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German Pages 379 [380] Year 1944
DAS RECHT AUF PERSÖNLICHKEIT UND SEINE GRENZEN
Die Werke Kurt IM
VERLAG
WALTER
Breisigs
DE GRUYTER
& CO., BERLIN
W }S
DIE GESCHICHTE DER MENSCHHEIT. 1. Band: Die Anfänge der Menschheit. Urrassen — Nordasiaten — Australier — Südamerikaner. XV, 440 Seiten. 1936. RM 16.—, geb. RM 18.— / 2. Band: Völker ewiger Urzeit. Nordländer —Nordwestamerikaner—Nordostamerikaner. XIII, 574 Seiten. 1939. RM16.—, geb. RM18.—. 3. und 4. Band in Vorbereitung. D I E GESCHICHTE DER SEELE IM WERDEGANG DER MENSCHHEIT. XXXVII, 526 Seiten. 1931. RM 1 0 . - , geb. RM 1 2 . NATURGESCHICHTE UND MENSCHHEITSGESCHICHTE. XXXII, 75 Seiten. 1933. RM 10.—, geb. RM 12.— DER WERDEGANG DER MENSCHHEIT VOM NATURGESCHEHEN ZUM GEISTGESCHEHEN XXVII, 444 S. 1935. RM 1 0 . - , geb. RM 1 2 . DER WILLE DER WELT an unserem T u n . VII, 231 Seiten. 1942. Geb. RM. 6 . -
Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge: I. PSYCHOLOGIE DER GESCHICHTE. XX, 194 Seiten. 1935. Kartoniert R M 6 II. DIE MEISTER DER ENTWICKELNDEN GESCHICHTSFORSCHUNG. XIX, 267 Seiten. 1936. Kartoniert RM 8.— III. GESTALTUNGEN DES ENTWICKLUNGSGEDANKENS. XVI. 223 Seiten. 1940. Kartoniert RM 8.— IV. DAS
NEUE
GESCHICHTSBILD
IM
SINN
DER
ENT-
WICKELNDEN GESCHICHTSFORSCHUNG. 230 Seiten. 1943. Kartoniert etwa RM 8.— Ferner: GEIST UND GESELLSCHAFT. Kurt Breysig zu seinem sechzigsten Geburtstage. 494 Seiten. 1927. RM 1 6 . - , geb. RM 18 DAS WERDEN ALS GESCHICHTE. Kurt Breysig in seinem Werk. Von Ernst Hering. 208 Seiten. 1939. Kartoniert RM 6.—
KURT
BREYSIG
DAS RECHT AUF P E R S Ö N L I C H K E I T UND SEINE
GRENZEN
1944
VERLAG WALTER DE GRUYTER & CO . BERLIN
Archiv-Nr. 34 64 43 • Gedruckt bei Walter de Gruvter & Co. Berlin W 35, vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp • Printed in Germany
INHALT
Einleitung DIE LIEBE ZUM ICH UND DIE LIEBE ZUM ANDEREN 1 Zwei große Strömungen bestimmen alles Menschengeschehen 1 — Anziehung und Abstoßung 5 — Verwandtschaft beider Triebe? 4 — Der Ich trieb 5 — Lob des Ichtriebs 6 — Die Antriebe zu großer Tat und zu geistiger Leistung 8 — Eingrenzung des Ichtriebs durch die Gemeinschaft 10 — Selbstgeniigen auch in Hingabe und Opfer 12 — Lohnverheißungen der christlichen Sittenlehre 13 — Das sittlich-werktätige Verhalten 15 — Innerer Lohn selbst der höchsten Opfer 16 — Die Sehnsucht nach Glück als Wurzel alles menschlichen Tuns 17 — Forderungen der Gemeinschaft an den Einzelnen: Sitte und Recht 18 — Hingabefremde Sittenlehren 19 — Verflechtungen der Grundtriebe 20 — Verwurzelung im Leiblichen 21 — Stammbaum der gesellschaftssittlichen Grundempfindungen und Grundtriebe 22 — Auch die abgeleiteten Gefühle im Körperlichen begründet 24 — Abgeleitete Triebe und ihre Auswirkungen 26. V
Erstes Buch
DER SCHAFFENSTRIEB
29
DAS GLÜCK DES SCHAFFENDEN
51
Persönlichkeit und Gemeinschaft, Ichtrieb und Hingabe trieb 31 — Verflochtenheit von Ichtrieb und Hingabetrieb 33 — Versagen der christlichen Sittenlehre 34 — Absage an die Verleugner des Ichtriebes 36 — Einschränkungen des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft; staatgewordene Gemeinschaft und Sittlichkeit 38 — Abgrenzung des Rechts beider Triebe 40 — Maßstab: der Einklang mit dem Willen der Welt 41 — Bewegung als Losung der menschheitlichen Entwicklung 42 — Nachahmimg und Abhängigkeit als Verluste am Menschheitsgeschehen selber 44 — Entwicklungsgeschwindigkeiten der Rassen und Völker; Versäumnisse im Entwicklungssinne 46 — Nur der Ichtrieb des Einzelnen schöpferisch für die Gattung 48 — Antrieb der Leidenschaft; die Gesamtkraft des Ich 49 — Genie und Bewegtheit 50 — Ausdrucksformen der Schaffenskraft: Selbsterhaltung und Selbstliebe als Hüter der Leibeskraft; Allverbundenheit des Leibes 51 — Die Pflicht zur Gesundheit; falsche Kraftsteigerungen 53 — Das Glück der Selbststeigerung in der Leistung 54 —• Überlieferung und Gemeinschaft, Neuerung und Persönlichkeit; Gewinste und Verluste durch Unterordnung 55 — Wertung der einzelnen Schaffensformen: Liebestrieb, Spieltrieb 56 — Die Formen des Erwerbstriebes 59 — Übergriffe der Schaffenslust 63 — Machttrieb als Schöpfer aller gesellschaftlichen Ordnung; Macht: Begriffsumgrenzung 64 — Wesen, geschichtliche Entfaltung 65 — Fortschreitende Massenmäßigkeit und Mechanisierung der Macht 66 — Kampflust und Machttrieb 68 — Kampf und Krieg in der neueuropäischen Geschichte 69 — Anwachsen von Umfang und Gliederung der Kampfmittel, Verluste an Persönlicheitswerten 70 — Wettbewerb; handelndes und geistiges Schaffen: ihr Stoff, ihre Wirkung 72 — Übergewichte des geistigen Schaffens 74 — Geringe äußere Wertung 75 — Schöpferische und nachschaffende Antriebe in Glauben, Bilden und Forschen; Anteil der Vorstellungskraft als Maß und Grenze der Schaffenslust 76 — Schaffenslust VI
und H i n g a b e b e t r i e b im G l a u b e n 77 — Stärkste E r h e b u n g de6 I c h ü b e r die W i r k l i c h k e i t 78 — G l a u b e n und Kunst 80 — Hingabe und Schaffensfreiheit in Glauben, Kunst und Fors c h u n g 81 — Selbstherrlichkeit aller h o h e n Forschung 82 — Das Gebot des geistigen Zeugens 84 — Die F o r m e n des I c h t r i e b e s : I c h e r h a l t u n g , Ichliebe, Schaffenstrieb u n d G e n u ß t r i e b ; Eingrenzung d e r genießerischen I c h s u c h t 85 — Verhältnis von I c h t r i e b und Hingabebetrieb 86.
DIE STUFENLEITER DER WERTE DER SCHAFFENSFREIHEIT 87 R e c h t e , W e g e u n d Ziele d e r Schaffenslust; M a ß s t ä b e der W e r t u n g i h r e r Einzelbetätigungen 87 — Die G r u n d m e r k m a l e jeden Schaffens: N e u h e i t u n d L e b e n s k r a f t ; widersprechende Beziehung zwischen N e u h e i t und Lebensdauer eines W e r k e s 88 — E r f o l g u n d Dauer kein zuverlässiger W e r t m e s s e r schöpferischer Leistung 89 — W i r k e n s k r a f t als G r a d m e s s e r ; Überredungs- und Überzeugungskraft a u c h des h a n d e l n d e n Schaffens ; W i r k u n g u n d N e u h e i t ; das Feuer d e r E m p f a n g e n d e n 90 — Stärke und Breite d e r W i r k u n g n i c h t gleichzusetzen; handelndes W i r k e n von M e n s c h zu M e n s c h ; Gefühlsanteil in jeder Bewirkung 91 —-Nebenursachen und Nebenfolgen 92 — W u c h t der N e u e r u n g als M a ß s t a b der Lebenskraft eines Hervorbringens 9 3 — W i r k e n u n d Schaffen: Ähnlichkeit, n i c h t G l e i c h h e i t i h r e r Regel i m handelnden und geistigen L e b e n 94 — M a c h t und Schaffenskraft, M a c h t t r i e b u n d Schaffensdrang 95 — Verwandtschaft b e i d e r ; W e r t v e r g l e i c h u n g : der G e h a l t an N e u e r u n g oder N a c h a h m u n g 96 — Rangunterschiede zwischen schaffendem T u n und schaffendem Schauen 97 — N a c h g i e b i g e r e r Stoff des geistigen, h ö h e r e G e l t u n g des h a n d e l n d e n Schaffens 98 — Befriedigung d u r c h Ü b e r w i n d u n g d e r stärkeren W i d e r s t ä n d e ; Scliutzb e d ü r f n i s d e r Geistig-Schöpferischen; schnellere, häufigere Entschlüsse des Handelnden 100 — Ä u ß e r e W e r t u n g h a n delnden und geistigen S c h ö p f e r t u m s 102 — Schöpferisches und funktionelles, n e u e m d e s und wiederholendes T u n ; M a c h t der Überlieferung i m G l a u b e n 1 0 4 — Das Icherlebnis i m G l a u ben 106 — M a c h t der G e m e i n s c h a f t i m G l a u b e n 1 0 7 — Die
VII
Schaffensfreiheit de« Forschers; Gebundenheit an die Wirklichkeit 108 — Ungebundenheit der Kunst, mindere Befehls gewalt 109 — Vereinigung der drei Formen geistigen Schaffens ; Eroberungen und Kämpfe 110 — Forschung und Glauben, Kunst und Forschung 111 — Vereinigung der Schaffensformen in höchsten Meistern 114.
DIE SCHÖPFERISCHE MACHT DER WISSENSCHAFT 115 Kämpfe der Geistig-Schaffenden untereinander; Angriffe der Kunst gegen die Wissenschaft 115 — Gefahren des Künstlers von der Wissenschaft her 116— Einheit des geistigen Lebens in der Urzeit 117— Zerspaltung: Gewinste und Verluste 118 — Vorwürfe gegen die Forschung 119 — Die W e r t e der Forschung und ihr Wert für Bildungen und Umbildungen des Menschen; früheste Werke: Denkformen und Sprache 120 — Größe des Anteils der Urzeit am Bau der Sprache 121 — Sprache eine Vergewaltigung am Bau der Welt? 122 — Lebendige, nicht tote Ordnung 123 — Der Sinn der Forschung; Daseinswissenschaft und Naturerkenntnis der Urzeit 124 — Streben nach Erkennen von Zusammenhängen und Ursachen; Altertumsforschung: Lebensbehauptung durch Dienst an den hohen Gewalten 126 — Einheit von Forschung und Glauben in der Mystik der Mittelalter ; Scheidung der Amter; Fortdauer der Lebensbedingtheit und Lebensbewirkung der Forschung 127 — Selbstbejahung der Menschheit in der Bückschau auf ihre Geschichte 128 — Bewirkung von Gegenwart und Zukunft 129 — Die begrifflichen Scheidungen der Forschung; Begriff und Form 130 — Empfängnis und Geburt des forscherlichen Werkes 131 —Ähnlichkeiten und Gleichläufigkeiten des Entstehens von Kunst- und Forschungswerk 133 — Gegensätze: Zwang zur Vollständigkeit und Freiheit der Auswahl, Gesetz und Willkür 134 — Umformung des empfangenen Wirklichkeitsbildes zum Geistbild in Kunst und Forschung; Nachbild und Urbild 135 — Nachbild und Formung; die Mystik der Wissenschaft 136 — Der Begriff als Werkzeug vrn
wissenschaftlicher Formung; Begriff und Form; Begrifflichkeit innerhalb der Künste 137 — Anteil der Einbildungskraft am Werke der Forschung 138 — Forschung nur fähig Zustandsbilder aufzufangen? Geschichte als Wissenschaft vom Werden 139 — Das Forschungsziel zergliedernder Wissenschaft: Eindringen in den Bereich der Kräfte; Ahnbarkeiten und ihr Ausdruck in der Kunst; Ichmäßigkeit und Persönlichkeitskraft als gemeinsamer Wertmaßstab zwischen Kunst und Forschung 141.
DIE MÜHELOSE LUST DES ICHS
142
Der Ichtrieb als Schaffenstrieb und als Genußtrieb: Grenzziehung 142 — Lob der Freude 144 — Die Lust am Schauen der W e l t ; gläubige Hingabe der Menschheitskindheit 145 — Unser Verhältnis zur Landschaft 146 — Ursprung und Fortbildung unseres Schönheitsgefühls 148 — Rückwirkung der getroffenen Wahlen der Kunst auf den empfangenden Genuß späterer Zeitalter 149 — Hingabe an die Natur 150 — Maß und Wirkung der leiseren Freuden 152—Übergänge vom empfangenden zum schaffenden G e n u ß ; schauendes, ahnendes und denkendes Genießen der Welt 154 — Die Leidenschaft des Empfangens 155 — Die Versenkung in das eigene Ich 156 — Gefahren 157 — Maßlosigkeit der Begehrungen der Sinne 157 — Speise und Trank 158 — Die Fragen des Geschlechts; widersprechende Vorschriften 160 — Wert und Unwert der Entsagung 163 — Der Anspruch auf Erfüllung 164 — Steigerung von Leben und Schaffen durch die Leidenschaft 165 — Anklagen, Anfeindungen; Gefährdung des Ichs 167 — Selbstschädigung des Leibes 168 —Ungenügen der Sittengebote und der berufenen Hüter 170 — Die Kunst des Sichversagenkönnens 172 — Gesellschaftliche Bindungen 173 — Warnungen des Leibes; Selbsterziehung zum Schutze des Ichs 174 — Zwischenbezirke: Kunst und Spiel 175—Müßiggang 177 — Genießert u m der Schaffenden 178 — Pflichten des Ichs gegen sich selbst 179 — Das Ich als Teil des Alls 180
IX
Zweites Buch
DER HINGABETRIEB UND DIE LIEBE « s VOM MITGEFÜHL, DAS KEIN ALMOSEN IST 185 Schenkende Freude des Ichs; angeborene Freude des Ichs an der Hingabe 186 — Mitleid als Beweggrund zur Hingabe? 187 — Gegen die Lehre vom Mitleid als Schwäche 188 — Mitfreude als Urquell des Hingabetriebes 189 — Verflechtung von Schaffens- und Hingabetrieb 190 — Übersteigerung der genießenden Hingabe; Verlockung zur Schädigung des Ichs 191 — Macht des Hingabetriebes in der menschlichen Gesellschaft; Schädigungen des Ichs in engsten Lebensverbänden 192 — Freie und erzwungene Hingabe 194 — Wahre Beziehungen in der Stunde ihres Bestehens belohnt 195 — Falsche Rechnungen 196. SCHENKENDE UND NEHMENDE LIEBE . . .196 Das Rätsel des Endens der Liebe 196 — Hinstreben aller Bindungen zuEnge undDauer 197 — Untreue, Treuegebote 198 — Zur Physik der Liebe 199 — Liebe als Vereinigungsdrang; Wesenseinheiten zwischen Natur und Menschheit 200 — Einungswille 201 — Verwurzelung im physikalisch-chemischen Geschehen; drei Wesensschichten 202 — Falsche Einheitssichten: Vermenschlichungen der Natur 203 — Gemeinsamkeit der physikalischen Grundbewegung; Chemie der Seelen 204 — Unterbewußte und doch persönlichste Reizempfänglichkeiten 205 — Ichmäßige Bestandteile des Hingabetriebes: Annäherungs- und Schutzbedürfnis, Lebensgefühl 206 — Gleichzeitiges Nehmen und Geben, Handeln und Erleiden der sinnlichen wie der seelischen Liebe 207 — Rangverhältnis zwischen Seelen- und Leibesliebe 208 — Formen des Hingabetriebes 209 — Steigerung der Hingabe zur Selbstvernichtung des Ichs 212 — Lebenssteigerungen; Steigerungen des wahrnehmenden Empfangens 214 —. Körperliche Steigerungen 216 — Doppeldeutigkeit von Entstehung und Fortgang der Liebe 217 — Doppeldeutigkeit der Empfindung der Frau: Dienen und Herrschen 218 — VerX
Zerrungen 219 — Grenzziehungen 220 — Da» Gebot der Hingabe aus Reichtum und Fülle 221. BAUEN UND ZERSTÖREN AM ANDEREN . 223 Der Sinn des eigenen Lebens, nicht der des fremden, Richtschnur des Handelns; Gegensatz zur christlichen Sittenlehre 223 — Gemeinsames Ziel: die Ordnung des Lebens; Vertrauen auf das Ich 224 — Anklagen der Sittenlehren gegen das Ich 225 — Außerirdisches Ziel der christlichen Sittenlehre : das Verhältnis des Menschen zum Gott 226 — Schaffen stärker zur Abhilfe von Not als Hingabe; der Mensch Gegenstand unseres Schaffens wie unserer Hingabe 227 — Schaffende Hilfe statt Almosen 229 — Trübung der nächsten Beziehungen durch unbeherrschte Launen 230 — Nur zu einem Teil im Leiblichen begründet 231 — Zerstörende Wirkungen 233 — Wille zum Gleichgewicht 234 — Schädigungen durch Lässigkeit und Hemmungslosigkeit; die Ehrfurcht vor der Stunde 235 — Schädigungen in der Ehe: durch den Mann 237 — Durch die Frau 238 — Schädigungen durch den Erzieher 259 — Verletzung des Gebots des Bauens am Anderen; Aufbau und Umbildung des Anderen und des Ichs 240. Drittes Buch
DER HINGABETRIEB UND DER GLAUBEN
243
DIE HINGABE AN DEN GOTT
245
Gestaltschaffende Kraft des Glaubens 245 — Anfänge des Glaubens 246 — Verbindung von Glauben und Sittengebot; Anwachsen der Macht des Sehers zu der des Priesters 248 — Allmählichkeit, Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit dieses Werdegangs 250 — Das Verhängnis des Priestertums: Vereinigung von Herrschaft und Dienst 251 — Zusammenwirken von Hingabe- und Schaffenstrieb; das Verhältnis des Priesters zum Gott 252 — Auflösung des Gottes im All, Vergottung des Priesters 253 — Selbstaufhebung, nicht Hingabe des XI
I c h s ; Verzichte des Priesters 255 — Keine Verpflicht u n g zur Nächstenliebe 256 — Gegensatz zwischen der Gotteslehre Buddhas und der Gottesgestalt Jesus': Stufenverschiedenheit 257 — U r d r a n g der M e n s c h h e i t zur U n t e r w e r f u n g u n t e r den Gott 259.
HINGABETRIEB UND MACHTTRIEB ALS SCHÖPFER DER SITTENGEBOTE . . . . 260 W u r z e l n des Glaubens in d e r Vorstellungskraft d e r M e n s c h h e i t ; der B a u m e i s t e r - P r i e s t e r u n d der H e r r s c h e r - P r i e s t e r 260 — Bedürfnis der gläubigen M e n s c h h e i t n a c h U n t e r w e r f u n g u n t e r den G o t t 2 6 1 — Das Gesetz des Plus U l t r a ; V e r schiedenheit der Göttergestalten u n d der Göttergebote 262 — Königsmacht des Glaubens 264 — I c h m ä ß i g e r Kern a u c h d e r G l a u b e n s h i n g a b e : das Sittengesetz ausgeströmter Wille 265 — W e l t l i c h e und geistige M a c h t a u s ü b u n g ; die List der I d e e 266 — Die Unerfüllbarkeit der Glaubensgebote eine Offenbarung i h r e r H e r r s c h e r k r a f t 2 6 7 — F r ü h e Jenseitsbilder 268 — Jenseitsbilder der Erlösungsbekenntnisse 269 — B r a h m a n e n t u m : n e u e Lebensziele 270 — Neue Jenseitsvorstellungen 2 7 1 — Jenseitsvorstellungen des Christentums 272 — Kein Gebot d e r Hingabe an den Anderen i m B r a h m a n e n t u m 2 7 3 — F o r t bildung von Daseins- u n d Sittenlehre des B r a h m a n e n t u m s d u r c h das B u d d h i s t e n t u m 274 — H ö h u n g des Ichs, Verneinung von jeder Hingabe, von Schaffen, W e r d e n u n d Sein; Folgerichtigkeit u n d Geschlossenheit der L e h r e 276 — Lebensfeindlichkeit 2 7 7 — Stufen- u n d Volkstumsunterschiede von H a l t u n g u n d G e h a l t der L e h r e n Buddhas und Jesus' 278 — Gegensätze beider L e h r e n , Unabhängigkeit u n d Einzigartigkeit der L e h r e von Jesus 279 — G r ü n d e f ü r das Versagen der Glaubenssittenl e h r e n 280 — Schwache Versuche der Durchsetzung m i t irdischen M a c h t m i t t e l n 2 8 1 — Eroberungszüge des Geistes i m R e i c h e d e r T a t 282 — M i n d e r u n g des irdischen Lebens d u r c h die R i c h t u n g der Geisteskraft auf das überirdische 2 8 3 — Nichtdurchsetzung des Hingabegebotes des Christent u m s 284.
in
JESUS DER HEILAND, JESUS DER RICHTER, JESUS DER RÄCHER 285 Das christliche Sittengebot letzte Folgerung aus dem Wirken de» Hingabetriebes; Schwächung der Persönlichkeit de9 Einzelnen 285 — Jesus' priesterlicher Stolz 286 — Jesus der Mittler 287 — Das Mittleramt höchste Folgerung aus dem Amt des Priesters 289 — Anspruch auf Beherrschung des Gesamtlebens der Menschen 290 — Verheißung eines Gottesreiches auf E r d e n ; Jesu« als Richter und König; Lohnund Strafverheißung 291 — Unbildlichkeit dieser Verkündungen 292 — Spannung zwischen Weltkönigtum und Ichhingabe 293 — Spannung zwischen Sanftmut und richterlich strafendem Zorn 294 — Unmenschlichkeit der Strafen; Hinnahme und Ablehnung der Höllenvorstellungen innerhalb des Christentums 295 — Spannung zwischen Ichhingabe und Rachedrohung 296 — Verdammung der Nichtanhänger, Verfluchung einzelner Städte 297 — Strafwürdigkeit einer Glaubensentscheidung 298 — Das Begehren nach Machtauswirkung im Jesusbilde; Herrschervorstellungen im Sinne eines orientalischen Reiches der Altertumsstufe 299 — Die Auigestaltung von Jesus' Verkündigimg durch Jünger und Kirche 300 — Die Stellungnahme des Protestantismus zu dem Zwiespalt in Jesus' Leben und Lehre 301 — Notwendigkeit klarer Entscheidung 302 — Überlieferung und Neuerung im Glauben 303 — Verhüllte Neuerung, verborgene Abweichung 304 — Bedeutimg der Spannungen i m Jesusbilde f ü r die Wertung des Hingabetriebes; Betrachtung des Zwiespalts als Übelstand? 305 — Die Zwiespältigkeit des überlieferten Bildes ein Beweis seiner E c h t h e i t ; Durchbruch des Herrenrechtes der großen Persönlichkeit 306 — Gegenwirkung des Ichbewußtseins im Augenblick letzter Hingabe; Anteil der Messiasvorstellung an der Verkündigung von Jesus' Weltkönigtum 307 — Jesus der Seher-Arzt 309 — Lebensmäßigkeit solcher Gegensätze; Siege des Persönlichkeitsgedankens; die Geschichte der Versuchung 310 — Haltlosigkeit der Anzweiflung der Tatsache, daß Jesus gelebt habe: das Zeugnis der Wirkung f ü r den Wirkenden 311— Übermacht der Gewalt der Lehre über die entgegengesetzten Antriebe in Jesus'
XIII
eigener Persönlichkeit und in dem überlieferten Bilde 312 — Oberzeitliches Christentum 313.
S chlußstück
ÜBERSCHAU UND FOLGERUNGEN FÜR GEGENWART UND ZUKUNFT . . . . 315 RANG UND GRENZEN DER PERSÖNLICHKEIT 317 Das GrundverhäiUiis von Persönlichkeit und Gemeinschaft 317 — Persönlichkeit ein Besitz und ein Vorrecht 318 — Kennzeichen der Persönlichkeit: Eigenschaften des Führers und des Schöpferischen 319 — Maßstab von Sache und Werk entliehen; das Gesetz der Bewegtheit a b Stimme des Willens der Welt 320 — Bewegtheit als Grundform in allen drei Reichen des Weltgeschehens 321 — Der Sinn der Menschheitsgeschichte: eine Folge von Tätigkeitsformen; der Mensch und die Welt 322 — Die bewußte Fortführung des Weltgeschehens durch den Menschen; Rangordnung des Menschentuns: Schaffen und Wirken 323 — Rangordnung unter den Schaffenden nach der Dauerbarkeit ihrer Werke 324 — Verhältnis der weltischen zu den anthropozentrischen Sittlichkeiten 325 — Verhältnis zu Staat und R e c h t : Bewegtheit und Ordnung; die Freudigkeit dieser Weltsicht 326 — Fortbestehen der Reiche der Schönheit und der Liebe 327 — Nicht die gleichen Persönlichkeitsmaßstäbe f ü r Mann und f ü r Frau 328 — Die Frau und das Gefühl 329 — Keine Minderwertigkeit des Lebenstuns der Frau; das Verhältnis der Frau zum Inbegriff der Persönlichkeit 330 — Unterschied der Persönlichkeitsauswirkimg zwischen Mann und Frau 332 — Die Liebeskraft der Frau als Gradmesser ihrer Persönlichkeit; Notwendigkeit einer Sonderung der Satzungen der Sittenlehre f ü r denMann und f ü r die Frau 333 — Umrisse und Maße f ü r das Bild des Führertums 334 — Schöpfertum und Neuerung im Geist: künstlerisches Schaffen 335 — Forscherliches Schaffen 336 — Die Beziehung zwischen neuerndem Einzelnen und tragender, erhaltender Gemeinschaft 337 XIV
DAS WESEN UND DIE FORMEN VON GEMEINSCHAFTSDRANG UND GEFOLGSCHAFT 338 Gesellschaftswissenschaft und Sittenlehre; Aufgaben der gesetzgebenden und der erkennenden Sittenlehre 338 — Wertung und Vergleichung ;• Ebenbürtigkeit von Persönlichkeits- und Gemeinschafts drang 340 — Wechsel der Vorherrschaft; Verflechtungen 342 — Notwendigkeit des Umspannens beider Strömungen für erkennende und gesetzgebende Sittenlehre 343 — Besondere sittliche Anforderungen des Gemeinschaftsdranges; Egoismus und Altruismus als individualistisch-atomisierende Begriffe 344 — Hingabetrieb und Gemeinschaftsdrang; die Gemeinschaft als Neigungsverband 346 — Lockung der Gleichförmigkeit, der Gleichheit 347 — Ausweitung des Bereichs des Ichgefühls; Selbstbestätigung 350 — Volksempfinden, Volksbewußtheit 351 — Glaubensmäßiger Bestandteil der völkischen Empfindungen 352 — Volk, Stamm, Familie; Gewinste und Verluste des völkischen Gemeinschaftsgefühls 353 — Verflochtenheit der zusammenwirkenden Seelenregungen; Notwendigkeit umfassender Sichten 355 —Verschiedenheiten des Menschentums 356 —Gradgruppen, Gradstufen; Starke und Abhängige 357 — Neigung zur Unterordnung; Doppelseitigkeit und Biegsamkeit menschlichen Wesens: Unterordnungen auch der Stärksten; der Einzelne als Baustein der Gemeinschaft 359 — Das Wesen der Gefolgschaft: Leitung und Unterwerfung 361 — Gesellschaftsseelische Bedeutung des Übergangs von Gemeinschaft zu Gefolgschaft; Schlußwort 363
IV
EINLEITUNG
DIE LIEBE ZUM UND
DIE LIEBE
ZUM
ICH ANDEREN
Wirklich umfassende gesellschaftsgeschichtliche Untersuchungen f ü h r e n i m m e r wieder auf wenige allgemeinste Beobachtungen zurück: u n t e r der verwirrenden Fülle des Einzelnen, der f ü r den naiven Blick endlosen Mannigfaltigkeit menschlichen Handelns und 1
Breysig
Leidens wird das tiefer dringende Auge immer von neuem starke Grundkräfte erspähen, deren Zahl um so geringer wird, je überwältigender ihre Stärke ist. Zuletzt hat man den Eindruck, als ob alle Geschicke der Völker und Zeiten, der Massen und der Einzelnen, nur von zwei großen Strömungen bestimmt werden, auf denen sie auf und ab, hin und her schwanken, bald von der einen, bald von der anderen getragen. Aber diese beiden herrischen Mächte sind nicht äußere Gewalten, die der Menschheit einen Zwang auferlegen, sondern sie wohnen in unserer eigenen Seele, jeder von uns trägt sie in seiner Brust. Wir suchen uns entweder an Andere anzuschließen oder aber von ihnen uns abzusondern. Mag die Gesellschaftsgeschichte den Gegensatz Persönlichkeits- und Gemeinschaftsdrang, die Sittenlehre ihn Egoismus und Altruismus nennen, der Gegensatz bleibt derselbe. Und er macht trotz seiner seelischen Natur einen so elementaren, fast mechanischen Eindruck, daß man unwillkürlich der ältesten Philosophen gedenken muß, die all ihre Weisheit noch in kurze Sätze zusamnäendrängten. Auch sie meinten, in dieser Kürze rein mechanische Beobachtungen vor aller anderen Betrachtung des Menschenlebens aussprechen zu sollen, des Menschenlebens, das doch zu ihrer Zeit eben so bunt und eben so unübersehbar mannigfaltig war wie heute und das ihren Blicken sicherlich noch weit farbenreicher schien als unseren. Denn sie hatten frische Augen. Und daran ist um so mehr zu erinnern, als heutige, namentlich geschichtliche Beurteiler solcher ganz allgemeiner Betrachtungen behaupten, die greifbare Gestalt der Dinge widerspreche ihnen. Weil sie selbst über die schwer zu meisternde Wirrsal des Ge2
schehens, die uns aus aller Menschheitsgeschichte entgegenstarrt, nicht Herr geworden sind, glauben sie, kühnlich behaupten zu können, es gebe nichts als das bunt bewegte Spiel der Wellen auf der Oberfläche, das Dasein der starken und unendlich viel einfacheren Grundströmungen sei eine Fabel. Sie sollten sich der eindringlichen Kraft entsinnen, mit der jene Alten die Dinge als Ganzes und nicht als Bruchteil zu sehen verstanden und zu der sie sich inmitten einer ganz naiven, ganz auf das Greifbare gerichteten Lebensform durchgerungen haben. Alles fließt —: ob das Wort wirklich nur, wie man meint, auf die Natur bezogen sein sollte, nicht auch auf die Menschen? Sollte ich ein solches Wort prägen, ich würde sagen: Alles zieht Fremdes an oder stößt Fremdes ab. Man wird sagen dürfen, daß für die Naturerscheinungen dieselbe Beobachtung gilt; für die Beziehungen der Menschen untereinander kann man sie jedenfalls als gültiges Gesetz aussprechen. Damit aber ist zuerst alle Geschichte umfaßt; ist doch deren Inhalt vor allem — man möchte sagen: allein — das Verhalten der Menschen untereinander. Und ich kenne keine, aber auch keine geschichtliche Erscheinung, die sich nicht von diesem Gesichtspunkte aus betrachten ließe. Alle Handlungen der Staaten, alle wirtschaftliche und auch alle geistige Gestaltung läßt sich in nähere oder fernere, immer aber bedeutende und ausschlaggebende Beziehung zu diesem einen großen Unterschiede setzen. Aber noch mehr: läßt sich nicht all unser sittliches Erleben, Fühlen und Wollen auflösen in Anwendungsformen dieses einen Gegensatzes ? Und alle Sittenlehre: ist sie etwas Anderes als Stellungnahme zu diesem An1
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ziehen oder Abstoßen des Fremden, des Anderen, Jesus sagte: des Nächsten ? Zuletzt ist jede kleinste, alltäglichste Handlung, die wir vornehmen, entweder als ein Dienen- oder als ein Herrschenwollen, ein Geben oder Nehmen, ein Wohltun oder Verletzen auszudeuten, geschweige denn unsere großen Entschlüsse. Man hat nicht ermangelt, die Begriffe und Namen f ü r diese vorhandenen Strebungen unserer Seele zu finden, — hier einmal, wie nicht allzu oft in der Geschichte der Philosophie, nicht zum Schaden unserer Erkenntnis. Denn — ach I — mit wie vielen Hunderten von Begriffsumgrenzungen und -Zusammenfassungen hat man uns überschüttet, mit denen man wohl glaubte, ein Ding zu fassen, zu greifen, und man griff doch n u r ein Wort. Ehe dieser Erzfeind aller gesunden Seelenforschung, der so viele kleine Philosophen u n d leider auch einige große übermannt hat, nicht aus seiner übermächtigen Stellung vertrieben ist, sind f ü r sie große Siege nicht zu erwarten. Daß Nietzsche sich vom Wort nicht täuschen ließ, ist vielleicht sein echtester Rechtstitel auf den Namen eines Philosophen. Aber weder gegen die Begriffsprägung des Egoismus noch gegen die seines an Wortklang so viel ungefügeren Gegners und Nebenbuhlers, des Altruismus, ist etwas zu sagen. Sie decken in der Tat seelische Wirklichkeiten. Und es läßt sich der Gedanke, daß es vielleicht u m die Feindschaft dieser Begriffe oder vielmehr dieser Triebe, dieser Seelen- und Willensrichtungen, nicht ganz so schroff bestellt ist, und die Verm u t u n g , ob ihnen nicht vielleicht eine Verwandtschaft nachzuweisen ist, ob sie nicht Kinder einer Mut-
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ter sind oder ob gar der Eine vom Anderen abstammt, nicht unterdrücken. Geht man mit so naturwissenschaftlichen Gesinnungen, wie sie hier eben angedeutet wurden, an eine Untersuchung des Ichtriebs im Menschen, so liegt am nächsten, daran zu erinnern, daß das Leben unseres Leibes von keiner Wesens- und Willensrichtung so durchgreifend beherrscht wird wie von dem Selbsterhaltungs-, zugleich auch von dem Genußtrieb des Körpers selbst. Bis tief in die völlig automatisch sich betätigenden unbewußten Handlungen des Leibes ist ein höchst mannigfaltiger Apparat seines Geschehens ganz in den Dienst von völlig zweckentsprechenden Maßregeln der Abwehr von Schädigungen und des Gewinnes von Lustempfindungen gestellt. Aber auch in den Bezirken unseres ganz seelischen, ganz bewußten Tuns finden wir, wohin wir auch blicken mögen, Regungen und Ursachen Verkettungen, die ihren Ursprung in den entsprechenden leiblichen Antrieben haben, die auf Selbsterhaltung und Lustvermehrung gerichtet sind. Die schlechthin ungeheure Gewalt, die der Ichtrieb des Einzelnen nicht nur auf sein Schicksal, nein auch auf das Insgesamt unseres Geschlechts, auf die Gattung Mensch ausübt, wird dann am unzweideutigsten offenbar, wenn man einmal ein Dasein, ein Wirken des Menschengeschlechts wie des Einzelnen als gegeben annimmt, das der Selbstliebe des Ichs und ihrer tragenden Kraft entbehren müßte. Unser Schicksal würde in ein Trümmerfeld haltlos durcheinander gewürfelter Bruchstücke von Zufällen verwandelt werden. Es ist schon so, in dem bewegten Meer des Lebens und aller seiner Anfechtungen und Gefahren ist
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der Selbsterhaltungstrieb des Einzelnen der Schwimmgürtel, der allein uns über Wasser hält. Wer, ohne alle an sich noch so berechtigten Gegenmeinungen zu berücksichtigen, nur das nackte Geschehen sprechen lassen wollte, der müßte dem Ichtrieb ein tausendfältiges Loblied singen. Es würde sich leicht erweisen lassen, daß unsäglich viel Starkes und Großes, das auf Erden von Menschen geschaffen ist, ihm seinen Ursprung verdankt. Wie unendlich viele Schaffende, Wirkende würden, wollten sie ihr eigenes T u n auf Herz und Nieren prüfen, bekennen, daß der Drang, ihr Ich zum Ausdruck und weiter es zur Geltung zu bringen, ihr Streben zuerst und zuletzt bestimmt. N u r muß m a n dabei nicht zuerst an Grobes denken, sondern vor allem an seelische Gewinnsucht, an geistigen Geiz. Kein Zweifel, Goethe hat nicht u m Anderer willen gedichtet, und selbst in Bismarcks seelischem Haushalt wird m a n auf gewaltige Posten stoßen, die ihn antrieben, nicht für uns, sondern f ü r sein Selbst das Deutsche Reich zu gründen, das heißt sein Werk zu wirken. Gewiß, beide brauchten die Menschen, der Eine u m willige Hörer zu finden f ü r das, was i h m sein Genius schenkte, und der Andere, damit er aus ihnen seine Schöpfung forme. Aber das Dasein dieses Baustoffs, der aus Menschen besteht, ist an sich nur die elementarste Voraussetzung für den Lohn, der alle Schaffenden a m weitesten lockt, mehr noch als R u h m und Nachruhm und Machtgefühl: die Freude a m eigenen Werk und a m Wirken selbst. Das prius, das Erste, war noch immer bei allen, auch den ihrem T u n — das im Zweck freilich Anderen galt — a m meisten hingegebenen Großen des Dichtens oder Trachtens der Wille, ihr eigenes starkes Selbst auszu-
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wirken. Immer war ihnen das Sein, das Genießen, das Erleiden des eigenen Lebens nicht genug; sie hatten nötig, neben dies ihr erstesilch noch ein anderes, ein zweites Ich zu stellen: ihr Werk. Gewiß, es hatte auch die Bestimmung, den Anderen und ihren Lebenszwecken zu dienen; aber der ursprüngliche Drang, der zu diesem Tun führte, war immer der Willen, das eigene Ich noch weiter, über die Grenzen seines bloßen Seins, auszudehnen, auszubauen und ihm so erst die volle Stärke seiner Möglichkeiten, ja seines Wesens selber zu verschaffen. Und seltsam, dieser Sachverhalt, einer der wurzeltiefsten, schicksalhaftesten alles Menschentums und Menschentuns, wird mit einer Zähigkeit verschwiegen oder zum mindesten verhüllt, die weder ganz redlich, noch auch in ihren Wirkungen erfreulich ist. Die Sittlichkeit, die das Christentum verkündet, ist nicht die Liebe zum Ich, sondern die Liebe zum Anderen, ist Altruismus, nicht Egoismus. Wie gute Gründe es dafür geltend zu machen hat, davon wird noch genugsam zu sprechen sein; aber gar nicht wird geleugnet werden dürfen, daß mit dieser Stellungnahme ein Sollen ausgesprochen wird, nicht aber für die Regel ein Sein oder gar ein Wollen. Ferner — und dies führt noch tiefer in das Wesen dieser Dinge —, auch da, wo dies Sollen völlig in seinem Recht ist, trifft es nur die Ausschreitungen, die Auswüchse der Ichliebe, nicht aber die gesunden, kraftvollen und eben deswegen berechtigten Auswirkungen der Ichliebe. Wo diese Grenze zu ziehen ist, davon soll später die Rede sein; für jetzt sei nur darauf aufmerksam gemacht, wie sehr selbst die Sprache des Alltags von dem hier obwaltenden Irrtum beherrscht ist. Alle Nachrufe und Grab-
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reden sind voll von ihm. Da hört man einen hohen Beamten beklagen und zugleich rühmen als ein Opfer seines selbstlosen Fleißes, dort einen großen Gelehrten, weil er über seinen Werken gar so wenig an sein Selbst gedacht habe. Mag sein, daß der Eine seine Gesundheit geschädigt hat für sein Amt, der Andere für seine Wissenschaft. Aber ob ihre Lobredner wirklich glauben, der Eine hätte sich in seinem Büro in Tausenden von Arbeitsstunden den Tod bereitet, wenn ihm nicht die Wonne des Befehlens, des Herrschens, des Entwerfens und Planens ganz und gar den Sinn gefangen genommen hätte ? Oder daß der Andere seine Untersuchungen betrieb, um nicht sich, sondern uns eine Freude zu machen, daß er nicht allen höchsten Genuß seines Lebens am Schreibtisch oder auf dem Katheder ausgeschöpft hat? Das wäre mir eine plumpe Seelenkunde, die nur in Geldgier und roher Genußsucht Betätigung unserer Ichliebe sähe, — eine Seelenkunde, die selbst mehr nach dem Wechseltisch als nach der stillen Werkstatt des Denkers aussähe. Der kennt die großen Menschen freilich schlecht, der glaubt, daß sie nach dem Ministersessel oder nach dem Feldherrnstabe dürstet um des großen Gehaltes willen, das ihnen winkt. Aber darum ist ihr Ichtrieb nicht geringer: Macht und das hohe Glücksspiel des Krieges reizen den Heerführer und ein Beruf, der von einem Manne an einigen wenigen Tagen das Werk seines Lebens fordert, der an diesen Tagen freilich seine Tätigkeit ins Übermenschliche steigert, dafür ihm aber auch Glücks- und Meisterschaftsgefühle einziger Art gewährt. Dabei versteht sich von selbst, daß die so unendlich verflochtenen Vorgänge, in denen sich unser Seelenleben ab-
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spielt, wie in keinem anderen Falle, so auch in diesem nicht völlig auf eine einzige Reihe von Beweggründen zurückgeführt werden können. Wer möchte leugnen, daß auf Bismarck auch Pflichtgefühl und Standesüberlieferung, Vaterlandsliebe und Vasallentreue bestimmend einwirkten, nach und neben seiner Schaffensfreude? Aber entweder haben auch diese seelischen Beweger ichmäßige Zwecke — die Pflichterfüllung zum Beispiel führt zur Freude an der erfüllten Pflicht —, oder aber sie gehören in die Klasse der angeblich selbstlosen Liebesbetätigungen, von deren im Ich verwurzelter Grundschicht gleich die Rede sein soll. Und jedenfalls sind alle diese selbst nur nebenher wirkende Kräfte in der Entstehung großer Taten. Aus Pflichtgefühl kann wohl jemand ein vorzüglicher Routinier der Staatsverwaltung oder der Diplomatie werden, aber niemals ein staatsmännisches Genie. Und aus Vaterlandsliebe vermag sich wohl ein Krieger oder ein Befehlshaber zu opfern, aber sie wird ihn nie zum großen Feldherrn machen können. Die Männer, aus denen die Staatengründer und Heerführer hervorgehen, müssen über eine angeborene Geistesanlage verfügen, die von der Gesamtpersönlichkeit nicht getrennt zu denken ist. Und diese wird bei ihnen so beschaffen sein, daß auch die Gewalt ihrer übrigen Eigenschaften, ihrer Leidenschaften und Triebe, nicht durch so sachmäßige und von dem Ich abzusondernde Regungen wie Pflichtgefühl und Vaterlandsliebe zu bändigen und auf das eine Ziel zu versammeln ist. Diese dämonischen Menschen der großen Tat bedürfen ganz anderer Antriebe, solcher, wie sie nur die unendliche Freude an eigenem großem Tun gewähren kann. Die egoistischen Triebe gröberer Art, die Lust
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an äußerer Ehre und Auszeichnung, an großem Gewinn und Ähnlichem, sind ihnen gegenüber Beweggründe zweiten Ranges. Nur das Machtgefühl mag f ü r den Mann des Handelns ein eben so starker Ansporn sein wie die Freude am Schaffen; aber beide Beweggründe fließen ineinander über, und jenes ist ein ebenso ichmäßiger Antrieb wie diese. Auch da aber, wo die äußeren Vorteile selbst auf ein kleinstes Maß zusammenschmelzen, wird man keine Minderung der Selbstliebe annehmen dürfen. Ein Gelehrter etwa, der es nicht vermeiden könnte, den Mächtigen seiner Zunft sich mißliebig zu machen, ein Künstler, der nicht für den Tagesgeschmack des großen Publikums Bilder zu schaffen verstünde, sondern nur still für sich hinwirkte, — was bleibt ihm ? Gewiß nur die Anerkennung Weniger. Aber ich möchte selbst ihn nicht als selbstlos preisen; er würde vermutlich die Wollust seines Schaffens für keinen Reichtum der Welt dahingehen. Auch der Kaufmann, der Industrielle werden sehr häufig — mir schweben edle Beispiele vor — nicht um des Geldes und der von ihm zu erwartenden Genüsse, sondern u m ähnlicher Unwägbarkeiten willen ihr Gewerbe betreiben. Die Erregungen der bedeutenden Verhandlungen und Entschlüsse, die hier, wie in der Diplomatie, oft von dem Augenblick und seiner Kraft die größten Folgen abhängig machen, das Machtgefühl, das der Reichtum schafft, der Maßstab, den die Summe des Erworbenen für den Erfolg der Arbeit abgibt: das sind Dinge, die mit Geld und Geldeswert an sich nichts zu tun haben. Hiermit soll nicht gesagt werden, daß all diese Formen des tätigen Ichtriebs für die Gesamtheit von gleichem IO
Wert sind. Es ist das Recht jeder Sittlichkeit, das heißt jedes von einer Gemeinschaft gegebenen Sittengesetzes, sie ganz verschieden einzuschätzen; aber durch diesen zuletzt nur von außen her angelegten Maßstab soll doch die sachliche Würdigung des Forschers nicht getrübt werden. Die Werte, die die Gesellschaft den Handlungen und Beweggründen der Einzelnen beilegt, können zuletzt nicht als ausschlaggebender Maßstab der wissenschaftlichen Erklärung gelten, auch dann, wenn man — was zunächst unberührt bleiben soll — etwa jene Scala sittlicher Abschätzung für richtig halten sollte. An sich ist natürlich nicht daran zu denken, daß diese gleichmütige Betrachtungsweise je ein Sittengesetz bestimmen könnte. Der gesellschaftliche Grundcharakter aller Sittlichkeit — ein Einsiedler auf einer wüsten Insel brauchte nur eine Satzung von sehr wenigen Paragraphen — bringt es mit sich, daß jede Gemeinschaft sich durchaus nicht durch begriffliche Erwägungen, sondern nur durch die werktätigen Folgen des sittlichen und gesellschaftlichen Verhaltens bestimmen lassen kann. Sonst wäre jeder Säufer und Faulpelz dem eifrigsten Arbeiter, jeder Nichtsnutz dem größten Schaffenden gleichzustellen. Aber eben so wenig darf sich die forscherlic he Zergliederung durch diese Moralpraxis bestimmen lassen. Sie wird feststellen müssen, daß für alles Handeln, das weiseste wie das törichtste, das stärkste wie das nichtigste, der Beweggrund der gleiche ist: die Absicht, dem eigenen Ich wohlzutun. Ja, es ließe sich vielleicht der Satz verfechten, daß gerade der Ichtrieb des Starken, Klugen und Maßvollen im Grunde ein intensiverer ist als der Ichtrieb der Toren und Lüstlinge. In aller maßlosen Genußsucht liegt ein starker II
Zusatz von Unklugheit, einer Unklugheit, die sich nicht am wenigsten, sondern am meisten gegen das eigene Ich selbst kehrt. Und so weit dürfen wir alle Sokratiker sein, daß wir annehmen, alle Laster seien Kinder nicht nur der Leidenschaft, sondern auch der Torheit. Gegen alle diese Erörterungen könnte eingewendet werden: nun wohl, die Handelnden, Wirkenden, Schaffenden mögen von ihrer Liebe zum eigenen Ich zuletzt allein bestimmt werden; sollte man denn aber dasselbe von den Leidenden, Duldenden sagen dürfen, von Denen, die freiwillig für Andere Arbeit, Schmerzen, Schmach und selbst Tod auf sich nehmen? Ich meine, man wird auch diese Frage unumwunden und ohne weiteren Vorbehalt bejahen dürfen. Man muß nur in alle Tiefen und Untiefen des menschlichen Herzens hineinleuchten. Mutter-, Gatten- und alle Liebe, die durch Familienbande die Menschen aneinander knüpft, wird zunächst sehr leicht als mit Eigenliebe durchsetzt und vermischt nachzuweisen sein. Selbst der opferfreudigsten Mutterliebe haftet ein Rest ganz offenbarer Eigenliebe an, der mit Händen zu greifen und sehr leicht nachzuweisen ist. Die Mutter liebt sich mit in den Kindern, sie sieht in ihnen ihr Werk, ihr Abbild, einen Teil ihres eigenen Wesens. Und niemand wird leugnen dürfen, daß selbst in die höchsten Steigerungen mütterlicher Aufopferung die Gemeinsamkeit von Fleisch und Blut einen Bestandteil einfließen läßt, dessen ichmäßiger Ursprung nicht zu verkennen ist. Daß damit am allerwenigsten der Wert gerade solchen Opfers herabgesetzt werden soll, braucht in diesem Zusammenhange nicht erst gesagt zu werden. Im Gegenteil: alle erdfrohe Sittenlehre 12
wird vielleicht zu dem umgekehrten Schluß kommen, wird um dieses echt menschlichen Wesenszuges willen alle solche Liebe eher mehr als weniger schätzen. Aber man suche weiter: der Krieger, der den Tod für sein Vaterland stirbt, —glaubt man wirklich, daß er, soweit er nicht überhaupt nur blindlings der hergebrachten sittüchen Auffassung seines Standes oder Volkes folgt, so weit er wirklich aus freiem Entschluß in den Tod geht, glaubt man, daß er es über sich gewänne, wenn er nicht in der eigenen Brust den Lohn für seine Tat fände? Es gibt Gesteigertheiten der Seele, die den Menschen selbst bis zum Aufgeben des Lebens treiben und noch darin ihn eine unerhörte Wonne kosten lassen und die um sehr viel geringerer Ursachen willen entstehen. Man denke nur an die Hindus, die sich unter die Räder des Götterwagens werfen; sie tun es, weil ihnen die höchste Erregung gläubiger Hingabe eingibt, daß sie kein größeres Glück sich bereiten können, ab indem sie zwecklos ihr Leben zur größeren Ehre einer Gottheit hinwerfen. Und diese ihre natürliche und fast triebmäßige, keineswegs überlegte Entscheidung mag sie auch nicht betrügen; denn die seelische Wollust dieses Opfertodes, dieser Begeisterung ist vielleicht so ungeheuer, daß sie, falls ihnen ein Zufall das Leben schenkte, vor einer Wiederholung nicht zurückschrecken würden. Aber selbstlos waren gewiß auch sie nicht. Überhaupt muß hier nicht an verstandesmäßige Überlegung und Berechnung gedacht werden; unsere Instinkte und unsere ursprünglichsten Empfindungen tragen einen so feinen Wertmesser, einen so untrüglichen Maßstab in sich, daß sie so plumper Mittel wie 13
bewußter Abwägung durchaus nicht immer bedürfen. Prüft man die christliche Sittenlehre auf ihren innersten Gehalt, so stößt man da doch ebenso auf Bestandteile, die sich unter jenem Vorbehalt nur als Belege für die Allgewalt des Ichtriebes deuten lassen. Von den — ach, nur allzu wenigen — Worten Christi, die auf uns gekommen sind, muß jedes hundertmal geprüft und beleuchtet werden. Aber die Bergpredigt, die umfangreichste Sittenvorschrift, die Jesus je erteilt hat, spricht doch sehr deutlich. Jede dieser Tugendlehren ist mit einer Seligpreisung verbunden, und so verklärt man sich auch die Bedeutung dieses Wortes denken mag, der Zusammenhang zwischen Tugendübung und innerem Lohn bleibt bestehen. Das Wort an den Schächer am Kreuz ist in einem besonderen Fall noch viel weniger mißverständlich. Die Sittenlehre der Kirche drückt das auch oft mit recht naiver Unbefangenheit aus: sei nur gottesfürchtig und fromm in Worten und Werken, so wird der Lohn nicht fehlen, sei es im Diesseits oder im Jenseits, ganz von den irdischen oder ewigen Strafen zu geschweigen. Man wird diese trotz allem nützlichkeitsmäßige Begründung der christlichen Sittlichkeit nimmermehr aus der Welt schaffen. Sie wendet sich durchaus an das Glücksbedürfnis des Menschen, und sie schließt auch einen rechnenden Vergleich in sich zwischen den vergänglichen Gütern, die sie aufzugeben rät, und den höheren, reineren, die sie durch Tugend und Gottergebenheit zu erwerben empfiehlt. Gewiß täte der dem Christentum bitteres Unrecht, der dieser seiner Lehre grobe Ziele unterschieben wollte; es fehlt an solchen Zerrbildern nicht, aber sie dürfen nicht a b typisch angesehen werden. Es handelt sich hier u m die 14
zartesten und anspruchslosesten Glücksempfindungen, die sich ersinnen lassen. Allein man wird doch sagen müssen: diese Sittenlehre fordert von jedem, daß er Anderen Glück bereite, aber sie verspricht ihm dafür selbst noch höheres Glück. Und indem sie diese Befriedigung über das eigene Wohltun als das köstlichste Glück preist, das Menschen beschieden sei, predigt sie zuletzt nur die wirksamste Ichliebe. Das selbstloseste, sozialste Verhalten ist hier ganz in den Dienst der ichmäßigen, nur den Einzelnen angehenden Glückssehnsucht gestellt. Und die christliche Sittenlehre steht damit durchaus nicht vereinzelt da, sie teilt diese Berufung auf den Drang nach Glück auch mit Sittenlehren, die, ähnlich streng, ähnlich altruistisch gerichtet wie sie, doch auf jede religiöse Stütze verzichten. Doch um zum sittlich-werktätigen Verhalten zurückzukehren: man erwäge die seelischen Beweggründe alles selbstlosen Handelns. Sei es bewußt, sei es triebmäßig, sei es in halbheller Erinnerimg an frühere Erfahrungen: jedem, der gewisse augenblickliche Vorteile opfert, schwebt doch die Vorstellung einer darauf folgenden inneren Befriedigung als Lohn der guten Tat vor. Der christliche Glaube an einen himmlischen, jenseitigen Entgelt bringt diese Auffassung nur besonders handgreiflich zum Ausdruck; oft redet er auch von der irdischen Seligkeit gottgefälligen Wandels und hingebender Nächstenliebe und tut in seinem Sinne wohl daran. Viele rechtschaffene, treffliche Leute setzen sich aber auch ihr eigenes Wohlgefallen an sich, ihr gutes Gewissen, aufs unbefangenste in Rechnung. Sie schwelgen förmlich in ihrer Tugend, sie sagen sich und Anderen täglich — in besonders drolligen Fällen möchte man sagen: stündlich — vor, 15
wie aufopfernde Menschen sie seien; und, was das Erstaunlichste ist, sie sind es auch wirklich. Jene herrlichen Naturen aber, die rings in ihrer Umgebung Güte und Liebe spenden, ohne davon zu wissen, wie köstliche Blumen, die uns Duft und Farbe schenken, nur weil es ihr Leben und Sein so fordert, — sie freuen sich unbewußt ihrer eigenen Liebesfähigkeit; denn uneigennützig zu lieben macht vielleicht noch glücklicher, als geliebt zu werden. Aber wer wollte wagen zu behaupten, daß sie auch ohne dieses stille, starke Wohlgefühl so wären, so handelten, wie sie sind, wie sie handeln? Und selbst von den höchsten Opfern, die menschliche Hingebung für Andere zu bringen vermag, wird man dasselbe sagen dürfen. Vielleicht ist es erlaubt, in diesem Zusammenhang auch des geschichtlich bedeutsamsten Opfertodes zu gedenken, von dem wir wissen, und in sein Geheimnis hineinzuleuchten — und warum dürfte man es nicht: wer alles Menschliche mit Achtung und mit einem leisen Schauer der Ehrfurcht betrachtet, der wird auch, was Vielen heilig und göttlicher Verehrung würdig ist, nicht roh verletzen können. Wenn also auch von Jesus gesprochen werden darf, so ist zunächst freilich festzustellen, daß sein Tod dem Geschichtsforscher unmöglich in dem Sinne einen Opfertod bedeuten kann wie dem Gläubigen. Das älteste Christentum schon — das geben auch die von wissenschaftlichem Geist erfüllten Theologen, wie namentlich ihr Führer Holtzmann, schon längst zu — hat völlig willkürlich in dieses bedeutsamste Ereignis die Idee des Sühnopfers hineingetragen, die doch einer viel ursprünglicheren Gesittung angehört. Aber ein anderes Opfer im eigentlichsten, ausgeprägtesten
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Sinne des Wortes war dieser freiwillig erduldete Tod, dem Jesus doch aller Vermutung nach sehr leicht hätte entgehen können, sicherlich: er wollte damit das Gebot, sich zu opfern, das all sein Leben noch m e h r als seine Rede die Menschen lehren sollte, in seiner letzten, furchtbarsten Folgerung darlegen und mit dem eigenen Blute besiegeln. Aber wenn m a n eindringen darf in die Geheimnisse dieses stärksten Herzens, das je f ü r Andere geschlagen hat, so ist gar nicht anders zu denken, als daß es sich in den Stunden dieser letzten und schrecklichsten P r ü f u n g zum höchsten Höhepunkt seiner Kraft emporgerungen hat. Und wieder, solche Kraft war n u r zu schöpfen aus der unsäglichen, mit menschlicher Vorstellungskraft kaum auszudenkenden, reinsten und höchsten Befriedigung über dieses Bestehen auch der härtesten Probe, aus der Vorahnung all der nie erlöschenden W i r k u n g , die diese Stunde auf das Menschengeschlecht ausüben würde, aus den wahrhaft seligen Wonnen, die n u r die Vollendung dieses ungeheuren, folgen- und segensreichsten Lebenswerkes spenden konnte. So scheint denn alles, auch das höchste irdische T u n und Leiden, an diese eine Wurzel, an die Sehnsucht nach Glück, welche Form sie auch immer a n n e h m e n möge, geknüpft zu sein. Was der begehrte Gegenstand oder Seelenzustand ist, ob sinnliche Lust oder die Befriedigung über redliches Streben, die Freude a m Kampf oder am geistigen Schaffen, an äußeren E h r e n oder innerer Befriedigung, an stärkstem Genießen oder hingehendster Opferung, an d e m Gedeihen einer Gemeinschaft, eines Vaterlandes, eines Standes, einer Familie, oder an der rücksichtslosen Niederwerfung aller Anderen ringsum: immer ist der letzte Be2
Breysig
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weggrund derselbe: die Stillung des stärksten Bedürfens, das die Menschheit kennt, dem nach eigenem Glück. Mir scheint nicht, als ob irgend einer, auch der hingehendsten, menschlichen Tugend dadurch etwas von ihrem Werte genommen sei, daß man sie auf diesen einen, letzten Beweggrund zurückführt, der freilich auch für jede Willkür, jedes Laster, ja, jedes Verbrechen die Wurzel ist. Für unsere werktätige sittliche Auffassung, für unser Sitten- und Rechtsleben kommt es auf diese gedanklichen Herleitungen ja gar nicht an; die Gesellschaft hat vielmehr ein volles Recht, auf die freilich sehr verschiedenen Folgen zu sehen, die diese eine seelische Grundkraft in dem Einzelnen je nach Anlage, Umgebung und Lebensgestaltung entstehen läßt. Aber wenn es nun so ganz auf die Früchte des Baumes ankommt, so drängt sich sogleich die weitere Frage auf: nach welchen Gesichtspunkten scheidet denn die heute geltende Sittenlehre unsere Handlungen so streng in egoistische und altruistische? Da muß denn zuerst daran erinnert werden, daß fast alle sittliche Satzung gesellschaftlicher Natur ist, das heißt, von den Bedürfnissen der Gemeinschaft ausgeht. Was ihr frommt, was sie für sich in ihrer Gesamtheit wie für ihre einzelnen Mitglieder an Rücksicht fordert, das nennt sie Sitte, das macht sie zum Sittengesetz; Verzicht auf einen Teil der eigenen, an sich ja unbegrenzten Handlungsfreiheit zu Gunsten Anderer, meist zuerst nur der Glieder einer bestimmten Genossenschaft, eines Geschlechtes, Stammes, Volkes und so fort, das gilt als Sittlichkeit und, wenn man die Übertretungen der Vorschrift unter Strafe stellt, als Recht. Man ist aber seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden
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so sehr gewöhnt, als Sittlichkeit nur solche gesellschaftliche Sittenvorschrift anzuerkennen, daß man an gar keine andere Form denkt. Die Gemeinschaften, die auch die geborenen Hüterinnen der nach ihrem Wunsch und Bedürfnis geschaffenen Satzungen waren, haben abweichende — das heißt nur von dem Bedürfnis des Einzelnen ausgehende — sittliche Auffassungen nur sehr selten aufkommen lassen, so wandelbar auch ihre eigenen Anschauungen waren, so Verschiedenes, ja Entgegengesetztes sie selbst als sittlich gesetzt haben. Freilich sorgten das Leben und die menschliche Natur selbst schon dafür, daß alle diese Sittenvorschriften nie ganz zur Herrschaft gelangten. Es gibt meines Erachtens kaum eine wichtigere Pflicht für den Erforscher der Sittengeschichte als die, nachzuweisen, daß sich die sittliche Praxis fast immer sehr weit von der anerkannten sittlichen Theorie entfernt hat. Selbst eine Sittenlehre von so ungeheuer überredender, fortreißender Kraft wie die des Christentums hat niemal« auch nur annähernd volle Herrschaft über die Gemüter zu gewinnen vermocht. Zuweilen sind doch auch rücksichtslose Denker aufgestanden, die gänzlich unsoziale, unaltruistische Sittenlehren aufgestellt haben —: natürlich in den Jahrhunderten am ehesten, in denen die tatsächliche sittliche Übung am rücksichtslosesten war. So haben zu den Zeiten einer noch körper- und willenskräftigen und dabei geistig sehr regsamen Übergangsgesittung in Griechenland die Sophisten eine sehr einseitig vom Einzelich ausgehende Sittenlehre vertreten, gegen die dann Sokrates die auf das Wohl des Anderen bedachte Gegenbewegung einleitete. Genau an demselben Punkte der Entwicklung, in dem Grenzabschnitt eines f
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noch stürmisch-kräftigen und doch schon geistig aufs höchste erregten Zeitalters, das beide Eigenschaften vereinigte und also ursprünglich-rohen und verstandesmäßig geklärten Persönlichkeitsdrang in sich verschmolz, hat Macchiavelli für die öffentliche Sittlichkeit sehr unumwunden, Alberti für die persönliche etwas zaghaft und verschleiert ähnlich rücksichtslos selbstische Grundsätze aufgestellt. Und in uns noch nahen Tagen, die freilich von ganz anderer Art waren und zu deren herrschender — durchaus auf die Gemeinschaft gerichteter — Grundströmung hier wohl eher eine einzelne Gegenwirkung vorliegt, hat Nietzsche in ganz neuer Form eine von Grund aus hingabeferne Sittenlehre aufgestellt. An Berührungspunkten und sehr bemerkenswerten Vermischungen zwischen Nächstenliebe und Eigensucht fehlt es nicht. Die Eigensucht zunächst ist in sehr vielen ihrer Betätigungen — wenn nicht in allen — zwar als auf ihr letztes Ziel auf die Befriedigung des eigenen Bedürfnisses gerichtet; aber die Wege, die dahin führen, sind voll von Arbeit und Sorge für allgemeine, also auch dem Anderen zugewandte Zwecke. Dieser Zusatz mag sehr ehrlichen Selbstbeobachtem gar nicht immer bewußt werden, aber er ist außerordentlich häufig. Die Ichsucht dient mittelbar der Art, der Gattung. Und selbst die furchtbarsten Egoisten haben immer nebenher sehr viel für Andere getan, — Napoleon etwa, als er die heute noch im wesentlichen unangetastete Aufbauordnung des französischen Staatswesens schuf. Andererseits werden sich, auch abgesehen von der inneren Befriedigung, wenige Taten der Selbstlosigkeit nachweisen lassen, bei denen nicht der Beifall oder der Dank eines andern Men90
sehen d e m Wohltäter durch Anerkennung wenigstens einen Teil seiner Tat vergelten soll. Aber die völlige Wesensverschiedenheit der beiden äußeren Erscheinungsformen des sittlichen Handelns und gesellschaftlichen Verhaltens wird auch durch diese Verflechtungen beider nicht aus der Welt geschafft; sie ist f ü r alle gesellschaftswissenschaftliche Beobachtung die auffälligste und unumstößlichste Tatsache. Wie ist n u n dieser an der Oberfläche so weit aufklaffende Zwiespalt zwischen Eigensucht und Hingabefreudigkeit einerseits und das Zusammentreffen dieser beiden Antriebe in der Tiefe der Seele in derselben Wurzel andererseits zu erklären? Wie können so verschiedene Wirkungen dieselbe Ursache haben? Dies Rätsel lockt von den Hunderten, die uns rings umgeben, sicherlich nicht a m letzten zur Lösung. Es ist eine rein seelenkundliche Schwierigkeit; aber u m sie zu schlichten, wird m a n vielleicht besser tun, von körperlichen Erscheinungen, als den stets und immerdar unserem Seelenleben gleichläufigen und ähnlichen, auszugehen. Auch der Körper flößt unserem Geiste teils egoistische, teils altruistische Triebe, Empfindungen, Erwägungen ein. Zunächst ist unser Leib, ganz wie unsere Seele, von Grund aus eigensüchtig angelegt; ohne jedes Z u t u n unseres Verstandes, unseres Bewußtseins wehren wir uns Schädliches ab oder suchen uns Nützliches auf. Und dennoch sorgt unser Körper ebenso auch f ü r den Anderen, f ü r die Gattung. Das Geschlechtsleben bietet dafür, wie billig, das schlagendste Beispiel dar. Die Fortpflanzung unserer Art ist, wie die aller Tiere, gesichert durch rein triebmäßige, von unserem Verstände, zuweilen selbst von unserem Willen unabhängige Empfindungen. 21
Hier findet sich also derselbe Gegensatz zwischen Ichund Liebestrieben: die Zwiste zwischen beiden sind auch hier häufig genug; aber — und damit kommen wir weiter — die Natur selbst weist hier auf einen Punkt hin, wo beide scheinbar so weit auseinanderstrebenden Linien zusammenlaufen; wo Ichtrieb und Liebestrieb in Eines verschmolzen sind. Die Fortpflanzung knüpft sie nicht an gleichgültige oder gar schmerzliche Empfindungen, sondern im Gegenteil an die stärksten Lustgefühle, die sie überhaupt im Körperlichen zu spenden hat. Und so bindet sie denn die wirksamste Lockung des Ichtriebes an die äußerste Leistung des Hingabetriebes, die Erhaltung und Vermehrung der Art, den sozialsten Vorgang des körperlichen Lebens an die höchste Wollust, also an die stärkste Befriedigung unserer Ichsucht im Bereich des Körperlichen. Bei der Untrennbarkeit des Leibes- und Seelenlebens, auf die wir immer von neuem durch die Natur der Dinge selbst hingewiesen werden, würde es nun sehr verwunderlich sein, wenn man zu dieser innersten Verknüpfung der Liebe zum Ich mit der Liebe zum Anderen im Körperlichen nicht ebenfalls Entsprechungen für unsere Seele fände. Wie unser Leib, so ist auch unsere Seele von Grund aus eigensüchtig; aber dieser Eigensucht entspringen doch zahllose Handlungen, die durchaus altruistische Wirkungen hervorbringen, die nicht uns allein, sondern oft viel mehr Anderen dienen. Sie sind Ein die Liebeserregung des Herzens, an die Freude geknüpft, die alle Liebesbezeigung, das heißt aller Dienst am Anderen, an der Gattung unserem Herzen bereitet. Ich meine also, es läßt sich folgender Stammbaum der SC
gesellschaftssittlichen Grundempfindungen und Grundtriebe aufstellen. Die Grundlage aller Willensbetätigung ist die Ichsucht, das unbezähmte Streben jedes Menschen, sich Glück zu bereiten. In doppelter Filiation — um im Bilde zu bleiben — entspringen dieser Wurzel aber im Körperlichen wie im Seelenleben Triebe, die zur Annäherung und Neigung zwischen Mensch und Mensch und damit zur Erhaltung der Art führen. Und jedesmal hat, wie Hegel sagen würde, die List der Natur ein sehr starkes Bindemittel gefunden, das diese nicht egoistische, also altruistische, also soziale Betätigung auch sehr fest an die Selbstsucht des Einzelichs knüpft und ihr aus dieser immer neue Nahrung zuführt. Macht man sich aber klar, daß die beiden großen Grundtriebe, die Menschen zueinander führen, in der Eigensucht wurzeln und doch durch die beiden Lockmittel der Natur, die körperliche Wollust und die Wonne aller Hingebung, in Hingabe, in Sorge für die Gattung, für ihre Vermehrung oder Erhaltung umgesetzt werden, so ist jener an sich unerklärliche Widerspruch zwischen ichmäßiger Ursache und dem Anderen dienender Wirkung aufgehoben. Unsere Sprache selbst ist in diesem Falle weiser, als Begriffsbildungen es waren. Sie nennt die beiden Triebe, die Menschen zueinander führen, ohne alle weiteren Unterscheidungen Liebe und trifft damit sicher das Richtige. Liebe bindet die Geschlechter aneinander und reizt sie unwiderstehlich zur Begattung; Liebe aber erfüllt auch die Eltern, die Kinder, Geschwister, längst gealterte Gatten, Freunde mit Zuneigung zueinander, wie die Stammes- und Volksgenossen; und Liebe hat zuletzt zu der darin wahrhaft 23
frohen Botschaft voll der Brüderschaft aller Menschen geführt. Mitleid ist nicht, wie Nietzsche, hier einmal überscharfsinnig, meint, das Erzeugnis einer ganzen Fülle sehr verwickelter Vorgänge, sondern zuerst und zuletzt das Kind der Liebe, der erbarmungsvollen, zu allen Schwachen und Bedrängten sich herablassenden Liebe. Und zwar m a g dies inhaltsreiche Wort auch in diesem Falle eine Verschmelzung seelischer und körperlicher Empfindungen bedeuten. Jene möchten bei weitem überwiegen; aber auch ein leises Anklingen der offenbar m e h r sinnlichen Gattungsliebe, die uns den leidenden Genossen unserer geliebten eigen e n Art bedauern läßt, wird schwerlich abzuleugnen sein. Und unzweifelhaft greifen diese beiden Formen der Liebe auch sonst fort und fort ineinander über. Rechte Gattenliebe kann durch alle Haarspalterei nicht in diese beiden Bestandteile zerlegt werden, sie beruht auf ihrer Vermischung. In die reinste Freundschaft, selbst in die Eltern- und Kindesliebe, sind sinnliche Elemente gemischt. Überzeugend sind sie nachzuweisen in den Stammes-, Volks-, Rassengegensätzen. Naive Menschen empfinden noch jetzt einen schlechthin sinnlichen Abscheu vor Volks- oder Rassefremden, u n d diese Abneigung macht keineswegs Halt bei sehr starken Gegensätzen, wie etwa dem zwischen Negern u n d Weißen, sondern t r e n n t auch benachbarte Völker und Stämme. Ja, selbst in der Menschheitsliebe, in der natürlichen Neigung, die jeder Mensch zu jedem Menschen empfindet und die sich etwa in gemeinsamer Not übermächtigen Tieren gegenüber immer bewähren würde, also in der Gattungsempfindung selbst, steckt sehr viel Sinnlichkeit, wenn sie nicht gar 24
gänzlich in ihr überwiegt. Daß Art nicht von Art läßt, ist wesentlich in unseren ästhetischen, auf Deutsch unseren sinnlichen Zuneigungen begründet. Diese alle können sich sehr weit von der stärksten Form sinnlicher Liebe, der Geschlechtsliebe, entfernen; aber sie sind zum mindesten auch in unserem Körperlichen begründet. Auf der anderen Seite ist die Liebe des Herzens fort und fort am Werke, unsere sinnlichen Triebe zu sublimieren — zu höhen —, ja, sie ganz zu verdrängen. Die Liebe zum eigenen Volk oder zur eigenen Familie ist in Zeiten verfeinerten Seelenlebens viel mehr gemüthafter als körperlicher Natur; die Überfeinerung will uns, ganz ebenso wie die weitabgewandten Religionen, sogar die leibliche Liebe gänzlich verachten lehren. Es wäre vielleicht eine der reizvollsten Aufgaben tief eindringender Geschichtsbetrachtung, dies Auf- und Abwallen der beiden verschiedenen und doch wieder einheitlichen Triebe zu verfolgen. Nebenher aber —- und damit kehre ich zu dem Stammbaum der Liebe zurück — zeugt der Uregoismus, als der ursprüngliche, noch alle, auch die entgegengesetztesten Äußerungen im Keirn bergende Grundtrieb gedacht, im Körperlichen wie im Geistigen auch andere, ihm selbst näher verwandte, ihm wesensgleiche Tochtertriebe: den körperlichen Trieb der Selbsterhaltung und den seelischen der Selbstliebe. Jener ist, wie sein Stiefbruder, der geschlechtliche Altruismus, ganz triebhaft, tierhaft, man möchte sagen: pflanzenmäßig. Er erstrebt ohne irgendwelche Überlegung die Abwehr von Gefahren — man denke an all unsere unwillkürlichen Reflexbewegungen —-, die Erhaltung und das Gedeihen des eigenen Selbst und gerät deshalb in
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den allerstärksten Zwiespalt zu aller unselbstischen Betätigung des Uregoismus, zur Gemüts- und selbst zur Geschlechtsliebe. Ganz ähnlich werden sich Selbstliebe und die Liebe des Herzens zu Anderen in immerwährendem Streit befinden. Diese seelische echte Schwester des Selbsterhaltungstriebes und Stiefschwester der höchsten, der Menschen-Liebe, verklärt, verfeinert, aber verstärkt auch jene und ist deshalb dieser fast noch gefährlicher. Aber auch überzwerch geraten diese feindlichen Geschwisterpaare immerfort in Streit; und das Ergebnis aller dieser sich kreuzenden Bewirkungen nennt man die Geschichte der Menschheit und ihre denkmäßige Betrachtung Sittenlehre und Gesellschaftslehre. Denn das ist kein Zweifel: alle und jede Beziehungen der Menschen untereinander werden von ihnen beherrscht und bestimmt, das staatsmäßiggesellschaftliche ebensowohl wie das sittliche Leben der Menschheit, ja auch das geistige fast ganz. Alle Staaten sind das Ergebnis des Aneinanderrückens der Menschen; so viel auch Gewalt und List und rein verstandesmäßige Beweggründe zu ihrer Gründung und Bildung beigetragen haben mögen, auf dem ursprünglichen Trieb der Annäherung, der aus Neigung entspringenden Sehnsucht nach Zusammenleben, beruhen sie doch zuletzt, wie Stände, Klassen und alle anderen gesellschaftlichen Gebilde. Daß Nietzsche diese Grundlage alles gesellschaftlichen Zusammenlebens und also auch aller Sittlichkeit so gänzlich übersehen hat, ist vielleicht der schwerste Vorwurf, den man emsthaft seiner Psychologie machen kann. Unzweifelhaft haben sich ja die Einzelantriebe des Herrschenwollens, der Habsucht und ähnlicher Triebt
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sogleich dieser Verbände bemächtigt, sie oft auch vielleicht geschaffen, weil auch sie sozialer Mittel bedürfen, um sich geltend zu machen; aber ihre letzte Quelle sind sie nicht. Die Kunst aber und das religiöse Leben sind von der Menschenliebe auf das stärkste beeinflußt; alle Nachbildung der Menschengestalt ist ohne Liebe undenkbar; die ältesten Lieder sind schon Liebeswerbungen gewesen, und die älteste Musik ist zu ihnen gespielt worden. In aller Religion ferner liegt, selbst so weit ihre Daseinslehre in Betracht kommt, zuletzt die größte Menschenliebe: alle Götter, zu denen die Menschheit je gebetet hat, sind ja doch nur über sich hinaus gesteigerte, zuletzt bis ins Unermeßliche gehöhte Sterbliche; große Verstorbene sind oft zu Göttern erhöht worden; die Religion scheint in ihren Ursprüngen auf Totendienste, also Menschenverehrung, Menschenliebe zurückzugehen. Wo aber der sittliche Gehalt der Religionen in Betracht kommt, ist der Zusammenhang mit der Menschenliebe so offenbar, daß kein Wort darüber zu verlieren ist. Alle Wissenschaft endlich beschäftigt sich mit dem Menschen oder mit seinem Verhältnis zur Natur, sie will ihm nützen in jedem Falle, ist nur aus Menschendienst, Menschenliebe heraus geboren. Darüber hinaus aber sind alle Verflechtungen und Verbindungen der Gesellschafts- und Geistes geschichte der Menschheit auf das Auf- und Ineinanderwirken dieser zwei oder vier großen Grundtriebe zurückzuführen. Und alle echte Gesellschaftswissenschaft hat nur ihr Wesen zu ergründen und freilich auch — das ist ihre zweite große Aufgabe — zu erwägen, wie sie zu richtiger Mischung zu bringen sind. Dies und noch viel mehr aufs Gründlichste zu erörtern,
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ist n u n m e h r die Aufgabe. Die Zeiten sind vorüber, in denen die Menschheit ziel- und wahllos ihren Weg dahin schlenderte, der Tag ist da, wo es Ziele ins Auge zu fassen gilt, wo über das Wohin der Geschichte entschieden werden m u ß , wo nicht mehr unbewußte organische, sondern bewußte organisierte Entwicklung des Menschengeschlechtes die Losung ist.
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E R S T E S BUCH DER SCHAFFENSTRIEB
DAS GLÜCK DES S C H A F F E N D E N
Kein Wirrsal des äußeren, kein Leid des inneren Lebens, kein Streiten unter den Völkern, in den Völkern, kein Ringen des Ichs mit dem anderen Ich, kein Zwist der engsten Gemeinschaft um ein Ehe-, ein Freundschaftsglück, kein mörderischer Krieg unter den Weltreichen, kein Umsturz einer ganzen Gesellschaftsordnung ist zu denken, er sei denn aus dem ewigsten aller Gegensätze geboren: dem zwischen 3*
Persönlichkeit und Gemeinschaft. Tausend Gestalten vermag dieser Gegensatz anzunehmen: Herrschaft und Unterordnung, Abstufung und Ausgleichung, Veränderung und Vererbung, Eigentum und Gemeinwirtschaft, Königtum und Volksherrschaft, Adel und Gleichheit, Neuerung und Nachahmung, Einzigkeit und Wiederholung, Formen- und Stoffkunst, bauende und beschreibende Wissenschaft. Denn sie sind im Leben der Gesellschaft, der Staaten, der Völker und Stände, auf den Schauplätzen der Kunst, der Forschung, des Glaubens die Losungen, die sehr verschieden lauten und doch alle nur einem Kampf gelten: dem zwischen Persönlichkeitsdrang und Gemeinschaftstrieb. Kein Sittengebot, keine Gesellschaftsordnung, kein Glaube, kein Stil der Kunst, keine Weise der Forschung, die nicht in ihrem Kern von ihm bestimmt wären. Und bis in unsere Seele setzt sich dieses Gegeneinander fort, hat hier erst seine Wurzeln, saugt von hier die Säfte seines Lebens: Ichtrieb und Hingabetrieb heißen auf diesem engsten, innersten, ursprünglichsten Boden des Kampfes die Gegner. Und es beruht das hohe Vorrecht aller Sittlichkeitslehre im Bereich der Gesellschaftswissenschaften auf der Hoffnung, daß durch die Aufhellung dieser dunkelsten Kräfte im Getriebe des Herzens Ziel und Weg gefunden werden könne auch für die Tausende von Wirrnissen der Welt, daß ein Gesetz, das dem inneren Leben gefunden würde, auch als Gebot und Tafel über unser äußeres Dichten und Trachten gestellt werden könne. Doch, ach, die Versenkung in den Urquell des Fühlens, aus dem der Strom springt, von dem alle Taten der Welt wie gleitende Schiffe getragen werden, sie führt
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zu neuem Wirrsal, neuem Zweifel. Denn auch hier, wo die beiden Gegensätze im engsten Bezirk aufeinanderstoßen, zeigen sie sich in Wahrheit durchaus nicht völlig entgegengesetzt, ja, nicht einmal klar und sicher voneinander getrennt. Sondern sie verschwimmen in eine unklar schäumende, brodelnde Gärung, die unendlich fruchtbar das Größte gebiert — alles Dichten und Trachten der Menschheit von Anbeginn —, aber dem zur Tiefe dringenden Blick des Seelenforschers einen undurchsichtigen Nebel vor das Auge zaubert. Er ist in Wahrheit der Schleier, der uns das Rätselbild menschlichen Seins verhüllt. Der Hingabetrieb, der unser Fühlen so oft, in wahrer oder vorgetäuschter Liebe zum Anderen, zu ich widrigem Handeln treibt, ist trotz aller viel gescholtenen Selbstsucht unseres Geschlechtes von ungeheurer Stärke. Die eine Tatsache, daß er die Menschen zu tausend Formen der Einung, von der zartesten der Ehe bis zur gröbsten und stärksten des Staates, zusammengeschmiedet hat, die andere, daß der weltbeherrschende Glaube ihn zum Richtmaß aller seiner sittlichen Vorschriften gemacht hat, beweisen dies am klarsten. Nun aber vermag kein Verkennenwollen der Welt die Erkenntnis fortzutäuschen, daß aller Hingabetrieb in seinem Widerpart, dem Ichtrieb, wurzelt. Daß die gattungsmäßigste, also an sich dem Ich fremdeste Aufgabe des Einzelnen, die Fortpflanzung der Art, an die höchste Lust des Leibes geknüpft ist, dient nur als Zeichen, Bild und Gleichnis auch des sittlichen Verhaltens. Auch die wahrste, reinste, aufopferndste Tat der Liebe zum Anderen, zum Nächsten, wie Jesus so schlicht sagt, ist an die höchste Wollust der Seele, an den Rausch, den Zauber gebunden, den nur dies letzte t
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Opferfest des Herzens zu vergeben hat. Die Predigt dessen, der vom Berge nicht zu seinem Volke nur, nein zur Menschheit sprach, hat dies sehr sachlich ausgesprochen. Sie hat nie die Hingabe des Ichs gefordert, ohne ihren Preis zu nennen : die Seligkeit des Ichs. Ganz anders der Ichtrieb: wird er zu seiner höchsten Leistung gespannt, zur letzten Steigerung seiner Kraft, seines Schaffens, so kann seine artfördernde Wirkung nicht in Frage gestellt werden. Weder die schöpferische Leistung des Ichs noch die neu gewonnene Kraft eines Einzelnen, der sich Nachfolge zu erzwingen weiß, gehen der Gattung, der Menschheit selbst verloren. Treibt man diesen Gegensatz bis zum Äußersten, so erscheint schließlich alles in sein Gegenteil verkehrt: der Ichtrieb fördert die Art, der Hingabetrieb zielt ab auf das Glück des Ichs, und sei es das zarteste. Und niemand wird die Wahl der Beispiele willkürlich oder parteiisch schelten dürfen, denn jedesmal ist der edelste, lauterste Fall gewählt. So erscheinen denn alle Werte sittlichen Urteiles in ihr Gegenteil verkehrt; und wer aus diesem innersten Bereich gesellschaftsseelischen Verhaltens ausgerüstet mit den Maßstäben für die äußeren und gröberen Bezirke des staatlichen oder wirtschaftlichen Handelns zurückzukehren gedächte, wäre bitter getäuscht. Auch die überlieferten Sittlichkeiten gewähren hier wenig Rat und Hilfe: die christliche hat sich selbst alle Wege in dieses Allerheiligste menschlichen Fühlens und Wollens abgeschnitten, da sie kurzer Hand sich für den einen der beiden Gegensätze entschied und alle Ichliebe für das, was nicht sein soll, erklärte. Sie hat nie recht erkannt, wie sehr sie sich damit selbst die Ein-
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Wirkung auf die Menschen erschwert hat. Sie hat zwei Jahrtausende darüber geseufzt, daß der Menschen Dichten und Trachten böse sei von Jugend auf, das heißt: diesem sittlichen Ziel abgewandt sei, ohne dabei zu dem Schluß zu kommen, daß nicht der Mensch, sondern dies ihr Ziel falsch sei. Sie mußte mit einsehen, daß die Staaten sich untereinander nur mit Gewalt und List behaupten konnten, das heißt: mit den gröblichsten Mitteln, die der Ichtrieb besitzt. Fast noch empfindlicher als in diesem äußersten Grenzfall ist das Versagen der christlichen Sittenlehre da, wo es sich u m das eigentlich Leben fördernde, Leben schaffende Tun der Menschen handelt. Die urchristliche Sittlichkeit war nicht weltfremd, aber weltfern: ihr war alles starke Handeln ebenso gleichgültig und unwert wie alles schöne Bilden oder alles tiefe Denken. Sie weiß von dem Einen so wenig wie von dem Anderen. Und sie ist hierin ganz folgerichtig, denn sie hält alles irdische Sein nur für eine an sich belanglose Vorstufe zu einem höheren Leben. Eine der wichtigsten Tatsachen der Urgeschichte des christlichen Glaubens wirft hier tiefe Schatten über die Entstehung eines noch heute im Grundsatz geltenden Sittengebotes, eine der wichtigsten und dennoch bestverschwiegenen Tatsachen : Jesus* Propheten-Irrtum von der kurzen Dauer des bestehenden Menschheitszustandes, von der kurzen Frist bis zum Herniederkommen des Reiches, das er sich nach überlieferter Weise nicht himmlisch über den Wolken, sondern ganz irdisch, als ein verklärtes und verewigtes Erdensein, vorstellte. Einer so ungeheuren Umwälzung aller Grundbedingungen menschlichen Lebens gegenüber waren Staat und Kunst, Reichtum
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und Forschung freilich sehr wenig beträchtliche Güter. Alle spätere christliche Sittlichkeit nun, von Paulus ab, ist eine nicht wirklich folgerichtige und nicht in sich geschlossene geworden, da sie diese Weissagung nicht in Erfüllung gegangen sah und doch auf die Verkündigung, die sich zu einem Teil auf sie gründete, nicht Verzicht leisten wollte. Sie behielt eine Lehre bei, die der Menschheit für einen kurzen, letzten Traum vom Erdendasein gegeben war, und gab ihr den Wert eines Gebotes für Jahrtausende. Dieser innerste Widerspruch ist nie recht überwunden worden: viele Versuche einer Vermittelung sind gemacht worden, aber wie alle Vermittelungen haben sie keinen rechten Halt. Nur in jener urchristlichen Lehre von der völligen sittlichen Überlegenheit des Hingabe- über den Ichtrieb wird man zu aller Zeit den Kern der christlichen Sittlichkeit zu suchen haben. Die eigenartige Zwiespältigkeit aller Glaubensentwicklung, die zwar in der Neuerung, in der Änderung das Recht dieser persönlichsten Angelegenheit des Menschen sieht und doch ihrem innersten Wesen nach auf Überlieferung und Überlieferungstreue nicht verzichten darf, wird in diesem Punkt sich vermutlich nie zu Gunsten einer Umwälzung entscheiden. Denn während alle Gottesund Mittlergedanken des Christentums der mannigfachsten Ausprägung fähig sind, ist seine Sittlichkeit im Grundsatz eisern und mit Wahrhaftigkeit nicht wohl umzudeuten. Werden die kleinen Halbheiten, Zurücknahmen und Zugeständnisse bei Seite geschoben, so müssen sich die Geister scheiden. Erdfrohe Gesinnung wird sich mit einem Lebensbild nie versöhnen können, das aus aller funkelnden Pracht unserer Welt nur einen über-
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schatteten Hintergrund für die Himmelsglorie eine« jenseitigen Daseins macht und das um dieses willen alle stärksten Kräfte unseres Wesens, eben die im Ichtrieb wurzelnden, und alle Herrlichkeit ihrer Schöpfungen als nichtig oder gar schädlich bei Seite schiebt. Nicht die Tat, nicht die formende, nicht die forschende Macht unseres Geistes will um des Mitleides willen verworfen sein. All die weibisch-empfangende Schwäche, all die leidsame Schaffensunlust, die in diesem wie in jedem anderen Bekenntnis des Hingabetriebes in Wahrheit Sieger bleibt, hat die Menschheit bis auf diesen Tag nie anders als im Wort übermocht. Das Glück des Schenkenden aus den Herzen der Menschen zu verjagen, wäre ruchlos. Aber eine Sittenlehre, die es ausschließlich predigt, wird ebensowenig al* Lehre unanfechtbar sein, wie sie sich als Gebot durch die Jahrhunderte bei den handelnden Menschen durchsetzen konnte. Schon daß sie sich der unlösbaren Verflechtung der beiden Grundtriebe unseres wollenden Wesens, des Ich- und des Hingabetriebes nicht bewußt zu werden, sie nie einzugestehen vermochte, muß gegen sie mißtrauisch machen. Aber sollten wir nun wirklich uns völlig von diesem Ziel abwenden und das Ich zu unserer herrschenden Gottheit machen? Ohne Zweifel würde solches Gebot den Vorzug großer Wahrhaftigkeit für sich in Anspruch nehmen können, es würde damit eine Einheit zwischen wirklich geübter und verkündeter Sittlichkeit erreicht, wie sie noch keiner der Tafeln beschieden gewesen ist, die die großen Führer unseres Geschlechtes über seine Bahn gehängt haben. Der große Fluch der weißen Lüge des Mehr-Wollens, Mehr-Sagen», als die eigene Kraft erlaubt, wäre damit von den Men-
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sehen genommen. Tausend Heucheleien, über die das Christentum, das nicht müde wird, die unbedingte Wahrheit zu fordern, allzu gefügig hinwegsieht, würden wie Schlacken von uns fallen. Doch es bedarf nur geringer Weisheit, um darzutun, daß diese Entfesselung nicht allein sehr viele schöpferische, nein, auch sehr viele zerstörende Kräfte frei machen würde, deren Bändigung bisher doch gelungen ist: nicht vermutlich durch das Christentum, sondern durch die viel stärkeren Mächte der gesellschaftlichen Einungen, vor allem des Staates. Alles Recht, alle Sitte ist Einschränkung des Einzelnen zu Gunsten der Gemeinschaft. Selbst der Begriff des Schlechten, des Verbrechens ist aus der Gemeinschaft hervorgewachsen. Die Anschauungen der Völker, die heute noch auf der Urzeitstufe leben, lassen die Entstehung aller Scheidung von Gut und Böse sehr deutlich erkennen. Das Tun, das zuerst als Verbrechen gebrandmarkt wurde, war vermutlich die Zauberei, wie die Auffassung der grönländischen Eskimos noch heute ist — lange vor Mord, Raub, Diebstahl oder woran immer wir Menschen zärtlicherer Kulturen denken mögen. Die Zauberei aber gilt nicht etwa um des Zauberns willen für verwerflich, denn die Seher und Beschwörer, die neben den Häuptlingen als die Vorgänger der Priester das Volk führen und leiten, üben sie ebenfalls aus. Man unterscheidet auch nicht etwa zwischen nützlichem und schädlichem Zaubern, denn auch die Agakok, die Seher, sind bereit, zu Nutzen eines Jeden Unheil auf seinen Feind herabzubeschwören. Vielmehr gelten als Zauberer und böse die Menschen, die jenseits der Berge im Binnenland, fern von den Siedlungen der Küste, für sich wohnen und dort
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auf eigene Gefahr leben und auch wohl zaubern. Das Verbrechen ist also im Grunde nicht die Zauberei, sondern die Abgesondertheit, die Nichtzugehörigkeit zur Gemeinschaft. Sie wird geahndet. Alle anderen Strafen des erst langsam entstehenden Rechtes sind noch viel sichtlichere Bußen, die die Gemeinschaft über den Fremden, ihr nicht Angehörenden verhängt. Lange Entwicklungsstrecken hindurch wurde auch der Mord nur dann gestraft, wenn er von einem Fremden begangen war, nie aber, wenn er innerhalb der eigenen Völkerschaft ausgeübt war. Sehr kurz und doch bündig deckt die Ausdrucksweise brasilianischer Karaiben diesen Zusammenhang auf: in ihrer Sprache ist unser und gut, fremd und schlecht gleichbedeutend . Diese enge Verflechtung von Gemeinschaft und Sittlichkeit hat bis zu den höchsten Stufen menschheitlicher Entwicklung Bestand gehabt. Der Glaube, der sich mit der Sitte schon in seinen frühesten Keimen, zur Zeit des Seelenkultes und der Geisterbeschwörung verband, mag durch die Mittel der Überredung und des sittlichen Druckes an der Einengung des Ichs und seiner Willkür nicht geringen Anteil gehabt haben — das Priestertum hat zu allen Zeiten sich schwer ermeßliche Verdienste um die Leitung der Menschheit erworben —; aber wer will sagen, wie weit diese Kraft gereicht hätte ohne das scharfe Schwert des Staates, der diesen Geboten Achtung verschaffte ? Jedenfalls ist es eine der frommen Selbsttäuschungen des Christentumes, daß alle' Sittigung der Völker von ihm ausgegangen sei: die Recht gewordene Sitte, der Wille der Staat gewordenen Gemeinschaft hat vor und außer dem Christentum ganz ähnliche Entwicklungsstufen
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durchschritten, wie sie unsere Völker zurückgelegt haben. Nicht einmal die Gesellschaftsanschauungen, die dem Ich die wirksamsten Fesseln anzulegen trachteten und die im Sozialismus gipfelten, können ohne Zweifel auf christliche Einwirkungen zurückgeführt werden. Rousseau und Saint-Simon sind nach gewissen Seitenstücken der griechischen Gesellschaftsgeschichte allenfalls auch ohne Christentum zu denken. Gleichviel: die unlösbare, zu keiner Zeit, auf keiner Stufe nachlassende Verkettung von Sittlichkeit und Gemeinschaft erweist die Notwendigkeit einer Einengung deslchtriebes, der ungebändigt die Waffen seiner Lüste und Leidenschaften eben so unablässig gegen den Anderen, gegen den Nächsten, ja gegen sich selbst gewandt und mit der Einung alle Gesittung, also alle äußere und alle innere Kultur der Menschheit, in Frage gestellt haben würde. So wenigstens läßt uns aller Verlauf der Menschheitsgeschichte, wie er sich wirklich abgespielt hat, vermuten. Wo ist hier ein Ausweg zu suchen? Mich dünkt, es müsse nach zwei Seiten geschehen: nicht Ichbehauptung oder -hingäbe kann die Losung sein, sondern Ichtrieb und Hingabetrieb: beide aber in sehr bestimmter Abgrenzung. Von dem Wirkungsbereich, der dem Hingabetrieb eingeräumt werden kann, ohne daß wir Schaden leiden am Heil, nämlich an der Kraft unserer Seele, soll zunächst nicht die Rede sein. Denn unendlich viel dringlicher ist, von der Stärke als von der Weichheit unseres Ichs zu sprechen. Nur die Güte kann recht schenken, und alle Güte ist stark. Und zehnfach wichtiger a b das Geschenk ist der Schenkende : das Ich muß hundertfach in sich bestärkt und
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gekräftigt werden, ehe man es lehrt, wie es sich für den Anderen verkürze. Erst sei es reich, dann, nur dann lehre man es die Kunst der schönen Verschwendung. Aber wenn fürs Erste nur und überall nur von dem Ich und seiner Stärkung gehandelt werden soll, und wenn doch der fessellose Ichtrieb als unzulänglicher, als irrender Führer erkannt ist: wo soll er frei sein und wo soll ihm Maß und Grenze gesetzt werden? Ich meine, dort soll er fessellos walten, bis wohin ihn seine beste Kraft, die schöpferische, zeugende trägt; und dort soll ihm Zaum und Zügel angelegt werden, wo er nur empfangen, nur genießen will. Schon für diese erste Trennung der Wege muß ein Grund angegeben werden, und da es die erste und vielleicht entscheidende ist, ein tiefer, ja, der tiefste Grund. Und so möge es denn der Grund der Gründe sein, der, wie ich meine, all unser Dichten und Trachten als ein untrüglicher Leitstern beherrschen sollte: der Wille der Welt, so weit er sich uns in ihrem Wesen offenbart. Wir sollten nie vergessen, daß wir die Einwohner eines der kleinsten Sterne sind, die vorläufig letzten uud, wie wir uns schmeicheln, höchsten Erzeugnisse eines geringen Bruchstückes der Wirklichkeiten, die selbst unseren blöden, blinden Augen noch erkennbar sind. Wir Zwerge auf dem Trabanten eines Sternes, der vermutlich selbst nur wieder der Trabant eines anderen Sternes ist, da wir doch Tausende von Sternen kennen, tausendmal Tausende ahnen: dürfen wir wirklich wähnen, unserem Sein seien Gesetze gegeben, die abweichen von den allwaltenden ringsum? Ist nicht vielmehr anzunehmen, daß wir das Gebot unseres Daseins, als eines unendlich kleinen 41
Bruchstückes des großen Seins der Welt, dann am ehesten erfüllen, wenn wir als Regeln unseres Handelns die Gesetze über uns stellen, die wir als wirkende Kräfte in dem rastlosen wirbelnden Spiel der Wirklichkeiten um uns zu ahnen glauben? Ein stärkster Zwang aber ist über die Welten um uns, die Körper des Himmels, über unseren Stern selbst und über alle belebten und unbelebten Wesen auf ihm verhängt: der der Bewegung. Alles Sein ist Werden. Alle Wirklichkeit ist Unruhe, ist Wechsel, ist Wachstum. Das höchste Gesetz des Lebens ist das Leben selbst. All unser Forschen zeigt in diesem einen, letzten Punkt eine vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Welt- und dem Menschheitsgeschehen. Wie die Sternkunde zur Erkenntnis vom Entstehen, Sich-Verdichten, Rollen der Gestirne, wie die Erdgeschichtsforschung zu einer Folge von Zuständen, wie die Lebenslehre der Pflanzen- und Tierforscher zu einem Werdegang der niederen und uns doch verschwisterten Bewohnerschaften unserer Erde geführt hat, so lehrt alle höhere Erforschung der Menschheitsgeschichte eine Abfolge von Entwicklungsstufen erkennen, die zu ersteigen jedem Volk, jeder Völkergruppe als ein unabweichliches Gesetz auferlegt ist. Wie aber sollte, was unser nachträgliches Erkennen als das herrschende Gebot der Entwicklungen gefunden hat, die unser Geschlecht unbewußt und von Dumpfheit umfangen durchlebt hat, nicht auch unserem bewußten Tun als Leuchte den Pfad erhellen. Vorwärts den Weg zu gehen, das ist unser unabänderliches Geschick. Und da uns Leben Glück bereitet, Leben aber Bewegung ist, so laßt uns nicht aus
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unserer Not nur, nein, auch aus unserer Seligkeit eine Tugend machen, laßt uns das Vorwärtsschreiten selbst, das uns Wanderer froh macht, zur obersten Regel unseres Tuns erheben. Nur wo Glück und Gesetz eins werden, ist dem Gesetz Befolgung, dem Glück Dauer beschieden. Entwicklung der Menschheit ist zunächst die Losung, die wir als das Geschick und das Gebot unseres Geschlechtes in Wahrheit aus den Sternen lesen können. Und man stoße sich nicht etwa an dem blassen, an sich weder Stoff noch Ziel weisenden Sinn des Wortes und Begriffes: eben in diesen seinen so ganz farblosen, so ganz mechanischen Eigenschaften liegt die Gewähr für seine Sicherheit und Stärke. Eine in sich wert- und gegenstandslose Aussage liegt darin beschlossen, die alles Gewicht ihres Ausdruckes auf den Begriff der Bewegung, der Veränderung, der Neuerung fallen läßt. Diese Beschränkung ist von großer Weisheit, insofern sie nicht die Nebenbedeutung des Fortschrittes im Sinne der Verbesserung anklingen läßt. Und niemand, der mit geschichtlichem Sinn, will sagen mit liebefahigem, liebelustigem Herzen, die Stufen der Menschheit zu überschauen vermag, wird je sich dazu verstehen, die jüngeren Alter der Menschheit, und sei es ihre lallende Kindheit, zu schmähen oder nur herabzusetzen, weil sie der Höhe späterer Zeiten ihres Lebens nicht gleichkämen. Es wäre ebenso klug, den zarten, über das Wiegenbett des Eppichs lugenden Sproß zu schelten, weil er der Knospe nicht ebenbürtig sei, oder die Blüte, weil sie nicht so süß sei wie die reife Frucht. Es gehört zu den köstlichsten Erfahrungen des Geschichtsforschers, daß er selbst in der Morgendämmerung der Menschheit, da, wo aus der Ferne ge-
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sehen noch alles grund- und formlos und fast ungestalt erscheint, immer wieder neue Schönheit entdeckt, sobald er nur nah genug herzudringt. Und wir werden unseren Dünkel zu der Erkenntnis überreden müssen, daß noch jedes Altern der Menschheit, jeder Übergang von einer ihrer Lebensstufen zur nächsthöheren wohl mit einem großen Gewinn, immer aber auch mit einem kaum geringeren Verlust an Kräften oder an reichen, üppigen oder an frühen, herben Schönheiten verbunden ist, so wie der Jüngling nicht die schmale Anmut des Knaben in seine reiche Fülle, der Greis nicht die Stärke des Mannes in seine Weisheit hinüberretten kann. Wenn der bisher durchlaufene Weg des Gesamtgeschehens der Menschheitsgeschichte im Bilde einer Spirale aufgefaßt werden kann 1 ), so ist doch die immer weiterschreitende Bewegung in ihr das Grundgeschehen. Wahrlich, es fehlt ihr nicht an der Pendelbewegung des Hin- und Rückschlages: alle Renaissancen, alle Romantiken, alle Reaktionen sind bestrebt, sie auf so mäandrisch gewundene Pfade, auf Um- und oft auf Rückwege zu führen. Aber so wenig man dies bunte Spiel üppig die eigene Stärke vergeudender Wanderkraft missen möchte, so gewiß stellt auch in diesen Wiederholungen der Geschichte eben nicht die Menge des Nachgeschaffenen, Nachgeahmten, sondern der kleine Bruchteil von Neuschöpfung den besten Wert dar; oder, um im Gleichnis zu bleiben, an diesen Zirkellinien sind die Strecken die wichtigsten, die weiter hinausführen über den bisher erreichten äußersten Punkt. Und der Richtungswech') Vgl. Vom geschichtlichen Werden I I I : Der Weg dev Menschheit (1928) 20ff.
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sei zwischen überwiegendem Persönlichkeits- und überwiegendem Gemeinschaftsdrang, den alle Gesellschafts-, alle Geistesgeschichte der Völker als gröbstes Bewegungsmerkmal aufweist, ist wohl formbestimmend für die Bahn des Geschichtsverlaufes; aber das eigentliche Geschehen dieses Verlaufes ist doch das Vorwärtsschreiten auf der Bahn an sich. Vorwärts gehen, nicht sich wiederholen, nicht Abnoch Umwege beschreiben: das ist die Weisung, die wir aus diesem dumpfen Hall des Menschheitsgeschehens sehr wohl und deutlich zu uns sprechen hören. Und viele große und kleine Fragen unserer Gegenwart können nach ihr entschieden werden. Daß die Germanen der neueuropäischen Geschichte in Staat und Gesellschaft, Recht und Wirtschaft denselben Weg und in denselben Wegabschnitten von Urzeit, und Altertum, Mittelalter und Neuzeit zu gehen hatten, den zweitausend Jahre vor ihnen die Griechen und fünfzehnhundert Jahre vor ihnen die Römer geschritten waren, war die gesetzliche Folge der Lebensalter, von der abzuweichen keinem Volk und keiner Völkergruppe verstattet ist. Aber der Geist der Weltgeschichte meinte es nicht gut mit Kraft und Reichtum der Menschheitsentwicklung, da er zugleich Bilden und Glauben und Forschen der Germanen in ein Lehrj och der Schülerhaftigkeit und Abhängigkeit von den Griechen zwang, das sie noch bis auf diesen Tag nicht abzuschütteln vermocht haben. Zwar die allgemeine und eigenwüchsige Ähnlichkeit der Stufenfolge wäre auch hier natürlich gewesen, nicht aber die Nachahmung des einzelnen Geistesgutes. Denn so wurde nicht das Germanentum allein, nein, die Menschheit selber um die wuchernde Fülle eines
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neuen, eigenen Reichtums gebracht. Und wer heute gegen den Einfluß der Antike auf unser Denken, unser Bilden streitet, wer h e u t e zur endlichen A u f k ü n d i gung dieser Oberherrschaft a u f r u f t , den treibt dazu nicht die leiseste Feindschaft oder auch n u r Unterschätzung der m a r m o r n e n Schönheit, in der hellenische Kunst vor unseren Augen steht und stehen soll bis an das Ende der Tage, nicht auch die Enge volkstümlich-deutscher oder germanischer Selbstverliebtheit, nein, n u r der Eifer u m den besten Reichtum der Menschheit, u m die Schöpferkraft ihres Wachstums, u m die stets vorwärts, nie hinter sich schauende Leidenschaft ihres Strebens. Und aus demselben G r u n d e ist alles Haften am Erbe, am Überkommenen u n d an Übereinkünften zu verdammen, wenn Neues, Jugendstarkes nachdrängt. Selbst wer das Neue f ü r falsch hält, sollte ihm die Bahn freigeben, weil es n e u ist, weil damit ein Vorstoß ins freie L u f t m e e r der Gedanken und der noch nie gelebten Dinge getan wird und weil ein Versuch, wenn er im Kern verfehlt ist, mißglücken und der alte Zustand u m so fester wieder erstehen wird. Niemals möge m a n auch die Schönheit oder Trefflichkeit des Überkommenen als einen Grund gegen die Neuerung anf ü h r e n : denn eben dies ist der höchste Stolz der Geschichte des Menschengeschlechtes, daß alle seine Alter reich u n d stark waren. Darf ü b e r h a u p t unter den Völkern eine Stufenleiter der Werte aufgestellt werden, so kann sie sich n u r nach den Entwicklungsgeschwindigkeiten bemessen. Der Vorrang der Kaukasier unter den Rassen, der Hellenen, Römer, Germanen unter den Kaukasiern b e r u h t auf der Tatsache, daß sie in zwei Jahrtausenden Weg-
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längen der Entwicklung zurückgelegt haben, die heute die anderen Rassen teils noch gar nicht, teils nur zur Hälfte durchlaufen haben. Wie sollte nicht von der Menschheit gelten, was den Rassen und Völkergrappen Wert verleiht? Und noch die Geschichte der einzelnen Völker vermag in diesem Stück der Menschheit folgenschwere Lehren zu geben. Die Geschichte eines Volkes — ach, es ist das unsere — ist voll von versäumten Gelegenheiten und von schweren Nachwirkungen dieser Versäumnisse. Daß unser Königtum im frühen Mittelalter dem Traum der Cäsarenherrschaft jenseits der Alpen nachjagte, hat es die Befestigung und Hinausrückung unserer Grenzen nach Norden und nach Osten versäumen lassen und raubte unserer üppig schwellenden Volkszahl den notwendigen Spielraum weiter Lande, einer größeren Bodenfläche. Daß unser Königtum im späten Mittelalter versäumte, die Einheit des Staates herzustellen, hat uns im neunzehnten Jahrhundert genötigt, eine Aufgabe zu lösen, die um 1500 erledigt sein mußte, die uns von zeitgemäßeren Arbeiten abgehalten und die unser Staatsleben in vielen Stücken krebsgängig gemacht hat, von den vielen kleinen Unzweckmäßigkeiten ganz zu schweigen, die unsere Kleinstaaterei nach sich zog. Daß unser Königtum zu Beginn der Neueren Zeit versäumte, die streitbare Meermacht unserer Städte sich einzuverleiben und mit ihr über See zu gehen, hat uns den Anteil an der Besiedlung der Welt gekostet, über den Engländer, Nordamerikaner, Russen, Franzosen heute als über ein Erbe verfügen. All diese Vorwürfe gehören nicht der wohlfeilen Art geschichtlicher Urteile an, die von irgend einer Gegenwart her an frühere Zeitalter Forderungen stellt, die von ihnen ihrer Stufe 47
fremde Leistungen heischen, sondern sie wenden nur den Maßstab anderer Volksentwicklungen an, die in jedem Fall denselben Ruf des Jahrhunderts besser zu hören und entschlossener auszuführen vermochten. All diese Säumnisse sind in gewissem Sinn unwiederbringlich. Wie aber sollte, was sich am einzelnen Volk rächt, nicht auch für die Menschheit sichere Geltung haben? Gegen all dieses aber möchte man einwenden, daß Entwicklung und Vorwärtsbewegung und Bahnenlauf Sache der Gattung, der Menschheit selbst sei, daß also der Einzelne durch Hingabe an sie, durch Opfer und Gemeinschaftssinn diesem Ziel am ehesten diene, daß hier nicht dem Ich trieb, sondern seinem Gegenpart, dem Hingabetrieb das Reich seiner Wirkung gewiesen sei. Und doch ist genau das Gegenteil der Fall. Alle Hingabe der Einzelnen vermag bessernd, heilend und im besten Fall dienend die großen Zwecke der Menschheit zu fördern; aber dieses Maß und diese Schranke ist ihr unweigerlich gesetzt: sie ist nicht schöpferisch. Nie ist die Gattung der Schaffende, sondern stets der Einzelne. In diesem Sachverhalt liegt die Lösung für das Rätsel des Vorranges der Persönlichkeit in allen irdischen Angelegenheiten. Das neunzehnte Jahrhundert war voll von Verehrung der Masse und Unterschätzung des Einzelmenschen; aber daß der Einzelne der Schöpfer ist — und sei es auch in einem tausendfach bedingten und bestimmten Sinn — , hat es niemals fortbewiesen. Oft ist gewiß nur die Erhebung des Einzelnen um eines Zolles Maß über die Durchschnittshöhe des Erreichten nötig, um «inen schöpferischen Gedanken hervor48
zubringen; aber die Überwindung dieses letzten Zolles ist das Entscheidende, und sie ist die Leistung des irgendwie überragenden Einzelnen. Die Bewegungskraft und Bewegungslust der Menschheit, die nichts Anderes ist als die Summe der Schaffensdränge der Einzelnen, hat notwendig ihr Spiegel-, ihr Ebenbild in der Seele des Starken. Doch kann sie nicht getrennt gedacht werden von der Gesamtheit der Triebkräfte seines Ichs. Denn diese ist eine unteilbare Einheit, insofern sie nur einen Ursprung, eine Kraftquelle hat, mag sie sich auch in noch so vielen Formen äußern. Diese Kraftquelle, aus der alle Tätigkeiten unseres Ichs gespeist werden, wie eine Anzahl von ganz verschiedenen Maschinen aus einem elektrischen Motor mit Antrieb versehen werden können, hat als leibliche Grundlage nur die Surnme unserer Nerven, der Lebenskräfte; seelisch mag mein sie Leidenschaft nennen, was in der Sprache der Mechanik ausgedrückt wiederum nichts anderes als Bewegtheitsund Bewegungsfähigkeit, Geneigtheit zum Bewegen und zum Bewegtwerden bedeutet. Denn in schönem Rätsel braucht unsere Sprache das Wort Leidenschaft ganz doppeldeutig; da es doch vom Erleiden fremder, ja schmerzhafter Einwirkung seinen Ursprung herleitet, bezeichnen wir mit ihm gleichwohl das stärkste Handeln: die leidenschaftlichste Tat ist die entschlossenste, die jäheste Tat. Aber vielleicht ist mit diesem Doppelsinn die Eigentümlichkeit aller starken Seelen im Tiefsten bezeichnet: ihre Kraft besteht ebenso in der Eindrucks- wie in der Handlungsfähigkeit. So lebe ich des Glaubens, den ich freilich kaum zu beweisen vermag, daß alles Fühlen, alles Bilden, alles Forschen, Ahnen, Tun des Ichs, da es aus 4 Br%ynf
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dieser einen Quelle gespeist wird, nur eine gewisse Kräftemenge darstellt, die nicht vermindert, doch auch nicht erhöht werden kann. Wohl mögen ein Schaffen und ein Lieben, die nebeneinander von der Seele eines Menschen Besitz ergriffen haben, einander Abbruch tun. Das Auflohen einer beginnenden Liebe nimmt allen anderen Absichten und Vorhaben unserer Wesenheit die gleiche Menge von Wärmeeinheiten, deren sie selber bedarf. Die Kräfte unserer Seele verhalten sich wie die Farbenwerte eines Bildes: jede ist von jeder anderen und von allen zusammen abhängig. Wie noch das blasse Lila des Lilienstengels, den der Engel auf Simone di Martinos und Lippo Memmis Verkündigung hält, jenes Lila, das von so traumzarter Schönheit ist, daß es niemand vergißt, der es einmal sah, wie auch diese königliche Farbe noch bestimmt und bedingt ist von jedem anderen Farbenwert des goldstarrenden Gemäldes, so ist selbst unser köstlichstes, unser schöpferischstes Tun, unser leidensseligstes Fühlen abhängig von allen, auch den kleinsten Ausstrahlungen unserer Seele, unseres Verstandes, unseres Vorstellens, unseres Wollens. Darum auch irren die Toren unter den Männern, die sich so dünkelhaft über die Frauen erheben: das Lieben einer Frau kann mehr Krafteinheiten der Seele verbrauchen ab die fruchtbarste Bildner- oder Forscher- oder Tatkraft eines Mannes, nur daß noch keines Denkers Scharfsinn die Voltamperemaße dieser Seelenelektrizität festsetzen konnte. So schöpfen freilich Ich- und Hingabetrieb unserer Seele in gleichem Maß aus diesem Kräftequell. Alle Gestalt, die schöpferisches Leisten der Menschen annehmen mag, entspricht dieser Wahrnehmung. Man
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wird, schwerlich je dem Genie andere Eigentümlichkeiten beimessen können als die größere Schnelligkeit und die größere Kraft seiner Eindrücke, seiner Entschlüsse. Das Genie unterscheidet sich sonach nur dem Grade, nicht dem Wesen nach von den anderen, geringeren Sterblichen, und dieser Grad ist wiederum nur ein gleichsam mechanischer der Geschwindigkeit und der Stärke seiner Wollensbetätigungen. Und noch unter den Völkern sind die Genies die leidenschaftlichsten, bewegtesten. Aller Vorrang der Germanen vor den Griechen beruht in der größeren Leidenschaft ihrer Seele: die Bewegtheit des Straßburger Münsters ist im Körper- und im Seelensinn des Wortes höher, reicher als die des Parthenon, Michelangelo ist bewegter als Skopas, Shakespeare bewegter als Euripides. Die Formen, in denen die leidenschaftlich bewegte Schaffenskraft unseres Ichtriebes Ausdruck sucht, sind sehr mannigfach. Von den einfachsten, den natürlichleiblichen, wird man ausgehen müssen, weil sie nicht einen Teil nur, nein, auch Sinnbild und Gleichnis jedes anderen Schaffens darstellen. Unser Leib ist am fröhlichsten, wenn er in der gelungenen Leistung Bürgschaft und Gewähr eines Kräftezuwachses spürt; so ist Kraftsteigerung, die nur aus Kraftanspannung hervorgeht, unserem Verstand, unserem Willen, unserer Einbildungskraft die höchste Quelle schöpferischer Ichlust. Zuerst und vor allem sollen wir Hüter und Mehrer unserer Leibeskraft sein. Für sie zu sorgen, heißen uns zwei Betätigungsformen unseres Ichtriebes, die noch ursprünglicher sind als die Schaffenslust: Selbsterhaltung und Selbstliebe. Und in diesem Stück ist alle Natur rings um uns fähig, uns Lehrerin und 51
Meisterin zu sein: das starke, gesunde Tier, die strotzende, mit tausend Säften in die Sprossen schießende Pflanze, ja, noch der ruhende Fels droben am Bergeshang. Denn so töricht hier alle die Kleinkinderfabeln umdichtender Vermenschlichung sind, mit denen wir die Welt in unserer harmlosen Selbstverliebtheit wie mit einem Netz von schillernden, aber auch lügenhaften Schleiern umsponnen haben — vom vermenschlichten Stein bis zum vermenschlichten All aufwärts ist die Zahl unserer großen und kleinen Anthropomorphismen Legion —, so gewiß ist anzunehmen, daß unserem Lebensgefühl tausend andere und anders bemessene Lebensgefühle der anderen Wesen entsprechen. Unser Lebensgefühl ist bewußter als das des Tieres; aber ob es deshalb stärker ist, scheint mehr als zweifelhaft. Weit eher ist anzunehmen, daß hier, wie in der Entwicklung der Menschheit so oft, jede Stufe der nächst niederen gegenüber zwar einen Zuwachs an Bewußtheit, abeT auch einen Verlust an Umfang der Lebensbetätigung aufweist. Vielleicht ist das Gefühl der eigenen Schwere, der eigenen Festigkeit, der eigenen Wucht im Felsen tausendmal dumpfer, aber auch tausendmal stärker als unser Lebensgefühl. Warum soll imWirbel der Gase, im Kreisen der Gestirne nicht noch ein letzter Nachhall oder vielmehr Vorhall derselben beseligenden Lebenskraft, Bewegungsfreude vermutet werden, die den besten Besitz unseres Leibes ausmacht? Wir wissen von diesen Dingen heute noch allzu wenig; aber die tausend Wege, die in der Urgeschichte der Menschheit vom Menschen ¿um Tiere führen, werden auch hier unser Erkennen weiter locken. Das Tier ist den Naturvölkern noch heute, wie aller Menschheitskindheit, ein ebenbürtiger Nach-
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bar und Freund, dem man Sprache, Staat, Familie zutraut wie sich selber, den man liebt, im Tanze nachahmt, in der Dichtung, im Ornament schildert und im Glauben verehrt und schließlich zum Gott macht. Die Kultur der hohen Stufen hat mit manchem anderen Verlust auch den dieser nahen Beziehung zu dem Tier gebracht, die immer verstehende Liebe war. Die christliche Sittenlehre hat das gute Gewissen wohl erfüllter Leibespflicht in den niedersten Rang verwiesen, und wo sie sich um das leibliche Verhalten nachdrücklich kümmert, wie in Sachen des Geschlechtslebens, verfährt sie wie ein ganz schlechter Erzieher: sie verhängt siebzehn Verbote, ohne auch nur ein Gebot auszusprechen, ein Wort der Sorge und Pflege. In Wahrheit würden sehr viele von den tausend Vorschriften, mit denen wir etwa Kinder erziehen, unnütz gemacht, würde die Pflicht des Gesundbleibens als eine der höchsten eingeschärft. Wir dienen in allen Dingen des Lebens uns und dem Nächsten am besten, wenn wir gesund sind, und unzählige Formen schwerer und leichter Verletzung des Anderen sind nur auf die Reizbarkeit, die Unbeherrschtheiten, die Fehlgriffe des nicht ganz gesunden oder gar kranken Ichs zurückzuführen. Es muß noch eine Schande werden, krank zu sein. Davor sollen uns die Götter bewahren, daß wir den Rausch verbannen: aber wir wollen ihn aus edleren, klareren Quellen schöpfen als aus jener, die wir mit den Tölpeln und den Lüstlingen des niedersten Grades teilen. Wer seine Seele trunken machen will, wird nicht zu einem Genuß greifen, der nicht minder mechanisch, plump und äußerlich auf uns wirkt wie eine
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Morphiumeinspritzung. Bezahlten wir den Rausch nur mit einem Leibesschaden, so wären wir jämmerliche Rechner und Geizhälse des Lebens, wollten wir dies nicht in Kauf geben. Nun aber steht es so, daß wir uns alle höheren Trunkenheiten entwerten durch die Gewöhnung an diese eine niederste; denn jeder gemeine Genuß schwächt die Empfänglichkeit für den höheren. Zur Dreingabe der kleinsten, alltäglichen Alkoholgenüsse endlich sollte uns der hohe Gewinn überreden, den das bessere und freudigere Gleichmaß unserer Stimmung uns gewährt. Doch es wird ein halbes Jahrhundert dauern, bis diese Einsicht allgemein wird, ein weiteres halbes Jahrhundert, bis wir den Schlaf unserer Nächte so heilig halten, wie unser Leib fordert und wie der Lauf der Sonne uns unmißverständlich predigt, bis wir so viele Stunden vor wie nach Mitternacht ruhen. Ein ganzes Jahrhundert aber wird nötig sein, die Menschheit von dem Unsinn der großen Städte zu befreien, an dem heute fast alle feinsten und gröbsten Schädigungen des Leibes ihre beste Stütze finden. Immer wieder sind es falsche, trügerische Formen der Kraftsteigerung, die wir meiden müssen. Das Funkeln des Weines, das Leuchten nächtlicher Feste, der Schimmer fahler Lampen in den großen Städten: drei Irrsterne, deren Glanz doch erlischt, sobald das große Licht des Tages, die Sonne steter starker Freudefähigkeit am Himmel unseres Lebens aufsteigt. Erst wenn all diese Störung fortgeschafft ist, haben unsere seelischen, unsere geistigen Kräfte völlig freie Bahn, in der eigenen Steigerung ihrer selbst recht zu genießen. Denn hat einen hohen Anteil an aller Wollust des Schaffens der Augenblick der Leistung selbst —
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das Wohlgefühl an der Loslösung der neuen Frucht —, so ist doch die größere Genugtuung nicht an die geschehene Tat, sondern an das Bewußtsein gewonnener Kraft gebunden. Der Starke liebt nicht, rückwärts zu sehen: er fürchtet fast die Zufriedenheit mit seinem Werk als die Quelle träger Sättigung. Er sehnt sich nach der neuen Tat, und so darf er sich öfter an der Mehrung der Kraft als an der Mehrung der Leistung freuen; denn jene verbürgt eine Zukunft, diese preist nur eine Vergangenheit. Für das gelebte, besser gesagt: das zu lebende Leben aber geht aus dem allen eine Pflicht des Ichs gegen sich selbst und ein Recht gegen die Anderen hervor, die beide gleich weite Wirkungen in sich schließen. Der Steigerung der Leibeskraft ist eine begrenzte Anzahl von Wegen gewiesen; der Entfaltung der geistigen Fähigkeiten stehen unermeßlich viele Bahnen offen. Diese Möglichkeit fordert ihre äußerste Ausbeutung, und diese Forderung muß zu einem Gebot werden, aus dem jede denkbare Folgerung zu ziehen ist. In der grenzenlosen Unterschiedenheit der Einzelnen ist die stets sprudelnde Quelle jedes Schaffens zu suchen, und so muß dem Einzelnen die Selbständigkeit, die Unterscheidbarkeit seiner Leistung zum Recht gegeben, zum Gesetz für ihn selbst gemacht werden. Die Ichmäßigkeit eines schöpferischen Tuns muß zum letzten Maßstab seiner Wertung gemacht werden. Mit zwei starken Fäusten faßt die Umwelt dem Ich nach dem Nacken, um ihn unters Joch zu beugen: Überlieferung ist die eine, Gemeinschaft die andere geheißen. Sie sind immer am Werk, und tausend Opfer der Persönlichkeit sind ihnen schon gefallen. Aber der Stärkste vermag auch sie zu überwinden, ja,
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sie sich untertan zu machen: die Gemeinschaft, zu deren H a u p t er sich aufschwingt, wird zu einer Gefolgschaft, und noch die Geschlechter späterer Zeiten macht er sich untertänig, indem er nach ihnen die Fangschlinge des Gebotes der Nachahmung wirft. Jede Überlieferung ist, von uns, den Unterworfenen, aus gesehen, eine Unterbindung von I c h k r a f t ; aber aus jeder von ihnen lugt doch auch der große Wille dessen, der sie einst schuf. Es gibt heute keinen Gesichtswinkel, u n t e r d e m wir uns alles bisherige Menschheitsgeschehen anders als durch Vereinigung und Wiederholung von Einzelleistungen geschaffen vorstellen können. Beide Formen, Gemeinschaft wie Überlieferung, sind auf eine Wurzel, den Gedanken der Gleichförmigkeit, zurückzuführen, und er bedeutet Kräftehäufung, Kräfteersparnis. Unsere Glieder wie unsere Gedanken laufen gewohnte Bahnen schneller; unsere Blicke wie unsere Gedanken sind einer Aufgabe, die n u r von Vielen gelöst werden kann, eher nutzbar zu machen, wenn sie ähnlich wie sie geschult sind. Aber was dieser Einigung Nutzen bringt, schädigt in einem Stück das Ich: es verliert ebensoviel von allen den Tugenden der Selbständigkeit, wie es an denen der Unterordnung gewinnt. Der Führenden aber hat auch die von tausendfachen Einigungsbanden wohl eingeschnürte Menschheit nie entraten können, noch ihrer Führereigenschaften, die auf der Eigenwüchsigkeit des Ichs beruhen. Je ichmäßiger, je eigener, je schöpferischer ihr Leisten ist, desto höher wird der Wert der einzelnen Form e n sein, in denen sich die Schaffenslust des Ichs betätigt. Nur eine von ihnen, die äußerste, natürlichste,
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ist diesem Wettbewerb ganz oder fast ganz entrückt: wie der Bau am eigenen Leib, so ist seine Fortpflanzung an eine verhältnismäßig geringe Zahl von schöpferischen Möglichkeiten gebunden. Und doch sind Wunder und Wonnen groß, die aus diesem unmittelbarsten Schaffen unseres Ichs fließen. Es gibt zu denken, daß Natur auf die Erhaltung der Art einen doppelten Preis gesetzt hat: den höchsten der Leibesgenüsse, die sie zu vergeben hat, und die Freude an den eigenen Nachkommen, die sie in Sonderheit dem Weibe in so hoher Fülle in die Seele geschüttet hat. Jn beiden wird man gleichwohl hinter der Hülle leiblichen, seelischen Genießens einen Kern wirklich schaffender Lust entdecken. Daß all unsere Vorstellungen und Begriffe von jeder Form werkmäßiger Leistung Sinnbild und Namen vom leiblichem Zeugen leihen, ist kein Zufall; und jede gesunde Geschlechtslust muß etwas von den stillen, sanften Freuden haben, die wir noch bei der Pflanze vermuten, die ihren Samen in die Winde streut, und wird denen des Baumes gleichen müssen, von dem in reichen Herbsten Frucht auf Frucht sich löst. Und vollends wunderwürdig ist die Unermeßlichkeit der Wirkung, die sich an jede Fortpflanzung des Einzelnen außer sich, über sich hinaus knüpft. Tausendfach haben die Menschen ihre Unsterblichkeit in einem Jenseits, .zuerst in Wahrheit über dem nächsten Strom, in einer Höhle unter dem festen Gewölbe des Erdbodens oder über der leichten Decke der Wolken gesucht. Aber wie selten hat man der anderen Unsterblichkeit gedacht, für die das Leben an jedem jungen Tage vor unseren Augen neues Zeugnis ablegt. Unser Leib ist nicht ganz sterblich: ein Funke des Le-
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bens ist von den frühesten der Menschen her von Geschlecht zu Geschlecht gewandert, ein Teil von unserem Körpersein ist niemals, niemals unter die Erde gesunken, ist nie in eine dunkle Gruft gebettet worden, ist nie zu Staub und Moder zerfallen. Wir schauen mit ehrfürchtigem Neid zu den tausendjährigen Eichen empor, aber unser Geschlecht lebt länger als sie. Und jedem von uns gibt dies höchste Wunder, das das Leben in uns wirkt, Macht, einem Teil seines Lebens, Leibes und der Seele, Unsterblichkeit zu leihen, bis sein Blut erlischt, vielleicht bis an das Ende der Tage. Gar nicht wachstumhaft, pflanzenmäßig, unabsichtlich genug kann man sich das Entstehen, die Entfaltung der Einzelformen menschlicher Tätigkeit vorstellen. Noch der Mensch der höheren Urzeitstufe, der bestentwickelten und schon sehr kulturreichen Naturvölker unterscheidet sich vom Menschen unserer Zeiten und Völker am meisten und an sich durchaus nicht unvorteilhaft durch die runde Geschlossenheit »eines Wesens: er ist Jäger, Bauer, Handwerker, Kaufmann, Künstler, Staatsmann, fast möchte man sagen: Edelmann, ja, Fürst zugleich, und die Anfänge der redenden Künste und der Wissenschaft, des Tanzes, des Schauspiels, des Kultes sind vollends in Eins geschmolzen. Und auf den langen Wegstrecken, die die Menschheit zurückzulegen hatte, bis sie an diesem Punkt anlangte, muß unsäglich Vieles, wie in der Natur, durch Zufall gefunden, dann erst in tausend zuerst ganz spielerischen Versuchen erprobt, Vieles verworfen und Einiges als das Tauglichste festgehalten sein. Im stärksten Gegensatz dazu ist unseren Zeiten der Stempel einer mühseligen Arbeitsamkeit aufgeprägt; so verliert das
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Schaffen den feinsten Blütenstaub seiner Blume, wie jedes gütige Handeln, aus dem man eine Pflicht macht. Auch in diesem Arbeitseifer ist das Feuer des Glückes, das alles Schaffen entzündet, nicht erloschen, aber es brennt unstet zuckend oder glimmt schwelend unter häßlicher Asche. Immer noch aber ist eine Form des Schaffens in Blüte, die dieser Unrast fast gänzlich entzogen ist und die der natürlichen Zeugung am nächsten steht, die mehr dem fruchtbaren Schoß der Erde Geburtshelferin ist, als daß sie selbst ein Neues schafft. Und doch ist dem Mann, der die Scholle bestellt, der köstliche Name des Bauenden gegeben, gleich als baue er selbst die nährenden Halme des Ackers. Und wie sich die stolzeste Form der Forschung die bauende nennt, so ist der Beruf des Bauers geheißen, als sei er der Schaffende selbst. Freilich: der Ichmäßigkeit seines Schaffens sind enge Grenzen gesteckt durch die Umwehrung seines Feldes; aber um so mehr Kraft kann dieser Stolzeste und Freieste der Menschen sich selbst zuwenden. Die Tage werden kommen, an denen der Bauer nicht allein der Gebieter des wogenden Feldes, nein, auch seines Ichs sein wird. Wollte man die Lust dessen, der das Land bestellt, Erwerbstrieb nennen, so würde der schnöde Nebenklang dieses Wortes jedem ins Ohr fallen. Die Freude an der Hervorbringung ist durchaus nicht mit der Freude an dem Erlös des Hervorgebrachten zu verwechseln. Trotzdem ist sicher der Drang nach Landbesitz eine der frühesten und stärksten Quellen des Erwerbstriebes. Und diesem selbst haften so viele Zusätze ganz anders gearteter Wünsche und Beweggründe an, daß man sich hüten muß, ihn in der etwas rohen Nackt-
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heit vorausteilen, in der i h n die Volkswirtschaftslehre so häufig schildert. D e r Erwerbstrieb sieht sehr selten sein nächstes Ziel als das letzte a n : e r liebt nicht allein den E r w e r b , sondern m e h r noch die D i n g e , zu denen er den W e g e b n e n soll, und zu diesen können sehr zarte G ü t e r g e h ö r e n ; er k a n n auch sehr wohl aus der Freude a n der H e r v o r b r i n g u n g selbst entspringen. I m m e r h i n k a n n sein Bezirk d e m Bereich der Schaffenslust d u r c h a u s nicht ganz einverleibt werden. Sobald er nicht m e h r m i t der Freude a m Geschaffenen zus a m m e n f a l l t , h a t er f ü r sie n u r noch die Bedeutung eines Maßstabes der eigenen Leistung. Diese Leistung läuft G e f a h r , e n t w e r t e t zu werden, wo sie sich nicht m e h r selbst Zweck ist, sondern Mittel u n d Werkzeug z u m a n sich inhaltlosen E r w e r b zu werden beginnt. Das L a n d g u t k a n n als Wirtschaftsform eine äußerste Steigerung des Bodenbaues darstellen, so lange es noch eine Betriebseinheit ist, die von einer leitenden H a n d u m f a ß t w e r d e n k a n n . Aber die L a n d h e r r s c h a f t , wie sie die G r u n d g e b i e t e r des f r ü h e n u n d späten Mittelalters zuerst hergestellt haben, wäre übel g e n u g gewesen, h ä t t e sie i h r e n Sinn n u r aus Erwerbs- u n d nicht v i e l m e h r aus M a c h t f r e u d e gezogen. Jeder L a t i f u n d i e n besitz ist mörderisch, f ü r die Schaffenslust der von ihm E n t e i g n e t e n wie f ü r die der I n h a b e r selbst. Die reine Bodenrente vollends ist ein Gegenbild alles persönlichen Schaffens: d e n n i n d e m sie der Sache selbst das Zeugen ü b e r l ä ß t oder der Arbeit Anderer, wird sie ein ä u ß e r s t f r a g w ü r d i g e s Ersatzmittel des Schaffens, ja, v e r d r ä n g t es und tötet es selbst bei i h r e m Nutznießer. I m selben Sinn steigt die Stufenleiter gewerblichen H e r Vorbringens. Sie wurzelt da a m Tiefsten i m Glück
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des Schaffenden, wo Kopf, Hand und Werk noch am engsten beieinander wohnen. Der Unterschied von Kopf- und Hand-Werken, den freilich jede steigende Arbeitsteilung entstehen und immer weiter wachsen läßt, kann eine Zeit lang dem Schaffen-Wollen, Schaffen-Können der Beteiligten förderlich sein, insofern er die Tragweite ihrer Neuerungen, die Tiefe ihres Nachdenkens ebenmäßig fördert. Aber zugleich werden all die Minder- und Mittelbefähigten immer tiefer in den dumpfen Druck unselbständiger Hilfsarbeit gedrängt, immer zahlreicherer Möglichkeiten nicht nur, nein, auch Eigenschaften schöpferischen Tuns beraubt. Die Maschine hat die gewerbliche Hervorbringung im höchsten Maß beschleunigt und die Zahl ihrer Erzeugnisse auf das Vielfache vermehrt; aber sie hat sie auch entgeistigt. Ein ganzes Häuserviertel des neuen Berlin weist nicht so viele Zeugnisse gewerblicher Schöpferkraft auf wie ein kleines Häuschen des alten Nürnberg. Schon der Großbetrieb mordet bei den tausend Untergeordneten sehr viel mehr eigenes Schaffen, als er bei dem einen Leiter neu ins Leben rufen kann. Werden nun auch die Großbetriebe noch zusammengefaßt zu Riesenunternehmungen, die ganze Erdteile mit ihrer Hervorbringung zu versorgen streben, so werden auch noch die bis dahin Führenden um ihre Selbständigkeit gebracht; die nunmehr höchsten Leiter aber werden dem Werk selbst so weit entfremdet, daß die letzte Auslese der Bevorzugten noch Schaden nehmen muß an dem Besten ihrer Leistung: dem Schöpferischen. Eine völlige Aufhebung der Schaffenslust wird vollends auch in diesen Bezirken herbeigeführt, wenn ihr Ertrag einem Zinsnehmer zufließt, der auch nicht die
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leiseste Berührung mehr mit der Leistung selbst hat. Daß all die Entwicklungen, die diese Minderungen der Schaffenskraft und Schaffenslust in tausend Formen bewirkt haben, notwendig waren, daß sie nicht an einem Tage, vielleicht nicht einmal in einem Jahrhundert umgebogen werden können, daß dies am wenigsten in den Formen kleinlicher Vermittelalterlichung geschehen kann, ist offenbar. Aber ebenso gewiß darf auch der Imperialismus des Großgewerbes nicht endgültig durch den Massen- und Genossenschaftsbetrieb des Sozialismus, mit dem er trotz aller Gegensätzlichkeit die auffälligste Verwandtschaft hat, abgelöst werden. Warum sollte nicht gelingen, die Maschine, nachdem sie so viel Eigenheit und Persönlichkeit des Gewerbetreibenden zerstört hat, wieder in den Dienst des Einzelnen zu stellen, die tausendfach gewaltsam zusammengefaßte Hervorbringung wieder tausendfach zu zerspalten und die Massenerzeugung auf die Formen gewerblicher Erzeugung zu beschränken, wo sie am unentbehrlichsten und zugleich am unschädlichsten ist? Und die Technik, die uns so unerhört viele Persönlichkeitswerte zerstört hat, macht zuletzt gar diesen Schaden wieder wett: wenn uns der durch eigene Kraft bewegte Wagen von dem Massenzwang der Eisenbahnen löst, wenn die Verteilung der elektrischen Kraft auch dem Kleinbetrieb Segen bringt, so sind das Wandlungen in dieser Richtung. Es ist unnötig zu sagen, daß der Handel gleiche Bahnen verfolgt hat, daß in Sonderheit der Geldhandel außerordentliche Verfeinerungen für das Schaffen der Wenigen, Führenden, aber noch mehr Ertötung eigener Leistung durch die Massenvereinigung von Hun6(2
derten zu Groß Unternehmungen herbeigeführt hat. Hiergegen die Rückkehr zu dem alten, trägen und ungeschulten Kleinbetrieb des Krämers anzuraten, wäre ebenso falsch wie fruchtlos. Aber warum könnte nicht der Einzelne, nachdem er durch die strenge Schulung des Großbetriebes gegangen ist, nach Jahrzehnten wieder so viel Selbstzucht erlangt haben, um die Selbständigkeit zu verdienen, die man ihm zuvor vielleicht meist mit Recht genommen hat? Alle Tätigkeit der Menschen, die Werte des äußeren Lebens schafft, ist voll von Formen des Übergreifens der Schaffenslust: die starken Einzelnen bemächtigen sich der Kraft des schwachen Einzelnen und machen sie sich Untertan. Unter diese Formel läßt sich fast aller bisherige Verlauf der Geschichte des wirtschaftlichen Hervorbringens der Menschheit bringen. Und es wäre müßig, darüber zu klagen: ohne Zweifel hat auf langen Strecken dieses Weges die Schaffenslust der Starken neue Erfolge und, was mehr ist, neue Kräfte errungen. Dennoch läßt sich aus den Schädigungen, die dadurch allen Schwachen und zuletzt selbst den Starken erwachsen, hier zuerst das Gebot ableiten, das allem Schaffen gelten soll. Der Schaffende soll in jedem Stück seinem Schaffen dienen, aber er soll das Schaffen der Anderen ehren, es nicht stören oder gar zerstören. Der tiefste, allgemeinste Grund dieses Gesetzes ist dieser: da die Schaffenslust des Einzelnen ihr Recht nur aus dem Leben schöpfen kann, so soll sie das Leben selbst fördern, wo immer sie es findet. So möge das Ich den Anderen sich dienstbar machen, seine Kraft der eigenen unterordnen, aber nie durch Zwang, auch nicht durch den mittelbaren der wirtschaftlichen Not-
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läge, und nie so sehr, daß der Anderen Kraft dadurch gemindert wird. Tausenden und Abertausenden unter uns ist zu dienen bestimmt, und sie sollen dienen, aber als Freie und ohne Schaden. Damit ist ohne die mindeste Anleihe beim Hingabetrieb, bei der Liebe zum Anderen, zum Nächsten, die stärkste Schutzwehr für dessen Wohl aufgerichtet. Wie alle Formen des handelnden Lebens, die äußere Werte schaffen, mit einigem Recht dem Erwerbstrieb untergeordnet werden können, so alle anderen dem Machttrieb, mit Einschluß seiner Unterform des Kampftriebes. Ist alle wirtschaftliche Ordnung vom Erwerbstrieb, so alle gesellschaftliche vom Machttrieb geschaffen, wobei doch der eine stets in die Bezirke des anderen übergreift. Jede Art menschlicher Gemeinschaft, von der engsten und zartesten der Ehe bis zur stärksten und größten, zum Staat, ist von Schaffenslust, die sich in Machtlust äußert, ins Leben gerufen und fort und fort beeinflußt. Die Macht ist ursprünglich der unbestreitbare Besitz des Einzelnen: denn sie ist die Willensbestimmung des Ichs über sich und den ihm erreichbaren Bezirk der Außenwelt. Aber wiederum ist alle Geschichte der Menschheit einem einzigen, ins Unendliche fortgesetzten Beweise gleich zu achten, daß auch diese Form der Schaffenslust nicht bei sich selbst Halt macht, sondern in den Bereich des Anderen übergreift. Ja, es wäre vielleicht nicht zur Ausbildung des Begriffes Macht gekommen, hätte dieses Übergreifen nie stattgefunden. Vielleicht hätte man die Selbstbestimmung des Ichs kaum als Macht erkannt: Macht im betonten Sinn ist immer nur Macht des Einen über den Anderen.
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Das Wesen der Macht ist dann am leichtesten zu fassen, wenn m a n sie als eine ungefähr gleichbleibende Menge von Verfügungsrechten über das Handeln der Einzelnen vorstellt. Diese Menge kann n u n in der verschiedensten Weise verteilt werden. Der Einzelne kann den an sich auf ihn entfallenden Anteil fast ganz festhalten, und er k a n n i h m fast ganz genommen werden. Sie kann auf Einzelne, auf Wenige, auf Viele übergehen. Und alle Vielgestaltigkeit der Familien- und Standes-, der Klassen- und Staats-Ordnungen läßt sich an diesem Maßstab abtragen. Immer wieder werden auf Kosten der Einzelnen Machtmassen gebildet, die in irgendwelcher Abgrenzung, in irgendwelcher Gliederung, in irgendwelchem Bruchteil der Menschheit Einzelnen oder Körperschaften übertragen werden. Fragt man nach den Werten, die der befriedigte Machttrieb der Schaffenslust des Ichs bereitet, so ist Eins sehr auffallig: das an sich inhaltleere, rein formhafte Gepräge aller Staats- ja, aller Gesellschaftsordnungen. Der Staat ist eine Form, eine Mechanisierung des Lebens. Nun aber ist Art der Menschen auch, die Form des Lebens zum Selbstzweck, zur einzigen Aufgabe zu machen, und Tausende der stärksten Einzelnen haben ihr Genügen daran gefunden, diese Form zu erhalten oder n e u zu schaffen. Geist und Handeln der Völker ist in gewissen Zeiten fast völlig von der Umgestaltung dieser Form eingenommen gewesen. Und unerhört viel Kraft, viel Schönheit der Gebärde ist i m Dienst dieser Ordnungsfragen der Menschheit, der Völker und oft noch des kleinsten Bruchteiles von Völkern lebendig geworden. U m wie viel tausend bunte Farben würde das Bild der Menschheitsge5
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schichte ärmer, wollte man die Gedanken Königtum, Adel, Herrschaft aus ihm löschen. Sehr auffällig ist aber auch am dieser Entwicklungsreihe, daß sie der Gegenwart zu sich immer mehr der Massenmäßigkeit und der Mechanisierung zuneigt, so daß sich hier ein seltsam ähnliches Widerspiel zur Gestaltungsgeschichte des Erwerbsschaffens der Menschheit findet. Mit gewissen Rückfällen und Umwegen, die vernachlässigt werden können, bewegt sich die Linie der Staatsbildung von kleinsten zu kleinen, zu mittleren, zu großen und schließlich größten Einheiten. Nun aber haben für die Entfaltung des Machttriebes die mittleren Stufen offenbar die umfassendste Möglichkeit der Auswirkung geboten. Die Dynasten des späteren Mittelalters waren nicht allein zahlreicher, nein, auch ungehemmter in ihrer Kraftentfaltung als irgend ein späterer Fürstenstand. Hält man die Ausbildung gebietender Persönlichkeit für ein wünschenswertes Ziel menschlicher Schaffenslust, so ist es damals sicherlich öfter als je nachher und in der schönsten Haltung erreicht worden. Deutschland und Italien haben auf dieser Stufe die reichste Entwicklung aufzuweisen. Zwar sind wir gewohnt, ihren Zustand für den unseligsten zu halten; doch darin urteilen wir ganz einseitig vom Standpunkte des Volksund Einheitsstaates späterer Zeiten. Wie könnte der italienische Stadtherr der Frührenaissance durch irgend ein Fürstenbild der folgenden Jahrhunderte übertroffen gedacht werden? Schon der unumschränkte Herrscher des siebzehnten Jahrhunderts war viel enger an den Staat gebunden, einerlei, ob er sich als seine Verpersönlichung oder als seinen ersten Diener betrachtete. Dazu gelangten viel weniger Einzelne an
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diese bevorzugte Stelle, und immer seltener wurde die Möglichkeit, daß der Zufall der Geburt einen sehr Starken zur Höhe führe. Rufe man sich auch in das Gedächtnis, daß die unumschränkte Königsherrschaft dieser Zeiten schon in ihrem Namen weit mehr auf die unbegrenzte Bewegungsfreiheit des Herrschers als auf die Staatsform des von ihm geleiteten Volkes weist: wie wenige unter den gekrönten Häuptern des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts haben ihre Schaffenslust ins Größte reichen lassen. Den Bevorzugten gegenüber, die doch so selten nur die Möglichkeiten ihres Wirkungsbereiches ausschöpften, standen schon damals ganze Völker von Untertanen, also fremdem Willen Unterworfener, im Recht der eigenen Willensbestimmung Beengter oder Verkürzter. Wer wollte behaupten, daß der Verlust, den die Hunderttausende an Macht- und Schaffensmöglichkeiten erlitten, ausgeglichen worden sei durch den Gewinst der Zwanzig oder Fünfzig Bevorrechteten? Mit der Vergrößerung der Staaten imneunzehnten Jahrhundert ist dies Verhältnis noch stärker herausgetrieben; und sind die Herrscher gebundener geworden, so hat doch der Einzelne im Volk kaum mehr Bewegungsfreiheit errungen. Die Entwicklung der Machthaber mittlerer Stufe, mögen sie nun Beamte oder Volles Vertreter geheißen sein, hat denselben Weg eingeschlagen. Wir tadeln so oft die Inhaber mittelalterlicher Ämter, daß sie immer wieder sich und ihre Stellen dem Staat entfremdeten. Und doch läßt sich dies Verhältnis auch von der entgegengesetzten Seite aus ansehen. All diese Grafen und Herzöge, die ihr Amt so unabhängig wie möglich zu machen, ja, es samt dem zugehörigen Grundbesitz in ihr erbliches Eigentum zu bringen 1«
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trachteten, erstrebten damit i m Grunde nichts Anderes, als wenigstens das eigene Haupt dem Joch des allmächtigen Staates zu entziehen. Und so noch taten die Adelsstände des siebzehnten Jahrhunderts, aus deren Schriften doch ein letzter Hauch vom Freiheitsdrang der Urzeitgermanen weht. Alle Beamten des neunzehnten Jahrhunderts, auch die höchsten, alle Volksvertretungen, auch die trotzigsten, haben diesen ihren Vorgängern gegenüber einen außerordentlichen Stellungsverlust erlitten. Tausend Ordnungen, tausendmal tausend Verordnungen schnürten die zu Heeren angewachsenen Beamtenschaften auf Schritt und Tritt ein, u n d das rastlose Klappern dieser Aktenmühlen übertäubte jede E r i n n e r u n g daran, daß sie n u r Werkzeuge, nicht Zwecke des Lebens waren. Die gewollte Einförmigkeit nicht allein der Handlungen, nein, auch der Menschen selbst schränkte die Möglichkeit schöpferischer Beherrschung dieser Formen des Daseins mehr und m e h r ein. Auch f ü r die Gestaltung dieser Formen waren h u n d e r t neue, höhere Satzungen gefunden, die zu ändern auch die Stärksten ihre beste Kraft aufwenden m u ß t e n . Zuletzt blieben in einem großen geistvollen Volk n u r ein oder zwei Dutzend Männer übrig, die die Möglichkeit hatten, nicht einmal durch Handhabung, sondern eher durch U m f o r m u n g dieser riesenhaft eintönigen Mechanisationen des Daseins sich schöpferisch zu betätigen. Vielleicht kann dieser Zustand als ein Gipfel höchster Arbeitsteilung und Arbeitsersparnis gelten; dem freien Spiel der Kräfte des Ichs setzte er die stärksten Bollwerke entgegen. Krieg ist gewaltsame Staatskunst: und so ist Kampflust der zum Angriff vorgehende Machttrieb. Noch hier lugt die spielende Lust alles menschlichen Tuns
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hervor, ja, sie wird hier fast am sichersten offenbar: ein erregenderer Einsatz als der eigene Tod ist im Spiel des Lebens nicht denkbar. Dazu ist der Kampf die wechselvollste, rascheste Art des Handelns; und wer erwägt, wie tiefen Einfluß Schrittmaß und Geschwindigkeit unserer Tätigkeiten auf die Werte haben, die die Seele ihnen beilegt, kann leicht ermessen, daß im Streit die höchsten Reize ausgelöst werden. Mit ihnen mischen sich schlechthin genießerische Antriebe sehr viel trüberen Ursprunges: Blutdurst, Grausamkeit, Zerstörungslust, die aber doch nicht ohne jede Beziehung zum Machttrieb gedacht werden können und in gewissem Sinn nur seine äußersten Auswirkungen sind. Die schöne Trunkenheit der entschlossensten Tat, zuweilen auch wohl der Blutrausch sind es, die den Völkern der Gegenwart noch den Krieg erwünscht machen. Die Kampflust erfordert eine äußerste Anspannung guter Kräfte Leibes und der Seele, und sie hat der Menschheit die schöne Gebärde dessen gegeben, der noch sein Leben zu verschenken weiß. Wenn gegen den Machttrieb eingewandt werden kann, daß er fremdes Leben, fremdes Schaffen störe, hemme, herabdrücke, so ist gegen den Kampftrieb als Zerstörer des Lebens das Gebot, das dem Schaffen des Ichs das Schaffen der Anderen zu ehren auferlegt, noch mit viel mehr Grund anzurufen: auch jetzt wieder ohne die mindeste Rücksicht auf die Ratschläge gleicher Richtung, die uns der Hingabetrieb zu erteilen pflegt. Überblickt man die einzelnen Stufen der neueuropäischen Geschichte vom frühen Mittelalter ab, so findet man zu Anfang einen auffälligen Mangel an
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großen Staatskriegen, an den Völker streiten, die wir heute allein Kriege nennen, zugleich aber eine Fülle von örtlichen und Gebietsfehden. Vom späten Mittelalter an hat die wachsende Staatsmacht diese kleineren Kampfformen mehr und mehr eingeengt, schließlich unterdrückt. Freilich wurde so nicht der Kampf als solcher eingeschränkt: er wurde vielmehr nur in andere Formen übergeleitet. Denn nun, vom Ende des späten Mittelalters an, mehrten sich die Staatskriege mit jedem Jahrhundert in steigender Zahl. Das achtzehnte Jahrhundert, das den Höhepunkt dieser Entwicklung bezeichnet, zeigt eine kaum abreißende Kette solcher Völker-, besser Herrscherstreite, wobei doch nicht zu vergessen ist, daß auch diese Anzahl von blutigen Zusammenstößen gering ist im Vergleich mit den spätmittelalterlichen Ortsstreitigkeiten. Erst die Neueste Zeit, das neunzehnte Jahrhundert, brachte in Gestalt zweier vierzigjähriger Friedensepochen zwischen den europäischen Staaten das letzte mögliche Schlußglied dieser Entwicklungskette, ohne es doch, ganzimGegensatzdazu, an einer Erweiterung, ja, einer Vertiefung des Kampftriebes ermangeln zu lassen. Denn wohl war freilich die Zahl der Staatskriege, im Vergleich zum achtzehnten Jahrhundert, auf ein Mindestmaß herabgegangen, aber die Kehrseite des Bildes war eine außerordentliche Steigerung der Rriegsmittel, insbesondere der Heeresziffern. Am schwersten mag wiegen, daß aus den Staatskriegen Völkerkriege geworden sind, daß nicht mehr bloß streitende Kabinette, sondern leidenschaftlich einander abgeneigte Völker sich entgegenstehen. Die vorschreitende Entwicklung des Krieges selbst hat eine Richtung genommen, die der des Staates nur zu 70
ähnlich ist. Jede Verminderung der Anzahl der Kampfgelegenheiten ist zugleich eine Verminderung der selbständig Kämpfenden gewesen. Als der stark um sich greifende Staat den kleinen Gebietsherren und den Rittern auf ihren Burgen ihr Waffenhandwerk legte, da ging viel Unrecht, aber auch viel stolze Freiheit aus der Welt. Denn ihre Kampflust hatte sich so auswirken können, daß auch ihr Streiten noch ein Schaffen war. Vor niemandem in der Welt das Haupt zu beugen, das war ja recht eigentlich Lohn und Preis ihres Kämpfens gewesen. Und wenn sie den Regeln ihres blutigen Gewerbes folgten, so taten sie es auch jeder so nach eigener Willkür wie auf eigene Gefahr. Kein Edelmann, der in die neuen, größeren Schlachthaufen der Fürsten trat, behielt das alte Maß von Selbstbestimmung und Bewegungsfreiheit. Und je länger die Schlachtreihen, je strenger die Ordnungen der Heere wurden, desto geringer wurde dies Maß. Die ersten Bandenführer Italiens waren noch frei und stark genug, den Fürsten und Städten, die sie in Dienst nahmen, das Gebot ihres Willens aufzuerlegen. Die Hauptmänner der Landsknechte waren schon in engere Dienstbarkeit gezwungen, aber noch die Obersten und Feldherren des Dreißigjährigen Krieges bewahrten viel drohende Unabhängigkeit, und selbst die Hauptleute des achtzehnten Jahrhunderts hatten ihre Kompanien in selbständiger Entreprise. Immer größer ist wohl der Umfang, immer feiner die Gliederung der Mittel und Werkzeuge des Krieges, immer schwieriger die Kunst, immer lockender also auch das Ziel, sie zu beherrschen, geworden, aber immer kleiner wird auch die Zahl derer, die alle Wonnen dieses Schaffens auskosten können. Gewiß: der Bezirk be71
herrschender Wirkung ist für den Feldherrn in unserer Zeit zu ungeheuren Maßen ausgeweitet worden, in den Wenigen ist die Lust dieser leidenschaftlichsten, raschesten Betätigung des Machttriebes bis ins Äußerste gesteigert; an die Entschließungen von Stunden, ja, Minuten ist das äußere Schicksal ganzer Reiche geheftet. Und noch bis dort hinab auf der Stufenleiter der Heeresordnung, wo wahrhaft selbständige Entschließung, wo die eigenwillige Führung einer Heereseinheit möglich ist, reicht ein Bruchteil der alten Freiheit des Kampftriebes. Die lindere Schwester des Kampftriebes, die Lust am Wettbewerb, wird nie zu entbehren sein. Wir schelten so oft den Neid, nicht allzu gerecht: denn mag er auch tief im Genußtrieb wurzeln und nur aus dem Schmerz geboren sein, bei Anderen ein Genießen zu sehen, das dem eigenen Ich erwünscht und versagt ist, so ist doch der Ansporn, der von ihm ausgeht, soweit er sich nur in Schaffen, nicht in Schädigung umsetzt, vielleicht nur auf einer sehr hohen Stufe der Selbsterziehung zu entbehren. Der Wettbewerb, der so angestachelt wird, treibt heute und wird noch lange viele Formen des Schaffens stärker treiben, als ohne ihn geschehen könnte. Den anderen, lautereren Wettbewerb aber, der nicht höheres Genießen, nur höheres Schaffen ersehnt, möge aus dem Uhrwerk unserer Seele nie müde Leidseligkeit entfernen: er ist seine stärkste Triebfeder. Wettbewerb ist einer der Punkte, in denen handelndes und geistiges Schaffen zusammenstoßen, in denen augenfällig wird, wie nahe sie einander benachbart sind, wie viele gemeinsame Wurzeln sie haben. Es ist 72
nicht die Lust am Wettbewerb allein, die beide Bezirke menschlichen Tuns verknüpft: noch in den geistigsten Ausläufern geistigen Trachtens ist eine Mitwirkung der gröberen Antriebe des handelnden Lebens zu verspüren. Am nächsten liegt, beide Grundformen unseres Schaffens gegeneinander abzuwägen auf ihre das Ich fördernden Werte. Man wird an sich nicht erwarten dürfen, zu einem unumstößlichen Mehr oder Minder zu gelangen; denn Herrschen, Kämpfen, Erwerben ist an sich so weit von allem Ahnen, Bilden, Forschen entfernt, daß ein allgemein gültiger Maßstab kaum zu finden ist. Wohl aber läßt sich begreifen, wie weit die eine oder die andere Form der Ichauswirkung freier oder gebundener, dem schaffenden Ich mehr oder minder lustvoll sei. Zwei große Unterschiede sind es, die zunächst ins Auge fallen: das Tun scheidet sich von dem Schauen, insofern es das Ich in spröderem Stoff ausprägt, insofern es seinePreise auf schwierigere, härtere und so im Augenblick wonnevollere Spiele setzt. Das geistige Schaffen aber ist dem handelnden überlegen, da es viel fesselloser ins Weite schweifen mag, da es nicht an Macht oder Gebot eines Anderen gebunden ist. Das Handeln spielt mit den Menschen, das Schauen mit der Umwelt. Darin ist aller Gegensatz dieser Werte begriffen. Menschen sind schwer zu überwinden; die Bilder der Welt aber, die das Schauen entwirft, sind von leichtem Gespinst. Wer Menschen durch die Tat überwunden hat, ist der Wirkung, die dem Handeln auf dem Fuße folgt, sicher, wie denn auch alle Belohnungen, die das Leben freilich mehr unserem genießenden als unserem schaffenden Ich bereit hält, den Handelnden in großen Mengen, den Schauenden aber kärglich
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genug zugemessen zu sein pflegen. Es ist wirklich die Geschwindigkeit, das Zeitmaß des Lebens, des Tuns, das hier rascher ist, also dem leidenschaftlichen Wunsche zu schaffen weiter entgegenkommt. Und dennoch ist das geistige Schaffen dem handelnden überlegen; denn es vereinigt in wachsender Wirkung den Einfluß auf die lebendigen Menschen, auf ihr Bilden, Denken, Glauben und zuletzt selbst auf ihr Fühlen, ihr Wollen, ihr Handeln mit dem feineren, zarteren Erzeugen des eigenen Werkes. Wer Großes im Geiste bildet, vermag die Dauer und die Kraft seines Wirkens in« Unermeßliche zu steigern: was Alexander, Cäsar, Napoleon zusammen ein Nachwirkung ihres Tuns aufzuweisen haben, ist winzig, mit dem verglichen, was Buddha, was Jesus hervorgebracht haben. Man könnte sagen, das geistige Schaffen diene in denen, die es empfangen, nur dem Genießen. Aber alles geistige Empfangen, gleichviel ob des Glaubens, ob des Bildens, ob des Forschens, wird zum Nachschaffen, wenn anders es Frucht bringen soll. Und mehr als das: es schafft die Genießenden um. Der Glaube hat aus dieser Absicht nie ein Hehl gemacht, die Kunst wird in schamhafter Unabsichtlichkeit das Gleiche tun (denn vor einer ethischen Kunst mögen uns die Götter bewahren), und die Forschung wird beides tun dürfen und sollen: sie wird still das Denken der Menschen umbilden, wenn sie belehrt; sie wird sie sichtlich und absichtlich umschaffen, wenn sie mit lauter Stimme befiehlt. Diese Einwirkung teilt das geistige Schaffen mit dem Erziehen. Erziehung ist an sich und zuerst Handeln, Machtausübung; aber ihr wohnen, insofern sie unter74
richtet und mit tausend Mitteln des Denkens Menschen zu formen trachtet, mehr geistige Urbestandteile inne als jeder anderen Machtauswirkung. Und wie Erziehung die Wachsenden in gewollte Formen biegen will, so will alles geistige Erzeugen hohen Ranges die Fertigen, Reifen und doch in Wahrheit nie Vollkommenen in andere Bahnen locken. Wie Erziehung die zarteste und doch schöpferischste Ausübung des Machttriebes ist, so wirkt geistiges Schaffen leise und doch zwingend auf die ein, die seine Früchte zu empfangen bereit sind. Dieses Übergewicht des geistigen Schaffens wird sich dann noch mehr steigern, wenn der Macht- oder Erwerbstrieb die Einschränkung, der Kampftrieb die Unterdrückung erfahren haben wird, die eintreten müssen, wenn die Schaffenslust erst inne geworden ist, wie sehr die Störung und Zerstörung fremden Lebens dem Lebenssinn und Lebensgrund ihres eigenen Daseins widerspricht. Eben die Macht aber, die das geistige Schaffen ausübt, ist auch deshalb die lebenerhaltendste, da sie nur über Freie ausgeübt wird, da sie sich nicht an Knechte, sondern an Empfangende wendet. Diese Überlegenheit ist in ihren wesentlichen Voraussetzungen schon heute vorhanden und kein eitler Selbstbetrug der Forschenden, Bildenden. Sie muß und darf schon heute ausgesprochen werden: nicht obgleich, sondern weil ein schreiendes Mißverhältnis stattfindet in Ansehung der äußeren Wertung beider Formen des Schaffens. Der freie Forscher, der freie Künstler wurden zu jeder Zeit nicht nur nicht gefördert, sondern ständig gehindert durch den kümmerlichen Entgelt, mit dem man auch die höchste
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Leistung lohnt, wenn sie sich den gerade herrschenden Überlieferungen u n d Übereinkünften nicht unterwirft. Unser Volk, das doch zu den geistigen zählt, ließ von je seine größten Strebenden einsam auf r a u h e n Pfaden unbehütet gegen Wind und Wetter ihre Bahn laufen. Nietzsche m u ß t e nicht allein die Druckkosten seiner Werke tragen, nein, seinen Verleger auch noch f ü r das Lagern der unverkauften Bände entschädigen. Daß Nietzsche ungehört blieb, daß er sein Herz verhärtet und verzehrt hat in dieser Einsamkeit, wird als Schmach und Schande nie fortzuwaschen sein aus der Geschichte unseres Volkes. Und so f u h r m a n fort, ohne das leiseste Bedenken: der größte unter den Dichtern deutschen Blutes, die mit uns gelebt haben, erhielt von unserem Volk einen Entgelt, den m a n nicht d e m letzten Schreiber einer Amtsstube zumuten würde. Und das geschah, weil er, seiner Sendung treu,, nicht der öffentlichen Meinung schmeichelte und ihr u m keines Haares Breite Zugeständnisse machte. So mannigfache Formen der Auswirkung unserer Schaffenslust auch Glauben, Bilden, Forschen darstellen: ihnen Dreien ist eine Mischung schöpferischer und n u r nachschaffender Antriebe gemein. Sie Drei wollen das Bild der Welt in einem Spiegel f a n g e n ; sie Drei wollen aber auch, jedes in ganz verschiedenem Sinn, ein Neues, Eigenes, Freies setzen. Nachahmungstrieb m u ß in seinen letzten, feinsten Ausfaserungen in allen Dreien wirksam sein. Denn auch der Glaube stellt ahnend ein Bild der Welt neben die Welt, wie die Forschung es mit der Absicht genauer, die Kunst mit der steigernder Nachahmung tut.
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Den Quell alles ganz Freien, Fessellosen in jedem der drei Bezirke stellt die Vorstellungs-, die Einbildungskraft des Menschen dar, und sie ist unzweifelhaft auch der Born alles wahrhaft Schöpferischen in ihnen. Der Glaube sieht eins seiner höchsten Vorrechte darin, über die Grenze des Faßbaren, Wißbaren zu dringen, und dies kann nur geschehen mit dem starken Flügelschlage der Phantasie. Sie allein trägt alle hohe Kunst und leiht aller bauenden Forschung die Kraft, sich aufwärts zu heben über die Wirklichkeiten, einen Blickwinkel zu gewinnen, der weiter trägt als bis zu den Einzäunungen der engen Arbeitsfelder beschreibender Wissenschaft. Maß und Grenze aller Schaffenslust im Geistigen ist deshalb in Wahrheit gesetzt durch den Anteil, den die Vorstellungskraft am Werk des schauenden Ichs hat. Dies entscheidende Verhältnis trägt sogar über die Schranken fort, die der Glaube der frei schweifenden Willkür menschlichen Wünschens und Wollens setzt. Kein Zweifel: die Stufen der Entwicklungen des Gottesgedankens führen zu immer tieferer Demütigung des Gläubigen vor der angebeteten Gottheit abwärts. Und dennoch erweist sich die Schöpferkraft des Ichs hier in umgekehrter Folge an der Steigerung des Gottesbildes. Die keimenden Götter der Menschheitsjugend heben sich noch wenig über Menschenmaß: noch versagt man sich nicht einmal lächelnden Spott über sie. Aber sie wachsen und wachsen und werden immer mächtiger: der seltsame Name des altmexikanischen Gottes, der »Wir sind Deine Knechte« heißt, sagt alles. Der Gott der spätjüdischen Propheten und der Christenheit läßt alle Schranken irdisch-menschlicher Art hinter sich und die Unermes-
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senheit seiner Macht, die tiefste Demütigung der an ihn Glaubenden ist der eigentliche Stempel seines Wesens. Und dennoch wird man nicht zögern dürfen, von der steigenden Größe des Gottesbildes auf die steigende Stärke des den Gott ahnenden, also mit der Vorstellungskraft schaffenden Ichs zu schließen. Vielleicht bietet diese seltsam widerspruchsvolle Entwicklung den stärksten Beweis dafür dar, daß die schaffende Lust der Vorstellungskraft die stärkste ist: denn indem sie immer neue, immer höhere Bilder der Gottheit erzeugt, überwindet sie alle die Scheu, die das handelnde Ich gegen die immer drückendere Herabminderung seiner eigenen Bedeutung, ja, seiner eigenen Bewegungsfreiheit hegen muß. Unzweifelhaft greift hier eine ganz anders geartete Triebkraft unserer Seele ein: die Lust an der Hingabe; aber vielleicht haben die hohen Priesterschaften, die dieses Werk menschlichen Geistes vollbrachten, sich mehr noch vom Schaffensdrang ab von dem Hingabetrieb des Ichs leiten und tragen lassen; denn eben denen, die das Gottesbild schöpferisch steigerten, waren die Wonnen ihrer großen ahnenden Gedanken höher als die neue, tiefere Demut, die sie der gläubigen Menge ihrer Folger empfahlen. Muß aber wirklich auch das Haupt des Verkündenden sich dem Gotte, den er selbst gehöht hat, nun tiefer neigen, so war dies von je die beste Kunst der Priester: in Demut zu herrschen. Der Glaube enthebt sich mit dem in die Wolken steigenden Gott, ihn aufwärts tragend und doch auch von ihm emporgezogen, den niederen Wirklichkeiten. Er ist darin vorbildlich für alles schöpferische Tun des Geistes, daß er die Wirklichkeit sich unterwirft, in-
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dem er sie dem Gott unterwirft, oder sie ihm gar gleich setzt, sie in seine Person umschmilzt, umdichtet. Der Gott wird zum Herrn und zum Bild und Gleichnis der Welt. Diese äußerste der Vermenschlichungen, Verpersönlichungen, die menschlichem Sinnen gelungen ist, bedeutet zugleich eine letzte Möglichkeit des Umschaffens der Welt durch das schauende Ich. Und man vergesse nicht, daß im Glauben das Ich, was es nach Seiten der Unterwerfung unter dies aufgehöhte Gottesbild an Freiheiten, an Ichwerten aufgab, auf der Seite der leidenschaftlichen Freude an seinem Erzeugnis wieder errang. Denn indem es den Gott zwar einmal ahnend gewahrt, ihn dann aber gleichwie wissend glaubt, steigert es die Wonnen dieses Hervorbringens außerordentlich: zuerst zeugt es das Bild von Gott, dann wird ihm das Bild zur Wirklichkeit, zu einer Wirklichkeit von so furchtbarem Emst, daß alle kleinen Wirklichkeiten der Erde, des Lebens, die der Verstand ergreifen kann, neben ihr zu einem Schattenspiel werden. Wahrlich, das im Geist schaffende Ich hat nirgend sonst sich in seinem Erzeugnis so hoch über die Welt erhoben, die es zuerst nur begreifen, nur widerspiegeln wollte; aber es geschah um den höchsten Preis, den das schauende Ich als ein zugleich handelndes zu vergeben hatte: um den Preis der schrankenlosesten Unterwerfung des eigenen Willens unter die zum Gott gesteigerte Macht, die doch wieder nur ein gesteigertes Bild des eigenen Wesens und Wollens und zugleich — Rätsel der Rätsel — das in Eins gefaßte, zu Mensch und Willen zusammengedrängte Bild der Welt war. Nur in dem tiefsten der Glaubensschöpfer, in dem germanischen Ausdeuter und Steigerer des Christentumes, in Meister Eckehart, ist dies innerste Geheim-
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nis des Glaubens, die Gleichsetzung von Ich und Gott und Welt, offenbar geworden. Drei höchste Formen des schaffenden Schauens des Ichs sind hier zu scheiden: das Ich höht sich selbst im Bilde des Gottes, das es nach sich schafft; es blickt mit dem Auge eines allmächtigen Herrn auf die Welt, die es mit Einschluß seiner selbst ihm unterworfen hat. Zum Zweiten: das Ich verleibt dem höchsten Wesen die Welt selber ein. Zum Dritten: es begreift Gott und Welt als Erzeugnisse seines eigenen Vorstellens und zieht sie wieder in sein Selbst zurück. Und ein dreifacher Grund ist es, der dies alles so leidenschaftlich macht: erstens das Fürwahrhalten aller Annahmen, von dem der Glaube mit großem Rechte seinen Namen entliehen hat, die Verwandlung v,on Überzeugungen, die nur die Einbildungskraft gewann, in Wahrheiten, die der erfahrende Verstand in jedem Augenblick nachprüfen könnte, falls er nur Kraft genug dazu hätte. Dann die Verschmelzung des Schauens mit dem Handeln: das Ich erschaut den Gott und es macht ihn oder vielmehr die ihm zugemessenen Gebote zum Maßstab seines Handelns. Drittens: die Außerordentlichkeit des Glaubensbildes als einer Tat der Vorstellungskraft. Kein Kunstwerk der stärksten Meister hat je die Höhe erreicht, zu der der Gottesgedanke, die Gottesgestalt sich hebt. Diese zwei ersten Merkmale sind es auch, die den tiefsten Unterschied zwischen glaubendem und bildendem Schaffen des Ichs begründen; der Kunst mangeln sie beide oder sind nur in schwachem Nachhall auf ihren Gefilden zu erlauschen. Aber diesen Verlusten steht ein Gewinn gegenüber: wohl gibt auch der Glaube ein Bild der Welt in dem Gott, der die Welt
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ist und zugleich der tausendfach gesteigerte Mensch ist, wohl ist das Bild in seinem letzten Ausmaß ein hoch über die Wirklichkeit erhobenes, also höchst schöpferisches; aber es ist mit der seltsamen und leidenschaftlichen Energie, die dem Glauben eigen ist, in einem Punkt, dem Gott, zusammengezogen und dort zwar zu äußerster Kraft gesteigert, aber auch um Linie und Farbe gebracht. In dem lohenden Feuer der Gottesvorstellung hat die in ihm aufgehende Welt, das von ihm aufgezehrte Ich alle Bildhaftigkeit verloren. Und so unterfängt sich die Kunst wohl eines minderen, aber auch eines reicheren Amtes, indem sie die Wirklichkeiten weniger leidenschaftlich, aber farbiger, mannigfacher, ausgebreiteter widerzuspiegeln trachtet. Wohl löst sie die furchtbar enge Berührung, in die der Glaube sein Erzeugnis zum Leben setzt: sie stellt das ihrige sachlicher, minder ichmäßig weiter von sich, sie verzichtet in großen Zeiten nicht auf die Forderung, ihren Gebilden eine höhere Wahrheit zuzugestehen als den ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeiten; aber sie will aus jeder Blume und noch aus dem bitteren Kelch des Leides Freude saugen, sie will den kleinsten Teil der Welt lieber als ihr Ganzes abspiegeln und doch im Teil den Sinn des Ganzen auffangen wie in einem Brennglase. Aber wie in den Glauben, so schleicht sich auch in die Kunst der alte Widerpart aller Ich- und Schaffenslust ein, der Hingabetrieb mit seinen Lockungen süßer Demut, die sich dem Schwachen oder dem Liebenden so gern in die Seele schmeicheln. Hier ist auch kein Zugeständnis möglich, das in der Maske der Unterwerfung herrische Höhung des Geistes erlaubte, wie im Glauben. Hier wird recht eigentlich die Welt 6
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mächtig über das Ich, das sich ihr gänzlich unterordnet. Du sollst mich nachahmen und kein anderes Vorbild haben neben mir: das ist das Gebot, das die Wirklichkeit dem Ich zuraunt. Und so entsteht in diesem widerspruchsvollen Gewirr der irdischen Dinge das neue Rätsel, daß die Gebilde einer hingebungsvollen Kunst von minderer Willkür sind als die des hingebungsvollen Glaubens. Doch wo die Lust am Schaffen siegt, wo das Ich nicht nachzubilden, nein, umzubilden, neu zu bilden trachtet, da erringt es sich die freieste Freiheit, da unterwirft es den Stoff seinem Gebot, der Form, oder, Glück alles Glückes, webt sich gar selbst das Märchengespinst, dem es seine Farben, seinen Schein leiht, und so in seligem Rausche trunken neben, außer, über der Wirklichkeit die Schönheit schafft. Allzu nah ist noch die wirklichkeitsfernste Kunst an die Erde geknüpft, und die Bande sind die Vorstellungsweisen, die Grundformen, die wir von dem rings um uns sprudelnden Leben einschlürfen. Aber wird dieser Vogel Phantasie, dessen Flügel allein stärker sind als die Schwerkraft der Erde, nicht einmal in noch höhere Höhen steigen, nicht einmal noch mit seinen Fängen das Unbegreifliche ergreifen, nicht einmal noch das Wunder selbst in unsere tiefen Tale niederziehen? Der Glaube will Unwirkliches zur Wahrheit, die Kunst will es zur schönen Lüge machen, die Forschung aber will Wahrheit, die wirklich ist. So scheint das forschende Ich am stärksten gebunden, ja, gänzlich gefesselt. Es scheint ihm das Schaffen verwehrt, das Nachschaffen einziges Gesetz. Gemach: so stünde alles, wenn alle Wirklichkeit sich an der Oberfläche 82
ausspräche. Dann wäre genug, sie zu beschreiben, wollte man sie begreifen. Nun aber liegen all ihre Gesetze verborgen in der Tiefe, ja, selbst ihre Oberfläche recht zu überschauen, bedarf es eines Aufstieges in das freie Luftmeer der Gedanken. Und wie die Kunst sich als Waffe gegen die Wirklichkeit die Form schmiedet, so die Forschung den Begriff. Tausend Selbstherrlichkeiten, tausend Gewaltsamkeiten muß die hohe Forschung ausüben, um in diesem Kampf zu siegen. Keine dieser Schlachten ist endgültig, keine führt zum Frieden, denn Friede wäre Nicht-Schaffen, wäre der Tod. Und Phantasie ist auch hier der treueste Bundesgenosse der Schaffenslust: sie hilft die Zusammenhänge erschließen, die kein erfahrender Verstand auffinden würde, sie fliegt über unerforschte Strecken voraus und wird so zum Führer auch der vorsichtigsten Wanderung, sie hilft der kleinsten wie der größten Forschung, indem sie für jedes Rätsel drei oder vier Lösungen bereit hält und so die richtige finden läßt. Und wehe der Forschung, die auf diese Helferin verzichten wollte: sie würde zum gleichen Knechtsdienst verurteilt werden wie jene mindere Kunst: sie würde die Wirklichkeit abschreiben. Ganz herrscherlich aber tritt der Forscher da auf, wo er den Menschen befiehlt und ihnen ein »So sollt Ihr leben!« zuruft. Er wird dann zum Handelnden, ohne doch auf irgendeins der Vorrechte geistigen Schaffens zu verzichten. Die Forschung wird dann dem Glauben ähnlich, insofern auch er sich das Recht, das Tun der Menschen zu ordnen, fast von Anbeginn angemaßt hat. Aber sie verfährt hier schonender und mit größerer Ehrfurcht vor dem Leben der Anderen: sie rät nur, während der Glaube befiehlt, ja, droht. 8*
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Doch Forschen, wie Bilden, wie Glauben, ist noch in einem zweiten Sinn an den Menschen gebunden, da doch alle drei Formen geistigen Schaffens schon ganz dem Menschen zugewandt erscheinen. Die Schaffenden selbst binden sich untereinander, sei es durch Genossenschaft, sei es durch Überlieferung: sie binden sich zu Kirchen, Stilen und Schulen zusammen. Und so wird dem schauenden Ich noch ein zweiter Kampf um seine Freiheit zugemutet: es wird dann a m stärksten sein, dann die Lust an der Auswirkung seines Selbst am Höchsten spüren, wenn es am meisten sich, am mindesten den Anderen folgt. Nur eine Grenze ist hier gezogen, und die gilt freilich für alles Schaffen, das schauende wie das handelnde. Das Ich, sofern es wirken will, darf seiner Ichmäßig-, keit nur so weit folgen, wie es die Anderen noch mit sich zu ziehen hoffen kann; nicht viele Andere und selbst die Wenigen nicht sogleich, aber so, daß sein Werk nicht unverstanden zugrunde geht. Denn dies will das Leben selbst von uns: wir sollen zeugen, nicht allein uns selbst umschaffen. Gesetzt, ein Forscher, ein Künstler schüfe Werke, die dem Geist seiner Zeit in Wahrheit um hundert Jahre vorauf eilten, und sie ließen ihn eben deshalb unberührt und unbeeinflußt, so bliebe sein Schaffen fast nutzlos. Und vielleicht liegt in diesem Gebot des Zeugens die beste Gewähr dafür, daß die stärkste Kraft des Ichs, die Schaffenslust, über das Ich selbst hinaus, auf die Gattung weist. Denn das Leben will den Einzelnen und will die Gattung, das Leben will Beider Stärke. Also wirkt es im Ich das Wohl der Gattung, nicht indem es ihm die süße Schwäche der Hingebung empfiehlt, nein, indem es seine
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ichmäßigste, ichsüchtigste Kraft aufruft: die Lust am Schaffen. Ist dieses Ziel des Suchens erst erreicht, so lassen sich alle anderen Grenzfragen von hier aus schlichten. In vier Formen wirkt sich der Ichtrieb aus: in der IchErhaltung, der Ich-Liebe, in der Schaffenslust und im Genußtrieb. Daß Ich-Erhaltung, Ich-Liebe zu pflegen sind als die notwendigen Vorbedingungen aller Schaffenslust, bedarf keines Beweises. Wie aber soll der Genußtrieb fahren, der an jedem starken Ichtrieb so hohen Anteil h a t ? Daß er es ist, der die notwendigen Verluste zu tragen hat, falls die Schaffenslust zum Gesetz des Handelns erhoben werden soll, davon ging diese Darlegung aus. Doch wollen wir Asketen sein, den hundert feinen und groben Puritanismen verfallen, die wir an jeder Sittlichkeit so hart tadeln? Das soll uns nimmermehr in den Sinn kommen. Wenn Schaffen gut ist, weil es uns Lust macht, und zwar die dauerndste, tiefste, stärkste: warum sollte Lust dann zu verurteilen sein, wenn sie uns ohne Schaffen zufällt.? Es kann hier nur einen Weg geben: alle genießerische Ichsucht ist dann jedes Willkomms sicher, wenn sie der schaffenden Lust nützt; wenn nicht, nicht. Hier soll nicht alle Mannigfaltigkeit des Genießens ausgebreitet werden. Dies aber ist allen seinen Formen Leibes wie der Seele gemein, daß sie an bestimmte, oft sehr enge Maße gebunden sind und daß deren Überschreitung sich am Ich selbst rächt, also dem Ichtrieb zuwider ist. Ein Leben, das nur dem Genuß dienen wollte, bedürfte der peinlichsten Regelungen, der äußersten Selbstzucht. So weist die Natur selbst mit hundert aufgehobenen Händen auf den Weg, der vom Genuß zum Schaffen führt. Am Leibe, auf dessen
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Mahnungen zu lauschen die beste Lösung jedes sittlichen Rätsels zu bieten pflegt, wirkt die gezügelte Lust der Sinne erhöhte Kraft, gesteigerte Neigung zum Schaffen. Also sei dies das oberste Gebot: trinke von jeder Trunkenheit und sei jedem Rausch ergeben, der dein Schaffen steigert. Meide jede Lust, die heute oder morgen deine stärkste Lust, die Lust am Schaffen, mindert. Und weiter: wie das Schaffen, so muß auch das Genießen des Ichs dem Verbot Untertan bleiben, daß kein Ich, kein Leben ein anderes Ich, ein anderes Leben störe oder zerstöre. Denn zum anderen Male: das Gesetz des Lebens ist das Leben selbst. Mehr als dies: auch für das Verhältnis des Ichtriebes zu seinem Widerpart, dem Hingabetrieb, läßt sich von dem jetzt gewonnenen Blickpunkt aus die oberste Regel finden. Ehrt der Schaffende jede andere Quelle des Schaffens, so wäre der Gattung genug getan, soweit die Erhaltung, nicht die der Schaffenslust allein anvertraute Förderung in Betracht zu ziehen ist. Doch will das Leben offenbar mehr von uns und in uns. Denn es gab uns den Trieb zur Hingabe, zur Anlehnung an den Anderen. Und damit dieser Trieb, der so blind und oft vielleicht ganz zweckwidrig der Gattung dient, erhalten bleibe, wurde er in den mächtigeren, den Ichtrieb, eingepflanzt. Aber seine Wurzeln, die ganz ichmäßigen Freuden am Hingeben, Dienen, Opfern, leiten im Bezirk des Ichtriebes nicht auf die stärkere Schaffenslust, nein, auf die Lust am Genuß zurück. Denn es ist ein Genießen des Ichs, und sei es das zarteste, seelischste, das dem Opfer zum Lohne gesetzt ist. Und so folgt mit Notwendigkeit, daß dieses Genießen der Regel alles anderen Genießens zu unterwerfen ist .
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Gegen dieses Genießen zu eifern, wäre nicht mehr, nicht minder töricht, wie gegen jedes andere. Und wie sollten wir der Wollust der Seele nicht frönen dürfen, als die wir alles Lieben erkennen, da wir die Lust des Leibes nie anders einengen wollen, als um die Erhaltung des Lebens in uns und in den Anderen zu ehren und sicherzustellen? Allein dieselbe Schranke muß auch hier errichtet werden. Auch dieser zarteste und feinste Genuß soll nur so weit über uns Herrschaft gewinnen, wie er unser höchstes Gut nicht mindert: das Glück des Schaffenden.
DIE STUFENLEITER DER WERTE DER SCHAFFENSFREIHEIT Die hier angestellten Beobachtungen haben eine doppelte Absicht. Sie wollen einmal erweisen, daß eine Form des Ichtriebes, die Schaffenslust, allen anderen Formen des Ichtriebes nicht nur, nein, auch dem Hingabetrieb und allen seinen Auswirkungen überlegen ist, daß das Ich, das schafft, jedes Recht besitzt, sein Selbst und desseil Vorteil zu suchen. Zum Zweiten aber ist ihr Zweck, die Wege und die Ziele kennen zu lehren, die die Schaffenslust wenigstens in unserem gegenwärtigen Blickbereiche einschlägt, und zugleich eine Stufenleiter der Werte aufzustellen, die auf diesem Wege gewonnen werden. Daß alles blutgefüllte, alles kraftstrotzende Leben dem Ich rät, sich selbst zu leben und als die dauerhafteste und freudenreichste Art dieses Sich-selbst-Erlebens das Schaffen aufzusuchen, soll als erwiesen gelten. Noch aber bleibt die Aufgabe, die einzelnen Be-
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tätigungen der Schaffenslust, deren Umrisse hier angedeutet wurden, gegeneinander abzuwerten. Es kann dabei auf eine Vergleichung der einzelnen Bezirke des menschlichen Schaffens erst in zweiter Reihe ankommen. Wichtiger ist es, Maßstäbe zu finden, die für alle Formen der Schaffenslust oder wenigstens für große Gruppen von ihnen anwendbar sind und Grade ihrer Kraft und Gedrungenheit ablesen lassen. Es gibt kein zweckdienlicheres Mittel, Wucht und Wert irgendeines menschlichen Dichtens und Trachtens abzustufen, als indem man den Kern und die Urbestandteile seines Begriffes zu erkennen trachtet und aus ihrer Wesenheit ihr Wollen abliest. In der Vorstellung des Schaffens bergen sich drei Teilbegriffe: der des Wirkens überhaupt, daß ein Mensch ein Ding hinstelle; ferner der Gedanke, daß dieses Ding ein seiner Beschaffenheit nach Neues sei; endlich der Gedanke, daß dieses Ding Lebensfähigkeit und eine gewisse Lebensdauer besitze. Den ersten Urbestandteil hat das Schaffen mit jedem Wirken gemein, und von dem Wirken, das nicht Schaffen ist, soll noch eingehend die Rede sein; er ist nur Voraussetzung; Neuheit und Lebenskraft sind unzweifelhaft die beiden Grundmerkmale jeden Schaffens. Lebenskraft äußert sich am sichtbarsten in Lebensdauer. Und zwischen Lebensdauer und Neuheit eines Werks besteht ein Geflecht seltsam widersprüchlicher Wechselbeziehungen. Auswirkung von Kraft sind sie beide; aber sie sind durchaus nicht immer verbunden, sie wirken einander sogar nicht selten entgegen. In den beiden Bezirken, dem Reich des Handelns wie dem Reich des geistigen Schaffens, mag es so stehen,
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daß die Neuerung, die nicht allzuweit ausschreitet, die meiste Gewähr für lange Dauer in sich birgt. Einer allmählichen, schrittweisen Umänderung etwa in der Behördenordnung eines Staates ist im Laufe der Geschichte weit eher ein langes Bestehen zuteil geworden als einer jähen, sehr tiefgreifenden Umwälzung. Die Schöpfungen von Revolutionen, ja selbst von grundstürzenden Reformen sind sehr rascher Zurücknahme und Wiederaufhebung besonders häufig ausgesetzt gewesen. Und es sind nicht allein die Erfinder, die ein Zufrüh mit völligem Unbeachtetbleiben zu bezahlen haben: wissenschaftliche Neuerungen, Versuche der Kunstweise, des Wie in der Kunst sind zur Unfruchtbarkeit verdammt, wenn sie zu schnell, zu jäh auftreten. Dennoch wird letztlich weder von der Länge der Dauer noch von dem Erfolg überhaupt der Wert eines Geschaffenen abhängig gemacht werden können. Die eine ist bestimmt durch sehr viele andere Voraussetzungen außer der Stärke der Leistung; ja, ein Werk kann eben durch seine Wirkung seine eigene Dauer beschränken. So kann eine wissenschaftliche Neuerung durch ihre Bedeutung eine zweite, weiter- und tiefergehende hervorrufen, die als Tochter die Mutter rasch verdrängt. Oder eine Kunstweise, eine ganze Kunstgattung erstirbt aus Gründen staatlicher oder wirtschaftlicher oder überhaupt gesellschaftlicher Umwälzung. Man kann nicht sagen, daß dadurch ein Meisterwerk neuer Prägung, das kurz vor diesem Verfall geschaffen wurde, entwertet werde. Es handelt sich dann nicht um einen natürlichen Tod, sondern eher um eine schwere, tödliche Verwundung von außen.
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Wohl aber ist eine zweite Äußerungsform der Lebenskraft, die Stärke des Wirkens, ein verläßlicherer Gradmesser des Schaffens. Jedes Wirken ist in Kern und Wahrheit ein Überreden oder, genauer gesagt — da wahrlich das Wort nicht das einzige oder auch nur das wichtigste Mittel des Wirkens ist —, ein Überzeugen. Der Meister will zu seinem Werke, das Werk will zu sich selbst überreden. Selbst da, wo alles Wirken nur auf Zwang und Macht gestellt zu sein scheint, in der Staats-, in der Kriegskunst, ist ein Keim- und Kindesalter des Planens, des Werbens nachzuweisen, dem diese Merkmale überredender Kraft aufgeprägt sind: in den Kabinetten der Könige müssen die gewalttätigsten Maßnahmen der Staatsmänner, in den Feldherrenzelten müssen die Schlachtpläne der Kriegführer eine Wegstrecke durchlaufen, auf der sie nicht anders wie das Buch eines Forschers, das Bild eines Malers um Gunst und Billigung der Nehmenden buhlen müssen. Und wo die letzte Entscheidung und der vorletzte Vorschlag zusammenfallen, weil der Bestimmende und der Ausführende eine Person sind, da wird der auf dem Fuße folgende Ausgang der Tat selbst zum Urteil über ihre Wirkenskraft. Und zwischen dem Ausgang und der Geburt des Werks steht selbst hier noch ein Zwischenvorgang werbender Kraft: es ist die Wirkung auf die Helfer und Werkzeuge des Handelnden, die Wirkung etwa des Befehls eines Führers auf seine Truppe. Auch von der Wirkung und der Neuheit eines Schaffens läßt sich behaupten, daß sie durchaus nicht immer miteinander Hand in Hand gehen. Die geringere Sprungweite einer Neuerung mag sie für Mitwirkende wie Empfangende faßlicher machen, ihr also unmittel90
barere Wirkung verschaffen. Der große Schaffende eilt auch den nächsten Gehilfen voran: daß er sie nach sich zieht, wird durch die Schnelligkeit seines Vorstoßes nicht erleichtert, sondern erschwert. Dennoch tritt eben hier ein inneres Geschehen zutage, auf das es ankommt. Überredet-, Überzeugt-, Gewonnenwerden ist letzten Endes ein seelischer Vorgang. Es wird nicht unser Verstand in Flammen gesetzt, sondern unser Fühlen. Dies alles vollzieht sich sehr zusammengesetzt; der Empfangende nimmt das Geschaffene entgegen mit den Werkzeugen, die der besonderen Art des Gewirkten entsprechen: ein Kunstwerk mit der Einbildungskraft, eine Forschung, eine neue Ordnung des handelnden Lebens mit dem Verstand. Doch Begeisterung entsteht erst dann, wenn der Empfangende die Leistung mißt an dein schon ehemals Geleisteten. Sie geht aus einer mühelosen Wiederholung des Schaffens selbst hervor: dem Glück des Schaffenden muß, wenngleich nur als schwächerer Nachhall, das Feuer der Nachschaffenden, der Empfangenden antworten. Stärke der Wirkung ist nicht Breite der Wirkung. Eben indem der Vorgang als ein seelischer erkannt wird, offenbart er sich als ein nicht massenmäßiger, jedenfalls als ein nicht an die Masse der Empfangenden, der Überzeugten gebundener. Vieles Schaffen der Handelnden im Staat, in der Wirtschaft, aber auch im Glauben will allerdings die Massen bewegen und ist also von deren Entflammung abhängig. Eine lange Reihe anderer Formen des Schaffens aber ist nicht abhängig von der Zahl derer, die sich ihm hingeben. Dann ist es genug, wenn viele, wenn manche, wenn wenige erfaßt werden, und letztlich, wenn Einer nur empfängt, was Einer zeugte. Hier ist eine köstlich tiefe
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Einschränkung von dem, was man Erfolg im gemeinen Sinne nennt. Ein Werk kann wirken, wenn nur eine Seele sich an ihm entzündet, sich willig von seinem Feuer durchglühen und umschmelzen läßt. Daß Wirken ein seelischer Vorgang ist, lassen die verschiedenen Formen des Hervorbringens in sehr verschiedenem Maße erkennen. Das königliche Voriecht alles handelnden Schaffens ist, daß es unendlich viel öfter als das geistige von Mensch zu Mensch sich vollzieht. Von dem Führer, der nach neuem Plan die Schlachtreihen ordnet und lenkt, muß ein Glühen ausgehen, mag er auch noch so still und denkermäßig seines Amtes walten — der Gattamelata des Dona tello, ein Feldherrenbild, und Moltke, eine Feldherrengestalt, teilen diese Stille, und jener läßt den Colleoni des Schülers wie einen plumpen Söldnerführer weit hinter, unter sich. Und noch der Staatsmann in der Verschwiegenheit eines Audienz-, eines Beratungszimmers muß, so leis der Vorgang sich vollziehen mag, auf den entscheidenden Herrscher, auf mit ihm beratende Amtsgenossen eine Wirkung ausüben, deren erstes und letztes Ergebnis ein Fühlen ist, so viele Mittelglieder der Erwägung sich auch zwischen beide schieben mögen. Zerlegt man aber dieses Wirken auf die Seele, so spalten sich zunächst persönliche Nebenursachen und Nebenfolgen ab, die als im Grunde fremdartig ausgeschieden werden müssen. Der Meister, der zu sich und seinem Werk überreden will, spannt nicht selten Kräfte seines Wesens an, die nicht eigentlich mit seinem Tun zu schaffen haben: liebenswürdiges Locken, herber Stolz, starke, fast drohende Herrscherlichkeit, Trauer ob erlittenen Mißerfolgs — eine Stufenleiter 92
von noch viel mehr Staffeln mag erst ausreichen, um alle diese mitschwingenden Töne des Empfindens und Empfindenlassens zu umfassen. In Wahrheit aber ist nur eine Glut ganz legitim in diesem Mit- und Ineinander feuriger Bewirkungen: das ist die Flamme, die aus dem Schaffen selbst, aus dem Meister als Schöpfer bricht. Und hier lenkt letztlich doch die Bahn der Lebenskraft eines Hervorbringens in die andere der Wucht seiner Neuerung ein. Denn wie könnte man auf die Gewalt, die in dem Schaffenden wirkt, besser Rückschlüsse machen, als aus der Heftigkeit der Reibung dessen, was er zeugt, mit dem Alten und Bestehenden. Die Sache kann wie in allen Dingen der Kultur nur als Zeugnis gelten für ihren Schöpfer: Kultur ist nicht eine irgendwie bemessene Summe von äußeren und sei es auch geistigen Gütern, sondern sie ist der Werdegang des menschlichen Ichs, sie ist die Summe der Bildungen und Umbildungen, die dies Ich an sich vornimmt. Solches Bilden, Umbilden aber gerät in bedeutendem Sinne und Maße nur den großen Schaffenden. Oder vielmehr, es wird sich eine Stufenleiter der Schaffens-, der Neuerungsstärken herausstellen, deren höchsten Punkt die Großen einnehmen, während wahrlich eine lange Reihe von Zwischetistaffeln des zeugenden Vermögens herabführt bis zu den Niederungen der kleinsten Kräfte, die nur im Nachahmen Glück und Wirkung finden. Und man erkläre auch nicht, daß Neuerung ein allzu sachlicher, allzu gegenständlicher, zu wenig persönlicher Maßstab sei. In der Tat zwar erhält Neuerung im ersten wie im letzten Sinne des Worts ihre Maße und Werte vom Werk, nicht vom Meister, vom Ge-
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schafferien, nicht vom Schöpfer. Dennoch erlaubt diese von außen entliehene Gradleiter sehr wohlberechtigte Rückschlüsse auf die Kräftegrade des Ichs, das die N e u e r u n g leistet. D e n n eben Art und E i g e n t u m des Schaffenskräftigen ist es, die müde F o r t f ü h r u n g alter Wirkensformen zu hassen und das n e u e Werk zu suchen u n d zu lieben. I h m ist die Neuerung so gut Ursprung wie Ziel seines Dichtens und Trachtens. Der I r r t u m aber, der entsteht, weil so n u r der erfolgreiche Schaffende i m Sehfeld erscheint, er m u ß verschmerzt werden: die Seelenkunde der Gesellschaftslehre teilt ihn mit der der Geschichte. Er ist weit eher zu ertragen, als man denken m a g : der Starke wird an T r a u m und Plan nicht satt, in i h m ist das Begehren nach der Reibung mit den Wirklichkeiten, seien sie greifbar, seien sie geistig. Als von Glück und Recht des Schaffenden die Rede war, ist zwar an m e h r als einem Orte auf die Unterschiede der Schaffensfreiheit hingewiesen worden; aber es ist i m m e r h i n vom Schaffen in einem weiteren, vielleicht in einem allzu weiten Sinne gesprochen worden. Es ist natürlich, daß die stärkste, die gedrungenste, die wuchtigste Form eines menschlichen Tuns f ü r das Ganze dieses Tuns gesetzt wird, da sie doch n u r ein Teil und allenfalls Bild u n d Zeichen dieses Gan zen ist. Was bisher Schaffen genannt wurde, ist i m Grunde zu spalten in Wirken u n d Schaffen. Beide Begriffe drücken ein Hervorbringen neuer W e r t e aus, seien sie höherer, geistiger, seien sie niederer, äußerer Art. Aber der eine, das W i r k e n , u m f a ß t das Hervorbringen aller, auch der nach Form und Wesen längst
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vorhandenen Werte, der Werte also, die nur dem Stücke, nicht der Art nach neu sind. Zieht man von dem so gewonnenen Ausgangspunkt die ersten Linien durch die Bezirke des handelnden und des geistigen Lebens, so wird schnell offenbar, daß in beiden Reichen in Hinsicht auf die Verteilung von Wirken und Schaffen nicht die gleiche Regel waltet. Alles Handeln in Staat und Wirtschaft, in Familie und Stand weist eine Stufenfolge von Graden der Selbständigkeit des handelnden Ichs auf, die sehr viel Ähnlichkeit hat mit den Graden der Selbständigkeit des Schaffens, deren Stufenleiter im Reiche des geistigen Tuns gilt, aber mit dieser keineswegs gleich und Eines ist. Macht und Schaffenskraft, Herrschaft und Schöpfertum sind es, die sich hier dem Vergleich und der Unterscheidung entgegendrängen. Sie haben viel miteinander gemein. Das Ich, das nach Unabhängigkeit seines Wirkens ringt, kann Macht, kann Schaffenskraft erstreben. Unzweifelhaft beginnt jedes Drängen nach Neuerung mit einem Kampf gegen die Macht eines Meisters, eines Herrschers, eines Vorbildes im Reich des geistigen wie des handelnden Lebens. Unzweifelhaft führt auch jeder Erfolg geistigen Hervorbringens, und sei er auch stiller, zarter, feiner Art, zur Eroberung und zur Auswirkung von Macht. Und dennoch sind die Unterschiede zwischen Macht und Schaffenskraft, Machttrieb und Schaffensdrang tiefe. Macht ist nur äußere, Schaffenskraft ist innere Selbständigkeit des Ichs, Macht will äußere, Schaffenskraft innere Ausdehnung des Wirkungsbereichs. Man darf nicht sagen, daß Macht allein im handelnden, Schaffenskraft allein im geistigen Leben zu finden sei. Aber
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dies freilich bleibt bestehen, daß alle Schaffenskraft, die sich im. handelnden Leben auswirkt, im eigentlichen Zeugungsakt ganz Art und Weise des geistigen Hervorbringens annimmt, und daß die Einrichtungen der geistigen Machtauswirkung wenigstens dann, wenn sie sich in dauernde Formen fassen will, durchaus denen verwandt sind, die Staat und Recht und Wirtschaft lieben. Man prüfe nur: jedes Tun, und sei es noch so jäh und stark, auch das des Staatsmanns, des Feldherrn, ist im ersten Entstehen ein Entwerfen, ein Planen, völlig gleich dem Entwerfen, dem Planen des schauenden, etwa des forschenden Ichs. Und ferner: die Verfassungen, die Kunst und Forschung und Glauben annehmen, wollen sie sich sichere Formen der Überlieferung schaffen, sind denen des Staates oder doch wenigstens lockrerer Verbände des gesellschaftlichen, des handelnden Lebens innerlich und äußerlich verwandt. Kein Zweifel, viel wirkende Kraft des Ichs, die dem Schaffen dienstbar gemacht werden könnte, zieht es vor, sich in Machtübung umzusetzen. Und die Grundstimmung aller Handelnden mag sein, daß sie eher auf das Schaffen als auf das Geltendmachen von Macht verzichten würden. Soll aber eine Rangordnung der Werte aufgestellt werden, so muß gewiß Schaffen über Macht gestellt werden. Aus diesen, folgenden Gründen. Macht ist ein Ausströmen des Willens, die Andern dem Ich zu unterwerfen, will sagen starke und also beglückende Betätigung des Ichs. Und dennoch bedeutet es ein Reicheres, vom Glück des Schaffenden als vom Glück des Mächtigen zu reden. Denn Macht, die nicht schafft, die nicht nach Form und Inhalt stets sich zu
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erneuern trachtet, bleibt zwar lebensvoll, insofern sie sich nur in Tat umsetzt, aber tot, insofern sie immer nur die gleiche Tat wiederholt. Macht ist nur Funktion, Schaffen Zeugung. Ja, mehr als das: Machtausübung ist noch Demütigung des eigenen Ichs, insofern sie sich dem Willen eines Anderen, dem Vorbild dessen, den sie nachahmt, unterwirft. Nachahmen heißt Gehorchen, heißt, daß das Ich ein Tun auf sich nimmt, dem ein als Höherer Anerkannter Weg und Wie vorschrieb. In unsäglich vielen Fällen heißt Nachahmen auch nicht nur Gehorchen, sondern ist es geradezu. Die tausendmal tausend sehr maschinenähnlichen Handlungen, die der Staat täglich selbst seinen hohen und höchsten Machthabern vorschreibt, sind Nachahmung und Gehorsam gleichermaßen. So ergibt sich der auffällige Sachverhalt, daß Machtausübung, die nachahmt, zu einem Teil sich selbst wieder aufhebt, da Gehorsam ja willkürliche Verringerung der eigenen und ebenso willkürliche Vermehrung der fremden Macht bedeutet. Erst wenn Macht sich mit Schaffen paart, wenn sie neue Formen oder neue Gehalte ihrer Ausübung findet, dann erhebt sie sich zur Ebene des höchsten, des zeugenden Wirkens. Soll nun hier eine Stufenleiter der Werte der verschiedenen Formen des Schaffens aufgestellt werden, so muß fürs erste erwogen werden, welche Rangunterschiede zwischen den beiden Grundformen des Schaffens, zwischen Tun und Schauen, bestehen. Ja, es ist die Vorfrage aufzuwerfen, ob überhaupt eine solche Über- und Unterordnung statthaft ist. Denn es liegt nahe, diese Bezirke als an sich unterschiedene, aber auch an sich gleichwertige anzusehen. 1
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Und dennoch wird man sie in Hinsicht auf ihr Verhältnis zum Schaffen vergleichen können und sollen. Und ich denke nicht, daß dabei dem Angehörigen des einen Bezirks eine Parteilichkeit zuungunsten des anderen unterläuft. Denn nicht dies ist ja Absicht eines solchen Vergleichs, den Wert von Handeln und Schauen an sich gegeneinander abzuwägen, das heißt den Wert des Handelns oder Schauens für das Ich, von dem dieses oder jenes strömt, oder für die Andern, auf die das erste oder das zweite wirken will; sondern es soll nur das eine ermittelt werden, ob die Tat oder das Bild mehr Schaffenskraft erfordert und also mehr Schaffenskraft wirken, wachsen, werden läßt. Der schauende Geist spinnt sein Werk aus sich, fast in sich selbst. So erwirbt er sich eine königliche Freiheit, und die Bahn seines Vorgehens ist unver gleichlich viel ungehemmter als die des Handelnden, der mit den unsäglich viel störrischeren und widerspenstigeren Gegebenheiten der äußeren Welt, insonderheit mit den Widerständen der Menschen selbst, zu tun hat. Wo immer das geistige Schaffen an die; Grenzen des Handelns rührt, verliert es diese seine Leichtigkeit und Unbeschwertheit: die Meister vom Bau sind mit so vielen hundert Fesseln an Willen und Willkür derer gebunden, die ihnen erst die Gelegenheit, ihre Kunst zu üben, verschaffen sollen, daß ihr Tun dadurch viel schleppfüßiger wird als das aller anderen Künstler. Dies hemmt ihre Bewegungen weit mehr als der schwere Stoff, als Stein und Holz und Eisen, aus denen sie ihr Gebild wirken. Und die Former, die Umformer des Glaubens, tiefer noch in ihr Ich gewiesen als alle Bildenden sonst, sie kosten alle Mühsal, alle Schwierigkeiten der Herrscher, der Len-
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ker von Metischen, sobald sie, wie es ihre Sendung will, trachten, Andere und gar ganze Völker das Gleiche glauben zu machen. Aber an sich gilt das Gesetz, daß Gedanken und Ahnungen und Bilder ein weit feinerer, weit nachgiebigerer Stoff sind als die Seelen der anderen Menschen. Und so entsteht hier aus Empfängnis des aufnehmenden, aus Zeugung des schaffenden Geistes leichter, öfter, lebenskräftiger die Neugeburt des wahrhaft eigenen Werks. Gleichwohl, darin werden wir Bewohner der geistigen Provinz im Menschheitsreiche am wenigsten einer Täuschung anheimfallen können: die Wertung, die gilt, ist die entgegengesetzte. Macht wie Erwerb, die beiden Preise des handelnden Lebens, werden von der übergroßen Mehrzahl der Menschen höher geschätzt als jeder Erfolg des geistigen Trachtens. Was ist der Grund? Allein die Lockung, die die Wonnen der Macht, des Besitzes ausströmen? Vielleicht doch nicht. Eher die rasche Wirkimg, die jeder Erfolg des Handelnden ihm einträgt. Alles geistige Tun, und zwar das stärkste am meisten, gewährt, auch wenn es Großes vollbringt, in Hinsicht auf äußere Ausmünzung inneren Gewinnes nur Wechsel auf lange Sicht. Der Bildner — oder Denkbildner —, der auch nur auf die ihm am köstlichsten mundende Speise, die auf dem Tische der Welt seiner wartet, auf den Ruhm, in Bälde rechnen wollte, ist betrogen; der aber, der sein Werk auf so eiliges Wirken hin modeln wollte, er wird zum Betrüger. Denn er würde hundert Zugeständnisse an die öffentliche Meinung der Menge oder — fast noch schlimmer — an die geheime Meinung seiner Zunft machen müssen. Der Staatsmann, der Krieger, r*
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der Kaufmann, der Landwirt — ihnen allen münzt sich Erfolg wie Mißerfolg ihres Handelns sehr schnell in die äußerlich sehr erkennbaren und sehr nutzbaren Werte von Macht und Besitz um. Nicht Macht, nicht Reichtum bedarf der Auslegung, der Erklärung vor den Menschen: sie setzen sich selbst durch. Doch wir Geistigen würden Unrecht tun, wollten wir die Gründe der Geltung der Tat nur an der Oberfläche des äußeren Lohnes suchen. Ein Preis winkt hier auch in den Tiefen: es ist die Freude am Kampf, am Kampf mit den Menschen und mit ihren Widerständen, die so unendlich viel mannigfaltiger und zäher sind als die der beweglichen Geschöpfe der eigenen Seele. Kampf aber ist an sich für den Starken Freude als Spiel der eigenen Kräfte, und der errungene Sieg bereitet köstlichere Nachgefühle. Das Schaffen des Geistes teilt mit dem fruchtbaren Mutterschoß des Weibes das Vermögen des Gebärens neuer Lebensgebilde ; aber seine Art zu sein ist auch der des Weibes ähnlich an zitternder Feinheit des Empfindens, an Reizbarkeit und Störbarkeit der inneren Kraft. Die Weise der Handelnden aber ist rauh und männisch von Grund aus: es gibt keine Tätigkeit in ihrem Bereich, die so still und fein sich vollzöge wie die des Forschers, des Künstlers, keine auch, die so des Schutzes und der Bewahrtheit bedürfte wie Denken und Bilden. Und noch ein Unterschied lehrt begreifen, warum so viele Männer dem handelnden Leben sich mit so hingegebener Ausschließlichkeit zuwenden, daß ihnen nie in den Sinn kommen würde, es gehöre zu ihrer Möglichkeiten, nur geistig zu schaffen. Es ist das Schrittmaß, das für alles Handeln unvergleichlich viel IOO
schneller ist als für alles Denken, Bilden, Ahnen. Der Geist ist an die Zärte und Ruhe langsamen Spinnens und Wirkens gebunden; die Tat hat ihre tiefste Freude in der Raschheit ihrer Entschlüsse und ihrer Ausführungen. An dies schnellere Schrittmaß aber knüpft sich für den Handelnden ein Schaffen in kleinen Abmessungen, das ihn mit dem Bewußtsein zugleich auch die Freuden schöpferischen Tuns kosten läßt. Ein Beispiel legt am schnellsten offen, auf welche sehr feinen unddochsehr tiefgreifenden Abstufungendes Schaffensgefühls es bei diesem Vergleich ankommt. Der Leiter eines Heeresteiles im Gefecht ist gewiß unter den Zwang des denkbar raschesten Handelns und Entschließens gestellt, und dennoch kann sein Handeln dermaßen in Abhängigkeit von Überlieferung, Übereinkunft oder fremdem Befehl stehen, daß an ihm für den urteilenden Beobachter nicht die leiseste Spur ursprünglichen, eigenen Leistens aufzufinden wäre. Und doch würde er selbst, insbesondere bei mangelnder Einsicht in die Abgeleitetheit seines Tuns, fort und fort den Eindruck schöpferischen Wirkens haben. Der Wechsel der kleinen, an der Oberfläche liegenden Gegebenheiten würde so groß sein, daß er der Abhängigkeit seiner Handlungsweise gar nicht gewahr würde: jedes Gefecht bildet in den Nebenumständen ein neues, noch nie dagewesenes Bild, die Verantwortlichkeit jeder Silbe des Befehls ist so groß, die nötige Stoßkraft und die Raschheit des Handelns so bedeutend, daß ihm gar nicht in den Sinn kommen würde, die Schaffenswerte seines Tuns unter die bei Entstehung einer Abhandlung, eines Gedichtes, eines Gemäldes aufgewandten zu stellen. Und dennoch würde nur ein Befehlshaber, der ein innerlich Neues leistete, das gleiche iei
an Schaffensleistung aufzuweisen haben, ebenso Hohes erreichen wie der Denker, Dichter, Maler, falls sie nicht n u r einen Gedanken, ein Gedicht, ein Gemälde, sondern iti etwas auch eine Denk-, Dicht-, Malweise neu schüfen. Es leuchtet ein, dies schnelle Schrittmaß u n d die Stoßkraft eines Handelns werden hier als schöpferisch empfunden, m a n kann nicht sagen durch Selbsttäuschung, aber man wird sagen müssen durch eine Verwechselung von Funktion und Zeugung. Man könnte meinen, daß da, wo beide Kreise sich schneiden, daß, wo schöpferischer Geist u n d starkes Handeln sich in einem Werke, einem Meister treffen, die höchsten Siege menschlichen Schaffens e r r u n g e n würden. Und doch wird dies nicht zugegeben werden dürfen. Haben Alexander, Cäsar, Napoleon etwa freier und größer geschaffen als Jesus, Aristoteles, Michelangelo? Mit nichten. Nie war ihre Macht so groß, u m ihnen auch n u r annähernd das Maß der Schaffensfreiheit zu gewähren, über das jene geistig Zeugenden verfügten. So riesenhaft ihre Kräfte waren, so ungeheuer waren die Widerstände, die sich ihnen entgegentürmten, und sie zu überwinden bedurfte es der Kraft der Kämpfenden, nicht der Macht der Schaffenden. I m m e r wird von der Gesamtkraft auch der stärksten Täter ein viel zu großer Abzug f ü r die Überwindung der Hemmnisse und f ü r die wiederholende, also unschöpferische Tätigkeit der A u s f ü h r u n g erfordert werden, als daß sie den höchsten Geistigen an Schaffensmacht ebenbürtig werden könnten. Es liegt nicht außerhalb des Bereichs der Eritwicklungsmöglichkeiten, daß eine Zeit noch k o m m t , in der die äußeren Wertungen diesen inneren sich angleiI02
chen, in der Forscher und Künstler den Männern des Handelns den Rang ablaufen und in irgend einem platonischen Sinne die Führung des Lebens übernehmen werden. Und man wird dann doch nicht klagen dürfen über ein Hinschwinden männlichen und ein Emporkommen weiblichen Wesens. Der Typus der Leitenden, Lenkenden würde sich dann mehr und mehr dem der geistig Schöpferischen annähern, ja ganz in ihn übergehen. Und man würde dies so wenig ein Abnehmen der Kraft nennen dürfen, als man heut etwa bedauert, daß der planende Baumeister nicht die gleiche Kraft der Muskeln besitzt wie der Werker, der die Steine für die Grundmauern herbeiwälzt. Wenn dann der Forscher und Künstler auch an gesellschaftlich ausprägbarem Rang höher noch als die gebietenden Mächtigen gestellt würde, so wäre auch dies nicht ganz ohne Vorgangsfälle. Der Glaubensformer, der Priester hat immer wieder im Lauf der Geschichte der Menschheit um solche Stellung gerungen und sie oft genug für gewisse Zeit erreicht. Doch können seine Siege nur zu einem geringen Teil dem Ansehen des schöpferischen Geistes zugerechnet werden : der Priester hat von jeher auf den Grenzen der Reiche von Geist und Tat gestanden, er hat durch freilich geistige Mittel immer und immer das Handeln der Menschen beeinflussen wollen und so seinem Dichten und Trachten von je die festesten und deshalb auch mächtigsten gesellschaftlichen Formen zu geben gewußt. Die Kirchen der Glaubenslehrer waren immer unendlich viel stärker ausgebildet als die Schulen der Forscher, der Künstler: sie haben immer auch die Laien mit umfaßt, ja sie in feste Unterordnung unter 103
die Priester geschlossen. Immerhin haben viele Forscher und Künstler sehr bemerkenswerte Auf- und Abstiege ihrer gesellschaftlichen Geltung durchlebt. So gewiß aber auch ein Fortschreiten dieses Wachstums zu wünschen ist, so wenig sind doch die inneren Werte, von denen hier allein die Rede ist, von ihm abhängig. Es ist freilich eine Naivität mancher Männer des handelnden, insonderheit des erwerbenden Lebens, wenn sie erklären, daß die Engen und Schranken, die heut oft das geistige Schaffen unwürdig oder schädlich hemmen, nicht in Betracht kämen, denn die geistig Tätigen würden für diese Hintansetzungen überreich entschädigt durch die Wonnen ihres Werkes. Aber so schwer auch diese Nachteile nicht das Behagen nur, nein auch das Werk des Forschers, des Künstlers treffen können, von dem wirkenden Wert seines Tuns können sie nichts herabmindern. Den Maßstab für das vergleichende Abwerten der Formen menschlicher Tätigkeit wird das Verhältnis zwischen schöpferischem und funktionellem, zwischen neuerndem und wiederholendem Tun in dem Bereich jeder dieser Formen für alle Bezirke des Wirkens herleihen müssen. Eine unendlich staffelreiche Stufenleiter führt von dem einen Pole höchst schöpferischen Tuns zu dem anderen knechtisch nachahmenden Wirkens. Sie ordnet nicht allein alle Arten und Weisen irdischen Dichtens und Trachtens, sondern sie weist auch innerhalb der einzelnen Gattungen vielen Schattierungen, ja auch innerhalb des Lebens und Schaffens der Einzelnen ihren Wirkensformen und Leistungsstufen sehr verschiedene Ränge und Plätze an. Eine Anzahl jener Ordnungen ganzer Gruppen sei zuerst berührt. Innerhalb des geistigen Schaffens sind 104
seinen drei großen Teilschichten durch ihre Grundnatur sehr verschiedene Maße des Spielraums des Schaffenkönnens zugeteilt. Der Glauben bindet denen, die ihn bilden, formen wollen, nach zwei Richtungen hin die Hände. Einmal unterwirft er den menschlichen Geist, der ihn doch schuf, den Weisungen der höheren Gewalten, das heißt in Wahrheit der Überlieferung seiner eigenen, älteren Festsetzungen. Der Gott, auch der All-Eine und Allmächtige, ist das Gebilde des Glaubens der Väter. Der innerste Zwiespalt, der über jedes Werk des Glaubens verhängt ist, macht sich immer von neuem geltend: die Überlieferung ist für den Glauben nicht, wie für jedes andere menschliche Tun, Ausgangspunkt und Grundlage für weiteres Bilden und Umbilden, sondern im Grunde das Heiligtum selbst. Der Gott selbst, alle seine Eigenschaften, alle seine Gebote sind, so weit menschliches Erfahren reicht, als objektiv seiende nicht zu erweisen, sie sind vielmehr subjektive Errungenschaft des ahnenden Vermögens der Menschheit. Als solche aber stellen sie sich dem Anhänger jeder bestehenden Glaubensgemeinschaft als eine Hervorbringung der längit dahingegangenen Gründer und Mehrer und Umformer ihres Glaubensbesitzes dar. Dieser Besitz aber nimmt, durch das Zusammenfallen von Gott und Überlieferung die Eigentümlichkeit an, jede Änderung an sich als Vergehen, wenn nicht als Verbrechen zu verbieten. Scheinbar der Gott, in Wahrheit Willen und Willkür der Ahnen recken sich mit schwerer Drohung über die Gläubigen, über die Enkel und verbieten ihnen jede eigene Regung. Der Machtwille, der sich auf Unterwerfung von Kindern und Enkeln und immer neuen Generationen der später lebenden Men-
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sehen richtet und der in allen Starken, Großen, Schaffenden lebt, hat sich nie so herrisch emporgereckt über die zukünftigen Geschlechter bis an das Ende der Tage, wie in den großen Verkündern des Glaubens. Für die Demut, die sie — in der Tat auch sie — den von ihnen selbst geschaffenen Götterbildern entgegentragen, entschädigen sie sich durch einen ungeheuren Machtanspruch auf die Gemüter immer neuer Geschlechter von Gläubigen. Was Königsmacht jener großen Ahnen ist, ist kindliche, oft knechtische Unterwerfung der Lebenden. Und dennoch ist wiederum — und hier flammt aller Gegensatz auf •— der eigentliche Nährboden des Glaubens das tiefe Erlebnis des Ichs. Dieses aber muß seinem innersten Bedürfnis nach in der Seele der Starken stark, das heißt unabhängig, und also neu, also schöpferisch sein. Es hat dann, aber auch nur dann, Kraft, auf Andere überzeugend zu wirken. Das Wunder — und sei es das außer-, über-, widernatürlichste — , das in einem starken Ich Wahrheit war, hat Macht, auch Anderen wahr zu erscheinen. Und eben der ungeheure Kraftaufschwung und Machtanspruch in dem Ich der großen Glaubensformer und Glaubensumformer ist Beweis genug, daß auch in dem Ich des Gläubigen, der auf die Wucht und Leidenschaft eigenen Erlebens nicht verzichten will, immer wieder der Drang zur Neuerung, zum Schaffen erwachen wird. Es entbrennt hier wieder und wieder ein Kampf zwischen Überlieferung und Umwälzung, zwischen Erhalten- und Fortbilden wollen, der hier viel schärfer und fruchtbarer ist als irgendwo sonst in den Bezirken menschlichen Tuns, weil er in das Gewissen verlegt ist, weil Neuerung hier nicht allein Umsturz
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— was auch wohl sonst etwa im Staat geschieht — nein, auch Verletzung, ja Schändung des Heiligen, des teuersten Innenbesitzes eben der Kämpfer selbst wird. So ist hier die schaffende Kraft von vornherein in ungewöhnlich enge Bernde geschnürt. Gewsse Mindestmaße von Neuerung sind ihr verstattet, auch sie je nach Ordnung und Dichtigkeit der Glaubensgemeinschaften sehr verschieden bemessen. Man gedenke nur der Unterschiedenheiten, die in diesem Betracht sich heute zwischen der katholischen, der gebundenen und der freien evangelischen Kirche finden. Von üblerer Wirkung ist noch, daß so häufig der Neuerer sich und seinem Werk die Maske des Alten, Gewohnten vorhält, um eher Eingang zu gewinnen; alle Zeitalter der Glaubensgeschichte — das muß auch die vor urteilsvollste Forschung zugeben — sind entstellt von dieser leisen Lüge des Priesters, die fast ein seinem Amt und Beruf anhaftendes Irren zu sein scheint. Der Glaubensformer, der eines dieser Mindestmaße von Neuerung überschreiten will, wird immer gewaltsam sprengende Wirkungen hervorbringen. Aber es ist noch eine andere Gewalt, die im Bereich des Glaubens dem Schaffenden Schranken zieht: es ist nicht allein Überlieferung, die ihn einschnürt, nein auch Gemeinschaft. Der Glauben, so persönlich, so ichmäßig sein Entstehen ist und sein muß, ist an die Mehrheit, ja fast an die Vielheit derer, die ihn bekennen, gewiesen. Die Gemeinde aber ist der berufene Wächter und Hüter der Überlieferung; die gläubige Menge fordert, ihrer Massenmäßigkeit und inneren Abhängigkeit gemäß, nichts so lebhaft und so zäh, wie die Unveränderlichkeit des Glaubens. Sie tut dies I07
mit dem guten Rechte, das ihr aus dem Wesen de« Glaubens als der Gott-gewordenen Überlieferung, des Gebot-gewordenen Willens gründender Ahnen zufließt, sie tut dies kraft der Treue des Gehorsams, die den Mindern und Schwachen so wohl ansteht; sie tut dies aber auch aus dem natürlichen Mißtrauen heraus, das alle Menge dem Einzelnen, dem Schaffenden, dem von ihr auch Gehorsam, aber anderen Gehorsam Fordernden entgegenhält und das gewohnheitsgemäß des längst verehrten Großen Größe noch steigert, um den Anspruch und den Wert des gegenwärtigen Starken herabzumindern. Freier steht der Forscher der Welt gegenüber und freier ist sein Schaffen. Wohl fesselt auch ihn die Überlieferung seiner Wissenschaft; es ist nicht ganz von ohngefähr, daß man von Päpsten der Gelehrsamkeit redet, und daß die jungen Forscher in Frankreich die Gebieter in ihrem Bezirk Erzbischöfe nennen; es fehlt nicht an Fanatismus noch an Dogmatismus in dem Reich der Wissenschaft; fremde Gewalten mischen sich ein: die Kirche oder auch der Staat; am ärgsten ist der dem Glauben ähnliche Gewissenszwang, den bestehende Lehrmeinungen oder Lehrweisen ausüben. Und seltsam: immer von neuem wird den Entdeckungen der Neuerer entgegengehalten, ihre Gedanken seien zu ichmäßig, zu subjektiv; als ob, was nur aus dem Ich entstehen kann, seinen Ursprung verleugnen sollte, und als ob nicht von jeher die subjektiven Meinungen von heut die objektiven Gültigkeiten von morgen und die für objektiv gehaltenen Gedanken von heut die Subjektivismen von gestern gewesen wären. Dennoch wechselt der Anblick, den die Forschung solchem Vergleich gewährt, je nach dem Blickpunkt,
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von dem aus man sie anschaut: ein festes Fangnet/ wirft die Wirklichkeit ihr über das Haupt, von dem die Kunst nichts weiß, noch selbst der Glauben. Das Gesetz, das über jedem Versuch der Wissenschaft, ein Bild des Alls oder irgend eines Allteils zu geben, als unerbittliche Tafel aufgehängt ist, daß sie das Bild so treu dem Urbild nachforme, als nur irgend in ihren Kräften steht, macht — davon war schon die Rede — ihr Tun gebundener als das des Glaubens, ganz von der Kunst zu geschweigen. Wie alle bauende Forschung dann doch dem schauenden Ich noch weite Maße höherer Freiheit gewährt, wie viel Ichmäßigkeit sich ungewollt und unbewußt in das Werk selbst der Wissenschaft einschleicht, die am demütigsten sich vor der Umwelt beugt, davon wurde schon gesprochen und wird noch des öfteren gesprochen werden. Gleichwohl bleibt es das Vorrecht der Kunst, daß ihr Schaffen am freiesten von den Banden der Wirklichkeit sich auswirken kann. Nur das Glitzernd-Spielerisch-Ungewisse, das ihren Gebilden anhaftet, läßt sie weit minder fest und stark und männlich erscheinen als die Forschung. Und wenn beide, wie es der Wissenschaft Amt, der Kunst seltenere Neigung ist, dem Leben nicht allein den Spiegel ihrer Abbilder vorhalten, nein, ihm befehlen wollen, hierhin oder dorthin zu wachsen, so wird das ernste Tun des Forschers viel öfter und stärker einwirken als die Kunst. Nur wo die tiefste, ernsthafteste Gewalt aus den Tiefen der Seele des Künstlers bricht, mag sich auch hier die Schale zugunsten der Kunst neigen: die Gestalten der Götter und Menschen, die Michelangelo an die Decke der Sixtinischen Kapelle geworfen hat, sind wahrlich das höchste, königlichste Gebild von Menschentum, das 109
je dem Leben oder der Einbildungskraft der Irdischen zu verwirklichen gelungen ist. Nur auf diesen Höhen erreicht die Kunst auch jene tiefste Weihe und jene anspruchsvolle Kraft des Gebietens,- die beide sonst der Glauben als Vorrecht sich beimessen darf. Überschaut man alle diese Einzelwertungen und Wertvergleiche in den Bezirken des geistigen Lebens, so ist ihnen allen eines gemeinsam: sie erhalten in gegenseitiger Bespiegelung je von einander Bestätigungen und Bekräftigungen ihrer Vorzüge, aber auch ihrer Mängel. Und es steigt der Gedanke auf, daß auch alle diese Mängel auf eine Formel gebracht werden können. Sie heißt Bruchstückhaftigkeit, Zerspaltenheit, Gebrochenheit. Könnte dieser Grundmangel nur beseitigt werden, wenn alle drei einzelnen Formen des geistigen Schaffens 111 einer Einheit aufgingen? Dürfte angenommen werden, daß in ihr die Schaffenskraft eine unerhörte Wucht, eine letzte Verdichtung und Steigerung gewinnen würde? Diese Möglichkeit ist nicht allein Denkbild oder Eingebung der Vorstellungskraft, sondern sie ist im Laufe der Entwicklung der Menschheit immer wieder verwirklicht oder doch angestrebt worden. Immer ist in jeder der Einzelformen des geistigen Schaffens ein Drang lebendig gewesen, die anderen sich einzuverleiben. Am frühesten, am weitesten, am dauerhaftesten hat der Glauben diesen Eroberungstrieb betätigt. Die Priestertümer des hohen Alters der großen Königsherrschaften haben Jahrtausende lang Kunst und Forschung im gleichen Sinn wie ihr eigentliches Amt, den Dienst der Götter, innegehabt. Das Mittelalter der GerIIO
m a n e n hat eine ganz priesterliche Wissenschaft, eine ganz priesterliche Kunst erzeugt. Und noch h e u t wirkt in jeder Gottesgelehrsamkeit der Trieb, sich zu einer weit u m sich greifenden Weltwissenschaft auszudehnen. Noch h e u t m u ß sich die Kunst, die sich in den Dienst des Glaubens u n d der Kirchen stellt, in einem ganz anderen Sinn u n d Grade mit dem Geist ihrer Auftraggeber durchdringen als bei Lösung jeder anderen Aufgabe. Die Forschung, die sich erst langsam lösen m u ß t e von dem Glauben, hat, sobald sie zu ihren Jahren gekomm e n war, unendlich oft den Versuch gemacht, den Glauben nicht allein zu verdrängen, nein auch zu ersetzen. Alle Daseinslehre, alle Lebensweisheit sind in diesem Sinne profaner Glauben. Der Ernst der höchsten Dinge hat ihnen zuweilen eine W ü r d e gegeben, die sie heranreichen ließ zu priesterlicher Art. Nur die Schönheit der Gebärde, der Darstellung von W e r k und Ich, die Glauben und Priesterschaft ganz aus eigener Kraft und in vorbildlicher Steigerung gelungen sind, haben sie fast nie erreichen können. Einer der weltgeschichtlichen Erfolge des Dichter - Denkers unserer Tage, des neuen Zarathustra, ist, daß er, der erbittertste Feind Gottes u n d des Glaubens, zum erstenmal dem Ausdruck der Lebensforschung heilige Schönheit und tempelhafte Weihe zu leihen gewußt hat. Der Kunst hat sich die meiste Forschung von je in hohem Maße fern und entgegengesetzt gefühlt, zu fern, zu fremd, als daß sie hätte versuchen sollen, sie sich einzuverleiben. Nur die Geschichtsschreibung etwa, viel seltener die Naturforschung hat derlei zuweilen getan. Wohl aber hat sie ihr nicht selten die eigenen Gebote herrscherlich aufzuerlegen gesucht — und zwar in III
verschiedenen Zeiten in ganz verschiedener Richtung und Gesinnung. Es war eine wissenschaftliche Strömung, die die Kunst des ausgehenden Mittelalters von gotisch-germanischer zu antikisierender griechischrömischer Weise trug, und so wenig exakt im heutigen Sinn sie auch sein mochten, Archäologen waren es wiederum, die um 1770 eine neue klassizistische Welle über alle europäische Kunstübung warfen. In beiden Fällen waren es neue Inhalte, aber auch neue Formweisen, die die Wissenschaft dergestalt der Kunst aufnötigte. In beiden Fällen kann man dennoch nicht sagen, daß eine Verwissenschaftlichung der Kunst in ihrem Kern herbeigeführt worden sei; gerade dies abar hat stattgefunden in der Folge von immer neuen Realismen, die von der Romantik bis auf unsere Tage die Kunst erobert haben. Der Naturalismus lehrt am deutlichsten, wie ganz es sich hier um ein Eindringen der Wissenschaft in die Kunst, um ein Überrnachtwerden des künstlerischen durch den forscherlichen Geist handelt. Diese Vorgänge sind gewiß nicht einer völligen Einbeziehung der Kunst in die Wissenschaft gleichzuachten, wie es solche Einbeziehungen der Kunst in den Glauben gibt; aber sie bedeuten doch Anläufe zu diesem Ziel hin. Und ähnlich hat zuweilen die Kunst die Forschung zu übermannen getrachtet. Eben die Wissenschaft, die die Kunst zur Antike geführt hatte, wurde in einer seltsamen Rückwirkung zu einer Halbkunst, zum Humanismus gemacht, zu einer Halbkunst, nicht ähnlich, aber verwandt der, die einst die Volksforscher des späten Hellenismus, die Rhetoren, geübt hatten. Und unsere Zeit selbst sieht wieder einen Vorgang dieser Art sich abspielen. Wie in einem 112
Rückschlag gegen die Verwissenschaftlichung der Kunst in Realismus und Naturalismus gegen den Ausgang des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts setzte eine Bewegung ein, die letztlich eine zur Kunst gewordene Wissenschaft zum Ziel haben mußte. Viele von den Regungen dieses Zeichens sind seicht und unbedeutend genug; aber auch sie unterscheiden sich in ihrer Gesamtheit von altüberlieferten Dilettantismen dadurch, daß sie sich nicht als Ausnahme, sondern als neue Regel geben. So entstehen bändereiche Geschichtswerke, die ohne jede Verantwortung vor einer forscherlichen Regel, ja nicht einmal vor der Stetigkeit der eigenen Meinung, essayistisch im schlimmen Sinne, schwarz oder weiß urteilen, wie es die Laune der Feder beliebt. Von schwererem Gewicht, weil in viel tiefere Ebenen des Bildungsgeschiebes reichend, sind die Vorstöße bedeutender Künstler gegen die Wissenschaft, die mit dem kaum noch verhüllten Anspruch auftreten, die Kunst sei nun ernst genug geworden, u m alle schöne und edle Sendung der Forscher auf sich zu nehmen, Stroh und Hülsen aber der verachteten eigentlichen Wissenschaft zu überlassen. Jede Forschung, die ihrer selbst bewußt ist, wird auch diese ernsteren Übergriffe und gerade sie entschieden, ja hart zurückweisen und recht daran tun. Die eigenen Zwecke der Wissenschaft könnten nur leiden, wenn Brauch würde, ihr Amt mit dem der Kunst zu verquicken, wie die Kunst immer gelitten hat, wenn die Wissenschaft ihre Meisterin wurde. Und zuletzt auch würde der Glauben ähnlichen Schutz in Anspruch nehmen dürfen. Er hat oft genug, zuletzt im neunzehnten Jahrhundert, innerhalb der Kirchen, »
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der Bekenntnisse die äußersten Schädigungen erlitten durch eine Gottesgelehrsamkeit, die als Glaubensgeschichte Werke höchsten Ranges hervorbrachte, als Form der Glaubensverwaltung aber ebenso viele Einbußen am dem innersten und eigensten Gute des Glaubens bedeutete. Ingleichen sieht die Gegenwart immer neue Versuche, irgendeine Ergebnisgruppe bauender Naturforschung als Surrogat des Glaubens darzubieten, die alle an dem gleichen Mangel kranken, daß sie den Glauben, der dem Bezirk des Fühlens angehört, auf der ihm innerst fremden Ebene des Verstandes errichten wollen. Dennoch soll dies ausgesprochen sein: eine Einung aller drei Formen geistigen Schaffens muß möglich sein und wird dann den höchsten Platz unter allen erdenklichen Arten irdischen Wirkens behaupten. Der einzige Forscher von Königsrang, den unsere Augen gesehen haben, er hat die Bahn beschritten, die zu so hohen Zielen führt. Er, der als Gelehrter begann, erstieg den Gipfel höchster Forschung, der den Umblick über die Weiten, in die Tiefen aller Menschheit freigibt, er warf sich als Forscher zum Gesetzgeber der Völker und der Einzelnen auf, er fand seinen Einsichten, seinen Geboten die Form einer hellen, leuchtenden, ganz eigenen Schönheit, und er, der Feind Gottes, vermochte Weihe um sein Werk zu gießen, wie sie bis zu der Stunde Zarathustras nur der Glaube hatte wirken können. Nietzsche ist nicht Forscher, nicht Dichter nur, er ist Gesetzgeber und Glaubensgründer, aller seiner Gottlosigkeit zum Trotz. Wie sollten wir, seit uns dieser Reichtum geschenkt worden ist, daran zweifeln, daß sich uns oder unserer. glücklicheren Enkeln zu Häupten noch Dome wölben H4
werden, in denen so sieghafte Einung aller Kräfte des Geistes noch höhere Triumphe feiert. Aber eben wer diese Hoffnung hegt, ist verbunden, um so lauter zu erklären, daß so hohes Unterfangen n u r der höchsten Meister Sendung sein kann, daß aber niemals den Mittleren oder gar den Niederen zur Regel werden darf, was der Könige Vorrecht ist. Es wird ein hoher Bogen sich schwingen dürfen über alle drei, über Forschung und Kunst und Glauben; aber ihre Eigenkraft, ihre Eigenschönheit soll nicht angetastet werden. Ja, je reiner, je besser sie erhalten wird, desto sicherer wird jede ihre besondere Sendung erfüllen können. Und auch die Stärksten werden ihr Genüge darin finden, einer von den drei Herrinnen zu dienen. Selten mag selbst unter ihnen sich der finden, der seine Schultern stark genug weiß, ihnen die schwere Bürde einer Einung aller Geisteswelten aufzuerlegen. DIE SCHÖPFERISCHE MACHT DER WISSENSCHAFT Der sehr edle Wetteifer zwischen den Gruppen der geistig Schaffenden, die das spaltungsbedürftige und also spaltungsbegierige Leben aller späten Alter der Menschheit geschaffen hat, hat viele seltsame Kämpfe herbeigeführt. Der Haß der Priester gegen die Forscher ist so alt wie die Abspaltung der Wissenschaft selbst von dem Glauben. Die Enge des Gelehrten hat sich nie häßlicher selbst bezeugt, als in seiner Verkennung von Glauben und Glaubensformen. Wie viele Forscher sind blind gegen Wesen und Art von Kunst und Künstlertum. Aber mit der wieder ansteigenden Bedeutung der Kunst für das Werk der Menschheit
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an sich selber regt sich eine neue, auf lange hin nicht gehörte Anmaßung: die der Künstler wider den Forscher. Ein letztes Urteil in diesem Streit zu sprechen, ist vielleicht keine der Parteien zuständig, eben u m ihrer Parteihaftigkeit willen. Dennoch werden die Forscher weit eher Ruhe und Selbstbeherrschung zu so schwerem Amte finden: denn es ist die glückliche Überlegenheit der Wissenschaft, daß sie auf die Kunst nicht als auf einen Fremden oder gar Gegner hinblickt, sondern auch als auf einen Gegenstand ihres Werkes und darum ihrer Liebe. Ohne Liebe aber ist keine Gerechtigkeit tiefen Sinnes denkbar. Dahingegen ist den Künstlern in der Regel ein reich gemessenes Maß von Verständnislosigkeit für die Ergebnisse, ja auch für Sinn und Weise der Forschung eigentümlich, eine Verständnislosigkeit, die sich nach Menschen Art oft genug zur Abneigung steigert. Man wird nicht sagen dürfen, daß dem Künstler diese Abneigung unbedingt schädlich sei; denn gewisse Gefahr droht sicherlich der Federkraft seines Vorstellens und der Lebenswärme seines Werkes von einer allzu verstandesmäßigen Sehweise. Der sehr starke, in sich beruhende Geist wird in diese Gefahr nicht geraten: er wird Kraft genug haben, aus der fremden Gabe das ihm Dienende sich anzueignen. Leonardo, Goethe, hierin wie so oft höchste Vorbilder, haben vermocht, auch als Forscher schöpferisch tätig zu sein; ja, ein Besonderes, Geistiges in Beider Werk ist nicht zu denken ohne diese Voraussetzung. Man vermag sich nicht zu überreden, daß das Bildnis jener Frau des Rätsels und der tiefsten Wesensgründe, ein Werk nicht allein höchster Vereinheitlichung verstreuter Kräfte im Bild der
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Kunst, nein auch der letzten Zerspaltung und Auflösung einer wundergleichen Seelenkunde, möglich gewesen wäre ohne die forscherliche Geistigkeit des Schöpfers der Mona Lisa, noch daß Faust die Tragödie des forschenden Menschen hätte werden können ohne den Naturkünder Goethe, den Geschichtsschreiber Goethe. Aber an allen Künstlern zweiten Kräftemaßes, wenngleich innerhalb dieses von höchster Spannung, wird offenbar, daß sie jener Einseitigkeit gerade dann am schwersten entrinnen, wenn sie sich am tiefsten in die schöne Werkhaftigkeit ihres malerischen oder bildnerischen, ihres bauenden oder dichtenden Schaffens einsenken. Wer die Urwerte eines Dichtens oder Trachtens der Menschen wägen will, wird wohl tun, die Blicke in die Urzeit der Menschheit zurückzulenken. Sie zeigt die Einheit in der Vielheit, sie offenbart die stärksten An triebe, die wurzelhaftesten Beweggründe unseres Tuns. Weder Kunst noch Forschung sind Eigenwerte, Eigenwesen. Sie sind Abspaltungen vom Leben. Sie sind Töchter des Lebens, aber Lear-Töchter, die sich über den Erzeuger erhoben haben. Das volle Kreisrund des Lebens der Urzeit weiß nichts von Künstlern noch von Forschern, nur von Menschen. Wohl weiß die Urzeit schon von künstlerischem wie von forscherlichem Wollen und Ausführen. Aber beides ist noch gleich tief eingebettet und eingeordnet in Dienst und Wesen des Lebens. Schmuck und Tanz, Lied und Formel sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern damit sie die dunklen Gewalten der Uberwelt gewinnen oder schrecken; Jahrtausende begrifflicher Arbeit sind daran gesetzt, die Sprache zu formen; 117
die älteste Wissenschaft vom Sein, die sehr rationale Metaphysik und Physik, die die unterste Schicht des Glaubens bildet, die Ebene, die von den höheren Glaubensformen seit heut undenklichen Zeiten schon Aberglauben gescholten ist, sie dient ebenfalls nur den harten Zwecken des Daseins, das gegen die Unbilden des Wetters, die Öde des Landes, die Feindschaft der wilden Tiere auch nur zu erhalten Mühsal genug ist. Die Anfänge geschichtlicher Überlieferung färben die Lust de? abendlichen Herdfeuers, die Anfänge der Erd-, der Pflanzen-, der Tierkunde fördern die Zwecke der Jagd und des Kriegs und der Heilkunst. Es ist viel Not, die zu dieser Vereinheitlichung zwingt, aber es ist noch mehr Stärke und Lust, die aus dieser Bindung strömen. Es ist zu hoffen, daß einmal noch der Menschheit diese Tage der innersten Zusammenfassung und der reichsten Ich-Auswirkung wiederkehren. Ihnen gegenüber erscheint der gesamte Verlauf menschlicher Gesittungsgeschichte seitdem wie eine immer mehr fortschreitende Zersplitterung, insonderheit der heutige Zustand tausendteiliger Lebensspaltung, die man Arbeitsteilung, Berufsbildung genannt hat. Kunst wie Forschung haben den Segen, haben den Nachteil dieser Zersplitterung erfahren: der Gewinst, bestehend aus werklicher Vertiefung und Sonderausbildung, bedarf keiner Aufrechnung; die Verluste insonderheit der Kunst werden weit seltener verspürt. Wohnt einmal init offenen Sinnen und bereitem Herzen einer der großen Feiern der alten Kirche bei, hört die Tonfluten eines, zweier, dreier Sängerchöre sich brechen an den felsengleichen Wänden altersgrauer
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Kathedralen, und ihr werdet einen natürlichen Abscheu gegen alle Opern empfinden und noch die zwecklose Lebensleere der Konzerte peinlich vermerken. Jedes Bild, das nicht für einen Raum und seinen Besitzer gemalt ist, ist im Grunde wurzellos. Auch die Forschung leidet manche Not unter ihrer handwerklichen Absonderung, sie bedürfte einer viel tieferen Einverleibung in das Leben, einer viel innigeren Verschmelzung mit Saft und Blut lust- und leidvollen Schicksals des Einzelnen. Sie verdorrt völlig in der Hand von Wissenschaftsbeamten, die das Gelehrtengewerbe treiben, als sei es das einer Magistratsperson, sie empfängt Leben nur von denen, die nicht nur von ihr unterhalten werden, nein, auch für sie leiden wollen und ihr so wenigstens Hauch und Atem reinen Menschentums einblasen. So viel leuchtet ein: Kunst und Forschung teilen das Schicksal der Abspaltung vom Leben; der einen oder anderen einen Vorrrang in diesem Betracht einzuräumen, ist undenkbar. Soll hier durchaus ein Vergleich angestellt werden, er müßte zu Ungunsten der Kunst ausfallen, da ihr unzweifelhaft als der an sich sinnennäheren der Schwestern ein schwererer Schaden durch die Abtrennung vom Leben geschieht. Man hat erklärt, das Werk der Forschung sei ein lediglich ordnendes, nicht schöpferisches, sie wisse nichts anderes, als die Welt in Begriffe zu spalten, die sie dann wieder fallen lasse, wenn ihr andre besser dünkten, sie rede nur über das Leben, erzeuge selbst nichts und sei also ein leeres Spiel mit dem Fächerwerk toter Teilungen, unfruchtbar, unzeugerisch von Grund aus, weder der Kunst, noch dem Glauben, noch der Tat ebenbürtig. Ihre Werke seien vergänglich und II9
überaus undauerbar, ihre Wirkung auf die Seele nichts als Last und Mißvergnügen. Über die Zeugungsfähigkeit eines Handelns entscheiden zwei Zeichen: die Kräfte, die es weckt, die Werte, die es schafft. Die Kräfte stehen voran: denn dies ist entscheidend über Höhe, Tiefe eines Wirkens, ob es Mächte aus Macht, Kraft aus Kräften an Tag kommen läßt. Wenn unter dem vielberufenen Namen Kultur mit Recht keinerlei Summen von Kulturgütern, weder von geistigen, noch gar von äußeren, sondern allein die Summe der Umbildungen und Bildungen des Menschen selbst, des Ichs, verstanden wird, für die alle Hervorbringungen der Menschen nur Zeugnisse und aus denen sie nur Folgeerscheinungen sind, so muß am nachdrücklichsten von den Kräften die Rede sein, die die schöpferische Macht der Wissenschaft als neue zeugt, und die berufen sind, das Leben selber zu bewirken. Doch wird sich ihre Betrachtung nicht von der der Werte trennen lassen, da Stärke und Stetheit der Kräfte nur aus den Werten abzulesen sind, und wiederum die Werte nur in das rechte Licht zu setzen sind, werden sie bis zu den Kräften als ihren Quellen und Ursprüngen zurückverfolgt. Die forschende Kraft der Menschen ist älter als die Forschung selbst. Man denkt beide heut zu verhöhnen und zu niedern, wenn man ihnen vorwirft, sie verstünden nichts anderes als die lebendigen, sinnlichen, greifbaren Dinge in das öde Grau ihrer Begriffe umzuwandeln. Man begeht dabei zwar den üblen Irrtum, die Form der Wissenschaft, eben den Begriff, mit ihren Gehalten zu verwechseln, aber man rührt damit, sicher ohne den mindesten guten Willen, an die früheste I2ü
und zugleich fruchtbarste Schöpfung des forscherlichen Geistes, diejenige, in der allein der Begriff wirklich die Gesamtheit des Werkes u m f a ß t : an das Gebäude unserer Denkformen. Es stellt sich sichtbar dar in dem ebenso hohen, ebenso gliederreichen Bauwerk der Sprache. Beide Wachstümer, Denken und Sprache, sind nicht getrennt anzusehen, beide sind auch nicht allein das Erzeugnis des forscherlichen Geistes, beide sind dennoch als W e r k e wesentlich von i h m gewirkt. I m Sprach- u n d Denkschatz ist das Metall der lebendigen Anschauung sicherlich von einer freien, willkürlichen Aneignung u n d Nachbildung der Außenwelt durch die Einbildungskraft und, wenn man will, durch den künstlerischen Sinn als Bild und Laut erworben und geschaffen ; aber alle Formung dieses Rohstoffes zu Gedanken und Sprachgefüge ist Errungenschaft des forscherlichen Geistes. Finden sich bei Urzeitvölkern, denen n u r die ersten Anfänge wirklicher Forschung gelungen sind, wie bei den Eskimo, Sprachgebäude von höchster Mannigfaltigkeit, Folgerichtigkeit und Vollkommenheit der begrifflichen Gliederung, so wird offenbar, daß begabte Stämme die ersten Jahrtausende ihrer geistigen Arbeit fast ganz dem W e r k der Aufführung dieser Denk- und Sprachgebäude gewidmet haben, mit einer Einseitigkeit, die sie manche anderen Kräfte zu entfalten, manche anderen Werte zu schaffen abgehalten haben mag, die aber zugleich die gewaltigste Leistung der forscherlichen Kraft der jungen Menschheit hat zustande kommen lassen, Werke von dem Formenreichtum u n d der Einheitlichkeit gotischer Dome, u m so wunderwürdiger, als sie den Anfang aller Verstan121
destätigkeit überhaupt ausmachen. Alle Grundgesetze der Sprach- wie der Gedankenbildung sind hier schon festgelegt, und so bedeutend die Formarbeit aller späteren Alter am Werk der Sprache ist, sie verschwindet neben diesem nicht nur grundlegenden, nein vollendenden Tun -der Urzeit. Man hat der Sprache ?um Vorwurf gemacht, daß sie dem lebendigen Bild der Welt die schlimmste Gewalt antue und unsere Anschauung nicht bereichere, sondern ärmer mache. Nun wohl: die Sprache wie jedes begriffliche, das heißt scheidende und bindende Erfassen der Wirklichkeit bedeutet wahrlich Gewalt, Macht, Kraft; aber das ist, so meine ich, nicht ihr zur Schande, nein zum Ruhme gesagt. Gedanke und Wort, die mit- und durcheinander wuchsen, sind die beiden Arme, mit denen die junge Menschheit nach der wirren, fremden, feindlichen Welt ringsum langte, um sie an sich zu ziehen, sie zu überwältigen, sie sich zu unterwerfen. Aus herrscherlichem Willen sind beide, Wort und Gedanke, geboren. Wenn sie dabei, wie Herrscher zu tun pflegen, den Dingen Gewalt angetan haben, die einen, wie man meint, zu Unrecht bevorzugt, die anderen zu Unrecht in Schatten gestellt haben, so sollte man darüber nicht klagen. Nie war dieser Eroberungszug des menschlichen Geistes anders zu führen: sein Schwert mußte hier Verwandtes trennen, dort Fremdes zusammenzwingen. Anstatt darüber fruchtlos und ratlos zu jammern, sollte man, wenn man sich denn berufen fühlt die Sprache zu meistern, Hand anlegen und biegen, bessern, schaffen, wo man den Mangel spürt. Der Reichtum der Sprache ist so groß, daß sie zu jeder Mehrung ihres Besitzes selbst tausend Mittel bietet. 122
Doch freilich, der schwerste Vorwurf, den man gegen die Forschung schleudert, er wird die Sprache um so schwerer treffen, als sie wahrlich, so weit sie Erzeugnis des forscherlichen Geistes ist, unsäglich oft ordnet. Doch ist dies ihr Werk allein? Mitnichten, schon von ihr, wie von der eigentlichen Forschung noch viel mehr, läßt sich aussagen, daß, wie ihre Gewalt stark und herrisch ist, so auch die Werte, die sie schafft, neu und Neues gebärend sind. Welch ein Wahn wäre es, zu behaupten, daß all die Klang- und Denkbilder, die sie von den Dingen schafft, nur Ordnungen, das heißt Umschiebungen der Dinge sind. Sie sind selbst neue Dinge, neue Besitztümer, zwar nicht der Sinne, wohl aber des Geistes. Eben dies ist ja das tiefe Geheimnis und der hohe Sieg der Sprache und des Denkens: daß sie Bilder, Stellvertreter der Dinge schaffen, die aber doch zugleich ein eigenes Leben zu führen imstande sind. Gedanken, Worte tot zu nennen oder unschöpferisch: wem sollte, wem dürfte das in den Sinn kommen. Jede packende Rede, die Leben zwingt, Leben schafft, jede glückliche Schlußfolgerung, die das Wunder neuer geistiger Gebilde aufsteigen läßt, würde solche Verblendung widerlegen. Ja, die Wirrsal der Beweisgründe, die die Forschung erniedern wollen zugunsten der Kunst, wird im Angesicht der Sprache völlig offenbar. Der künstlerische Geist hat dem forscherlichen Geist das Gold des Klanges, der Bilder dargeboten, der forscherliche Geist formte sie zu Begriff und Regel: daß er damit nichts Totes tat noch schuf, wer sollte des dankbarer Zeuge sein als die Kunst, die Dichtung, der ja damit erst der geformte Stoff für ihr neues Werk dargeboten ward und wird. 123
Ebenso gewiß läßt sich der Irrgang dieses Angriffes da erweisen, wo er die Forschung selbst antastet. Was ist, was heißt, was will Forschung? Forschung ist von Anbeginn das Auge, das die Menschheit ernst aufschlägt, um die Welt durch Erkennen sich dienstbar zu machen, mehr, um sich selbst, das eigene Wesen zu erkennen und mit dieser Erkenntnis ausgerüstet es immer stärker, immer sicherer, immer reicher auszuwirken. Forschung ist Leben, das um sich, in sich schaut, Leben, das herrscherlicher sich, das Leben, aus sich, ins Weite leben will, Leben, das starkwilliger, reicher, brennender sich, das Leben, in sich ins Tiefe leben will. Was wir heute unter den Namen der Naturforschung und Daseinswissenschaft — Physik und Metaphysik — umgreifen, war zuerst und zuvörderst eine Notwendigkeit der jungen Menschheit, um sich zu behaupten im Kampf gegen die Gewalten der Natur. Man wollte ergründen, wie alle die übermächtigen Rätsel ringsum zu überwältigen seien oder wie ihrem Zorn zu entgehen sei. Grüblerische Urzeitvölker, wie die Eskimo, haben daraus weit eher eine seltsam unbeholfene Metaphysik, eine Daseinswissenschaft, geformt als eine irgend eingängige Naturbeschreibung. Wissenschaft und Glaube sind auf dieser Stufe noch Eines: eine höchst verstandesmäßige Weltanschauung entsteht, die überall und immer Ursachenzusammenhänge aufdecken will und nur dem kindhaften Vermögen dieser Stufe gemäß zeitlich oder räumlich zusammenfallende, nach unserem Erkennen aber völlig unverbundene Ereignisse verknüpft. Die Grönländer hängen eine Schale Harn auf über dem Lager einer gebärenden Frau, dadurch wird von ihr Unheil abgewandt; ahn124
lieh läßt unser noch heute bestehender Jägeraberglaube dem Jäger die Jagd verderben, wenn ihm ein altes Weib begegnet. Der Dünkel später Zeiten hat diese seltsam vernunfthafte unterste Schicht naturforscherlichen Erkennenwollens Aberglauben genannt, da doch unsere Heilkunde wie unsere Chemie in vielen Stücken dem Wie der Forschung nach heute noch nicht über eine Ableitung des Auseinanders aus dem Nacheinander hinausgekommen ist: zuerst das Einnehmen von Chinarinde, darauf Sinken des Fiebers: der wirkliche Zusammenhang beider Ereignisse bleibt dunkel. Ja, eine eigentliche Erkenntnis der Verursachtheit aller Dinge wird unserm Geschlechte vielleicht immer verschlossen bleiben: es mag sich immer nur, wie etwa zwischen Chinarinde und Fieberabnahme, um die Nach Weisung von einigen oder vielen Zwischengliedern handeln. Der Wille zur Wahrheit, zur Aufdeckung des Ursachenzusammenhanges wohnt auch dieser frühesten Regung forscherlichen Geistes bereits inne. Dieser Geist tritt freilich noch in enger Bindung mit dem vornehmlich von der Einbildungskraft genährten Glauben auf, mit einem Allseelenglauben, der Tier und Pflanze, Mensch und Stein, Wind und Sonne gleichmäßig beseelt und also gleichmäßig stark in das Geschehen eingreifend annimmt. Aber auch diese Weltanschauung kann mit demselben Recht Daseinswissenschaft wie Glauben genannt werden. Auf die Beihilfe der Einbildungskraft kann und darf keine Form bauender Forschung verzichten. Der letzte Lebenswillen der höchsten Stufe einer Urzeit-Daseinswissenschaft aber ist klar erkennbar: der Mensch will die Welt erkennen, u m sich in ihr und vor ihr zu
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behaupteil: er ringt u m eine geistig feste Stellung zu ihrem Wirrsal, ihren Rätseln. Es entspricht der tiefen Bescheidenheit der Urzeit, wenn in ihr der Mensch sich brüderlich mit Tier und Pflanze, Stein und Stern in eine Reihe stellt. Eine tiefe GrunÜerkenntnis oder doch Grundannahme trägt alle Naturforschung der Urzeit: jedes Geschehen ist von unzerstörbarer Einheit. Jeder Vorgang steht mit allen andern in innerem Zusammenhang. Der Mensch sucht diesen Zusammenhang zu ergründen, u m dies Geschehen zu meistern. Der Grönländer singt eine uralte Weise, bevor er den Abhang zum Vogelnest emporklimmt, und nun kann ihn kein Steinsturz treffen; der Irokese murmelt eine Formel, indem er seinen Speer dem Hirsch nachsendet, und nun ist das Orenda, die Urkraft, des Speeres stärker als das Orenda des Hirsches. Auf der nächst höheren Stufe, da der forscherliche Geist zu eigentlicher Wissenschaft, zu einer weit mehr als anfängerhaften Sternkunde etwa, gelangt, bleibt der Antrieb dennoch der gleiche, bleibt denkwürdigerweise sogar die Grundanschauung die gleiche. Auch die babylonischen Priester, die den Lauf der Steme erforschen, tun dies nicht um der Sterne willen, auch nicht um der reinen Erkenntnis willen, sondern sie trachten am bestirnten Himmel nach dem Schlüssel für alles irdische, auch alles menschliche Geschehen. Mit anderen Worten: sie ringen nicht u m Wissen, sondern um Macht durch Wissen. Sie haben den Standpunkt der Urzeit, die die Welt durch Erkenntnis bezwingen will, noch nicht verlassen. Nur haben sich die oberen Gewalten jetzt viel höher über den Menschen erhoben; sie sind zu Göttern geworden, die
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man nicht mehr durch Formeln bezwingen, die man nur durch Opfer und Gebet u m Hilfe anflehen kann. Priester und Forscher sind noch in einer Person vereinigt. Und es ist die Gesamtanschauung von der Einheit alles Geschehens festgehalten. Daß der Sternenlauf wissenswert ist, weil er das Schicksal der Menschen, der Völker bestimmt, bedeutet auch dieses. Die Mystik aller Mittelalter hat die Einheit von Forschung und Glauben nicht nur nicht aufgehoben, sie hat sie vielmehr zu noch innigerer Bindung schmelzen wollen. Und seltsam: sie bedeutet in Wahrheit ebenso sehr eine Verwissenschaftlichung des Glaubens wie eine Auflösung der Forschung in den Dämmer und die Ungewißheit der Vorstellungen von der Überwelt. Jedenfalls umklammert der Wissende, Forschende Gott und Welt und Ich in der Absicht, zu ihnen Stellung zu gewinnen, Macht über alle drei zu erringen, tief in allen dreien das Leben zu erleben. Zu völliger Scheidung sind erst die Neuen Zeiten vorgeschritten: sie erst haben der Forschung das Amt zugewiesen, die Erkenntnis zu pflegen nur u m des Erkennens willen. Aber in Wahrheit hat die Forschung auch in unsern Altern an Lebensbedingtheit und an Lebenswirkung nichts verloren. Denn auch jetzt und heute ist der innerste Antrieb, der den Forscher bewegt, Welt und Natur zu ergründen, ein Drängen nach geistiger Macht. Alle Absichten auf tatsächliche Eroberung der Welt, die so vielfach mit einwirken, mögen hier außer acht bleiben; der innerste und rein geistige Beweggrund allen Forschens entscheidet hier schon: der Mensch sieht die Welt als seinen Wohnsitz an, und seinem Stolz wäre unerträglich, sie sich nicht zu unterwerfen, sei es durch die Tat — das ist letzter, 127
tiefster Sinn der oft ebenso verständnislos geschmähten Technik — sei es durch den Gedanken. Die Tat ist notwendig begrenzt durch die natürlichen Gegebenheiten, und hierin ist die Schranke der Technik begründet; der Gedanke aber ist frei. Er kann sich Fesseln anlegen als erfahrende Wissenschaft, er kann sich völlig demütigen vor der Wirklichkeit als beschreibende Wissenschaft, oder er erhebt sich zu königlichem Herrentum als bauende Forschung. So wurzelt die Wissenschaft, die sich Natur und Welt zuwendet, im Stolz unseres Geschlechtes und nährt ihn durch ihr Wirken, ist Ausfluß des Lebens und rückströmend Bestärkung des Lebens. Man denke einmal alles das, was Ergründung, was Nachbildung der Welt im Denkbild bedeutet, aus unserm Dasein fort : ratlose Schwäche wäre das Teil der Menschheit, Dunkel und Tasten, Nacht und Angst. Wenn nicht zuvor, so würde man sicherlich dann begreifen, wie in aller Erforschung von Natur und All nur das Leben sich auswirkt, um sich selbst, das Leben zu mehren. Ingleichen ist alle Wissenschaft, in der sich das Ich dem Ich, der Geist dem Geist, die Menschheit der Menschheit zukehrt, nichts anderes als Zeugung und Zeugnis des roten, blutvollen Lebens. Nicht der Anfänge, noch des Laufes, noch des heutigen Standes der Geisteswissenschaften soll hier von neuem gedacht werden. Es sollen nur Wesen und Grund einiger überragender Geisteswissenschaften auf ihren Lebensgehalt geprüft werden. Was ist Geschichte? Geschichte ist Rückschau des Menschengeschlechts auf den eigenen Weg. Kein Starker, Selbstbewußter unter den Einzelnen entbehrt dieses Dranges, die eigene Vergangenheit sich gegen128
wärtig zu machen, sich gegenwärtig zu erhalten. Aus Neugier? Aus Erkenntnistrieb? Kaum. Wohl aber aus dem Wunsche, sein Ich, sein Sein doppelt, vielfach zu sehen, zu empfinden. Das Ich, das Volk, die Menschheit selbst ersehnen von solchem Rückwärtsblicken eine Bestätigung, eine Bestärkung, eine Vermehrung der Freude am eigenen Sein. Das Leben, König und Kind zugleich, erblickt in wonnevoller Freude, in sonniger Eitelkeit im Spiegel der Vergangenheit sein eigenes Antlitz. Das ist Geschichte. Und mehr. Kein Wort vermag der Geschichtsforscher auszusprechen über die Vergangenheit, ohne damit — und sei er der letzte und niederste von allen — auf die Zukunft einzuwirken. Das gelebte Leben übt ohnehin die stärkste Macht aus auf das zu lebende Leben, das Woher auf das Wohin. Die Geschichte ist nichts anderes als die verdichtete, in geistige Form zusammengepreßte Gestalt dieser Macht. Und je weiter sie ihre Sichten spannt, je länger sie ihre Reihen schichtet, desto eher wird sie Recht und Drang verspüren, die Bahnen der Vergangenheit zu Linien der Zukunft auszuziehen. Sie wird zuletzt bewußt und betont einem Zukunftsbilde der Menschheit die Herzen bereit machen wollen. Wer die Geschichte Europas und der Welt jahrzehntelang in dem Sinn darlegt, daß er in ihr ein rhythmisches Auf und Nieder starken, spröden Ichtriebes und weicher Ichhingabe nachweist, und bei solchem Werke nach Neigung und Überzeugung den starken Einzelnen hoch über die Menge der Niederen und Mittleren erhebt, er wird wirksamer an dem Wiederaufbau der Persönlichkeit, der unserer Zeit mehr not tut als alles, helfen als manche, die aus diesem Werk ein geräuschvolles Gewerbe machen. 9
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Alle die Geisteswissenschaften, die an sich dem werktätigen Leben Regel und Ziel setzen wollen, Rechts-, Staats-, Wirtschafts-, Kunst- und Wissenschaftslehre, sind ohne alle Erläuterung zu erkennen als Werkzeuge des Lebens für seine eigenen Zwecke. Schilt man sie unschöpferisch, dann erklärt man das Leben selbst für unfruchtbar. Es wird behauptet, Amt und Art der Forschung sei, die Bestimmungen eines Begriffsnetzes als den wirklichen Inhalt des erforschten Teils der Wirklichkeiten auszugeben. Schon hier schleicht sich ein zunächst kaum bemerkbarer, aber durch seine Folgen schwerer Irrtum ein, die Anschauung nämlich, als sei das Ganze eines wissenschaftlichen Werks umschrieben, wenn seiner begrifflichen Scheidungen oder Zusammenlegungen gedacht worden ist. Es ist selbstverständlich, daß alle Forschung in der Anwendung alter, in der Auffindung neuer Begriffe gipfelt. Über Wirkung oder Tod eines wissenschaftlichen Werkes entscheidet letzter Hand die Zuspitzung zum Begriff in dem annähernd gleichen Sinn, wie über Wert oder Unwert eines Kunstwerks die Handhabung der Form entscheidet. Aber so wenig das Werk des Künstlers aus Formung allein besteht, so wenig besteht das Werk des Forschers allein aus der Aufstellung und Anwendung von Begriffen. Eben in der Kunst wie in der Kunstwissenschaft hat der Glaube an die Alleinherrschaft der Form zu den verderblichsten Irrtümern geführt. Der Naturalismus hat sich auf diese Losung der Form berufen, indem er erklärte, auf den Inhalt eines Kunstwerks komme es gar nicht an, und indem er ferner die technischen Außenwerke der Form, insbesondere die Farbwerte einseitig mit dem 130
Ganzen der Form in Eins setzte. Der Angriff, dem ein so großer Künstler wie Arnold Böcklin ausgesetzt worden ist und dessen Heftigkeit nur seinem Irrtum gleichkam, war gegründet auf diese völlige Nichtachtung des Gehaltes der Kunst, der im schlechtesten Fall dargestellt wird durch ein genaues Abbild der Wirklichkeit, im besten durch den Traum einer eigenen, höheren Wahrheit, der sich dem Künstler eingibt, und den Erfindung zu nennen, nur an die unterste Grenze seines Wertes rühren heißt. Durch ein sehr kluges, richtiger gesagt, schlaues Quiproquo suchte man dadurch eben den gehaßtesten Gegnern, den Trägern und den Verfechtern einer hohen, formenden Kunst, das Losungswort von den Lippen zu nehmen und es als Aufschrift auf die eigene, in Wahrheit grob stoffliche Kunstweise zu heften. Ein völlig gleichläufiger Vorgang findet sich im Lager der Wissenschaft, wo eben diejenigen am meisten von Methode reden, denen es im Grunde, ja ausschließlich, auf die Darbietung immer neuer Wirklichkeiten ankommt. Daß das Bild von den Schlacken der Überlieferungsfehler zu reinigen ihnen allein Methode heißt — eine Kunst, zu der man jeden mittelmäßig begabten Hochschüler im Lauf von sechs Halbjahren anleiten kann —, daß aber jede bauende Forschung unendlich viel mannigfaltigerer und feinerer Erwägungen bedarf, wird dadurch glücklich verdunkelt. Aus drei Teilen besteht das schöpferische Tun des Forschers. Er sieht die Wirklichkeit, er baut das neue Abbild des Alls oder der Allteile auf, und er formt und umgrenzt dieses Abbild mit alten, besser mit neuen Begriffen. Scharf zu trennen ist nur der erste Vorgang, das Aufnehmen der Wirklichkeit. An ihn hat 9*
das neunzehnte Jahrhundert die meiste Kraft gesetzt: daher denn alle seine geschichts-, sprach-, naturforscherlichen Methoden, die fast durchweg der exakten Beschreibung dienen. Tausend Ichmäßigkeiten und deshalb auch Zeitgemäßheiten mischen sich auch hier ein. Es ist kein Zufall, daß zu einer absoluten, d. h. überzeitlichen Richtigkeit nur die beiden Wissenschaften vorzudringen hoffen können, die den Erfahrungsstoff, den sie der Wirklichkeit e n t n e h m e n , auf ein Mindestmaß haben einschränken d ü r f e n : die Wissenschaft der Zahlen und Flächen und die der Begriffe: Mathematik und Logik. Das zweite und das dritte T u n der Forschung läßt sich nicht zeitlich und sachlich, wohl aber begrifflich von einander trennen. Denn von dem Aufprägen der geistigen Form, das sich durch eine Folge von Spaltungen und Bindungen vermittelst Anwendung alter und zum Behuf der P r ä g u n g neuer Begriffe und Formeln vollzieht, läßt sich sehr deutlich der N e u a u f b a u des Stoffes unterscheiden. Die Welt draußen ist eine ganz andere als das Bild, das unsere reine und denkbar ichlose Beobachtung empfängt. Aber auch noch zwischen diesem Bild unserer geistigen Netzhaut und dem neuen Wesen, das die bauende, bildende Kraft der Forschung gebiert, ist eine tiefe Kluft befestigt, wobei noch völlig von der endgültigen begrifflichen Form u n g abgesehen ist. Nur ein grenzenloses Verkennen der tiefsten Eigentümlichkeiten des forscherlichen Werkes kann diese Kluft übersehen, oder schließlich gar die Welt, das beobachtete Bild der Welt u n d das aufgebaute neue Wesen des forscherlichen Gebilds als eine einheitliche Masse ansehen, sie n u r von der begrifflichen F o r m u n g trennen, und so drei oder 138
gar vier Dinge plump in zweien verschwinden lassen. Vergleicht man die Reihe der geistigen Handlungen, aus denen sich das künstlerische Werk zusammensetzt, mit denen, aus denen Forschung erwächst, so findet sich ein Höchstmaß von Ähnlichkeiten und Gleichläufigkeiten. Der Künstler nimmt wie der Forscher das Sehbild der Welt an und auf; er richtet es in seinem Geist aus Saft und Blut seiner Einbildungskraft von neuem auf und formt es endlich zu seiner Gestalt. Der Unterschied liegt in dem zweiten Tun: der Forscher trachtet danach, das Abbild der Welt, das er in sich aufbaut, getreu zu schaffen, dem Künstler liegt ob, es frei zu erzeugen. Und dennoch: die höchsten Werke der Forschung wie der Kunst sind eben hier, wo ihre Bahnen am sichtbarsten voneinander abweichen, gar nicht so fern voneinander. Hohe Forschung und hohe Kunst haben dies Eine gemein: sie wollen beide die Wahrheit, das ist, den Kern der Dinge, der oft erst hinter den Dingen liegt, den Sinn des Seins, der oft höher ist als das Sein. Die Wirklichkeit, die um so viel niederer ist als die Wahrheit, wie das Sein niederer ist als der Sinn des Seins, hat die Kunst Macht, völlig beiseite zu lassen; der Forschung dagegen ist auferlegt, auch ihr Bild nach Kräften und vollständig getreu in sich aufzubauen und nur das höhere, lichtere, verklärte der Wahrheit aus ihr zu schälen und auf einem höheren Thron neben und über jenem aufzurichten. Das werktätige Leben hat noch viel engere Näherungen geschaffen. Sehr hohe Forschung hat zuweilen die Wirklichkeit völlig verschwinden lassen hinter der leuchtenden Wahrheit, und starke, doch nicht stolze 133
Kunst hat sich tausendmal dazu erniedert, Wirklichkeit wiederzugeben, nicht Wahrheit. Hegels und Schellings Werke sind viel kühnere, freiere Bilder der Welt als aller Naturalismus des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Ja, man wird selbst von den höchsten Werken frei träumender Kunst nicht sagen dürfen, daß sie sich weiter von der Wirklichkeit entfernen als höchste Forschung: Michelangelos Gottvater, der durch die Wolken stürmt, ist der Wirklichkeit nicht weiter enthoben, als Kants Ding an sich. Nur ein ganz grundsätzlicher Unterschied bleibt bestehen. Die Wissenschaft ist stets gebunden an die Pflicht der Vollständigkeit ihres Weltbildes, die Kunst aber hat nicht das Recht nur, nein, selbst die Pflicht, zu wählen unter den Gegebenheiten der Welt und nach freier Willkür jenen Teil des Alls oder diesen zu höherem Gehalt Wiederzugebären. Trotzdem fehlt es auch hier nicht an Gleichläufigkeiten im einzelnen. Was der Forschung als einem Gesamtwesen verwehrt ist, steht dem Forscher als Einzelnem frei: er kann seine Liebe dieser oder dieser unter den Gegebenheiten der Welt schenken. Der eine Gegensatz bleibt bestehen: Vollständigkeit hier, Wahl dort, Gesetz hier, Willkür dort. Auch der Forscher, der den kleinsten Teil der Welt wählt, aus ihm sein Werk zu formen, ist gebunden, diesen Teil vollständig zu erkunden, alle seine Wirklichkeiten zu erforschen, alle seine Wahrheiten zu verkünden. Dem Künstler aber wäre Schaden und Fessel, was dem Forscher Wirkensbedingung ist: er soll frei sein gegenüber der Welt, deren Ganzes an sich ihn nicht angeht und deren Sinn er dennoch aus ihrem kleinsten Teil zu erschließen vermag.
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Allein — u n d dies f ü h r t zur Frage nach der Zeugungsk r a f t der Forschung zurück — der Hergang, der zu d e m Urbild der äußeren Welt ein körperhaftes Nachbild innerhalb des Geistes schafft, ist beiden, der Kunst wie der Forschung gemeinsam. D a m i t jemand eine Geschichte der Römer schreibe, ist notwendig, daß er den Stoff, den Leib der römischen Geschichte in sich von n e u e m erzeuge. Und wer glauben wollte, dieses zweite Bild verhalte sich zum Urbild der Wirklichkeit wie die Photographie zur Natur, den belehrt vielleicht ein Vergleich der Römer des Livius, des Tacitus, der Römer Niebuhrs, Nitzschs und Mommsens untereinander darüber, wie grundfalsch diese Annähme ist. Jeder dieser Erforscher des römischen Volkes und seiner Taten hat andere Römer geformt. Und sicherlich ist jeder von ihnen sehr weit von den Römern entfernt geblieben, die ein Heutiger, Starker bilden würde. Die Römer aber, die wirklich waren, mögen allen ein gleich Unerreichbares gewesen sein. Der Chronist unter ihnen ist der Wirklichkeit vielleicht a m nächsten, der Wahrheit am fernsten gewesen. Die Unterschiedenheit des so geborenen Nachbildes von dem Vorbild aber ist Lust und Leid des Forschers gleichermaßen. D e r Geschichtsforscher ist zur Lüge geboren, hat ein Meister gesagt. Und wie tief ist die Kluft zwischen d e m Naturforscher und der Natur, tiefer sicher als die zwischen Mensch u n d Mensch. Hundert Vermenschlichungen des Außermenschlichen mag die Forschung überwunden haben, in tausend ist sie sicher noch befangen. Ist nicht der Gottesgedanke selbst, nicht als Empfängnis des Glaubens, nein als Gebild der Daseinswissenschaft gedacht, ein höchster Beweis f ü r das Unvermögen unseres Schauens, sich
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aus den Bernden unseres eigenen Menschentums ru lösen ? Viele Grade der Verteilung zwischen dem Stoff des eigengeborenen Nachbildes der Welt und den Formen der wissenschaftlichen Begrifflichkeit weisen die einzelnen Wissenschaften auf. Die begrifflichsten lassen sich an einem sehr schmalen Leib des Stoffes genügen — so die Mathematik, so die Logik —; aber es gibt auch gewaltige unter ihnen, die zwar durch siebenfache Formung den ursprünglichen Stoff fast verschwinden lassen, die aber trotzdem ein Unendliches von solchem Stoff in sich erzeugen müssen, eben damit sie ihn später um so sicherer an den Feuern ihrer Läuterung sich verzehren lassen können. Viele große Werke der Daseinswissenschaften sind so entstanden. Den Gegenpol halten die Wissenschaften, die, dem Leben ganz nah, alle seine bunte Farbigkeit wieder zurückzugeben trachten, wie die Geschichte, oder ihm Bilder, klare und leuchtende Bilder einer Zukunft vorhalten wollen. Ein hohes Geheimnis umwittert alle diese Vorgänge in den Tiefen des forscher liehen Geistes: das neue Bild, das er gebiert, will eins sein mit dem Urbild der Welt und kann doch nie mit ihm gleich oder auch nur seiner Art, ihm ähnlich werden. Es ist die Mystik der Wissenschaft, die hier waltet. Von Gedanken und Vorstellungen gewebt, können diese Gestalten nie Fleisch und Blut der Menschen draußen annehmen, sind sie, und sind sie doch wieder nicht. Aber sind sie darum Gespenster? Wahrlich nicht, so wenig wie die Gestalten, die dem Traum der Künstler entsteigen. Daß neben dem Reich der sinnlichen Gewachsenheiten ein Bezirk geistiger Beherrschung dieser Gewachsenheiten 136
bestehe, galt bis heute den höchsten Führern unseres Geschlechts, auch den Künstlern von der Erkenntnisbreite Goethes, als ein Gewinst, nicht als ein Verlust in der Schatzkammer menschlicher Kräfte. Die entscheidende Formung des Werkes durch den Forscher geschieht mit dem Werkzeug des Begriffs und zu einem Teil zu dem Ende, eine Reihe neuer Erkenntnisse in Begriffe oder begriffliche Formeln zu kleiden. Der Begriff ist Grenze, Rahmen, Form der Erkenntnis, nie die Erkenntnis selbst. Der Begriff verhält sich zur Erkenntnis wie die Umrißlinie zur Fläche, wie die Oberfläche des Körpers zum Körper. Noch die denkbar begrifflichste Form, die eine Erkenntnis annehmen kann, das Gesetz, ist nicht selbst ein Begriff, sondern ein Inhalt, gebracht in die Form von Begriffen. Die wunderwerte Einheitlichkeit des Baues der menschlichen Kräfte und Werke führt gerade an diesem entscheidenden Punkte zur völligen Ebenmäßigkeit von Kunst und Forschung. Die Form ist ganz im selben Sinne Umrißlinie, Oberfläche des Gehaltes eines Kunstwerkes, aber nie mit diesem selbst zu verwechseln. Die großen Gedankendome, die Aristoteles, Leibniz, Kant aufgerichtet haben, sie sind der Quell einer Freude an begrifflichem Bauen, von der man fast sagen möchte, sie sei ästhetisch, kunstmäßig, so nah ist sie der Freude an den Systemen großer Bauwerke verwandt. Werk des sich mühenden, Werk des sieghaft empordringenden Geistes ist beides, erhaben über niedere Nachahmung der Umwelt, Zeugnis des Herrscherwillens der Großen über die Welt, Ausfluß strömender Lebenskraft ist beides. Gerade die Ordnungen, die Systeme, die etwa Baukunst und DaseinswissenJ37
scbaft in auffällig hohem Maße miteinander teilen, sind nach meinem Bedünken ebenso sehr ein Erzeugnis ausgreifender Einbildungskraft wie folgernder Verstandeskraft. Disposition und Komposition sind nicht so weit voneinander entfernt, noch so entgegengesetzt, wie die Namen vermuten lassen. Die Schule von Athen ist im selben Sinne ein Werk scheidender, trennender Verteilung von Eindrucksmassen, wie die Kritik der reinen Vernunft ein Werk der Zusammenfassung und Vereinheitlichung von Gedankenmassen ist, während jene Ausdrücke zunächst nur das Gegenteil andeuten. Es ist bezeichnend, daß wir die Freude an der Zusammensetzung und Gliederung großer Forscherwerke wie eine ästhetische empfinden: Scholastik und Gotik sind einander ganz wahlverwandt, und wenn das achtzehnte Jahrhundert im Rokoko eine Kunst hervorbrachte, die wiederum, wie einst die hohen Dome des Mittelalters, germanischer Leidenschaft den Zügel unerbittlich strenger, unerbittlich ordnender Regel überwarf, so bedeutet die hohe Daseinswissenschaft der deutschen Denker dieser Zeiten, Leibnizens, Wolfs und endlich Kants, in gewissem Sinn eine Wiedergeburt des bauenden und ordnenden Geistes der Scholastik, deren Größe zu verkennen uns die klassizistische Legende bis auf den heutigen Tag überredet hat. Andrerseits ist die Einbildungskraft an dem begrifflichen und bauenden Werk der Forschung in höchstem Maße beteiligt. Keine Schlußfolgerung, die wahrhaft schöpferisch ist, will sagen, die vom bekannten Land erschlossener in das unbekannte Land neu zu erschließender Erkenntnisse leitet, ist denkbar, die nicht zwei, drei, vier tastende, prüfende Versuche, das heißt Probefolgerungen machte, unter denen sie endlich die
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sie richtig dünkende wählt. Kein Planen großer Gedankengebäude vollends ist möglich ohne die bebenden, schwingenden Flügel einer starken Einbildungskraft. Kein Werk höchster Forschung ist je geschaffen worden, dessen Abbild sich nicht wie das der großen Kunst als Traum von oben, gespendet von den hohen Mächten über uns, auf die demütig gesenkten Lider seines Schöpfers herniedergelassen hätte. Man hat der Forschung vorgeworfen, daß sie aus der Welt immer nur starre, zustandhafte Bilder entnehmen könne, da doch das Leben selber in stetem Fließen begriffen sei. Zahlreiche Zweige der Naturwissenschaft kann dieser Vorwurf nicht treffen: Sternkunde ist nie etwas anderes als Sterngeschichte, als Darstellung von Vorgängen gewesen, Tier-, Pflanzen-, Steinkunde sind durch Darwin zu Entwicklungsgeschichten umgeformt worden, die Erdkunde ist im Begriff, eine solche zu werden, und die Erdgeschichte war es von je. Aber insonderheit auch die Geschichtswissenschaft wird in diesem Betracht als schuldig angeklagt. Alle Geschichte ist Werden: diesen Satz hat der Verfasser dieser Zeilen unermüdlich immer von neuem als Losung ausgesprochen. Er hat sich verwahrt gegen die Bezeichnung der Kulturgeschichte als einer Zustandsschilderung, er hat fließende Zustandsgeschichte als Ziel aller geschichtlichen Darstellung hingestellt. Er hat eine Geschichtsforschung höherer Ebene gefordert, die Geschichtslehre, eine eigene Wissenschaft, die nur das Geheimnis des Wachsens und Werdens der neuen Vorstellungen, der neuen Handlungsweisen der Menschen zum Gegenstand haben soll. Er hat die Starrheit bestimmter Teilbilder und Teilbegriffe nie verschleiert, er hat immer wieder betont, daß der
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Begriff Stufe lüge, denn die Bilder alles Strömens, Fließens, Wachsens entsprechen der Wirklichkeit aller Geschichte bei weitem am meisten. Und wenn es hieß: wäre unser Auge so stark, unsere geistige Netzhaut so weit, um den Hergang der Weltgeschichte oder auch nur beträchtlicher Teile von ihr mit einem Blick zu umfassen, so würde in uns das wahrste Spiegelbild entstehen, so wurde unter Hergang eben das Werden, Wachsen, Sichwandeln der Dinge im eigentlichen und betonten Sinn des Wortes verstanden. Er hat selbst die Begriffsbilder der Forschungslehre immer regelmäßiger aus den Bezirken des Lebens und des Gebärens entnommen, hat öfter von Stammbaum und Filiationen als von Stufen und Reihen gesprochen, da doch auch die letzteren immer nur als Gleichnisse eines Unbelebten für das Leben gedacht waren. Wollte die Geschichtsforschung aber auf die allerdings zustandsartigen Querschnitte verzichten, die die begrifflich entwickelnde Forschung doch nur zu dem Behufe eingeführt hat, daß aus ihnen vermöge eines ständig bleibenden Fragennetzes die Vergleiche abgelesen werden, aus denen allein die Veränderung, die Entwicklung, das heißt eben doch das Wachsen, Strömen, Fließen, also das Werden, also das Leben erschlossen werden kann, so würde dieser Verzicht nichts anderes heißen, als die Nichts-als-Beschreibung wiederherstellen, die zu überwinden das schwere und noch im mindesten nicht vollendete Werk des heut erst vordringenden Forschergeschlechts ist. Die Forschung selbst aber würde durch solche überschnelle Reaktion — für die vielleicht nach hundert Jahren einmal die rechte Zeit gekommen sein wird — nichts als Schaden erleiden.
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Alles begriffliche Zerlegen und Zerspalten geschieht wahrlich aus keinem anderen Grund, als u m damit zum Kern des Werdens vorzudringen, das tiefste Geheimnis des Wachstums der Welt und der Seele zu ergründen. Dieses Geheimnis offenbart sich nicht an der Oberfläche des Urbildes der Welt. Die wirkenden Triebkräfte sind niemals vorstellbar, sondern immer nur denkbar. Aber sie sind deshalb nach dem Urteil aller höchsten Denker unseres Geschlechts von Herakleitos bis auf Nietzsche dennoch nicht Schatten und Ideen, sondern die Mächte, die im Grunde der Welt, im Grunde der Seele das Schicksal unseres Sterns, das Schicksal der Menschheit bestimmen. Dort freilich, wo der Lichtkreis der Erkennbarkeiten aufhört, wo der Dämmer der Ahnbarkeiten beginnt, um hinüber zu leiten in das ewige Dunkel des Unerkannten und Unerahnten, des Unerkennbaren und Unerahnbaren, da fängt das Reich der Kunst wieder an: die Tonkunst, die Baukunst wissen Ausdruck zu finden für Bewegungen unserer Seele, unseres Geistes, bis zu denen nicht Wort, nicht Gedanke hinreicht. Aber wo immer die Sterblichen den Versuch gemacht haben, auch hier zum Denkbild zu gelangen — und dies ist recht eigentlich Amt und Sendung des Glaubens von jeher gewesen — , da haben sie weit öfter und weit wirksamer die Ausdrucksformen der Wissenschaft als die der Kunst aufgesucht: alle Mystiken sind des Zeuge, das heißt die traumhaftesten, ahndungsvollsten und dennoch von jeher wissenschaftlichsten von allen Glaubensformen. Will man durchaus Rangordnungen einführen zwischen Künstlern und Forschem, so wird nur ein Maßstab möglich sein, unter den beider Leisten zu zwin-
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gen wäre: die Ichmäßigkeit, die persönliche Kraft ihrer Werke. Der Tanz ist der schönste, der zwischen Schwertern geht. Spiel, höchstes Spiel der Menschheit spielen sie beide, Kunst wie Forschung; aber da sich Forschung die härteren, strengeren Regeln setzt, so ist ihr Reigen zuletzt noch der schwerere, also das höhere Können erfordernde. Kunst ist Spiel der leichtgeschürzten Mädchen und Jünglinge, höchste Forschung Schwertertanz der Männer, die nicht Spitze, nicht Schärfe des nackten Stahles scheuen.
DIE M Ü H E L O S E L U S T DES I C H S Es war die Absicht, zuerst die Verflechtung und die einheitliche Wurzel alles Ich- und alles Hingabetriebes aufzuzeigen, sodann den Vorrang aller starken Ichlust zu erweisen, so weit sie nicht aus Genuß, nein, aus Schaffensdrang die Säfte zieht, und es soll nunmehr dargetan werden, wo denn in dem dunklen Lande unserer Seele die Grenzen zwischen den über sich weisenden Süchten nach Werk und Wirken und den anderen nach sich selbst verzehrenden Räuschen der Freude um der Freude willen zu ziehen sind. Denn wie dürfte Gesellschafts-, wie dürfte Sittenlehre sich unterfangen, über Gut und Böse unserer innersten Dränge zu urteilen, wäre sie nicht imstande, diesen nagenden, wühlenden, treibenden Kräften der Seele hier freie Bahn, dort unübersteigliche Schranken zu weisen. Können überhaupt — dies drängt sich solchem Scheidungswerke als erste und nur vorläufige Frage auf — 142
Schaffenstrieb und Genußdrang ganz rein und ohne Vermischung von einander getrennt werden ? Ist nicht, indem allem Ichtrieb dort ein Freibrief erteilt wird, wo er zum Glück des Schaffens führt, ein Genuß selbst als Ziel und Zweck, als Ursache und Rechtfertigung des stärksten unserer Triebe eingeführt? Ganz sicherlich; aber ebenso sicher sind die Unterschiede der beiden Formen unserer Freude zu erkennen. Die Lust am Schaffen ist dessen Krönung, schwebt über ihm wie der Schaum auf der tanzenden Welle; sie ist Lohn, nicht freilich für die Leistung an Andere, sondern für das Leisten selbst, und so ganz sie dem Ich anheimfällt, wie sie ihm entspringt, sie ist geknüpft an das Werk, das, wenn es wohlgeschaffen ist, auch den Anderen, der Gattung dient. Die Lust am Schaffen ist Zwiesprach des Ich mit dem gewirkten Werk, und so gewiß sie nicht als der Preis gelten soll, den die Gesamtheit dem Schaffenden für das Werk zahlt — denn das steht nicht einmal in deren Macht —, so gewiß tritt sie doch nur auf als Erzeugnis eines Wirkens, von dem die Anderen, die Gattung, Vorteil ziehen. Die mühelose, schlechthin empfangende Freude aber ist in allen diesen Stücken das Gegenspiel. Sie ist nur Gabe oder Raub, sie ist Lust um der Lust willen, sie ist, -wie die Freude am Schaffen, vom Ich erstrebt, aber ihre Früchte fallen, anders als die jener, nur dem Ich zu, nicht auch der Gesamtheit, und oft sind sie vom Ich gepflückt auf Kosten der Gesamtheit, in Schädigung des Anderen, ja des Ichs selbst. Dort will das Ich sich und sein Werk, das heißt einen Zweck, der den Vorteil des Anderen mindestens zur Nebenfolge hat; hier will das Ich nur sich und sich und dreimal sich. 143
Und dennoch, Lust ist unentbehrlich: als Hafen der Ruhe, als Quell neuer Kraft f ü r den Schaffenden und wirklich auch u m ihrer selbst willen. D e n n die Freude, wie sie der Jubel des Lebens über sich selbst ist, weckt auch ringsum Leben. Weit über den Einzelnen hinaus reicht der Bezirk ihrer W i r k u n g : bis zu den Grenzen der Welt und fast über sie hinaus. Denn Freude ist das hellste, lauteste Zeugnis, das das Dasein von sich ablegt; Freude ist der Spiegel, den das Sein sich in der Seele schafft, u m darin schmeichlerisch mit seinem geschmeichelten Bild zu liebäugeln. Freude ist der dreifache Widerhall, den alle Stärke, alle Zärte, alle Schönheit der Welt sich in uns weckt. I n der Lust ihrer Wesen wird die Welt sich ihrer selbst freudvoll bewußt, und diese Lust war schon vor, ist noch unter den Menschen: die Tiere sind fühlend, die Pflanzen in einer hellen und vielleicht noch die Steine, die Metalle in irgendeiner d u m p f e n Zustandserhöhung ihrer teilhaftig. Und so stark ist der D r a n g des Lebens nach dieser seiner unumstößlichsten Selbstbezeugung, daß die grundlose Freude die schönste, aber auch die häufigste Gabe ist, die der gesunde Leib unserer Seele zum Angebinde darbringt. Aber nicht jede Lust ist so lauter. Hinter vielen lauert die Gefahr des Übermaßes, des Verderbens; andere sind von G r u n d aus krank u n d todbringend. Überall ist nötig, Grenzen zu ziehen, u n d das u m so m e h r , als so viel Dutzende von Sittenlehren, dem herkömmlichen Laufe und insbesondere der verbotereichen Überliefer u n g der Kirchen folgend, immerdar vom Nein und von Versagung ausgehen, da in Wahrheit überall das Ja und die G e w ä h r u n g das Erste ist, das diese Wegeleiter des Lebens in Betracht ziehen sollten.
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Versucht man, die Formen der mühelosen Lust in Gruppen zu teilen, so mag die erste, die sich von ihnen der Beobachtung darbietet, die am hellsten vom Licht schuldloser Freude bestrahlte, die am wenigsten vom Verderben verschattete sein: es ist das rein empfangende Schauen, das Welt und Umwelt, Nähe und Ferne umspannt, sie mit Sinnen, Seele und Geist unablässig Stunde für Stunde aufzunehmen, einzusaugen trachtet. Unsere Sinne sind dem farbigen, tönenden Schauspiel, in das Natur an jedem jungen Tag uns zu Gaste lädt, verpflichtet von Anbeginn. Wir Menschen hoher Stufen, greiser Alter der Menschheitsgeschichte sind von diesen nie versiegenden und so stark sprudelnden Quellen einfacher Sinnenfreuden in so weite Entfernung gerückt, daß wir ihr Locken nur gedämpft vernehmen. Aber unser Geschlecht darf auch heut nicht vergessen, wie viel tiefer die wirkende Kraft von Himmel und Nacht, von Licht und Meer ihm einst in die Seele sprang, da es noch jung war und kindhaft stark empfand. Damals wurden ihm Fels und Stein, Pflanze und Tier so lieb und nah, daß es sie in brüderlicher Neigung umfaßte und ganz von der Ebenbürtigkeit aller Wesen durchdrungen war. Damals leuchteten ihm die Sonne, der Mond und jegliches Gestirn mit so strahlendem Glanz in das Herz, daß es sich umsah nach einem geistigen Geber so herrlicher Güter, ihm für sie zu danken. Und aus dem Tier und dem Spender der Himmelslichter schuf es sich Götter, und später, als man den Lauf der großen Leuchtfackeln des Tages und der Nacht erkannt hatte, wurden sie selbst gar zu Göttern umgeschmolzen: die Freuden des Schauens wandelten sich in die rätselvolleren Wonnen des Ahnens und Glaubens um. 16 Brvnj
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In unserer nüchterneren Gegenwart ist unser Verhältnis zur Landschaft und allen Wundern der außermenschlichen Welt auf der Leiter der seelischen Innigkeiten eine Stufe herabgestiegen: es ist aus Glauben Kunst geworden. Oder vielmehr, ein Sichgeben, das ehemals die tiefere Demut der Verehrung von uns forderte, erwartet jetzt nur die frohe Empfangsbereitschaft des Schönheitshungers. Allerdings, der alten Weihe ganz entfremdet darf dieser Erdgenuß auch heut nicht sein, wenn anders er an uns alle seine Güte wahr machen will: ja, es scheint fast, als ob gerade einige von jenen, denen die Welt entgöttert ist, heute einen Teil der starken Inbrunst, die einst in den Tempeln schön emporloderte, in den gewölbten Hallen des Waldes in stummer Andacht, in wortlosen Gebeten auszuströmen fähig wären. Und es keimen schon Sprossen eines Allgedankens, einer weltlichen Mystik auf, die nicht eine Erneuerung der mittelalterlich-christlichen, noch gar der Urzeitmystik und ihres Allseelenglaubens bedeuten und doch mit beiden verwandt sind. Seit Hallers und Rousseaus Tagen ist zwischen Mensch und Landschaft eine neue Brücke geschlagen, über die viele Geschlechter zuvor nie hatten schreiten können, und unsere Zeit selbst sieht die täglich sich mehrende Abwendung von der Stadt, deren Ursache wie deren Ziel nichts anderes als eine neue Vertiefung des Verhältnisses unserer Sinne, unserer Seele zur Landschaft sein kann. Größere, weil überzeitliche Bedeutung hat die Frage nach dem inneren Ursprung dieser Freudenquelle. Was ist es eigentlich, was uns an der Landschaft, an Pflanze, Tier und Himmel, an allem ringsherum 146
Freude empfinden läßt? Die kräftigste und einfachste Antwort wird diese sein: ihre Schönheit. Dagegen aber ist einzuwenden: welches Recht haben wir, von der Schönheit eines Dinges als von etwas Gewissem zu reden, für dessen Schön oder Häßlich wir keinen anderen Maßstab haben, als die von seiner eigenen Beschaffenheit abgeleiteten Regeln. Es läuft hier der gleiche Trugschluß unter, der den einen der bekannten Beweise für das Dasein Gottes hinfällig macht: weil die Welt so zweckmäßig eingerichtet sei, müsse auf einen allweisen Urheber, also auf Gott, geschlossen werden, da wir doch alle unsere Begriffe von Zweckmäßigem oder Unzweckmäßigem lediglich von dieser uns allein erkennbaren Welt abgezogen haben. Ich meine vielmehr, das Verhältnis von Ursache und Wirkung in Hinsicht auf die Welt und unseren Schönheitsgenuß muß umgekehrt werden: nicht weil die Welt schön ist, macht sie uns Freude, sondern weil wir der Freude so ganz fähig und voll sind, haben wir die Welt schön befunden. Nur muß hierbei sorgüch unterschieden werden zwischen dem Anbeginn dieses aus unserem Ich, nicht aber aus der Umwelt geborenen Genusses und den Abwandlungen und Verzweigungen, denen er im Laufe des Lebens der Menschheit unterworfen worden ist. Denn dieses Gut, das unser Geschlecht in sich, nicht außer sich fand, war der mannigfachsten Ausgestaltung und Gliederung, der Ausstattung mit den verschiedensten Greif- und Aufnahme- und Verarbeitungswerkzeugen fähig, und dieser in tausend Einzelfortbildungen vollzogene Verlauf kann nur in einem steten Austausch von Eindrücken der Welt, von Ausgriffen des Ichs vor sich gegangen sein. Unier zer10*
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fasertes Genießen mag um Siriusweiten von der vielleicht stärkeren, sicher aber unvergleichlich viel dumpferen Freude der Urzeitmenschheit entfernt sein. Alle die Begriffe von Schönheit, die in unzähligen Verschiedenheiten die Völker von den Gaben der Erde an unser Auge, an unser Ohr abgezogen haben — zumeist im Dienst der künstlerischen Wiedergabe, doch zuerst und zuletzt für das Leben selbst — sind von der Wirklichkeit selbst hergeleitet, sind aus ihr entnommene, aber über sie fortgeführte Regeln, bewußte oder — selbst heute noch — sehr zahlreiche unbewußte oder doch nur halbgeformte, nur zu einem Teil mit dem Verstand zu erfassende, noch weniger durch ihn zu begründende. Diese Unterscheidung zwischen Ursprung und Fortbildung unseres Schönheitsgefühls ist um so wichtiger, als ja, wenn man sich ihrer nicht bewußt würde, für alle Kunst die uneingegrenzte Naturnachahmung, wie sie der Naturalismus fordert, die Losung sein müßte. Anfänglich ist unsere aufnehmende Freude sicher nur ein Widerhall der Wirklichkeit gewesen. Aber die Kunst war von jeher eine viel übersetztere, viel mittelbarere Form der freudigen Antwort auf die fragende Schönheit ringsum; sie neigte ihrer innersten Anlage nach bald dazu, an dem Spiegelbild der Wirklichkeit, das sie zu Anfang hervorrufen wollte, schöpferische Änderungen vorzunehmen. Dieses eigenwillige Umbilden ist unzweifelhaft nie ein völlig freies, willkürliches gewesen, sondern hat immerdar versucht, aus der Wirklichkeit selbst die Richtweise zu ihrer Veränderung zu schöpfen, die Natur nur in ihrer eigenen Richtung über sich selbst hinaus zu erhöhen, die niederdrückende und in Wahrheit
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unschöne Tausendfachheit ihrer Einzeleindrücke durch Fortlassung und Vereinfachung umzubiegen, doch letzten Endes nicht zu verändern, oder selbst wenn in letzter Freiheit der Versuch entschiedener Änderung gemacht wurde, doch immer noch die von der Wirklichkeit gewiesene Richtung einzuhalten. Der rein empfangende Genuß an der Natur ist aller Vermutung nach seiner selbst erst unendlich viel später bewußt geworden; aber sobald dies geschah, muß die eigentümliche Wahl, die die Kunst aller höheren Stufen unter den Wirklichkeiten traf, auch ihn beeinflußt haben. Und in Zeiten vorwiegend verstandesmäßiger Gesittung wie in den glücklicheren einer künstlerischen Durchbildung mag das suchende wie das findende Auge etwa der Landschaft gegenüber schon von vornherein durch das wählige Sehen der Künstler beeinflußt sein, wie Oscar Wilde so überzeugend in seinem schönen Zwiegespräch über die Lüge dargetan hat. Zuletzt aber ist alle Kunst auch wieder nur Urkund und Zeugnis dessen, was in den einzelnen Altern der Zeiten die Schauenden an den Wirklichkeiten froh gemacht hat. Und die Künstler sind unter den Schauenden die, welche am stärksten Freude empfunden haben, oder doch die, welche ihrer Freude bleibenden Ausdruck gegeben haben: ihr Werk bewahrt, was ihre Zeit überhaupt und wie sie Natur zu sehen vermocht hat. Alle Änderung aber, die noch je an der Natur und über die Natur hinaus in ihrem künstlerischen Spiegelbild vorgenommen worden ist, ursprünglich also Tadel und Aussetzung an der Natur war, ist sicherlich von ihr eingegeben und abgeleitet worden. Die empfindenden und empfangenden Menschen aller höheren
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Stufen der Menschheitsentwicklung haben sich von der Landschaft ein Musterbild geschaffen, das sie an die einzelnen ihnen vor Augen kommenden Fälle der Wirklichkeit als Maßstab anlegten, nach ihm ihren Urteilsspruch über Schön oder Häßlich oder jede Zwischenstufe fällten. Diese Musterbilder aber sind, wie sie in den Zeiten voneinander abwichen, oft sehr einseitig weit von der durchschnittlichen Wirklichkeit fortgetrieben worden — man gedenke des Rokoko und seiner Bevorzugungen, die in allem und jedem etwa das Gegenteil des späteren, maßlos naturalistischen Landschaftsgenusses trafen. Trotzdem wird kein Punkt der Entwicklung nachzuweisen sein, an dem nicht noch als bestimmend die weisende Hand, die freilich oft über sich hinausweisende Hand der Natur in dem Musterbilde des Geschmacks einer Zeit deutlich wäre. Auch die starrste Feierlichkeit der Formen, die träumerischste Willkür der Farbenwahl der Stilkünstler läßt ein Verhalten zur Landschaft erkennen, das wohl hier entschieden verwirft, dort mit schöner Einseitigkeit bevorzugt, immer aber nur Gaben der Natur nützt und ihnen als einem geliehenen Pfunde Wucherzinsen ablockt. Dieses bleibt: unsere Freudefähigkeit ist es, die uns das Ganze der Natur schön und erfreuend scheinen läßt. In allem einzelnen Urteil über Schön oder Nichtschön sind wir zwar unsäglich schwankend, zu unserem Glück also und aus eigener wählender Kraft willkürlich, immer aber knüpfen wir unsere Begeisterung an die besondere Beschaffenheit einer ihrer Gaben, höhen sie, steigern sie, aber schaffen uns doch nie etwas gänzlich Ungeborenes, Ungegebenes zum Musterbild und Maßstab. Wie fern auch bestimmte For15O
menwahlen — der goldene Schnitt etwa oder der glatte Würfel — von der Natur abstehen mögen, immer wird sich ein Weg finden lassen, der auf diesen Ursprung aller Maße des Genusses zurückleitet. Mag also die Freude an den Wirklichkeiten des Ringsum leise vermischt sein mit einem Anflug vom Glück des Schaffenden, mit der Selbstbefriedigung wenigstens des Wählenden: Spenderin ist die Natur, und auch jene Kraft des Schönfindenkönnens, Schönfinden Wüllens, die zu all diesem unendlich zusammengesetzten Frag- und Antwortspiel die Voraussetzung bildet, ist uns ohne all unser Zutun zutiefst eingepflanzt. Ja, es gibt eine Form des Naturgenusses, die noch weit näher als jene künstlerischeren, bewußteren an die Natur heranführt. Sie schlägt die Pfade verschwiegener, tiefer, wahlloser und vielleicht dumpferer, sicher stärkerer Neigung ein. Sie, die einst den Völkern der Menschheitsjugend den Allglauben einflößte, der wohl gar Ehen zwischen Menschenkindern und Bäumen schließen hieß, sie lebt auch heute noch, stumm und ungefüge, aber gewaltig, in den einfachen Menschen der Berge und der Wälder, die ihr Tal lieben, ohne daß sie es je in ihrem Leben sagen oder auch nur denken; aber sie lebt auch in den zarteren Seelen von Frauen oder ganz stillen Männern geschulteren Geistes als ein keusch bewahrtes, selten verratenes Gut des inneren Lebens, und sie ist mächtig endlich in einigen Bevorzugten der Höhen, Dichtern, Bildnern, Ahnern, die in Erneuerung alter Allmystik mit den stummen Regungen der unbelebten Geschöpfe mitzuschwingen vermögen, die den blaugrünen See nicht ohne eine geheime Sehnsucht sehen, sie möchten von ihm trinken, in ihm versinken, sich ganz mit ihm ver151
mahlen durch Untergang in seinen Fluten; die den Ästen der Erlen, wenn der Novembersturm sie zaust und schüttelt, absehen, daß eine Verzweiflung in ihnen wühlt gleichwie in den gerungenen Händen des tiefsten Menschenleides; die noch zum braunen Acker beten, als sei er des gnädigen Allgeistes Wohnung. Aber mit den tiefsten Fasern ihres Herzens mögen jene Stillen, Zarten, Feinen an die Natur gebunden sein: ihrer wortlosen Empfänglichkeit schenkt sie vielleicht die unaussprechlichsten Freuden. Wer ihnen zugehört, trägt einen Stempel höheren Sinnes, der so oft die Menschen des Landes adelt und sie erhebt über die geschäftige und oft doch so nichtige Zerstreutheit der Städter. An diesen Stillen im Lande — Fromme, Andächtige sind ganz gewiß auch sie — wird offenbar, daß diese Genüsse die reinsten, die lautersten und darum die dauerbarsten sind, und daß sie nicht erschlaffen, noch gar vergiften können. Denn in ihnen nimmt die Freude selbst die Farbe des heimlichen, traulichen Emlebens und Einfühlens in die Dinge an; sie haben nicht das Sehnen nach Wechsel noch Erregung, sondern sie gewinnen einem von je geliebten Tal nur immer neue Ursachen und Anlässe der Freude ab; und ihre Freude ist still und selbstverständlich wie die der Tiere, und ihr Schönfinden ist eigentlich immer ein Lieben. Kraft der eigentümlichen Mechanik, die unser Triebleben beherrscht, haben die kühleren Freuden die Besonderheit, ihr Maß in sich selbst zu tragen: sie erfüllen das Herz mit so leisen Reizen, daß sie zu einem Zuviel nur selten verlocken. Ja, mehr als das, sie schirmen unsere nach Bewegung und Leidenschaft dürstende Seele selbst vor dem Zuviel anderer Erregungen.
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Der Wald ist reich dem Stillen, der eine friedevolle Seele zu ihm trägt; aber er verschließt sich wie eine reine Frau spröde dem, der aus dem farbentollen Gewühl städtischer Lüste vor ihn tritt. Ein Zuviel dieses kühlen Trankes könnte recht eigentlich nur uns kindhafter machen, der Kindheit des Einzellebens, der Kindheit der Völker, des Menschengeschlechts, der Art der Urzeit also uns annähern. Und indem die Natur unsere Seele leise schwingen, nicht im tiefsten schüttern läßt, stellt sie recht eigentlich das Zielbild eines Genießens auf, das uns nur immer von neuem bereit zum Schaffen und also auch bereit zu dem Glücke macht, das stärker ist und stärker macht als alles Glück der mühelosen Lust: zum Glück des Schaffenden. Der Segen solcher Einung wird da ganz offenbar, wo beide sich im Innersten verschmelzen wie in dem Werk des Bildenden, des Forschenden, des Glaubenden, dem aus seiner Freude an Welt und farbigem Sein sich das Werk seiner nachbildenden Kraft gebiert. Wie alle Bezirke unseres innersten Seins, so ermangeln auch die einzelnen Bereiche unseres Genießens gänzlich der scharfen Grenzen. Wenn hier von dem Schauen der Welt die Rede war, so ist damit eine mittlere Zone in den Vordergrund gestellt, die zu kühleren Ländern unseres Ichlebens hinüberleitet: es sind die, in denen das Denken sich des Schauens bemächtigt, in denen unser Geist, nicht mehr zufrieden mit dem glitzernden, schimmernden, farbenwechselnden Bild der Dinge, nach ihren Ursachen forscht und sie ahnend zu ergründen, willkürlich widerzuspiegeln oder gar schließend zu erforschen trachtet. Ebensowohl aber stoßen an diese wohltemperierten Gegenden
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des gemäßigten Genusses die Tropen der Leidenschaft, der flammenden Freuden unserer Sinne. Und jedesmal sind die Übergänge so fein abgestuft, daß die grenzenden Linien verschwimmen, daß auch dem scheidelustigsten Verstände schwer werden mag, haltbare Unterschiede aufzufinden. Aber gerade diese Übergänge verraten viel von dem inneren, ja selbst von dem geschichtlichen Zusammenhang des Erlebens der Menschheit. So insonderheit die von dem schauenden zu dem ahnenden, denkenden Genießen der erkannten Welt. In Wahrheit sind diese Übergänge nur Übergänge vom vorwiegend empfangenden zum vorwiegend schaffenden oder doch nachschaffenden Genuß des uns umfangenden Seins. Auf eine dieser Übergangsformen fiel schon ein Blick im Vorübergehen: die Kunst ist Freude an der Umwelt, die sich im Nachschaffen dieser Umwelt äußert. Aber wie der Kunst, auch nachdem sie längst in schöpferisches Tun sich umgewandelt hat, noch die Eigenschaft der rein genießerischen Freude anhaftet, so darf dem noch nicht Kunst, noch nicht schöpferisch gewordenen Genuß an dem Bilde der Welt die Fähigkeit halb schöpferischer Willkür nicht abgesprochen werden. Der menschliche Geist mag über lange Strecken seiner frühen Entwicklung hin schon wählerisch an den Linien, den Farben, den Flächen, den Körpern, den Bewegungen der Tiere Freude empfunden haben, die er sehr viel später erst für uns sichtbar heraushob, als er sich vorsetzte, dem Urbild der wirklichen Tiere Zauberbildwerke und Geschlechterzeichen nachzuschaffen. Ingleichen müssen die Anfänge des Glaubens wie der Forschung in Lebensalter der Menschheit zurückver154
legt werden, in denen sie noch sehr weit von schöpferischer Ausbildung und vollends von ihrer heutigen halb begriffs-, halb berufsmäßigen Selbständigkeit entfernt waren. Noch heut ist ein großer Teil des geistigen Lebens der Menschheit in die Maße reinen oder halben Empfangens gebannt. Und wie alle Leidenschaften des Geistes und der Phantasie leiser einhergehen, sanfter zu schwichtigen sind als die der Sinne, so überschreiten sie seltener die Grenzen, die ihnen das Wohl dessen, von dem sie Besitz nehmen, ziehen kann. Zwar ist die Zahl der reichen Geister gar nicht gering, die in den Wonnen des Empfangens so ganz aufgehen, daß sie darüber des Zeugens gar vergessen. In ihnen schafft sich in der Tat die Fülle des Seins ein Seitenstück zu denjenigen, die dem sinnlichen Genießen zum Opfer fallen; denn in jedem der beiden Fälle wird zeugende Kraft gelähmt oder ganz verdorben. Aber um so viel feiner das Wirken des Geistes ist als das der Sinne, um so viel geringer ist hier der Schaden. Denn wo dort Stumpfheit und Zerstörung der sinnlichen wie der geistigen und der seelischen Kräfte die Folge ist, da entsteht hier eine Fähigkeit, die zwar nicht eigenes Schaffen, wohl aber ein Empfangen bedeutet, das auf Andere befruchtend wirkt. Denn wie viel Zuwachs an Lust und Kraft schönes, verstehendes Nehmen dem Gebenden schenken kann, ist kaum zu ermessen: Künstlern noch mehr als Forschern ist solche Wohltat oft genug widerfahren. Man wird noch weiter gehen dürfen. Vielleicht ist für die Schaffenden selbst notwendig, daß eine Luft genießerischen und doch auch wieder spielend nachschaffenden Empfangens um sie gebreitet ist. Der 155
Glaubensformer, der Bildner, der Forscher, sie bedürfen i m strengsten Sinne keines Widerhalls, keiner Empfangenden. Doch n u r die Stärksten der Starken sind stark genug, wirklich sich selbst zu genügen. Für alle anderen Schaffenden ist zum mindesten das Bewußtsein nötig, von Einigen umgeben zu sein, die freudig n e h m e n , was sie ihnen geben. Und es wäre zu denken, daß Menschen hoher Gaben, die auf alles eigene Schaffen verzichteten und alle Werkzeuge ihres Geistes auf zitternd feines fühlendes Empfangen a b ' stimmten, auch damit noch den Schöpferischen dienen könnten, und daß diese aus der Art des Empfangens Schlüsse zögen auf den Wert des Hervorgebrachten. Ja, es gibt eine Form der empfangenden Spiegelung der Welt, die nicht irgendeinem äußeren, die dem inneren Wirken des Lebens zugewandt ist, die nicht ins Weite zu schweifen braucht, die in den Bezirk des Ichs gebannt bleibt, und die Träger und Gegenstand der Beschauung, Geber und Nehmer des Bildes in einem vereint: es ist> die Versenkung des Ichs in Sich, in sein Selbst. Sie war einmal ein großes, tiefes, ja das kostbarste Gut ganzer Geschlechter oder doch ihrer f ü h r e n d e n Menschen. Die Menschheit selbst schien in so Befähigten ihr Auge in sich zu kehren. Es gab einst Lehrer u n d Leiter der Seelen, die d e m Ich die wahrhaft königliche Weisung gaben, Welt u n d Gott in sich zu ziehen, u n d die da erklärten, erst da sei der Mensch a r m geworden, als er den Gott aus sich herausgesetzt u n d als er sein Selbst an die Welt hingegeben habe. Die Zeit, da solche Predigt laut wurde, liegt so weit hinter uns, wie die gotischen Dome ihre T ü r m e unbegreiflich hoch über das Nützlichkeits-
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getümmel nüchterner Tage recken. Aber vielleicht schaffen unsere Kinder, unsere Enkel einmal wieder so viel Ruhe und Frieden um sich, in sich, daß ihrer Seele so große Feierstunden wiederkehren. Allerdings, wo große Gaben warten, da drohen auch große Gefahren. Für alle Völker, für alle Zeiten hat die Lehre des indischen Mönches offenbar gemacht, daß die Einkehr des Ichs bei sich selbst, wird aus ihr noch die letzte Folgerung gezogen, wird zur Entgötterung auch noch die Entmenschlichung der Welt gefügt, zum Ende alles Menschentumes leiten muß. Die Seele, die sich alles Genießens, aller Leidenschaft und aller Leidensmöglichkeit entledigt, verzichtet eben aus demselben Verlangen nach unstörbarer Ruhe, nach unverbrüchlichem Frieden auf alles Schaffen. Dafür ist kein voller Ersatz, daß viel mühselige Zucht und Übung nötig ist, um zu diesem Zustand innerer Verzückung zu gelangen. Wohl soll das Bauen am eigenen Ich als Leistung, als Arbeit gelten; aber wenn es nur auf Erzielung eines Verzichtenkönnens, Verzichtenwollens auf jedes andere Wirken gerichtet ist, so bedeutet es Genüßlichkeit, nicht Vollbringen. Das Ich nimmt so Abschied nicht allein von aller Lust, die von außen einströmt, nein auch von der selbsteigenen, der dauerhaftesten aller Freuden, der, die sich aus dem Dichten und Trachten des Ichs, das auf Umwandlung der Welt in Tat und Bild gerichtet ist, in es selbst rückwärts ergießt, von dem Glück des Schaffenden. Es gibt ein Glück reinen Empfangens, das dem Genießen der Natur nahe ist, das Sinne und Seele gleichermaßen in Bewegung setzt und das doch nicht »o 157
selbstverständlich seine Maße in sich selbst findet wie jenes, das nicht geringere Freuden schenkt, aber ein gefaßteres Herz voraussetzt, wenn es nicht über Lust zu Gefahr locken soll. Es ist die Freude der habsüchtigeren Kräfte unserer Sinne und unserer Seele, die, minder ruhevoll als die unseres Schauens auf die Welt, uns einen Teil von ihr aneignen wollen. Während jene stilleren Begehrungen sich aus der Ferne schwichtigen, trachten diese, sich den erwünschten Gegenstand in greifbare Nähe zu ziehen, sättigen sich nur, indem sie ihn uns ganz oder zum Teil einverleiben. Einige von ihnen sind ein wenig plump, schnell zu befriedigen, schnell auch zu übersättigen, sie haben Ruch und Schmack der Dinge zum Ziel; andere erregen unseren Leib, unsere Seele in Tiefen, zu denen auch die leidenschaftlichsten Eindrücke der geschauten Umwelt nie dringen: sie begehren den Menschen. Vielleicht ist nicht unrichtig zu sagen, daß wenigstens dem Empfänglichen erst das kühlere Alter das Maß von Gelassenheit zubringt, das Menschenschönheit mit so unbegehrlicher Empfindung zu betrachten lehrt, wie die der Natur sie uns einflößt. Dann, aber auch dann erst, wird die gegenständliche Freude in uns auch hier lebendig, die so selten in Gefahr bringt. Immer sonst mischt sich der mächtigste von allen über den Irdischen waltenden Göttern ein, und wo Eros in uns, aus uns spricht, wird aus jedem Empfangen Begehren, aus jedem Beschenktsein ein Rauben. Selbst die geringeren unter den ganz auf Empfangen gestellten Genüssen der Sinne führen immerdar an die Grenzen des Übermaßes und irgendwelcher die Kraft mindernder, tötender Verderbnismöglichkeiten. Und von dieser Regel sind die nüchternsten
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und notwendigsten Quellen sinnlichen Genusses nicht ausgenommen, auch die nicht, die schon f ü r die Erhaltung des Leibes unvermeidlich in Anspruch genommen werden müssen. Es ist bezeichnend, daß der Mensch der Urzeit sehr lange Strecken seiner Entwicklung hat zurücklegen müssen, bis er die Kunst, richtiger die Zucht, mäßigen Essens erlernt hat. Es gibt Völkerschaften von gar nicht geringer Gesittung, die nicht über sich vermögen, die Früchte sommerlicher Ernten, herbstlichen Fischfanges bis z u m Ende des Winters haushälterisch langsam aufzubrauchen und auf die Letzt sich Reste zu bewahren. Sie können der Versuchung nicht widerstehen, an rauschende Feste üppige Mahle zu reihen und im Überschwang einer Stunde zu vergeuden, was ganzen Monaten Nahrung geben sollte. Wir Angehörige eines gereiften Alters der Menschheit sehen wohl lächelnd auf dieses kindhafte Verhalten herab, während wir doch selbst täglich und stündlich in Gefahr sind, minderen Graden derselben Unbeherrschtheit zu verfallen. Ruhige Beobachter, die von den niederen zu den höheren Schichten der Gesellschaft aufgestiegen sind und so beide kennen, versichern gelassenen Mutes wieder und wieder, daß fast alle Besitzenden das rechte Maß bei der Mahlzeit regelmäßig überschreiten. W e n n Buffon recht hätte, a b er von den Menschen sagte: sie sterben nicht, sie töten sich, so möchte die Unmäßigkeit eine häufige Form dieser Selbstzerstörung sein. Den Rausch der gärenden Getränke haben zwar Völker aller Stufen sich zu verschaffen getrachtet, auch viele der unentwickeltsten Jugend schon; hier aber stellt sich das umgekehrte Verhältnis dar, und
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die Kindervölker sind oft in diesem Stück unvergleichlich viel maßvoller und gehaltener als die stärksten Herrenvölker der hohen Stufen. Und so auch in aller Lust des Geschlechtslebens sind die Rollen durchaus nicht dergestalt verteilt, daß die jungen Völker kranker Maßlosigkeit, die alten aber wohlbewahrter Selbstzucht verschrieben wären. Fast scheint es vielmehr, als wüchsen alle diese Gefahren mit der Vermehrung der äußeren Gesittungsgüter, mit der Vervielfachung der Genußmöglichkeiten. Eben die Fragen, die die Geschlechtslust und ihre Befriedigung unserer Lebenskunst stellen, sind weit wichtiger, weit drohender, als wir das in der Regel gestehen wollen, eben weil es Quellen des Heils und des Unheils zugleich sind, die uns hier sprudeln. Wüßten wir auch nur u m ein Zehntel der wirklichen Ursachenzusammenhänge unseres Lebens, der leiblichen wie der seelisch-geistigen, so würden wir vermutlich mit Schrecken gewahr werden, wie eben unsere sinnlichen Betätigungen, auch die niedersten, die oft sehr mit Unrecht verachteten, mit unserem Höchsten, Besten, Stärksten, ja, mit dem Enderfolg unserer Lebensleistung in einer grausam unmittelbaren Verbindung stehen. Nur die plumpsten Verderbnisse werden in der Regel anerkannt, die tausend feineren Grade der Abschwächung oder Zerstörung werden mißkannt oder verschwiegen. Vielleicht ist es auch ein Zeichen der inneren sachlichen Wirrsal in diesen Dingen, daß die Regeln, die man für sie aufgestellt hat, die denkbar verschiedensten, oft schlechthin einander widersprechende sind. Bezeichnend ist von vornherein, mit wie verschiedenem Maße hier die einzelnen Formen sinnlichen Gt-
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nusses gemessen werden. Aller Geschlechtsverkehr wird dermaßen ausschließlich der sittlichen Vorschrift linterstellt, daß in einer fast drolligen Verwechslung heute unter sittlichem Lebenswandel, sittlichem Vorwurf, Sittlichkeit und so fort im gemeinen Gebrauch dieser Wörter fast neunundneunzig mal von hundert geschlechtliches Verhalten, geschlechtlicher Vorwurf, geschlechtliche Sittlichkeit verstanden wird. Ja, die christliche Sittenlehre selbst hat zu vielen Zeiten dieser ungeheuerlichen Verwechselung Vorschub geleistet, insofern ihr seit Augustinus die Begriffe Erbsünde, Konkupiszenz und Geschlechtslust vielfach ineinander flössen, sodaß die stärkste, gesündeste Kraft unseres Leibes mit der Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts fast als das gleiche erschien, da man die eine zu verleumden, unter die andere sich als unter ein willkommenes Knechtsjoch zu bücken nie müde wurde. Dies hängt allerdings mit der gründenden Wichtigkeit aller Geschlechtsbeziehungen für das gesellschaftliche Verhalten des Einzelnen zu allen Verbänden, am meisten zu den Blutsverbänden zusammen; aber richtig erklärt wird die Einseitigkeit hierdurch sicher nicht. Denn einmal gibt es einen weiten Bezirk des geschlechtlichen Lebens, der nichts oder fast nichts mit den rein gesellschaftlichen Verhältnissen zu schaffen hat, der vielmehr fast durchaus in den Bereich der Pflichten des Ichs gegen sich selbst fällt. Andrerseits entbehren die Fragen des Maßes oder Übermaßes aller übrigen robusteren Sinnlichkeiten solcher gesellschaftlichen Folgen keineswegs, noch sind sie in jenem inneren Kern der auf sich selber gerichteten Ichpflichten von geringerer Bedeutung. tl
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Um so tiefer ist allen solchen Widersprüchen gegenüber das Bedürfnis nach Regel und Richtschnur. Es ist in diesem Betracht am öftesten zwei äußersten Möglichkeiten das Wort geredet worden, denen man doch beiden schwerlich wird Recht geben dürfen. Mein hat einmal die äußerste Beschränkung, ja die Versagung der sinnlichen Genüsse gefordert, man hat wiederum jede, aber auch jede Fesselung dieser Triebe als erdfremd und lebensfeindlich verworfen. So erstaunlich es ist, am mindesten ist die Verkündigung der Enthaltung von allen sinnlichen Genüssen wirksam ausgebildet, wenigstens in unserem europäischchristlichen Gesichtskreis. Das Christentum nämlich, so einseitig es im Grundsatz, nicht gerade in der Durchführung, allen Sinnenwerten des Lebens, am meisten den geschlechtlichen, abhold war, hat doch keineswegs die Lehre von der Wonnen schaffenden Kraft eines Lebens, das sich gänzlich der sinnlichen Lust enthält, irgend ausgebaut, sehr im Unterschiede von dem in diesem Betracht viel schöpferischeren Buddhismus. Es ist ihm nie eigentlich in den Sinn gekommen, seine Verbote leiblicher Genüsse anders zu begründen als durch die Verheißung seelischer, insonderheit himmlischer Güter. Wie hätte es eine Lehre ausbilden sollen, die an den Verzicht auf diese Sinnenfreuden den Lohn anderen Gedeihens des Leibes, höherer Kraft der Seele geknüpft hätte. Und doch wird ein völlig Unbefangener dem Christentum nicht allein die Verdunkelung und Hemmung von viel gesunder und kraftvoller Sinnenlust anrechnen dürfen, sondern ebenso sehr auch die den Leib erhaltenden und Geist und Seele fördernden Wirkungen seiner Lustverbote. 16a
Erst einer Sittlichkeit, die nicht den Glauben zu ihrem Meister macht, ist vollends möglich, Wert und Unwert der Entsagung abzuwägen. Denn so wenig sie ist, Weis uns der Leib empfiehlt, so gewiß ist sie doch ein Mittel, unserem Leben die stärkere Form einer gewollten Einseitigkeit zu geben. Eben indem sie dem Ich der Sinne Fesseln anlegt, spart sie ihm, spart sie mehr noch der Seele Kräfte und ermöglicht Entfaltungen, die sonst unmöglich wären. So scheint es, als seien die Erregungen eines leidenschaftlichen Fühlens, das sich auf den Glauben richtet, dem geschlechtlich Entsagenden leichter zugänglich: es kann nicht von ungefähr sein, daß so vieles Priestertum der höheren Stufen, ja vielfach schon das Sehertum der Urzeit, an das Gebot der Ehelosigkeit geknüpft worder. ist; das Christentum, heut nur die alte Kirche, ist in diesem Stück nur Erbe vieler Ahnen. Eis handelt sich hier uni ganz zarte, ganz geheime Vorgänge in dem Haushalt unserer Seele. Wieder wird hier offenbar, daß uns nur eine gewisse Summe von Krafteinheiten gegeben ist, über die wir nur einmal verfügen können. Uns steht nicht zu, Kräfte, die wir hier verwenden, dort noch einmal zu nutzen. Und so kommt es, daß nicht allein priesterliche Gläubige, die allerdings, was ihnen nütze war, fälschlich, wie Augustinus, zur allgemeinen Regel erhoben, nein, daß auch harte Krieger, strenge Forscher, begeisterte Künstler sich von dieser anspruchsvollsten Form des Sinnengenusses gänzlich abwenden. Ja, im Bezirk der zartesten Geselligkeit wird offenbar, daß hingegebenes Fühlen selbst seine Kraft verstärken kann, wenn es sich von jedweder Vermischung mit dem Sinnlichen freihält. Die Freundschaft der Männer erhält den Vorzug der 11
Stetigkeit und Dauerhaftigkeit sicherlich aus der gleichen Quelle ihrer Unsinnlichkeit. Die Dauer dieser Beziehungen aber kann nicht allein darauf b e r u h e n , daß die geringere Wärme gewisse Gefahren des Bruches ausschließt, sondern m u ß auf Eigenschaften gegründet sein, die den feurigeren Formen der Zuneigung abgehen. Es mag sein, daß manche zarte Schönheit der seelischen oder leiblichen Gebärde einen treueren, wacheren Beobachter, einen empfanglicheren Genießer in dem Freunde als in dem Liebenden findet. Leidenschaft tobt zu laut in den Fibern, als daß sie dieser leiseren Wohlklänge achten könnte. Und vielleicht ist noch die Liebe selbst, die Leib und Seele erfassende, Beweis und Beispiel dieses Satzes: sie ist i m m e r dann gewaltsamer, rauher, roher, wo sie die Sinne angeht, sie ist unvergleichlich viel feiner, sanfter, seliger, wo sie nach befriedetem A u f r u h r , gleich viel ob in Stunden, ob in Jahren, sich in den H a f e n der Seele flüchtet. Die räuberische Gier, die in jedem Aufflammen der Sinne liegt und die im Grunde n u r die Maske der Neigung anlegt, steht in aller Nacktheit vor Augen, wo die Liebe d e m Leibe und n u r d e m Leibe gilt, u n d der goldene Gehalt jeder reicheren, seelischeren Neigung ist im Grunde warme, nicht fieberhafte Freundschaft. Allein Eros, der Gott, war von Anbeginn mächtiger als alle Gedanken haushälterischer Bezähmung der Sinne. Und hat die gewollte Entsagung in der Überheblichkeit, die jeder entschiedenen Regung der Menschen eigentümlich ist, tausendmal sich f ü r reiner, sich f ü r höher ausgegeben, die Natur nicht unserer Leiber n u r , nein, auch der nächstverwandten Tiere, ja noch der Pflanzen spricht mit so unüberiß4
täubbarer Stimme für das Recht jeden und »o insbesondere dieses Sinneilgenusses, daß alle Ablehnung immer nur als Ausnahme zu wirken Kraft hat. Und zwar hat diese Freude ihren Anspruch immer nur als Freude erhoben, nie als Werkzeug des schaffenden Triebes zur Fortpflanzung um der zu erzeugenden Kinder willen, wie die römische Rechts spräche es ausdrückt. Denn allerdings haben sich die frühesten wie die spätesten Formen der Gesellschaftsbildung des Geschlechtstriebes als der Voraussetzung ihres Daseins und ihrer Erhaltung bemächtigt und ihm Regeln und Gebote, Sitten und Sittlichkeiten ohne Zahl gesetzt, gleich als sei er nur Knecht und Sklave ihrer Einordnungszwecke, allerdings wurzelt diese Anschauung in der tiefen List der Natur, die eben das gattungsmäßigste, also selbstloseste Verhalten des Einzelnen dadurch sicherstellt, daß sie ihm die gesättigtste, die drängendste Lust des Leibes zum Preise setzt. Aber dieser unbändige Trieb ist viel zu mächtig, als daß er sich an diese Vorschriften kehren oder dem Einzelnen die Überzeugung aufnötigen lassen könnte, diese Freude müsse ihm eigentlich nur das Mittel und wenig, die Fortpflanzung der Art aber den Zweck und unvergleichlich viel mehr bedeuten. Dieser Trieb, wie jeder andere, will wirklich nur sich selbst und also Lust des Einzelnen, nicht Dienst am Anderen. Doch was der Trieb selbst nicht vorspiegelt, muß ihm gleichwohl als Wirkung angerechnet werden, der Segen so gut wie das Unheil. Es gibt Begleit-, es gibt Folgeerscheinungen der in wilder Bewegung um sich greifenden, der in Ruhe sich ersättigenden Leidenschaft, die erweisen, wie befruchtend sie auf alle 165
anderen Fähigkeiten des Empfangens und des Schaffens wirkt. Man erwäge nur dies: nie empfangen unsere Sinne, aber auch unser nachfühlendes Empfinden ein reicheres Bild von einem Menschen, als da wir ihn lieben. Es ist, als ob die Entzündung unseres Ichs, die sich unseren Sinnen und unserer Seele gleichermaßen mitteilt, für Beide Fackeln aufleuchten ließe, die an dem geliebten Wesen alle Farben glutvoller, alle Linien schärfer machen. Wohl wollen uns nüchterne Allerweltsweisheit oder verarmende Zweifelssucht glauben machen, dies alles sei nur Phantasmagorie der Leidenschaft, Vorspiegelung von Unwirklichkeiten, die nur unser trunken aufhöhendes, unser berauscht steigerndes Auge sehe. Und sogar der ahnende Aufschließer sehr tiefer Kammern unseres Herzens, der schauend Rätsel löste oder doch sah, an die nicht einmal das grübelnde Zergliedern unseres Jahrhunderts noch rührte, Goethe selbst nennt als das wechselseitige Glück zweier in Leidenschaft Verbundener Uns zu lieben ohn uns zu verstehen, In dem Andern sehn, wr-s er nie w a r .
Aber so wenig das Recht dieser Deutung angetastet werden darf: über die hohe Lüge hinaus, die die Liebe dem Liebenden im Bilde der Geliebten schenkt, verleiht sie doch auch unendlichen Genuß im Anschauen sonst verborgener oder übersehener Wirklichkeiten. Alle die Schönheit der Gebärde, des Mienenspiels, der Haltung, der Form überhaupt, die sie für ihre Sonnenstunden, Sonnentage und, wenn es hoch kommt, Sonnenjahre offenbart, sie sind alle doch immer da und nur bedeckt von den Nebeln der Gleichgültigkeit derer, die sie anschauen. So schafft Eros, der Gott, nicht allein Feste der Freude, nein, er höht, er steigert
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jegliche Kraft der Empfängnis für das Leben, für alle« Leben. Und noch gabenfroher verfährt er gegen die Lust am Schaffen. Die Vermehrung aller Stärke der von Leidenschaft Begnadeten kommt mehr noch ihrem Geben als ihrem Nehmen zustatten. Leidenschaft, die durch Besitz zum Frieden geführt wird und immer wieder geführt wird, ist ein nie versiegender Quell schöpferischer Kräfte jeder Art, Geistes, Leibes und der Seele. Die Leben zeugende Macht des Leibes, die in der Fortpflanzung sich erweist, ist nur ein Teil, ein Sinnbild der erregenden Ströme, die von der Liebe, von der Leidenschaft ausgehen und jeder wirkenden Kraft unseres Wesens Nahrung zuführen. Die Natur, die an die Lust des Einzelnen gewissermaßen über und fast gegen seinen Willen die Erhaltung und stete Neuschaffung der Art knüpft, offenbart nur, wie tief im innersten verbunden dieses Genießen mit jedem Schaffen ist. Und eben bei so wunderwürdigen Wirkungen ist seltsam, wie viel Schmähungen und Unbill gerade diese Erdenfreude hat erdulden müssen. Anfeindung ohne Ende, oft mit häßlicher Heuchelei verbunden, hat unter vielen andern schlimmen Wirkungen auch die schlimmste gehabt, daß nicht einmal ihre Verteidiger Haltung und Würde behalten haben. Hämische Anklage hier, häßliche Heuchelei, grinsende Fratze, schmutziger Witz dort, das ist tausendmal die nach beiden Seiten gleich unerfreuliche Wahl. Noch die Anwälte des Lebens gebärden sich in diesem Punkte allzu oft wie Schuljungen, die man bei einem Streich ertappt und die grundsätzlich nichts zugestehen. In Wahrheit aber ist dieser stärkste aller Leibesgenüsse, 167
die uns auf dieser freudenreichen Erde beschert sind, zugleich der geheimnisvollste, geistigste, ist Zauber, große Magie, Durchglühung ohnegleichen, Enthobenheit der Seele gleichwie des Leibes, an augenblicklicher Wirkung nur den höchsten Entzückungen unseres Innenlebens nachstehend — kurz, alles andere als niedrig oder gar schmutzig. Aber eben weil diese Macht im Ich des Leibes so überstark ist, vermag sie ihn selbst gefährdende, ja ihn zersprengende Heftigkeit anzunehmen. Und es sind dem Lebens-, dem Selbsterhaltungstrieb hundert Warnungszeichen gegeben, die nicht zu überhören, nicht zu übersehen er hundert mal hundert Ursachen hat. Es ist anzunehmen, daß schon der Urzeitmensch sich in diesem Betracht einer Schulung unterworfen hat: Anzeichen dafür sind in dem Brauche vieler Urzeitvölkerschaften gegeben, sich auf Kriegszüge durch Zeiten strenger Enthaltsamkeit vorzubereiten. Aber daß auch hier der Anlaß ein von der Gemeinschaft gegebener, ein gesellschaftlicher Zweck ist, ist vielleicht von sinnbildhafter, von artvertretender Bedeutung. Schon in den Anfängen mag nicht der Einzelne zum Selbstschutz gekommen sein, sondern eher die Gemeinschaft zu ihrem eigenen Vorteil ihr Mitglied durch Zwang zur Mäßigung angehalten haben. Dies anzunehmen ist nicht blasse Vermutung, sondern gestützt durch manches Seitenstück gleicher und zwar sehr strenger Zucht. Aber bis auf den heutigen Tag, bis auf unsere Stufe, deren Gesittung wir in menschlichallgemeiner Überheblichkeit so überhöch schätzen, ist die Selbstschulung in diesem Betracht keineswegs so weit gediehen, daß vom Einzelnen anzunehmen ist, er habe hierin Macht genug über sich.
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Mail spricht so viel von den Verwüstungen des Alkohols ; einmal aber wird man beginnen einzusehen, daß der unbeherrschte Geschlechtstrieb dem Leibe von Tausenden und Tausenden noch unvergleichlich viel größeren Schaden zufügt. Dies steht in seiner Macht um so mehr, als er eben mit den feinsten, den im Mittelpunkt gelegenen Werkzeugen unseres Nervennetzes und durch sie mit dem Herzen, dem Werkzeug aller Werkzeuge, in nächstem Zusammenhang steht, mit denselben Kräftequellen also, die für alle Handlungen des Willens, alle Vornahmen des Geistes maßgebend sind. Er kann die Ganzheit des Ichs in allen Graden, von der leisesten Schwächung bis zu der gröbsten Lähmung, hemmen und verderben, und er hat so viele schwer erkennbare Schleichwege zu den ursprünglichsten Wurzeln des Lebens, daß dies sein unheimlich zerstörendes Werk unsäglich oft völlig unbemerkt bleibt, bis ihm nicht mehr Einhalt getan werden kann. Die schlimmste Eigenschaft dieser tückischen Wirkungsweise aber ist, daß sie in ihren minderen Graden Schatten über die Leibeskraft wirft, die als natürlich gegebene gelten, auf ihren Ursprung nicht zurückgeführt werden und so Wirken und Leistung und Genießen eines ganzen Lebens herabmindern. Und an allem diesem ist um so mehr gelegen, weil eben die schöpferischsten als die zugleich leidenschaftlichsten Menschen, die zum Schaffen wie zum Genießen gleich sehr bereiten, allen diesen Gefahren öfter ausgesetzt sind als die Durchschnittlichen, deren Bedrohung an sich geringer und an deren Verlusten doch so viel weniger gelegen ist. Und die Vermutung liegt nahe, daß eben dieser Wertvollsten leibliches Erleben ebenso tief und ebenso aufwühlerisch ist wie
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ihr geistiges. Denn eben dies ist Vorrecht und Adel des Genius, daß alles Bild der Welt sich in ihn weit tiefer eindrückt, damit er sein Abbild von ihr um so stärker hinausschleudere. Noch wenig Schutz ist hier von den Ärzten zu erwarten: es ist erstaunlich, welche Unkenntnis —das heißt Unerfahrenheit der persönlich Unberufenen — in diesem Stück auch die wissenschaftliche Heilkunde offenbart. Den Kühlen, auch unter den Schaffenden, ist das Amt leichter, das hier die höchste Pflicht, die gegen das Icn, dem Einzelnen auferlegt. Für die anderen aber, die Glühenden, sorgen auch die Sittengebote, ob sie gleich sich dieses Gegenstands so eifrig angenommen haben, nicht eben auf das weiseste. Denn nicht die Verbote sind es, deren der Einzelne bedarf; an ihnen pflegen die Sittlichkeiten, insonderheit die an einen Glauben gehefteten, mehr als reich zu sein. Sie schaden unsäglich oft, indem sie viel zu viel verbieten, viel mehr als die in der Tat geübte Sittlichkeit zu unterdrücken pflegt, und sie nützen im Grunde nur dann, wenn sie sich auf die einzelnen Zwiespältigkeiten und Schwierigkeiten einlassen, wenn sie eine verfeinerte und zergliederte Fällelehre geben, und wenn sie zugleich erkennen lassen, daß ihre Urheber um die Gefahren wissen, die hier lauern. In der Regel aber sind die Lehrbücher der Sittenlehre in diesem Stück so beschaffen, als seien sie von einem wackeren, aber gänzlich weltunerfahrenen Dorfprediger in Hinterpommem oder Nordschleswig abgefaßt. Und die Ratschläge, die Gebote, die sie darbieten, pflegen so klotzhaft und unzerspaltbar zu sein wie die Verführungen, welche sie unterstellen. Die mündliche 170
Überlieferung aber, die schon durch ihre Anpassungsfähigkeit an Person und Fall den Vorzug verdient, ist an sehr vielen Stellen behindert, die eigentlich f ü r sie berufen w ä r e n : die Schule, die m a n anzurufen gewohnt geworden ist, wird durch ihren Massenbetrieb auf bloße Allgemeinheiten verwiesen bleiben; die L e h r e r in Volks- u n d höheren Schulen, an die man besonders gern denkt, da sie heute die Einzigen sind, die aus d e m Erziehen einen Beruf machen, werden auch außeramtlich sich ungern mit diesen Dingen befassen, die eigentlich nicht ohne eine schöne Rücksichtslosigkeit gegen das eigene Prestige zu behandeln sind; die Ärzte, die doch vor allem berufen wären, werden nach wie vor über den Kranken der Gesunden nicht gedenken. Das Jammervollste ist, daß nicht einmal die Väter, die berufensten Lenker jeder Jugend, völlig frei von Banden sind: auch sie müssen ein Ansehen wahren, das kein völlig freies Aussprechen so heikler Dinge leidet. Eben hier wird sehr deutlich, daß ein Amt des allgemeinen Vertrauens, wie es die Kirchen in der W ü r d e des Seelenhirten schufen, im Grunde unentbehrlich ist. Niemand ist berufener zu zarter Hilfe, als wen die Liebe zu seinem Werke f ü h r t e , und niemand weiß mehr von der Not des Lebens als der, zu dem sich schon viele mit ihren W u n d e n geflüchtet haben. Es mag sein, daß auch heut noch die Priester, die guten Weltverstand mit Feinheit des Herzens vereinen, auch in diesem Bezirk Gutes wirken, der ihnen doch durch die sittliche Einseitigkeit des Glaubens halb verschlossen ist. Aber wer ist der Arzt der Seelen, die kein wahrhaftiger D r a n g m e h r in die Kirchen f ü h r t oder die vor unbefangenere Richter treten wollen, als die 1
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Hüter allzu alter und allzu starrer Gebote sein können. Wer immer aber auch Leiter und Ratgeber sein möge, ein wirksamstes Werkzeug wird er der langsam reifenden Selbstzucht, auf die zuletzt das meiste ankommen wird, in die Hand legen müssen: die Kunst des Sichversagenkönnens. Und es ist sicher, daß sie, wie jedes Handeln, nicht durch Lehre, nur durch Übung überliefert werden kann. Der also Geschulte aber wird die tüchtigste Waffe für einen der verborgensten und doch verhängnisschwersten Kämpfe des Lebens gewonnen haben. Je mehr die tatsächliche Entwicklung des sittlichen Verhaltens aber diese Einübung des Ichs im innersten Bereich seines Selbst vernachlässigt hat, desto augenfälliger hat sie dem Einzelnen durch hundert Formen gesellschaftlicher Bindung Minderungen seiner persönlichen Willkür auferlegt, die, zwar völlig andern Ursprungs und im Grunde auch ganz verschiedenen Zweckes, tatsächlich doch Wirkungen hervorgebracht haben, die von denen weisen Selbstzwanges nicht allzu weit entfernt waren. Die Anfänge aller gesellschaftlichen Ordnung scheinen von einer Form ganz unbeschränkten Geschlechtsverkehrs beherrscht zu sein, und es mag weniger die wirtschaftliche Not, als das seelische Anlehnungsbedürfnis der Frau gewesen sein, das aus diesem freilich königlich freien, aber auch gänzlich zügellosen Gewirr vorübergehender Beziehungen die Sonderfamilie herausgehoben hat. Sie stellt sich von dieser Seite betrachtet dar ab eine Eingrenzung des Geschlechtsverkehrs, als eine Bevorrechtung einiger Geschlechtsbeziehungen des Mannes, später nur einer einzigen, auf Kosten aller übrigen. 172
Auf lange Entwicklungsstrecken läßt diese Bevorrechtung zwar, wie den Frauen den vorehelichen, den Männern den außerehelichen Geschlechtsverkehr ausdrücklich frei; aber das Ziel des Weges ist ersichtlich die Beseitigung auch dieser Zugeständnisse, gerade wie die Vielweiberehe des Mannes sich erst tatsächlich, dann dem Gebot nach zur Einehe umgebildet hat. Zuletzt hat die folgerichtigste Form der gesellschaftlichen Einschränkung des Geschlechtsverkehrs den Sieg davongetragen, die Einehe. Nur ein Rückschlag ist auf dieser Stufe, auf der wir heute stehen, eingetreten: die Unlösbarkeit der Einehe, die den stärksten Erfolg dieses Grundsatzes darstellte, ist wieder angefochten worden. Tiefer aber schnitt ein, daß das wirkliche Leben hinter dem Rücken dieser gesellschaftlichen Sittengesetze in den wilden Schößlingen verbotener Leidenschaft und in der giftigeren Pflanze der feilen Preisgabe des Leibes Ersatzformen schuf, die vorzüglich den Männern ihre Durchbrechung erleichterte. Keinem von denen, die vom Leben wissen, ist unbekannt, ein wie hundertfach verwirrtes Schlingwerk aller dieser Formen der leidenschaftlichen Liebe den Einzelnen heut umstricken kann, und wie auf zehn Gebote tausend Formen der Verfehlung kommen, und wie gegensätzliche Wertungen hier mit der lauten Stimme des felsenharten Sittenpredigers, dort mit dem halb fragenden, selbst noch halb zweifelnden Ton des fühlenden, verzeihenden Beraters ausgesprochen werden. Vielleicht daß in Zukunft auch die gesellschaftlichen Regelungen und Einrichtungen des Geschlechtsverkehrs sich ändern, daß neben der unbedingten Einehe, die immer als die höchste Form bestehen wird,
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auch freiere, lösbarere Verbindungen aufkommen werden. Bis dahin aber wird vom innersten Bezirk des Einzelichs aus auch hier der Maßstab gelten müssen, daß unser Leib als Hülle und als Träger unserer Seele sehr deutliche Warnungen ausspricht, wo immer wir uns selbst zu schädigen beginnen. Und es könnte sein, daß von diesem Ausgangspunkt Regel auf Regel abzuleiten wäre, und daß schließlich die so gefundenen Gebote strenger wären als viele von denen, die heut Sittlichkeit und Sitte und alle die von ihnen ausgebauten Einrichtungen und Vorschriften der Gesellschaft aussprechen. Um nur ein Beispiel zu nennen: der zügellosen Lust innerhalb der Ehe sind heute weder durch die Sitte noch das Sittengebot, noch gar das Gesetz Schranken gezogen — ein dunkles Gebiet, aus dem nur das leise Seufzen vieler verdorbener Frauenleben aufsteigt. Hier würde schon die bedachte und beherrschte Wahrnehmung der Pflichten des Ichs gegen sich dem Anderen, dem Nächsten eine Schutzwehr schaffen. Denn Wohl und Wehe der Beiden sind hier ganz eng aneinander geknüpft. Und wo diese Schranke, die das Ich, sich und fast ebenso sehr dem Anderen zum Schutze, um sich zieht, nicht ausreicht, da setzt eine Sorge um den Anderen ein, die nicht eben aus dem Mitleid zu stammen braucht, und von der noch des näheren die Rede sein soll. Immer aber müßte dieser Grundsatz unerschütterlich bleiben, daß jede Freiheit, die zu gewähren wäre, ein höheres Maß der Herrschaft des begünstigten Ichs über sich selbst zur Voraussetzung hätte. Ein ganzes Gebäude von Erziehungs- und Selbsterziehungsmitteln müßte aufgerichtet werden, um hierfür genügende Gewähr zu 174
leisten. Und nicht an der Lehre dürfte sich diese Erziehungsweise genügen lassen, sondern nur an der Tat, an der schrittweis zu steigernden, schrittweis zu bestehenden Versuchung. Zwischen Lust und Leisten gibt es einige Zwischenbezirke, die diese Betrachtung nur leicht zu streifen braucht. Man hat erklärt, alle Kunst sei Widerhall und Erzeugnis der Liebe, und zwar gar ihrer leiblichen, sinnlichen Form. Zu solchem Satze kann nur eine Kunstanschauung gelangen, die noch am Stoffe klebt und zur reinen Form nicht vordrang. Denn eben die eigentümlichsten Wonnen der Kunst sind an Maß und Schrittmaß, Linie und Farbe, Verhältnis und Bewegung, kurz an Reize gebunden, die zwar auch unsere Sinne treffen, aber in einer viel höheren, reineren Ebene, als die ist, auf der der Geschlechtstrieb sein derb zufassendes Wesen hat. Aber so viel ist an dieser Behauptung richtig, daß, wie alles starke Leben, so auch das anspruchsvollste des Geschlechtssinnes in der Kunst spielende Auswirkung findet. Von jedem sinnlich greifbaren Tun der Menschen leiten solche Fäden zur Kunst hinüber — von Krieg und Kirche, von Vaterland und Heimat und Haus — überall wird da offenbar, daß Kunst eine spielende Fortsetzung, eine tänzerische Ausbildung des Lebens ist, wie sie denn in ihren Ursprüngen nur das geformte Leben selbst war. Und so sind noch heut der Tanz, der Sport, das Spiel letzte Reste solches an sich leichteren, zugleich aber unter strengere Regeln gestellten Lebens. Auch sie alle sind Erzeugnisse spielerischer Schaffenslust und eben darum, wie jedes Sammeln, wie jede Liebhaberform einer Kunst, eines Handwerks, geschützt vor !75
vielen, nicht allen Gefahren des reinen Genießens. Ein Sich-Verlieren, Sich-Verspielen ist hier überall möglich, und es wird da besonders möglich, wo nur plumpe Erregungen des Zufalls den Reiz auslösen: so sind alle Glücksspiele nichtig und können den, der ihnen verfallt, so aushöhlen und entkräften, wie nur die niederste Form der Siimenliebe. Der Stachel der Übersättigung lauert doch auch in den feinsten Spielen, und der Grund ist nicht weit zu suchen. Er liegt dort, wo man die sicherste Ausgleichung zwischen Spiel und Schaffen vermuten sollte, in der Spielhaftigkeit alles ernsten menschlichen Schaffens. Nicht Kunst, nicht Forschung allein, nein auch alla höheren Formen des Handelns, des wirtschaftlichen, des staatsmännischen, ja des kriegerischen, sind im Grunde nur Spiele der Menschheit, aber ihr Alter, ihre Allgemeingültigkeit haben ihnen einen Ernst und eine Wucht geliehen, die den eigentlichen Spielen abgehen. Das wesentliche Grenzmerkmal ist nicht so sehr die Strenge der Regeln oder die Höhe des Einsatzes, obwohl das Leben auch sie beide weit über das eigentliche Spiel hinaus steigert, sondern weit mehr das Bewußtsein des Gewichtes, das gerade diesen höheren Spielen beigemessen wird, und das notwendig die leidenschaftliche Anteilnahme der Spieler steigert. Da nun aber gerade diese leidenschaftliche Anteilnahme an Gewinn und Verlust des eigenen Spielens es ist, die den Reiz und Preis alles Spielens ausmacht, so muß das eigentliche Spiel den Spieler zuletzt im Stiche lassen, weil er von ihm seine wesentlichste Absicht nicht voll befriedigt findet. Ein Mindermaß von Spielfreude muß den Spieler schließlich den eigentlichen Spielen abwendig machen und ihn nach denen des Lebens verlangen
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lassen, wenn er nicht schon über den vorgetäuschten Scheiffensfreuden die Kraft für die wirklichen verloren hat. Das gilt selbst von den ernsthafteren Formen spielerischer Betätigung, von der Liebhaberkunst oder der Liebhaberwissenschaft. Dem gleichen Gesetz wie alle genießende Lust folgt ein Zustand, der in seinen hohen Formen zwischen Freude und Selbstbeschauung gelagert ist, in den niederen nur wie ein läßliches Versagen aller Kraft zur Lust nicht weniger als zum Schaffen erscheint: der Müßiggang. Er ist, in gesetzte Maße gebannt, die Voraussetzung jedes Schaffens; die Erholung und Kräftigung, die er allein unserm Leibe, unserm Geiste zu bereiten vermag, ist nicht zu ersetzen. Aber er wird uns sofort zur Gefahr, ja zum Verderb, wo er dieser Beschränkung entrückt ist. Stufenaiter höherer Gesittung, lange Friedenszeiten bringen ganze Stände hervor, die den geordneten Müßiggang zum Tagewerk machen. An ihnen aber wird offenbar, daß das müßige Leben nur denen nicht zum Verderb wird, die auf seine Regelung und Eingrenzung so viel Selbstzucht verwenden, wie sie kaum das ersprießlichste Schaffen erfordert. Maupassant hat einmal den Tageslauf eines lebemännischen Parisers geschildert, und er war Kenner und hat nur, ach zu wenig Kraft besessen, seine eigene Vorschrift zu befolgen; diese Regel aber ist voll von Leibesübungen, die allein den Zweck haben, daß jedes Heute die Wunden heile, die die verwüstete Nacht von gestern schlug. Daraus folgt, daß wenigstens nur der gezügelte, zur Lebenskunst erhobene, Stil gewordene Müßiggang eine Möglichkeit ist; allen minder Erzogenen ist er der offenbare Verderb. Der Angehörige der mit der Hand arbeitenden Klassen tz Brenig
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wird von ihm ohne weiteres auf die Landstraße geworfen und zu einem Zigeuner gemacht, dessen Leichtsinn vielleicht noch einen Hauch von Schönheit hat, dessen Kraft aber für immer zu jedem starken Schaffen wie zu jeder dauernden Lust gebrochen ist. Jene vornehmen Müßiggänger aber, was bedeuteten sie ? Vielleicht daß sie die Anmut gewollter Schönheit der Gebärde erhielten und förderten, daß sie zu guten Empfangenden der Schaffenden heranreifen. Aber läge nicht auch dieser Rest von werteschaffender Betätigung jedesmal besser bei denen, die nach der Leistung frohere Feste zu feiern verstehen ? Gingen nicht tausend Störungen der Starken am Werk von den Leidenschaften, den immer nach Betätigung schreienden Kräften auch der edelsten Müßiggänger aus? Und endlich muß diese Schau über die Formen der mühelosen Freude noch einen Blick rückwärts werfen, in das Land des Schaffens und seines Glücks. Auch dieses kann bei einem letzten Maß von Überwindung aller Arbeitsschwierigkeiten und von lodernder Gier nach Befriedigung in reines oder vielmehr fast unreines Genießertum umschlagen. Man sagt wohl zuweilen im Scherz, daß Arbeiten ein Laster sei wie Spiel oder Trunk, und glaubt nicht an den Ernst der Rede; allein es ist ein Kern von Wahrheit in ihr enthalten. Es kann auch im Schaffenden eine Fessellosigkeit des Verlangens aufkommen, die ihm die Kraft nicht höht, nein mindert, ja zuletzt verdirbt. In den geringeren Graden sind die hundert Formen der Einseitigkeit und der Lebensentfremdung, ja Lebensgelähmtheit, die die meisten unter den Männern der geistigen wie der handelnden Berufsarbeit entstellt, dieses Ursprungs, und eine Zukunft von rundeI78
ren, volleren Lebenswünschen wird gegen sie noch hart genug eifern. Die Forschung, die Kunst fordern zuweilen dergleichen Opfer, und es sind unter ihnen die edelsten, hingehendsten Arbeiter; aber war auch die Flamme, die sie verzehrte, reiner als die der mühelosen Lust, sie war doch weit mehr genießerisch als schöpferisch: eben der Leben ertötende Erfolg ihres Loderns hat ihre Leben schaffende Kraft widerlegt. Jede Form müheloser Freude und jede Linie ihrer Begrenzung, von der bislang die Rede war, gehört einer einzigen Gruppe an: es sind alles Arten und Unterarten des Verhaltens, das der Einzelne, das Ich sich selbst gegenüber beobachtet, daß es nicht seine Kräfte vergeude, um seinem Leibe, seinem Geiste Lust zu schaffen, dieselben Kräfte, die die Wurzeln seines Schaffens wie jeder dauernden Lust darstellen. Die Voraussetzung ist jedesmal, daß die Gesundheit Leibes und der Seele, die immer geschirmt werden soll, überhaupt als ein behütens- und erstrebenswertes Gut angesehen wird. Diese Voraussetzung aber ist immer wieder in Frage gestellt worden und wird es noch heut. Man hat sie Eudämonismus gescholten, man hat sie als etwas Verächtliches angesehen, ja man hat Leid und Krankheit als den Quell jeder höheren SeelenVerfassung und sogar als den Ursprung jeder feineren Schöpferkraft gefeiert. Viele unter diesen Pessimismen sind in diesen Zusammenhängen nicht zu bekämpfen. Selbst noch das Christentum, das das Leid so hoch einschätzte, das den leidenden Heiland auf den Gottesthron hob und keinem Gläubigen noch heut ersparen will, das Kreuz des Duldens auf sich zu nehmen, tat dies letztlich nur, weil es den Erdenwandel der Menschheit nur für ein kurzes Übergangsalter der 12* 1 7 9
Vorbereitung und der Prüfung hielt; das Reich Gottes, das es sich nicht über den Wolken, sondern auf Erden aufgerichtet dachte, malte sich Paulus ganz leidensfrei. Viel emsthafter, viel bedenklicher sind die Darlegungen jener, welche um der höheren Freuden, sei es des Schaffens, sei es der Lust, wie sie die Stunde schenkt, alle Rücksicht auf spätere, dauernde Gaben des Lebens verwerfen. Sie schelten jede Vorsicht in diesem Betracht ein geiziges Markten und Feilschen um hohe Güter, und ihre Liebe ist bei den tollkühnen Verschwendern mehr als bei den umsichtigen Verwaltern der großen Besitztümer langjährigen Schaffens, langlebiger Lust. Und doch kann ihr Einspruch nicht irremachen. Denn mag auch das Recht der großen Vergeuder ihrer selbst, die lieber sich fortschenken, als daß sie eine nachhaltige Wirkung, ein dauerndes Erleben besonnter Tage erwarten, unangefochten bleiben: zum Gesetz darf solche Gesinnung nicht erhoben werden. Denn dies i»t der Wille des Lebens an uns, daß wir so reiche, so farbige, so saftstrotzende Früchte tragen, als uns nur immer möglich ist. Unser Ich soll uns nicht heilig sein um seiner selbst willen, sondern als Teil des Alls, als Glied am Körper der Welt. Wir sollen der Stimme des Seins, die in uns nicht ausgesprochen, sondern dumpf und stark in dem Trieb unserer Ichliebe laut wird, lauschen und nachgeben, wie immer, so auch in diesem Stück. Diese Stimme aber rät uns unmißverständlich, dem beständigen Glück, der mittagsreifen Süße der Gesundheit nachzustreben. Und alle, aber auch alle Erfahrungen, die wir ringsum machen können, lehren uns, daß die größte Zahl und die stärkste Spannkraft aller Formen der Lebensregung, Lebens-
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Wirkung an das Höchstmaß der Gesundheit geknüpft ist. Das gesündeste Tier, die glühendste Rose, das blühendste Mädchen, auf sie hat Natur alle Fülle der Reize so gut wie allen Segen der Kraft gehäuft. Gesundheit, Stärke, Übermut der Lebensvollheit, das sind die Voraussetzungen jeder reichsten, raschesten, heftigsten Bewegung. Und Bewegung i m potenzierten Sinn ist Entwicklung, ist geleistete Leistung, gelöste Aufgabe, erfüllte Sendung unseres Geschlecht« wie alles Seins.
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ZWEITES BUCH DER H I N G A B E T R I E B U N D DIE L I E B E
VOM M I T G E F Ü H L , DAS KEIN ALMOSEN IST
Alles Glück des Schaffenden und alle mühelose Lust des Ichs sind unmittelbare Auswirkungen des Ichtriebs. Aller Genuß des Schenkenden, alles Mitgefühl, alle Liebe sind Ausstrahlungen des Hingabetriebes, also nur mittelbare Auswirkung des Ichtriebs. An Grenzmarken und Übergangsgebieten zwischen beiden Reichen fehlt es doch nicht.
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Die Liebe des Herzens ist eine der vornehmsten, jedoch nicht eine der unbedingtesten unter unseren schenkenden Freuden. Denn in völliger Reinheit läßt Liebe selten den Gedanken des freien, vorbehaltlosen Schenkens, des Schenkens, das auf Gegengabe nicht bedacht ist, aufkommen. Zu dem aber muß das Denken vordringen, soll diese mächtige Erscheinung unsere* seelischen Lebens erklärt werden. Es gibt tausend Werke der Barmherzigkeit, selbst der Freundlichkeit, die in diesem Sinne rückhaltloser sind. An sie wird man sich wenden müssen, will man dem Rätsel nachsinnen : was ist es, das uns Freude erfahren läßt, wenn wir Anderen helfen. Denn dies erste ist ersichtlich: wenn, wie hier so nachdrücklich geschah, auch alle Hingabe auf die Wurzel des Ichtriebes zurückgeführt wird, so wird damit noch immer nicht im mindesten erklärt, warum Hingabe in unsere Ichliebe diese Wurzel des Genusses senkt, warum sie uns Freude bereitet. Man ist in der Regel geneigt, diese Freude unseres Ichs wie eine Urerscheinung hinzunehmen, die weiter nicht auflösbar ist. Nicht mit Recht: denn wie seltsam ist doch der Widerspruch zwischen unserem sonst so durchaus ichsüchtigen Verhalten und unserem Gefallen an der Hingabe eigenen Vorteils an den Anderen. Vor allem könnte die Vorfrage aufgeworfen werden, ob es sich hier überhaupt um eine der Menschheit angeborene oder ihr langsam einerzogene Eigenschaft handele. Die zweite Möglichkeit ist durchaus nichtohne weiteres abzuweisen. Es könnte folgender Hergang angenommen werden: der Mensch hat an sich weder das Bedürfnis wohlzutun, noch Wehe zu lindern gegen die Mitmenschen gespürt. Er hat vielmehr nur ge-
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spendet, geholfen dem Gliede seiner Gemeinschaft, etwa in dem gleichen Sinne wie er ursprünglich jeden ohne alles Bedenken totschlug außer den Angehörigen seiner Horde, seiner Siedlerschaft. Wenn sich der Kreis seiner Gemeinschaft erweitert, vergrößert sich die Zahl derer, denen zu spenden, zu helfen, erst Brauch, dann Regel, dann Pflicht war. Der Zusammenhang des Hingebens mit der Ichliebe wäre dann durch sehr verstandesgemäße Zwischenwege hergestellt: durch die Erwägung der Nützlichkeit der Gemeinschaft für den Einzelnen, das Ich. Als für eine solche Annahme sprechend könnten gewisse Restzeichen, wie die, daß wir lieber einem Volksgenossen helfen als einem Volksfremden, ausgelegt werden. Man wird niemals nachweisen können, so sei Mitgefühl entstanden, noch auch, so sei es nicht entstanden. Denn auch die kindhaftesten unter den lebenden Urvölkern sind nicht so unentwickelt, daß Aussicht, wäre, dergleichen Feststellungen noch mit einiger Sicherheit zu machen. Hier bleibt nur der Weg der zerlegenden Ausdeutung des Seelenlebens, und auf ihm wird man, so glaube ich, nur zu der Annahme gelangen, daß ein unserem Geschlecht eingeborenes Gefühl uns hier leitet. Aber es ist nicht, wenn ich recht sehe, das Mitleid, das die Menschen zur Hilfe bestimmt. Das Mitleid würde allerdings einen sehr unmittelbaren Weg vom Leid der Anderen zu unserer Ichsucht darstellen. Wir leiden — das ist eine Gegebenheit unseres Seelenlebens — ohne alle Zwischenerwägung bei dem Leid des Anderen. Uns bereitet, gleichviel ob wir milden Herzens sind oder nicht, der körperüche wie der seelische Schmerz von Menschen ein sofort eintretendes Mißgefühl; es würde also unserem Ichtriebe ent187
sprechen, wenn wir, um diesem MißgefüM zu entgehen, dem Andern helfen. In der Tat mag auch manche Form der Hingabe auf diesen Ursachenzusammenhang zurückzuführen sein, ganz sicherlich nicht jede oder auch nur die Mehrzahl von ihnen. Fürs erste läßt nämlich diese Erklärungsweise den sehr großen Bruchteil der wohltuenden Handlungen ungedeutet, der nicht einem Leid abhilft, sondern hilft, fördert an sich. Wollte man hier auch den Beweggrund unterstellen, dergleichen Handeln wolle nur zukünftigem Leid und also eigenem zukünftigem Mitleid vorbeugen, so möchte man schwerlich dem Vorwurf erzwungener oder gekünstelter Auslegung entgehen. Zum zweiten aber wäre, um dem Anblick des Leidens an Anderen und also dem Entstehen des eigenen Mitleides zu entgehen, der sehr viel wirksamere und in der Tat auch tausendfach eingeschlagene Weg zur Befriedigung unseres Ichtriebes, nicht zu helfen, sondern zu weichen. Die christliche Sittenlehre ist viel zu einfach, geht viel zu sehr darauf aus, Gebote zu setzen, als daß sie hier Rat erteilte, ob sie gleich dazu alle Ursache hätte. Die Bergpredigt verspricht Lohn den Barmherzigen, die neutestamentliche Sittlichkeit befiehlt, den Nächsten zu lieben, um dadurch Gott wohlzugefallen: nicht einmal der Versuch zu einer Begründung solchen Handelns im Reinmenschlichen ist gemacht. Alle diese Sittlichkeit sucht ihre Beweggründe im Außersittlichen. Nietzsche seinerseits als letzter Ausdruck einer gegenaltruistischen Gesinnung sieht im Mitleid nur eine Auswirkung der Schwäche — wie mir scheinen will, auch hier wieder, wie so oft, aus dem Gleichgewicht
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fallend, zu sehr von dem gestoßen, was er bekämpft, zu abhängig von seinem Gegner. Er hätte das Christentum ablehnen können, ohne den ungerechten Wutschrei des Antichrists auszustoßen, er hätte dem Altruismus absagen können, ohne die Hälfte aller menschlichen Handlungsweisen für eine Ausgeburt der Krankheit, der Niedertracht und des Knechtssinnes zu erklären. Wenn Nietzsche nicht nur alles Mitleid verwirft, sondern alles Mitgefühl anschwärzt, so ist hier ein erster — nicht ein letzter — Punkt gegeben, wo unsere Wege sich von den seinen trennen müssen, ganz ebenso wie dann, wenn er alle Wirkung des Mitgefühls als Schwäche und Schwäche fördernd verwirft. Ich sehe den Urquell allen hingebenden Handelns und also des Hingabetriebes selbst nicht im Mitleid, nein in der Mitfreude. Nicht die Wollust eines erschauernden Mitleidens leitet dazu, wohlzutun und Wehe zu lindern, sondern die Freude an dem Schwinden der Zerstörung, an dem Wachstum des Gedeihens. Die schenkende Freude genießt ihrer selbst nicht, wenn sie die Wunden bluten und eitern, sondern wenn sie sie sich schließen sieht, sie frohlockt, wenn sie gefährdetes oder verkümmertes Wachstum wieder blühen und Frucht tragen macht, und so ist sie alles andere als eine Schwäche oder Schändung des Lebens, wie Nietzsche will, sie ist vielmehr eine starke Bezeugung des Lebens in uns selbst. Nietzsche ist in diese tiefen Schichten des Innenlebens mit der Entschlossenheit, jedoch auch mit der Gereiztheit eingedrungen, die sein Temperament überhaupt gefordert zu haben scheint. Wollte jemand ihm mit der gleichen Leidenschaftlichkeit erwidern, er 189
müßte ihn einen Lästerer des Lebens nennen, als dessen feurigsten Anwalt er sich doch gab. Eine volle Hälfte des Lebens — seine eigene Äußerung — als krank, schwach, verdorben verwerfen: welch ein Verkennen des Lebens. Ein unmöglicher Gedanke, daß alles hingebende Handeln, etwa der Frauen, die Nietzsche von je am falschesten sah, aus krankhaftem Aufsuchen des Leids hervorquelle. Ein aus solcher Wurzel erwachsenes Tun hätte nicht durch alle Jahrhundertereihen der Menschheitsgeschichte sich fortpflanzen können, es hätte an seiner eigenen Krankhaftigkeit untergehen müssen. Indem man aber in dem Gegensatz, in der Lebensfülle, Lebensfreude die Wurzel alles oder doch des meisten hingebenden Handelns erblickt, wird sogleich offenbar, wie sich hier die beiden stärksten Grundformen unserer Ichliebe, Schaffenslust und Hingabetrieb, von neuem ineinander verflechten und wie allem fördernden, helfenden Tun ein Trieb auf Wirkung eingebunden ist, der gar nicht mehr als reines Genießen, sondern halb als Glück des Schaffenden sich darstellt. Denn jedes Schenken, jedes Hingeben baut an des Beschenkten Dasein, sei es äußerlich, sei es innerlich. Eben die wirksamste Form des Wohltuns im betonten und engeren Sinn des Wortes ist es, die sich am strengsten den Gesetzen des Schaffens, der Folgerichtigkeit, Stetigkeit, Planmäßigkeit unterwirft. Doch von all diesem soll hier nicht die Rede sein, um so weniger, als solche schenkende Freuden, je mehr sie dem reinen, doch wahrüch auch schenkenden Schaffen sich nähern, desto weniger einer Schranke gegen ihr eigenes Übermaß bedürfen. Trotz der leisen Übergänge wird man im Seelischen aber einen Grund190
bestandteil unterscheiden können, dem keinerlei Schaffenslust beigemischt ist, der durchaus nur am Geben und seinen nächsten Folgen, etwa der Freude des Beschenkten, Lust hat. Und gerade er ist fast im selben Maße wie jede Freude der Sinne einer Übersteigerung fähig. Die herkömmlichen Sittlichkeiten eifern hiergegen nur deshalb nicht mit der gleichen Heftigkeit wie gegen jene, weil die Wirkung im übrigen so löblich sei, freilich auch, weil sie in ihrer einseitigen Parteinahme für den Anderen und sein Wohl überhaupt schlechte Anwälte des Ichs und seines Heils sind. Nicht vom Standpunkt nüchterner Nützlichkeit sollte so verschwenderisches Wohltun gezügelt werden. Von da aus darf wohl das handelnde Leben Einspruch erheben, kann fordern, daß auch das Spenden sich den Regeln wohlgeordneten Arbeitens unterwirft; für das Maß der Freude des Ichs wäre ein solches Erwägen gleichgültig. Wohl aber kann das Ich sich der Lust verschwendenden Spendens ganz im gleichen Sinne ohne Rücksicht auf das eigene Heil hingeben wie irgend einer Sinnenlust, und hiergegen müssen im Namen des Lebens Grenzen gezogen werden. Denn noch einmal sei auch deT seltsamen Ähnlichkeit gedacht, die zwischen der sinnlichsten, einfachsten und, wenn man will, gröbsten und der zartesten, feinsten, seelischsten Liebe, zwischen der Wollust des Geschlechtsgenusses und der Freude der Hingabe, der Aufopferung besteht. In beiden Fällen kommt die Wirkung der Art zugute, in dem einen ihrer Fortpflanzung, in dem anderen ihrer Erhaltung; in beiden Fällen aber wird diese fürsorgende, artmäßige Wirkung an eine ganz ichmäßige Wurzelempfindung ge191
knüpft, das eine Mal an die stärkste Wollust des Leibes, das andere Mal an die stärkste Wollust der Seele, gleich als sei Natur bedacht, durch List und Lockung das Ich mit einem nur ihm zukommenden Preise zu bestechen, u m es zu einer ganz unichsüchtigen, ganz artmäßigen, ganz der Gattung nutzenden Handlung zu bestimmen. Aber eben indem man diese Ähnlichkeit anruft, die weder die Seele noch ihre Tat herabsetzen soll oder darf, wird eine weitere Ähnlichkeit heraufbeschworen, die die Folgen dieses Tuns angeht. Jedes Zuviel der Sinnenlust rächt sich am Ich, auch wenn sie dem reinsten Quell, der gänzlichen Hingabe an einen einzig und ausschließlich geliebten Einzelnen entspringt, und sollte nicht auch jedes Zuviel der Seelenlust schädigende Wirkungen ausüben? Es ist nötig, auch hier dem Wirken des Triebes Grenzen zu ziehen, Grenzen des seelischen Genusses, um das Ich vor sich selbst zu behüten. Wohl wird immer wieder beteuert, die Grundanlage des Menschen sei dermaßen ichsüchtig, daß es immer nur Not tun werde, den Anderen vor dem Zuwenig seiner Hingabe, nie aber das Ich vor einem Zuviel dieser Hingabe zu behüten. Aber nicht einmal diese allgemeinste Behauptung kann zugegeben werden. Der Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte zeugt gegen sie: alle Ordnungen, alle Einungen der Gesellschaft sind Siege des uns eingepflanzten Hingabetriebes und seiner Wirkungsform, des Gemeinschaftsdranges, welche beide sich somit stärker erwiesen haben als ihre Widersacher, der Ichtrieb und seine gesellschaftliche Auswirkungsform, der Persönlichkeitsdrang. Seltener vielleicht im Wohltun gegen den fremden Nächsten, den Hilfsbedürftigen, öfter gegen Freunde,
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am öftesten gegen die Glieder der engsten Lebensverbände, gegen Kinder, gegen Geschwister, gegen Eltern kann in Rausch oder in Unbedachtheit oder aus Schwäche ein Ich sich für das andere schädigen, opfern oder ganz verströmen. Wie viele Mütter haben schon für ihre Kinder Gut und Gesundheit oder doch die Selbständigkeit des eigenen Seins hingeopfert. Der stille Frieden der Familie ist oft genug der Schauplatz solcher ihrer selbst nicht schonenden Verschwendung. Töchter welken wie wohlgepflegte, wohlbehütete und dennoch u m L u f t und Licht gebrachte Blumen hin in einem Übermaß kindlicher Liebe. Brüder opfern um alternder Schwestern willen das Glück des eigenen Herdes. I m letzten und feinsten gesehen, gibt es kein Verhältnis zwischen Menschen, in dem nicht der eine mehr gibt als der andere. Nun wäre jämmerlich in jedem Sinne, alle diese Unausgeglichenheiten einem Kontobuch der Wohltaten zu unterwerfen und zu erklären: es sei wohl ein gewisses Mindestmaß von einseitiger und verschwendender Hingabe zulässig, jedes Mehr aber vom Übel und deshalb ganz zu verwerfen. Alle Buntheit des Bildes der Welt würde unter einem grauen Aschenregen von Berechnungen verschwinden. Dennoch wird dies gesagt werden dürfen: als Richtschnur, als Regel muß eine Pflicht des Ichs gegen sich selbst anerkannt werden. Wer sie durchbrechen will, dem muß es verstattet bleiben; aber das Bewußtsein, daß er gegen den obersten Willen des Lebens an ihm verstößt, soll nicht von ihm genommen werden. Denn jedes Zuviel, das er von seinen Kräften hingibt, um einer Lust, und sei es der des Gebens, Spendens, Opferas willen, entgeht seinem Schaffen ebenso, wie 13 Breysig
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wenn er es in einem Zuviel der Sinnenfreuden ausströmte. Eine doppelte Beleuchtung dessen, was hier gesagt wurde, ist noch vonnöten. I m m e r n u r erstlich war das freie Schenken gemeint. Jedes Verschwenden von Hingabe, das u n t e r dem Druck einer vermeintlichen Pflicht geschieht, soll grundsätzlich und ohne jede Einschränkung bekämpft werden, insonderheit auch dann und gerade dann, wenn es sich der Maske freudiger Pflichterfüllung bedient. Denn immer dann, wenn ein freiwilliges Schenken von Anderen oder von einer Übereinkunft zu einem Gebot, zur Pflicht gemacht wird, vollzieht sich die gleiche tötende Erstarrung, wie wenn ein Glaube sich zum Glaubensgesetz, zum Dogma verhärtet. Kein Bund von Menschen, und sei er durch Alter u n d Überlieferung noch so heilig gesprochen, k a n n Anspruch erheben an die Verkürzung der Lebens-, der Schaffenskraft des einen Teils zugunsten des a n d e r e n : nicht Eltern, nicht Kinder, nicht Geschwister, nicht Freunde können diese Forderung erheben. Und n u r zu sicher wird das Empfinden der Belasteten unterscheiden, was freie Freude u n d was erzwungene Bürde sei von dem, was ihnen zu tragen auferlegt ist. Und zum zweiten soll als frei n u r das Spenden gelten, das auch d e m Andern nicht Lasten aufzuerlegen gedenkt. Ich möchte gegen die Pflicht der Dankbarkeit eifern, die denn freilich die herkömmlichste der Bindungen ist, durch die der Schenkende den Beschenkten zu verstricken sucht. Ich glaube nicht an ein reines Gefühl, das n u r aus Dankbarkeit hervorgeht; aber das weiß ich, daß es kein freies, stolzes Gebaren ist, das schon i m Hin-
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reichen der Gabe lauernd die Blicke auf den Dank des Beschenkten gerichtet hält. Ich glaube, daß eben zwischen ganz Freien, von denen einer Wohltat gegeben, der andere Wohltat empfangen hat, zumeist die Beständigkeit gegenseitigen Wohlwollens eintreten wird, die kleine Seelen als Erzeugnis der Tugend oder gar der Pflicht der Dankbarkeit herauszurechnen pflegen, — aber durchaus nicht aus diesem, wie mich dünkt, immer trüben Quell hervorgehend. Vielmehr wird das Verhalten des Beschenkten nach Ende des ihm Gutes spendenden Verhältnisses stets die Probe auf die Echtheit dieser Beziehung darstellen. Die lösende Formel für alle dergleichen Ungewißheiten kann nur eine sein: jede Beziehung zwischen Menschen ist nur dann gesund, wenn sie zu jeder Stunde ihres Bestehens ihren Lohn in sich trägt. Die Eltern etwa, die auf die Dankbarkeit ihrer Kinder wie auf einen Schuldposten rechnen, handeln wie harte Kleinbürger und Bauern, die, ein Leben lang gewöhnt um den Pfennig zu kämpfen, diese Pfenniggesinnung auch auf alles Menschliche übertragen, oder wie jene drolligen Gläubigen, die erklären: ich bin so überaus vortrefflich, ich bin durchaus nicht hinlänglich für diese meine Trefflichkeit in diesem Erdenleben belohnt worden, also muß es eine ewige Seligkeit geben, schon damit der Vorsehung Gelegenheit gegeben wird, dieses schnöde Unrecht ein mir gutzumachen. Kein Hochgemuter wird so denken. Mir klingt ein schönes Wort in den Ohren, das einst ein Vater zu mir sprach, da er, in das höhere Mannesalter getreten, mir die Anhänglichkeit seiner erwachsenen Söhne und Töchter an ihn rühmte. Er sagte ganz schlicht: Ich habe immer
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Zeit gehabt für meine Kinder, dafür ernte ich jetzt den Lohn. In Wahrheit hatte er seinen Kindern alles, aber auch alles gegeben, was für das Leben ausrüstet, die beste Erziehung, ein vorbildliches Beispiel und ein großes, von ihm allein erworbenes Vermögen. Von dem allen sprach er kein Wort. Unerträglich sind vollends die Menschen — unter den Frauen sind sie wohl besonders häufig — , die auch die minder engen Beziehungen des Lebens, geschweige denn die großen, mit einem Kontobuch unter dem Arm pflegen, das sie stets auf dem laufenden zu erhalten und fleißig für die Vergangenheit nachzuschlagen bemüht sind. An zwei Merkzeichen sind sie untrüglich zu erkennen: sie reden stets von ihrem guten Herzen, wie von ihrer Fehlerlosigkeit im allgemeinen, und sie wissen durchaus nur von dem, was ihnen die Anderen schuldig geworden sind, nie von dem, was allenfalls die Anderen für sie geleistet haben. Es sind die unbestimmbarsten, unbeeinflußbarsten der Menschenkinder. Eben weil sie alles Irdische in Lohn und Vergeltung umrechnen, immer auf Zahlungsrückstände der Anderen stoßen, nie mit ihren Seeleneinnahmen und Herzenszinsen zufrieden sind, so kann man von ihnen in Wahrheit sagen: sie haben ihren Lohn dahin.
SCHENKENDE
UND
NEHMENDE
LIEBE
Das geistig anziehendste Rätsel in dem Liebesgeschehen liegt nicht in Anfang und Entstehung, sondern in Ende und Abschwellen der Liebe, ich meine der tiefen Bindung von Leib an Leib, von Seele an Seele, die zwei Menschen von beiderlei Geschlecht aneinander
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schmiedet. Allein so wunderlich und fast gesucht dies klingt! das Ende, nur die Möglichkeit des Endens, wird sicherlich am ehesten begriffen aus einer helleren Durchleuchtung der besonderen bewußten und mehr noch unbewußten Erscheinungsformen aller frühen, aller blühenden Liebe, als sie diesen Geschehnissen unseres Sonderlebens gemeinhin zuteil zu werden pflegt. Damit soll nichts anderes gesagt sein, als daß Tod und Altern der Liebe an sich problematischer sind, daß der Weg zu ihrer Erkenntnis aber über eine Beobachtung von Geburt und Jugend der Liebe führt, denen nur mehr abgewonnen werden muß, als die weithin leuchtende Oberfläche ihrer Erscheinung herzugeben pflegt, mit deren allzu großer Deutlichkeit man sich häufig nur zu schnell abfindet. Die scheinbar unlösbare Frage, die uns das Leben hier stellt, ist diese: wie ist zu erklären, daß Stillstand, Senkung und endlich Erlöschen sich der Erregungen unseres leibseelischen Seins bemächtigen können, die doch die höchsten und heißesten unter allen sind, von denen unser Blut, unser Fühlen erfaßt wird, und die — was noch verwunderlicher ist — ihrem eigenen innersten Dichten und Trachten nach auf Dauer, ja auf Unendlichkeit abzielen, auf das, was in der Sprache von uns sterblichen Erdenwanderern ein wenig anspruchsvoll und doch letzten Endes mit innerer Wahrheit ewig genannt wird. Daß dem wirklich so ist, wird durch nichts schärfer gekennzeichnet, als durch eine auffällige Tatsache in dem Liebestreiben heutiger Kulturmenschen, zu dessen Zeitmerkmalen nicht zuletzt ein wesentlich minder ausschließlicher Vorrang der Ehen und ein in mancherlei Form sich vordrängendes Gestalten freierer Liebesbünde zwi197
scheii Mann und Frau zahlt. Gerade diese Formen lockrerer Bindung zeigen nicht die Neigung, die Ehe an sich zu verschmähen, sondern im genauen Gegenteil des zu erwartenden Sachverhalts sie immer wieder zu suchen. Die Standesamtsverzeichnisse, insonderheit unserer Großstädte, füllen sich mit Ehelösungen der in irgend einem Sinne geistig und seelisch Bewegten; aber ebenso gewiß zeigen die freieren Beziehungen zwischen Männern und Frauen, von der zarten Freundschaft hohen Ranges bis herab zu dem Tiefpunkt der etwas grobfädigen Neigungen, die der berlinische Slang mit so lächerlicher Sachlichkeit Verhältnisse genannt hat, von dem flüchtigsten bis zu dem dauerndsten Miteinander, von der sinnlichsten bis zu der seelischsten Ablösung allesamt das für ihr Wesen geradezu widersinnige Streben, doch wieder die festeste und am mindesten lösbare Form, die der Ehe, anzunehmen. Keine Gattung der Liebesverbundenheit aber, welch Namen oder Art sie tragen mag, ist sicher vor dem Ende ihres inneren Bestehens. Alle die eisernen Bande, mit denen man die Festigkeit der Ehe hat sicherstellen wollen, von der Unlösbarkeit, die die alte Kirche wie einen Sündenbannfluch über sie verhängt hat, bis zu den seltsam strafenartigen Hindernissen, die noch die heutigen Gesetzbücher ihrer Lösung entgegenstellen, sprechen nicht gegen, sondern für diese Feststellung. Die Erklärungen, die der zu Papier oder nicht zu Papier gebrachte gesunde Menschenverstand für sie bereit hält, sind von derselben Schlichtheit des Gedankengangs, der wir in diesen Gefilden sogenannter Lebensweisheit in der Regel begegnen: sicher und schlagkräftig in Urteil und Entscheidung, ebenso oft
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neben wie in das Unzweifelhaft-Richtige treffend, u m so kümmerlicher in der Motivierung und zum Verzweifeln unfähig f ü r alle Scheidung und Schattierung seelischer Vorgänge, mit Meterbreite dort messend, wo centi- und millimeterschmale Feinheit zu erspüren ist. Auch die Verkündungen bewußt oder u n b e w u ß t glaubensmäßig bestimmter Sittenlehre können hier n u r selten weiterhelfen, weil sie es in der Regel bei ähnlich breiten Erhärtungen ältest-überkommener Grundsätze bewenden lassen. Wie sie aus d e m Glauben das Dogma machen, so aus der T r e u e das Treuegebot. An die Stelle der zartesten, holdesten Blume, die im Garten des menschlichen Herzens wächst, der freien, aus dem ungenötigten Willen hervorsprieß enden Treue, setzen sie ein Petrefakt von Zwang u n d lehrhafter Vorschrift. Sie berufen sich dabei auf die gesellschaftlichen Notwendigkeiten und die Mängel menschlicher Selbstzucht und k ü m m e r n sich wenig u m die unsäglichen Wirrsale, die so in der bedrängten Einzelseele angerichtet werden. Liebe ist, wo immer sie entsteht und zu starkem Wachstum gedeiht, allem äußeren Anschein und vielen Anzeichen der Selbstbeobachtung zum Trotz, nicht eine Bewegung der Seele, die n u r ein Ziel, den geliebten Menschen, hat, sondern ein Zustand allgemeiner, zuweilen sehr hoher Steigerung der Kräfte des ganzen Wesens. W e n n Liebe Element ist, das ist eine der an sich in keine Bestandteile zu zerlegenden Urkräfte, die das Leben unseres Geschlechtes bestimmen, so mag rätlich sein, diese Erscheinung in ihrer erdhaftesten, am tiefsten in Natur und Weltgescheheil eingewurzelten Eigenschaft zu erfassen. Auch wer
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Liebe zuerst und zuletzt als Tun der Seele sieht, muß sie am ehesten als eine Regung der außer- und unterseelischen, ja am richtigsten der außer- und unterleiblichen Natur ansehen. Liebe ist — grob aber nichts weniger als nur sinnlich und unseelisch gesprochen —. das Zusammenkommen-, das Aneinandergedrängtsein-, das Zu-einem-KörperVereintseinwollen zweier Menschen. Wohl gemerkt zu einem Körper, nicht zu einem Leib nur, das heißt zu einer Stoffmasse, einem Raumding. Denn die Gewalt, die hierzu uns treibt, kann keine andere sein, als die Stern mit Stern, Meteor mit Meteor, den fallenden Stein mit dem Boden zusammenstreben läßt. Die Welt der unbelebten Körper kennt nur zwei Grundgewalten: die, die einen Körper mit dem andern sich zu vereinigen zwingt, und die andere, die einen Körper den anderen, der auf ihn trifft, abzustoßen nötigt. Und so wenig sich beweisen läßt, daß Liebe und Haß der lebenden Wesen, der Tiere, und endlich der bewußten lebenden Wesen, der Menschen, nur letzte Ausgestaltungen jener zwei mechanischen Grunderscheinungen sind, so heißt uns doch eine Fülle von Folgerungsleitungen, die zu diesem Ziele führen, am meisten aber der Grundtrieb unseres Erkennens nach der einigenden Formel für das Insgesamt unserer Merkwelt, so zu denken. Und man wende nicht ein, daß Liebe, seelische Liebe ein viel zu feines Ding sei, u m in so grobe Verknüpfungen eingefangen zu werden. Denn in diesem stärksten und zugleich feinsten, der zartesten Ausgliederung fähigen, Leib und Seele mit gleicher Gewalt beherrschenden Grundtriebe wird offenbar, wie tief die Wurzeln unseres Seins hinunter-
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langen in das Unterreich der physikalisch-chemischen Welt. Keiner der Dualismen unserer Erkenntnis- und Daseinslehren, und sei er sonst der gedankenstärkste, wird uns dazu überreden können, die Klüfte, die er zwischen der unbelebten und der belebten Welt oder zwischen d e m unbewußt-unbeseelten Pflanzen- und Tierreich und der bewußt-beseelten Menschheit aufzureißen trachtet, seien so unüberbrückbar, daß nicht Wesenseinheiten von jenen beiden scheinbar so weit von uns abgetrennten Bezirken zu uns bis in unser feinstes und zartestes Erleben hinüberreichen. Man überdenke dies: was will denn Liebe, ich meine, die zarte Liebe der Herzen, die erst das Erzeugnis einer langen Jahrhundertreihe von Entwicklungen seelischer Kultur auch bei den höchst gediehenen Völkern, den Gliedern der neueuropäischen Völkergesellschaft gewesen ist, anderes als ein ganz elementares, im tiefsten Grunde unzerspaltenes Gefühl des Eins-Sein-Wollens mit dem Geliebten. Was will sie anderes, als das Los des Geliebten teilen, und das heißt in dem Buchstabensinne, der allein i h r e m tiefsten Fühlen entsprechen kann, nichts anderes als das auch räumlich enge Zusammenerleben und -erleiden jeden Schicksals. Sehr einfache, aber auch sehr hoch und zart im Herzen gebildete Menschen, die tief lieben, können nicht eine Nacht der T r e n n u n g von dem Gefährten ihres Bundes ertragen, n u r aus der Sorge, es möchte ein dumpfes Schicksal ihn allein und nicht beide Genossen vereint treffen. Selbst das leibliche Geschehen der engsten Vereinigung zweier Liebender ist hierin, wie in anderen Stücken, n u r Bild und Gleichnis des seelischen Wünschens. Sie
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vollzieht die denkbar innigste Zusammenlagerung der beiden Körper. Sehr seltsamer Weise machen alle Scheit- und Zornreden der Moralisten, wenn sie in ihrem nie aufhörenden Eifern die von ihnen als so gefährlich empfundene Welt der Sinne anklagen, immer Halt bei der Tierschicht unseres Wesens. Sie übersehen ganz, daß sehr viele von den natürlichen Drängen und Trieben des von ihnen geschmähten Leibes ihre Wurzel in der tief unter jener gelagerten Unterschicht physikalischchemischen Geschehens haben. Aber da selbst sie die Lächerlichkeit eines Zeterns gegen Moleküle und Atome einsehen müssen, so begnügen sie sich mit der Verurteilung des sinnlichen Handelns der Menschen durch dessen Angleichung an das Tun der Tiere, das von ihnen hierbei auch noch verläumdet wird. In Wahrheit wird freilich das Recht auch jener gegen die Tierschicht gerichteten Zornreden durch diesen Verzicht zum großen Teil in Frage gestellt. Denn die große Natur ist in allen Stufen ihrer Lebensäußerung gleich schuldig oder unschuldig. Und die einzige Sicht, die für alles Menschentun und sein Recht oder Unrecht den rechten Hintergrund schüfe, wäre eben eine, die dieses Tun mit dem der Tiere und Pflanzen nicht nur, nein auch der Sterne, Steine, Moleküle und Atome gleichgeordnet sähe, es mit gleicher Gelassenheit und Sachlichkeit auf seine letzten Ursachenzusammenhänge zurückführte und aus ihnen heraus beurteilte. Ganz entsprechend der Dreifaltigkeit aller uns umfangenden Umwelt ist unser Wesen ein dreifaches. Um einen Kern physikalisch-chemischer Grundgegebenheiten hüllt sich ein erster Mantel biologi202
sehen Seins, den wir mit dem Reich des Organischen, von den Urstoffen der Kohlehydrate und des Eiweißes aufwärts zu Pflanzen und Tieren, teilen, und um ihn erst ist der zweite unseres bewußt-seelischen Menschentums gebreitet. Es gibt keine Form des Handelns oder Erleidens, die nicht alle drei von diesen Grundschichten unseres Wesens in Anspruch nimmt und in Bewegung setzt. Und ein von allen seinen jetzigen Schlacken geläuterter Monismus, zu dem wir mit Goethe und Lamarck immer werden zurückgetrieben werden, wird uns bewegen, wieder und wieder die Brücken und Zusammenhänge aufzusuchen, die über die von den Dualismen zwischen unbelebter und belebter Welt, zwischen Leib und Seele aufgerissenen Klüfte hinwegleiten. Einer der schwersten Irrtümer, den die Verfechter allzu grober, allzu Häckelscher Monismen begehen, ist das Bestreben, solche Verkettungen herzustellen, indem sie die Tier- und Pflanzenwelt oder gar die unbelebte Welt vermenschlichen. Sie finden im Handeln der Tiere tausend Anthropomorphismen und reden, wenn sie den Widersinn auf die Spitze treiben, von der Zell-, oder Kristall- und schließlich selbst von der Atomseele. Aber aller an sich gerechte Zorn, der die Dualisten gegen diese Mißgriffe zu sehr glücklichen Widerlegungen treibt, kann nicht daran irre machen, daß, was hier durch Projizierung menschlich-seelischer Triebe in die außer- und untermenschliche, die außer- und unterbelebte Welt in falscher Richtung und deshalb in falschem Sinne versucht ist, sehr wohl mit besserem Erfolg in umgekehrter Richtung, im entgegengesetzten und deshalb richtigen Sinne unternommen werden kann. 203
Eine dieser Möglichkeiten liegt hier vor. Es ist nicht Goethes Seherwort von den wahlverwandten Seelen, die er den wahlverwandten Urstoffen vergleicht, allein, das zu solcher Sicht berechtigt. Es ist das Grundwesen aller physikalischen, aller chemisch-physikalischen Bewegung, das in einem letzten, jedoch nicht schwächsten Nachhall noch das Lieben unserer Leiber, unserer Seelen bewirkt und bedingt. Mag auch die in der Zeit wie in dem Geschehen weit hingebreitete Entwicklung, die zwischen uns und dem Treiben der Atome, die sich zu einander lagern, ausgespannt ist, hundert Zwischenformen der Wandlung und des Überganges aufweisen, es muß doch ein tiefster Grundton alles Seins jenem ersten, dumpfsten Geschehen und unserem, dem bisher auf Erden zartesten Handeln gemeinsam sein, vielleicht einer der Urrhythmen, auf die das Getön alles Werdens abgestimmt ist. Nicht um ein Seitenstück zu einer in irgend welchem, wenn auch noch so oft abgeleiteten und umgesetzten Sinne echten Physik der Liebe zu schaffen, sondern nur mit der Bedeutung eines vagen Gleichnisses läßt sich von einer Chemie der Seelen sprechen. Daß ihr Dasein übersehen wird, hat von jeher viel Herzeleid über Liebende, zumeist über liebende Frauen gebracht. Unter ihnen sind viele, die wähnen, durch Tugenden, das heißt durch irgend ein im sittlichen Sinne bedeutsames Tun oder Lassen könne man Liebe erwerben; andere aber sind der ebenso irrigen Meinung, wahre Liebe, aufopfernde Liebe könne den Geliebten zur Liebe zwingen oder in einer bestehenden Liebe festhalten. Beide gehen aus demselben Grunde fehl. Man kann auf diese beiden Weisen wohl Ehen 204
stiften, Ehen erhalten, auch gewiß eine an sich vorhandene Liebe steigern, stärken, befestigen. Aber es ist dem Menschen nicht gegeben, durch sie Liebe zu erzeugen oder verlorene Liebe wieder herzustellen. Es erscheint selbst fraglich, daß einem irgendwie durch Übereinkunft geprägten oder von dem einzelnen Liebenden ichmäßig gefundenen Kanon von Schönheit des Antlitzes oder der Gestalt der geliebten Person die entscheidende Rolle zukommt, so gewiß auch die Sinne — dies Wort in einer allgemeinen und nicht ausschließlich sexuell-erotischen Bedeutung verstanden — hier die Führung haben mögen. Viel wahrscheinlicher ist es, daß ein tief unter der Schwelle unseres Bewußtseins liegendes Unbegreifliches den einen Menschen einem anderen unterjocht. Dies Unbegreifliche mag tiefer noch als die Schicht in unserem Wesen gelagert sein, in der Seele und Sinne sich scheiden. Es mag also im Keime sinnliche und seelische Reize umschließen; immer aber sollte man unter Reizen durchaus persönliche Werte, die für diesen Empfänger und nur für ihn wirksam sind, verstehen. Dabei ist selbstverständliche Voraussetzung, daß in dieser ganzen Auseinandersetzung nur an wirkliche Einzelne gedacht ist, das heißt an solche Einzelmenschen, die auch in dieser an sich dumpfen Schicht ihres Wesens nicht rein artmäßig empfinden, das heißt nicht lediglich im anderen Teil den Geschlechtsreiz und eine Anzahl anderer, sehr verbreiteter, auch noch immer tausendfach vertretbarer Gruppenreize suchen. So wie etwa ein junger norddeutscher Ackerknecht schon vom Geschlechtsreiz und einer geringen Anzahl von Standes- und Schichtreizen an einem Frauenwesen angezogen würde. 205
Dieses ganz Unfaßbare kann sich etwa in einigen bestimmten, sehr deutlichen Einzelzügen des Antlitzes der oder des Geliebten ausdrücken, das heißt bei angestrengtem und eigens auf dies Ziel gerichtetem Nachdenken als so wirksam erkannt werden; aber auch in ganz leisen, vielleicht nur für das schärfste Malerauge objektiv wahrnehmbaren Besonderheiten der Linienführung des Angesichts, der Färbung von Auge und Haar, oder in einer Gebärde der Hand, oder in einem Tonfall der Rede oder auch in einer Eigentümlichkeit der Kopfneigung. Aber an sich brauchen diese Auswirkungen jenes Urreizes, wie er selbst, garnicht irgendwelche Schönheit oder Tugend darzustellen: sie können von dem Schönheits- oder Tugendkanon, der sonst für den von ihnen getroffenen Einzelnen gültig ist, sehr weit abweichen, ja ihm schlechthin entgegengesetzt sein. Und werden, kraft der Chemie der Seelen, dennoch Schicksal bestimmen: nicht nur das Schicksal der Liebenden, nein, auch Geburts- und Todesstunde der Liebe selbst. Der Hingabetrieb, so tief er in der Liebe des Ichs zu sich selber wurzelt, ist eine so mächtige Kraft in uns und dem Ichtrieb so völlig entgegengesetzt in der Wirkung, daß man genötigt ist, ihn als elementare Macht in unserer Seele anzusehen und ihn ebenbürtig neben den Ichtrieb als schwesterliches, nicht abgeleitet von ihm ab töchterliches Gebilde unter ihn zu stellen. Es verflechten sich in ihm sehr verschiedene Urbestandteile unseres Trieblebens zu einem neuen, ganz eigenen Gewebe. Eben jene Betätigung der Ichliebe, die Freude findet in dem Anschauen und in der Förderung des sich wiederherstellenden oder des wachsenden 206
Lebens am Anderen, muß aus einer Urkraft in uns emporsteigen, die man Gattungs- oder gar weiter noch Lebensgefiihl nennen mag. Dazu aber gesellt sich ein Bedürfnis, sei es sich schützen zu lassen, sei es nur sich anzulehnen, sei es nur sich zu nähern, das durchaus das Ich als verlangend, nicht allein also als spendend erkennen läßt. Diese Verknüpfung von mindestens zwei starken Fäden in dem Gespinst unserer Seele zu dem Geflecht des Hingabetriebes muß keiner Form seiner Äußerungen gegenüber so nachdrücklich in Erinnerung gebracht werden, wie der stärkstenund tiefsten von ihnen, der Liebe, der Liebe zwischen Mann und Weib. Eben jene Liebe der Sinne, von der schon die Rede war, ist zwar gewiß nicht die volle Liebe, nicht einmal deren bester, deren dauerndster, deren tiefster Teil, aber doch ihr notwendiger Bestandteil und deshalb vielleicht auch für die höhere, seelische Schicht der Liebe, die Liebe des Herzens, von aufklärender Bedeutung. Denn so gewiß tiefste Leidenschaft des Herzens möglich ist ohne stete Begleitung durch Liebe der Sinne — alle schönen alten Ehen sind des Zeugnis — so gewiß ist unmöglich, daß die Neigung der Seelen nicht ein Mal auch die Leiber entzündet. Die sinnliche l i e b e aber ist hierin Vorbild der seelischen: sie gibt und nimmt in einem Atemzuge. Sie ist undenkbar ohne völlige Dareingabe des eigenen körperlichen Ichs zum wenigsten für den Augenblick und noch minder denkbar ohne ein Hinnehmen, oft ein recht raubhaftes Hinnehmen des andern leiblichen Ichs. In gleichem Sinne ist die seelische Liebe ein Ineinanderwirken von Lieben, das heißt Hingebenwollen und zugleich Besitzen wollen, und von Geliebt207
seinwollen, das heißt Beschenktsein- u n d Besessenseinwollen. Und ferner ist die eigentümliche Verflochtenheit von tätigem und duldendem Handeln der Leibes- wie der Seelenliebe gemeinsam. Lieben ist nicht ein doppel-, nein ein mehrdeutiges Wort, und was die Entstehung des Liebesgefühls angeht, in beiden Bezirken eine recht irreführende Form unserer Sprache. I m Sinne des Ursprungs wie im G r u n d e auch der Fortdauer des Liebesgefühls ist Lieben alles andere als ein Tätigsein, sondern vielmehr ein Erleiden, ein Beeindrucktwerden. Lieben heißt, mit Liebesreizungen beeindruckt werden, so wie Sehen i m G r u n d e nicht eine Tätigkeit bezeichnet, sondern von Seheindrücken getroffen werden bedeutet. Die größere oder geringere Unwiderstehlichkeit, die größere oder geringere Dauer dieser Eindrücke bestimmt das Maß der Liebesempfindung. D e r höhere Rang, der die seelische Liebe über die Liebe der Sinne hebt, gibt sich doch an e i n e m P u n k t weiten Auseinanderweichens zu erkennen. Leibesliebe ist u n t r e n n b a r von dem Wunsch zu besitzen.' Die Liebe des Herzens vermag in äußersten Fällen auch auf dies i h r höchstes Gut zu verzichten, in einer Selbstentä u ß e r u n g , die wirklich einmal von einer Seite her diesen hohen Namen verdient, wenngleich auch hier noch i m m e r die eigene Seligkeit des Schenkenden die ganz ichmäßige Wurzel bleibt. N u r sie vermag so viel über einen Liebenden, daß er das Glück der Geliebten, das wahre oder selbst das vermeintliche, über die Vereinigung mit ihr stellt. N u r sie kann einen starken schaffenden Mann so weit überwältigen, daß er das Leben und sein Schaffen läßt, wenn die Geliebte sich ihm versagt. Sie ist endlich
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um so viel reicher und wechselvoller, wie das Leben der Seele reicher und wechselvoller ist als das des Leibes. Am deutlichsten spricht sich dieses Rangverhältnis darin aus, daß die Liebe der Sinne zur Erreichung ihrer Zwecke tausend und tausend Mal die Gebärde der seelischen Liebe vortäuscht, ohne doch mit dieser etwas gemein zu haben. Dies ist eines der häufigsten Trugbilder des Lebens und ihm fallen unendlich viele unschuldige junge Menschen zum Opfer. Diese Liebe der Sinne gibt vor, sich dem Anderen hinzugeben, da sie doch nichts anderes als ihn, seinen Leib, besitzen will, zumeist nur auf kurze Zeit. Ein Raubtier nähert sich und wedelt wie ein demütiges Hündlein. Und selbst wo Sinnenliebe treu ist und dauernden Besitz erstrebt —- denn auch sie kann beständig sein — da wünscht sie doch nur, den Anderen als Gegenstand dieses Besitzes zu erhalten. Doch freilich nähert sie sich nun schon der Seelenliebe, die das Wohl des Anderen will, nicht nur mehr um des eigenen Besitzen wollens, sondern auch schon um seines Heiles willen. Nur der Seelenliebe bleibt unzweifelhaft die unbedingteste Form der Hingabe vorbehalten, die allein dem andern Ich Gedeihen zu bereiten strebt. In der Regel also gehört unter den Formen der Leidenschaft, die den Namen Liebe tragen, nur die Seelenliebe der großen und artenreichen Gruppe menschlicher Verhaltensweisen an, die hier als Auswirkungen des Hingabetriebes zusammengefaßt sind. Sie begreift noch viele andere menschliche Beziehungen in sich: die Freundschaft, die Eltern-, die Geschwister-, die Kindesliebe, die vaterähnliche Herrschaft und schließ14 Breysig
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lieh das Wohltun jeder Art und Form. Ihr Kennzeichen bleibt immer, daß der Einzelne bei seinem Handeln nicht seinen, sondern eines Anderen Vorteil in irgend einem, sei es äußeren, sei es inneren Sinn zum Ziel hat. In tausend Graden wird das werktätige Leben dabei in der Liebe wie in den anderen, erregungsärmeren Betätigungen des Hingabetriebes eine Mischung mit Absichten zum eigenen Nutzen aufweisen; aber zuletzt mag sich annähernd abschätzen lassen, wo das Übergewicht liegt. Und nur von den Fällen, in denen sich die Wagschale zu Gunsten des Anderen neigt, sei hier die Rede. An den Anfang dieser Untersuchungen muß erinnert werden: denn nur wenn man sich entsinnt, daß die Wurzeln alles hingebenden Tuns als in den Ich trieb eingesenkt erkannt wurden, ist es möglich, die Hingabe als eine Form menschlichen Genießens anzusehen. Es ist die zarteste, die seelischste, die feinste Form dieses Genießens, die alles hingebende Handeln auslöst; aber sie ist Genießen. Die Hingabe ist der Schaffenslust verwandt, insofern sie in tausend Fällen zu Handlungen führt, Handlungen, in denen sie sich erst recht auswirkt; aber sie vermag auch reines Genießen zu bleiben, das Auskosten der vollkommenen oder sehr weitgehenden Anheimgabe des eigenen Wohles an das fremde. Männer werden, soweit sie überhaupt der Hingabe fähig sind, die werktätige, wohltuende, beschützende der leidenden, genießerischen Form vorziehen; der Frau aber, so viel Taten hingebender Liebe ihr auch gelingen, liegt vorzüglich nahe, abwartend, demütig, untätig, ja leidend sich der Hingabe schrankenlos hinzugeben.
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Eben auf dem Acker der Liebe, der Ehe gedeihen tausend Formen desjenigen Hingabetriebes, der recht eigentlich seine Lust darin findet, das Ich seines Trägers zu gefährden: eben die gütigstell Menschen, die wir um ihres Liebens willen lieben müssen, am öftesten. Wo Güte auf Güte, Liebe auf Liebe stößt, da blüht nur neues, bunteres, stärkeres Leben. Aber wo Liebe sich durch Schicksal oder eigenen Willen in dürren Boden pflanzt, muß sie erst recht alle Härten ihrer Sendung auskosten, kann sie erst recht alle ihre Unbeirrbarkeit, ihre Sehnsüchte auch nach dornigen, steinigen Freuden bewähren. Viel hundert Grade steigt solches Tun aufwärts von einfältig schlichter Dienstbarkeit des Alltags bis zum höchsten Opfertode des Liebenden. Es ist ein immtjr wieder sich erneuendes Schauspiel insonderheit im Leben der Frau, daß ein Mensch um des Wohles, oft nur um der Willkür, der Laune eines andern, einer Mutter, eines Bruders, eines Gatten willen, Hekatomben verdorbener Stunden darbringt, von denen jede ihm zernichtet wird, da sie dem Andern vielleicht kaum nutzt. Der bis zum Übermaß geduldige Ehemann und die quälerisch überlegene Frau bieten ein besonders häufiges Beispiel dafür, daß auch der Mann oft genug in die Reihen dieser Scharen der völlig im kleinen sich Opfernden tritt. Und so fragwürdig dies auch dem tatkräftig Ichsüchtigen erscheinen mag: die liebend sich Gebenden sind tausendmal auch in Fällen widrigen Druckes von Seiten des Geliebten die in ihrem Sinne Gewinnenden. Es ist, als ob das Leben hier durch ein seltsames Spiel von Täuschungen listig Gerechtigkeit da schaffen wollte, wo Ungerechtigkeit am hellen Tage liegt. 211
Ganz gegen das in vielen Stücken so kluge Bibelwort wird einmal nicht dem, der da hat, gegeben, sondern dem gegeben, dem genommen wird, der sich selbst beraubt. Unsäglich oft ist in einer Ehe oder in einem anderen engen Bunde nicht der der Befriedigte, dem sein Lebensgenosse jede erdenkliche Nachsicht, Schutz-, Hilfs- und Dienstbereitschaft erweist, sondern eben der scheinbar Benachteiligte, zu allen diesen Opfern stets Erbötige. Aber in der stärksten, heißesten, flammendsten Liebe richtet sich ein tiefes Begehren auf ein äußerstes Tun, das noch weiter geht. Es wird selten Wahrheit; aber schon daß es in der Seele lebt, ist ein letzter Beweis der Zauberkraft, die Liebe ausübt. Manche bürgerliche oder gar gläubige Sittenlehren werden sich immer von ihm schaudernd abwenden, aber sie werden ihm nie, ob sie auch vielleicht Meisterinnen sind in solchem Verläumden des starken, lodernden Lebens, den Makel häßlicher oder nur sinnlicher Beweggründe anheften können. In höchster Liebe liegt ein Drang zur Selbstvernichtung. Doch wie in aller Welt des Lebendigen offenbart sich die ganze Tiefe eines aufspringenden Zwiespalts erst in den äußersten Fällen. Es sei dieses Schicksal gesetzt — ein nicht so seltenes, wie man denken sollte, wenn auch oft in unscheinbare Formen gehüllt, von Menschen nicht eben auffälliger Maße erlitten —.: ein Mann wirbt um die von fern Geliebte; sie stirbt, noch ehe sie ihn erhören, ja hören konnte, und er vermag nicht, eine erträgliche Form des Lebens ohne sie zu finden, er eilt freiwillig ihr nach in das dunkle Land. Oder, ein Fall noch betonterer Selbstaufopferung: ein Mann wirbt um die ihm fast unerreichbare Geliebte; 212
endlich gelingt ihm, sich ihr zu eröffnen; sie versagt sich ihm unter dem Druck einer wirklichen oder vorgeblichen Pflicht, oder weil der Hall seines Liebens in ihrem Herzen nicht Widerhall findet; sie erscheint ihm noch im Augenblick, da sie sich schmerzlich gütig von ihm wendet, liebenswerter als je, und auch er findet keinen anderen Weg, ihr das letzte Maß seiner Hingebung zu offenbaren, als den freien Tod. Kein Zweifel, eine Weltanschauung, die sich Erhaltung und Förderung des Einzelichs, jedes Einzelichs, zur alleinigen Richtschnur macht, müßte ein solches Handeln ohne Vorbehalt verwerfen. Denn gerade wenn ihr an dem Ich nicht als Sitz genießenden, sondern als an einem Quell schaffenden Lebens gelegen wäre, so müßte sie der Selbstvernichtung jegliches Recht absprechen. Aber hier, da es sich nicht etwa nur um einen Einzelfall, sondern um eine der letzten und grundsätzlichsten Entscheidungen handelt, muß auf die gründenden Gedanken zurückgegangen werden, auf denen all diese Anschauung des Lebens beruht. Warum soll letztlich Schaffen vor dem Genießen, auch vor dem leidenden Genießen den Vorrang haben ? Weil Schaffen die größte Fülle, die rascheste Folge der Lebenserscheinungen hervorbringt, weil es das feurigste, stärkste, im Nebeneinander des Raums wie im Nacheinander der Zeiten reichste Bild des Menschheitstuns, also des uns zugemessenen Teils des Weltgeschehens, hervorbringt. Leben will Schaffen von uns als intensivste Lebensbetätigung, aber doch auch um der Schönheit willen. Und Schönheit ist solchem Erleiden nicht abzusprechen. Das Weltbild wird reicher durch solches 213
Geschehen, im Ich darf nicht alles münden — auch nicht im schaffenden Ich. Genuß ist kurzlebiger als Schaffen und schon deshalb geringer. Aber ein solchermaßen bis zu freier Selbstvernichtung gesteigerter Genuß der Hingabe ist von zackigerem Profil als jedes Einlenken, jedes Sich-Zurücknehmen es zeigen würde. Das höchste Gesetz des Lebens ist das Leben selbst, und es lehrt uns, uns so stark, so leidenschaftlich und in einem dauerhaften Sinn so rasch auszuwirken, wie uns nur unsere Kraft verstattet. Die Größe, die Stärke, die Feinheit, die Pracht, die Mannigfaltigkeit des Weltgeschehens zu fördern, das wir als die Bevorzugten unter den Bewohnern unseres Sterns bewußt zu formen vermögen, ist Ziel unseres Seins, Zweck unserer Sendung. So erfreulich es ist, zu sehen, wie das Leben mit milde ausgleichender Hand Wunden nicht schließt, nein noch zu Quellen der seelischen Lust macht, wie es die graueste Not mit adelndem Finger vergoldet, köstlicher ist doch zu beobachten, daß dies gleiche Leben dort, wo es seinen letzten Willen in Freuden an uns, den Liebenden erfüllt, in dem prachtvollen Siegerzug der Königin Liebe ebenso große, ja höhere Aufwallungen unseres Hingabetriebes in uns bewirkt. Man mag die Lust des Schaffenden so hoch stellen, wie man wolle: es ist ein königliches Wunder des Lebens, daß die Liebe um der Hingabe willen stärkere Färbungen, stärkere Spannungen des Ichs an uns bewirkt, als noch die höchste Schaffensfreude. Denn solche Gaben schenkt doch das Glück des Liebenden. Man überdenke nur, was die Freude des werbenden 214
Mannes an ihm, an den Kräften des Empfangens, an den Werten des Seins ändert, steigert, höht. Man gehe aus von den zarteren, schöneren Wirkungen der Seelenliebe. Auch sie sind nicht zu trennen von den vermittelnden Reizen, die vom Körper ausgehen — denn nur in Auge, Miene, Antlitz, Gestalt, Bewegung vermag sich die Seele auszudrücken —; aber sie sind im Wesentlichen von den betont sinnlichen Eindrücken klar zu unterscheiden. Sie verstärken zuerst und zugröbst ganz außerordentlich die Schärfe und Kraft des Beobachtens und des Genusses an dem Beobachteten. Dieser Kräftezuwachs gilt wohl zuvörderst nur dem Aufnehmen, aber er ist ganz und gar in den Dienst der Hingabe gestellt; denn nur die Geliebte vermag ihn hervorzurufen. Er ist weit größer, als man anzunehmen pflegt; denn was man in der Regel als unsachlich parteiische, als zumeist ungerechtfertigte Aufhöhung des Bildes der Geliebten wie eine Fata Morgana der Liebe eher als Fälschung, denn als Aufhöhung anzurechnen pflegt, ist dies doch nur zu einem bestimmten, oft vielleicht gar nicht sehr beträchtlichen Bruchteil. In Wahrheit sieht vielmehr der Liebende doch nur das Seiende, aber dieses mit so heißer, saugender Kraft, daß er noch die letzte bezeichnende Einzelheit aufschlürft, daß er Linien, Schatten, Farben unablässig sucht und findet, die in allem Bild der Welt sonst in Nebel und Dunkelheit bleiben, nur durch den Zufall einer spendenden Stunde oder seiner nachschaffenden Bemühung ans Tageslicht und damit für ihn überhaupt erst in die Wirklichkeit gezogen werden. Für jeden Sehenden würden an diesem Mädchen, diesem Manne die gleiche Fülle der schönen Einzelzüge aufflammen, hätte er auch 215
den gleichen Wunsch, den gleichen Drang, sie aufzunehmen. Alles dies ist wiederum nur Empfangen, alles dies ist wiederum in den Dienst des Hingabetriebs gestellt: denn jede dieser Einwirkungen entflammt in dem von ihr Getroffenen nur noch mehr die Neigung, sich der Person, von der sie ausstrahlt, zu verschreiben. Ingleichen sind ebenso auffällige Steigerungen der geistigen, seelischen Kraft, die im Gefolg dieser Wirkungauftreten, zwar an sich Erhöhungen der Schaffenslust; aber auch sie dienen lediglich der Betonung, Beförderung, Steigerung der hingebenden Gegenwirkung des Mannes auf die Geliebte. Wie die Übermittlungen all dieser wunderreichen Schimmerspiele der liebenden Seelen den Werkzeugen des Leibes übertragen sind, so ist sicher der Vorgang der Aufhöhung selbst zu einem Teil ein körperlicher. So laienhaft mein Urteil in diesen Dingen auch nur sein kann, ich muß annehmen, daß die meisten aller dieser Steigerungen des seelischen Empfindens sich in uns auf Grund einer Steigerung von Blutumlauf und Herztätigkeit wie gewiß noch mehr als einer anderen leiblichen Folge Wirkung durchsetzen. Ein Ursachenzusammenhang, der der Feinheit und Zärte der seelischen Vorgänge keinerlei Abzug tun kann, da ja die Endursachen dennoch seelischer Art und seelischen Wesens sind. Viel unmittelbarer, aber darum auch greifbarer, gröblicher und vielleicht eben deshalb auch flüchtiger, unbeständiger, vollziehen sich alle diese Wirkungen und Gegenwirkungen in der Welt der Sinnenliebe. Der körperliche Reiz des Einen steigert nicht allein das Begehren, nein durch Aufhöhung aller Lebensvor2l6
gänge die begehrende Kraft des Andern. Und der von Sinnenliebe erfüllte Leib des Mannes, zu unerhörter Lebenssteigerung aufgereizt durch den Körper des Weibes, trachtet — das ist doch nicht Teil allein, nein auch Bild und Gleichnis aller, auch der seelischen Liebe — danach, einen Teil seiner Kraft hinzugeben an den Leib der geliebten oder doch begehrten Frau. Dieser natürlichste und in seiner Natürlichkeit völlig gerechtfertigte Vorgang ist zugleich ein Spiegelbild der Verteilung der Rollen in diesem seltsam doppelseitigen Spiel von Reizen und Gereizt werden, von Geben und Empfangen, von Begehren und Begehrtwerdenwollen, das auch, und zwar in viel reicherer Farben- und Formenfülle, die Liebe der Seelen ausmacht. Die gesundeste und eben deshalb preiswürdigste Entstehung einer wahrhaften, tiefen Liebe mag die sein, daß die erste Regung des V erein tsein wollen s in der Frau aufkeimt, verhalten zwar, schamhaft verborgen, und dennoch lockend mit zauberischen Kräften. Leere, Empfangen wollen, Erfülltseinwollen, das ist der ganz seelisch verstandene Sinn noch der zärtesten, unbeflecktesten Liebe reiner Mädchen. Anstürm, Ergreifenwollen in jedem Sinne, Ausströmen der Kraft ist die Antwort. Dort Genommensein-, hier Nehmenwollen, dort Empfangen, hier Hingeben: Verein tsein wollen, Schenken- und Beschenktseinwollen dennoch beider Orten. Hingabetrieb, Hinnahmetrieb: zuletzt ist beides Eines. Und wie die Entstehung, so ist auch der Fortgang reicher Liebe im gleichen Sinne doppeldeutig. Eben das Königinnenzeichen des weiblichsten Weibes ist seine Neigung, sich anzulehnen, sich stützen, ja sich 217
tragen zu lassen von der Kraft eines Stärkeren. Dem männlichen Mann aber ist gerade dies das willkommenste Amt: wohl will er seiner inneren Art nach lenken und Herr sein; aber zu tiefst wohnt in seinem Herzen ein Drang, sich unter die Last einer Frau zu beugen, die Bürde ihres lehnenden, schwachen Leibes, ihrer sehnenden, schutzbedürftigen Seele zu tragen: diese Last, so schwer sie auch werden mag, wird ihm zur Lust, wenn er nur die liebt, die er trägt. Ein seltsam geteiltes, wunderwert vieldeutiges Spiel zwischen Herrseinwollen und Herrsein und doch auch wieder Dienen und Dienenwollen des Mannes. Lenken will er die, die er dennoch zu seiner Königin macht. Beherrschen, beschützen, tragen, sich unterwerfen, alles dies mischt sich in der Liebe des Mannes. Und ebenso vielgestalt ist die Empfindung der Frau, der fraulichen Frau. An Selbständigkeit, an eigener Verantwortlichkeit ist ihr im Grunde nichts gelegen, sie will dies alles gern dem Mann, dem sie sich gibt, übertragen. Ja mehr, in ihr ist ein heißer Wunsch zu dienen, Magd zu sein. Aber sie begehrt zugleich stumm zu leiten, unausgesprochene, kaum ausgedrückte Wünsche befolgt zu sehen, heimliche Kaiserin zu sein in dem Reich, dessen Königtum sie dem Mann, den sie liebt, gern überträgt. Allein über dem allen muß der Zauber der unausgesprochenen, kaum aussprechbaren Dinge liegen. Und es ist das Verhängnis der männlich oder gar männisch fühlenden Frauen, daß sie durch lauten Zwang und häßlich drohende Gewalt zu erreichen suchen, was der rechte Mann nur der schweigsam Fordernden gewährt. Sie wissen nicht, daß viele und eben die feinsten Blumen der Seele welken, wenn sie der Eiseshauch des ausgedrückten 218
Willens trifft. Es gibt Dinge im Reich der Seele, die sterben, ja schon tot sind in dem Augenblick, da sie zum ersten Mal im Schall des Worts genannt sind. Die unzarten Herrinnengebärden, die unter unsern Frauen hier und da nach amerikanischem Vorbild aufgekommen sind, sind nur ein schlechtes Zerrbild jener holden Königinnenheimlichkeit, die wir Deutsche unsern Frauen von Anbeginn der Geschichte zugestanden denken möchten. Zerrbilder dieser Hingabe des Mannes zu schaffen, ist leider das Leben nicht müßig. Und dennoch, der verkrüppelte Ehemann, über den die Frau in den niederen Schichten ihre Faust, in den höheren die kaum minder plumpe Gewalt ihres keifenden Wortes schwingt, der übersättigte Lebemann, den es das schon vergröberte Verhältnis der Geschlechter in das Gegenteil zu verbiegen und sich unter die Mißhandlung zu drängen gelüstet, sind nur die letzten Ausschwingungspunkte eines Pendels, dessen Schlagwerk doch auch für die gesunden, für die zarten Seelen das Schrittmaß ihres Liebens andeutet. Und wie dies Nachtbild der Häßlichkeit auch nicht des in sein Gegenteil verkehrten Seitenstückes entbehrt, der Frau, die Härte, ja Rohheit des Mannes als grobe Lust empfindet, so reicht diese Stufenleiter doch auch sehr hoch in die völlig geordnete Familie. Oder ist das üble Bild so selten oder unbekannt, das eine Ehe darstellt, in der es dem Mann zwar nie an Worten profaner oder womöglich gottseliger Sittlichkeit fehlt, da er doch nicht eine Stunde ruht, eine schwächere oder eine unbeherrscht liebende Frau die spitzige Überlegenheit spöttischen Hohnes oder verletzenden Angriffs kosten zu lassen. 219
So fehlt es wahrlich nicht an Beweisen dafür, daß der Hingabetrieb auch in den Bezirken der Liebe, der Ehe die Grenzen zu überschreiten geneigt ist, die ihm das Wohl des Ichs ziehen sollte. Aber vielleicht läßt sich dennoch gerade in ihnen ein Grundsatz für die Festsetzung dieser Grenzen gewinnen. Allerdings, die seelische Liebe wird am öftesten zur Aufopferung, ja zur Selbstzerstörung des Ichs im Dienste des Anderen führen; aber die Liebe des Leibes vermag, wie so oft die still und unbeirrt wirkende Natur, einen Fingerzeig zu geben für die Wirrnisse unseres verwickelten Daseins, für die Schwierigkeiten der Grenzsetzung auch in den übrigen Bereichen menschlicher Einungen und Berührungen. Eben die stärkste, glühendste Leidenschaft der Sinnenliebe führt am schnellsten und sichersten zur Zeugung, zur Empfängnis eines neuen Menschen: zum Schaffen also, zu der augenfälligsten, gewissesten und, fast möchte man sagen, folgenreichsten Form des Schaffens. So möge dies die Regel sein: jede Hingabe des Ichs an den Anderen auf Kosten des eigenen Wohles wird dann noch am ehesten als läßliche Sünde wider das Leben — wenngleich immer noch Sünde —• zu gelten haben, wenn sie mit Schaffenslust sich verbündet oder auch nur neue Lebenswerte hervorbringt. Es ist richtiger, daß eine Frau sich ihrem Kinde opfert, als daß sie Wohltaten an Fremde verstreut, deren Wirkung auf Werden und Wachstum des Lebens sie gar nicht vor Augen hat, richtiger selbst, wenn sie sich ihrem jungen Kinde, der Zukunft, als ihrer alten Mutter, der Vergangenheit, opfert. Und kein Bruder sollte sich der Laune des Bruders opfern, sondern nur seinem wirklichen Bedürfen.
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Und es sind nicht allein die Bluts-, es sind tausend Lebenseinungen, die zur Selbstschädigung, Selbstopferung des Ichs f ü h r e n : von d e m Holzfäller, der, u m einen Arbeitsgenossen zu schonen, einen allzuschweren Baum allein hebt und die Muskelkraft seines Herzens dadurch f ü r Jahre geringer macht, bis zu dem Manne, der seinem nahen Freunde in ansteckender Krankheit beisteht, i h m das Leben erhält u n d es sich selbst n i m m t . Das Gebot des Lebens ist der Handlungsweise beider sich Opfernder zuwider: aber in beiden Fällen wird die Sünde wider das Leben geringer, wenn der Teil, d e m der andere opfert, der stärkere, der zuk u n f t s f r o h e ist. Man wende nicht ein, daß unsere Sittenlehren zwar die O p f e r u n g geböten oder doch r ü h m t e n und priesen, daß aber der natürliche Antrieb der Selbstsucht das Ich vor allzu eifriger Befolgung dieser Gebote bewahre. Gerade d a r u m handelt es sich ja eben, diesen unwahren und lügenhaften Gegensatz zwischen Lehre und L e b e n zu beseitigen. Auch heißt es durchaus die Wirkungskraft der bestehenden Gebote unterschätzen. Gerade wenn nicht der schwächere Vater f ü r den stärkeren Sohn sich einsetzt, sondern der Sohn f ü r den Vater, oder wenn der bescheidene u n d aufopfernde Große sich f ü r den Geringen, Schwachen hingibt, dann ist des Lobens kein Ende — gleich als ob Preise gesetzt werden m ü ß t e n auf das möglichst lebensfalsche Verhalten. Das höhere Gesetz aber sei auch durch diese Notregel nicht angetastet: daß alle Hingabe aus Reichtum des Seins, aus Überfluß des Ichs, nicht aber aus der i h m selbst N a h r u n g und Notdurft spendenden Quelle des Lebens fließen möge. Auch dies lehrt N a t u r : sie heißt 221
nicht gut, daß ein siecher oder ein müder Leib Kinder zeuge, Kinder gebäre. Ja, sie wünscht nur, daß Zeugung und Empfängnis stattfinde bei starkem, gesundem Zustand, so wie nur die reife Frucht, vom Baume fallend, durch ihren Samen neue Schößlinge im Erdreich ringsum erweckt. Sie spricht unmißverständlich ihren Willen aus, daß nur das strotzende, das Kräfte ohne eigenen Schaden spendende Leben in liebender Hingabe neues Leben erschaffe. Dem freien, aus Überfluß, nicht aus Notdurft schenkenden Hingabetrieb ist die Verbindung natürlich, die er mit der Lust am Schaffen eingeht. In Liebe, in Ehe ist die Hingabe an den Geliebten, die Gattin aufs engste verflochten mit bauendem Tun: das Werk der Frau in diesem engsten Bunde zwischen Menschen ist kein geringeres, als dem schaffenden Mann Garten und Nährboden zu sein. So wird ihr hingebendes Tun, bewußtes und unbewußtes, ihm wie ihrem Kinde Wachstum und Leben bereiten. Und des Mannes Amt in der Ehe kann kein besseres sein, als zu bauen an seinem Weibe, nicht mit schulmeisterlichen Worten oder gar Zurechtweisungen, sondern mit Geben und Geben nnd Geben, so wie es seine zweite Sendung ist, Wachsen und Werden seiner Kinder zu lenken, zu fordern, zu nähren. Wie aber nur ein in Stärke gesunder Gatte, Vater zu geben vermag an die Frau seiner Wahl und die Kinder, die sie ihm schenkt, so ist keine im Sinne des Lebens gerechtfertigte Hingabe des Ichs denkbar auch in allen anderen Einungen und Bereichen, als die aus Überfluß, nicht von der eigenen Notdurft spendet. Das Leben des Leibes aber schafft auch hier wieder das höchste Sinnbild und die dauerndste Wirkung. Es läßt den Gatten zeugen, die Gattin 222
e mpfangen und baut im Leibe der gesegneten Frau das Kind, den neuen Menschen, den Träger der Zukunft. B A U E N UND Z E R S T Ö R E N AM ANDEREN Nur das Geben aus eigener Fülle entspricht den Geboten des Lebens: einem Grundirrtum tritt die Aufstellung dieses obersten Gesetzes entgegen. Wohl soll der Sinn des Lebens Richtschnur sein, aber zunächst nur der des eigenen, nicht das Bedürfnis des fremden Lebens. Nicht die Not des Andern darf entscheiden, nur der Reichtum des Ichs. Und wenn jede Hingabe nur dem Leben diente, dem Leben des Andern, so wäre sie doch damit noch nicht gerechtfertigt, wenn sie das Leben des Schenkenden minderte, a m das des Beschenkten zu mehren. Man gerät hier auf einen eigentümlichen Mangel der Sittenlehren, die allen Wert und Ton auf das Tun des Ichs für den Andern legen und dem Ich die Sorge für sein Wohl gleichsam an sich schon zum Fehltritt anrechnen: so insbesondere der christlichen. Die christliche Sittenlehre nämlich, wie jede ähnlich altruistische, würde es leicht haben, sich als im Dienst des Lebens befindlich darzustellen. Sie könnte alle ihre Regeln zu Gunsten des Andern und zu Ungunsten des Ichs damit begründen, daß sie erklärte, so wolle sie dem Leben dienen. Daß das Christentum daran nie ernsthaft gedacht hat, ist vielleicht der beste Beweis dafür, daß es ihm überhaupt weniger auf das Wohl des Anderen als vielmehr auf die Demütigung des Ichs ankommt. Das ist in seinem eigenen Sinn kein Vorwurf: es setzt die Verehrung der übernatürlichen Gewalten so viel höher 223
als die Regelung der irdischen Angelegenheiten, daß es diese nur nach jener richtet. Aber gesetzt auch den Fall, die christliche Sittenlehre verführe anders und träte im Namen des Lebens dem Ich und seiner Selbstgenügsamkeit immerdar zu Gunsten des Anderen entgegen, so dürfte die Entscheidung dennoch nicht anders fallen. I m Grunde handelt es sich hier um Regeln und Sätze, die weit mehr die Mechanik des Lebens betreffen, also sachlich zu würdigen, als aus unserem persönlichen Fühlen zu entscheiden sind. Die Vertreter ichmäßiger wie altruistischer Auffassung müßten sich gegenseitig zugeben, daß es ihnen Beiden letzten Endes um das Gleiche zu tun sei: um die Ordnung des Lebens, sodaß es am besten wachse, gedeihe. Daß es den christlichen Altruisten in Wahrheit nicht auf das Leben, sondern auf ein Übernatürliches, über dem Leben Stehendes ankommt, soll dabei für ein Mal außer Acht gelassen werden. Dann aber steht es so: die Einen, vom Ich Ausgehenden, sind der Meinung, wenn jedes einzelne Ich sein recht verstandenes Wohl wahrnehme — in das unter sonstigem die NichtSchädigung des Anderen begriffen ist — so werde diesem Zweck, dem Gesamtleben der Art zu dienen, am besten entsprochen. Die Gegner aber, die vom Anderen ausgehen, sein Wohl zuerst und zuletzt ins Auge fassen, weil sie das Ich für eine gierige und kaum zähmbare Bestie halten, die an die stärkste Kette gelegt werden müsse, erstreben das gleiche Ziel. Da ist nun der folgende ganz sachliche und gleichsam mechanische Gesichtspunkt geltend zu machen. Wie in allen geringeren Wirrnissen des Lebens sollte man auch in diesem größten den einfachsten und natür-
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lichsten Weg einschlagen: der f ü h r t aber sicherlich durch das Ich hindurch. Denn dieses weiß jedenfalls weit klarer, was ihm, als was d e m Andern dienlich ist. Und bei allem Umsichgreifen seiner Ichsucht ist doch in sie auch der starke Hingabetrieb eingebettet. W a r u m nicht lieber an die stärkste Kraft sich wenden, sie zwar in Zucht n e h m e n , sie aber walten lassen, statt ihr, wie die Altruisten t u n , ein Unmögliches abverlangen : i m m e r d a r das Wohl des Anderen zuerst im Auge zu behalten. D e m Leben ist damit sicher besser gedient; all die prachtvoll bunten u n d starken Antriebe, die das Ich zu seinem höchsten Amt, zum Schaffen, Zeugen und zu freudevollem Genießen, Empfangen stacheln, haben so ihren freien Lauf, und das Ich braucht, sie zu zügeln, n u r zu i m m e r tieferen Erkenntnissen seines eigenen Wohles g e f ü h r t zu werden. Der Altruismus aber setzt alle strömenden Säfte, alle besten Kräfte unseres Seins ins Unrecht. Er und er allein bringt — eine weitere L ä h m u n g des Lebens — jenen unleidlichen Zwiespalt zwischen Sollen und Können über unser Geschlecht, setzt uns von vornherein in den Anklagezustand, läßt uns vor unseren eigenen Augen schwach, ja schlecht erscheinen. Er breitet das graue Gespinst der Sünde über das helle, bunte Bild der Welt, nicht der Sünde i m Sinne einer Einzelübertretung, sondern der Sünde im Sinn angeborener Mangelhaftigkeit, ja Lasterhaftigkeit: der Erbsünde. Dieser Begriff ist zwar wohl ein ausschließliches Eigentum der christlichen Sittenlehre — vielleicht ihr lebensfeindlichster Besitz —, aber m a n wird ihn nicht unfolgerichtig schelten dürfen. Jeder Altruismus m ü ß t e bei gleicher Strenge und Heftigkeit der Gesinnung zu dieser grundsätzlichen Ableugnung 15 Breysig
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unseres Vermögens unselbstsüchtig zu handeln gelangen. Das Seltsamste mag sein, daß der unbedingte Altruismus im Innersten kaum an die Möglichkeit der vollkommenen Durchführung seiner Gebote glauben kann. Denn sie würde eine Lähmung aller freien Kräfte und aller bunten Freuden des Ichs herbeiführen, die uns das Leben unerträglich grau und schal machen würde. Fast scheint es, als rechne der Altruismus unbewußt damit, daß seine Forderungen letzten Endes undurchführbar seien. Aber nie wird man sich des Verdachtes erwehren können, daß eben der stärkste und geschlossenste Altruismus, der christliche, überhaupt das Wohl und Wehe des Anderen ebenso wenig wie das des Ichs bei seiner Forderung hat bedenken und betreuen wollen, sondern daß es ihm sehr viel mehr auf ein — in Wahrheit unfehlbares —. Mittel der Demütigung und Herabminderung der Kraft des Einzelmenschen und damit im Grunde auch der Gattung ankam. Den Menschen, das Menschengeschlecht klein zu machen, in den Staub zu bringen vor dem Bilde des allgerechten Gottes: das ist das eigentliche Ziel. Aber ebenso gewiß wie dies Ziel zu stecken und nach ihm zu trachten nicht Schande ist oder gar Verbrechen, wie Nietzsche wollte, ebenso gewiß ist eine Sittenlehre, die das Leben und nichts als das Leben will, die die Erde um der Erde willen liebt, im Rechte, wenn sie mit diesem letzten, außerlebensmäßigen und außerirdischen Zweck auch sein Mittel, die altruistische Sittlichkeit, ablehnt und ohne alle Gereiztheit, in heiterer Ruhe erklärt: ich will dem Leben dienen, und da das Ich um das Leben weiß, nicht allein kraft seines — mangelhaften — Verstandes, sondern auch
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kraft seiner — weit untrüglicheren — Triebe unterhalb des Bewußtseins, so will ich das Ich seiner eigenen Führung überlassen, so will ich das Ich wohl schulen, aber nicht knechten, so will ich dem Ich vertrauen, daß es mit seinem Vorteil auch den Vorteil seiner Gattung finde. Und noch ein letzter Einwand sei erwogen, es ist dieser: wenn dies Gesetz des Hingebens nur aus Reichtum, aus schenkender Fülle zur Regel des Lebens erhoben würde, würden dann nicht so viele Notstände ungestillt bleiben, daß dem Leben durch ihre Schädigungen mehr Abbruch geschähe, als durch den Kräftezuwachs der Gesunden, Starken, Schaffenden gewonnen würde? Darauf ist zu erwidern: ja, in tausend und aber tausend Formen mag dies geschehen. Doch niemals kann hieraus ein Vorwurf gegen eine mangelnde Betätigung des Hingabetriebes, gegen Mangel an Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Opfermut erhoben werden. Denn stellen sich solche Übelstände sehr häufig ein, nicht in Ausnahmefällen, sondern regelmäßig, so sind sie ebenso viel Beweise dafür, daß die vorhandene Ordnung der gesellschaftlichen Beziehungen weiten oder engen Kreises krank und der Abänderung, der Besserung bedürftig ist. Mit anderen Worten, diese Nöte rufen nicht die Hingabe, sondern das Schaffen zur Tätigkeit auf. Man könnte erklären, das sei ein Wortspiel: eben indem das Schaffen zur Abstellung solcher Mängel einsetze, stehe es noch immer im Dienste der Nächstenliebe, also der Hingabe. Aber das wäre der gröbste Fehlschluß. Denn mag auch in unzähligen Fällen die Wirkung ganz die gleiche sein: es kommt unendlich viel darauf an, in welcher Gesinnung, au« was für 16»
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Gründen das Handeln geschieht, dessen Erzeugnis sie ist. Und vollends gibt es genug Grenzfälle, wo die Entscheidung völlig verschieden, ja entgegengesetzt ausfallen würde. Die Unterschiede eines Handelns für den Andern aus Hingabe oder aus Schaffenslust sind leicht umrissen. Der Mensch kann ebensowohl der Gegenstand unseres Schaffens werden, wie er das Ziel unserer Hingabe sein kann. Das Schaffen im Reiche des handelnden Lebens kennt in weiten Bezirken als Gegenstand nur den Menschen, und dort, wo es sich die außermenschliche Umwelt zu unterwerfen trachtet, hat es doch in den meisten Fällen nebenher mit dem Menschen als unentbehrlichem Bundesgenossen oder Werkzeug seines Tuns zu rechnen. Alle Regierung, alle Erziehung, aller Handel beziehen sich nur auf Menschen, fast alles Gewerbe, die meisten Formen des Bodenbaues ebenfalls. So ist die Welt mit tausend Fäden überspannt, die alle im Dienst der Schaffenslust auf Leitung, Förderung, Versorgung oder Verwendung von Menschen abzielen —. jeder von ihnen ein Anlaß, zum Zweck des zu schaffenden Werkes Menschen zu erhalten oder zu fördern. Aber auch wo so unmittelbare Absichten nicht in Betracht kommen, da kann doch Wohl oder Würde der großen Gemeinschaften, in die der Mensch zu tausend Zwekken des schaffenden Lebens sich und andere eingeschlossen hat, fordern, am Menschen, ihn fördernd oder schützend oder heilend, zu wirken. Unzählige Ehrgeize des Schaffens haben sich so an Absichten geknüpft, die auf das Heil des Anderen abzielen. In der heutigen Gesellschaft gibt es kaum eine Not des Einzelnen, deren Abstellung nicht Zweck oder Mittel eines Schaffens wäre.
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I m m e r aber — und diese Forderung m u ß aufrecht erhalten werden — ist es d e m Leben förderlicher, wenn alle diese Handlungen des Eintretens f ü r Andere aus schaffender als aus schenkender Absicht vorgenommen werden. Die W i r k u n g ist gut auch i m Sinn des Hingabetriebes, aber die Handlung selbst geschieht sicherlich straffer, stärker, gespannter, wenn sie als Schaffen im Dienste eines Ichs, als wenn sie als Almosen f ü r den Andern unternommen wird. Es ist die Färbung, das Schrittmaß des Lebens, u m die es sich handelt. Schaffen ist bunt, freudig, es eilt gespannt und stetig vorwärts; Helfen, Almosengeben aber geschieht weit öfter im Sinn trübselig-weinerlichen Bedauerns, leidsamer Handlung, ungeregelt, stoßweise, langsam, sich zeitweilig aus Überdruß oder nachlassender Liebe versagend. Und noch eins: alle Hingabe spendet Almosen, das heißt, sie setzt den Empfänger herab, tut seiner Würde, seiner Selbständigkeit, seiner Tatkraft Abbruch. Wo augenblickliche Not schenkende Hingabe fordert, da möge sie nie fehlen, und da soll sie durch zartes Nichtfühlenlassen u n d durch Vermeiden alles Dankesund Seelenschuldenwuchers dem Beschenkten die neue Not des Nehmenmüssens lindern und den dauernden Schaden erschlaffender Unselbständigkeit zu mindern suchen. Aber wo immer die Regel einsetzt, da soll auch schaffendes Wirken das Almosenspenden verdrängen. Alle Wohltätigkeit des Einzelnen außerhalb seines nächsten, eigentlichen und also Schaffensbereichs erfordert so viel Umsicht und Arbeit, wenn sie nicht m e h r schaden als nutzen soll, wenn sie nicht schlaffes Abwarten hier, unwürdiges Sichbeugen dort u n d vielmehr Gelegenheits- und äußere Hilfe als inneres Auf-
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lichten und Stärken hervorbringen soll, daß fast wieder ein Schaffen entstehen m u ß . Jeder dauernde Notstand aber m u ß und wird nicht n u r die Nächstbetroffenen, sondern zugleich irgend eine Form schaffender Tätigkeit, sachlicher Zwecke so sehr schädigen, daß schon u m ihretwillen Abwehr und Vorkehr geboten ist. Und sie wird, wieder u m die Wucht und W ü r d e des Lebens zu ehren, viele Male lieber zu einer auf Recht u n d Regel beruhenden Hilfe als zum Almosen greifen. Der gute Sinn aller n e u e n Staatssorge f ü r die durch Unfall, Krankheit, Alter oder durch Tod des Versorgers Geschädigten b e r u h t i m Vergleich zu aller älteren Armengesetzgebung auf diesem Grundsatz. Sie ist in diesem Betracht vorbildlich. Selbst die Not und Unbill, die n u r den Einzelnen angeht und die kein Anderer, noch auch die Gesellschaft verschuldet hat, das Elend etwa der verkrüppelt oder blind oder taubstumm Geborenen oder der am Geist Erkrankten, sollte man, wie m a n schon tut, aus dem G r u n d e eines allgemeinen Rechtes des Voiksganzen auf würdige Fristung des Daseins, nicht aber aus dem des unverdienten Almosenempfangens abstellen. So entsteht ein seltsames Wechselspiel zwischen Schaffenslust und Hingabetrieb. W o immer dieser durch jene verdrängt wird, wird es ein Vorteil sein; so gewiß jedes starke und schnelle Ja hoch über d e m nachträglich zögernd und halb zurückgenommenen Nein steht, so gewiß ist d e m Leben m e h r mit freudigem Schaffen als leidsamem Schenken gedient. W e n n diese Betrachtungen zwar mit allem Nachdruck d e m einen Zuviel unseres Genießens wehren, d e m nämlich, das uns unsere Liebe zum Anderen einflößt 230
u n d ablockt, so wandten sie die Augen allzu einseitig fort von jenem anderen Zuviel, das unsre nach dunklen Lüsten gierige Seele eher noch öfter, noch nachhaltiger beherrscht: von dem Zuviel des Genusses unserer Obmacht, unserer demütigenden, knechtenden, Leiden schaffenden Kraft, unserer Freude a m Stören u n d Zerstören, die alle uns unser Ichtrieb selbst zu schlürfen, bis auf ihre widrige Hefe auszukosten anrät. Hier soll Einspruch erhoben werden gegen eine Quelle unsäglich häufiger und unsäglich tiefer Trüb u n g gesunden u n d freudigen Lebens, die das Verhältnis zwischen Eltern u n d Kindern, zwischen Gatten, Geschwistern und Freunden fort und fort stört und verstört. Viele werden, was hier b e r ü h r t werden soll, f ü r ein Untergeordnetes, f ü r ein Nichts halten. I n Wahrheit aber ist es einer der schlimmsten Dämonen, die an unserm Wohlfühlen, unserm Gedeihen u n d somit an unserem Wirken und unserm Sein gleichmäßig zehren, es unter der Maske der Alltäglichkeit und Geringfügigkeit entscheidend beeinflussen, das heißt i m tiefsten Kerne schädigen. Ich meine die U n t e r m e n g u n g all unseres täglichen Regens und Redens mit Ärger und Verdruß, den wir uns. den wir Anderen bereiten und der seinen Quell nicht in den Dingen, noch in den Personen hat, mit denen wir zu tun haben, sondern einzig u n d allein in unserer eigenen, sei es vorübergehenden oder dauernden Mißgeschaffenheit. Der Oger Reizbarkeit ist vielleicht das f ü r unser Leben gefährlichste U n g e t ü m . Unsere Väter, m e h r noch unsere Großväter n a n n t e n ihn Laune, Verdrießlichkeit, Hypochondrie; wir lieben, alle Schuld auf unser 231
Körperliches zu schieben und nur von Nerven und Nervenschwäche zu reden. Ich denke nicht, daß bei diesem Zwiespalt alles Recht auf der Seite unserer Generation ist. Mich will bedünken, daß die alte Auffassung insofern richtiger sah, als sie das Grundübel dem Willen und der Seele zuschob und nicht dem Leib. Allerdings ist soviel gewiß, daß geschwächte Nerven unser geistiges Ich völlig mißleiten können; sie vermögen Menschen, die ihrer Grundanlage nach freundlich und heiter sind, zu mißtrauischen und leicht verletzlichen, demnächst zu angriffslustigen und verletzenden, zuletzt zu boshaften Stimmungen zu mißleiten. Auch leuchtet ein, daß vom Leben Geplagte und Zerdrückte zu solcher Nervenschwäche gelangen können ohne das mindeste Verschulden, ja ohne die Möglichkeit auch nur eines erfolgreichen Widerstandes. Und endlich ist denkbar, daß Seelen, die ursprünglich in vollem Gleichgewicht waren, durch fortgesetzte Störungen und Schädigungen des Nervenrüstzeugs dauernd in eine schwankende und ausfallige Verfassung gebracht werden können, sodaß sie einer von Anbeginn boshaften Natur zum Verwechseln ähnlich sind. Wir Laien sind den Ärzten gegenüber über dies alles endgültig zu urteilen kaum zuständig, wir sind auf ein begrenztes und mangelhaft beobachten des Erfahren angewiesen. Aber wir haben Ursache, uns von der Meinung der Heilwissenschaft zu entfernen und uns irgend einen halbwegs haltbaren Notbehelf von Meinung und Urteil zu schaffen, eben weil hier Körper und Seele und also auch Körper- und Seelen-, Lebenskunde zusammenstoßen. Man wird nicht dagegen Einspruch erheben mögen, daß viele Rechts- und zahlreiche Sittenbrüche auf Erkrankun232
gen des Ichs zurückgeführt werden; aber man wird behaupten dürfen, daß dies zuerst und zuletzt Erkrankungen der Seele und des Willens, nur zu einem minderen Teil Übel des Leibes sind. Und gerade in diesen strittigen Punkt trifft die Forderung, die hier verfochten werden soll. Wir alle — keiner wird sich davon freisprechen mögen — lassen in unser Sein mit Anderen, in unser Wirken auf Andere, und gerade auf die uns Nahen am öftesten und am häßlichsten, unsere eigenen Disharmonien einfließen. Was in uns unausgeglichen und mißtönig ist, das laden wir denen auf, mit denen wir zu schaffen haben, ungerecht sie darin benachteiligend im Vergleich zu unserem Verkehr mit den Dingen. Denn niemandem wird es beikommen, je soviel üblen Humor an seinem Werk auszulassen wie an seinen Nahen. Und so zwerghaft klein die Reibungen und Streitigkeiten sind, die aus dieser trüben und leider stets sprudelnden Quelle aufsteigen, jede von ihnen bedeutet das Gegenteil von bauender Einwirkung, bedeutet ein Abtragen, ein Zerstören dessen, was vielleicht noch eben unserem rein sachlichen Eifer gelungen war. Und an unserer Schuld sollten wir hierbei niemals zweifeln: denn spielen uns wirklich in sehr vielen Fällen unsere mangelhaften oder geschädigten Körperwerkzeuge, unsere Nerven insbesondere, einen Streich, so erwächst uns die andere Pflicht, diesem Schaden abzuhelfen, wenn nicht um unsert-, so um der Unsrigen willen. Selbst die Geistigen unter uns oder die, an deren Nervennetzen viele Schädigungen heftiger und dauerhafter nagen als an Anderen, werden nicht in Abrede stellen können, daß durch andere Zucht des
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Lebens und des Leibes sie imstande sein würden, sich für das menschlichste unserer Ämter, für den Umgang mit den Menschen, besser bereit und geschickt zu machen. Viele Ausnahmen wird man hier bereitwillig einräumen dürfen: die Bedrängten, an denen Sorge und Arbeit zugleich zehren, an deren Kraft das Leben zu hoch gespannte Anforderungen stellt, werden gerade in diesem Betracht auf ein milderes Urteil Anspruch machen können. Wie soll eine von allzuvielen Geburten geschwächte, von Lärm und Arbeit eines kinderreichen Hauses täglich umdrängte Mutter das Gleichgewicht Leibes und der Seele bewahren, dessen sie und sie gerade für ihr Tun bedarf? Und dennoch, lebenskluge und erfahrene Ärzte und Ärztinnen versichern, daß auch bei so umschränkten Umständen eine mit Willen und Absicht hierauf gerichtete Umstellung der Lebensweise Erfolg haben und einer verdrückten Seele die freie und heitere Haltung wiedergeben kann. Ein ganz Großes ist also daran gelegen, ob wir einen Teil unseres Lebenswillens darauf einstellen, daß unser Wirken auf Andere von so störenden, so mißtönigen Nebenklängen frei werde. Einer allzu unichmäßigen Handlungsweise werden wir uns dabei nicht zu befleißigen brauchen: denn dies Wirken ist unser Werk und sein Werkzeug ist unser eigenes leibliches und seelisches Ich. Es ist seltsam genug, daß wir auf so weitem Umwege zu solcher Ichpflege gelangen, aber an Seitenstücken pflegt es auch bei leidenschaftlich Ichliebenden nicht zu mangeln. Auch unter ihnen gibt es nicht wenige, die ihr Werk und ihr Selbst, aber doch ihr Selbst mehr um ihres Werkes willen lieben: bei ihnen ist gar nicht selten die einzige
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Schranke, die sie einem ihr Ich zerstörenden Übermaß an Schaffenslust setzen, diejenige, die die notdürftigste Rücksicht auf ihren Körper als das Werkzeug ihrer Arbeit ihnen baut. Der höchste Grundsatz, der in allen irdischen Dingen zur Geltung gebracht werden kann, ist dieser: das höchste Gesetz des Lebens ist das Leben selbst. Sein Gebot überschattet auch diese Bezirke. Wenige sind unter uns, die nicht aus irgend einer fernen oder nahen Pflicht des Lebens an Menschen zu bauen haben. Sollten für dies Amt nun schlaffere Regeln gelten als für das des Gärtners an der Pflanze, des Züchters am Tier? Keinem Pfleger von Tier oder Pflanze würde in den Sinn kommen, es seiner Laune oder Bosheit gemäß zu schädigen. Wohl aber sehen wir in den Ehen tiefer und wertvoller Menschen den Gatten die Gattin, die Gattin den Gatten peinigen durch die hemmungslose Lässigkeit, mit der sie der Stimmung ihrer Stunde, ihres Tages eben ihren nächsten Menschen gegenüber freien Lauf geben. Es gibt genug Formen quälender und zugleich selbstquälerischer Bosheit, die hier angrenzen ; doch nicht von ihnen soll hier die Rede sein, sondern von der viel häufigeren und vielleicht gefährlicheren Art jener halb fahrlässigen, halb bewußten Lust am Verletzen, die stets von ihrem Wohlwollen und ihren besten Absichten redet, die solches Wohlmeinen wohl auch zu anderer Stunde durch Wort und Werk betätigt und doch den von ihr Betroffenen das Leben stückweise verdüstern und endlich im Ganzen trüben und schwächen kann. Das Schauspiel, das so Gatten, aber auch Geschwister und noch Freunde darbieten, ist ein jammervolles,
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eben weil die Form des Zwistes so schleichend ist. Jeder harte Zusammenstoß, jeder wirkliche Kampf in einer Freundschaft, einer Ehe, und m a g er auch in den Folgen zerstörend sein und bis zur Zertrümmer u n g des Bundes f ü h r e n , ist vom Sinn des Lebens aus gesehen stark, ja reinigend u n d prachtvoll wie ein Gewitter, verglichen mit der die Brust beklemmenden, den Atem u n d alle Freiheit hemmenden Stickluft der Jahre, Jahrzehnte lang zu ertragenden Verkümmerungen dieses Ursprungs. Wer noch an die Möglichkeit des sokratischen Gedankens glaubt, daß eine Einsicht des Verstandes unser Wollen und Handeln mit irgend welchem Erfolg bestimmen könne, der wird hier an i h m irre werden müssen. Denn es geschieht das Unbegreifliche, daß kluge und in anderm Betracht starke Menschen sich und Anderen das Leben stören und fast zerstören, u m keines verursachenden Grundes, u m keines zu erstrebenden Gutes willen, n u r weil sie an ihrem Selbst nicht genug Zucht üben. Sie erkaufen das sehr zweifelhafte G u t eines richtungs- u n d regellosen Sichgehenlassens, f ü r eine die Kräfte ihres und fremden Lebens herabmindernde, wenn nicht lähmende Handlungsweise. Zuletzt könnte dies tiefe I r r e n auf das Verkennen des anderen in diese Reihe zu stellenden Gebotes, ehre die Stunde, zurückgeleitet werden. D e n n schon wer das Verdunkeln u n d Verderben des kleinsten Maßes der uns zugeteilten und wahrlich rasch genug uns entrinnenden Menge des köstlichsten unserer Güter, des freudevollen Daseins selbst, f ü r nichts achtet, der beweist, wie wenig er die uns Kindern der Erde unentbehrlichste und dabei doch dankbarste Kunst gelernt hat, die Kunst zu leben. 236
Ob in den Ehen Männer oder Frauen in diesem Stück a m öftesten sündigen, sei ganz dahingestellt. Aber das wird gesagt werden dürfen, daß die besondere, jedem Geschlecht in diesem ihrer beider Bunde eigentümliche Stellung in beiden Fällen Anlaß gibt zu häßlicher Irrung. Der Mann, der außerhalb der Mauern seines Hauses K a m p f und Wirrsal und Widrigkeit genug zu bestehen hat, ist sehr geneigt, die Spannungen, die sich dort in i h m angesammelt haben, gegen die Seinigen sich entladen zu lassen. Von d e m stets knarrenden, stets übelnehmerischen Kanzleirat der Lustspielbühne — es braucht nicht i m m e r ein Kanzleirat zu sein — bis zu d e m polternden Troupier und Stall- und Sportsmenschen gibt es eine lange Staffelfolge von Männerformen, die es lieben, ihr Übergewicht an roher Stoßkraft gegen ihre Frauen geltend zu machen. Eine weitere Abart stellen die Männer dar, die von ihrem besser gestopften Schulsack und tausend D i n g e n vom größten bis z u m geringsten Werte, die sie besser wissen oder doch zu wissen glauben, das Recht herleiten, ihren Frauen fort und fort mit der Miene herablassender oder unwirscher Belehrung das Leben zu verbittern. Und so kann es einer F r a u , deren Wesen hundertfach echteres Metall ist, hundertfach tieferen Klang gibt, widerfahren, daß sie T a g f ü r T a g u m der geringsten D i n g e willen wie ein Schulbub zurechtgewiesen wird, ein Schauspiel, das einen Dorfschulmeister verunehren würde und das m a n doch in den Häusern wirklich überlegener Geistiger kläglich genug sich darstellen sehen kann. Zu d e m jammervollsten Zerrbild wird es dann, wenn diese PedantenÜberhebung sich noch in die Gewänder geistlichsittlicher Belehrung kleidet. Ich kannte vor Jahren
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einen inzwischen verstorbenen Pfarrer, der mit der Miene des Seelenhirten seine wehrlose Frau selbst vor Aug und Ohr seiner Gäste Stunde für Stunde mit Nichtachtung und Nadelstichen peinigte. Der Mann schrieb an einem Lehrbuch der christlichen Sittengeschichte. Den Frauen ihrerseits steht eine furchtbare Waffe zu Gebote, die ihnen bei einiger Ausrüstung weniger des Verstandes als der Willenskraft eine vollkommene Überlegenheit über den Mann verschafft. Das ist, daß sie all ihr Sein und Handeln dem Leben, und das heißt für sie dem Leben mit ihren Nahen zuwenden können, während der Mann drei Viertel oder neun Zehntel seiner Kraft in Arbeit und Beruf verzehrt. Ein tausendfach sich abwandelndes Geschehen ist nun, daß die Frau auf einem Boden, den sie viel besser kennt, und mit Waffen, die sie viel geschickter zu handhaben weiß, den Gatten in den verschiedensten Graden der Heftigkeit oder der Nachhaltigkeit überwindet und dann nach Gefallen die Bosheit oder die Verstimmung jeder schwarzen, jeder mißratenen Stunde an ihm ausläßt. Ohne jedes parteiische Vorurteil für das eigene Geschlecht wird ein männlicher Urteiler sagen dürfen, daß der Mann in allen den oben genannten Fällen häßlich und unritterlich verfährt, daß aber die Frau, abgesehen von dem gleichen groben Verstoß wider alle Lebenskunst, auch noch der Art und dem Geist ihres Geschlechts zuwider handelt. Denn — und dies ist der leuchtende Trost, der von den wohlgeschaffenen Ehen in alle diese Wirrsal strahlt — der Frauen Amt und Sendung ist Zärte und Weichheit, und eben die reinsten und stärksten Siege erficht ihr Handeln dann, wenn es diesem Zeichen folgt. 238
Noch übleren Schaden richtet der gleiche Lebensirrtum zwischen Eltern und Kindern an, vornehmlich deshalb, weil hier Macht und Befugnis von vornherein ungleich verteilt sind, sodaß die eine, die ältere Partei nur in den allerseltensten Fällen die unterliegende, wenn auch etwas minder selten die auch getroffene ist. Eben in diesem Verhältnis liegt aber ein Grund zu noch häufigerem Irren als in den Beziehungen zwischen Ebenbürtigen, und nun geschieht das Abenteuerliche, daß der reife, von manchem unvermeidlichen und sehr vielem überflüssigen Ärger gepeitschte Ältere mit der Amtsmiene des Erziehers Rügen erteilt, Scheltreden ausstößt, Strafen verhängt, die alle gar nicht ihren Ursprung in irgend einem, und sei es dem leisesten Vergehen des Zöglings haben, sondern in seinem eigenen Übelbefinden. Was Wunder, daß schließlich in empfindlichen Kindern Reaktionen bis zu Haßempfindungen entstehen, die ihnen naturgemäß von neuem als Verworfenheit eingerechnet werden. Der größte Schaden aber wird dadurch angerichtet, daß selbst noch dem Vierzehn-, Fünfzehnjährigen ganz unmöglich ist, hier Scheidungen zu machen und mit abwartender Milde die Unwetter der Stunde zuerst ruhig über sich ergehen zu lassen und dann als unverschuldet zu vergessen. Und alles Unheil, das an jungen Seelen geschieht, ist folgenreicher als jedes andere, denn es verursacht Wirkungen, die bleibender sind, ja die sich in die Zukunft hinein verstärkt vorauswerfen. Die anderen Beziehungen zwischen Unebenbürtigen, zwischen Herren und Dienstboten, zwischen Meister und Gesellen, zwischen Lehrer und Schülern weisen ein ähnliches Bild auf. Oft rechnet unsere 239
schlechte Angewöhnung schon zu den notwendigen Tugenden eines Untergebenen, daß er unser unnützes Schelten dann mit Gelassenheit erträgt, wenn er sieht, daß n u r irgend ein schnell vorübergehender D r a n g u n d Zwang der Stunde es veranlaßt hat. I m m e r und überall aber, wo diese Wirren des Lebens aufzuspüren sind, wird m a n d e m einen G r u n d i r r t u m entgegenwirken müssen, als handle es sich u m ein Kleines. Jeder einzelne Vorgang mag noch so klein und alltäglich sein, dennoch ist weder die Ursache, die ihn hervorbringt, eine fehlerhafte Anschauung von den Grundwerten des Lebens und schlimmer, eine fehlerhafte Richtung der Ichbildung, klein, noch die Wirkung, die Leben lähmt und gar Wachstum des Lebens v e r k ü m m e r t und verkrümmt, das Gegenteil also darstellt von dem, was als ein letztes Gebot an uns ergeht: daß wir am Anderen bauen sollen. Denn verfolgt man die Möglichkeiten der Schaffenslust durch alle Bezirke des handelnden Lebens, so bliebe doch das beste ihrer Güter ungefunden, wäre nicht von d e m Glück die Rede, das uns die höchsten und feinsten Formen werktätigen Wirkens verschaffen : es sind — wie dürfte man auch n u r fragen — diejenigen, die den Menschen selbst zum Gegenstand haben, es sind die Ämter dessen, der den Menschen baut, sei es seinen Leib, sei es seine Seele. Es ist die Sendung des Arztes und es ist die des Erziehers, mag er sich n u n L e h r e r oder Priester oder wie immer nennen. Eine Erziehungslehre selbst n u r in den Grundlinien zu u m r e i ß e n oder auch n u r anzudeuten, ist nicht Amt und Absicht dieser Blätter. Die Maße und die Regeln, deren eine solche bauende Gesinnung f ü r ihr Handeln
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i m einzelnen bedarf, wird sie am dienlichsten von dem T u n derer ableiten, die nicht u m irgend eines Helfens, irgend eines Dienens willen, sondern u m ihres Wirkens, u m ihrer Schaffenslust u n d also u m der Ichliebe willen gleiches oder ähnliches u n t e r n e h m e n . So wäre zu wünschen, daß ein Vater sich Maß und Muster seines Erziehens von dem Urbild des ausgezeichneten Lehrers nähme. Das Beispiel kann als ein artvertretendes gelten, weil es einmal diejenige Form von lebengegebener Verbindung darstellt, die das engste Band knüpft, u n d zugleich die tiefste Forderung des Bauens a m Anderen in sich schließt, wieder nicht aus irgendwelchen Begriffen toter oder saurer Pflicht, sondern aus d e m Gesetze des Lebens selbst, das uns befiehlt, in den Wachsenden, Keimenden Kraft und Freude neuen Lebens, neuen Schaffens von neuem entstehen zu lassen. Jedes Bauen an lebendigen Menschen f ü h r t schon durch seinen Namen zu den einfachsten und zu den höchsten Formen des Schaffens zurück: Bauer, der beste E h r e n n a m e eines einfachen, eines gesunden Menschen, heißt der Mann der Pflugschar, und bauende Forschung ist jene kühnste und letzte Form aller Wissenschaft, die ihre Begriffsgebäude in frei schaffender Willkür aus den Gegebenheiten der Wirklichkeit errichtet. Und so ist auch die edelste Gattung des Handelns das Aufbauen, die Umbildung des Menschen, sei es der Anderen, sei es — u n d dies ist wiederum die höchste ihrer Formen — des eigenen Ichs.
16 Brvyii«
D R I T T E S BUCH DER H I N G A B E T R I E B U N D DER GLAUBEN
D I E H I N G A B E AN DEN GOTT
Das Christentum, das seinen übermächtigen Gottesgedanken so tief in unsere Sittlichkeit drängt und ihn zum Herren machen möchte nicht allein über unseren Glauben, nein auch über unser Leben, ist dess Zeuge, daß nicht allein der Mensch dem Menschen Gegenstand der unbedingtesten Hingabe wird, nein auch der Gott, dessen Bild sein eigenes Ahnen erst über die Wolken warf. Tausend Mal machen uns Gemein-
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schaft und Gesellschaft abhängig, hundert Mal doch auch Geist und Geistesschöpfung. Wäre der Gott der hohen, wären die Götter der niederen Stufen der Glaubensentwicklung der Menschheit n u r Erzeugnisse einer bauenden Daseinswissenschaft, die ihre Schlüsse wohl über und unter die Welt hinaus recken will, die aber nie daran denkt, ihren Gedanken das Fleisch und Blut lebendiger Gestalten zu geben, nie sie aus der d ü n n e n L u f t ihrer Verstandessphäre zurück auf unsere Erde zu ziehen trachtet, so hätten sie nie auch nur ein Bruchteil der Macht über unser Leben ausgeübt, die ihnen jetzt und seit Jahrtausenden eingeräumt ist. D e r Glaube aber läßt die Götter als Handelnde unter Handelnde, als Könige oder Dulder, immer aber als Verehrung Fordernde unter uns treten, höht sie zu unerreichbar hoch Erhabenen und läßt sie doch auf gleicher Erde mit uns wandeln, fast Menschen unter uns Menschen werden. Es hat einmal eine u n d zwar die erste Strecke in der L a u f b a h n des menschlichen Glaubens gegeben, da es nicht unmöglich schien, als könnte der Werdegang des menschlichen Glaubens jene kühlere, lebensfernere Richtung einschlagen. Die vermutlich frühesten Gestalten des Glaubens, deren Reste noch heute als Aberglauben ein kläglich verfolgtes und verstoßenes Dasein u n t e r der harten Herrschaft der höheren Glaubensformen f ü h r e n , sind, so unverständig sie uns heute scheinen mögen, von augenfällig verstandesmäßiger Richtung. Sie verknüpften zumeist zwei zeitlich auf einander folgende Tatsachen, etwa das Auffliegen eines Vogels zur Rechten und den Erfolg eines Fischzugs oder — weiterhin gespannt — das Aufhängen eines Jagdstiefels über der Wiege eines Neugeborenen
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und seine spätere Kriegstüchtigkeit, durch einen Ursachenzusammenhang, der uns als angereimt gilt, der aber im Grunde nur der erste tastende Versuch einer ursächlichen Erklärung der Erscheinungen und Geschehnisse der Welt war. Aber so kühl und verstandesmäßig sollte der Glauben nicht bleiben. Es war das Schicksal unseres Geschlechts, ganz früh schon das schwere Gewicht seines fühlenden Herzens an diese überirdischen, begreiflichunbegreiflichen Dinge zu hängen. Auch das geschah nicht sogleich in den späteren Formen der tiefsten Demütigung: der Mensch der Urzeit, in jedem Betracht stark und gerundet in seiner Seele, gefestigt in seinem Mute, als Charakter uns Angehörigen tausendfach geschwächter Spätzeiten weit überlegen, warf sich nicht sogleich in den Staub, um anzubeten. Dankbar für widerfahrenes Glück, hoffend auf Schutz gegen zukünftige Unbill, suchte er bei Tier und Pflanze, Fels und See nach Schützern. Aber die Geister, die er rief, so starke Gewalten er ihnen auch beimaß, hat er doch nicht allzu hoch über sich gestellt: er wußte Mittel, sie zu zwingen, er hat lange noch von ihnen ebensoviel lustige wie ehrfurchtsvolle Geschichten erzählt, er betrachtete sie als zwar an Kraft überlegene, aber durch Zauber nicht unbezwingliche Mächtige, die man sich besser zu Freunden mache. Allmählich aber rückten die Gestalten immer höher und höher: aus der Beschwörung wurde Dienst und Anbetung, aus der Geister sage die heilige Geschichte, aus dem Festsaal der Tempel, aus dem freundlichen Helfer in Not und Gefahr der Schöpfer der Welt: der Gott entstand. Damit war ein gesellschaftlich-sittliches Verhältnis zwischen dem verehrenden Menschen und dem an247
gebeteten Gotte geschaffen: eine Würde, der des Familienvaters, des Geschlechtsältesten oder des Häuptlings der Siedlerschaft im Wesen ähnlich, nur schnell ein äußerer Macht und innerer Gewalt über sie hinauswachsend. Ein Verhältnis, seltsam schwankend zwischen den Reichen der Wirklichkeit und der UnWirklichkeit, zwischen dem Geist, der diese Gestalten erst erschuf, und dem Handeln, das sie für so lebendig wie Menschen nahm, das ihnen ewiges Leben über den Wolken zusprach und sie doch frei auf Erden wandelnd dachte. Gleichwohl hätte auch diese Unterwerfung des Menschen an sich kaum sein Tun in den Grundvesten bestimmt und erschüttert; der Schutz, den man von dem Gotte, wie ehedem von dem Geiste, erwartete und erflehte, war ein Gut, das durch Dienst und Verehrung zu erlangen war — das Verhältnis war auf einen Vertrag, auf Leistung und Gegenleistung gegründet, dem eines Handels oder einer Tributzahlung ähnlich. Der entscheidende Eingriff in alles Dichten und Trachten des Menschen von Seiten des Glaubens geschah erst, indem man dem Gott einen Einfluß auf das sittliche Verheilten seiner Gläubigen einräumte. Und dieser Schritt ist so wichtig und so eng verflochten mit der Entwicklung der Glaubensgestalten selbst, daß man den Geist auf dem Wege zum Gott erst dann an seinem Ziele angelangt annehmen darf, wenn ihm eben diese Herrschaft über das sittliche Urteil seiner Verehrer beigemessen wird. Ein Rätsel in jedem Fall, diese Verbindung von Glauben und Sittlichkeit, eines der schwersten Rätsel, die das Wirrsal der Menschheitsgeschichte dem Forscher aufgibt, unlösbar im letzten Sinne vielleicht noch
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heute, dem seelischen Vermuten mehr denkbare Auswege darbietend als wissenschaftlichen Beweis. Zunächst den einen niederen, irdisch - menschlichen Ausweg. Der Seher, dessen Nachfahre und Nachkomme der Priester wurde, war in den Zeiten des Geisterglaubens der geistige Führer seiner Gemeinschaft. Indem er zauberte, Geister beschwor, Kranke heilte, wurde er i m Bezirk des geistigen Lebens im selben Sinne Führer, wie es der Häuptling im Bereich des handelnden Lebens war. Kam nun überhaupt der Begriff von Gut und Böse auf — und auch das ist erst an einem bestimmten Punkte der Entwicklung geschehen —, so war diesem Verstandes- und phantasiereichsten Mann der Gemeinschaft die Möglichkeit geboten, seine Macht auch grundsätzlich auf das Leben auszudehnen, wozu er im Einzelnen auch schon zuvor Anlaß genug gehabt hatte. Hatte er ehedem nur einem Kranken, dem er Feind war, die Hilfe verweigern oder schlecht leisten können, hatte er die Zaubergewalten denen, die er bevorzugte, zu Dienst, denen, die er haßte, zum Schaden leiten können, hatte er Jagd- und Feldzug aufschieben und leise lenken können, so bot sich ihm nun ein unendlich weites Gebiet dar, in dem er nach freiem Ermessen Richter sein konnte: er konnte jedes Handeln begünstigen oder verwerfen, wenn er es nur als den hohen Gewalten genehm oder strafbar erscheinend darzutun wußte. Noch m e h r : der gleiche Seher war als der Weiseste, Denkerischste der Gemeinschaft und als ein zugleich in Selbstzucht und Gefahr Gehärteter der geborene Finder und Gestalter sittlicher Schulung. Er brauchte ohnehin mancherlei Zuchtmittel, die man f ü r andere, außersittliche Zwecke schon ausgebildet hatte, nur
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dem neuen Ziel dienstbar zu machen: es ist sehr denkwürdig, daß die Menschheit früher und mit der härtesten, selbst der Todesstrafe sich geschult hat für viel weltlichere, ja auch für viel heiterere Lebensziele — für die Jagd, für den Tanz — als für die Zwecke der unter das düstere Gebot des Glaubens gestellten Sittlichkeit. Sah der Seher ein Handeln für schädlich an, so lag ihm, dem Verwalter des Verhältnisses zu den unsichtbaren Gewalten, nichts näher, als dagegen zu wirken, indem er deren Zorn über diese Handlungsweise verhängt erklärte. Man muß weder die eine noch die andere Deutung durch allzu plumpe Auslegung mißverstehen. Diese Ursachenzusammenhänge mögen oft genug unbewußt geblieben sein, und so wenig das Priestertum immer aus Machthunger hervorgegangen ist — sicher ebensowohl aus dem entgegengesetzten Triebe der Hingabe an Götter und Gläubige — so wenig ist sicher der Glauben nur als ein Werkzeug zur Durchsetzung neuer sittlicher Vorstellungen benutzt worden. Man muß also diese Vorgänge, die sich ohnehin in unendlich viele einzelne Vorstöße zerspalteten und über lange Zeiten und viele Priestergeschlechter hinzogen, als sehr mannigfach zusammengesetzte, verteilte und schwankende Seelengebilde vorstellen. Plumper Trug ist dabei gewiß ebenso oft wie reinste Lauterkeit aufgetreten. Und noch die bewußte Täuschung wird behutsam auszudeuten sein; schon in den Geisterbeschwörungen tritt eine Form der angeblichen Verwandlung des Sehers in den Geist selbst auf, der man häßliches Unrecht tun würde, wollte man sie als plumpe L ü g e werten. Alle Grade der Selbstbegeisterung, der Selbststeige-
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rung, der Selbsttäuschung, aber auch tiefer Glaubensund Seelenhöhung kommen hier in Betracht. Die Unzulänglichkeit der von den Glaubensformen am meisten beliebten sittlichen Wertungen und Scheidungen wird, das ist bezeichnend, nirgends so ersichtlich wie der gläubigen Sittlichkeit selbst gegenüber. Zuletzt wird hier nur das selbstgewollte Leiden jeder einseitig folgerichtigen Auswirkung des Hingabetriebes offenbar: das Priestertum wollte immer zuviel Selbstdemütigung leisten, mehr als das menschliche Herz, sein Stolz, seine Machtbegier vermögen, und so mußte es immer wieder und wieder von seinen Anfängen bis auf den heutigen Tag hundert große und tausend feine Übertretungen seiner eigenen Gebote begehen. In den ältesten Zeiten der Glaubensentwicklung und noch lange nachher aber war das bereiteste Mittel, Macht zu erwerben, die List. Daher denn die vielen Sünden des Priesters in dieser Richtung. Es ist ein seltsames Verhängnis über dem Priestertum; gerade indem es zu der Verwaltung der ahnenden Verehrung der Menschheit für die oberen, unsichtbaren Gewalten die Leitung des sittlichen Verhaltens der Menschen unter sich hinzueroberte, verlor es in gewissem Sinne seine Lauterkeit: Götterdienst und Gottesglauben wären um vieles reiner geblieben, wären sie nie mit der nur allzu irdischen Lenkung der irdischen Angelegenheiten verquickt worden. Warum nur blieb das sehnende Auge, das unser Geschlecht im Glauben gegen die Weiten, gegen die Tiefen der Welt richtete, nicht an sie geheftet, warum mußte es sich auch gegen die Menschen wenden und so selbst Art und Wesen ihrer Unreinigkeit annehmen ? 251
Es hieße schweres Unrecht begehen, wollte man bei Betrachtung dieser schicksalsvollen Verkettungen nicht auch der Tausende und Tausende von Priestern gedenken, die auf allen Stufen, in Sonderheit auf den mittleren und höchsten der Glaubensentwicklung, zu der Hingabe an die Gottheit die an die Menschen fügten. Aber auch sie und selbst die höchsten von ihnen sind nicht vor dem innersten Zwiespalt bewahrt geblieben, der in einer Handlung liegt, die Dienst und Herrschaft gleichermaßen in sich begreift, die zwar immerdar ihre Träger demütigen will, aber immer auch ihnen das Recht einer wenn auch noch so sanften und leisen Lenkung der Andern zuweist. Selbst die gewaltigste und zugleich reinste Erscheinung dieser höchsten Priestermenschen, die von Jesus, hat hier ihr Problem. Aber zu wie viel Gebrochenheiten und Vieldeutigkeiten dies In- und Gegeneinander zweier Wirkungsformen den Priester auch geführt haben mag, zuletzt ist in ihm etwas zu verspüren, das einem Siege des Schaffenstriebes, nicht der Lust an der Hingabe gleichsieht. Es ist, als hätte alle Forderung und alle Übung der Hingabe vor Göttern, vor Menschen in dem Priester mit Notwendigkeit die Gegenwirkung eines unstillbaren Durstes nach Macht, wenn nicht über das äußere Verhalten der Menschen, so doch über ihre Seelen und damit dann gleichwohl auch über ihr Tun, hervorgebracht. Die ganze Fülle der Möglichkeiten der Haltung, die der Priester in seiner Zwischenstellung zwischen dem demütig gepriesenen und erhobenen Gotte hinter sich, dem gläubigen Volke vor sich, annehmen konnte, wird erst offenbar, wenn man der Glaubensgebilde ge252
denkt, in denen der Stolz des Priesters sich auch wider den Gott kehrte. Hier reckt sich der Inhaber des Denkens der Menschheit über die göttlichen Dinge zu letzter Höhe empor: er verliert nicht den Willen, noch die Gebärde der Anbetung — das geschieht erst, wenn er sich in Indien, in China, in Griechenland, in dem neuen Europa des achtzehnten Jahrhunderts, in den weltlich-philosophischen Verkünder der Gottlosigkeit wandelt —; aber er bildet die Gestalt des Gottes so um, daß sie, fast ihrer außermenschlichen Wesenheit entkleidet, zu einer Auswirkungsform, einem Bestandteil der Seele des Gläubigen wird. Nur die Mängel unserer Sprache und unseres Vorstellens führen dazu, das Allwesen der buddhistischen Glaubenslehre Allseele oder Allgeist zu nennen; es hat so wenig Persönlichkeit wie nur denkbar, es ist der letzte Gegensatz von Persönlichkeit, da es der letzte Gegensatz von Besonderheit, Gestaltung, Begrenztheit ist. Und so vollzieht sich hier der äußerste mögliche Schritt im Bereiche des Glaubens, der dem Priester als Träger des Stolzes der Menschheit vergönnt ist: der Gott wird nicht im All, nein im Nichts aufgelöst; ohne Kampf, leise entschwebt er: aber der Priester bleibt. Das gesamte Werk der gläubigen Menschheit erscheint vernichtet, sinkt in sich zusammen, lautlos, kampflos, ruhmlos. Die Geisterheere des Allseelenglaubens der frühen, die bunten Gestalten der Tiergeister und Heilbringer der späten Urzeit, die Götterhimmel des Altertums und selbst noch die tiefen Gedankengötter des frühen indischen Mittelalters, alle, alle wandeln sich in Nebel, der leise sich hebt, sich ballt, sich löst, entschwindet: aber der Priester bleibt. Kein Opfer, keine Anrufung, kein 253
Gebet findet mehr statt: aber ein Dienst bleibt, und der Priester bleibt. Kein Gott wohnt mehr im Tempel, aber Klöster entstehen zu Hunderten, zu Tausenden: der Priester bleibt über der entgötterten Welt. Ja mehr noch, auch gegen die gläubige Menge, gegen Volk und Folger wendet sich dieser neue Sieg des priesterlichen Gedankens; der Priester verzichtet darauf, für die Gemeinde tätig zu sein, er will kaum eine Gemeinde, er zieht sich in sich selbst zurück, er ist sich selbst genug: der Priester wird Mönch. Das hohe Gut seines Wissens um die überwirklichen Dinge verwaltet er nicht für Andere, nicht als der Hirt für seine Schafe, sondern nur für sich, den Priester. Wohl breitet er fort und fort die Lehre Buddhas durch Predigt aus, aber nur, damit immer mehr sich dem Heil zuwenden, dessen man sich ganz nur durch priesterliche Hingebung des vollen Lebens teilhaftig machen kann. Und wenn im Laufe der Zeiten gar der Erste, der Höchste, der Schöpferischste unter diesen priesterliehen Menschen, Buddha, zu einem Halbgott oder gar zum Gotte geworden ist, dessen Standbild die Tempel schmückt, so ist dies ein Rückfall in alte Formen ; aber der Keim für sie, die Vergottung des Priesters, ist in der Lehre Buddhas selbst schon gegeben. In beiden Strömen der Entwicklung ist das Buddhistentum — hierin Ausgipfelung und Krönung des Brahmanentums — ein äußerster Erfolg des Priestergedankens auf seinem Siegeszuge durch die Geschichte des Glaubens. Aber es scheint, als hätte dies letzte Maß von Aufhöhung des Priestergeistes nur dadurch Gleichgewicht und Bestand haben können, daß dem, was er nach Seiten des Gottes wie der Gemeinde gewann, in der Tiefe wie an der Oberfläche
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ebenso freie Verzichte und Stellungsverluste entsprachen. Maua bemerke wohl, das Ausströmen des Einzelichs in die Allseele ist doch auch wieder nicht etwa in dem Sinn einer Hingabe, einer Unterwerfung des Ichs gedacht unter höchste und unbegreifliche Mächte, sondern als ein Aufgehen des Sonder-Ichs in dem Gesamtich der Welt. Das Einzel-Ich des Menschen zerfließt, löst sich auf, nicht wie in Demut vor dem Unbegreiflichen, sondern es geht in Stolz in ihm auf, nicht als sein Knecht, nein, als sein Teil. Und wenn das Ich stirbt, früher noch starb der Gott; denn der Gott verschwindet gänzlich, da der Glaube an ihn verschwindet; das Ich aber führt noch das Scheindasein dieser Erde, um endlich zurückzukehren zur Allseele und ihre selige Ruhe mitzugenießen. Man wird zugeben: die stolzeste Form der Ichauflösung, die sich ersinnen läßt, im weitesten nicht zu verwechseln mit der Staubesdemut des rechtgläubigen Christen vor seinem allmächtigen Gott. Dennoch bleibt der Grundgedanke, daß das Ich sich selbst aufhebt: sucht sich auch das Ich den vornehmsten Hafen, die ewige Ruhe der Allseele, in die es sich verströmt, eine Selbstaufgabe findet dennoch statt. Der Gedanke der Persönlichkeit ist nie so bis in den tiefsten Grund zerstört worden wie hier: das Ich gibt sich nicht hin, es unterwirft sich nicht, es erkennt keinen Herrn über sich, aber es verneint sich als Besonderheit und damit als Dasein, indem es sich nur noch als einen Teil der Allseele empfindet. Hierein hätten weder die Brahmanen noch Meister Eckehart, in stärkerem Ichstolz als Buddha, eingewilligt. Und nun das zweite: auch der Gemeinde gegenüber
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gibt der Priester, der Mönch, der nach des Buddha Vorschriften lebt, sehr viel von dem hin, was allem früheren Priestertum und noch dem Brahmanen hinzugeben nie möglich gewesen wäre. Nicht der mindeste Rest des Kastenhochmutes der alten Priester soll in dem Handeln der Mönche Buddhas bleiben: sie sind verpflichtet, gegen jeden Menschen, ja gegen jedes Wesen versöhnlich und gütig zu sein. Die Regeln der fünffachen Rechtschaffenheit, die allen Menschen verbieten zu töten, zu stehlen, die Ehe zu brechen, zu lügen, berauschende Getränke zu trinken, gelten für die Mönche in erhöhtem Maße, unter Verschärfung der dritten Regel zum Gebot völliger Keuschheit. Wer Vollendung erstrebt, muß Freundschaft gegen alle Wesen, alle Dinge kehren. Doch freilich, auch hier findet ein innerer Ausgleich zu Gunsten des Ichs statt, der all diese Hingabe annähernd in dem gleichen Maße aufhebt, wie die Hingabe des Priesters an die überwirkliche Welt. Es fehlt hier wie dort ein einem Empfangenden, an einem, dem alle die Geschenke gelten, den sie erfreuen, bereichern sollen. Alle diese Regeln nämlich haben im Grunde nicht das Wohl des Anderen im Auge, sondern nur das Wohl des Ichs. Und zwar nicht etwa in dem Sinne, daß Wohltun dem Ich Freude bereitet, sondern in dem andern, unmittelbaren, daß das Ich durch unbedingte Friedfertigkeit den eigenen Frieden am besten bewahrt, jenen Frieden, der wiederum die rechte Voraussetzung für den höchsten Frieden der Vollendeten ist. Die Ausstrahlung von Freundschaft, die der Vollendete, so Buddha selbst, da er dem wilden Elefanten begegnet, auf die Wesen richtet, hat einen Beigeschmack des Orenda der irokesischen Urzeitbegriffe. 256
Zieht man die Beweggründe eines Handelns allein für seine sittliche Wertung in Betracht, so findet sich hier überhaupt keine Liebe zum Andern. Der Unterschied zwischen buddhistischer und christlicher Regel ist sehr auffällig: Nächstenliebe im christlichen Sinn wird dem buddhistischen Mönch nicht zur Pflicht gemacht. Durch Frieden mit Anderen den eigenen Frieden finden, das ist alles, und man wird zugeben, es ist nur in dem gleichen, halben Sinne Hingabe, wie die Lehre Buddhas nur im halben Sinne Glauben ist, oder wie sie nur i m halben Sinne Hingabe des Ichs an die hohen Mächte der Überwelt ist. Eine Minderung der Persönlichkeit, die gewisse Richtungen des Brahmanentums priesen und übten, die Selbstkasteiung, ist bezeichnenderweise völlig verworfen, nur ein einfaches Leben empfohlen. Aller Gehalt dieses Sittengebotes für den Priester zielt darauf ab, ihm die Ruhe zu schaffen, die der Arbeit an seinem Ich zu statten kommt. Und sie wiederum hat nur den einen Zweck: das Ich zu vollenden, dient also nur der Persönlichkeit, freilich u m sie —. in wunderwürdiger Verschwendung —. zuletzt nur auszuströmen in die Allseele und in deren daseinslose selige Ruhe. Im deutlichsten, ja i m schroffsten Gegensatz zu Buddhas Götterlehre steht die von Jesus für das Christentum geschaffene Gottesgestalt. Dieser Gegensatz ist zunächst zu begreifen aus dem Gegensatz der sehr verschiedenen Lebensalter der Menschheit, denen beide Glaubensformen entstammen. Die Lehre Buddhas ist nicht nur selbst ausgeprägt mittelalterlich, sie ruht auch schon auf einer mittelalterlichen Glaubensform, dem späteren Brahmanentum. Sie ist insonderheit von jener Verbindung eines 17 Brerni
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hohen Ichbewußtseins mit tiefem Allgefühl getragen, die den Welt- und Gottesanschauungen aller Mittelalter eigentümlich ist. Das Christentum aber ist nach allen seinen bezeichnenden Merkmalen ein Glaube der Altertumsstufe, das heißt des Zeitalters der hohen und höchsten, zuweilen selbst einzigen Himmelsgötter, die mit der gleichen unbedingten Machtvollkommenheit über dem Himmel und über den Gläubigen thronen wie die großen Könige auf Erden über den Völkern. Jesus hat dies Königtum wohl aus einem herrischen in ein väterliches umgewandelt; aber an der Macht und an der persönlichen Bestimmtheit der Gottesgestalt hat er nichts geändert. Hier sei angemerkt, daß Nietzsche in einigen Bruchstücken, die erst 1901 bekannt geworden sind, mit seinem wunderwerten Ahnungsvermögen die Ungleichheit der Entwicklungsstufen zwischen dem ursprünglichen Christentum und den Völkern, die es empfingen, wohl erkannt hat, also die Forschungsweise der vergleichenden Geschichtsschreibung vorwegnehmend. Nur irrt er, wenn er Jesus' Lehre als in einem greisen Volke, einem späten Entwicklungszustand entstanden denkt. Er war es noch weniger als der, in dem Buddha lebte und wirkte. Weder für den Geist noch die Gesellschaft seines Volkes war zu jenen Zeiten auch nur das Mittelalter angebrochen, während allerdings Buddhas Lehre in jedem Zuge mystisches, also mittelalterliches Gepräge an sich trägt. Jesus ist, obwohl in ihm die gläubige Erregung einen der Höchstpunkte in der Geschichte der menschlichen Seele erreicht hat, frei von allen mystischen Anwandlungen. Und so ist Gott durch die Geschichte der Christenheit gegangen: allen auflösenden An258
fechtungen zum Trotz ist seine Gestalt noch heute die eines Himmels- und Weltkönigs wie ehedem: in Hinsicht auf die Persönlichkeit hat er seine Menschenähnlichkeit nie verloren.Und so ist die Hingebung an ihn, die von seinen Gläubigen gefordert wird, immer noch die im Staube knieende Verehrung, wie sie allen Göttern der Altertumsstufe dargebracht wurde. Welch ein Unterschied gegen Buddhas Ichstolz, der den Gott verneint und sich selbst als Teil der Allseele empfindet. Bei so starker Hervordrängung des priesterlichen Anteils an der Ausbildung der Gottesmacht darf dies eine nicht in Vergessenheit geraten, daß, gleichviel ob vom Priester gelenkt und erzogen, auch die gläubige Menge den stärksten Trieb zur Steigerung der Gottesgestalt verspürt und betätigt hat. Es gibt noch eine zweite Sicht über alle diese so zarten und dennoch so irdisch-greifbaren Dinge, von einem höheren — oder tieferen —. Blickpunkte her, als dem des Priesters, der den Gott schafft, dem er sich und das Volk unterwirft, der die gewaltigste Geistes- und Lebenstat vollbringt und sich doch als den Knecht der Knechte Gottes hintansetzt, der irdische Macht verschmäht und nach Seelenmacht unersättlich hungert und strebt, der Königsgesinnung verhehlt und Sklavendemut nicht heuchelt, sondern betätigt. Wer die letzten Weiten des Werdeganges der Glaubensformell aller Menschheit übersieht, wird erkennen, daß der Priester sich zum Träger, Gestalter, Anwalt, Vollstrecker eines tiefen Urdranges der Menschheit machte, der nötigte, sich immer tiefer, die oberen Gewalten immer höher zu sehen. Daß dieser Drang unterhalb und außerhalb des Reiches allen priesterliehen Wirkens bestanden hat
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und noch besteht, wird erhärtet durch jene seltsame Erscheinung der aus dem Glauben geborenen Sittengebote. H I N G A B E T R I E B UND M A C H T T R I E B A L S SCHÖPFER DER SITTENGEBOTE Der Glauben und sein Mittelpunkt, die Gestalt Gottes, ist ein Gebilde der Vorstellungskraft der Menschheit. Der Priester hat ihn geschaffen, insofern er Glaubensformer, also Träger, Ausführer, Vollstrecker des Willens dieser Kraft der Menschheit war. In seinem Werk aber verflicht sich ein Doppeltes: in ihm wirkt sich offen der Trieb unseres Geschlechts aus, ein ragendes Gebäude von hohen Gedanken und gebietenden Gestalten über alle Wirklichkeiten fort bis in Himmelshöhen zu führen; insgeheim aber regt sich in dem Baumeister - Priester der Herrscher-Priester. Ein heißer Durst nach Macht brennt in ihm: Macht als Zweck, doch ohne die Mittel der Macht und ohne die Gebärde der Macht, das ist das Ziel dessen, der den Gott formt, vor dem er sich am tiefsten beugt und als dessen allein berechtigter Willensvollstrecker er doch alle Anderen ins Knie sinken lassen kann. Und daß sie vor ihm, der zwischen der gläubigen Menge und dem Altar steht, ebenso knien wie vor dem Bild des Gottes auf dem Altar, das ist seine heimliche und deshalb nicht geringere Lust. Bauende Kraft des Geistes, tiefe, wahre Hingabe des Gefühls, herrscherlicher Machttrieb des Willens, dies alles in sehr verschiedener Verteilung — auch nur Gläubige sind unter ihnen — ist in den Priestern. Mit jedem Glauben ist ein Sittengebot aufgewachsen. 2ÖO
Man könnte versucht sein, auch die Verknüpfung des Glaubens mit der Sittlichkeit auf den Machtwillen des Priestertums zurückzuleiten. Denn Sittengebot ist Gebot, Gesetz, also Auswirkung von Herrschaft. Aber so gewiß dies berechtigt sein mag für viele Einzelvorgänge dieser weitverzweigten Entwicklung, die einzige Wurzel dieses zweiten Wachstums kann der Machttrieb so wenig sein wie die einzige des ersten, des Glaubens selbst. Im großen und weiten muß hier nicht ein Teil, sondern die Gesamtheit selbst und der in ihr herrschende Antrieb als bewegende Ursache angenommen werden. Der Priester hat in jahrtausendelangem Schaffen die Gottesgestalten bilden, die Dienste formen und steigern können; aber daß die Völker dazu kamen, ihr gesamtes Dichten und Trachten einem Sittengesetz zu unterwerfen, das diesen Gottesgestalten in den Mund gelegt wurde, dies kann kein noch so starkes Wirken der priesterlichen Lenker allein oder auch nur überwiegend zustande gebracht haben. Der Priester mag auch in diesem Stück der geistig Schaffende, der Präger und Former dieses Gefühlsschatzes der Gesamtheit gewesen sein; aber die Antriebe können nur in der Seele der Völker lebendig gewesen sein. Denn es ist denkbar, daß man Priesterschaften überläßt, Götter zu bilden; aber das Gesetz des eigenen Lebens läßt man sich nicht von ihnen auferlegen. Ich meine, hier bietet sich seelenforscherlicher Erklärung für Geschichte gleich wie für Gegenwart, für Entstehung wie für Fortdauer nur ein Weg: es war das Bedürfnis der sich immer weiter steigernden Verehrung des Göttlichen selbst, das dazu führte, den oberen Gewalten auch das Tun der Menschen zu unter261
werfen. Wie man zur Beschwörung das Opfer, zum Anruf das Gebet fügte, aus dem Seheramt das Priestertum, aus dem Geisterhaus den Tempel, aus dem Fetisch das Götterbild schuf, so ersättigte sich die glaubende Menschheit nicht an dem Gedanken- und Bilderbau, der den Göttern ein Königreich über den Wolken und einen himmlischen Saal errichtete, sondern es verlangte sie auch, das eigene Leben dem Willen dieser heiligen Mächte zu unterwerfen zu ihrem größeren Ruhme und zu sicherer Gewährleistung der eigenen Gottgefälligkeit und also des eigenen Heiles. Es ist nicht eine Eigenschaft des glaubenden Menschen allein, die hier offenbar wird: es muß in der Mechanik unserer Seele überhaupt ein Gesetz des Plus Ultra geben, das uns in jedem Bestreben vorwärts und schneller zu eilen, unbedingter, immer unbedingter uns einzusetzen antreibt: eines der schönsten Gesetze, denen unser Dichten und Trachten ohne Wollen, ohne Bewußtsein unterworfen ist. Es treibt jeden Liebenden an, sich der Geliebten immer rückhaltloser hinzugeben, jeden Schaffenden, sein Werk immer höher zu treiben, immer weiter zu dehnen, auf einer weit niedrigeren Ebene jeden Erwerbenden, immer größeren Gewinst zu erringen. Kein Erdengut im Bereiche menschlichen Vermögens stellte sich dar, das köstlicher gerwesen wäre, als diese anerbotene Regelung des eigenen Tuns, ja noch der Beweggründe dieses Tuns, nach dem, was man als den Willen der Oberen ahnte. Nur waren freilich so verschieden wie die Gestalten, die man den Göttern gegeben hatte, auch die Stimmen, die man aus ihrem Munde vernahm. Vorzüglich ist denkwürdig, daß au*
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der Hingabe an den Gott durchaus nicht immer die Folgerung eines Sittengebots von durchgehender oder nur überwiegender Hingabe an den Menschen gezogen wurde. Von den Glaubensformen der Urzeit und wohl auch der Altertumsstufe der Lebensgeschichte der Menschheit wird man annehmen dürfen, daß sie bis auf wenige Ausnahmefälle den härtesten, kühnsten Kampf gegen jeden Feind der eigenen Stammesoder Volksgenossenschaft nicht nur nicht verboten, sondern anbefahlen. Unsäglich viele Götter dieser Stufen sind Kriegsgötter und verheißen Lohn dem Tapferen, stacheln zum Kampf, statt ihm zu wehren. Gleichwohl, die beiden Bekenntnisse, die im Gegenteil jede Demut, jede Hingabe eigenen Wohles an den Anderen predigen, sie haben den Osten, den Westen der Welt übermocht, und das eine von ihnen, das Christentum, wird vielleicht mit allen anderen Bekennerschaften auch die seines Nebenbuhlers, des Buddhistentums, bekehren und aufsaugen. Wenn dem Christentum zum Trotze die Völker, die es bekannten, seine Sittenlehre und ihren obersten Grundsatz der Nächstenliebe in Handel und Wandel, in Trug und Fehde der Einzelnen sehr häufig, als öffentliche Körperschaften in Krieg und List der Staaten aber der Regel nach mißachteten, ja mit Füßen traten, so läßt diese Beobachtung allerdings die Gewalt des Bildes seiner Lebenswirkung in etwas erblassen, aber durchaus nicht erlöschen. Denn zwischen der Durchbrechung, selbst der gewohnheitsmäßigen Durchbrechung eines Gebots durch die werktätige Sittlichkeit und seiner öffentlichen Abschaffung, oder gar der Ersetzung durch sein Gegenteil, ist eine weite Spanne Wegs: eben, daß man fortwährend das Gegenteil von
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dem im Munde führt, was man tut und zu tun gedenkt, ist ein starkes Zugeständnis, wenngleich von etwas fragwürdiger Art, an das Gebot und die Gesinnung, die es erließ. Auch muß hier an die allgemeine Erscheinung erinnert werden, daß überhaupt die Sittlichkeiten, die vom Hingabetrieb beherrscht sind, auch die außerhalb der Grenzen eines Glaubens stehenden, besonders weite Spannungen schaffen zwischen ihren letzten Zielen und dem Mindest- oder auch nur Durchschnittsmaße allgemein menschlichen Vermögens. Vielleicht ist trotz aller Mißerfolge im einzelnen diese sittliche Einwirkung das stärkste Zeichen der Lebenskraft des Glaubens, wie er denn überhaupt die einzige Form des geistigen Schaffens ist, die es vermocht hat, alle übrigen Bezirke dieses Schaffens und dazu noch fast alles handelnde Leben zu unterwerfen. Daß er tausendmal sich eine eigene Kunst, eine eigene Forschung bildete, daß er Sitte und Recht durchweg, und zuletzt in einigen Fällen letzter Auswirkung den Staat halb oder ganz beherrschte, das sind ebensoviele Beweise der Königsmacht des Glaubens. Auch daß gegen die höchsten Stufen hin die Sittengebote, die auf Hingabe des Ichs und zwar auf eine möglichst weitgehende abzielen, überwiegen — die wilde Ausnahme des Mohammedanertums soll nicht vergessen werden —, ist am letzten Ende sicherlich mit der Grundstimmung des Glaubens, der Hingabe des Ichs an den Gott, in Zusammenhang zu denken. Daß die Kriegsgötter schwanden, daß die Sittengebote der Glaubensgenossenschaften den Menschen schließlich sich fast ebenso tief zu den Menschen neigen, wie vor dem Gott sich zu demütigen hießen, das muß aus
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dieser Haltung vor den oberen Mächten selbst abzuleiten sein. So hat alles den Anschein, als ob unter der Schale der Sittlichkeiten der höheren Glaubensformen jener Keim von ichsuchender Kraft, der sich in ihren Glaubenslehren birgt, nicht aufzufinden sei. Und dennoch besteht er. So eifrig die Persönlichkeit hier am Werke scheint, ihr eigenes Recht zu verneinen, so sind der Sinn, die Gebärde ihres Schaffens doch nicht völlig von dem auf sich selbst gerichteten Geist des Ichs verlassen. Sittenlehre ist nichts anderes als Gebot, das ist ausgeströmter, in Regel gebundener Willen, ist also im Grunde Handeln. So ist das Wie dieser Form geistiger Auswirkung schon herrscherlich genug. Es ist gewiß nicht frei von Zwiespältigkeit, ja, es ist ihm eine einzigartige Zwiespältigkeit eigen, die bemerkenswert genug ist. Die Sittenlehre ist in Wahrheit die Art des Handelns, die der an sich von Werkzeugen, ja von Kraft des Handelns entblößte Geist wählen mußte, wenn ihm daran lag, auch hier überzugreifen in das Reich des werktätigen Lebens. Die Geistigen, die Geistlichen, wie sie in den Kirchen sehr mit Recht genannt worden sind, wollten Herrschaft ausüben, ohne doch eigentlich Macht oder selbst Kraft des Herrschens, des Befehlens zu besitzen. Der Geist, eifersüchtig auf die starken Gewalten des Lebens, sann auf Mittel, dennoch auch das Handeln in seine Bande zu schlagen. Er mußte auf das Sittengebot verfallen, das geboren ist gewiß nur aus einer Lebensgesinnung, Lebensgestaltung, und also aus einem, wenngleich nur das eigene Ich umschlingenden Handeln, das aber als Gebilde ein Erzeugnis des formenden Geistes ist, das endlich, listig genug, das Handeln, das
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Leben Anderer, zuletzt aller Anderen richten, biegen, bewirken will, ohne selbst handeln zu müssen, und vielleicht auch ohne selbst handeln zu können. König und Priester sind oft genug bei gleichen Zielen zusammengetroffen: ihre Wege gingen von jeher weit auseinander. Geist und Handeln sind im Grunde nur verschieden in den Mitteln, mit denen sie Menschen bezwingen. Die Herren des handelnden Lebens sind ganz anders verfahren, wenn sie gebieten wollten, als die Geistigen, die Geistlichen, die Priester. Sie haben von jeher durch Macht erzwungen, was sie wollten, und so haben sie auch, wo sie die sittliche Richtung des Handelns der ihnen Untergebenen bestimmen wollten, ihre Absicht durch Gewalt, nämlich durch Gesetz und Strafe erzwungen. Die Diener des Geistes aber, da sie machtlos dennoch die gleiche, ja eine viel tiefere und feinere Herrschaft über das Dichten und Trachten der Gemeinschaft ausüben wollten, woben ein feines Gespinst, das Leben bedeuten sollte und doch Geist war: das Gefüge ihrer Sittenlehre, warfen den handelnden Menschen das vielverschlungene Fangnetz über die Häupter und verstrickten sie in Banden, die fester, unentrinnbarer waren, als die oft ganz plumpen und ungefügen Fesseln, die die Könige mit dem Eisen ihrer strafenden Schwerter schufen. So aber tat nicht blinde und kleine Herrschsucht der Einzelnen, der Priester, so tat der Geist selbst, der sich zum Herren zu machen trachtete über das grobe, widerspenstige, rauhhärige Leben. Es war hier, in einem noch stärkeren Sinne, als Hegel das Wort zu gebrauchen pflegte, mächtig die List der Idee.
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Der Inhalt aller Sittenlehren der Glaubensformer ist von Gedanken bestimmt, die Welt und Menschheit meistern wollen. Er ist ein gehöhtes Bild des Lebens, gehängt über das Leben selbst, er ist ein Ruf aufwärts aus den Talen der Bedrängnisse und Schwächen des gegebenen Menschentums zu den Bergen eines fehllosen Daseinstraumes. Und seltsam, was auf den ersten Blick wie ein starker Beweis für die Brüchigkeit und Fehlbarkeit menschlicher Kraft erscheint, ist schließlich als eine Offenbarung des Königswillens herrscherlicher Gedanken zu erkennen. Die Unerfüllbarkeit der Gebote ist das auszeichnende Merkmal der Sittenlehren aller höheren Glaubensformen. Wohl gelingt es einzelnen Bevorzugten, in das Licht der Heiligkeit zu wachsen; aber die dem eigentlichen Sinn aller christlichen Glaubenssittlichkeit innewohnende Folgerung ist die, daß sie den Menschen — jeden Menschen — für schlechthin unfähig zur Erfüllung der von ihr für göttlich erklärten Gebote hält. Nur die Güte des sich gnädig neigenden Gottes oder gar ein Sühnopfer wie das des Gottmenschen im paulinischen LehrbegrifT vermag den stets klaffenden Abgrund zwischen sittlichem Gesetz und sittlichem Vermögen auszufüllen. Gewiß, die Wirkung auf den Gläubigen, der vor diesen Abgrund geführt wird, ist demütigend, schwächend genug, aber auch dies ist unleugbar: der Kraft des Sittenbildners, Sittenformers wird nun ein weit größerer Umkreis des Wirkens geschaffen. Er kann das Bild des Sollens nun viel höher über die Ebene des Könnens hängen, und er selbst als Gebieter des Lebens reckt sich zu immer unerreichbarerem Maße über die Handelnden hinaus. Wahrlich, der Priester 267
als Former des Sittenbildes ist mit g u t e m Nutzen in die Schule des Priesters, der Former des Gottesbildes war, gegangen. Und wieder ist es die Natur des Geistes, die dieses so wirkte. Die Biegsamkeit, Dehnbarkeit, Zerlegbarkeit seiner Gebilde f ü h r t e n zu dieser Spannung zwischen Forderung u n d Erfüllung, während ja jede allein im Bezirk des Handelns verharrende Erziehungs- und Zuchtarbeit gerade umgekehrt zielgerechter Weise d e m Ausmaß der gegebenen Kräfte immer möglichst nahe hätte bleiben müssen. Der Seele aber, die vor allem ein Bedürfen nach priesterlichem und Glaubenswerk hatte, wurden die trauervollen Feste leidender Selbstbeschuldigung und die halb lust-, halb schmerzbewußten Erhebungen einer Verdammung des zerknirschten Ichs vor dem Richterstuhl seines eigenen Urteils bereitet. I m m e r höher steigt dies herrscherliche Verlangen der Priester, der Geistigen, der Geistlichen. Zu d e m Zielbild, das das irdische Wandeln der Gläubigen hierhin, dorthin lenken soll, wie ihnen des Führers Stimme befiehlt, f ü g e n sie ein anderes, von allen Fesseln des Diesseits u n d seiner eisenfesten Gegebenheiten entbundenes. D e n R a h m e n dieses letzten, höchsten, reinsten Denkbilds menschlich-sittlicher Zustände hatte schon die Urzeit g e f ü g t : tapfere Jägervölker wissen von einem Totenlande jenseits des nächsten Flusses oder von einer Insel der Seligen an nahen oder fernen Küsten, wohin sie sich ein voller gerundetes, feuriger gefärbtes Spiegelbild ihres eigenen Seins t r ä u m e n . Ganz selten taucht wohl auch schon die Nebenvorstellung eines verschiedenartigen Schicksals der toten Seelen a u f : sei es, daß den Vornehmen, den
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Häuptlingen ein besseres Los fällt als der Menge, sei es, daß die Tapferen vor den Feigen bevorzugt werden. Ein wenig weiter, auf den Übergängen der Urzeit zu Königsstaat u n d Königsstärke der Altertumsstufe, etwa bei den heldischen Seefahrern des Meers, den Karaiben, n i m m t dies Bild etwas entschiedener das Gepräge sittlicher Vervollkommnung a n ; aber auch jetzt noch hat keine D e m u t priesterlicher Hingabe es zu einem Paradies der gottgefälligen Schwachen gestempelt; noch sind es die Tapferen, Edlen, die im fruchtbaren Land der Seligen ihr starkes Erdenleben weiter leben, während die unterworfenen Stämme in d ü r r e Gegenden gebannt, die feigen Volksgenossen gar dort deren Leibeigene sein müssen. Ganz anderer Sinnesrichtung sind alle die höheren Glaubensformen, die man insgesamt Erlösungsbekenntnisse genannt hat. Sie sehen, wenngleich in sehr verschiedenem Grade, das Leben diesseits des Todes f ü r etwas an, das überwunden werden m u ß , dem der Gläubige n u r z u m eigenen Heil enthoben wird, f ü r das er durch jenseitige Wonnen entschädigt werden muß. Der Weg, den der Geist des indischen Volkes gegangen ist, lehrt, wie es möglich war, von jenen irdisch-starken und zugleich kindhaft-sinnlichen Jenseitsbildern zu ganz andersgearteten zu gelangen. In den Zeiten des vedischen Altertums — den Zeiten eines jungen Königtums, aber auch eines noch fast urzeitmäßig adligen Stolzes aller Freien, da jedes Familienhaupt sein eigener Priester war, und da man die Götter noch abhängig von der Speisung durch den honigsüßen Somatrank dachte, den mein ihnen opferte —, da war das Jenseits noch ein Leben von seliger Fülle, aber 269
auch von ganz irdischen Freuden. Ein Höllenbild taucht wohl auf, aber noch blaß und unbestimmt genug, und die Zuteilung der Toten an die beiden Reiche findet durchaus nicht nach den Merkmalen frommer Schwäche hier und verruchter Stärke dort statt. Die todverachtenden Helden, die freigebigen Spender, neben ihnen freilich schon die Darbringer reicher Opfer und die durch Kasteiung Geprüften gelangen in das himmlische Reich, die Falschen, die Unwahren, die liederlichen Frauen verfallen den unendlichen Kerkern; dies ist die Lehre des Veda. Das Sinnen und Träumen der späteren Geschlechter der Brahmanen, des priesterlichen Standes, der sich aus dem Volk hebi, findet das irdische Sein beladen und verfinstert von UnVollkommenheiten. Gerade der freie Genuß aller freudespendenden Erdengüter wandelt sich zu Mangel und Mißgebild alles Menschentumes. Denn aller Genuß ruft ja Begehren hervor, und Begehren macht unfroh, un weise, unvollkommen. Wunschlosigkeit gilt als Ziel, ja, als ob der menschliche Geist, wenn er sich einmal in die Bahn des Entsagens stürzt, sich nicht genug tun könne: nicht das Gut allein und der Wunsch nach dem Gute, nein, auch die Tat selbst wird verworfen. Die Tat hat, scheint es, als das Mittel der Erlangung irgend eines Begehrten, die Verdammnis der Begehrlichkeit teilen müssen; aber auch an sich gerät sie um der Unruhe willen, die sie verursacht, in Mißachtung. Die Seele soll sich vom Wunsche, der Wille soll sich vom Handeln enthalten. Unendliche Ruhe, wunschloser Frieden: das ist das Zielbild. Nur ein Gut wird nicht aufgegeben, wird vielmehr hochgepriesen — und hier offenbart sich die geistige Grundneigung allen Priester270
tums — es ist die Erkenntnis, das Wissen um die Dinge. Diesem neuen Lebensziel entspricht eine neue Vorstellungsweise von Schicksal und Gericht der Seelen nach dem Tode. Wie es scheint nur für das Volk werden die ehemals noch blassen Bilder des dunklen Reiches in furchtbarer Ausführlichkeit zu Höllenqualen ausgemalt und gesteigert; sie bedrohen nicht eigentlich eine Gesinnung, sondern nur die Verstöße gegen das Gesetz, vor allem gegen die Bedürfnisse des Gottesdienstes und des Priesterstandes. So denkwürdig das erste Mächtigwerden des Höllenbildes ist, das innerhalb und außerhalb Indiens der Menschheit unermeßlich viel Leid und Schwächung der Seele gebracht hat, so ist es doch im Werdegang der indischen Glaubens- und Sittenlehre nicht eigentlich entscheidend geworden. Denn die düstere Weisheit der Brahmanen spann ein anderes Gewebe von Vorstellungen aus, das nicht die Übeltäter, sondern alle Menschen nach dem Tode bedrohte. Es stellt sich dar wie das von Einbildungs- und Verstandeskraft gleichermaßen geforderte und mit erschreckender Folgerichtigkeit erschlossene und ausgebaute Gegenstück zu dem ganz neuen Urbild erstrebter Seligkeit, dem letzten Frieden einer in das Schauen des Alls versunkenen Beruhigung. Es ist die Vorstellung von dem unsäglich oft sich wiederholenden Erneuern von Tod und Leben, —. eine rastlos sich wiedergebärende Ruhelosigkeit des Daseins in den verschiedensten Gestalten aller Tierund Menschenwelt, endend erst nach undenklichen Zeiten in der Erlangung eines letzten Friedens im göttlichen All, dem unpersönlichen, ja unbewußten Welt-Ich der tiefsten Gottheit. 271
Jesus selbst hat die, die sein Wort aufzunehmen verweigerten, mit Höllenstrafen bedroht, an all seine Botschaft von D e m u t , Opferfreude und liebender Hingabe aber die Verheißung himmlischen Lohnes geknüpft, und das Christentum der späteren Väter hat vermutlich unter Einwirkung indischer, über Ägypten eingewanderter Vorstellungen ein Bild sehr düsterer, sehr grausamer, sehr häßlicher Höllenstrafen, bei d e m Vollender dieses Jenseitsgemäldes in vielfacher, kleinlicher Abstufung, zum Hintergrunde dieses lockenden Reiches der Belohnung gemacht. I m Grunde ein überaus gewaltsames und wenig aufrichtendes Schauspiel: dieser Glauben und diese Sittenlehre der reinen Hingabe, gestützt auf ein Netzwerk von Belohnungen hier, von fürchterlichen Drohungen dort. Ein Übermaß von Lebensverfinsterung, ausgehend von dieser Verkündigung eines, wie man sieht, sehr absichtsvoll zugemessenen, peinlich begrenzten Lichtes, das m a n durch die Schauder qualvoller Nacht ringsum lockender und heller zu machen suchte. Wer dem Leben zugewandt ist in starker, froher Freude, möchte über das Höllenbild, über diese härteste Bürde, die je d e m geduldigen Nacken der gläubigen Menschheit auferlegt ist, die f ü r tausendmal tausend Menschen ihr wahrlich schon mühsalbeladenes Dasein noch mühsäliger gemacht und oft ganz verfinstert hat, den schlimmsten Fluch sprechen. Wir aber, die gefaßten Sinnes allem Menschlichen uns einzufühlen trachten, mögen in diesem Nachtstück einen Teil des harten und heißen ewigen und die Erde überschattenden Kampfes zwischen Ichtrieb und Hingabedrang der Menschenseele sehen. Es war nur der leidenschaftlichste und plumpste — und den-
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noch für die zarten Seelen der Schwachen, ach, oft so giftfeine — Angriff, den das Heer der Parteigänger der Hingabe gegen ihre ichsüchtigen Gegner richtete. Es war die härteste Beschwörung, um den Trotz des in sich beruhenden Ichs dem Gebot des Selbstverzichtes und der Selbsthingabe und dem Gotte, dem es in den Mund gelegt wurde, zu unterwerfen. Und erst in unseren Tagen beginnt selbst die Rechtgläubigkeit, wenigstens die protestantische, auf diese grauenvolle Waffe im Kampf um die Seele zu verzichten und zu dem Standpunkt des Paulus zurückzukehren, der den Nicht-Seligen nur ein Erlöschen zuspricht. Der Grundsatz eines letzten Gerichtes, einer Belohnung der Tugend und einer Bestrafung der Sünde, ist auch hiermit keineswegs aufgegeben: denn wie die Gemeinschaft mit Gott, die dem Seliggesprochenen zufällt, als höchstes Glück gilt, so soll die Ausschließung von ihr als schwerstes Unheil empfunden werden. Zwischen den Jenseitslehren der hohen Glaubensformen und ihren Sittengesetzen, insbesondere ihren Tafeln für das Verhalten des Ichs zum Nächsten, besteht ein seltsam enges Verhältnis, und die beiden höchsten von ihnen, die Verkündigungen Buddhas und Jesus' des Christus, lassen diese Verbindung eigens deutlich und eigens ähnlich erkennen. Schon die Vorform des Buddhismus, das Brahmanentum, aus dem er in unmittelbarer Filiation hervorgewachsen ist, war seiner Glaubenshaltung nach kein Nährboden für die Forderungen der Ichverleugnung. Im Brahmanentum — und nichts ist wichtiger für die Entwicklungsgeschichte des Verhältnisses zwischen Glauben und Liebe — findet sich kein leisester Keim 18
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des Gebotes der Hingabe des Ichs an den Anderen. Daß die hochmütigste Priesterschaft, von der die Weltgeschichte des Glaubens weiß, dieses Lebensgebild geschaffen hat, prägt sich hierin am unverkennbarsten aus. Dem Brahmanen war verstattet, ja geraten, von Almosen zu leben, aber er nahm die Gaben nicht als Geschenk von herablassenden Gläubigen, sondern als schuldigen Zoll der Verehrung an, und die furchtbarsten Strafen drohten schon auf Erden dem Niedergeborenen, der einem Brahmanen auch nur die leiseste Kränkung zufügte. Und wenn ein Priestertum wie dieses, das nach Adels Art sich als Stand durch Geburtsschranken abschloß, eine Sittenlehre schuf, so ist sehr begreiflich, daß sie nicht eine Botschaft der Demut und der Opferung des Ichs für den Anderen geworden ist. Die Brahmanen gönnten noch kauih den mit ihnen gleich hoch geborenen Kriegern das gleiche Recht an den von ihnen erworbenen Heilsgütern. Wie hätte auch eine Priesterschaft, die so herrisch das eigene Glauben, die eigene Seele zum Gott umschuf, Hingabe predigen sollen. Alle Vorschrift ihres Glaubens geht aus von der Sorge für das eigene Ich und mündet in ihr. Es findet sich keine Spur von einer Abwandlung der frühen Sittenlehre, die nur recht und wahr zu handeln gebot, in der Richtung auf die Liebe zum Anderen. Im letzten Grunde das gleiche gilt vom Buddhistentum, das ja ganz und gar auf dem Boden des späten Brahmanentums gewachsen ist. Schon ist berührt worden, wie die Lehre der Brahmanen von der quälenden Rastlosigkeit des Daseins und seinen endlosen Wiederholungen beibehalten ist und wie gleichfalls die Vorstellung von der einzigen und endlichen Ruhe
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im All nur fortgebildet ist bis zur Auslöschung des Begriffs der persönlichen Seele und bis zur Ausgestaltung des Alls zum Nirwana, zur Allseele, in der auch alle Götter aufgehen. Das Sittengebot Buddhas ist völlig in den Dienst dieser Daseinslehre gestellt: gilt es auch zunächst nur den Priestern, den Mönchen, die allein den rechten, nämlich den geradesten und schnellsten Weg zur Erlangung des Heiles — einer Ruhe, die der ewigen des Nirwana nahe kommt — und zur Vermeidung des Unheils — des Wiedergeborenwerdens — wählen, so ist es doch in gewissen Abschwächungen, so in Hinsicht auf die Keuschheit, auch für die Laien maßgeblich. Es zielt ab auf ein NichtVerletzen des Anderen, nicht aber auf seine Förderung oder gar auf Liebe zu ihm, auf den äußeren Frieden als bestes Bollwerk des inneren Friedens. Die buddhistische Sittenlehre ist unsäglich folgerichtig, so folgerichtig wie nur die buddhistische Glaubenslehre. Immer ist das Ich gehöht, aber nie in einem angreifenden Sinne; immer ist das Ich Ziel und Zweck seines eigenen Trachtens, aber nie im zerstörenden oder nur schädigenden Sinne. Das Ich will nur sich selbst, sein eigenes Heil, es leugnet den Gott, es schont den Anderen nur um des eigenen Heiles willen. Das Ich will nicht leiden, aber es will auch nicht lieben, es will nicht leiden, aber es will auch nicht handeln. Das Ich will nur ruhen. Und Ruhe ist ihm so sehr der höchste, ja der einzige Wert, daß es darüber die Freuden der Hingabe wie der Lust, des Kämpfens wie des Schaffens, ja sogar endlich sich selbst aufgibt: es verströmt sich in die ewig ruhende Allseele, um in ihr den letzten Frieden, die höchste Sicherheit zu finden vor dem Leide der Freude, vor dem Leide 275
des Leids, vor dem Leide der Liebe, vor dem Leide der Tat. Jedes Glied dieser Kette ist mit jedem anderen verbunden. Ein Höchstmaß von Ichsucht ist erreicht, aber zu Gunsten eines Ichs, das sich zuletzt gänzlich vernichtet, weil es noch sein eigenes Sein als Beunruhigung empfindet. Die Götter entschwinden, nicht eigentlich weil es demütigend und erniedrigend wäre, sich vor ihnen anbetend niederzuwerfen — diese Sicht kam kaum noch in Frage, seit das späte Brahmanent u m den Gott schon in das Ich gezogen hatte —, sondern weil es beunruhigend ist, Götter zu denken, die Gestaltungen sind, das heißt Störungen des ewigen Friedens der Allseele. Diesem Glied entspricht völlig das zweite, das das Verhalten des Ichs zum Anderen in seinen Ring schließt: das Ich soll den Andern nicht schädigen, ihn auch mit einem gütigen, aber gleichmütigen Wohlwollen betrachten, aber nicht u m der Liebe willen, auch nicht u m der Freuden der Liebe willen, sondern n u r u m seiner eigenen R u h e willen. Und so fügt sich endlich auch das Verbot des Schaffens an. Auch das.Christentum, das Jesus verkündigte, .wandte sich völlig ab vom Schaffensdrang unseres Geschlechtes, es weiß nichts von den Wonnen der Tat, noch von denen des außergöttlichen Schauens; aber sein Nein zum Handeln ist n u r die Folge seines Ja zur Liebe, zur Hingabe. Buddha aber verwirft das Schaffen, ja noch das Werden, ja noch das Sein nicht u m irgendeines Opfers, irgendeiner Hingabe willen, sei es an den Gott, sei es an den Nächsten, sondern weil das höchste Gut des Ichs, seine Ruhe, durch alles dieses gefährdet würde, oder, höher noch, weil der Teil des höchsten
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Gutes der Welt, der Allseele, der dem Einzel-Ich zugefallen ist, darunter leiden würde. Ja, sein Gebot hätte kaum einen Träger der Hingabe an den Gott oder an den Nächsten gefunden, weil es noch die Einzelseele selbst verneint. Gott, Tat, Liebe, Leid, Seele, Unsterblichkeit, Welt und Wirklichkeit selbst, alles verschwindet in dem Abgrund des ewigen Friedens, der in sich ruhenden Allseele, die nur dann ihrer selbst voll genießen kann, wenn sie sich nie der Unruhe von Sein, Werden, Gestalt ergibt, die daher von Ewigkeit her gleichermaßen ist und nicht ist. Nie später, nie früher hat eines Menschen Hirn einen Gedankendom von gleich fehllosem Rund, von gleich ebenem Maß, von gleich abgrundtiefer Höhe über unserem sehnenden, suchenden, irrenden Geschlecht errichtet. Die Botschaft von Nazareth verhallt wie freundliches Kindergebet, die Rede Mohammeds wie enger Streit- und Zornruf unter seinem Gewölbe. Aber ebenso gewiß ist es, daß kein Wort auf Erden je erscholl, gegen das jedem erdenfrohen, schaffensbegierigen, ichstarken Sinne so hart zu streiten, so unerbittlich zu kämpfen Pflicht ist. Denn eben weil die Lehre Buddhas nicht das Ich um des Anderen willen zu verleugnen gebietet wie das Christentum, ist sie letzten Endes noch lebensfeindlicher als dieses. Nietzsche, dessen Kunde von indischem Glaubenswesen sehr begrenzt gewesen sein muß, irrt, wenn er umgekehrt urteilt; denn eben ein Leben in Hingabe, wie es Jesus fordert, ist noch immer Leben, und wenn auch nicht ganzes, starkes, so doch halbes, schwaches Schaffen. Auch ist das Buddhistentum
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nicht pessimistisch ist, wie Nietzsche wiederum irrend a n n a h m : es glaubt noch an die Erreichung hohen Glückes auf Erden — Gotama Buddha, der Vollendete, war vollkommen glücklich — ; aber dieses Glück verneint beides, Tat wie Hingabe, gleichermaßen, wird also von denen, die dem Leben dienen und n u r seinen Willen an uns vollstrecken wo.lan, gegensätzlicher empfunden werden müssen als Jesus' Sittenlehre, die zwar nicht zu schaffen, wohl aber zu lieben anrät. Und Liebe ist schützende, bewahrende, heilende, wiederherstellende Sorge u m das Leben, wenngleich nicht schaffende Tat, nicht schaffendes Schauen. Nur in e i n e m Punkt hat Nietzsches tödlicher H a ß gegen das Christentum das Verhältnis recht gesehen: die Gebärde, mit der sich das buddhistische Gebot gibt, ist unvergleichlich viel stolzer und herrischer als die der christlichen Sittenlehre. Ein Stufen- und ein Rassen-, oder vielmehr ein Volkstums-Unterschied mögen hier zusammengewirkt haben — nicht ein Standes-, ein Klassenunterschied, wie Nietzsche, hierbei sicher fehlgreifend, meint: denn mag auch Jesus, allen Davididen-Stammbäumen zum Trotz, aus niederer U m g e b u n g hervorgegangen sein, so heben sich in den sehr großen Persönlichkeiten die Standesunterschiede erfahrungsgemäß auf; die Überlieferung des Priesterstolzes aber hätte sich auch in Juda einem Glaubensformer dargeboten. Der Unterschied der geschichtlichen Entwicklungsstufen aber bezeugt sich auf das gewisseste: die Lehre Buddhas ist nicht allein auf einer Entwicklungsstufe entstanden, deren staatlich - gesellschaftliche Zustände adlig - mittelalterlich waren, sondern sie selbst stellt sich auch dar als eine adelsmäßige Gegenbewegung gegen den königshaften
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Druck einer allzu mächtigen Gottesgestalt, ihre Sittlichkeit immerhin als eine stolze Güte gegen den Andern. Unterscheidet sich nun die Hingabe, die Jesus den Seinen an den Nächsten wie an den Gott anrät, von Buddhas unvergleichlich viel herberer, ichstolzerer Lehre durch die schwere Last von Demut, die sie dem Einzelnen auf den Nacken legt, so ist damit zunächst dies eine sichergestellt, daß Jesus* Sittengebot völlig selbständig und ursprünglich emporgewachsen ist. Dies ist eine Frage von nicht allein geschichtlicher Bedeutung, sie hat auch Gegenwartswert. Während das Christentum zwei harte Stöße von außen her durch Philosophie und Naturforschung erlitten hat: zuerst den einen durch die Aufklärung des achtzehnten, dann den anderen durch die Entwicklungslehre und den Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts, hat ihm die Geschichtsforschung von innen her neue Machtverluste gebracht: zuerst die Auflösung seiner heiligen Schriften in geschichtlich bedingte Quellen durch die protestantische Gottesgelehrtheit von Strauß bis auf Holtzmann und Harnack, sodann die Annäherung und Angleichung an andere Glaubensentwicklungen und die dadurch herbeigeführte Beeinträchtigung des Ruhmes seiner Einzigkeit durch die vergleichende Glaubensgeschichte. Dieser letzte, an sich sehr sanfte, innerlich aber keineswegs wirkungslose Stoß hat sich in drei Richtungen vollzogen. Die babylonisch-assyrische Forschung, die Geschichte des Glaubens der Urzeitvölker haben, zuweilen im Gegensatz zu einander, dies Werk begonnen; aber schon ist vorauszusehen, daß die Kenner der indisch-buddhistischen Glaubensüberlieferung es
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fortsetzen werden. Schon hat m a n mit den Mitteln nüchterner Einzelforschung wahrscheinlich gemacht, daß gewisse Bestandteile nicht allein der Lehr-, nein auch der Lebensgeschichte auf buddhistische Einwirkungen sich zurückführen lassen. Da ist von großem Gewicht, Grenzen zu ziehen. Wie sich hat nachweisen lassen, daß f ü r die vergleichende Glaubensgeschichte der älteste Jahve so deutliche Urzeitmerkmale an sich trägt, daß er der äußeren Zeitfolge zum Trotz aus Gründen der Entwicklungszeitfolge nicht von dem ganz altertumsmäßigen, dem zum reinen Naturkraft-Gott umgewandelten Marduk von Babylonien abgeleitet werden kann, so wird f ü r später wichtig werden, daran festzuhalten, daß die von Jesus verkündigte Nächstenliebe nicht auf Buddhas im G r u n d e liebeund gottleere Botschaft zurückgeführt werden kann. So ist denn in Wahrheit diese Verkündigung der Liebe als wirkenden Lebensantriebs von einzigartiger Stellung in der Weltgeschichte des Glaubens. Alle die Jenseits- und Höllenlehren der höchsten, der erlösenden Glaubensformen, als Tatsachen vorgestellt, geschaffen zum höheren R u h m e der Gottheit, reihen sich in das Gefüge der glaubensmäßigen Sittenlehre ganz sinngemäß ein als schärfste Anspornungen zur Durchsetzung einer i m Sinne der Hingabe höheren Sittlichkeit. Man m u ß die Frage a u f w e r f e n , ob sie diesem Zweck in Wahrheit wirksam gedient haben. Sie ist k a u m zu bejahen; denn alle Erziehung, alles Fortbilden der Heranwachsenden wie der Völker lehrt dieses eine sicherlich, daß m a n nicht durch u n erreichbare, sondern durch nahe Ziele a m ehesten die noch Schwachen, Strebenden vorwärts lockt. Und
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ferner: sollte der Glauben, sollte der Priester als sein Schöpfer, Träger, Verkünder, Anwalt das handelnde Leben nachhaltig bewirken, so wäre diesem Zwecke dienlicher gewesen, wenn die Priester sich zum Meister der Handelnden oder auch einiger Gruppen von ihnen gemacht hätten, zum Meister nicht im geistigen Sinne nur, nein, in dem des Herrschers. Dies ist die Meinung: hätte man wirklich etwa innerhalb der christlichen Völker die Menschen zur völligen oder auch nur annähernden Anpassung an die Gebote der Hingabelehre züchten wollen, so hätten die Priester, wenn nicht die eigentliche Gottes-, will sagen Priesterherrschaft in dem einen oder anderen Staat anstreben müssen, so sich doch zu Lenkern bestimmter und begrenzter Bezirke des Lebens aufwerfen müssen, hätten die Erfüllung dieser Gebote im Leben handelnd durchsetzen müssen, und sie wären dann ohnehin durch die Widersetzlichkeit der menschlichen Ichsucht dazu gezwungen worden, nach Lehrer-, Zuchtmeister- und vornehmlich nach Züchterart Schritt um Schritt vorwärts zu gehen. Bis auf wenige Ausnahmen, die teils glücklich sich anließen, aber zuletzt dennoch scheiterten, wie Calvins Genfer Kirchenzuchtversuche und die des Jesuitenstaats zu Paraguay, teils gänzlich verfehlt waren, wie der Kirchenstaat der Päpste, ist das christliche Priestertum so nicht verfahren. Es hat sich vielmehr begnügt, auf die Jugenderziehung einen starken Einfluß zu haben und immer von neuem die Kanzel zum Lehrstuhl zu machen, die harte und wenig Erfolg verheißende Arbeit auf sich zu nehmen, die fest und starr gewordenen Alten durch die Kraft der Rede zu biegen. Niemand wird sie darum schelten dürfen: es liegt hier
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nicht ein Unvermögen von Menschen vor, sondern es scheint fast, als sei es der Geist selbst, der denen, die sich ihm ergeben, nicht gewährt, in Wahrheit Handelilde zu werden. Die Priester waren und blieben Geistige, Geistliche, und als solchen waren ihnen die Unerreichbarkeiten, die Kaum-Erreichbarkeiten ihres himmlischen Sittendenkbildes teuerer als die geringeren Maße eines möglichen irdischen Erziehungsund Züchtungswerkes, so wie in einer tieferen Ebene den am heißesten glühenden Forschern der Zahlenund der Raumkunde am wenigsten an der Anwendung ihrer Lehren auf Werkzeug und Werkzeugwissenschaft gelegen ist. Man ist fast versucht zu sagen, daß hier in dem großen Variationsspiel der menschlichen Kräfte eine der errechenbaren Notwendigkeiten vorhegt. In sehr vielen Formen haben Willen und Macht, das heißt das zu Einrichtungen gewordene, Kraft ausschickende handelnde Leben, Einfluß gewonnen auf den Geist. Wie oft haben Staat und Stand den Glauben in ihre Zwecke, ja in ihre Formen gezwungen. Viel seltener hat der Geist seinerseits Eroberungszüge in das Reich der Tat angetreten. Zuweilen und sehr greifbar hat die Forschung, am seltensten oder doch am mittelbarsten die Kunst derlei Versuche angestellt. Rousseau wurde wirklich ein Gesetzgeber, ja, ein Umordner der Staaten, sehr still haben die Prärafaeliten die Gebärde der englischen Frauen ihrer Zeit gewandelt, etwas kundbarer hat David zuerst der Revolution, nachher dem Kaiserreich Fest und Tracht und doch auch Form und Haltung des äußeren Lebens geschaffen. Der Glaube aber ist in seiner Gesamtheit die ganz eigentümliche Form des Leben, Kraft gewordenen Geistes. Es klingt
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vermessen und ist doch nicht außerhalb des Bereiches aller Wahrscheinlichkeit, daß innerster, verborgenster Zweck des Glaubens nicht, der Gott, noch Dienst und Ehre des Gottes ist, sondern die Gewalt, die so und nur so der Geist über die volle Weite und die volle Tiefe des Lebens, des Handelns ausüben kann. Und dann waren die Gestalt des herrscherlichen Gottes — dieser Königtum gewordene Gedanke — und die Sittenlehre, die man den Gott vorschreiben ließ — dieser in Gesetz und Tafel gewandelte Gedanke — nur die beiden starken Hände, mit denen der Geist die Tat beim Nacken packte, um sie seinem Gebote zu beugen. Und enthielt sich der Geist nach dem Maße seines Wesens selbst des groben Handelns, so bewahrte er nur die Strenge und die Reinheit der ihm innerst eingegossenen Art. Er scheute zurück davor, die Faust zum Zwang zu ballen, er wollte nur herrschen durch den erhobenen Finger der Lehre hier, der Weisung dort. Und gewißlich hat er nur so die Gewalt seines Geist in Geist drängenden Schaffens erhalten können. Geistes Art war, so zu denken, groß war, so zu denken, aber lebensfreundlich, Leben fördernd war es nicht. Wie man wird sagen dürfen, daß das gedachte Gottesbild, an sich die höchste Schöpfung des der Erde enthobenen Menschengeistes, alle die Kräfte, die es in sich sog, in sich zog, doch dem Wachstum des wirklichen Menschenbildes raubte, so hat das den Wirklichkeiten enthobene Denkbild einer himmlischreinen Sittlichkeit das irdische Trachten nach neuer Formung des inneren Menschen um vieles an Kraft und Leidenschaft gebracht. Die Wirkung war ungleich ; denn der zu übermenschlicher Stärke gehöhte Gott wurde der härteste Widersacher des starken und 283
selbstbewußten Ichs; aber daß die Sittenlehre der unbedingten Hingabe sich in Himmelspläne ergoß, entzog ihrer Durchsetzung auf Erden, der Züchtung des Einzelnen zur Hingabe, Kraft und steigerte also nicht, sondern minderte die drückende Last, die dem Nacken der Einzelnen auferlegt wurde. Aus diesem Unterschiede ist vielleicht zu erklären, daß das Christentum, das als Gotteslehre so gewaltige urid so lang andauernde Erfolge davontrug, als Sittenlehre SQ wenig von seinen heiligsten Geboten durchsetzte. Nicht einmal die ihm gemäßen Gesellschaftsströmungen der neueuropäischen Neuesten Zeit können überwiegend auf das Christentum zurückgeführt werden: nach dem Gesetz der Gleichläufigkeit zwischen alt- und neueuropäischer Geschichte und nach der Beobachtung der höheren Kraft des germanischen Weltalters wären sie vermutlich fast in der gleichen Stärke auch ohne alles Christentum auf unserer Stufe emporgekommen. Dennoch wäre um der Stärke und Zackigkeit des Profilbildes der Entwicklung unseres Geschlechtes willen fast zu wünschen, die Lehre der Hingabe wäre Völkern und Menschen mit erdhafterem und lebensmäßigerem Nachdruck anerzogen oder gar angezüchtet worden. Denn um so bestimmter wäre die Richtung, um so stärker wäre die Kraft des Gegenstoßes geworden, um so schneller und reiner hätte sich ein Zielbild von mittlerer und doch höherer, von vermittelnder und doch stärkerer Art herausarbeiten lassen: eine Versöhnung von Ichstärke und Ichhingabe, und zwar ohne die phantasiebeschwingten Hilfsmittel der alten Zeiten, ohne Himmels- und Höllen Vorstellungen.
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J E S U S DER H E I L A N D , J E S U S DER
R I C H T E R , J E S U S DER
RÄCHER
Die Verkündigung der Liebe des Ichs zum Andern als höchsten, ja einzigen Lebensgebotes durch Jesus ist dem Persönlichkeitsgedanken so weit entgegengesetzt, wie die Sittenlehre keines anderen Glaubens. Zuerst, weil sie von Lust und Glück des Schaffenden nichts weiß, nicht im handelnden, nicht im schauenden Leben, zum zweiten aber durch die tiefe Demütigung, die sie dem Ich zumutet. Sie fordert, daß der Mensch nicht trachten soll zu herrschen, sondern zu dienen. Sie verlangt, was natürliches Empfinden und jede außerchristliche Sittlichkeit, ja, was die gelebte Sittlichkeit fast aller Christen selbst als Schmach empfindet, den Feind zu lieben und auf Schlag und Angriff durch Darbietung der anderen Wange zu antworten. Es ist in der Tat die letzte Folgerung, die aus dem Wirken des Hingabetriebes gezogen werden kann, und sie wird hier zum Gesetz gemacht. Doch bedarf es, um ein scharfes Bild zu gewinnen, noch einiger Umgrenzungen. Man hat nicht selten Jesus' Lehre als der Persönlichkeit nicht nur nicht abträglich, sondern sogar förderlich hinstellen wollen. Vornehmlich aus dem Munde protestantischer Gottesgelehrten hört man diesen Satz zur Verteidigung seiner Lehre. Und dennoch ist hieran nur soviel richtig, daß in der Tat das Verhältnis, das Jesus zwischen dem Einzelnen und dem Gott herstellte, ein höchst persönliches war. Aber was will diese Besonderheit besagen, da das Ich dem allmächtigen, all-einen Gott gegenüber geringer als ein Staubkorn ist. Auch die Jesus völlig eigentümliche Aufprägung väterlicher 285
Züge auf das Königs- und Herrscherbild des überlieferten Gottes kann dem Einzelnen die niederdrückende Last der von ihm geforderten D e m u t vor Gott u n d der n u n m e h r noch hinzutretenden Selbsterniedrigung vor dem Nächsten nicht n e h m e n . D e m Ich wird dadurch, daß es den Gott Vater, den Nächsten Bruder nennt, nichts ersetzt von der mindernden, schwächenden Wirkung einer Lehre, die von Kraft und Geist nichts weiß, die alle Antriebe des Schaffens, Handelns, Forschens, Bildens brachliegen läßt und ihnen, indem sie n u r zu lieben befiehlt, die ihnen u n entbehrliche Grundneigung des Ichs, zu wirken, das Werk und.Sich zu wirken, erschlaffen, schwinden,,ja vergehen läßt. Stärker fällt ins Gewicht ein Umstand, von dem freilich die christlichen Gottesgelehrten grundsätzlich nie reden, der sich aber einer unbefangenen Anschauung des Werkes und der Gestalt von Jesus, einer Anschauung, die n u r danach trachtet zu sehen, was ist, aufdrängen m u ß : es ist der priesterliche Stolz von Jesus selbst, der in einem, wenn auch noch so feinen, Gegensatz zu seiner Lehre von der Ichverleugnung steht. Sehr vieles von dem, was i h m der immer weiter sich steigernde Eifer verehrender Anhänger an Ichhöhung beigemessen hat, und was dann eine i m m e r fester erstarrende Glaubenslehre mit Zähigkeit als von ihm herrührend verteidigt hat, hat Jesus in W a h r h e i t nie ausgesprochen. Er hat sich nie f ü r einen von Anbeginn der Schöpfung daseienden Gott oder f ü r den zugehörigen Bestandteil einer göttlichen Dreigestalt erklärt, er hat nie seinen Kreuzestod als einen übersinnlichen Vorgang der Sühne f ü r die erblich sündige Menschheit oder gar als ein Mittel der Stillung des
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Zorns und der Gerechtigkeit eines eifernden Gottes gekennzeichnet; er ist sogar nur langsam und zögernd dazu geschritten, Tat und Sendung des verheißenen Messias auf sich zu nehmen. Und dennoch bleibt Außerordentliches, das Jesus seiner Person zuspricht. Niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn und welchen es der Sohn will offenbaren: das Mittleramt, das er sich mit diesem Worte beimißt, begreift einen größeren Anspruch an geistige Macht in sich, als je ein Wesen, des Menschenantlitz trug, erhoben hat. Jesus der Mittler ist der Träger aller Schwere der wahren und geschichtlichen Sendung, die Jesus sich selbst zugewiesen hat. Die Bezeichnungen, die man ihm nach seinen eigenen Worten gegeben hat, sind alle einseitiger: des Menschen Sohn hat er sich genannt — ein Anlaß mehr für die Auslegekunst der Gottesgelehrten, ihn zum Gott zu stempeln, nicht, wie man meinen sollte, ein Hindernis —; er hat sich auch Gottes Sohn geheißen, doch nicht in dem Sinne göttlicher Persönlichkeit, er hat endlich auch die Würde des Messias, des Retters und Gottvertreters angenommen, indem er doch ihre Bedeutung völlig umbog und in manchem Betracht in ihr Gegenteil verkehrte, aus einem irdischen Herrn einen himmlischen machte, aus einem Gebieter einen Dulder. Hier aber, in diesem Worte Mittler ist ein Eigentümliches und Sicheres umschrieben: Jesus' Eigenbesitz und die Wahrheit seines selbstverliehenen Amtes, seines Anspruchs. Es ist ein in der Form unendlich einfacher, ein an Forderung unendlich weitgehender Ausdruck, den Jesus' Selbstverkündigung in dieser ihrer Spitze gefunden hat. Er hat nie etwas Höheres von sich be287
hauptet. Im Grunde ist es die letzte Folgerung, die aus dem Gedanken des Priesters überhaupt gezogen werden kann. Von jeher stand der Priester in der Vorhalle des Tempels zwischen dem Volke und dem Gott: er leitete Sendung und Notwendigkeit seines Tuns nur ab von dem Gedanken, daß die gläubige Menge nicht verstehe, sich recht dem Gott zu nahen. Man könnte einwerfen, es seien Äußerlichkeiten des Dienstes und der Opfer gewesen, um die es sich handelte; aber einmal gibt es im Glauben nichts Geringes, am wenigsten im Glaubensdienste, sodann war die Verwicklung der Opfer und Gebete eben das Mittel, mit dem der Priester zu indischer Macht gelangen wollt». iAm Maße der minder reifen Formen gemessen, war die Bedeutung der Zwischenstellung des Priesters auch ehedem schon groß genug. Der Priester war von jeher der Mittler. Als ob das letzte Ausmaß der in dieser Richtung gegebenen Möglichkeiten errechnet würde, so erscheint Jesus' Anspruch. Gemäß der All-Einheit des von ihm geglaubten Gottes, gemäß der Seelischkeit und Persönlichkeit des Kindschaftsverhältnisses, das er dem Gläubigen zu dem von ihm verkündeten Vater-Gott zuweist, ist das Amt des priesterlichen Mittlers gehöht in das Unendliche, gehöht aber auch über die von Jesus selbst gesetzten Grenzen. Nichts ist der neuen Gotteslehre so eigentümlich, nichts an ihr so bedeutend, wie die Väterlichkeit des Gottes, die Kindschaft der Gläubigen. Wann aber hat es je zwischen einem liebenden Vater und seinen zu ihm aufschauenden Kindern eines Vermittlers bedurft, wann hat Vaterschaft dort, Kindschaft hier einen solchen gelitten?
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Auch die Begründung, mit der Jesus' Anspruch auftritt, ist eine uralt priesterliehe: es ist das Wissen u m das Wesen Gottes, das ihm, dem Priester, allein beikommt. So war die Rede der Priestergeschlechter vor Jahrtausenden in Babylon schon gewesen. Aber freilich, ein Äußerstes geschah hier und jetzt zum ersten Mal: es war die H ä u f u n g aller dieser Glaubensmacht auf ein einziges Haupt. Es ist doch bezeichnend, daß Jesus n u r den Missionsauftrag gegeben hat, keinerlei priesterliche Ordnung aber eingesetzt hat. Jesus erklärte sich zum höchsten, ja einzigen der Priester. Und da in seinem Sinne kein irdisches Dichten und Trachten Wert hatte, außer dem Werben u m Gott, und da nach seinem Propheten-Irrtum n u r noch ein Menschenalter vergehen konnte bis zum Herabsteigen Gottes und seines Verkünders, so bedeutete dieses Amt des höchsten Priesters nichts anderes als ein Königtum über die Welt. Auch diese Tatsache entfernt sich nicht aus der Richtung des begriffsmäßig Notwendigen, ja Wahrscheinlichen. D e m Einen, All-Einen Gott entspricht ein höchster und einziger Priester, so wie die Mechanik des Gesellschaftslebens unsäglich oft u n t e r u n d fast neben dem König einen höchsten Einzelbeamten gefordert hat, insbesondere auf der Altertumsstufe der Staatsentwicklung in den Ländern wachsender Königsmacht. Von den afrikanischen Negern bis zu den großen Weltreichen, von Japan bis zum Frankenstaat der Merowinger und Karolinger ist die W ü r d e eines fast königsgleichen Reichslenkers unter dem König über die Erde hin verbreitet. So mag i m Gottesstaat des Glaubens auch die letzte Ausgipfelung alles Priestertums zur Einzigkeit eines Einzelnen eine notwendige 19 Br«yris
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Folgerung der hier lagernden Möglichkeiten sein: das Übereinstimmen der drei tiefsten und mächtigsten Glaubensformen, des Buddhisten-, des Christen- und des Mohammedanertums in diesem Stück ihrer inneren Ordnung läßt darauf schließen. In Mohammed ist die Einzigkeit des Verkünders, entsprechend der Einzigkeit des Gottesbildes, die dieser Glauben unbedingter als irgendein anderer herausgetrieben hat, ganz schroff und scharf betont. Buddha, da er den persönlichen Gott leugnete, gab sich selbst nur wie einen Wegebereiter und Bahnweiser; aber die heiße Verehrung allzu eifriger Folger hat, seine Lehre vergröbernd und allzusehr verleiblichend, ihn zuletzt gar selbst zum persönlichen Gotte gesteigert. So ist denn das Höchstmaß priesterlicher Macht, das Jesus sich beilegt, durchaus erklärt. Aber dadurch wird die Spannung zwischen dieser Macht und dem Kern seiner eigenen Verkündigung nicht beseitigt, noch auch nur verringert. In Jesus' Lehre ist das Verhältnis des Menschen zu Gott Zweck und Ziel, ja fast einziger Gehalt und Wert des irdischen Lebens, da nicht Macht, nicht Geist gilt. Es bedeutet deshalb der Anspruch auf die einzige Vermittlung dieses Verhältnisses nichts Geringeres als eine Beherrschung des Gesamtlebens der Menschen. Und da dieses Priestertum nicht, wie bisher noch jedes, Halt machte an den Grenzen eines Volkes, sondern erst Ein denen der Menschheit, so war hier ein Weltkönigtum schlechthin gefordert. Ein Königtum zwar, dessen Herrschaft Gnade bedeuten würde, dessen Untertanen ihrem Herrn in Liebe anhängen und untereinander Brüder sein sollten, aber dem es doch
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auch nicht an Gericht und schwerer, ja grausamer Strafe fehlen sollte. Jesus selbst hat alles dies deutlich und greifbar genug umschrieben. Was nützen alle Versuche der heutigen wie der früheren Gottes gelehrten, diese Aussprüche sich in Bilder u n d Gleichnisse, oder vorsichtiger in Ahnungen u n d T r ä u m e verflüchtigen lassen zu wollen. Die Worte, gerade diese Worte, stehen alle fest und sicher da, und dem Geiste des Zeitalters entsprach durchaus, den Buchstaben buchstäblich, das Bild aber bildlich verstanden wissen zu wollen: kein Jenseits, wie die Urzeitvölker meinten, kein Reich über den Wolken oder dem blauen Gewölbe des Himmels, wie spätere Bildersprache es ausdrückte, vor allem aber kein vages Nirgendwo im Wolkenlande oder gar in einer metaphysischen Überwirklichkeit, wie heutige Gottesgelehrsamkeit es auszudeuten liebt, wurde hier verkündigt, sondern ein Herabkommen des als Weltenrichter zurückkehrenden Gottesboten in den Wolken auf die feste Erde nieder, auf diesen unseren altgewohnten Erdboden. Und so sinnlich greifbar wie das Kommen des Reiches stellen Jesus' Reden auch die Folgen hin, die dies Kommen haben wird. Ein großes Freudenmahl soll die Gläubigen versammeln, fast will es scheinen, als solle es ewig d a u e r n ; das Tafeln der seligen Gotter auf dem Olymp kehrt zwar nicht wieder, aber klingt an. Entsprechend der Ausdehnung der Verkündigung des Glaubens auf alle Völker, werden die Anhänger des Reichs von allen vier Himmelsrichtungen herbeiströmen. Jesus selbst aber tritt als Richter und damit nach dem Begri ff dieser Länder als König auf. Zu Beginn dieser Verkündigung hat er das Amt des Welten19«
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richters noch dem Gott, mit dessen Engeln er wiederkehren werde, überlassen, später aber hat er es sich selbst beigelegt: nun ist er der Richter, er der König, nicht nur Gläubige strömen herzu, sondern alle Völker der Erde werden vor seinem Thron versammelt. Und seine Jünger sollen auf zwölf Thronen bei ihm in seiner Herrlichkeit sitzen, gleich den höchsten Würdenträgern des Reiches. Jesus scheidet dann die Gerechten von den Ungerechten, will sagen die Gläubigen von den Ungläubigen, die Anhänger von den Gegnern, die ihm Untertanen von den Abtrünnigen. Und so unermeßlich die Freuden sind, die er den Gerechtbefundenen verheißt, von so entsetzlicher Härte sind die Strafen der Verdammten, deren Vollstreckung ebenso anschauüch vor Augen gestellt wird. Dieselben Engel, mit denen Jesus kommt, sollen sie in einen feurigen Ofen werfen, und das Feuer, in dem sie brennen sollen, wird das ewige geheißen. Alle diese Äußerungen müssen durchaus wörtlich genommen werden, so wie Jahrhunderte sie wörtlich genommen haben, wie tausend Gemälde, tausend Dichtungen sie wörtlich genommen haben. Man sollte doch aus der vielfachen Verwendung von Gleichnissen in Jesus' Predigt, die stets als solche gekennzeichnet sind, den unausweichlichen Schluß ziehen, daß jeder andere Ausspruch durchaus unbildlich verstanden werden muß, nicht aber, nach den Maßstäben heutigen Empfindens, in diesen Aussprüchen abschwächen, verwischen, verdunkeln, was uns allerdings fast unerträglich erscheinen muß. Wer so verfahrt, wie es der geschichtlichen Wahrheit allein entspricht, wird in diesen Teilen von Jesus' Verkündigung eine ganze 992
Stufenleiter von Spannungen zwischen ihnen und dem Sinn seines eigenen Sitten gebotes, ja auch zwischen ihnen und freiem, gütigem Menschentum überhaupt finden. Die lindeste und dennoch fast die grundsätzlichste dieser Spannungen ist die zwischen Jesus' Weltenkönigtum und der Botschaft von letzter Demut und äußerstem Dienen wollen. Jesus hat —. und dies ist sicher die eigentliche und alleinige Bedeutung seines Kreuzestodes — für diese seine Botschaft auch das Opfer seines Lebens nicht gescheut: er starb, um sein eigenes Gebot letzter Hingabe des Ichs zu bewähren, indem er die letzte mögliche Folgerung aus ihm zog. Aber nach seiner eigenen Denkweise war dieses Opfer gering, gemessen an dem Gewann der völligen Ergebung in seines Gottes Willen; er mutet das gleiche Opfer auch seinen Anhängern zu, denen er doch nur unendlich viel geringere Kräfte beimessen kann. Sein eigenes Königtum aber, das zuletzt fast das des AllEinen Gottes verschwinden läßt, läßt für ein ganz unbefangenes und schlichtes Empfinden die gleiche innere Übereinstimmung mit dem Gebote äußerster Hingabe nicht erkennen. Jesus selbst hat einmal diesen Zusammenhang berührt; er hat von seinen Jüngern, als zwei von ihnen den Vorrang vor allen anderen begehrten, gefordert, daß sie nicht durch Herrschen, sondern durch Dienen einander übertreffen sollten: gleichwie der Sohn des Menschen, so fährt er wörtlich fort, nicht gekommen ist, sich dienen zu lassen, sondern zu dienen und zu geben sein Leben als Lösegeld für Viele. An einer Doppeldeutigkeit fehlt es freilich auch hier nicht, denn Jesus verbietet den Jüngern nicht, nach dem Platz des Ersten zu
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streben; er verbietet ihnen nur, es nach Weise der irdischen Reiche zu t u n . Er gestattet wohl einem von ihnen, der Erste zu w e r d e n ; aber er soll es nicht durch Herrschaft, sondern durch Dienst werden. Die ganz priesterliche Mischung von demütigen Mitteln und herrscherlichem Zweck ist auch hier gegeben, und wer mit priesterlichem Sinn diesen Priestergedanken prüft, wird seine Zwiespältigkeit nie zugeben, k a u m erkennen. Und dennoch ist begrifflich erweisbar zu machen, daß hier ein Gegensatz gegeben ist. Eben die, deren Weise Jesus bei diesem Anlaß tadelt, sind die Herrscher der Völker, die Großen: er selbst aber weissagt sein eigenes Königtum, ausgestattet mit harter Herrsch- und strenger Richtgewalt, gewaltiger, mächtiger als irgendeines, das die Erde gesehen. Ein Bild des Verkünders von Jesus' Sittengebot wäre zu denken, das diesen herrscherlichen Zug nicht enthielte, und es wäre einheitlicher, folgerichtiger. Man stelle sich vor, es wäre Gotama, dem Buddha, angemutet worden, er solle verkünden, daß er als Weltenkönig seinen Stuhl über den Völkern aufrichten würde; er würde sich vermutlich mit einem erstaunt-wohl wollenden, befremdet-gütigen Lächeln auf den Lippen abgewandt haben, ob er gleich eine viel adligere, viel stolzere Lehre verkündet hatte. Augenfälliger ist die zweite der Spannungen, die zwischen der S a n f t m u t und Opferwilligkeit, die Jesus nicht allein als Gebot geprägt, nein, die er auch i m Leben bewährt hat, und der großen, oft grausamen Härte der Strafen, die er den von i h m Verworfenen androht. Er verheißt denen, die sein weltenrichterlicher Zorn treffen wird, eine Strafe, vor deren Gräß-
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lichkeit unser Empfinden erbebt. Wir Heutigen können hier mit großer Unbefangenheit urteilen: wir haben diesen Verfluchungen gegenüber weder die Stimmung der gläubigen Betroffenen oder Bedrohten, noch auch nur die Erbitterung derer, die eine alte Beängstigung als zu Unrecht zugefügt schwer empfinden und sich für ihre Vergeblichkeit rächen möchten. Aber umso uneingeschränkter muß erklärt werden, wie unbegreiflich diese Höllenstrafen unserem Gefühl erscheinen und wie gegensätzlich gegen die im übrigen von Jesus verkündete Lehre. Wüßte man nicht, daß jede Gewöhnung an altüberlieferte und feststehende Vorstellungen eine Abstumpfung gegen ihre Tragweite und ihr eigenstes Wesen mit sich brächte, so wäre nicht zu verstehen, daß so lange Jahrhunderte hindurch nie sich die Aufmerksamkeit diesem inneren Gegensatz zugewandt hat. Wohl mag den Römern der späten Zeiten, die an die Blutschauspiele der Zirkuskämpfe gewöhnt waren, der Eindruck nicht so furchtbar gewesen sein wie uns; wohl mögen die germanischen Völker aus ganz anderen Gründen, aus der Wildheit und Rauhheit ihres frühen Entwicklungsalters, bis in die Neuere Zeit hinein so entsetzliche Strafandrohungen wie etwas nicht Verwunderliches hingenommen haben; der Eifer, mit dem noch die große redende und bildende Kunst des Trecento gerade diese Vorstellungen des Christenglaubens in Traum und Form zu gießen getrachtet hat, läßt erkennen, daß man hier nur empfand, wie Hart auf Hart stoße. Wenn heute aber die Stimmung umgeschlagen ist, so ist um so denkwürdiger, daß nunmehr auch die Rechtgläubigkeit zum wenigsten innerhalb des Pro-
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testantentums an diesem Bestandteil der christlichen Überlieferung Anstoß n i m m t . Es ist ein glaubensund seelengeschichtliches Ereignis hohen Ranges, wenn Verfechter dieser Richtung heute erklären, daß sie die Vorstellungen von Hölle und ewiger Pein aus ihrer Glaubens vor schrift verschwinden lassen. Sie erklären, die Seligkeit der a m Tage des Gerichts Gerechtbefundenen bestehe aus dem Leben in der Gemeinschaft mit Gott, die Strafe der Verdammten aber lediglich in dem Verlust dieser Gemeinschaft, in dem Erlöschen der Seele. Man begibt sich damit wieder zurück auf den Standpunkt, den Paulus eingenommen hatte, den aber schon die f r ü h e Christenheit verloren u n d völlig in Vergessenheit gebracht hatte. I m geschichtlichen Sinn war freiüch diese Abweichung von dem Lehrgebäude des Paulus vollauf berechtigt: Jesus selbst hat mit aller Kraft diese Vorstellungen von einer entsetzlichen und ewigen Marter ausgebildet und verkündet. D a f ü r bieten besonders starke Beweise die Verfluchungen, die er über einzelne Städte verhängt hat, die sich seiner Botschaft verschlossen; auch über sie ist die Hölle, also ewige Qual verhängt. Tiefer noch in das Wesen von Jesus und seiner Verkündigung f ü h r t die dritte und letzte Spannung, die zwischen seinem Ruf zu letzter Hingabe des Ichs und diesem seinem Racheruf zu verspüren ist. W e m gilt all dieses entsetzliche Drohen ? Sind es die sittlich Befleckten? Sind es die, die gegen die seligmachenden Anempfehlungen der Bergpredigt verstoßen? Man wird doch sagen müssen: nein, nicht sie in erster Reihe. Auch sie werden g e n a n n t ; aber unvergleichlich viel öfter, viel nachdrücklicher wird eine andere
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Gruppe von Übeltätern bedroht und verflucht: es sind die, die Jesus' Botschaft nicht annehmen wollen. Man mustere nur die großen Verdammungen; denn freilich, hier gilt es, das Wort beim Worte und noch den Buchstaben beim Buchstaben zu nehmen. Die furchtbarste und umfassendste aller Weissagungen vom letzten Gericht — sie ist allein in der Chronik, die den Namen des Matthäus trägt, überliefert — redet kein Wort von irgend einer anderen Ursache des Lossprechens und des Verurteilens am Tage des Weltgerichts als die Zuwendung zu, die Abwendung von der Anhängerschaft. Wohl ist die Bezeugung des Zuoder Abgewandtseins geknüpft an Werke mehr liebevoller Fürsorge als parteigängerischen Wirkens; aber dies entspricht doch nicht allein der Botschaft der Barmherzigkeit und der Nächstenliebe, nein auch dem ganz unscheinbaren und kaum öffentlichen Auftreten dieses Messias der Armen und Unmächtigen. Wer ihm selbst oder seinen Anhängern, und sei es auch der Geringste unter ihnen, Guttat erweist, soll als gerecht gelten, wer ihm selbst oder seinen Anhängern derlei Fürsorge nicht zugewandt hat, gilt als todeswürdiger Verbrecher und wird die ewige Pein leiden. Diese Worte sind kurz vor der Verhaftung von Jesus gesprochen worden. Früher hat er das Gericht in kurzen Weissagungen geschildert und dabei wohl von den Ärgernissen und Freveln derer gesprochen, die er durch seine Engel werde zusammenschleppen und in den feurigen Ofen werfen lassen. Doch ist Ärgernis sicher, Frevel wahrscheinlich nichts anderes als die Versagung der Anhängerschaft. Und vollends keinen Zweifel lassen die Verfluchungen, die Jesus selbst über einzelne Städte ausgesprochen hat. Er verheißt
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ihnen die höchsten Strafen für den Tag des Gerichts und Kapernaum die Hölle, nur weil sie auf die Wunder, die er in ihnen getan habe, sich nicht seinem Wort unterworfen und Buße getan haben. Die Strafen, die Jesus hier verhängte, sind nach frei menschlichem Ermessen erstaunlich hart, verglichen mit dem T u n , über das sie ausgesprochen sind. Man vergegenwärtige sich nur: einem Volk, das durch lange Jahrhunderte seinem Glauben mit unsäglicher Zähigkeit angehangen hatte, ward eine Botschaft verkündigt, die diesem Glauben in einem wesentlichsten Punkte widersprach; Propheten solcher Art scheinen häufig aufgetreten zu sein; wer wird an sich ein Vergehen darin suchen wollen, wenn jemand sich einer neu entstehenden Sekte nicht anschließen wollte, geschweige denn ein Verbrechen, ja ein Verbrechen, der grausamsten ewigen Strafen würdig? Man hat wohl erklärt, nicht das Verhalten zu ihm, Jesus dem Heilsverkünder und Weltenrichter, komme hier in Betracht, sondern es sei eine Probe gemeint auf barmherziges Tun überhaupt, auf ein Erfüllen des an sich Guten. Der innere Sinn der Worte aber läßt diese Deutung nicht zu: die furchtbarste Strafe ist auf die folgenschwerste Entscheidung, die für oder gegen Jesus den Glaubensbringer, gesetzt. Wie sehr es auf das Ja oder Nein des Glaubens, nicht aber auf die Befolgung einer Sittlichkeit, und sei es die von Jesus selbst geforderte, ankommt, wird durch keines von Jesus* Worten so deutlich offenbar wie durch jenes erschreckend unfolgerichtige: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Auch die engsten Bande, die zu Vater und Mutter, die doch wahrlich die teuersten Güter und
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die vornehmsten Gegenstände der Nächstenliebe sind, sollen durchschnitten werden, gilt es die Zugehörigkeit zu der von Jesus berufenen Glaubensgenossenschaft. Und Jesus selbst sagte zu seiner Mutter: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen! Übersieht man die volle Reihe dieser Merkmale von Jesus' Handeln, die seiner Lehre in irgend einem Sinne fern und fremd, ja entgegengesetzt erscheinen, sein Weltenkönigtum und Weltenrichtertum, die Härte seiner Strafandrohungen, die Richtung dieser Drohungen auf Durchsetzung nicht so sehr des Sittenwie des Glaubensgebotes, so sind sie alle auf eine Wurzel zurückzuleiten: auf ein ganz menschliches und durch Zeit und Volkstum gefärbtes Begehren nach Machtauswirkung, Macht zunächst nur im geistigseelischen Sinne verstanden, aber auslaufend in einem Herrscher tum, das die in den Grenzen der Menschheit denkbar weiteste Ausdehnung mit einer innersten Bezwingung der gläubig sich Unterwerfenden in sich schließt, und das sehr irdische Gewaltmittel androht. Jesus, der König, der sein Volk und die Menschheit beherrschen wird, der sein Reich auf Erden aufrichten wird, der die ihm gläubig Anhängenden in dies Reich aufnehmen und durch selige, aber ganz erdhafte Gemeinschaft mit ihm belohnen wird, der die ihm nicht Zufallenden auf das härteste und grausamste strafen wird: das ist der Kern dieses Teiles des Jesusbildes. Alle Glieder dieser Kette hängen zusammen. Dem Weltkönigsanspruch in Jesus selbst entspricht das Reich, das zunächst zwar seelischer Art ist und mit seelischen Mitteln ausgebreitet wird, das aber durch den Hinweis auf seine einstige sehr irdische Be-
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gründung u n d seine einstigen sehr irdischen Gerichte und Strafen doch auch zugleich ein halb irdisches und sehr menschliches Gepräge a n n i m m t . D e n n da diese Reichsverkündigung als geschichtliche Erscheinung gebannt ist an Zeit und Ort, so wird sie auch ganz orts-, ganz zeitgemäß. Sie greift notwendig zu dem u n b e dingten Königtum der Altertumsstufe als der F o r m der Reichserfüllung. Aller schon bereitliegenden Erbstücke hat sich Jesus bemächtigt, hat sich einen großen Teil, zuletzt den größten Teil dieses Gotteskönigtums zugesprochen. Jesus der Heiland und Jesus der Richter, der Rächer, ein kaum überbrückbarer Gegensatz des sittlichen Wollens: diese Tatsache m u ß als das unumstößliche Ergebnis einer seelenkundlichen Durchforschung der ältesten Urkunden von Jesus' Lehre und Leben angesehen werden. Jesus der Himmelsbote, der da spricht: Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst, und Jesus der zürnende König des Gerichts, der Zorn und Schwefel auf die Menschheit herabschickt, nicht weil sie sündigt, nein, n u r weil sie i h m die Untertanenpflicht des unbedingten Glaubens versagt: diese beiden Gestalten stehen einander gegenüber. Für die spätere Ausgestaltung von Jesus' Verkündigung zu einem begrifflich festen und folgerichtigen Glaubensgebilde ist der Zwiespalt zwischen jenem überwiegenden Sinn von Jesus' Lehre u n d diesen Ausflüssen eines starken, stolzen, harten Ichgefühls ein nie versiegender Quell von Schwierigkeiten und Zwistigkeiten geworden. Es liegt in der Natur des verehrenden Menschen, daß er selbst dann, wenn er ein geistiges Gut auf das höchste schätzt, danach trachtet, es noch
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köstlicher, sein Gold noch lauterer zu machen. So haben denn die Folger und Verkünder von Jesus' Botschaft sie in diesem Bestreben auf das mannigfachste verändert. Die Jünger und die Sendboten haben in Hinsicht auf die Spannungen und Zwiespältigkeiten, von denen hier die Rede ist, am wenigsten das Bedürfnis nach Umdeutung verspürt; sie haben Jesus z u m Gott, seinen beispielhaften Tod zum Sühnopfer gesteigert, aber gerade diese Dinge haben sie nicht angetastet. Sie mochten dazu u m so weniger Veranlassung spüren, als sie als Volks- und Zeitgenossen ähnlich empfanden. Aber schon die Kirche des germanischen Mittelalters hat ohne Arg und wie unbewußt eine Änderung zwar nicht herbeigeführt, aber vorbereitet, indem sie bei allem Übermaß der Glaubensstrenge doch das tatsächliche Gebahren, die sittliche H a l t u n g der Gläubigen wie den höheren Wert behandelte. Erst in den Kämpfen der Kirchenspaltung kam diese U m s t i m m u n g zu klarem Ausdruck u n d Austrag. Die Glaubensumwälzung, auch hierin wirklich eine Rückbildung zu einem älteren, und in diesem Fall zu d e m ältesten Zustand des christlichen Bekenntnisses, machte in ihrem eifernden Kampf gegen die Mehrschätzung der Werke mit dem stärksten Nachdruck die überwiegende Bedeutung des Glaubens geltend. Die neue Kirche hat in dieser Stellungnahme, vielleicht wiederum nicht ganz bewußt, i m G r u n d e das Reichs- u n d Königsgepräge in Jesus* Haltung u n d Botschaft von n e u e m stark herausgetrieben. Aber weder sie selbst noch ihre Gegnerin und Schwester, die alte Kirche, haben an dem Gegensatz dieses Königstums zu der Grundstimmung von Jesus' Lehre solchen An3OI
stoß genommen, daß daraus Änderungen der Lehrfassung hervorgegangen wären. Das Protestantentum des neunzehnten Jahrhunderts hat vermöge seiner tiefen Geschichtserkenntnis diesen Zwiespalt in der Erscheinung seines Gründers wohl bis zu einem Teil aufgespürt, hat ihn dann aber weit eher zu überdecken und zu verhüllen, als ihn an das helle und grelle Licht des Tages wissenschaftlicher oder gar kirchlicher Darlegung zu ziehen gestrebt. Man wird i h m darüber nicht grollen dürfen. Denn die Liebe u n d Verehrung des Glaubens scheut vor rücksichtslosen Aufklärungen zurück, die dem wissenschaftlichen oder dem Lebensbedürfnis der Unbeteiligten gerade als das Notwendigste erscheinen. Immerhin hat die Gottesgelehrtheit des fortschrittlichen Protestantentums unserer Tage schon den Finger auf diese Wunde ihrer geschichtlichen Erkenntnis gelegt. Und noch denkwürdiger ist gewiß, daß auch die Rechtgläubigen der evangelischen Kirche die schroffsten Auswirkungen dieser Herrscherlichkeit und Zeitbedingtheit von Jesus' Gestalt, so die Verk ü n d u n g der grausamen Strafen des ewigen Höllenbrandes, fallen zu lassen begonnen haben. Dennoch wird der protestantischen Kirche auch die Stellungnahme zu dieser Frage nicht erspart bleiben, der letzten und schwersten, die einer wissenschaftlich gerichteten Glaubenslehre überhaupt vorgelegt werden kann. D e n n dies ist n u r der Endabschnitt eines Weges, dessen anfängliche und mühsame Strecken sie seit den Tagen der Kirchenspaltung, einmal rasch fortschreitend, dann wieder zögernd oder zurückweichend, durchmessen hat. Luthers Werk war eine rein geschichtliche Z u r ü c k f u h r u n g des Glaubens auf den
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Stand der hellenistischen Väter der Kirche; i m neunzehnten Jahrhundert aber hat m a n die Lehre der Väter, die L e h r e des Paulus u n d Johannes nach und nach abgesondert und fast auch schon abgestreift, in der Absicht, n u r das bei den drei ältesten Chronisten des Christentums erhaltene, ja selbst von ihnen schon ein wenig umgestaltete Leben u n d die Reden von Jesus als allein sicheren u n d verbindlichen Kern des Glaubens herauszustellen u n d anzuerkennen. Viel ist dabei schon gefallen: die seltsam unlebendige dritte Gestalt der Dreieinigkeit, die Göttlichkeit von Jesus selbst, die Lehre von d e m Sühnopfer seines Todes; allein daran ist nicht zu zweifeln: was n u n m e h r auf dem Spiel steht, wiegt schwerer als dies alles; es handelt sich u m die Anerkennung eines Gegensatzes zwischen d e m innersten Sinn von Jesus' L e h r e einerseits und einem Teil dieser Lehre andererseits, zum zweiten u m die Anerkennung einer Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit in Jesus' Wesen u n d drittens u m die Grundfrage, ob es dem gegenwärtigen, vielmehr d e m wachsenden Christentum verstattet ist, Teile von Jesus' Lehre abzulehnen und sein Wesen selbst an d e m tiefsten Sinn seiner Verkündigung zu messen und zu beurteilen. Sie wird entscheiden müssen, ob sie Jesus den Weltkönig, Jesus den rächerisch und übergrausani strafenden Richter, Jesus den Herrscher eines Glaubens reiches, der die Anhänger begnadet, die Gegner, ja auch n u r die Gleichgültigen wie die Ruchlosesten der Ruchlosen verfolgt, abtrennen will von Jesus dem Verkünder demütiger Gottes-, aufopfernder Nächstenliebe, ob sie jenen ablehnen, diesen von jedem Zusatz befreien will. Wieder bricht hier, wie schon so oft und wie in i m m e r
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neuen Streitpunkten, der alte innerste Gegensatz hervor, der allem Fortwirken von Glaubenserkenntnissen eingeboren ist, der Gegensatz zwischen Überlieferung und Neuerung, der hier härter ist und schroffer als in allen Bezirken menschlichen Handelns und menschlichen Schauens. Glauben beruht mehr als jede andere Form unseres Trachtens auf Ansehen, Vorbild, auf Nachahmung, Verehrung dieses Vorbildes: Glauben heißt ja im Grunde nichts anderes als Hinnehmen ohne Prüfung. Das Christentum in Sonderheit hat den vorbildlichen, den allein nachahmungswürdigen Menschen zum Gott gehöht und so sein Ansehen ins Unermeßliche gesteigert. In der Hingabe an ein so hoch erhobenes Vorbild strömt Leben: denn nur eine Persönlichkeit, ein Mensch, kann so Gewaltiges wirken. Allein — und hier stoßen Für und Wider nah und hart zusammen — jede Lehre, jede Form, in die Glauben gefaßt wird, ist etwas Starres, Unbiegsames, etwas, was nicht mehr mit dem heutigen Geschlecht, das sich ihm doch unterwerfen soll, lebt, was vielleicht schon mit hundert Geschlechtern von Ahnen nicht mehr gelebt hat, und insofern etwas dem Tode Gleiches. Dahingegen eben der stärkste Glauben auch der ichmäßigste ist, das heißt wieder, der am heftigsten trachtet, das Wunder der Erzeugung des Glaubens nicht als Lehre zu hören, sondern als Leben zu erfahren, zu erdulden, der nicht vernehmen will, sondern erleben. Und doch ist Neuerung, Abweichung an sich Heterodoxie, Häresie, Ketzerei. Wie sollte der heutige Mensch ein Sittengebot anerkennen, das für ein kurzes Provisorium gegeben wurde, für ein, zwei Menschenalter? Was hat der Europäer, der Deutsche von heute mit dieser Reichs304
Verkündigung eines ganz orientalisch, ganz archaisch denkenden Propheten zu schaffen? Wieder wird auch hierin das alte Aushilfsmittel der Priester aller Zeiten, aller Völker helfen müssen: das Verhüllen der Neuerung, das Verbergen der Abweichung. Und eine billig denkende Seelenkunde wird darob nicht einmal schelten können: viele Kompromisse sind in dem, der sie vertritt, Wahrheit, und so wenig es gerecht wäre, die Priester Lügner zu nennen, die aus dem allzu menschlichen Jahve den All-Einen schufen, immer behauptend, es sei noch der alte Jahve, oder die anderen, die im alten Christentum ganz folgerichtig aus der Bischofsverfassung die Papstkirche schufen, so wenig wird es gerecht sein, die wahrlich wahrheitsliebenden Gottesforscher des heutigen freien Prote;tanteiitums der Fälschung zu bezichtigen, wenn sie ¡:och lange zögern, den Kern der Botschaft, die sie allein wollen, von der Schale ihres menschlichen Verkünders klar abzutrennen. Die eine Schwierigkeit vor allen anderen ist ungeheuer: ein Christentum zu formen, das abweicht von Weg und Wesen dessen, den man den Christus genannt hat. Doch wir Kinder der Welt dürfen uns in diese Erwägungen nicht mischen, am wenigsten die, denen nicht die Botschaft von der Hingebung Aller, auch der Starken, an den Gott und an den Nächsten am Herzen liegt. Wohl aber ist es unseres Amtes, zu erklären, wie unserem Auge das Bild dieses dergestalt zwiegespaltenen Jesus erscheint und was aus seiner Gegensätzlichkeit für die Wertung des Hingabetriebes zu folgern sei. Mehr als ein Weg öffnet sich hier. Die kirchliche Anerkennung von Jesus hat, sicherlich aus Scheu vor dem 20
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Eingeständnis seiner Zwiespältigkeit, die Abweichungen, die sich in seinem eigenen Wesen von seiner Botschaft unbedingter Hingabe finden, in seinem Bilde zurücktreten lassen. Unsäglich heftige Angriffe gegen Jesus, gegen sein Christentum und .gegen seine Gebote der Nächstenliebe haben einige unter diesen Abweichungen hervorgehoben und nun die Meinung hinterlassen, als seien sie eigentlich der Kern, jene Gebote aber eine trügerische Schale. Beide Male wird in entgegengesetztem Sinn, aber aus dem gleichen Grunde, gefehlt: daß man die Zwiespältigkeit an sich wie einen Übelstand ansah und sie fortschaffen wollte. Dieser Grund ist falsch; die Zwiespältigkeit, die sich in dem überlieferten Bilde von Jesus vorfindet, ist nicht ein Fehler dieser Überlieferung, sondern ein Beweis für ihre Wahrheit, ihre Echtheit. Eines der tiefsten Geheimnisse der reichen, der schöpferischen Persönlichkeit ist, daß sie in sich eins und uneins, einfach und zwiefach zugleich ist. Wie sollte die weltgeschichtlichste von allen Persönlichkeiten eine Ausnahme von dieser Regel darstellen. Goethes Gedicht, das im tiefsten gedacht ist, Goethes Gingo Biloba, verrät das Geheimnis des Größten, das nicht seines allein war: daß ich eins und doppelt bin. Ist es ein lebendig Wesen, Das sich in sich selbst getrennt? Sind es zwei, die sich erlesen, Daß man sie als Eines kennt? Was dem Dichter der Wunderbaum Asiens sagt, ist an dem Ich, das von dem Kreuze her auf die Welt die stärkste Macht aussandte, am völligsten offenbar ge-
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worden. Er, der den Menschen in die tiefste Sünderdemut vor dem All-Einen warf, er machte sich selbst zum Himmelskönig neben und fast über dem Gott; er, der jedes Opfer vom Ich für den Anderen forderte, hat die grausamsten Strafen ausgedacht, nicht für Sünder, nein für die, die seine Lehren nicht hören und annehmen wollten; er, der am Kreuz starb, um sein Gebot, niemandem Feind zu sein und alles zu dulden, zu erfüllen, er, der noch seinen Richtern und Henkern verzieh, war hart und siegerisch gesonnen wie ein König des Orients gegen die, die seinem Herrschergebot die Folge versagten. Es gibt eine Lösung für das Warum, das aus diesen Gegensätzen fragt. Das Werk, das Jesus tat, bedeutete wohl die Forderung jeglichen Verzichtes auf das Vorrecht der großen Persönlichkeit; Jesus selbst war auch imstande, jeden Anspruch auf Macht und Größe, ja, sein Leben selbst hinzugeben für die Bewährung dieses Werkes; aber er war nicht imstande, sich in. dem Bezirk die Genugtuung zu versagen, wo nur Geist und Seele herrschen: im Land des Glaubens und im Land der Zukunft, einer nicht gar zu fernen Zukunft. Jesus gibt alles Sichtbare, Greifbare hin, aber er fordert im Unsichtbaren jeden letzten Entgelt, jede äußerste Höhung seines Ichs: dort will er einziger Mittler, Weltenrichter, Himmelskönig sein. Es ist so, als ob das Herrenrecht des großen Einzelnen auch dann durchbricht, wenn Sinn und Zweck seiner Handlung mit sich bringen, es zu verleugnen. Im Grunde liegt in diesem scheinbaren Gegensatz eine innerste Folgerichtigkeit. Und an einzelnen Ursachenverkettungen, die den Hergang noch begreiflicher machen, fehlt es nicht. Man beachte wohl, wo in der M*
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Geschichte des Wirkens, richtiger des einen Wirkensjahres von Jesus die leidenschaftlichsten Äußerungen seines Königs- und Richterbewußtseins gelagert sind. Es ist gegen Ende, nahe vor dem Tode. Nichts ist wahrscheinlicher, als daß sich in diesem starken Herzen im Angesichte des völligen Zusammenbrechens, des letzten Opfers der Hingabe alles Ichbewußtsein am stärksten aufgebäumt hat. Jesus' eigene Entscheidung über seine Sendung und das feindselige Beginnen der Juden treffen in einem Punkte zusammen. Er selbst hatte den Messiasgedanken allmählich aufgenommen; aber er muß ihn zuletzt mit aller Kraft umspannt haben. Dieser Gedanke aber stand im schroffsten Gegensatz zu dem Schicksal, das Jesus nun kommen sah. Der Messias war der ruhmreiche Herzog, der Führer seines Volkes aus Not und Druck zu endlichem Glänze und letztem Siege. Dieser Messias aber, machtlos und ohne alle Möglichkeit, ja, ohne allen Anspruch auf Herrschaft, war die schlimmste Lästerung Gottes, eine Schändung aller Volks-, aller Glaubenshoffnung, ein Schlag ins Antlitz des Judentums. Daher der furchtbare Aufschrei aller Stolzen und Mächtigen im Volke gegen Jesus, aus dem gleichen Grunde aber auch der letzte, höchste Aufschwung des Selbstbewußtseins in Jesus. Im Angesichte der letzten Niederlage im Land der irdischen Gegebenheiten der äußerste Anspruch auf Sieg und Rache und unermeßliche Ehre im Land der Zukunft und der Weissagung: dieser Rückschlag ist von hoher Wahrscheinlichkeit. Und fast sicher ist, daß eben der Messiasgedanke den Nährboden abgab für die Ausgestaltung des Bildes vom Weltenkönigtum und letzten Gericht, das Jesus zuletzt sich zum Trost, den Anhängern zum Lohn, den Gegnern und den 308
Gleichgültigen zur furchtbarsten Drohung ausmalte. An Mischungen an sich entgegengesetzter oder doch sehr fremder Urbestandteile in Jesus' Seele fehlt es auch sonst nicht. Man hat mit allem Recht daraufhingewiesen, in wie hohem Maße der Jesus der drei Chronisten, in Sonderheit der des Markus, Geisterbeschwörer ist. Jesus ist in diesem Stück noch völlig der Seher, der Geisterbeschwörer der Urzeit: das Überwiegen der Heilungen unter den Wundern der Legende entspricht durchaus der Verbindung von Seher- und Arzttum in den Schamanen von hundert lebenden Urzeitvölkern. Man möchte sich dieses Tun, bei dessen Schilderung den drei Chronisten sicher die wenigsten Übertreibungen untergelaufen sind, gegenüber der Verachtung aller Seelenwirkung bei den Heilkünstlern späterer Tage als unsäglich erfolgreich und eindrucksvoll vorstellen; aber es steht doch für unsere Begriffe in einem seltsamen Gegensatze zu der ganz geistigen, ganz seelischen Sittenlehre, in der wir Jesus' eigentliche und einzige Sendung erblicken. Und wie sehr erstaunen wir, ihn auf diese Wundertaten größeres Gewicht legen zu sehen als auf seine Predigt. So wenn er in Nazara angesichts des Zweifels der Allzunahen, Allzuvertrauten seine Kraft erlöschen fühlt, wenn es heißt: Und er konnte daselbst keine Wunder tun, und er wunderte sich über ihren Unglauben ; gleich als sei seine Sendung dort erloschen gewesen, wo er nichts überwirkliches tun konnte. Und gar die Verknüpfung der ersten Befehle an seine Jünger, sein Wort und sein Reich auszubreiten, mit der Ermahnung, Geister auszutreiben: wie gänzlich zeitgemäß, wie gar nicht überzeitlich ist diese Verbindung. Und Niemand wird doch angesichts der 309
klaren Überlieferung daran zweifeln mögen, daß sie in ihm lebendig war. So auch wird man den härteren, tieferen seelischen Gegensatz in Jesus' Wesen an- und hinnehmen müssen. Und gerade was den Anhängern eine Schwierigkeit und ein Stein, wenn nicht des Anstoßes, so des Zweifels und der halben Trennung sein würde, wird der unbeteiligten, unbefangenen Anschauung ein Grund mehr sein, die Urkraft des Lebens da zu bewundern, wo sie in dem gewaltigsten Menschen auch die gewaltigsten Gegensätze schafft und dann doch zu letzter Einheit zusammenschweißt. Sie wird sich bewogen finden, nicht etwa zu zweifeln an der Überlieferung, weil sie ein so zerrissenes und zerspaltenes Bild darbietet, sondern im Gegenteil an diesem Bild festzuhalten in dem Gedanken: so kühn meißelt nur das Leben selbst. Und mehr noch: von dem Gesichtspunkte aus, von dem alle diese an sich geschichtlichen Betrachtungen hier angestellt werden, erscheinen alle die Risse und Brüche in Jesus' Bild wie eine Reihe von Siegen des stärksten Ichdranges und des Gedankens der Persönlichkeit selbst. Welch ein Geschehen: dieser Mensch, der die Hingabe des Ichs so wirksam verkündet und, was mehr heißt, so folgenreich gelebt hat wie kein Anderer auf Erden, auch in ihm bäumt sich doch der unendliche Stolz des Starken auf sich und seine Stärke empor, auch er will König sein, Herrscher, Richter, und grauenvoll strafender Richter, über die, die ihm nicht Heerfolge leisten. Es gibt keine unter den überlieferten Geschichten von Jesus, die so hell in die tiefsten Gründe seines Seins hineinleuchtete, als die von der Versuchung. Was der 310
versuchende Geist spricht, m u ß in diesen Gründen selbst gelebt haben: das Trachten nach Reich u n d Herrschaft. Jesus ist dieser Stimme mächtig geworden, soweit sie ihm die Wege weltlichen H e r r e n t u m s und weltlicher Eroberung anriet. Aber sobald i h m Königt u m und Sieg und Verfolgung der Besiegten, der Gegner vereinbar erschienen mit der Erfüllung seiner Sendung, dem Verkünden und Erleben seiner Botschaft der Hingabe des Ichs an den Gott und den Nächsten, nämlich nach der Erfüllung dieser Sendung, im Bereich der Z u k u n f t und der Weissagung, da griff er m i t aller Macht seines überstarken Ichs danach. Nebenbei sei bemerkt, daß auch die anderen beiden Versuchungen, die das Naturwunder z u m Gegenstand haben, nicht von ohngefähr da stehen müssen: eine höhere Kritik der Überlieferung von Jesus' Leben könnte aus ihnen genug Anlaß n e h m e n , alle, aber auch alle Naturwunder der drei Chroniken als legendär abzuweisen und den Beweis der unsäglich starken Seelenmächte in Jesus allein aus den wunderwerten Heilungen, an deren meisten sie u m so beharrlicher wird festhalten dürfen, abzuleiten. Eine wunderliche Narretei hat glauben machen wollen, Jesus habe nie gelebt. Ein U n t e r n e h m e n , so klug wie das, wenn jemand das Dasein der Sonne leugnen wollte. Da die Wirkung, die von Jesus ausgegangen ist, die stärkste ist, die je ein Mensch in der Geschichte der Menschheit hervorgebracht hat, so wäre sein Dasein auf das sicherste verbürgt, auch wenn n u r zehn Zeilen über seinen Namen und sein W e r k überliefert wären an Stelle des reichen Schrifttums, das vor uns liegt. Jeder von uns f ü h l t an jedem Tag, wie die Wärme der Sonnenstrahlen, so die W i r k u n g
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von Jesus' Werk. Nur in einem Zeitalter, das die abergläubische Verehrung der Masse und alles Wirkens der Masse bis z u m Gipfel getrieben und von d e m Verständnis des großen Einzelnen n u r ein Mindestmaß übrig behalten hatte, war die Vorstellung möglich, diese ungeheure W i r k u n g sei denkbar ohne einen Wirkenden. Findet sich n u n : der Mensch, aus dessen Munde diese Botschaft ging, deren Hall noch nach Jahrtausenden nicht schwächer geworden ist, war so in sich zerrissen, so ganz menschlich zwiegespalten, dann m u ß die Vorstellung von der Gewalt des in i h m flammenden Feuers seiner Lehre nicht ab-, nein, zunehmen. Sie vermochte also, so m u ß geschlossen werden, auch entgegengesetzte Urbestandteile in seiner Seele zu überwinden : Schlacken, so m ü ß t e t die sagen, die die Flamme entzückt, Stahl u n d Stein des großen Tatmenschen, so werden wir Verehrer des großen Menschen sagen. Denn allerdings hat der Zwiespalt, der durch die Seele des Verkünders ging, auch die Verkündigung nicht unberührt gelassen. Gericht, Urteil, Höllenpein und Rache sind Klänge, die den sanften Ton der Lockung des guten Hirten nicht ungetrübt lassen. Manchem rauhen Alter, manchem jungen Volke, unseren germanischen Vorvätern etwa, ist sie dadurch gewiß begreiflicher geworden. Überwogen hat dennoch i m m e r der Kern der Botschaft von der unbedingten Hingabe des Ichs an den Gott; denn er allein war ja das Außerordentliche und gänzlich Neue, das ihr Zeichen ist. Und wenn einmal, heute oder später, die Entscheidung fällt, ob die Gläubigen der Verkündigung m e h r , oder mehr dem Verkünder anhängen sollen, so wird u n -
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zweifelhaft die stille, sanfte Weise der ursprünglichen Heilandsworte obsiegen: denn sie verheißt den Vielen, den Schwachen, den Kleinen die Seligkeit im Jenseits und den Vorrang vor den Starken, Weisen, Mächtigen im Diesseits. Die Verfechter der Persönlichkeit werden dies Urteil nicht umzustimmen trachten, da ihnen zwar jener Zusatz in der Seele des Verkünders des Heils der Masse willkommen ist als ein letzter Gegenschlag des Ichbewußtseins, da ihnen aber Kern und Inhalt der Botschaft sonst so ganz den Weg zu ihrem Urheber verlegt. Von einem Christentum, das so v e r f ü h r e und alle Rächer- und Richterinstinkte aus seinem Gottesbilde entfernte, könnte in Wahrheit behauptet werden, daß es Jesus' Lehre zwar nicht in eine geschichtliche, wohl aber in eine überzeitliche Gestalt gösse, sie befreite von Zeit- und Volksgemäßheiten und sie über sich selbst hinaus höhte. Ein Gott, der mit nicht anderen Mitteln strafte, als das Leben selber tut, das heißt mit den notwendigen Folgen unserer Irrungen, er würde sich der Botschaft von Sanftmut und Hingabe und Feindesliebe weit ebenmäßiger anpassen als der von Jesus selbst verkündigte Weltenkönig und Höllenrichter. Allerdings, auch dieser linderen Gottesgestalt würden andere entgegengehalten werden: ein Gott etwa, dem seine Gläubigen wohl die Schöpfung der Welt und die Formung der Gesetze ihres Laufes beimäßen, nicht aber die Sorge u m die kleinen und kleinsten Angelegenheiten sehr kleiner Erdbewohner, oder gar ein Gott, der Freude hätte an den Menschen, die er schuf, auch an allen den Mängeln, die er ihnen mitgab, und endlich gar ein Gott, der verzichtete auf eine
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Staubesknechtschaft seiner Gläubigen, ein Gott, der auch den Unglauben stolzer Irdischer nicht als Beleidigung seiner Majestät vermerkte. Alle diese Gottesbilder und viele ihnen verwandte mögen vertreten sein in der an Ketzereien und halben und ganzen Abtrünnigkeiten so reichen Glaubensgeschichte der Christenheit; doch freilich, sie stehen nicht mehr innerhalb des Bezirkes, in den der Jesus der tiefen Nächstenliebe, der tieferen Gottesliebe die Menschheit gebannt hat und von dem hier allein die Rede sein sollte: des Bezirkes der Hingabe.
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SCHLUSSSTUCK ÜBERSCHAU UND F O L G E R U N G E N FÜR GEGENWART UND Z U K U N F T
R A N G UND GRENZEN DER PERSÖNLICHKEIT
Ich halte inne und überschaue den Ertrag der bisher eingesammelten Gedankenernte. Die eine Mitte, der alle die hier von verschiedenen Seiten kommenden Gedankenwege zustreben, ist die Überzeugung, daß es in allem gesellschaftlichen Tun und Bilden der Menschen auf ein Grundverhältnis ankommt: das zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft. Denn das sind die beiden Träger alles Geschehens zwischen
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Menschen. Mit aller Absicht aber war der Einzelne zum Ausgangspunkt aller hier erhobenen Forderungen und Beurteilungen gewählt; denn i m Ich, in dem inneren Gewölbe, das die Seele bewohnt, spielen sich ja alle die Vorgänge ab, die unserm nach a u ß e n gewandten T u n Antrieb und Richtung geben. W e n n hier die Liebe zum Ich und die Liebe z u m Anderen, wenn die einzelnen Formen, die das Glück des Schaffenden annehmen kann, in Betracht gezogen wurden, und wenn noch die Nächstenliebe und das Verhältnis des Gläubigen zur Gottheit geprüft wurden, so -wurden dabei allerdings n u r Gefühlsvorgänge, die das Ich in aller Bezogenheit auf sich selber mit d e m eigenen Selbst erlebt, untersucht; aber es waren n u r solche, die i h m aus seinen Berührungen mit den Mitmenschen erwachsen. I m m e r war Ziel wie Quelle, Ursprung wie Gegenstand dieser Gefühlserlebnisse das Handeln auf den Anderen hin. Die Anderen aber treten uns in einem Großteil der Fälle, in denen wir überhaupt mit ihnen zu schaffen haben, in der Sammelform der Gemeinschaft entgegen. Sie ist es a m öftesten, die auf uns wirkt, sie ist es auch a m öftesten, die wir bewirken wollen. W e n n bisher vom Recht auf Persönlichkeit die Rede war, so hat schon bei der Wahl dieses Ausdrucks die Absicht vorgeschwebt, durch ihn anzudeuten, daß ebensowohl von seinem Ja wie von seinem Nein, von dem Bereich seiner Geltung wie von den Grenzen seiner Herrschaft die Rede sein sollte. Zumeist u n ausgesprochen, immer aber gültig, waren diese Ausf ü h r u n g e n von dem Gedanken d u r c h d r u n g e n , daß Persönlichkeit ein hohes Gut und mithin n u r das Besitztum einer Oberschicht von Bevorzugten sein
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könne und daß vor allem nicht alle Einzelnen Persönlichkeiten sein können. Nicht jeder Einzelne hat dies Vorzugsgut, und die Rechte der Persönlichkeit hat nur der, der eine Persönlichkeit ist. Wird nun aber die ganz sachgemäße Frage aufgeworfen, welche Merkmale einen Mann als Persönlichkeit kennzeichnen, so wird doch nur dies Eine gesagt werden können, daß im Reich des Handelns jeder zur Persönlichkeit gestempelt wird, der Führer zu sein vermag, das heißt einem Werk mit voller Kraft des Anordnens und mit voller Verantwortlichkeit für sein Tun vorzustehen vermag, im Reich des Geistes aber jeder Schöpferische, das heißt jeder, der in seinem Bezirk eigene, neue Wege einzuschlagen imstande ist oder der als lediglich Wirkender selbständig ein wertvolles Werk zu leisten oder zu leiten imstande ist. Auch im Reiche der Tat können unter den Führern Schöpferische aufstehen: es sind solche, die dem Handeln neue Bahnen weisen, und die Ordnungen der Arbeit im Reiche des Geistes erfordern es, daß zahlreiche Gattungen des zu verrichtenden Werkes in der Form des Wirkens, das heißt des im wesentlichen nicht schaffenden, sondern nachahmenden Tuns verrichtet werden. Doch ist soviel zu sagen, daß für die Menschen der Tat die im Weiten und Großen gesehen überwiegende Sicht die auf Amt und Fähigkeiten des Führertums gerichtete sein muß. Nur die Männer höchsten Ranges werden imstande sein, die Leistung des Schöpferischen mit der des Führers zu verbinden. Auf der anderen Seite ist wohl alles eigentliche Wachsen und damit alles lebendige Gedeihen im Geiste an das Erschaffen neuer Gedanken und Gebilde gebunden; aber alle Verbreitung der neuen und
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alle Erhaltung der schon überlieferten Erzeugnisse des Geistes ist an Ordnungen und Einrichtungen gebunden, die ihrerseits wieder Führung erfordern, denn nur auf dem Wege der Schulung und Leitung von Jüngeren und Folgenden und also von Menschenkreisen kann dies geschehen. In glücklichen Fällen, die im Glauben und in der Wissenschaft überwiegen, vereinigen sich die Ämter: die Schöpferischen werden zu Führern als Verkünder und als Lehrer ihrer Errungenschaften. Doch kann auch den Tätigen im Geist, die als Nachahmer lediglich Wirkende und nicht Schaffende sind, der Rang der Persönlichkeit auch dann nicht abgesprochen werden, wenn sie zwar nicht Führer sind, aber doch der Wert ihrer Leistung ihnen Rang verleiht. Man sieht, der Grundgedanke des Maßstabes, der hier angelegt werden soll, ist ein letzten Endes von Sache und Werk entliehener. Dagegen könnte nun eingewandt werden, ob nicht auf diesem Wege das eigentlich Menschliche zu kurz komme, ob nicht die Persönlichkeit als solche, mit ihren etwa nur menschlich erfreulichen Eigenschaften, ihren Reizen und Anziehungskräften, ein ebenso großes oder gar ein größeres Recht darauf habe, als Maßstab zu dienen. Gerade dies aber ist abzulehnen. Uns Menschen ist ein härteres, strengeres Gesetz auferlegt als das der Freude, auch als das der Freude an Sein und Gestalt unserer Mitbrüder. Dies Gesetz, das ich meine, ist das Gebot, das uns heißt, zu schaffen und zu wirken, so lange es T a g ist und so weit es nur unsere Kraft uns vergönnt. Dieses Gesetz ist nicht von Menschenhand gemacht. Die Tafeln der Glaubensverkündungen und der von ihnen ausgesprochenen Sittengebote enthalten es
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nicht. Auch der Staat macht es, so oft er seine Befolgung erwünscht und wohl auch voraussetzt, nicht geradezu zu einer seiner Pflichtsatzungen. Aber eine einzig tiefe, einzig gewaltige Stimme aus dem Innersten unseres Seins, ja der Welt selbst, spricht zu uns und verkündet uns als ihren Willen, als den Willen der Welt, daß wir berufen sind, rastlos zu wirken und, wenn unsere Kraft es vermag, ohne Unterlaß zu schaffen. Sie spricht das wahrlich nicht in den Worten der Menschen, aber in einer Sprache, die zwar stumm ist, die aber gleichwohl die nachdrücklichste und unmißverständlichste ist, nur daß Ohren da sein müssen, sie zu hören und Augen, um die Zeichen, die sie begleiten, zu deuten. Alles Geschehen im anorganischen Reich, von den Urkörpern des kleinsten Maßes, den Molekülen, Atomen und Elektronen, bis zu den Weltkörpern vom größten Umfang, den Sonnensternen, besteht aus Bewegung, rastloser, ununterbrochener Bewegung. Das organisch-biische Reich, das Reich der Lebewesen, ist vollends von beständiger Bewegung erfüllt; die Grundform des Fortbestehens des Lebens besteht aus Bewegung. Dem Menschen selbst aber ist nicht nur, insoweit er ein Lebewesen ist, dies Urgesetz des Bewegtseins eingepflanzt, sondern auch das Grundwesen seines ihm eingeborenen Verhaltens ist auf Bewegung gestellt. Wie ihn die Anlage seines Körpers als die eines schweifenden Wald- und Feldtiers auf Bewegung verweist, so ist der Grundsinn seines seelischen Dichtens und Trachtens auf Bewegung gestellt. Er wird, will er sich nähren und also nur sein Leben fristen, zur Bewegung genötigt; alle seine sonstigen Lebenszwecke, die er gezwungen oder 21 Brey««
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freiwillig aufsucht, von den niedersten, einfachsten bis zu den höchsten, zusammengesetztesten erfordern Bewegung. Und führt man den Sinn aller bisherigen Geschichte der Menschheit auf die denkbar einfachste Form, auf seine letzten Urbestandteile zurück, so kann ihm, in dieser Sicht gesehen, keine andere Deutung gegeben werden als die, daß sie eine Folge von Abwandlungen der Tätigkeitsformen ist, die sich das Geschlecht der Menschen zu was immer für Zwecken auferlegt hat. Die Formen haben wie die Zwecke unzählige Male gewechselt, aber der Kern der Tätigkeiten, das Tätigsein selbst, ist immer als der gleiche geblieben. Insoweit hat das Menschengeschlecht, vielleicht kaum je anders als unbewußt, den Willen der Welt, den ihm die Natur eingepflanzt hat, befolgt. Unserem Entwicklungsalter, das wie in so vielen andern Dingen auch in diesen letzten und ursprünglichsten zur Bewußtwerdung und damit zur Selbstbesinnung gekommen ist, steht es wohl an, auch über dieses Grundverhältnis zwischen Mensch und Welt zur Klarheit zu gelangen und aus ihm die Folgerungen für den Grundsinn des menschlichen Verhaltens zu ziehen. Der Gedanke liegt nahe, daß man ein solches Verfahren als allzu wenig menschheitlich, allzu wenig vom Menschen als Mitte ausgehend bemängeln könnte. Aber dieser Einwand, wenn er ja erhoben würde, könnte aus der tiefsten Einsicht in das Verhältnis von Mensch und Welt zurückgewiesen werden. Mit allen Wurzeln unseres Seins sind wir eingesenkt in die uns umgebende Welt: wie wir selbst aus kreisenden Elektronen, aus Atomen und Molekülen bestehen, wie wir mit unserem Leib die Wesensart des Tieres teilen, so
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kann unserem Tun keine Richtlinie mehr gemäß sein, als die vom Weltgeschehen selbst gewiesene. Und, wenn wir vollends erkennen, daß von je das unbewußte Handeln unseres Geschlechts vom gleichen Antrieb beherrscht gewesen ist wie unsere Umwelt, so wird uns damit nur noch ein Befehl mehr zuteil, diesen Antrieb auch zum Gesetz unseres bewußten Handelns zu erheben. Denn wenn der Mensch als die letzte Ausgipfelung des Wachstums der Welt zu gelten hat, so liegt für ihn in diesem Wachstum selbst die Weisung, daß er in der gleichen Richtung, die, seiner unbewußt, sein eigenes Werden bisher eingeschlagen hat, nunmehr bewußt fortgehe. Der Mensch erscheint uns deshalb als die höchste und feinste Blüte am Baum des Weltgesamts, weil er an sich und seinem Bau die mannigfaltigste Zusammengesetztheit aufweist, in seinem Wesen aber die äußerste Steigerung der Eigenschaften, die überhaupt irgend welchen Trägern von Naturgeschehen verliehen sind. Aus der stummen Sprache des Weltgeschehens in die laute der Menschen übertragen, kann dies nichts anderes heißen als: setzt alle eure Kraft daran, das Wachstum und das Blühen dieses eures Seins ganz in demselben Sinn, wie sie bisher sich in eigenem Werden entfalteten, nun mit dem euch gewordenen Gut der Bewußtheit zu fördern. Und wie das Grundgesetz der Tätigkeit, so müssen auch die Einzelregeln unseres Verhaltens im gleichen Sinn dem durch ihr Sein verkündeten Willen der Welt abgelauscht werden. In allem ihrem Geschehen ist eines das vornehmste: das Werden, das heißt die Entstehung neuer Geschehensformen. Demgemäß muß unter allen Tätigkeitsformen des Menschen dem 21*
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Schaffen, das heißt dem Hervorbringen neuer Handlungsweisen, der höchste R a n g zugesprochen werden, ein höherer als d e m Wirken, unter dessen Namen und Begriff alle anderen Tätigkeitsarten des Menschen zusammengefaßt sein mögen, denen allen gemeinsam ist, daß sie nach schon vorhandenem Muster bilden, auf bereits gewiesenen Wegen sich vollziehen. Unter den geschaffenen Werken und ihren Erzeugern aber m u ß insofern eine Rangordnung gelten, als die dauerhaften, die seinsbeständigen Neuerungen und ihre Urheber Anspruch auf die höchste Bewertung haben. Überschaut m a n die lichte Schar der Größten und Großen, die in Geist und Tat der Menschheit ihre Wege gewiesen haben, so wird m a n selbst f ü r sie noch einen sachlichen Maßstab f ü r die Abschätzung ihrer menschheitsgeschichtlichen Bedeutung an der Länge des Zeitraumes finden, in d e m die von ihnen errichteten Werke den nachdrängenden späteren Neuerungen Widerstand geleistet haben, und an der Weite des Ausmaßes der Verbreitung u n t e r den Völkern, an denen sich diese Dauerbarkeit bewährt hat. D e r in Wahrheit Gottgleiche unter den Menschen, Jesus der Christus, n i m m t auf Grund dieses Maßstabes seinen Rang als der schaifensmächtigste u n t e r allen Sterblichen ein. Die beiden andern großen Religionsstifter, Gotamo der Buddha und Mohammed der Prophet, mögen als Nächste i h m folgen, und von ihnen f ü h r t eine unendlich staffelreiche Stufenleiter abwärts bis zu den letzten der noch Schaffenden, deren W i r k u n g schon etwa nach einer Generation erlischt und deren Wirkungsbereich sich auf ihre nächste Umgebung beschränkt.
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Es ist allerdings ganz weltische, ganz kosmische Sehweise, die unter diesem Gesichtswinkel auf die menschlichen Dinge gerichtet wird. Aber auch von rein menschheitlichen, anthropologischen Standpunkten her wird gegen sie schwerlich ein triftiger Einwand zu erheben sein. In Sonderheit jede sittliche Anschauung, die in der Auswirkung von männlicher Stärke, in der Bewährung von gespannter Kraft das vornehmste Ziel und den besten Gehalt ihrer Verkündung sieht, kann nicht anders als mit voller Zustimmung über solche Lehre urteilen. Aber auch die anderen Sittengesetze, wie die vom Glauben gelehrten, kommen in vielen ihrer Verzweigungen mit ihr zusammen; denn wenn das vom Weltgeschehen hergeleitete Gebot äußerster Kräftespannung gilt, so muß, um ihr rechten Ernst zu geben, von uns die Übung jeder Reinheit Leibes und der Seele gefordert werden, und ebenso muß uns alle Störung und Zerstörung des Lebens und Gedeihens der Anderen verboten bleiben. Wohl ist die Begründung solcher Gebote eine andere, als die in den Gesetzestafeln des Glaubens; denn als das Heilig-UnveTletzbare wird hier einmal das eigene Ich angeseher), weil es Sitz und Quell jeder Kraftbetätigung, und dann wieder der Andere, der Mitmensch, weil er ganz ebenso ein Träger von Kräftespannung ist und ihn zu schädigen ganz ebenso die höchste Aufgabe der Menschheit, die zu schaffen und zu wirken, in Frage stellen würde. Kein einziges von den dem Nächsten dienenden Gesetzen des Dekalogs würde durch jene Vorschriften verletzt werden. So weit die Begründungen beider Gebotegruppen von einander abweichen, so gewiß stimmen die Lebensweisungen, die sie erteilen, überein nicht nur in ihrer werktätigen Anwen-
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dung, nein auch ihrem innersten Sinn und Gehalt nach. Und vollends dem Staat und dem Recht, den beiden hohen Gewalten, durch die ein Volk sein öffentliches und einen so großen Teil seines privaten Lebens regelt, müssen die Gebote der Kräftespannung und Krafterhaltung aufs günstigste sich dienstbar erweisen. Denn der Staat ist ja der anspruchsvollste, der nimmer müde Forderer von Kraft; ihm kann nichts genehmer sein, als daß sich ein Sittengesetz erhebt, das ihm dieses sein höchstes Bedürfnis zu befriedigen hilft. Die Verfassung eines Staates aber und sein Recht sind Ordnungen, und wenn es im Haushalt des Weltgeschehens eine Verhaltensform gibt, der nächst dem höchsten Gesetz der Bewegtheit der Rang einer unbegrenzt herrschenden Regel zukommt, so ist es der Tatbestand der Ord.nung. Will man, wie hier versucht worden ist, für alles Menschentum und Menschentun aus dem Weltgeschehen ein Gesetz ableiten, so müßte nächst der Bewegtheit an erster Stelle die Geordnetheit aller, aber auch ausnahmslos aller Geschehensformen zum Urbild und Muster für die Regelung unseres Seins und Wirkens erhoben werden. Und auch dieser Einstrom von weltischer, kosmischer Regelgebung könnte zum zweckdienlichsten Antrieb und im Sinn einer Weltlogik, das heißt der einzigen zu Recht bestehenden Logik, zur sichersten Begründung für die Ordnungen von Staat und Recht werden. Nur ein Bedenken möchte sich hier eindrängen, herkommend von einer linderen, weicheren Sinnes weise: dies alles sei gar zu streng und hart gedacht. Und doch wird man diesem Einwand nicht stattgeben dürfen: stammt doch diese Auffassung nicht aus irgend einem 326
düsteren Moralkodex, der wie mit Absicht die grauen Gespinste seiner Vorschriftennetze über uns Erdenkinder und unsere Freuden verhängen will, sondern sie will weder irgend einer rechten Lust wehren, noch will sie selbst etwas anderes sein als Quell einer höchsten Lust, der wahrsten und beständigsten, die uns Menschen geschenkt ist, der Lust a m Schaffen und Wirken. Und wenn dem Ichtrieb die Vorschrift erteilt wird, daß n u r sein Drang nach Schaffen und Wirken i h m Rechte verleiht, nie aber der nach Genuß, so sind mit solcher Schranke doch wahrlich nicht die unschuldigen Freuden a m Genießen ausgeschlossen. I m Gegenteil, sie werden als die leicht beflügelten und wirksam beflügelnden Helferinnen, die stark und fröhlich z u m Wirken machen, jeder Sinnesweise willkommen sein, die zuerst und zuletzt das Werk der Welt durch unsere Hand befördern will. Als unschuldige Freuden aber werden alle die zu gelten haben, die unseren Leib und den des Anderen, unsere Seele und die des Anderen vor Schädigung bewahren. So ist nicht zu befürchten, daß diese Weltsicht, wenn sie zur Vorschrift f ü r unser Handeln erhoben wird, i h m einen Zug mürrischer und säuerlicher Freudlosigkeit aufprägen wird. Die beiden großen Reiche menschlicher Freude, das der Schönheit, in das alle Kunst eingeschlossen ist, und das der Liebe, das Menschen mit Menschen mit den stärksten Banden der E i n u n g von heißer Leidenschaft bis zum zartesten Mitgefühl zusammenschließt, bleiben bestehen. Die Kunst ist selbst die freieste, aber eben d a r u m eigens reiche Form des geistigen Schaffens, die Spenderin feinsten und zartesten Genießens; die Liebe aber ist vom Leibe her Erzeugerin des fruchtbarsten, unser
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Geschlecht selbst erhaltenden Schaffens, von der Seele her der Quell der zartesten und süßesten Bindung zwischen Menschen und wiederum der lindesten und im eigentlichen Sinn des Wortes wohltätigsten Fürsorge für Menschen. Zudem ist die Liebe in beiderlei Sinne, dem des Eros und dem der Caritas, die erfinderischste Schöpferin immer neuer Schaffens- und Wirkensformen des menschlichen Handelns und vereinigt dann in sich beide Möglichkeiten menschlicher Freude, die Lust am Schaffen mit der am unschuldsvollen Genuß. Soll, wie hier geschah, Grenze und Rang der Persönlichkeit umschrieben werden, so muß solche Kennzeichnung zunächst dem Mann und zwar ausschließlich dem Mann gewidmet sein. Da das Schaffen fast in demselben Umfang wie das körperliche Zeugen ihm vorbehalten ist, so ist dies selbstverständlich. Doch würde es das gröblichste Unrecht bedeuten, wollte man, auch in dem hier gemeinten besonderen Sinn, der Frau die Persönlichkeit absprechen; nur müssen für sie die Grenzen anders gezogen werden. Nicht dort, wo, wie in Ausnahmefällen geschieht, die Frau zu den Schaffenden im Mannessinne gehört, noch weniger da, wo sie, was sehr viel seltener ist, Führerin geworden ist. In unerhört überragenden Fällen — man gedenke der Jungfrau von Orleans — ist doch auch dies Wahrheit geworden. Aber auch der mittleren Schicht jener Frauen, die im handelnden Leben zu den Wirkenden von Mannesrang zu zählen sind, die etwa ein wirtschaftliches Unternehmen mit Kraft und Erfolg leiten oder die Arztberuf und Lehramt voll erfüllen, muß Rang und Amt der Persönlichkeit im
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gleichen Sinn wie d e m Manne zugestanden werden. Aber alle diese Schichten des Frauentums sind, so zahlreich auch einige von ihnen sein mögen, n u r Ausn a h m e n . W e n n von der Stellung der Frau i m Bezirk der Persönlichkeit gesprochen wird, so m u ß — das kann keine Frage sein — von den Eigenschaften die Rede sein, deren Ausmaß den besten, weil nur ihr eigentümlichen Wert von Frauen bestimmt, den eigentlich weiblichen ihres Gemütes. Kein Mann, der echt männlich empfindet, wird den Rang von Frauen nach ihrer Nähe zu männlicher Art bestimmen wollen. Da nicht Natur noch Geschichte wollen, daß der Frau in Tat und Staat, ja nicht einmal in den Werken des Geistes ein Über-, noch selbst ein Gleichgewicht mit d e m Mann überlassen bleibe, so wird das entgegengesetzte Gefühl, das ebenso jeden echten Mann beseelen wird, den Ausschlag geben müssen: das Gefühl, das ihn die weiblichste Frau am höchsten schätzen läßt. Der Frau, die als Gattin der tiefsten Hingabe an den Mann, als Mutter der umfassendsten Fürsorge f ü r ihre Kinder fähig ist, m u ß der höchste Rang zuerkannt werden. Es ist einer der seltsamsten I r r t ü m e r , die das Denken der allzu intellektualistischen Jahrzehnte des endenden neunzehnten und des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts beherrscht haben, es bedeute eine Entw e r t u n g der Frau, daß in ihr die Gefühlsbetätigungen überwiegen. Es kam dahin, daß in den staatlichen Schulplänen angeordnet wurde, es müsse d e m Zuviel an Gefühlsmäßigkeit der Frau schon iln Unterricht entgegengewirkt werden. Diese Forderung macht den Eindruck, als würde es zweckmäßig sein, in den Unterrichtsplan einer höheren Knabenschule die Vor-
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schrift aufzunehmen, es müsse dem Zuviel von Willenskraft im heranwachsenden Jüngling entgegengewirkt werden. Die so sprachen und handelten, glaubten für die Frau zu streiten; in Wahrheit aber taten sie ihr Abbruch. Es sei ferne, die Verstandesschulung der Frau anzufeinden ; aber es ist auf das stärkste zu betonen, daß in hohem Frauentum weit mehr Weisheit erforderlich ist und lebendig wird, als irgend welche Schulverständigkeit je aufbringen könnte. Auch in dem gesundesten Familienverband werden etwa neun Zehntel alles Lebens von der Frau, die ihm vorsteht, geleitet. Je männlicher der Mann, das heißt, je mehr auf Wirken und Schaffen bedacht er i§t, desto weniger pflegt er dem eigentlichen Leben seiner Umgebung und seiner selbst seine Sorgfalt zuzuwenden, das heißt all den kleinen, aber auch den sehr großen Dingen, aus denen sich die Regeln des Zusammenlebens dieser kleinen Körperschaft zusammensetzen und von denen alles äußere, aber auch alles innerste Zueinander bis zu den feinsten und zartesten Seelenregungen hin abhängt. Es bedurfte für die Generation, die etwa um 1900 zu ihren Jahren kam, viel innerer Auseinandersetzung, ehe in ihr, oder vielmehr nur in ihren feinfühligsten Führern, die Einsicht wach wurde, daß in diesem Verhältnis zu den Dingen des Hauses nicht nur keine Minderwertigkeit der Frau, sondern eine Lebenskraft der Frau von höchstem Rang sich geltend macht, und daß der Mann in diesem innersten Bezirk unseres gesellschaftlichen und unseres seelischen Daseins um vieles hinter der Frau zurücksteht. Es wuchsen um diese Zeit junge Männer heran, die, beginnend mit 330
der Ausgestaltung von Haus und Hausrat, an dem ihr erwachender Kunstsinn nicht dünn ästhetischen, sondern heißen leidenschaftlichen Anteil nahm, eine ganz andere Wertung auch für das häusliche Tun der Frau gewannen. Aber erst heut mag die Zeit gekommen sein, in der der Mann, gerade weil er die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten ausschließlich sich selber vorbehalten will, des großen und oft höheren Menschenwertes voll gewahr wird, der in den Dingen der Seele und des inneren Lebens der Frau zukommt. Aus all diesen Voraussetzungen erfließt nun ein ganz anderes Verhältnis der Frau zum Inbegriff der Persönlichkeit. Es kommt bei seiner Ergründung zunächst nicht an auf das Massengeschehen: in dieser wie in jeder anderen Angelegenheit von seelischem Gewicht ist es bei weitem am richtigsten, von den Fällen der obersten Schicht und des höchsten Wertes auszugehen. Für sie aber läßt sich das Wort anwenden, das ich aus dem Munde einer gütigen und weisen Frau hörte: der Frau ist diese Möglichkeit zu eigen, daß sie sich ganz hingeben kann —. an ihren Gatten, ihre Kinder — und doch dabei ihre Persönlichkeit bewahren kann. Die Ursache für diesen an sich überraschenden Sachverhalt ist zweifelsohne darin zu suchen, daß es im Wesen der Frau zutiefst begründet ist, daß ihr Dichten und Trachten auf Hingabe gestellt ist, auf das Wirken für Andere, für die ihr vom Leben Anbefohlenen. Und so werden sich die Kräfte ihrer Persönlichkeit zumeist und zustärkst in diesen Fähigkeiten der Hingabe bewähren; was Wunder also, wenn die Gesamthaltung ihrer Persönlichkeit sich neigt zu Anschluß und Unterordnung unter den Mann, dem sie ihr Leben und Lieben gönnt. 331
Dieses Verhalten steht in schlichtem Gegensatz zu dem des Mannes, soweit er ein Schaffender ist, und zu einem Großteil auch, soweit er Führer ist. Und dennoch bedeutet dies nicht eine Verringerung an dem Persönlichkeitswert der Frau. Denn einmal können auch bei vollem Einsatz ihres ganzen Tuns für den Mann und für ihre Kinder die Einzelleistungen der Frau von vollkommener Eigenart und Eigenstärke sein; sodann aber können auch von ihrer Hingabe ganze Ströme von Lebensstärke und Lebens weihe auf ihre Anbefohlenen übergehen. Es ist kaum auszusagen, wie viele und wie starke Kraftströme in einer Ehe, die das Glück der engsten seelischen Bindung wahr macht, von einer ganz liebenden Frau auf ihren Mann übergehen können. Und es sind nicht etwa die Männer mittlerer oder gar schwacher Lebenskraft, die hier die meistbeteiligten sind, sondern die der stärksten Persönlichkeitsgrade, denen dieser Einstrom am ergiebigsten zufließen kann. Es sind jene Lebensbünde, die im Grunde als Einungen, als Einheiten zweier Menschen betrachtet und gewertet werden sollten, und in ihnen braucht das Verhältnis der Frau zu dem Wirken des Mannes nicht etwa die Form einer Teilhaberschaft anzunehmen, sondern kann lediglich die einer teilnahmsvollen Weggenossenschaft bleiben und vermag trotzdem durch eine Mischung von nahem Verstehen mit liebevollem Hütertum einen kaum zu ermessenden Grad von Beistand und Lebenshülfe zu erreichen. Und dies mag das richtigste Verhältnis und zugleich das herrlichste Geschenk des Lebens sein, das einem Menschenpaar zu teil werden kann: in ihm bleibt der Stolz und die Selbständigkeit des Tuns des Mannes, von deren Grad 332
»ein Persönlichkeitsrang abhängt, ungemindert; der Menschenwert der Frau aber wird, indem sie sich und ihr Wirken hingibt, im selben Sinn, wenn auch in umgekehrter Richtung, nicht verringert, sondern gesteigert. Der scheinbare Widerspruch, der in diesem Gegensatzverhältnis liegt, läßt sich durch ein Wort lösen: der Persönlichkeitswert der Frau bemißt sich zuerst und zuletzt nach ihrer Liebeskraft. Daß in ihr und durch sie die Frau dem Mann überlegen ist, wird kein Fühlender in Abrede stellen. Trotz allem Ansturm drängender Leidenschaft, trotz auch allen Möglichkeiten ritterlichen Frauendienstes, die auf Seiten des Mannes eine Art von Gegengewicht schaffen, übertrifft die Liebeskraft der Frau die des Mannes in allen großen und allen kleinen Dingen des Lebens um Vieles. Und der sehende Mann wird dies umso rückhaltloser aussprechen können, weil ihm die Beschaffenheiten seines Leibes wie seiner Seele so unmißdeutbar andere Wege als diesen weisen, daß diesen Tatbestand festzustellen nicht einen Vorwurf gegen den Mann richten heißt. Es wird damit vielmehr lediglich eine Folgerung aus einem der tiefsten Geschlechtsunterschiede zwischen Mann und Frau gezogen, die wir — wie wir nicht anders können —, wie alles, was die Natur uns auferlegt, für Recht halten müssen. Am allernachdrücklichsten werden wir aber durch diese Einzelbeobachtung darüber belehrt, wie aller Sittlichkeits- und Gesellschaftslehre als eine tiefste Forderung das Gebot aufzuerlegen ist, daß sie ihre Satzungen, ja schon ihre Überlegungen von vornherein in zwei ganz verschiedene Gruppen für Recht und Pflichten des Mannes und für Recht und Pflichten der 333
Frau zu zerlegen hat. Es war wohl einer der trügerischsten Irrtümer des neunzehnten Jahrhunderts, daß man glaubte, Formeln ersinnen zu können, die den tiefsten Unterschied, den es überhaupt zwischen Sterblichen gibt, fortwischen sollten aus dem Bewußtsein und gar aus dem Handeln der Menschen. Mochten dabei sehr berechtigte Einzelforderungen geltend gemacht werden, wie die nach dem Schutz der arbeitenden Frauen gegen wirtschaftliche Ausbeutung oder die nach Reinigung der Geschlechtssitten des Mannes, so ist im Allgemeinen doch zu behaupten, daß kaum eine unter den grundsätzlichen Bestimmungen im Gesetzbuch der Sittlichkeit nicht nach Begründung oder Ausgestaltung verschieden für jedes der beiden Geschlechter auszuformen ist. Wenn auf diesen Blättern zwei Gradmesser für die Bewertung der Persönlichkeit des Mannes aufgestellt wurden, seine Eignung als Schöpferischer und als Führermensch, so lag dieser Teilung der Gedanke zu Grunde, daß im Reich der Tat der Führer, im Reich des Geistes der Schöpferische die Maße zu setzen hat. Wenn gleichwohl, wie dargelegt wurde, auch Überkreuzungen stattfinden und es auch Führer im Geist und Schöpferische der Tat gibt, so empfiehlt es sich doch, wenn jetzt die Besonderheiten beider Menschenformen ins Auge gefaßt werden sollen, bei jener ersten Scheidung als der elementarsten und häufigsten zu bleiben. Es handelt sich hierbei vornehmlich darum, Umrisse und Maße für das Bild des Führertums zu gewinnen. Aber das kann am ehesten so geschehen, daß seine Wesenszüge aus einem Vergleich mit denen des
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schöpferischen Menschen gewonnen werden. Denn wenn auch gewiß der höchste Führer großer Gemeinschaften, in Sonderheit der eines Volkes, nicht zu denken ist ohne die ihm gleichmäßig innewohnenden Eigenschaften eines Schöpferischen ebenso hohen Grades, so dürfen doch im Weiten gesehen der Führermensch und der schöpferische Mensch einander gegenübergestellt werden. Über sie ist Eines zu sagen: das Wesen des schöpferischen Menschen ist Wachstum, ist Freiheit; das Wesen des Führermenschen aber ist nicht nur das Geltendmachen von Bindungen — denn das heißt Führen —, nein auch Gebundenheit; Führen kann nicht Befehlen allein, sondern muß auch und zwar in noch höherem Maß Gehorchen sein. Ein Höchstmaß von Spannung und Gegensatz ist mithin hier gegeben. Denn das Amt des Schaffenden im Geist, das hier als maßgebendes Musterbild zu setzen ist, ist bedingt durch das Finden eines Neuen, eines bisher nicht als Regel Gültigen. Das Neue aber bedeutet in jedem Falle Absage an ein Altes, an ein Gebot, ein Gesetz, das bis dahin als bindend angesehen wurde. Schaffen also heißt Widerstand, ja Rebellion, Abfall, Aufpflanzen eines neuen Banners gegen ein altes, dem jede Gefolgschaft verweigert wird. In all den großen Formen des Dienstes am Geiste, vornehmlich aber im künstlerischen, im forscherlichen Tun offenbart sich dieser Grundzug des Schaffens. Nur die allzu häufige Gewöhnung dieser letzten Zeiten an ein fast lediglich geschichtliches Sehen künstlerischer Dinge hat uns dazu geführt, über den Gesamtbildern der Schulen, der Strömungen zu vergessen, wie sehr der echte Künstler ein Einzelner, und dies heißt nichts
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anderes als ein Regelbrecher sein mufi. Kommen aber Zeiten auf, in denen in starkem Umschwung eine herrschende Schlachtordnung verlassen wird, wie damals, als der Impressionismus verabschiedet wurde, und kommt es, wenn ein mächtiges Neues sich regt, an auf die Männer, die aus eigener Stärke sich ein eigenes Recht schaffen, dann wird ganz offenbar, wie jeder Pfadfinder von diesem Kraftrang ein EinzigEinzelner sein muß. In den Fällen höchster Leistung kann das Neue, das ein neuer Meister unseren staunenden Augen zeigt, sich so weit von allem Bestehenden, allem bisher Geschaffenen entfernen, daß uns dann, wenn er uns überzeugt, wenn er uns zu sich bekehrt, sein Werk nicht wie eine Abweichung von der bisher gültigen Regel, sondern wie die einzig berechtigte Richtlinie für seine Kunst erscheint. Nicht als Abtrünniger und Rebell erscheint er, sondern wie ein Usurpator, ein neuer Herrscher, der seinen Thron so hoch und fest aufgerichtet hat, daß die rings versammelte Schar der bis dahin tätigen Künstler sich wie eine unterworfene Menge, wie ein Volk von überwundenen Untertanen darstellt. Als Hodler das erste Mal im Norden mit einer großen Ausstellung seiner Werke hervortrat, war er nahe daran, einen solchen Eindruck hervorzubringen; und es war vielleicht nur die Monumentalität seiner Riesengestalten, die daran hinderte, so sehr wirkten sie schon durch das Ausmaß ihVer Körperlichkeit als außerordentlich: man hätte sie schon um dieser willen nicht wie eine Norm empfinden können. Von der Wissenschaft muß nicht in jedem, aber in vielem Betracht das Gleiche gelten wie von der Kunst. An sich unterliegt sie strengeren Bindungen als diese,
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und schon u m deswillen sind in i h r e m Bereich der freien Herrscherlichkeit des schaffenden Ichs engere u n d strengere Schranken gezogen: die Macht der Überlieferung und der Zwang, das bisher Sichergestellte als zunächst unumstößliche Unterlage alle* weiteren Bauens anzuerkennen, errichten diese Schranken. Aber ebenso gewiß ist, daß jede Neuerung und u m deswillen jedes schöpferische T u n in der Wissenschaft die bestehenden Erkenntnisse umstürzt und also n u r aus dem frei schaffenden Ich hervorgehen kann, Ja, man kann sagen, k a u m irgendwo i m Reich des Geistes läßt sich der Unterschied zwischen Alt und Neu so sicher als das Erzeugnis des gesellschaftsseelischen Gegensatzes zwischen der Gemeinschaft und d e m Einzelnen e r k e n n e n ; denn jede anerkannte Wahrheit wird zum Gemeingut der wissenschaftlichen Körperschaft gestempelt, und jede Neuerung, die auftritt, bedeutet den Versuch eines Einzelnen, sich gegen das Bekenntnis seiner Gemeinschaft zu erheben. Und vielleicht ist f ü r das Verhältnis, das zwischen Persönlichkeit und Gemeinschaft i m großen und weiten obwaltet, keine Sonderbeziehung zwischen beiden so offenbarend, als die in der Wissenschaft herrschende, die von so wunderbarer Mannigfaltigkeit, so rätselhafter Verflochtenheit ist. Denn wenn der schöpferische Einzelne n u r im Kampf gegen die Gemeinschaft sein neuerndes Werk durchsetzen kann, so ist doch die Gemeinschaft gerade dann, wenn der Einzelne in diesem Streit obsiegt, der treueste Träger, der Erhalter und Verteidiger seines Erbes, das erst von späteren Einzelnen wieder angefochten und verdrängt wird.
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DAS WESEN UND DIE FORMEN VON G E M E I N S C H A F T S D R A N G
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GEFOLGSCHAFT Wenn in den Betrachtungsreihen, die auf diesen Blättern vorgelegt worden sind, nicht nur von dem Gegensatzpaare Persönlichkeit und Gemeinschaft die Rede war, sondern zuerst Egoismus und Altruismus, Ichliebe und Anderenliebe einander gegenübergestellt wurden, so bedeutet das zwar ein Festhalten an dem ursprünglichen Gegensatz, aber zugleich ein Verlassen der gesellschaftswissenschaftlichen Ebene und ein Aufsteigen zu der nächst höheren, weil allgemeineren Ebene der Sittenlehre, der Ethik. Für die freie und unbefangene Behandlung dieser Fragen zu wissenschaftlichen und nicht zu Lebenszwecken bedeutet dies nicht eine Erleichterung, sondern weit eher eine Erschwerung. Denn wenn überhaupt von Sittenlehre die Rede ist — und es geschieht auch heute noch außerhalb der Gottesgelehrtheit nur auffällig selten —, so ist damit fast ausnahmslos eine Sittenlehre im Sinne einer gesetzgeberischen, das Leben bestimmenden Wissenschaft gemeint. Mit so weiten Griffen auch jede sittenwissenschaftliche Erörterung, wie die bisher dargelegte, das Leben umfassen mag: um ihm die rechte, die allersachlichste Sicht abzugewinnen, bedarf es einer Grundlegung, die noch allgemeiner und eben deswegen noch unbefangener ist. Denn — das sei noch einmal auf das nachdrücklichste betont — will man in den Dingen der Sittlichkeit dem Sein der Menschheit auf die Spur kommen, so muß man völlig den Blick von ihrem Sollen abgewandt halten. Sittenlehre als Norm-, als
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Gesetzeswissenschaft muß beständig werten und die aufgefundenen Wertungen zur Geltung bringen, sie muß beständig Partei ergreifen für diese, gegen jene Handlungsweise; Sittenlehre aber als lediglich erkennende Wissenschaft kann nur die Aufgabe haben, festzustellen, welche Antriebe im Menschen wirksam und mächtig sind, und sie wird, eben um hierüber ins Klare zu kommen, sich vor nichts so sehr hüten müssen wie vor Urteilen, also Wertungen, weil diese so wirksam wie nichts anderes den Ausblick in das Seiende, in das Räderwerk des ursprünglich vorhandenen Lebens verschränken. Einer Gesellschaftslehre aber, die, wie die auf diesen Blättern gepflegte, das Tun und Treiben der Menschen zuerst erkennen, nicht aber durch Gebote regeln will, wird es auf die Erträge einer lediglich schildernden Sittlichkeitslehre ankommen, die das sittliche Verhalten der Menschen, wie es sich im gelebten Leben vollzieht, behandelt, ohne es zu beurteilen oder regeln zu wollen. Sie hat dann etwa mit der gleichen Sachlichkeit wie eine der Naturwissenschaften zu verfahren. Und es leuchtet ein, daß dem ihr vorschwebenden Zweck reinen Erkennens so und nur so vollkommen gedient wird. Durch solche grundsätzliche Scheidung wird beiden Formen der Sittenlehre nicht nur kein Schaden getan, sondern der mannigfachste Nutzen erwiesen. Die Regeln, die die gesetzgebende Sittenlehre dem Leben zur Vorschrift macht, dürfen, ja müssen einseitiger, unbedingter, kurz gesagt herrscherlicher sein als alles, was die erkennende Sittenlehre an Eigenschaften, gleichviel ob Tugenden oder Mängeln menschlichen Handelns, au ihre lediglich feststellende Weise er22*
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kündet. Sie hat nicht nur ein Recht, nein auch die Pflicht, unter den Anlagen und Möglichkeiten de» sittlichen Verhaltens ihre Wahl zu treffen, während die rein wissenschaftliche, schildernde Sittenlehre durch ihr Wesen und ihre Grundabsichten unabänderlich und ausschließlich dazu verbunden ist, die vorhandenen Antriebs- und Richtungsmöglichkeiten der Seele ohne jede Parteinahme zu enthüllen und zu ordnen. Bei ganz entgegengesetzten Zielsetzungen ist beiden Wissenschaftsformen nichts zuträglicher als eine völlige Trennung ihrer Forschungswege und Forschungsweisen. Nur das Eine läßt sich über eine Zwischenbeziehung zwischen beiden Wissenschaftsgattungen erklären, das ist, daß die feststellende, rein sachliche Sittenlehre den Vortritt haben sollte, weil ei wünschenswert ist, daß zuerst das Sein und der lebendige Besitz an Antrieben und Möglichkeiten überschaut werden möge, ehe die an sich viel schwierigeren Entscheidungen darüber getroffen werden, welche unter ihnen nach dem stets wechselnden Bedürfnis der Zeit zu bevorzugen und welche hintanzusetzen sind. Wertungen und auf sie gegründete Entschließungen im Sinn der gesetzgebenden Sittenlehre hat ihre beschreibend-erkennende Schwesterwissenschaft im Sinn lebensnaher Regelsetzung nicht ausfindig zu machen; wohl aber ist es ihre Aufgabe, durch das Mittel erfahrungswissenschaftlicher und in Sonderheit geschichtlicher Vergleichung und insofern auch bemessender und letzthin im Sachsinn wertender Schätzung die einzelnen Formen sittlichen Verhaltens nebeneinander zu stellen und im Hinblick auf ihre Lebensmacht und ihre Wirkungskraft aneinander zu messen. Vielleicht das wesentlichste Ergebnis solchen Unter340
nehmens ist, daß die beiden Grundtriebe, die alles ge»ellschaftliche und deswegen auch alles sittliche Verhalten der Menschen bestimmen, niemals, wie die gesetzgebende Sittenlehre — wie manches anderen Zeitalters, so auch die des unseren — es wünscht und will, einander unter- und übergeordnet werden können, londern daß sie sich, etwa wie Ebbe und Flut oder Tag und Nacht oder welche einander ebenbürtigen Naturmächte immer, als ein Paar von gleichen, an Macht und Wert sich gegenseitig nichts nachgebenden Kräften zueinander verhalten. Denn so weit auch vergleichende Gesellschafts- und Geschichtslehre über Völker und Zeiten die Blicke schweifen lassen mag, immer ergibt sich, daß die beiden Grundformen des Persönlichkeitsdranges und des Gemeinschaftstriebes — in einer tieferen, wurzelnäheren Schicht: des Ichtriebes und des Hingabetriebes — mit Allgewalt in allen Völkern zu allen Zeiten neben-, gegen-, miteinander herrschen, in «teter Nebenbuhlerschaft, in stetem Kampf begriffen, aber auch gewiß in völlig gleichem Rang und Wert einander gegenüberstehend. Zieht man für das Insgesamt der Menschheitsgeschichte die Summe der beiderseitigen Wirkungsformen, so wird man zwar gewiß dies als oberstes Ergebnis festzustellen haben, daß der Gemeinschaftstrieb die stärkere Macht erwiesen hat, insofern er allen gesellschaftlichen Einrichtungen den Stempel einer überwiegend genossenschaftlichen Ordnung aufgeprägt hat. Andererseits aber ist der Persönlichkeitsdrang ebenso wenig aus dem Gesamtbild der Gesellschaft fortzudenken, insofern alles schöpferische, neuernde und damit alles Geschichte und Vorwärts341
schreiten unseres Geschlechts verursachende Geschehen zum überwiegenden, ja vielleicht ausschließlichen Anteil auf die Auswirkung des starken Einzelnen zurückzuführen ist. Aus diesem Kraftverhältnis der beiden Antriebsformen, das dem Gleichgewicht sich nähert, geht hervor, daß beide Seelenantriebe sich ihrem Macht- und Geschichtsmaß nach ungefähr ebenbürtig gegenüberstehen. Sie üben zwar in den einzelnen Lebensaltern der Völker ein sehr verschiedenes Gewicht von Wirkung aus, so verschieden, daß die aufeinander folgenden Zeitalter dieser Lebensläufe in der Regel nach dem stets sich erneuernden Wechsel des Übergewichts der einen oder der anderen Triebform sich gegeneinander abgrenzen. Aber gerade dieses Auf und Ab ihrer Vorherrschaft läßt erkennen, wie beide in ihrem Macht- und Geschichtsrang einander gewachsen sind. Und wo, wie in mehr als einem Teilabschnitt der Neuesten Zeit unseres, des neueuropäischen Weltalters, beide Antriebe nebeneinander hergehen und sich teils in starkem Widerspruch, teils in seltsamer Verflechtung gleichzeitig auswirken, da entsteht derselbe Eindruck. Selbst dann, wenn, wie in unserer nächsten Gegenwart, in dem durch die deutsche Revolution heraufgeführten Zeitalter seit 1933, der eine von beiden Antrieben, in diesem Falle der Gemeinschaftsdrang, das seelische Übergewicht hat, macht sich das Gegengewicht des Persönlichkeitsdranges doch so machtvoll geltend, daß erst seine Mitwirkung das volle Rund des zur Wirklichkeit gewordenen Geschichtsbildes in die Erscheinung treten läßt. Denn so gewiß die überstarke Welle des vom überwundenen Sozialismus her ver342
erbten, aber noch gewaltig verstärkten Gemeinschaftsgedankens die Bewegung, vornehmlich soweit sie eine im Volk verwurzelte, vom Volk getragene ist, zur Höhe führte, so wenig ist aus ihr die beherrschende Gestalt und Gewalt ihres Schöpfers und Führers fortzudenken, und selbst die Einrichtung des Führertums und des Führereinflusses der Männer der zweiten und dritten Reihe bedeutet ein starkes Gegengewicht gegenüber dem sonst so gewaltigen Emporschäumen von Gemeinschaftsgefühlen und Gemeinschaftsbestrebungen. Aus allem diesem aber ist zu entnehmen, daß alle lediglich verstehende und schildernde Sittenlehre al* Teil und Glied einer allgemeinsten Gesellschaftskunde gar nicht anders als unparteiisch verfahren und beiden Antrieben, jedem an seinem Teil, sein volles Recht zuerkennen kann. Daß dadurch eine gesetzgebende Sittenlehre dort, wo es ihr darauf ankommt die Beweg- und Beweisgründe ihres Vorwärtsdrängens geltend zu machen, nicht im mindesten in der Wucht und Wirkung ihres Wollens gelähmt zu werden braucht, bedarf keiner eigenen Darlegung. I m Gegenteil, auch sie bedarf, wenn sie im Sinne der Gemeinschaftsforderungen wirken will, eines steten Hinblickens auf die Gegenströmung des Persönlichkeitsdranges. Denn wie sollte sie ohnedem die notwendige Auseinandersetzung mit dem Führertum und Führergedanken, deren Losungen sie doch in ihren Gesellschaftsplan einbegreifen will, für ihr werktätiges Wollen und Schaffen durchführen können. Wenn nun in diesen letzten Darlegungen das Verhältnis des Ichs zum Anderen von der tiefer gelagerten und weiteren Ebene des Gegensatzpaares Ichtrieb und
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Hingabetrieb auf die andere des Polpaares Persönlichkeits- und Gemeinschaftsdrang übergeleitet wurde, *o wird notwendig, auf einige der zwischen beiden Gegensatzbeziehungen bestehenden Unterschiede hinzuweisen. Zunächst leuchtet ein, daß der an sich allgemeine Gegensatz zwischen Ich- und Hingabetriei sich dem allgemeineren Bedürfnis der Sittenlehre besser anpaßt als der begrenztere Gegensatz zwischen Persönlichkeits- und Gemeinschaftsdrang, der, der Gesellschaftsseelenkunde entstammend, zunächst für deren Anforderungen geformt ist. Doch nur zunächst, nicht ausschließlich, da ein Hinübergreifen insbesondere des Gemeinschaftsdranges in das an sich begrifflich weitere Gebiet der Sittlichkeit in mehr als einem Betracht gegeben ist. Denn so gewiß der Gemeinschaftsdrang nur eine Sonderform, eine durch Ausgliederung — Differenzierung — entstandene Untergattung des Hingabetriebes ist, so gewiß fügt sie durch die eigentümlichen Daseins- und Gefügebedingungen ihres Baues doch auch besondere, dem Zweck und der Ausführung nach eigengeartete Anforderungen an den Einzelnen hinzu, die ihrerseits zwar auch in den weiteren Umfang des Hingabetriebes gehören, die aber von ihrem besonderen Wesen her Regelungen des Lebens wollen, die an sich nicht jeder Form des Hingabetriebes entspringen. Der Hingabetrieb hat — um zu einer kürzesten Formelgebung vorzudringen — seinem Gegenstand nach etwas durchaus individualistisches, vereinzelndes, ja, man ist versucht zu sagen atomisierendes, zersplitterndes an sich: er denkt, wie er von einem Einzelnen, dem Ich ausgeht, wiederum an einen Einzelnen:
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den Anderen, wie die Wissenschaft, den Nächsten, wie es höchst anschaulich die Sittenlehre des Neuen Testaments ausdrückt. Die alte Schulsprache, die für dieses Begriffspaar Egoismus und Altruismus einander gegenüberstellt, ist hier von eigens scharf begrenzender Ausdruckskraft, insofern sie in dem »alter« wie wegweisend der Einzelgestalt des Ich eine zweite Einzelgestalt gegenüberstellt. Wenn aber an die Stelle der Bezeichnung des Hingabetriebes die andere de* Gemeinschaftsdranges gesetzt wird, so wird damit, von allen sonstigen Sinnveränderungen abgesehen, der Träger dieser Antriebsform aus einem Einzelnen in eine Mehrzahl und zwar in eine zu einer Körperschaft zusammengeschlossene Mehrzahl von Einzelmenschen verwandelt. Damit aber werden, wie leicht verständlich ist, auch die sittlichen Eigenschaften und Wirkungen dieser gesellschaftsseelischen Geschehensform verändert. Es ist nicht mehr Wohl und Wehe eines Einzelnen, eben des Anderen, das hier als treibende Ursache wie als zielsetzender Zweck in den Vordergrund geschoben wird, sondern dasjenige einer Menschengruppe, eben der Gemeinschaft, die als verursachender Träger wie als zwecksetzender Gegenstand des Gemeinschaftsdranges angenommen wird. Es ist höchst bezeichnend, daß in der christlichen Sittenlehre der an sich individualistische Begriff der Nächstenliebe, in den meisten weltlichen Sittlichkeitsanschauungen dagegen der körperschaftliche Begriff des Gemeinschaftsgefühls überwiegt. Kann so der Gemeinschaftsdrang zwar als eine Unterform des Hingabetriebes aufgefaßt werden, so ist doch in ihm ein Bestandteil enthalten, der sich wie ein Zusatz ausnimmt, insofern aus ihm Wirkungen sich ent-
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binden, die noch einen anderen seelischen Quell haben als den reinen Hingabetrieb. Denn wenn schon in dem Namen Gemeinschaftsdrang dieser Zusatz sich geltend macht, so geschieht das vornehmlich um deswillen, weil mit dem Wortteil Gemeinschaft nicht nur ein Zweck des Gesamtbegriffs, sondern auch ein Ursprung von ihm gekennzeichnet werden soll. Mit anderen Worten: wenn der Antrieb, den das seelische Verhalten einer Gruppe von Menschen erhält, zwar im allgemeinen als Hingabetrieb angesehen werden kann, so wird dadurch, daß er als Gemeinschaftstrieb abgestempelt wird, dargetan, daß er nicht als eine Summierung von Einzelhingabetrieben, das heißt also von den in jedem Einzelglied der Gruppe wirksamen Triebfedern, angesehen werden soll, sondern als eine Triebkraft, deren Inhaber und Träger die Gesamtheit der Gruppe ist. Die Gruppe hat aber als Gemeinschaft Zwecke und Betätigungsformen, die sich durchaus nicht mit jener Summierung von Einzelhingabetrieben decken, sondern über sie hinausreichen. Selbst gesetzt den Fall, daß die Hingabetriebe, die den einzelnen Gliedern einer Gruppe innewohnen, eine ihnen allen gemeinsame Richtung einschlügen, so würde doch aus ihrem Zusammenwirken ein Weiteres, Neues entstehen, das erstlich mehr, zum zweiten aber auch ein Besonderes, Anderes darstellen würde. Zunächst also würde aus der Verflechtung der an sich vermutlich zumeist voneinander abweichenden Einzelantriebe — auf deren Formenlehre hier nicht weiter eingegangen werden soll — jenes Weitere und Neue des Gesamtantriebes der Gemeinschaft entstehen. Ferner aber, und dies ist in dem hier verfolgten Ge-
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dankengang weit wichtiger, muß aus dem Zusammenklang aller Einzelantriebe der Glieder ein Insgesamt entstehen, das nicht nur eine Zusammenzählung, eine Addition dieser Einzelantriebe darstellt, sondern gemäß seinem Wesen nach Zweck und Betätigungsformen ein Weiteres, Stärkeres, jedenfalls aber Anderes bedeutet. Der Kerngedanke der Gemeinschaft will Zusammenschluß und gegenseitige Anpassung aller Glieder einer Gruppe und damit zwar auch eine Art von Hingabe, aber mit der Sonderabsicht, daß ein Kollektivinteresse, ein Gesamtheitszweck geltend gemacht wird, der, an sich auf anderer, höherer Ebene sich vollziehend, Anderes und, wenn man will, Höheres, Weiteres bewirken will. Nicht die Einzelweisen oder gar die Einzeltöne der Glieder werden zu diesem Orchester, diesem Tonwerk zusammengefaßt, sondern Tonverstärkungen, aber auch Ton verschlingungen, ja man möchte sagen Melodien kommen zustande, die in dem unverbundenen Nebeneinander jener Einzelweisen der Einzelglieder nie hätten entstehen können. Es ist die besondere Art von Gefühlsmäßigkeit, auf die als Wurzel die Gesamtheitsregungen zurückgehen, die eine Anzahl von lebensmäßig verbundenen Menschen zu einer Gemeinschaft zusammenschließen. Es ist möglich, jede Gemeinschaft als einen Liebesverband, genauer gesagt, als einen Neigungsverband zu bezeichnen, nur muß dabei von vornherein der Vorbehalt gemacht werden, daß dieser gefühlsmäßige Antrieb nach mehr als einer Seite auch in ganz anders geartete Formen seelischer Verursachung übergehen kann. Der nüchternen Sehweise unserer eigenen Zeit mag freilich der polar entgegengesetzte Ausgangspunkt
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näher liegen: der Gedanke, daß jede Gemeinsamkeit in irgend einem Tun aufgesucht und aufrechterhalten wird um des Nutzens willen, den solche vereinte Arbeit jedem, der an ihr teilnimmt, bringt. Diese rein verstandesmäßige Erwägung mag zu allen Zeiten geholfen haben, Gemeinschaft herbeizuführen; sie mag auch in den Zeitaltern schon längst durchgesetzter Eingewöhntheit an wirkender Kraft überwogen haben. In den Anfängen aller Gemeinschaftsbildung aber haben sicher die Gefühlsmächte eines bewußten oder noch öfter und stärker eines unbewußten Geeintseinwollens als die dumpferen und ursprünglicheren den Vorrang gehabt. Nahe-sein-wollen mit den nächsten Lebensgenossen muß die am mächtigsten sprudelnde Quelle dieser rein empfindungsmäßigen Seelenregungen gewesen sein. Als ein Hilfsmittel muß von den frühesten Anfängen an das Gleich-sein-wollen mit den Genossen einer Gemeinschaft gewirkt haben. Für die Durchsetzung von Übereinstimmungen aller Art — in Trachten, Waffen, Werkzeugen, Gebärden, Kunstgriffen, Festordnungen und Bräuchen jeder Gattung — die ein so wesentliches Mittel aller Entwicklung von Geist und Gesittung in der Richtung auf die Gemeinschaft gewesen ist, ist dieser einfachste Beweggrund sicher auch einer der mächtigsten gewesen. Dies sind Seelenvorgänge, die als reine Verursachungen gelten müssen; aber es ist Menschenart, daß auch Seelenzustände, die sich aus bestimmten Formen unseres Tuns als Wirkungen ergeben, uns zu Verursachern dieses Tuns werden. Alle jene Gemeinschaftshandlungen bringen Wohlgefühle, ja Wonnen im Einzelnen hervor und werden, wenn nicht als Zielvorstellungen und also bewußtermaßen, so doch als
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Wunschbilder, Lockungen und zum wenigsten unbewußte Antriebe wirksam sein. Viele Bestrebungen, die vornehmlich in den Anfangen der Gemeinschaftsbildung, in der Urzeit, darauf gerichtet sind, entweder eine alte Gleichförmigkeit gegen Neuerer aufrecht zu erhalten oder nach dem Vorgang eines schöpferischen Einzelnen neue Gleichförmigkeiten durchzusetzen, sind nicht eigentlich gegen oder für diese Neuerungen unternommen, sondern wollen geradezu nur die Gleichheit an sich. Gleich zu sein innerhalb einer Gemeinschaft wird schon an sich als Gewinn, ja als Glück empfunden, ganz ohne Rücksicht auf irgend welche Sachzwecke. Von dem gleichen Schrittmaß eines marschierenden Trupps und dem Gleichklang eines gesungenen Chorliedes bis zu der Begeisterung einer großen Volksversammlung und — höher — dem Schlachtruf einer zum Angriff vorgehenden Kriegerschar reichen die Erzeugnisse solcher starker Regungen einer Gemeinschaftsgesinnung, die an sich und durch sich selbst beglücken. So wild und ungezügelt namentlich in ihren Urzeitanfängen die kämpferischen Ausbrüche des Gemeinschaftsgeistes sein mögen, so dürfen sie doch nicht geringgeachtet werden: die Tiefe ihrer Leidenschaft und das Feuer ihrer Begeisterung mächen sie zu den erfolgreichsten Auswirkungen des unmittelbaren Gemeinschaftsgefühls. Der Zusammenschluß im Kampf bringt die engsten Formen der Bindung zwischen Gruppengenossen hervor; Not und Tod schmieden die eisernsten der Bande um Menschen. Aber was von Kämpf und Kampfgesinnung gilt, gilt auch von allen stilleren Gütern des Geistes und der
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Gesittung, auch von Recht und Sitte, Sprache und Kunst und vielen anderen: sie sind allesamt Bande und Preise, Anreize und Belohnungen des Gemeinschaftsdranges, können durch die Auswirkungen ihres ungehinderten Besitzes Wonnen des unzerstörten Zusammenschlusses hervorbringen und dann auch wieder im Fall der Gefährdung ihren Inhabern die größten Opfer, bis zu dem des Lebens, abverlangen. Was hier in der Seele des Einzelnen vor sich geht, wird sich nur selten genau umschreiben, umso eher aber erahnen lassen. Es findet hier nicht eine Überschreitung der Grenzen des Ichgefühls, sondern weit eher eine Ausdehnung des Herrschaftsbereichs dieses Ichgefühls statt. Am deutlichsten zeigt sich dieser Übergang am Beispiel der Familie: die Empfindungen, mit denen Eltern ihre Kinder, Gatten ihre Frauen umfassen, lassen ein ähnliches, nur noch stärkeres Hinausschreiten des Ichgefühls über die Grenzen seines Inhabers erkennen. Dazu aber gesellen sich die unendlich mannigfaltigen, doch auch unsäglich nachhaltigen Bestärkungen und Bestätigungen seines Selbst, seiner nach außen gewandten, aber auch im Innersten sich auswirkenden Wesenheit, die der Einzelne dadurch erfährt, daß er sich von Menschen seiner Art und Lebensform umgeben sieht. Sie alle, gleichviel ob es Hunderte, Tausende oder Millionen sind, lassen einen Widerhall seiner eigenen Leibes- und Seelenbeschaffenheit zu ihm zurücktönen. Sie gewähren ihm damit einen Kräftezuwachs, zum mindesten eine Erhaltung seiner Kräfte, da sie ihm nicht Veränderung oder gar ein Aufgeben seines Grundwesens zumuten, sondern es vielmehr hüten und pflegen. Von den elementarsten, 350
den äußerlichsten bis zu den innersten, zartesten Eigenschaften des Einzelichs erstreckt sich dieser Vorgang, und an ihm haben alle Glieder auch eines großen und zahlreichen Volkes teil, vom niedersten bis zum höchsten Rang: nicht Goethe noch Bach, nicht Luther noch Kant sind von ihm ausgeschlossen; sie sind vielmehr am stärksten an ihm beteiligt. Eine unsägliche Fülle von Verschiedenheiten aber ergibt sich für die Grade der Wirksamkeit, mit der Gemeinschaft und Gemeinschaftsgeist auf der einen Seite und Ichgefühl und Selbständigkeitsdrang des Einzelnen auf der anderen Seite aufeinander wirken. Schon der Umfang der Gruppen, die die Träger dieses Geschehens sind, läßt hierin die stärksten Abweichungen entstehen. Urzeitvölkerschaften, die schon zu einiger staatlicher Reife gediehen sind, aber auch bäuerliche Freistaaten der Mittelalterstufe, wie die Ost- und Westfriesen an der Wasserkante, die Waldstätte im hohen Gebirge Deutschlands, stellen die Fälle äußerster Verdichtung und damit des engsten Zusammenschlusses und des stärksten Gemeingefühls dar. Die so sehr viel umfassenderen und volkreicheren Volksreiche unserer Zeit können demgegenüber eben um ihrer Ausdehnung willen an sich nur ein geringeres Maß von staatlicher und seelischer Zusammendrängung aufbringen. Der Nationalismus der letzten anderthalb Jahrhunderte, der dieser geschichtlichen Gegebenheit mit dem stärksten Druck einer bewußt neuen völkischen Sittlichkeit entgegenwirkt, erscheint wie ein absichtlicher Gegenschlag gegen diese Auflockerung. Dazu aber kommt eine Hilfe vom Geist her, das Bedürfnis, aber auch die Möglichkeit einer steigenden Ausnützung der Errungenschaften und der Kräfte 35*
alles eigenen Schaffens f ü r die Bewußtwerdung der Besonderheit und Selbständigkeit dieses Schaffens und damit f ü r die Ausprägung des eigenen Volkstums. Hält sich solche Bewußtwerdung frei von R u h m redigkeit und Selbsttäuschung, so kann sie sehr Wesentliches nicht allein zur Befestigung der Eigenart, nein auch zur Vermehrung der inneren Werte des eigenen Volkstums beitragen. Aus welchen seelischen Bestandteilen u n d Einzelvorgängen sich n u n dieses Gemeinschaftsgefühl zusammensetzt, wird in jedem einzelnen Fall unendlich schwer sein festzustellen. Und es ist bezeichnend, daß heut, in einem Zeitabschnitt des heißesten Aufwallens vaterländischer Regungen, eine Frage nach dieser Zusammensetzung, die auf eine i m Sinne wissenschaftlicher Gesellschaftsseelenkunde ernsthafte Antwort dringen wollte, kaum irgend eine ausreichende Ausk u n f t erhalten würde. Nicht immer haben ja Erregungen, die auf das Leben in Staat und Gesellschaft den allerstärksten Einfluß ausüben, eine Erhöhung der geistigen Beschäftigung mit ihnen zur Folge. Ja man wird sagen dürfen, daß gefühlsmäßige Bewegungen fast in einem Gegensatz zur Wissenschaft stehen, daß sie gerade gar nicht einen Anreiz zu forscherlicher Vertiefung in ihr Wesen, ja eine Abwehr gegen sie in sich bergen. So stark die völkischen Empfindungen eben jetzt unser Volk bewegen, so schwierig würde es sein, bereits eine irgend zulängliche Analyse von ihnen zu geben. Ein stärkster Grund f ü r diese Erscheinung mag darin zu suchen sein, daß in dem vielförmigen Klanggefüge, als das sich das völkische Gemeinschaftsgefühl darstellt, ein Urton herauszuhören ist, der von allen der
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gewaltigste sein mag, aber zugleich der am schwierigsten zu umschreibende: es ist das ganz allgemeine Liebes- und Hingabegefühl, das die eigene VoLkheit umfaßt, aber mit einer so schwebend-unbestimmten, dunkel-tiefen Klangfarbe, wie sie sich sonst nur in dem Empfindungsbereich des Glaubens findet. Das eigene Volkstum wird als ein verehrungswürdiges, ja heiliges Herzensbesitztum empfunden, für das man ein Gefühl hegt, dem ähnlich, das der Gläubige vielleicht nicht für die noch höher verehrte Gottheit, wohl aber für seine Kirche, für die Gemeinschaft seiner Glaubensgenossen fühlt. Immer noch, wie auf den frühesten Stufen der Urzeit, gründet sich dies Gefühl am meisten auf die Wesensähnlichkeit, die den einzelnen Volksgenossen mit der Gesamtheit seiner Gemeinschaft verbindet; aber die Steigerung zur Weihe hat sich erst in dem Jahrhundert seit der Durchsetzung des Nationalismus vollzogen. Aus dessen Bewußtheit sind Erhöhungen und Verstärkungen einer ahnungsvollen Unbewußtheit aufgestiegen, die vor dem neunzehnten Jahrhundert noch nicht bestanden hatten. Teilerscheinungen ganz ähnlicher Art treten hinzu: die Stammesempfindung, die in Deutschland etwa die Niedersachsen, die Bayern, die Ostpreußen, die RJieinfranken mit einander verbindet, tritt in etwas an die Stelle des Volksgefühls, in etwas unterstützt, hebt, stärkt sie es. Die Gemeinschaftsbindung, die die stark ausgeprägten Stadtbürgerschaften zusammenschließt, ja noch das gleiche Gefühl, das bäuerliche Dorfschaften zu einer Einheit schmiedet, trägt und mehrt das völkische Empfinden. An der Verbundenheit der Familie endlich findet das völkische Bruderschafts2a
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gefühl sein geschlossenstes und, kernhaftestes Urbild, dort, wo es sich zu weiteren Gebilden entfaltet, wie in verzweigten Familienstämmen, selbst noch ein Wurzelgeschehen, das seine Säfte zu Stamm und Volk emporschießen läßt. Aus dem Dunklen ringen alle diese Kräfte ins Helle, aus dem Fühlen ins sicherste Handeln. Denn die letzte Zuspitzung zu Gegensatz, Streit und schließlich Krieg ist das Äußerste von Bewußtheit und Handeln, das es unter Menschen gibt. Aber auch die hellsten, klarsten Tätigkeiten und Fähigkeiten wandeln sich wieder rückwärts zu ahnungsvollem Sein und Tun und bewirken dann von dorther das völkische Streben und Tun aufs Neue. Alle Gesittung, alle Bräuche und Formen des geselligen Lebens sind erfüllt von volkstümlicher Besonderheit, waren es von jeher. In der steigenden Bewußtheit des letzten Jahrhunderts hat diese Volkhaftigkeit zwar vielleicht einige Verluste erlitten, insofern Bewußtheit und Wissenschaftlichkeit überhaupt den dunklen Kräften des Gemüts hier und da Eintrag tun; in der Hauptsache aber haben sich Nachdruck und Kraft der völkischen Besonderheit dieser Lebensäußerungen noch um vieles vermehrt. Von dem um seiner Verstandesmäßigkeit willen viel gescholtenen achtzehnten Jahrhundert wird auszusagen sein, daß es an Unbefangenheit und natürlicher Gewachsenheit vieles alt-überkommene Gut an Bräuchen und Sitten doch treu gehegt hat, das im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts durch dessen lässige und oft schlaffe Banalisierungen verlorengegangen ist; dann aber hat eine solche Fülle liebevoller Versenkung in das eigene Wesen eingesetzt, daß hier eine rückläufige Bewegung entstanden ist. Von ihr ist das
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neueste Geschehen seit 1933 nur die folgerichtige Fortsetzung, insofern es alle Glut seiner Begeisterung an die Belebung und Erneuerung dieser Volkstümlichkeit setzte, Die Freude der Jugend an Wandern und Naturgenuß eröffnete diese Wiederbelebung; der Nationalsozialismus hat sie unter die strenge Regel seiner Vorschriften gestellt; eine innerste Durchglühung mit Deutschtum und Volksmäßigkeit' ist das Ziel. Gerade die Vielfachheit und mannigfache Durchflochtenheit der hier zusammenwirkenden Seelenregungen mag die Festigkeit und die Wucht des hier zusammenschießenden Gemeinschaftsdranges, der au» den Quellen völkischer Gesinnung erfließt, bewirken. Die ganz einfache, noch fast biologische Liebe der Gleichgearteten zueinander, die ahnungsvollen, dem Glauben verwandten Stimmungen der Verehrung für die eigene Gemeinschaft, der Opferwille, zu dem sich die Empfindungen der Hingabe letztlich steigern, aber auch das aus tiefer Erkenntnis der eigenen Wesenheit geschöpfte Bewußtsein der geistigen, seelischen, sittlichen Gleichgerichtetheit, dies alles vermählt und vermischt sich zu einer neuen Form des Gemeinschaftsdranges, von der sich doch behaupten läßt, daß sie in dieser besonderen Art nie vorher dagewesen ist. Wer kraftvoll Partei zu ergreifen trachtet in allen Kämpfen, in die Welt und Menschheit uns verwickeln, wer sein Ich sicher gegen sie beide setzen will, und wer gar aus solcher Sicherheit die Folgerungen einer Lehre für sich und andere zu ziehen wagt, wird ohne Willkür und fast ohne es zu wissen dahin gelangen, nur das Bedürfen, wenn nicht des großen, so doch des starken
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Einzelnen ins Auge zu fassen. Er wird in aller Unberührtheit und aller Unbewußtheit des Ichtriebs nur das Begehren, das Vermögen des eigenen Lebens oder das der Gleich-, der Ähnlichgearteten, nicht das der Anders- oder gar Entgegengesetzt-Beschaffenen bedenken. Aber einmal muß er zu einem Punkt des Weges seiner Lehre gelangen, an dem er inne wird, daß dieses Verhalten einseitig und um seiner Einseitigkeit willen mißgetan ist. Ein äußerster Unterschied zwischen den Geboten muß anerkannt werden: andre Gesetze müssen für den Starken, andre für den Schwachen gelten. Denn da ja die Maße der in ihnen wohnenden Kräfte ebenso wie der ihnen zuwachsenden Aufgaben weit von einander geschieden sind, so kann ihr Verhalten auch nicht den gleichen Regeln unterworfen werden. Wo unterschieden werden soll, drängt uns eine natürliche Anlage gleichermaßen unseres Wollens wie unseres Erkennens dazu, die äußersten Gegensätze herauszutreiben und sie, sie allein, einander gegenüberzustellen. Der Geist der Zweiheit ist einer der stärksten von den Dämonen, die unser Leben und unser Denken beherrschen. Nietzsches großes Beispiel lehrt, trauervoll genug, zu wie riesenhaften Überhöhungen und zu wie unmäßigen Ungerechtigkeiten eine Gesellschaftslehre gelangt, die nur die Höchsten hier, die Niedersten dort kennt. Der Mißgriff der Wertungen entspricht hier nur dem Mißgriff der gedanklichen Ordnungen. Aber wie anders soll verfahren werden? Ein Blick auf die unabsehbare Fülle der Möglichkeiten der Kräfteverteilung an die Einzelnen läßt erkennen, daß dieser Gradezahl des wirk-
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liehen Lebens nur eine Fälle- und Formenlehre von ebenso unermeßlicher Vielheit der Zahlen gerecht werden könnte. Sie aber würde nicht allein das Erkenntnis- und Schilderungsvermögen jedes Forschers übersteigen, nein auch, viel schlimmer, die Übersehbarkeit dieser Wissensmassen ebenso wie ihre Anwendbarkeit für das Leben vereiteln. Zwei Auswege aus dieser Not bieten sich dar: als erster die Zusammenordnung der Kräfteunterschiede zu Gradgruppen, Gradschichten, Gradstufen. Aber so gewiß sie denkmäßig möglich ist, so gewiß erschwert der Widerstand aller Seelenverhalte gegen Bemessung und Bestimmung ein derartiges Unternehmen. Es ist durchführbar und rätlich, untere, mittlere und hohe oder untere, mittlere, hohe und höchste Grade gesellschaftlicher Selbständigkeit und Macht oder wirtschaftlicher Unabhängigkeit und wirtschaftlichen Einflusses zusammenzuordnen und zusammenzufassen; aber zwischen annähernd gleichen Kräftestufen sichere Grenzen zu ziehen, ist höchst schwierig. Und die Unsicherheit der Abgrenzungen stellt zugleich den Wert der auf sie aufgebauten Gradunterschiede in Frage. Gangbarer ist der zweite Weg, und er ist hier eingeschlagen worden; er bedeutet einmal die Absicht, nicht eigentlich die Pole, die Endpunkte der Stufenleiter, das Bedürfen des Stärksten hier, das des Schwächsten dort, sondern ihre letzten Abschnitte, die großen Gradgruppen der Starken und der Schwachen — also wohlgemerkt nicht die v i e l engeren der Stärksten und der Schwächsten — zur Grundlage der Beobachtung zu machen, und sodann den Plan, der natürlichen Gew a c h s e n h e i t und Mannigfaltigkeit des Lebens eine
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ähnliche Lockerheit und Ungefährheit der Erkenntnis entsprechen zu lassen. Die Starken machen unter den Menschen eine Vorhut aus, die in schiefer Schlachtordnung sich tief hineindrängt in das unvergleichlich viel größere Heer der Schwächeren, der Abhängigen, der in irgend einem Sinne Zugehörigen und, wenn man will, Hörigen. Diesem Ineinandergreifen der beiden Ordnungen von Einzelnen, derer, in denen der Drang zur Unabhängigkeit und derer, in denen das Bedürfnis der Anlehnung überwiegt, mußte, wie jede Betrachtung, die dem Leben nahe bleiben will, so auch die hier angestellte sich anpassen. Sie mochte zuweilen nur an die Stärksten, die Schöpferischen denken, wenn sie von Starken sprach, und zuweilen an die weit größere Zahl derer, die, wenn nicht ursprünglich, so doch selbständig zu sein und zu wirken trachten; sie mochte einmal den Genius, einmal den Starken ins Auge fassen. Und sie hat im gleichen Sinne unter den Schwachen oft die völlig Abhängigen, die Schutz- und Leitungsbedürftigen verstanden, oft aber auch die, denen gute Kräfte verliehen sind, die sie aber doch nur in den Formen der Gemeinschaft zu voller Auswirkung bringen können. Leidenschaftlich wurde das Glück des Schaffens gepriesen. Es ist die bewegende Macht, es ist Heil und Sonne unseres Lebens. Aber es gibt ein Wohlgefühl, das aus ganz entgegengesetztem Verhalten erwächst: die Freude an Nachfolge und Gehorsam, am gewiesenen Werk, am erfüllten Befehl. Sie hat seit Beginn aller Menschheitsgeschichte die Millionen beseligt, während nur die Hunderte von Schaffenslust und Schaffensleid wußten. Nachahmende und Dienen-
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de sind auch unter den Führern ganzer Zeitalter, ganzer Völker unsäglich viele in Wahrheit gewesen, während sie vorgaben oder wähnten, eigenes Werk nach eigenem Wink zu tun. Es ist eine Grundtatsache der Geschichte, daß sich die Menge und die Mittleren unter die Hohen und Höchsten gebeugt haben. Und so gewiß auch dieses Verhältnis auf der ebenso tiefen Verschiedenheit in der Verteilung der Kräfte unter den Einzelnen gegründet ist, so gewiß muß ihm auch eine Neigung zur Unterordnung, eine Freude an der Nachfolge von jeher Nahrung und Dasein gewährt haben. Denn dies ist vielleicht die köstlichste Gabe des Schicksals an uns Sterbliche, daß wir, was wir tun, was wir sind, uns zu Ruhm und Genuß umschaffen. Noch der Sklave des Orients, der den Staub zu den Füßen des Großkönigs küßt, kann höchste Lust an einer Handlung empfinden, die ein Starker nicht für den Preis seines Lebens begehen würde. Tief eingebettet in die Doppelseitigkeit, die Doppeldeutigkeit unseres Wesens ist diese Biegsamkeit, diese Wandelbarkeit. Sie ist in Wahrheit unser Erbteil, ist in Wahrheit menschlich. Denn auch der Stärkste, Höchste, Trotzigste ist dort, wohin sich seine Leidenschaft zu schaffen nicht richtet, geneigt, anzunehmen und nachgiebig genug nachzuahmen. Napoleon beugte sich unter die Vorschrift der Fest- und Trachtgebärde seines Zeitalters: David war in diesem Reiche der Kaiser und Napoleon sein Untertan. Keine Gemeinschaft, wie fest auch immer sie zur Genossenschaft zusammengeschmiedet sein mag, kann ihre Zusammengesetzheit aus Einzelnen im Grunde ihres Gefüges verleugnen. Denn nur die fest in sich
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beruhende, in Leib und Seele widerstandsfähige, sich selbst ernährende Selbständigkeit und Selbstgenügsamkeit des Einzelnen gibt die Bausteine und damit die Gewähr für die Sicherheit und die Dauerbarkeit des Gefüges der Gemeinschaft ab. Und so gewiß der Aufbau der Gemeinschaft des weiteren von der Verbindung und Verkittung der Steine und von Grundund Aufriß ihrer Zusammensetzung abhängt, die erste Anforderung an seine Sicherheit betrifft den einzelnen Stein, den einzelnen Menschen. Nur eines Augenblicks Länge soll freilich der Einzelmensch mit einem Baustein verglichen werden; denn es darf ja nur insoweit geschehen, als das Elementarste in seinem Wesen in Betracht gezogen werden soll, das heißt das Mindestmaß von Gleichförmigkeit, das in der Ordnimg der Gesellschaft der Schicht der Einfachst-Gebauten und ihnen allein zukommt. Des weiteren aber ist das Kennzeichnende für die Gliederung aller und auch noch der ganz dicht zusammengedrängten Gemeinschaften erstens, daß die Einzelnen, die sie bilden, einen gewissen Grad von Mannigfaltigkeit aufweisen, zum zweiten aber, daß, je höher aufwärts auf der Stufenleiter von Rang und Wert der Einzelglieder diese Mannigfaltigkeit emporführt, desto mehr Besonderheiten, desto mehr Unterschiedenheiten in Art und Form dieser Einzelglieder sich geltend machen. Es gibt auch in den Formen einfachster Gruppenbildung Wesensverschiedenheiten der Einzelnen in großer Zahl: Lebensalter und Lebensfähigkeit geben zu ihnen so viel Anlaß, daß von solcher Gruppe fast mit demselben Recht erklärt werden kann, sie setze sich aus verschiedenen wie aus gleichartigen Einzelwesen zusammen. 360
Soll über dies Verhältnis ein Allgemeinstes ausgesagt werden — an sich ein fast zu großes Wagnis —, so darf nur angenommen werden, daß die beiden Grundformen der Gleichartigkeit und Verschiedenheit und damit zugleich die des Strebens nach Übereinstimmung und Absonderung sich bis zu irgend einem durchsetzbaren Gleichgewicht von und gegen einander absetzen. Wenn es sich um letzte Formulierungen handelt und nur Tatbestände, nicht Forderungen gekennzeichnet werden sollen, so kann erklärt werden, daß von den beiden Strömungen, die so getrennt und oft so gegensätzlich zu einander wirken, die des Gemeinschaftstriebes denPersönlichkeitsdrang als Menschheitserscheinung überwogen haben muß. Ein Blick auf das Gefüge der Gesellschaft in allen Zeitaltern und bei allen Völkern lehrt dies. Wollte man den Aufbau der Gemeinschaft mit einiger Genauigkeit kennzeichnen, so müßte eine vollständige Formenlehre von ihr entworfen werden, was hier nicht beabsichtigt ist. Eine der möglichen Formen aber, in der die Gemeinschaft auftreten kann, soll des genaueren beleuchtet werden, weil sie für Bedürfnis und Forderung unseres gegenwärtigen Lebens eine Wichtigkeit erlangt hat, die ihr vielleicht noch nie beigewohnt hat: die Gefolgschaft. Wohl ist sie nicht ein Erzeugnis unserer Zeit, sondern eine Erneuerung sehr alter Einrichtungen, wiedergeboren aus einer romantischen Begeisterung für die germanische Urzeit; aber sie ist gerade in den Bezirken unseres öffentlichen Lebens, für die man sie mit eigenem Eifer hat verwenden wollen, alles andere als eine Wiederholung jener uralten Vorbilder geworden, sondern ein vollkommen neues Gebilde. 2+ Breysig
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Aus dem Bedürfnis der Gegenwart eine Formenlehre der Gefolgschaft abzuleiten, kann nicht der Zweck des hier verfolgten Gedankenganges sein, umso weniger als dies nur Sache einer praktischen, auf das werktätige Leben gerichteten Gesellschaftslehre sein kann. Wohl aber läßt sich der Kern dieser besonderen Form von Gemeinschaft herausstellen, der denn allerdings der Truppe von geschworenen Geleitmännern eines Fürsten des frühen germanischen Altertums oder schon der Ausgänge der germanischen Urzeit ebenso eigentümlich sein m u ß wie der Gruppe, die die Arbeiter eines großen oder schon eines mittleren Gewerbebetriebes nach den Vorschriften der heutigen deutschen Gesetzgebung bilden. Es ist lediglich die eine Baueigenschaft, die die Verfassungen beider zu einer höheren Einheit zusammenschließt: die Leitung durch einen Gebietenden und die Unterwerfung aller Glieder der Gemeinschaft unter seinen Willen. Daß in den alten Zeiten dieser Wille des Lenkers einen sehr viel größeren Bereich des Lebens umfaßte als heute, da er nur die berufliche, wirtschaftliche Tätigkeit der Geleiteten umschließt, bedeutet vielleicht einen geringeren Unterschied, als es auf den ersten Blick scheint: denn der heutige Arbeiter ist ja nur in einem bedingten Sinn lediglich als wirtschaftender Mensch in Abhängigkeit gebunden. Insofern er durch Lohn und Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt wird, ist er sehr tief, oft mit seinem vollen Dasein, an Lebensbedingungen gefesselt, die ihn ganz ähnlich zum Unterworfenen machen wie einst den alten Gefolgsmann. Und so darf denn die Legion von besonderen Unterschieden, die hier zwischen Gegenwart und Vorzeit
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aufklafft, ebenso übersehen werden, wie man unbesorgt den uralten Namen hat erneuern dürfen. Der Grundsatz der einheitlichen Leitung einer Gemeinschaft durch einen Lenker bleibt entscheidend. Von der tiefsten gesellschaftsseelischen Bedeutung ist der Übergang von Gemeinschaft zu Gefolgschaft ohnehin. Denn es wird hier ein Mischgebilde hergestellt, das in seiner Wesenheit die seltsamste, im Grundsatz vielleicht einzigartige Verbindung zwischen den an sich polar entgegengesetzten Bildungsformen gesellschaftlichen Verhaltens darstellt: zwischen Gemeinschaft und Persönlichkeit. Denn indem in der Gefolgschaft der Gliederzahl nach der Aufbau der Gemeinschaft beibehalten wird, nimmt die Verfassungsform der Lenkung durch einen Einzelnen dem Gebilde das Wesen oder wenigstens den größten Teil des Wesens seiner Bauformen. Das Gegeneinander der beiden großen Strömungen löst sich in solchen lebensstarken Verflochtenheiten zur Einheit auf. Nicht die Geschichte, aber das Leben dringt auf Wertsetzungen. Wenn hier versucht wurde, das Wirrsal des Geschehens der Menschheit in die Auswirkungen zweier bewegender Kräfte auseinanderzulegen, so geschah es in diesem Zusammenhange nicht allein um der Vergangenheit und ihrer Erkenntnis willen, sondern einmal, um die Bewegungsrichtungen zu begreifen, die der Entwicklung, der wir angehören, von lang her innewohnen und deren Kraft die Zukunft beherrschen wird. Nur aus solchen allgemeinsten und weitesten Beobachtungen der Vergangenheit lassen sich einige Schlüsse auf das Bild der Zukunft ziehen. Aber auch hieran ist noch nicht das meiste gelegen: denn das
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Leben fordert mehr von uns, als zu spähen, wohin uns der Strom der Zeiten wohl noch tragen mag. Es will, daß wir zu einem Urteil gelangen über Nutzen und Schaden dieser Bewegungsziele. Seit unser Geschlecht in einigen großen Führern sich zu dem Gedanken erhob, es könne sich selbst den Weg des Weiterschreitens bestimmen, wird es nicht ruhen, darüber nachzusinnen, in welcher Richtung es sich diese Bahn wählen soll. Dazu aber bedarf es der Abwertung der alten Wegleistungen. Wer kann hoffen, durch das Wort den Wirbel der Zeiten zu schwichtigen oder gar ihm die Richte zu geben? Nur der es wagt. Denn alles Reden, Mahnen der Schauenden wäre umsonst, geschähe es nicht in dem Sinn, daß Wort auch Werk bewirken könne.
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