Das Grenz- und Auslanddeutschtum: Seine Geschichte und seine Bedeutung [Reprint 2019 ed.]
 9783486753615, 9783486753608

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Das Grenzund Auslanddeutschtum seine Geschichte und seine Bedeutung von

Otto Boelitz Zweite durchgearbeitete Auflage

München und Berlin 1930 Druck und Verlag von R.Oldenbourg

Ms dem Vorwort zur ersten Auflage. Die Fragen des Grenz-*) und Auslanddeutschtums haben vor dem Krieg in weitesten Schichten unseres Volkes leider nicht die Beachtung gefunden, die sie hätten beanspruchen müssen. Manch schmerzvolle Erfahrung der Kriegszeit und das Friedensdiktat von Versailles mit seiner furchtbaren Grenzfestsetzung sind in dieser Hinsicht mahnende Wecker des Verständnisses für wichtigste Lebensnotwendigkeiten unseres Volkes geworden. Auf unserem verstümmelten Staatsgebiet lebt heute ein Volk, dem es von Tag zu Tag mehr zur Gewißheit wird, daß die Grenzen unseres Staates sich nicht decken mit den Grenzen unseres Volkstums. Stark regt sich allent­ halben das Verlangen, mit den Millionen Deutschen, die von dem Körper unseres Staates abgesprengt sind, und mit allen den Deutschen, die hier in Europa und drüben über See in der Zerstreuung leben, in lebendigster Fühlung zu sein und mit ihnen das große unsichtbare Reich des deutschen Geistes zu bilden. Mit Recht haben deshalb die Schulverwaltungen aller deutschen Länder dar­ auf hingewiesen, daß dem Grenz-und Auslanddeutschtum schon in der Schule eine bessere Behandlung zuteil werden müsse, als es früher möglich war. Große Aufgaben fallen hier dem Geschichtsunterricht, dem deutschen Unterricht und der Unterweisung in der Erdkunde zu. Zur Unterstützung dieser Aufgaben mag dieses Buch dienen, das eine Lücke ausfüllen soll, die oft und schmerzlich empfunden worden ist. Daneben aber soll es allen denen eine Hilfe und Stütze sein, die sich mit den Fragen des Auslanddeutschtums eingehender befassen wollen. Ihre Zahl ist in erfreulichem Wachsen begriffen. Da kann dieses Buch einen ersten Überblick über den Stand des Deutschtums in der Welt und über seine Geschichte gewähren. Aus langjähriger Tätigkeit im Ausland habe ich vieles schöpfen können, was mir für die Behandlung des Auslanddeutschtums von Wichtigkeit zu sein schien; und an dem Streben vor allem der Jugend, immer tiefer hineinzuwachsen in das Verständnis dieser brennenden Lebensfrage unseres Volkes, hat sich die Freude immer mehr entzündet, ein möglichst abgerundetes Bild des Lebens und Ringens der dreißig Millionen Deutschen außerhalb der Grenzen unseres Vaterlandes zu entwerfen.

Berlin, im August 1926.

Der Verfasser.

Wo nn folgenden von Grenzdeutschtum (oder Grenzlanddeutschtum) die Rede ist, ist nur an das Deutschtum jenseits oer neuen Grenzen des Deutschen Reiches und Deutsch-Österreichs gedacht: an das Grenzdeutschtum als Auslanddeutschtum int geschlossenen deutschen Sprach­ gebiet.

Vorwort zur zweiten Auflage. Daß schon so bald nach Erscheinen der ersten Auflage eine zweite Auflage des vorliegenden Buches sich als notwendig erwiesen hat, ist ein erfreuliches Zeichen für den Willen unseres Volkes, sich mit den Fragen des Grenz- und Auslanddeutschtums auseinanderzusetzen. Wohin wir blicken, sehen wir eine zunehmende Beschäftigung mit diesen Fragen, die heute zu Schicksalsfragen unseres Volkes geworden sind. Gleichzeitig hat auch eine vertiefende wissenschaftliche Arbeit, vor allem auf unseren Universitäten, eingesetzt; man versucht in erster Linie in der geographischen For­ schung mit großem Eifer, die feste wissenschaftliche Grundlage für eine gesicherte geographische Auffassung des Auslanddeutschtums zu schaffen. So ist in den letzten drei Jahren eine Reihe grundlegender Veröffentlichungen zu verzeichnen, die wert­ vollen Aufschluß über das Grenz- und Auslanddeutschtum geben. Ferner aber hat eine Kleinarbeit auch auf den entlegensten Gebieten des Auslanddeutschtums einge­ setzt, die Ergebnisse, welche bis vor kurzem als feststehend galten, schnell überholt hat. Daraus ergab sich auch für den Verfasser dieses Buches für die Neuauflage die Notwendigkeit, die einzelnen Kapitel nach den neuesten Ergebnissen der Wissenschaft durchzuarbeiten. Daß er dabei aus eigener Anschauung auf Grund einer mehrmonatigen Studienreise durch Brasilien, Argentinien, Uruguay und Chile gerade das Deutschtum dieser Länder eingehend studieren konnte, war nicht nur eine persönliche Bereicherung für ihn selbst, sondern bedeutet gleichzeitig eine wertvolle Ergänzung der bisher von ihm in der ersten Auflage dargelegten Ver­ hältnisse des Deutschtums in diesen Ländern. Die Anlage des Buches ist unverändert geblieben. Nur wenige Umstellungen waren erforderlich. Das Kartenmaterial ist von der Kartenabteilung des Deut­ schen Ausland-Instituts in Stuttgart, die unter der Leitung von Prof. Dr. Wun­ derlich steht, gänzlich neu entworfen und dem neuesten Stand der Erforschung des Deutschtums im Ausland angepaßt worden. Das Bildermaterial ist etwas ergänzt worden. Neu ist die Statistik über den gesamten Stand des Deutschtums in aller Welt am Schlüsse des Buches. Neu ist ferner der Literaturnachweis auf Seite 8 f. und am Schlüsse der wichtigsten Kapitel. Schließlich habe ich, mehrfachen Wünschen entsprechend, die bei der Beurteilung der ersten Auflage geltend gemacht worden sind, ein Register eingefügt. Dieses Register hat mein Mitarbeiter an dem meiner Leitung unterstehenden Jbero-Amerikanischen Institut Herr Dr. K. H. Panhorst angefertigt, wofür ich ihm auch an dieser Stelle meinen Dank ausspreche. Ferner danke ich auch diesmal Herrn Studien­ direktor Dr. Chudzinski, Berlin, für die freundliche Durchsicht der wichtigsten Kapitel des Buches und ganz besonders den Herren Prof. Dr. Wunderlich und Dr. E. Rüdiger vom Deutschen Ausland-Institut in Stuttgart sowie vielen Freunden daheim und jenseits der Grenzen unseres Vaterlandes für manchen wichtigen Wink. Nun möge das Buch weiter dem einen großen Gedanken dienen: die Ver­ bundenheit der Deutschen daheim mit den Brüdern und Schwestern in der Ferne immer tiefer und inniger zu gestalten. Berlin, den 1. Februar 1929.

Der Verfasser«.

Inhalt. Seite

Vorwort.....................................................................................................................................III Einleitung: Die Pflege des Auslanddeutschtums vor und nach dem Weltkriege ... 1

Erster Teil. Das fluslanööeutschtum im geschloffenen deutschen Sprachgebiet. L Im Westen. Das Deutschtum: 1. in Elsaß-Lothringen.......................................................................................... 2. in Luxemburg...................................................................................................... 3. in Eupen-Malmedy..........................................................................................

IL Im Norden. Das Deutschtum inNordschleswig..................................................... III, Im Osten. Die deutsche Sprachgrenze im Osten......................................................... Das Deutschtum: 1. in den an Polen abgetretenen Gebieten: a) in der Ostmark.......................................................................................... Anhang: die durch die Abstimmung geretteten Gebiete Ostpreußens b) in Schlesien: oc) in Niederschlesien............................................................................ ß) in Oberschlesien............................................................................... 2. in der Freien Stadt Danzig........................................................................... 3. im Memelland...................................................................................................... Anhang: das Deutschtum in Litauen............................................................ 4. in den an die Tschechoslowakei abgetretenen Gebieten: a) im Hultschiner Ländchen........................................................................ b) in den ehemalig österreichischen Gebieten Böhmens, Mährens und Schlesiens.............................................................................................. IV. Fm Südosten. Das Deutschtum: 1. in der deutsch-österreichischen Republik........................................................ 2. in den abgetretenen Gebieten von Kärnten, Steiermark und Tirol ... A nhang: Die deutschen Sprachinseln in Norditalien . . . ................... ,

10

19 21 24 31

34 42

43 43 48

50 53

55 57

67 72 81

V. Fm Süden. Das Deutschtum: 1. in der Deutschen Schweiz............................................................................... 2. in Liechtenstein..................................................................................................

82 87

Zweiter Teil.

Vas fluslanödeutschtum außerhalb der Grenzen des geschloffenen deutschen Sprachgebietes in Europa. I. Das Deutschtum in geschlossenen deutschen Siedlungen. ............................ 88 1. das Deutschtum in der östlichen Hälfte der ehemaligen Donaumonarchie mit. ihren Randländern: a) die Donauschwaben an der mittleren Donau: ................... «) im heutigen Ungarn di in Süds la nn en y) im heutigen Ruin än r e :• -n oic. Siebenbürger L'acbse"

90 94 9(5 97 09

VI Seite

2. 3.

4. 5.

c) die übrigen Deutschen in Großrumänien.................................................... 106 a) in Altrurnänien....................................................................................... 107 ß) in der Bukowina....................................................................................... 109 y) in Bessarabien........................................................................................... 110 das Deutschtum in der Slowakei undinKarpathorußland............................... 111 das Deutschtum in Polen........................................................................................... 113 a) in Kongreßpolen............................................................................................... 115 b) in Galizien........................................................................................................... 118 c) in Polnisch-Wolhynien....................................................................................120 d) in Preußisch-Polen (f. S. 34) e) in Oberschlesien (f. S. 43) f) im Teschener Gebiet........................................................................................122 das Deutschtum im Baltenland............................................................................... 122 das Deutschtum im heutigen Sowjetrußland.................................................. 129 a) die deutschen Kolonienan der Wolga................................................................. 130 b) die deutschen Kolonien im Schwarzmeergebiet........................................... 135 c) die deutschen Kolonienin Ukrainisch-Wolhynien ..................................... 138 d) die Deutschen in den kleineren deutschen Siedlungen und in den Städten Rußlands............................................................................................ 139 Anhang: die deutschen Siedlungen im ehemalig russischen Kaukasus­ gebiet und in dem asiatischen Sibirien: 1. die Kaukasusdeutschen........................................................................ 141 2. die Deutschen in Sibirien.................................................................... 143

II. DaS Deutschtum in den übrigen Ländern Europas......................................................144

1. in den nordischen Ländern: a) in Finnland........................................................................................................... 146 b) in Schweden, Norwegen und Dänemark................................................ 147 2. auf den Britischen Inseln........................................................................................ 149 3. in den Niederlanden.................................................................................................... 152 4. in Belgien....................................................................................................................... 153 5. in Frankreich................................................................................................................... 155 6. in Spanien................................................................................................................... 157 7. in Portugal................................................................................................................... 160 8. in Italien....................................................................................................................... 161 9. in Griechenland........................................................................................................... 163 10. in Bulgarien................................................................................................................... 164

Dritter Teil. Das fiuslanö-eutschtum in -en außereuropäischen Ländern.

A. DaS Deutschtum in Amerika. I. DaS Deutschtum in Nordamerika:

1. in den Vereinigten Staatenvon Amerika...................................................... 166 2. in Kanada...................................................................................................................... 187 3. in Mexiko...................................................................................................................... 190 II. Das Deutschtum in Mittelamerika und in Westindien................................................... 193 III.

DaS Deutschtum in Südamerika:

1. in den Nord- und Weststaaten ................................................................................. 195 a) in Venezuela........................................................................................................ 198 b) in Kolumbien........................................................................................................ 199

VII Seite c) d) 6) L)

in Ecuador..............................................................................................................200 in Peru...................................................................................................................... 200 in Bolivien.............................................................................................................. 201 in Chile.......................................................................................................................201

2. an der Ostküste Südamerikas: a) in Brasilien........................................................................................................208 b) in Argentinien....................................................................................................223 c) in Uruguay undParaguay.............................................................................. 229 B. DasDeutschtum in Asien................................................... 232

I. Das Deutschtum in den Gebieten der ehemaligen Türkei: 1. auf europäischem Boden, in Anatolien, Syrien und Mesopotamien. 233 2. in Palästina..................................................................................................................... 235 II. Das Deutschtum in China..........................................................................................................238

III. Das Deutschtum in Japan......................................................................................................... 242 IV. Das verstreute Deutschtum in den übrigen Ländern Asiens:

1. 2. 3. 4.

in in in in

Persien..........................................................................................................................245 Afghanistan..................................................................................................................245 Britisch-Jndien...................................................................................................... 245 Südostasien..................................................................................................................246 C. Das Deutschtum in Afrika.

I. Das Deutschtum in den ehemalig deutschen Kolonien....................................................247 II. Das Deutschtum in Ägypten

................................................................................................251

III. Das Deutschtum in der Südafrikanischen Union................................................................252 IV. Das verstreute Deutschtum in den übrigen TeilenAfrikas............................................. 254

D. Das Deutschtum in Australien und im Stillen Ozean.

I. Das Deutschtum in Australienund Neuseeland................................................................... 255 II. Das Deutschtum im Stillen Ozean......................................................................................... 259

Anhang....................................................................................................................................................261 Statistische Übersicht über die Zahl der Deutschen in der Welt ... 262 Register...............................................................................................................................................269 Bilderanhang............................. ...................................................................................1—36

Einleitung die Pflege -es ^uslan-öeutschtums vor und nach -em Weltkriege. Schon vor dem unglücklichen Friedensdiktat von Versailles (28. Juni 1919) hatte Deutschland eine Grenzführung, durch die viele Millionen deutscher Volks­ genossen (nahezu ein Viertel des nationalen Bestandes!) von der Teilnahme an dem geschlossenen Nationalstaat der Deutschen ausgeschlossen waren. Wir rechnen dazu freilich nicht die ursprünglich deutschen, heute holländischsprechenden Be­ wohner der Niederlande und die ebenfalls ursprünglich deutschen, heute flämisch­ sprechenden Bewohner Belgiens. Beide Staaten haben sich als zwischenstaat­ liche Neubildungen im Laufe der Zeit so gefestigt, daß sie ihre staatliche und — was wenigstens für die Niederlande zutrifft — auch ihre kulturelle Selbständigkeit in dieser Zeit erwiesen haben. Nur die Reichsdeutschen, die in diesen beiden Staaten durch Eintragung in die Register der deutschen Konsulate an der staatlichen Zu­ gehörigkeit zum Deutschen Reich bewußt festhielten, sowie die Deutschen im süd­ lichen Holland und an der Ostgrenze Belgiens, die im direkten Zusammenhang mit den Deutschen der Rheinprovinz standen, Pflegte man zu den Ausland­ deutschen zu rechnen. Im übrigen aber sahen wir alle diejenigen Deutschen, die jenseits der Grenzen des Deutschen Reiches lebten und die die Verbindung mit dem deutschen Volkstum nicht aufgegeben hatten, als Auslanddeutsche an. Wir halten an dieser Definition des Auslanddeutschtums auch heute noch fest und lehnen die immer wieder neu auftauchenden mannigfachen anderen Begriffs­ bestimmungen für das Auslanddeutschtum ab. Sie treffen das Wesen nicht; sie sind entweder zu weit oder zu eng gefaßt. Wir stellen den Jnlanddeutschen, die als deutsche Bürger innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches leben, die Ausland­ deutschen gegenüber, d.h.die jenseits der Grenzen unseres Staates lebenden Deut­ schen, die sich der kulturellen Zusammengehörigkeit mit dem Muttervolk noch bewußt sind und die diesen Zusammenhang zu wahren sich entschlossen haben. Sie alle sind Auslanddeutsche. Mögen sie Grenzlanddeutsche sein, die als politische Minder­ heit durch die Friedensverträge von Versailles und St. Germain vom deutschen Volkskörper staatsrechtlich gelöst sind und nun jenseits der Grenzen unseres Vater­ landes immer noch im geschlossenen deutschen Sprachgebiet leben, mögen sie Auslanddeutsche im engeren Sinne fein, die entweder in großen zusammen­ hängenden Siedlungen auftreten, die heute nicht mehr in direktem Zusammen­ hang mit dem deutschen Volks- und Kulturboden sieben, oder die verstreut in beBoelitz, Geschichte de5 Auslanddeulscutiiniv.

1

2 sonderen Wirtschafts- und Gewerbekolonien leben. Einen Unterschied hier zwischen Auslanddeutschen und „echten" Auslanddeutschen in dem Sinne zu machen, daß alle Deutschen im Ausland, die die eigentliche Reichszugehörigkeit bewahrt haben, als Auslandreichsdeutsche zu bezeichnen sind, erscheint unzweckmäßig, zumal diese beiden Gruppen von Auslanddeutschen „nur staatsrechtlich voneinander verschieden, räumlich nicht scheidbar" sind. Für uns sind alle Deutschen, die außerhalb des Verbandes des Deutschen Reiches im Ausland leben, Auslanddeutsche*). Zu diesen Auslanddeutschen rechnen wir — wie oben schon hervorgehoben — nicht die ursprünglich deutsch-, heute holländischsprechenden Bewohner der Nieder­

lande und auch nicht die Flamen Belgiens. a) Die heutigen Niederlande waren zusammen mit dem heutigen Belgien ursprüng­ lich deutsches Reichsgebiet; die Bewohner waren zum überwiegenden Teil Deutsche nieder­ deutscher Mundart. Nur im Süden des jetzigen Königreichs Belgien sprach man und spricht man noch heute das sogenannte Wallonische, einen romanischen Dialekt, der sich zur eigenen Schriftsprache nicht entwickelt hat. Alles dagegen, was nördlich der Linie Boulogne-Aachen wohnt, spricht flämisch in Belgien, niederländisch in Holland. Das Flämische wie das Niederländische haben sich beide aus dem Niederdeutschen entwickelt, sie ähneln sich sehr; in der Schriftsprache besteht kaum ein Unterschied. Die Trennung des flämischen Südteils und des niederländischsprechenden Nordteils dieses niederdeutschen Sprachgebiets ist eine Folge der Glaubens- und Freiheitskriege aus der Mitte des 16. Jahr­ hunderts. Während sich das heutige Belgien mit seinem flämischsprechenden Teil 1579 vor Beendigung des Freiheitskampfes den Habsburgern wieder unterwarf und so das ganze Gebiet der neun südlichen Provinzen für den Katholizismus wiedergewonnen wurde, bildeten 1581 die sieben nördlichen Provinzen die Republik der Vereinigten Niederlande, die im Westfälischen Frieden die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit erlangten. Sie hielten fest am Protestantismus, den sie in ihren Glaubenskämpfen verteidigt hatten. Seit 1648 sind die Niederlande staatsrechtlich aus dem Verband des Deutschen Reiches ausgeschieden; sie haben seit dieser Zeit nie mehr eine Verbindung mit dem Reich gehabt. Die Grenze zwischen Deutfchland und den Niederlanden geht mitten durch ursprüng­

lich deutsches Land. Nie aber hat Deutschland die Niederlande als Grenzland angesehen; es hat dem selbständigen Staate stets die nachbarliche Achtung erwiesen, auf die es auf Grund eines jahrhundertelangen staatlichen Lebens Anspruch hat. Die Selbständigkeit der Niederlande prägt sich auch darin aus, daß die niederländische Sprache ihre Entwicklung zu einer eigenen Schriftsprache durchgemacht hat. Das niederländische Staatswesen seiner­ seits hat nie den Wunsch nach einem erneuten Eintritt in den Verband des Reiches geäußert. So sind die Niederlande mit ihren mehr als 7 Millionen Einwohnern ein selbständiger Staat. Ihre Bevölkerung rechnen wir nicht zu den Auslanddeutschen. b) In gleicher Weise haben wir nie die annähernd 4 Millionen germanischen Flamen Belgiens zu den Auslanddeutschen gerechnet. So sehr das deutsche Volk den Kampf, der stammesverwandten Flamen in Belgien um Gleichberechtigung der Sprache mit dem herrschenden Französischen immer mit Teilnahme verfolgt hat, so wenig hat es sich jemals in diese innerpolitifche Angelegenheit des belgischen Volkes gemischt. Wohl aber gehören zu den Auslanddeutschen alle die deutschen Volksgenossen, die schon vor dem Kriege außerhalb der Grenzen unseres Staates lebten, sich aber zur deutschen Volksgemeinschaft bekannten, und mit ihnen heute die, welche als treue Glieder unseres Volkstums neuerdings durch das Friedensdiktat von Ver­ sailles von uns getrennt sind. 1) Zu der Frage der Begriffsbestimmung des Auslanddeutschtums vgl.: Fittbogen, G.: Was jeder Deutsche vom Grenz- und Auslanddeutschtum wissen muß. München: Oldenbourg 1929. 6. Ausl. Rüdiger, H.: Zur politischen Geographie der deutschen Minderheiten in „Freie Wege vergleichender Erdkunde". München: Oldenbourg 1925. S. 104—117.

3 Das sind in erster Linie die mehr als 10 Millionen Deutsche, die in dem ehemaligen Herrschaftsbereich der österreichisch-ungarischen Monarchie leben, die vor dem Kriege in einem verhängnisvollen Gemenge mit Tschechen, Slo­ waken, Polen, Ruthenen, Magyaren, Italienern, Slowenen und Kroaten zusammengeschlossen waren. Heute sind sie durch die Machtsprüche der Friedens­ diktate von St. Germain und Trianon aufgeteilt auf die Nachfolgestaaten OsterreichUngarns, auf das neue Österreich, dessen deutsche Bewohner wir zu unserem Schmerze mit zu den Auslanddeutschen rechnen müssen, die Tschechoslowakei, Italien, Ungarn, Südslawien und Rumänien. Ferner rechnen wir zu den

Die Verteilung des Deutschtums über Mittel- und Osteuropa. (Vgl. die Übersicht im Anhang.)

Auslanddeutschen die Deutschen der Schweiz (2,9 Millionen), die Deutschen Luxemburgs (257000) und Liechtensteins (11000). Diese Deutschen haben trotz eigener Staatenbildung am deutschen Volkstum festgehalten: sie sprechen unsere Sprache und leben in deutschem Volksbewußtsein. Wenn ihre Sprache auch mundartlich ihre eigene Entwicklung gehabt hat, so ist die Schriftsprache doch unsere Sprache, und sie leben mit in der für uns alle gemeinsamen deutschen Kultur. Weiter kamen schon vor dem Kriege und kommen auch heute noch als Ausland­ deutsche alle die Deutschen in Betracht, die als Siedler in fremdem Volkstum eine neue Heimat gefunden haben, aber trotzdem ihrer Verbundenheit mit deutscher Kultur und deutschem Volksbewußtsein sich durch Erhaltung der deutschen Sprache und der deutschen Sitten bewußt sind, mögen sie in den großen europäischen Sied­ lungen wohnen, mögen sie über See unter fremden Zonen eine neue Heimat 1*

4 gefunden haben. Schließlich gehören zu den Auslanddeutschen auch alle die, die als Handwerker, Angestellte, Techniker, Ingenieure, Kaufleute, Ärzte, Geistliche, Lehrer, Gelehrte in die großen Handels-und Gewerbekolonien hier in Europa, vor allem aber auch über See gezogen sind und über die ganze Welt ver­ streut leben. Ihre Zahl ist, gemessen an der großen Zahl der Auslanddeutschen, die auf altem deutschen Volks- und Kulturboden wohnen, aber nun außerhalb des Ver­ bandes des Deutschen Reiches leben, und gemessen an der großen Zahl der Ausland­ deutschen, die in geschlossenen Siedlungen in Europa und über See wohnen, nur ganz gering. Ihre Bedeutung ist aber für den deutschen Handel und die deutsche Weltgeltung außerordentlich groß gewesen; ist es vor allem auch heute noch, wo wir in ihnen die besten Stützpunkte für die Wiederanknüpfung unserer Beziehungen zu fremden Völkern und Staaten sehen. Zu diesen Deutschen, die auch schon vor dem Kriege Auslanddeutsche waren, gesellt sich heute noch die große Zahl der Deutschen, die durch das Friedensdiktat von Versailles von uns gewaltsam getrennt worden sind. Es sind das alle die, die nach dem Verlust von Elsaß-Lothringen an Frankreich, durch die Abtretung Eupen-Malmedys an Belgien gekommen sind und die wir im Norden nach der Abstimmung in Schleswig an Dänemark verloren haben. Dazu kommen die gewaltigen Verluste im Osten durch die Abtretung des Memelgebietes und der Soldauer Ecke, durch Bildung der Freien Stadt Danzig und vor allem durch die preußischen Gebietsabtretungen an Polen, sowie die Zuteilung des Hultschiner Ländchens an die Tschechoslowakei. So stehen wir vor der erschütternden Tatsache, daß heute rund 30 Millionen Deutsche außerhalb unseres geschlossenen Nationalstaates leben, zum Teil in eigenen staatlichen Formen wie in Österreich, in der Schweiz, in Liechtenstein, Luxemburg

und Danzig, zum Teil als politische Minderheiten, die zwar die Staatsangehörig­ keit der Staaten besitzen, in denen sie leben, die aber den Zusammenhang mit dem Volke ihrer Abstammung treu bewahren und nach Sprache und Volksbewußtsein zu uns gehören, zum Teil verstreut über die ganze Welt, als Einzelpersonen oder in lose Gruppen zusammengefaßt. Diese Tatsache, daß neben den mehr als 60 Millionen Deutschen daheim 30 Millionen Auslanddeutsche stehen, erfordert unsere ganz besondere Aufmerksamkeit.

Leider fehlte im deutschen Volk vor dem Kriege das Verständnis dafür, daß sich die Grenzen des Deutschen Reiches nicht mit den Grenzen des deutschen Volks­ tums deckten. Das alte Römische Reich deutscher Nation hatte nahezu den ganzen geschlossenen Sprach- und Kulturboden Deutschlands in sich einbezogen, ja, es griff zeitweise darüber hinaus; das Bismarcksche Reich hatte sich nur auf einem Teil des deutschen Volksbodens aufgebaut. So verlor ein großer Teil unseres Volkes den Sinn dafür, daß deutsches Volkstum an den Grenzen des Reiches zum Teil in schwerem Kampfe um die Erhaltung der deutschen Kultur lag, es fehlte das rechte Verständnis für den unlöslichen Zusammenhang der Reichsdeutschen mit den Deutschen Österreichs; es fehlte auch das Verständnis für die Bedeutung des Auslanddeutschtums außerhalb der Grenzen des geschlossenen Sprachgebietes, hier

5 in Europa und draußen in aller Welt. Die allgemeine Kenntnis vom Deutschtum machte Halt an den Grenzen des Reichs. Wir fühlten uns als machtvoller Staat unter dem Schutz des deutschen Heeres und der deutschen Flotte geborgen und überließen im übrigen die Beschäftigung mit den Sorgen der Deutschen jenseits der Grenzen privaten Vereinigungen, wie etwa dem Verein für das Deutschtum im Ausland*). Ja, selbst die Reichsregierung griff zunächst nur zaghaft die Auf­ gabe der Pflege des Auslanddeutschtums an. Kein Wunder, daß in manchen Deutschen jenseits der Grenzen im Kriege und noch mehr nach dem Zusammenbruch das Gefühl aufkeimte, daß nicht ohne Schuld der Heimat die Bande zerrissen worden seien, die eigentlich unauflöslich hätten sein sollen.

Die Fragen des Grenz- und Auslanddeutschtums waren dem jung aufstrebenden Reich keine Lebensfragen. Hier liegt ein schwerer Fehler der Vergangenheit. Aber die Friedensdiktate von Versailles und St. Germain haben bei all dem Furchtbaren, das sie uns gebracht haben, doch auch eine erfreuliche Wirkung gehabt: in dem Augenblick, wo eine brutale Grenzführung weite blühendste Teile deutschen Landes vom Mutterlande trennte und Millionen deutscher Staatsangehöriger in fremde Staaten eingliederte, als, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zum Hohn, Österreich der Anschluß an Deutschland verboten wurde, als wir sehen mußten, wie dem Deutschen in der Fremde, wo er immer war, ein Kampf um die Ehre des deutschen Namens aufgezwungen wurde, der geradezu Übermenschliches von ihm verlangte, da brach machtvoll die Erkenntnis durch, daß nun die Deutschen daheim in dem verstümmelten Staatskörper und die Deutschen jenseits der Grenzen in fremden Landen unauflöslich zusammengehörten. Es ist ein Stück Wahrheit in dem Satz: „Das deutsche Volk mußte den Krieg verlieren, um sein Volkstum zu gewinnen." Jetzt hat sich das geschlagene und geknechtete Volk auf seine stärkste Kraft besonnen. Nur dann, wenn wir in engster Verbundenheit mit den 30 Millionen Deutschen außerhalb der jetzigen Reichs­ grenzen gemeinsam an dem großen unsichtbaren Reich des deutschen Gedankens bauen, und wenn sich alle Deutschen als eine Geistes- und Kulturgemeinschaft fühlen, können wir die Hoffnung auf eine Zukunft des deutschen Namens haben. Dazu bedarf es aber der Kenntnis des Grenzlanddeutschtums und des Aus­ landdeutschtums. Und zwar nicht nur einer zahlenmäßigen. Wir müssen wissen, wie grausam und wie willkürlich im Laufe der Jahrtausende deutscher Geschichte Grenz­ führungen im Westen, Norden, Osten und Südosten unseres Vaterlandes deutsches Volkstum vom deutschen Staatskörper abgesprengt haben. Wir müssen die Sied­ lungskraft unseres Volkes in der mittelalterlichen Kolonisationszeit kennen lernen und sehen, wie es sich über die engen Territorialgrenzen ausdehnte und unter der Führung weitschauender Landesfürsten zum Träger deutscher Kultur wurde; wir müssen die Wanderungen verfolgen, an deren Ende sich deutsche Männer und deutsche Frauen in fremdem Land neue Stätten ihrer Arbeit schufen. Wir müssen die Gründe kennen lernen, die zu solchen Massenauswanderungen führten, und T) Der Verein für das Deutschtum im Ausland (Sitz Berlin) wurde im Jahre 1881 als Allgemeiner deutscher Schulverein begründet und heißt seit 1909 Verein für das Deutschtum im Ausland. Er hat sich die kulturelle Pflege des gesamten Auslanddeutschtums zur Aufgabe gesetzt und stellte 1927 mit seinen 24 Landesverbänden, mit seinen 2489 Ortsgruppen und mit seinen 4078 Schulgruppen die größte Organisation zur Pflege des Auslanddeutschtums dar.

6 wir müssen die Kräfte verstehen lernen, die sie befähigten, durch die Jahrhunderte hindurch deutsches Volkstum treu zu wahren. Wir müssen sehen, was Deutsch­ land seinen unermüdlichen Pionieren draußen in der Welt zu danken hat, denen der deutsche Handel gefolgt ist, und die auf schwierigstem Posten der deutschen Wirtschaft zur Weltgeltung verhalfen haben. Und das alles in engstem Zusammen­ hang mit der Kenntnis der Geschichte unseres Volkes. Sie soll uns zeigen, wie nicht nur schicksalhaft der Wandertrieb in unserem Volke gelebt hat, sondern wie auch immer die Not unserer Grenzen auf uns gelastet hat, wie verhängnisvoll eigne Ohnmacht und Schwäche uns immer dann im Wettkampf der Nationen ausgeschaltet hat, wenn die übrigen Völker des Kontinents im Erwerb glänzendsten Überseebesitzes Gebiete für den Überschuß an Menschen in ihren Ländern erlangten und den Reichtum der Welt in ihr Wirtschaftsleben einfluten ließen. Unser Auslanddeutschtum ist nur so zu verstehen. Seine Geschichte ist aufs engste mit der Gesamtgeschichte unseres Volkes verflochten. Die Geschichte unseres Volkes ganz zu erkennen, ist deshalb wichtigste Vorbedingung für die Kenntnis der Geschichte des Auslanddeutschtums selbst. Gerade in der Behandlung des Aus­ landdeutschtums begegnen wir heute vielfach einer völlig unhistorischen Betrach­ tungsweise, die den tiefsten Regungen der deutschen Volksseele, wie wir ihr jenseits der Grenzen unseres Staates begegnen, verständnislos gegenübersteht, weil sie sie nicht verstehen kann. Es muß zugegeben werden, daß nicht alle Verbindungslinien von unserer Geschichte hin zu ihrem Leben klar aufzuweisen sind und daß sich das Eigenleben der Deutschen, die nun in fremdem Volks­ tum vielleicht schon lange Jahrhunderte gelebt haben, oft schwer deuten läßt. Trotzdem ist es nur möglich, zu einer klaren Erkenntnis des Auslanddeutschtums vorzuschreiten, wenn wir es immer im Zusammenhang mit dem Werden unseres Volkes betrachten. Gleichzeitig aber müssen wir mit der Erkenntnis der Geschichte und der Be­ deutung der Deutschen draußen das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben derjenigen Völker kennen zu lernen suchen, unter denen unsere Brüder und Schwestern heute leben, wo sie Wohnung, Arbeit und Brot gefunden haben. Manches, was uns in ihrem Leben zunächst fremd anmutet, ist nur zu ver­ stehen, wenn wir die Auseinandersetzungen unseres Volkstums draußen mit den Verhältnissen des Gastlandes, in dem sie wohnen, genau ins Auge fassen. Über manches denken wir vielleicht ganz anders, wenn wir uns die geistigen Kämpfe klar machen, durch die unsere Brüder und Schwestern da draußen hindurch gemußt haben, ehe sie die Kraft der Selbstbehauptung und damit die Kraft der Erhaltung deutschen Volkstums innerlich gewonnen hatten. Nur so kann aus der Kenntnis des Auslanddeutschtums das Verständnis für deutsches Volkstum, für seine hohe wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung und für unsere Arbeit im Dienste des Gedankens des Auslanddeutschtums erwachsen. Und an diesem Verständnis allein kann sich die sittliche Kraft entzünden, die, von der Notwendigkeit eines starken, uns alle verbindenden Volksbewußtseins ausgehend, die Deutschen auf dem ganzen Erdball zusammenschließt zu der großen, über hundert Millionen zählenden Gemeinschaft des deutschen Volkes. Steht erst diese Gemeinschaft so fest in sich geschlossen da, daß jedes Glied das andere stützt, wir in der Heimat unsere Brüder draußen und die Deutschen

7 jenseits der Grenzen unseres Staates uns daheim, dann wird der nationale Wille eines Hundert-Millionen-Volkes auch über die Trübsal der letzten Jahre einer besseren Zukunft entgegenschreiten.

So hat jeder Deutsche heute in der Frage des Auslanddeutschtums eine hohe sitt­ liche, nationale und kulturelle Verpflichtung. KennMis des Auslanodeutschtums, Wirken für das Auslanddeutschtum ist heute zur staatspolitischen Aufgabe eines jeden geworden. Erfreulich ist es, daß diese Aufgabe immer mehr erkannt wird und so zu dem bestehenden Verein für das Deutschtum im Ausland heute noch eine Reihe von Vereinigungen und Instituten getreten ist, die diese Aufgabe der Verbreitung der Kenntnis des Aus­ landdeutschtums, der Anknüpfung und Vertiefung der Beziehungen zwischen den Deutschen jenseits der Grenzen und uns daheim mit Hingabe angefaßt haben. So zunächst Der deutsche Schutzbund für das Grenz- und Auslanodeutschtum (gegründet 1919). Er stellt einen Zusammenschluß der verschiedensten Verbände dar, die auf dem Gebiete des Schutzes der gefährdeten Volksgenossen arbeiten. Er hat hervorragende Verdienste um die Deutschtumspolitik an unseren Grenzen. Zwei wertvolle Veröffentlichungen Band 1 und 2 der „Bücher des Deutschtums" (für den Deutschen Schutzbund herausgegeben von v. Loeschft) führen vorzüglich in die Arbeit des deutschen Schutzbundes ein. Ferner verdient besondere Erwähnung Der Bund der Ausländsdeutschen (gegründet 1918), der die Deutschen im Ausland, soweit sie Reichsdeutsche sind, zusammenfaßt und eine Jnteressentenvertretung aller derer bedeutet, die durch feindliche Maßnahmen während des Krieges Schaden erlitten haben. Ergibt eine eigene Zeitschrift heraus, die „Auslands warte".

Neben diesen Vereinen und Verbänden arbeitet heute bereits eine ganze Anzahl von Instituten und Forschungsstätten an der wissenschaftlichen Durchforschung des Auslanddeutschtums und zugleich an der Aufgabe, das Auslanddeutschtum in leben­ digen Zusammenhang mit der Heimat zu bringen. Erwähnt sei vor allem: 1. Das Deutsche Ausland-Institut in Stuttgart (gegründet 1917), mit seinen trefflichen Einrichtungen (Bücherei, Archiv, Karten- und Bildabteilung, Museum und Ausstellungen, Auswandererberatungsstelle, Auskunfts- und Vermittlungsstelle, Rechtsabteilung) und seiner Zeitschrift „Der Auslanddeutsche" (XII. Jahrg. 1929), Halb­ monatszeitschrift für Auslanddeutschtum und Auslandkunde, seiner wöchentlichen Presse­ korrespondenz, seinen Buchveröffentlichungen (ca. 30 Bände) und Bildabreißkalendern und seinem ausgedehnten Vortragswesen. Das Deutsche Ausland-Institut ist heute zur unentbehrlichen Forschungsstätte und Vermittlungsstätte von Auslanddeutschtum und Heimat geworden. Es hat ein eigenes Haus, „Das Haus des Deutschtums". 2. Das Institut für Auslandkunde, Grenz- und Auslanddeutschtum in Leipzig, das von Dr. Hugo Grothe 1914 gegründet wurde, und von ihm geleitet wird. Es ist hervorgegangen aus der Ausstellung „Deutsches Geistesleben und Deutschtum im Ausland", die im Jahre 1914 in Leipzig innerhalb der Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik errichtet war. Das Institut besitzt ein Museum, ein Archiv, eine Bücherei und eine Auskunftei und gibt eine eigene Zeitschrift heraus „Deutsche Kultur in der Welt", ferner die „Schriften des Instituts für Auslandkunde und Auslanddeutschtum". Seit 1927 besteht auch eine von Dr. Hugo Grothe geleitete Deutsche Zentralstelle für Wan­ derungsforschung in Leipzig, die eine Zeitschrift herausgibt, „Archiv für Wanderungs­ wesen". 3. Das Institut für Grenz- und Auslanddeutschtum an der Universität Marburg (gegründet 1918), verbunden mit deutscher Burse (Heim für studierende Aus-

*) Bd. 1: Volk unter Völkern. Breslau: Hirt 1925. 453 S.; Bd. 2: Staat und Volkstum. Berlin: Schutzbundverlag 1926. 798 S.

8 landdeutsche). Vgl. über die Einrichtung die Broschüre von Professor Dr. I. W. MannHardt, Marburg 1927, mit Ausführungen über 1. zehn Jahre Auslandstudium und Aus­ landdeutschtum in Marburg, 2. die deutsche Burse zu Marburg, Idee und Gestalt, 3. den Einbau der Lehre vom Auslanddeutschtum in die Hochschule. 4. Das Institut für Statistik der Minderheitsvölker an der Universität Wien (gegründet 1921/22), das unter Professor Dr. Wilhelm Wincklers Leitung steht und neben einer Reihe wissenschaftlicher Veröffentlichungen das wertvolle Statistische Handbuch für das gesamte Deutschtum (1927) herausgegeben hat. 5. Die Forschungsstelle für Auslanddeutschtum und Auslandkunde, be­ gründet von Professor Dr. Georg Schreiber in Münster (eröffnet 1927). Sie verbindet und bearbeitet zwei wissenschaftliche Gebiete, die oft isoliert betrachtet wurden, einmal das Auslanddeutschtum unter besonderer Berücksichtigung seiner kulturellen Aufgaben und zum anderen die Auslandkunde, in der die Kulturkunde des Völkerbundes stärker her­ ausgearbeitet wird. Dem Zwecke literarischer Veröffentlichungen dient die Schriftenreihe „Deutschtum im Ausland". 6. Die Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und zur Pflege des Deutschtums, Deutsche Akademie" (gegründet in München 1925). Die Akademie arbeitet nicht ausschließlich für die Erforschung und Pflege des Auslanddeutschtums, sondern des Deutschtums überhaupt. Daneben läßt sie sich vor allem auch die Aufklärung (Kulturpropaganda) unter fremden Völkern angelegen sein. 7. Institut für Grenz- und Auslandstudien in Berlin-Steglitz, Leiter Dr. Max Hildebert Böhm, mit einem eigenen Haus (seit 1928). Das Institut ist gleich­ zeitig ein Heim für junge deutsche Akademiker, deren Ausbildung in Grenz- und Ausland­ fragen es sich in erster Linie widmet. Räumlich mit dem Institute verbunden ist der Aus­ schuß für Minderheitenrecht. Neben diesen Instituten haben besondere Bedeutung die wichtigsten konfessionellen Vereine für das Deutschtum und Auslanddeutschtum: 1. Der Gustav Adolf-Verein in Leipzig (gegründet 1832) zur Betreuung der evangelischen Diaspora, 2. der Evangelische Hauptverein für deutsche Ansiedler und Auswan­ derer in Witzenhausen, 3. der Raphaelsverein zum Schutze katholischer deutscher Auswanderer (gegründet 1871), 4. das Katholische Auslandssekretariat (gegründet 1921), seit 1925 in Berlin und verbunden mit der Geschäftsstelle des Reichsverbandes für die katholischen Ausland­ deutschen (gegründet 1918).

Unter der Fülle der Literatur, die sich mit dem Grenz- und Auslanddeutschtum befaßt, sei nur auf die wichtigsten Werke hingewiesen, die in zusammenfassender Beurteilung das Deutschtum im Ausland bearbeiten: 1. 1. Handbuch des Deutschtums im Ausland nebst einem Adreßbuch der deutschen Auslandschulen. Herausgegeben vom Allgemeinen Deutschen Schulverein zur Erhaltung des Deutschtums im Auslande. Berlin 1906. 2. Aufl. 2. Verein für das Deutschtum im Ausland. Jahrbuch für 1922. Berlin 1921. 3. Jahrbuch des Vereins für das Deutschtum im Ausland. Ausgabe 1926. Grothe, H.: Grundfragen und Tatsachen zur Kunde des Grenz- und Auslanddeutschtums. Dresden 1926. 4. Weck, H.: Das Deutschtum im Ausland. München: G. Müller. 1916. 3. Aufl. VI. 246 S. 5. Hoeniger, R.: Das Deutschtum im Ausland vor dem Weltkrieg. Berlin und Leipzig: Teubner. 1918. 2. Aufl. 131 S. (Aus Natur und Geisteswelt, Bändchen 402.) 6. Deutsche im Ausland. In Verbindung mit dem Verein für das Deutschtum im Ausland. Herausgegeben von Mohr, F. W., Schoen, L., Hauff, W. v. Breslau: Hirt. 1926. 2. Aufl. 328 S.

9 7. Fittbogen, G.: Was jeder Deutsche vom Grenz- und Auslanddeutschtum wissen muß. München und Berlin. 1929. 6. Ausl. 148 S. 8. Winkler, W.: Statistisches Handbuch des gesamten Deutschtums. Berlin: Verlag Deutsche Rundschau. 1927. LII. 704 S.

II. Ferner sind unentbehrlich für die vertiefende Kenntnis des Auslanddeutschtums die verschiedenen Schriftenreihen: 1. Schriften des Deutschen Ausland-Instituts, Stuttgart: Ausland und Heimat Verlag. Herausgegeben von Goetz, W., Sapper, K., Träger, P., Uhlig, C., Volz, W. Reihe A. Kulturhistorische Reihe, Reihe B. Rechts- und staatswissenschaftliche Reihe, Reihe C. Dokumente des Auslanddeutschtums, Reihe D. Biographien und Denk­ würdigkeiten, Reihe E. Wirtschaftswissenschaftliche Reihe. Bis 1928 lagen von der Reihe A 22 Bände, der Reihe B, C und D je 2 Bände vor. Stuttgart 1917 ff. 2. Deutschtum und Ausland. Studien zum Auslanddeutschtum und zur Aus­ landkunde. Herausgegeben von Schreiber, G., Münster: Aschendorff. Von dieser Schriftenreihe lagen bis zum Jahre 1928 im ganzen 20 Hefte vor. 3. Taschenbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums. Herausgegeben von Loesch, K. C. v. Heft 1—45. Berlin: Schutzbund-Verlag. 1925—1927. 4. Das Grenz- und Auslanddeutschtum. Vorträge der akademischen Orts­ gruppe des Vereins für das Deutschtum im Ausland, München. Herausgegeben in deren Auftrage von Nawiasky, H. Heft 1—7. München: Pfeiffer. 1922—1926. III. Schließlich sei verwiesen auf drei Schriften, die in die Literatur über Grenzund Auslanddeutschtum einführen: 1. Das Deutschtum im Ausland. Eine systematische Zusammenstellung der im Gesamtkatalog der Preußischen wissenschaftlichen Bibliotheken verzeichneten Schriften 1900—1923. Berlin: Preuß. Staatsbibliothek. 1925. X. 168 S. 2. Fittbogen, G.: Wie lerne ich das Grenz- und Auslanddeutschtum kennen? München und Berlin: Oldenbourg. 2. Aufl. 1927. 82 S. 3. Wichtige Bücher für das Auslanddeutschtum (1919—1929). Ein Ver­ zeichnis mit Angabe von Verlegern und Preisen. Zusammengestellt im Deutschen Aus­ land-Institut. Stuttgart: Ausland und Heimat Verlag. 2. Aufl. 1929. 51 S.

Die vorstehend verzeichnete Literatur ist bei den folgenden Darlegungen oft und dankbar herangezogen worden. Außerdem sind die „Erlebnisse und Erfahrungen in Selbstzeugnissen aller Welt" aus dem vom Verfasser dieses Buches gemeinsam mit vr. Franz Schmidt bei I. Beltz, Langensalza, herausgegebenen zweibändigen Werk: Schmidt, F.-Boelitz, O.: Aus deutscher Bildungsarbeit im Ausland, Langensalza 1927/1928, vielfach benutzt worden. Für alle die, welche den Fragen des Auslanddeutschtums in den einzelnen Ländern besonders nachgehen wollen, ist am Schluffe jedes bedeutenderen Abschnittes die wich­ tigste Literatur zur weiteren Vertiefung angegeben worden. Diese Angaben machen keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit; aber es sind meistens Werke gewählt, in denen zugleich eine ausführliche Literaturangabe über den behandelten Gegenstand einzusehen ist.

Erster Teil.

Das /luslanüüeutschtum im geschlossenen deutschen Sprachgebiet.

I. Jm Vesten. 1. Das Deutschtum in Elsaß-Lothringen. 1. Das Unrecht Frankreichs. Die erste schmerzliche Enttäuschung, die Deutsch­ land nach dem Waffenstillstand vom November 1918 erleben mußte, war die so­ fortige Besitzergreifung Elsaß-Lothringens durch Frankreich, der dann in den „Friedensverhandlungen" die Abtretung der ehemaligen Reichslande ohne Ab­ stimmung folgte. Trotz der auf völliger geschichtlicher Unkenntnis beruhenden Äußerung Wilsons von dem „Unrecht Preußens an Frankreich vom Jahre 1871" hatte man in Deutsch­ land immer noch geglaubt, daß Wilson zu seiner Botschaft vom 8. Januar 1918 stehen würde, in der er den Grundsatz aufgestellt hatte, daß „fortan Völker und Provinzen nicht mehr von einer Staatshoheit zur andern verschachert werden dürften wie Sachen oder Spielsteine". Man traute seiner Botschaft, die ausdrück­ lich proklamiert hatte, daß jede Gebietsfrage nach den Prinzipien des Volkstums und nach dem Willen der Beteiligten Bevölkerung, nicht als ein Ausgleich im Macht­ kämpfe von Staaten geregelt werden solle. Die durch Artikel 51 des Friedensdiktats erfolgte Annexion Elsaß-Loth­ ringens bedeutete deshalb die schwerste Erschütterung des Glaubens der Friedens­ freunde an die Gerechtigkeit Wilsons. Wer indes Frankreichs Ostpolitik im Laufe der Jahrhunderte kannte, wußte, daß eintreten mußte, was nach der Waffenstreckung unvermeidlich war. Von insgesamt 1874014 Einwohnern, die im Jahre 1910, der letzten Zählung vor dem Kriege, gezählt worden waren, wurden 1634260 rein deutschsprechende Bewohner, d. h. 87,2% der Bevölkerung*), gegen das von Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, ohne daß man überhaupt an eine Volksabstimmung gedacht hätte, einem fremden Staatswesen einverleibt.

Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß das ganze Elsaß seiner Rasse, Sprache und Kultur nach urdeutsches Land ist und aufs engste mit den deutschen Nachbarn alemannischer Zunge zusammenhängt. An dieser Tatsache ändert auch der Umstand nichts, daß ein Bruchteil der Bevölkerung, der vor allem in einzelnen 9 Neben den 87,2% der nur deutschsprechenden Bevölkerung standen 10,9% nur französischund 1,6% nur italienischsprechende Bewohner.

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Vogesentälern seit alters wohnt, keltoromanischer Herkunft ist. Bei der letzten Zäh­ lung vor dem Kriege im Jahre 1910 sprachen im Unterelsaß 95,8%, im Oberelsaß 93% rein deutsch. Deutsch ist auch bis auf den der Festung Metz nach Westen

Elsaß-Lothringen, Sprachenkarte nach dem Stand vom Jahre 1910. vorgelagerten, aus militärischen Gründen 1871 einverleibten strategischen Streifen das fränkische Lothringen, das eng mit der mitteldeutschen fränkischen Be­ völkerung in der Pfalz und im Rheinland zusammenhängt. Im Jahre 1910 sprachen in Lothringen 73,5% deutsch, 22,3% französisch und 3,6% italienisch.

12 Es soll freilich nicht verschwiegen werden, daß die deutsche Bevölkerung ElsaßLothringens in den zwei Jahrhunderten französischer Fremdherrschaft vor allem unter der straffen zentralistischen Verwaltung des letzten Jahrhunderts rein äußer­ lich fast reibungslos in das französische Staatswesen eingeordnet worden war. Planvolle Französierung hatte kulturell — namentlich auf dem Gebiete des Schul­ wesens — das Werk zu vollenden gesucht. Da führte im Jahre 1871 der Waffen­ sieg Deutschlands das einst entrissene blühende deutsche Land rechtmäßig dem Deutschen Reiche wieder zu. Das war kein Unrecht Preußens an Frankreichs das war Wiedergutmachung eines Unrechts, das man an Deutschland begangen hatte, als man ihm zur Zeit seiner Ohnmacht seine Westmark geraubt hatte. Deutsch­ land hatte ein Recht auf die Reichslande, die dann in fast fünfzigjähriger er­ neuter Zugehörigkeit zum Reich einen neuen blühenden Aufschwung erlebten. Auf jeden Fall hatte es, nachdem dann im Jahre 1918 die Waffen der Welt gegen Deutschland entschieden hatten, ein Recht darauf, daß man den feierlich proklamierten Rechtsgrundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker auch auf das Reichsland anwandte, um seiner Bevölkerung Gelegenheit zu geben, die Ent­ scheidung über seine Zugehörigkeit oder zukünftige Gestaltung selbst zu treffen. Ob es sich für Deutschland entschieden hätte, wissen wir nicht. Sicher würde es sich nicht für Frankreich entschieden haben. Wahrscheinlich hätte es mit über­ wältigender Mehrheit die Autonomie verlangt, nach der bereits in den letzten Jahren vor dem Kriege der Wunsch in den Reichslanden immer lebendiger ge­ worden war. Elsaß-Lothringen würde als selbständiger Staat unter allen Um­ ständen den starken Zusammenhang mit deutscher Kultur und deutscher Sprache weiter gepflegt und sicher bewußt zum Ausdruck gebracht haben, daß seine Be­ völkerung auf altem deutschen Kulturboden eine große eigene Kulturaufgabe zu lösen habe und lösen wolle.

2. Die Loslösung vom Deutschen Reiche. Elsaß und Lothringen haben bis zum Jahre 1871 niemals eine politische Einheit gebildet. Sie müssen deshalb getrennt be­ trachtet werden. Das Elsaß ist nahezu 800 Jahre, vom Jahre 870 an, als es in dem Vertrage von Mersen (feierlich bestätigt 880 im Vertrage zu Verdun-Ribemont) mit dem östlichen Teil von Lothringen an Ludwig den Deutschen fiel, bis zum Jahre 1648 ununter­ brochen und in seinem ganzen Umfang deutsches Reichsgebiet gewesen. Es gibt kein deut­ sches Land, das enger mit der deutschen Reichspolitik zusammengehangen hat. Das Elsaß ist zuerst als ein Teil des Herzogtums Schwaben und, als die Staufer Könige wurden, in enger Verbindung mit dem salischen Gut der Staufer in dem Gebiet der jetzigen Rhein­ pfalz und Rheinhessens während des ganzen Mittelalters glänzendste Stätte deutscher Kultur gewesen. Freilich, schon lange bevor das Schicksal, das den Dreißigjährigen Krieg durch den Frieden von Münster und Osnabrück beschloß, auch über dieses Land entschied, konnte man nicht wohl von einem einheitlichen Elsaß als einem geschlossenen Gebiet im Verbände des Deutschen Reiches sprechen. Schon nach dem Sturz der Staufer verlor es seine Einheitlichkeit. Von nun an bestand es aus einer Vielheit von deutschen Gebieten, die den verschiedensten Reichsgliedern gehörten — vor allem den Habsburgern, die den Sundgau und die Landgrafschaft Oberelsaß und auch zwei Herrschaften im Unterelsaß besaßen —, im übrigen zahlreichen Reichsständen geistlicher und weltlicher Art, die neben freien Reichs­ städten und Bistümern über mannigfach abgestufte Gerechtsame, oft zusammenhanglos im Lande verstreut, hier und dort verfügten. Aber alles war gut deutsch, das Oberelsaß in gleicher Weise wie das Unterelsaß. Deutsch war das Leben in den Dörfern, die allent­ halben die germanische und nicht die romanische Siedlungsform aufwiesen, deutsch das Leben in den Städten und Bistümern, vor allem in der Stadt Straßburg. Hoch ragt

13 hier aus deutschen Giebelhäusern das Straßburger Münster empor, das Werk Erwins von Steinbach, das als herrliches Zeichen deutscher Baukunst neben vielen mittelalterlichen Kirchen Zeugnis ablegt von dem, was deutsche Kultur hier geschaffen hat. Deutsch waren die Klänge Gottfrieds von Straßburg und der übrigen Sänger der Frühzeit unserer Literatur, deutsch war das Wirken der elsässischen Humanisten, deutsch waren die Gedanken der Träger der Reformation. Leider aber standen die urdeutschen Städte in diesem Wetter­ winkel unseres deutschen Reiches bei der trostlosen Zerrissenheit des Reiches ohne festen Zusammenhang mit dem Reiche selbst. Sie waren auf sich gestellt. Ms in der zweiten Hälfte des Dreißigjährigen Krieges Frankreich das Elsaß militärisch erobert hatte, war das Geschick des Landes besiegelt: die vor allem gegen Habs­ burg gerichtete nationale Politik Richelieus fand ihre geradlinige Fortsetzung in Mazarins Ostpolitik, der für das Reich des kommenden Ludwig XIV. im Elsaß die Grenzführung des Rheins sichern wollte. Im Frieden von Münster und Osnabrück mußte Habsburg seine elsässischen Besitztümer und Rechte an Frankreich abtreten. Gleichzeitig ging die Vogtei über zehn reichsunmittelbare Städte an Frankreich über. Aus dieser Bestim­ mung, die an sich völlig klar ist — nicht die Städte sollten an Frankreich übergehen, wohl aber die ziemlich bedeutungslose Vogtei über die Städte—, leitete dann später Ludwig XIV. mit einem mißbrauchten Wortlaut des Vertrages seine Ansprüche auf ganz Elsaß her. So setzte er 1679 Gerichtshöfe (Reunions-Kammern) ein, die die französischen Lehens­ ansprüche auf alle die Gebiete untersuchen und feststellen sollten, die früher zu den im Westfälischen Frieden abgetretenen Gebieten gehört hätten. Auf Grund solcher Fest­ stellungen legte er auf einen weiteren Teil des Landes die Hand. Ohne jeden Rechtstitel nahm er 1681 Straßburg mit Waffengewalt. Der Rest des Landes, der aus zahlreichen und umfangreichen Exklaven deutscher Reichsstände bestand, wurde bald nach dem Aus­ bruch der Französischen Revolution durch ein Dekret der Nationalversammlung für französisches Gebiet erklärt. Frankreich hat also bei der Einverleibung des Elsaß unver­ hüllt Rechtsbruch an Rechtsbruch geschlossen. Das Herzogtum Lothringen, das im Jahre 953 als selbständiges Herzogtum in der Geschichte auftritt, war hinsichtlich seiner Bevölkerung nicht so einheillich zusammengesetzt wie das Elsaß. Es bildete damals der deutsche Teil gegenüber dem romanischen nur eine Minderheit. Aber entschlossen hat sich dieses kleine Herzogtum gegenüber allen Angriffen Frankreichs gegen seinen territorialen Bestand behauptet, bis nach dem Sturz der Staufer dem Reich die Kraft ermangelte, seine Interessen im Westen wirksam zu verteidigen. Freilich hinderten die drei Bistümer Metz, Toul und Verdun als abgeschlossene Enklaven den innerlich festen Zusammenhang des Landes nicht unbeträchtlich. Gerade diese reichsfreien Bistümer waren, abgesehen von einem kleinen Teil des Metzer Bistums, französisches Sprachgebiet, das von jeher den Franzosen begehrenswert erschienen war. Ms nun Heinrich II. im Jahre 1552 die drei Bistümer, die ihm Moritz von Sachsen als Kurfürst zum Dank für seine Hilfe gegen Karl V. zugesprochen hatte, mit Waffen­ gewalt nahm, kam Lothringen unter den starken politischen und kulturellen Einfluß des westlichen Nachbars. Der Friede von Münster und Osnabrück bestätigte den fran­ zösischen Besitz von Metz, Toul und Verdun. Bon nun an schien der Rest Lothringens für das Deutsche Reich rettungslos verloren. Französische Heere zogen durch das Land, als ob es französischer Boden wäre; ein Besitzstück nach dem andern ging an Frankreich verloren. Als schließlich Stanislaus Leszynski 1735 im Wiener Frieden, nachdem er auf den polnischen Königsthron verzichtet hatte, Herzog von Lothringen wurde und das lothringische Herrscherhaus dafür Toskana erhielt, geriet Lothringen in vollste Ab­ hängigkeit von Frankreich, und es war nur die offene Anerkennung eines längst vor­ handenen Zustandes, daß das Land nach dem Tod des ehemaligen Polenkönigs im Jahre 1766 zur französischen Provinz erllärt wurde. Die französische Revolution machte vollends reine Bahn. Was vom Reich auf der linken Rheinseite noch als reichsfreier Besitz übriggeblieben war, wurde der einheitlichen französischen Verwaltung unterstellt. 8. Tie Deutschen in Elsaß-Lothringen bis 1870/71. Wie hat sich nun die Einordnung der beiden Länder in das französische Staatswesen vollzogen, und wie war die Stellung­ nahme der deutschen Bevölkerung bis zur Wiedervereinigung Elsaß-Lothringens mit Deutschland (1871)?

14 Das Jahrhundert, das auf den Raub Straßburgs bis zum Ausbruch der französischen Revolution folgte, war ausgezeichnet durch eine kluge Politik Frankreichs gegen die neu erworbenen Provinzen. Die Einordnung in das französische Staatswesen geschah vorsichtig; man dachte nicht daran, die deutsche Sprache in ihrer fast unumschränkten Herrschaft direkt anzutasten; man sah in ihrer Duldung auch nichts Staatsgefährliches, zumal man bald die Beobachtung machen konnte, daß die französische Staatsidee ihre werbende Kraft auf die Bewohner der neuen Provinzen nicht verfehlte. Das hing nicht zuletzt mit der Ohnmacht des Deutschen Reiches zusammen, dessen Anziehungskraft auf gefährdete und erst recht auf verlorene Gebiete nur gering sein konnte. Aber deutsch blieben die Menschen, die hier wohnten, wenn auch die französische Mode und Sitte namentlich in die oberen Kreise allmählich eindrang. Man lese nur immer wieder die Kapitel aus Dichtung und Wahrheit, in denen Goethe schildert, wie er hier seine und seines Volkes deutsche Seele gefunden — trotz französischer Staatsgewalt, die durch Intendanten und Präfekten ausgeübt wurde. Eine entscheidende Wendung brachte die Französische Revolution, die das Grenzland ganz fest einfligte in den französischen Staatskörper. Die beiden Länder, deren eigenartige Struktur bisher unangetastet geblieben war, wurden jetzt durch straffe zentralistische Verwaltung in unmittelbarste Beziehung zur Hauptstadt des Kaiserreiches Frankreich gebracht. Das Präfektensystem wurde streng durchgeführt. Elsässische und lothringische Beamte wurden ins Innere Frankreichs versetzt, und die beiden neuen Departements erhielten nur „zuverlässige" französische Beamte. Frankreich hatte den Augenblick erkannt, in dem es ihm gelingen konnte, die durch die Ideen der Revolution innerlich ergriffene Menge dauernd an sich zu fesseln. Der Waffenruhm Napoleons, der weit über die Grenzen Frankreichs hinaus Begeisterung erweckte, schlug die Be­ wohner der Grenzprovinz in seinen Bann. Vor allem in den führenden Schichten war man stolz, Bürger des machtvollsten Reiches der Welt zu sein. Hier wurde man aus Überzeugung Franzose und stellte gerne dem Korsen seine Söhne zum Kampf gegen Deutschland und Rußland zur Verfügung. Hier vergaß man die ursprüngliche Zugehörig­ keit zum Deutschen Reich und deutschen Volk nur zu schnell. Das blieb auch, als der Stern Napoleons erblaßte, wenn auch der Widerstand bei Kleinbürgern und Bauern gegen französische Kultur und Sprache erstaunlich lang anhielt und vor allem auch die katholische und die evangelische Kirche den inneren Zusammenhang mit dem deutschen Volkstum nie aufgegeben haben. Die fünfzig Jahre von 1820 bis 1870 waren eine Zeit planvoller Verwelschungsbestrebungen, sowohl auf dem Gebiet der inneren Verwaltung wie vor allem in kulturpolitischer Hinsicht. Das Schulwesen wurde völlig dem Jnnerfrankreichs angeglichen. Letztes Ziel war oie Erziehung zur französischen Kultureinheit und zu französischer Staats­ gesinnung. Es galt deshalb vor allem eins: Beseitigung der deutschen Sprache. Und sowurde im Jahre 1853 verordnet: „Schulsprache ist das Französische." Es wurde zwar — den Bedürfnissen entsprechend — deutscher Sprachunterricht noch zugelassen, aber hierfür mußten die Eckstunden am Nachmittag herhalten, in denen den jungen Elsässern und Lothringern die Freude am Deutschen eher vergällt als erhöht werden sollte. Trotz alledem bot Elsaß-Lothringen im Jahre 1870, als der Krieg ausbrach, keine französische Kultureinheit. Es wogte vielmehr ein Kampf der intellektuellen Oberschicht, die innerlich auch zu Frankreich hielt, mit den bodenständigen Volkskreisen, die zwar noch mehr oder minder fest im deutschen Volkstum wurzelten, aber trotzdem ihre staatsbürger­ lichen Pflichten loyal erfüllten. Frankreich hatte es nicht vermocht, die Herzen des ganzen Volkes zu gewinnen; deutsches Volksbewußtsein war zwar nach 200jähriger Verwelschungspolitik noch vorhanden, aber es war nicht stark genug, sich durchzusetzen.

4. Gsatz-Lothrmgen in der Zeit von 1871 bis zum Weltkrieg (1914). Die Zurückgewinnung und die völlige Eindeutschung Elsaß-Lothringens stellte das Reich vor die allerschwersten Probleme. Denn so sehr die Wiedervereinigung der durch zwei Jahrhunderte hindurch von Deutschland getrennten Teile mit dem Mutterlande in der Heimat jubelnd begrüßt wurde, innerhalb der elsaß-lothringischen Bevölkerung selbst begegnete man den Deutschen nicht allenthalben mit hellster Freude und wirklichem Verständnis. Die führende bürgerliche Oberschicht hatte starke Sympathien für Frank-

15 reich. Die durch die Einfühmng der allgemeinen Wehrpflicht (1872) betroffenen jungen Elsaß-Lothringer wanderten zum großen Teil nach Frankreich aus und hinterließen so bei ihren Angehörigen das Gefühl der Verbitterung darüber, daß man ihre Söhne und Brüder schon so bald in das Heer eintreten hieß, gegen das ihre Väter und Brüder noch vor wenigen Monaten gekämpft hatten. An ihre Stelle flutete aus Altdeutschland ein Strom von Einwohnern ein, die sich nur sehr schwer mit den Alteingesessenen verschmolzen, und die starke militärische Durchsetzung des Landes ließ den Gedanken unliebsam empfinden, als sei die Rückgewinnung Elsaß-Lothringens für Bismarck lediglich eine militärische Notwendigkeit gewesen, um hier im Südwesten das „Glacis" gegen Frankreich zu schaffen. So bot Elsaß-Lothringen zunächst ein wenig erfreuliches Bild, und die Hoffnung Bismarcks, daß es vielleicht bald gelingen werde, „den Landsmann zu gewinnen", erfüllte sich leider nicht. Zwar leistete das Reich Großes in seinem Bestreben, den durch zwei­ hundert Jahre lange Verwelschungsversuche Fremdgewordenen eine neue deutsche Heimat zu gestalten. Die Gründung der Straßburger Universität (1872), die Errichtung einer beträchtlichen Anzahl von höheren Lehranstalten und der treffliche Ausbau des Volks­ schulwesens legen hiervon ein rühmliches Zeugnis ab, und ein vorbildliches Beamtentum arbeitete unverdrossen an der schweren Aufgabe, durch mustergültige Verwaltung die Eindeutschung zu erleichtern. Aber anderseits läßt sich nicht leugnen, daß eine Reihe wichtiger Probleme, die das Reichsland dem Mutterlande aufgab, nur unvollkommen gelöst worden sind und nicht unerhebliche Fehler der Verwaltung immer neue Reibungen schufen. Schon die Erklärung Elsaß-Lothringens zum Reichsland war eine vielleicht durch die Not gewiesene, aber doch nur unvollkommene Lösung des schwierigen staatsrechtlichen Problems, das die Wiedervereinigung aufgegeben hatte. Vielleicht war sie nicht zu um» gehen, da ein Ausgleich geschaffen werden mußte, um Bayern nicht zu verstimmen, und weil wohl nach außen der Anteil aller deutschen Stämme an dem glücklichen Ausgang des Krieges sinnfällig gemacht werden mußte. Aber die Entwicklung bis hin zum Weltkrieg hat doch bewiesen, daß das Reichsland neben den übrigen Bundesstaaten „in der Luft hing" und daß der Anschluß der Bevölkerung an den Reichsgedanken gerade durch diese staatsrechlliche Lösung des Problems ungemein erschwert worden ist. Es fehlte den an strengsten Zentralismus und an einen starken Staatsgedanken gewöhnten ElsaßLothringern der Anschluß an die stolzen Traditionen eines mächtigen Einzelstaates. Die Eingewöhnung der Rheinländer nach 1815 und der annektierten Länder im Jahre 1866 in Preußen hat sich viel schneller und reibungsloser vollzogen, weil sie in die straffe Ver­ waltung eines fest gefügten Staates einverleibt wurden und in lebendigste Berührung mit dem Staate selbst kamen. ferner aber ist die Verwaltung der Reichslande in den nun anbrechenden Frie­ densjahren nicht immer glücklich gewesen. Bis zum Jahre 1879 stand an der Spitze ein Oberpräsident und von da ab ein Statthalter. Bereits in der Zeit des tüchtigen Oberpräsidenten von Möller (1871—1879) wurde im Jahre 1874 ein Landesausschuß berufen, dem ursprünglich 34 Mitglieder angehörten, dessen Befugnisse allerdings in der Hauptsache nur beratend waren. Schon die Berufung dieses Landesausschusses war ein starkes Entgegenkommen gegen frühzeitig auftauchende Wünsche einzelner Kreise nach einer Autonomie. Als aber im Jahre 1879 mit der Errichtung der Statthalterschaft ein verantwortliches Ministerium geschaffen wurde, zeigte wider Erwarten die Masse der Elsaß-Lothringer wenig Neigung zu der von ihren Führern geforderten Selbstverwaltung. Bismarck hat dann diesen Weg nicht weiter verfolgt.

Wenig förderlich war vor allem die Zeit der ersten Statthalterschaft, der Manteuffels (1879—1885), der durch schwächliche Nachgiebigkeit gegen offenbar stark oppositionelle Kreise den Eindruck einer Zickzackkurspolitik erweckte und große Unsicherheit bei den Deutsch­ land ergebenen Kreisen hervorrief. Auch in der Folgezeit hat — abgesehen vielleicht von der klugen Führung der Statthalterschaft durch den späteren Reichskanzler Fürsten Chlod­ wig Hohenlohe (1885—1894) — in der Leitung der obersten Geschäfte eine klare Linie gefehlt. Ein gewisses Kokettieren mit den Franzosen im eigenen Hause und ein Mangel zielbewußter kultureller Durchdringung des Landes führte immer mehr zu Reibungen

16 und Unzufriedenheit. Der Gedanke der Autonomie trat dabei immer stärker hervor. Unter den Freunden dieser Bewegung befanden sich manche, die aus ihrer Sympathie für franzö­ sische Kultur kein Hehl machten. Als Elsaß-Lothringen im Jahre 1911 die Verfassung erhielt, war das Ziel der Autonomie nahezu erreicht. Das Land hatte jetzt seinen eigenen Landtag und seine eigene Vertretung im Bundesrat. Man kann im Zweifel sein, ob die Verfassung zu spät oder zu früh gewährt worden ist. Für das Land fiel diese Verleihung zu seinem und zu unserm Unglück in die außenpolitisch so gespannten Jahre kurz vor Ausbruch des Kneges, in denen auch die unterirdische Agitation Frankreichs in Elsaß-Lothringen wieder ein stärkeres Echo fand als vorher. In der Tat setzten hier jetzt Kämpfe ein, die zeigten, mit welcher skrupellosen Gelassenheit die Nationalistenführer darauf drängten, Elsaß-Lothringen immer mehr an die Seite Frankreichs zu bringen. Die Verhandlungen des Landtags, mehr aber noch die Veranstaltungen einer planvoll organisierten Propaganda in rein französischem Sinn grenzten oft an Landesverrat. Leider hat die deutsche Regierung diesen Bestrebungen gegenüber versagt, so daß man kurz vor Ausbmch des Krieges sehen mußte, daß die Entwicklung Elsaß-Lothringens auf dem Wege des inneren Anschlusses an Deutsch­ land eher Rückschritte als Fortschritte gemacht hatte. In dem kulturell unausgeglichenen Lande hatte man nicht die Kraft gefunden, die starken, dem Deutschtum zuneigenden bürgerlichen Kreise und die bäuerlichen Kräfte in die Führung zu bringen. Es hatte offenbar an psychologischem Verständnis gemangelt für die bodenständige Eigenkrast des Landes; es hatte ein beherztes Zugreifen gefehlt, um die Gedanken durchzuführen, die gerade aus diesen Kreisen dem Deutschtum entgegen klangen. Aber trotz mannigfacher Rückschläge hätte Deutschland nicht zu verzagen brauchen. Der gewaltige wirtschaftliche Aufschwung, der in den vier Dezennien nach dem Friedens­ schluß in Elsaß-Lothringen zu verzeichnen war, die mustergültige Durchdringung des Landes mit einem weit verzweigten System deutscher Schulen, ein vorbildliches deutsches Beamtentum würden auf die Dauer große Erfolge errungen haben, wenn nicht der Welt­ krieg die Entwicklung jäh unterbrochen und abgebrochen hätte. Ein Land, das zweihundert Jahre unter fremder Herrschaft gestanden hat, das in dieser Zeit auch große Tage seiner Geschichte erlebt hat, kann nicht in einer Spanne von vierzig Jahren völlig in das Mutterland eingeordnet werden. Zumal wenn es zwischen zwei Staaten liegt, die in diesen vierzig Jahren sich gegenseitig mit Augen des Mißtrauens betrachtet haben und die wußten, daß der Revanchegedanke doch noch einmal zum Kriege um dieses Land treiben würde.

5. Elsaß-Lothringen während des Weltkrieges (1914—1918). Während des Welt­ krieges hat dann dieses Land, das erst 43 Jahre unter — dazu nicht immer glücklicher — deutscher Leitung gestanden hatte, so daß wahrlich nicht alle Herzen für Deutschland gewonnen werden konnten, die Greuel des Krieges erleben müssen. Es lag zwischen zwei Fronten. Neben Zeugnissen für eine bewußt deutsche Gesinnung, die man vielfach selbst da antraf, wo man es nicht erwartet hätte, und die sich vor allem zu Beginn des Krieges bei der Mobilmachung, aber auch bei dem französischen Einmarsch zeigte, haben wir zweifellos Beweise für eine starke Hinneigung zu Frankreich, die, je größer die Schwierig­ keiten für Deutschland wurden, desto mehr hervortrat. Wenn heute die Klagen über die unkluge und vielfach ungerechte Politik der deutschen Zivil- und Militärbehörden während des Krieges allzu laut werden, so kann man mit Recht darauf Hinweisen, daß der Krieg äußerste Disziplin, rücksichtsloseste Sicherung der Armee verlangte. Daß sich da das Mißtrauen der Bevölkerung steigerte, daß das Auftreten der Militärbehörden zu schlimmen Verärgerungen, zu Widersetzlichkeiten und Protesten gegen Deutschland führte, ist ver­ ständlich; aber man darf hieraus noch keine Schlüsse für eine französische Einstellung der Gesamtbevölkerung ziehen. Vielleicht kann man sagen, daß die Deutschen in ElsaßLothringen während des Krieges jene letzte Kraft auch zur schweigenden Verteidigung des Bodens mit Herz und Kopf nicht aufgebracht haben; aber vier Jahre Krieg auf eng begrenztem Raum, vier Jahre Militärherrschaft werden für jedes Volk, das eine so wechsel­ volle Geschichte hinter sich hat wie die Elsaß-Lothringer, eine harte Probe sein. Aber sie sind auch hier mehr eine Probe der Nerven gewesen als eine Probe der Gesinnung.

17 Der Zusammenbruch brachte dann den Einmarsch der Franzosen. Er soll nicht so glänzend gewesen sein, wie die Franzosen selbst berichtet haben. Aber es besteht kein Zweifel, daß ein gequältes Volk schließlich eine Erleichterung verspürt hatte, als die Kanonen schwiegen. Häßliche Szenen haben sich zugetragen, die kein Ruhmesblatt in der Geschichte Elsaß-Lothringens sind; vor allem bedeutet die schmähliche Vertreibung der Deutschen über die Rheinbrücke nach Kehl, an der sich auch Elsässer beteiligt haben, eine Roheit und Grausamkeit, die einer Kulturnation schlecht ansteht; aber alle diese Szenen, in denen zum Teil bezahltes Gesindel die Rolle der Träger französischer Kultur spielen mußte, treffen nicht das ganze elsässische Volk. Viele haben das Ende des Krieges, das Elsaß und Lothringen wieder mit Frankreich verknüpfte, mit Schmerzen gesehen. Sie wußten, daß die Freiheit ihrer Eigenart besser bei den Deutschen aufgehoben war als bei den Franzosen.

6. Die gegenwärtige Lage. Nun sind die Deutschen Elsaß-Lothringens, soweit sie nicht sofort auf harte Ausweisungsbefehle hin das Land verlassen mußten*), Auslanddeutsche geworden, die als Minderheit im fremden Staatswesen um ihr Recht aus ihre Sprache und ihre Kultur kämpfen. Wieder versucht es Frankreich mit seinem straffen Zentralismus, die Bewohner des Landes fest einzuordnen in die französische Staatsgewalt. „Landfremde", innerfranzösische Beamte, die als die stärksten Träger dieses Gedankens in übergroßer Zahl in die wiedereroberte Provinz geschickt werden, sollen zu nationalen Erziehern des Volkes werden. Die Amts- und Gerichtssprache ist ausschließlich das Französische. Der geistige Zu­ sammenhang mit deutscher Kultur wird fast unmöglich gemacht. Für die Schulen ist auch in den rein deutschen Gegenden, in denen man kein Wort französisch spricht, die französische Unterrichtssprache als Zwang eingeführt. In der Kirchenpolitik möchte Frankreich zu gern die alten Rechte Elsaß-Lothringens, das keine Trennung von Kirche und Staat kennt, beseitigen. Vor allem sucht man den konfessionellen Charakter der elsässischen Schulen zugunsten der französischen Laienschule umzu­ biegen. Man will das Land möglichst schnell französisch machen und die Bewohner zu Franzosen. Daß Frankreich mit dieser Politik bei einem Volke, das fest mit seinem Heimat­ boden verwurzelt ist, das den Gedanken der Autonomie seit langem fast leiden­ schaftlich verfolgt hat, auf stärksten Widerstand stoßen würde, hat es wohl voraus­ gesehen. Je fühlbarer die Gewaltpolitik Frankreichs wird, desto stärker er­ wacht der Wille zur Selbständigkeit. Die Elsaß-Lothringer verlangen Selbst­ verwaltung mit eigenem Parlament und mit eigenem Haushalt. Das Land besaß als Reichsland bereits eine gewisse parlamentarische Selbständigkeit; es hatte in seiner Verwaltung viel größere Freiheiten, als es sie heute unter französischer Herrschaft genießt. Es gedieh auch rein wirtschaftlich im Ver­ band des deutschen Wirtschaftslebens viel besser als heute, wo es in ein Wirt­ schaftssystem hineingezogen ist, in dem es sich vielfach als lästige Konkurrentin vorkommt. So wird heute von den größten Franzosenfreunden in Elsaß-Lothringen zugegeben, daß der wirtschaftliche Aufschwung der Reichslande in den 48 Jahren ihrer Zugehörigkeit zu Deutschland sich in glänzender Weise vollzogen hatte. Die Reichslande hatten sich unter stärkster Förderung des Reichs in einer Weise ent!) Die Bevölkerungszahl Elsaß-Lothringens hat von 1910—1921 einen starken Rückgang (163965 = 8/7%) erlitten. In den Jahren 1921—1926 ist dieser Verlust zum Teil wieder aus­ geglichen worden. Gegenüber der Zahl vom Jahre 1910 (1874014) bleibt die Bevölkerungszahl von 1926 (1781574) doch immer noch mit einem Verlust von 92440 erheblich zurück. Boelitz, Geschichte des Auslanddeutschtums.

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18 wickelt, daß sie hinter keinem der übrigen deutschen Länder zurückstanden. Die wichtige Textilindustrie, die vor 1870 natürlich völlig auf Frankreich eingestellt gewesen war, hatte sich bald „umgestellt" und dem deutschen Markt in hervor­ ragendem Maße angepaßt. Die lothringische Eisenverarbeitung gewann im Zu­ sammenhang mit den rheinisch-westfälischen Industriezentren eine ungeheure Bedeutung. Die oberelsässische Kaliindustrie wurde mustergültig ausgestaltet, und das gesamte industrielle und wirtschaftliche Leben der Reichslande ging in schnellem Tempo, aber in durchaus gesunder Entwicklung, glänzend voran. Dasselbe galt von der Landwirtschaft, die vorher recht bedeutungslos war, und vor allem dem Weinbau, der in der französischen Zeit durch die Konkurrenz des Binnenlandes fast erdrosselt war.

Nun muß Elsaß-Lothringen erleben, daß die alten Verhältnisse aus französischer Zeit langsam wiederkehren. Die innerfranzösische Konkurrenz wird drückend schwer empfunden; das Steuerwesen läßt ausgleichende soziale Gerechtigkeit vermissen; die Sozialgesetzgebung der deutschen Zeit wird als vorbildlich anerkannt. So empfindet es nun im engsten Zusammenhang mit Frankreich seine Abhängigkeit viel stärker als jemals in den 50 Jahren der Reichszugehörigkeit, in denen es um die Autonomie — aber stets im Verbände des Deutschen Reiches — gekämpft hat. Ganz besonders stark ist die Bewegung, die auf völlige kulturelle Autonomie, auf Verwaltungsautonomie und auf starken Schutz der heimischen Industrie und Landwirtschaft hinzielt, in den Kreisen des Elsässisch-Lothringischen Heimat­ bundes. Dieser ist zu Pfingsten 1926 mit einer großen, aufsehenerregenden Kundgebung an die Heimattreuen Kreise Elsaß-Lothringens herangetreten, die von der französischen Regierung mit scharfen Maßnahmen beantwortet worden ist. In dieser Kundgebung verlangt der Heimatbund unter schweren Anklagen gegen eine tief verbitternde siebenjährige Verwaltung des urdeutschen Bodens ein „selbst­ bewußtes, starkes und freies Elsaß-Lothringen". Seine Forderungen gehen in erster Linie auf ungehinderten Gebrauch der deutschen Sprache. „Wir fordern, daß die deutsche Sprache im öffentlichen Leben unseres Landes den Rang ein­ nimmt, der ihr als Muttersprache des weitaus größten Teils unseres Volkes und als einer der ersten Kultursprachen der Welt zukommt. In der Schule muß sie Ausgangspunkt und ständiges Unterrichtsmittel und Unterrichtsfach mit abschließen­ der Prüfung sein. In der Verwaltung und vor Gericht muß ihr gleiche Berechtigung mit der französischen Sprache zukommen." Wirkungsvoll wurden seit 1925 diese Gedanken durch die „Zukunft" verbreitet, die als unabhängige Wochenschrift zur Verteidigung der elsaß-lothringischen Heimat- und Volksrechte mutig für die unter­ drückten Rechte der Elsaß-Lothringer eintritt. Der Gedanke der Autonomie ist so lebendig in dem elsässisch-lothringischen Volk, daß er auch durch Prozesse, die den Führern dieser Bewegung gemacht werden, durch Verfolgungen und schwere Schädigungen derer, die sich zu ihr bekennen, nicht mehr zu beseitigen ist. Er hat vor allem eine wesentliche Stärkung durch den Vertrag von Locarno bekommen. Wenn der Sicherheitspakt den Ver­ zicht Deutschlands darauf ausdrückt, das von Frankreich annektierte Land durch Waffengewalt wieder zu erobern, so hat gerade dieses Zugeständnis, das Deutsch­ land um der Sicherheit des Rheines und des europäischen Friedens willen gemacht

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hat, die lebhafteste Zustimmung der Heimattreuen Kreise Elsaß-Lothringens ge­ funden. Elsaß-Lothringen will sein zukünftiges Geschick selbst bestimmen. Es will festhalten an deutscher Muttersprache und deutscher Kultur und fordert gegenüber dem zentralistischen Zwang der französischen Politik eine regionale Autonomie mit selbständigem Verwaltungskörper und mit selbständigem Verwaltungshaushalt. Unsere Hoffnung ist es, daß das urdeutsche Land in der Selbstbestimmung den Weg geht, der zu seinem und unserem Heile führt, der die Erhaltung deutscher Kultur hier an der Grenze für alle Zeit gewährleistet. Deutschland verfolgt das Ringen auf diesem alten deutschen Kulturboden mit aufrichtiger Sympathie. Es sind Menschen unseres Blutes, die dort um ihre heiligsten Güter, um ihre Sprache kämpfen. Fühlen wir uns ihnen immer aufs tiefste verbunden! Literatur zur weiteren Einführung: Spahn, Martin: Elsaß-Lothringen. Berlin: Ullstein 1919. 386 S. Stählin, Karl: Geschichte Elsaß-Lothringens. München und Berlin: Oldenbourg 1920. IX, 295 S. m. 4 Tas. Meyer, Eugen: Das Deutschtum in Elsaß-Lothringen. 2. erw. Ausl. Münster i. W.: Aschen­ dorff 1929. XI, 160 S. m. 1 Karte u. mehreren Tafeln. (Deutschtum u. Ausland. H. 7.)

2. Das Deutschtum im Großherzogtum Luxemburg.

7. Luxemburg als Grenzland. Grenzlanddeutsche sind auch seit langem schon die auf altem deutschen Volks- und Kulturboden lebenden Deutschen im Groß­ herzogtum Luxemburg. Von den 267000 Einwohnern dieses nur 2581 qkm großen Landes sind mindestens 257000 Deutsche, die als Moselfranken zum hoch­ deutschen Sprachgebiet gehören. Aber die wechselvolle Geschichte dieses Landes, das über 600 Jahre im Verband des Deutschen Reiches gestanden hat, zeigt, wie sehr es im Laufe der Geschichte unter seiner Stellung zwischen dem romanischen und germanischen Sprachgebiet gelitten hat und wie die Mischung seiner Bevölke­ rung, unter der bis zum Jahre 1839 viele Wallonen waren, auch heute noch nach­ wirkt. Seine Sprache ist zwar ganz deutsch, seine Bewohner hängen aufs engste durch Bande des Blutes mit ihren östlichen Nachbarn zusammen, aber anderseits ist es aufs stärkste von französischer Kultur umklammert, so daß sogar seine Parla­ mentssprache das Französische ist. So ergibt sich die merkwürdige Tatsache, daß es unter stärkster Betonung seiner Westorientierung den Zusammenhang mit seinem ursprünglichen Mutterlande ablehnt. Nur die Geschichte dieses Landes kann uns diese Stellung Luxemburgs einigermaßen erklärlich machen. 8. Geschichtlicher Rückblick. Das heutige Großherzogtum Luxemburg gehörte in seinem ursprünglichen Kern mit seiner deutschen Bevölkerung auf der Grenzscheide des germanisch­ romanischen Sprachgebietes zunächst zum alten Lothringen, bis es im Jahre 963 in den Besitz der Grafen der Ardennen kam, die das Schloß Lützelburg erwarben. Unter den Grafen von Lützelburg erlangte das Land im Verband des Deutschen Reiches bald eine erfreuliche Selbständigkeit, wobei allerdings schon damals der französische kulturelle Einfluß recht stark war. Nach dem Erlöschen des Geschlechtes der Grafen von Lützelburg kam es durch Erbschaft in stärkste Verbindung mit größeren Teilen wallonischen Gebietes, wodurch das Eindringen des romanischen Einflusses in das Leben der Bevölkerung, vor allem in die Verwaltung des Landes, immer stärker wurde. Später hat es dann teilweise zum Herzogtum Burgund, seit Karl V. zu den spanischen, seit dem spanischen Erbfolgekrieg zu den österreichischen Niederlanden gehört. Fast während der ganzen Zeit seiner Geschichte war das Land, wenn auch in loser Form, ein Teil des Deutschen Reiches, gleichzeitig aber dem französischen Einfluß aufs stärkste ausgesetzt. 1795—1814 gehörte es sogar

20 ganz zu Frankreich. Nach der napoleonischen Zeit trat es wieder in Verbindung zum Reich: als Inhaber des Großherzogtums Luxemburg war der König der Niederlande Mitglied des Deutschen Bundes; als deutsche Bundesfestung erhielt Luxemburg preußische Besatzung. Dieses in Personalunion mit den Niederlanden verbundene Großherzogtum Luxemburg war stark zweisprachiges Gebiet, wobei die romanische Bevölkerung der Wallonen überwog. Infolge der belgischen Revolution wurde im Jahre 1839 ein großer Teil des Groß­ herzogtums Luxemburg — es war der vorwiegend wallonische Teil, allerdings mit der deutschen Stadt Arlon, — dem heutigen Belgien zugewiesen. Der Kern blieb in alter Personalunion mit den Mederlanden verbunden: der König der Niederlande war zugleich Großherzog von Luxemburg bis zum Jahre 1890, wo Luxemburg seine eigene Dynastie, das Haus Nassau-Weilburg, gewann. In den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts machte sich zunächst eine starke Bewegung in Luxemburg geltend, die den kulturellen Zusammenhang mit dem deutschen Mutterlande erstrebte und sich scharf dem von Paris eindringenden unkirchlichen und zersetzenden Einfluß entgegenstellte. 1842 trat Luxemburg in den deutschen Zoll­ verein ein, und das Jahr 1848 sah Luxemburger Abgeordnete im Frankfurter Parlament, die für die Wahl Friedrich Wilhelms IV. von Preußen zum deutschen Kaiser eintraten. Es schien so, als ob mit der Verkleinerung des Staatsgebietes, die 1839 erfolgt war, und mit der Loslösung der Wallonen das Bewußtsein der engsten Zusammengehörigkeit mit dem deutschen Kulturkreis eine starke Ostorientierung herbeiführen wolle. Aber seit Napoleons Zeiten hatte Frankreichs Streben nicht geruht, Belgien und Luxemburg sich dauernd anzugliedern. 1866 machte Napoleon dem König der Niederlande das Angebot, Luxemburg durch Kauf zu erwerben. Preußens Protest verhinderte das Geschäft. Eine Konferenz der Großmächte in London (1867) erklärte dann die Neutralität Luxemburgs, das unter den gemeinsamen Schutz der Großmächte gestellt wurde. Die Festung Luxemburg wurde geschleift. Die Folge dieser Neutralitätserklärung bestand darin, daß Luxemburg dem Norddeutschen Bunde nicht beitrat. Damit war das Geschick Luxemburgs besiegelt: die Westorientierung begann; die Parlamentssprache wurde das Französische; das Beamtentum stellte sich ganz auf die Verwaltung und Sprache des westlichen Nachbarn ein. Zwar unterstand die Eisenbahn noch der deutschen Verwaltung, zwar wurde die wirtschaftliche Verbundenheit des Landes mit dem Reich bei dem wirt­ schaftlichen Aufschwung des geeinten Deutschlands enger denn je, aber der Zusammenhang des kulturellen Lebens des Großherzogtums mit der Gesamtkultur Deutschlands blieb unterbrochen.

9. Die gegenwärtige Lage. Als Bismarck im Jahre 1867 um des europäischen Friedens willen die Neutralitätserklärung Luxemburgs geschehen ließ, verzichtete er gleichzeitig auf die Verbindung, die das Großherzogtum Luxemburg bis dahin, wenn auch mehr oder minder lose, mit Deutschland gehabt hatte. Es folgte 1871 die Errichtung des Reiches ohne Luxemburg; mehr als 200000 Deutsche blieben gleich­ zeitig mit den Deutschen Österreichs von der Verbindung mit dem Deutschen Reich ausgeschlossen; die Grenzen des neuen Deutschen Reiches gingen auch an Deutsch­ lands Westgrenze mitten durch deutschen Volksboden. Hier ruhen, wenn auch geschichtlich bedingt, Fehler der Vergangenheit. Werden sie im Laufe der weiteren Entwicklung wieder gut gemacht werden können? Es ist kein Zweifel, daß der Weltkrieg, der Luxemburg mitten hineinbezog in das Aufmarschgebiet, die Sympathie der Luxemburger Bevölkerung Deutschland nicht zugewandt hat. Ein Land, dessen Parlaments- und Amtssprache Französisch war, das seit Jahr­ zehnten von französischer Kulturpropaganda umbuhlt war, entschied sich innerlich für den Anschluß nach Westen. Alle Versuche in dieser Kriegszeit, Luxemburg stärker an das Reich zu ketten, schlugen fehl; es wollte seine Selbständigkeit be­ wahren. Jetzt rächte sich der Fehler, daß man nicht zu einer Zeit, als Preußen-

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Deutschland stark und mächtig dastand, mehr Mühe darauf verwandt hatte, utit die Seele dieses deutschen Volkes zu werben und es mit einzubeziehen in das Deutsche Reich. Nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges fielen die Entscheidungen schnell. Zwar schlugen auch die Versuche, Luxemburg staatspolitisch eng mit Frankreich zu verbinden, fehl; aber nachdem Luxemburg am 31. Dezember 1918 aus dem Zollverband mit Deutschland ausgetreten war und dann in die belgische Zollgemein­ schaft eintrat, hat es sich doch ganz in das belgisch-französische Wirtschaftssystem eingliedern lassen.

Die Entwicklung dieses Teiles des deutschen Volkstums ist nicht abzusehen. Leben die Deutschen Luxemburgs auch in einem uns fremden Staatsverband, wir fühlen uns mit ihnen verbunden. Sorgen wir dafür, daß die kulturellen Bande, die uns allzeit verbinden sollen, nicht abreißen! Literatur zur weiteren Einführung: Wentzcke, Paul: Das Großherzogtum Luxemburg. Berlin: Deutscher Schutzbundverlag 1926. 19 S. (Taschenbuch d. Grenz- u. Auslanddeutschtums. H. 5.)

3. Das Deutschtum in «kupen-Nalmeüp.

10. Der Gewaltakt Belgiens. Konnte Frankreich wenigstens zum Scheine bei der Einverleibung Elsaß-Lothringens zu geschichtlichen Beweisführungen für sein Handeln greifen, so ist die Annexion der preußischen Kreise Eupen und Malmedy vonseiten Belgiens ein einfacher Akt der Machtpolitik, der weder durch geschicht­ liche noch volkskundliche Urkunden auch nur im entferntesten gerechtfertigt werden kann. Das „siegreiche" Belgien wollte aus dem Weltkrieg nicht mit leeren Händen nach Hause kommen und setzte es nach ursprünglich viel weitergehenden Plänen in Versailles durch, daß ihm in den Artikeln 31—39 des Friedensdiktates die beiden zur Rheinprovinz gehörenden Kreise Eupen und Malmedy abgetreten wurden. Über die Bestimmungen des Diktates hinaus eignete es sich „unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse und der Verkehrswege" mit der Bahnlinie auch noch einen Teil des Kreises Monsch au und ein kleines Stück des Kreises Prüm an. Da ihm ferner noch das seit dem Wiener Kongreß strittige Neutral-Moresnet (5% qkm mit 3500 Einwohnern) zufiel, erhielt Belgien im ganzen ein Gebiet von 1040 qkm mit insgesamt 65000 Einwohnern. Zwar sah das Friedensdiktat in seinem 34. Artikel vor, daß die Erwerbung der beiden Kreise durch eine Volksbefragung bestätigt werden solle. Es sollten Listen ausgelegt werden, in die sich diejenigen Bewohner eintragen könnten, die den Wunsch hätten, daß die Gebiete ganz oder teilweise unter deutscher Staats­ hoheit blieben. Leider ist der Vorschlag der Vereinigten Staaten, diese Befragung unter die Kontrolle des Völkerbundes zu stellen, nicht durchgedrungen. Man wußte wohl im Lager der Entente, mit welchen Mitteln Belgien, das bereits im Herbst 1919 von den beiden preußischen Kreisen Besitz ergriffen hatte, diese Volks­ befragung durchführen würde und billigte diese Mittel; denn es waren vor allem hier strategische Interessen mit im Spiel: es handelte sich um eine wichtige Eisen­ bahnlinie und den Truppenübungsplatz Elsenborn, der im Kreise Malmedy liegt. So setzte sich Frankreich energisch für seinen Nachbar ein, und es gelang ihm,

22 Belgien für die Abstimmung völlig freie Hand zu verschaffen. Das hat Belgien in meisterhafter Weise ausgenutzt. Belgien legte keine Abstimmungslisten aus, wie sie das Friedensdiktat zweifelsfrei vorsah, sondern „Protestlisten", in die sich alle die einschreiben sollten, die gegen die Abtrennung von Eupen und Malmedy Ver­ wahrung einlegen wollten. Die Volksbefragung wurde eine lächerliche Komödie. In den beiden Kreisen wurden überhaupt nur zwei Listen ausgelegt, eine in Eupen und eine in Malmedy, so daß die Landbevölkerung stark be­ nachteiligtwar. Dazu kam das völlige Verbot von Versamm­ lungen, Aussprachen und jeg­ licher Agitation. Selbst Flug­ blätter, die den deutschen Standpunkt vertraten, waren nicht zugelassen. So erreichten die Belgier, daß sich bei rück­ sichtsloser wirtschaftlicher und politischer Bedrohung nur die in die Listen einschreiben konnten, die die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz ertragen wollten oder es vor­ zogen, ihre Heimat für immer zu verlassen. Die unter schlimmstem Terror erpreßte Volksbefra­ gung endete natürlich mit einem belgischen „Siege", und der Völkerbund bestätigte die Einverleibung zweier preußi­ scher Kreise, deren Bewohner nichts von Belgien wissen wollten.

11. Die gegenwärtige Lage. Durch die Einverlei­ bung von nahezu 50000 Be­ wohnern rein deutscher Muttersprache in das Königreich Belgien ist die Zahl der hochdeutschsprechenden Belgier stark gewachsen. Bereits vor dem Weltkrieg betrug diese Zahl — bei einer Gesamtbevölkerung von 7% Millionen — 60000 bis 70000, die vor allem in der Stadt Arlon und ihrer Umgebung wohnten. Heute zählen wir in Belgien etwa 130000 Bewohner, die nach ihrer Umgangssprache als zum deutschen Volkstum gehörig zu rechnen sind. Es ist das ein Zuwachs für das junge, schon bisher

23 dreisprachige Gebiet des belgischen Staates, der verwaltungstechnisch und politisch erhebliche Schwierigkeiten machen kann. Schon jetzt zeigt sich, daß diese „erlösten Gebiete" ein Gegenstand ernster Sorge für die belgische Regierung sind. Die 9000 Wallonen, die in Malmedy wohnen und die die „preußische Wallonie" aus­ machten, sprechen lediglich ein wallonisches Platt und haben kulturell überhaupt keine Beziehung zum übrigen wallonischen Sprachgebiet; sie sind gute Deutsche und haben auch nicht die geringste Hinneigung zum belgischen Staat. Die harte Hand, die Belgien bei der Fürsorge für die neue Erwerbung in erhöhtem Steuer­ druck, in der Vergrößerung der Zahl der Beamten, in der Entfernung der deutschsprechenden Lehrer, vor allem auch in der Kirchenpolitik zeigt — die ganz katholische Bevölkerung ist aus dem ihm liebgewordenen Erzbistum Köln losgelöst worden —, hat bisher die Liebe zum neuen Staat nicht zu wecken ver­ mocht. Es herrscht in allen Kreisen eine lebhafte Erbitterung über die belgische Politik. Mit Schrecken sehen die Deutschen die höchst unerfreulichen Zustände auf dem Gebiete des Schulwesens, das heute auch nicht im entferntesten mit den bisherigen deutschen Einrichtungen zu vergleichen ist. Aber auch über die Behand­ lung der einheimischen Geistlichkeit ist man aufs höchste ungehalten. Ein großer Teil der dem deutschen Volke vertrauten Geistlichen wurde in rücksichtsloser Form ausgewiesen und durch altbelgische Geistliche ersetzt, die nicht recht Boden fassen können. Auch das wirtschaftliche Leben, vor allem Eupens, das vor dem Kriege außerordentlich blühte (Textilindustrie, Maschinenfabriken usw.), ist durch die neue Grenzführung schwer geschädigt. Für Belgien bedeutet der Zuwachs von EupenMalmedy eine unwillkommene wirtschaftliche Konkurrenz; für die beiden Kreise selbst bringt die veränderte Grenzziehung außerordentlich schwierige Absatzmöglich­ keiten. So ist die Stimmung in diesem Gebiete völlig einheitlich: man wünscht nicht, einem Lande anzugehören, mit dem man kulturell und wirtschaftlich nicht zusammengehört. Es ist zu erwarten, daß hier die Grenzlanddeutschen ihrer besonderen Mission stets bewußt sein werden, daß sie deutsch bleiben, wie sie es immer gewesen sind. Besonders verheißungsvoll ist es, daß der seit langem angestrebte Zusammen­ schluß der deutschen Bevölkerungskreise zu einem Heimatbunde Eupen-Malmedy-St. Vith vor kurzem zustande gekommen ist. Sein Arbeitsgebiet soll darin bestehen, die deutsche Sprache in der Schule, in der Predigt, vor Gericht und im Verkehr der Behörden zu „schützen", wie vor allem, „die guten deutschen Sitten und Gebräuche in Haus, Gemeinde und Kirche und hier besonders das deutsche Kirchenlied und die deutsche Predigt zu pflegen". Auch die Erhaltung des tiefen und gemütvollen deutschen Volksliedes hat sich der Heimatbund zur be­ sonderen Aufgabe gemacht. Er treibt keine Politik und läßt die Stellung des einzelnen im Staatsverbande des belgischen Staates unberührt. Männer und Frauen aller Parteien sind in ihm vereinigt. So ist man auf dem besten Wege, deutsch zu erhalten, was deutsch war und deutsch bleiben soll, und nicht von der Väter Art zu lassen. Was unsere Volks­ genossen im annektierten „Neubelgien" verlangen, ist eine Abstimmung, die frei und ungehindert erfolgen soll. Diese Abstimmung würde der Welt das große Un­ recht zeigen, das in den Wirren der Nachkriegszeit leider nicht so beachtet worden ist, wie es nötig gewesen wäre.

24 12. Geschichtlicher Rückblick. Eupen und Malmedy haben niemals einen Teil des Königreichs Belgien, dem sie durch das Versailler Diktat zugewiesen worden sind, gebildet. Sie waren lange preußischer Besitz, ehe Belgien überhaupt bestand, das sich ja erst durch die Revolution von 1830 aus dem Königreich der Niederlande losgelöst hat. Von einer „Wiedergewinnung" eines verlorengegangenen Gebietes kann deshalb überhaupt nicht gesprochen werden, und diese Behauptung wird nicht dadurch wahr, daß sie von amtlicher belgischer Stelle ausgesprochen wird. Die belgischen „Geschichtsschreiber" müssen schon zu der kühnen, durch nichts gerechtfertigten Konstruktion greifen, daß Belgien als Rechts­ nachfolgerin der südlichen Mederlande zugleich Rechtsnachfolgerin des burgundischen Reiches und der Habsburgischen Staaten links des Rheines sei. Eupen, das eine wechselvolle Geschichte erlebt hat, gehörte seit 1477 zum Hause Habsburg-Österreich, war 1566 an die spanischen Habsburger gefallen und gehörte dann seit 1714 wieder zu Österreich. Von 1797—1815 war es von Frankreich annektiert; 1815 kam es auf dem Wiener Kongreß zu Preußen. Ein kleiner westlicher Teil des Hinter­ landes von Eupen mit den Orten Welkenraedt, Membach, Baelen u. a., der ebenfalls deutsches Sprachgebiet war, wurde damals mit dem Gebiet, das das heutige Belgien umfaßt, dem Prinzen Wilhelm von Oranien zugeteilt, der es mit Holland zum Königreich der Niederlande vereinigte. Auch heute wird in diesem — seit 1830 zu Belgien gehörenden — Teil deutsch gesprochen. Es erscheinen in diesem eng begrenzten Gebiet auf belgischem Boden drei deutsche Zeitungen. Der Kreis Eupen, der im Jahre 1910 unter 27000 «An­ wohnern nur 98 Wallonen zählte, ist wie der Kreis Malmedy, der ebenfalls 1815 zu Preußen gekommen ist, in seiner loyalen Haltung gegen Preußen und das Reich stets vorbildlich gewesen. Malmedy war ursprünglich eine Benediktinerabtei und hat mit dem Kloster Stavelot zusammen unter einem gemeinsamen Abt ein kleines geistliches Fürstentum gebildet, das sich bis zur französischen Revolution selbständig erhalten hatte. Seit den Zeiten Heinrichs I. (919—936) gehörte es zum Deutschen Reich. Die kolonisatorische Tätigkeit beider Benediktinerabteien war im frühen Mittelalter außerordentlich erfolgreich; später trat ein gewisser Stillstand ein. Während Stavelot auf dem Wiener Kongreß an die Mederlande fiel und 1830 belgisch wurde, kam Malmedy an Preußen. Wenn Belgien glaubt, sich bei seinen Ansprüchen auf Malmedy auf die Untrennbarkeit Malmedys und Stavelots zu stützen — die beide um die Mitte des 7. Jahrhunderts vom hl. Remaklus, dem „Apostel der Ardennen", gegründet worden sind —, so mag die Bestimmung der „Goldenen Bulle" Kaiser Lothars (1137) herangezogen werden, die ausdrücklich besagt, daß die Abtei und ihr Besitz für alle Zeiten zum Deutschen Reiche gehören solle, daß sie niemals davon zu trennen sei oder einem fremden Heim unterstellt oder zu Lehen gegeben werden dürfe. Der Kreis Malmedy hatte im Jahre 1910 34768 Einwohner, darunter noch nicht 30% Wallonen.

Literatur zur weiteren Einführung: Tuckermann, Walther: Eupen, Malmedy und die Vennbahn. Berlin: Deutscher Schutzbund­ verlag 1926. 21 S. (Taschenbuch d. Grenz- u. Auslanddeutschtums. H. 4.)

II. 3m Horden. Vas Deutschtum in klorüschleswig. 13. Siegeransprüche des neutralen Dänemark. Als in den Tagen des Zu­ sammenbruchs der Bund unserer Feinde sich anschickte, das seit langem entworfene Programm der Aufteilung Deutschlands in die Tat umzusetzen, wollte niemand glauben, daß auch die Nordgrenze bei den zu erwartenden Friedensverhandlungen mit in die Erörterungen einbezogen werden würde. In Wirklichkeit meldete Dänemark sehr bald als erster — und einziger — neutraler Staat in Versailles seine Ansprüche auf Neuordnung der Grenzverhältnisse an. Leider zeigte damals die deutsche Öffentlichkeit wenig Verständnis für die Schicksalsfrage des Schleswig-

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Holsteinischen Volkes, die damit erneut in verhängnisvoller Weise angeschnitten wurde. Es mag sein, daß die große Not unseres Volkes manch einen daheim stumpf gemacht hatte. Aber auch heute noch, nachdem eine für Preußen und Deutschland unerträgliche Regelung der schleswigschen Frage getroffen worden ist, steht ihr der Binnendeutsche im allgemeinen ohne rechtes Verständnis gegenüber. Dieses Ver­ ständnis für die Lebensfragen unseres Grenzvolkes muß aber unter allen Um­ ständen geweckt werden; denn die Lebensfragen der Schleswig-Holsteiner sind auch unsere Lebensfragen. Vielleicht hätte damals in den Oktober- und Novembertagen des Jahres 1918 eine Verständigung zwischen Deutschland und Dänemark eine Lösung bringen können, der einsichtige Kreise in Schleswig-Holstein hätten zustimmen können. Daß sich Dänemark dieser Fühlungnahme entzog und lieber nach Versailles ging, um mit den Feinden im Bunde dem germanischen Brudervolk ein Stück Grenzland zu ent­ reißen, kann auch der Teil Deutschlands nicht verwinden, der an sich zu Zugeständ­ nissen bereit gewesen wäre. So wurden in das Friedensdiktat von Versailles in den Artikeln 109—114 Bestimmungen ausgenommen, die die Nordschleswig-Frage regeln sollten. Ihr Inhalt ist kurz folgender: die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark soll nach den Wünschen der Bevölkerung festgesetzt werden. Das Abstimmungs­ gebiet wird in zwei Zonen eingeteilt. In der ersten Zone soll „en bloc“, in der zweiten nach Gemeinden abgestimmt werden. Deutsche Truppen und Behörden müssen das Land verlassen; ihre Befugnisse gehen an eine internattonale Kom­ mission über. Deutschland tritt in den Teilen, die auf Grund des Abstimmungs­ ergebnisses an Dänemark fallen sollten, seine Hoheitsrechte an die Entente ab. In ihrer Notlage erklärte sich die deutsche Reichsregierung bereit, den dänischen Wünschen nach einer neuen, dem Prinzip der Nationalität entsprechenden Grenze auf dem Umwege über die Friedensverhandlungen entgegenzukommen. Mit Recht aber wies sie ausdrücklich darauf hin, daß die nordschleswigsche Frage in den 14 Punkten Wilsons gar nicht erwähnt sei. Trotz dieses Protestes gab sie eine Abstimmung in Nordschleswig zu, weil sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkennen wollte. Die vorgeschlagene Gestaltung der Abstimmungsbezirke so­ wie die Art und die Fristen der Abstimmung lehnte sie jedoch ab und machte Gegenvorschläge. Diese wurden indes nicht angenommen. 14. Die Abstimmung. Am 10. Februar 1920 stimmte die Bevölkerung der ersten Zone ab. Das Ergebnis war folgendes: 75431 Stimmen =74,2% wurden für Dänemark abgegeben, 25329 (Stimmen = 24,9% wurden für Deutschland abgegeben, 882 Stimmen = 0,9% waren ungültig. Da in diesem Gebiet „en bloc“ abgestimmt werden sollte, wurde die gesamte erste Zone Dänemark überantwortet. Dabei hatten die Städte Apenrade, Son­ derburg, Tondern,Ho her und zahlreiche andere Gemeinden deutsche Mehrheiten. In der zweiten Zone wurde am 14. März 1920, in der Zeit des KappPutsches, abgestimmt. Wohl versuchten die Dänen, dieses Ereignis ihrer Agitation nutzbar zu machen, aber vergeblich. Die Abstimmung hatte folgendes Ergebnis: für Deutschland wurden 51725 Stimmen = 80% abgegeben, für Dänemark wurden 12 725 Stimmen = 20% abgegeben.

26 Nur drei unbedeutende Gemeinden sahen dänische Mehrheiten. Die zweite Zone — in ihr das hart umkämpfte Flensburg — blieb deutsch!

Das Ergebnis der Abstimmung in der ersten Zone entspricht keineswegs der wahren Volksmeinung. Es ist unter feindlicher Besetzung zustande gekommen, und man soll nie vergessen, wie sehr der deutsche Teil der Bevölkerung damals durch Krieg, Revolution und wirtschaftliche Not seelisch zermürbt war. Demgegenüber

- - - - Alte deutsche Reichsgrenze.

Das an Dänemark abgetretene Gebiet. konnte sich die dänische Agitation ungehemmt entfalten; sie überschwemmte unter Ausnutzung der furchtbaren deutschen Nahrungsmittelnot die Bevölkerung mit Lebensmitteln. Der deutschen Aufklärungsarbeit wurden zahlreiche Hindernisse in den Weg gelegt. Tausende von Deutschen wurden ihres Stimmrechtes beraubt. Dazu kam die Ungerechtigkeit, die in der En bloe-Abstimmung der ersten Zone lag, durch die unzweifelhaft schleswigscher Boden unter dänische Herrschaft kam. Gerade die differenzierte Art der Abstimmung in der ersten und zweiten Zone zeigt deut­ lich, wie das zugunsten Dänemarks ausgeklügelte System der Abstimmung im höchsten

27 Maße ungerecht war. gerecht.

Deutschland wird diese Grenze nie anerkennen; sie ist un­

15. Bölkerkampf in derRordmark. Auf der Cimbrischen Halbinsel stoßen Nordund Westgermanen zusammen. Die Folge ist, daß diese Halbinsel und besonders das Land Schleswig seit den Tagen der Völkerwanderung zu einem Kampfgebiet

geworden ist. Die Vorposten der Nordgermanen sind die Dänen, die nach Süden vorstoßen, um die Herrschaft über die Halbinsel zu gewinnen. Die Deutschen treten diesen Versuchen entgegen und drängen die dänischen Angreifer nach Norden zurück. Die Vereinigung Schleswigs mit Holstein bildete den ersten großen Sieg des Deutschtums, den die Dänen niemals ganz rückgängig machen können, trotz aller energischen Versuche und trotz zeitlicher Erfolge im Mittelalter und in der Neuzeit. So ist der Kampf um die Nordmark uralt und bedingt durch die Lage des Landes. 16. Geschichtlicher Rückblick. 1. Nach der Abwanderung der westgermanischen Jüten und Angeln — die zu Beginn unserer Zeitrechnung in Schleswig lebten — nach England (Mitte des 5. Jahrhunderts) drangen die nordgermanischen Dänen, die ursprünglich im südlichen Schweden beheimatet waren, erobernd in Schleswig ein. Sie unterwarfen die Reste der Jüten und Angeln und verschmolzen sich mit ihnen zu einem besonderen Volk mit einer eigenen Sprache, einer Mischsprache, dem sogenannten Plattdänischen oder Westjütischen, das noch heute die gemeinsame Muttersprache aller Nordschleswiger bildet, der Deutschgesinnten wie der Dänischgesinnten.

Ende des 11. Jahrhunderts errichtete der Dänenkönig Sven Estridsen, der int Jahre 1047 zur Herrschaft gelangt war, zur Sicherung der Grenze im Süden eine eigene dänische Statthalterschaft, aus der sich später das Herzogtum Schleswig entwickelte. Zunächst war es üblich gewesen, daß die dänischen Könige ihre jüngeren Söhne aus rein dynastischen Rücksichten mit der Statthalterschaft betrauten; so übergab Erich der Gute im Jahre 1115 seinem jüngeren Sohn Knud Laward die Statthalterschaft; allmählich aber setzte sich der Anspruch auf Erblichkeit in der herzoglichen Würde durch, und so entstand das Herzogtum Schleswig. Knud Laward wie seine Nachfolger, die sich bereits Herzöge von Schleswig nannten, zeigten im Gegensatz zu den Dänenkönigen, deren Unabhängigkeit von Deutschland immer stärker zutage trat, deutliche Neigung zur Verbindung mit dem Süden und hier auch mit dem deutschen Kaiserhof. Gleichzeitig mit der Betrauung der Statthalterschaft der Grenzmark Schleswig war im Jahre 1111 Adolf von Schauenburg zum Grafen von Holstein und Stormarn ernannt worden. Ihr Geschlecht sollte für die weitere Entwicklung der Grenzmark Schleswig von größter Bedeutung werden. Die dänischen Herzöge strebten im Laufe der Jahre immer mehr nach größerer Selbständigkeit und suchten sich von Kopenhagen zu lösen. Hierbei fanden sie die starke Unterstützung der Schauenburger. Es kam zu einer dynastischen Verbindung der Herzöge von Schleswig mit den Grafen von Holstein. Aber die Grafen von Holstein waren die stärkeren und verstanden aus den dynastischen Beziehungen politische Vorteile herauszuholen. Der gewaltigste Schauenburger Graf Gerhard der Große, der seinen Neffen, Herzog Waldemar von Schleswig, zum dänischen König gemacht hat, ließ sich von diesem 1326 mit Schleswig belehnen. In schweren Kämpfen behaupteten die Schauenburger ihr Recht auf Schleswig und setzten die Verbindung Schleswigs mit Holstein durch: ein Markstein in der Geschichte Schleswig-Holsteins. Nach dem Aussterben der Schauenburger (1459) wurde König Christian I. von Dänemark aus dem Hause der Oldenburger, der Neffe des letzten Schauenburgers, von den SchleswigHolsteinischen Ständen 1460 zum Herzog von Schleswig und Grafen von Holstein gewählt. Dadurch wurde Schleswig-Holstein in Form der Personalunion mit Dänemark verbunden, während die Verbindung Schleswigs mit Holstein als eine Realunion bezeichnet werden muß. Der neue Regent des Landes mußte die staatsrechtliche Vereinigung der beiden Länder beschwören durch die berühmten Worte: „Dat se bliwen tosamende ewich

28 ungedelt“. Die Verwaltung Schleswig-Holsteins lag in den Händen der Stände, deren Rechte durch das Privileg vom 6. März 1460 sestgelegt sind. 2. Schleswig war durch die Schauenburger und den holsteinischen Adel für das Deutschtum gewonnen worden. Diese Entwicklung wurde dann durch den Einfluß der Hansa und später durch die Reformation in stärkstem Maße gesicherte Gerade in der Zeit der Hansa erfolgte eine zunehmende Einwanderung deutscher Kaufleute und deutscher Handwerker nach Schleswig, und durch die Reformation (Johann Bugenhagen) wurden die geistigen Bande engster Beziehung zwischen Schleswig und Deutschland geknüpft. In ganz Schleswig war deutsche Kultur heimisch. Bedeutsam für die Ausbreitung des Deutschtums war natürlich, daß der dänische König Christian I. ein Oldenburger, also ein Deutscher, war. So war das Königshaus deutsch, die Kopenhagener Kanzlei wurde deutsch, und viele Berater der dänischen Könige waren Deutsche. So im 16. Jahrhundert die beiden Rantzaus (Vater und Sohn), von denen vor allem der Vater hervorragt, Johann Rantzau, der als Königlicher Statthalter in den Herzogtümern, als Feldherr wie als Bahnbrecher der Reformation sich einen Namen gemacht hat, während der Sohn ein berühmter Humanist und Staatsmann war. So im 18. Jahrhundert die beiden Bernstorffs. Deutsche Adelige wandten sich mit Vorliebe nach Dänemark, weil sie dort in Heer, Diplomatie und Verwaltung zu den höchsten Ehrenstellen gelangten. Am Ende des 17. Jahrhunderts befanden sich in der dänischen Armee unter 546 Offizieren 410 Deutsche und nur 136 Dänen und Norweger. Im 18. Jahrhundert wurden zahl­ reiche deutsche Gelehrte und Dichter nach Dänemark berufen. Klopstock kam 1751 nach Kopenhagen und hat hier seine Messiade beendet. Im 18. Jahrhundert befanden sich fast auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, in Handel und Gewerbe, Kunst und Wissen­ schaft Deutsche in führenden Stellungen in Dänemark. Aber dieser überragende deutsche Einfluß mußte allmählich in national-dänischen Kreisen Widerspruch erregen und führte zur Entstehung einer national-dänischen Bewegung, die einen starken Antrieb erhielt durch Struensees takloses Verhalten gegenüber den Dänen. Der deutsche Arzt Dr. Struensee, der allmächtige Minister Dänemarks von 1770—1772, hatte sich in mancher Hinsicht mißliebig gemacht und verstand es nicht, die Sympathie der Dänen zu erwerben. Er sprach nur deutsch, weil er das Dänische nicht beherrschte, und gab sich auch keine Mühe, das Dänische zu erlernen. Nach Struensees Sturz 1772 kam die national-dänische Strömung zum Durchbruch. Die Regierungsmaßregeln trugen jetzt einen ausgesprochen dänischen Charakter. Die Verwaltungs- und Kommandosprache wurde dänisch, zu Beamten in Dänemark durften nur Inländer ernannt werden, und 1810 erschien ein Spracherlaß, der in Nordschleswig in Kirche, Schule und Gericht die dänische Sprache einführen sollte. Diese Maßregeln wurden in Schleswig-Holstein mit Unwillen ausgenommen und erweckten eine Gegenströmung, die allmählich einen national-deutschen Charakter annahm. Der dänische Staatsbankrott 1813 steigerte die Abneigung gegen Dänemark. Dazu kam die Verfassungsfrage. Leidenschaftlich setzte sich der Friese Uwe Jens Lornsen für gemein­ same Stände Schleswig-Holsteins ein, eine Forderung, die in Kopenhagen große Em­ pörung erregte. Lomsen wurde ein Opfer seiner Überzeugung, aber sein Wirken hatte Erfolg: 1834 wurden für Schleswig und Holstein Provinzialstände eingeführt, allerdings getrennte Stände, also nicht ganz das, was Lornsen erstrebt hatte. 3. Es gelang indes der eiderdänischen Propaganda*) in den Jahren 1830—1848, die von den dänischgesinnten Professoren Flor und Paulsen in Kiel geleitet wurde, einen Riß in die Bevölkerung Nordschleswigs hineinzubringen, indem man den Gegensatz zwischen den plattdänischsprechenden Bauern und den hochdeutschsprechenden Königlichen Beamten ausnutzte und den Bauern vorredete, daß man ihnen ihre Muttersprache vor­ enthielte, weil vor Gericht und in Verwaltung deutsch gesprochen wurde. Noch 1836 bei der ersten Tagung der Schleswigschen Ständeversammlung kam es nicht zur Bildung einer dänischen Partei, obwohl in Nordschleswig 9 plattdänischsprechende Abgeordnete gewählt waren: ein Beweis dafür, daß damals in Nordschleswig eine national-dänische Gesinnung überhaupt nicht vorhanden war. Erst nach 12 Jahren eifriger und geschickter *) Unter den Eiderdänen versteht man die dänisch gesinnten Bewohner Nordschleswigs, die die Grenzen Dänemarks bis zur Eider vorschieben wollen.

29 Agitation kam der Erfolg: am 12. November 1842 sprach Peter Hiort Lorenzen aus Hadersleben in der Schleswigschen Ständeversammlung dänisch zum lebhaften Befremden der Versammlung. Jetzt war der nationale Riß da; und man kann Wohl sagen, daß hier der Ausgangspunkt für die Entwicklung liegt, die zum Verlust im Jahre 1920 geführt hat.

Dann kam die Erbfolgefrage. Die Eiderdänen wollten die weibliche Erbfolge, die nur für Dänemark Geltung hatte, auch in Schleswig-Holstein einführen und außerdem Schleswig Dänemark einverleiben. Als es den Eiderdänen gelang, den König ihrem Willen unterzuordnen, erhoben sich die Schleswig-Holsteiner am 24. März 1848 zur Verteidigung der Rechte ihres Landes. Aber die Erhebung mißlang, weil ganz Europa außer Preußen auf Seiten Dänemarks stand. Bismarck wußte später den dänischen Rechtsbruch auszunutzen, der darin bestand, daß Dänemark im Widerspruch mit den 1851/52 den deutschen Großmächten gegebenen Versprechungen am 1. Januar 1864 Schleswig sich einverleibte. Dadurch und durch das Bündnis mit Österreich gelang es Bismarcks genialer Politik, Schleswig-Holstein zu befreien und mit Preußen zu ver­ einigen (Prager Frieden 1866). 4. Aber die preußische Regierung verstand es nicht, die Bevölkerung Nordschleswigs durch eine kluge Kultur- und Bodenpolitik innerlich für das Deutschtum zu gewinnen. Die Sprachverordnung vom 18. Dezember 1888, die das Dänische aus der Volksschule ver­ bannte, muß als ein schwerer politischer Fehler bezeichnet werden. Und die preußische Bodenpolitik, die große Domänen schuf statt deutsche Bauern anzusiedeln, hat nur den Dänen genützt, die jetzt aus den dänisch gewordenen Domänen Häuslerstellen bilden. Demgegenüber gelang es den Dänen durch eine geschickte Propaganda, die von Reichs­ dänemark unterstützt wurde, durch große kulturelle, wirtschaftliche und politische Organi­ sationen das Dänentum Nordschleswigs zu stärken und zu einem national festgeschlossenen, vom Deutschtum völlig abgesonderten Volksteil zu machen. Außerdem benutzten die Dänen den Artikel 5 des Prager Friedens, der eine Abstimmung in Nordschleswig forderte, mit großem Erfolg bei der Agitation. Deshalb wurde 1878 durch einen Vertrag zwischen Deutschland und Österreich der Artikel 5 aufgehoben. Aber daran kehrten die Dänen sich nicht, sondern fuhren fort, eine Abstimmung zu fordern und trugen dadurch dauernd Unruhe in die Bevölkerung hinein. So kam es, daß Nordschleswig dank einer wenig glücklichen deutschen Nordmarkpolitik und einer äußerst geschickten dänischen Politik bei Beginn des Weltkrieges dänischer war als je zuvor. Und als der Krieg verloren war, da hatten wir auch Nordschleswig verloren. 17. Gegenwärtiger Zustand. 40000 Deutsche sind so an Dänemark gefallen. Sie ringen um die Erhaltung ihrer Kultur und ihres Volkstums, und sie tragen an­ gesichts des ungerechten Abstimmuugsverfahrens und der dadurch bedingten Grenz­ führung in ihren Herzen die heiße Hoffnung auf künftige Rückkehr zu Deutschland.

Schon nach den wenigen Jahren dänischer Herrschaft kann man feststellen, daß die Verbindung mit Dänemark Nordschleswig schwer geschädigt hat. Es war falsch, daß man ein reines Agrarland, wie Nordschleswig, mit dem reinen Agrarland Dänemark vereinigte, und es war falsch, daß man eine wirtschaftliche Einheit, die mehr als 500 Jahre bestanden hatte, aus politischen Gründen zerriß. Außerdem ist Dänemarks Politik gegenüber Nordschleswig nach 1920 falsch gewesen. Jeder Hof, der an Dänemark fiel, büßte durch das Ausscheiden aus dem deutschen Zollgebiet mit seinen reichen Absatzmöglichkeiten ohne weiteres an Nutzwert ein. Dazu gesellte sich eine schwere finanzielle Belastung. Nach dem Kriege mußten die Bauern Hypotheken aufnehmen — Kronenhypotheken —, um ihre während des Krieges vernachlässigten Höfe wieder aufzubessern. Damals, 1920, stand die dänische Krone auf 0,55 Mark, d. h. auf dem halben Friedenswert; heute steht sie infolge der Politik der dänischen Nationalbank auf pari, d. h. auf 1,12 Mark. Da­ durch sind die Hypothekenschulden der nordschleswigschen Bauern auf das Doppelte

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erhöht; wer 10000 Kronen als Hypothek ausgenommen hatte, muß jetzt 20000 Kronen verzinsen bzw. zurückzahlen. Nicht wenige Bauernfamilien, die seit Jahr­ hunderten auf ihren Höfen sitzen, haben daher ihre Höfe verkaufen müssen. Zwangs­ auktionen, früher dort ganz unbekannt, sind jetzt an der Tagesordnung. Ganz Nordschleswig, früher ein reiches Land, ist ein „Armenhaus" geworden durch Dänemarks Schuld. Die Folge ist eine erbitterte Stimmung unter den Bauern, den deutschgesinnten wie auch manchen dänischgesinnten. Diese Stimmung fand ihren Ausdruck in der Bauernbewegung des Cornelius Petersen (1926) und später in der „Sammlungsbewegung", die, aus Deutschen und Dänen bestehend, im April 1928 einen Aufruf erließ, der beinahe Autonomie für Schleswig verlangte. Die Deutschen griffen Ende 1926 zur Selbsthilfe und gründeten eine Kredit­ anstalt, um den Deutschen ihren Besitz zu erhalten. Die Dänen folgten im Januar 1927 mit einer ähnlichen Gründung, um den dänischen Besitz zu erhalten. Jetzt kümmerte sich endlich die dänische Regierung um die Notlage Nordschleswigs und schuf Krediteinrichtungen zur Beseitigung der Notlage. Aber diese Mittel sind auf die Dauer wirkungslos. Helfen kann nur der wirtschaftliche Anschluß an Deutsch­ land, das ist die Überzeugung vieler Nordschleswiger, der deutschen wie auch mancher dänischgesinnten. Bei der Folketingswahl im Dezember 1926 haben die Deutschen den wirtschaftlichen Anschluß Nordschleswigs an Deutschland gefordert und mit dieser Wahlparole einen schönen Erfolg errungen: Erhöhung ihrer Stimmenzahl von 7715 auf 10422, d. h. um 36%. Dazu kommt die kulturelle Not der Deutschen. Die dänische Regierung hat gleich nach der Abtretung Nordschleswigs die deutschen höheren Schulen Nord­ schleswigs in dänische Staatsgymnasien umgewandelt, um das Heranwachsen einer deutschen Führerschicht zu verhindern. Und statt der 298 deutschen Volksschulen mit 26000 Schülern, die 1920 bestanden, gibt es heute noch 29 deutsche Volks­ schulen mit etwa 2400 Schülern. Diese öffentlichen deutschen Schulen bieten keine Gewähr dafür, daß die Kinder in deutschem Geist erzogen werden, weil die Lehrer von Schulkommissionen angestellt und beaufsichtigt werden, die in den meisten Fällen eine dänische Mehrheit haben. Man hat vielfach dänischgesinnte Lehrer angestellt, die der deutschen Sprache mächtig sind. Darum machen die Deutschen, von ihrem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch und gründen Privatschulen, die ganz von Deutschen geleitet werden und darum auch deutsche Gesinnung pflegen. Dank der großzügigen Hilfe der freien Organisationen Schleswig-Holsteins sindbis jetzt 21 deutsche Privatschulen, darunter 5 höhere, mit 827 Schülern gegründet worden. Aber noch immer müssen etwa 3000 deutsche Kinder dänische Schulen besuchen, weil nicht genügend deutsche Schulen da sind. Und da diese Kinder zu Hause plattdänisch, in der Schule hochdänisch lernen und am Ende der Schulzeit vielleicht kein deutsches Buch lesen können, so besteht die ernste Gefahr, daß manche dieser Kinder dem Deutschtum verloren gehen. Darum ist es dringend nötig, daß mehr Privatschulen gegründet werden. Auch fehlt den Deutschen bis jetzt jede Möglichkeit, Schüler deutscher Schulen zur Universität Kopenhagen zu entsenden, weil die dänische Regierung den deutschen Schulen weder die Berechtigung der mittleren Reife (Realskole) noch die Universi­ tätsreife (Studentereksamen) zubilligt. Die preußische Minderheitenordnung vom November 1928 verleiht den Minderheiten in Deutschland weitgehende Rechte. Die

31 Deutschen Nordschleswigs verlangen dieselben Rechte auch für ihre Schulen auf dänischem Gebiet, bis jetzt ohne jeden Erfolg. Die ablehnende Haltung der dänischen Regierung gegenüber den deutschen Schulforderungen zeigt die Absicht der Dänen, das Deutschtum Nordschleswigs allmählich aufzusaugen. Das darf nicht geschehen, das dürfen wir nicht zulassen. Die Deutschen in Nordschleswig ringen schwer um die Erhaltung ihrer nationalen Existenz. Sie kämpfen für uns als Vorposten des Deutschtums im Norden. Darum ist die Er­ haltung des Deutschtums Nordschleswigs eine nationale Pflicht aller Deutschen. Literatur zur weiteren Einführung: Brandt, Otto: Geschichte Schleswig-Holsteins. 2. Verb. Aufl. Kiel: Mühlau 1926. XII, 197 S. Handbuch zur schleswigschen Frage. Herausgegeben von Karl Alnor. Bd. 2. Neumünster i. Holst.: Wachholtz 1926—1929. Meyersahm, Hans: Der Kampf um die Nordmark (Abriß der Geschichte Schleswig-Holsteins). München: Oldenbourg 1928. VI, 110 S. mit 3 Taf. und 1 Karte.

III. Jm Osten. 18. Die deutsche Sprachgrenze auf dem deutschen Botts- und Kulturboden im Osten. Die deutsche Sprachgrenze im Westen unseres Vaterlandes, die sich im wesentlichen mit der Grenze des deutschen Volksbodens deckt, liegt eigentlich seit dem 10. Jahrhundert als eine nahezu gerade Linie zwischen den Alpen und der Nordsee fest; für sie sind nur ganz geringe Verschiebungen im Laufe der Zeit nach­ weisbar. Im Gegensatz zu dieser den Westen begrenzenden Linie kann von einer geradlinigen, deutlich markierbaren deutschen Sprachgrenze im Osten überhaupt nicht gesprochen werden. Völlig unentwirrbar haben sich hier während der letzten Jahrhunderte an der Nordostgrenze des Reiches zwischen Oder, Weichsel, Memel und Düna auf altgermanischem Boden (prähistorische Funde!) Germanen undSlawen vermischt. Und wenn wir die Ostgrenze unseres deutschen Volkstums weiter nach Süden bis hin zum Adriatischen Meer verfolgen, so sehen wir auch hier, wie es infolge eines erbitterten Sprachen- und Nationalitätenkampfes in mehr als tausend Jahren nicht möglich gewesen ist, durch eine einheitliche Grenze, die zugleich Sprach­ grenze wäre, auch die Staatsgrenze zu bestimmen. Wir sehen, wie die Tschechen sich auf altem deutschen Volksboden tief in das heutige Deutschland hineinpressen, wie anderseits von Nieder- und Oberösterreich aus auch noch heute bis weit hinein in Ungarn, bis hin zur Theiß, sich eine deutsch-magyarische Mischzone aus­ breitet, wie ganz im Süden, in Steiermark, in Kärnten und Kram die deutsche Bevölkerung mit den hartnäckig dort standhaltenden Slowenen um deutschen Volks- und Kulturboden ringt. Auf dieser ganzen Ostlinie, die im Laufe der staatlichen Entwicklung Deutsch­ lands durch die Jahrhunderte hindurch niemals eine einheitliche klare Grenzführung aufzuweisen hat, war der Kampf der Nationalitäten vor dem Weltkrieg entbrannt. Stark schoben sich im Norden die Polen, im Zentrum die Tschechen und im Süden die Slowenen in deutschen Kultur- und Volksboden vor und suchten die Erfolge deutscher Siedlungspolitik durch nationale Gegenmaßnahmen zu vernichten. Unsere Schuld war es, daß wir so wenig auf diesen Kampf geachtet, daß wir im Vertrauen auf die Kraft deutscher Kultur der Machtpolitik slawischer Völker mit unzulänglichen Mitteln begegneten und nie daran dachten, daß in mehr als einem

32 Punkte an unserer schwer bedrohten Ostgrenze mitten im Frieden ein erbitterter Kampf von Volk gegen Volk geführt wurde. Da kam der Weltkrieg mit seinem unglücklichen Ausgang, da kam der Wilsonsche Ruf der Befreiung der „unterjochten Gebiete" des Ostens, und nun wurden Staats­ grenzen neu geschaffen, die zugleich Nationalitätengrenzen sein sollten, und heute müssen wir sehen, wie eine beispiellose Machtpolitik dieser stawischen Völker ver­

sucht, den jenseits unserer Grenzen liegenden breiten Gürtel deutschen Volks- und Kulturbodens aufzulockern und slawischem Volkstum einzugliedern, wie eine Schulund Sprachenpolitik die Deutschen, die in einer Reihe dieser Staaten mit anderen Völkerschaften gemeinsam die Gesamtheit der Bevölkerung ausmachen, aufzu­ saugen und sich auch kulturell unterzuordnen bemüht. Die Hauptgewinner des Weltkrieges sind hier die Polen, die Tschechen und die Slowenen, zu denen sich noch — in gewissem Sinne — die Litauer und die Magyaren gesellen. Schmerzlich sind die Verluste der deutschsprechenden Bevölkerung, die aufzuhalten und wieder einzubringen erste nationale Pflicht Ge-

33 samtdeutschlands ist. Deutsches Volkstum hat wieder schwere Zeiten. Aber der Kampf ist nicht zu bestehen, wenn nicht das gesamte deutsche Volk ihn mitkämpft. Es muß um diese Dinge wissen; es muß wissen, daß sich dieser Kampf auf altem deutschen Boden abspielt, daß die staatlichen Grenzen nach den Verträgen von Versailles, St. Germain und Trianon mitten hindurchgehen durch deutschen Volksboden und daß weit darüber hinaus in fremde Staaten der deutsche Kulturboden ragt,

der sich wie ein breiter Gürtel — mit vielen vorgelagerten rein deutschen Inseln — um den deutschen Volksboden legt. Das ist der Boden, der, ursprünglich germanisches Stammland, vorübergehend verlorengegangen war und dann wieder durch deutsche Kolonisten kultiviert worden ist, dessen Siedlungen auch heute noch deutschen Charakter tragen, der dem beobachtenden Auge sofort als deutscher Boden erkennbar ist. Die Ostgrenze dieses deutschen Kulturbodens ist nach Penck bestimmt einerseits durch die Ostgrenze des Reiches von 1871 im Norden und des alten Deutschen Reiches von 1806 im Süden. (Vgl. die Karte am Schlüsse des Buches: „Karte des deutschen Volks- und Kulturbodens", entworfen von A. Penck.) 3 Boelitz, Geschichte des Auslanddeutschtums.

34 Um diesen alten Volks- und Kulturboden wogt heute die slawische Flut, die die einzelnen Siedlungsgebiete deutschen Volkstums, die, weit vorgelagert, gewisser­ maßen in offener See liegen, umbrandet und die die Grenzen des alten Volks­ und Kulturbodens des deutschen Volkes in hartem Wogenprall der Gefahr der Abschwemmung wichtiger Teile und des Eindringens slawischer Einflüsse stark aussetzt. Ein Blick auf die gefährdete Ostgrenze wird die Gefahr ohne weiteres vor Augen führen. Literatur zur weiteren Einführung: Penck, Albrecht: Deutscher Volks-und Kulturboden in „Volk unter Völkern". „Bücher des Deutschtums". Bd. 1. Breslau: Hirt 1925. S. 62ff.

1. Das Deutschtum in den an polen abgetretenen Gebieten. a) Das Deutschtum in der Ostmark.

19. Die Abtretungen an Polen und der polnische Korridor. Die im Friedens­ diktat von Versailles festgesetzte neue Grenze Deutschlands im Nordosten trennt den größten Teil der ehemaligen Provinz Posen (es blieb von dieser Provinz nur ein kleiner Streifen von 2220 qkm mit 100000 Einwohnern bei Preußen), sowie fast das ganze ehemalige Westpreußen vom preußischen Staat und damit vom Deutschen Reich. Zu diesen der Republik Polen zugesprochenen Gebieten kommen noch Teile Ostpreußens, das sog. Soldauer Gebiet, — hauptsächlich deshalb, weil Soldau Eisenbahnknotenpunkt ist, den Polen unter allen Umständen in der Hand haben wollte —, ein kleiner Teil Mittelschlesiens, einige Quadratkilometer der Provinz Pommern und ein kleines Stückchen der Provinz Brandenburg. Im einzelnen ergibt sich der Verlust an Land und Bevölkerung an Polen, den Preußen dadurch erlitt, aus folgender Zusammenstellung, die dem Stande vom 1. Dezember 1910 entnommen ist. Es mußten abtreten1): Muttersprache

Fläche in qkm

Zahl der Be­ wohner

Prov. Ostpreußen (Sol­ dauer Ecke)................. 24 787 501,4 Prov. Westpreußen. . . 15 864,5 964 704 224 „ Pommern . . . 9,6 „ Brandenburg . . — 0,1 ,, Posen................. 26 041,8 1 946 461 „ Schlesien (Kreis Namslau usw.) . . . 26 248 511,6

insgesamt

deutsch

deutsch und eine andere

polnisch

kaschubischmasur.

andere

895 9 232 5 289 411 621 14 807 433 281 — 180 44 — — — 669 859 11 194 1 263 346

9134 237 104 585 410 — — — — 69 1993

2 247

1 1371 113 789 4011

9 480

13149

42 929,0 2 962 424 1 100 372 29 143 1 715 109

Es lag Polen und Frankreich vor allem daran, den direkten Zusammenhang des preußischen Staates mit der Provinz Ostpreußen zu zerreißen. So wurde *) Die späteren Verluste