur für sich allein, sondern sind wechselseitig mit anderen Rechten verknüpft. So ist das Recht auf Nahrung Teil des Subsistenzrechtes, da jeder Mensch ausreichend Nahrung braucht, um seine körperliche Integrität zu wahren und dauerhaft überleben zu können. Menschen können aber auch alle ihre anderen Rechte nicht verwirklichen, wenn dieses fundamentale Grundbedürfnis nicht befriedigt ist. Umgekehrt sind das Recht auf politische Teilhabe, auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit oder besonders auch das Recht auf Arbeit entscheidende Voraussetzungen, um den Zugang zu Nahrungsmitteln oder die entsprechende Kaufkraft verlässlich zu sichern. Mit den Menschenrechten erkennen die Menschen schließlich an, dass es nicht nur um die eigenen unveräußerbaren Rechte geht. Sie nehmen sich damit auch wechselseitig in die Pflicht, gemeinsam dafür zu sorgen, dass diese Rechte für alle garantiert sind. Die menschenrechtliche Begründung der Ernährungssicherheit lässt sich auch auf den Entwicklungskontext hin vertiefen. Armut, soziale und ökologische Verwundbarkeit erschöpfen sich nicht in einem Mangel an Einkommen. Dies umfasst auch soziale Ausgrenzung, unzureichenden Zugang zu sozialen Grunddiensten, fehlende Beteiligungsrechte und den Verlust an sinnstiftender kultureller Identität. Entwicklung steht dann für den Prozess, das Handlungsvermögen der von Hunger und Mangelernährung bedrohten Menschen und Haushalte zu erweitern, damit diese sich möglichst aus eigener Kraft auf Dauer verlässlichen Zugang zu ausreichender und ausgewogener Ernährung sichern können (Sen 2010). Die Menschenrechte sind zudem kein abgeschlossener Katalog, sondern angesichts neuer Bedrohungen und Unrechtserfahrungen historisch immer wieder fortgeschrieben worden, und auch in Zukunft im Hinblick auf neue Herausforderungen weiterzuentwickeln. Eine davon ist ohne Zweifel die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen, was 259 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 noch nicht im Blick war. Der UNMenschenrechtsrat hat im März 2008 die Interpretation von umwelt- oder klimaschädlichem Verhalten als Verletzung von Menschenrechten durch eine entsprechende Resolution bestätigt, da die Folgen ökologischer Veränderungen andere Menschen heute und künftig massiv in der Ausübung ihrer Rechte beeinträchtigen (vgl. Reder 2012).
3.1 Dreieck von Gerechtigkeitsforderungen Ausgehend von der menschenrechtlichen Fundierung der Ernährungssicherheit lässt sich ein Konzept von Gerechtigkeit entfalten, auf dessen Grundlage sich Interessenkonflikte nach objektivierbaren Maßstäben regeln lassen. Dies gilt auch für Streitfälle, in denen sich alle beteiligten Konfliktparteien auf einzelne Menschenrechte beziehen. Gerade dann bedarf es einer differenzierten Vorstellung von Gerechtigkeit, welche von den Kernanliegen der Menschenrechte ausgeht, deren Unteilbarkeit berücksichtigt und auf dem Grundsatz der Solidarität beruht – und zwar in dem Sinn, dass die Menschen sich weltweit als Solidargemeinschaft verstehen und bereit sind, miteinander gerechte Strukturen zu schaffen, die alle Menschen einbeziehen. Dabei geht es vor allem um einen gerechten Ordnungsrahmen für die Produktion von Nahrungsmitteln auf regionaler, nationaler und globaler Ebene und eine entsprechende Handelspolitik. Drei sich wechselseitig bedingende und ergänzende Dimensionen von Gerechtigkeit, die auf die Unteilbarkeit der Menschenrechte verweisen, sind dabei die Maßstäbe, an denen die Strukturen der Produktion und Verteilung von Nahrungsmitteln zu messen sind. Befriedigung von Grundbedürfnissen: Jeder Mensch muss, so die erste Forderung, die Möglichkeit haben, seine körperlichen wie psychischen Grundbedürfnisse befriedigen zu können. Menschen können nur dann ihre Fähigkeiten und Chancen nutzen, wenn sie 260 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Ernährungssicherheit als Menschenrecht
Abbildung: Das Dreieck von Gerechtigkeitsforderungen (aus: Edenhofer u. a. 2010, 65). Befriedigung von Grundbedürfnissen
Handlungschancen intra- und intergenerationell Faire Verfahren
sich ausreichend ernähren und andere wesentliche Bedürfnisse angemessen decken können, was oft auch innerstaatliche (Sozialhilfe) oder auch internationale Transferzahlungen (Entwicklungshilfe) erfordert. Soweit es bei Hunger und Mangelernährung um das pure Überleben geht, haben die Grundbedürfnisse ethisch absoluten Vorrang. Solche Notsituationen erfordern auch besondere Maßnahmen wie akute internationale Nahrungsmittelhilfe. Der Einsatz muss allerdings schnell, gezielt und auf Basis klarer Vereinbarungen erfolgen, um zu unterbinden, dass solche Hilfslieferungen als Exportsubvention missbraucht werden oder in eine dauerhafte Abhängigkeit führen. Dauerhafte Abhängigkeit von externer Hilfe ist gefährlich, weil sie die Fähigkeit und die Bereitschaft zur Eigeninitiative und Eigenverantwortung untergräbt. Gerecht verteilte Handlungschancen: Das vorgestellte Entwicklungsverständnis zielt darauf, das Handlungsvermögen der von Hunger und Mangelernährung bedrohten Menschen zu erweitern. Von daher rückt als zweite Dimension der Gerechtigkeit die Forderung nach möglichst umfassenden Handlungschancen für alle ins Zentrum, was auch verteilungspolitische Folgen hat. Nur dies wird der menschlichen Würde im umfassenden Sinn gerecht; zum anderen sind Handlungschancen die Voraussetzung dafür, eine dauerhafte Entwicklung zu fördern, welche die Menschen in die Lage versetzen, ihre Grundbedürfnisse auf Dauer aus eigener Kraft zu befriedigen. 261 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Ein gewaltiges Hindernis, Eigeninitiative zu entfalten und Rechte wahrzunehmen, ist die Erfahrung von Geringschätzung, Ohnmacht und Sinnlosigkeit, was häufig in Minderwertigkeitsgefühlen, Passivität und Apathie mündet. Solche Geringschätzung zu überwinden ist daher zentral für die Stärkung des Handlungsvermögens. Erweiterte Handlungschancen sind zudem nicht ohne Partizipation möglich, die immer zwei Seiten hat: zum einen die Teilnahme an Entscheidungen, zum anderen die Teilhabe an den erzielten Ergebnissen. Die Menschen müssen spüren, dass es um ihr eigenes Wohl und ihre eigene Zukunft geht; nur dann werden sie bereit sein, sich aktiv einzubringen. Gleiche Handlungschancen brauchen insbesondere Frauen, die oft mehrfach benachteiligt sind: als Arme, als Frauen und häufig auch als Angehörige ethnischer oder religiöser Minderheiten. Sie haben nicht nur meist weniger Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen, zu Bildung oder zu Rechtssicherheit, etwa was die Landfrage angeht, sondern Frauen bzw. Mädchen werden schon bei der Nahrungsversorgung gegenüber männlichen Familienmitgliedern benachteiligt. Zudem sind sie vielfach selbst von Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, die sie direkt betreffen. Umgekehrt tragen gerade sie mehr zur Bekämpfung der Armut und zur Ernährungssicherung ihrer Familien bei als die Männer (IFPRI 2000). Umso wichtiger ist es, die Rolle der Frauen in wirtschaftlichen und politischen Prozessen zu stärken und genau zu prüfen, wie sich eine Förderung der ländlichen Räume und eine stärkere Marktorientierung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft faktisch auf ihre Situation auswirken. Faire Verfahren als Grundlage für das Recht auf Nahrung: Sowohl die Befriedigung der Grundbedürfnisse als auch die Verteilung von Handlungschancen sind entscheidend von Strukturen und Rahmenbedingungen auf verschiedenen Ebenen (lokal, national, global) abhängig, die wiederum von Menschen, Organisationen und Staaten und deren Interessen bestimmt werden. Menschen haben ein Recht darauf, selbst angemessen an solchen Verfahren beteiligt zu sein und mit darüber entscheiden zu kön262 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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nen, wie Strukturen und Institutionen (mit ihren zugrunde liegenden Wertvorstellungen) gestaltet werden sollen. Dies betrifft v. a. die Standards einer guten Regierungsführung (good governance), nicht nur in den einzelnen Ländern, sondern auch auf internationaler Ebene. Darauf verweist die Forderung nach fairen Verfahren, die verlangt, dass alle Betroffenen (Menschen bis hin zu Staaten) angemessen in die Gestaltung von Institutionen und Rahmenbedingungen einbezogen werden. Alle – für die Sicherung der Ernährung auf nationaler oder internationaler Ebene relevanten – Maßnahmen sind deshalb fair auszuhandeln, was auch die Grundlage dafür ist, die Akzeptanz und Verantwortung dafür bei den Betroffenen zu erhöhen. Faire Verfahren, insbesondere von Seiten der Industrieländer, müssen überdies Transparenz und ein gewisses Machtgleichgewicht garantieren. Insofern kommt es darauf an, die Organisations- und Verhandlungsmacht schwächerer Staaten bei internationalen Verhandlungen wie die von Kleinbauern gegenüber ihren regionalen und nationalen Regierungen zu stärken. Genauso wichtig ist aus den genannten Gründen die Gleichstellung von Frauen. Nur wenn die Stimme der primär von Hunger und Armut Betroffenen politisches Gewicht erhält, werden sie ihr Recht auf Nahrung einfordern können; und nur Regierungsvertreter, die durch den Willen der Bevölkerung legitimiert sind, werden der Masse ihrer Bevölkerung auf internationaler Ebene eine Stimme geben können.
3.2 Gemeinsame und differenzierte Verantwortung für das Recht auf Nahrung Mit den Menschenrechten nehmen die Menschen sich wechselseitig in die Pflicht, gemeinsam dafür zu sorgen, dass diese Rechte und damit auch das Recht auf Nahrung für alle garantiert sind. Damit ist zum einen die moralische Forderung verbunden, alle Handlungen zu unterlassen, die direkt oder indirekt zu Hunger 263 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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und Mangelernährung beitragen und damit das Recht auf Nahrung der Anderen gefährden (Pogge 2011). Über diese negativen Pflichten hinaus haben alle Menschen auch eine (positive) Verpflichtung, im Rahmen ihrer Möglichkeiten daran mitzuwirken, das Recht auf Nahrung für alle zu verwirklichen (Herrmann 2010). Die Herausforderung besteht darin, die strukturellen Ungerechtigkeiten, die Hunger und Mangelernährung verursachen, zu überwinden und geeignete institutionelle Reformen auf verschiedenen Ebenen durchzuführen. Die Handlungsmöglichkeiten der von Hunger und Mangelernährung bedrohten Menschen und Haushalte, ihre Ernährung aus eigener Kraft auf Dauer zu sichern, beruht ganz wesentlich auf entwicklungsförderlichen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Staaten selbst. Insofern nimmt das Menschenrecht auf Nahrung besonders die jeweiligen Regierungen in die Pflicht. Ihnen kommt die primäre Verantwortung zu, das Recht auf Nahrung ihrer Bürgerinnen und Bürger zu achten, zu schützen und zu erfüllen: sie achten es, indem sie durch geeignete Rahmenbedingungen sicherstellen, dass die Bevölkerung auch tatsächlich ausreichend Zugang zu angemessener Nahrung erhält. Die Regierung schützt es, indem sie verhindert, dass ihnen andere Akteure das Recht nehmen. Schließlich erfüllt sie es nicht nur, indem sie in Notfällen die benötigten Nahrungsmittel bereitstellt, sondern in fairen politischen Verfahren auch geeignete Institutionen schafft, welche die Chancen der Armen verbessern, ihre Ernährung zu sichern sowie ihre Verwundbarkeit zu mindern. Die Bürgerinnen und Bürger der jeweiligen Staaten selbst sind mit dafür verantwortlich, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für entsprechende strukturelle Reformen politisch einzusetzen. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass andere Gesellschaften und Akteure keine Pflichten haben. Die landwirtschaftliche Produktion ist heute nirgends mehr unabhängig von externen Einflüssen. So beeinflussen die Industrieländer wie multilaterale Organisationen, deren Politik nach wie vor maßgeblich durch die Regierungen der mächtigen Staaten bestimmt wird, mit ihren 264 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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Strategien die Entwicklungsländer und die Entwicklungschancen der dortigen Bevölkerung ganz erheblich. Die wohlhabenden Länder, ihre Regierungen und damit letztlich ihre Bürger, sind insbesondere verpflichtet, alles zu unterlassen, was die Handlungsspielräume der ärmeren Menschen und Länder verringert, ihr Recht auf Nahrung aus eigener Kraft zu verwirklichen. Weiter lässt sich aus den Menschenrechten eine positive Verantwortung der wohlhabenden Länder ableiten, die Bemühungen der ärmeren Länder um eine nachhaltige Entwicklung ihrer ländlichen Räume zu unterstützen, vorzugsweise durch eine wirksame Entwicklungszusammenarbeit. Enormen Einfluss haben inzwischen auch multinationale Konzerne, die durch ihre Aktivitäten die Handlungsspielräume von Staaten und die Nachfrage- und Produktionsbedingungen dort deutlich mitbestimmen. Sie sind in der Pflicht, durch ihre Geschäftspraktiken wie ihren politischen Einfluss auf nationale und internationale Rahmenbedingungen die Chancen von Kleinbauern nicht einzuschränken. Hinzu kommt eine positive Verantwortung, ihre Macht auf den internationalen Nahrungsmittelmärkten dazu zu nutzen, einheimische Kleinproduzenten und Zwischenhändler zu befähigen, einen fairen Anteil an der agrarwirtschaftlichen Wertschöpfung zu erhalten. Bürgerinnen und Bürger in den Industrieländern haben schließlich die Verantwortung, als Wähler der Regierungen, als Konsumenten sowie gegebenenfalls als Kapitalgeber oder Mitarbeiter international agierender Unternehmen ihren jeweiligen Einfluss auf politische Entscheidungen und wirtschaftliche Strategien zu nutzen (Meier 2014). Dies wird vor allem dann möglich, wenn sie sich in Parteien, Verbänden, Gewerkschaften oder zivilgesellschaftlichen Initiativen zusammenschließen und ihr Handeln koordinieren. Wenn es der Zivilgesellschaft zudem gelingt, ihre Initiativen auch über Staaten hinweg zusammenzuschließen, kann sie durch ihr politisches Engagement neue Kontroll- und Sanktionsmechanismen gegenüber der staatlichen und privatwirtschaftlichen Sphäre aufbauen (Conradi 2011). 265 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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4. Ausgewählte Reformansätze Dem Grundsatz der gemeinsamen und differenzierten Verantwortung für das Recht auf Nahrung folgend sind die Regierungen der Nationalstaaten, ihre internationalen Zusammenschlüsse und die Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit, aber auch die transnationalen Konzerne und nicht zuletzt die einzelnen Bürger sowie die Nahrungsmittelproduzenten eines jeden Landes verpflichtet, ihren je unterschiedlichen Beitrag für die Gewährleistung des Menschenrechts auf Nahrung zu leisten. Es braucht zum einen ordnungspolitische Reformen in den betroffenen Ländern selbst, die eine nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume befördern (Pinstrup-Andersen & Watson 2011). Ziel ist eine Landwirtschaft mit unterschiedlichen, an die jeweiligen Bedingungen angepassten Betriebsgrößen und -formen, welche zum notwendigen breitenwirksamen und umweltverträglichen Wachstum im ländlichen Raum beitragen. Aufgrund der damit verbundenen Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten kommt kleinbäuerlichen Betrieben dabei eine wichtige Bedeutung zu (Meyer-Renschhausen 2010). Sie sind derzeit oft nicht konkurrenzfähig und bedürfen daher besonderer Förderung. Zum anderen ist ein entwicklungsförderlicher Umbau der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen erforderlich. Grundlage dafür sind letztlich auch veränderte Leitbilder und persönliche Verhaltensänderungen, welche die notwendigen Reformprozesse unterstützen bzw. überhaupt erst ermöglichen.
4.1 Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume Die Preissteigerungen auf den globalen Nahrungsmittelmärkten haben ambivalente Folgen für die von Hunger und Mangelernährung betroffenen Menschen, deren Mehrzahl selbst in der landwirtschaftlichen Produktion tätig ist. Höhere Preise verschärfen zunächst die Verwundbarkeit städtischer Konsumenten und auch 266 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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von Kleinbauern, wenn deren Erträge nicht ausreichen, um ihren Eigenbedarf zu decken. Sie bieten grundsätzlich aber auch neue Chancen für die kleinbäuerlichen Betriebe und damit für die Masse der Armen in den Entwicklungsländern. Denn niedrige Preise und mangelnde Kaufkraft der Armen waren in der Vergangenheit ein wesentliches Hemmnis für ländliche Entwicklung. Diese Situation hat sich nun grundlegend verändert: Die Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten steigt ebenso wie die Preise auf dem Weltmarkt. Entscheidend wird nun sein, ob und wie die bäuerlichen Betriebe in der Lage sein werden, diese neuen Möglichkeiten besser als bisher zu nutzen. Denn ihre Möglichkeiten, die Produktion zu intensivieren und mehr Wertschöpfung zu erzielen, sind bislang begrenzt, so dass die Masse der Kleinund Kleinstbetriebe die Chancen gestiegener Preise nicht für sich nutzen konnte (Rauch 2011). Eine weitere Chance für die ländliche Entwicklung liegt in der veränderten Nachfrage der wachsenden städtischen Bevölkerung, die teilweise auch über deutlich mehr Kaufkraft verfügt. So wächst in den Städten des Südens vor allem auch der Markt für verarbeitete Lebensmittel. Diesen Markt bedienen bislang jedoch in erster Linie westliche Lebensmittelkonzerne. Wenn einheimische Anbieter wettbewerbsfähiger werden und die Nachfrage nach regionalen Produkten steigt, kann dies zusätzliche Impulse für den Agrarsektor in Entwicklungsländern geben. Bei diesen Möglichkeiten müssen die Handlungsstrategien für eine Intensivierung der Landwirtschaft ansetzen, die für die Bekämpfung von Armut und Hunger unabdingbar ist. Oberstes Gebot muss dabei die Nachhaltigkeit sein, was sowohl ökonomische wie auch ökologische, soziale und kulturelle Belange umfasst. Dazu braucht es Anreize in Form von geeigneten ordnungsrechtlichen Vorgaben wie ordnungspolitischen Rahmenbedingungen, welche die Beschäftigung in der Landwirtschaft und in landwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten fördern und das Einkommen bäuerlicher Haushalte und Betriebe erhöhen. Gleichzeitig darf eine landwirtschaftliche Intensivierung die natürlichen Ressour267 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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cen Boden und Wasser nicht so belasten, dass dies die Nahrungsmittelproduktion für zukünftige Generationen gefährdet. Da die natürlichen Anbaubedingungen und sozialen Kontexte regional unterschiedlich sind, gibt es kein einfaches Standardrezept für eine nachhaltige landwirtschaftliche Intensivierung. Die Landnutzungspraktiken müssen an die jeweils vorhandenen Standortfaktoren (Böden, Klima, Marktnähe, regionale Nachfrage etc.) und Lebenswelten der Bevölkerung angepasst werden. Dennoch lassen sich einige grundsätzliche Leitlinien und Voraussetzungen für eine nachhaltige Intensivierung der Landwirtschaft formulieren (vgl. Garnett u. a. 2013). Ein zentraler Ansatzpunkt für nachhaltige Produktivitätssteigerungen sind bodenerhaltende Technologien mit einem begrenzten Einsatz externer Betriebsmittel, um Abhängigkeiten zu vermeiden, die für die Betriebe meist mit zusätzlichen Risiken verbunden sind. Dem liegt die Idee zugrunde, dass man landwirtschaftliche Systeme durch das Nachahmen natürlicher Prozesse optimieren kann. Biologische Interaktionen und Synergien lassen sich so nutzen, dass positive Effekte für die Landwirtschaft entstehen. Nährstoffe und Energie kann man in solchen Systemen intern wiederverwenden, anstatt sie von außen zuzuführen. Die züchterische Optimierung von Saatgut spielt eine wichtige Rolle, gerade im Hinblick auf Ökologie und Klimawandel, um z. B. Sorten mit kürzeren Wachstumsperioden oder besserer Resistenz gegen Trockenheit bereitzustellen. Dies sollte jedoch immer eingebettet sein in breiter ansetzende Methoden, indem man beispielsweise durch die Konservierung von Boden und Wasser ganze Landwirtschaftssysteme widerstandsfähiger gegen Dürre macht. Verschiedene groß angelegte Studien und zahlreiche Beispiele aus der Praxis zeigen, dass solche Anbaumethoden, die Ressourcen schonen, die Möglichkeit bieten, die landwirtschaftliche Produktivität zum Nutzen der Ärmsten deutlich zu erhöhen, ihre Verwundbarkeit zu verringern und gleichzeitig die Ökosysteme zu schützen – und dies mit wenig kostspieligen Betriebsmitteln (de Schutter 2011). Solche Strategien sind auch die Grundlage für ein 268 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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beschäftigungsintensives und breitenwirksames Wachstum, da in den armen Ländern Arbeitskraft meist im Übermaß vorhanden ist. Um solche Anbaumethoden anwenden zu können, brauchen die bäuerlichen Haushalte und Betriebe freilich entsprechende Beratung, Schulung und Unterstützung. Außerdem müssen die jeweiligen Regierungen die geeigneten rechtlichen, wirtschaftlichen, infrastrukturellen und sozialen Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass bäuerliche Betriebe unterschiedlicher Größe, die eine nachhaltige Intensivierung ihrer Produktion auf Basis der genannten Anbaumethoden anstreben, auf Dauer wettbewerbsfähig sind. 4.1.1 Verlässliche Landnutzungsrechte Eine Schlüsselrolle dafür spielen die Verteilung von Land und verlässliche Landnutzungsrechte. Wenn arme Familien Land besitzen, erwirtschaften sie dort auch selbst Einkommen – unabhängig davon, ob es verpachtet oder selbst bewirtschaftet wird. Gesicherte Landzugangsrechte für die Armen sind zudem oft eine Grundvoraussetzung für den Zugang zu Kredit. Schließlich steigt tendenziell auch das Einkommen der ländlichen Bevölkerung, das nicht aus der Landwirtschaft stammt. Denn Kleinbetriebe fragen in der Regel mehr lokale und arbeitsintensive landwirtschaftliche Betriebsmittel nach als Großbetriebe, und sobald das Einkommen aus der Landwirtschaft steigt, nimmt auch die Nachfrage nach anderen Produkten zu. Wenn beispielsweise die Nachfrage im Einzelhandel, Transport- oder Bausektor steigt, entstehen kleinräumige Wirtschaftskreisläufe, welche die Grundlage für ein nachhaltiges Wachstum bilden. Landreformen sind und bleiben daher ein höchst bedeutendes politisches Instrument, da sie das größte Potenzial besitzen, um Menschen dauerhaft aus saisonaler wie chronischer Armut zu befreien (Berry 2011). Die aktuellen Tendenzen der Landverdrängung in weiten Teilen der Entwicklungsländer, zu der auch die 269 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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gezielte politische Förderung von Agrartreibstoffen durch westliche Regierungen beiträgt, sind von daher äußerst problematisch. Eine Fortsetzung dieses Trends birgt enormen sozialen Sprengstoff, da unzählige Menschen dadurch ihrer Lebensgrundlage beraubt werden. Sie werden weder in einer kapitalintensiven industriellen Landwirtschaft noch in den informellen Wirtschaftssektoren der großen Städte Beschäftigung finden und damit ein ausreichendes Einkommen erzielen können. Um zu verhindern, dass immer mehr Land von kapitalkräftigen Unternehmen bzw. Investoren aufgekauft wird und Menschen hierdurch ihre Existenzgrundlage verlieren, sind kleinbäuerliche Haushalte und Betriebe dabei zu unterstützen, die mit dem Intensivierungsdruck verbundenen Chancen positiv für sich zu nutzen. Die nationalen Regierungen müssen zudem Eigentums-, Pacht- oder sonstige Nutzungsrechte besser schützen, wozu insbesondere auch traditionelle Nutzungsrechte für Gemeinschaftsland gehören. Eine starke nationale wie auch internationale Lobbyarbeit kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Für die Regulierung des Ankaufs bzw. der langfristigen Pacht von Land durch ausländische Investoren und Regierungen gibt es Vorschläge für internationale Standards, allen voran die Freiwilligen Leitlinien zur verantwortungsvollen Verwaltung von Bodenund Landnutzungsrechten, Fischgründen und Wäldern der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), die auch von der Bundesregierung unterstützt werden. Diese fordern z. B. transparente Verhandlungen, Respekt für traditionelle Landrechte, ökologische Nachhaltigkeit und einen positiven Beitrag zur Armutsminderung. Es ist allerdings unklar, wie diese Prinzipien umgesetzt werden sollen, wenn Industrie und Regierungen sie lediglich als freiwillige Leitlinien unterzeichnen. Angesichts der Erfahrungen mit anderen freiwilligen Selbstverpflichtungen ist es höchst fraglich, ob solche Standards in der Praxis tatsächlich umgesetzt werden und nicht nur der Legitimation des Landerwerbs bei der Bevölkerung der reichen Länder dienen. Ein Kernproblem dabei ist, dass es keine Sanktionsmöglichkeiten gibt, etwa durch 270 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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internationale Instanzen. Völkerrechtlich verbindliche internationale Abkommen oder verpflichtende Leitlinien zum Umgang mit Landnahme sind daher dringend geboten. 4.1.2 Verbesserter Marktzugang durch Organisationsförderung Alle Strategien für eine nachhaltige Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion mit breiten- und beschäftigungswirksamen Effekten müssen die Rahmenbedingungen der Agrarmärkte berücksichtigen. Nur wenn Produzenten die erforderliche Qualität und Quantität an Produkten termingerecht bereitstellen können, haben sie heute auf den hart umkämpften Märkten eine Chance. Ein nicht zu unterschätzendes Risiko ergibt sich auch aus dem Spannungsfeld zwischen sicherem Absatz und Abhängigkeit zum Handel. Kleinbäuerliche Betriebe können nur attraktive Marktteilnehmer werden und faire Preise aushandeln, wenn sie sich organisieren, um gemeinsam mehr wirtschaftlichen und politischen Einfluss zu erzielen. Die Organisationsformen müssen dabei den jeweiligen historischen und kulturellen Bedingungen angepasst werden. Beispielsweise werden formelle Genossenschaften oft abgelehnt, da sie als zu zeit- und kostenaufwendig angesehen werden oder mit negativen Erinnerungen (Kollektivierung) verbunden sind. Lose Erzeugergemeinschaften oder Vermarktungsgruppen können in solchen Fällen eine Alternative bieten. Wenn kleinere Erzeuger sich besser organisieren, können die Vorteile kleinbäuerlichen Wirtschaftens mit denen des Agrobusiness, z. B. durch Vertragsanbau, kombiniert werden (Rauch 2011, 22 f.). Ein guter Ansatzpunkt dafür ist die Initiative der UN-Organisation für industrielle Entwicklung (UNIDO) für Verantwortungspartnerschaften mit großen Handelsketten, die auch Schulungen für die Bauern zur Einhaltung von Standards vorsehen.
271 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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4.1.3 Öffentliche Investitionen in ländliche Infrastruktur und Agrarforschung Eine nachhaltige Entwicklung der ländlichen Räume in den Entwicklungsländern verlangt öffentliche Investitionen, um die ländliche Infrastruktur bzw. Dienstleistungen zu fördern und notwendiges Wissen zu vermitteln bzw. zu generieren. Neben landwirtschaftlichen Beratungsdiensten sind Investitionen in das ländliche Kreditwesen, den Straßenbau, Elektrizitätsnetzwerke sowie Informations- und Kommunikationstechnologien (vor allem zum Betrieb von Markt- und Preisinformationssystemen) unerlässlich, um den Marktzugang der Produzenten zu verbessern. Ein besserer Marktzugang bietet nicht nur bessere Einkommensmöglichkeiten für die Ärmsten, sondern ist auch das zentrale Mittel, um die oft erheblichen Nachernteverluste zu reduzieren. Es reicht also nicht aus, nur in Produktivitätssteigerungen zu investieren, sondern es ist ebenso notwendig, die erzeugten Nahrungsmittel effizienter zu nutzen. Öffentliche Investitionen in die ländliche Lagerungsinfrastruktur sind daher genauso bedeutsam wie Investitionen in Bildung und Gesundheit. Darüber hinaus müssen die Erzeugerländer in ihrer Fähigkeit gestärkt werden, die Nahrungsmittel auch weiterzuverarbeiten. Gerade in Afrika wurde die Nahrungsmittelverarbeitung bisher vernachlässigt, so dass die nationale Nachfrage fast vollständig durch Importe gedeckt wird. Hier liegt eine große Chance für die ländliche Entwicklung. Die Wertsteigerung von Rohprodukten durch Verarbeitung, wie das Trocknen von Früchten oder ihre Verarbeitung zu Saft, wird jedoch ohne öffentliche Investitionen in entsprechende Infrastrukturen und in Weiterbildung kaum zu erreichen sein (Rauch 2011, 23; de Schutter 2011, 19). Eine tragfähige und entwicklungsorientierte ländliche Infrastruktur braucht neben den schon erwähnten Vermarktungsorganisationen auch Interessensverbände für einzelne landwirtschaftliche Produktionssektoren, wie z. B. Zucht- und Erzeugerverbände. Dadurch bewahren Landwirte einerseits genetische Ressourcen 272 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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und das praktische Wissen um Zucht und Erzeugung. Andererseits erreichen sie größere Unabhängigkeit von staatlichen Förderprogrammen und werden damit sprachfähiger sowie auch sich selbst ihrer Rolle für die Ernährungssicherheit ihres Landes bewusster. Schließlich sind auch mehr Investitionen in die öffentliche Agrarforschung notwendig, um das Wissen über einfache ressourcenschonende und ertragssteigernde Technologien weiterzuentwickeln und zu verbreiten. Hier stehen die Regierungen der Entwicklungsländer, aber auch die internationalen Geber und Forschungs- und Landwirtschaftsministerien westlicher Länder in der Verantwortung. In den letzten Jahrzehnten verlagerte sich die Agrarforschung immer mehr zu den internationalen Großkonzernen. Deren Forschungsergebnisse sind jedoch nicht für die Allgemeinheit verfügbar und konzentrieren sich auf die Saatgutentwicklung für den Massenanbau und großflächige Produktionsmethoden, da hier die größten kurzfristigen Gewinne zu erzielen sind. Um die großen Potenziale alternativer Technologien zu realisieren, müssen öffentliche Institutionen vor allem in Projekte investieren, die lokales und traditionelles Wissen aufgreifen und sich an den Lebenswelten kleinbäuerlicher Produzenten orientieren (Weingärnter/Trentmann 2011, 172). Agrarexperten sollten dabei möglichst gemeinsam mit den Landwirten vor Ort Strategien entwickeln, die dem jeweiligen Kontext angepasst sind.
4.2 Entwicklungsgerechte Reformen weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen Neben den genannten Maßnahmen auf nationaler Ebene bedarf es auch internationaler Rahmenbedingungen, welche eine breitenwirksame und umweltverträgliche Entwicklung der ländlichen Räume in den ärmeren Ländern fördern und nicht untergraben. Dazu gehören u. a. eine globale Umwelt- und Klimapolitik, entwicklungsförderliche Reformen der Weltagrarmärkte sowie an273 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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gemessene und wirksame Maßnahmen zur Einschränkung der Spekulation auf Nahrungsmittelmärkten. 4.2.1 International abgestimmte Umwelt- und Klimapolitik Anbaumethoden mit einem hohen Einsatz an Großmaschinen, Pflanzenschutz-, Dünge- und anderen Betriebsmitteln haben auch deshalb einen trügerischen Wettbewerbsvorteil, weil die damit verbundenen ökologischen Folgen nicht in die Produktionskosten einberechnet werden. Diese externen Kosten werden auf die Gemeinschaft und besonders auf nachfolgende Generationen abgewälzt. Eine auch langfristig effiziente Verwendung knapper Ressourcen wie Boden, Wasser oder Energie setzt jedoch voraus, dass die Kosten den Verursachern zugerechnet werden und die Preise infolgedessen die wirtschaftliche Wahrheit sagen. Dazu ist eine international abgestimmte Umwelt- und Klimapolitik notwendig, die sich auf eine globale Obergrenze für Treibhausemissionen und weltweit möglichst einheitliche Preise für den Umweltgebrauch verständigt (Edenhofer u. a. 2010, 165–179). Dies würde dementsprechend auch kohlenstoffintensive sowie umweltschädigende Produktionsweisen verteuern, und umgekehrt Anbaumethoden mit geringem Einsatz externer Betriebsmittel deutlich attraktiver machen. Auf diese Weise lassen sich dann über den Wettbewerb selbst Innovations- und Leistungsanreize für eine nachhaltige Intensivierung des landwirtschaftlichen Anbaus schaffen. Bei einer verursachergerechten Bepreisung des Umweltgebrauchs wären auch die Transportkosten ein relevanter Faktor, was den regionalen Handel im Vergleich zu einer einseitigen Exportorientierung stärken könnte. 4.2.2 Entwicklungsförderliche Ordnung der Weltagrarmärkte Auf Bestreben der Entwicklungsländer wurde der weltweite Agrarhandel bei der Gründung der Welthandelsorganisation WTO 1995 erstmals in die multilaterale Handelsordnung inte274 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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griert. Damit ist auch der Handel mit Agrargütern allgemeinen Regeln unterworfen. Nach wie vor gibt es jedoch erhebliche Markt- und Wettbewerbsverzerrungen zu Gunsten der Landwirtschaft und Agrarindustrie der Industrieländer, was die Chancen einer nachhaltigen Entwicklung ländlicher Räume in den Entwicklungsländern mindert. Alle Anstrengungen für ein nachhaltiges Wachstum der Landwirtschaft und den Aufbau von Wertschöpfungsketten in den Ländern des Südens stoßen an ihre Grenzen bzw. werden sogar zunichte gemacht, wenn die reichen Länder die Märkte mit ihren Billigprodukten überschwemmen können. Eine nachhaltige Entwicklung der Landwirtschaft kann sich nicht nur auf den Export von tropischen Früchten und anderen typischen Exportprodukten wie Kaffee, Nüssen etc. stützen. Die internationalen Handelsabkommen müssen daher ärmeren Ländern das Recht einräumen, ihre Märkte für eine begrenzte Zeitdauer zum Beispiel durch Importzölle zu schützen. Darüber hinaus müssen die EU und andere Industriestaaten endlich ihre handelsverzerrenden Subventionen und andere Exportförderungsmaßnahmen (wie z. B. Exportkredite etc.) einstellen, so dass die Preise auch die tatsächlichen Produktionskosten widerspiegeln. Längst überfällig ist in diesem Zusammenhang, dass die EU dauerhaft transparent macht, für was und an wen Subventionen im Agrarsektor gezahlt werden. Auch beim Marktzugang für landwirtschaftliche Güter in die EU gibt es erheblichen Reformbedarf. Die so genannte Zolleskalation muss endlich abgeschafft werden, da dies die Einfuhr von verarbeiteten Produkten verteuert und damit anderen Ländern die Möglichkeit nimmt, Agrarprodukte selbst weiterzuverarbeiten. Produkte, bei denen internationale Arbeitsstandards und ökologische Standards eingehalten werden, sollten bevorzugten Marktzugang erhalten. Umgekehrt sollte die Einfuhr von Futtermitteln, für die (besonders in Südamerika und Südostasien) große Waldflächen gerodet werden, verboten werden. Die immer stärkere Machtkonzentration in der Agrar- und Ernährungsindustrie, die auf den globalen Märkten hohe Umsätze 275 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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erwirtschaftet und dementsprechend ihre Interessen auf politischer Ebene durchzusetzen sucht, erschwert die Realisierung derartiger Forderungen. Dies gilt ebenso für die enorme Marktmacht großer Supermarktkonzerne, welche die Wertschöpfungsketten immer mehr beherrschen. In diesem Kontext ist es dringend notwendig, dass Politiker auf nationaler und internationaler Ebene durch entsprechenden Druck aus der Zivilgesellschaft daran erinnert werden, ihrer Verantwortung für die genannten Reformen in der Agrar- und Handelspolitik nachzukommen (vgl. dazu ausführlich WA-DBK 2006, besonders 34–38).
4.3 Neues Bewusstsein und veränderte Leitbilder Die genannten Strukturreformen sind auf die Unterstützung breiter Bevölkerungsgruppen angewiesen, und zwar sowohl im Norden wie im Süden. Diese müssen den Wandel aktiv mitgestalten und von der Politik einfordern. Veränderungen kommen dann in Gang, wenn eine kritische Masse von Menschen ihre persönlichen Handlungsmöglichkeiten als Konsumenten, Anleger, Arbeitgeber und nicht zuletzt als politische Staatsbürger wahrnehmen (vgl. dazu Wallacher 2011, besonders 179–191). Gesetzgeber und Verbraucherorganisationen müssen das Ihre dazu beitragen, um die Informationslage der Konsumenten zu verbessern. Es ist dringend geboten, das Marktgeschehen durch strengere Kennzeichnungspflichten von Produkten transparenter zu machen. Hersteller müssen gesetzlich dazu verpflichtet werden, Konsumenten wichtige Informationen zu liefern, indem sie etwa Verpackungen von Lebensmitteln mit einfachen Angaben über die Herkunft ihrer Produkte versehen. Die unmittelbaren Folgen einzelner Entscheidungen, z. B. beim Konsum von Lebensmitteln, haben zunächst nur eine begrenzte Reichweite. Sie können aber sehr wohl zu Veränderungen beitragen, wenn sie z. B. ein breites Bewusstsein gegen einen reinen Konsumismus mit seinen Folgen schaffen. Menschen agieren 276 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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nämlich niemals isoliert, sondern orientieren sich auch bei Ernährungsfragen meist an allgemeinen Trends und Lebensstilen. Leitbilder beeinflussen nicht nur das Verhalten Einzelner, sondern auch gesetzliche Rahmenbedingungen. Sie können Strukturreformen, die für eine breitenwirksame und umweltverträgliche Entwicklung notwendig sind, begünstigen oder erschweren. Je stärker unsere Leitbilder von materiellem Besitz und Massenkonsum dominiert werden, umso schwieriger dürften die nötigen politischen Veränderungen durchzusetzen sein. Wenn also eine kritische Masse von Menschen nachhaltig konsumiert, so wird dies die öffentliche Meinung und gesellschaftliche Leitbilder verändern und auch dazu motivieren, politische Veränderungen anzustoßen. Wenn immer mehr Bürger sich entsprechend politisch engagieren, setzen sie die Regierenden unter Zugzwang, die notwendigen ordnungspolitischen Reformen voranzutreiben. So gesehen werden Leitbilder zum unverzichtbaren Scharnier zwischen persönlichem Verhalten auf der gesellschaftlichen Mikround ordnungspolitischen Strukturen auf der Makroebene. Dies verdeutlicht, wie sehr private, wirtschaftliche und politische Entscheidungen verwoben sind. Verantwortungsvoller Konsum von Lebensmitteln hat nichts mit Verzicht, sondern mit bewusstem, den Produzenten gegenüber solidarischem und qualitativ hochwertigem Konsum zu tun, was auch einen Beitrag zu mehr Lebensqualität liefern kann. Dies lässt sich am Fleischverzehr verdeutlichen. Die stetig wachsende Fleischproduktion ist ein wesentlicher Treibsatz für den Klimawandel und andere ökologische Schäden. Sie trägt insofern zur weltweiten Ernährungskrise bei, als dass die höhere Nachfrage nach Weideflächen und Futtermitteln letztlich zu Lasten des Nahrungsmittelanbaus geht. Wenn viele Menschen ihre Ernährungsgewohnheiten auf deutlich weniger Fleischverzehr umstellen würden, hätte dies sowohl für die weltweite Ernährungssicherheit wie die Umwelt positive Auswirkungen. Das rechte Maß respektiert nicht nur die legitimen Rechte der weltweit Hungernden auf ausreichend Nahrung, es beugt auch Gesundheitsrisiken vor, welche 277 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
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in der zunehmend industrialisierten Fleischproduktion durch den hohen Einsatz von Antibiotika und den daraus folgenden Resistenzen verstärkt zu befürchten sind. Ein solches Ernährungsleitbild wäre weltweit leicht übertragbar – und gutes Fleisch zu genießen, bliebe dennoch möglich. Wer sich für mehr saisonal verfügbare Lebensmittel und regionale Anbieter entscheidet, mindert nicht nur Transportkosten, sondern erhält dadurch auch verlässlichere Informationen über die Produktionsbedingungen. Zu wissen, wo Fleisch oder andere Nahrungsmittel herkommen und was man isst, gehört zur Bildung und stärkt auch die Verantwortung für die eigene Kulturlandschaft. Dies gilt auch für den Konsum von Fisch. Bei heimischem Süßwasserfisch, d. h. Karpfen und Forelle, und bei Seefisch, der nachweislich aus nachhaltigen Aquakulturen oder Meeresfischerei stammt (z. B. MSC- oder WWF-Siegel), besteht anders als bei Massenware nicht die Gefahr, dass der Fischkonsum zu Lasten von Millionen von Kleinfischern in den Ländern des Südens geht. Ein gutes Essen kann nur eines sein, das es anderen nicht unmöglich macht, gut zu essen. Dies erinnert uns einmal mehr daran, dass Lebensmittel mehr als eine bloße Ware sind, sondern Mittel zum Leben. Sich den Wert von Nahrung bewusst zu machen, hat auch eine politische Bedeutung. Denn es kann dazu motivieren, sich für die Strukturreformen einzusetzen, die notwendig sind, um allen Menschen dauerhaft ihr Recht auf Nahrung zu verschaffen.
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Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf Nahrung? Ethische Fragen Clemens Sedmak
Der folgende Beitrag will ethische Fragen aufweisen, die sich im Zusammenhang mit einer Diskussion um ein Grundrecht auf Leben und ein Grundrecht auf Nahrung ergeben. Dabei sollen weniger die Antworten im Vordergrund stehen. Fragerichtungen werden durch bestimmte Begriffe angezeigt. So gesehen ist der Geltungsanspruch dieses Beitrags ein sehr bescheidener.
1. Ethik des Nachdenkens Wie soll man mit vollem Bauch über den Hunger in der Welt nachdenken? Wie kann man mit leerem Magen über das Recht auf Nahrung reflektieren? Kann ein Recht auf Nahrung in Pflichten, auch in die Pflicht, über das Recht auf Nahrung nachzudenken, übersetzt werden? Das sind Fragen, die eine Ethik des Nachdenkens betreffen. Die Frage nach Nahrungsgerechtigkeit und Ernährungssicherheit ist nach Su-ing Khoo ein „wicked problem“, ein Problem, das keiner sauberen Lösung zugeführt werden kann. 1 Ehrlicherweise wird man die meisten Fragen, die mit Aspekten der Verteilungsgerechtigkeit zu tun haben, als „wicked problems“ bezeichnen müssen. Diese Probleme sind vielfach nicht nur „wicked“, sondern auch dramatisch, weil wir es hier mit Fragen von Leben 1
Su-ming Khoo, The Right to Food: legal, political and human implications for a food security agenda. Trócaire Development Review 2010, 33–50.
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Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf Nahrung?
und Tod zu tun haben. Die Ernährungssituation auf der Erde führt zu „Millionen von Babies, die schon bei ihrer Geburt gekreuzigt werden“, wie es Régis Debray ausgedrückt hat. 2 Wesentlich optimistischer in Bezug auf die Lösbarkeit der Ernährungsverwundbarkeit von Menschen und entsprechend konkreter in ihren Forderungen sind da Jeffrey Sachs und Peter Singer, die mit einer Machbarkeitsideologie – mit entsprechenden materiellen Ressourcen kann man das Problem lösen – an die Sache herangehen. 3 Das mutet einerseits naiv (der Glaube an die Macht des Geldes), andererseits ermutigend an („Wir können das schaffen!“). Denn die Gefahr, angesichts des Hungers in der Welt zynisch zu werden und von der Aussichtslosigkeit jeglichen grundlegenden Bekämpfungsversuchs auszugehen, ist enorm. Thomas Pogge führt vier Standardeinwände gegen Hungerbekämpfung an: futility, vastness, life boat scenarios, failed progress. Damit sind gemeint: Die vergeblichen Anstrengungen der Vergangenheit führen zur Überzeugung, „dass alles ohnehin nichts nützt“. Das Ausmaß des offensichtlich globalen Problems, das in seinen Dimensionen alle Maße sprengt und jegliche Planung überfordert. Die seinerzeit von Hardin eingebrachte Rettungsbootmetapher 4 kann sogar als Pflicht, nichts gegen den Hunger zu unternehmen, gedeutet werden, denn wenn man sich vorstellt, dass ein Schiff am Sinken ist, das mit seinen 5000 Passagieren aber nur ein Rettungsboot mit 100 Plätzen aufweist, können diejenigen, die das Glück hatten, einen Platz auf dem sicheren Rettungsboot zu ergattern, in der Pflicht gesehen werden, anderen den Zugang zum vollbesetz2
Régis Debray und Jean Ziegler, Il s’agit de ne pas se render. Paris: Editions Arléa 1994. 3 Jeffrey Sachs. The End of Poverty: Economic Possibilities for our Time. New York: Penguin 2015; Peter Singer, The Life You Can Save. Acting Now To End World Poverty. New York: RandomHouse 2009. 4 Garrett Hardin, Lifeboat ethics: the case against helping the poor? In: W. H. Aiken, H. LaFollette, eds., World Hunger and Moral Obligations. Englewood Cliffs, NJ: Prentice Hall 1977, 11–21.
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Clemens Sedmak
ten Rettungsboot zu verweigern, um nicht das Leben derjenigen, die gerettet werden könnten, zu gefährden. Die frustrierenden Defizite in echten Fortschritten, die keine klare lineare Entwicklung erkennen lassen, sind eine vierte Quelle von Einwänden gegen die reale Möglichkeit, nachhaltig und grundsätzlich etwas gegen den Hunger in der Welt zu tun. Eine Ethik des Nachdenkens über den Welthunger wird ebendies aufnehmen und ernst nehmen. Näherhin stellen sich drei Herausforderungen in der Reflexionsarbeit: die Frage der Prioritätensetzung („Food first“? „Whose food first?“ – hier wird man mindestens zwischen „prioritarianism“ und „sufficientism“ als Positionen wählen müssen); die Frage der Heterogenität der Phänomene, die mit Ernährungsunsicherheit angesprochen sind (es besteht doch ein Unterschied zwischen dem Hunger in Malawi während der dürrebedingten Hungersnot 2010 und dem Hunger von Wohnungslosen in Europa, wo wir auch mehr und mehr das Problem der absoluten Armut beobachten können), drittens die Frage nach der Dimensionalität – wie kann man etwa die Ebene von „big data“ und den entsprechenden Makro-Überlegungen verbinden mit der Tatsache, dass wir es mit einzelnen Menschen in ihrer Einzigartigkeit, mit ihren Gesichtern und Geschichten zu tun haben? David Hulme hat in Antwort auf diese Frage seinerzeit einen Denkversuch angeboten, der die Relevanz des „Kleinen“ für „das Große“ zeigt. 5 Der Historiker Christian Meier hat mit Blick auf die schmerzhaften geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen zu Auschwitz darauf verwiesen, dass man immer wieder neu erschrecken können müsse ob des Geschehenen. 6 Jean Ziegler hat diese „Ethik der Achtsamkeit gegenüber dem Einzelfall“ in einem Flüchtlingslager in Äthiopien auf die bittere Art gelernt, als er 5
David Hulme, Thinking ‚Small‘ and the Understanding of Poverty: Maymana and Mofizul’s Story. CPRC Working Paper 22. Manchester 2003; David Hulme, Karen Moore, Thinking Small and Thinking Big about Poverty: Maymana and Mofizul’s Story Updated. The Bangladesh Development Studies 33,3 (2010) 69– 96. 6 Christian Meier, Von Athen bis Auschwitz. München: Beck 2002.
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miterleben musste, wie ein Kind unter Schmerzen und Krämpfen den Hungertod starb – was Ziegler der Illusion beraubte, dass Verhungern ein sanfter Tod sei wie das Entschlummern eines immer schwächer werdenden Menschen. 7 Wie soll man über die Frage nach der globalen Ernährungsgerechtigkeit nachdenken? Vielleicht darf ich den paradoxen Begriff des „nüchternen Errötens“ anbieten. Es ist Nüchternheit gefragt, Analyse, der kühle Verstand, die instrumentieren, die messen und dokumentieren und evaluieren lassen. Und gleichzeitig ist es beschämend, dass wir Menschen es soweit haben kommen lassen. „What’s wrong with us people?“, hat die Philosophin Lori Kelehar einmal in einer Diskussion gefragt. Tatsächlich: Es gibt gute Gründe, dass wir uns schämen sollten. Und es gibt gute Gründe, warum es wünschenswert ist, dieses Schamgefühl nicht zu verlieren, wollen wir doch nicht das Gespür für die eigenen Blößen verlernen und zu Anständigkeits-Analphabeten werden. Das nüchterne Erröten, das auch Remedium gegen den Zynismus ist, kann auch mit der „roten Emotion“ der Wut zusammen gebracht werden, der Wut, die einen anständigen Menschen packen kann, wenn er sich Details oder auch nur kleine Ausschnitte der globalen Situation vor Augen führt. Kann es wirklich sein, dass nach Angaben des Chefökonomen des United States Department of Agriculture die Vereinigten Staaten von Amerika eine food waste-Rate von 30–40 % des gesamten food supply haben? Und das, während tagtäglich um die 25.000 Menschen verhungern?
2. Grundlagen Die gefragte analytische Nüchternheit eines Nachdenkens über den globalen Hunger lädt zu sauberen begrifflichen Unterschei-
7
Jean Ziegler, Wie kommt der Hunger in die Welt? Ein Gespräch mit meinem Sohn. München: Bertelsmann 2000, 36.
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dungen ein; unterscheiden wir zwischen „right to food“, „food security“, „food sovereignty“ und „food safety“:
a) right to food Das Recht auf Nahrung hat vor allem mit drei Dimensionen zu tun: availability, accessibility, adequacy. Es geht also um hinreichende Verfügbarkeit von Nahrung (ist Nahrung „an sich“ vorhanden?), um den realistischen Zugang zur Nahrung (ist Nahrung „für mich“ zugänglich?) und um die Art von Nahrung, die verfügbar und zugänglich ist. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte formuliert: „Everyone has the right to a standard of living adequate for the health and well-being of himself and of his family, including food, clothing, housing …“ 8; hier stellt sich sofort die Frage nach den Pflichten, die aus diesen Rechten abgeleitet werden können. Wenn eine Person P das Recht auf Nahrung hat, d. h. das Recht auf einen den Anforderungen der Gesundheit angemessenen Lebensstandard – wer hat dann die Pflicht, dieses Recht zu garantieren? Wenn man davon ausgeht, dass sich die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an Staaten richtete, könnte man auf die Idee kommen, den einzelnen Staat in die Pflicht zu nehmen als die Instanz, die das Recht auf Nahrung einzulösen hat. Das UN Office of the High Commissioner for Human Rights formuliert in seinem Fact Sheet 34 („The Right to Adequate Food“) jedoch: „The right to food is NOT the same as a right to be fed“. Das scheint sich aber in klarer Spannung zu anderen Formulierungen zu befinden, etwa: „the fundamental right of everyone to be free from hunger“ 9 oder: „The right to adequate food is realized when every man, woman and child alone
8
UDHR 1948, Art 25,1. International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights 1966, Art 11,2.
9
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or in community with others, has physical and economic access at all times to adequate food or means for its procurement“ 10. Jean Ziegler als Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen legt eine noch weiterreichende Auslegung des Rechts auf Nahrung vor: „The right to food is […] the right to have regular, permanent and free access, either directly or by means of financial purchase, to quantitatively and qualitatively adequate and sufficient food corresponding to the cultural traditions of the people to which the consumer belongs, and which ensures a physical and mental, individual and collective, fulfilling and dignified life free of fear“. 11 Hier sind die drei Dimensionen der Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Angemessenheit explizit und deutlich angesprochen. Gleichzeitig wird hier ein ausdrücklicher Zusammenhang mit einer Konnotation von Menschenwürde, „dignified life“, hergestellt. Das verschärft den Druck darauf, dieses Recht auf Nahrung auch einzulösen. Die ethisch immens wichtige Frage „cui onus?“ bleibt. Wer trägt die Verantwortung dafür, dass das zuerkannte Recht auf Nahrung auch eingelöst wird?
b) food security Dieser Begriff hat einen starken Gesundheitsbezug; „food security“ gilt dann als gegeben, „when all people, at all times, have physical, social and economic access to sufficient, safe and nutritious food that meets their dietary needs and food preferences for an active and healthy life“ 12. Die Formulierung ist offensichtlich eine Maximalformulierung, die sich am Maximal-Gesundheitsbegriff der WHO orientiert. Die Unterscheidung zwischen 10
General Comment 12 of the Committee on Economic, Social and Cultural Rights 1999, 6. 11 Special Rapporteur on the right to food – General Assembly 57th session, 2002, agenda item 111b. 12 WHO World Food Summit 1996.
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„needs“ und „preferences“ deutet eine Stärkung von Autonomie des Subjekts an, dessen Rolle im Kontext der Ernährung nicht nur über objektiv beschreibbare und zuschreibbare Bedürfnisse definiert werden kann. Hier zeigt sich eine Tendenz, die mit dem UN Bericht „Human Security Now“ (2003), koordiniert von Sadako Ogata und Amartya Sen, fortgesetzt wurde, Individuen ins Zentrum zu rücken und das Individuum als Referenzgröße von Entwicklungsprogrammen zu sehen. Der „Security“-Diskurs wurde schrittweise seit dem Jahr 2000 mit der Gründung einer UN Kommission von einem Fokus auf staatliche Sicherheit (auch in militärischer Hinsicht und im Sinne der unbestrittenen staatlichen Souveränität) in einen Fokus auf Lebenssicherheit transformiert. Wieder stellt sich die Frage nach der Aushandlung der diesem Ideal korrespondierenden Lasten und Pflichten. Cui onus?
c) food sovereignty Nahrungssouveränität ist ein Begriff mit implizierten ethischen Forderungen, der den eben angesprochenen Subjektstatus noch weiter unterstreicht; er drückt aus, dass Menschen das, was sie essen wollen, ebenso definieren (können sollen) wie das Modell der Lebensmittelproduktion; der Begriff spricht die erwünschte Situation von Menschen an, durch nachhaltige Methoden gesunde und kulturell angemessene Lebensmittel herzustellen. Der einzelne Mensch und die spezifische Gemeinschaft werden durch Zuerkennung und Ermöglichung von Nahrungssouveränität in ihrem Subjektstatus gestärkt. Nahrungssouveränität kann im Rahmen von Entwicklungsprogrammen als Ziel angesehen werden, das Ausdruck und Beförderung von Autonomie ist.
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d) food safety Die European Group on Ethics (EGE) hat in Abgrenzung des eben angesprochenen Begriffs von „food security“ den Begriff von „food safety“ ins Spiel gebracht und von einem Paradigmenwechsel von food security zu food safety gesprochen: „food safety covers the conditions and practices that preserve the quality of food to prevent contamination and food-borne illnesses“ 13. Hier ist also eine „intramaterielle Komponente“ gemeint, die Frage nach der Beschaffenheit der Nahrung (im Unterschied zu Verfügbarkeit und Zugänglichkeit), der Begriff food safety präzisiert die dritte Dimension von food security, nämlich „adequacy“. Die entsprechende Diskussion um food safety hängt mit anderen ethischen Fragen wie den Herstellungsweisen von Nahrung zusammen (ein wichtiges Stichwort in diesem Zusammenhang ist das der gen-modifizierten Nahrungsmittel). Hier ist vor allem der Gesetzgeber gefragt, jene Bedingungen sicherzustellen, die food safety garantieren. Dieser Begriff hat, wenn man sich die weltweit und sogar innerhalb der Europäischen Union unterschiedlichen Lebensmittelgesetze ansieht, auch eine politische Komponente. Diese vier Begriffe spannen einen Rahmen auf, innerhalb dessen sich die Diskussion um ein „Recht auf Nahrung“ bewegt. Es geht ganz offensichtlich um mehr als Kalorien. Wesentlich geht es auch um die Frage nach der Zuteilung und Verteilung von Lasten, um die Allokation von Pflichten und Verantwortung und um die Arbeitsteilung zwischen individuellen und institutionellen Subjekten.
13
EGE, Opinion 24 [2008], Ethics of modern developments in agricultural technologies, 9.4.
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3. Drei Kernbegriffe: Recht, Nahrung, Leben Es geht um mehr als Kalorien. Da Begriffe „Fenster in Diskurse“ sind, mag es für die ethische Diskussion fruchtbar sein, Kernbegriffe anzuführen, die die Reflexion strukturieren. Ich schlage (wenig überraschend) vor, den Diskurs um „Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf Nahrung“ auf drei Begriffe zuzuspitzen, die Licht auf den ethischen Diskurs werfen: Recht, Nahrung, Leben.
a) „Recht“ Das Recht auf Nahrung ist Ausdruck eines tieferen Rechts, Rechte zu haben, wie es Hannah Arendt seinerzeit formuliert hat. Die Anerkennung von Menschen und Gemeinschaften als Träger von Rechten, als Subjekte, die ein Recht darauf haben, Rechte zu haben, ist ein Minimum an Respekt. Einen Menschen zu respektieren bedeutet, ihn als Quelle von moralischen Ansprüchen anzuerkennen. In Analogie zu Arendt unterscheidet Oliver O’Donovan eine „language of right“ von einer „language of rights“. 14 Die Grundlage von Recht kann eine tiefer liegende Vorstellung von Gerechtigkeit sein. Der Rechtsbegriff kann, wie bereits angedeutet, schwerlich vom Begriff der Pflicht getrennt werden. Denn ein Recht kann erst dann erfüllt, umgesetzt, realisiert werden, wenn jemand die mit diesem Recht verbundene Verantwortung wahrnimmt. In der Formulierung von Onora O’Neill: „We do not know what a right amounts to until we know who has an obligation to do what for whom under which circumstances.“ 15 Die Universalisierung dieser Pflichten fällt leichter. Wenn man von der positiven Pflicht, 14
Oliver O’Donovan, The language of rights and conceptual history. Journal of Religious Ethics 37,2 (2009):193–207. 15 Onora O’Neill, Justice Across Boundaries: Whose Obligations? Cambridge: CUP 2016, 38.
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Leben zu retten, die negative Pflicht, Leben nicht zu vernichten, unterscheidet und wenn es nun gelingt, einen Zusammenhang zwischen bestimmten privilegierten Lebensformen und dem Verhungern von Menschen herzustellen, wird der Unterschied zwischen „letting die“ und „killing“ irritierend klein. In katastrophalen Kontexten wird eine Alltagsethik nicht mehr ausreichen; das kann man deutlich mit Blick auf eine Ethik in Zeiten des Klimawandelns beobachten – wenn wir mit dem Rücken zur Wand stehen, ist die in der Alltagsethik relevante Frage nach Verursachern zweitrangig geworden. Anders gesagt: Wenn das Haus brennt, in dem sich meine Kinder befinden, werde ich die Frage, wer diese Situation verursacht hat, zweitrangig behandeln. Dann hat das „ability to pay“-Prinzip in jedem Fall die größere Priorität, also jenes Prinzip, das davon ausgeht, dass es moralisch gerechtfertigt ist, dass diejenigen, die mehr tun können, auch mehr tun sollen. Dieses Prinzip kann auch im Sinne einer globalen Schicksalsgemeinschaft von Menschen, die die (global) anfallenden Lasten unter sich aufteilen müssen, geltend gemacht werden. Wer in der Lage ist, aus einer Position des Überflusses heraus etwas abzugeben, hat angesichts extremer Armut und der bitteren Not von vielen die Pflicht, dies zu tun. Diese Konstruktion wird plausibler, wenn man Menschenrechte und Grundbedürfnisse zusammenbringt oder auch, wie es eine im Kontext von Entwicklungsdiskursen seit den 1990er Jahren bemühte Rechtfertigung von Rechten unternimmt, über fundamentale Fähigkeiten: Dies ist die Antwort des Fähigkeitenansatzes („Capability Approach“), der fundamentale Verwirklichungschancen („basic human capabilities“) postuliert; diese müssen gesichert sein, damit eine Person ein menschenwürdiges Leben leben kann. Diese fundamentalen Verwirklichungschancen werden als die Basis für Menschenrechte, die den Zugang zu eben diesen basic capabilities sicherstellen sollen, angesehen. 16 Dem 16
Cf., M. Nussbaum, Capabilities and Human Rights. Fordham Law Review 66,2 (1997) 273–300.
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Recht des einzelnen Menschen auf den Zugang zur basic capability, sich angemessen ernähren zu können, entspricht dann die Pflicht von entweder spezifischen nationalen Subjekten oder dem Nationalstaat oder gar der globalen Gemeinschaft, dieses Recht in der Praxis auch sicherzustellen. Wer von einem Recht auf Nahrung spricht, muss mit folgenden Rückfragen rechnen: (i) Wer ist Subjekt dieses Rechts? (ii) Welche Pflichten entstehen für welche Adressaten durch die Zusprechung dieses Rechts? (iii) Wie weit reicht dieses Recht?
b) „Nahrung“ Ein Stück Brot, eine Banane, ein Becher Milch, ein Maisbrei – sind Entitäten, die neben einer materiellen Seite auch eine immaterielle Seite aufweisen. Es gibt so etwas wie eine „Innenseite“ von Dingen und Ereignissen. Ein Foto an der Wand eines Hauses ist so viel mehr als ein Foto: es hat eine Geschichte und es erzählt eine Geschichte. Der Kniefall Willy Brandts vor dem Waschauer Denkmal ist so viel mehr als eine kleine Geste, hier wird ebenfalls eine Geschichte erzählt und es wird Geschichte geschrieben. Die Dinge, mit denen wir uns umgeben, machen und erlauben Aussagen über unsere Identität. Die Ereignisse, mit denen wir es in unserem Erfahrungshorizont zu tun haben, sind Teil unserer narrativen Identität, sind Teil dessen, was wir über unser Leben zu erzählen wissen. Wir haben es hier also mit einer intangiblen Seiten von tangiblen Dingen und Ereignissen zu tun. Ein Stück Brot ist „mehr“ als ein Stück Brot; es hat auch einen symbolischen Wert, der über den „cash value“ hinausgeht. Wenn wir vom Recht auf Nahrung sprechen, müssen wir auch bereit sein, die „Tiefendimension“ von Nahrung anzusprechen, die etwa Claude Lévi-Strauss mit seiner Unterscheidung zwischen Rohen und dem Gekochten und Mary Douglas mit der Differenz von „rein“ und „unrein“ angesprochen haben. Die Tiefendimension verbindet das entsprechende Nahrungsmittel mit der Identität 292 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf Nahrung?
eines Menschen; hier wird ein Schritt vollzogen, der analog zur Unterscheidung zwischen Wissen und „persönlichem Wissen“ („personal knowledge“) die Unterscheidung zwischen „Recht“ und „persönlichem Recht“ erlaubt; ausschlaggebend für diese Unterscheidung ist die je persönliche Aneignung. Man könnte in Weiterführung dieses Gedankens auch dafür argumentieren, dass ein Verständnis von „Lebensmittel“ untrennbar verbunden ist mit Konzepten des guten Lebens; denn das, was als Lebensmittel angesehen werden kann, erlaubt auch Aussagen über das Leben. Oder anders gesagt: Die Liste dessen, was als „Lebensmittel“ bezeichnet wird, gibt auch Hinweise auf einen kulturell überformten Lebensbegriff, auf eine Lebensform.
c) „Leben“ Der Begriff des Lebens ist ganz offensichtlich ein schwieriger Begriff; C. S. Lewis hat in einer weniger bekannten, aber deswegen nicht weniger bedeutenden sprachwissenschaftlichen Arbeit unter anderem über den Begriff des Lebens nachgedacht und die kluge Frage gestellt: Was geht verloren, wenn wir das Leben verlieren? 17 Es ist, so Lewis, doch bemerkenswert, dass der Begriff des Lebens mit „Blut“ und mit „Atem“ verbunden wird. Wir werden blutleer und atemlos, wenn wir das Leben verlieren. Wir verlieren die Fähigkeit, Widerstand zu geben und etwas zu verändern. Wir verlieren dadurch auch die Fähigkeit, auf eine tiefe Weise eine Zweite-Person-Perspektive zu konstituieren, also eine Perspektive, die uns zum Gegenüber eines anderen Menschen werden lässt. Das Recht auf Leben ist damit auch das Recht auf eine Zweite-Person-Perspektive und das damit verbundene Recht, die Welt zu verändern – das in aktiver Weise in Anspruch zu nehmen, was Arendt „Natalität“ genannt hat.
17
C. S. Lewis, Studies in Words. Cambridge: CUP 1960.
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Analog zur Frage nach Nahrung als „Lebens“mittel, die eingebettet ist in Fragen des guten Lebens, kann Ernährungssicherheit als conditio sine qua non eines guten Lebens angesehen werden. Ein Klassiker der Armutsliteratur ist das Tagebuch von Maria Carolina de Jesus; sie brachte als Alleinerzieherin von drei Kindern, die sie in einer Favela in Sao Paolo aufzog, ihre Kinder als Müllsammlerin durch; sie schrieb ein privates Tagebuch, das entdeckt und in Auszügen veröffentlicht wurde. Besonders litt sie unter dem Mangel an Ernährungssicherheit. Am 15. Juli 1955 notiert sie: „The birthday of my daughter Vera Eunice. I wanted to buy a pair of shoes for her, but the price of food keeps us from realizing our desires. Actually we are slaves to the cost of living. I found a pair of shoes in the garbage, washed them, and patched them for her to wear“. 18 Sie kann wohlbegründeten moralischen Ansprüchen (ihrer Tochter eine gute Kindheit zu ermöglichen, den Geburtstag und das Leben von Vera Eunice zu feiern) nicht gerecht werden, weil sie nicht die entsprechenden Ressourcen hat und die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln auf dem Markt mit der Zugänglichkeit dieser Nahrungsmittel für sie weit auseinander klafft. Sie weiß sich angesichts des Preisdrucks und ihrer Ressourcenarmut als Sklavin der Lebenskosten. Mangel an Ernährungssicherheit bedeutet ständigen und grausamen Kampf; am 12. Juli 1959 notiert sie: „My battle of the day was to fix lunch.“ 19 Hunger ist ständige Quelle von Sorge, Stress, Druck, Angst. Hunger macht aggressiv und führt in die Verzweiflung. Am 9. August 1958 schreibt sie: „I got out of bed furious. With a desire to break and destroy everything. Because I only have beans and salt. And tomorrow is Sunday.“ 20 (CMJ 99). Der Mangel an Ernährungssicherheit ist das grausamste Gesicht von Armut, wie es Carolina Maria de Jesus erlebt und beschreibt. Hunger macht zornig und 18
Carolina Maria de Jesus, Child of the Dark. Quarto de Despejo (1960). London: Penguin 2003, 3. 19 Ebd., 166. 20 Ebd., 99.
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verzweifelt. „I was furious with life and with a desire to cry because I didn’t have money to buy bread“, schreibt sie in ihr Tagebuch. 21 Ein Bäcker geht durch die Favela und preist sein Brot, „gerade rechtzeitig für das Frühstück“ an – „How little he knows that in the favela there are only a few who have had breakfast.“ 22 Carolinas ständiger Begleiter ist der Hunger, „my problem is always food“ – am 27 Mai 1958 hatte sie kein Frühstück, „I didn’t have any breakfast and walked around half dizzy.“ 23 Am 7. August 1958 schreibt sie: „I got out of bed at 4 a.m. I didn’t sleep because I went to bed hungry. And he who lies down with hunger doesn’t sleep.“ 24 Auch sie macht die Erfahrung, dass Brot so viel mehr ist als Brot – es ist eine Lebensgefühl und eine Lebensform. Ein Stück Brot verändert das Leben und den Blick auf die Welt: „What a surprising effect food has on our organisms. Before I ate, I saw the sky, the trees, and the birds all yellow, but after I ate, everything was normal to my eyes.“ 25 Ein Stück Brot ist der Schlüssel zu einer anderen Welt. Und doch – selbst wenn es Brot gibt, gilt: „Hard is the bread that we eat.“ 26 Und selbst wenn es dieses harte Brot gibt, bleibt die Frage nach der Nachhaltigkeit. Am 7. Oktober 1958 schreibt sie in ihr Tagebuch: „A child died here in the favela. He was two months old. If he had lived he would have gone hungry.“ 27 Leben ist mehr als Überleben, ein Stück Brot ist mehr als Brot. Ein Recht auf Leben ist ein Recht auf einen Lebensplatz; in einer kulturell strukturierten und institutionell überformten Welt ist
21 22 23 24 25 26 27
Ebd., 173. Ebd., 26. Ebd., 43 bzw. 37. Ebd., 98. Ebd., 73. Ebd., 33. Ebd., 115.
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4. „Food Integrity“ Nachdem ich im Sinne eines nüchternen Errötens Gedanken zur Ethik des Nachdenkens über das Recht auf Nahrung angestellt, vier Begriffe unterschieden und drei Schlüsselbegriffe diskutiert habe, um auf diese Weise den Horizont ethischer Fragen aufzuspannen, möchte ich in einem letzten Abschnitt einen eigenen systematischen Begriff ins Spiel bringen, den Begriff der „food integrity“, den Begriff der Nahrungsintegrität. Nahrungsintegrität drückt eine Situation aus, in der sich Menschen auf integre Weise um integre Nahrung bemühen und dabei auch jene Mühen auf sich nehmen, die man „tiefe Praxis“ nennen kann, „tiefe Praxis der Menschenwürde“. Tiefe Praxis ist jene Form von Praxis, die an einem Wert auch unter widrigen Umständen und unter großem Aufwand festhält. „Tiefe Praxis“ der Menschenwürde ist teure Praxis, die so aufgebaut ist, dass allen Handelnden die Erhaltung und Ermöglichung ihrer Handlungsfähigkeit gesichert ist. Dabei bezieht sich diese tiefe Praxis auf alle Beteiligten; ein Kriterium für den Erfolg tiefer Praxis ist die Alltagstauglichkeit. Die meisten Menschen, die von einem Mangel an Ernährungssicherheit betroffen sind, leiden nicht an Symptomen akuten Verhungerns; aber das Leben ist, ähnlich wie es aus dem Tagebuch von Carolina Maria de Jesus deutlich geworden ist, unter dem Druck, das Leben als ständigen Kampf sehen zu müssen. Nahrungsintegrität bedeutet auch und insbesondere, dass die Frage nach Nahrungsbeschaffung nicht derart in das Leben eines Menschen eingreift, dass er nicht mehr in der Lage ist, ein nach wohlbegründeten Standards integres Leben zu führen. Dies wurde bei Carolina Maria de Jesus angedeutet. Nahrungsintegrität oder „food integrity“ läuft auf die Einrichtung einer Kultur von „decent food“ hinaus, die analog zu den ILO-Standards von „decent work“ über Aspekte wie entsprechende materielle Beschaffenheit der Nahrung sowie Freiheit, Dialog und persönliche Sicherheit im Nahrungsprozess und Nahrungs296 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Grundrecht auf Leben, Grundrecht auf Nahrung?
diskurs, also in den „food practices“ charakterisiert werden kann. Dazu kommt, um das gewichtige Kriterium Margalits für Menschenwürde achtende Praxis ernst zu nehmen, die Abwesenheit von Demütigung in den food practices. Es ist demütigend, gefüttert zu werden wie man Vögel füttert; es ist demütigend, um Brot betteln zu müssen; es ist demütigend, auf „Brot allein“ reduziert zu werden. Onora O’Neill hat deswegen auch die Erhaltung der epistemischen Fähigkeiten, die Freiheit von Täuschung als wichtigen Aspekt dessen angesehen, was ich im Rahmen von „Nahrungsintegrität“ „decent food practices“ nenne. 28 Food integrity kann dann als soziale Situation beschrieben werden, in der eine Kultur von „decent food“ mit einer Selbstverpflichtung aller Beteiligten auf eine tiefe Praxis der Menschenwürde etabliert worden ist. Ein Lackmustest für die Achtung vor der Würde des Menschen ist der achtsame und achtungsvolle Umgang mit der Verwundbarkeit des Menschen; die Verwundbarkeit des Menschen wird besonders in elementaren Akten wie Essen und Ausscheiden deutlich. Nahrungsintegrität ist deswegen auch ein Indikator für die moralische Beschaffenheit eines sozialen und politischen Kontexts. Dieser Lackmustest gilt dann auch für uns – und damit kehre ich zu Überlegungen einer Ethik des Nachdenkens über den Hunger zurück. Wie steht es um unsere eigene „tiefe Praxis“? Der päpstliche Rat Cor Unum hatte 1996 ein Dokument veröffentlicht, „World Hunger – a challenge for all“. In diesem Dokument werden vier persönliche Handlungsweisen im Umgang mit dem Welthunger genannt: Fasten, Spenden, Bilden, Beten. Fasten ist ein Weg, um durch die Erfahrung am eigenen Leibe Brücken zur Erfahrung des Nichtselbstverständlichen von Nahrung bauen zu können (hier liegt eine theologische Herausforderung an den Begriff der Ernährungssicherheit, da die Implementierung des Rechts auf Nahrung nicht die Grundhaltung der 28
O’Neill, a. a. O., 40: „A second fundamental obligation of justice is that of avoiding deception.“
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Dankbarkeit unterminieren möge); Spenden ist eine Ausdruckshandlung, die Solidarität zeigt, gerade wenn sie – als „tiefe Praxis“ – mit Opfern verbunden ist; Bilden ist, nach einem Gedanken von Peter Bier, Ringen um die Fragen „Woher wissen wir das?“ und „Was bedeutet das genau?“. Die ethische Verpflichtung, nicht in Täuschung zu leben, kann mit dem Bildungs- und Selbstbildungsauftrag in Verbindung gebracht werden. Beten schließlich ist das Atmen der Seele, die sich in einem je größeren Zusammenhang weiß, von dem – und nur von dem – letzte Antworten auf diese ethischen Fragen erwartet werden.
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Kurzbiographien
Eva Barlösius, Prof. Dr., seit 2007 Professorin für Makrosoziologie und Sozialstrukturanalyse an der Leibniz Universität Hannover. 1978 – 1983 Studium der Soziologie, Politikwissenschaft und Ernährungswissenschaft. 1988 Promotion zum Dr. phil. der Soziologie an der Leibniz Universität Hannover. 1994 Habilitation. Professorin an den Universitäten Hohenheim (2004–2006) und Duisburg-Essen (2006–2007). Gründerin des Leibniz Forschungszentrums Wissenschaft und Gesellschaft (LCSS). Mitglied bei acatech und Mitherausgeberin der Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie. Joachim von Braun, Prof. Dr. Dr. h. c. ist Direktor des Zentrums für Entwicklungsforschung (ZEF) und Professor für wirtschaftlichen und technologischen Wandel an der Universität Bonn. Seine wissenschaftlichen Arbeiten konzentrieren sich auf wirtschaftliche Entwicklung, Landwirtschaft, Ernährung, Armut, Nachhaltigkeit und Innovation. Von Braun promovierte und habilitierte an der Universität Göttingen in Agrarökonomie. Er ist Präsident der päpstlichen Akademie der Wissenschaften, Mitglied der deutschen Akademie Leopoldina, der Akademie der Technikwissenschaften (acatech), der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Fellow der American Association for the Advancement of Science sowie der African Academy of Science. Von Braun ist Vorsitzender des Bioökonomierates der Bundesregierung sowie Vizepräsident der Welthungerhilfe.
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Kurzbiographien
Thomas Breuer, Prof., Professor für mathematische Statistik an der Fachhochschule Vorarlberg. Studien und Forschungstätigkeit in Zürich, Princeton, Cambridge, Köln, Salzburg, Wien. Seine Arbeitsgebiete sind theoretische Physik, Philosophie, Finanzwirtschaft. Stephan von Cramon-Taubadel, Prof. Dr., Direktor des Departments für Agrarökonomie und Rurale Entwicklung an der GeorgAugust-Universität zu Göttingen. Studium der Agrarwissenschaften am MacDonald College der McGill Universität und an der Universität Manitoba. 1992 Promotion am Institut für Agrarökonomie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Dort 1998 auch Habilitation in den Fächern Agrarökonomie und Angewandte Ökonometrie. Mitglied des „Centre of Biodiversity and sustainable Land Use“. Schatzmeister der „International Association of Agricultural Economists“ (IAAE). „Distinguished Overseas Scholar“ an der Nanjing Agricultural University in China. Franz W. Gatzweiler, Prof. Dr. ist Direktor des globalen Wissenschaftsprogramms zu „Urban Health and Wellbeing“ unter dem International Science Council in Paris und Professor am ‚Institute of Urban Environment‘ an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsarbeiten befassen sich mit dem ökonomischen Wert von Ökosystemdienstleistungen, dem Erhalt und Management von Waldressourcen und Biodiversität, Marginalität und Armut. Er hat an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert und zu natürlichem Ressourcenmanagement habilitiert. Hans Hauner, Prof. Dr. med., seit 2003 Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin am TUMKlinikum rechts der Isar und am Wissenschaftszentrum Weihenstephan. 1975–1981 Studium der Humanmedizin an der Universität Regensburg und der TU München. 1981 Ärztliche Approbation. 1982–1983 wissenschaftliche Ausbildung am Lehr300 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Kurzbiographien
stuhl für Biochemie, Mikrobiologie und Genetik der Universität Regensburg. 1984–1989 klinische Weiterbildung zum Internisten mit dem Schwerpunkt Endokrinologie/Diabetologie. 1989–2003 leitender Oberarzt in der Klinischen Abteilung des Deutschen Diabetes-Zentrums an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seit 2003 Mitglied der Leopoldina und seit 2008 Sprecher des vom BMBF geförderten Kompetenznetzes Adipositas. Thomas Heinemann, Prof. Dr. med. Dr. phil., seit 2011 Lehrstuhl für Ethik, Theorie und Geschichte der Medizin an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar. Studium der Humanmedizin und der Philosophie an der Universität Bonn, 1985–1998 Wissenschaftlicher Assistent an der Medizinischen Klinik II (Allgemeine Innere Medizin) der Universität Bonn. Arzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Arzt für Biochemie. 1999–2010 Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Wissenschaft und Ethik der Universität Bonn. 2012–2016 Mitglied des Deutschen Ethikrats. Seit 2012 Mitglied der deutschen Delegation des Bioethik-Komitees des Europarats (DH-BIO). Vorsitzender mehrerer übergeordneter Ethik-Beratungsgremien von Trägern von Gesundheits- und Sozialeinrichtungen. Gregor Maria Hoff, Univ. Prof. Dr., Universitätsprofessor für Fundamentaltheologie und Ökumene an der Universität Salzburg (seit 2003). Studium der Katholischen Theologie, Philosophie und Germanistik in Bonn und Frankfurt am Main. 1999 Habilitation zum Privatdozenten für Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie an der Universität Bonn. 1999–2003 Studienrat an der Marienschule der Ursulinen in Krefeld. Seit 2003 Universitätsprofessor für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie in Salzburg. Von 2005 bis 2015 Obmann der Salzburger Hochschulwochen. Mitglied des Kuratoriums der AdalbertStiftung. Mitglied der Unterkommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum und der Glaubenskommission bei der Deutschen Bischofskonferenz. Seit 2014 Berater in der päpst301 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Kurzbiographien
lichen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum. Freier Autor der ZEIT. Ludger Honnefelder, Prof. Dr. phil. Dr. h. c., Professor der Philosophie an den Universitäten Trier (1972–1982), Berlin FU (1982–1988) und Bonn (1988–2005). 2005–2007 GuardiniStiftungsprofessor für Religionsphilosophie und Weltanschauung an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2009–2012 Otto-Warburg Senior Research Professor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1992 Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Zahlreiche Publikationen aus den Forschungsgebieten Metaphysik, Ethik, Geschichte der Philosophie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Josef Isensee, Prof. Dr. iur., emeritierter Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Studium der Rechtswissenschaften und Philosophie in Freiburg i. Br., Wien und München. 1967 Promotion und 1970 Habilitation an der Universität Erlangen-Nürnberg. 1971–1975 Professur an der Universität des Saarlandes. Seit 1975 Professur für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Seit 1986 Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften zu Düsseldorf. 1997 Verleihung des doctor honoris causa scientarium iuris der Fakultät für Kanonisches Recht der Akademie für Katholische Theologie Warschau. 2012 Erhalt der Ehrendoktorwürde der Universität Huánuco. Clemens Sedmak, Prof. Dr. theol. Dr. phil. Dr. phil. fac. theol., Studium in Innsbruck, Zürich, Linz, New York. Promotionen 1994, 1995, 1996; Habilitation in Fundamentaltheologie (1999) und in Philosophie (2000). Professor für Sozialethik an der University of Notre Dame (USA) und Leiter des Zentrums für Ethik und Armutsforschung der Universität Salzburg. Gastprofessuren
302 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .
Kurzbiographien
in Nairobi, Manila, Mexico City, Jena. Arbeitsgebiete: Armutsforschung, Katholische Soziallehre, theologische Erkenntnislehre. Johannes Wallacher, Prof. Dr. Dr., seit 2011 Präsident der Hochschule für Philosophie München. Studium des Wirtschaftsingenieurwesens und der Philosophie in Karlsruhe und München. 1994 Promotion zum Dr. rer. pol. an der Universität Karlsruhe (TH), 1999 Promotion zum Dr. phil. an der Hochschule für Philosophie in München. 2000 Visiting Fellow am Woodstock Theological Center, Georgetown University, seit 2006 Professor für Sozialwissenschaften und Wirtschaftsethik an der Hochschule für Philosophie München. Er ist zudem u. a. Vorsitzender der Sachverständigengruppe „Weltwirtschaft und Sozialethik“ der Deutschen Bischofskonferenz, Moderator des Sachbereichs Entwicklung der Deutschen Kommission Justitia et Pax und Mitglied von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften.
303 https://doi.org/10.5771/9783495820919 .