Reader zur sowjetischen Phraseologie 9783110851311, 9783110076097


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German Pages 155 [156] Year 1981

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Inhalt
Einleitung
Zur Phraseologizität sprachlicher Einheiten verschiedener Sprachebenen
Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien (an deutschem Material)
Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit. Typen phraseologischer Einheiten
Die phraseologischen Einheiten im Lichte der Asymmetrie des sprachlichen Zeichens
Die Methode der „phraseologischen Applikation" und die Klassifikation des phraseologischen Sprachmaterials. Zur Frage der systemhaften Beziehungen zwischen Lexik und Phraseologie
Zur Variabilität von Wort und Idiom
Phrasenbildende Prozesse und damit verbundene Begriffe
Traditionell-buchsprachliche Ausdrücke in der heutigen russischen Literatursprache (anhand der Werke V. I. Lenins)
Register der als phraseologisch zitierten russischen Wortverbindungen
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Reader zur sowjetischen Phraseologie
 9783110851311, 9783110076097

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de Gruyter Studienbuch

Reader zur sowjetischen Phraseologie Herausgegeben von Harald Jaksche, Ambros Sialm und Harald Burger

W G DE

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1981

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Reader zur sowjetischen Phraseologie / hrsg. von Harald Jaksche . . . - Berlin ; New York : de Gruyter, 1981. ISBN 3-11-007609-8 NE: Jaksche, Harald [Hrsg.]

© 1981 by Walter de Gruyter 8c Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner Veit 8c Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Einband: Lüderitz 8c Bauer, Berlin

Inhalt Einleitung

1

N. Janko-Trinickaja Zur Phraseologizität sprachlicher Einheiten verschiedener Sprachebenen

15

I. I. Cernyseva Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien (an deutschem Material)

29

D. N. Smelev Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit. Typen phraseologischer Einheiten

51

V. T. Gak Die phraseologischen Einheiten im Lichte der Asymmetrie des sprachlichen Zeichens

63

V. P. 2ukov Die Methode der „phraseologischen Applikation" und die Klassifikation des phraseologischen Sprachmaterials. Zur Frage der systemhaften Beziehungen zwischen Lexik und Phraseologie

75

V. N. Telija Zur Variabilität von Wort und Idiom

91

VI

Inhalt

J. A. Gvozdarev Phrasenbildende Prozesse und damit verbundene Begriffe . . 113 N. A. Mescerskij Traditionell-buchsprachliche Ausdrücke in der heutigen russischen Literatursprache (anhand der Werke V. I. Lenins) . . 1 3 1 Register der als phraseologisch zitierten russischen Wortverbindungen 145

Einleitung I. Mit dem Begriff „Phraseologie" wird in der Umgangssprache die besondere Ausdrucksweise eines Autors, einer Epoche, einer bestimmten sozialen oder ideologischen Gruppe oder einer bestimmten Textsorte bezeichnet. So spricht man etwa von der „Phraseologie der Neuen Linken", von einer „psychologischen Phraseologie" u.ä. In der Sprachwissenschaft meint der Begriff zunächst die Gesamtheit der in einer Sprache vorkommenden phraseologischen Erscheinungen (Phraseologismen), sodann auch die linguistische Teildisziplin, die sich mit den Phraseologismen befaßt. In der Sowjetunion hat sich die Phraseologie als Zweig der Sprachwissenschaft einen zum Teil auch institutionalisierten Platz neben den etablierten Disziplinen (Syntax, Stilforschung, Lexikologie) erobert. Phraseologische Erscheinungen werden in der sowjetischen Phraseologie mit vielen Namen benannt, die individuelle Schattierungen eigener Auffassungen ausdrücken. In synonymer Verwendung anzutreffen sind etwa: Phraseologismus, Phrasmus, Phrasmen, phraseologischer Ausdruck, phraseologische Einheit, phraseologische Redewendung, feste Wortverbindung, fester Wortkomplex, feste Phrase, idiomatische Wortverbindung, Idiom, Idiomatismus, u.ä. Die Phraseologie als sprachwissenschaftliche Teildisziplin untersucht die Merkmale dieser Phraseologismen (obligatorische und fakultative), ihre Funktion und ihre Entstehung (die sogenannte Phraseologisierung bzw. Idiomatisierung bzw. Phrasenbildung).

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Einleitung

Diese Analyse wird prinzipiell in der sowjetischen Forschung von drei Seiten her vorgenommen: 1. Die phraseologische Wortverbindung wird nach ihren inneren Eigenschaften untersucht: nach den phonetischen, morphematischen, syntagmatischen und lexematischen Besonderheiten der Komponenten und ihrer Beziehungen zueinander. 2. Die phraseologische Wortverbindung wird im Kontext (im weitesten Sinne) untersucht. Dazu gehören z.B. ihre funktionale Bestimmung als Satzglieder, ihre Valenz in semantischer und syntaktischer Hinsicht, dann aber auch die Beschreibung ihrer expressiv-stilistischen Eigenschaften, ihre Abhängigkeit von der jeweiligen Textsorte, ihre Variationsmöglichkeiten (als besondere Realisationen ein und derselben phraseologischen Wortverbindung), und schließlich die Bezüge solcher Wortverbindungen zu den sozialen Parametern wie Alter, Beruf, Bildung des Sprechers. 3. Phraseologische Wortverbindungen werden hinsichtlich ihrer Beziehungen zu den Subsystemen der Sprache untersucht, vor allem zum lexikalischen System einerseits, zum syntaktischen System (und den „freien", d.h. nicht-phraseologischen Wortverbindungen) andererseits. Ferner wird diskutiert, ob die Phraseologie ein eigenes Subsystem der Sprache darstelle oder ob die phraseologischen Erscheinungen sich über die einzelnen Subsysteme der Sprache verteilen. Als besonderes Gebiet innerhalb der Phraseologie kann noch die lexikographische Behandlung der Phraseologismen abgegrenzt werden. Gerade in lexikographischem Zusammenhang aber sind die drei genannten Aspekte für jeden phraseologischen Eintrag zu berücksichtigen. II. Was ist nun ein Phraseologismus? In der russischen Linguistik gibt es bis heute keine einheitliche Auffassung darüber, wie das Gebiet der Phraseologie abzugrenzen sei. „Phraseologismen sind feste Wortkomplexe verschiedener syntaktischer Strukturtypen mit

Ginleitung

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singulärer Verknüpfung der Komponenten, deren Bedeutung als Ergebnis einer vollständigen oder teilweisen semantischen Umdeutung oder Transformation des Komponentenbestandes entsteht" schreibt 1.1. ternyseva (1975, S. 209), die Begründerin der germanistischen Phraseologie in der Sowjetunion. „Unter Phraseologismus verstehen wir eine feste mehrgliedrige Einheit der Sprache mit ganzheitlicher (oder teilweise ganzheidicher) Bedeutung, die in kommunikativer Hinsicht keinen abgeschlossenen Satz bildet" (2ukov 1975, S. 36). M. M . Kopylenko (1965, S. 56) versteht unter Phraseologie die Wissenschaft von den Lexemverbindungen, und zwar nicht nur der sogenannt „festen", sondern auch der „freien" Wortverbindungen. In anderen Definitionen erscheinen auch Kriterien wie Bildhaftigkeit, Expressivität (emotionelle Färbung), Metaphorisierung, Reproduzierbarkeit, Äquivalenz zum Wort, Nicht-Modellierbarkeit, Ganzheitlichkeit der Bedeutung, Idiomatizität usw. Dabei ist allgemein anerkannt, daß keines der obigen Merkmale allein das phraseologische Gebiet abzugrenzen vermag. Während in einer ersten Annäherung der Phraseologismus äußerlich einer Wortverbindung gleicht und in bezug auf den Inhaltsplan als Wort erscheint, zeigt die genauere Untersuchung einzelner Phraseologismen auch, daß der Phraseologismus nicht aus Wörtern, sondern aus Komponenten besteht, denen bestimmte lexiko-grammatische Eigenschaften abgehen und zwischen denen besondere syntaktische Beziehungen bestehen, so daß auch eine Auffassung möglich wird, die den Phraseologismus als besondere Einheit im Sprachsystem von Wort und Wortverbindung unterscheidet und ihn als besonderes sekundäres sprachliches Zeichen untersucht (Molotkov 1977). Hierher gehört auch der Streit um die Phraseologie als eigene Disziplin, als besonderes sprachliches Subsystem und als eigene sprachliche Ebene mit der nur dieser Ebene eigenen, vom Wort und der Wortverbindung zu trennenden phraseologischen Einheit. Zu Recht hat Vinogradov (1969) diesen Streit als scholastisch und fruchtlos bezeichnet. In der heutigen sowjetischen Phraseologie ist man weitgehend von solchen Fragen der Systematik abgekommen.

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Einleitung

Es gilt allgemein als anerkannt, daß zur Phraseologie verschiedene strukturtypologische Erscheinungen mit einer Vielzahl von Mischtypen gehören, deren Heterogenität eine Klassifikation des gesamten phraseologischen Bestandes praktisch unmöglich macht. Die ursprünglich von Bally (1909) stammende Dreiteilung (unités

phraséologiques

indécomposables

— cas de transition entre les

unités et les séries — séries usuelles) bei Vinogradov (1947) wird in Lehrbüchern immer noch verwendet. Danach gibt es drei srascenija Gruppen von Phraseologismen, die frazeologiceskie („phraseologische Zusammenbildungen"), die frazeologiceskie edinstva („phraseologische Einheiten") und die frazeologiceskie socetanija („phraseologische Verbindungen"). Die erste Gruppe weist Phraseologismen auf, deren Bedeutung in keiner Weise aus den Komponenten ableitbar ist, d. h. ihre Bedeutung ist in Bezug auf das heutige lexikalische System nicht motiviert (Beispiel „jd. ins Bockshorn jagen"). In der zweiten Gruppe ist die Bedeutung motiviert („grünes Licht geben für etw."). Diese Gruppen verfügen über besondere gemeinsame Eigenschaften. Der formalen Mehrgliedrigkeit ( = sie bestehen aus mehreren Elementen, die morphosyntaktisch Wörtern gleichen) entspricht eine inhaltliche Ganzheitlichkeit, die lexikalischen Komponenten fungieren gemeinsam als ein Zeichen. Die dritte Gruppe weist „analytische" Bedeutung auf. Diese Phraseologismen stehen den freien Wortverbindungen nahe und unterscheiden sich von ihnen nur dadurch, daß in ihrem Bestand mindestens ein Wort in der sogenannten phraseologisch gebundenen Bedeutung auftritt („blinder Passagier"). Zwischen diesen drei Gruppen von Phraseologismen gibt es unzählige Zwischenstufen. Zudem ist auch die Grenze zu den freien Wortverbindungen fließend. Das größte derartige Grenzgebiet stellen die im Deutschen als „Streckformen" oder „Funktionsverbgefüge" bekannten festen Wortverbindungen aus Verbum plus Nomen dar (fürs Russische vgl. Deribas 1979; zum gesamten Problemkreis der Klassifikation von Phraseologismen vgl. Burger et al. 1981, Kap. 2).

Einleitung

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III. Die sowjetische Phraseologie behandelt über die oben angeführten, z.T. sehr unterschiedlichen sprachlichen Erscheinungen hinaus auch noch feste Wortverbindungen wie Sprichwörter, Aphorismen und Zitate (diese Auffassung ist bekannt unter dem Namen „Phraseologie im weiten Sinne", z.B. Archangel'skij 1964). Jahrzehntelang versuchte man dieses Sprachmaterial zu klassifizieren, so daß in der Russistik zahllose Klassifikationen erstellt wurden. Eine neue Klasse war auch oft das einzige Resultat der zahlreichen Dissertationen, die in der Sowjetunion zur Phraseologie entstanden. Es ist heute nicht mehr möglich, das in diesen Arbeiten behandelte Material zu überblicken. Bereits die erwähnte Grobeinteilung der Phraseologismen zeigt, daß zur Abgrenzung einzelner Typen Kriterien verwendet werden, die theoretisch genauer zu klären wären (Verlust der Zeichenfunktion, partielle Motivierung, phraseologische Bedeutung u.ä.). Heute ist deswegen prinzipiell anerkannt, daß eine Weiterentwicklung der Phraseologie nur möglich ist, wenn einerseits die theoretischen Grundlagen der Erforschung von Wortverbindungen thematisiert werden und wenn anderseits genau definierte Ausschnitte des Objektbereichs untersucht werden. Zum ersten Aufgabenbereich kann man etwa die neueren Versuche zählen, von einem zeichentheoretischen Gesichtspunkt her die phraseologischen Erscheinungen zu erfassen. Erster Niederschlag dieser Bemühungen ist der in der phraseologischen Literatur immer häufiger anzutreffende Begriff der „Nomination" (russ. nominacija) und mit ihm die Verbindungen „nominative Einheit", „nominative Funktion". Mit „Nomination" wird die Bildung sprachlicher Einheiten bezeichnet, die „nominative" Funktion aufweisen, d. h. zur Benennung (und damit Herauslösung) von Elementen der Wirklichkeit und zur Bildung der entsprechenden Begriffe dienen. Resultat der „Nomination" ist eine bedeutungstragende sprachliche Einheit in Form eines Wortes, eines Phraseologismus, einer freien Wortverbindung oder

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Einleitung

eines Satzes. Unter funktional-genetischem Aspekt werden primäre (nicht abgeleitete) und sekundäre (abgeleitete) Nomination unterschieden. In der zweiten, sekundären Funktion treten sprachliche Einheiten auf, die durch Umdeutung bereits bestehender Einheiten gebildet werden (Metapher — Metonymie — Bedeutungserweiterung usw.). Als Motiviertheit wird die Zurückführbarkeit der sekundären Einheiten auf die primären bezeichnet. Unter diesen Voraussetzungen wird die Bildung von Phraseologismen als besondere Art sekundärer Nomination betrachtet, bei deren Untersuchung es gilt, die Beziehung der sekundären zu den primären Einheiten (die „innere Form" des Phraseologismus) und die phraseologiebildenden Prozesse zu beschreiben. Der zweite Aufgabenbereich betrifft z. B. die Untersuchung einzelner Modelle und Felder. Hierbei zeigen sich insbesondere Beziehungen zur Lexikologie und zur Syntax. Zu den am besten untersuchten Teilgebieten gehört die Phraseologie des Vergleichs (vom Typ „schimpfen wie ein Rohrspatz", „etw. wie seinen Augapfel hüten", „wie aus der Kanone geschossen"). Die Behandlung einzelner Gruppen von Phraseologismen spielt nicht zuletzt für die lexikographische Behandlung von Phraseologismen eine entscheidene Rolle* Die Bedeutung der Modelle und Themareihen für die historische Phraseologie hat besonders Mokienko (1973) aufgezeigt. IV. Die vorliegende Sammlung gibt keinen Überblick über die Entwicklung der sowjetischen Phraseologieforschung. Ein solcher wäre angesichts der raschen Entwicklung des Faches, auch hinsichtlich Fragestellungen und Methoden, seit Vinogradov allenfalls von wissenschaftsgeschichdichem Interesse. Die Grundzüge dieser Entwicklung sind in deutscher Sprache bei Häusermann (1977) dargestellt. Die in diesem Reader versammelten Artikel wurden so ausgewählt, daß sie nicht nur den speziell an Phraseologie

Einleitung

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interessierten Leser anzusprechen vermögen. Deshalb sind neben den eigentlichen Spezialisten auf dem phraseologischen Gebiet (V. P. 2ukov, 1.1. Cernyseva, V. N. Telija, J. A. Gvozdarev) auch die durch Arbeiten zur Semantik und Lexikologie bekanntgewordenen Linguisten V. G. Gak und D. N. Smelev vertreten, sowie N. Janko-Trinickaja, die vorwiegend über Morphologie und Wortbildung arbeitet, und M. M. Mescerskij, einer der bedeutendsten Forscher auf dem Gebiet der russischen Sprachgeschichte. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, daß durch dieses Auswahlprinzip eine Reihe von Autoren nicht berücksichtigt werden konnten, die als führende Vertreter der sowjetischen Phraseologie gelten müssen. Ihre Namen findet der Leser in den Literaturangaben der einzelnen Aufsätze immer wieder genannt. (Von V. N. Telija, einer der bekanntesten Phraseologen, liegt eine größere Arbeit über Phraseologie in deutscher Sprache vor, in dem Handbuch „Allgemeine Sprachwissenschaft", hrsg. von B. A. Serebrennikow, Bd. 2, S. 374—429, deutsche Übersetzung Berlin 1975.) Dennoch war es überaus schwierig, aus der Fülle einschlägiger Arbeiten, die in irgendeiner Hinsicht als für den deutschsprachigen Leser besonders interessant zu werten sind, eine Auswahl von einigen wenigen Artikeln zu treffen, wie dies im gegebenen Rahmen notwendig war. Wir haben versucht, einen Einblick in die Vielfalt der Fragestellungen und Argumentationen, die in der sowjetischen Forschung aktuell sind, zu ermöglichen. Den Schwerpunkt bildet die semantische Problematik der phraseologischen Erscheinungen. Jeder Artikel steht für jeweils eine typische Arbeitsweise. Dabei ging es uns nicht so sehr darum, den letzten Stand der Diskussion wiederzugeben, als möglichst charakteristische Proben verschiedener methodischer Ansätze zu bieten. N. J a n k o - T r i n i c k a j a versucht in ihrem Aufsatz „Die Phraseologizität sprachlicher Einheiten verschiedener Sprachebenen", den Ort der Phraseologismen im Sprachsystem zu bestimmen. Die Sprache ist hierarchisch in Ebenen organisiert, die Einheiten einer Ebene sind jeweils aus Einheiten der vorausgehen-

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Einleitung

den niedrigeren Ebene zusammengesetzt. Diese Integration kleinerer Einheiten zu komplexeren geschieht nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten. Als phraseologisch werden jene Einheiten bezeichnet, die nicht den Bildungsregeln und Mustern der jeweiligen Ebene entsprechen, sei dies die phonologische, morphologische, die Ebene des Wortes, der Wortverbindung, der prädikativen Einheit oder des Satzes. Die Phraseologizität einer sprachlichen Einheit ist keine absolute Größe, sie muß auf einer Skala zwischen völliger Motiviertheit und völliger Unmotiviertheit in jedem einzelnen Fall bestimmt werden. Es gibt in der Sprache demnach kein eigenes phraseologisches System (als Subsystem wie etwa die Syntax) und keine eigene phraseologische Ebene. Die Verfasserin unterscheidet zwischen einer Phraseologizität für Sprecher und Hörer (die Gesamtbedeutung ist nicht durch die Komponenten motiviert) und einer Phraseologizität für den Sprecher allein (die Wahl einer bestimmten Komponente ist obligatorisch, die Bedeutung der komplexen Einheit ist jedoch normal). In ihrem Beitrag „Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien" nimmt I. I. t e r n y s e v a , wie schon der Titel zeigt, den entgegengesetzten Standpunkt ein: die phraseologischen Erscheinungen bilden in der Sprache ein eigenes System mit spezifischen Eigenschaften. Ihre Argumentation kommt wissenschaftsgeschichtlich aus der Diskussion über die lexikographische Behandlung der Phraseologismen (unter welchem Lemma sind sie einzuordnen, in welcher Form sind sie im Lexikon anzuführen, welche innersprachliche oder zwischensprachliche Übersetzung kann ihnen gerecht werden). Deshalb sieht die Verf. die Natur der Phraseologismen immer in Opposition zum Wort und stellt dabei als wesentliche Unterschiede fest: Phraseologismen sind „mehrgliedrig", Wörter „kompakt", semantisch muß zwischen einer phraseologischen und einer lexikalischen Bedeutung unterschieden werden. Diesem noch wenig erforschten semantischen Aspekt ist die Untersuchung gewidmet, in deren Verlauf die Unterschiede zwischen Phraseologie und Lexik in den semantischen Kategorien

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der Polysemie, Synonymie und Antonymie (an deutschen Beispielen) herausgearbeitet werden. Auch in methodologischer Hinsicht steht dieser Beitrag dem ersten gegenüber. D. N. S m e l e v schreibt über den „Begriff der phraseologischen Gebundenheit", der nach seiner Auffassung die wesentliche gemeinsame Eigenschaft der phraseologischen Einheiten ausdrückt. Er unterscheidet „paradigmatische Gebundenheit" (die Wortverbindung steht in einem Paradigma lexikalischer Einheiten), „syntagmatische Gebundenheit" (eine Komponente tritt nur in einer bestimmten lexikalischen Umgebung auf) und „derivationelle Gebundenheit" (die Bedeutung einer Komponente kommt nur in einer speziellen Verbindung vor). Nach diesen drei Merkmalen und ihren verschiedenen Kombinationen soll das phraseologische Material klassifiziert werden. Mit dieser Bezugnahme auf das lexikalische System und seine Achsen gelingt es, wichtige Eigenschaften fester Wortverbindungen sichtbar zu machen. V. T. G a k behandelt in seinem Aufsatz „Die phraseologischen Einheiten im Lichte der Asymmetrie des sprachlichen Zeichens" die Phraseologismen als besonderen Typ von „nominativen Einheiten" einer Sprache, der sich durch die Verbindung der drei Merkmale Mehrgliedrigkeit (im Ausdrucksplan), übertragene Bedeutung (im Inhaltsplan) und Festigkeit (in der Funktion) definieren läßt. Diese drei Merkmale Ergeben sich aus einem Zusammentreffen typischer Eigenschaften aller Sprachen: die Asymmetrie in syntagmatischer Hinsicht (mehrere Ausdruckseinheiten für eine Inhaltseinheit und umgekehrt) hat die Mehrgliedrigkeit zur Folge, die Asymmetrie in paradigmatischer Hinsicht (Polysemie, Synonymie) die übertragene Bedeutung (Funktionsverbgefüge werden hier also nicht als phraseologisch angesehen), und als nominative Einheiten der Langue haben die Phraseologismen die Eigenschaft der Festigkeit, die jedoch mehr die Verbindung von Begriffen als die Verbindung bestimmter Wörter fixiert. Die Asymmetrie selbst ist eine notwendige Eigenschaft der Sprache, denn nur durch sie verfügt sie über die Elastizität, um

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Einleitung

einer unerschöpflichen Menge von Inhalten gerecht werden zu können. Die Untersuchung der Typen von Asymmetrie kann onomasiologisch und semasiologisch geführt werden, wobei die Bedeutungsverschiebungen in den einzelnen Phraseologismen deutlich werden. Der zeichentheoretische Ansatz ermöglicht nicht nur Analogien zu ähnlichen Erscheinungen in Lexik, Morphologie und Syntax, sondern ordnet die Erscheinungen den semiotischen Mechanismen des Analytismus und Synthetismus zu. V. P. ¿ u k o v vergleicht in seinem Aufsatz „Die Methode der phraseologischen Applikation und die Klassifikation des phraseologischen Materials" die phraseologischen Wortverbindungen mit homonymen freien Verbindungen oder, wenn solche nicht vorhanden sind, die Gesamtbedeutung von Phraseologismen mit dem System der freien Wortbedeutungen, um die „Entfernung" des Phraseologismus von der Ausgangsverbindung festzustellen und die Unterschiede zum Wort in Semantik, Wortbildung, Morphologie und Syntax zu erfassen. In der daraus entstehenden Klassifikation gewinnt der Verf. Gruppen phraseologischer Einheiten, die er als Stufen im kontinuierlichen Prozeß der Phraseologisierung betrachtet. V. N. T e l i j a untersucht in dem Aufsatz „Zur Variabilität von Wort und Idiom" die Unterschiede zwischen Wörtern und Phraseologismen, insbesondere den stark idiomatischen Phraseologismen („Idiomen"). Obwohl die phraseologischen Komponenten ihre semantische Selbständigkeit verloren haben, bleiben bestimmte formale und assoziative Beziehungen erhalten, was sich in der Variierbarkeit der Phraseologismen zeigt. Im Unterschied zu den Wörtern ist bei den Idiomen die Polysemie eine Folge der potentiellen Assoziationen ihrer Komponenten. Die lexikalischen Variationsmöglichkeiten sind deshalb besonders reich, weil beim Idiom kein Kernmorphem als Träger der Grundbedeutung vorhanden ist (wie die Wurzel beim Lexem) und somit alle seine Komponenten variiert werden können. Je mehr Bedeutungselemente in einem Idiom vorkommen, die seinen Komponenten als freien Wörtern eigen sind, umso höher ist der Grad seiner Motiviertheit.

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Jene Forschungsrichtung, die sich mit der „Phraseologisierung" beschäftigt, versucht das Erscheinen so komplexer Sprachzeichen wie der phraseologischen Verbindungen als Resultat besonderer semantischer Prozesse zu erklären. Sie ist in der vorliegenden Sammlung durch ein Kapitel aus der Monographie „Grundzüge der russischen Phrasenbildung" von J. A. G v o z d a r e v vertreten. Die Phraseologie als Teilsystem der zusammengesetzten Zeichen hat in der Sprache die Funktion, das lexikalische System der einfachen Zeichen zu ergänzen und Erscheinungen der Wirklichen auf eine besondere Art (bildhaft und ausdrucksstark) darzustellen. Der wichtigste Vorgang dabei ist die (metaphorische und metonymische) Bedeutungsübertragung, deren Entstehung und Folgen in dem angeführten Text behandelt werden. Die Bedeutung, die ausgedrückt werden soll, wird als motivierende Basis, das Sprachmaterial, aus dem er besteht, als derivationelle Basis des Phraseologismus bezeichnet. Das Verhältnis zwischen beiden bestimmt den Grad des semantischen Zusammenhalts innerhalb der phraseologischen Verbindung. Die Wahl der derivationellen Basis für den Ausdruck einer bestimmten Bedeutung kann durch klangliche Faktoren oder aber durch Bedeutungsassoziationen bestimmt werden (hierher gehört z.B. der Symbolwert von Erscheinungen wie „Feuer", der einen Phraseologismus wie „vor Liebe brennen" möglich macht). Der letzte Beitrag der Sammlung über „Traditionell-buchsprachliche Ausdrücke in der heutigen russischen Literatursprache (anhand der Werke V. I. Lenins)" von N. A. M e s c e r s k i j ist ein Beispiel für die zahlreichen stilistischen Untersuchungen über die Verwendung von Phraseologismen in Texten. Er behandelt den Gebrauch volkstümlicher Redensarten biblischen Ursprungs in den Werken Lenins. Obwohl diese Ausdrücke im Russischen viel deutlicher als kirchlich gekennzeichnet sind als etwa im Deutschen, da sie vielfach Wörter und Formen des Kirchenslawischen enthalten, die dem Russischen fremd und dem Zeitgenossen deshalb nicht mehr verständlich sind, haben viele Führer der kommunistischen Bewegung in Rußland, insbesondere Lenin,

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Stalin und Chruscev, diese Ausdrucksmittel mit Vorliebe verwendet. Es ergibt sich dabei eine eigenartige Spannung durch die Übertragung von einem sprachlichen Subkode in einen anderen. Die mit der traditionellen Phraseologie verbundenen volkstümlichen Vorstellungen werden völlig umgedeutet, wobei jedoch stilistische Werte, z.B. besondere Erhabenheit, bewahrt werden können. V. Zur Übersetzung ist anzumerken: Die oft recht langen Reihen russischer Beispiele wurden teilweise reduziert, ohne daß dies jeweils vermerkt wurde. Dennoch wurden so viele Beispiele beibehalten, daß das für Russisten interessante Material prinzipiell erhalten bleibt. Bei den Übersetzungen der phraseologischen Beispiele wird jeweils zunächst eine (annähernd) wörtliche Entsprechung, danach die phraseologische Bedeutung gegeben. Daß bei stark idiomatischen Verbindungen eine wörtliche Übersetzung grundsätzlich problematisch ist, liegt in der Natur solcher Erscheinungen. Die Terminologie der russischen Arbeiten wurde zur besseren Verständlichkeit teilweise vereinheitlicht. So wurde die Eigenschaft der phraseologischen Ausdrücke, daß sie aus mehreren flektierten Wortformen bestehen (im Russischen razdel'nooformlennost' und neodnoclennost), einheitlich mit „Mehrgliedrigkeit" wiedergegeben. Allgemein werden die Termini Signifiant und Signifié für oznacajuscee „das Bezeichnende" und osnacaemoe „das Bezeichnete" eingesetzt. Die üblichen Siglen der russischen Zeitschriften und Serien wurden aufgelöst, mit Ausnahme der über die Slawistik hinaus bekannten Zeitschrift Voprosy jazykoznanija (= VJa). *

*

*

Von den Autoren ist A. Sialm, der sich mehrere Jahre lang an Ort und Stelle mit den Arbeiten der sowjetischen Phraseologen vertraut gemacht hat, für die Auswahl, H. Jaksche für die

Einleitung

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Übersetzung verantwortlich; Redaktion und terminologische Abstimmung mit dem „Handbuch der Phraseologie" (Burger et al. 1981) besorgte H. Burger.

VI. Zitierte Literatur Archangel'skij V. L. 1 9 6 4 : Ustojcivye frazy v sovremennom russkom jazyke (Osnovy teorii ustojcivych fraz i problemy obscej frazeologii). Rostov na Donu. Bally Ch. 1 9 0 9 : Traité de stilistique française. 2 Bde. Heidelberg. Burger, H. et al. 1 9 8 1 : Handbuch der Phraseologie. Berlin Cernyseva I. I. 1 9 7 5 : Phraseologie. — In: Stepanova M . D./ Cernyseva I. I., Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Moskau. Deribas V. M . 1 9 7 9 : Ustojcivye glagol'no-imennye slovosocetanija russkogo jazyka. Moskva. Häusermann J . 1 9 7 7 : Phraseologie. Hauptprobleme der deutschen Phraseologie auf der Basis sowjetischer Forschungsergebnisse. Tübingen. (Insbesondere für Slavisten ist auch auf den Band „Notizen und Materialien zur russistischen Linguistik" [ = Specimina Philologiae Slavicae 12, hrsg. von O. Horbatsch und G. Freidhof, Frankfurt a . M . 1977] hinzuweisen, in dem sich mehrere Beiträge von W. Eismann und St. Rittgasser mit der Phraseologie beschäftigen und der auch eine Besprechung des Buches von Häusermann enthält.) Kopylenko M . M . 1965: Ob ob'eme i metodach frazeologii kak naucnoj discipliny. — In: Voprosy frazeologii. Taskent. Mokienko V. M . 1 ^ 7 3 : Istoriceskaja frazeologija: etnografija ili lingvistika? — In: Voprosy jazykoznanija, 1 9 7 3 , 2, S. 21—34. Molotkov A. I. 1977: Osnovy frazeologii russkogo jazyka. Moskva. Vinogradov V. V. 1 9 4 7 : Ob osnovnych tipach frazeologiceskich edinic v russkom jazyke. — In: „Akademik A. A. Sachmatov". Trudy komissii po istorii AN SSSR, vyp. 3, Moskva - Leningrad, S. 3 3 9 - 3 6 4 . ds. 1969: O vzaimodejstvii leksiko-semanticeskich urovnej s grammaticeskimi v strukture jazyka. In: V. V. Vinogradov, Mysli o sovremennom russkom jazyke. Moskva, S. 5—23. ¿ u k o v V. P. 1 9 7 5 : O znakovosti komponentov frazeologizma. — In: Voprosy jazykoznanija, 1975, 6, S. 36—45.

N . Janko-Trinickaja

Zur Phraseologizität sprachlicher Einheiten verschiedener Sprachebenen Frazeologicnost' jazykovych edinic raznych urovnej jazyka* Die Arbeiten zur Phraseologie kann man nicht mehr nach Dutzenden oder nach Hunderten, sondern bereits nach Tausenden zählen1, und dennoch kann die grundlegende Frage nach dem Gegenstand der Phraseologie noch nicht als endgültig gelöst betrachtet werden. Die Mehrzahl der Forscher versteht unter Phraseologie die Gesamtheit der unfreien Wortverbindungen verschiedener Art, wobei der Begriff der Unfreiheit einmal enger gefaßt wird, so daß nur jene Wortverbindungen dazugehören, bei denen die Bedeutung des Ganzen nicht durch die Bedeutung der Komponenten motiviert ist, dann aber — und dies ist häufiger der Fall — wieder weiter, so daß zu den unfreien Wortverbindungen

* In: Izvestija AN SSSR, serija lit. i jaz., 1969, S. 4 2 9 - 4 3 6 . 1 Vgl. z. B. die umfangreiche Bibliographie zur Phraseologie von L. I. Rojzenzon und M. A. Pekler in Voprosy frazeologii, Taskent 1965, S. 1 4 7 - 2 4 4 . Im Laufe der letzten Jahre sind nicht wenige neue Arbeiten zu allgemeinen und speziellen Fragen der Phraseologie erschienen: V. N. Telija, Cto takoe frazeologija? Moskva 1966; Uc. zapiski M.O.P.I. im. Krupskoj t.160: Russkij jazyk, Voprosy russkoj frazeologii. Vyp. 2, 1966; Problemy frazeologii i zadaci ee izucenija v vyssej i srednej Skole, Vologda 1967; Voprosy frazeologii i sostavlenija frazeologiceskich slovarej (materialy IX Vsesojuznogo koordinacionnogo soveScanija, Baku 1968; Problemy ustojcivosti i variantnosti frazeologiceskich edinic. Materialy mefvuzovskogo simpoziuma, Tula 1968; M. M. Kopylenko, Opyt sopostavitel'nogo izucenija fraz. edinic tipa dat' sovet v slavjanskich jazykach, Voprosy jazykoznanija 1969, 2, S. 4 6 - 5 3 , u.a.

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N. Janko-Trinickaja

nicht nur alle Arten begrenzter Verknüpfbarkeit 2 von Wörtern gerechnet werden, sondern sogar verschiedene Arten von Zitaten. Viel Aufmerksamkeit - und oft das Hauptaugenmerk — wenden die Phraseologen dabei der Frage nach Ähnlichkeit und Verschiedenheit von Rhraseologismen und Wörtern zu, wobei man von dem nicht immer ausgesprochenen Grundsatz ausgeht, der Begriff des Wortes sei so klar, daß gerade in der Gegenüberstellung zu ihm die Bedeutung der phraseologischen Einheiten bestimmt werden könne. Aber gerade das Wort setzt einer Definition bedeutend größere Schwierigkeiten entgegen als die phraseologische Einheit, die man mit den Einheiten aller Sprachebenen vergleichen kann. In manchen Untersuchungen heißt es, zwischen den Komponenten eines Wortes seien Beziehungen festzustellen, wie sie für phraseologische Einheiten charakteristisch sind 3 , ja es wird sogar behauptet, daß jede phraseologische Einheit ein Wort und nur das Wort phraseologisch sei 4 . Um sich über die Bedeutung der Phraseologie und ihren Platz im Sprachsystem klar zu werden, muß man zunächst die Struktur der Sprache selbst betrachten. *

2

»

*

Siehe I. A. Mel'cuk, Ob odnom klasse frazeologiceskich socetanij (Opisanie leksiceskich socetaemosti s pomosc'ju semanticeskich parametrov.

— In:

Problemy ustojcivosti i variantnosti frazeol. edinic, Tula 1968, S. 5 1 - 6 5 . 3

Vgl. z. B. die Gegenüberstellung verschiedener Typen von Komposita mit verschiedenen

Klassen phraseologischer

Verbindungen

im Aufsatz:

M. - M.

Kopylenko, Iz nabljudenij nad sloznymi slovami v bolgarskom jazyke, Uc. zapiski Alma-Atinsk. ped. inst, inostrann. jazykov, t.2, vyp. 5, Kafedra russk. jazyka, 1957, S. 63 — 85; oder die Gegenüberstellung der Beziehungen zwischen den Komponenten eines einfachen, teilbaren Wortes mit den Beziehungen zwischen

den

Komponenten

einer

phraseologischen

und

einer

freien

Verbindung im Aufsatz: I. A. Mel'cuk, Obobscenie ponjatija frazeologizma (morfologiceskie „frazeologizmy"). voprosy

sovremennogo

In: Materialy konferencii „Aktual'nye

jazykoznanija

i

lingvisticeskoe

nasledie

E.

D.

Polivanova", Samarkand. 1964, t . l , S. 8 9 - 9 0 ; u.a. 4

s. M. V. Panov, O slove kak edinice jazyka. Uc. zapiski MGPI im. Potemkina, t. 51, Kafedra russk. jaz., 1958, v. 5, S. 1 2 9 - 1 6 5 .

Zur Phraseologizität sprachlicher Einheiten

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Als Ebenen oder Schichten der Sprache, die ihre Struktur bilden, werden die zunehmend komplexeren Systeme linearer Einheiten bezeichnet, in denen jede Einheit einer höheren Ebene aus Einheiten der vorausgehenden niedrigeren Ebene besteht. Mit anderen Worten: die Ebenen sind Systeme von Einheiten unterschiedlicher Komplexität, die untereinander in hierarchischer Beziehung stehen, was voraussetzt, daß die Einheiten des einen Systems vermittels einer Integration von Einheiten eines anderen Systems gewonnen werden. Solche Einheiten wachsender Komplexität sind in der Sprachstruktur des modernen Russischen: Phonem — Morphem — Lexem (Wort) — nominative Einheit (Wortverbindung) — prädikative Einheit — Satz5. Die Einheiten jeder folgenden Ebene unterscheiden sich von den Einheiten der jeweils vorangehenden Ebene nicht nur dadurch, daß sie aus Einheiten dieser Ebene zusammengesetzt sind und sie an Umfang übertreffen, sondern auch durch andere Merkmale, die auf jeder Ebene qualitativ verschieden sind. Größere lineare Komplexität zieht auch größere innere Komplexität der Einheiten der folgenden Ebene nach sich. Die charakteristischen Eigenschaften der sprachlichen Einheiten der verschiedenen Ebenen kann man (natürlich vereinfacht) im Schema auf S. 18 darstellen. Strukturierte Einheiten sind solche, die sich aus bedeutungstragenden Einheiten der vorhergehenden Ebene zusammensetzen, d.h. also Lexeme (Wörter), nominative Einheiten (Wortverbindungen), prädikative Einheiten und Sätze.

5

Der Ausdruck „nominative Einheit" wurde deswegen eingeführt, weil unter „Wortverbindung" meist eine Verbindung selbständiger Wörter verstanden wird, hier aber eine Verbindung beliebiger Wörter gemeint ist, sowohl selbständiger als auch selbständiger mit unselbständigen; der Begriff „prädikative Einheit" wurde gewählt, um den Begriff „Satz" nicht in zweifacher Bedeutung zu verwenden. Der Satz kann aus einer einteiligen prädikativen Einheit (sog. „einfacher Satz") oder aber aus mehreren prädikativen Einheiten (sog. „komplexer Satz") bestehen.

18

N. Janko-Trinickaja

nicht bedeutungstragend

Bedeutungstragend nicht strukturiert

Strukturiert formal ganzheitlich

Mehrgliedrig

Prädikativ

Kommunikativ

nicht kommunikativ

Satz

prädikat. Einheit

nicht prädikativ

nominat. Einheit

Lexem

Morphem

Phonem

Eine völlig freie Kombinierbarkeit bedeutungstragender Einheiten gibt es auf keiner Ebene: immer wird sie durch allgemeine oder besondere Regeln eingeschränkt, die mit der grammatischen Bedeutung der Einheiten, mit ihrer Semantik, manchmal mit ihrer stilistischen Markiertheit u.a. zusammenhängen. Beispielsweise „verbindet sich jedesmal, wenn wir ,wecken' verwenden, dieses Verb nur mit einer der beiden folgenden Kategorien: entweder mit der Bezeichnung eines Lebewesens oder mit einem Substantiv, das sich auf die Denk- und Gefühlssphäre bezieht" 6 . Andererseits bedingt die Strukturiertheit von Einheiten, daß es Muster (Modelle) ihrer Struktur geben kann und daß solche Einheiten eine offene Klasse bilden können. Jede Erscheinung, die systemhaft ist, muß sich wiederholen, d.h. sie gehört nur dann zu einem System, wenn sie sich wiederholt. Gerade in den Mustern, in denen sich die Wiederholbarkeit der strukturierten Einheiten realisieren läßt, zeigt sich die System6

M. M. Kopylenko, Zametki po obäcej frazeologii. — In: Problemy ustojiivosti i variantnosti fraz. edinic, Tula 1968, S. 18.

Zur Phraseologizität sprachlicher Einheiten

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haftigkeit der Einheiten einer Ebene, da die Muster die besonderen Gesetzmäßigkeiten der Integration der Komponenten wiedergeben und zusammenfassen, wobei sie sowohl die äußeren, strukturellen, als auch die inneren, semantischen Momente erfassen. Die Gesetzmäßigkeiten der Integration der Komponenten struktureller Einheiten sind von Ebene zu Ebene qualitativ verschieden. So nimmt beispielsweis die Fixiertheit der Stelle einer Komponente in der jeweiligen Einheit, obwohl für alle Ebenen gültig, von Ebene zu Ebene ab. Die verschiedenen Arten von Morphemen sind an ihre Position im Wort gebunden, sie können nicht vertauscht werden, und außerdem können bestimmte Stämme nur mit bestimmten Derivationssuffixen und Flexionssystemen verbunden werden. In der nominativen Einheit sind die meisten Wörter verschiebbar, aber es gibt eine gewöhnliche Wortstellung, deren Veränderung manchmal mit größeren oder kleineren Bedeutungsänderungen verbunden ist; auch ist für manche Wortarten (z. B. Präpositionen) eine feste Stellung in der nominativen Einheit charakteristisch. Außerdem weisen bestimmte Wortklassen eine begrenzte Verbindbarkeit mit Wörtern anderer Klassen auf; Zahlwörter z.B. verbinden sich nicht mit Verben und Adjektiven. Die nominativen Einheiten ihrerseits sind noch weniger an eine Position innerhalb der prädikativen Einheit gebunden, obwohl es auch hier eine bestimmte gewöhnliche Reihenfolge gibt, deren Veränderung manchmal eine Veränderung der Bedeutung nach sich ziehen kann, z.B. z/zw' pobezdaet smerf „Das Leben besiegt den Tod", puchovyj platok — teplyj „Ein Tuch aus Flaum ist warm", vstretil ucitelja sytia „traf den Lehrer des Sohnes" (wo ausnahmsweise auch im Russischen allein die Wortstellung Subjekt und Objekt, Attribut und Prädikatsnomen, Objekt und Attribut unterscheidet. Anm. d. Übers.). Die Fixiertheit der prädikativen Einheiten im Rahmen des Satzes schließlich ist minimal, aber auch hier tritt sie in manchen Fällen hervor: bei der prädikativen Einheit „Attributsatz" etwa ist die Position immer streng fixiert.

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Die Kehrseite dieser Eigenschaft der verschiedenen strukturierten Einheiten ist die von Ebene zu Ebene wachsende kommunikative Selbständigkeit, minimal beim Wort, maximal beim Satz. So unterliegt also die Integration der Einheiten der vorangehenden Ebene zu Einheiten der folgenden Ebene bestimmten Gesetzmäßigkeiten, auf deren Basis dann Modelle für die Bildung strukturierter Einheiten entstehen. Nun trifft man aber recht häufig auf Einheiten, die größere oder kleinere Abweichungen von den gültigen Konstruktionsregeln aufweisen und die damit Ausnahmen von den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Integration von Einheiten auf der jeweiligen Ebene darstellen. Die allgemeine Bezeichnung solcher Abweichungen von den Integrationsregeln ist bei bedeutungstragenden Einheiten „Phraseologie". Eine „phraseologische Einheit" oder ein „Phraseologismus" ist eine strukturierte Einheit, deren Bau den Integrationsregeln der jeweiligen Ebene nicht entspricht; mit anderen Worten: sie ist eine nicht-modellhafte Bildung. Der unikale, nicht modellhafte Charakter der phraseologischen Einheiten wurde von den Forschern seit langem festgestellt7. Eine Folge davon, daß der Phraseologismus in jedem Einzelfall eine Abweichung von den Integrationsregeln der bedeutungstragenden Einheiten darstellt, ist die Reproduzierbarkeit der phraseologischen Einheiten, ihr Funktionieren in der Rede als fertiges Ganzes. Einige Sprachwissenschaftler sind sogar der Meinung, daß die Reproduzierbarkeit zusammen- mit der Mehrgliedrigkeit (razdel'nooformlennost') ein hinreichendes Kriterium zur Abgrenzung der Phraseologismen von Nichtphraseologismen sei: „Jedes sprachliche Gebilde, welcher Länge, Struktur und Bedeutung es auch sei, ist ein Phraseologismus, wenn es über das Wort hinausgeht und reproduziert wird" 8 .

7

Vgl. z. B. E. D. Polivanov, Vvedenie v jazykoznanie dlja vostokovednych vuzov,

8

N. M. Sanskij, O frazeologizme kak jazykovoj edinice i predmete frazeologii. —

Leningrad 1928, S. 6 0 - 6 2 . In: Problemy ustojcivosti . . ., S. 11.

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Tatsächlich ist aber bei weitem nicht alles, was in der Rede reproduziert wird, ein Phraseologismus. Selbst wenn man von den einmorphemigen Einheiten der Sprache absieht, die immer reproduziert werden, aber nicht phraseologisch sind, findet man nicht selten Fälle von Reproduzierbarkeit mehrgliedriger Textsegmente, die keine Phraseologismen sind. Reproduziert werden Eigennamen, geographische Namen, Personennamen, Spitznamen, Pseudonyme, Rufnamen von Tieren u. ä., auch wenn sie aus mehreren Wörtern bestehen. Reproduziert werden Vor- und Vatersnamen, sowie Familiennamen berühmter und bekannter Menschen. Reproduziert werden Bezeichnungen verschiedener Gegenstände, Organisationen, Titel von Werken aus Literatur, Publizistik, Wissenschaft u.a., die Einheiten beliebiger Strukturebenen sein können. Reproduziert werden im Dialog Redeeinheiten des Gesprächspartners, die aus ganz regelmäßigen Syntagmen bestehen können. Reproduziert wird die sogenannte direkte Rede, deren wesentliche Besonderheit im Unterschied zur Autorenrede gerade in der syntaktischen Eigenschaft (sie) der Reproduziertheit besteht, wobei es gleichgültig ist, aus Einheiten welcher Ebene sie sich zusammensetzt. Reproduziert werden im Text Zitate, Auszüge aus literarischen, publizistischen und wissenschaftlichen Werken, Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten, geflügelte Worte, Aphorismen etc., die von den Baumustern der Einheiten in keiner Weise abweichen. Die Kenntnis solcher Ausdrücke hängt durchaus nicht immer von der Sprachkenntnis ab, sondern vielmehr vom kulturellen Niveau, von der Belesenheit in Literatur und Dichtung, von der Kenntnis der Geschichte, der Mythen und der Folklore, von Fremdsprachenkenntnissen und dgl. Viele unserer Zeitgenossen, besonders Städter, die die Hochsprache ausgezeichnet beherrschen, kennen außer den gängigsten fast keine volkstümlichen Sprichwörter und Redensarten. Man kann noch zahlreiche weitere Fälle der Reproduktion von Textabschnitten aus den Einheiten verschiedener Ebenen anführen, etwa lautes Lesen, öffentliches Vortragen von Poesie oder

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N. Janko-Trinickaja

Prosa, die szenische Rede der Schauspieler, allgemein übliche stereotype Wendungen der Berufssprache u.s.w., aber hierbei kann von Phraseologie gar keine Rede sein. Die Reproduziertheit phraseologischer Einheiten ist zwar die Folge irgendwelcher phraseologischen Besonderheiten, nicht aber das distinktive Merkmal des Phraseologischen. Man kann höchstens feststellen, daß phraseologische Einheiten ohne Zweifel immer reproduziert werden (merkmalhaft), die nichtphraseologischen aber entweder im Redeakt produziert oder reproduziert werden (merkmallos). Phraseologische Einheiten gibt es auf allen Strukturebenen der Sprache, z. B.: 1. Auf der Wortebene: koz'-ol „Ziegenbock", mit zwei Abweichungen von der Systemhaftigkeit: a) die Bezeichnung eines Wesens männlichen Geschlechts ist im Derivationsverhältnis gewöhnlich nicht von einer Ausgangsform weiblichen Geschlechts abgeleitet, b) die Komponente (das „Morphoid") -ol findet sich in keinem anderen Wort. Vgl. auch pro-mez-utok „Zwischenraum", mu-sor „Abfall", kur-nos(yi) „stupsnasig". 2. Auf der Ebene der nominativen Einheit: vverch tormaskami „Hals über Kopf", ebenfalls mit zwei Abweichungen von der Systemhaftigkeit: a) die Wortform tormaskami gehört zu keinem Substantivparadigma, obgleich es der Form und Funktion nach Substantiv im Instrumental ist. Vgl. vverch dnom „mit dem Boden nach oben" = „drunter und drüber", vverch nogami „mit den Füßen nach oben" u.ä.; b) die Wortform tormaskami kommt in keiner anderen Wortverbindung vor. Vgl. auch kricaf blagim matom „schreien wie am Spieß", vstupit' v clerty (kooperativa) „in die Glieder (einer Genossenschaft) eintreten" = „Mitglied (einer Genossenschaft) werden". 3. Auf der Ebene der prädikativen Einheit: (Esli my opozdaem, to) plakali nasi denezki „(Wenn wir uns verspäten,) ist unser Geld flöten". Auch hier haben wir eine Reihe von Abweichungen von der Systemhaftigkeit: a) das Wort plakali hat nicht die Bedeutung wie in freier Verwendung („weinten"), b) das Wort denezki

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(„Geld" dimin.) hat keine Wertmaßbedeutung, und es kann c) nicht durch den'gi „Geld" oder ein anderes synonymes Wort vom Typ kopejki „Kopeken", rubli „Rubel", kapitaly „Kapitale", sberezenija „Ersparnisse" ersetzt werden. 4. Auf der Satzebene, bestehend aus einer prädikativen Einheit: delo v sljape „die Sache ist im Hut" = „die Sache ist in Ordnung". Die Abweichungen von der Systemhaftigkeit liegen darin, daß a) die nominative Einheit v sljape „im Hut" nicht die Bedeutung hat wie in freier Verwendung, b) das Wort delo zwar die übliche Bedeutung hat, aber nicht durch den Plural ersetzt werden kann, c) delo nicht durch ein synonymes Wort ersetzt werden kann, etwa nacinanie „Vorhaben", zateja „Einfall", predprijatie „Unternehmen". Auf der Satzebene, bestehend aus zwei prädikativen Einheiten: Ne do ziru, byt' by zivu etwa „Man will nicht reich werden, wenn man nur lebt" = „nicht mehr als nötig". Die Abweichungen von der Systemhaftigkeit liegen darin, daß a) das Wort zir nicht die freie Bedeutung „Fett" hat, b) die Form zivu (von zw „lebend") keine Form im heutigen Adjektivsystem ist, c) der ganze Satz eine erweiterte, übertragene Bedeutung hat. Die Abweichungen von den Integrationsregeln der Komponenten können verschiedener Art sein: morphologisch, morphophonologisch, flexivisch, lexikalisch, semantisch, akzentologisch u.a. Insbesondere kann es auch eine nichtmotivierte Begrenztheit in der Verknüpfbarkeit einer Einheit sein. Solche Abweichungen können singulär sein oder aber eine kleinere Anzahl von Fällen umfassen. Der jeweilige Charakter der Regeldurchbrechung bei der Integration der Komponenten ist nicht unmittelbar an die Einheiten einer bestimmten Ebene gebunden, ist aber andererseits von der Ebene auch nicht ganz unabhängig. Die Beschaffenheit der Abweichung in einem gegebenen Phraseologismus kann mit einem gleichzeitigen Verstoß gegen die Integrationsregeln der Komponenten auf einer anderen, besonders einer der vorhergehenden Ebenen verbunden sein. Regelverstöße auf der Morphemebene

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können nicht nur im Gebrauch unikaler (singulärer) Morpheme, etwa eines unikalen FlexionsSystems bei dem Wort put' „Weg" oder im unikalen Präfix des Wortes zako-ulok „Seitengasse", bestehen, sondern z.B. auch im Gebrauch eines ungewöhnlichen, nicht systemhaften Morphs eines gewöhnlichen Morphems, etwa bei drug — druz-ba („Freund—Freundschaft"), aber druz'-ja („Freunde"). Hierher kann man auch die suppletiven Wortformen rechnen wie: ja — metija „ich — mich", idti — sei „gehen — ging", slat' — slju „schicken — schicke" u.s.w. Bei nominativen phraseologischen Einheiten können die Abweichungen dieselben sein wie bei den Wörtern, darüberhinaus sind hier aber auch unikale Wörter und Wortformen möglich, die in kein Paradigma passen oder vom usuellen Paradigma des Wortes abweichen, z.B. vyrt' da poloz' „her damit!". In nominativen Einheiten ist überdies eine strenge Fixierung der Wortfolge möglich, vgl. etwa bez godu nedelja „unlängst". In phraseologischen Einheiten höherer Ebenen trifft man alle Arten von Abweichungen, die auch den unteren Ebenen eigen sind, und darüber hinaus noch spezielle Besonderheiten. Auf der Satzebene z. B. sind Konstruktionen aus einer prädikativen Einheit möglich, bei der dasselbe Wort wiederholt wird, mit einer obligatorischen, streng fixierten lexikalischen Komponente, fester Wortfolge und Unmöglichkeit der Distanzstellung: Est' pafos i pafos „Es gibt Pathos und Pathos", est' romantika i romantika „es gibt Romantik und Romantik" (= Pathos und Romantik können verschieden sein, d.h. positiv und negativ)9. Vgl. dagegen bei Paustovskij: Est' pafos bor'by i pafos upornoj i talantlivoj raboty. (.. .) I to i drugoe ravnocenno. „Es gibt das Pathos des Kampfes und das Pathos hartnäckiger, talentierter Arbeit. (.. .) Beide sind gleichwertig." In diesem Fall liegt keine Phraseologizität vor.

9

Zu anderen Fällen syntaktischer Phraseologismen vgl. N . A. Janko-Trinickaja, Sintaksiceskie frazeologizmy s leksiceskimi povtorami. — In: Russkij jazyk v skole, 1967, Nr. 2, S. 8 7 - 9 3 .

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Die Phraseologie hat es also mit einer Integration sprachlicher Einheiten der bedeutungstragenden Sprachebenen zu tun, die das System sprengen, aber dennoch als Norm akzeptiert sind. In höchstem Grad ist Phraseologizität dem Wort eigen. Die Mehrzahl der Wörter ist in bestimmten Ausmaß phraseologisch, da die Wortbildungsbedeutung in der Regel viel weiter ist als die lexikalische Bedeutung. Es gibt aber immerhin auch gewichtige Gruppen nicht-phraseologischer Wörter, die nach Mustern gebildet sind und in denen die Wortbildungsbedeutung mit der lexikalischen Bedeutung zusammenfällt, etwa die Ableitung von Substantiven femininen Geschlechts von maskulinen Personenbezeichnungen mit dem Suffix -tel' vom Typ ucitel' — ucitel'nic(a) u.s.w. Vom Wort weiter nimmt die Phraseologizität der Einheiten von Ebene zu Ebene ab, d.h. die Menge der phraseologischen Einheiten wird geringer nicht nur in Bezug zur Gesamtmenge der Einheiten, sondern auch absolut. Schematisch kann man dies folgendermaßen darstellen:

Umgekehrt nimmt die Systemhaftigkeit der Einheiten von Ebene zu Ebene zu, d. h. die Zahl der Modelle und Integrationsregeln wird relativ geringer, das Material jedes Modells nimmt quantitativ zu, die Zahl der Anwendungsfälle jeder Regel wird größer.

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Folglich stellt also die Phraseologie keine eigene Ebene in der Hierarchie der Sprachstruktur dar, denn Phraseologismen gibt es auf allen Strukturebenen. Die phraseologischen Einheiten selbst besitzen als strukturierte Einheiten keine Muster, obgleich die Komponenten, aus denen sie sich zusammensetzen, sowohl wiederholbar als auch unikal, sowohl verschiebbar als auch fixiert sein können. Deshalb können die Phraseologismen als Einheiten der Sprache, die keine besondere Ebene in der Hierarchie der Struktur bilden, nicht mit den Einheiten irgendeiner Ebene verglichen werden (z.B. der lexematischen Ebene oder der Ebene der nominativen Einheiten), und ihre Systemhaftigkeit, falls eine solche festgestellt werden kann, muß eine eigene Spezifik aufweisen. In ein System können auch Einheiten verschiedener Ebenen eingehen, die zu einander in bestimmten besonderen Beziehungen stehen. So verbindet z. B. das stilistische System Einheiten verschiedener Ebenen nach besonderen Merkmalen, und zum gleichen Stil können Einheiten verschiedener Ebenen gehören. Alle Typen von Phraseologismen nicht in bezug auf die jeweilige Ebene, sondern nach spezifisch phraseologischen Merkmalen zu klassifizieren, ist überaus schwierig. Denn die Phraseologismen sind außerordentlich vielfältig und individuell, was den Grad und den Charakter ihrer Abweichung vom System betrifft. Aber auch der Grad der Phraseologizität selbst, d. h. der Grad der Abweichung von der Systemhaftigkeit der Integration von Einheiten, von den Modellen, kann verschieden sein und muß festgestellt werden. Man kann zwei Hauptgruppen, zwei Stufen von Phraseologizität unterscheiden: 1. Die Bedeutung der strukturierten Einheit ist nicht durch die Summe der Bedeutungen der Komponenten motiviert, sie kann nicht aus der Bedeutung der Komponenten abgeleitet werden. Dies ist entweder deshalb möglich, weil die Komponenten in der gegebenen Verbindung nicht ihre freie Bedeutung haben, oder weil sie unikal sind und frei überhaupt nicht verwendet werden,

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folglich gar keine freie Bedeutung haben. In diesen Phraseologismen hängt daher die Bedeutung des Ganzen in keiner Weise von der Bedeutung der Komponenten ab. Der Sprecher muß daher solche Phraseologismen kennen, um sie zu gebrauchen, der Hörer, um sie zu verstehen. Einige Beispiele für Phraseologismen dieses ersten Grades: a) auf Wortebene: cetver-g „Donnerstag", ne-suraz-n(yj) „unsinnig", oboj-udn(yj) „beiderseitig" (mit unikalen Morphemen), bes-cen-n(yj) „preislos" = „unschätzbar" etc. b) auf höheren Ebenen: iscadie ada „Ausgeburt der Hölle", temna voda vo oblacech etwa „dunkel ist das Wasser in den Wolken" = „dunkel ist der Rede Sinn", otkuda syr-bor zagorelsja „woher der feuchte Wald in Brand geriet" = „das war die Ursache von allem", vot gde sobaka zaryta „da liegt der Hund begraben" etc. 2. Die Bedeutung der strukturierten Einheit wird zwar durch die Bedeutung der Komponenten motiviert, kann aus der Bedeutung der Komponenten abgeleitet werden, aber die Wahl der einen oder anderen synonymen Komponente ist teilweise unmotiviert. Hier kann man nach den quantitativen Verhältnissen nicht immer die eine Variante als systemhaft und die andere als phraseologisch bestimmen. Dies nun ist Phraseologie nur für den Sprecher, der wissen muß, welche der möglichen synonymen Komponenten im betreffenden Fall zu verwenden ist; der Hörer aber versteht, wenn er die einzelnen Komponenten kennt, auch die Bedeutung ihrer Verbindung. Einige Beispiel von Phraseologismen dieses zweiten Grades, von Phraseologismen nur für den Sprecher: a) auf Wortebene: studenceskij „studentisch", gegenüber den sonstigen Adjektivableitungen von Personenbezeichnungen auf

-ent wie assistent-sk(ij), intelligent-sk(ij),

korrespondent-sk(ij)

u.s.w. Nicht motiviert ist auch die Festlegung des jeweiligen Flexionssystems bei suffixlosen unbelebten Substantiven wie sten-a „Wand", zven-o „Glied", ston „Stöhnen" u.ä., vgl. die Varianten zal/zala/zalo „Saal" und die Schwankungen im

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N. Janko-Trinickaja

Flexionssystem bei tuflja/tufel' „Schuh", stavnja/staven' „Fensterladen" fil'm/fil'ma „Film" etc. Als typisches Beispiel einer solchen Phraseologizität kann die sogenannte starke Rektion gelten, bei der ein bestimmtes Wort einen bestimmten Kasus „verlangt": imet' cto „etwas haben" (Akk.), aber vladet' cem „etwas besitzen" (mit Instr.), blagodarit' kogo „jd. danken" (Akk.), aber blagodaren komu „jd. dankbar" (Dativ), rukovodit' ketn/cem „etwas/jd. führen/leiten" (Instr.), aber napravljat' kogo/cto „etwas/jd. leiten/lenken" (Akk.) u.ä. Hierher gehören auch die verschiedenartigen Fälle von Einschränkungen der lexikalischen Verknüpfbarkeit auf einen engen Kreis von Komponenten: grosa (lomanogo, mednogo, uytertogo) ne stoit „es ist keinen (roten, lumpigen . . .) Heller wert", grobovoj (tisina, molcanie, aber nicht temnota oder tesnota) „Grabes-(stille, aber nicht -dunkel oder -enge)" etc. Bei der Auswahl der synonymen Mittel ist die Phraseologizität des Wortes größer als die der Einheiten höherer Ebenen, d. h. die Möglichkeit synonymer Bildungen des Typs maset — machaet „winkt", taksist — takser „Taxichauffeur" u.ä. ist äußerst begrenzt. Auch bei der Ableitbarkeit der Bedeutung der phraseologischen Einheit aus der Bedeutung der Komponenten sind unikale Komponenten möglich, die nur im betreffenden Phraseologismus vorkommen, gewöhnlich aber sind diese Wörter morphologisch und semantisch ableitbar und deshalb dem Hörer verständlich: zarabotnaja plata „Arbeitslohn", skrezet zubovnyj „Zähneknirschen", mertveckij p'jati „stockbetrunken", t'ma t'muscaja „wie Sand am Meer". Phraseologismen kann man nach verschiedensten Gruppierungen untersuchen, die nach verschiedensten Kriterien gebildet wurden, doch ist dabei immer der Platz der untersuchten Gruppe in der Sprachstruktur und im phraseologischen System der Sprache zu bestimmen10. 10

Die Autorin dankt N. A. Es'kova und I. A. Mel'cuk, die die Arbeit vor ihrer Publikation gelesen und eine Reihe nützlicher Bemerkungen gemacht haben.

I. I. Cernyseva

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien (an deutschem Material) Frazeologiceskaja

sistema i ee semanticeskie kategorii (Na materiale nemeckogo jazyka)*

Was die Beschreibung phraseologischer Systeme von Einzelsprachen betrifft, hat sich bereits eine beachtliche Erfahrung angesammelt, vor allem in Bezug auf Sprachen wie das Russische, Englische und Deutsche. Wenn aber die Sprache ein System von Systemen ist, dann setzt ein System als geschlossenes Ganzes voraus, daß es anderen Systemen der Sprache gegenübersteht oder gegenübergestellt werden kann. Besonders aktuell ist hier die Gegenüberstellung des phraseologischen Systems mit dem lexikalischen System, da gerade ein Vergleich von Lexem und Phraseologismus als zweiseitiger sprachlicher Einheiten das notwendige Material liefern kann, um die Streitfrage, ob die Phraseologie zum lexikalischen System gehört oder ein eigenes Teilsystem der Sprache ist, zu entscheiden. Bei der Bestimmung des Status der phraseologischen Einheit in der Sprache betonen sowjetische1 und ausländische Wissenschaftler 2 deren „Äquivalenz" zum Wort, die sich in der semantischen Ganzheit, in ihrem Vorkommen als fertige Einheit der langue und in ihrer Reproduzierbarkeit in der Rede widerspiegelt. * In: Inostrannye jazyki v skole, 1973, 2, S. 3 — 13. 1 A. I. Smirnickij, Leksikologjja anglijskogo jazyka. Moskva 1956, S. 208. 2 Ch. Bally, Traité de stilistique française. Heidelberg 1909. - F. Kainz: Psychologie der Sprache, Bd. 1: Grundlagen der allgemeinen Sprachpsychologie. Stuttgart 1941, S. 105 f.

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I. I. Cernyseva

Mit dem Ausdruck „Äquivalenz" hob man also jene Eigenschaften der festen Wortkomplexe hervor, die sie, analog zu den Wörtern, zu zweiseitigen Einheiten machen. Neben den Gemeinsamkeiten berücksichtigen die zitierten Arbeiten aber auch jene Eigenschaften, die Phraseologismus und Wort unterscheiden. So stellt A. I. Smirnickij fest, daß „die phraseologische Einheit in gewissem Sinne ein ,Äquivalent' des Wortes" sei, und daß „. . . phraseologische Einheiten zum Bereich der Lexik, im weiteren Sinne dieses Wortes", zu rechnen seien. Richtiger aber sei es vielleicht, „ein System der phraseologischen Einheiten als b e s o n d e r e n Bereich abzugrenzen" 3 (Hervorhebungen von I. I. C.). Auch Ch. Bally sieht zwar als Hauptmerkmal für die Identifikation eines Phraseologismus die Möglichkeit oder Unmöglichkeit an, ihn durch ein einfaches Wort (Wortidentifikator) zu ersetzen, unterstreicht jedoch selbst die Unzulänglichkeit einer solchen Gegenüberstellung angesichts der Nichtentsprechung der verglichenen Objekte in anderer Hinsicht. In ähnlicher Weise anerkannt F. Kainz die Äquivalenz von Phraseologismus und Wort in der oben angeführten Hinsicht, schreibt jedoch, daß die „Wortgruppen" (= Phraseologismen) Träger besonderer Begriffe seien, weshalb man sich auch keinen normalen Redeakt vorstellen könne, der ausschließlich aus solchen Bildungen bestehe. Ihre praktische Bedeutung liege darin, daß sie für eine idiomatisch richtige Ausdrucksweise wichtig seien4. In allen erwähnten Arbeiten wird also die Frage nach der Äquivalenz von Phraseologismus und Wort nur in Bezug auf den Bereich ihrer gemeinsamen Eigenschaften als Einheiten der Sprache gestellt, nämlich hinsichtlich der besonderen („ganzheitlichen") Bedeutung des Phraseologismus und seiner Reproduzierbarkeit als fertiger Einheit der Rede. Historisch kann man zum Problem der Klärung des sprachlichen Status der phraseologischen Einheit sagen, daß 3 4

Smirnickij, op. cit. S. 208. F. Kainz, I.e.

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

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Gelehrte wie Ch. Bally, A. I. Smirnickij und F. Kainz, wenn sie am Beginn der Entwicklung der Phraseologie die Äquivalenz von Phraseologismus und Wort hervorhoben, ein neues Verständnis dieser sprachlichen Einheit anstrebten und sie in den Bestand der sprachlichen Bildungen aufnehmen wollten. Zum Gegenstand der synchronen Phraseologie als linguistischer Disziplin wurde, nach einer treffenden Feststellung von V. N. Telija, die Erforschung der festen Wortverbindungen vor allem in Bezug auf ihre kategorialsemantischen Eigenschaften, die einerseits die inneren systemhaften Beziehungen der Einheiten der Phraseologie, andererseits ihre äußeren Beziehungen zu anderen Einheiten der Sprache widerspiegeln5. Bei der Lösung der zentralen Frage aber, ob die Phraseologie ein eigenes System darstelle, müssen gerade die spezifischen Eigenschaften, die nur für diese Einheiten, nicht aber für die Lexik gelten, berücksichtigt werden. Nur eine Überprüfung dieser Eigenschaften in Paradigmatik und Syntagmatik kann eine Entscheidung dieser Frage im einen oder anderen Sinn erbringen. Bevor wir diese Aufgabe lösen können, müssen wir aber unsere Auffassung des Terminus „Phraseologismus" präzisieren. Dies ist heute nicht weniger aktuell als in der ersten Periode der intensiven Entwicklung der phraseologischen Forschung nach dem Erscheinen der bekannten Arbeiten V. V. Vinogradovs. Damals vollzog sich eine Erweiterung des traditionellen Begriffs der Phraseologie auf die unterschiedlichsten festen Wortverbindungen: die analytischen Konstruktionen, die Verbindungen mit partieller semantischer Umformung des Komponentenbestandes (die „phraseologischen Verbindungen" nach der Einteilung Vinogradovs) und auch auf die zusammengesetzten Benennungen verschiedener Art. Die Tatsache, daß auf diese Weise eine ganze Reihe fester Wortverbindungen für die Phraseologie „erobert" wurde, erweiterte und verkomplizierte das Objekt dieser sich entwickelnden linguistischen Disziplin über die Maßen. Die Reaktion konnte 5

V. N. Telija, Teoreticeskie problemy sovetskogo jazykoznanija. Moskva 1968, S. 264.

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I. I. Cernyseva

nicht ausbleiben, das Bestreben nämlich, den Bereich der Phraseologie einzugrenzen. Dies versuchte N. N. Amosova in ihrem Buch „Grundlagen der englischen Phraseologie" 6 , das einen positiven Einfluß auf die weiter Entwicklung der phraseologischen Forschungen in unserem Land ausübte. Die Bemühungen Amosovas um eine streng wissenschafdiche Theorie zur Abgrenzung der Einheiten der Phraseologie von benachbarten und peripheren Bildungen führten jedoch nicht zu einer Klassifikation, die semantisch und funktional gleichartige Einheiten umfaßt hätte. Darüber hinaus macht der Ausschluß der festen prädikativen Strukturen und einer Reihe von sehr zahlreichen und funktional wichtigen Verbindungen, die Amosova als „Phraseoloide" [sie] bezeichnet, ihre Konzeption von der Phraseologie äußerst anfechtbar 7 . Die Bemerkung Amosovas in ihrer letzten Arbeit, daß die Phraseologen trotz ihrer verschiedenen Standpunkte dennoch alle die „Mehrwortbildungen" und „usuellen" Wortverknüpfungen mit bestimmten semantischen, strukturellen und funktionalen Eigenarten untersuchen, die sie sowohl von den Lexemen als auch von den abstraktmodellierten syntaktischen Konstruktionen unterscheiden 8 , ist für die laufende Diskussion über den Gegenstand der Phraseologie von großer Bedeutung. Dies gilt vor allem angesichts einer Tendenz, die sich bei einigen Linguisten bemerkbar macht, die Phraseologie zur Wissenschaft von der Verknüpfbarkeit der Lexeme zu machen 9 . Gerade gegen diese wendet sich N. N. Amosova, wenn sie ganz 6 7

8

9

N. N. Amosova, Osnovy anglijskoj frazeologii. Leningrad 1963. Vgl. die kritischen Bemerkungen zu dieser Theorie bei V. L. Archangel'skij: Metody frazeologiceskogo issledovanija v otecestvennom jazykoznanii (60—e gody X X v.). — In: Voprosy leksiki i frazeologii sovremennogo russkogo jazyka. Rostov-na-Donu 1968, S. 8 0 - 8 1 . N. N. Amosova, Sovremennoe sostojanie i perspektivy frazeologii. — In: VJa 1966, 3, S. 68. M. M. Kopylenko, Issledovanie v oblasti slavjanskoj frazeologii drevnejsej pory. Avtoreferat dokt. diss. Leningrad 1967, S. 8.

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richtig auf den wesentlichen Unterschied zwischen den zwei sprachlichen Gegebenheiten hinweist: den festen oder usuellen Wortkomplexen, die sich durch semantische Besonderheit auszeichnen, und der Valenz der Lexeme, wo das Wort in seinen verschiedenen Bedeutungen und Formen die „Analyseeinheit" ist; „die Analyse der Verbindungen, in denen ein bestimmtes Wort vorkommt . . . , liefert nur das Material zur Ermittlung der Bedingungen der semantischen Variation dieses Wortes in der Rede." 1 0 Verwandelt man also die Phraseologie in eine Wissenschaft von der allgemeinen Verknüpfbarkeit der Lexeme, so trägt man nichts zur zentralen Aufgabe bei, mit der sie sich seit ihrer Entstehung als linguistische Disziplin beschäftigt hat, d. h. zur Klärung der Frage, welche festen Wortkomplexe in ihren Kompetenzbereich gehören. Zu den zweifelsfreien Errungenschaften der phraseologischen Forschung unserer Zeit gehört u. E. die Abklärung des Bildungsmechanismus von allen Spielarten fester Wortkomplexe, die semantische Selbständigkeit aufweisen. Dies geschah mit den verschiedenen Methoden und Verfahren, wie sie die sowjetische Sprachwissenschaft hervorgebracht hat, so daß sich eine große Menge von Daten zu den semantischen und funktionalen Eigenschaften dieser festen Wortverbindungen angesammelt haben. Anhand der verschiedensten Sprachen hat sich gezeigt, daß Klassifizierungsmethoden und Terminologie unter diesen Bildungen die nichtmodellhaften Verbindungen mit singulärer Komponentenverknüpfung und singulärer, nicht wiederholt vorkommender Semantik eine zentrale Stellung einnehmen. Besonders diese festen Wortkomplexe werden in den meisten Arbeiten phraseologisch genannt. Dieser Meinung schließt sich eine immer größere Zahl von Forschern an. In diesem Zusammenhang erscheint uns die Präzisierung der Typen phraseologischer Verbindungen durch M . M . Kopylenko und Z. D. Popova, mit

10

Amosova, I.e. S. 69.

34

I. I. Cernyseva

ihrer Aussonderung der „eigentlichen Phraseologismen" bemerkenswert 11 . Die Phraseologismen oder „eigentlichen Phraseologismen" bilden den Kern der festen Wortverbindungen. Im Vergleich zu ihrer völligen Phraseologizität (= Idiomatizität) zeigen die übrigen Bildungen diese Merkmale in abnehmendem Grad sowohl hinsichtlich der Verknüpfung ihrer Komponenten (serienhafte, modellhafte Verbindbarkeit), als auch hinsichtlich des Bedeutungstyps (partielle semantische Verschiebung in nur einer Komponente, modellhafte Semantik). Bei der Bestimmung der Hauptmerkmale der Phraseologizität beziehen wir uns deshalb auf den Kern der obigen Stratifikation, wo die Einheiten ganz spezielle Eigenschaften aufweisen, die sie in höchstem Grad von den Lexemen unterscheiden. So müssen wir, um wieder zur Hauptfrage zurückzukommen, ob die Phraseologie ein eigenes System der Sprache darstellt, ihre Einheiten und sytemhaften Merkmale im Vergleich zu einem anderen System der Sprache, vor allem der Lexik, untersuchen. Zur Frage nach dem Wesen des Phraseologismus als zusammengesetztem Sprachzeichen und seiner Opposition zum einfachen Zeichen, dem Wort, gibt es eine beachtliche Literatur 12 . Während es beim materiellen (strukturellen) Gegensatz der Einheiten, der seit den bekannten Arbeiten A. I. Smirnickijs die Bezeichnung „Einheiten kompakter Formation (Wörter)" gegenüber „Einheiten getrennter Formation (Phraseologismen)" erhalten hat, keine Unklarheiten bestehen, ist ihre zweite, die innere (semantische) Seite bisher noch nicht gründlich erforscht. Deshalb erscheint das Problem der Semantik dieser Sprachzeichen, die mit dem Terminus „phraseologische Bedeutung" gegenüber der „lexikalischen Bedeutung" unterschieden wird, als zentral in der Theorie der Phraseologie. 11

12

M. M. Kopylenko, Z. D. Popova, Leksema i frazeosoietanie kak ob-ekty jazykoznanija. - In: Voprosy frazeologii III, Samarkand 1970, S. 8 1 - 9 3 . Vgl. die Referate und Beiträge zu den phraseologischen Konferenzen und Symposien in Cerepovec (1965), Tula (1968) und Samarkand (1971).

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

35

Inwiefern sind diese Größen identisch, inwiefern verschieden? Läßt sich auf der Basis der in der sowjetischen Linguistik tonangebenden semasiologischen Konzeptionen von der lexikalischen Bedeutung nachweisen, daß man mit Recht von einer „phraseologischen Bedeutung" spricht? Von der Lösung dieses Problems hängt auch die Behandlung aller anderen, davon abgeleiteten semasiologischen Kategorien und Begriffe ab. Es gibt in der Fachliteratur eine ganze Reihe wertvoller Beobachtungen zur Spezifik der phraseologischen Bedeutung, unabhängig davon, wie diese jeweils bezeichnet wird. Auch dort, wo einige Autoren weiterhin den traditionellen Begriff „lexikalische Bedeutung des Phraseologismus" verwenden, betonen sie verschiedentlich die Ungleichheit von Phraseologismus und Wort in formaler wie in semantischer Hinsicht. A. I. Molotkov, der Verfasser des „Phraseologischen Wörterbuchs der russischen Sprache", schreibt z.B.: „schließt man die seltenen Fälle, in denen Phraseologismus und Wort synonym sind, aus, so kann die lexikalische Bedeutung eines Phraseologismus nicht durch ein Wort oder die lexikalische Bedeutung eines Wortes wiedergegeben werden. Sie kann nur mit einer Wendung umschrieben werden, in der nicht nur die Bezeichnung einer bestimmten Eigenschaft, eines bestimmten Gegenstandes, einer Erscheinung etc. gegeben wird, sondern auch die sie präzisierende, sie begleitende, meist sehr entwickelte semantische Charakteristik. Die praktische Analyse der lexikalischen Bedeutungen der Phraseologismen des Russischen, wie sie z. B. im phraseologischen Wörterbuch der russischen Sprache' durchgeführt ist, bestätigt diese Auffassung." 13 Es gibt aber auch Arbeiten, die das Problem einer phraseologischen Bedeutung prinzipiell leugnen. Hier sei besonders auf den

13

A.

I. Molotkov,

Leksiceskoe

znacenie

frazeologizma.

— In:

Problemy

ustojcivosti i variantnosti fraz. edinic. Tula 1968, S. 3 1 6 ; ders., Frazeologizm i slovo kak ob-ekt leksikografii. - In: Voprosy frazeologii III, Samarkand 1970, S. 125.

36

I. I. Cernyseva

Artikel von E. N. Tolikina 1 4 hingewiesen, wo versucht wird, die Problematik der Bedeutung sprachlicher Zeichen verschiedenen Typs zu untersuchen. Die Autorin dieser semasiologischen Theorie stellt sich die Aufgabe, die Bedeutung phraseologischer Einheiten mit der aller anderen bildhaften Wortverwendungen, die zur sprachlichen Norm geworden sind, gleichzusetzen. Die Autorin beschreibt die Entstehung der Semantik von Phraseologismen und bildhaften Wörtern als Ergebnis der generativen Funktion der Sprachstruktur und erkennt ganz richtig den Zusammenhang zwischen ihrer Bildung und der Tatsache, daß „in der Sprechtätigkeit die Notwendigkeit auftaucht, auch einen solchen Inhalt auszudrücken, der genau genommen nicht irgendeinen gegenständlichen Bereich und auch keine Abstraktion eines solchen darstellt, sondern eine Beziehung dazu (ein emotionales, affektives, wertendes, modales Element etc.) ausdrückt" 1 5 . Man kann ihr auch dort zustimmen, wo sie feststellt, daß Phraseologismen und strukturell bedingte Wortbedeutungen in einer systematischen Hierarchie sprachlicher Zeichen und in synonymen Reihen stehen, wo dem Signifiant oder der kombinatorischen Variante die Beschreibungen des objektiven Inhalts durch ein pragmatisches Element der Bedeutung, das gleichzeitig als Begründung für seine Auswahl dient, entgegengestellt ist. Tolikina geht so ausschließlich von der semantischen Funktion und den Bildungskonditionen des Phraseologismus im Sprachsystem aus und meint, daß die Bedeutung des Phraseologismus völlig in die übertragene Bedeutung von Wörtern „integriert" werden könne. Und daraus wird der Schluß gezogen: „Die Abgrenzung der sprachlichen Einheiten nach ihrer Form (Wort vs. Phraseologismus) deckt sich nicht mit ihrer Abgrenzung nach der Bedeutung." 16

14

E. N. Tolikina, K voprosu o znacenii slova i znacenii frazeologizma. — In: Voprosy frazeologii III, Samarkand 1970.

15

Ebda. S. 2 1 9 .

16

Ebda. S. 2 2 1 .

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

37

In Wirklichkeit aber haben die Zeichen sekundärer Bildung je nach Form, d. h. je nachdem, ob es sich um kompakte Einheiten oder um mehrgliedrige Einheiten handelt (um Wörter oder Phraseologismen), neben gemeinsamen Zügen, wie sie oben erwähnt wurden, auch unterscheidende Eigenschaften. Während es in der Fachliteratur bereits interessantes und wertvolles Material zur Gegenüberstellung der Bedeutung von Wort und Phraseologismus gibt, bei der die lexikalische Bedeutung des Wortes die Betrachtung seiner semantischen Struktur mit allen dazugehörigen lexiko-semantischen Varianten 17 voraussetzt, muß für eine Erklärung der Spezifik der phraseologischen Bedeutung speziell die lexikalische Bedeutung sekundärer Bildung, d. h. die übertragene Wortbedeutung, im Vergleich mit der Bedeutung des Phraseologismus noch eigens untersucht werden. Faßt man die Bedeutung von Zeichen sekundärer Bildung als Kombination semantischer Komponenten auf, dann müssen in Wort und Phraseologismus notwendig eine denotative, eine signifikative und eine konnotative Komponente vorhanden sein. Die Konnotation ist ein obligatorischer Teil der Bedeutung jedes sprachlichen Zeichens sekundärer Bildung. Dagegen ist die Art der Bildung und die materielle Konkretisierung der Konnotation beim Wort und beim Phraseologismus verschieden. Während im Wort eine Bedeutungsverschiebung infolge eines Wechsels des Denotats entsteht, ist es bei der Phraseologisierung je nach dem Typ des Phraseologismus entweder eine vollständige oder eine partielle Metaphorisierung einer freien Wortverbindung. Daß der semantische Wandel im Phraseologismus eine Wortverbindung betrifft (phraseologische Einheit), ergibt eine bildhafte Motiviertheit der 17

Vgl. die Artikel von J. J. Avaliani, V. P. 2ukov, M. M. Kopylenko, Z. D. Popova, A. V. Kunin. A. I. Molotkov, A. L. Oniani, I. I. ternyseva u.a. in: Voprosy frazeologii III, Samarkand 1970; sowie auch die Spezialuntersuchung zur Semantik verbaler Phraseologismen von Ch. Ch. Eziev: Polisemija frazeologic. edinic sovremennogo nemeckogo jazyka. Kand. diss., Moskva 1967.

38

I. I. Cernyseva

Bedeutung von beständigerem Charakter, als dies bei Wörtern in übertragener Bedeutung der Fall ist, wo die Abnützung größer ist als beim phraseologischen Bild (daher: „abgegriffenes Bild"). Des weiteren bestätigt das Funktionieren der Phraseologisierung in der Rede, wie in in der Fachliteratur verschiedentlich gezeigt wurde 18 , daß die Mehrgliedrigkeit die Sprachzeichen sekundärer Bildung bezüglich der Konnotation einmalig und unwiederholbar macht. Die Bedeutung der Phraseologismen umfaßt mehr, was eine hohe potentielle Variabilität zur Folge hat. Die bildhaft-motivierte Bedeutung des Phraseologismus, die von einer mehrgliedrigen Form getragen wird, gestattet eine zielgerichtete Modifikation des Komponentenbestandes des Phraseologismus, deren Grenzfall die Bildung homonymer Wörter darstellt, die die Bedeutung der gesamten phraseologischen Einheit übernehmen (phraseologische Derivation). Vgl. im Deutschen Wörter wie „Korb" - ,Absage', „Bock" — ,Fehler' u.s.w. Die Wörterbücher registrieren natürlich nur die in der Gesellschaft eingebürgerten Einheiten, die durch massenhaften Gebrauch zur sprachlichen Norm geworden sind. Man findet im Sprachgebrauch aber auch eigenartige Übergangsformen, wo sich die substantivische Komponente gleichsam auf dem Weg befindet, die Bedeutung des ganzen Phraseologismus zu übernehmen, was durch den Verlust der traditionellen Flexion bei Komponenten von Phraseologismen begünstigt wird. Zum Beispiel: „Es stellte sich heraus, daß Paul der Frieda einen seiner Bären aufgebunden hatte" 19 . Neben den phraseologischen Einheiten, die sich von den Wörtern mit übertragener Bedeutung unterscheiden, sind auch die phraseologischen Verbindungen („Phraseme" in der Terminologie Amosovas) zu nennen, die eine zusammengesetzte Bedeutung aufweisen und sowohl durch die Art der Bildung als auch durch 18

19

L. M. Boldyreva, StilistiCeskie osobennosti funkcionirovanija frazeologizmov. Kand. Diss. Moskva 1967 u.a. G. Radtke, Das Versteck in der Bärenaue. Das Neue Berlin, 1972, S. 44.

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

39

die Art der Bedeutung von den erwähnten Lexikoneinheiten verschieden sind. Das bisher Gesagte führt folgerichtig zu dem Schluß, daß der Unterschied in der Form der Sprachzeichen sekundärer Bildung auch einen Unterschied in semantischer Hinsicht hervorruft. Eine terminologische Abgrenzung der Bedeutungen von Wörtern und von Phraseologismen ist deswegen, wie uns scheint, nicht nur wünschenwert, sondern notwendig. Die Unhaltbarkeit einer mechanischen Übertragung der Typen von lexikalischen Bedeutungen auf die phraseologische Einheit war auch das Thema einer Reihe von Vorträgen und Mitteilungen auf phraseologischen Konferenzen und Symposien der letzten Jahre 20 . Es ist offensichtlich, daß die Spezifik der phraseologischen Bedeutung den Schlüssel zur Klärung auch aller weiteren semantischen Kategorien, wie der phraseologischen Polysemie, Synonymie und Antonymie darstellt, die im folgenden behandelt werden sollen.

1. Die phraseologische Polysemie

Eine in letzter Zeit durchgeführte quantitative Beschreibung der Polysemie phraseologischer Einheiten in mehreren Sprachen zeigt, daß Polysemie hier im wesentlichen auf eine einzige Klasse beschränkt ist: die phraseologischen Einheiten, insbesondere sofern sie die Struktur verbaler Wortverbindungen haben. Das Material einer Untersuchung dieses Aspekts im Deutschen zeigt, 20

Vgl. M. T. Tagiev, K probleme razgranicenija tipov znacenija leksiceskich i frazeologiceskich edinic. — In: Problemy frazeologii i zadaci ee izucenija v vyssej i srednej skole. Vologda 1967. Dieses Problem wird auch in den Arbeiten von Avaliani, Zukov, Kunin und Sidorenko in Voprosy frazeologii III, Samarkand 1970, untersucht.

40

I. I. Cernyseva

daß die verbalen phraseologischen Einheiten etwa 9 % ausmachen 2 1 , die polysemen Phraseologismen des Russischen 17%22. Für die Struktur polysemer Phraseologismen ist charakteristisch, daß in den meisten Fällen zwei, seltener drei Bedeutungsvarianten vorhanden sind. In der gesamten verbalen Phraseologie des Deutschen ist nur ein einziger Phraseologismus verzeichnet, der sechs Bedeutungen aufweist: „auf die Tube drücken" 2 3 . Eine dynamische Betrachtung der phraseologischen Polysemie ist auch in bezug auf die Klärung der Besonderheiten der Phraseologismen als Sprachzeichen sekundärer Bildung von Interesse. Die Untersuchung der Entstehung von Polysemie hat gezeigt 24 , daß in der Phraseologie neben der sekundären Metaphorisierung, d.h. der semantischen Ableitung einer Einheit aus einer anderen, ähnlich der Derivation in der Lexik, noch eine andere Bildungsweise vorkommt, die nur in der Phraseologie zu finden ist. Dies ist die Bildung einer neuen semantisch-phraseologischen Variante durch parallele Metaphorisierung ein und derselben freien Wortverbindung. So hat z.B. „vor Anker gehen" als Phraseologismus zwei Bedeutungen: 1. ,sich niederlassen, in einem Gebäude Zuflucht finden (ein Lokal aufsuchen)', 2. ,sich niederlassen, Obdach finden = heiraten (eine Familie gründen)' 25 . Nach unserer

21

22

23

24

25

Ch. Ch. Eziev, Polisemija frazeol. edinic sovremennogo nemeckogo jazyka. Kand. Diss. Moskva 1969. Vgl. V. M. Gluchov, Voprosy mnogoznacnosti frazeolog. edinic i ich resenie v Frazeolog. slovare russkogo jazyka pod red. A. I. Molotkova. - In: Problemy ustojcivosti i variantnosti frazeologiceskich edinic, Tula 1968. H. Küpper, Wörterbuch der deutschen Umgangssprache, Bd. 1, Hamburg 1963. Vgl. I. I. Cernyseva, Frazeologija sovremennogo nemeckogo jazyka. Frazeologija kak sistema i ee svjaz s sistemoj leksiki. Dokt. Diss. Moskva 1964; — dieselbe, Frazeologija sovremennogo nemeckogo jazyka. Moskva 1970; — V. P. ¿ukov, O sopostavlenii mnogoznacnosti frazeologiceskoj edinicy s mnogoznacnost'ju slova. - In: Problemy ustojcivosti i variantnosti frazeol. edinic, Tula 1968. Vgl. W. Friederich, Moderne deutsche Idiomatik. München 1969, S. 383.

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

41

Meinung sind beide Bedeutungen aus der Metaphorisierung der freien Wortverbindung „vor Anker gehen" entstanden; eine semantische Ableitung der zweiten Variante aus der ersten oder umgekehrt ist hier schwerlich anzunehmen. Auch eine bedeutende Anzahl phraseologischer Homonyme entsteht durch parallele Metaphorisierung. Dies ist dann der Fall, wenn die so entstandenen Phraseologismen keine semantischen Assoziationsverbindungen haben. Ein anschauliches Beispiel ist der Phraseologismus „jemandem schwillt der Kamm", der nach der deutschen Lexikographie 26 in zwei Bedeutungen verwendet wird: 1. ,In Zorn geraten' (als Grundlage der semantischen Umbildung diente das Bild des durch Einströmen des Blutes schwellenden Kammes eines Hahns vor dem Kampf, wenn die Kampfhähne sich gegenseitig reizen); 2. ,Eine übertrieben hohe Meinung von sich haben, sich wie ein Truthahn aufplustern' (dasselbe Bild wird hier aufgrund einer anderen Assoziation umgedeutet). Diese Art der Entwicklung von Polysemie und Homonymie hat in der Phraseologie eine große Bedeutung, besonders bei der Entstehung von phraseologischen Homonymen. Dennoch wäre es übertrieben, die gesamte Polysemie auf die parallele Metaphorisierung zurückzuführen. Das Material der deutschen Phraseologie bestätigt jedenfalls die Meinung V. P ¿ukovs nicht, nach der „die einzelnen Bedeutungen eines polysemen Phraseologismus immer aufgrund einer Umdeutung" entstehen, „verursacht durch einen Akt der Metaphorisierung ein und derselben freien Wortverbindung." 27 Außerdem ist die Möglichkeit der semantischen Ableitung einer Bedeutung aus einer anderen in einzelnen Fällen in den lexikographischen Quellen als objektive Tatsache fixiert. Dafür mag die semantische Struktur des Phraseologismus „jd. über die Klinge springen lassen" als Beispiel dienen, die zwei miteinander semantisch verknüpfte Varianten aufweist: 1. J d . 26 27

Friederich, op. cit. S. 436. 2ukov, op. cit. S. 197.

42

I. I. ternyseva

töten'; 2. J d . wirtschaftlich ruinieren' 28 . Die erste Bedeutung stammt laut den etymologischen Wörterbüchern aus einer freien Wortverbindung der „alten Kriegersprache" mit der Grundform „den Kopf über die Klinge springen lassen". Diese Form ist noch bei Luther bezeugt: „Die ihm den Kopf über eine kalte Klinge hatten hüpfen lassen." Das Bild, das der primären Metaphorisierung zugrunde lag, ist der „abgetrennte Kopf, der über die Klinge oder über das Schwert springt." Der ursprüngliche Sinn des Ausdrucks wird, nach dem Wörterbuch von Borchardt 29 , gegen das 17. Jh. nicht mehr überall realisiert, d. h. der Phraseologismus wird demotiviert: Die Einheit gibt die Bedeutung ,töten' selbst wieder und verliert die bildhafte Motiviertheit. Dieses Vergessen des inneren Kerns bzw. des phraseologischen Bildes hatte auch eine Veränderung des materiellen Bestandes der phraseologischen Einheit zur Folge, die in allen Wörterbüchern mit dem Indefinitpronomen als „jemanden über die Klinge springen lassen" registriert wird. Die zweite Bedeutung, ,jd. wirtschaftlich ruinieren' ist nach unserer Uberzeugung aus der ersten durch sekundäre Metaphorisierung abgeleitet. In der Literatur werden so entstandene phraseologische Bedeutungen polysemer phraseologischer Einheiten manchmal „sekundär-bildhaft" genannt 30 . Zu unserem Schluß kommen wir nicht nur aufgrund der späteren Fixierung dieser semantisch-phraseologischen Variante in der Lexikographie, sondern auch und vor allem aufgrund einer semantischen Analyse der Basiseinheit und der abgeleiteten Einheit. Die sekundäre metaphorische Verschiebung ist nämlich durch die Bedeutung des Ausgangsphraseologismus limitiert. Da eine phraseologische Bedeutung aufgrund einer metaphorischen Verschiebung (hier der primären) entsteht, bildet sich eine übertragene „primärbildhafte" 28 29

30

Friederich, op. cit. S. 375. Borchardt, Wustmann, Schoppe, Die sprichwörtlichen Redensarten im deutschen Volksmund. Leipzig 1955, S. 271. J. D. Apresjan, Frazeologiceskie sinonimy tipa ,glagol + suscestvitel'noe' v sovremenn. angl. jazyke. Kand. Diss. Moskva 1956, S. 5.

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

43

Bedeutung 31 . Weist nun diese Bedeutung eine höhere Abstraktionsstufe auf, ist eine weitere (sekundäre) Metaphorisierung nicht mehr möglich. Im untersuchten Beispiel nun läßt die primär-bildhafte Bedeutung ,jd. töten' als physische Handlung eine weitere metaphorische Bedeutungsverschiebung vom Konkreten zum Abstrakten zu, was dann eine zweite abgeleitete Bedeutung ,jd. wirtschaftlich ruinieren' ergibt. Die hier beschriebene Entwicklung der Bedeutungsstruktur polysemer Phraseologismen ist sehr charakteristisch und läßt sich an einer ganzen Reihe weit verbreiteter Phraseologismen der heutigen deutschen Sprache belegen. Dazu gehören beispielsweise: „wieder auf die Beine kommen" — 1. ,wieder gesund werden'; 2. ,wirtschaftlich wieder hochkommen' 32 ; — „nach Luft schnappen": 1. ,mühsam atmen'; 2. ,wirtschaftlich schlecht daran sein' 33 ; — „das Gras wachsen hören": 1. ,sehr scharf hören'; 2. ,die Dinge in den ersten Anfängen erfahren (oder erkennen)' 34 ; - „wo er hinhaut, da wächst kein Gras mehr": 1. ,er ist stark, schlägt heftig zu'; 2. ,er übt vernichtende Kritik' 35 ; — „die Farbe wechseln": 1. ,bleich werden'; 2. ,die Überzeugung ändern' 36 . Interessanterweise hat man analoge Schlüsse über die Entwicklung der Polysemie dieses Typs auch anhand des russischen phraseologischen Materials gezogen37. Der potentielle sekundäre Wandel ist aber immer durch die Spezifik der phraseologischen Bedeutung begrenzt, die schon nach der primären Metaphorisierung in den meisten Fällen durch einen hohen Grad der Abstraktion charakterisiert ist. Vor allem damit 31 32 33 34 35 36 37

Terminus von Apresjan, I.e. Vgl. Friederich, op. cit. S. 163. Ebda. S. 40. Ebda. S. 316. Ebda. S. 315. Ebda. S. 69. Vgl. M. J. Sidorenko, Tipy razlicij mezdu sememami mnogoznacnych frazeologiceskich edinic. — In: Problemy ustojeivosti . . . S. 204.

44

I. I. ternyseva

hängen die qualitativen und quantitativen Unterschiede zwischen phraseologischer und lexikalischer Polysemie zusammen, wie auch das Auftreten einer zweiten, nur der Phraseologie eigenen Bildungsweise von Polysemie, der parallelen Metaphorisierung.

2. Die phraseologische Synonymie

Im Gegensatz zur Polysemie ist die Kategorie der phraseologischen Synonymie schon seit Mitte der 50er Jahren sehr intensiv anhand von Material aus den verschiedensten Sprachen untersucht worden 38 . Dieses Interesse der Forschung beruht auf der bemerkenswerten Produktivität dieser Kategorie, aber auch auf der strukturell-semantischen Eigenart der phraseologischen Synonyme, auf die zuerst die Erforscher der englischen Phraseologie hingewiesen haben, darunter besonders A. V. Kunin 39 . Für die ersten Arbeiten zur phraseologischen Synonymie war es typisch, daß das Augenmerk vor allem auf die Systematisierung der Synonyme nach strukturellen, semantischen, funktionalen u. a. Prinzipien gerichtet war. In den Arbeiten verschiedener Wissenschaftler, darunter auch der Verfasserin, nahm die Untersuchung verschieden und gleich strukturierter Synonyme und phraseologischer Varianten großen Raum ein. Einer der wesentlichsten Züge der phraseologischen Synonymie des Deutschen, der relativ früh festgestellt wurde, ist die Existenz

38

39

Vgl. die Spezialbibliographien: L. I. Rojzenzon, M. A. Pekler, Materialy k obscej bibliografii po voprosam frazeologii. Taskent 1965; — L. I. Rojzenzon, A. M. Busuj, Materialy k obscej bibliografii po voprosam frazeologii, vyp. 2, pod red. M. Kopylenko. Samarkand 1970. Vgl. A. V. Kunin, Nekotorye voprosy anglijskoj frazeologii (Anglo-russkij frazeologiceskij slovar'). Moskva 1955.

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

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einer großen Gruppe bedeutungsgleicher40 oder gleichwertiger41 Synonyme, eine Erscheinung, die der lexikalischen Synonymie völlig fremd ist. Die totale Bedeutungsgleichheit phraseologischer Synonyme — in semantischer, stilistischer und funktionaler Hinsicht — gibt es sowohl bei den strukturverschiedenen als auch bei den strukturgleichen Einheiten. Vgl. die Phraseologismen der Umgangssprache mit der gemeinsamen Bedeutung ,seltsamer, wunderlicher Mensch', ,nicht ganz bei Trost sein': a) strukturverschieden: „der hat einen Vogel", „bei dem piept es wohl", „bei dem ist eine Schraube locker"; b) mit gleicher Struktur: „nicht alle Töne auf der Zither haben", „nicht alle Töne auf der Flöte haben", „nicht alle auf dem Kasten haben", „nicht alle nebeneinander haben", „nicht alle Tassen im Schrank (Spind) haben", „nicht alle im Koffer haben". Zu den charakteristischen Besonderheiten der phraseologischen Synonymie gehört nicht nur die große Zahl bedeutungsgleicher Synonyme, sondern auch deren Festigkeit in der Sprache und darüber hinays ihre potentiell beliebige Erweiterung. Die Untersuchung phraseologischer synonymer Neologismen in der deutschen Umgangssprache, wie sie etwa in den Wörterbüchern von H. Küpper und einigen anderen als Bildungen des 20. Jh. inventarisiert sind, zeigen ein zahlenmäßiges Übergewicht bedeutungsgleicher Synonyme42.

40

41

41

I. I. ternyseva, Nekotorye osobennosti frazeologii sovremennogo nemeckogo jazyka. — In: Principy naucnogo analiza jazyka. Moskva 1959; — dies., Javlenija sinonimii i polisemii v frazeologii nemeckogo jazyka. In: Inostrannye jazyki v skole, 1960, 6; — dies., Frazeologija sovremennogo nemeckogo jazyka. Frazeologija kak sistema i svjaz' sa sistemoj leksiki. Dokt. diss., Moskva 1964; - G. I. Kramorenko, Frazeologiceskie varianty v idiomatike sovremennoge nemeckogo jazyka. Smolensk, 1961. Vgl. A. P. Chazanovic, Sinonimija vo frazeologii sovremennoge nemeckogo jazyka. Kand. diss., Leningrad 1958. Vgl. I. I. ternyseva, Frazeologija sovremennogo nemeckogo jazyka, S. 113-131.

46

I. I. Cernyseva

Die Ursache für diese durchaus eigenartige Erscheinung wurde von Anfang an mit dem „eigenen Gesicht" 4 3 der phraseologischen Synonyme und den Unterschieden der jeweiligen assoziativen und emotionalen Auffassung 44 in Zusammenhang gebracht. Letztlich kann aber nur eine systematische Erforschung der phraseologischen Synonymie eine objektive Erklärung für den beschriebenen Zustand liefern 45 . Betrachtet man die phraseologische Synonymie als semantische Kategorie, der nicht die lexikalische, sondern die phraseologische Bedeutung zugrunde liegt, kann man die Erscheinung der genau entsprechenden Synonyme folgendermaßen erklären: Nach der oben vorgeführten Auffassung der phraseologischen Bedeutung ist diese immer bildhaft-motiviert, was eine spezifische Konnotation dieser sprachlichen Zeichen sekundärer Bildung bewirkt. Die strukturelle Eigenart des Phraseologismus aber — seine Mehrgliedrigkeit — ist der Grund für die potentielle synonyme Variation von Phraseologismen, die ihren konnotativen Effekt erhöht. Damit hängt auch die bekannte Eigenschaft zusammen, die bildhafte Motiviertheit der Bedeutung in Sprache und Rede durch den Austausch von Komponenten zu „erneuern". Vgl. den verbreiteten scherzhaften umgangssprachlichen Ausdruck „ein alter Mann ist doch kein D-Zug" = ,ein alter Mann kann sich nicht so beeilen' und dessen neue Variante „ein alter Mann ist doch kein Düsenjäger" 4 6 , wo statt des traditionellen D-Zugs eine neue substantivische Komponente „Düsenjäger" verwendet wird. Die Mehrgliedrigkeit und die bildhaft-motivierte Semantik der sprachlichen Einheiten sekundärer Bildung ist somit der Grund, 43

44 45

46

Vgl. A. P. Chazanovic, Javlenie sinonimii v idiomatike sovremennogo nemeckogo jazyka. Uc. zap. Leningradskogo Gos. un-ta, ser. fil. nauk. vyp. 4 8 , 1958, S. 16. I. I. Cernyseva, ebda, S. 260. I. I. Cernyseva, Nekotorye semanticeskie kategorii frazeologii v sopostavlenii s kategorijami leksiki. — In: Voprosy frazeologii III, Samarkand 1970. Vgl. W. Friederich, op. cit. S. 329.

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

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daß sich die Kategorie der phraseologischen Synonymie wesentlich von der Synonymie in der Lexik unterscheidet. Deshalb koexistieren genau entsprechende phraseologische Synonyme in einer Sprache durch Jahrhunderte und zeigen nicht nur keinerlei Tendenz zu verschwinden, sondern vergrößern im Gegenteil ihren Bestand laufend.

3. Die phraseologische Antonymie Die phraseologische Antonymie ist in der Theorie der modernen Phraseologie am wenigsten erforscht. Den Anfang machten auch hier Untersuchungen von Material aus der englischen Phraseologie 47 . Bereits die ersten Ergebnisse der Analyse dieser semantischen Kategorie im Deutschen lassen eine gewisse Übereinstimmung von charakteristischen Zügen im Englischen und Deutschen erkennen. Logische Beschränkungen der semantischen Polaritäten wirken bei antonymen Phraseologismen in gleicher Weise wie bei antonymen Wörtern, d.h. wie in der Lexik kann es in der Phraseologie dort keine Antonyme geben, wo es keinen logischen Grund für eine Begriffskontrastierung gibt, etwa bei Eigennamen, geographischen Bezeichnungen, aber auch Appellativen wie „Gras", „Sand" etc. Die Unterschiede im Ausdruck der semantischen Polarität durch Wörter oder durch Phraseologismen hängen vor allem mit den Typen der ausgedrückten Bedeutungen und den strukturellen Besonderheiten der entsprechenden Einheiten zusammen: mit der Semantik sprachlicher Zeichen primärer und sekundärer Bildung und der Ungegliedertheit bzw. Mehrgliedrigkeit der Einheiten. Worin zeigen sich diese Unterschiede? Erstens quantitativ: die phraseologische Antonymie ist weniger entwickelt als die 47

A. I. Alechina, Frazeologiceskaja antonimija v sovremennom anglijskom jazyke. Kand. diss., Moskva 1968; - dies., Frazeologiceskaja antonimija v sovremennom anglijskom jazyke. Celjabinsk 1968.

48

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Antonymie der lexikalischen Einheiten. Darauf weist A. I. Alechina in ihrer Arbeit zur englischen Phraseologie hin 48 , und das gleiche Bild ergab sich uns bei einer, allerdings erst provisorischen, Untersuchung deutscher phraseologischer Antonyme 49 . Die quantitative Charakteristik des Materials nach lexikalisch-grammatischen Klassen ist bei der lexikalischen und der phraseologischen Antonymie ebenfalls nicht die gleiche. Die größte Zahl phraseologischer Antonyme ist bei den verbalen phraseologischen Einheiten zu beobachten 50 , während bei den antonymen Wörtern die Adjektive das Übergewicht haben. Und schließlich besteht eine Eigenschaft der phraseologischen Antonyme in ihrer Nichtmodellhaftigkeit, die durchwegs von der Spezifik der phraseologischen Bedeutung bestimmt wird. Können in der Lexik Antonyme Wurzelwörter oder Affixbildungen seih, die nach produktiven Wortbildungsmusterh gebaut sind (besonders in der deutschen Wortbildung), so hat die strukturell-semantische Nichtmodellierbarkeit der Phraseologismen zur Folge, daß jede Einheit, die antonyme Beziehungen eingeht, Prozessen einer singulären Phraseologisierung unterworfen ist. Infolgedessen darf man z.B. nicht annehmen, daß antonyme Wörter in Phraseologismen unbedingt deren Antonymie bewirken. Die antonymen Wörter „fremd" — „eigen" z.B. bilden in einigen phraseologischen Einheiten keine antonyme Relation: „etwas durch eine fremde Brille sehen" ( = .etwas mit fremden Augen sehen') — „alles nur durch seine eigene Brille sehen" ( = ,von allem eine absolut s u b j e k t i v e Meinung haben'). Vgl. dazu die Beschreibung der Bedeutung im Wörterbuch von Friederich: ,alles ganz subjektiv beurteilen' 51 . Umgekehrt bilden die nicht antonymen Adjektive „grün" — „rot" in einigen Phraseologismen antonyme Einheiten: „jd. grünes

48

Vgl. Alechina, op. cit. S. 14.

49

Vgl. W . Friederich, Moderne deutsche Idiomatik. München 1 9 6 6 .

50

Vgl. A. J. Alechina, op. cit. S. 31.

51

Vgl. W . Friederich, op. cit. S. 80.

Das phraseologische System und seine semantischen Kategorien

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Licht geben" ( = ,jd. eine Erlaubnis erteilen; einer Sache ihren ungehemmten Lauf lassen') und: „rotes Licht" ( = ,Verbot, Nichtzulassung einer Handlung') 52 . Es ist ganz klar, daß in jedem dieser Beispiele antonyme Beziehungen deshalb fehlen oder vorhanden sind, weil die Komponenten des Phraseologismus durch eine semantische Verschiebung neue Bedeutungen annehmen. Dies schließt natürlich Fälle nicht aus, in denen eine antonyme Beziehung von Phraseologismen durch antonyme Wörter entsteht, etwa „auf der richtigen Fährte sein" vs. „auf der falschen Fährte sein". Diese Bildungsweise phraseologischer Antonyme ist indessen nur eine von mehreren Möglichkeiten. Die weitere Untersuchung der phraseologischen Antonymie wird zweifellos weitere différentielle Merkmale dieser semantischen Kategorie aufdecken (und dieser Aspekt der deutschen Sprache der Gegenwart wartet noch auf seine Erforschung). *

*

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Das angeführte Material bietet u.E. die Grundlage für eine systematische Gegenüberstellung der Einheiten der Phraseologie und der Lexik. Als zweiseitige Sprachzeichen kontrastieren sie a) äußerlich (materiell) : Mehrgliedrigkeit vs. kompakte Form, und b) innerlich (semantisch) : phraseologische Bedeutung vs. lexikalische Bedeutung. Die Spezifik der phraseologischen Bedeutung liegt in der Art, Konnotationen auszudrücken. Alle semantischen Kategorien der Phraseologie (Polysemie, Homonymie, Synonymie, Antonymie) stehen zu den semantischen Kategorien der Lexik quantitativ und qualitativ in einem Gegensatz. Dies gibt uns die Berechtigung, die Phraseologie als System unter den übrigen Systemen der Sprache zu betrachten.

52

H. Küpper. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Bd. 2., Hamburg, 1963, S. 238.

D. N . Smelev

Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit Typen phraseologischer Einheiten Ponjatie frazeologiceskoj

svjazannosti. Tipy edinic*

frazeologiceskich

Wenn bei der Abgrenzung einer ungefähr gleichbleibenden Menge von Wortverbindungen als phraseologisch ganz verschiedene Merkmale herangezogen werden, die untereinander oft keine Beziehungen aufweisen und diese Menge in verschiedenen Richtungen einmal einschränken, dann wieder erweitern, dann muß man zugeben, daß entweder diese Merkmale nicht richtig beschrieben werden, oder aber daß der Begriff der „Phraseologizität", so wie er sich bis heute herausgebildet hat, in sich selbst widersprüchlich ist. Wie unterschiedlich man diesen Begriff auch versteht, so gibt es doch keine Zweifel, daß die Wortverbindungen, die man — wenn auch aus unterschiedlichen Gründen - zu den Phraseologismen zählt, bei allen Verschiedenheiten doch auch etwas Gemeinsames haben, was es nötig macht, sie zusammenzufassen und den freien Wortverbindungen gegenüberzustellen. Das Gemeinsame ist offensichtlich der Gegensatz zu den freien Wortverbindungen, d.h. die Gebundenheit. * Aus: D. N. Smelev, Sovremennyj russkij jazyk. Leksika. Moskva 1977. Es handelt sich um einen Abschnitt aus dem Buch „Die russische Sprache der Gegenwart. Lexik", die Nummern der Paragraphen (161 — 165) und die einzige Fußnote des Abschnitts wurden in der Übersetzung weggelassen.

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Natürlich kann man in diesem Fall solche Wortverbindungen nicht auf der Grundlage bestimmterer Merkmale als dem der „Gebundenheit" zusammenfassen, so wie es auch unmöglich ist, eine einheitliche Grundlage für ihre Klassifikation zu geben, da die Ursachen der „Gebundenheit" ganz verschieden sind. Man muß folglich zunächst den Charakter der Gebundenheit für die verschiedenen Gruppen von Wortverbindungen genauer bestimmen. Dazu ist es am besten, sich jenen innersprachlichen Beziehungen zuzuwenden, durch die die Bedeutung eines Wortes bestimmt wird. Wenn sich Wörter in der Rede entsprechend ihren Bedeutungen verbinden, bilden sie Wortverbindungen, die ein bestimmtes syntaktisches Muster oder eine syntaktische Formel realisieren. Und diese Wortverbindungen sind in der Sprache fixiert und stehen deshalb zueinander in bestimmten paradigmatischen Beziehungen. Dies sind dann natürlich bereits Beziehungen anderer Art als die zwischen konkreten Wörtern, es sind Beziehungen zwischen syntaktischen Einheiten, die syntaktische Paradigmen bilden. Die paradigmatische Bedeutung jeder konkreten Wortverbindung als syntaktischer Einheit wird bestimmt von ihrer Entsprechung zu einem bestimmten Konstruktionsmuster. In Wirklichkeit verhält es sich aber nicht immer so. Bei einer ganzen Reihe von Wortverbindungen wird die paradigmatische Bedeutung nicht durch die Beziehung zu einem Konstruktionsmuster bestimmt, sondern durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten lexikalischen Paradigma. In diesem Sinn sind sie p a r a d i g m a t i s c h gebunden. Bei manchen Verwandtschaftsbezeichnungen z.B. erscheinen zusammengesetzte Bildungen wie dvojurodnyj brat, etwa „zweitgeborener Bruder" = „Cousin", oder dvojurodnaja sestra, etwa „zweitgeborene Schwester" = „Cousine". Die paradigmatische Gebundenheit dieser Bezeichnungen beruht nicht auf semantischer Unteilbarkeit — eine solche liegt hier nicht vor — sondern darauf, daß sie bestimmte „Kästchen" in einer entsprechenden lexikalischen „Matrize" einnehmen: Vater — Mutter — Sohn — Tochter — Bruder —

Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit

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Schwester; Onkel - Tante - Neffe - Nichte — Cousin Cousine. Vgl. auch belyj grib „weißer Pilz" = „Steinpilz" innerhalb der anderen Pilzbezeichnungen (berezovik „Birkenpilz", openok „Eierschwamm" u.s.w.). Der Grad der semantischen Verschmelzung zusammengesetzter Bezeichnungen kann verschieden sein, vgl. die Pflanzennamen gvozdicnoe derevo „Nelkenbaum", konskij scavel' „Pferdesauerampfer", volc'i jagody „Wolfsbeeren" = „Seidelbast", medvezij koren' „Bärenwurz", medvez'e ucho „Bärenohr" = „gem. Wollkraut", l'vinyj zev „Löwenmaul", kurinaja slepota „Hühnerblindheit" = „Hahnenfuß", anjutiny glazki „Ännchenäuglein" = „Stiefmütterchen". Es ist klar, daß medvez'e ucho stärker verschmolzen ist als medvezij koren', aber medvezij koren' ist seinerseits weniger teilbar als etwa belyj grib, volc'i jagody u.a., bei denen ein Bestandteil die Artbezeichnung („Pilz", „Beeren") ist. Die paradigmatische Reihe, Welche die Gattungs- und Artbeziehungen der bezeichneten Objekte wiedergibt, ist in vielen Fällen gerade auf einer solchen (in jedem Fall spezifischen) Unterteilung der Gattungsbezeichnung aufgebaut: smorodina „Johannisbeere": cernaja „schwarze" — krasnaja „rote"; chleb „Brot": belyj „Weiß-" — cernyj „Schwarz-". Es ist leicht zu bemerken, daß gerade für Organisationen, Institutionen, offizielle Dokumente u.s.w. zusammengesetzte Bezeichnungen gebraucht werden: adresnyj stol „Adreßstelle", birza truda „Börse der Arbeit" = „Arbeitsamt", kassa vzaimopomosci „Unterstützungskasse,", dorn otdycha „Erholungsheim", attestat zrelosti „Reifezeugnis", gerbovyj sbor „Stempelgebühr" u.s.w. Motiviertheit und semantische Teilbarkeit solcher Bezeichnungen sind uneinheitlich. Natürlich ist auch ihre paradigmatische Bedingtheit in der jeweiligen Klasse ähnlicher Bezeichnungen (genau wie bei den entsprechenden eingliedrigen Bezeichnungen) uneinheitlich. Aber ihre paradigmatische Gebundenheit liegt nicht in der Art oder im Grad der festen Zugehörigkeit zu einer bestimmten paradigmatischen Reihe, sondern darin, daß sie

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überhaupt auf der Ebene lexikalischer Beziehungen, auf der Ebene der lexikalischen Paradigmatik verbleiben. Dadurch ist auch die „Äquivalenz zum Wort" bestimmt. Die feste Zugehörigkeit zu einem Paradigma setzt natürlich immer Stabilität und reguläre Reproduzierbarkeit der entsprechenden Bezeichnungen voraus, und deswegen ist an sich die Bedeutungsgleichheit von Einzelwort und Wortverbindung für den sprachlichen „Status" der letzteren nicht das Entscheidende. Für viele Wortverbindungen ist es charakteristisch, daß die Bindung zwischen ihren Komponenten determiniert ist: eine der Komponenten kommt nur in dieser einen lexikalischen Umgebung vor. Dies gilt für Wörter wie proselocnyj (proselocnaja doroga „Feldweg"), tornyj ( — doroga, — put' „ausgetretener Weg"), okladistyj (— boroda „Vollbart"), piscij (— bumaga „Schreibpapier"), kromesnyj (— ad „die wahre Hölle", — tnrak, — t'ma „ägyptische Finsternis"), zakadycnyj (— drug „Busenfreund"), zakljatyj (— vrag „Erzfeind"), vperit' (— glaza, vzgljad, vzor, oci „anstarren"), vozdet' (— ruki „die Hände erheben"), vmenif (— v vinu „als Schuld anrechnen", — v zaslugu „als Verdienst anrechnen", — v objazannost' „zur Pflicht rechnen"), smezit' (— glaza, oci, veki „die Augen/Lider schließen"), slezno (—prosit', molit', umoljat „flehentlich bitten"), zemno (— klanjat'sja „sich bis zur Erde verneigen"), skoropostizno (— umeret', skoncat'sja „unerwartet sterben"), vprosak (— popast', popast'sja „in die Patsche geraten"), naotrez (— otkazat', otkazat'sja „rundweg abschlagen"), ni zgi (— ne vidrto „es ist stockfinster"), dotla (— szec', sgoret', unictozit', razorit', razorjat'sja, proigrat'-sja „vollständig niederbrennen, abbrennen, vernichten, ruinieren, zugrunde gehen, alles verspielen") u.s.w.; d.h. das phraseologisch fixierte Wort signalisiert bereits eine bestimmte Wortverbindung, und folglich ist die Wortverbindung, in der es auftritt, syntagmatisch gebunden. Das aber ist wiederum Gebundenheit nicht auf syntaktischer, sondern auf lexikalischer Ebene. Gebunden ist die Wortverbindung nicht als syntaktische Einheit, sondern als Verbindung konkreter Wörter, d. h. als lexikalische Einheit (in

Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit

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syntaktischer Hinsicht sind alle oben aufgezählten Wortverbindungen wie strukturell entsprechende freie Wortverbindungen gebaut, z. B. transitives Verb + Nomen im Akkusativ u.s.f.). Kann man nun sagen, das phraseologisch gebundene Wort habe, da es außerhalb der fixierten Verbindung nicht verwendet wird, keine eigene Bedeutung? Tatsächlich ist die Bedeutung oft schwer für sich zu bestimmen, weil sie gleichsam in der Bedeutung des Ganzen aufgeht. Aber gleichzeitig drückt auch sie die Bedeutung des Ganzen aus, wobei sie potentiell die Fähigkeit behält, ihre syntagmatischen Grenzen zu sprengen und die „gespiegelte" Bedeutung in neuen Kontexten zu zeigen. Deshalb stimmt es nicht, daß solche Wörter ohne Bedeutung seien. Hätten Wörter wie Ijasy und zga etc. keine Bedeutung, so wären Wendungen wie Ne znaju, resena l' Zagadka zgi zagrobnoj (Pasternak) „Ich weiß nicht, ob das Rätsel der Finsternis (?) jenseits des Grabes gelöst ist", Ot etich let ne vspomnjat ni zgi „von diesen Jahren erinnert man sich an nichts", No nynce ne vremja ljubovnych Ijas (Majakovskij) „Doch nun ist nicht die Zeit verliebter Scherze" unmöglich. Unmöglich wären auch Bildungen wie baklusnicat' „faulenzen" (da das Wort baklusi ja in der Wortverbindung bit' baklusi „faulenzen" fixiert ist wie Ijasy in tocit' Ijasy „scherzen, plaudern" und ni zgi in ne vidno ni zgi „es ist stockfinster"). Einige Phraseologen stellen solche syntagmatisch gebundenen Wortverbindungen jenen gleich, in denen unfreie, phraseologisch gebundene Wortbedeutungen realisiert werden (und nennen beide Typen nach V. V. Vinogradov „phraseologische Verbindungen" — frazeologiceskie socetanija). Andere dagegen sprechen der zweiten Gruppe die Phraseologizität ab mit der Begründung, daß das Vorkommen der jeweiligen Bedeutung eines polysemen Wortes immer vom Kontext abhängt, d. h. kontextbedingt ist. Darf man nun deswegen annehmen, die Gegenüberstellung freier und phraseologisch gebundener Wortbedeutungen sei nicht gerechtfertigt? (. . .) Für das Verb idti „gehen" werden u.a. folgende Bedeutungen angegeben (nach dem Wörterbuch von

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Ozegov): erstens „sich bewegen, indem man einen Fuß vor den anderen setzt", zweitens „sich irgendwohin begeben". Es hängt von der Umgebung ab, welche Bedeutung dem Verb zukommt. In diesem Sinn kann man sagen, die Bedeutungen seien kontextbedingt. So wird in Verbindungen wie „langsam gehen", „barfuß gehen", „gemessenen Schrittes gehen" u.a. die erste der angeführten Bedeutungen realisiert, in Verbindungen wie „zur Arbeit gehen", „in den Wald gehen" u.ä. die zweite. Natürlich kann man nicht alle lexikalischen Umgebungen aufzählen, die das Erscheinen der jeweiligen Bedeutung bedingen. Nicht nur deshalb, weil der Kreis entsprechender Verbindungen unermeßlich groß ist, sondern schon deswegen, weil er überhaupt unbegrenzt und rein lexikalisch offen ist. Man kann nur allgemeine syntaktische und semantische Bedingungen angeben, unter denen diese Bedeutungen realisiert werden. Im gleichen Wörterbuch ist auch noch folgende Bedeutung dieses Verbs verzeichnet: „von Niederschlägen: fallen". Man kann aber leicht feststellen, daß diese Bedeutung durchaus nicht für alle Niederschläge, die „fallen" können, zutrifft, wie man aufgrund der Wörterbucherklärung annehmen könnte, sondern nur für dozd' „Regen", grad „Hagel" und sneg „Schnee". Das ist aber keine semantische Begrenzung mehr, sondern eine rein lexikalische: die Bedeutung ist auf einen genau begrenzten Kreis von Wortverbindungen beschränkt (die in einer Liste aufgezählt werden müssen); in Verbindung mit anderen, semantisch nahestehenden Wörtern, sogar mit Synonymen, ist sie nicht möglich. Man sagt nicht idet liven' (vom Wolkenbruch), idet rosa (vom Tau) u.s.w. Wesentlich ist auch, daß selbst „spezifizierende" Wortverbindungen der Art kapli dozdja „Regentropfen", gorosiny grada „Hagelkörner", chlop'ja stiega „Schneeflocken" u.s.w. nicht mehr in Verbindung mit dem Verb idti in der Bedeutung „fallen" möglich sind. Man beachte auch, daß das Verb in dieser Bedeutung nicht an der Opposition idti — chodit' (determinertes vs. indeterminiertes Verb) teilnimmt: Vsju zimu mal'cik chodil v skolu „Den ganzen Winter über ging der Knabe zur Schule" (nicht sei), aber Vse leto sli dozdi „Den

Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit

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ganzen Sommer über regnete es" (nicht chodili). In dieser Hinsicht unterscheiden sich gerade die freien und die phraseologisch gebundenen Wortbedeutungen. Vgl. die Bedeutung des Adjektivs glubokij („tief"), das nur in Verbindung mit den Wörtern oseri „Herbst", not' „Nacht" „spät" und mit starosf „Alter" „hoch" bedeutet, nicht aber mit vesna „Frühling", vecer „Abend" u.a. verwendet werden kann. So auch die Bedeutung „riesig" des Adjektivs volcij „Wolfs-" in volcij appetit „Wolfshunger", des Adjektivs besenyj „toll" in der Verbindung besenye den'gi „ein Heidengeld", die Bedeutung des Verbs brat' „nehmen" in den Verbindungen brat' napravo/nalevo/pravee/levee/prjamo „rechts/ links/weiter rechts/weiter links/geradeaus halten" u.ä. Wichtig ist, daß die Phraseologizität der Bedeutung nicht allein dadurch bedingt wird, daß das Wort in der gegebenen Bedeutung üblicherweise nur in Verbindung mit einer kleinen Anzahl von Wörtern auftritt (im Vergleich zu anderen Bedeutungen): Für das Verb polzti z.B. werden folgende Bedeutungen angegeben: „etwas umrankend, sich festklammernd sich auf einer Oberfläche ausbreiten (von Pflanzen), aufgehen, ausfasern (von Gewebe)". Natürlich treten diese sekundären Bedeutungen von polzti „sich kriechend fortbewegen" in weit weniger Verbindungen auf als die Grundbedeutungen. Die in Klammern angegebenen Begrenzungen weisen aber nicht auf die Phraseologizität dieser Bedeutungen hin, da es dabei keine im eigentlichen Sinn lexikalische Fixierung gibt. Die Bedeutung „aufgehen, ausfasern" ist bei beliebigen Bezeichnungen für Gewebe und Gegenständen aus Gewebe möglich. Dasselbe gilt für die andere der beiden oder erwähnten Bedeutungen. Die Zahl der Pflanzen, die sich „etwas umrankend . . . auf einer Oberfläche ausbreiten", ist begrenzt, aber dies sind Begrenzungen auf dem Gebiet der Realien, nicht der Wörter; vgl. vinogradnaja loza polzet po resetke „die Weinrebe rankt am Gitter". Die phraseologische Gebundenheit einer oder mehrerer Bedeutungen eines polysemen Wortes findet sich zwar nur in bestimmten Verbindungen, an sich verlangt das Verb idti aber

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keine Verbindung mit den Wörtern dozd' „Regen" oder stieg „Schnee", und ebensowenig das Wort glubokij mit den Wörtern noi? „Nacht", osen' „Herbst" u.s.w. Verbindungen wie sneg idet „es schneit" und glubokaja osen' „Spätherbst" kann man folglich nicht als syntagmatisch gebunden bezeichnen, obgleich eine der Komponenten in phraseologisch gebundener Bedeutung auftritt. Stattdessen sind solche Wortverbindungen offensichtlich als d e r i v a t i o n e l l gebunden zu betrachten. Wie die Bedeutungen abgeleiteter Wörter derivationell gebunden sind in Bezug auf die Bedeutungen der Ausgangswörter (vgl. lesnoj „Wald-" von les „Wald"), sind die sekundären Bedeutungen polysemer Wörter derivationell gebunden in Bezug auf die Ausgangsbedeutungen. Wenn in den Wörterbüchern bei manchen Wörtern statt einer Erklärung ein Verweis auf ein anderes Wort zu finden ist („zcm«o; — Adjektiv zu zemlja ,Erde' in der ersten Bedeutung"), dann zeigt das, daß die Bedeutung des betreffenden Wortes derivationell gebunden ist. So auch, wenn in den Wörterbüchern bestimmte Bedeutungen als übertragen bezeichnet werden: dies zeugt davon, daß sie im Zusammenhang mit anderen Bedeutungen derselben Wörter verstanden werden, was heißt, daß sie ebenfalls derivationell gebunden sind. Die derivationelle Gebundenheit einer Bedeutung bedingt keine Gebundenheit der Wortverbindung selbst, in der das Wort in der betreffenden Bedeutung auftritt. Welche der Bedeutungen eines polysemen Wortes realisiert wird, hängt tatsächlich davon ab, mit welchen Wörtern sich dieses Wort verbindet, aber dies ist eine semantische, keine lexikalische Abhängigkeit. So werden die verschiedenen Bedeutungen des Adjektivs glubokij, darunter auch die derivationell gebundenen, in verschiedenen semantischen Syntagmen realisiert (vgl. „tiefer Fluß", „tiefe Schlucht" u.s.w. und „tiefer Charakter", „profundes Wissen", „tiefes Buch" etc.), aber sie sind nicht in bestimmten lexikalischen Verbindungen fixiert. Demgegenüber ist die Bedeutung „spät, fortgeschritten" in glubokaja osen' „Spätherbst", g. noc' „tiefe Nacht", g. zima „tiefer Winter", g. starost' „hohes Alter" auf genau diese Verbindungen beschränkt (man

Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit

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sagt nicht glubokij vecer „tiefer Abend" u.a.); das heißt, die Bedeutung der gegebenen Wortverbindung ist nicht semantisch motiviert, sondern jede von ihnen ist gleichsam einzeln, für sich allein motiviert. Es ist deshalb verständlich, daß der Charakter dieser Motiviertheit in den verschiedenen Fällen unterschiedlich ist; vgl. glubokij starik „Greis" im Zusammenhang mit glubokaja starost', medvez'ja usluga „Bärendienst" im Zusammenhang mit der übertragenen Bedeutung des Wortes medved' „Bär" (möglicherweise auch unabhängig von der konkreten Quelle des Ausdrucks, der Fabel Krylovs). Folglich hat jede dieser Wortverbindungen ihre besondere, individuelle „innere Form". Und dies ist wiederum eine Eigenschaft, die die Wortverbindungen den Wörtern, d.h. den Einheiten des Lexikons, ähnlich macht. Motiviertheit auf der Wortebene — ob es sich nun um die Bedeutung eines abgeleiteten Wortes oder um eine abgeleitete Bedeutung handelt — ist immer partielle Motiviertheit. Es besteht lediglich eine gewisse Abhängigkeit der Bedeutung von einer anderen Bedeutung, eine derivationelle Gebundenheit. Motiviertheit auf der Ebene der Wortverbindung dagegen ist in der Regel volle Motiviertheit. Darin liegt das Wesen der Wortverbindungen als solcher. Wortverbindungen mit unvollständiger Motiviertheit der Bedeutung können nur dann entstehen, wenn die Wortverbindung durch eine in ihr nicht oder unvollständig ausgedrückte Situation motiviert ist, oder dann, wenn eine freie Wortverbindung umgedeutet wird. In einem solchen Fall ist die neue Bedeutung der Wortverbindung nicht mehr unmittelbar (durch ihre Komponenten), sondern mittelbar durch die Beziehung zur Ausgangsbedeutung motiviert. Die Beziehung ist eine Abhängigkeit, d. h. wir haben eine derivationell gebundene Bedeutung der Wortverbindung vor uns. Obwohl einige Forscher eine gegenteilige Meinung vertreten, ist nun offensichtlich, daß die erwähnte Abhängigkeit potentiell jedem idiomatischen Ausdruck eigen ist. Das „Gefühl der Unmotiviertheit" entsteht ja nur dadurch, daß die Bedeutung der

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phraseologischen Zusammenbildung (srascenie) auf die Bedeutung der entsprechenden freien Wortverbindung bezogen wird. Es ist bezeichnend, daß beim Fehlen eines realen Analogons unter den freien Wortverbindungen (vgl. bez godu nedelja „erst seit kurzem") die Bedeutung des Phraseologismus gerade auf der vermeintlichen Möglichkeit eines wörtlichen Verständnisses aufbaut. (Lehnt man dies ab, dann geht der Sinn solcher Phraseologismen überhaupt verloren). Deshalb sind sogar die „Zusammenbildungen" (srascenija), die (vom Standpunkt der innersprachlichen synchronen Beziehungen) eigentlich keine „innere Form" haben, wie die des Typs bit' baklusi „faulenzen", im Hinblick auf ein Ausgangselement Null derivationell gebunden (subjektiv kann diese „Null" — das zeigen die verschiedenen Verwendungen des Phraseologismus — durch assoziative „Einheiten" verschiedenster Art ersetzt werden). Der mögliche Einwand, die „innere Form" dieses oder jenes Phraseologismus werde nicht empfunden, sei verlorengegangen und lenke uns vom richtigen Verständnis der wirklichen Bedeutung des Phraseologismus ab, ist kein Einwand. Denn wir „empfinden" sie ja auch bei den meisten Wörtern nicht. Wichtig ist, ob das Wort sie aufweist oder nicht. Dies zeigt sich auch bei der Wortbildungsanalyse, bei der ja die Wortbildungsbedeutung fast nie der lexikalischen Bedeutung des Wortes gleich ist und für das Verstehen des Wortes sogar irreführend sein kann. Die Bedeutung der Wortverbindung zeleznaja doroga „Eisenbahn" ist in diesem Sinn derivationell gebunden (wobei unwichtig ist, daß man die innere Form der Verbindung „nicht empfindet"); nicht derivationell gebunden ist jedoch die Bedeutung der (ebenfalls paradigmatisch, außerdem aber auch syntagmatisch gebundenen) Wortverbindung perocinnyj noz „Federmesser" (beim Wort perocinnyj „zum Federschneiden gehörig" für sich ist dagegen allerdings die Bedeutung derivationell gebunden). Demnach ist der Grad der Motiviertheit/Nichtmotiviertheit von Phraseologismen, obgleich seine Berücksichtigung in mancher

Der Begriff der phraseologischen Gebundenheit

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Hinsicht wichtig ist, nicht das entscheidende Merkmal der phraseologischen Verbindungen von Wörtern. Die paradigmatischen, syntagmatischen und derivationellen Bedeutungen von lexikalischen Einheiten bestehen nicht unabhängig von einander. So kann auch die semantische Gebundenheit der Wortverbindungen für jeden dieser Bereiche unabhängig festgestellt werden. Daher hat jede Art von gebundenen Wortverbindungen ihren eigenen Charakter. Nun überschneiden sich aber die Klassen von Wortverbindungen (wie schon aus den angeführten Beispielen zu ersehen war) zu einem großen Teil. Durch die Bestimmung dieser Überschneidungen erhalten wir hinreichend genau abgegrenzte Typen der phraseologischen Wortverbindungen, was in folgendem Schema dargestellt werden kann: I Paradigmatische Gebundenheit (P) II Syntagmatische Gebundenheit (S) III Derivationelle Gebundenheit (D) IV—VII Verbindung dieser Arten von Gebundenheit in verschiedenen Gruppen phraseologischer Einheiten. Die im Schema dargestellten Typen von phraseologischen Einheiten können durch Beispiele erklärt werden: I P: pod-emnyj kratt „Hebekran", stiral'naja masina „Waschmaschine", zapasnye casti „Ersatzteile", sdelat' zamecanie „eine Bemerkung machen", vstupit' v dolznost' „ein Amt antreten" etc. II S: zakadycnyj drug „Busenfreund", prolivnoj dozd' „Platzregen", smezit' glaza (veki) „die Augen (Lider) schließen", zetnno klanjat'sja „sich bis zum Boden verneigen"; vo sto krat „hundertmal", slezno prosit' „flehentlich bitten" u.a. III D: medvez'ja usluga „Bärendienst", sobacij cholod „Hundekälte", chranit' molcanie (spokojstvie) „Schweigen (Ruhe) bewahren", obdat' prezreniem „der Verachtung preisgeben", citaf notaciju (nravoucenie) „die Leviten lesen", vljubit'sja po usi

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D. N. Smelev

„sich bis über die Ohren verlieben", revet' belugoj „heulen wie ein Schloßhund". IV P+S: greckij orech „(griechische Nuß) Walnuß", perocinnyj noz „Federmesser", okazat' pomosc' (sodejstvie, podderzku, uslugi) „Hilfe (Beistand, Unterstützung, Dienste) erweisen" u. ä. V P+D: zeleznaja doroga „Eisenbahn", volsebnyj fonar' „laterna magica", zalivat'sja solov'em „wie eine Nachtigall in Klagen ausbrechen", plyt' po teceniju „mit dem Strom schwimmen", smotret' skvoz' pal'cy „durch die Finger schauen (= mit jm. Nachsicht haben)" etc. VI S+D: besprobudnoe p'janstvo „Stockbetrunkenheit", ni zgi ne vidno „es ist stockfinster", orat' (kricat') vo vsju ivanovskuju „wie am Spieß schreien" etc. VII P + S + D : kraeugol'nyj kamen' „Eckstein, Grundstein", kamen' pretknovenija „Stein des Anstoßes", temna voda v oblacech „dunkel ist der Rede Sinn", postavif v tupik „in Verlegenheit bringen", vskruzit' golovu „jd. den Kopf verdrehen", so skrezetom zubovnym „mit Zähneknirschen", byl'em poroslo „darüber ist Gras gewachsen" . . . Die in dem Schema vorgeschlagene Klassifikation fester Wortverbindungen umfaßt das ganze oder beinahe das ganze traditionelle Material der Phraseologie, ohne ihm ein falsches einheitliches Kriterium aufzuzwingen und ohne es einer aprioristischen Charakterisierung dessen, was als Phraseologie zu gelten hat, zu unterwerfen. Gleichzeitig gibt das Schema auch die Möglichkeit, die phraseologische Wortverbindung folgerichtig und einheitlich mit dem Wort und der freien Wortverbindung in Beziehung zu setzen. Selbstverständlich ersetzt sie keineswegs die anderen Klassifikationen, in denen strukturell-grammatische, stilistische und ähnliche Besonderheiten der verschiedenen Typen von Phraseologismen zur Geltung kommen.

V. T. Gak Die phraseologischen Einheiten im Lichte der Asymmetrie des sprachlichen Zeichens Frazeologiceskie edinicy v svete asimmetrii jazykovogo

znaka*

Es gibt viele Theorien über die Natur der Phraseologismen. Wir wollen sie hier nicht resümieren und kritisieren, das hat man in der sowjetischen Linguistik schon mehrmals getan. Im Grunde genommen sind auch die Merkmale des Phraseologismus als einer besonderen „nominativen Einheit" der Sprache hinreichend erforscht. Wie sehr sich nämlich die Forscher auch in bezug auf Terminologie, Methode und bestimmte Einzelheiten unterscheiden, es darf heute als gesichert gelten, daß die phraseologische Einheit nicht von einer einzigen Seite her charakterisiert werden kann, sondern sich von nominativen Einheiten anderer Typen in drei Aspekten unterscheidet, deren gleichzeitiges Zusammenwirken die Spezifik des Phraseologismus bildet. Es sind dies die drei bekannten Merkmale der Mehrgliedrigkeit, der übertragenen Bedeutung und der Festigkeit in der Verwendung. Das Fehlen einer der drei Komponenten in der Einheit macht sie zu einer sprachlichen Einheit anderen Typs. Die weitere Aufgabe der theoretischen Erforschung der Phraseologismen besteht offenbar darin zu zeigen, daß diese drei grundlegenden Merkmale in ihrer Gesamtheit nicht zufällig ausgewählt wurden und nicht nur das Resultat einer Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen darstellen, sondern direkt mit der Natur * In: Voprosy frazeologii 7, Samarkand 1976, S. 5 - 1 3 .

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V. T. Gak

des Phraseologismus als eines sprachlichen Zeichens eigener Art zusammenhängen. Dies wiederum zeigt, daß die phraseologischen Einheiten nicht „Luxus", „Überfluß" oder eine „Kaprice" der Sprache sind, sondern vielmehr ein sprachliches Universale, ein spezifischer Typ von sprachlichem Zeichen, der in den verschiedenartigsten Sprachsystemen mit Notwendigkeit auftritt. Betrachten wir kurz diese drei Aspekte des Phraseologismus: Mehrgliedrigkeit (oder Nicht-Eingliedrigkeit) des Phraseologismus bedeutet, daß er aus einer Verbindung von mindestens zwei Wörtern besteht, von denen eines auch ein Hilfswort sein kann (eine Präposition, ein klitisches Pronomen in den romanischen Sprachen u.a.). Solche Verbindungen bilden die sogenannten „eingipfeligen" Phraseologismen. Wenn dieses Merkmal fehlt, haben wir es nicht mit einem Phraseologismus, sondern mit dem übertragenen Gebrauch eines Wortes zu tun. Wenn also z.B. ego iz puski ne prosibef „den kann man mit einer Kanone nicht durchschießen" = „er hat ein dickes Fell" ein Phraseologismus ist, so ist ego ne prosibef „ihn kann man nicht erschüttern" eine der Bedeutungen des Verbs prosibif, die im Wörterbuch fixiert ist. Auf dieser Ebene liegt auch der Unterschied zwischen dem phraseologischen Vergleich „dumm wie ein Esel" und dem metaphorischen Gebrauch der Wortverbindung „So ein Esel!" (von einem Menschen). Die übertragene Bedeutung, auch semantische Transformation genannt, ist ein konstitutives Merkmal des Phraseologismus. Mit Ausnahme einer verhältnismäßig kleinen Gruppe phraseologischer Einheiten, die strukturelle und semantische Archaismen enthalten (r. nictoze sutnnjasesja „arglos, nichts Böses ahnend", na bosu nogu „barfuß" mit einer veralteten Form des Verbs bzw. des Adjektivs) haben phraseologische Einheiten keine strukturellen Besonderheiten. Wir finden vielmehr bei ihnen dieselben Modelle wie bei den freien Wortverbindungen. Das Fehlen der Umdeutung, der semantischen Transformation, trennt von den Phraseologismen einen anderen Typ fester Wortverbindungen, sie sogenannten Analytismen (soversat' progulku „einen

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Die phraseologischen Einheiten

Spaziergang machen"), die üblicherweise nicht zur idiomatischen Phraseologie gerechnet werden. Und schließlich ist dem Phraseologismus Festigkeit eigen. Er ist keine Bildung der Parole, sondern eine fertige nominative Einheit im Sprachsystem. Das unterscheidet ihn von individuellen bildhaften Ausdrücken, hapax legomena u.a. Deswegen ist im Russischen nem kak ryba „stumm wie ein Fisch" ein Phraseologismus, nem kak karp „stumm wie ein Karpfen" aber nicht, obwohl im Französischen auch dieser Ausdruck phraseologisch ist. Wie gesagt, das Fehlen eines der drei Merkmale zwingt uns, von einem anderen Typ sprachlicher Einheiten zu sprechen. Das läßt sich in folgendem Schema darstellen: Typen von Einheiten

Merkmale mehr als 1

semant.

Wort

Transform.

+

+

+

tung eines Wortes



+

+

Analytismus

+



+

Individ. Ausdruck

+

+



Phraseologismus

Festigkeit

Übertragene Bedeu-

Die drei traditionellen Merkmale des Phraseologismus sind nicht zufällig, sondern spiegeln drei konstitutive Aspekte jedes sprachlichen Zeichens. So charakterisiert man das sprachliche Zeichen bekanntlich nach dem Ausdrucksplan (seiner Struktur, dem Signifiant), nach dem Inhaltsplan (der semantischen Seite, dem Signifié) und nach der Funktion (der Verwendung in der Rede entsprechend der Situation und dem Kontext). Die Phraseologismen verdanken ihre Entstehung der allgemeinen Asymmetrie des sprachlichen Zeichens, die, wie wir sehen werden, in ihnen eine besondere Ausprägung erfährt. Es sei nochmals betont, daß die Asymmetrie des sprachlichen Zeichens, die Inkongruenz von Inhaltsplan und Ausdrucksplan nicht aus

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V. T. Gak

einer „Unvollkommenheit" der Sprache resultiert, sondern eine absolut notwendige Erscheinung ist, ohne die die natürliche menschliche Sprache nicht normal funktionieren und sich entwickeln könnte. Die Asymmetrie wird aber auch nicht durch den Mangel an Ausdrucksmitteln in der Sprache oder durch die Mangelhaftigkeit des menschlichen Gedächtnisses verursacht, sondern durch die Besonderheit des Inhaltsplanes, nämlich durch seine Unerschöpflichkeit, deretwegen die sprachlichen Mittel elastisch und dehnbar sein müssen. Die Sprache ist ein zweckmäßiges Kommunikationsinstrument. Das bedeutet, daß jedes Element der Sprache anfänglich zur Bezeichnung eines Elementes der außersprachlichen Wirklichkeit oder zur Erfüllung einer innersprachlichen Funktion geschaffen wird. In dieser ursprünglichen Verbindung zwischen sprachlichem Element und Außersprachlichem haben wir die Beziehung der direkten Nomination vor uns. Die Wörter stol „Tisch" und sljapa „Hut" z. B. werden im Russischen vor allem für die Bezeichnung des Möbels und des Kleidungsstücks gebraucht. Aber im Verlaufe der Sprachentwicklung, im Zusammenhang mit dem Bedürfnis, neue Objekte zu benennen oder subjektive Nuancen auszudrükken, wird die eindeutige Beziehung zwischen Signifiant und Signifié zerstört. So entsteht die Asymmetrie des sprachlichen Zeichens, so bilden sich sekundäre Funktionen der sprachlichen Einheiten heraus und es entstehen indirekte Nominationen. Die verschiedenen Typen der sprachlichen Asymmetrie hat bereits Ch. Bally hinreichend erforscht. Aus der Analyse der Beziehung zwischen Signifiant und Signifié des Schweizer Linguisten kann die Theorie der Phraseologie viel lernen. Die allgemeinen Typen der Asymmetrie treten nämlich bei den Einheiten aller Ebenen auf, bei denen Signifiant und Signifié unterschieden werden. Entsprechende Erscheinungen finden wir in der Lexik und Phraseologie, in der Morphologie und Syntax, bis hinunter zur Orthographie. Die verschiedenen Typen der Asymmetrie können auf folgende Hauptgruppen zurückgeführt werden:

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Die phraseologischen Einheiten

A. Asymmetrie auf der syntagmatischen Ebene, bei der die Gliederung der Redekette im Ausdrucksplan der des Inhaltsplans nicht entspricht. Bei der syntagmatischen Symmetrie haben wir die Gliederung B B, C Q

B2 c2

Ausdrucksplan Inhaltsplan

Bei der syntagmatischen Asymmetrie dagegen: Analytismus

B + Bi C

B2 C1 + C2

Synthetismus

Auf der syntagmatischen Ebene hat die Asymmetrie also zwei Erscheinungsarten: den A n a l y t i s m u s , bei dem ein einheitlicher Inhalt aufgegliedert, d. h. durch zwei oder mehrere Elemente (B+Bi) ausgedrückt wird, z.B. „kleines Haus" statt „Häuschen", „eine Reise machen" statt „reisen", „langsamen Schrittes gehen" statt „langsam gehen" u.s.w., — und den Synthetismus, bei dem statt einer üblichen mehrgliedrigen Bezeichnung eine verkürzte eingliedrige verwendet wird, z.B. mineralka statt mineral'naja voda „Mineralwasser". Es sei darauf hingewiesen, daß Analytismus und Synthetismus mit Veränderungen der Wortbedeutungen in Verbindung stehen. Gewöhnlich aber sind diese Veränderungen grammatischer Natur, Transpositionen zwischen grammatischen Klassen. So hat das Semantem, der Träger der Bedeutung, von soversaf putesestvie „eine Reise machen" die Form eines Substantivs, in putesestvovaf „reisen" die eines Verbs. Das Verb soversaf „vollbringen" tritt als Mittel sekundärer Verbalisierung des Verbalsubstantivs auf. Ähnlich verläuft der Transpositionsprozeß bei synthetischen Formen. Die Eigenschaft, die in mineral'naja voda durch das Adjektiv ausgedrückt wird, ist in der substantivischen Bezeichnung mineralka mit eingeschlossen; durch das synthetisch angefügte Suffix -k(a) wird das Adjektiv so nominalisiert, daß es auch die Bedeutung „Wasser" in sich aufnimmt.

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V. T. Gak

B. Asymmetrie in paradigmatischer Hinsicht, bei der Assoziationsbeziehungen zwischen einer gegebenen Bezeichnung und einem neuen Objekt entstehen. Bei paradigmatischer Symmetrie bestehen folgende Beziehungen:

Bezeichnungen sljapa „Hut" (B) rastjapa „Tollpatsch" (Bi)

Objekte — (S) Kopfbedeckung (Si) begriffstutziger Mensch

Bei paradigmatischer Asymmetrie: sljapa (B) rastjapa (Bi) -

(S) Kopfbedeckung (Si) begriffstutziger Mensch

Die Beziehung BSi, d. h. der Gebrauch des Wortes sljapa für das, was rastjapa bezeichnet, verursacht die Asymmetrie des Zeichens, die indirekte Nomination in paradigmatischer Hinsicht. Es gibt wieder zwei Typen von paradigmatischer Asymmetrie: P o l y s e m i e (BS, BSi), bei der ein Wort verschiedene Objekte bezeichnet, und S y n o n y m i e (BSi, B1S1), bei der ein Objekt zwei Bezeichnungen hat. Die paradigmatische Asymmetrie schafft übertragene Bedeutungen. Führt die syntagmatische Asymmetrie zu funktioneller (grammatischer) Transposition, so die paradigmatische Asymmetrie zu semantischer Transposition, d. h. zur Bedeutungsverschiebung eines sprachlichen Elementes. Die Besonderheit der Phraseologismen als nominativer Einheiten auf der Ebene der indirekten Nomination besteht in der Verbindung beider Asymmetrietypen. In ihrer Mehrgliedrigkeit zeigt sich die syntagmatische, in ihrer Idiomatizität, im übertragenen Charakter ihrer Bedeutung, die paradigmatische Asymmetrie.

Die phraseologischen Einheiten

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Dies läßt sich so zusammenfassen: Art der Asymmetrie:

Typ der nominativen Einheiten:

keine Asymmetrie paradigmat. Asymmetrie syntagmat. Asymmetrie parad. und syntagm. Asymmetrie

Wort in direkter Bedeutung Wort in übertragener Bedeutung analytische Verbindung phraseologische Einheit

So ist die phraseologische Einheit als indirekter Typ der Nomination am weitesten von der direkten Bedeutung entfernt. Die doppelte Asymmetrie der phraseologischen Einheiten zeigt, daß man nur diejenigen als echte Phraseologismen bezeichnen darf, bei denen alle Teile der Wortverbindung semantisch umgedeutet sind. So ist besprobudnoe p'janstvo „Stockbetrunkenheit" kein Phraseologismus, weil nur das Adjektiv besprobudnyj „tief, nicht zu erwecken", das nur begrenzt kombinierbar ist, einer semantischen Transformation unterliegt. Dagegen ist sinij culok „Blaustrumpf" ein Phraseologismus mit voller semantischer Transformation: es geht nicht um einen Strumpf. Natürlich gibt es eine Menge von Überschneidungen und Grenzfällen. Im Ausdruck goluboj ekran „blauer Schirm" = „Fernsehapparat" tritt der ganze Ausdruck als metonymische und folglich indirekte Bezeichnung auf, obschon „blau" seine Bedeutung behält. Beim Ausdruck nabrat'sja uma „den Verstand zusammennehmen" erfaßt die Transformation ebenfalls unverkennbar die Wortverbindung als Ganzes, denn das Verb nabrat'sja „sich sammeln" wird hier nicht in seiner direkten Bedeutung gebraucht. Die semantische Umformung, die dem Phraseologismus zugrunde liegt, nimmt im Prinzip dieselben Formen an wie die semantische Umformung von Wörtern und anderen sprachlichen Einheiten. Diese Formen werden durch die Relationen zwischen Begriffen definiert. Unter diesen sind zwei für die Semantik von Phraseologismen von besonderer Bedeutung: Überschneidung und

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Inklusion. Überschneidungen erzeugen metaphorische und metonymische Übertragungen, wie sie in verschiedenen Sprachen schon detailliert untersucht worden sind. Metaphorische Transformationen liegen solchen Phraseologismen zugrunde wie prochodit' krasnoj nit'ju „sich wie ein roter Faden durchziehen", proscupat' pocvu „das Terrain sondieren", chot' prud prudi „wie Sand am Meer" u.s.w. Metonymischen Charakter haben viele Phraseologismen, die Gesten bezeichnen: „den Rücken beugen", „den Hut (vor jd.) abnehmen", „jd. gerade in die Augen schauen" u.s.w. Die innere Form des Phraseologismus wird von jener Eigenschaft des Objekts bestimmt, die die Grundlage der Bezeichnung bildet. Man kann sie in zweifacher Hinsicht untersuchen: semasiologisch und onomasiologisch. Im ersten Fall untersucht man die verschiedenen phraseologischen Umgestaltungen, die phraseologische Verarbeitung bestimmter Wörter. Jedes Objekt hat verschiedene Seiten, Merkmale und Verbindungen, an ihm können verschiedene Züge hervorgehoben werden. Je nachdem, welche Eigenschaften man wählt, um zwei Erscheinungen miteinander in Beziehung zu setzen, entstehen Phraseologismen mit verschiedener innerer Form. Aber auch im einzelnen Wort werden bestimmte Seme aktualisiert, die entsprechende Merkmale des bezeichneten Objekts wiedergeben. Der Kopf ist z. B. der oberste (oder vorderste) Körperteil, zugleich der wichtigste, ohne den der Mensch nicht leben kann (im Unterschied zu „die Hand/den Fuß abhauen" heißt „den Kopf abhauen" auch „den Menschen des Lebens berauben"). Der Kopf gilt als Zentrum der intellektuellen Eigenschaften des Menschen, er hat bestimmte Ausmaße u.s.w. Solche verschiedenen Aspekte, die dem Kopf objektiv zukommen oder ihm in einer Sprachgemeinschaft „zugeschrieben" werden, werden symbolisiert und bilden die innere Form der phraseologischen Benennung: z. B. chot' golovoj o stenku bejsja „auch wenn du mit dem Kopf gegen die Wand rennst", „was immer du unternimmst", priklonit' golovu „den Kopf beugen" = „sich verneigen" (der Kopf als Körperteil, allgemein); celovek s golovoj „ein Mensch mit Kopf" = „ein kluger Mensch", vzbredat' v golovu „in den

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Sinn kommen", poterjat' golovu „den Kopf verlieren", zabivat' golovu „den Kopf vollstopfen" (der Kopf als Zentrum des Denkens, des Wissens, des Gedächtnisses); ne snosit'golovu „nicht den Kopf kosten", golovoj otvecaf „mit dem Kopf bürgen" (der Kopf als lebenswichtiger Körperteil); na golovu vyse „einen Kopf größer" (der Kopf als Maß) u.s.w. In verschiedenen Sprecherkollektiven kann dasselbe Objekt verschiedene Symbolisierungen erfahren, womit die nationalen Besonderheiten auf dem Gebiet der Phraseologie zusammenhängen. Die Erweiterung, die auf der Inklusionsrelation beruht, zeigen Sprichwörter, Redensarten und phraseologische Vergleiche. Manchmal wird die Frage gestellt, worin denn die semantische Transformation von Sprichwörtern bestehe: oft werden ja alle Wörter in ihnen in direkter Bedeutung gebraucht. Die Transformation besteht hier in der Veränderung der Beziehung zwischen Zeichen (Aussage) und Bezeichnetem (der Situation). Die Aussage des Sprichwortes gilt nicht für das konkrete Ereignis, das in der direkten Bedeutung seiner Wörter ausgedrückt wird, sondern für eine Klasse von Situationen. In diesem erweiterten Gebrauch der Sprichwörter besteht ihre semantische Transformation. Etwa der Ausdruck nikto ne znaet, cto ego ozidaet „niemand weiß, was ihn erwartet" bezieht sich nicht auf eine bestimmte Gruppe von Leuten, von denen „niemand weiß", sondern auf einen einzelnen Menschen oder auf die Menschheit insgesamt. In dieser Divergenz zwischen Signifiant und Signifié besteht im gegebenen Fall das Wesen der semantischen Transformation. Bei der Analyse der inneren Form des Phraseologismus vom onomasiologischen Gesichtspunkt aus nimmt man die Erscheinung selbst zum Ausgangspunkt und untersucht, nach welchem Merkmal sie durch einen Phraseologismus symbolisch bezeichnet wird. Die Tätigkeit napit'sja „sich betrinken" setzt eine bestimmte Prozedur, bestimmte Gegenstände u.s.w. voraus, die als Symbol für die gesamte Handlung gewählt und einer Bezeichnung zugrunde gelegt werden können, die dann, sofern sie nicht eingliedrig ist, einen Phraseologismus darstellt: prilozit'sja k butylke

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„sich zur Flasche legen", zalit' za galstuk „hinter die Binde (Krawatte) gießen", chlebnut' lisnee „zuviel schlucken", soversit' vozlijanie „ein Gelage machen" u.s.w. Der onomasiologische Aspekt zeigt den Unterschied zwischen nicht-phraseologischen und phraseologischen Verbindungen besonders deutlich. Im ersten Fall kann man ohne ein bestimmtes Wort nicht auskommen, wenn man die entsprechende Situation beschreiben will. Die Situation „er hat die Krawatte umgebunden" oder „er hat eine modische Krawatte geschenkt bekommen" kann nicht ohne das Wort galstuk „Krawatte" beschrieben werden. Die Situation „er hat sich betrunken" jedoch kann ohne dieses Wort beschrieben werden, und daß im Russischen eine Wendung mit galstuk zu ihrer Beschreibung existiert, zeugt von der Umdeutung der ganzen Verbindung und der Entstehung der sprachlichen Asymmetrie. Bleibt als letzter Aspekt die Festigkeit. Sie allein macht, wie gesagt, aus einer Wortverbindung noch keinen Phraseologismus. Auch freie Wortverbindungen können fest sein, wenn sie Erscheinungen bezeichnen, die in einer bestimmten Gesellschaft eindeutig und usuell sind (im Russischen z. B. pit' caj „Tee trinken"). Als fest können Verbindungen gelten, in denen eine der Komponenten fixiert ist, d. h. zwar in direkter Bedeutung, jedoch mit einem beschränkten Kreis von Wörtern, manchmal nur mit einem Wort, verwendet wird (lexikalische Festigkeit: nerusimaja druzba „unauflösliche Freundschaft"); und schließlich kann auch eine phraseologische Verbindung mit doppelter Bedeutung fest sein (sdavat' v archiv „zu den Akten legen"). Beispiele für verschiedene Grade von Festigkeit: nicht feste, absolut freie Verbindung: pobelevsij nos „(von der Kälte) weiße Nase"; außersprachlich feste Verbindung: prjamoj, rimskij, gorbatyj nos „gerade Nase, Römernase, Hakennase" (als typische Nasenarten); lexikalisch feste Verbindung: kurnosyj nos „Stupsnase" (wobei kurnosyj nur mit nos und in erweiterter Bedeutung noch mit lico „Gesicht" und celovek „Mensch" verbunden wird, man aber selbst bei ähnlichem Aussehen nicht von einem „stupsnasigen Stuhlbein" kurnosaja noga stula sprechen kann); phraseologisch

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feste Verbindung: (s) gul'kin nos „wie eine Täubchennase" = „ganz wenig". Ein wichtiges Merkmal der Festigkeit ist die Reproduzierbarkeit der Wortverbindung, ihr Vorhandensein in der Langue. Man darf jedoch die Festigkeit des Phraseologismus nicht formal, als eine rein lexikalische, verstehen. Jede Sprache kennt die Erscheinung der Variation phraseologischer Einheiten. Wie kann man nun eine phraseologische Variante von einem individuellen bildhaften Ausdruck unterscheiden? Auch hier zeigt sich, daß die Festigkeit mit der semantischen Natur des Phraseologismus zusammenhängt. Warum sind wir der Meinung, daß in einem französischen Text „stumm wie ein Schlei" und „stumm wie ein Stör" Varianten von „Stumm wie ein Karpfen" sind, während wir „stumm wie ein Leichnam", ein ganz banales Bild, für eine individuelle Prägung halten werden? Dies liegt daran, daß dem Phraseologismus nicht eine Verbindung von Wörtern zugrunde liegt, sondern vor allem eine Verbindung von Begriffen, ein verallgemeinertes Bild, das man mit verschiedenen Lexemen konkretisieren kann, wenn diese zur gleichen lexikalisch-semantischen Gruppe gehören. Im Französischen gibt es den bildhaften phraseologischen Ausdruck „stumm wie ein Fisch", und welchen Fisch man auch einsetzt, die innere Struktur des Bildes bleibt erhalten. „Stumm wie ein Leichnam" ist dagegen bereits ein anderes Bild, das im kollektiven Bewußtsein der Französisch-Sprechenden fehlt und deshalb nicht als Modifikation eines schon bekannten Phraseologismus verstanden wird, sondern als „Erfindung" des Autors, obwohl es dem Sinne nach sofort verständlich ist. Wenn also die sprachliche Asymmetrie, die der Bildung von Phraseologismen zugrunde liegt, ein sprachliches Universale ist, so unterscheidet sich doch ihre konkrete Erscheinungsform von Sprache zu Sprache. Der Doppelcharakter der Asymmetrie von Phraseologismen erklärt ihre erhöhte nationale Spezifik. Die syntagmatische Asymmetrie, die zu Analytismen führt, hat ebenfalls nationale Spezifik. Dennoch kann man, sieht man von der fixierten Verwendung und Kollokation von Wörtern, d. h. von

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ihrer lexikalischen Verbindbarkeit, ab, alle Analytismen auf eine bestimmte Anzahl von Typen zurückführen, die mehr oder weniger universale Geltung haben. Die paradigmatische Asymmetrie, die die übertragene Bedeutung von Einzelwörtern verursacht, zeigt eine Vielfalt verschiedener Manifestationen. Aber auch hier kann man charakteristische, ja sogar universale Typen von Bedeutungsveränderungen feststellen, die schon oft untersucht worden sind. Viel schwieriger ist es, in der Phraseologie mit ihrer doppelten Asymmetrie Konstruktionsmodelle aufzufinden (sofern man gleichzeitig die strukturellen und die semantischen Umformungen berücksichtigt), obschon im Prinzip auch das zum Gegenstand der Forschung werden kann. Wie dem auch sei, die doppelte Asymmetrie ermöglicht offensichtlich eine höhere Idiomatizität dieses Typs von nominativen Einheiten.

V. P. Z u k o v

Die Methode der „phraseologischen Applikation" und die Klassifikation des phraseologischen Sprachmaterials Zur Frage der systemhaften Beziehungen zwischen Lexik und Phraseologie Sposob frazeologiceskoj applikacii i klassifikacija frazeologiceskogo materiala. K voprosu o sistemnych svjazach leksiki i frazeologii*

Das phraseologische Material wird heutzutage mit verschiedenen Methoden untersucht 1 : Transformationen, distributiv und mit der damit zusammenhängenden Analyse nach der Umgebung, kontextologisch, mit dem Verfahren der semantischen Identifikation und dem damit verbundenen Verfahren der Synonymenkontrastierung, mit den Methoden der inner- und zwischensprachlichen Ubersetzung, mit Hilfe von Modellen, nach den innerphraseologischen Beziehungen der Komponenten u.s.f. Es ist völlig gerechtfertigt und zweckmäßig, daß man auf dem Gebiet der Phraseologie mit ganz verschiedenen Hypothesen arbeitet, denn dies fördert die Selbständigkeit dieses Zweiges der Sprachwissenschaft. So ist u. E. auch die Anwendung der „phraseologischen Applikation" gerechtfertigt, worunter die * Aus dem Sammelband: Sistemnost' russkogo jazyka, Novgorod 1975, S. 1 2 5 137. 1 Vgl. dazu ausführlicher: V. L. Archangel'skij, Metody frazeologiceskogo issledovanija v otecestvennom jazykoznanii (60-e gody XX v.). — In: Voprosy leksiki i frazeologii sovremennogo russkogo jazyka. Rostov-na-Donu 1968.

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Projektion von Phraseologismen auf entsprechende freie Wortverbindungen — sofern solche vorhanden sind — zu verstehen ist. Bei dieser Art von Vergleich wird die (ganzheitliche) Gesamtbedeutung des Phraseologismus der lexikalischen Bedeutung der Wörter gegenübergestellt, die die homonymen freien Wortverbindungen bilden. Nebenbei sei bemerkt, daß es im Russischen fast 1500 Phraseologismen gibt, die lautlich mit freien Wortverbindungen kongruent sind 2 (bit' v cel' „ins Schwarze treffen", brat' soku na buksir „ins Schlepptau nehmen", varit'sja v sobstvennom „im eigenen Saft schmoren", viset' na voloske „an einem Haar hängen", gnit' na komju „an der Wurzel faulen", smenit' plastinku „eine andere Platte auflegen" u.v.a.). Nehmen wir als Beispiel den verbalen Phraseologismus lezat' na boku „auf der Seite liegen" = „faulenzen". Die Gesamtbedeutung dieses Phraseologismus steht semantisch weder mit dem Verb lezat „sich in horizontaler Lage befinden, ausgestreckt sein" in Beziehung, noch mit der Präposition na „auf", die den Charakter der Handlung und die Besonderheiten ihres Verlaufs angibt, noch mit dem Substantiv bok „linker oder rechter Teil des Rumpfes von der Schulter bis zum Oberschenkel". Diese Wörter haben die angeführten Bedeutungen innerhalb der freien Wortverbindung lezat' na boku „auf der Seite liegen". Durch die Projektion eines Phraseologismus auf eine freie Wortverbindung kann sich ein positiver oder ein negativer Effekt ergeben: ein positiver, wenn eine freie Wortverbindung mit gleichem lexikalischem Bestand vorliegt, ein negativer, wenn eine solche Verbindung fehlt. Beim Fehlen einer entsprechenden Wortverbindung ist die Gesamtbedeutung des Phraseologismus auf das ganze System der freien Wortbedeutungen zu beziehen. Hierher gehören auch Phraseologismen, die rein äußerlich mit einer freien Wortverbindung übereinstimmen, aber vor diesem Hintergrund keinen 2

Darüber V. V. Istomina, Omonimiceskie sootvetstvija frazem i peremennych slovosocetanij v russkom jazyke. Avtoreferat kand. diss., Rostov 1968.

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metaphorischen Effekt ergeben. So stimmt etwa der Phraseologismus otbivat' chleb u kogo „jd. das Brot wegnehmem" = „jd. den Verdienst wegnehmen" nach seinem Lexembestand mit der freien Wortverbindung otbivat' chleb überein (vgl. Bednjaki otbivali chleb u kulakov „die Armen raubten bei den reichen Bauern das Getreide"). In dieser freien Verbindung hat das Verb otbivat' die Bedeutung „mit Gewalt wegnehmen", chleb aber bedeutet „Getreide". Der Phraseologismus aber wird in der Bedeutung „jd. des Verdienstes berauben" verwendet. Diese Bedeutung konnte nicht aufgrund der eben genannten freien Wortverbindung entstehen, da die nominale Komponente {chleb „Brot") semantisch nicht mit der direkten, sondern mit einer übertragenen Bedeutung des Wortes („Existenzmittel, Verdienst"3) verbunden ist. Vergleichen wir die Gesamtbedeutung des analysierten Phraseologismus mit den individuellen Bedeutungen der Wörter otbivat' und chleb im freien Gebrauch. Das Wort otbivat' hat folgende Bedeutungen: 1) „mit einem Gegenschlag etwas abwehren"; 2) „mit Gewalt etwas wegnehmen"; 3) „jd. von etwas abbringen, entfernen"; 4) „mit Schlägen etwas Befestigtes abtrennen"; 5) „etwas mit Schlägen abbrechen"; 6) „mit Schlägen etwas geraderichten"; 7) „etwas mit Schlägen beschädigen"; 8) „eine Tätigkeit abwürgen"; 9) „rhythmisch schlagen"; 10) „auf einer Oberfläche eine Linie zeichnen"; 11) „durch Vermessen abtrennen". Das Wort chleb hat u.a. folgende Bedeutungen: 1) „aus Mehl gebackenes Nahrungsmittel"; 2) „Getreide, das zu Mehl gemahlen wird"; 3) übertragen: „Nahrung, Lebensunterhalt"; 4) übertragen: „Mittel zur Existenz". Die Gesamtbedeutung des Phraseologismus „jd. des Verdienstes berauben" bezieht sich auf die zweite Bedeutung des Wortes otbivat' und auf die vierte von chleb. Dabei decken sich die Verben lisaf (in der Verbindung lisat' zarabotka „des Verdienstes berauben") und otbivat' in der zweiten Bedeutung nicht, und 3

Nach Tolkovyj slovar' russk. jaz., pod red. D. N. Usakova, t . l l , Moskva 1938, S. 894.

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ebensowenig die Substantive zarabotok „Verdienst" und chleb in der vierten Bedeutung; sie stehen allerdings ihrer Bedeutung nach zueinander in Beziehung. Die verglichenen Paare sind jedoch nicht austauschbar. In Sätzen wie Ja ezdil s abrekami otbivat' russkie tabuny „Ich fuhr mit den Bergbewohnern russische Pferdeherden rauben" (Lermontov, Bela) kann otbivat' nicht ohne Bedeutungsveränderung durch lisaf ersetzt werden. Die Aufgabe des Verfahrens der „phraseologischen Applikation", das auf die Semantik gerichtet ist, besteht darin abzuklären, ob die eine oder andere Komponente eines Phraseologismus in gewöhnlicher, systemhafter Bedeutung (direkter, übertragener u.s.f.) gebraucht wird und ob es möglich ist, ein Wort in freier Verwendung einer Komponente des analysierten Phraseologismus dem Sinne nach gleichzusetzen. Sind die Komponenten des Phraseologismus von totaler Desemantisierung erfaßt, so muß die Gesamtbedeutung des Phraseologismus durch Wörter wiedergegeben werden, die diesem Phraseologismus nicht als Komponenten angehören und dort nicht eingesetzt werden können. Der Sinn des Phraseologismus plevat' v potolok „an die Decke spucken" kann z. B. mit anderen Worten so wiedergegeben werden: bezdel'nicat' „faulenzen", nicego ne delat' „nichts tun", lezat' na boku „auf der Seite liegen", gortjat' lodyrja „einen Faulenzer jagen". Keines dieser Wörter und keine der Wortverbindungen, die die Bedeutung des analysierten Phraseologismus wiedergeben, paßt in den analysierten Redeausschnitt. Das heißt umgekehrt, daß keines der Wörter, die den Phraseologismus bilden, in einer seiner möglichen Bedeutungen verwendet wurde. Es liegt eine gleichmäßige Desemantisierung der Komponenten vor. Durch die „phraseologische Applikation" können die Fehlerquellen der Synonymenkontrastierung aufgezeigt werden. So zählt etwa I. S. Toropcev, der mit der Synonymenkontrastierung (im allgemeinen recht erfolgreich) arbeitet, die Bildung bit' po karmanu „auf die Tasche schlagen" = „ (jd.) Verlust, Schaden zufügen" deshalb zu den freien Wortverbindungen, weil die Komponente bit' „schlagen" mit opustosat' „leeren" und pricinjat' uscerb

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„Verlust zufügen" und das Wort karman „Tasche" mit sredstvo „Mittel" synonym seien4. Dem kann man unmöglich zustimmen, denn in der Bedeutungsstruktur des Verbs bit' kommt diese Bedeutung nicht vor. Die Bildung entstand als Resultat der Metaphorisierung der freien Wortverbindung mit demselben lexikalischen Bestand in einer für die Umdeutung geeigneten Situation. In der homonymen freien Wortverbindung, dem Objekt der Metaphorisierung, werden die Wörter bit' und karman in ihrer ursprünglichen, direkten Bedeutung verwendet. Dem Wort karman kann man hier die Bedeutung „Mittel" nicht zuschreiben, denn eine solche Wortverbindung wäre sinnlos. Beim Wort entsteht (vom Standpunkt der eigentlich sprachlichen Situation aus) eine übertragene Bedeutung meist dann, wenn es mit einem anderen Wort von nicht-konkreter oder kollektiver Bedeutung in unmittelbare Verbindung tritt (vgl. zevat' rezinku „Kaugummi kauen" und zevat' frazu „eine Phrase kauen" = „Phrasen dreschen"). In der vorliegenden Wortumgebung können daher bit' und karman keine übertragene Bedeutung erhalten. Durch die Methode der Projektion des Phraseologismus auf die gleichlautende freie Wortverbindung und als Ergebnis des Vergleichs der Gesamtbedeutung des Phraseologismus mit den systemhaften Bedeutungen der zugrunde liegenden Wörter in freier Verwendung gelingt es, a) nicht nur die eigentlichen Phraseologismen, sondern auch benachbarte Erscheinungen (wie phraseologische Fügungen, Sprichwörter, geflügelte Worte etc.) zu analysieren; b) eine Grenze zu ziehen zwischen Phraseologismus im eigentlichen Sinn und Wörtern, die mit dem Phraseologismus verbunden sind wie berec' kak zenicu oka „wie den Augapfel hüten". Als Grenzfall des eigentlichen Phraseologismus auf der Ebene der Wortverbindungen muß u.E. die „phraseologische Fügung" (fraz. socetanie) betrachtet werden, auf der Ebene des Satzes die Sprichwörter (außer den sprichwörtlichen Phraseologismen wie Igra ne 4

S. seine Doktordissertation: Ocerk russkoj onomasiologii. Orel 1970, S. 46.

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stoit svec „das Spiel ist die Kerzen nicht wert" = „es lohnt sich nicht") und geflügelte Worte. Zusammengesetzte Termini und Benennungen vom Typ pastus'ja sumka „Hirtentäschel" zählt man nützlicherweise auch zum Bestand der Phraseologismen, wenn sie als Resultat einer Metaphorisierung freier Wortverbindungen mit demselben Lexembestand gebildet wurden. c) die Variationseigenschaften vieler Phraseologismen zu bestimmen. Die Beobachtungen zeigen, daß die Erscheinung der Variabilität grundsätzlich solchen Phraseologismen eigen ist, die ihre semantische Beziehung zu den Wörtern der freien Verwendung noch nicht verloren haben. Dabei ist der Komponentenbestand um so fester und unveränderlicher, je enger die Komponenten in semantischer Hinsicht verbunden sind und umgekehrt. d) den Grad der semantischen Ganzheitlichkeit und Geschlossenheit der Phraseologismen aufzuzeigen. Von diesem Gesichtspunkt aus lassen sich unterscheiden: Phraseologismen mit ganzheitlicher nichtmotivierter Bedeutung (wie sobaku s-el „(er) hat einen Hund gegessen" = „(er) versteht sich ausgezeichnet (auf etw.)", umyvat' ruki „die Hände waschen" = „die Verantwortung ablehnen u.ä."), mit ganzheitlicher motivierter Bedeutung (vynosit' sor iz izby „den Kehricht aus der Hütte tragen" = „Unstimmigkeiten, die einen engen Personenkreis betreffen, an die Öffentlichkeit bringen", derzat' kamen' za pazuchoj „einen Stein in der Jacke tragen" = „Böses im Schilde führen") und mit motivierter analytischer Gesamtbedeutung (podnimat' golos „die Stimme erheben" = „seine Meinung sagen"). e) die Festigkeit der phraseologischen Einheiten festzustellen, worunter das Ausmaß, der Grad des semantischen Zusammenhalts der Komponenten zu verstehen ist. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, weisen die Phraseologismen mit ganzheitlicher nichtmotivierter Bedeutung (umyvat' ruki) größere Festigkeit auf als die mit ganzheitlicher motivierter Bedeutung, und diese zeigen wieder größere Festigkeit als die mit motivierter analytischer Gesamtbedeutung.

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f) die Erscheinung der ungleichmäßigen Phraseologisierung aufzudecken, wenn eine Komponente die bedeutungsbildende Funktion erfüllt, während die andere(n) bedeutungsleer ist (sind) (vgl. na skoruju ruku „auf die schnelle Hand" = „unverzüglich, eilig", wo die Komponente skoruju „schnelle" die bedeutungsbildende Funktion übernommen hat). Die bedeutungsbildende Komponente ist hier das Bedeutungszentrum des Phraseologismus. Mit Hilfe der Methode der Projektion kann man feststellen, daß die Komponenten und der Phraseologismus als Ganzes in semantischer, wortbildungsmäßiger, morphologischer und syntaktischer Hinsicht nicht mit dem Wort äquivalent sind. Die Methode kann nicht nur synchron, sondern auch diachron angewendet werden. Sie ist um so erfolgreicher, je besser und sicherer vorher das System der Bedeutungen, Unterbedeutungen und Bedeutungsschattierungen lexikographisch ausgearbeitet worden ist. Da die Klassifikation, die wir im folgenden vorschlagen, auf der Applikationsmethode beruht, müssen die Klassen und Abteilungen in diesem Klassifikationschema in bestimmter Weise die unterschiedliche Entfernung des jeweiligen Phraseologismus von der motivierenden Ausgangsverbindung (sofern eine solche vorhanden ist) wiedergeben und andererseits auch den unterschiedlichen Grad der Entfernung der phraseologischen Komponenten von den entsprechenden Wörtern in freier Verwendung, wenn eine entsprechende freie Verbindung nicht gebildet werden kann. Alle Phraseologismen der russischen Sprache können von diesem Standpunkt aus in zwei Typen geteilt werden: a) Phraseologismen, die synchron freien Wortverbindungen mit dem gleichen lexikalischen Bestand gegenübergestellt werden können (applizierbare, projizierbare Phraseologismen), und b) solche, die vom heutigen Sprachzustand aus keinen entsprechenden freien Verbindungen gegenübergestellt werden können (nicht applizierbare Phraseologismen). Zwischen diesen Typen gibt es Grenzfälle, die nur mit Schwierigkeit einem der beiden Typen zugeteilt werden können. Im Rahmen jedes Typs können wiederum einige Unterschiede festgestellt werden.

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Bei den applizierbaren Typen kann man zwei Klassen unterscheiden. Zur ersten gehören die Phraseologismen, die auf dem Hintergrund der entsprechenden veränderlichen Wortverbindungen keinen metaphorischen Effekt zeigen, z. B. zavarit' kasu „einen Brei kochen" = „sich etwas einbrocken", posypat' golovu peplom „das Haupt mit Asche bestreuen" = „sich (wegen eines Ereignisses) tiefer Trauer hingeben" etc. Solche Phraseologismen haben die innere Form verloren, jenes (reale oder nicht reale) Bild, das die Grundlage der Benennung bildete. Deshalb weisen sie ganzheitliche nichtmotivierte Bedeutung auf. Der Prozeß des semantischen Verblassens der Komponenten hat hier mehr oder weniger gleichmäßig alle unmittelbar beteiligten (bedeutungstragenden und auxiliaren) Elemente erfaßt. Solche Phraseologismen mit ganzheitlicher nichtmotivierter Bedeutung können als idiomatische Einheiten qualifiziert werden. Zur zweiten, überaus zahlreichen und produktiven Klasse gehören Phraseologismen, die im Vergleich mit freien Wortverbindungen mit gleichem lexikalischem Bestand einen metaphorischen Effekt zeigen, wie bit' po karmanu „auf die Tasche schlagen" = „Schaden zufügen", brat' byka za roga „den Stier bei den Hörnern packen", belaja vorona „ein weißer Rabe" = „eine auffallende u. seltene Ausnahme (von e. Menschen)", koza da kosti „Haut und Knochen" etc. Solche Phraseologismen mit ganzheitlicher motivierter Bedeutung können als metaphorische Einheiten bezeichnet werden. Die Komponenten solcher Phraseologismen und die Wörter der entsprechenden freien Verbindungen sind — entgegen der Meinung vieler Forscher — nicht kommensurabel, vor allem in semantischer Hinsicht: die Wörter der veränderlichen, freien Verbindungen haben eine durch den Sprachgebrauch streng festgelegte konkrete (primär-nominative) lexikalische Bedeutung. Im Gegensatz dazu werden die homonymen Komponenten desemantisiert, d. h. sie verlieren gleichsam ihre Bedeutung5. Als Resultat 5

Die Erscheinung, daß Wörter sich in Strukturelemente verwandeln, nennt E. Ch. Rott „Monemeigenschaft" (monemnost'), ein wesentliches Merkmal des

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des semantischen Verblassens der Komponenten bildet sich ein komplexes, nicht-teilbares Semem, ein qualitativ neues sprachliches Zeichen. Hierbei ist die „nichtsystemhafte Bedeutung" jeder Komponente, sofern eine solche durch innersprachlichen Vergleich aufgewiesen werden kann, immer abstrakter als die systemhafte, usuelle Bedeutung (vgl. ne delat' pogody „nicht das Wetter machen" = „keine große Bedeutung haben"). Diese Gesetzmäßigkeit kennt keine Ausnahme, wenigstens im Rahmen der hier untersuchten Klasse von Phraseologismen. Aus dem Gesagten folgt auch, daß die Komponenten der entsprechenden Phraseologismen nicht in Beziehungen der Homonymie mit den Einzelwörtern treten können. Homonyme können nur Wörter mit eigener, selbständiger lexikalischer Bedeutung sein. Die Komponenten dieser Phraseologismen erfüllen diese Anforderung nicht, da sie keine eigene lexikalische Bedeutung haben. Abarten dieser Klasse sind Phraseologismen wie viljat' chvostom „mit dem Schwanz wedeln" = „Ausflüchte machen, sich drehen und wenden", zagrebat' zar cuzimi rukami „die Glut mit fremden Händen zusammenscharren" = „sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen lassen", otogrevat' zmeju na grudi „eine Schlange am Busen wärmen" = „einem undankbaren Menschen Liebe erweisen", peregibat' palku „den Stab zu sehr biegen" = „den Bogen überspannen", zolotye ruki „goldene Hände" = „einer, der zu allem geschickt ist, dessen Händen alles gelingt", streljanyj vorobej „ein angeschossener Spatz" = „ein sehr erfahrener, schlauer Mensch" etc. Derartige Phraseologismen können leicht freien Wortverbindungen gegenübergestellt werden und erweisen sich dabei als Metaphern. Ihre Bedeutung nähert sich der übertragenen Bedeutung des Wortes in freier Verbindung oder fällt mit ihr zusammen (vgl. die Bedeutung von peregibat' im Phraseologismus peregibat' palku „den Bogen überspannen" d. h. „mit seinem Verhalten Phraseologismus. Vgl. seine Dissertation: Problemy suscnosti i struktury russkoj frazeologii i kratkaja istorija ich razrabotki. Leningrad 1969.

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unnötig in ein Extrem verfallen" mit der übertragenen Bedeutung dieses Verbs „etwas Extremes zulassen"). Der Prozeß der Bildung von Phraseologismen verläuft, wie die Fakten zeigen, völlig unabhängig von der Entstehung einer übertragenen Bedeutung beim Wort, und ebenso erscheinen übertragene Bedeutungen bei Wörtern unabhängig von der Bildung von Phraseologismen. Eine übertragene Bedeutung entsteht nämlich oft dann, wenn sich ein Wort mit konkreter Bedeutung mit einem anderen Wort nichtkonkreter oder verallgemeinerter Bedeutung verbindet. Das Verb zevat' „kauen" zum Beispiel nimmt dort, wo es sich mit Wörtern nichtkonkreten Inhalts verbindet, eine übertragene Bedeutung an: Nel'zja zevat' (v p'esach) vse odin i tot ze tip, odin i tot ze gorod, odin i tot ze turnjur. „Man kann (in den Stücken) nicht ständig ein und denselben Typ, ein und dieselbe Stadt, ein und dieselbe Tournure wiederkäuen" (Cechov, Brief an Plesceev vom 4. 10. 1888). In der freien Wortverbindung zevat' mocalo „Bast kauen" verbindet sich das Verb mit einem Substantiv primärer, konkreter Bedeutung. Folglich gibt es für das Verb keine objektiven lexiko-semantischen Voraussetzungen, eine übertragene Bedeutung anzunehmen. In Analogie zu Wörtern freien Gebrauchs müssen auch die Komponenten eines gegebenen Phraseologismus wirken, der als Resultat der Metaphorisierung einer freien Wortverbindung entstanden ist. Deshalb beziehen sich die Komponenten solcher Phraseologismen auf Wörter mit konkreter, nicht mit abgeleitet-übertragener Bedeutung. Viele Phraseologismen aber können vom Standpunkt des heutigen Sprachzustandes nicht mehr freien Wortverbindungen gegenübergestellt werden. Auch zum Kreis dieser nichtapplizierbaren Phraseologismen gehören wieder einige Gruppen. Vor allem sind jene Phraseologismen auszusondern, die phonetische, lexikalische und grammatische Archaismen verschiedener Art aufweisen 6 . 6

Nach den Zählungen R. N. Popovs gibt es im Russischen über 700 phras. Einheiten mit archaischen Elementen. Vgl. seine Doktordissertation: Frazeol. edin-

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Die Phraseologismen dieser Klasse sind ihrem Bestand nach nicht einheitlich: a) manche bestehen gänzlich aus Archaismen (blagim matom „aus Leibeskräften", vkupe i vljube „in holder Eintracht", semo i ovamo „hierhin und dahin"), b) ein bedeutender Teil der Phraseologismen weist nur einzelne ungebräuchliche oder ausgestorbene lexikalische Elemente auf (bit' baklusi „faulenzen", u certa na kulickach „wo sich Füchse und Hasen Gutenacht sagen"), c) viele sind ganz oder teilweise in ihren grammatischen Formen veraltet (nictoze sumnjasesja „nichts Böses ahnend", ocertja golovu „überstürzt", spustja rukava „nachlassig"). Einen besonderen Platz nehmen die Phraseologismen ein, deren lexiko-grammatische Umwandlung nicht abgeschlossen ist. So ist die verbale Komponente des Phraseologismus kak pit' dat' „todsicher" zum Teil nach Person und Genus abwandelbar (kak pit' dadut, kak pit' dala), hat also die Kongruenzbeziehung zum Subjekt der Handlung nicht endgültig verloren. (.. .) Diese Art von Archaisierung erfaßt die Phraseologismen verbaler Herkunft, die zu adverbiellen phraseologischen Einheiten geworden sind {kak sleduet „wie es sich gehört"). Da das Hauptmerkmal der Phraseologismen dieser Klasse die archaischen Elemente sind, die eine Idiomatisierung der phraseologischen Einheit bedeutend fördern, kann man solche Phraseologismen mit ganzheitlicher nichtmotivierter und — seltener — motivierter Bedeutung in einer Kategorie der archaisierten Einheiten zusammenfassen. Einige Linguisten haben richtig bemerkt, daß derartige Phraseologismen dem normalisierenden Einfluß des heutigen Sprachsystems ausgesetzt sind. So lassen manche Phraseologismen mit archaischen Elementen die Trennung oder Inversion ihrer Komponenten zu; einem anderen Teil ist lexikalische, derivationelle oder lexikophonetische Variabilität eigen (kak zenicu oka/glaza „wie icy sovremennogo lit. russkogo jazyka s archaicnymi elementami v svoej strukture. Cerepovec 1970.

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den Augapfel", s golovy do nog/pjat „vom Kopf bis zu den Füßen/ Fersen", ot mladych/molodych nogtej „von Kindesbeinen an"). In einer dritten Gruppe erlangen die archaischen Elemente, in irgendeiner Form erstarrt, auf einmal paradigmatische Aktivität und werden den heutigen Formen angeglichen (opocit' v boze/v böge „in Gott entschlafen"). Bei vielen Phraseologismen können Komponenten durch andere Wörter7 (am häufigsten pronominalen Charakters) erweitert und erklärt werden. Derartige Veränderungen, die durch den normalisierenden Einfluß, den „Druck", des Sprachsystems hervorgerufen werden, zeigen deutlich die gegensätzliche Wirkung der analytischen und synthetischen Tendenzen innerhalb des Phraseologismus: die analytischen Tendenzen sind durch die mehrgliedrige Struktur bedingt und charakterisieren seine Form, die synthetischen dagegen sind eine Folge der semantischen Ganzheitlichkeit und charakterisieren seine Bedeutung. Solange zwischen Form und Inhalt ein labiles Gleichgewicht erhalten bleibt, d. h. solange die semantische Identität des Phraseologismus nicht zerstört wird, zeugen — entgegen der Meinung einiger Phraseologen — keinerlei Veränderungen auf der paradigmatischen oder syntagmatischen Achse davon, daß die Komponenten Worteigenschaften hätten. Solche Veränderungen bei einer oder bei mehreren Komponenten sind typisch für die Dynamik der Form eines konkret gegebenen Phraseologismus als Ganzem. So erlaubt das Idiom bit' baklusi eine Veränderung der Reihenfolge der Komponenten (baklusi bit'), aber der Phraseologismus tak sebe „nichts Besonderes" läßt keine Umstellung zu. Dies bedeutet aber sicher nicht, daß im ersten Fall die Worteigenschaften der Komponenten in irgendeiner Weise klarer hervortreten als im zweiten. Im ersten Fall liegt einfach eine Bildung nach dem Modell einer verbalen Wortverbindung vor, das von der Sprachnorm her vollkommen frei eine Umstellung der Komponenten erlaubt. 7

S. z.B. F. M. Jankovskij, Belorusskaja narodnaja frazeologija. Dokt. diss. Minsk 1969, c. 1, S. 65ff.; R. N . Popov, op. cit. III, S. 94ff.

Die Methode der „phraseologischen Applikation"

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Manchmal kann aber eine einfache Umstellung der Komponenten die Bedeutungseinheit des Phraseologismus zerstören. Bei einer solchen Umstellung verwandeln sich die Komponenten in Wörter und der Phraseologismus wird zur freien Wortverbindung (vgl. nol' vnimanija „Null der Aufmerksamkeit" = „keinerlei Aufmerksamkeit"). Aus diesen Gründen können viele verbale Phraseologismen nicht im aktuellen Präsens oder im Imperativ verwendet werden, denn in diesen grammatischen Formen werden sie zu freien Wortverbindungen (z. B. stojat' odnoj nogoj v mogile „mit einem Fuß im Grab stehen"). Die Erforschung des normalisierenden Einflusses des Sprachsystems auf die Struktur von Phraseologismen hilft somit, die syntagmatische und paradigmatische Aktivität der Phraseologismen aufzuzeigen. Die semantischen Eigenschaften der Komponenten können mit der Methode der phraseologischen Applikation untersucht werden, das heißt durch Gegenüberstellung der Gesamtbedeutung des Phraseologismus und der Wortbedeutungen in freier Verwendung. Hierbei wird die phraseologische Einheit in dem Maß zerstört, in dem eine Komponente des Phraseologismus konkretisiert wird, d. h. sie erlangt in gewissem Grad die Eigenschaften und Merkmale eines Wortes, was auf die Zerstörung des labilen Gleichgewichts zwischen Form und Inhalt hinweist. Das bedeutet aber letztlich, daß die Komponente eines Phraseologismus nicht einem Wort gleichwertig ist. Die folgende Klasse bilden Phraseologismen, in deren Bestand eine der Komponenten bedeutungsbildend ist, die andere(n) jedoch nicht. Die bedeutungsbildende Komponente steht in semantischer Beziehung zum entsprechenden Wort in freier Verwendung (ist jedoch nicht mit ihm identisch). Zu dieser Kategorie kann man Phraseologismen zählen wie na sirokuju ruku „auf die breite Hand" = „großzügig", pod veseluju ruku „unter die fröhliche Hand" = „in freudiger Erregung", s pustimi rukami „mit leeren Händen" = „ohne Besitz", na zivuju ruku „auf die lebendige Hand" = „irgendwie, schlecht und recht", na bol'suju

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tiogu „auf den großen Fuß" = „reich, luxuriös, auf großem Fuß", na druzeskoj noge „auf freundschaftlichem Fuß" = „in freundschaftlichen Beziehungen", iz pervych ruk „aus den ersten Händen" = „aus erster Hand, unmittelbar" u.s.w. Die bedeutungsbildenden Komponenten weisen einen unterschiedlichen Grad von inhaltlicher und lexiko-grammatischer Beziehung zu den Wörtern in freier Verwendung auf. Bei den einen stehen die Komponenten zu Wörtern in semantischer Beziehung, unterscheiden sich jedoch in lexiko-grammatischer Hinsicht. Vgl. z. B. zivoj rukoj „mit lebendiger Hand" = „sehr schnell", zivym manerotn „mit lebendiger Manier" =„dss.", wo der Instrumental als Kasusform schwacher Rektion die Adverbialisierung des Phraseologismus ermöglicht und folglich die lexikogrammatische Bedeutung der Adverbialitat voraussagt, während das bei diesem Instrumental stehende Attribut die bedeutungsbildende Funktion erfüllt und in lexikogrammatischer Beziehung nicht mit dem entsprechenden Adjektiv identisch ist. Im Bestand anderer Phraseologismen wie na zivuju ruku „irgendwie", pod veseluju ruku „in freudiger Erregung" u.a. zeigen derartige Komponenten, obwohl sie die Bedeutungsbeziehung zu den Wörtern in freier Verwendung bewahren, eine spezifische Valenz, d.h. sie haben nicht dieselben Kombinationseigenschaften wie die entsprechenden Wörter in freier Verwendung. Die bedeutungsbildende Komponente innerhalb der analysierten Klasse von Phraseologismen ist Träger des Bedeutungszentrums 8 und zugleich Indiz für die ungleichmäßige Lexikalisierung der phraseologischen Einheit. Solche Phraseologismen gehören zur Kategorie der phraseologischen Einheiten mit motivierter und s e m i a n a l y t i s c h e r Gesamtbedeutung. Neben dieser gibt es eine andere, stärker analytische Klasse von Phraseologismen. Bei diesen ist jede Komponente bedeutungsbil8

Darüber z.B. V. P. ¿ukov, O smyslovom centre frazeologizmov. — In: Problemy frazeologii, Moskva — Leningrad 1964.

Die Methode der „phraseologischen Applikation"

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dend, und der Phraseologismus als Ganzes hat eine analytische Gesamtbedeutung. Ungeachtet dessen bezeichnet jede Komponente für sich aber nicht das, was sie in der Verbindung ausdrücken. Auch hier kann nur von einer semantischen Beziehung, nicht aber von Identität von Komponente und Wort die Rede sein. Infolgedessen sind die Phraseologismen und die entsprechenden Wörter der freien Verwendung, die semantisch mit ihren Komponenten in Beziehung stehen, nicht austauschbar: Der Phraseologismus hat gegenüber jedem einzelnen Wort in freier Verwendung einen besonderen semantischen Rest. Hierbei ist es interessant festzustellen, daß die Komponenten des Phraseologismus, wenn man die ihnen eigene gewisse semantische Selbständigkeit beachtet, im Vergleich zu den Wörtern einen höheren Grad von Abstraktheit aufweisen. So drückt z. B. das Verb zagubit' „zugrunderichten" in freier Verwendung die Idee des Todes aus, aber im Bestand des Phraseologismus zagubit' cej-libo vek „jd. das Leben verderben" und unter seinem Einfluß geben die entsprechenden Komponenten diese Idee nicht unmittelbar wieder. Die Phraseologismen dieser kleinen und peripheren Klasse wollen wir phraseologische Einheiten mit m o t i v i e r t e r a n a l y t i s c h e r Gesamtbedeutung nennen. Hierher gehören Phraseologismen wie otbivat' chleb „das Brot wegnehmen" = „die Existenzgrundlage entziehen", nachodit' obscij jazyk „eine gemeinsame Sprache finden", podnimat' golos „seine Stimme erheben" u.s.w. So ist im Phraseologismus podnimat' golos „seine Stimme erheben" = „entschieden seine Meinung äußern" jede Komponente semantisch mit dem homonymen Wort in freier Verwendung verbunden: podnimat' bezieht sich auf eine der Bedeutungen dieses Wores, nämlich „etwas wahrnehmbar werden lassen, Ursache einer Handlung oder eines Zustands sein": „Der Verrat Mironovs rief erneut Diskussionen über die Beziehungen zu den ehemaligen Offizieren der zaristischen Armee hervor" (podnimala spory; Fedin, Ein ungewöhnlicher Sommer). Die Komponente golos bezieht sich auf die Bedeutung des entsprechenden Wortes „Urteil, Aussage, Meinung": „Am anderen Tag erhielt man keine

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Nachricht von der Armee und die allgemeine Meinung (obscij golos) wurde unruhig" (Tolstoj, Krieg und Frieden). So ermöglicht das Verfahren der phraseologischen Applikation also eine Neueinteilung des phraseologischen Materials und zeigt gleichzeitig die verdeckten lexikosemantischen Prozesse synthetischer und analytischer Art auf, die innerhalb jeder phraseologischen Klasse vor sich gehen. Gleichzeitig muß man anmerken, daß diese Klassifikation nur eine Unterscheidung der typischsten Momente im Ablauf des einen, seinem Wesen nach kontinuierlichen Prozesses der Phraseologisierung darstellt.

V. N. Telija Zur Variabilität von Wort und Idiom O variantnosti slov i variantnosti idiom*

Die vergleichende Analyse von Wortvarianten und Idiomvarianten kann darauf gerichtet sein, ihre gemeinsamen kategorialen Merkmale sichtbar zu machen, aber wir haben uns eine etwas andere Aufgabe gestellt. Bekanntlich werden Idiome in allgemeinster Form als Äquivalente der Wörter definiert. Diese Definition bedarf wesentlicher Präzisierungen, weil nämlich die Äquivalenz von Wörtern und Idiomen nur ihre funktionelle Gleichheit betrifft: beide werden als Mittel der Benennung gebraucht. Dies ist auch der Grund dafür, daß man die Idiome zu den Einheiten der Sprache rechnet. Die Besonderheit der Idiome in bezug auf ihre Bildungsweise (semantisch, nicht formal) liegt in den wesentlichen Unterschieden des Inhaltsplans und Ausdrucksplans von Wörtern und Idiomen. Die Spezifik der strukturellen Organisation der Idiome tritt am vollständigsten zutage, wenn man sie variiert. Die vorliegende Arbeit möchte die Besonderheiten der strukturellen Organisation der Idiome als Zeichenbildungen durch einen Vergleich ihrer Variabilität mit der Variabilität von Wörtern aufzeigen. Die Kategorie der Variabilität gehört der Ebene der Realisierung sprachlicher Einheiten an. Die realisierte bedeutungstragende ^Einheit ist ein strukturell materialisiertes zweiseitiges „Ganzes, das eine spezifische globale Qualität besitzt, die nicht aus der * In: Voprosy frazeologii 3, Samarkand 1970, S. 172-188.

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Summe der Eigenschaften der konstituierenden Elemente abgeleitet werden kann." 1 Aber infolge des asymmetrischen Dualismus der sprachlichen Einheiten2 „variieren Form und Inhalt der sprachlichen Zeichen unabhängig voneinander: Nicht in allen Verwendungen eines bestimmten Signifiant muß eine invariante Bedeutung zugegen sein, und nicht in allen Realisierungen einer Bedeutung ist eine Invariante der Form auszumachen", 3 wodurch eine gleichzeitige und parallele Beschreibung des Inhaltssystems und des Ausdruckssystems in einem Modell für die Erscheinungen der Variabilität unmöglich wird. Außerdem treten mit zunehmender Komplexität der Einheit die Möglichkeiten ihrer formalen Differenzierung (nach dem Signifiant) in den Hintergrund, und es überwiegen die Möglichkeiten der Differenzierung nach dem Signifie4. Der Begriff „Variante" selbst, der dem Begriff „Invariante der Einheit" korrespondiert, legt es nahe, mit Einheiten der Sprache zu operieren, d.h. mit solchen zeichenhaften Gebilden, zwischen deren zwei Seiten eine Beziehung der Arbiträrität besteht. In bezug auf Verbindungen von Einheiten wird der Terminus „Variante" offensichtlich in einem anderen, weiteren Sinn verwendet 5 . 1

2

3

4

5

T. V. Bulygina, O granice mezdu sloznoj edinicej i socetaniem edinic. — In: Edinicy raznych urovnej grammat. stroja jazyka i ich vzaimodejstvie, Moskva 1969, S. 224. Zur Asymmetrie in Bau und Funktion der Idiome vgl. V. N. Telija, O variantnosti leksiceskogo sostava idiom. — In: Problemy ustojcivosti i variantnosti frazeologiceskich edinic, Tula 1968. N. D. Arutjunova, O minimal'noj edinice grammaticeskoj sistemy. — In: Edinicy raznych urovnej . . . (s. Anm. 1), S. 37f. Vgl. E. A. Makaev, Ponjatie davlenija sistemy i ierarchija edinic. — In: VJa 1962, Nr. 5; — N. D. Arutjunova, Ob ierarchii ling. edinic. — In: Edinicy raznych urovnej . . . Es ist anzumerken, daß die Untersuchung der Veränderungen phraseologischer (wie überhaupt „parametrischer" — nach Mel'cuk) Verbindungen eine Lösung des sehr komplizierten Problems „Wort und Idiom" in unfreier Fügung erfordert, was die Erforschung der in verschiedener Weise semantisch und/oder lexikalisch „gebundenen" Realisierungen von Wort und Idiom voraussetzt. Vgl. zu dieser Fragestellung: V. V. Vinogradov, Osnovnye tipy leksiceskich znacenij

Zur Variabilität von Wort und Idiom

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Jede Einheit der Sprache wird bekanntlich vor allem durch ihre Grundfunktion definiert. „Die Funktion des Wortes", schreibt Smelev, „wird innerhalb der Reihe Phonem (bedeutungsunterscheidende Funktion) — Wort (Benennungsfunktion) — Satz (kommunikative Funktion) definiert". 6 Gerade in dieser Gegenüberstellung sind die Idiome den Wörtern äquivalent. Und weiter: „Die Form eines Wortes ist zugleich sein lautlicher Ausdruck und seine grammatische Struktur, sein Inhalt ist die lexikalische Bedeutung." 7 Die NichtVorhersagbarkeit (Unmotiviertheit oder unvollständige Motiviertheit) der lexikalischen Bedeutung des Wortes macht es möglich, von seiner Idiomatizität zu sprechen 8 . Bei Wörtern jedoch, die nach produktiven Wortbildungsmodellen gebaut sind, fehlt diese Idiomatizität, da den Teilen der Wortbedeutung in regelmäßiger eins-zu-eins-Entsprechung bedeutungstragende Einheiten der morphologischen Ebene gegenübergestellt werden können. Die Form eines Idioms ist sein lautlicher Ausdruck und sein lexikalisch-grammatischer Aufbau. Dabei bleibt die NichtVorhersagbarkeit der Bedeutung des Idioms (unabhängig von Motiviertheit/Nichtmotiviertheit) in jedem Fall gewahrt, da man bei der Analyse Konstituenten bekommt, die sich zwar formal mit einem Wort decken, jedoch keine bedeutungstragenden Einheiten der lexikalisch-semantischen Ebene der Spräche sind 9 . Der strukturelle Unterschied zwischen Idiomen und

slova. — In: VJa 1953, Nr. 5, und weiters die Frage der lexikalisch-phraseologischen Varianten eines Wortes bei O. S. Achmanova, Ocerki po obscej i russkoj leksikologii, Moskva 1957. 6

D. N. Smelev, Problemy semanriceskogo analiza. Avtoreferat dokt. diss., Moskva 1969, S. 5.

7

Ebda.

8

Ebda. — Vgl. noch M . V. Panov, O slove kak edinice jazyka. Uc. zap. Mosk. G. P. Inst. t. 5 1 , vyp. 6, 1956.

9

Die Tatsache, daß die bedeutungstragenden Einheiten der lexiko-semantischen Ebene gerade aufgrund ihrer autonomen und regulären Benennungsfunktion innerhalb von Wortverbindungen und Sätzen identifiziert werden, bedarf keiner Beweise.

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Wörtern wird durch den Unterschied in der Semiose dieser Sprachzeichen determiniert. Wenn man die Definition der Wörter als Einheiten der „ersten Gliederung der Sprache"10 annimmt, dann sind Idiome Einheiten, die auf der Basis von Einheiten der ersten Gliederung entstanden sind, bei denen deshalb die Benennungsfunktion durch die Semantik der Wörter, deren Verbindung dem Idiom zugrunde lag, „vermittelt" ist. Da die Autonomie der Benennungsfunktion der Idiome das Ergebnis der Wechselbeziehung einer verbal realisierten Bedeutung mit einem außersprachlichen Korrelat ist, wird sie durch die Verschmelzung des Bedeutungsinhalts gewährleistet, so daß man dem mehrgliedrigen Ausdruck keine eins-zu-eins entsprechenden einzelnen Bedeutungselemente gegenüberstellen kann (vgl. die spiegelbildlich entgegengesetzte Erscheinung, wenn Ausdruckselementen keine einzelnen Bedeutungskomponenten entsprechen, wie bei lat. -orum in malorum und russ. -am in zenam = Dat. Pl. von zena „Ehefrau"). Die Ganzheitlichkeit und Autonomie der Benennungsfunktion der Idiome bedingt das Fehlen von Komponenten mit einer eigenen Benennungsfunktion, d. h. mit einer lexikalisch-semantischen Selbständigkeit in bezug auf den Bedeutungsinhalt des Ganzen. Gerade diese Eigenschaft der Komponenten11 unterscheidet das Idiom als zeichenhafte Spracheinheit von den freien oder unfreien Verbindungen, die zwar auch durch Ganzheitlichkeit der Nomination gekennzeichnet sind, jedoch Zeichenverbindungen darstellen (vom Typus nozka stola „Stuhlbein", cernyj/belyj chleb „Schwarzbrot/Weißbrot", zolotaja molodez „Jeunesse dorée"). Das Fehlen einer autonomen Benennungsfunktion bei den lexikalischen Komponenten von Idiomen kommt in einer spezifischen Umdeutung der Wortmerkmale zum Ausdruck. Im Unterschied zur 10 11

Nach A. Martinet, Grundzüge der allgemeinen Sprachwissenschaft, u. a. Detaillierter über die Integrationsbedeutung der lexikalischen Komponenten von Idiomen bei V. N. Telija, O termine „frazema". — In: Problemy linguist. analiza, Moskva 1966.

Zur Variabilität von Wort und Idiom

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„regulären" Diversifikation 12 der Signifiants der produktiven Wortbildungstypen (vgl. oben) ist die Diversifikation der lexikalischen Komponenten von Idiomen der Erscheinung der „Deetymologisierung" analog. Die Deetymologisierung des lexikalischen Bestandes von Idiomen besteht darin, daß in ihnen die Wörter einen Teil der unterscheidenden Merkmale einbüßen, die für ihren lexikalisch-semantischen Status relevant sind, ähnlich wie die formal isolierbaren Segmente in Wörtern vom Typ poduska „Kissen" (wörtl. etwa „unter dem Ohr"), zastenok „Folterkammer" (wörtl. etwa „hinter der Wand" etc.) ihren Morphemstatus verlieren. Während die Komponenten der Idiome die Eigenschaften von Einheiten der lexikalisch-semantischen Sprachebene verloren haben, bewahren sie die Lexemeigenschaften13 in rein formaler Hinsicht, nämlich die Fähigkeit der Flexion, was dadurch ermöglicht wird, daß die Idiome mehrgliedrig sind. Die Komponenten bewahren ihre Lexemeigenschaften auch darin, daß sie austauschbar sind. Genauer werden alle diese Besonderheiten der Varianten, wie sie sich aus der spezifischen strukturellen Organisation der Idiome ergeben, weiter unten beschrieben. Hier ist noch auf eine weitere Besonderheit der Idiome hinzuweisen, die darin besteht, daß man in ihren lexikalischen Bestand prinzipiell kein Analogon zum „Wurzelmorphem", d.h. kein „semantisches Kernwort" oder „semantisches Zentrum" isolieren kann 14 . Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Idiom und dem Wort, dessen „Einheit von Form und Bedeutung" (mit Ausnahme der suppletiven Formen) nach der Definition V. V. Vinogradovs 15 durch

12

13

14 15

Zum Begriff „Diversifikation" vgl. N. D. Arutjunova, Stratifikacionnaja model' jazyka. — In: Filolog. nauki, 1968, Nr. 1. Vgl. zur Opposition der Begriffe „Lexem" (Bezeichnendes) und „Semem" (Bezeichnetes) N. I. Tolstoj, Iz opytov tipologiceskogo issledovanija slav. slovarnogo sostava. - In: VJa 1963, Nr. 1. Dazu N. N. Amosova, Osnovy anglijskoj frazeologii, Leningrad 1963, S. 163. V. V. Vinogradov, O formach slova. In: Izvestija OLJa AN SSSR, t. 3, vyp. 1, 1944, S. 34.

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seinen lexikalisch-semantischen Kern, ausgedrückt im Wurzelmorphem (oder Grundmorphem), organisiert wird. Die „lexikalisch-semantische Einheit" der Idiome kommt in ihrem gesamten lexikalischen Bestand zum Ausdruck, es lassen sich keine zentralen und marginalen Komponenten aussondern. Diese Eigenheit des lexikalischen Bestandes der Idiome beruht darauf, daß ihre Komponenten in bezug auf die Gesamtbedeutung bedeutungsunter scheiden de Funktion haben, wie die Einheiten des Ausdrucksplans in „deetymologisierten" Wörtern: vgl. zachod (v port) — vychod (iz porta) „Einfahrt (in den Hafen)" — „Ausfahrt (aus dem Hafen)" gegenüber zapad — vypad „westlicher Teil der Welt" — „Ausfall"; ebenso bei smotret'/gljadet' v les und smotret'/gljadet' v kusty „in den Wald schauen" = „eine Stelle aufgeben wollen" und „in die Büsche schauen" = „sich vor einer Arbeit, einer Verantwortung drücken wollen", wo der Bedeutungsunterschied ebenfalls nicht dem Bedeutungsunterschied der Wörter „Wald" und „Büsche" gleich ist, sondern von diesem nur signalisiert wird. Im Unterschied zu den deetymologisierten Wörtern können die Elemente des Signifiant und des Signifié des Idioms assoziative Verbindungen bewahren, was direkt auf die verbale Vermitteltheit des Inhaltsplans zurückzuführen ist. Diese Motiviertheit zeigt sich darin, daß im Signifié von Idiomen Bedeutungselemente vorhanden sind, die man auch in den Signifiés ihres Ausdrucksplans finden kann, wenn diese frei und nichtidiomatisch gebraucht werden. Je mehr solche übereinstimmenden Merkmale vorhanden sind, um so höher ist der Grad der Motiviertheit der Idiome, um so niedriger der Grad der Umdeutung der lexikalisch-semantischen Merkmale der Komponenten. Der Grad der Umdeutung der Bedeutungsmerkmale der Komponenten (die nicht unbedingt mit der Diversifikation ihrer lexikogrammatischen Merkmale zusammenfällt) kann für alle Komponenten total sein wie bei tocit' Ijasy „quatschen", derzi karman (sire)\ „da kannst du lange warten" (beim Abschlagen einer Bitte), oder auch partiell für eine Komponente und total für eine andere wie bei obvesti vokrug pal'ca „um den Finger wik-

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kein", ryt'/kopat' mogilu „jm. das Grab schaufeln" oder schließlich partiell für alle Komponenten, z.B. na kraju mogily „am Rande des Grabes", kamen' na duse/na serdce „ein Stein auf dem Herzen", „es ist mir schwer ums Herz" u. ähnl. Im Bestand der Idiome smotret'/gljadet' v glaza (komu) „(jm.) in die Augen schauen", smotret'/gljadet' v rot „(jm.) in den Mund schauen" = „an jm. Lippen hängen", smotret'/gljadet' v oba {glaza) „in beide (Augen) schauen" = „auf der Hut sein", smotret'/gljadet' v kusty „in die Büsche schauen" = „sich von einer Arbeit/Verantwortung drücken wollen", smotret'/gljadet' v les „in den Wald schauen" = „eine Stelle aufgeben wollen", manifestiert sich in den Verben eine Bedeutung, die zwar mit einer Wahrnehmung, aber nicht mit einer visuellen Wahrnehmung verknüpft ist 16 . Das für die direkte, denominative (nach Vinogradov) Bedeutung dieser Verben charakteristische Merkmal „um etwas zu sehen" (die in freiem Gebrauch in gleicher Umgebung realisiert wird) kommt in den Signifiés der angeführten Idiome nicht vor. In den Idiomen smotret'/gljadet' sverchu vniz „von oben herabschauen", smotret'/gljadet' v glaza! v lico (cemu) „(Einer Tatsache) ins Auge/ins Gesicht sehen", smotret'/gljadet' glazami (kogo, c'imi) „mit den Augen (von . . .) ansehen", smotret'/gljadet' so svoej kolokol'ni „vom eigenen Kirchturm aus betrachten" = „von seiner Warte aus betrachten" wird eine sehr allgemeine Bedeutung „wahrnehmen, sich gegenüber etwas auf bestimmte Weise verhalten" realisiert, die der sekundären Bedeutung dieser Verben nahesteht. Diese „indirekte" (übertragene) Bedeutung wird sonst aber mit der Präposition na „ a u f " realisiert, während in den angeführten Idiomen andere Präpositionen erscheinen, die, wie auch der präpositionslose Instrumental, nicht mit der Wörterbuchbedeutung dieser Verben vereinbar sind. Vgl. auch smotret'/ gljadet' iz ruk „aus den Händen schauen" = „sich unselbständig verhalten" gegenüber der sekundären Bedeutung „sich richtig ver16

So aufgrund einer Gegenüberstellung der Bedeutung dieser Idiome aus dem Wörterbuch „Frazeologiceskij slovar' russkogo jazyka" (= FSRJa).

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halten", die ohne Ergänzung realisiert wird; smotret'/gljadet' von „nach außen schauen" = „hinauszugehen trachten, sich entfernen wollen", wobei es eine derartige Wörterbuchbede'utung bei den Verben smotret' und gljadet' nicht gibt. Die verbalen Komponenten manifestieren hier entweder eine ganz verallgemeinerte oder eine sehr konkrete Bedeutung, die ihnen außerhalb des Idioms nicht eigen ist. Schon aus diesen Beispielen (die sich noch vermehren ließen) ist die Möglichkeit einer assoziativen Verbindung zwischen Elementen des Signifiant und des Signifié von Idiomen ersichtlich. Da sie unikalen Charakter hat, bewirkt sie einerseits die „NichtVorhersagbarkeit des semantischen Resultats" von der Analyse (in ihrem synchronen Aspekt) her gesehen und andererseits eine Undurchsichtigkeit der denotativen Bedeutung des Idioms als Folge der verbal vermittelten Benennungsfunktion. Dieselben Faktoren bedingen auch viele Besonderheiten in Entwicklung und Funktion des Inhaltsplans der Idiome im Vergleich mit dem Wort. Die oben festgestellten spezifischen Eigenheiten der Zeichenorganisation von Idiomen in ihrem Unterschied zur Zeichenstruktur des Wortes sui generis treten auch in der Variabilität der Idiome zutage. Nach der bei uns verbreitetsten Auffassung von der Variabilität des Wortes werden zwei Typen „struktureller Varianten" unterschieden: „lexikosemantische" und „phonomorphologische"17. Für die Anerkennung verschiedener Verwendungsweisen als lexikosemantische Varianten ist es nach A. I. Smirnickij nötig, daß sie erstens neben den Unterschieden eine gemeinsame Wurzel, d.h. eine materiell in der Lautform ausgedrückte lexikosemantische Gemeinsamkeit aufweisen, und daß zweitens zwischen den

17

Die Abgrenzung dieser Typen von Wortvarianten findet sich schon bei V. V. Vinogradov, O formach slova. Konkret ausgearbeitet hat den Begriff der Variabilität des Wortes A. I. Smirnickij, K voprosu o slove (problema „tozdestva slova"). - In: Trudy in-ta jazykoznanija AN SSSR, t. 4, 1954; vgl. ebenfalls Achmanova op. cit. (Anm. 5).

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lautlichen Unterschieden und den lexikosemantischen Unterschieden k e i n e E n t s p r e c h u n g besteht, d.h. die lautlichen Unterschiede die lexikosemantischen Unterschiede nicht ausdrücken. Der Unterschied zwischen Varianten kann, abgesehen von einem Unterschied der grammatikalischen Formen, also entweder ein lexikosemantischer sein, der nicht von der äußeren Seite des Wortes ausgedrückt wird, oder umgekehrt ein äußerer, der dann aber keinerlei lexikosemantischen Unterschied ausdrückt." 18 Ohne hier auf die Frage einzugehen, wie passend der Terminus „Variante eines Wortes" in Bezug auf die Polysemie19, d.h. für die einzelnen Bedeutungen eines Wortes, die als Einheiten der Sprache auftreten, überhaupt ist 20 , wenden wir uns dem Unterschied zwischen der Polysemie von Wörtern und von Idiomen zu. Zunächst ist anzumerken, daß die „klassische" Polysemie, die sich gewöhnlich über die Neuverteilung der wesentlichen Bedeutungsmerkmale (in gegenständlich-begrifflicher Hinsicht) entwickelt, so daß sich eine Beziehung der semantischen Derivation 21 herstellen läßt, bei den Idiomen bei weitem nicht der vorherrschende Typ von Mehrdeutigkeit ist. So sind polysem die Bedeutungen (sie) des Idioms po puti/po doroge „in ein und derselben Richtung" und „gemeinsam, zusammen" (Überschneidung in dem Merkmal „gemeinsam"), und ebenfalls die Bedeutung „im Vorübergehen, nebenbei" (Uberschneidung im Merkmal „Richtung"). Alle diese Bedeutungen befinden sich in komplementärer Verteilung in bezug auf die Referenz und die lexikalische Verbindbarkeit. Typisch polysemische Beziehungen lassen sich auch bei einer Reihe

18 19

20 21

Smirnickij, op. cit. (Anm. 17), S. 24f. „Stellt man sich die,Bedeutung' graphisch als Kreis vor, so darf die semantische Struktur eines polysemen Wortes nicht aussehen wie ein Kreis ((Gemeinsame Bedeutung'), der in Sektoren (.Varianten' dieser .gemeinsamen Bedeutung') geteilt ist, sondern wie eine Reihe einander . . . berührender Kreise" (D. N . Smelev, Ocerki po russkoj semasiologii, Moskva 1964, S. 83 f.). A. A. Ufimceva, Slovo v leksiko-semant. sisteme jazyka, Moskva 1968. D. N. Smelev, op. cit. (Anm. 19), S. 81ff.

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anderer Idiome beobachten, z.B. medovyj mesjac „Flitterwochen" (Honigmond), na nogach „auf den Beinen", mokraja kurica „Schlappschwanz" und dgl. mehr. Für Idiome ist aber auch eine Bedeutungsentwicklung charakteristisch, die auf einer Umdeutung der inneren Form bezüglich der verbal-assoziativen Verbindungen der Komponenten und nicht nur bezüglich einer „Bedeutungsübertragung" in der Art einer Neuverteilung der gegenständlich-begrifflichen Merkmale des Signifié beruht. So führt das Phraseologische Wörterbuch der russischen Sprache (FSRJa) zwei Bedeutungen des Idioms bez pamjati an: 1) „ohne Bewußtsein" und 2) „von einer sehr großen Leidenschaft". Die zweite Bedeutung kann u. E. nicht als abgeleitet eingestuft werden, da sie mit der ersten keine gemeinsamen Merkmale aufweist. Diese Bedeutung kann man aber erklären durch eine „wesenhafte Bedeutungsbeziehung" (vgl. bei Porzig) zwischen den Wörtern um „Verstand" und pamjat' „Bewußtsein" einerseits und dem Vorhandensein solcher Verbindungen mit typisiertem Kontext wie „wahnsinnig lieben", „vor Liebe den Verstand verlieren", „verrückt sein (nach jm.)" u. ähnl. Andererseits vgl. noch valaamova oslica „Bileams Eselin" =„untertäniger, schweigsamer Mensch, der unerwartet für die Umstehenden seine Meinung oder seinen Protest geäußert hat" (bibl.) und „dumme, dickköpfige Frau." Das Erscheinen der zweiten Bedeutung kann man nur durch die assoziative Verbindung „Esel" — „dumm, störrisch" erklären. Ein weiterer Weg der Entwicklung verschiedener Bedeutungen eines Idioms, zwischen denen ebenfalls keine Ableitungsbeziehung nach gegenständlich-begrifflichen Merkmalen besteht, sind die Fälle des Typs otdavat' koncy etwa „die Seile auslassen" = „sterben" und „reißaus nehmen"; puskoj ne prosibes'/prob'es' „mit einer Kanone dringt man da nicht durch" = „sehr viel, eine riesige Menge (von Menschen)" und „mit nichts zu überzeugen"; razdelat' pod orech etwa „auf Nuß polieren" = „etwas gründlich verrichten" und „heftig rügen, schelten, den Kopf waschen, erbarmungslos kritisieren".

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Trotz aller Unterschiede liegt in allen angeführten Fällen ein S i g n i f i a n t vom s t r u k t u r e l l gleichen Typ für jede einzelne Bedeutung vor (wenn es auch nicht unbedingt dasselbe ist, vgl. po puti „in derselben Richtung" und po ¡>nti/po doroge „gemeinsam, zusammen"), das funktional E i n h e i t e n des g l e i c h e n T y p s manifestiert. Völlig anders ist die Beziehung zwischen den Bedeutungen, die beispielsweise von den Signifiants igrat' rol' „eine Rolle spielen" = „eine bestimmte Bedeutung haben" und „jm. etwas vorsimulieren, heucheln", ausgedrückt wird. Im ersten Fall liegt die analytische Bedeutung einer phraseologischen Verbindung vor, im zweiten die analytische Bedeutung eines Idioms. Im Grunde handelt es sich um zwei v e r s c h i e d e n e S i g n i f i a n t s : Das erste ist eine Verbindung bedeutungstragender Wörter, von denen nur eines polysem ist, nämlich „Rolle", während „spielen" eine strukturelle Funktion erfüllt. Das zweite ist das Signifiant eines Idioms und repräsentiert dessen ganzheitliche Bedeutung. Übrigens werden in den Arbeiten über die Polysemie von Idiomen solche Fälle gewöhnlich nicht unterschieden 22 . Die mangelnde Ausarbeitung der Frage der Polysemie bei Phraseologismen spiegelt sich auch in ihrer Behandlung in den Wörterbüchern. Bei der Behandlung der Mehrdeutigkeit von Phraseologismen soll in diesem Rahmen, ohne auf die Probleme der Polysemie einzugehen, gezeigt werden, daß trotz der Undurchsichtigkeit der Idiome die nichtdiversifizierten Merkmale der Komponenten die Hervorhebung einzelner Bedeutungen auf der Basis eines Signifiants ermöglichen. Bei der Realisierung der einzelnen Bedeutung eines Idioms können in ihm auch solche konkreten Bedeutungsunterschiede entstehen, die die signifikative Bedeutung der Einheit „bereichern", o h n e i h r e s y s t e m h a f t e B e d e u t u n g zu v e r ä n dern, und die infolgedessen auch nach der lexikosemantischen Verknüpfbarkeit unterschieden werden können. Solche Fälle der

22

z. B. N. A. Kirsanova, O nekotorych semanticeskich priznakach frazeologiceskich edinic. — In: Problemy frazeologii, Moskva-Leningrad 1964.

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Mehrdeutigkeit sind Realisierungen derselben Bedeutung, d. h. ihre (semantischen) V a r i a n t e n 2 3 . Die Frage nach den Bedeutungsvarianten wird in der Phraseologie wie in der Lexikologie nicht klar gestellt, obwohl die Erscheinung bekannt ist. So ist etwa die Synonymie nichts anderes als die Neutralisierung eines der konkreten, variablen Merkmale der Bedeutung einer Einheit in bestimmter Umgebung, die dabei dennoch ihre systemhafte Bedeutung bewahrt. Vgl. syroel vlaznoe bel'e „feuchte Wäsche", aber syroe pomescenie/dom „feuchtes Gebäude, Haus" (nicht: vlaznoe) und vlaznyj lob/pergament „feuchte Stirn, feuchtes Pergament" (nicht: syroe), bei einem möglichen Gegensatz von bel'e syroe, a ne vlaznoe „die Wäsche ist feucht, aber nicht naß". Im Unterschied zu den verschiedenen B e d e u t u n g e n desselben W o r t e s oder Idioms, für die es eine komplementäre semantische Verteilung gibt, schließen sich die Positionen, die V a r i a n t e n unterscheiden, s e m a n t i s c h nicht gegenseitig aus (vgl. den Kollokationstest bei J. D. Apresjan, wo übrigens auch die Notwendigkeit festgestellt wird, normative lexikosemantische Einschränkungen der Vereinbarkeit in Rechnung zu stellen)24. Hier eine Reihe von Beispielen: Im Wort otec „Vater" ist die invariante Bedeutung „männlicher Elternteil" (vgl. maf „Mutter" = „weiblicher Ekernteil"); die Realisierung des Merkmals „wessen Elternteil — eines Sohnes oder einer Tochter" bilden die Bedeutungsvarianten (vgl. „sein/ihr Vater", aber: „er ist Vater geworden" = „ihm wurde ein Kind geboren"). Schon aus der Definition der Variabilität als Reali-

23

24

Der Unterschied zwischen Bedeutungsvariante und „übertragenem Gebrauch" besteht darin, daß letzterer eine Realisierung ad hoc darstellt. Vgl. etwa bei Blok: „In Herbstgedanken blühend bist du selig . . . " ; vgl. auch den feststehenden Gebrauch des Wortes otec „Vater" bei der Anrede älterer Leute. J. D. Apresjan, Eksperimental'noe issledovanie semantiki russkogo glagola, Moskva 1967, S. 50-57.

Zur Variabilität von Wort und Idiom

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sierung im Text ergibt sich, daß es sich jedesmal um Varianten handelt, unabhängig davon, ob irgendwelche konkreten Bedeutungsmerkmale realisiert werden oder nicht. Gerade die Unbestimmtheit der nichtrealisierten Bedeutung zeugt davon, daß die Varianten nicht vom Kontext geschaffen, sondern in ihm s i c h t b a r werden (vgl. auch stradat' „leiden" = „sich quälen, schwere, unangenehme (physische/psychische) Empfindungen wahrnehmen": „an Schmerzen leiden", „an der Liebe leiden", aber: „lange Zeit habe ich unerträglich gelitten"). Die Realisierung der jeweiligen Bedeutungsvarianten kann von Unterschieden in ihren Transformationsmöglichkeiten begleitet sein, die sich entweder aus der semantischen Spezifikation der Varianten oder einer usuell-normativen Unvereinbarkeit ergeben, z.B. dusa stradaet ot ljubvi „die Seele leidet aus Liebe" —* stradanija dusi „die Leiden der Seele"; aber nicht noga stradaet ot boli „der Fuß leidet an Schmerzen" —* stradanija nogi „die Leiden des Fußes"); und in Synonymbeziehungen: stradaju/mucajus' otzubnoj boli/ot ljubvi „ich leide an Zahnweh, aus Liebe", stradaju/boleju dusoj „ich leide seelisch" (wo mucajus' nicht möglich ist); stradaju/ mucajus' odyskoj „ich leide an Atemnot" (wo boleju nicht möglich ist) und dgl. mehr. Die Bedeutungen der Idiome als das Resultat einer „sekundären Benennung" werden, wie wir uns zu zeigen bemüht haben, nicht nur durch Bedeutungsunterschiede der signifikativen Ebene kompliziert, wie man sie bei Wörtern beobachten kann, sondern auch durch Unterschiede, die durch v e r b a l - a s s o z i a t i v e Verb i n d u n g e n entstehen. So sind beispielsweise die Bedeutungen der Idiome i'ladet' darom slova „über die Gabe des Wortes verfügen" = „die Fähigkeit haben, beredt zu sprechen/zu schreiben", vojti v poslovicu „ins Sprichwort eingehen" = „allgemein anerkannt werden" u.ä. analog den Bedeutungsvarianten eines W o r t e s vom Typ otec „Vater", stradat „leiden". Vgl. Krasota Ispanii davno vosla v poslovicu „Die Schönheit Spaniens ist längst sprichwörtlich" = „ist längst allgemein anerkannt"; Osel moj glupost'ju v poslovicu vosel „Mein Esel ist durch seine

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Dummheit sprichwörtlich geworden" = „die Dummheit des Esels ist allgemein bekannt". 25 Charakteristischer für die Idiome sind Bedeutungsunterschiede, wo sich die Varianten als konkreter oder allgemeiner, als „näher" oder „ferner" der inneren Form voneinander unterscheiden: brosit' jakor' „Anker werfen" = „sich irgendwo für eine Zeit/für immer niederlassen"; vse v azure „alles in Butter"; vychodit' iz stroja „kampfunfähig werden" = „nicht imstande sein zu handeln/ nicht funktionieren (von Menschen und Dingen)"; vynosit' sor iz izby „den Kehricht aus der Hütte hinaustragen" = „Meldungen über Handlungen oder Ereignisse verbreiten, die einen nahen/engen Personenkreis betreffen". Die Frage der semantischen Variation ist ein sehr kompliziertes Problem und erfordert noch eine detaillierte Untersuchung. Die phonetischen und die grammatisch-morphologischen Varianten der Signifiants von Wörtern und von Idiomen zeigen im Prinzip die gleichen Gesetzmäßigkeiten der Veränderung, darum sollen hier einige Beispiele ohne Gegenüberstellung genügen: sest' v galosu/kalosu „sich blamieren, in eine peinliche Lage bringen". Die Mehrzahl der grammatikalischen Varianten beruht auf der Bewahrung archaischer Wortformen (vgl. vverch tormaskami/tortnaski „kopfüber", vysunja/vysunuvsi/vysunuv jazyk „mit herausgestreckter Zunge" = „in atemloser Eile" (. ..). Phonetische und grammatikalische Varianten von Wörtern und Idiomen können auch dialektaler (noz ostryj/vostryj „ein scharfes Messer")

25

Das FSRJa führt diese Bedeutungen als Polysemie an, doch hängt die Realisierung der jeweiligen Bedeutung auch von der Art des Gebrauchs ab; „allgemein anerkannt" wird nur in einem positiv wertenden Kontext, „allgemein bekannt" jedoch in jedem beliebigen Kontext realisiert (jemandes krasnorecie, skupost', podlost', um etc., d.h. Redekunst, Geiz, Verdorbenheit, Verstand etc. „ist sprichwörtlich"). Hier besteht kein Grund für die Aussonderung einzelner Bedeutungen, da die komplementären Bedeutungen nicht durch verschiedene Signifiés nach dem referentiellen Bezug bedingt sind, sondern durch eine normativsemantische Selektivität.

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oder stilistischer (molodoj/mladoj „jung"; peret'/prati protiv/ protivu rozna „wider den Stachel locken") 26 Art sein. Die Merkmale der Wortbildungsvarianten von Wörtern und der lexikalischen Varianten von Idiomen unterscheiden sich wesentlich. Nach der verbreitetsten Auffassung sind lexiko-morphologische Varianten eines Wortes Spielarten desselben Signifiants mit gemeinsamer Wurzel und unterschiedlichen Suffixen, die jedoch semantisch völlig äquivalent sind (.. .). Wenn dem Unterschied in den Suffixen ein (wohl: kein, Anm. d. Übers.) Bedeutungsunterschied entspricht, spricht man von Synonymen mit gemeinsamer Wurzel (z. B. varettje/varka, dialektnyi/dialektal'nyj etc.) 27 . Ohne auf das Problem der Abgrenzung von Wortvarianten und Synonymen mit gemeinsamer Wurzel einzugehen, stellen wir fest, daß die Besonderheit des Ausdrucksplans von Idiomen, die darin besteht, daß sich kein „Wurzelmorphem" feststellen läßt, für die Identifizierung von Idiomvarianten die Relevanz des Merkmals „materiell ausgedrückte Gemeinsamkeit" zweifelhaft erscheinen läßt. Am ehesten entspricht die Beziehung zwischen den Varianten des Signifiants bei Idiomen der Beziehung zwischen „absoluten Synonymen" vom Typ jazykoznanie/jazykovedenie „Sprachwissenschaft", cuzestranec/cuzezemec/inoplemennik „Ausländer" (Sanskij nennt Idiomvarianten vom Typ zadat' banju/percu „jm. die Hölle heiß machen", ot vsego serdca/ot vsej dusi „von ganzem Herzen/von ganzer Seele" Synonymdubletten)28. Gerade diese Analogie beweist aber, daß die Berufung auf den Ausdrucksplan nicht für die Gleichsetzung von Idiomen ausreicht, weil diese ja keinen „lexikosemantischen Kern" haben (vgl. solche Synonyme mit Gemeinsamkeiten des lexikalischen Bestandes wie sobaku s-est'/zuby s-est' „einen Hund/Zähne essen" = „sich auf 26 27

28

Vinogradov, op. cit. (Anm. 15); A. I. Smirnickij, op. cit. (Anm. 17). Eingehender zu den Typen der Wortvarianten O. S. Achmanova, op. cit. (Anm. 5); vgl. auch F. P. Filin, O slove i variantach slova. — In: Morfologiceskaja strukture slova v jazykach razlicnych tipov, Moskva-Leningrad 1963. s. R. P. Rogoznikova, Varianty slov v russkom jazyke, Moskva 1968.

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etwas verstehen" und die absolut bedeutungsgleichen Varianten, die in ihrem Bestand ganz verschieden sein können, wie viset'/derzat'sja na nitocke/na voloske „an einem Faden/Haar hängen/schweben") 29 . L e x i k a l i s c h e I d i o m v a r i a n t e n können frei oder unfrei sein. Die unfreien sind durch morphologische, syntaktische oder usuell-lexikalische Merkmale gekennzeichnet. Wortbildungsvarianten von Wörtern weisen keine derartige Differenzierung auf. Freie lexikalische Idiomvarianten ähneln in gewisser Beziehung den besonderen Fällen von phonetischen oder morphonologischen Wortvarianten des Typs kerttavr/centavr „Kentaur/Zentaur", tonnel'/tunnel' „Tunnel", neveza/nevezda „Ignorant" u.s.w., deren variierende Segmente außerhalb des Wortes vom synchronen Standpunkt aus nicht äquivalent sind. Variationsreihen im lexikalischen Bestand von Idiomen sind dem Usus unterworfen, sie sind in bestimmten traditionellen „Formen" fixierte Realisierungen, die der Tradition gemäß reproduziert werden 30 (vgl. das Verhalten von Komponenten eines Idioms, wenn man sie an eine vom Sprachsystem her reguläre Synonymenreihe anschließt: gora/kamen' lezit na plecach „ein Berg/Stein liegt auf den Schultern", aber gora „ein Berg"/bremja „eine Last"/tjazest' „ein Gewicht" / ekzameny „die Prüfungen" u.s.w. svalilis' s plec" ist/sind mir von den Schultern gefallen"). Daß man in den Idiomen keine zentralen und marginalen Teile unterscheiden kann, ermöglicht die Variation jeder beliebigen Komponente, unabhängig von ihrer grammatikalischen Position und ebenso unabhängig von der Zugehörigkeit des Idioms zu einer 29 30

N. M. Sanskij, Frazeologija sovrem. russkogo jazyka, Moskva 1969, S. 68. In den meisten Definitionen der Varianten von Phraseologismen wird als eines der Kriterien das Vorhandensein von mindestens einer gemeinsamen bedeutungstragenden Komponente genannt (vgl. z. B. A. V. Kunin, Osnovnye ponjatija anglijskoj frazeologii i sozdanie anglo-russkogo frazeologic. slovarja. Avtoreferat dokt. diss. Moskva 1964, S. 20); vgl. dagegen das oben zitierte Beispiel, das den Standpunkt der Autoren des FSRJa wiedergibt (A. I. Molotkov in FSRJa S. 17).

Zur Variabilität von Wort und Idiom

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bestimmten Wortart (vgl. izbitaja doroga/stezja/tropa/koleja „ausgetretener Weg/Pfad . . v y t e r t o g o / m e d n o g o / l o m a n o g o grosa ne stoit' „keinen roten/lumpigen . . . Heller wert sein", pit'/sosat' krov' „Blut trinken/saugen", lizat' ruki/nogi/pjatki „die Hände/Füße . . . lecken", slomja/ocertja golovu „Hals über Kopf/kopfüber" u. dgl.). Da der Variationsmechanismus der Komponenten von Idiomen aber nicht nur auf assoziativen Verbindungen mit Elementen der Signifiés basiert (wobei diese Verbindungen arbiträr sind), sondern auch auf lexematischen Verbindungen, können die Variationsreihen der Idiome sowohl „paradigmatisch" (wenn man sie mit Beziehungen zwischen Idiomkomponenten in ihrem freien Gebrauch vergleicht) als auch „nichtparadigmatisch" sein. Vgl. etwa die Vertauschungen, die mit Synonymbeziehungen zusammenfallen (zakazat' put'/dorogu = „den Weg verbieten" = „den Zugang verwehren", sputat'/smesat' c'i-libo karty „js. Karten durcheinanderbringen" = „jm. einen Strich durch die Rechnung machen", dolgaja/dlinnaja pesnja „ein langes Lied" = „eine endlose Geschichte"), oder mit sachlich-thematischen Gruppen (pojmat'/podcepit' na udocku „an den Angelhaken fangen/anhaken" = „jn. überlisten, betrügen", nazimat' na vse rycagi/pedali/ knopki „auf alle Hebel/Pedale/Knöpfe drücken" u.a.), sowie Vertauschungen, bei denen die Äquivalenz nicht mit systemhaften Verbindungen erklärt werden kann (vtirat'/vstavljat' ocki „die Brille einschmieren/einsetzen" = „jm. ein X für ein U vormachen" u. ähnl.). Die Ähnlichkeit der Variationsreihen eines Idioms mit einem lexiko-semantischen Paradigma ist rein formal: Der Varitionsmechanismus beruht auf der Identität der bedeutungsunterscheidenden Funktion der Komponenten und nicht auf ihren regulären Merkmalen als Wörtern (vgl. solche „gemischte" Varianten wie na doroge/na ulice/na polu ne valjaetsja „es liegt nicht auf der Straße/auf dem Boden . . . herum" = „man bekommt es nicht umsonst, ohne Mühe"), obwohl sich der „verrostete" lexiko-semantische Mechanismus manchmal als funktionsfähig erweist (vgl. die Entstehung von Varianten wie na vsech

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parusach/parach „mit vollen Segeln/mit Volldampf" = „mit aller Kraft"). Es muß in diesem Zusammenhang betont werden, daß das Merkmal Motiviertheit/Nichtmotiviertheit der Variationsreihe für Idiome nicht relevant ist (vgl. kamen' na duse/na serdce „einen Stein auf der Seele/dem Herzen haben" — motiviert; razvodit' razvody/uzory „Muster/Verzierungen ausziehen" = „lang und breit daherreden", - unmotiviert). Die variierenden Morpheme im Wort sind gewöhnlich motiviert (vgl. die Unveränderlichkeit deetymologisierter Wörter). Eine direkte Abhängigkeit zwischen Motiviertheit oder Nichtmotiviertheit der Bedeutung der Idiome und der Veränderbarkeit ihrer Signifiants besteht nicht, doch im Falle der Nichtmotiviertheit der Reihe tritt die Autonomie des Signifiants des Idioms hervor, „verstärkt sich" die Willkürlichkeit der Beziehung zwischen den Seiten des Zeichens; im Falle der Motiviertheit zeigt sich eine Tendenz zur „Regularität" der Elemente des Signifiants, die die Zeichenhaftigkeit des Idioms schwächt (vgl. auch die Zunahme der Idiomatizität bei derzat' chvost morkovkoj „den Schwanz wie eine Möhre halten" und derzat' chvost truboj „den Schwanz wie einen Schornstein halten" = beides: „nicht aufgeben, nicht verzagen" oder na vsju zelezku „mit ganzer Eisenbahn" und na vsju katusku „mit ganzer Spule" = beides: „mit voller Kraft"). Ein Sonderfall der Variation des Signifiants von Idiomen ist die Verminderung oder Vermehrung ihres Lexembestandes, wie bei nase vam (s kistockoj) „das Unsere euch (mit Quaste)" = „seid gegrüßt" 31 , razrubit' (gordiev) uzel „den (gordischen) Knoten durchhauen". Diese Art der Variation gleicht den Varianten eines Wortes, etwa lisa/lisica „Fuchs", bei denen ein Segment des Signifiants einer „Null" im Signifié entsprechen kann. Der Unterschied 31

Uber die Norm als Fixierung der Sprache in traditionellen Formen, die mehr Merkjnale umfaßt als das System, vgl: E. Coseriu, Synchronie, Diachronie und Geschichte. München 1974, S. 46 (russ. Übersetzung in: Novoe v lingvistike, vyp. 3, Moskva 1963).

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solcher Idiomvarianten zur Ellipse besteht darin, daß die Realisierung der „leeren" Komponenten rein formalen Charakter hat und aus der Tradition der Reproduktion erfolgt, ohne Zusammenhang mit einer sinnunterscheidenden Funktion, (vgl. auch die syntaktisch deformierten Varianten vom Typ derzat' v ezovych rukavicach „jm. in Igelhandschuhen halten" = „jm. streng behandeln" und derzat' v ezach „jm. in Igeln halten" = dss.). Zu den l e x i k o - m o r p h o l o g i s c h e n Idiomvarianten gehören Beispiele vom Typ valjat'sja/katat'sja/pomirat' so smechu (ot smecha) „vor Lachen sich wälzen/sich kugeln/sterben", vyletet' v trubu „durch den Schornstein hinausfliegen" = „ruiniert sein, unter die Räder kommen", aber vypustit' v trubu „durch den Schornstein jagen" = „etw. verschwenden — jm. ruinieren", wo zur Bildung der Formen eines Idioms eine lexikalische Komponente verwendet wird. (Davon zu unterscheiden ist die Phrasenbildung vom Typ zavarit' kasu „einen Brei kochen" = „die Suppe einbrocken" und raschlebyvat' kasu „den Brei auslöffeln" = „die Suppe auslöffeln"). Diese Idiomvarianten ähneln morphonologischen Varianten von Wörtern (vgl. tecet/protekaet beides ipf. Formen zu protec' pf. „fließen"), weil die Wahl einer bestimmten Komponente (oder Variationsreihe) zum Ausdruck einer bestimmten Form (sie) obligatorisch ist. Die l e x i k o - s y n t a k t i s c h e Variation ist ebenfalls eine Besonderheit der Idiome, die sich daraus ergibt, daß ihre Signifiants aus eigenen, konkreten Wortformen bestehen. Strukturverschiedene Varianten dieses Typs können sich nach der „inneren" und nach der „äußeren Distribution" (nach V. L. Archangel'skij) unterscheiden: uvidet' svet „das Licht erblicken" und pojavit'sja v svet „ans Licht kommen, erscheinen", skol'ko vlezet „soviel hineingeht", vgl. auch pregrazdat' put' komu „jd. den Weg versperren" und stat' na puti c'em „sich jm. in den Weg stellen"; anders jene Wort- und Indiomvarianten, die sich durch die Reihenfolge der Komponenten unterscheiden: lizobljud/bljudoliz „Schüssellecker" = „Schmarotzer" und zemlja obetovannaja/obetovannaja zemlja „das gelobte Land".

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V. N. Telija

Mit der Veränderung des lexikalischen Bestandes der Idiome kann ein Unterschied in der lexikalischen Kombinierbarkeit der Varianten verbunden sein. So ist für die Varianten des Idioms ni za kakie blaga/sokrovisca „Für keine Güter/Schätze" = „um keinen Preis, unter keinen Umständen" die Kategorie „Person/Nichtperson" relevant: die Form ni za kakie sokrovisca wird nur in Bezug auf persönliche (menschliche) Subjekte gebraucht. Von den Varianten des Idioms na doroge/ na polu/na ulice ne valjaetsja „es liegt nicht auf der Straße/auf dem Boden . . . herum" (s. oben) wird na polu ne valjaetsja „es liegt nicht auf dem Boden herum" nicht mit abstrakten Substantiven gebraucht und nicht mit solchen, die große, schwere Gegenstände bezeichnen (Komfort, Balken, Maschinen u.ä.). Begrenzungen dieser Art ergeben sich aus der normativ- oder usuell-semantischen Unvereinbarkeit eines Gliedes der Variantenreihe mit einer Komponente des Idioms (so gibt es von dem Idiom podstavljat' podnozku/nozku „jm. ein Bein stellen" die Variante dat' podnozku, aber nicht *dat' nozku). Das Merkmal der gleichen Verknüpfbarkeit ist also für die Idiomvarianten nicht obligatorisch32. Da Signifiant und Signifié der Idiome nach eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren und sich entwicklen, wird ein zweiseitiges Variieren möglich: sostavit'/sdelat' partiju „eine Partie machen" = „heiraten", wo der Unterschied im Komponentenbestand sich nicht auf die Bedeutung auswirkt, oder zatykat' dyry/prorechi „Löcher stopfen" für „erfolgreich/rechtzeitig Mängel oder Schwierigkeiten beseitigen", wo die Bedeutung „erfolgreich/rechtzeitig" im lexikalischen Bestand des Idioms nicht ausgedrückt ist und wo die Form zatykat' dyry nicht mit bestimmten Substantiven wie „Plan", „Truppe" u.ä. verbunden werden kann; anders dagegen beim Typ zaronit' zerno/semja/iskru „ein Korn/einen Samen/einen Funken werfen" in der Bedeutung „für etwas den Grund legen", wo dem Unterschied der Signifiants nicht 32

Eingehender bei V. N. Telija, O variantach protjazennosti idiom. — In: Sistema i urovni jazyka. Moskva 1969.

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nur ein Unterschied in der usuell-semantischen Kombinierbarkeit entspricht („den Funkten der Leidenschaft", aber nicht „der Passivität" oder „des Skeptizismus" etc.), sondern auch ein Bedeutungsunterschied („Grundlagen einer kommenden Entwicklung schaffen"). Die zweiseitige Variierbarkeit ist eine für die Idiome spezifische Erscheinung, bedingt durch die Besonderheiten der zeichenhaften Repräsentation des Bedeutungsinhalts der Idiome. Zweiseitige Veränderungen wie bei den zwei zuletzt angeführten Beispielen rechnet man gewöhnlich zu einer Übergangskategorie „strukturelle Synonyme" oder „synonyme Varianten" 33 , da sich die Varianten nicht nur im lexikalischen Bestand, sondern auch im Bedeutungsinhalt und/oder in der Kombinierbarkeit unterscheiden. Wenn diese Unterschiede aber durch die Eigenart der variierenden Komponenten bedingt sind und den Rahmen der für ein und dieselbe Bedeutung erlaubten Unterschiede nicht verlassen, dann entsteht keine Übergangskategorie (in bezug auf den Begriff „Einheit" kann von einer Synonymie im Inhaltsplan und Varianz im Ausdrucksplan ohnehin keine Rede sein), sondern ein für die Idiome spezifischer Variantentyp. Was die expressiven und stilistischen Varianten der Idiome angeht, so treten diese gewöhnlich als stilistische und/oder expressive „Formen" (nach V. V. Vinogradov) der Idiome auf: bereg/breg „Ufer", pusce glaza/pace oka „mehr als das Auge" = „wie den Augapfel", parit' v oblakach/vitat' v empirejach „in den Wolken schweben/im Himmel wohnen" = „die Realität nicht wahrnehmen", wo die Komponenten selbst verschiedene stilistische Merkmale tragen. Die Besonderheit der Idiome gegenüber den Wörtern liegt hier darin, daß der expressiv-stilistische Unterschied nicht unbedingt mit einer Umkodierung der Bedeutung des gesamten Bestandes verbunden ist, da die Markiertheit einzelner Komponenten in der „Färbung" des ganzen Idioms verschwinden 33

Vgl. die Ansicht M. T. Tagievs, daß jeder Unterschied in der lexikalischen Verknüpfbarkeit von der Realisierung verschiedener Einheiten zeugt; M. T. Tagiev, Glagol'naja frazeologija sovr. russk. jazyka. Baku 1966.

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V. N. Telija

kann. Der Wegfall einer expressiv-stilistischen Merkmalhaftigkeit bei Idiomkomponenten entspricht genau dem Wegfall regulärer lexiko-semantischer Unterschiede, da die Zugehörigkeit zu einer bestimmten stilistischen oder expressiven Sphäre für das Idiom als ganzes charakeristisch ist. So sind die Idiomvarianten gerkulesovy stolby/stolpy „die Säulen des Herkules" = „äußerste Grenze, Extrem", svernut' golovu/seju/basku „jm. den Kopf/Hals . . . umdrehen" = „jm. das Genick brechen, jd. vernichten" trotz der unterschiedlichen Komponenten stilistisch gleichwertig. Dies sind in allgemeinen Zügen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Idiomvarianten und Wortvarianten. Ähnlichkeiten sind in jenen Bereichen der Idiomstruktur zu beobachten, die mit Merkmalen innerhalb der Komponenten verbunden sind; dort dagegen, wo die für die Idiome spezifischen strukturellen Eigenschaften eine Rolle spielen, gibt es wesentliche Unterschiede in der Kategorie der Variabilität zwischen Idiomen und Wörtern, bedingt durch die strukturellen Unterschiede zwischen diesen sprachlichen Einheiten.

34

A. V. Kunin, op. cit. (Anm. 30); S. G. Gavrin, Sinonimija frazeolog. socetanij sovr. russk. jazyka (k postanovke voprosa o principach slovarja frazeol. sinonimov). — In: Voprosy fonetiki, slovoobrazovanija, leksiki russkogo jazyka i metodiki ego prepodavanija. Perm 1964, S. 194.

J . A. Gvozdarev

Phrasenbildende

Prozesse und Begriffe

Frazoobrazovatel'nye

damit

verbundene

processy i svjazannye s ttimi

ponjatija*

Die Entstehung phraseologischer Einheiten ist immer mit bestimmten Prozessen verbunden, die nach Mustern ablaufen, die in der Sprache bereits vorhanden sind. Diese Prozesse sind bisher noch nie eingehend beschrieben worden, obwohl sie wiederholt die Aufmerksamkeit der Forscher erregt haben. Der Prozeß der Bildung einer phraseologischen Einheit wurde gewöhnlich mit den Termini „Idiomatisierung" oder „Phraseologisierung" bezeichnet. Diese Termini bezeichneten jeden beliebigen Akt von Phrasenbildung, obwohl sie zuerst bei der Erforschung der Entstehung phraseologischer Einheiten auf der Basis veränderlicher, freier Wortverbindungen gebraucht worden sind. Dazu kam es, weil die Aufmerksamkeit der Forscher sich gerade auf diese Bildungen konzentrierte, d.h. auf jene Prozesse, durch die nicht-phraseologische Wortverbindungen phraseologisch wurden. B. A. Larin, der als einer der ersten diesen Prozeß beschrieben hat, gebrauchte den Terminus „Idiomatisierung" und verstand darunter die Verschiebung veränderlicher, freier Wortverbindungen zu semantisch unteilbaren Einheiten, phraseologischen „Zusammenbildungen" (nach der Klassifikation von Vinogra* Aus dem Buch: J . A. Gvozdarev, Osnovy russkogo frazoobrazovanija, Rostovna-Donu 1977, S. 4 0 - 5 2 .

114

J. A. Gvozdarev

dov). Larin war der Ansicht, dies sei der üblichste Weg der Bereicherung der russischen Phraseologie. Gleichzeitig hat er auf die Fakten der „De-phraseologisierung" hingewiesen, wenn „alte gedrängte lakonische Formeln des idiomatischen Typs zu einem verständlicheren Bild entfaltet werden und dabei die Idiomatizität verlieren" 1 . Die Idiomatisierung freier Wortverbindungen beginnt nach Larin im Zusammenhang mit einer „semantischen Erneuerung", und diese „tritt gewöhnlich infolge eines immer freieren übertragenen Gebrauchs auf: von der konkreten Bedeutung zur abstrakten, vom Einzelfall zur Verallgemeinerung. Die neue metaphorische Bedeutung hat eine Tendenz zur Verschmelzung, zu einer gewissen Deetymologisierung. Mit diesen semantischen Prozessen geht gewöhnlich der Verlust bestimmter Glieder der Phrase einher, jener Wörter zum Beispiel, die sich am deutlichsten auf die konkrete besondere Bedeutung der ursprünglichen Phrase bezogen; des weiteren ändert sich auch die grammatische Struktur, und je mehr sich das Sprachsystem ändert, desto mehr werden die alten stehenden Formeln semantisch, lexikalisch und grammatisch unteilbar" 2 . Larin zeigt auch die Bedingungen auf, unter deren Einfluß der Prozeß der Idiomatisierung veränderlicher Fügungen vor sich geht. Dies ist einmal der Verlust der Realien, der Lebenserscheinung, mit welcher die Wortfügung verbunden war. Sobald diese Erscheinung der Vergangenheit angehört, verschwindet auch die direkte Bedeutung der Wortverbindung und die Grundlage ihrer Metaphorik wird verdunkelt. Dies ist weiters auch die „semantische Anreicherung", d. h. die Metaphorisierung, die Erweiterung des Begriffs „in Richtung auf eine typische Bildhaftigkeit". Schließlich kann es auch eine Verkürzung des Textes bis zum „Signalfragment" sein, was ebenfalls die Verdunkelung der 1

B. A. Larin, Ocerki po frazeologii (o sistematizacii i metodach issledovanija frazeologiceskich materialov), Uc. zapiski LGU 198, ser. fil. nauk vyp. 24, Ocerki po leksikologii, frazeologii i stilistike. Leningrad 1956, S. 2 1 8 .

2

Larin op. cit. 2 1 9 .

115

Phrasenbildende Prozesse

inneren Form nach sich zieht. Ein solches „Signalfragment" gibt keinen Inhalt kund, sondern erinnert nur an einen bekannten Sinn. Mit der elliptischen Verdichtung geht auch eine Veränderung der grammatischen Struktur einher 3 . Die von Larin aufgeworfenen Fragen wurden in der Folge unter dem Terminus „Phraseologisierung" weiter bearbeitet 4 . Hierbei wird der Begriff „Phraseologisierung" in einer Reihe von Arbeiten so ausgeweitet, daß darunter auch die Entstehung fester Muster syntaktischer Art behandelt werden, Erscheinungen, die man dann „syntaktische Phraseologismen" nannte. Dazu ist sogleich zu bemerken, daß man dem nicht zustimmen kann. Den Terminus „Phraseologisierung" kann man nicht auf jeden beliebigen Akt der Phrasenbildung beziehen. Besser dafür geeignet mag der Terminus „phrasenbildender Prozeß" sein. Bei der Beschreibung des phrasenbildenden Prozesses ist zu zeigen, mit welchem Material und unter dem Einfluß welcher Ursachen eine neue phraseologische Einheit entsteht. Wichtig ist auch, daß die Reihenfolge der derivationellen Erscheinungen bei einem solchen Prozeß aufgezeigt werden. A. A. Potebnja betrachtete die Entstehung von Redensarten als einen Prozeß der „Sinnverdichtung" in stufenweiser Umformung Fabel —> Sprichwort —» Redensart. Die Idee der Sinnverdichtung bestand darin, daß die verkürzten Fragmente weiterhin den Sinn wiedergeben, der in der Fabel oder dem Sprichwort enthalten

3

Larin op. cit. 2 1 9 - 2 2 0 .

4

Vgl. z.B. Rojzenzon L. I., Avaliani J. J., Zametki po teorii frazeologii, Trudy Uzb. un-ta, ser. 95, Samarkand 1959. Rojzenzon L. I., Frazeologizacija kak lingvisticeskoe

javlenie,

Trudy

Sam.

un-ta

113,

1961.

Gavrin

S.

G.,

Frazeologizacija elementov recevogo potoka kak lingvisticeskoe javlenie. In: Voprosy russkogo jazyka i metodiki ego prepodavanija, Uc. zapiski Permskogo ped. in-ta, vyp. 34, Perm' 1966. Koduchov V. I., Frazeologizacija kak lingvisticeskoe ponjatie. In: Problemy frazeologii i zadaci ee izucenija v vyssej i srednej skole. Vologda 1965. Zimin V. I., K voprosu ob obrazovanii frazeologizmov iz cisla svobodnych slovosocetanij. -

In: Voprosy stilistiki russkogo jazyka.

Trudy un-ta im. Patrisa Lumumby, t. 58, vyp. 8, 1972.

116

J. A. Gvozdarev

war 5 . Dabei macht Potebnja eine wichtige Bemerkung zur „Stadialität" der Bildung neuer Einheiten: der ideelle Gehalt dient als Stimulus zur Erzeugung einer neuen Einheit. „Wenn es uns gelingt, in die Vergangenheit eines Wortes einzudringen, seine Etymologie zu erklären, dann erkennen wir, daß eine bestimmte Bedeutung, bevor sie sich an einen Laut unmittelbar anschloß, durch ein bekanntes Merkmal dargestellt wurde, das aus dem Kreis der Gedanken genommen wurde, die der Entstehung des Wortes selbst vorausgingen" 6 . Und weiter: „Die Benennung durch ein Wort ist tatsächlich auch die Schaffung eines neuen Gedankens im Sinne einer Umbildung, einer Neugruppierung des früheren Gedankenvorrats unter dem Druck einer neuen Erfahrung oder einer neuen Frage" 7 . Diese für das Wort formulierten Umstände sind auch für das Verständnis der Phrasenbildung wesentlich. Was sich in der Folge als phraseologische Einheit verfestigt, wird anfänglich auf der Basis von Wortbedeutungen formuliert, denn die veränderlichen Wortverbindungen sind Kombinationen von Wortbedeutungen. Indem Potebnja die Bildung einer neuen sprachlichen Einheit mit einem Erkenntnisprozeß verbindet zeigt er, daß die Wahl der Lautkette den Bildungsprozeß der Einheit abschließt. Im onomasiologischen Akt erweist sich die Wahl der Lautkette gleichzeitig auch als Schaffung der inneren Form der künftigen Einheit8. Die Ansicht von Potebnja scheint uns richtig zu sein, es bleibt jedoch zu präzisieren, daß das Entstehen einer neuen Einheit meist die Folge des Erkennens einer neuen Erscheinung der objektiven Wirklichkeit ist, wodurch eine neue Idee erzeugt wird, die sich dann in dieser Einheit realisiert. Folglich sollte man, wenn man den Gedankeninhalt als primär hervorhebt, im Auge behalten, daß 5

6 7 8

A. A. Potebnja, Iz lekcii po teorii slovesnosti. Basnja, poslovica, pogovorka. Charkov 3 1930, S. 91. Potebnja op. cit. 105. Potebnja op. cit. 111. Potebnja op. cit. 110.

Phrasenbildende Prozesse

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dieser Inhalt das Resultat der Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit ist. Die Ideen von A. A. Potebnja werden heute in einer ganzen Reihe von Arbeiten zur Onomasiologie weiterentwickelt. So postuliert I. S. Toropcev folgende Etappen bei der Bildung einer neuen sprachlichen Einheit: Vorbereitung eines ideellen Inhalts, Suche nach einem Wortbildungsmodell, Motivierung, Erstellung einer Lautkette, Verknüpfung des Inhalts mit der geschaffenen Lautkette 9 . Für eine Beschreibung der phrasenbildenden Prozesse ist zunächst das Ausgangsmaterial zu bestimmten, also die Bedeutung, die in der neuen Einheit konsolidiert wird, sowie jenes Material, mit dessen Hilfe diese Bedeutung in der Sprache (Rede) materialisiert wird. Dazu führen wir die Begriffe der motivierenden und der derivationellen Basis ein. Unter der m o t i v i e r e n d e n B a s i s versteht man die Bedeutung, die der Materialisierung in der phraseologischen Einheit zugrunde liegt. Diese Bedeutung hat bereits einen verbalen Ausdruck, sie ist gewöhnlich schon vor der neuen Materialisierung in einer phraseologischen Einheit in einem Wort oder einer Wortverbindung ausgeformt. Diese Bedeutung ist noch ohne die Abtönungen und Nuancen, die aufgrund der inneren Form in der fertigen Einheit entstehen. Die motivierende Basis muß von der Situation unterschieden werden, d. h. von jenen Erscheinungen des Lebens, jenen literarischen Texten u.s.w., die häufig Grundlage und Anstoß für die Entstehung einer neuen phraseologischen Einheit sind. Die Situation kann zwar für die Neubildung von großer Bedeutung sein, aber sie hat außersprachlichen Charakter. Die d e r i v a t i o n e l l e Basis ist das Material der Sprache oder Rede, mit dessen Hilfe die motivierende Basis (die Bedeutung, die 9

I. S. Toropcev macht keinen Unterschied zwischen Wort und phraseologischer Einheit, weder synchron noch diachron, und hält sie für analoge Bildungen, was man schwerlich akzeptieren kann. Vgl. I. S. Toropcev, Ocerk po russkoj onomasiologii (vozniknovenie znamenatel'nych leksiceskich edinic). Avtoreferat dokt. dis., Leningrad 1970, S. 14.

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der Materialisierung in der neuen phraseologischen Einheit zugrunde liegt) materialisiert wird. Derivationelle Basis kann Material aus der betreffenden Sprache oder aber, im Falle einer reinen Entlehnung, Material einer Fremdsprache sein. Die derivationelle Basis hat immer sprachlichen Charakter. In den verschiedenen Fällen der Phrasenbildung unterliegen die Elemente der derivationellen Basis einer semantischen Umformung: Bei der Phrasenbildung stehen an erster Stelle semantische Prozesse. Semantische Veränderungen bei der Bildung neuer Einheiten sind wiederholt untersucht worden, und es hat auch Versuche gegeben, Gesetzmäßigkeiten aufzustellen. Als einer der ersten hat M. M. Pokrovskij in seinen semasiologischen Forschungen die Idee semantischer Gesetze entwickelt 10 . L. Bloomfield faßte das damals Erreichte zusammen, indem er folgende Arten semantischer Veränderungen aufzählte, die mit der Entstehung neuer Wörter verbunden sind: Bedeutungsverengung, Bedeutungserweiterung, Metapher, Metonymie, Synekdoche, Hyperbel, Litotes, Pejoration, Amelioration 11 . Semantische Universalien der diachronen Semantik formulierte S. Ullman, wobei er als die wichtigsten hervorhob: die metaphorische Bedeutungsübertragung, Bedeutungserweiterung oder Bedeutungsverengung, sowie das Tabu 12 . Letzteres fällt jedoch klar aus der Reihe, weil es nicht eine Form der semantischen Veränderung ist, sondern eine ihrer Ursachen 13 . Genauer geht Ullman auf die Erscheinung der metaphorischen Übertragung von Begriffen ein und weist dabei auf die „parallele Entwicklung" hin, bei der Analogien die Entstehung ein und derselben Metapher in verschie10

11 12

13

M. M. Pokrovskij, O metodach semasiologii. — Ders., Soobrazenie po povodu izmenenija znacenij slov. - In: M. M. Pokrovskij, Izbrannye raboty po jazykoznaniju. Moskva 1959. L. Bloomfield, Language, 2 1935, S. 4 2 6 - 4 2 7 . St. Ullman, Semantic Universals. - In: J. Greenberg (ed.), Universals of Language, Cambridge, Mass., 1963. V. G. Gak, K probleme obscich semanticeskich zakonov. — In: Obscee i romanskoe jazykoznanie. Moskva 1972, S. 145.

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denen Sprachen begünstigen, auf das Gesetz von Sperber, auf die anthropologische Metapher, auf die Entwicklung vom Konkreten zum Abstrakten und auf die Synästhesie14. V. G. Gak stellt nach einer kritischen Musterung der Ausführungen Ullmans fünf grundlegende Prozesse auf: synonymische Bedeutungsentwicklung, Bedeutungsverschiebung, Enantiosemie (Ausdruck gegensätzlicher Bedeutungen), Bedeutungserweiterung und -Verengung (einschließlich der Pejorisierung und Ameliorisierung) und Bedeutungsübertragung (metaphorisch und metonymisch). Nach der Meinung von Gak kann man diese semantischen Prozesse bei der Entstehung von Wörtern in allen Sprachen beobachten 15 . Für die Beschreibung der verschiedenen Typen der Bildung phraseologischer Einheiten sind die Prozesse der Bedeutungsübertragung am wichtigsten. Die Phraseologie als Teilsystem der zusammengesetzten Zeichen der Sprache, welches das lexikalische System (der einfachen Zeichen) ergänzt, ist eine besondere, von der lexikalischen verschiedene Möglichkeit der Darstellung der Erscheinungen der Wirklichkeit. Man kann dabei drei Arten der Darstellung dieser Erscheinungen unterscheiden: a) die unmittelbare Darstellung, bei der die sprachliche Einheit ein eigenes Zeichen für die betreffende Erscheinung ist, b) eine vermittelte Darstellung, bei der die sprachliche Einheit die betreffende Erscheinung auf der Basis einer Assoziation nach dem Zusammenhang darstellt (metonymische Darstellung) und c) eine vermittelte Darstellung, bei der die sprachliche Einheit die gegebene Erscheinung auf der Basis einer Ähnlichkeitsassoziation darstellt (metaphorische Darstellung). Die unmittelbare Bezeichnung von Erscheinungen ist gewöhnlich den freien Wortverbindungen eigen, in denen die Wörter in ihren üblichen (freien) Bedeutungen auftreten. Die Spezifik der phraseologischen Bezeichnung zeigt sich darin, daß die Kompo14 15

St. Ullman, op. cit. Gak, I.e.

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J . A. Gvozdarev

nenten der phraseologischen Einheiten ihre inhaltliche und funktionelle Selbständigkeit verlieren und — was besonders wichtig ist — den Charakter der Darstellung der Erscheinungen der Wirklichkeit verändern. In einer phraseologischen Einheit können entweder alle oder nur einige der Komponenten eine ungewöhnliche (indirekte) Bedeutung haben: zlo beret „Böses packt (jd.)" = „Ärger überkommt (jd.)", teljacij vostorg „Kalbsbegeisterung" = „kindliche Freude", tjanut' kanitel' „das Goldfädchen ziehen" = „herumtrödeln", delo v sljape „die Sache ist im Hut" = „die Sache ist gelaufen". Dabei ist nicht zu vergessen, daß diese Komponenten nur im heutigen Sprachzustand so aufgefaßt werden. Die erste Komponente des Ausdrucks delo v sljape hatte ursprünglich die Bedeutung „Bündel von Dokumenten", aber heute versteht man darunter „Angelegenheit". Ebenso hat sich auch im Ausdruck tjanut' kanitel' die Komponente kanitel' verändert: zunächst war das ein Wort mit der konkreten Bedeutung „Kantille, feiner Goldfaden zum Sticken"; innerhalb der phraseologischen Einheit verlor es dann seine funktionale und inhaltliche Selbständigkeit und nahm später die abstrakte Bedeutung „Verzögerung, Aufschub" an. Die metonymische Bedeutungsübertragung ist noch ziemlich schlecht erforscht16. A. A. Potebnja definierte die Metonymie als „jede Abbildung oder Vorstellung einer Erscheinung (eines Gegenstandes, einer Tätigkeit, eines Zustandes, einer Eigenschaft) in Form eines ihrer Momente, einschließlich des Eindrucks, den sie hervorruft."17 Diese Definition ist ziemlich weit, sie umfaßt die Bedeutungsübertragung räumlicher und zeitlicher Assoziationen, schließt die Beziehung „Ganzes — Teil" ebenso ein wie jene Bildungen, die „Eindrücke" von Erscheinungen wiedergeben. 16

Eine Übersicht über Arbeiten zur Metonymie findet sich im Artikel von M . K. Nekljudova: K voprosu ob izucenii metonimii. — In: Russkoe i zarubeznoe jazykoznanie, vyp. 3, Alma-Ata 1970.

17

Potebnja, Iz zapisok po teorii slovesnosti. Char'kov 1905, S. 2 4 7 .

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Phrasenbildende Prozesse

In anderen Definitionen der Metonymie werden die verschiedenen Arten von Übertragungen nach dem Zusammenhang hervorgehoben. L. Bulachovskij z.B. bemerkt, daß die Metonymie „meist eine Ersetzung (,Verdichtung') der vollständigen Bezeichnung der im Gegenstand gleichzeitig existierenden Merkmale durch ein einzelnes Merkmal darstellt, das in irgendeiner Hinsicht als wesentlich oder typisch (auffallend) aufgefaßt wird" 1 8 . Die metonymischen Wörter und Ausdrücke, so Bulachovskij, „werden durch andere ersetzt, die das knapp und deshalb plastischer wiedergeben, was in den realen Gegenständen, Handlungen u.s.w. zu einander in räumlicher, zeitlicher oder kausaler Beziehung steht" 1 9 . Bei der Analyse der metonymischen Bedeutungsübertragungen bei Wörtern hat man herausgefunden, daß sie nicht unbedingt von bestimmten Bedeutungsveränderungen der entsprechenden Wörter selbst bedingt sind. Die Bezeichnung eines Teils für das Ganze ist dadurch möglich, daß „in der Sprache bestimmte Muster einer derartigen metonymischen Verwendung der entsprechenden semantischen Wortgruppen existieren. So geht es hier nicht um die Bedeutungsveränderung eines konkreten Wortes, und auch nicht um irgendeine .Verkürzung' der betreffenden konkreten Wortverbindung, sondern um die Realisierung einer verallgemeinerten semantischen Formel (eines Modells)", schreibt D. N. Smelev 20 . Vielmehr muß man annehmen, daß die „semantische Formel" selbst aus einer Reihe derartig verstandener Verwendungen der Bezeichnung eines Teils für das Ganze entstanden ist, entweder aus Streben nach Sparsamkeit in der Redetätigkeit oder mit dem Ziel der Bildhaftigkeit bei der Darstellung der Erscheinung 21 . 18

L. A. Bulachovskij, Vvedenie v jazykoznanie, c. 2, Moskva 1953, S. 65.

19

Bulachovskij, op. cit. S. 66.

20

Russkij

jazyk

i

sovetskoe

obscestvo.

Leksika

sovremennogo

russkogo

literaturnogo jazyka. Unter der Red. von M . V. Panov. Moskva 1 9 6 8 , S. 106 f. 21

I. A. Baudouin de Courtenay schrieb zu dieser Frage: „Die allgemeinen Faktoren, die die Entwicklung der Sprache hervorrufen und ihre Struktur und ihr System bedingen, bezeichnet man ganz richtig als K r ä f t e . Dies sind u. a. 1) die

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Die Metonymie ist wie die Metapher bildhaft, doch diese Bildhaftigkeit ist von besonderer Art. Bei der metonymischen Darstellung der Wirklichkeit tritt die Erscheinung „in Großaufnahme" hervor. Die Darstellung eines Teils für das Ganze, eines auffallenden Merkmals als Symbol für die Gesamterscheinung ist es, die diese metonymische Bildhaftigkeit ausmacht. Metonymische Darstellung einer Erscheinung ist in zwei Fällen möglich: entweder treten die motivierende und die derivationelle Basis als ein und dieselbe Erscheinung auf und verhalten sich zu einander wie Art- und Gattungsbegriff, oder aber sie treten als zwei Artbegriffe unter einem gemeinsamen Gattungsbegriff auf. Ein Beispiel für den ersten Fall ist die phraseologische Einheit kruglyj stol „runder Tisch" in der Bedeutung „Gespräch, Besprechung von etwas unter gleichen Bedingungen für die Teilnehmer an einem runden Tisch"; ein Beispiel für den zweiten Fall ist zub na zub ne popadaet „Zahn fällt nicht auf Zahn" in der Bedeutung „frierend", d. h. für den Zustand des Schüttelfrostes, bei dem der Mensch zittert und mit den Zähnen klappert. Metonymischen Gharakter kann auch der Ausdruck als Ganzes aufweisen: belyj dorn „das Weiße Haus" = „die Regierung der USA", kruglyj stol (vgl. oben), zabrit' lob „die Stirn rasieren" = „zu den Soldaten einziehen", vgl. „an die Wand stellen" = „erschießen", — oder aber nur eine einzige Komponente, vgl. kapat' na mozgi „auf das Gehirn tropfen" = „methodisch auf das Bewußtsein (von jd.) einwirken", rezat' ucho „das Gehör schneiden" = „das Gehör reizen". Die metaphorische Übertragung von Wortbedeutungen ist besser erforscht. Die theoretischen Grundlagen dafür wurden Gewohnheit, d. h. das unbewußte Gedächtnis, 2) das Streben nach Bequemlichkeit, das sich ausdrückt a) im Übergang schwierigerer Laute und Lautkombinationen in leichtere zur Einsparung von Muskel- und Nerventätigkeit, b) im Streben nach Vereinfachung der Formen (durch Einwirkung der Analogie der stärkeren auf die schwächeren), c) im Übergang vom Konkreten zum Abstrakten zur Erleichterung der Gedankenbewegung." (Izbrannye trudy po obscemu jazykoznaniju, t. 1, Moskva 1963, S. 58.)

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schon von Potebnja gelegt, der das Erkennen überhaupt mit dem Vorgang des Vergleichens in Verbindung brachte. „Der Vorgang des Erkennens ist ein Vorgang des Vergleichens. Die benannten Gedankenkomplexe werden in X (neu Erkanntes) und A (schon vorher Bekanntes), mit dessen Hilfe dieses Neue erkannt wird, aufgeteilt. Das dritte Element, das entsteht, nennen wir a' zum Zeichen dafür, daß es aus A genommen wird. Diese Komplexe sind unter sich immer verschiedener Natur. Das entstehende Wort ist immer allegorisch, weil X sich von A unterscheidet und vor allem darum, weil a' sich von A unterscheidet und gleichzeitig auch von X " (Hervorhebung vom Autor J. A. G.) 22 . Bei der metaphorischen Bedeutungsübertragung ist das Vergleichen immer der erste Akt, die erste Etappe der Metaphorisierung, worin sich auch der Großteil der Forscher einig ist23. Die phraseologischen Einheiten, die auf einer metaphorischen Beziehung beruhen, bezeichnen häufig Erscheinungen, die bereits direkte Bezeichnungen hatten. Der Zweck der Bildung liegt dann nur darin, diese Erscheinung bildhaft, mit entsprechender Ausdruckskraft darzustellen. Im Lexique de la terminologie linguistique von J. Marouzeau wird die Metapher so definiert: „Procédé d'expression considéré comme un transfert (gr. metaphora) d'une notion abstraite dans l'ordre du concret par une sorte de comparaison abrégée ou plutôt de substitution"24. Diese Definition ist insofern treffend, als sie die Aufmerksamkeit auf die Beziehungen zwischen dem Abstrakten und dem Konkreten lenkt. Die metaphorische Bezeichnung ist gerade für die Darstellung abstrakter Begriffe mittels eines anschaulichen, konkreten Begriffes charakteristisch. So gibt die phraseologische Einheit kuda voron kostej ne zanosil „wohin der Rabe die Knochen nicht getragen hat" die komplexe, abstrakte Bedeutung „weit weg, an schwer zugänglichem Ort" durch ein konkretes Bild wieder. 22 23

24

Potebnja, Iz lekcii . . . S. 110. [Hier sind die bibliograph. Angaben von 12 russ. Arbeiten zum Metaphernproblem weggelassen worden.] J. Marouzeau, Lexique de la terminologie linguistique. Paris 3 1951, S. 143 f.

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V. G. Gak schreibt über die metaphorische Bedeutungsübertragung in der Lexik: „Das Sem ist die Widerspiegelung eines bestimmten distinktiven Merkmals der objektiven Realität in der Wortbedeutung. Wird das Wort zur Bezeichnung eines Elementes der Wirklichkeit verwendet, das dieses Merkmal nicht aufweist, dann wird das entsprechende Sem nicht realisiert und wird aus der semantischen Struktur des betreffenden Wortes eliminiert, die sich dann um eine andere potentielle semantische Komponente neu organisiert, wobei das Wort eine Umdeutung erfährt. Die semantische Struktur des Wortes lisa „Fuchs" kann man sich zum Beispiel vorstellen als eines kategorialen Archisems A („belebtes Wesen"), eines Gattungssems B („Tier"), eines unterscheidenden Art-Sems bi („Tier mit bestimmten biologischen Merkmalen") und eines potentiellen Sems C (die dem Fuchs zugeschriebene Eigenschaft „Schlauheit"). Beim Gebrauch dieses Wortes für die Bezeichnung eines Menschen, der ja die Eigenschaften B und bi nicht hat, werden diese Seme auch nicht realisiert und als führendes unterscheidendes Sem tritt das ergänzende Sem C („Schlauheit") hervor. Ebenso wird bei der Umdeutung des Verbs est' das Basis-Sem „Speise zu sich nehmen" eliminiert, und in den Vordergrund rücken Seme, die verschiedene spezielle und sekundäre Aspekte dieses Vorgangs ausdrücken (wie beißen, nagen, schlukken u.a.)" 25 . Metaphorischen Charakter der Darstellung von Erscheinungen der Wirklichkeit können die ganzen Verbindungen oder einzelne Komponenten aufweisen. So ist die phraseologische Einheit podstavljat' nozku „ein Bein stellen" in der Bedeutung „jd. absichtlich schaden" als Ganzes metaphorisch, rezat' pravdu „die Wahrheit schneiden" = „offen die Wahrheit sagen" dagegen hat nur eine metaphorische Komponente: rezat' „schneiden". Der Vergleich von metonymischer und metaphorischer Wiedergabe von Erscheinungen der Wirklichkeit in der Phraseologie verlangt jedoch eine weitere klare Unterscheidung: bei der Metapher 25

V. G. Gak, op. cit. S. 152.

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finden gleichzeitig zwei verschiedene Erscheinungen Ausdruck, bei der Metonymie nur eine einzige, wenn auch in ihren verschiedenen Merkmalen. Da nun die semantischen Prozesse zu Bedeutungsverschiebungen bei den Wörtern der derivationellen Basis führen, muß man zwischen p r i m ä r e r und sekundärer Bedeutung der Komponenten unterscheiden. Als primär betrachtet man Bedeutungen, die den Komponenten außerhalb der phraseologischen Einheit eigen sind oder waren, d.h. die freien Bedeutungen dieser Wörter im lexikalischen System der Sprache. Als sekundäre dagegen betrachtet man die Bedeutungen der Komponenten in der phraseologischen Einheit, wenn diese Bedeutungen, phraseologisch gebunden, in der betreffenden Einheit entstanden sind. Die Beziehung zwischen der primären Bedeutung der Komponenten und der primären Gesamtbedeutung der derivationellen Basis zur sekundären Bedeutung der Komponenten und zur Gesamtbedeutung der phraseologischen Einheit heißt innere Form der phraseologischen Einheit. Offenbar geht der Begriff der inneren Form auf die Arbeiten von Potebnja zurück, der die innere Form des Wortes so definierte: „In einer Reihe von Wörtern, die die gleiche Wurzel haben und bei denen eines aus dem anderen hervorgeht, kann jedes vorhergehende Wort als innere Form des folgenden Wortes bezeichnet werden" 26 . Heute wird die innere Form der phraseologischen Einheit anders definiert, obwohl dabei gewöhnlich auf Potebnja verwiesen wird 27 . Die Wahl der Lautkette zur Materialisierung einer neuen Idee bei der Bildung einer phraseologischen Einheit hat gewöhnlich be26 27

A. A. Potebnja, Mysl' i jazyk. Char'kov 5 1926, S. 78. Vgl.: „Die innere Form ist die Verbindung ( . . . ) zwischen der phraseologischen Bedeutung einer Wendung und den realen (zeitgenössischen oder historischen) Bedeutungen der Komponenten" (L. I. Rojzenzon, Vnutrennjaja forma slova i vnutrennjaja forma frazeologizma. — In: Voprosy frazeologii, Taskent 1965, S. 65). Vgl. ebenso V. P. 2ukov, Vnutrennjaja forma i celostnoe znacenie frazeologizma. Uc. zap. Novgorodskogo ped. in-ta, T. 1 2 , 1 9 6 7 ; A. M. Melerovic, O vnutrennej forme frazeologizma. — In: Voprosy semantiki frazeologiceskich edinic. Novgorod 1971.

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stimmte Ursachen, etwa assoziative Beziehungen der Wörter, Lautentsprechungen u.ä. Besonders häufig wird die Wahl durch Assoziationen bestimmt. Im Russischen gibt es Wörter, die regelmäßig dieselben Erscheinungen und Begriffe symbolisieren. Auch darauf hat als erster Potebnja in seiner Dissertation „Über einige Symbole in der slawischen Volkspoesie" hingewiesen28. Nach seinen Beobachtungen sind in der slawischen Volkspoesie z. B. die Wörter svet „Licht" und ogon „Feuer" mit besonderen Erscheinungen des Lebens verbunden: „Hunger, Durst, Liebe, Trauer, Freude, Zorn stellt man sich im Volke als Feuer vor und drückte dies auch in der Sprache aus" 29 (vgl. „vor Begier brennen", „vor Liebe brennen", „von Leidenschaft entflammt sein", „die Augen sind erloschen" u.s.w.). Auch V. V. Vinogradov stellt bei einer Reihe von Wörtern Symbolcharakter fest. Nach ihm können die Wörter im Russischen neben ihrer direkten Bedeutung noch etwas symbolisieren. So bezeichnet kaplja „Tropfen" nicht nur Wasser oder Flüssigkeit allgemein in minimaler Dosis, sondern dient als Maß für alles Fließende, für alles, was keine festen Begrenzungen hat. Das Wort kaplja wird zum Symbol einer minimalen Menge von irgendetwas30. Bei der Auswahl einer Derivationsbasis für neue phraseologische Einheiten werden besonders häufig Symbolwörter benutzt. Dabei werden auch die systemhaften Beziehungen zwischen Symbolwörtern berücksichtigt. Das Wort kaplja als Symbol von etwas Unbedeutendem steht im Gegensatz zum Wort more „Meer" für etwas Großes, Bedeutendes. Von daher kommt es zur phraseologischen Einheit kaplja v more „ein Tropfen ins Meer" = etwa „ein Tropfen auf den heißen Stein". Vgl.: „Schon von den Baracken aus erblickte er (d.i. Vronskij) ein Meer von Equipagen, 28

29 30

A. A. Potebnja, O nekotorych simvolach v slav. narodnoj poezii, Char'kov 21914. Potebnja, op. cit. S. 7. V. V. Vinogradov, Sovremennyj russkij jazyk. Grammaticeskoe ucenie o slove, vyp. 1, 1938, S. 119.

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Fußgängern, Soldaten, die die Reitbahn umgaben." (L. Tolstoj, Anna Karenina). „Immer dasselbe. Einmal glänzt ein Tropfen Hoffnung, dann wallt ein Meer von Verzweiflung auf, und immer der Schmerz, und immer der Schmerz und immer die Sehnsucht, immer ein und dasselbe." (L. Tolstoj, Der Tod des Ivan Il'ic). „Alles weggeben ist nicht schwer, aber was hat das für einen Sinn? All die Millionen sind doch nur ein Tropfen ins Meer und helfen allen doch nicht ernsthaft." (Stanjukovic K., Die Hochzeit Pinegins). Symbolwörter können in den verschiedenen Sprachen Entsprechungen haben, und das begünstigt die Entlehnung. So symbolisieren im Russischen und im Deutschen die Wörter für „Kessel" (kotel, kotelok) den Kopf des Menschen. Im Deutschen geht das Wort „Kopf" bedeutungsmäßig auf „Trinkgefäß, Becher" zurück, der metaphorische Bezug ist jedoch heute verlorengegangen31. Im Russischen haben diese Wörter die Bildhaftigkeit nicht verloren. ( . . . ) Der Gebrauch des Symbolwortes kotelok „Kessel" erlaubt die Beibehaltung der freien syntagmatischen Beziehungen dieses Wortes in der phraseologischen Einheit, etwa in dem Bild golova soobrazaet — kotelok varit „der Kopf begreift, das Kesselchen kocht" = „er hat Köpfchen", vgl.: Ja chot' i ne ucenyj, a kotelok u menja varit „Ich bin zwar kein Gelehrter, aber dafür habe ich Köpfchen" (Paustovskij, Erzählung von den Wäldern). Die assoziativen Beziehungen ermöglichen in der phraseologischen Einheit den Gebrauch von Wörtern, die die phraseologische Semantik gleichsam anreichern. Die phraseologische Einheit chot' kol na golove tesi „da kann man machen was man will (es hilft nichts)" ist die Entwicklung eines anderen Bildes, dubovaja golova „Holzkopf". Die phraseologische Einheit daleko posel „er ist weit gekommen" = „er hat es weit gebracht" findet ihre Weiterentwicklung im Ausdruck rukoj ne dostanes' „man kann ihn nicht mit der Hand erreichen" = „(er ist) schwer einzuholen". 31

Bloomfield, I.e.

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Bei der Wahl der Lautkette kann der Wortklang eine wesentliche Rolle spielen: der Ausdruck wird nicht selten nach dem Gleichklang der Komponenten konstruiert. Dabei gibt es drei Möglichkeiten: a) es werden einfach ähnlich klingende Wörter gewählt: detiskam na molocisko „sehr wenig", na net i suda net „gegen ein Nein kann man nicht prozessieren (beim Erhalt einer Absage)", bylo da splylo „wie gewonnen so zerronnen", ochi da vzdochi „Seufzen und Stöhnen" u.s.w. b) um des Reimes willen wird ein Wort erfunden, das im lexikalischen System nicht vorkommt: fokus-pokus „Hokuspokus", figli-migli „Firlefanz"; c) einer bereits bestehenden Einheit wird ein reimendes Wort hinzugefügt: navodit' ten' „Schatten machen" = „jd. anschwärzen" — aber auch: navodit' ten' na pleten' „Schatten machen auf den Zaun" und navodit' ten' na jasnyj den' „auf den hellen Tag Schatten bringen". Bei der Wahl der Lautkette werden gewöhnlich die normalen syntaktischen Bindungen und semantischen Beziehungen zwischen den Wörtern, die als Derivationsbasis dienen, berücksichtigt. Solche Wörter bilden normale Wortverbindungen, die man in der russischen Umgangssprache häufig antrifft: gonjat' sobak „Hunde jagen" = „faulenzen", puskat' kozla v ogorod „den Bock in den Garten lassen" = „den Bock zum Gärtner machen", zakrucivat' gajki „die Schrauben anziehen" = „strenger werden" u.s.w. Manchmal werden phraseologische Einheiten auch durch ungewöhnliche Kombinationen von Wörtern, aufgrund „unlogischer Verbindungen", gebildet, z. B. prisej kobyle chvost „näh der Stute einen Schwanz an" = „da kann man nichts machen", bez godu nedelja „es ist noch ein Jahr bis zu einer Woche" = „seit sehr kurzer Zeit". Bei der Bildung einer phraseologischen Einheit wird der Grad ihres semantischen Zusammenhalts durch die Beziehung zwischen motivierender und derivationeller Basis bestimmt. Analytische Einheiten entstehen in folgenden Fällen:

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— wenn die motivierende Basis eine (freie) Wortverbindung ist und die derivationelle Basis aus getrennten Wörtern besteht, von denen eines mit einer Komponente der motivierenden Basis zusammenfällt: plochaja, vrednaja usluga — medvez'ja usluga „schlechter, schädlicher Dienst" — „Bärendienst"; — wenn die motivierende Basis ein Wort ist, die derivationelle Basis aber aus einzelnen Wörtern besteht, von denen eines mit dem Wurzelelement der motivierenden Basis übereinstimmt: pobedit' — oderzat' pobedu „siegen — den Sieg davontragen"; — wenn die motivierende und die derivationelle Basis eine Wortverbindung ist, aber eine der Komponenten der motivierenden Basis mit einer Komponente der derivationellen Basis übereinstimmt: slepoj celovek — slepaja teterja „blinder Mensch" — „blindes (Birk-)Huhn", boltlivyj celovek — boltlivaja soroka „geschwätziger Mensch" — „geschwätzige Elster". Synthetische phraseologische Einheiten werden gebildet, wenn die Komponenten von motivierender und derivationeller Basis nicht übereinstimmen: obmanut' „betrügen" — vteret' ocki „die Brille einreiben" = dass., pribednjat'sja „den Bedauernswerten spielen" — pet' lazarja „den Lazarus singen" = „dass.". Aber auch in Fällen, wo die neue Bildung auf der Grundlage einer synthetischen phraseologischen Einheit oder eines Fragments aus einem Sprichwort entsteht: vgl. zelenaja ulica „grüne Straße" = „freie Bahn", zelenaja volna „grüne Welle"; Sobaka na sene lezit, sama ne est i skotine ne daet „Der Hund liegt auf dem Heu, selbst frißt er nicht und auch das Vieh läßt er nicht (fressen)", und davon: sobaka na sene „ein Hund auf dem Heu".

N. A. Mescerskij Traditionell-buchsprachliche Ausdrücke in der heutigen russischen Literatursprache (anhand der Werke V. I. Lenins) Tradicionno-kniznye vyrazenija v sovremennom russkom literaturnom jazyke (na materiale proizvedenij V. I. Lenina)* Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind Ausdrücke (feste Wortverbindungen oder Phrasen), die man manchmal als Biblismen oder Slawismen zu bezeichnen pflegt. U. E. aber ist keiner dieser Termini korrekt. Von den Phräseologismen dieser Art geht ein Teil ja nicht auf die Bibel, sondern auf Quellen anderen Inhalts zurück: auf kirchliche Gebete oder auf Erzählungen aus der Kirchengeschichte. Zudem beziehen sich viele der hierher gehörenden Ausdrücke nicht auf kirchenslawische Texte, sondern auf deren moderne russische Übersetzungen. Deswegen scheint es uns angebracht, solche Phräseologismen als traditionell-buchsprachliche Ausdrücke zu bezeichnen, weil sie zum großen Teil auf die altslawische Übersetzungsliteratur zurückgehen, die vor * In: Voprosy frazeologii 9, Samarkand 1975, S. 110—121. Der Verf. zitiert die Werke Lenins nach der 5. russischen Gesamtausgabe (Polnoe sobranie socinenij V. I. Lenina, tt. 1—55, Moskva 1958—1965, hier abg. PSS mit Band- und Seitenzahl). Für die Übersetzung haben wir die deutsche Ausgabe, besorgt vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED benutzt: W. I. Lenin, Werke (Bd. 1 - 4 0 ) , Berlin 2 1 9 6 4 - 6 6 (zit. W mit Bandnummer und Seitenzahl). Der Wortlaut dieser Übersetzung wurde auch dort beibehalten, wo die in Frage stehenden Ausdrücke selbst nicht genau dem russischen Text entsprechend wiedergegeben sind. Nur die Umschrift russischer Namen wurde unserem Usus angepaßt.

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tausend Jahren die Grundlage für die süd- und ostslawischen Schriftsprachen bildete. Die traditionell-buchsprachlichen Ausdrücke in der Sprache der Werke V. I. Lenins sind praktisch noch gar nicht untersucht worden. Üblicherweise wurden sie nur oberflächlich und im Zusammenhang mit Phraseologismen anderen Typs erwähnt. Spezialarbeiten zu diesem Thema gibt es fast keine. Man kann hier die Arbeiten von V. G. Zinov'eva 1 P. D. Filkova2 nennen. In Bezug auf die Übersetzungen der Werke Lenins ins Ukrainische wird das Thema in der Arbeit von T. K. Molodid und S. A. Vorobjova 3 berührt. Anläßlich des 100-jährigen Geburtstagsjubiläums des großen Führers der proletarischen Revolution erschien eine ganze Reihe von Arbeiten zur Sprache und zum Stil seiner Werke 4 . Dem hier behandelten Aspekt des individuellen Stils Lenins ist jedoch u.W. nur ein Artikel, von G. I. Koljada, gewidmet 5 . 1971 haben wir eine kleine Bemerkung zum Thema in der Zeitschrift „Russkaja rec'" veröffentlicht 6 . Als sehr nützlich bei der Behandlung dieses Problems hat sich das den gesammelten Werken Lenins beigegebene „Register der von V. I. Lenin benutzten und erwähnten Werke der Schönen Literatur und der Literaturkritik, Sprichwörter, Redensarten und 1

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V. G. Zinov'eva, Bibleizmy kak sredstvo satiry v rabotach V. I. Lenina. In: Voprosy jazyka i literatury. Taskent 1970, Nr. 1, S. 3 — 10. P. D. Filkova, Obraznye sredstva v reci V. I. Lenina. — In: Russkaja rec', 1970, Nr. 1, S. 4 7 - 4 9 . T. K. Molodid, S. A. Vorobjova, Slovjanizmy u movi V. I. Lenina ta jich vidtvorennja v ukrajins'kych perekladach. — In: Movoznavstvo, 1969, Nr. 6, S. 3 - 1 1 . s. den Überblick über einen Teil dieser Arbeiten in: N. A. Mescerskij, Lingvostilisticeskaja Leniniana v jubilejnom godu. — In: Russkij jazyk v skole, 1970, Nr. 6, S. 9 8 - 1 0 5 . G. I. Koljada, Archaiceskie frazeologizmy v jazyke trudov V. I. Lenina. — In: O jazyke proizvedenij V. I. Lenina (Leksika i sintaksis). Taskent 1970 (=Naucnye trudy Taskentskogo universiteta Nr. 363), S. 2 0 - 4 7 . N. A. Mescerskij, Tradicionno-kniznye vyrazenija v jazyke proizvedenij V. I. Lenina. - In: Russkaja rec', 1971, Nr. 3, S. 3 9 - 4 5 .

Traditionelt-buchsprachliche Ausdrücke

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geflügelten Worte" 7 erwiesen. Dieses Hilfsmittel ist, besonders im Vergleich zum entsprechenden Register der 4. Auflage der Werke Lenins, weitgehend vollständig und von der gebotenen Genauigkeit. Leider aber haben nicht alle Ausdrücke traditionell-buchsprachlicher Herkunft im neuen Register Platz gefunden, und verschiedene Ausdrücke werden in unvollständiger Form angeführt. Wer also Sprache und Stil V. I. Lenins untersucht, steht immer noch vor der wichtigen wissenschaftlichen Aufgabe, eingehend allen Verwendungen solcher Phraseologismen in allen Werken Lenins nachzugehen. Letzte Vollständigkeit und Genauigkeit wird wahrscheinlich erst nach dem Erscheinen des „Wörterbuchs der Sprache V. I. Lenins" zu erreichen sein. Ein solches Wörterbuch ist zur Zeit am Institut für Russische Sprache der sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau in Vorbereitung. Der vorliegende Beitrag möchte das Augenmerk auf die traditionell-buchsprachlichen Ausdrücke in den Werken Lenins lenken, die Quellen jedes derartigen Ausdrucks feststellen, seinen Kontext untersuchen, seine stilistische Funktion aufzeigen und die lexikalischen und grammatikalischen Transformationen festhalten, die Lenin bei diesen Ausdrücken vorgenommen hat. Hierbei gestattet es der Rahmen dieser Arbeit nicht, das ganze gesammelte Material im einzelnen zu behandeln. Der Verfasser hat über 130 solche Ausdrücke und 630 Verwendungen gezählt. Im vorliegenden Beitrag kommen deshalb lediglich jene Beispiele zur Sprache, die für die Vielfalt der Möglichkeiten des Leninschen Autorenstils besonders charakteristisch sind8. 7

8

Spravocnyj tom k polnomu sobraniju socinenij V. I. Lenina, c. 2, Moskva 1970, S. 5 8 9 - 6 3 0 . Die genaue Zahl der Phraseologismen und auch die Stellen, an denen der jeweilige Phraseologismus gebraucht wird, können derzeit noch nicht festgestellt werden. Dies nicht nur wegen des Ffchlens eines Wörterbuchs der Sprache Lenins, sondern auch deshalb, weil die Kennzeichnung eines Ausdrucks als „traditionell-buchsprachlich" manchmal strittig sein kann. Eine Reihe von Ausdrücken dieser Herkunft sind so mit Sprichwörtern und volkstümlichen Redewendungen verschmolzen, daß man nicht sicher angeben kann, woher

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Quelle des Ausdrucks al'fa i otnega ist die Offenbarung des Apostels Johannes (Apokalypse) aus dem Neuen Testament: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende — spricht der Herr") (1,8); „Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte." (2,8). Im allgemein volkssprachlichen Gebrauch wird dieser Ausdruck in der Bedeutung „Anfang und Ende, Grundlage von allem" benutzt (Alpha und Omega als erster und letzter Buchstabe des griechischen Alphabets). In den Werken V. I. Lenins ist der Ausdruck viermal vermerkt. So in „Was sind die ,Volksfreunde' und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?": Versuchen Sie doch das Vorhandensein dieser beiden polaren Prozesse in der Bauernschaft unserer Dorfgemeinde in Abrede zu stellen, versuchen Sie doch, sie mit etwas anderem als mit dem bürgerlichen Charakter unserer Gesellschaft zu erklären! Nichts da! Halleluja singen und sich in humanen und wohlwollenden Phrasen ergehen — das ist das Alpha und Omega ihrer ganzen „Wissenschaft", ihrer ganzen politischen „Wirksamkeit". (PSS 1,264; W 1,256 — vgl. außerdem PSS 18,226 und 19,174)

Zum vierten Male findet sich dieser Ausdruck im „Plan der Broschüre ,Uber die Naturalsteuer'": Bündnis der Arbeiter mit der Bauernschaft = a und to der Sowjetmacht. „Notwendige und ausreichende" Bedingung ihrer Festigkeit (März—April 1921, PSS 43, 381; W 32, 333).

Die Verwendung der griechischen Buchstaben ist u. E. sehr typisch für die Entwürfe V. I. Lenins. Der Ausdruck vozljubim drug druga „lasset uns einander liebhaben" stammt aus den Abschiedsworten des Priesters am Ende der Liturgie. Bei Lenin steht er in „Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei" (28. März 1906): Lenin sie genommen hat. Wir können aber nicht der Meinung zustimmen, die vor kurzem von P. M. Fasunenko geäußert wurde, daß Lenin solche Phraseologismen „sehr zurückhaltend, vorwiegend in polemischen Werken der frühen Periode" benutzt habe (s. P. M. Fasunenko, Stil' proizvedenij V. I. Lenina, Kiev 1972, S. 125). Unsere Beobachtungen zeigen klar, daß sich derartige Phraseologismen mit annähernd gleicher Häufigkeit in Lenins Werken aus allen Perioden und verschiedener Gattungen finden.

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Wozu denn Kampf, weshalb Zwietracht? sagt der kadettische Juduska (Anm. des Übersetzers: Juduska Golovl'ev — Hauptfigur des Romans „Die Herren Golovl'ev" von Saltykov-Scedrin), seine Augen zum Himmel aufschlagend und sowohl das revolutionäre Volk als auch die konterrevolutionäre Regierung vorwurfsvoll anblickend. Brüder! Liebet einander! auf daß die Wölfe satt werden und die Schafe unversehrt bleiben, auf daß die Monarchie nebst dem Oberhaus unangetastet bleibe und die „Volksfreiheit" gewährleistet sei. (PSS 12, 2 8 7 - 2 8 8 ; W 10, 2 1 0 )

Dieser Phraseologismus ist im Register zu den Werken Lenins nicht aufgeführt. Die Wortverbindung sila vrazija (vraz'ja sila) „feindliche Gewalt, Macht des Bösen" stammt aus dem Lukasevangelium (10,19). Im volkstümlichen Gebrauch hat der Ausdruck seit alters die Bedeutung „teuflische, dämonische Macht" angenommen. In dieser Bedeutung ist der Ausdruck auch in den literarischen Gebrauch eingegangen, vgl. etwa bei N. A. Nekrasov im Gedicht „Izvozcik" (Der Kutscher) und auch den Titel der Oper „Vraz'ja sila" von A. N. Serov nach der Komödie „Zivi ne tak kak chocetsja" („Leb nicht wie es dir gefällt") von A. N. Ostrovskij. Lenin gab dem Ausdruck einen neuen, politischen Inhalt, indem er ihn bei der zornigen Entlarvung der absolutistischen Unterdrükkung und Willkür verwendete. So schreibt er im Artikel (vom 20. Dezember 1901) „Der Beginn der Demonstrationen": Arbeiter! Ihr kennt nur zu gut die feindliche Macht, die das russische Volk verhöhnt. Diese feindliche Macht fesselt euch an Händen und Füßen in eurem täglichen Kampf gegen die Unternehmer, für ein besseres Leben, für die Menschenwürde. Diese feindliche Macht reißt Hunderte und Tausende eurer besten Genossen aus euren Reihen, wirft sie ins Gefängnis, schickt sie in die Verbannung und erklärt sie auch noch, wie zum Hohn, für „Personen lasterhaften Lebenswandels". Diese feindliche Macht ließ am 7. Mai auf die Arbeiter der Obuchov-Werke in Petersburg schießen, die sich mit dem Rufe erhoben hatten: „Wir wollen Freiheit!", und inszenierte dann noch eine Gerichtskomödie, um die Helden, die die Kugel verschont hatte, ins Zuchthaus zu schicken. Diese feindliche Macht, die heute die Studenten niederknüppelt, wird sich morgen mit noch größerer Bestialität auf euch Arbeiter stürzen, um euch niederzuknüppeln. (PSS 5, 3 7 1 f.; W 5 , 3 3 1 f.)

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Auch dieser Ausdruck ist im Register nicht zu finden. Lenin führt ihn am Anfang des Absatzes ein und wiederholt ihn dann viermal als Anapher am Anfang jedes folgenden Satzes. Wir beschränken uns auf die angeführten Beispiele und schließen folgende vorläufige Verallgemeinerungen an. Die angeführten Ausdrücke gehören zum Schatz des gemeinsprachlichen Phraseologismenbestandes des Russischen, dessen Entwicklung schon am Anfang des slawischen Schrifttums vor mehr als tausend Jahren begann. Wie alle derartigen Ausdrücke des Russischen können auch die traditionell buchsprachlichen Ausdrücke bei Lenin in strukturell-typologischer Hinsicht in zwei Gruppen geteilt werden. Zur ersten gehören z.B. die Ausdrücke al'fa i omega „das A und das O", vraz'ja sila „feindliche Macht" und ebenso die hier nicht zitierten Ausdrücke des Typs vetchij Adam „alter Adam", znamenie vremeni „die Zeichen der Zeit", stracha radi iudejska „aus Angst vor den Juden" und viele andere, die in semantischer und syntaktischer Beziehung keine selbständigen Aussagen bilden. Solche festen Verbindungen entsprechen einzelnen Wörtern und fungieren als beliebige Satzglieder. Die Phraseologismen der zweiten Gruppe, die sich durch relative Abgeschlossenheit der in ihnen ausgedrückten Bedeutung auszeichnen, bilden sogenannte „feste Phrasen" und erscheinen in der Regel als geflügelte Wörter, Aussprüche, wie z. B. „Lasset uns einander liebhaben!", „wir danken dir, Herr, daß wir nicht sind wie diese Zöllner", „wem viel gegeben, bei dem wird man viel suchen", „eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen", „was du tust, das tue bald" u. a. Oft wird behauptet (z. B. im oben erwähnten Artikel von V. G. Zinov'eva), daß die traditionell-buchsprachlichen Phraseologismen (Slawismen, Biblismen) im Wortgebrauch Lenins wie auch im heutigen allgemeinen Sprachgebrauch nur eine einzige stilistische Funktion erfüllen: als sprachliches Mittel der Bloßstellung, der Ironie und Satire. Das trifft für einen großen Teil dieser Phraseologismen auch zu. Die Stilwerte von Ironie und Sarkasmus sind aber, wie die Beobachtung zeigt, durchaus nicht die einzig möglichen.

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Viele von Lenin gebrauchte Phraseologismen dieser Art, vor allem vom ersten Strukturtyp, solche wie kak zenicu oka „wie seinen Augapfel", znamenie vremeni „die Zeichen der Zeit", zloba dnfa „Tagesproblem" u.a. lassen sich bei Lenin in keiner Weise mit Ironie oder Sarkasmus in Verbindung bringen. Diese Ausdrücke sind entweder stilistisch neutral oder tendieren sogar zum erhabenen Stil und können als sprachliches Mittel zum Ausdruck von Feierlichkeit und Gehobenheit verwendet werden. Die Analyse des Leninschen Gebrauchs der traditionell buchsprachlichen Ausdrücke führt uns somit zu denselben allgemeinen Schlüssen, zu denen auch die heutigen Erforscher der Geschichte der russischen Phraseologie gelangen9. Man kann diesen Gelehrten darin recht geben, daß die idiomatischen Ausdrücke des traditionell-buchsprachlichen Typs innerhalb der Phraseologismen der russischen Schriftsprache der Gegenwart einen bedeutenden Platz einnehmen. Die Tradition und Kontinuität, die diese Phraseologismen auch in unserem Sprachgebrauch weiterleben lassen, sind auch in der individuellen Sprachmanier Lenins deutlich zu beobachten. Viele der von uns untersuchten Ausdrücke wie z. B. „wie seinen Agapfel", „wem viel gegeben, bei dem wird man viel suchen" u.a. sind auch heute noch weit verbreitet, obwohl sie sich in stilistischer Hinsicht gegenüber der vorrevolutionären Vergangenheit verändert haben. Man begegnet ihnen nicht selten in der zeitgenössischen sowjetischen Publizistik, in Reden sowjetischer Partei- und Staatsfunktionäre unserer Zeit. Diese und ähnliche Ausdrücke werden auch jetzt, wie zur Zeit Lenins, als lebendige und ausdrucksvolle Mittel unserer Schriftsprache empfunden. Eine Ursache der großen Lebenskraft der traditionell-buchsprachlichen Ausdrücke im Russischen wurde seinerzeit richtig von A. M. Seliscev erkannt, der darauf hingewiesen hat, daß der Gebrauch von „Slawismen" mit einer besonderen Bedeutung, 9

Vgl. A. M. Babkin, Russkaja frazeologija, ee razvitie i istocniki. Moskva— Leningrad 1970, S. 151 ff.

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Ausdruckskraft und emotionellem Gehalt verbunden ist 10 . Dem kann man voll zustimmen. Recht hat auch A. M. Babkin, wenn er gerade diese stilistische Eigenschaft als charakteristisch für viele Ausdrücke aus dem Alten und Neuen Testament, die in der Folgezeit radikal umgedeutet wurden, anerkennt 11 . Gerade diese Eigenschaft hat es möglich gemacht, daß viele traditionell-buchsprachliche Ausdrücke im allgemeinen Sprachgebrauch erhalten geblieben sind. Diese Phraseologismen sind in das Arsenal der ausdrucksvollen Sprachmittel aller Nationalsprachen eingegangen, die sich unter der Ägide der christlichen Kultur des Mittelalters formierten, und bürgerten sich zur Bezeichnung vieler Begriffe und Vorstellungen ein, die heute mit religiöser Moral oder Glaubenslehre, mit der alten kirchlichen Lebensform und Weltanschauung nicht mehr das Geringste zu tun haben. Man kann auch die Behauptung Babkins anerkennen, daß das „Bewußtsein derer, die solche Ausdrücke heute gebrauchen oder hören, mit ihnen nicht mehr die einstigen terminologischen Bedeutungen assoziiert, was ihnen einen dauerhaften Platz im phraseologischen Bestand der russischen Sprache der Gegenwart sichert" 12 . Dies bezieht sich auch auf die Sprache der Werke V. I. Lenins. Lenin betrachtete die traditionell-buchsprachlichen Ausdrücke als untrennbaren Bestandteil des phraseologischen Bestandes der allgemeinen Volkssprache, ungeachtet dessen, daß er schon damals eine gewisse sprachliche Diskrepanz zwischen ihnen und dem modernen publizistischen Kontext empfunden haben mag. Davon zeugen, wie uns scheint, auch die stilistischen Verfahren, deren sich Lenin manchmal bediente, wenn er traditionelle Phraseologismen in den Textzusammenhang seiner Werke aufnahm. Nicht selten setzt er z.B. solche Ausdrücke in Anführungszeichen und hebt sie damit vom Haupttext des Artikels oder der Rede ab. Vgl. z.B. in „Über die Parteireinigung" (20. Sept. 1920, 10 11 12

A. M. Seliscev, Jazyk revoljucionnoj epochi. Moskva 1928, S. 63. A. M. Babkin, Russkaja frazeologija, S. 151. Babkin ebd.

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PSS 44,122) den Ausdruck „ohne Ansehen der Person". Auf dieselbe Weise ist der Phraseologismus pritca vo jazycech in „Spießbürgerlichkeit in den Reihen der Revolutionäre" hervorgehoben (29. Okt. 1906, PSS 14,16; in der Übersetzung „Gesprächsstoff", W 11,240); auch der Ausdruck „der alte Adam" im Artikel „Durch den Zusammenbruch des Alten Verängstigte und für das Neue Kämpfende" (geschrieben zwischen dem 25. und 28. Dezember 1917, PSS 35,194) steht unter Anführungszeichen. Charakteristisch sind auch jene „Vorschaltsätze", die manchen traditionellen Phraseologismen in den Werken Lenins gleichsam vorausgeschickt werden. So heißt es im Artikel „Die sich volkstümlerisch gebärdende Bourgeoisie" (5. Nov. 1903): Hätte dieser Umstand nicht auch dem redegewandtesten Advokaten die Lust am Reden genommen, hätte er ihm nicht den alten Spruch ins Gedächtnis gerufen: „Ihr sollt eure Perlen . . . " (PSS 4,409)

Auf ähnliche Weise ist auch der traditionell-buchsprachliche Aphorismus im Artikel „Zur Frage der nationalen Politik" (geschrieben nach dem 6. April 1914) textuell hervorgehoben: Sie kennen sehr wohl den Ausspruch: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbats willen." Der Staat ist des Volkes wegen, und nicht das Volk des Staates wegen da. (PSS 25,65; W 20,218)

Hier noch einige stilistische Merkmale, die, wie uns scheint, für die Benützung traditionell-buchsprachlicher Phraseologismen im individuellen Stil des Autors Lenin typisch sind. Erstens schafft er nicht selten eine eigentümliche Konzentration traditionell-buchsprachlichen Materials. In seinen Werken finden sich manchmal Stellen, wo zwei oder drei Biblismen oder Slawismen in unmittelbarer Nachbarschaft stehen. In ein und demselben Satz werden z.B. die Ausdrücke „Halleluja singen" und „das A und das O " zitiert (vgl. oben PSS 1,264). Im engsten Kontext sind die Ausdrücke „richten ihre Blicke gen Himmel", „sich an die moralisch feinfühlige Brust schlagend" und „Wir danken dir, Gott, daß wir nicht sind wie diese Zöllner" vereint (PSS 10,31; W 8,296). In demselben Satz stehen

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„seine Augen zum Himmel aufschlagend" und „Liebet einander!" (PSS 12, 287—288, s. oben). Nebeneinander stehen im Text auch die Phraseologismen „in diesem Zeichen wirst du siegen" und „wer Augen hat zu sehen und Ohren hat zu hören" (PSS 7,64; W 6,276). In unmittelbarer Nähe liest man svjataja svjatych „das Allerheiligste" und predel, ego ze ne prejdesi „die unüberschreitbare Grenze" (PSS 3 6 , 2 4 8 ; W 27,278). Mit dem Ausdruck „sich die Hände (in Unschuld) waschen" verbinden sich bei Lenin die Epitheta farisejski „pharisäerhaft" (PSS 5,36; W 5,37) und popilatovskij „nach Art des Pilatus" (PSS 34,44). Zweitens verbindet Lenin oft traditionell-buchsprachliche Ausdrücke mit Zitaten und Reminiszenzen aus der klassischen Literatur, mit der Verwendung künstlerischer Gestalten. So lesen wir in demselben Zusammenhang den Ausdruck „sich pharisäisch . . . an die Brust schlagend" und von dem „politischen Begräbnis des Ivan Ivanovic" und von der „Zerstörung des Rufs von Ivan Nikiforovic" (PSS 8,69). Der Ausdruck voznosja oci gore „kummervoll richten sie ihre Blicke gen Himmel" steht unmittelbar neben der Gestalt des Juduska Golovl'ev aus Saltykov-Scedrin (PSS 4 4 , 4 1 6 ; W 33,189). Die Gestalten des Afanasij Ivanovic und der PuFcherija Ivanovna aus Gogol's „Altväterischen Gutsbesitzern" vereinigen sich in „Was tun?" mit dem Gleichnis vom Unkraut und dem Weizen aus dem Evangelium (PSS 6,116), und die Spießbürgertypen eines Ivan Ivanovic und Ivan Nikiforovic aus Gogol's „Mirgorod" verbinden sich bei Lenin mit dem Zitat „Mögen nun die Toten ihre Toten begraben" (PSS 26, 103; W 21,88). Der Ausdruck „Judaskuß" wird bei Lenin zum „Kuß des Juduska" (s. oben) umgeformt („Triumphierendes Banausentum" PSS 15,215; W 12, 341). Die biblische Wortverbindung mett'sego brata „des geringeren Bruders" wird manchmal durch ihre umgangssprachliche Variante men'sogo brata ersetzt, was an Puschkins „Märchen vom Popen und seinem Knecht Balda" erinnert (vgl. z.B. PSS 2 0 , 2 8 1 ; W 17,198). Es sei auch daraufhingewiesen, daß zahlreiche Biblismen und Kirchenslawismen sich gerade in jenen Artikeln Lenins finden,

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die ein literarisches Zitat als Titel haben, wie z.B. „Und wer sind die Richter?". Drittens zeigt sich die feste Verankerung der traditionell-buchsprachlichen Ausdrücke im volkssprachlichen Fundus der Phraseologismen auch darin, daß Lenin solche Phraseologismen in engem Zusammenhang mit volkstümlichen Sprichwörtern und Redensarten verwendet, wobei diese nicht selten als genaue Synonyme der traditionell-buchsprachlichen Ausdrücke erscheinen. So steht, wie wir gesehen haben, das kirchenslawische „Liebet einander" neben dem Sprichwort „auf daß die Wölfe satt werden und die Schafe unversehrt bleiben" (s. oben). Das „Rühr mich nicht an" (cur menja, cur menjä) aus dem Volksmärchen steht vor dem biblischen Ausdruck „Möge der Kelch an mir vorübergehen" (PSS 10,15; W 8,281). Das kirchenslawische paki i paki „wieder und wieder", findet sich vor dem „Schritt halten, nicht vorauseilen" aus dem Märchen (PSS 8,377). Das Sprichwort Metil v odnogo popal v drugogo „Zielen und treffen ist zweierlei" dient als Parallele des biblischen Ausdrucks Svoja svoich ne poznasa „der Freund erkennt den Freund nicht mehr" (PSS 15,180; W 12,321). In der zitierten Arbeit „Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei" stehen nebeneinander zwei traditionell-buchsprachliche Ausdrücke, die literarische Anspielung auf Juduska Golovlev und ein volkstümliches Sprichwort. Viertens ist festzustellen, daß in einer Reihe von Fällen in den Werken Lenins biblische Ausdrücke neben nicht transliterierten fremdsprachigen Zitaten stehen. So ist z. B. der Phraseologismus „sich im Schweiße des Angesichts abmühen" mit dem lateinischen Sprichwort „Oleum et operam perdisti, amice!" verbunden („Ein Maximum von Schamlosigkeit und ein Minimum von Logik", 1903, PSS 8,26; W 7,50). Im Artikel „Was erstreben wir?" (Juli 1904) erscheint der Biblismus „die Politik des Seine-Hände-inUnschuld-Waschens" als Synonym zu dem französischen Ausdruck „. . . des laisser faire, laisser passer" (W 7,450). Schließlich ist für unsere Fragestellung auch der Umstand nicht unwichtig, daß Lenin mit Hilfe der traditionell-buchsprachlichen

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Phraseologismen im Verein mit anderen sprachlichen Ausdrucksmitteln nicht nur publizistische Überzeugungskraft gewinnt, sondern auch eine hohe künstlerische Meisterschaft in der Zeichnung grotesk satirischer Gestalten. Vgl. z. B. in „Über die neue Fraktion der Versöhnler oder der Tugendhaften" (PSS 20, 352; W 17,264), wo gleich drei traditionelle Ausdrücke konzentriert sind: „Die Augen sittsam gesenkt", „die Arme gen Himmel erhoben" und „Ich danke dir, o Herr, daß ich nicht bin wie diese" . . . Hierher gehört auch die bekannte Stelle aus „Die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft", wo mit vernichtendem Sarkasmus das Bild eines „Neuiskristen" gezeichnet wird (PSS 10,31). Mit Recht werden also die traditionell-buchsprachlichen Ausdrücke, im Verein mit den volkstümlichen Sprichwörtern und Redensarten und mit den literarischen „geflügelten Worten" und Reminiszenzen von den Forschern als stilistische Mittel der Bildhaftigkeit betrachtet 13 . Mit einzigartiger stilistischer Freiheit verwendet Lenin in der Sprache seiner Werke traditionell-buchsprachliche Wendungen sowohl in ihrer kirchenslawischen Form als auch in ihren modernrussischen Entsprechungen und anerkennt beide Spielarten als stilistisch und kommunikativ gleichbedeutend. Lenin sättigt die auf das traditionelle Schrifttum zurückgehenden Phraseologismen mit einem neuen, revolutionären, sozialistischen Sinn und reißt sie damit von dem ihnen vorher eigenen dogmatischen und moralisierenden Bedeutungsgehalt los. Häufig verwendet er solche Ausdrücke als sprachliches Werkzeug der Ironie und des Sarkasmus, verzichtet aber, wie oben bemerkt wurde, nicht darauf, ihnen auch andere stilistische Werte zu verleihen. Zusammen mit den geflügelten Worten, die auf die Belletristik zurückgehen, zusammen mit Sprichwörtern und Redensarten und 13

A. G. Cejtlina, Stil' Lenina-publicista. Moskva („Obrazy"), S. 199-229.

1970, Kap.

„Figuren"

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mit den nichttransliterierten fremdsprachigen Ausdrücken bilden die traditionell-buchsprachlichen Ausdrücke ein charakteristisches Merkmal im persönlichen Stil Lenins. Die Erforschung aller sprachlicher Verfahren, mit deren Hilfe Lenin solche Ausdrücke in seine Texte einführt, überzeugt uns einmal mehr davon, wie phänomenal sein Gedächtnis war, das den gesamten traditionellen Sprachschatz aktiv beherrschte, und wie hoch entwickelt sein stilistisches „Gespür" war, das ihm half, in den verschiedenen Redesituationen jeweils den genau passenden Phraseologismus zu gebrauchen. Als unübertroffener Meister des russischen Wortes, als Publizist und Redner der kommunistischen Partei, die die Welt verändert hat, benutzte V. I. Lenin das gesamte Arsenal der Buchsprache und der Volkssprache. Es ist nachgerade eine Pflicht unserer Philologen, alle Nuancen und Manifestationen seiner sprachlichen Meisterschaft noch vollständiger zu erforschen.

Register der als phraseologisch zitierten russischen Wortverbindungen adresnyj stol 53 al'fa i omega 134, 136 anjutiny glazki 53 attestat zrelosti 53 belaja vorona 82 belyj dom 122 belyj grib 53 besenye den'gi 57 besprobudnoe p'janstvo 62, 69 bez godu nedelja 24, 60, 128 bez pamjati 100 birza truda 53 bit' baklusi 55, 60, 85, 86 bit' po karmanu 78, 82 bit' v cel' 76 (kricat') blagim matom 22, 85 boltlivaja soroka 129 brat' byka za roga 82 brat' na buksir 76 brat' napravo/ . . . 57 bremja/ . . . svalilos' s plec 106 brosit' jakor' 104 byl'em poroslo 62 bylo da splylo 128 celovek s golovoj 70 chlebnut' lisnee 72 chot' golovoj o stenku bejsja 70 chot' kol na golove teSi 127 chot' prud prudi 70 chranit' molcanie/ . . . 61

citat' notaciju/ . . . 61 cur menja, cur menja 141 daleko posel 127 delo v sljape 23, 120 derzat' chvost morkovkoj/truboj 108 derzat' kamen' za pazuchoj 80 derzat' v ezach 109 derzat' v ezovych rukavicach 109 derzi karman (sire)! 96 detiskam na molocisko 128 dolgaja/dlinnaja pesnja 107 dom otdycha 53 dotla szec'/ . . . 54 dubovaja golova 127 dvojurodnaja sestra 52 dvojurodnyj brat 52 gerbovyj sbor 53 gerkulesovy stolby 112 glubokaja osen'/ . . . 57, 58 glubokaja starost' 57, 59 glubokij starik 59 gnit' na komju 76 Golova soobrazaet — kotelok varit 127 golovoj otvecat' 71 goluboj èkran 69 gonjat' lodyrja 78 gonjat' sobak 128 gora/kamen' lezit na plecach 106 greckij orech 62 grobovaja risina/ . . . 28 grosa ne stoit' 28, 107

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Register

(s) gul'kin nos 73 gvozdicnoe derevo 53 idet sneg/ . . . 56, 58 Igra ne stoit svec 79/80 igrat' rol' 101 iscadie ada 27 iz pervych ruk 88 izbitaja doroga 107 kak pit' dat' 85 kak sleduet 85 kak zenicu oka 79, 85, 137 kamen' na duse 97 kamen' pretknovenija 62 kapat' na mozgi 122 kaplja v more 126 kassa vzaimopomosci 53 konskij scavel' 53 koza da kosti 82 kraeugol'nyj kamen' 62 kromesnyj ad/ . . . 54 kruglyj stol 122 kuda voron kostej ne zanosil 123 kurinaja slepota 53 kurnosyj nos 72 lezat' na boku 76, 78 lizat' ruki 107 l'vinyj zev 53 medovyj mesjac 100 medvez'e ucho 53 medvezij koren' 53 medvez'ja usluga 59, 61, 129 mertveckij p'jan 28 metil v odnogo popal v drugogo 141 mineral'naja voda 67 mokraja kurica 100 na bol'suju nogu 87/88 na bosu nogu 64

na druzeskoj noge 88 na golovu vyse 71 Na net i suda net 128 na nogach 100 na polu/na ulice ne valjaetsja 107, 110 na sirokuju ruku 87 na skoruju ruku 81 na vsech parusach/parach 107, 108 na vsju zelezku/katusku 108 na zivuju ruku 87, 88 nabrat'sja uma 69 nachodit' obscij jazyk 89 naotrez otkazat' etc. 54 nase vam (s kistockoj) 108 navodit' ten' 128 nazimat' na vse rycagi 107 ne delat' pogody 83 Ne do ziru, byt' by zivu 23 ne snosit' golovu 71 nem kak ryba 65 nerusimaja druzba 72 ni za kakie blaga/sokrovisca 110 ni zgi (ne vidno) 54, 55, 62 nictoze sumnjasesja 64, 85 Nikto ne znaet, cto ego ozidaet 71 nol' vnimanija 87

obdat' prezreniem 61 obvesti vokrug pal'ca 96 ocertja golovu 85 ochi da vzdochi 128 oderzat' pobedu 129 okazat' pomosc'/ . . . 62 okladistaja boroda 54 opocit' v boze 86 ot mladych/molodych nogtej 86 ot vsego serdca/ot vsej dusi 105 otbivat' chleb u kogo 77, 89 otdavat' koncy 100 otkuda syr-bor zagorelsja 27 otogrevat' zmeju na grudi 83

Register paki i paki 141 parit' v oblakach/vitat' v empirejach 111 pastus'ja sumka 80 peregibat' palku 83 peret'/prati protiv/protivu rozna 105 perocinnyj noz 60, 62 pet' lazarja 129 piscaja bumaga 54 pit'/sosat' krov' 107 plakali nasi denezki 22 plevat' v potolok 78 plyt' po teceniju 62 po puti/po doroge 99, 101 pod veseluju ruku 87, 88 pod-emnyj kran 61 podnimat' golos 80, 89 podstavljat'podnozku/nozku 110, 124 pojavit'sja v svet 109 pojmat'/podcepit' na udocku 107 postavit' v tupik 62 posypat' golovu peplom 82 poterjat' golovu 71 predel, ego ze ne prejdesi 140 pregrazdat' put' komu 109 priklonit' golovu 70 prilozit'sja k butylke 71 prisej kobyle chvost 128 pritca vo jazycech 139 prochodit' krasnoj nit'ju 70 prolivnoj dozd' 61 proscupat' pocvu 70 proselocnaja doroga 54 pusce glaza/pace oka 111 puskat' kozla v ogorod 128 puskoj/iz puski ne prosibes' 64, 100 raschlebyvat' kasu 109 razdelat' pod orech 100 razrubit' (gordiev) uzel 108 razvodit' tazvody/uzory 108 revet' belugoj 62

147

rezat' pravdu 124 rezat' ucho 122 rukoj ne dostanes' 127 ryt'/kopat' mogilu 97 s golovy do nog/pjat 86 s pustymi rukami 87 sdavat' v archiv 72 sdelat' zamecanie 61 semo i ovamo 85 sest' v galosu 104 sila vrazija/vraz'ja sila 135, 136 sinij culok 69 skol'ko vlezet 109 skoropostizno umeret' 54 skrezet zubovnyj 28, 62 slepaja teterja 129 slezno prosit'/ . . . 54, 61 slomja/ocertja golovu 107 smenit' plastinku 76 smezit' glaza/ . . . 54, 61 smotret'/gljadet' glazami (kogo, c'imi) 97 smotret'/gljadet' iz ruk 97 smotret' skvoz pal'cy 62 smotret'/gljadet' so svoej kolokol'ni 97 smotret'/gljadet' sverchu vniz 97 smotret'/gljadet' v glaza(komu)/v lico (cemu) 97 smotret'/gljadet' v kusty 96, 97 smotret'/gljadet' v les 96, 97 smotret'/gljadet' v oba (glaza) 97 smotret'/gljadet' v rot 97 smotret'/gljadet' von 98 sobacij cholod 61 sobaka na sene 129 Sobaka na sene lezit, sama ne est i skotine ne daet 129 sobaku/zuby s-est' 80, 105 sostavit'/sdelat' partiju 110 soversat' progulku 64 soversat' putesestvie 67

148

Register

soversit' vozlijanie 72 spustja rukava 85 sputat'/smesat' c'i-libo karty 107 stat' na puti c'em 109 stiral'naja masina 61 stojat' odnoj nogoj v mogile 87 stracha radi iudejska 136 streljanyj vorobej 83 svernut' golovu 112 svjataja svjatych 140 Svoja svoich ne poznasa 141 tak sebe 86 teljacij vostorg 120 temna voda vo oblacech 27, 62 tjanut' kanitel' 120 t'ma t'muscaja 28 tocit' ljasy 55, 96 tornyj put' 54 u certa na kulickach 85 umyvat' ruki 80 uvidet' svet 109 valaamova oslica 100 valjat'sja/pomirat' so smechu 109 varit'sja v sobstvennom soku 76 vetchij Adam 136 viljat' chvostom 83 viset'/derzat'sja na nitocke/na voloske 76, 106 vkupe i vljube 85 vladet' darom slova 103 vljubit'sja po usi 61 vmenit' v vinu/ . . . 54 vo sto krat 61 vo vsju ivanovskuju (orat', kricat') 62 vojti v poslovicu 103 volc'i jagody 53 voicij appétit 57 volsebnyj fonar' 62 Vot gde sobaka zaryta 27

vozdet' ruki 54 vozljubim drug druga 134 voznosja oci gore 140 vperit* glaza/ . . . 54 vprosak popast' 54 vse v azure 104 vskruzit' golovu 62 vstupit' v cleny (kooperativa) 22 vstupit' v dolznost' 61 vteret' ocki 129 werch tormaskami 22, 104 vychodit' iz stroja 104 vyletet' v trubu 109 vyn' da poloz' 24 vynosit' sor iz izby 80, 104 vypustit' v trubu 109 vysunuv jazyk 104 vzbredat' v golovu 70 zabivat' golovu 71 zabrit' lob 122 zadat" banju (percu) 105 zagrebat' zar cuzimi rukami 83 zagubit' cej-libo vek 89 zakadycnyj drug 54, 61 zakazat' put' 107 zakljatyj vrag 54 zakrucivat' gajki 128 zalit' za galstuk 72 zalivat'sja solov'em 62 zapasnye casti 61 zarabotnaja plata 28 zaronit' zerno/semja/iskru 110 zatykat' dyry 110 zavarit' kasu 82, 109 zelenaja ulica 129 zelenaja volna 129 zeleznaja doroga 60, 62 zemlja obetovannaja 109 zemno klanjat'sja 54, 61 zevat' frazu 79 zivoj rukoj 88

Register zlo beret 120

zolotaja molodez 9 4

zloba dnja 137

zolotye ruki 83

znamenie vremeni 136, 137

zub na zub ne popadaet 122

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GRUNDLAGEN DER KOMMUNIKATION FOUNDATIONS OF COMMUNICATION Herausgegeben von Roland Posner

Georg Meggle

Grundbegriffe der Kommunikation Oktav. XIV, 350 Seiten. 1981. Kartoniert DM 3 8 , ISBN 3 11 008070 2 de Gruyter Studienbuch Klärung der Begriffe der Intention, Handlung, kommunikativen Handlung, des Meines und Verstehens sowie der Konventionen und Strategie der Kommunikation.

Volker Beeh

Sprache und Spracherlernung Unter mathematisch-biologischer Perspektive Groß-Oktav. VIII, 192 Seiten. 1981. Ganzleinen DM 7 8 , ISBN 3 11 008107 5 Bibliotheksausgabe Formale Eigenschaften von Zeichensystemen und deren Entwicklung im Laufe von Evolution und Menschheitsgeschichte. Algorithmen und formale Sprachen — intensionale These von Church — erkenntnistheoretische Bemerkungen zum Sinn formaler Modelle — formalabstraktes Modell der Spracherlernung — allgemeine syntaktische Eigenschaften „lernbarer" Sprachen — formale Modelle komplexer und formal nicht beschreibbarerSprachen.

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